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German Pages 454 Year 1990
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH THEODOR BERCHEM, ECKHARD HEFTRICH FRANZ LINK UND ALOIS WOLF
NEUE FOLGE / EINUNDDREISSIGSTER BAND
1990
DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES J A H R B U C H IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT
HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. H E R M A N N KUNISCH, PROF. DR. T H E O D O R BERCHEM, PROF. DR. E C K H A R D HEFTRICH, PROF. DR. FRANZ L I N K U N D PROF. DR. ALOIS W O L F
NEUE FOLGE / EINUNDDREISSIGSTER B A N D
1990
Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch w i r d im Auftrage der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Prof. Dr. Hermann Kunisch, Nürnberger Straße 63, 8000 München 19, Prof. Dr. Theodor Berchem, Institut für Romanische Philologie der Universität, A m Hubland, 8700 Würzburg, Prof. Dr. Eckhard Heftrich, Germanistisches Institut der Universität, Domplatz 20-22, 4400 Münster, Prof. Dr. Franz Link, Eichrodtstraße 1, 7800 Freiburg i. Br. (federführend), und Prof. Dr. Alois Wolf, Deutsches Seminar der Universität, Werthmannplatz, 7800 Freiburg i. Br. Redaktion: PD Dr. Kurt Müller, Englisches Seminar der Universität, Kollegiengebäude IV, 7800 Freiburg i. Br. Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils i m Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es w i r d dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & H u m b l o t G m b H , Dietrich-Schäfer-Weg 9, 1000 Berlin 41.
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH EINUNDDREISSIGSTER BAND
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N HERMANN KUNISCH T H E O D O R BERCHEM, E C K H A R D HEFTRICH FRANZ L I N K U N D ALOIS WOLF
NEUE FOLGE / EINUNDDREISSIGSTER B A N D
1990
D U N C K E R
&
H U M B L O T
/
B E R L I N
Redaktion: Kurt Müller
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hagedornsatz, Berlin 46 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 3-428-06977-3
INHALT AUFSÄTZE Christian Gnilka (Münster), Die vielen Wege und der Eine: Zur Bedeutung einer Bildrede aus dem Geisteskampf der Spätantike 9 Meinolf Schumacher (Dortmund), Noch ein Höhlengleichnis : Zu einem metaphorischen Argument bei Gregor dem Großen 53 Volker Kapp (Erlangen), Die Antike als Darstellungsmuster weltlicher und geistlicher Machtansprüche der Papsttums: Von Julius II. bis Pius V I 69 Isabel Knautz (Münster), Ein verkannter Aufklärer: Johann Karl Wezel
95
Alfred Anger (Englewood, N.J.), Die Briefausgabe Karl Leberecht Immermanns: Kritik und Berichtigungen 133 Alfred Hornung (Mainz), Lust und Verlust in den Gedichten von Edgar Allan Poe und Emily Dickinson 179 Friederike und Mathias Mayer (Frankfurt/Main), Verflüchtigung, Vergeistigung, Vernichtung: Zu Hofmannsthals Fragment »Jupiter und Semele« 199 Paul Goetsch (Freiburg i. Br.), Das Verhältnis von Alltag und Religion in der neueren englischen Literatur 211 Helmuth Kiesel (Heidelberg), Kierkegaard, Alfred Döblin, Thomas Mann und der Schluß des Doktor Faustus 233 Bernd Engler (Freiburg i. Br.), »Flowers of a Perfect Skepticism«: Formen des Erkenntnisskeptizismus in Thornton Wilders Romanen 251 Christoph Eykman (Boston), Von Fichte zu Hitler? Zur Rezeption Fichtes in der Exilliteratur 1937-1958 275 Norbert Franz (Bonn), Literatur als Subversion: Religiöse Themen und Motive in der Sowjetliteratur 295 Julika Griem (Freiburg i. Br.), Pop Aesthetics and Deconstructive Intelligence. On Some Tendencies of Innovative American Literary Criticism : Susan Sontag, Leslie Fiedler and Ih ab Hassan 309 Franz Link (Freiburg i. Br.), Bestimmungen der amerikanischen Erzählkunst nach 1950: Ein Forschungsbericht 337
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Inhaltsverzeichnis KLEINE BEITRÄGE
Bernhard Kytzkr (Berlin), Der Raub des Heiligtums in Flauberts Salammbô und sein antiker Hintergrund 373 Michael Neumann (Münster), Jagdlieder: Zu Gedichten von Doris Runge
381
BUCHBESPRECHUNGEN Viviana Cessi , Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen (von Gregor Vogt-Spira) Willi Erzgräber und Sabine Volk, hg., Mündlichkeit und Schrifllichkeit telalter (von Piero Boitani)
bei Aristoteles 387 im englischen Mit390
Robert Fricker, Das Ältere Englische Schauspiel Bd. 1: Von den geistlichen Autoren bis zu den >University Wits Theaterwesen und dramatische Literatur: Beiträge zur Geschichte des Theaters (von Volker Kapp) 441 Ewald Stan dop y Abriß der englischen Metrik (von Wolf-Dietrich
Namen- und Werkregister (von Kurt Müller)
Bald)
443
447
Titelminiatur zu Buch I V der Dialoge Gregors des Großen, zu S. 53 ff. In: A n t o n v o n E u w und Joachim M . Plotzek, Die Handschriften der Sammlung Ludwig, Bd. 3 ( K ö l n , 1982) S. 63.
D i e v i e l e n W e g e u n d der E i n e * Zur Bedeutung einer Bildrede aus dem Geisteskampf der Spätantike V o n Christian Gnilka
I 1
Ausonius erhielt einst einen Brief des Redners Symmachus, i n dem er wegen der literarischen Qualität eines vorangegangenen Schreibens aufs höchste gelobt ward. Ausonius war entzückt. Aber die W i r k u n g des Lobs hielt nur an, solange er Symmachus' Brief las; sobald er ihn sinken ließ, schwand der Zauber, erkannte er die Schmeichelei. Immer wieder probierte er die W i r k u n g aus: sie schien i h m auf eigentümliche Weise verknüpft mit der Wortkunst des Absenders. Sooft er den Brief zur Hand nahm und Symmachus zu W o r t kommen ließ, fand er sich aufs neue berückt, und immer spürte er dieselbe Ernüchterung, wenn er den Brief fortlegte und nachdachte. Modo intellego, quam mellea res sit oratio, beginnt er das Dankesschreiben 1 , und wirklich: das kleine Ereignis liefert ein hübsches Zeugnis dafür, daß Formulierungen eine Suggestionskraft besitzen können, die weit über die Wahrheit der Aussage hinausreicht, ja über sie geradezu hinwegtäuscht. I n der Zeit, in die w i r uns begeben haben, besaß niemand die Fähigkeit, solche Formulierungen zu schaffen, i n höherem Maße als eben Q. Aurelius Symmachus. Das war die Meinung seiner Freunde, aber auch die seiner Gegner 2 . Wie auf ihn zugeschnitten scheint, was John Henry Newman über den Meister literarischer * Teile dieser Studie habe ich am 3. Oktober 1988 anläßlich der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft in Bayreuth vorgetragen. Der Vortrag wurde i m Rahmen der Sektion für Altertumswissenschaft gehalten, was hier i m H i n b l i c k auf die am Schluß S. 49 ff. angestellten Erwägungen bemerkt sei. I n abgewandelter Fassung habe ich den Vortrag am 17. M a i 1990 im Eranos Vindobonensis wiederholt. 1 Auson. epist. 2 (p. 222 Peiper); vgl. Symm. epist. 1,31 (p. 16f. Seeck). Beide Briefe jetzt bei J. P. Callu, Symmaque, Lettres 1, Paris 1972, 93/97. 2
V g l . Prud. c. Symm. 1,632/642 (CSEL 61, 242 f.): Symmachus' Beredsamkeit über die Ciceros gestellt, aber ihr Mißbrauch für die falsche Sache beklagt.
Christian Gnilka
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Kunst (»Art o f Letters«) ausführt 3 . E i n großer Autor, sagt Newman, ist einer, der ausdrückt, »was alle fühlen, aber alle nicht sagen können«; i n seinen Worten finden die Gleichgesinnten »eine Darstellung ihrer eigenen Empfindungen, eine Wiedergabe ihrer eigenen Erfahrungen und eine Stütze ihrer eigenen Urteile«. Er besitzt, bemerkt Newman weiter, nicht nur copia verborum: »er ist einer, der etwas zu sagen hat und der weiß, wie er es zu sagen hat«. Gedankentiefe, Weite des Blicks, Philosophie, Scharfsinn, Lebenserfahrung und Kenntnis der menschlichen Natur, all das seien nicht seine wesentlichen Vorzüge — obwohl er sie besitzen könne und er um so größer sei, je mehr er davon besitze: seine charakteristische Gabe, so Newman, ist die Fähigkeit des Ausdrucks (»the faculty o f expression«) i m weitesten Sinne. Das Symmachus diese Fähigkeit besaß, spüren w i r heute weniger als seine Zeitgenossen. Seine Reden üben nicht mehr denselben Zauber aus wie einst, ausgenommen vielleicht die eine, die berühmteste: das Manifest des sterbenden Heidentums, das excellent volumen, als das es selbst sein christlicher Gegner feiert 4 , jene Rede also, mit der Symmachus i j . 384 als Gesandter der heidnischen Minderheit des Senats vor den jugendlichen Kaiser Valentinian I I . trat 5 . Diese Rede wahrt trotz ihrer Stilkunst den Charakter einer gewissen amtlichen Kürze, aber gerade darauf beruht der Eindruck der Frische, den sie noch heute macht: bestimmt dazu, als Bittschrift vor dem kaiserlichen Consistorium verlesen zu werden, ist sie knapp gehalten, i m Ganzen wie i m Einzelnen. Der Umfang ist mäßig, der Satz überschaubar. Alles besitzt Kürze und W u c h t 6 . Dazu tritt der bewegende Anlaß dieser Relatio. Sie berührt uns weniger durch die konkreten Forderungen, die darin erhoben werden: daß Altar und Statue der G ö t t i n Victoria, die Gratian zwei Jahre zuvor aus dem 3 John Henry Cardinal Newman, The Idea of a University (1852), edited w i t h an Introduction and Notes by M a r t i n J. Svaglic, Notre Dame, Indiana: University o f Notre Dame Press 1982, S. 219 f. Newman kannte die Klassiker, und so darf man annehmen, daß in seinen Sätzen die Erörterung nachhallt, die Cicero große römische Redner über das Wesen der Beredsamkeit und das Ideal des Redners führen läßt, vgl. Cie. de. or. 1,48/51; 1,64 f.; 1,213. 4
Prud. c. Symm. 1,648.
5 Der Text bei O. Seeck: M G H a.a. 6,1 (1883) 280/283 und M . Zelzer: C S E L 82 (S. Ambrosii opera 10,3), 21/33; dazu der Kommentar v o n D . Vera (Commento Storico alle relationes di Quinto Aurelio Simmaco, Pisa 1981, 12/53). M i t deutscher Übersetzung der Dokumente: R. Klein, Der Streit um den Victoriaaltar (Darmstadt, 1972); J. Wytzes, Der letzte Kampf des Heidentums in Rom (Leiden, 1977) = Études préliminaires 56,200/318 (kommentiert). 6 V g l . die Charakteristik bei G. Boissier, La Fin du paganisme 2 (Paris, 1891), 333, der allerdings bei seinem stilistischen Vergleich Ambrosius zu schlecht wegkommen läßt (ebd. 334); s. unten S. 16. D i e neue Untersuchung v o n G. Haverling, Studies on Symmachus* Language and Style (Göteborg, 1988) = Studia Graeca et Latina Gothoburgensia 49 wendet sich sprachlichen Einzelbeobachtungen zu.
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Senatshaus in Rom hatte entfernen lassen, sollten wiederaufgestellt, seine Gesetze, die dem heidnischen K u l t die finanziellen Grundlagen entzogen, annulliert werden. Diese Dinge haben für uns nur historisches Interesse. Aber das allgemeinere Anliegen, das hinter den einzelnen Forderungen sichtbar wird, die Sorge u m den Erhalt der politischen und kulturellen Größe Roms: sie sichert dem A u t o r eine lebendige Anteilnahme, zumal er von der Position des Schwächeren aus spricht und jeder leicht für den Partei ergreift, der gegen die Staatsmacht ein begründetes Anliegen zu verteidigen scheint. So breitet sich ein verklärendes Licht über die Person dieses Mannes, die geradezu als »tragische Gestalt« verstanden w i r d 7 . Vielleicht wäre seine Rede aber trotzdem nur ein Stück Geschichte oder Literaturgeschichte, erweckte sie nicht den Eindruck, als enthalte sie, i n ihrem zentralen Teil, solche Gedanken, die heute viele Menschen bewegen, schiene sie nicht diesen Ideen vollendeten Ausdruck zu verleihen, so daß i n den Sätzen des spätantiken Redners jeder sich selbst wiederzufinden glaubt, der diese Ideen in sich trägt; so daß sich eben heute noch — oder heute wieder — das Wesen jeder echten literarischen Kunst, wie es Newman definierte, an diesen Sätzen zu offenbaren scheint: die Fähigkeit zu sagen, was andere empfinden, auszudrücken, was andere anerkennen als »an Interpretation o f their o w n sentiments«.
2 Ich spreche von den Kapiteln 8 bis 10 der dritten Relatio. Hier gibt der A u t o r so etwas wie eine theoretische Begründung seines Anliegens, freilich ohne philosophische Weite oder Tiefe für sich in Anspruch zu nehmen 8 . Er erklärt zunächst etwa folgendes: Jedes V o l k besitzt seine eigene Tradition (mos) y sein eigenes religiöses Brauchtum (ritus) — w i r können vielleicht sagen: seine eigene K u l t u r . Dies ist so verfügt von der »göttlichen Vernunft«, die den einzelnen Städten verschiedene Kulte als »Wächter« zuteilt; denn wie die Einzelmenschen bei der Geburt die Seelen, so erhalten die Völker bei ihrer Entstehung Schutzgeister, die ihr Schicksal bestimmen (fatales genii). Aber da jedwede Erklärung des Wesens der Götter i m Dunklen liegt, erkennt man sie am besten i m Rückblick auf die Geschichte und auf die Erfolge, die ihre Verehrung einbrachte. Tradition und Alter verschaffen also den Religionen Autorität. Und dann weiter w ö r t l i c h 9 : 7 R. Klein, Symmachus. Eine tragische 1986 2 ).
Gestalt des ausgehenden Heidentums (Darmstadt,
8
V g l . Symm. rei. 3,10: sed haec otiosorum disputatio est; nunc preces, non certamina offerimus. 9 Symm. ebd. Die folgenden Sätze gehören nach üblicher Auffassung, die durch Prud. c. Symm. 2,83/90 gestützt w i r d , zu der direkten Rede, die Symmachus der
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Christian Gnilka Aequum est, quidquid omnes colunt, unum putari. eadem spectamus astra , commune caelum est, idem nos mundus involvit:
quid interest,
qua quisque prudentia verum requirat?
uno itinere non
potest pervenir i ad tam grande secretum. Es ist billig, all das, was Menschen verehren, für ein und dasselbe zu halten. Z u den gleichen Sternen schauen w i r empor, gemeinsam ist uns der H i m m e l , dasselbe Weltall umhüllt uns: was macht es da für einen Unterschied, nach welcher Lehre ein jeder die Wahrheit sucht? Auf einem einzigen Wege kann man nicht
einem so erhabenen Geheimnis
gelangen.
Manchem mag es bei Lektüre der Sätze ergehen, wie dem Ausonius, als er Symmachus' Brief las. Läßt er das Buch sinken, kommen ihm Bedenken; beginnt er wieder zu lesen, ist er erneut wie gefangen. U n d die W i r k u n g w i r d u m so stärker sein, je lieber er hört, was der A u t o r sagt, je mehr die eigenen Anschauungen, die er in sich trägt, dem zu entsprechen scheinen, was er vernimmt. Ja, die W i r k u n g kann so stark sein, daß er nicht mehr wahrhaben will, wie sehr ihm geschmeichelt wird. Was er eigentlich wissen müßte, weiß er auf einmal nicht mehr — oder besser: w i l l er nicht mehr wissen. Derart war die W i r k u n g der Rede, als sie zum ersten M a l gehört wurde, i m kaiserlichen Consistorium zu Mailand, als ihr alle zunächst beistimmten, Heiden wie Christen — nur nicht der junge Kaiser selbst 1 0 . Und so blieb ihre W i r k u n g für viele, so ist sie, jedenfalls in der zitierten Partie, bis auf den heutigen Tag geblieben für alle, die ihre Überzeugungen in den Worten des großen Autors wiederzuerkennen glauben. Namentlich der letzte der zitierten Sätze galt modernen Denkern als Muster und M o t t o religiöser Toleranz. Uno itinere non potest perveniri ad tam grande secretum: der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler, der Philosoph und Staatsmann Radhakrishnan und andere, auch Vertreter unseres eigenen Fachs, bekannten sich zu diesem Satz wie zu einem L e i t w o r t 1 1 . Der Historiker Arnold J. Toynbee beschließt sein Buch »Christianity among the Religions of the World« mit Worten der Begeisterung für Symmachus und seine Sache 12 . Symmachus habe sich geschlagen geben müspersonifizierten Roma in den M u n d legt. M . Zelzer: CSEL 82,27 läßt allerdings die Roma-Rede früher enden. Näheres dazu demnächst i m Hermes. 10 E r w i r d deswegen v o n St. Ambrosius mit Daniel verglichen: Ambros. de obitu Valentiniani 19 (CSEL 73,340). 11
J. Dörmann, Die eine Wahrheit und die vielen Religionen (Abensberg: J. Kral, 1988) = Respondeo 8,176. Nachweise bei G. Rosenkranz, Der christliche Glaube angesichts der Weltreligionen (Bern/München, 1967), 313 (Anm. 99 zu S. 187). Aus der Klassischen Philologie hier nur eine Stimme: U. Knoche preist Symmachus' Rede als »glänzende Fürsprache für Toleranz und Großzügigkeit in kultischen und in Glaubensdingen« (U. Knoche, »Ein Sinnbild römischer Selbstauffassung«, in: Symbola Coloniensia Iosepho Kroll . . . oblata [ K ö l n 1949] 143/62, ebd. 143 = ders., Vom Selbstverständnis der Römer (Heidelberg, 1962) [Gymnasium, Beiheft 2] 125/143, ebd. 125). 12 A r n o l d J. Toynbee, Das Christentum und die Religionen der Welt [deutsche Übersetzung] (Gütersloh, 1959), 121 f. V g l . dens., A Study of History 1 (Oxford, 1955 2 ) 442. I n
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sen, aber nicht durch Argumente. Sein Satz, man könne nicht auf einem Wege zu dem großen Geheimnis gelangen, sei damals unbeantwortet geblieben, weshalb er auch heute noch Gültigkeit besitze. Ich hebe diese Bemerkungen des englischen Historikers hier hervor, nicht etwa deswegen, weil ich sie in sich für besonders gut begründet oder beachtenswert hielte, sondern eher aus umgekehrtem Grunde: weil sie deutlich zu erkennen geben, welche Vorsicht zu üben ist, sooft der Satz des alten Redners als Parole eines modernen Toleranzdenkens ausgegeben wird.
3 Möglich ist das überhaupt nur dann, wenn man den Satz ganz oder teilweise aus seinem textlichen und historischen Zusammenhang löst. Denn er hat durchaus dogmatische Grundlagen: daß nämlich alle Kulte Einunddemselben gelten; daß dieses Eine sich nicht offenbart hat, sondern verborgen ist, ein Geheimnis darstellt; daß es schicksalshafte Genien gibt, Untergötter sozusagen, die über die Völker gebieten. Was sind diese Annahmen — schon für sich betrachtet — anderes als dogmatische Voraussetzungen? Sie haben aber auch einen philosophischen H i n t e r g r u n d 1 3 . Zwar ist auch dieser Passus der Rede auf W i r k u n g berechnet, weniger auf Feinheit der Argumentation. Dennoch müssen w i r alle diese Äußerungen ernst nehmen. Denn es sind nicht Gedankenblitze, die nur für einen Augenblick aufzucken. Die Lehre, daß die Wahrheit verborgen sei, ist platonisch. Latet omne verum, sagt Porphyrios (bei Macrobius): die Seele hat bei ihrem Abstieg i n die Körper das Wissen über die göttlichen Dinge, das sie einst i m H i m m e l besaß, mehr oder weniger verloren; daraus erklären sich die unterschiedlichen Auffassungen der Menschen von der Gottheit, und deswegen ist auf Erden nur Vermutung (δόξα, opinio) über die Wahrheit m ö g l i c h 1 4 . A u c h die Anschauung, die einzelnen Völker seien verschiedenen »Genien« unterstellt, ist platonisch 1 5 . Zur Zeit, da Symmachus mit diesem Werk hat Toynbee aber auch seinen K r i t i k e r M . W i g h t ausführlich zu W o r t kommen lassen (ebd. 7,737/48), der, gestützt u.a. auf J. Daniélou, Le Mystère de l'Avent (Paris, 1948), eine glänzende Darstellung des kirchlichen Standpunkts bietet, ohne freilich Toynbee überzeugen zu können (vgl. ebd. 10,238). Die Auseinandersetzung der beiden hat an Aktualität in wahrhaft ungeheuerlichem Maße zugenommen. 13
Dazu Vera i m Kommentar p. 41; Klein, Symmachus 84/88, jeweils m i t Literatur, jetzt auch A . Demandt, Die Spätantike (München, 1989) = Handbuch der Altertumswiss. I I I , 415 f. Kleins Versuch, die Partien 8 und 10 in ihrer Bedeutung für Symmachus und die Bittschrift herabzustimmen, ist nicht überzeugend. Richtig urteilt Vera p. 15, daß das Stück 8 / 1 0 den »zentralen Teil der Relatio« ausmacht und daß hier der »Abgrund« (»Γ abisso«) sichtbar wird, der die beiden «religiösen Welten« trennt. V g l . auch unten S. 18 zu Prudentius. 14 Macrob. somn. 1,3,18; 1,12,9; dazu M . Regali, Macrobio. Commento al Somnium Scipionis, Libro I, Pisa 1983, p. 238 f. 327.
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Christian Gnilka
seiner Rede auftrat, war es gerade erst zwanzig Jahre her, daß Julianus Apostata diese Lehre i n seiner antichristlichen Schrift ( Κ α τ ά Γ α λ ι λ α ί ω ν ) vertreten hatte. U n d das zeigt uns nicht bloß, woher diese Lehren kommen, sondern auch, gegen wen und gegen was sie sich richten. Die Beobachtung der Verschiedenheit der Nationen nach ihren körperlichen Merkmalen, nach ihrer völkischen Eigenart und nationalen K u l t u r bildete ein Hauptargument Julians, mit dem er die Vielheit nationaler Gottheiten erklärte und rechtfertigt e 1 6 . Sein H a u p t v o r w u r f gegen das Christentum und nahezu sein einziger V o r w u r f gegen das Judentum betraf das Erste Gebot: Moses, sagte er, habe es gewagt, einen der nationalen Sondergötter ( μ ε ρ ι κ ο ί θεοί), die der obersten Gottheit unterstellt sind, zum Einzigen Gott zu machen, und darin erblickte er sozusagen den Sündenfall der jüdischen und der christlichen Religiosität 1 7 . Auch wenn Symmachus es begreiflicherweise vermeidet, i n seiner Bittschrift an den christlichen Kaiser die Spitze jener Gedanken direkt gegen das Christentum zu kehren, steht er doch eben unzweifelhaft auf demselben geistigen Boden wie Julian. Die modernen Toleranzbegriffe treffen daher nicht recht. V o n einer inhaltlichen (dogmatischen) Toleranz kann kaum die Rede sein, ebensowenig v o n einer formalen (praktischen). Denn natürlich verlangen jene nationalen Gottheiten, die über die Völker gebieten ( θ ε ο ί έ β ν ά ρ χ α ι ) , die ihr Schicksal bestimmen und ihnen Schutz gewähren, stete Anerkennung und kultische Verehrung. Symmachus denkt gar nicht daran, i n dieser Hinsicht irgendwelche Konzessionen zu machen. Selbst innerhalb seiner kleinen Rede w i r d das deutlich, etwa dann, wenn er über die G ö t t i n Victoria spricht 1 8 : W o sollen w i r schwören, fragt er, wenn der Altar der Victoria nicht in der Kurie steht? D u r c h welche religiöse Scheu w i r d eine Falschaussage verhindert {qua religione mens falsa terrebitur . . . eqs.)? Zwar sei alles v o n der 15 Nach Kelsos wurden v o n der obersten Gottheit Dämonen als »Aufseher« über die einzelnen Völker gesetzt. Die nationalen K u l t u r e n (Gesetze und Religion) sind unter ihrem Einfluß zustande gekommen und müssen daher als Teile der göttlichen Weltordnung gewahrt bleiben: Orig. c. Cels. 5,25/28; vgl. 7,68; 8,28 (Sources Chrét. 147,74/84; 150, 170/74; 150, 234). Hierüber und über Origenes' eigene Lehre v o n den Völkerengeln s. J. Ratzinger, Die Einheit der Nationen (Salzburg/München: Bücherei der Salzburger Hochschulwochen, 1971), 41 /68, bes. 42 m i t L i t . (Anm. 35 und 36).
16 Julian, c. Gal. 141C/148C, p. 354/358 W r i g h t ÇThe Works of the Emperor Julian, Bd. 3, L o n d o n / N e w Y o r k : The Loeb Classical Library 1923 1 ). Zusammen m i t den Antworten, die St. K y r i l l v. Alexandrien erteilte: Cyrill, c. Julian. 4: P G 76,717A/732A. 17 18
Julian, c. Gal. 148 C, p. 358 W r i g h t .
Symm. rei. 3,5. Daher hat auch Prudentius den berühmten Satz des Heiden gewiß richtig erfaßt, wenn er, die Äußerungen rei. 3,8 und 10 zusammenziehend, dichtet (c. Symm. 2,89f.): suus est mos cuique genti, | per quod iter properans eat ad tarn grande profundum. Es geht dem Verteidiger des Staatskults vor allem u m die verschiedenen Wege der einzelnen Völker! D i e individualistische Note fehlt freilich nicht, und auch sie bringt Prudentius (2, 843 ff.) scharf heraus; dazu s. unten S. 30/33.
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Gottheit erfüllt und für einen Meineidigen gebe es nirgendwo einen sicheren Platz: sed plurimum valet ad metum delinquendi etiam praesentia numinis urgueri. Altar, Götterbild und K u l t gewährleisten also die Gegenwart der Gottheit. Man versteht, daß St. Ambrosius i n seiner Erwiderung gerade auf diese durch und durch heidnische und idololatrische Auffassung des Victoriakults hinweist und für den Fall, daß christliche Senatoren gezwungen würden, unter solchen Voraussetzungen ihren E i d abzulegen, den Vergleich mit einer Christenverfolgung zieht 1 9 . I m Chor der modernen Stimmen scheint mir die v o n Gaston Boissier beachtenswert, und zwar gerade deshalb, weil er von einem liberalen Standpunkt aus u r t e i l t 2 0 . Man dürfe sich, meint Boissier, von den großen Ideen des Symmachus-Texts nicht täuschen lassen: »sie schmeicheln«, wie er wörtlich sagt 2 1 , »in einzigartiger Weise unserem religiösen Dilettantismus«. Tatsächlich werde in jener Auseinandersetzung die Freiheit des Gewissens v o n St. Ambrosius geschützt, nicht von Symmachus. Was Symmachus fordere, sei nicht die D u l d u n g des heidnischen Kults, sondern seine Herrschaft.
4 N u r dann also kann der Satz, den w i r ins Auge faßten, eine moderne Sicht der Religionen stützen, wenn er aus seiner Verankerung gerissen wird. Aber man mag einwenden, daß es nicht unbedingt einer Zustimmung zu allen historischen Voraussetzungen jener Äußerung bedürfe, u m sie als glückliche Formulierung moderner Ideen zu übernehmen, solcher Ideen nämlich, die denen des römischen Senators irgendwie ähneln, die sich mit ihnen teilweise überschneiden, ohne doch geradezu deckungsgleich mit ihnen zu sein. Der Satz bietet ja, für sich genommen, eine eingängige, bildhafte und doch weite Formulierung, die durchaus, so mag man argumentieren, i n den Dienst verwandter Ideen treten darf. Etwa der Ideen des alten Liberalismus: daß keine Religion allein den Anspruch erheben dürfe, i m Vollbesitz der Wahrheit zu sein, daß jedes Credo gleichermaßen zu achten sei. Oder gewisser Ideen moderner Theologie: daß alle Religionen legitime, d.h. von Gott gewollte, Heilswege seien, daß die Menschen i n ihnen verharren sollten, daß die nichtchristlichen Völker die Evangelisation i m Grunde nicht brauchten. I n der Tat ist nicht zu leugnen, daß solche Gedanken eine gewisse Ähnlichkeit mit Symmachus' Standpunkt besitzen und daß sie sich deshalb nicht ganz zu Unrecht in seine Worte kleiden können. Gerade darum w i r d man sich nun Ambros. epist. 72 (17 Maur.), 9 (CSEL 82, 14f.). 20 21
Boissier, La Fin du paganisme 2,337.
Boissier ebd.: »(ces idées larges) qui flattent singulièrement notre dilettantisme religieux«. Den inneren Zusammenhang dieser »weiten (großen) Ideen« m i t den dogmatischen Sätzen hat er allerdings nicht klar bezeichnet.
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Christian Gnilka
aber fragen müssen, ob die frühe Kirche wirklich die A n t w o r t auf jenen berühmten Satz des Redners schuldig geblieben sei, ob es stimmt, daß sie dem Wegebild des Heiden nichts entgegensetzte oder etwa gar nichts entgegenzusetzen hatte. Man muß danach fragen, weil zu erwarten steht, daß in ihrer A n t w o r t an Symmachus auch jene verwandten modernen Ideen getroffen oder berührt würden, v o n denen eben die Rede war. Und davon zu erfahren, kann eigentlich niemandem ganz gleichgültig sein, der die Dinge mit Aufrichtigkeit behandelt.
5 Hohe kirchliche Autorität besitzen die beiden Schreiben, die der Bischof von Mailand in dieser Sache an den Kaiser richtete (Ambros. epist. 17. 18 Maur.). Sie verhinderten einen Erfolg der Petition. Aber beide Briefe behandeln die Stelle, um die es uns geht, nur allgemein. Die erste Erwiderung ist noch ohne Kenntnis des genauen Wortlauts der Eingabe verfaßt. St. Ambrosius beginnt sie mit der wesentlichen Klarstellung, die den tiefen Unterschied der Positionen sofort sichtbar macht 2 2 : es gibt nur einen wahren Gott, das ist der Gott der Christen; I h n müssen alle verehren (nur dann besteht Aussicht auf Wohlfahrt für den Staat), denn »die Götter der Heiden sind Dämonen« (Psalm 95, 5). Diese Sätze enthalten die Absage an den Polytheismus, aber auch an jedwede Skepsis und dogmatische Toleranz. Genauer, mit Bezug auf den Text der Relatio, antwortet er dann i m zweiten Brief 2 3 : >Auf einem einzigen Wegekann man nicht zu einem so großen Geheimnis gelangend Was ihr nicht wißt, das haben w i r durch die Stimme Gottes erfahren. U n d was ihr durch Vermutungen sucht, das wissen w i r zuverlässig aus der Weisheit Gottes selbst und aus der Wahrheit. Daher gibt es keine Übereinstimmung zwischen uns und dem, was ihr tut ( non congruunt igitur vestra nobiscum).
Unter Berufung auf die Offenbarung w i r d hier abermals die Skepsis zurückgewiesen, der Anspruch auf Besitz der Wahrheit erhoben, die K l u f t aufgerissen: non congruunt igitur vestra nobiscum. Allerdings fallt auch diese Zurückweisung recht knapp aus. Denn Ambrosius' Schriftstücke suchen ebenfalls das Gesetz einer gewissen amtlichen und zugleich würdevollen Kürze zu wahren, das sein Gegner meisterlich gehandhabt hatte. Daher sagt er nichts über jene Genien der Völker, die Symmachus annimmt, bemerkt er nichts über den Vergleich mit den gemeinsamen Sternen, dem Himmel, dem A l l , setzt er nichts dem Bild der vielen Wege entgegen, das bis heute so großen Eindruck macht. Aber w i r besitzen eine ausführliche Widerlegung der Relatio des Symmachus, die nicht deswegen geringgeachtet werden darf, weil sie v o n einem Dichter stammt. 22 Ambros. epist. 72 (17 Maur.), 1 (CSEL 82, 11 f.). 23
Ambros. epist. 73 (18 Maur.), 8 (a.O. 38).
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Denn ihr Verfasser, Prudentius, ist ganz erfüllt v o n katholischer Spiritualität und daher, obwohl Dichter, ein beachtenswerter Interpret kirchlicher Lehre. Erasmus von Rotterdam rechnete diesen Dichter unter die Theologen 2 4 und stellte ihn in eine Reihe mit St. Basilius, St. Gregor von Nazianz, St. Ambrosius und Lactantius 2 5 . Auch seine Erwiderung auf Symmachus ist eine Stimme geistiger Autorität, nicht nur ästhetischen Reizes. Er vollendete das hexametrische Gedicht Contra Symmachum etwa zwanzig Jahre, nachdem Symmachus seine Rede gehalten hatte ( i j . 402 oder 403). Der zeitliche Abstand ist, gemessen an antiken Verhältnissen, nicht sonderlich groß, wenn w i r bedenken, daß Origenes auf die antichristliche Schrift des Kelsos erst etwa sechzig Jahre später antwortete, St. K y r i l l auf die Julians erst ungefähr achtzig Jahre später. Die politischen Verhältnisse hatten sich zwar seit 384 zugunsten des katholischen Christentums gefestigt, aber der Ruhm der Symmachus-Rede war zur Zeit, da Prudentius schrieb, noch keineswegs verblaßt 2 6 , das Heidentum überhaupt noch lebendig. Weshalb sonst hätte St. Augustinus sein großes apologetisches Hauptwerk verfaßt (De civitate Dei, vollendet 426), St. K y r i l l die dreißig Bücher gegen Julian geschrieben (um 440), Theodoret die zwölf Bücher seiner »Heilung von den heidnischen Krankheiten« herausgebracht (zwischen 427 und 437)? Diese Autoren blickten auf tatsächliche Verhältnisse in Rom, Alexandrien, Antiochien, besonders auf das durch den Neuplatonismus gestärkte Heidentum der Gebildeten 2 7 , und es genügt die kurze Besinnung auf ihre Werke, u m auch die Aktualität des prudentianischen Gedichts zu sehen. Prudentius steht mit dem Werk Contra Symmachum nicht am Endpunkt der christlichen Apologetik: er schaut zurück auf die Apologien der ersten Jahrhunderte, eröffnet aber seinerseits die Apologetik der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts.
24 Erasmus, apolog. de In princip. erat sermo: L B I X 118 Β (Leidener Ausgabe der Opera omnia 1703, repr. Hildesheim 1961): »sed quid vetat eundem et theologum esse et poetam? certe Prudentius tantum spirat sanctimoniae, tantum eruditionis theologicae, ut Ecclesia huius hymnos, veluti sacros, mysticis choris admiscuerit.« 25
Als Muster dafür, wie man die literarische Bildung der Antike der christlichen Religion dienstbar machen könne: Erasmus, Adagia 4,5,1: L B I I 1052 C. V g l . Eccles.2 ( L B V 857 C) und Annot. in NT ( L B V I 398 F): »Prudentius vir quo vis etiam saeculo inter doctos numerandus.« 26 V g l . Prud. c. Symm. 1,648 f.: inlaesus maneat liber excellensque volumen \ obtineat par tarn dicendi fulmine famam. 27 Z u Theodoret und K y r i l l vgl. die Einleitungen der Ausgaben v o n P. Canivet (Sources chrét. 57, 1958, 31/37) bzw. P. Burguière/P. Evieux (ebd. 322,1985,15/20). Für Augustin genügt es, auf die Angaben des Autors selbst (civ. I passim und retract. 43) zu verweisen.
2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
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Christian Gnilka
Sein Gedicht umfaßt zwei Bücher. Das erste, kürzere, schildert, wie der Götzendienst entstand, wie er sich ausbreitete und wie R o m zum Christentum überging. Das zweite, fast doppelt so lange, w i l l die Relatio des Symmachus W o r t für W o r t widerlegen (V. 4: nunc obiecta legam, nunc dictis dicta refellam). Dabei konzentriert sich der Dichter besonders auf die Kapitel 8 bis 10 der gegnerischen Schrift, also eben auf den zentralen Teil der Rede, dessen grundlegende Bedeutung fürs Ganze er erkannt haben muß. Selbstverständlich hatte er auch die Ambrosiustexte vor Augen, aber es ist klar, daß die Sätze des Gegners in einem Gedicht von über elfhundert Versen mit einer ganz anderen Ausführlichkeit durchgenommen werden können, als dies dem Bischof zuvor möglich war. Eben das macht das Prudentiusgedicht so wertvoll, und mir scheint, daß es noch längst nicht die gebührende Beachtung gefunden hat. E i n Kommentar fehlt, und die meisten Studien, die das Gedicht betreffen, gelten historischen oder literarhistorischen Fragen. Sein Wert als große Apologie, die selbständig nacharbeitet und ergänzt, was St. Ambrosius vorbrachte, ist noch nicht recht gewürdigt. A u c h das Wegebild des Heiden greift der Dichter auf. Er wendet eine Versreihe v o n über sechzig Zeilen auf, u m es zu widerlegen 2 8 . Hier ist also die direkte A n t w o r t erteilt, die der vorhin genannte Gelehrte vermißte. Hier ist die Instanz gefunden, von der w i r Aufschluß darüber erwarten dürfen, was die frühe Kirche v o n den vielen Wegen, die zur Gottheit führen sollen, hielt. Bevor w i r uns Prudentius zuwenden, müssen w i r aber zunächst einige andere Texte ins Auge fassen, auf denen seine Darstellung aufbaut.
II 1
I m Alten Testament ist oft v o m »Weg« oder von den »Wegen« Gottes (des Herrn) die Rede, die der Mensch gehen soll. Gemeint ist stets der Weg, den Gott befohlen hat, ein Wandel des Menschen nach dem Gebot Gottes. Daher nähert sich »Weg« der Bedeutung »Gebot« 2 9 , und da die Erfüllung des Ersten Gebots die Bedingung für alles weitere darstellt, wundert es nicht, wenn der Abfall zum Götzendienst schlechthin als Abweichen v o n Gottes Weg bezeichnet wird. A u f dem Sinai sprach Gott zu Moses 3 0 : »Geh, steig herab, denn verbrecherisch handeln deine Leute, die du aus dem Land der Ägypter 28 Prud. c. Symm. 2,843/909 (CSEL 61,277/80). Das Prudentiuskapitel bei Klein, Symmachus 140/160 verlangt einen sehr kritischen Leser. 29 W . Michaelis, A r t . όδός: Kittel, Theol. Wörterb. Dazu die Literatur-Nachträge 10,2 (1979) 1197 f.
30 Exod. 32,7; vgl. D t n . 9,12. 16.
%um NT 5 (1954) 42/101, ebd. 51.
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herausgeführt hast! Z u eilig sind sie v o n dem Weg abgewichen, den Ich ihnen gewiesen habe. Sie haben sich ein Kalb gegossen [ . . . ] « usw. V o r dem Tode erhält Moses die Offenbarung, das V o l k werde sich wieder mit fremden Göttern abgeben, und so kündet er es den Leviten a n 3 1 : »Nach meinem Tode werdet ihr ganz frevelhaft handeln und von dem Wege, den ich euch anbefehle, abweichen [ . . . ] « usw. Der falsche Prophet, der das V o l k dazu verführt, anderen Göttern nachzulaufen, soll sterben, denn »er brachte dich ab von dem Wege, auf dem der Herr, dein Gott, dir zu wandeln gebot« 3 2 . Der Weg Gottes oder der »gute Weg«, der »gerechte«, »gerade«, der »Weg der Wahrheit«, die »Wege der Weisheit« — all das sind verschiedene Wendungen für dieselbe Sache — haben eben die Treue zu dem Einen Gott Israels zur Voraussetzung, und wo die Bundestreue verletzt wird, ist der Weg Gottes unbedingt verlassen. Alle die genannten Ausdrücke sind auf Gegensätze hin angelegt, auch w o das nicht ausgesprochen wird: dem Weg Gottes stehen die »schlechten Wege« gegenüber: die Wege der Gottlosen, der Sünder, der Toren, die »eigenen Wege« der Menschen. Es fehlen aber auch nicht Stellen, an denen die Antithese durchgeführt wird, und dann entstehen Formulierungen, die sich einem Zwei-Wege-Bild nähern. Belege hierfür bieten die Psalmen und Sprüche 3 3 . Auch das Deuteronomium enthält eine verwandte Äußerung. G o t t spricht 3 4 : Seht, Ich lege euch heute Segen und Fluch vor: den Segen, wenn ihr gegen den Herrn, euren G o t t , gehorsam seid, den Fluch aber, wenn ihr den Befehlen des Herrn nicht Folge leistet, sondern abweicht v o n dem Weg, den Ich euch heute anbefehle, und anderen Göttern nachlauft, die ihr nicht kennen dürft.
Gerade durch diese Stelle w i r d die Verwendung des Zwei-Wege-Bildes i m späteren jüdischen Schrifttum befördert worden sein, wobei zusätzlich Jerem. 21,8 gewirkt haben m a g 3 5 : »Schauet, den Weg des Lebens und den Weg des Todes stelle Ich euch zur Wahl!« Beide Stellen nennen auch die Folgen der Entscheidung für oder gegen den Weg Gottes, ähnlich Prov. 12,28: »Leben steht am Pfade der Gerechtigkeit, der Weg des Abfalls aber führt zum Tode«.
D t n . 31,29. 32 D t n . 13,6. 33 Ps. 1,6; 138,24; Prov. 2,13; 4,10/19; 11,20; 12,28; 15,19. 34 D t n . 11,26/28. 35 H . L . Strack-P. Billerbeck, Kommentar %um Neuen Testament aus Talmud und Mtdrasch 1 (München, 1922), 460/464.
2*
Christian Gnilka
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2
Das sind einige Züge des Bildes, auf das der Begründer der christlichen Religion schaute, als er i n der Bergpredigt mahnte 3 6 : Tretet ein durch die enge Pforte! Denn weit ist die Pforte und breit ist der Weg, der ins Verderben führt, und gar viele gehen ihn. E n g dagegen ist die Pforte und schmal der Weg, der zum Leben führt, und nur wenige finden ihn.
Hier wird das große Entweder-Oder gelehrt, die Notwendigkeit der Entscheidung für Christus, die äußerste Konsequenz der Entscheidung i m einen wie i m anderen Fall. Zugleich geht es um die Schwierigkeit, Christi Jünger zu sein, denn das bedeutet der schmale Weg. Aber der Weg w i r d nicht in seinem Verlauf gezeigt. Es wird nicht davon gesprochen, daß er etwa anfangs beschwerlich, später leicht sei; dieser Gedanke liegt ganz fern. Der Weg w i r d als Eingang verstanden, deswegen tritt auch das Bild des Tores hinzu. Man hat sich kaum vorzustellen, daß das T o r den Zugang zum Weg eröffne oder umgekehrt der Weg zum T o r hinführe. Vielmehr treten zwei Bilder zu einem Doppelbild nebeneinander, dergestalt, daß die Aussage i n dem genannten Sinne geschärft wird. Einzelne Teile der ganzen Bildrede lassen sich i m Alten Testament, in den Pseudepigraphen und i m rabbinischen Schrifttum nachweisen, aber eine vollständige Parallele fehlt. Es w i r d w o h l so sein, daß der Religionsstifter ein Bild, das I h m die Tradition Seines Volks bot, aufgriff und gebrauchte, u m Seinen einzigartigen Anspruch, den Er an die Menschen richtete, auf eine Weise auszudrücken, die einerseits verständlich war und erfüllte, was über Gottes Weg zuvor gelehrt ward, andrerseits doch etwas ganz Neues ankündete. So viel etwa dürfen w i r sagen, wenn w i r die Sache von außen ansehen. Betrachten w i r sie aber v o n innen her, wie es notwendig ist, wenn w i r uns mit kirchlichen Autoren befassen, betrachten w i r sie also v o m Standpunkt des Glaubens aus, dann müssen w i r mehr sagen. Es ist hier freilich nicht möglich, den weiten und tiefen theologischen Zusammenhang auszuleuchten, in den jene Bildrede sich stellen läßt 3 7 . N u r eine gewissermaßen >philologische
Bildworte< stehen; der Anspruch werde absichtlich polemisch gegen andere Ansprüche aus der religiösen Umwelt formuliert: »Mit diesem >Ich bin< werden die alten Götter entt h r o n t . . .« usw. (ebd. 126). 44
M t . 9,24; Mc. 5,39; Lc. 8,52. Z u m Bild des Todesschlafs vgl. M . B. Ogle, »The sleep o f death«: Memoirs of the American Academy in Rome, 11 (1933) 81/117. 45 Joh. 14,2.3.6. A u c h Christi >Königtum< ist mehr als eine Metapher: J. H . Newman, Discussions and Arguments on Various Subjects (London, 1872), 374/80, bes. 376 f. 46
Hebr. 10,19/20.
47
Act. 9,2; 19,9. 23; 22,4; 24,22. 14 (κατά τήν όδόν ήν λέγουσιν, sc. οί Ιουδαίοι,
α ϊ ρ ε σ ι ν ) . V g l . Michaelis a. Ο . (oben A n m . 29) 93/95. 4
® Act. 16,17.
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Die vielen Wege und der Eine
Menschheitsweisheit ist, hatte sie sich gerade i m Denken und in der Literatur der Antike seit ältesten Zeiten stark ausgeprägt. Insofern war es leicht, das biblische Zwei-Wege-Bild, das w i r fortan besonders i m Auge haben müssen, bei der Evangelisierung der griechisch-römischen Welt beizubehalten. Leicht, und doch auch wieder schwer. Denn hier, wie so oft, ergab sich das Problem von Wahrheit und Ähnlichkeit oder: von Ähnlichkeit und Gleichheit. Die Zwei-Wege-Bilder, welche die vorchristliche Antike kannte, waren dem neutestamentlichen ähnlich, aber nicht gleich. Indem sie durch die vorchristliche Poesie und Philosophie hindurchgingen, jahrhundertelang heidnisches Denken durchzogen, nahmen sie Bedeutungen an, die weder zu den Wegemetaphern des Alten Testaments stimmen noch zum Bild des Evangeliums; wurden sie zu Trägern solcher Aussagen, die dem Herren wort in dieser oder jener Hinsicht ähneln, in anderer Beziehung i h m widersprechen, insgesamt seinen Sinn niemals erreichen, ja, mehr noch: die seine gläubige Annahme vielleicht gar gefährden, weil solche Mischung der Wahrheit immer gefahrlich ist. Hier eben lag die Aufgabe: dieselbe Aufgabe, die allenthalben zu erfüllen war, i m Großen und i m Kleinen, auf allen Gebieten der Literatur, der Philosophie und der bildenden Kunst. Ich kann sie nicht besser bezeichnen als durch folgendes Z i t a t 4 9 : Was immer an Wahrheit und Gnade schon bei den Heiden sich durch eine A r t verborgener Gegenwart Gottes fand, befreit sie (die Missionstätigkeit der Kirche) v o n den Ansteckungen des Bösen (a contagiis malignis libérât ) und gibt es ihrem Urheber Christus zurück (restituii),
der die Herrschaft des Teufels zerschlägt und die
vielfältige Bosheit übler Taten in Schranken hält. Was immer an Gutem in Herz und Sinn der Menschen oder in den jeweiligen Bräuchen und Kulturen der V ö l k e r keimhaft angelegt sich findet (quidquid boni...
seminatum invenitur), w i r d folglich nicht
nur nicht zerstört, sondern geheilt, erhoben und vollendet
(sanatur, elevatur
et
consummatur) zur Verherrlichung Gottes, Beschämung des Satans und Seligkeit des Menschen.
Dieser Text stammt aus dem Jahre 1966, er könnte freilich auch i m Jahre 400 verfaßt sein. Er enthält keinen Gedanken und kaum einen Ausdruck, abgesehen v o n der Wendung »missionalis activitas«, der nicht auch damals hätte vorgebracht werden können. Denn was die Konzilsväter hier sagen, ist ganz aus dem Geist der Kirchenväter gesagt. Hier werden aus moderner Sicht Grundlage, Methode, Ziel des christlichen Umgangs mit den Gütern nichtchristlicher Kulturen formuliert, aber diese Formulierung gilt ebenso für das Verfahren der Kirche i n den ersten Jahrhunderten; hier geht es u m Gegenwart
49
Cone. Vat. I I , Decr. de activitate missionali Ecclesiae, Ad gente s divinitus 9: A.AS. 58 (1966) 958 = Das Zweite Vatikanische Konzil, Teil I I I (Freiburg/Basel/Wien, 1968 [Lexikon für Theologie und Kirche 2]), 44.
24
Christian Gnilka
und Zukunft kirchlicher Mission in der modernen Welt, aber ohne die durchdachten, entwickelten, erprobten Grundsätze frühkirchlicher Evangelisierung der Antike hätten solche Sätze kaum niedergeschrieben werden können, wenn man auch zugeben muß, daß die Väterliteratur keine so knappe und zugleich vollständige, alle wesentlichen Gesichtspunkte der Sache zusammenfassende Formulierung hervorgebracht hat, ausgenommen vielleicht die eine oder andere Partie bei St. Augustinus 5 0 . Die Lehre von den »Samen« des Guten in der vorchristlichen K u l t u r , die zuerst St. Justinus mit Hilfe stoischer Begrifflichkeit zu entfalten versuchte; die Zusammenschau innerer und äußerer, persönlicher und kultureller Conversion, die bei den Kirchenvätern allenthalben anzutreffen ist; ihr theozentrischer Aspekt jeder missionarischen Nutzung der Güter, welche die Ehre Gottes zu verfolgen hat; der bekannte Grundsatz der Väter, daß alles Gute dem Schöpfer gehört und I h m zurückerstattet werden muß, daß der Christ also i m Zuge der Aufnahme und Verarbeitung der Elemente des Guten und Wahren nichts Fremdes sich aneignet, sondern nur nimmt, was ihm als dem Verehrer des wahren Gotts zukommt; die auf Erfahrung gegründete Überzeugung der kirchlichen Autoren, daß der rechte Gebrauch vorchristlicher Kulturgüter immer das Prinzip der Reinigung und Befreiung in sich schließt, weil die Teile des Guten und Schönen bei heidnischen Völkern nur in Verbindung mit bösen und unreinen Beimengungen vorkommen; die Anschauung überhaupt, daß christliche Chrêsis dynamisch ist in Hinsicht ihrer W i r k u n g gegen das Böse; und schließlich die Erkenntnis, daß die versprengten Elemente des Guten, indem die Kirche sie sammelt und auf Christus hin ausrichtet, nicht nur bewahrt, sondern »geheilt, erhöht, vollendet« oder, wie das K o n z i l an anderer Stelle sagt 5 1 , »erhellt« werden: alles das sind Leitgedanken der frühkirchlichen Chrêsis 5 2 , und sie sind allesamt in dem zitierten Text enthalten, sei es andeutungshaft, sei es expressis verbis 5 3 .
50 I m Konzilsdokument selbst (a.O. 958 5 2 bzw. 44 5 2 ) w i r d auf Aug. civ. 19,17: P L 41, 646 (2, p. 385, 26 ff. Dombart-Kalb 5 ) verwiesen. 51
Ad gente s divinitus 11 (a.O. 960 bzw. 50): ut . . . discant (sc. Christi discipuli), quas divitias Deus munificus Gentibus dispensaverit; simul vero istas divitias luce evangelica collustrare , liberare , et in Dei Salvator is dominium reducere conentur. 52
Ch. Gnilka, Χ Ρ Η Σ Ι Σ . Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur. I Der Begriff des »rechten Gebrauchs« (Basel / Stuttgart, 1984), passim. Z u m Begriff des »Befreiens« ebd. 9 3 2 4 2 , zum »Reinigen« 52f.; 78. 53 V g l . noch Ad gente s divinitus 18. 21. 22; ferner Const, dogm. de Ecclesia, Lumen gentium 8. 16. 17 und 13, w o der Begriff des Reinigens i m Text steht: (Ecclesia) facultates et copias moresque populorum, quantum bona sunt, f ove t et assumit, assumendo vero purificai , roborat et elevai (A.A. S. 57, 1965, 17 = Das Zweite Vatikan. Konzil, Teil I , 1966, 192).
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Die vielen Wege und der Eine
W e n n n u n j e m a n d fragte: w o s i n d die Beweise d a f ü r , daß die V ä t e r dies alles beobachteten? W e n n er v e r l a n g t e : m a n zeige m i r e i n d e u t l i c h e s Beispiel, das i h r e M e t h o d e p r a k t i s c h u n d f a ß l i c h v o r f ü h r t , e i n Beispiel, das sich z u i h r e r T h e o r i e verhält w i e ein Mustersatz zur grammatischen Regel, d a n n w ü r d e ich i h n a u f Lactanzens B e h a n d l u n g des Z w e i - W e g e - B i l d s v e r w e i s e n 5 4 . N i c h t als o b L a c t a n z die b e s t e h e n d e n Ä h n l i c h k e i t e n zuerst b e m e r k t h ä t t e 5 5 o d e r i h r e Erörterung
d u r c h i h n s o n d e r l i c h e T i e f e erreichte!
Seine Institutiones
wollen
eine E i n f ü h r u n g i n die c h r i s t l i c h e L e h r e geben, Biblisches w i r d i n W o r t
und
G e d a n k e z u r ü c k g e h a l t e n 5 6 : die W a h r h e i t sollte zunächst d u r c h die p a g a n e n Autoren
sprechen.
Daß
daraus
nur
eine A r t praeparatio
evangelica
werden
k o n n t e , hat d e r A u t o r selbst g e w u ß t 5 7 . Seiner B e h a n d l u n g d e r Z w e i W e g e ist d e n n a u c h n i c h t u n b e d i n g t a n z u m e r k e n , daß sie a m E v a n g e l i u m M a ß n i m m t , o b s c h o n m a n das voraussetzen d a r f 5 8 . A b e r v i e l l e i c h t gerade d a r u m sieht er a u f die d e u t l i c h s t e n U n t e r s c h i e d e z w i s c h e n A n t i k e u n d C h r i s t e n t u m , n o t i e r t er, v o n seinem S t a n d p u n k t aus, sozusagen die g r ö b s t e n F e h l e r .
Und
dem
54 Lact. inst. 6,3,1 /4,13 (CSEL 19,485/492); vgl. epitom. 54 (59), 1 / 3 (a.O. 734f.). 55
Clemens Alex, ström. 5,31,1 f. (GCS 15 [52], 346) notiert sie ausdrücklich: er stellt M t . 7,13f. und Ps. 1,1 m i t der Fabel des Prodikos und einer Äußerung des Pythagoras zusammen; die Parallelen sollen die Abhängigkeit der Griechen (im Sinne des Altersbeweises) dartun. Aber er sieht doch auch andere, tiefere Gründe der Übereinstimmung: vgl. unten A n m . 62. I n apologetischer Verwendung erscheint die Prodikosfabel schon bei Justin (apol. 2,11). 56
V g l . seine K r i t i k an Cyprian (inst. 5,1,26): hic tarnen piacere ultra verba sacramentum ignorantibus non potest, quoniam mystica sunt, quae locutus est. 57 Lact. inst. 1,1,21 f.: er w i l l die Menschen nur auf den rechten Weg zurückrufen und auf »den übervollen Quell der Lehre« (d.h. die Heilige Schrift) hinleiten. Vgl. K . T h . Schäfer, A r t . Eisagoge: RAC 4 (1959) 862/904, bes. 886f. zur Gattung der Institution 58
Ich sehe zumindest keinen Grund, der das ausschlösse. Für die Parallelstelle inst. 7,1,20f. hat dies auch J. Alpers, Hercules in bivio (Diss. Göttingen, 1912), 72 angenommen. Die alte These, Lactanz sei durch die sog. Apostellehre (Didacbe bzw. Doctrina apostolorum) angeregt, bespricht P. Monat, Lactance et la Bible I (Paris, 1982) [Etudes Augustiniennes] 249/52 in Auseinandersetzung m i t neuerer Literatur, bes. mit W . Rordorf: »Recherches de science religieuse« 60 (1972) 109/28. Beachtung verdient, daß der Bibelepiker Juvencus (1,679/689) das Herrenwort über die Z w e i Wege M t . 7,13 f. in einer Weise wiedergibt, die an Lactanz erinnert. E r nutzt die brauchbaren Züge der überkommenen Bildlichkeit, fast wie nach Anweisung Lactanzens, vor allem den Gegensatz v o n rechts und links (ebd. 680: limite laevo), v o n steinigem, steilen Weg der Tugend und ebenem (schlüpfrigen), aber jäh abfallenden (ebd. 681: praeruptum ... iter) des Lasters. Sedulius (carm. paschal. 2,279/297; vgl. opus paschal. 2: CSEL 10,229, Z. 6/11) kombiniert die vorletzte Vaterunser-Bitte (et ne nos inducas in temptationem: M t . 6,13) m i t dem Herrenwort v o n den Z w e i Wegen M t . 7,13 f. und reichert die Darstellung ebenfalls durch Züge des Wegebilds bei Vergil Aen. 6,540/543 an.
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Christian Gnilka
protreptischen Anliegen seines Werks entspricht es, daß er sie sehr klar, schrittweise durchspricht. Eben das macht seine Erörterung zu einem Schulbeispiel der Chrêsis. Die Methode zeigt sich bei i h m weniger i n ihren schöpferischen Möglichkeiten als in ihren elementaren Bedingungen. Seine K r i t i k setzt an einem bestimmten Punkt an, daran nämlich, daß dem üblichen Bilde zufolge der Weg der Tugend nur am Anfang rauh (steil), dann aber leicht (eben) sei. I n der Tat w i r d dieser Gegensatz schon i n Hesiods Versen über die Zwei Wege aufgemacht, und er bleibt der Sache nach auch in Prodikos' Fabel von Herakles am Scheideweg erhalten, die, seit Xenophon sie seinem Sokrates in den M u n d legte, in vielfacher Variation durch die antike Literatur ging: die Tugendhaften, heißt es dort, leben schließlich von Göttern und Freunden geliebt, v o m Vaterland geehrt 5 9 . Lactanz sieht, daß eine Tugend, die sich i m Leben auszahlt, etwas ganz anderes sein muß als die christliche Tugend und daß ein Leben, das seinen L o h n i m Diesseits erwartet, etwas ganz anderes sein muß als ein christliches Leben. Da haben die Dichter, sagt er und denkt dabei an V e r g i l 6 0 , die Sache i n gewisser Beziehung besser getroffen, indem sie jenen Scheideweg i n die Unterwelt verlegten und drunten einen Weg rechtshin zum Elysium, einen nach links zum Ort der Strafe annahmen: aber sie irrten wiederum darin, daß sie diese Wege Wege der Toten sein ließen, während doch die Wege selbst auf das Leben und nur ihr jeweiliges Ende auf den T o d zu beziehen seien. So folgert er für beide, Philosophen und D i c h t e r 6 1 : utrique ergo vere , sed tarnen utrique non rectel Wahr und doch nicht wahr! Darin liegt sein Gesamturteil über die besten Früchte vorchristlichen Denkens beschlossen. Es läßt sich auf viele Gegenstände übertragen, und unter den Kirchenvätern ist keiner, der es nicht unterschrieben hätte 6 2 . Diese Grundanschauung der Verhältnisse verlangt nach 59 Hes. erg. 287/292; Xen. mem. 2,1,21 /34 (ebd. 33). Der hesiodeische Gegensatz TÒ πρώτον . . . έ π ε ι τ α kehrt wörtlich wieder bei Silius 15, 102/08: principio . . . mox. V g l . zum Ganzen Alpers a.O. passim, bes. 4 / 3 0 ; E. Panofsky, Hercules am Scheidewege (Leipzig/Berlin, 1930) = Studien der Bibliothek Warburg 18, 42/52. Weitere Literatur bei P. Courcelle, Connais-toi toi même de Socrate à Saint Bernard (Paris, 1974) [Etudes Augustiniennes] 454 9 0 ; Michaelis a. O . (oben A n m . 29) 44 7 .
60 Verg. Aen. 6,540/43; vgl. Plat. Gorg. 524A; rep. 1,614C; Cie. Tusc. 1,72. Z u m philosophischen und religionsgeschichtlichen Hintergrund s. F. Cumont, Lux perpetua (Paris, 1949), 278/81. Hier, in Eccl. 10,2f. (CCL 72,333f.) zitiert die Vergilverse und weist auf Lactanzens erschöpfende Behandlung der Sache hin; weiteres bei Courcelle a.O. (vorige Anm.) 455 f. 61 62
Lact. inst. 6,3,9.
Für Clemens Alex, ist die Prodikos-Fabel ein Beweis dafür, daß die Philosophen, »indem sie gewissermaßen >der richtigen Sehergabe ihres Inneren< (Plat. leg. 7,792 D ) folgten, nicht ohne Gottes Hilfe in manchem m i t Worten der Propheten übereinstimmten« und daß sie »eine A h n u n g v o n dem mit der Wahrheit Verwandten gewonnen
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Die vielen Wege und der Eine
einer d i a k r i t i s c h e n M e t h o d e der R e i n i g u n g u n d H e i l u n g , u n d L a c t a n z exerz i e r t sie uns v o r . beliebten
Bildes.
Seine D a r s t e l l u n g gerät z u einer g r o ß e n M u s t e r u n g Er
dehnt
seine K r i t i k
auf weitere
Punkte
aus63:
1)
des die
P h i l o s o p h e n sahen n i c h t , w e l c h e n F ü h r e r es a u f d e n Z w e i W e g e n g i b t ( G o t t und
den
Teufel) 64;
2)
sie l e g t e n
die
Entscheidung
zwischen
den
beiden
L e b e n s w e g e n z e i t l i c h a u f die J u g e n d fest, w ä h r e n d das C h r i s t e n t u m M e n s c h e n j e d e n A l t e r s ( j e d e n Geschlechts, jeder H e r k u n f t ) a u f d e n W e g z u m b r i n g t 6 5 ; 3) der B u c h s t a b e Y p s i l o n (die litter a Pythagorae)
Himmel
ist als S y m b o l dieser
Z w e i W e g e u n t a u g l i c h , w e i l die b e i d e n W e g e n i c h t w i e d i e o b e r e n L i n i e n des B u c h s t a b e n s a u s e i n a n d e r g e h e n (das h e i ß t : i n e i n e m s p i t z e n W i n k e l ) , s o n d e r n diametral entgegengesetzten Z i e l e n zustreben: d e m Sonnenaufgang u n d Sonn e n u n t e r g a n g z u , d e m e w i g e n L i c h t u n d der e w i g e n F i n s t e r n i s S c h l i e ß l i c h e n t w i r f t d e r A u t o r sein eigenes, c h r i s t l i c h e s W e g e b i l d
67
entgegen66. . D a b e i legt
er a l l e n N a c h d r u c k darauf, daß d i e b e i d e n W e g e jeweils g l e i c h b l e i b e n : d e r ebene, r e i z v o l l e , d e r W e g d e r B e q u e m l i c h k e i t u n d des Lasters b r i c h t m i t d e m T o d e j ä h ab, so daß m a n unversehens i n die T i e f e s t ü r z t ; d e r steile, rauhe, d e r
hatten« (ström. 5,29,3/6: GCS 15 [52], 344f.). Clemens betont hier die gute Seite jener Ähnlichkeiten, die Kehrseite kannte er aber sehr wohl. E r deutet sie an: die Philosophie sei wie Kerzenlicht, es werde überstrahlt durch das Sonnenlicht des Evangeliums (der Vergleich, sehr fein ausgearbeitet, betont zugleich das Abgeleitete, den Diebstahl des Feuers und Kerzenlichts; vgl. oben A n m . 55). 63
Lact. inst. 6,3,14/17.
64
Die K r i t i k , sie nähmen nur einen Führer auf dem rechten, nicht auf dem linken Wege an, und zwar: quemlibet doctorem bonae artis, dürfte darauf zielen, daß in der späteren Literatur der Gegensatz v o n Tugend und Laster zugunsten anderer Gestalten und anderer Wahlmöglichkeiten, entsprechend dem fachlichen Interesse des jeweiligen A u tors, aufgelöst wurde, also in den Bereich der Berufswahl hinüberspielt. I n ähnlichem Context tritt die Prodikos-Fabel schon bei Cicero off. 1,118 auf. V g l . Alpers a.O. 40/43. Daß die beiden »unsterblichen Führer«, die Lactanz meint (ebd. 14), G o t t und der Teufel sind — nicht ein guter und ein böser Engel wie i m Pastor Hermae (mand. 6,2,1; vgl. epist. Barn. 18) und bei Basilius (in Ps. 1,5: P G 29,221 C / D ) , s. C. Taylor: The Journal of Philology, 21 (1893) 243/58, bes. 243f. 248 — folgt etwa aus inst. 6,7,3/5. 9. 65 V g l . Prodikos bei Xen. mem. 2,1,21 und Cie. off. 1,118 (Hercules) cum primum pubesceret, quod tempus a natura ad deligendum, quam quisque viam vivendi sit ingressurus, est . . . eqs. Der Punkt ist keineswegs nebensächlich: die altersmäßige Mischung der christlichen Gemeinden wurde — gerade i m Vergleich zum philosophischen Schulbetrieb — v o n Heiden wie Christen als Besonderheit vermerkt und hängt eng m i t dem Wesen der christlichen Verkündigung, m i t der Gleichheit aller Menschen vor G o t t , zusammen. Vgl. Ch. Gnilka, Aetas Spiritalis (Bonn, 1972) = Theophaneia 24,115/119. 66 Die Nachrichten, Pythagoras habe den Buchstaben als Symbol des Menschenlebens erfunden, stammen aus späterer, lateinischer Literatur. V g l . Pers. sat. 3,56 f. mit dem dazugehörigen Scholion und A . Brinkmann: Rhein. Mus., 26 (1911) 616/625; C. Pascal: Miscellanea Ceriani (Milano, 1910) 59/67, F. De Ruyt: Rev. Belge de Philologie et d'Histoire, 10 (1931) 137/44; M . - A . Dimier: Le Moyen Age, 60 (1954) 403/18. 67
Lact. inst. 6,4,1/12.
datum
28
Christian Gnilka
Weg der Tugend und der Mühsal strebt immer weiter empor, bis zur höchsten Höhe — w o m i t i m Bilde die verschiedenen Ziele auch räumlich wiedergegeben werden 6 8 . Gemeint ist, daß die Vergeltung, die Umkehrung in Freude bzw. in Leid, erst für das Leben nach dem Tode erwartet werden darf, erst am Ende der gesamten Strecke des Weges 6 9 . Lactanz hat sich bei Ausgestaltung seines Bildes reichlich alter Details bedient, aber auch i n der Ausmalung des Schemas treten die neuen Farben hervor, etwa durch die Züge der A r m u t , der Schande, der Verachtung und des Hasses seitens der Welt, die er dem Weg der Gerechten gibt — Lactanz schrieb unter dem Eindruck der schlimmsten Christenverfolgung. Seine Chrêsis erfüllt die Grundbedingungen der Methode: Bewahrung des Brauchbaren und Aussonderung des Unbrauchbaren, Stärkung des Wahren und Auswaschung des Irrtums. Und sie stimmt i m Ergebnis zu dem, was eine gelungene Chrêsis leisten muß: durch die Übernahme einen schon bestehenden christlichen Zusammenhang erhellen, das Übernommene selbst durchsichtig machen auf eine Wahrheit hin, die zuvor an i h m nicht erkennbar war. Für die Gedankenlinie, die wir verfolgen, ist es bedeutsam, daß Lactanz gleich anfangs den bösen Weg mit den nichtchristlichen Religionen verbindet 7 0 : der Verleumder (der Teufel) versucht, »durch Erfindung falscher Religionen« (pravis religionibus institutis) die Menschen v o m Weg zum H i m m e l abzubringen und auf den Weg ins Verderben zu lenken. Wenig später kommt er noch einmal auf die Sache zurück.
5 Lactanz weiß wohl, daß das Leben etwas Mannigfaltiges, Buntscheckiges ist; daß sich auch nicht alle Äußerungen einer nichtchristlichen K u l t u r über einen K a m m scheren lassen; daß sie hinsichtlich ihres ethischen Werts sehr verschiedenen Rang einnehmen können — und natürlich die Menschen mit ihnen. Aber er sieht doch von seinem christlichen Standpunkt aus eine gewisse Einheitlichkeit alles Heidnischen, bei aller Buntheit sozusagen eine dunkle Grundfarbe. Die Wiesen des Heidentums, sagt ein anderer A u t o r 7 1 , treiben 68
A u c h darin nutzt der christliche A u t o r vorgegebene Züge, vgl. Panofsky a.O. 47/49. Bei Hesiod erg. 291 f. (nicht bei Prodikos) w o h n t die Tugend auf der Höhe. 69 Dieses Moment: der Gegensatz v o n Diesseits und Jenseits, Zeit und Ewigkeit ist auch bei Basilius (hom. in Ps. 1,5: P G 29,221 Β /224C) das Neue, das seiner Chrêsis der Prodikosfabel die Richtung gibt. Sie ruht auf der Grundlage des Herrenworts M t . 7,13 f. und zeigt doch auch Spuren der hesiodeischen Verse (221 C / D ) . 70 71
Lact. inst. 6,4,2.
Theodoret. graec. äff. cur. 1,125/127 (Sources Chrét. 57,136) i m Zusammenhang mit dem Bild der Bienenarbeit, vgl. Chrêsis I 130 f.
Die vielen Wege und der Eine
29
bittere Blüten, aber es gibt da verschiedene Arten der Bitterkeit: das Bittere, das Saure, das Herbe, das Scharfe. Lactanz versucht, diese Tatsache mit Hilfe seines Wegebildes herauszubringen, ohne doch die große Zweiteilung aufgeben zu müssen 72 . Daher stellt er den Weg des Heidentums als Weg mit vielen Nebenwegen vor: multos tramites habet. Das sind die verschiedenen Lehren, Neigungen, Lebensformen der Menschen, aber auch die vielen Götter, die sie verehren. Lactanz begründet auch, warum das so sein muß: die blanke Bosheit, die pure Unwahrheit hätten nicht irreführen können, sie mußte jeweils Ähnlichkeit mit dem entgegengesetzten Guten und Wahren haben; der Betrüger, der auf dem Weg des Todes und des Verderbens voranschreitet, mußte den Menschen viele verwirrende Ähnlichkeiten (veri similia) vorführ e n 7 3 . Er sagt 7 4 : Der Führer auf diesem Wege (des Verderbens und Todes), der Lügner und Betrüger, leitet — damit es so aussehe, als gäbe es da irgendeinen Unterschied v o n Falsch und Wahr, Böse und G u t — die genußsüchtigen Menschen über den einen, die sogenannten Braven über den anderen Pfad; über den einen die Ungebildeten, über den anderen die Gebildeten; über den einen die Schlaffen, über den anderen die Tatkräftigen; über den einen die Dummen, über den anderen die Philosophen: und nicht einmal sie auf einem einzigen Weg (non uno tramite )! . . . Dennoch sind alle jene Wege, die den Anschein erwecken wollen, als seien es gute Wege, nicht verschiedene Wege, sondern Seitenpfade und Fußsteige (deverticula
et semitae), die scheinbar v o n der gemeinen
Straße nach rechts abweichen, aber schließlich doch allesamt auf ein u n d dasselbe Ende zulaufen. Denn eben dort vereint sie ihr Führer alle, w o sich die Guten v o n den Bösen, die Tüchtigen von den Trägen, die Weisen v o n den Toren hätten trennen müssen: i m Götterkult! I n i h m stößt er sie alle zusammen, weil sie hierin ohne Unterschied Toren gewesen sind, mit einem einzigen Dolchstoß nieder und stürzt sie in den T o d hinab.
M i t diesen Sätzen entfaltet Lactanz das Zwei-Wege-Bild weiter, bereichert er es u m einen wesentlichen Zug. Die Linien des alten Bildes werden nicht gelöscht, die scharfe Antithese nicht verwischt, aber ein neues Gegensatzpaar w i r d eingeführt: der via multiplex des Heidentums tritt die via simplex des Evangeliums gegenüber. Der Weg ins Verderben, den viele gehen, ist nicht nur breit und bequem, er ist auch verzweigt und verästelt; der Heils weg, den 72
Lact. inst. 6,7,1/9.
73
G o t t hat dies zugelassen (ebd. 3 f.), ja mehr noch: er hat Seinen Weg mit vermeintlichen Übeln und Schändlichkeiten ausgestattet, damit die Menschen, welche die Wahrheit ohne einen Führer suchten, in die Irre gingen und gerade dem verfielen, was sie vermeiden wollten. Deus enim, ut immortale illud arcanum eius in operto esset, posuit in via Sua quae homines pro malts et turpibus aspernarentur . . . eqs.: damit ist also etwas ganz anderes gemeint als mit dem Satz des Symmachus rei. 3,8 nam cum ratio omnis in operto sit . . . eqs. (s. oben S. 11). Der Christ anerkennt eine Offenbarung und Einen Weg. 74
Ebd. 5 / 8 .
30
Christian Gnilka
w e n i g e g e h e n , ist n i c h t n u r s c h m a l u n d steil, er ist a u c h o h n e A b z w e i g u n g e n u n d einfach. E i n f a c h d e s w e g e n , w e i l alle, d i e a u f i h m w a n d e l n , e i n m ü t i g d e n Einen Gott verehren 75.
6 A l s L a c t a n z schrieb, w a r d e r K a m p f u m d e n V i c t o r i a - A l t a r n o c h lange n i c h t in
Sicht.
Aber
es scheint
fast,
als habe
er
zu
Beginn
des
Jahrhunderts
v o r a u s g e a h n t , was S y m m a c h u s e t l i c h e J a h r z e h n t e später v o r b r i n g e n w ü r d e , als habe er bereits d i e A n t w o r t z u r e c h t g e l e g t , d i e P r u d e n t i u s e r t e i l e n sollte. M a n g l a u b t z u s p ü r e n , m i t w e l c h e r B e w e g u n g das d e r D i c h t e r e r k a n n t h a b e n m u ß , d e r h i e r d e u t l i c h seiner V o r l a g e f o l g t . D i e ganze B i l d l i c h k e i t , d i e einst L a c t a n z e n t w i c k e l t hatte, g r e i f t er auf, u m sie g e g e n S y m m a c h u s z u w e n d e n 7 6 .
Der
G r i f f w i r k t v e r b l ü f f e n d einfach. D e r Satz des S y m m a c h u s u n d sein B i l d s i n d z u r ü c k g e w i e s e n , aber n i c h t b l o ß u n t e r d r ü c k t . D i e B e o b a c h t u n g der M e h r z a h l möglicher
Wege
wird
aufgenommen,
aber
zugleich
berichtigt.
Das,
was
L a c t a n z sagte, erhält eine neue A k t u a l i t ä t . H a t t e S y m m a c h u s , k l u g d i e W o r t e w ä g e n d , d a v o n g e s p r o c h e n , daß m a n » n i c h t a u f e i n e m W e g e « z u d e m g r o ß e n G e h e i m n i s gelange, so g i b t P r u d e n t i u s d e n Satz derart w i e d e r , als sei v o n vielen,
ja u n z ä h l i g e n
Wegen
die
Rede
gewesen77.
Er
verfährt
also
dem
75
Ebd. 9, vgl. 4 (viam multiplicem). Auch für den Epikureer ist der Weg »einfach«, aber aus anderem Grunde und in anderem Sinne: weil das höchste G u t , das Freisein v o n Schmerz, leicht zu erreichen ist. Darum ruft der Epikureer bei Cicero fin. 1,57: ο praeclaram beate vivendi et apertam et s imp lie e m et directam viam! D a r u m preist Lucrez den Meister, daß er den kurzen (nicht schmalen!) Weg wies (6,26ff.): ( Epicurus ) exposuitque bonum summum, quo tendimus omnes, | quid foret, atque viam monstravit tramite parvo \ qua possemus ad id recto contendere cursu . . . eqs. (zur Sache C. Bailey i m Kommentar, Bd. 3 (Oxford, 1950 2 ), p. 1557f., zum Ausdruck tramite parvo H . A . J. M u n r o , Ausgabe, Bd. 2 (Cambridge, 1886 4 ), p. 353). Lactanz, der Lucrez gut kannte, zitiert diese Verse (inst. 7,27,6: hier limite parvo statt tramite parvo, ohne Unterschied der Bedeutung) und wendet sie auf Christus, zugleich einen wesentlichen Punkt korrigierend (ebd. 7): nec monstravit tantum (sc. Christus), sed etiam praecessit, ne quis difficultatis gratia iter virtutis horreret. Z u dieser christlichen N u t z u n g des Epikurlobs bei Lactanz vgl. W. Schmid, A r t . Epikur: RAC 5 (1962) 681/819, ebd. 812f. = Ausgewählte philologische Schriften, hrsg. v o n H . Erbse und J. Küppers ( B e r l i n / N e w Y o r k , 1984), 261 f. Einen neuerlichen Überblick über Lactanz und die Klassiker gibt E. Heck: Philologus, 132 (1988) 160/179. ™ Prud. c. Symm. 2,843/909. 77 Das >Doppelargument< aus Symm. rei. 3,10: eadem spectamus astra (a) und uno itinere non potest perveniri ad tam grande secretum (b) w i r d bei Prudentius zuerst referiert: 2,85/90, dann noch einmal: 2,773/80 (in umgekehrter Reihenfolge: b, a); hierauf w i r d zuerst a widerlegt (781 /842), sodann b abermals wiederholt (843/46) und anschließend ebenfalls zurückgewiesen (847/909). M a n sieht, wie ernst der Dichter diese Äußerungen nahm: Satz b w i r d in Abständen dreimal paraphrasiert, durch Variation verdeutlicht und in Erinnerung gebracht.
Die vielen Wege und der Eine
31
Grundtext gegenüber recht frei, aber dennoch nicht Wahrheit s widrig. Er löst nur die dezente Formulierung des Redners auf, zeigt, was sich in Wahrheit hinter ihr verbirgt, nimmt ihr das Bestrickende und legt schon in der Wiedergabe der gegnerischen Ansicht deren Folgen und wahre Natur bloß. Dieser so auf ihr Wesen hin scharf genommenen Lehre stellt er dann das Zwei-Wege-Bild lactanzischer Prägung entgegen. Longe aliud verum est, leitet er die Erwiderung ein: es ist ganz anders 78 : I n Wahrheit gibt es zwei Wege: einer ist einfach ohne Abzweigungen und Verästelungen, auf ihm führt Gott; einer ist vielfach gespalten und hat ungezählte Seitenwege, auf i h m führt der Teufel: altera (via) multißda est, ut simplex altera et una79. Prudentius wendet also Lactanzens Antithese der via simplex und der via multiplex an, u m dem von Symmachus bemerkten Tatbestand gewissermaßen den rechten Platz anzuweisen. Der Gegensatz der Bilder w i r d kraftvoll herausgearbeitet, und man fühlt, was die reife lateinische Poesie in der Darstellung des bizarren Themas zu leisten vermag, allein schon durch die Fülle der Ausdrücke, die sie für das Wegegewirr bereithält 8 0 , oder durch die landschaftliche Szenerie, die sie den Bildern g i b t 8 1 . Darin zeigt sich der Dichter der Vorlage gegenüber selbständig, aber auch in anderer Hinsicht gelangt er über sie hinaus: er setzt die dichterischen Mittel ein, u m die mannigfaltigen Formen des Götzendiensts i n ihrer Buntheit zu zeigen — eine lohnende und angemessene Aufgabe für einen Meister der Sittenschilderung 8 2 , aber auch eine notwendige Klärung der Tatsachen, die
78
Prud. c. Symm. 2,847.
79
Ebd. 854. Der Ausdruck via simplex begegnet in dem Text dreimal (849, 854, 882), dazu gratia simplex (906), vgl. die unten S. 33 ausgeschriebene Versreihe. Z u via multiplex s. die folgende Anmerkung. V g l . auch Prud. apoth. praef. 1/16 das Wegegewirr der Irrlehren i m Gegensatz zum engen, aber geraden Heilsweg. 80
S par sis . . . tramitibus
( 8 4 4 f . ) , centenos . . . Calles ( 8 4 5 ) , ambago viarum ( 8 4 7 ) , anfractus
dubios, multis anfractibus (848. 896), diverticulum (850), divortia (856), quadriviis (865), multifida, sc. via (854), multiplici, sc. viae (889), centifidum . . . iter (890), iter . . . multifidum variumque (773 f.), devia (898. 899), avia (904), dazu andere Wörter für »Weg« wie conpetum (776 conpeta) y orbita (845), semita (874), clivus (884 clivo). Freilich sind das alles nur Brocken, die den Eindruck der fein gearbeiteten Versreihen nicht wiedergeben können. 81 V g l . bes. 873/75: Waldesdickicht. Anders als bei Lactanz und Juvencus (s. oben A n m . 58), anders auch als an der Parallelstelle bei Prudentius selbst (ham. 789 ff.) w i r d hier (885/88) eine Änderung des anfangs rauhen und beschwerlichen Wegs angenommen: prima viae facies inculta, subborrida, tristis, | difficilis, sed fine sui pulcherrima et amplis I pr aedita divitiis et abundans luce perenni . . . eqs. Der alte hesiodeische Gegensatz τ ό πρώτον . . . 'έπειτα bleibt gewahrt, erhält jedoch anderen Sinn: die schöne Wegstrecke ist kein Teil mehr des irdischen Lebens. I n der Sache ergibt sich also kein Widerspruch zu Lactanz. 82 E i n Kenner urteilt: »Der Realismus des antiken Lebens tönt aber nicht nur aus diesen genialen Sittenschilderungen Petrons kräftig an unser O h r , er w i r d auch noch
32
Christian Gnilka
Symmachus durch seine metaphorische Redeweise vornehm umschreibt. Denn was sind die »Wege«, die er meint, tatsächlich? Wofür steht sein Bild? Welche Wirklichkeit entspricht ihm? Einer der Wege zu dem »großen Geheimnis«, wie er es nennt, bestand etwa darin, festlich gewandet in eine Grube zu steigen, die mit durchlöcherten Brettern gedeckt war, und den ganzen Körper, Haupt, Antlitz, M u n d dem Blut eines frisch geschlachteten Stieres darzubieten, das von oben herabtropfte. So glaubte man eine A r t Reinigung zu erfahren 8 3 . Vettius Agorius Praetextatus, einer der Granden Roms, ausgemachter Heide wie Symmachus, sein enger Freund und Mitstreiter, hatte diese »Stierbluttaufe« der Großen Mutter emfangen — w o h l auf dem ager Vaticanus gegenüber der Peterskirche, wo man, kaum ohne Absicht, den K u l t i m vierten Jahrhundert ü b t e 8 4 — und ließ das auf seinem Grabstein vermerken, der heute noch in Rom zu sehen i s t 8 5 . Indem also Prudentius die Vielheit der Kulte schildert, zeigt er, was die »vielen Wege« wirklich sind, tut er auf seine Weise und als Dichter, was heute Religionswissenschaftler tun, die gegenüber gewissen Thesen moderner Theologie auf die Realitäten verweisen, etwa auf die Tatsachen des sozialen Lebens, die durch die Religionen bestimmt werden 8 6 . Prudentius führt durch die Fülle des Dichterworts aus der blassen Theorie in die bunte Wirklichkeit einer heidnisch geprägten K u l t u r . Seitenpfade des einen Irrwegs, sagt er, gibt es so viele, wie es Götzenbilder in den Tempeln gibt, so viele, wie es Dämonen gibt, heidnische Kulte, Mysterien und Feste 8 7 . Er bietet eine Aufzählung, die v o n der Höhe der Abstraktion i n die Niederungen des
v o n ganz anderer Seite her bemerkbar. Für die spätere, schon christlich gewordene Zeit bieten die Apologeten des Christentums in dieser Beziehung einen sehr bedeutenden Stoff, und unter ihnen, soweit ihre Werke zugleich auf einen Kunstwert Anspruch erheben, n i m m t der aus Spanien gebürtige Dichter Prudentius die führende Stellung ein. E r hat in seinem zwei Bücher umfassenden Gedicht gegen Symmachus ein Werk hinterlassen, das einzig in seiner A r t dasteht. M i t solch tiefem sittlichen Ernste und einer so glänzenden Beweisführung sind nur wenige Apologeten verfahren. Heute noch ist der Ernst seiner Auffassung, der Reichtum in der dichterischen Erfindung und die Kraft der Gestaltung zu bewundern.« M . Manitius, Mären und Satiren aus dem Lateinischen (Stuttgart [Bücher der Weisheit und Schönheit, hrsg. v o n J. E. v. Grotthuss] o. J.), 3. 83 Beschreibung des Ritus (taurobolium) bei Prud. per. 10, 1006/1050. V g l . R. D u t h o y , The Taurobolium. Its Evolution and Terminology (Leiden, 1969) = Études préliminaires aux religions orientales dans l'empire Romain 10,55 f. (Text) und dazu 104 f. (Prudentius' Beschreibung sei i m wesentlichen korrekt). 84
So Boissier, La Fin du paganisme 2, 272f.; vgl. aber K . Latte, Römische Religionsgeschichte (München, 1960) 353 2 . 85 C I L 6,1779; vgl. Heibig, Führet tauroboliata: C I L 6,1780, vgl. 1779 b. 86 87
4
2, Nr. 1223: tauroboliatus,
ebenso war seine Frau
Dörmann a. O. (oben A n m . 11).
Prud. c. Symm. 2,856ff.: Et tot sunt eius (sc. itineris) divortia, . . . eqs.
quot templorum \ signa
Die vielen Wege und der Eine praktischen
Kults
u n d Lebens
führt,
33
also eben i n die W i r k l i c h k e i t .
Eine
S c h i l d e r u n g , die z e i g t , was H e i d e n t u m t a t s ä c h l i c h ist o d e r d o c h sein k a n n 8 8 : die Raserei der K a s t r a t e n i m C y b e l e k u l t , V e r e h r u n g t i e r g e s t a l t i g e r
Gottheiten
Ä g y p t e n s u n d anderes, aber a u c h F a t a l i s m u s , A s t r o l o g i e , M a g i e , Z u k u n f t s d e u t u n g aller A r t , ja sogar P h i l o s o p h i e , R e i c h t u m , M a c h t 8 9 . E r schärft ein, es sei eine T ä u s c h u n g z u g l a u b e n , daß die h e i d n i s c h e n K u l t e z u G o t t f ü h r e n , daß C h r i s t e n w i e H e i d e n z u g u t e r L e t z t allesamt a m selben Z i e l a n l a n g e n 9 0 : der G ö t z e n d i e n s t i n seinen v i e l f ä l t i g e n
Erscheinungsformen
führt
doch nur
zu
einem, freilich d e m L e b e n entgegengesetzten E n d e : z u m (endgültigen, ewigen) T o d . A n d e r e Religionen, lehrt Prudentius ausdrücklich, sind keine »Heilswege«; d e n n der D ä m o n , der a u f d e m v e r z w e i g t e n W e g e des H e i d e n t u m s F ü h r e r m a c h t , ist v o n der A r t : qui non sinat ire salutis \ ad Dominum, iter per devia monstrat 901
9X
.
den
sed mortis
U n d er schließt m i t der A u f f o r d e r u n g :
Ite procul, gente s ! consortia nulla viarum sunt vobis cum plebe Dei; dis cedi te longe et vestrum penetrate chaos, quo vos vocat ille praevius infernae perplexa per avia noctis!
905
at nobis vitae Dominum quaerentibus unum lux iter est et clara dies et gratia simplex, spem sequimur gradimurque fide fruimurque futuris . . .eqs.
88
Daß er sich hierbei solcher Züge bedient, die schon in der voraufgehenden Apologetik, etwa wieder bei Lactanz, verwandt worden waren, ja bereits in der philosophischen K r i t i k an der Volksreligion (vgl. M . Lausberg, Untersuchungen Senecas Fragmenten, Diss. Münster, 1969 = Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 7,1970,211/25 zu Sen. de superst. frg. 34. 35), w i r d nur derjenige als Zeichen der Unlebendigkeit nehmen, der >Topos< und Wirklichkeit als Widersprüche auffaßt. Die Lebensnähe seiner Schilderung w i r d dadurch nicht gemindert. Man braucht nur zu vergleichen, was Augustinus als Augenzeuge über karthagische Verhältnisse berichtet, z.B. über die Exzesse beim Fest der Virgo Caelestis oder über die widerlichen Umzüge der Bettelpriester, die sich i m K u l t der Magna Mater selbst entmannt hatten (Aug. civ. 2,26; 7,26). 89
Prud. c. Symm. 2, 890 f. (dux daemon) centifidum confundit iter: trahit inde sophistas | barbatos, trahit hinc opibus vel honore potentes. Ähnlich Lact. inst. 6,7,5 f.: der Teufel hat sich vielerlei Nebenwege zum A b g r u n d erdacht, für jeden einen passenden. D e n sophistae barbati (der Bart gehört zur Philosophentracht) entsprechen hier die Philosophen, besonders diejenigen, qui aut virtutem sequi volunt aut contemptum rerum profitentur: sie zieht (trahit) der Teufel auf einem zerklüfteten, steilen Weg, der aber dennoch kein guter ist (Lact. ebd. 6). Z u opes und honor (Vers 891) vgl. Col. 3,5; Eph. 5,5: Habsucht (Laster) ist Götzendienst. 90 Ebd. 896/900; vgl. 820f.: non facit ergo pares in religione tenenda | aëris et caeli communio (in Erwiderung auf die entsprechende Feststellung bei Symm. rei. 3,10).
Ebd. 897 f. 3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
34
Christian Gnilka Fort m i t euch, ihr Heiden! Es gibt keine Wegegemeinschaft zwischen euch und dem V o l k Gottes! Geht weit weg, dringt ein in euer Chaos, in das euch der ruft, der vorangeht auf den verschlungenen Irrwegen höllischer Nacht! Aber für uns, die w i r unterwegs sind zum Herrn des Lebens, ist der Eine Weg Licht, heller Tag und einfache Gnade. Der Hoffnung folgen w i r , i m Glauben schreiten w i r voran, freuen uns an den künftigen Dingen . . . usw.
7 Das ist die Stimme der Väter. Sie mag uns gefallen oder nicht gefallen: es ist ihre Stimme, die Stimme der frühen Kirche. Nicht als ob jeder von ihnen das, was Prudentius zu sagen hatte, genauso gesagt hätte wie er! Seine Darstellung ist, wie die eines jeden großen Autors, eine persönliche Leistung, eine Äußerung besonderen Geists und eigener Gestaltungskraft, die auch der Sache, die dargestellt wird, ihr eigentümliches Gepräge gibt. Stimme der Väter: das kann auch nicht bedeuten, daß nichts anderes und nicht mehr zur Sache gesagt wurde oder daß sich überhaupt nicht mehr zur Sache sagen ließe, als Prudentius sagte. Wenn w i r in seinen Versen die Stimme der Väter vernehmen, so deshalb, weil das, was er sagt, auch sie sagen oder sagen könnten; weil sie i h m nicht widersprechen, vielmehr anerkennen würden, daß er eine passende A n t w o r t erteilte, daß er das Wegebild i n einer angemessenen und treffenden Weise entwickelte. Wie St. Ambrosius erklärte: non congruunt igitur vestra nobiscum 92, so erklärt Prudentius: »es gibt keine Wegegemeinschaft zwischen euch und dem V o l k Gottes« ( consortia nulla viarum | sunt vobis cum plebe Dei). Der Dichter ist nicht etwa >toleranter< als der Bischof 9 3 . St. Ambrosius stimmt mit Prudentius, Prudentius mit Lactanz überein, und wir könnten leicht andere Stimmen hinzufügen, um diesen Einklang zu bereichern. Nicht lange nach Prudentius verglich ein anderer Dichter, Sedulius, das Heidentum, besonders die griechische Bildung, mit dem Wegegewirr des kretischen Labyrinths und nahm sich vor, durch sein Werk dazu beizutragen, die Verirrten auf den sicheren »Heilsweg« zu geleiten 9 4 . Eine weitere Stimme also i m Chor der anderen! Auch sie bringt wieder einen neuen Klang hinzu, ohne doch die Harmonie zu stören. Aber die schönste Bereicherung, der wertvollste Gewinn für unser Thema liegt darin, daß der größte Theologe der frühen Kirche das Wegebild ebenfalls mit eigener Hand nachgezogen hat, daß w i r auch von i h m eine A n t w o r t erhalten auf das, was Symmachus mit diesem
92 V g l . oben S. 16. 93 Dies gegen Klein, Symmachus 140ff., der Prudentius gegen Ambrosius auszuspielen versucht (141) und die Toleranz des Dichters lobt (155).
Sedul. carm. paschal. 1,35f. 43f. (CSEL 10,17f.); opus paschal. 1,1 (a.O. 177, Z. 13f.; 178, Z. 2/4).
Die vielen Wege und der Eine
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Bilde sagen wollte. Nicht, daß er sich tatsächlich gegen Symmachus selbst wendete! Seine A n t w o r t gilt einem anderen, trifft aber auch Symmachus.
8 N u r wenige Jahre, nachdem Prudentius sein Gedicht abgeschlossen hatte, sah sich St. Augustinus veranlaßt, eine Korrespondenz mit einem gebildeten Heiden namens Nectarius zu führen 9 5 . I n der afrikanischen Stadt Calama, der Heimat des Nectarius, war es bei einem heidnischen Fest des Jahres 408 (oder 409?) zu schweren Ausschreitungen gegen die Christen gekommen. Man hatte Strafe zu fürchten, zumal die Feier heidnischer Feste eben erst durch kaiserlichen Erlaß verboten worden w a r 9 6 . Da wandte sich Nectarius an den Bischof von H i p p o und bat u m Fürsprache. St. Augustinus lobt seine Liebe zur Heimat, verhehlt freilich nicht, daß er solche Treue noch viel lieber der himmlischen patria (civitas) dargebracht sähe — Gedanken des augustinischen Hauptwerks durchziehen schon diesen Brief 9 7 . Nectarius glaubt zu verstehen: sicher sei jene Stadt gemeint, wo »der große Gott« und die Seelen derer wohnen, die sich u m den irdischen Staat Verdienste erwarben (der Ort, von dem bei Cicero i m Somnium Scipionis die Rede i s t 9 8 ) , und er fügt h i n z u 9 9 : Quam ( civitatem ) omnes leges diversis viis et tramitibus appetunt, quam loquendo exprimer e non possumusy cogitando forsitan invenire possimus. I h r (dieser civitas ) streben alle Gesetze auf verschiedenen Wegen und Pfaden zu; sie können w i r in der Rede nicht ausdrücken, i m Denken vielleicht erfassen.
Vorzüglich diese Vaterstadt sei zu erstreben (appetenda), räumt er weiter ein, aber die irdische, »in der w i r geboren und gezeugt wurden« (in qua nati et geniti sum us), die uns zuerst das Licht dieser Welt erblicken ließ, die uns ernährte und erzog, dürfe man nicht i m Stich lassen! Solche Gedankenverbindung erinnert in erstaunlicher Weise an Symmachus' Thesen. Das Bild der vielen Wege kehrt wieder, und sogar den Begriff des genius (urbis) scheint Nectarius vorsichtig zu umschreiben — ihn direkt zu 95
Nectar. Aug. epist. 90, Aug. epist. 91; Nectar. A u g . epist. 103, Aug. epist. 104. Z u r Datierung und zur Person des Nectarius s. A l . Goldbacher: C S E L 58, 27 f. 31; A . Mandouze, Prosopographie chrétienne du Bas Empire Bd. 1 (Paris, 1982), 776/779. Einen (dürftigen) Kommentar bietet H . Huisman, Augustinus' Brief wisse ling met Nectarius (Diss. Amsterdam, 1956). 96
Cod. Theod. 16,10,19; const. Sirmond. 12: vgl. Goldbacher a.O. 27.
97
A u g . epist. 91 (CSEL 34,2,427/35). V g l . Serafino Prete, La città di Dio nelle lettere di Agostino (Bologna, 1968), 80/89. 98
Cie. rep. 6,13.
99
Nectar. A u g . epist. 103,2 (CSEL 34,2,579).
3*
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Christian Gnilka
nennen, wagt er freilich nicht, aber wenn er gleich darauf von den genitales urbes spricht, ist damit jedenfalls mehr gemeint als »Geburtsstädte«. Der Adressat hat diesen undeutlichen Anklang, der aus dem Grund einer heidnischen Denk- und Redeweise herauftönt, geflissentlich überhört, das Wegebild dagegen einer eingehenden Besprechung gewürdigt 1 0 °. Was man aus ihr gewinnt, das ist zunächst eine Bestätigung der Erkenntnis, daß Philologie nicht notwendig Pedanterie sein muß, daß vielmehr philologische Genauigkeit bis zu gewissem Grade eine Bedingung jeder geistigen Auseinandersetzung darstellt. Der Bischof greift aus der Formulierung des Korrespondenten ein W o r t heraus, das seines Erachtens treffend gewählt ist und dennoch zugleich den ganzen Gegensatz ihrer Anschauungen enthüllt. Dieses W o r t macht er zum Ansatzpunkt einer K r i t i k , die sich dadurch auszeichnet, das sie die Gemeinsamkeit soweit wie möglich reichen läßt, ohne doch die tiefe K l u f t zuzudecken, die beide trennt. Seine Erwiderung ist der A r t , daß man nichts Besseres tun kann als sie ganz anzuhören.
9 Den Übergang findet er durch ein Zitat aus der vierten Ecloge V e r g i l s 1 0 1 : Christus dürfe man wahrhaft mit den Worten anreden, die Vergil verkehrterweise an einen vornehmen Römer richtete: Te duce si qua manent sceleris vestigia nostri I inrita perpetua solvent formidine terras; denn durch I h n würden die Sünden gelöst und vergeben, und auf diesem Wege gelange man unter Seiner Führung 100 Aug. epist. 104,12 (CSEL 34,2,590 f.). A u c h die Auseinandersetzung Augustins mit dem philosophisch interessierten Longinian (epist. 234. 235: CSEL 57, 519/523) kreist um das Wegebild. Der Bischof hatte dem Heiden gegenüber offenbar auf Christus als den Weg zum Vater (Joh. 14,6) hingewiesen (vgl. epist. 234,3: a.O. 520,21 ff.), Longinian entwickelt darauf seine platonischen Vorstellungen v o m Weg zur Gottheit (ebd. 2: a.O. 520,10ff.); Augustin wiederum wünscht Aufklärung darüber, wie das gemeint sei, besonders, welche Bedeutung die traditionellen K u l t e (sacra) nach Ansicht des Korrespondenten besäßen (epist. 235,2: a.O. 522,16ff.). Denn sie hatte Longinian bezeichnenderweise in seine Darstellung des >Weges< eingebracht (epist. 234,2: a.O. 520,18/20; vgl. epist. 235,1: a.O. 522,12/15).
ιοί Aug. ebd. 11 (a.O. 590): Verg. bue. 4,13f. Daß die Wahrheit dieser Verse aufleuchte, sobald man sie auf Christus beziehe, bemerkt Augustin auch civ. 10,27 (1,444f. Dombart-Kalb 5 ); epist. 137,12 (CSEL 44,114); epist. 258,5 (CSEL 57,609f.). V g l . D . Comparetti, Virgilio nel Medio Evo (1896 2 ), N u o v a edizione a cura di G. Pasquali 1, Firenze o.J. (1946), 124; K . H . Schelkle, Virgil in der Deutung Augustins (Stuttgart / Berlin, 1939) = Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft 32. 16/32; H . Hagendahl, Augustine and the Latin Classics (Göteborg, 1967), 367. 444. Aus Augustins Sicht bildet die vierte Ecloge allerdings insofern einen Sonderfall, als er annahm, das Gedicht beruhe auf echter Prophetie der Sibylle; dazu s. auch A . Wlosok, » >Cumaeum carmen< (Verg. ecl. 4,4). Sibyllenorakel oder Hirtengedicht?«: Forma Futuri. Studi in onore del Cardinale Michele Pellegrino (Torino, 1975), 693/711.
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ins himmlische Vaterland (hoc enim duce . . . hac via ad caelestem patriam pervenitur). Damit ist das Stichwort >Weg< gegeben. St. Augustinus fährt fort 102: Aber nun zu deinem Satz: >Alle Gesetze streben auf verschiedenen Wegen und Pfaden zu i h m (d.h. zum himmlischen Vaterland)(Das himmlische Vaterland,) das alle Gesetze auf verschiedenen Wegen und Pfaden erreichen oder geigen oder finden oder betreten oder in Besit% nehmem oder dergleichen, sondern du sagst: >das sie erstrebem
(appetunt)\
D u wägst das W o r t genau ab und bezeichnest nicht das
Erreichen, sondern den Wunsch zu erreichen. So schließt du weder den wahren Weg aus noch läßt du die anderen, die falschen Wege zu. Denn einerseits strebt natürlich der Weg zum Ziel ( appétit ), der tatsächlich dorthin bringt (perducit) ; andrerseits führt nicht jeder Weg zum Ziel, der es erstrebt: dorthin, w o jeder unbedingt glücklich ist, der ankommt
(perducitur).
Glücklich sein aber wollen w i r alle, das heißt:
wir
erstreben es, ohne daß w i r es doch alle, die w i r es sein wollen, auch tatsächlich sein könnten, das heißt: ohne daß w i r , was w i r erstreben (appetimus), (adipiscimur).
auch erlangen
Derjenige also erlangt (das Ziel), der den Weg einschlägt, auf dem er
nicht nur strebt (appétit),
sondern auf dem man auch ankommt (pervenitur):
der die
anderen auf den Wegen des endlosen Strebens ohne Erreichen hinter sich läßt: ihre Verirrung wäre ja keine, wenn nichts erstrebt würde, oder dann, wenn die erstrebte Wahrheit erreicht wäre.
Dieser Text klingt anders als die bisher zitierten. Er ist weniger polemisch. Aber nicht allein dadurch hebt er sich von den anderen ab. Vielmehr w i r d darin auch ein neuer Gedanke entfaltet und mit dem Wegebild verbunden: dem Heidentum und allen seinen »Gesetzen«, seinen vielen »Wegen« w i r d ausdrücklich das Streben nach dem himmlischen Vaterland zuerkannt, das Verlangen, die Sehnsucht danach. Wie bei Lactanz und Prudentius sind hier auch bei St. Augustinus die anderen, falschen Wege die Wege des Heidentums, aber diese Wege werden nicht nur nach dem Ende beurteilt, das sie erreichen, sondern auch nach dem, das sie erreichen möchten. Das allein macht den Unterschied. Gewiß ist der Kirchenvater weit entfernt v o n der Ansicht, als genüge es, den H i m m e l (Gott, die Wahrheit, das Glück) zu suchen oder als könne man das alles überhaupt nur suchen oder gar als müßten es der Christ und der Nichtchrist gemeinsam suchen oder als dürfe es jeder mit gleichem Recht auf eigenem Wege suchen. Wie der andere Kirchenvater, den w i r zitierten 1 0 3 , dem Symmachus entgegenhielt: »Was ihr durch Vermutungen sucht, das wissen w i r zuverlässig . . . «, so läßt auch St. Augustinus weder ίο 2 Aug. ebd. 12 (a.O. 590f.). 103
Ambros. a.O.: s. oben S. 16.
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Christian Gnilka
einen Zweifel daran, daß es Einen Weg gibt, der tatsächlich dorthin führt, w o h i n alle anderen nur streben, noch daran, welcher dieser Weg ist. Es besteht kein Widerspruch zwischen den beiden Kirchenlehrern, auch nicht i n der Anerkennung des Suchens der anderen, sozusagen in der positiven Bilanz des Heidentums; denn v o m Suchen spricht auch St. Ambrosius. Aber indem St. Augustinus das Verbum appetere aufgreift und die ganze Aussage des heidnischen Wegebilds gelten läßt, soweit sie eben reicht, legt er doch einen neuen Nachdruck auf den Punkt, entfaltet er einen Gedanken, der i n den anderen Dokumenten, die w i r heranzogen, nicht oder nicht v o l l entwickelt war. Daß er damit dem Text des Nectarius Gewalt antut, wird man nicht behaupten dürfen. Das W o r t appetere fällt dort zweimal hintereinander, und St. Augustinus hat mit feinem Gespür für das, was Worte wert sind, herausgefühlt, daß die Wortwahl keine zufällige ist, daß in ihr sich der Standort des anderen verrät 1 0 4 . Er geht nur insofern über den Text hinaus, als er dem Korrespondenten klar zu machen versucht, welche wahren, ihm selbst vielleicht nicht bewußten, Folgerungen sich daraus ziehen lassen: es ist wahr zu sagen, daß alle auf verschiedenen Wegen zum Glück streben, wahr deshalb, weil wirklich alle danach streben, und deshalb, weil mit dieser Aussage nicht ausgeschlossen wird, daß es Einen Weg gibt, auf dem man das Ziel auch erreicht. So nimmt St. Augustinus die Formulierung des Heiden: sein Wegebild und den Begriff appetere, zum Symbol der Sehnsucht der Menschen nach Gott. V o n ihr spricht er auch in den berühmten Sätzen zu Beginnen der Confessiones XO h: [. . . ] f ecisti nos ad Te et inquietum est cor nostrum donec requiescat in Te. U n d dort findet sich das schöne Bild, das ausdrückt, was der Verfasser selbst erlebte, als er von der Lektüre der neuplatonischen Schriften zu den Paulusbriefen überging106: U n d ein anderes ist es, v o n waldiger Höhe die Heimat des Friedens Weg dorthin nicht (frustra
sehen und den
finden und vergeblich sich zu mühen in unwegsamer Wildnis
conari per invia), da ringsum Entlaufene auf ihrer Flucht i m Hinterhalt liegen
und lauern mit ihrem Häuptling >Löwe und Drache< (Ps. 90, 13) — ein anderes aber, den Weg dorthin ein^uhalten, den die Liebessorge des himmlischen Herrschers gebahnt hat, w o keine Wegelagerer ihr Unwesen treiben, die v o m himmlischen Kriegsdienst ausgerissen sind; denn die meiden ihn wie Folterqualen. 104 A u f den geistigen Hintergrund wirft vielleicht das Porphyriuszitat bei Macrobius a.O. (oben A n m . 14) einiges Licht: latet omne verum, hoc tarnen anima cum ab officiis corporis somno eius paululum libera est inter dum aspicit, non numquam tendit aciem nec tarnen pervenit . . . eqs. 105 106
Aug. conf. 1,1.
Ebd. 7,21,27. Übersetzung nach J. Bernhart, Augustinus, Confessiones (München, I960 2 ), 359. Parallelen bei W . Theiler, Porphyrios und Augustin (Halle, 1933) = Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswiss. K l . 10,1 p. 64. Das B i l d beruht auf christlicher Chrêsis platonischer Gedanken (Streben der Seele nach ihrem Vaterland).
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Wie die Sehnsucht nach Gott in den heidnischen Kulten einen verkehrten und vergeblichen Ausdruck findet, ist in einem anderen Brief festgestellt, den der Bischof von H i p p o an den jungen Proconsul der Provinz Africa, Volusianus, richtete 1 0 7 . Man mag sich in diesem Zusammenhang der Bildrede eines kirchlichen Texts aus moderner Zeit erinnern; denn dasselbe, Sehnsucht und Unvermögen zugleich, sucht auch die Adhortatio Pauls V I . »Evangelii nuntiandi« (1975) durch ein Bild zu treffen: die anderen Religionen, heißt es d o r t 1 0 8 , können nicht wirklich einen wahren und lebendigen Verkehr mit Gott herstellen, »auch wenn sie sozusagen ihre Arme zum H i m m e l zu erheben scheinen«.
10 D o c h kehren w i r noch einmal zu dem Augustinusbrief an Nectarius zurück! Es lohnt sich, diesen Text hier ein Stück weiter zu verfolgen. Denn auch in anderer Hinsicht führt er über Prudentius und Lactanz hinaus. Beide hatten der via multiplex des Heidentums die via simplex des Christentums gegenübergestellt. Solche Antithese könnte in einem Betrachter, der seine Aufmerksamkeit allein auf diese Bilder richtet, leicht den falschen Eindruck erwecken, als stehe hier eine Lehre gegen die bunte Fülle des Daseins, als sei das volle, wirkliche Leben auf Seiten der anderen zu finden, auf der Seite des Christentums nur graue Eintönigkeit, als gewähre jene Vielfalt die freie Entwicklung menschlicher Eigenarten und Fähigkeiten, während die Kirche ihren Gläubigen die Zwangsjacke eines Systems anlege. Natürlich war das nicht gemeint. Gerade der Dichter, der in seinen Hymnen und Märtyrerliedern, in seinen Bildepigrammen und epischen Gedichten den Reichtum kirchlichen Lebens, katholischer Frömmigkeit, Kunst, Liturgie zu vollem Ausdruck bringt, bezeugt, wie die Dinge wirklich stehen. Sein Werk ergänzt das Bild; seine Poesie entfaltet, was die via simplex ist. Aber in dem Symbol allein liegt das alles eben nicht. U n d gerade dafür, für das Wegebild selbst, bietet der Augustinusbrief eine passende Ergänzung. Der Kirchenvater erklärt, weiter an Nectarius sich wendend 1 0 9 : 107 Aug. epist. 137,12 (CSEL 44,112f.). M i t vollem Namen: Rufius Antonius Agrypnius Volusianus. Die nötigsten Angaben über ihn in Goldbachers Index zu den Augustinusbriefen (CSEL 58,1923,336) und bei O. Seeck, Art. Ceionius: PW 3 (1899) 1866, w o er mit N r . 40 identisch ist, nicht m i t N r . 34. V g l . ferner Ph. Martain: Rev. Aug., 10 (1907) 145/72; A. Chastagnol: Rev.Ét. Anc., 58 (1956) 241 /253. 108 Paulus V I , A d h o r t . Ap. Evangelii Nuntiandi, 8 dec. 1975, η. 53: A.AS. 68 (1976) p. 42: . . . Ecclesia hoc sibi proprium habere put at . . . per no stram religionem reap se cum Deo institut commercium, verum nempe vivumque, quod aliae religiones instituere nequeunt, etiamsi sua, ut ita dicamus, brachia ad caelum attollere ipsae videantur. 109 Aug. epist. 104,12 f. (CSEL 34,2,591). Z u m folgenden vgl. Clem. Alex, ström. 1,38,6 (GCS 15 [52] 25): »Da G o t t in seiner Güte auf vielerlei Weise Rettung bringt,
40
Christian Gnilka Falls du jedoch v o n verschiedenen Wegen< in der Weise sprichst, daß man sich darunter nicht entgegengesetzte vorzustellen hat, wie w i r auch v o n verschiedenerlei Geboten sprechen, die dennoch alle zum Aufbau eines guten Lebens beitragen — die einen durch Keuschheit, die anderen durch Geduld, wieder andere durch den Glauben, die Barmherzigkeit usw. — , so w i r d durch solchermaßen >verschiedene< Wege und Pfade jenes Vaterland nicht nur erstrebt (appetitur) den (reperitur).
y
sondern auch gefun-
Denn auch in den Heiligen Schriften ist v o n >Wegen< und v o m >Weg
Wegen< zum Beispiel in dem W o r t : >Ich werde die Frevler Deine Wege lehren, und die Gottlosen werden sich zu D i r bekehren< (Ps. 50, 15). V o m >Weg< zum Beispiel in dem Spruch: >Geleite mich auf Deinem Weg, und ich werde in Deiner Wahrheit wandelnAlle Wege des Herrn sind Barmherzigkeit und Wahrheit< (Ps. 24, 10). Wenn man sie sorgfältig betrachtet, ergeben sie reichen Gesprächsstoff und süßeste Erkenntnis. Nötigenfalls werde ich darauf ein andermal zurückkommen. Jetzt aber genügt meines Erachtens für die A n t w o r t , die dir zu erteilen ich mich verpflichtet fühlte, folgendes: Christus hat gesagt: >Ich bin der Weg< (Joh. 14, 6), und daher muß in I H M die Barmherzigkeit und Wahrheit gesucht werden, damit w i r nicht, wenn w i r anderswo suchen, in die Irre gehen und einen Weg einschlagen, der zum Ziel strebt (appetentem), ohne doch auch hinzuführen (non etiam perducentem) [ . . .] usw. A u c h z u G o t t f ü h r e n also »verschiedene W e g e « , i n s o f e r n n ä m l i c h , als es verschiedene T u g e n d e n g i b t , v i e l e A r t e n der V o l l k o m m e n h e i t , v i e l e M ö g l i c h k e i t e n , sie z u v e r w i r k l i c h e n . A u c h h i e r also eine V i e l f a l t u n d eine F ü l l e ! M a n e n t f e r n t sich k a u m v o n d e r A b s i c h t des A u t o r s , w e n n m a n ergänzt: die F ü l l e der H e i l i g e n n a c h i h r e r V e r s c h i e d e n h e i t i n B e g a b u n g , N e i g u n g , Lebensweise. Auch
diese v i e l e n W e g e
sind i n W a h r h e i t
nur
Ein Weg,
und durch
das
S c h l u ß z i t a t : Ego sum via w i r d d e m A d r e s s a t e n n o c h e i n m a l die H a u p t s a c h e eingeschärft.
E i n e n Gegensatz z u m c h r i s t l i c h e n W e g e b i l d b e i L a c t a n z
Prudentius
wird
nicht,
Bilder
weil
wesentlichen
man wiederum
Züge
nichts —
nicht
annehmen
Systematisches
verschiedene
A u t o r e n w a r die via simplex
dürfen,
geben u n d —
Ausmalung
dulden.
schon
bei W a h r u n g Bei den
und
deswegen der
früheren
das S y m b o l des e i n m ü t i g e n G l a u b e n s a n d e n
Einen G o t t u n d zugleich Ausdruck
der K l a r h e i t ,
Sicherheit,
Bestimmtheit
dieses G l a u b e n s . St. A u g u s t i n u s b e t o n t die V i e l f a l t i n der E i n h e i t der via una
gibt es viele und verschiedenartige Wege zur Gerechtigkeit, und sie münden in den Hauptweg und führen zum Haupttor« (Übersetzung nach O. Stählin: Bibliothek der Kirchenväter, Zweite Reihe, Bd. 17, München 1936,41). Dieses T o r nennt der A u t o r weiter den »königlichen und w i r k l i c h gültigen Eingang« ( β α σ ι λ ι κ ή ν τ ε κ α ι α ύ θ ε ν τ ι κ ή ν ε'ίσοδον), wobei er sich seinerseits an 1 Clem. 48,2/4 und die dort zitierten Psalmworte (Ps. 117, 19 f.) hält. Die Stelle ist in passendem Zusammenhang angeführt bei N . Brox, Der Glaube als Weg (München / Salzburg [Bibliothek der Salzburger Hochschulwochen], 1968), 81.
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und gibt zugleich die Lösung der exegetischen Frage, wie man sich den Plural viae neben dem Singular via in den Schriftworten zu erklären habe.
11
Freilich, in der pluralischen Ausdrucksweise konnte unter Umständen doch die Gefahr des Irrtums lauern. St. Augustinus warnt selbst davor. Als er i m Alter seine Schriften musterte, schien ihm eine entsprechende Formulierung in den Soliloquia anstößig. D o r t hatte er von der Vereinigung mit der Weisheit gehandelt und hinzugefügt: sed non ad earn una via pervenitur. Eben diese Ausdrucksweise schien i h m später u n g l ü c k l i c h 1 1 0 : Daß man zur Vereinigung mit der Weisheit nicht auf einem einzigen Wege gelange: das klingt nicht gut. Als ob es noch einen anderen Weg gäbe außer Christus, der gesagt hat: >Ich bin der Weg< (Joh. 14, 6)! Ich hätte es also vermeiden sollen, frommen Ohren dieses Ärgernis zu bereiten, mag auch der allgemeine Heilsweg (illa universalis
via) das eine, das andere jene Wege sein, v o n denen w i r i m Psalm singen:
>Deine Wege, Herr, zeige mir und Deine Pfade lehre mich< (Ps. 24, 4).
Wie diese Bemerkungen zu verstehen sind, kann man der vorhin zitierten Partie des Briefs an Nectarius entnehmen. Sie bietet — zusammen mit dem gleich noch zu besprechenden Kapitel aus dem »Gottesstaat« — den nötigen Kommentar. Der A u t o r w i l l auch hier nicht etwa die »Wege« des Psalmisten von der via universalis abtrennen, denn er betont ja nachdrücklich, es gebe nur Einen Weg: Christus. Er deutet nur an, daß es auch seinen guten Sinn haben könne, von »Wegen« in der Mehrzahl zu reden. Es ist also nicht ein tatsächlicher Lehrirrtum jener Frühschrift, den der Bischof zurücknimmt, sondern eben nur eine mißglückte Formulierung, die bei den Gläubigen Anstoß erregen könnte: non bene sonat. Aber gerade das verdient Beachtung. Hier zeigt sich nämlich wieder, wie sorgfältig die Kirchenlehrer ihre Worte setzten. Zweifellos hatte der A u t o r erkannt, daß sein Ausdruck an die Bildrede der Platoniker a n k l a n g 1 1 1 — man braucht sich wieder nur Symmachus' Satz ins Gedächtnis zu rufen: uno itinere non potest perveniri ad tam grande secretum. U n d schon die bloße Assonanz erschien i h m gefährlich. So sorgfältig ging man mit den Worten um, so genau zog man die Grenze, so sehr fürchtete man den Irrtum!
no Aug. retr. 1,4,3 (CSEL 36,23f.); vgl. solil. 1,13,23 (CSEL 89,35). 111
Vgl. P. Courcelle, »Anti-Christian Arguments and Christian Platonism«: The Conflict between Paganism and Christianity in the Fourth Century , Essays ed. by A . Momigliano (Oxford, 1963) 151 / 92, bes. 157 f. und 175 f.
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12 W i r haben die Texte i n der Reihenfolge vorüberziehen lassen, in der die christlichen Schriftsteller den nichtchristlichen antworten: Lactanz den klassischen Autoren, Prudentius dem Symmachus, St. Augustin dem Nectarius. Wenn w i r die Sache von der anderen Seite her betrachtet und gefragt hätten, w o sich eine kritische Stimme zum christlichen Gebrauch des Wegebildes melde; oder auch dann, wenn w i r die Reihe nach Zeit, Rang und W i r k u n g der Opponenten des Christentums hätten ordnen wollen, i m einen wie i m anderen Falle hätten w i r früher einsetzen müssen: mit Porphyrios 1 1 2 . Er hat gegen das Herrenwort eingewandt 1 1 3 : Wenn Christus von sich sagt, Er sei der »Heilsweg«, warum kam Er so spät? Was w i r d aus den unzähligen Seelen der Menschen, die vor I h m lebten? Und er erklärte w e i t e r 1 1 4 : eine Lehre, die einen allgemeinen Weg (universalem viam) zur Befreiung der Seele enthalte, sei ihm nicht bekannt geworden, weder seitens »irgendeiner sehr wahren Philosophie« noch durch indische Lebenszucht oder chaldäische Mysterien. St. Augustin hat beide Sätze ausführlich beantwortet, letzteren am Schluß des zehnten Buchs des Gottesstaats 115 . Schon der Platz i m Werk, den er der Auseinandersetzung anweist, offenbart die Bedeutung, die er ihr beimaß, zeigt auch w o h l die Kraft, die er dem Wegebild zuerkannte: es faßt alles zusammen, was in dem ersten großen Werkteil zu sagen war. Die ersten zehn Bücher, die der Widerlegung des Polytheismus gewidmet sind, münden in die eindringliche, schwungvolle Darstellung der christlichen Religion als des universalen Heilswegs. W i r können dem Text hier nicht genau folgen. Ich greife nur einige Punkte heraus. Der Kirchenvater sieht in der Formulierung des Philosophen das Eingeständnis, daß es einen solchen Weg gebe, daß er ihn nur nicht gefunden habe. Die christliche Religion als universalen Weg anzuerkennen, sei Porphyrios durch die Verfolgungszeit, in der er lebte, gehindert worden, da es damals schien, als werde dieser Weg rasch verschwinden. Sie ist aber in der Tat der universale Weg. Universal deshalb, weil er für die Befreiung aller Seelen da ist, weil er nicht einem einzelnen V o l k eigen, sondern allen Völkern gemeinsam, 112 Vielleicht hat er schon in der Erörterung des Wegebilds bei Lactanz Spuren hinterlassen, vgl. Courcelle a. O. (oben A n m . 59) 455 9 5 . Bei Lactanzens Lehrer Arnobius ist mit Porphyrios-Kenntnis zu rechnen, darüber zuletzt P. F. Beatrice, »Un oracle antichrétien chez Arnobe«: Mémorial D o m Jean Gribomont (Rom, 1988) = Studia Ephemeridis »Augustinianum« 27,107/29, m i t Literatur. 113
Porph. adv. Christian, frg. 81 Harnack, bei Aug. epist. 102,8 (CSEL 34,2,551 f.). Hier w i r d Joh. 14,6 (vermischt m i t Joh. 1,17) platonisch als Rückkehr der Seelen gedeutet. 114 Porph. de regressu animae frg. 12 Bidez (J. Bidez, Vie de Porphyre, G a n d / L e i p z i g 1913, p. 42* f.), bei A u g . civ. 10,32 (1, p. 455, 3/9 Dombart-Kalb*). 115
Aug. epist. 102,8/15 (CSEL 34,2,551 /58); civ. 10,32 (1,454/60 Dombart-Kalb*).
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allen Nationen zusammen durch die Barmherzigkeit Gottes gegeben i s t 1 1 6 . Er ist aber auch der einzige Weg, ohne den es keine Befreiung gibt, »sozusagen der königliche Weg, der allein ins Königreich führt« (haec est enim quodam modo regalis via, quae una ducit ad regnum) ni. Die Frage, warum dieser Weg erst so spät in der Geschichte offenbart wurde, ist unzulässig; es gibt keine A n t w o r t darauf, die ein Mensch erteilen könnte. U n d w e i t e r 1 1 8 : der Weg ist der allgemeine »zur Befreiung der Glaubenden« (liberandorum credentium universalis via). A u f diesen Weg bezieht sich Gottes Verheißung an den gläubigen Abraham: in semine tuo benedicentur omnes gentes. 119 Abraham, der Abstammung nach Chaldäer, verließ auf Gottes Befehl die Heimat, wurde frei v o m Götzendienst der Chaldäer und folgte in gläubiger Anbetung dem Einen wahren Gott. So konnte aus seinem Samen der »Mittler« hervorgehen 1 2 0 , der selbst der universale »Heilsweg« für alle Völker ist. Er wurde durch Prophetenwort als »Weg« und »Heil« für die Völker angekündigt 1 2 1 , lange bevor der Erlöser Fleisch annahm und Selbst von sich Selbst sagte: Ego sum via, Veritas et vita X2 2. Es hat etwas Begeisterndes und Zwingendes, wie der A u t o r seine Theologie und die Bildlichkeit seiner Sprache geradezu philologisch aus der Hl. Schrift heraus entwickelt 1 2 3 : Christus ist der »universale Weg«, den Isaias voraussagt e 1 2 4 : er it in novissimi s diebus manifestus mons D omini ... et venient ad eum universae ( !) gentes et ingredientur nationes multae et dicent : venite ascendamus in montem Domini et in domum Dei Iacob et adnuntiabit nobis viam (!) suam . . . eqs. Abseits v o n diesem Wege, wiederholt der Kirchenlehrer 1 2 5 , gibt es niemals
»6 A u g . ebd. p. 455,22/24; 456,4/6; 456,26/27. 117 A u g . ebd. p. 455,1 f. Der Begriff des »Königswegs« entstammt der philonischen Bibelexegese (zu N u m . 20,17 L X X ) , vgl. bes. Philo quod deus sit immutabilis 144 ff. 159 ff. und de posteritate Caini 101 f.; dazu J. Pascher, Η Β Α Σ Ι Λ Ι Κ Η Ο Δ Ο Σ . Der Königsweg t(u Wiedergeburt und Vergottung bei Pbilon von Alexandreia (Paderborn, 1931) = Studien zur Geschichte und K u l t u r des Altertums 17,3/4 und Michaelis a.O. (oben A n m . 29) 61 /63 mit der K r i t i k an Pascher 63 6 0 . Beim Übergang in christliche Theologie und Spiritualität erhält der Begriff freilich neue Bedeutung, worauf ich hier nicht weiter eingehe. E r lebt fort in der via regia (gleich via crucisi) der »Nachfolge Christi« (2,12,28).
»8 Ebd. p. 457, 2ff. »9 Gen. 22,18. 120
Augustin bezieht sich (p. 457,6 f.) auf Gal. 3,19.
121
Ps. 66,2f.: Deus misereatur gentibus salutare tuum.
nostri . .
ut cognoscamus in terra viam tuam, in omnibus
* 2 2 Joh. 14,6. 123 Aug. ebd. p. 457 f. Ich bemerke dies, um der Auffassung zu begegnen, als handele es sich bei den Zitaten um »bloß christlich-biblische Außenformulierung (!)«: Theiler a.O. (oben A n m . 106) 57. 124
Is. 2,2 f.
125
A u g . ebd. p. 459, 5 / 8 .
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Christian Gnilka
eine Befreiung: praeter hanc viam . . . nemo liberatus est, nemo liberatur, nemo liberabitur. »Weg« steht schließlich in diesem Augustinuskapitel, wie einst in der Apostelgeschichte, für »christliche Lehre« schlechthin 1 2 6 .
III 1
Der Verfasser eines neueren historischen Kommentars zu den Relationes des Symmachus eröffnet seine Erklärung zu der Stelle, v o n der w i r ausgingen, mit der Behauptung, jener berühmte Satz sei v o m Zweiten Vatikanischen K o n z i l aufgenommen w o r d e n 1 2 7 . Einen Beleg führt er freilich nicht an, und ich wage die Vermutung, daß sich ihm der Eindruck, das Zweite Vatikanum habe sich Symmachus' Satz zu eigen gemacht, eher durch die moderne theologische Diskussion aufgedrängt haben dürfte als durch das Studium der Konzilsdokumente. Das K o n z i l selbst hat mehrfach, zum Teil unter ausdrücklichem Bezug auf Joh. 14, 6, Christus als den einzigen Heils weg und die katholische Religion als die einzig wahre bezeichnet — bemerkenswerter Weise gerade zu Beginn der Erklärung über die Religionsfreiheit, aber auch etwa i m Dekret über die Missionstätigkeit der K i r c h e 1 2 8 — , und mir ist keine Stelle bekannt, die eine andere Auffassung nahelegte. Auch die vielzitierte Äußerung in der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, w o im Hinblick auf Hinduismus, Buddhismus und andere Religionen von »Wegen« die Rede ist, sagt nichts anderes, da hier überall das Suchen und Streben nach G o t t gemeint i s t 1 2 9 : die Religionen »bemühen sich« (satagunt), auf die Fragen nach dem höchsten Gott zu antworten; i m Hinduismus »forschen« (scrutantur) die Menschen nach dem göttlichen Geheimnis, drücken es in der Fülle ihrer Mythen aus und i n scharfsinnigen »Versuchen« (conatibus) ihrer Philosophie, sie »suchen« (quae126
Ebd. p. 460,13: in huius viae scripturis
(i.e. in Sacris Scripturis).
127
Vera a.O. (oben A n m . 5) 41. Übrigens erwähnt weder Vera noch Wytzes a.O. (oben A n m . 5) 277 f. Prudentius' Erwiderung auf das Wegebild. 128 Cone. Vat. I I , Deel, de übertäte religiosa, Dignitatis Humanae 1: A.A.S. 58 (1966) 930 = Das Zweite Vatikanische Konzil I I (s. oben A n m . 39) 714: Primum itaque profitetur Sacra Synodus Deum Ipsum viam generi humano notam fecisse per quam, Ipsi inserviendo, homines in Christo salvi et beati fieri possin t. Hanc unicam ver am Religione m sub sister e credimus in catholica et apostolica Ecclesia . . . eqs.; Deer, de activitate missionali Ecclesiae, Ad Gentes Divinitus 8 (a.O. [oben A n m . 49] 957 bzw. 42), vgl. ebd. 13 (a.O. 962 bzw. 54); Const, dogm. de Ecclesia, Lumen Gentium 14 (a.O. [oben A n m . 53] 18 bzw. 198): Unus enim Christus est Mediator ac via salutis. 129
A.A.S.
Deel, de Ecclesiae habitudine ad religiones non-christianas, Nostra Aetate 2: 58 (1966) 741 = Das Zweite Vatikanische Konzil II (s. oben A n m . 39) "488 f.
Die vielen Wege und der Eine
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runt ) Befreiung; i m Buddhismus w i r d »ein Weg« gelehrt, »auf daß es die Menschen vermöchten« (qua homines . . . valeant), über ihn zur vollkommenen Befreiung oder höchsten Erleuchtung zu gelangen 1 3 0 . Und dann der Satz: »So bemühen sich (nituntur) auch die übrigen in der ganzen Welt verbreiteten Religionen, der Unruhe des menschlichen Herzens auf verschiedene Weise zu begegnen, indem sie Wege vorsetzen: Lehren, Lebensregeln sowie heilige Riten«. Wenn es nun fast unmittelbar nach diesem Satz — dazwischen stehen schöne Aussagen über die Strahlen der Wahrheit in diesen Religionen — so fortgeht: »Sie (die Kirche) verkündet jedoch und muß unablässig verkündigen Christus, der ist >der Weg, die Wahrheit und das Leben< (Joh. 14, 6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem G o t t alles sich versöhnt hat«, wenn also die Sätze dergestalt zusammentreten: ist es dann überhaupt möglich, die ganze Partie anders zu erklären als i m Sinne St. Augustins 1 3 1 ? Kann man darin etwas anderes finden als die Anerkennung der vielen, verschiedenen Wege, auf denen das Ziel erstrebt, und die Verkündigung des Einen, auf dem es erreicht wird? Aber wie auch immer: muß man nicht den Text eines Konzils, das seinen Willen erklärt h a t 1 3 2 , »die heilige Tradition und Lehre der Kirche zu erforschen, woraus es immer Neues hervorholt, das mit dem Alten in Einklang steht«, jedenfalls zuerst im Lichte ebendieser Tradition betrachten? Wie kann man wissen, was mit dem Alten übereinstimmt, wenn man das Alte nicht kennt oder nicht kennen will? D a r f man über eine Stelle wie die vorhin zitierte überhaupt reden, ohne die lebhafte Erörterung des Problems der vielen Wege und des Einen, welche die Denker der Frühen Kirche geführt haben, ständig und aufmerksam i m Auge zu behalten 1 3 3 ?
2 Die Feststellung des Missionsdekrets 1 3 4 , Gott könne die Menschen, die ohne eigene Schuld v o m Evangelium nichts wissen, »auf Wegen, die (nur) Er 130 Ebd.: . . . via docetur, qua homines ... ad summam illuminationem pertingere valeant. Ich fasse valeant als finalen K o n j u n k t i v . Z u quaerunt, nituntur in diesem Text vgl. Lumen gentium 16, a. O. p. 20. 131 V g l . oben S. 37f. Für H . R. Schiette »stellt sich [hier] unmittelbar die theologische Frage nach dem Weg-Charakter der Religionen und dem Weg-Charakter des Christentums« (Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils 7, Trier, 1966,60), beantwortet w i r d sie i m Sinne K . Rahners: s. unten A n m . 138. 132
Dignitatis
Humanae 1 (a.O. 930 bzw. 712/13).
133
Augustinus scheint den zitierten Text (Nostra Aetate 2) bis in die Wortwahl hinein geprägt zu haben: vgl. die Wendung inquietudini cordis und dazu oben S. 38. 134
Ad Gentes Divinitus 7 (a. O. [oben A n m . 49] 955 bzw. 40). Die beiden Grundtatsachen, die das K o n z i l öfters ausspricht, nämlich daß (1) alle K u l t u r e n und Religionen Elemente des Wahren und Guten enthalten, die bei der Evangelisierung genutzt werden
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Christian Gnilka
kennt« (viis sibi notis) zum Glauben führen, gehört eigentlich nicht zu unserem Thema, weil es hier gar nicht u m Wert und Unwert anderer Religionen geht, sondern u m solche Heilswege, die Gott nach seiner Barmherzigkeit jeweils einzelnen Menschen eröffnet, ohne daß w i r über diese Wege etwas sagen könnten. Die päpstliche Adhortatio »Evangelii nuntiandi« bezeichnet sie als »außerordentliche Wege« ( viae extraordinariae) und stellt sie den »ordentlichen Heilswegen« (ordinariae viae salutis), bzw. dem Heilsweg, der Kirche gegenüber «5. Diese kirchliche Verlautbarung verdient in unserem Zusammenhang Beachtung, weil sie das W o r t »Weg« mehrfach mit Nachdruck setzt und falsche Auslegungen der Konzilsdokumente zurückweist. Der Heilsweg (salutis iter), heißt es dort, gehöre zum Depositum, das der Kirche anvertraut sei, damit es zu den Menschen gebracht werde; Bischöfe und Priester seien von G o t t dazu erwählt, das V o l k Gottes den Heilsweg (salutis iter) zu führen; trotz unzähliger Zeichen der Ablehnung Gottes »suche die Welt G o t t auf überraschenden Wegen« (Deum . . . quaerit per itinera inopinata ) und sehne sich nach dem Evangelium; der häufig zu hörende Einwand, »einen Weg, auch wenn es der Heilsweg ist, vorzuschreiben, komme einer Vergewaltigung der religiösen Freiheit gleich«, sei falsch und dürfe sich nicht auf das K o n z i l berufen. Die Tatsache, daß G o t t auch auf außerordentlichen Wegen das Heil wirken könne, entbinde den Christen nicht v o n der Pflicht zur Verkündigung 1 3 6 . Es geht also auch in diesem Dokument wieder um eine Pluralität der Wege i m Verhältnis zu dem Einen Weg. Die Gegenüberstellung erfolgt freilich auf einer ganz anderen Ebene. Aber auch hier steht doch auch wieder der Anspruch der Kirche auf dem Spiel, den Einen (ordentlichen) Heilsweg zu weisen. müssen, und daß (2) diejenigen Menschen, die ohne eigene Schuld das Evangelium nicht kennen, ihrem Gewissen folgen und unter dem Einfluß der Gnade Gottes stehend Seinen Willen zu erfüllen versuchen, das Heil erlangen können (Ad Gentes Divinitus 16), werden doch in den Konzilsdokumenten nirgends i n der Weise verknüpft, als erreichten diese Menschen das Heil eben durch jene Religionen als »Heilswege«. Dann wären das nicht mehr »Wege, die (nur) I h m bekannt« sind. Jeder kann ein religionswissenschaftliches Handbuch aufschlagen! Damit nicht zu verwechseln ist die katholische Auffassung, »daß alle die Wahrheitselemente, alle die >Samenkörner< der Wahrheit, die in den verschiedenen Sekten, Philosophenschulen und K u l t e n ausgestreut sind, für das Gnadenwirken Christi Ansatzpunkte werden können, u m aus dem natürlichen Menschen einen neuen übernatürlichen des Glaubens und der Liebe zu erwecken« ( K . Adam, Das Wesen des Katholizismus, Düsseldorf, 1936 8 , 210). 135 Paulus V I Adhort. A p . Evangelii Nuntiandi, 8 dec. 1975, η. 80: A. AS. 68 (1976) 74: Hanc salutem in iis, quo s vult, Deus operari potest per extraordinarias vias, qua s Ipse solus novit. Si autem Filius eius in hunc mundum venit, id eo Consilio fecit, ut verbis vitaque sua ordinarias nobis patefaceret vias salutis. Ebd. η. 15. 68. 76. 80.
Die vielen Wege und der Eine
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3 Der Wert des Bildes, das w i r verfolgten, liegt darin, daß es einen Schlüssel in die Hand gibt, der auch den Einblick i n gewisse moderne Theorien eröffnet. Nicht nur Begriffe, auch Bilder können wie passende Schlüssel sein. M i t ihrer Hilfe tut sich das Unzugängliche auf, alles scheint plötzlich einfach. Man mag noch so viel reden, noch so viele Hindernisse aufbauen, ein undurchdringliches Dickicht der Spekulationen schaffen: das Wegebild bringt alles auf einen einfachen Nenner, ohne doch die Dinge unbedingt zu vergröbern oder die Tatsachen zu verdunkeln. Es zwingt zur Klarheit und zur Entscheidung. Gibt es außer dem Einen Heilsweg noch andere Heilswege — die Frage gestellt in Bezug auf die Systeme: die Religionen, Kulte, Philosophien? Wenn ja, dann ist der Boden der kirchlichen Tradition verlassen, und das alte Heidentum erhebt wieder sein Haupt. Weil das Bild der vielen Wege und des Einen in den Grundlinien so klar ist, so bestimmt und festumrissen, läßt es sofort erkennen, w o es entfaltet, weiter ausgestaltet und feiner differenziert w i r d und wo es aufgegeben, durchbrochen oder in sein Gegenteil verkehrt wird; wo Entwicklung vorliegt oder Fortschritt, und wo Bruch oder Perversion der Tradition. Man darf gewiß sagen, daß das, was Lactanz zum Bild der Zwei Wege vorbringt, eine Entfaltung des Herrenworts aus dem Evangelium darstellt. O b sie in allen Punkten tief genug reicht und die Möglichkeiten ausschöpft, darüber mag man verschiedener Ansicht sein. Aber i m Ganzen ist es der Versuch einer Entfaltung. Dasselbe gilt für Prudentius, erst recht für St. Augustinus, obschon sein Ansatz, wie w i r sahen, ein anderer ist. Aber die Struktur des christlichen Bildes, die sich aus dem scharfen Kontrast des Einen Weges und der vielen Wege ergibt, w i r d auch v o n i h m keineswegs verändert oder verdeckt. Alle diese Texte bieten unzweifelhafte Beispiele, vielleicht nicht besonders kühne und erregende, aber jedenfalls klare Beispiele für jene gesunde Entwicklung christlicher Lehre, die Vinzenz von Lerinum mit dem natürlichen Wachstum des menschlichen Körpers verglich 1 3 7 .
137 Vincent. Ler. comm. 23,4/9 (CCL 64,178). V g l . G. K . Chesterton, Der heilige Thomas von Aquin. Nach der ersten englischen Ausgabe (London, 1933) ins Deutsche übertragen von E. Kaufmann, Salzburg/Leipzig o.J., 20f.: »Aber es scheint eine ganz sonderbare Unwissenheit nicht nur über die fachmännische, sondern auch über die natürliche Bedeutung des Wortes E n t w i c k l u n g zu herrschen. Die K r i t i k e r der katholischen Theologie glauben anscheinend, es handle sich da nicht sosehr u m eine Entfaltung als vielmehr u m ein Ausweichen, bestenfalls um eine Anpassung. Sie bilden sich ein, daß diese >Entwicklung< letzten Endes auf eine Kapitulation hinauslaufe. Aber das ist nicht die wahre Bedeutung des Wortes Entwicklung. Wenn w i r v o n einem K i n d e sagen, es sei gut entwickelt, dann meinen w i r , daß es aus eigener Kraft größer und stärker geworden, nicht daß es mit geborgten Kissen ausgepolstert ist und auf Stelzen geht, um größer auszusehen. Wenn w i r sagen, ein junger H u n d entwickelt sich zum ausgewachsenen H u n d , dann meinen w i r nicht, er entwickle sich allmählich zur Katze, sondern w i r
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Christian Gnilka
Wie aber reimt es sich, wenn w i r plötzlich lesen, man dürfe die nichtchristlichen Religionen »in einem echten Sinne als Heilswege bezeichnen«? Wenn wir hören, sie — die anderen Religionen — seien »die ordentlichen Heilswege«, die Kirche sei dagegen »der außerordentliche«? Ja, mehr noch: wenn w i r darüber belehrt werden, »daß die Religionen auch nach geschehener Konfrontation mit Christus als legitime Heilswege bestehen bleiben«? Daß dies ihr »providentieller (d.h. von Gott gewollter) Sinn« sei? Wenn der Kirche die Aufgabe zugeteilt w i r d zu bezeugen, »wohin die ordentlichen Heilswege (d. h. die nichtchristlichen Religionen) führen« — nicht in den Abgrund natürlich, sondern eben zum H e i l 1 3 8 ? Wenn der Weg der Religionen, wohlgemerkt: der nichtchristlichen Religionen, als »allgemeiner Heilsweg« proklamiert w i r d 1 3 9 ? Wem, der sich bei den Kirchenvätern umgesehen hat, fiele da nicht St. Augustinus ein und seine ganz andere Sicht der via univer salisi Doch genug. Es lag mir nur daran zu verdeutlichen, inwiefern wir unser Bild als Schlüssel bezeichnen dürfen und was Fortschritt ist und was Traditionsbruch. Selbstverständlich dürfen w i r eine motiv- oder begriffsgeschichtliche Studie nicht als Leistung theologischen Rangs ausgeben. Aber die Theologie, so hoch sie auch über der Philologie steht, kann sich dennoch niemals frei über die Sprache erheben. Zentrale Begriffe, wichtige Bilder werden immer Knotenpunkte des
meinen, daß er mehr und nicht weniger H u n d wird. E n t w i c k l u n g ist die Entfaltung aller Möglichkeiten einer Lehre, all dessen, was sie in sich birgt, wenn es an der Zeit ist, diese Möglichkeiten zu unterscheiden und herauszustellen.« Z u Vinzenz v o n Lerinum und seiner Bedeutung in kirchlichen Verlautbarungen neuerer Zeit s. H . - L . Barth, »Überlegungen zum katholischen Traditionsbegriff«: Una Voce — Korrespondenz 19 (1989), 309/324, bes. 314/317. 138
H. R. Schiette, Die Religionen als Thema der Theologie (Freiburg/Basel/Wien, 1964) = Quaestiones disputatae 22, 84 f. 92. 95. 103 f. 108 f. 139 H . K ü n g , Christenheit als Minderheit (Einsiedeln, 1965) = Theolog. Meditationen 12,43/46. Ausführlicher i m gleichen Sinne: J. Heislbetz, Theologische Gründe der nichtchristlichen Religionen (Freiburg/Basel/Wien, 1967) = Quaestiones disputatae 33, passim, bes. 198. 204. 217: die Religionen »von G o t t gewollte konkrete Heilswege«. Diese Autoren führen die Ideen K . Rahners fort: Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen: Schriften zur Theologie 5 ( Z ü r i c h / E i n s i e d e l n / K ö l n , 1968 3 ), 136 / 58. Die hier zitierten Äußerungen sind zwar älteren Datums, aber man hat ganz und gar nicht den Eindruck, als seien die Anschauungen, die ihnen zugrundeliegen, antiquiert. V g l . etwa W . Bühlmann, Weltkirche. Neue Dimensionen — Modell für das fahr 2001. Nachwort v o n K . Rahner (Graz, 1984), passim, bes. 130: »Franziskus würde sich freuen an der neuen Theologie der Religionen, die uns heute annehmen läßt, daß . . . auch jene nichtchristlichen Religionen Wege des Heiles sind . . .« usw. Ich sehe keinen Grund, weshalb der Heilige, der Missionsreisen unternahm, die kirchliche Heidenmission erneuerte und den Sultan zu bekehren versuchte, über solche Theologie sich freuen sollte, verweise i m übrigen zur K r i t i k an diesem Buch und an anderen neueren Publikationen des Verfassers auf E. Burkhart, »Heilsbedeutung der nichtchristlichen Religionen«, Der Fels, 20 (1989) 20/23; 47/49: 78/81; 111/113.
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Denkens bleiben. Und hier, scheint mir, ist der rechte Ort erreicht, um einige Überlegungen über unser Fach: die Klassische Philologie anzuschließen.
4 >Wir sind doch keine Theologen!differentia speciflca< gibt zwischen dieser altertumswissenschaftlichen
141 Ed. Norden, »Worte des Gedächtnisses an Ulrich v o n Wilamowitz-Moellendorff 1931«, Kleine Schriften, hrsg. v o n B. Kytzler (Berlin, 1966), 664/68, ebd. 668: »Fidem profiteor Piatonicam, so sagte er in Erwiderung auf eine lateinische Ansprache zu seinem 60. Geburtstag. Denken w i r uns also seinen Geist, v o n der Materie befreit, in den Sphären der Ideenwelt Piatons«. V g l . Wilamowitz selbst: »Plato . . . religionem dedit, qua omnino carueram. Christiana cor meum numquam intravere . . .« eqs. (W. M . Calder I I I , »Ulrich v o n Wilamowitz-Moellendorff, A n Unpublished Latin Autobiography«, Antike und Abendland, 27, 1981, 34/51, ebd. 42 mit A n m . 41; dazu dens., »Ecce homo: The Autobiographical in W i l a m o w i t z ' Scholarly Writings«, Wilamowitz nach 50 fahren, hrsg. v o n W . M . Calder I I I , H. Flashar, T h . Lindken, Darmstadt, 1985, 80/110, ebd. 104 und 81 4 ). V o r den »abgestandenen Zitaten aus Übersetzungen und Festreden« hat allerdings R. Pfeiffer gerade bei W ü r d i g u n g dieses Gelehrtenlebens gewarnt: R. Pfeiffer, »Nachruf auf Ulrich v o n Wilamowitz-Moellendorff«: Ausgewählte Schriften, hrsg. v o n W . Bühler (München, 1960), 269 / 276, ebd. 276. 142
R. Pfeiffer, Philologia Perennis, Festrede (München [Bayer. Akademie], 1961), 21.
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Sektion der Görresgesellschaft und anderen Fachverbänden, wenn es einen Unterschied des geistigen Profils gibt, einen Unterschied, der zugleich die Existenz einer solchen Sektion i m Kreise der übrigen rechtfertigt, wo soll er seinen sichtbaren, für Mitglieder, Gäste und Publikum erkennbaren Ausdruck finden, wenn nicht i m Programm der Tagungen und in dem, was wir aus diesem Anlaß reden und tun? U n d da ich nicht daran zweifeln möchte, daß es den Unterschied tatsächlich gibt — wenn auch vielleicht mehr i m Verborgenen — , hoffe ich auf freundliche Nachsicht, wenn ich es gewagt habe, in der nötigen Offenheit daran zu erinnern.
N o c h ein Höhlengleichnis Z u einem metaphorischen Argument bei Gregor dem Großen V o n Meinolf
Schumacher
I Am
B e g i n n des v i e r t e n B u c h e s seiner vielgelesenen » D i a l o g e «
Papst G r e g o r
beschreibt
der G r o ß e die S i t u a t i o n des M e n s c h e n i n d e r W e l t . Sie sei
b e s t i m m t d u r c h die U r s ü n d e , a u f g r u n d derer d e r S t a m m v a t e r des M e n s c h e n geschlechts, w e l c h e r i m Paradies die F r e u d e n des h i m m l i s c h e n betrachten
konnte,
in
jenen t r a u r i g e n
Zustand
der
Vaterlandes
Verbannung
und
der
B l i n d h e i t k a m , d e n w i r h e u t e e r l e i d e n 1 . I m Gegensatz z u m ersten M e n s c h e n sind w i r
s o g l e i c h i n diese W e l t h i n e i n g e b o r e n u n d h ö r e n n u r v o n
einem
H i m m e l , d e r v o n E n g e l n u n d d e n Seelen d e r G e r e c h t e n b e w o h n t w e r d e 2 . D a d i e F l e i s c h l i c h e n v o n j e n e n u n s i c h t b a r e n D i n g e n n i c h t aus E r f a h r u n g
wissen
k ö n n e n , z w e i f e l n sie, o b es etwas gebe, das sie m i t k ö r p e r l i c h e n A u g e n n i c h t 1 Gregor der Große, Dialoge IV,1,1, SC 265, S. 18: Postquam de paradisi gaudiis, culpa exigente, pulsus est primus humant generis parens , in huius exilii atque caecitatis quam patimur aerumnam uenit, quia peccando extra semetipsum fusus iam ilia caelestis patriae gaudia, quae prius contemplabatur , uidere non potuit. In paradiso quippe homo adsueuerat uerbis Dei perfrui , beat or um ange lor um spiritibus cordis munditia et celsitudine uisionis interesse. Sed postquam hue cecidit, ab ilio quo implebatur mentis lumine recessit (s. Titelbild dieses Bandes). Die metaphorische Verbindung v o n »Blindheit« und »Verbannung« zur Beschreibung des Zustandes fehlender Gottes- (und Selbst-) Erkenntnis findet sich sehr häufig in den Werken Gregors; z.B. Moralia i n l o b IV,30,60, C C L 143, S. 204: illa percussio iusta iudicii qua superbientem hominem a paradiso reppulit, et in hac caecitate prae sentis ex siiti exclusit; ebd. IV,24,45, S. 190; VII,2,2, S. 335: Homo namque ad contemplandum auctorem conditus, sed exigentibus meritis ab internis gaudiis deiectus, in aerumnam corruptionis ruens, caecitatem exsilii sustinens, culpae suae supplicia tolerabat et nesciebat ; VII,12,14, S. 343: in peregrinationis huius caecitate; I n E v . 1,2,1, P L 76,1082 C; I n Cant. 1, CCL 144, S. 3. Die immer wieder einmal umstrittene Frage nach der Authentizität der »Dialoge« braucht uns hier nicht weiter zu interessieren, da selbst bei Francis Clark, The Pseudo-Gregorian Dialogues [Studies in the History o f Christian T h o u g h t , 37/38] (Leiden, 1987), w o die Autorschaft Gregors nun rundweg geleugnet w i r d , gerade diese Stelle zu den (echten) »Inserted Gregorian Passages« zählt. 2 Eine strenge Trennung v o n irdischem und himmlischem Paradies findet sich bei Gregor nicht; dazu Nikolaus H i l l , Die Eschatologie Gregors des Großen (Diss, [masch.] Freiburg, 1942), S. 141 f: Reinhold R. G r i m m , Paradisus coelestis —paradisus terrestris: Zur Auslegungsgeschichte des Paradieses bis um 1200 [Medium Aevum, 33] (München, 1977), S. 73-77.
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Meinolf Schumacher
sehen (sed carnales quique, quia ilia inuisibilia scire non ualent per experimentum, dubitant utrumque sit quod corporalibus oculis non rident) 2*. U m diese Situation zu erläutern, holt Gregor zu einem Gleichnis aus: »Wie wenn eine schwangere Frau, in einen Kerker gesperrt, einen Knaben gebiert, der dort ernährt würde und heranwüchse, und die Mutter i h m dann von Sonne, Mond, Sternen, Bergen und Felder, von fliegenden Vögel und rennenden Pferden spräche, der i m Kerker Geborene und Erzogene, der nichts anderes als die Finsternis des Kerkers kennt, dies zwar hörte, aber skeptisch wäre, ob jene Dinge, von denen er keine Anschauung hat, auch wirklich existierten; ebenso zweifeln die in der Blindheit dieser Verbannung geborenen Menschen, wenn sie von höchsten und unsichtbaren Dingen hören, ob es diese auch wirklich gebe, weil sie allein die niedrigen und sichtbaren Dinge kennen, i n denen sie geboren wurden« (Ac si enim praegnans mulier mittatur in carcere m ibique puerum pariat, qui natus puer in carcere nutriatur et crescat; cui si fortasse mater y quae hune genuit, solem, lunam, stellas, montes et campos, uolantes aues, currentes equos nominet, ille uero qui est in carcere natus et nutritus nihil aliud quam tenebras carceris sciat, et haec quidem esse audiat, sed quia ea per experimentum non nouit, ueraciter esse diffidai; ita in hac exilii sui caecitate nati homines, dum esse summa et inuisibilia audiunt, diffidunt an uera sint, quia sola haec infima, in quibus nati sunt, uisibilia nouerunt) A. Die klar in einen Bildund in einen Sachteil gegliederte Argumentation ließ Forscher, die sich bisher damit auseinandersetzten 5 , immer an das Höhlengleichnis denken, das Piaton am Beginn des siebten Buches seiner »Politeia« einführt. Es ist gewiß das »didaktische Paradestück für philosophische Veranschaulichung« schlechthin, wie Hans Blumenberg bemerkt 6 , der zur Interpretation dieses Textstücks und zur Geschichte seiner Rezeption nun eine voluminöse Untersuchung vorgelegt hat 7 . Da Blumenberg trotz jahrzehntelanger Beschäftigung mit Höhlengleich-
3 Gregor, Dialoge IV,1,2, SC 265, S. 18-20, hier S. 18. Z u r Bedeutung v o n experimentum bei Gregor: Claude Dagens, Saint Grégoire le Grand: Culture et expérience chrétiennes (Paris, 1977), S. 98-106. Z u m Komplex »Paradies — Sündenfall — Mystik« Franz Lieblang, Grundfragen der mystischen Theologie nach Gregors des Großen Moralia und E^echielhomilien [Freiburger Theologische Studien, 37] (Freiburg, 1934), S. 29-43. 4
Gregor, Dialoge IV,1,3, SC 265, S. 20.
5
Adalbert de Vogûé, »Un avatar du mythe de la caverne dans les Dialogues de Grégoire le Grand«, Homenaje a Fray fusto Pére% de Urbel OSB, Bd. 2 [Studia Silensia, 4] (Silos, 1977, S. 19-24); A n t o n v o n E u w , »Gregor der Große (um 540-604): A u t o r und Werk in der buchkünstlerischen Überlieferung des ersten Jahrtausends« Imprimatur, N . F. 11 (1984), S. 19-41, S. 38; Clark, Dialogues (wie A . l ) , S. 528-530, 6 7
Hans Blumenberg, Höhlenausgänge (Frankfurt a. M . , 1989), S. 85j
Darüberhinaus behandelt Blumenberg auch solche Belegstellen, an denen ein Höhlengleichnis nahegelegen hätte, jedoch nicht v o r k o m m t . Daß der A u t o r i m ersten Teil ausführlich auf mythologische und ur- und frühgeschichtliche Implikationen des Höhlenmotivs eingeht, findet seine Berechtigung in der Annahme, der »Erfolg« des
Noch ein Höhlengleichnis
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nissen und trotz einer enormen Belesenheit die hier zur Rede stehende Stelle (und alle i n den Abschnitten 6 und 7 vorgeführten Belege) sich entgehen ließ, dürfen w i r w o h l noch eine Vielzahl von Varianten der Höhlenmetapher vermuten, die der Erforschung harren, was Blumenbergs Ausgangsposition bestätigt, in dieser Metapherntradition ein wichtiges Stück europäischer Gedankengeschichte zu sehen. O b w o h l unser Gregor-Zitat dort keine Erwähnung findet, kann das Buch »Höhlenausgänge« dennoch helfen, den Text mit Blick auf vorhergehende und nachfolgende Gleichnisse ähnlicher A r t besser zu verstehen. II
Zunächst ist festzuhalten, daß von einem direkten Zitat Piatons bei Gregor keine Rede sein kann. Dazu braucht man nicht die Diskussion über die Griechischkenntnisse des Kirchenvaters 8 zu bemühen, und man muß auch nicht die Frage stellen, auf welchem Wege das platonische Original Gregor sonst zugänglich geworden sein könnte. Die Unterschiede sind deutlich genug: Weder v o n Schatten oder v o m Höhlenfeuer hören wir, nicht v o m Agon, noch v o n Fesselungen oder davon, daß jemand nach außen geschleppt würde und in die Höhle zurückkehrte. Bei Gregor sind keine Abbilder einer »wirklicheren« Wirklichkeit zu erkennen, sondern es ist schlichtweg »finster«. Es geht nicht u m eine wie auch immer geartete Stufung des Wirklichen und Wahren und damit auch nicht u m »Piatonismus«: die zwei Welten des Sichtbaren und des Unsichtbaren stehen sich schroff gegenüber, verbunden allein durch die Erzählung der Mutter, durch das Benennen der Dinge »draußen«, also nicht durch »Bilder«, sondern durch Sprache. Der Katalog der beschriebenen Dinge läßt eher an das zweite Höhlengleichnis der Antike denken, an das Fragment des Aristoteles, das uns i n Ciceros »De natura
Höhlengleichnisses beruhe zu einem guten Teil auf der Vertrautheit m i t dem Themenkomplex, die Piaton voraussetzen konnte: »Was der platonischen Höhle ihre Dignität und ihre Valenz für Fortbestand in der Geschichte gegeben hatte, war ja nicht nur ihr illustrativ-lehrhafter Gleichniswert der nach begrifflicher Vorgabe »ausgedachten« Geschichte, sondern ihr mythischer Hintergrund, ihre Assoziationsnähe zu Vorstellungen der Herkunft und H i n k u n f t des Menschen, der Vorzugsorte seiner Einweihungen und Erleuchtungen, der Geburtsstätten v o n Göttern und Heilanden« (S. 808). I m letzten Abschnitt fragt Blumenberg schließlich, wie ein Höhlengleichnis aussehen könnte, »das den philosophischen Problemstand der Gegenwart in ähnlicher Weise aufzufangen und darzustellen vermöchte, wie das für Piatos Höhlengleichnis und seine Rezeption durch die Geschichte hindurch gelten kann« (S. 810). 8 z.B. Joan M . Petersen, »Did Gregory the Great k n o w Greek?«, The Orthodox Churches and the West, ed. Derek Baker [Studies in Church History, 13] (Oxford, 1976), S. 121-134; Jeffrey Richards, Gregor der Große: Sein Leben — seine Zeit, dt. Gregor Kirstein (Graz — Wien — K ö l n , 1983), S. 36, 60.
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deorum« überliefert ist 9 : dort sind es Erde, Meer und Himmel, Wolken und Wind, Sonne, M o n d und der Lauf der Sterne, deren Anblick die aus unterirdischen Wohnungen, in denen sie immer gelebt haben, plötzlich hervortretenden Menschen davon überzeugen würde, »daß es Götter gebe und daß dies Werke v o n Göttern seien«. Doch die Welt in ihrer Schönheit steht hier nicht metaphorisch für ein unsichtbares Jenseits; es ist die sichtbare Welt, deren Betrachtung in einer A r t kosmologischem Gottesbeweis die Existenz von Göttern zwingend nahelegt: vor allem der Sternenhimmel ist zu erhaben, als daß er von Menschen stammen könnte. Darin, auf eine jenseitige Welt zu verweisen, kommen die Dinge der Außenwelt bei Gregor mit jenen i m Höhlengleichnis des Gregor von Nyssa überein 1 0 , das Blumenberg i n seiner Studie ausführlich behandelt 1 1 . Allerdings ist dort die Argumentationsrichtung eine ganz andere: dieser Gregor wendet sich dagegen, um Tote zu trauern, da sie i n ein besseres Jenseits übergingen. Diejenigen, die durch ihr Sterben ins himmlische Vaterland eintreten, könne nur beweinen, wer die Bedingungen dieses Lebens nicht betrachte 12 . Hierin besteht die Analogie zu Gefangenen, die in einem dunklen Kerker zu leben gewöhnt sind und einen der Ihren beklagen würden, den man aus dem Gefängnis nähme. Trauerbräuche, so ist die Aussage, beruhen ebenso auf Unwissen wie das Mitleid der zurückgelassenen Gefangenen; denn wenn diese u m die Schönheit der Welt draußen (Himmel, Sterne, Sonne, M o n d , Pflanzen, Meer, Wind, Gebäude) wüßten, dann »könnten sie nicht mehr diejenigen beklagen, die aus dem Kerker hinausgeführt werden, als erlitten sie einen Verlust an etwas Gutem« 1 3 . Anders als i m Bild der »Dialoge« ist hier eindeutig »der T o d die Linie, die beim Höhlenaustritt überschritten werden muß« 1 4 , weshalb man dieses Gleichnis auch als ausgeführte Variante der Metapher v o m Leib als Gefängnis der Seele 15 ansehen k a n n 1 6 ; wie auch sonst häufig 1 7 , so spendet sie hier den
2
9 Cicero, De natura deorum 11,95, edd. Wolfgang Gerlach - K a r l Bayer (Darmstadt, 1987), S. 252ff. (Frg. 12); dazu Blumenberg, Höhlenausgänge (wie A . 6), bes. S. 193-206. 10
De Vogûé, »Un avatar« (wie A . 5), S. 21 f.; zur Frage möglicher Abhängigkeiten ebd. S. 22f. 11 Blumenberg, Höhlenausgänge (wie A . 6) S. 207-218; in Auseinandersetzung m i t Wilhelm Blum, »Eine Verbindung der zwei Höhlengleichnisse der heidnischen A n t i k e bei Gregor v o n Nyssa«, Vigiliae Christianae 28 (1974), S. 43-49. Das M o t i v der Höhle i m Gesamtwerk Gregors v o n Nyssa stellt dar Jean Daniélou, »Le symbole de la caverne chez Grégoire de Nyssa«, Mullas. FS Theodor Klauser [JAC, Erg.-Bd. 1] (Münster, 1964), S. 43-51. 12 Gregor v o n Nyssa, De mortuis, P G 46,496 A . 13 Gregor v o n Nyssa, De mortuis, P G 46,506 D - 5 0 7 A ; Blumenberg, Höhlenausgänge (wie A . 6), S. 210. 14
Blumenberg, Höhlenausgänge (wie A . 6), S. 208.
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Zurückgebliebenen Trost i m Leiden mit dem Argument, daß Trauer i m Falle des Todes gar nicht angebracht sei, da die Verstorbenen doch nur Besseres erwarte — ein Gedanke, der weder i m Gleichnis des Piaton noch dem des Aristoteles eine Rolle spielt 1 8 . M i t dem A u t o r der »Dialoge« hat dieser Gregor allerdings auch gemein, daß er sich an diejenigen wendet, die mit den Gefangenen bezeichnet sind: sie sollen das Leben in diesem Leib oder dieser Welt als einen Zustand des Eingeschlossenseins erkennen, als Voraussetzung dafür, der Verkündigung von einem Jenseits überhaupt Glauben schenken zu können.
III M i t der Geburt i m dunklen Kerker beantwortet Gregor der Große eine Frage, die i n den antiken Gleichnissen sonst offenbar nicht einmal gestellt wurde: wie kamen die Gefangenen in die Höhle oder entsprechend abgeschlossene Räume hinein, und weshalb haben sie keine Erinnerung and die Welt draußen? 19 Mögen bei der ausdrücklichen Erwähnung der Geburt i m Kerker v o n der Bedeutungsseite her Gedanken wie die v o m Fall der Seelen und von der Erbsünde der In-die-Welt-Geborenen ausschlaggebend gewesen sein — es läßt sich auch an eine Überlieferung denken, die außerhalb der behandelten Traditionslinie steht: an das Experiment, das laut Herodot unter Pharao Psammetich stattgefunden haben soll: U m die Stellung Ägyptens in der Menschheitsgeschichte zu erkunden, ließ der Pharao zwei neugeborene Kinder in einem leeren Raum von einem Hirten aufziehen, dem strengstens verboten war, mit ihnen zu sprechen. Da das erste W o r t , welches die i m Zustand völliger Sprachlosigkeit heranwachsenden Kinder sprachen, ein phrygisches war, schlossen »die Ägypter, daß die Phrygier noch älter seien als sie und
15 Dazu i m Überblick Pierre Courcelle, Art. »Gefängnis (der Seele)« ( R A C 9 . Sp. 294-318); zu teilweise verwandten Gebäude-Metaphern für den Leib Friedrich Ohly, A r t . »Haus I I I (Metapher)« (RAC13, Sp. 905-1063) bes. Sp. 953-958. 16
Blumenberg, Höhlenausgänge (wie A . 6), Sp. 211.
17
V g l . Peter v o n Moos, Consolatio: Studien %ur mittellateinischen Trostliteratur über den Tod und %um Problem der christlichen Trauer [Münstersche Mittelalter-Schriften, 3] (München, 1971 /72), Indexband, s.v. »Kerker«. 18 19
Blumenberg, Höhlenausgänge (wie A . 6), S. 21 Of.
Z u m Fehlen der Anamnesis bei Piaton und zum K o n f l i k t mit seiner Ideenlehre Blumenberg, Höhlenausgänge (wie A . 6), S. 45; möglicherweise hängt es mit der Intention des »Staates« zusammen, ebd. S. 311: »Die »Anamnesis« ist i m Höhlenmythos vergessen, weil sie die Herrschaft der Philosophen in der »Polis« um ihre Legitimation bringen würde. Als potentielle Kompetenz aller wäre die Angewiesenheit auf die Einsichtsfähigkeit weniger nicht mehr v o n der Evidenz, die allein die Philosophie zur politischen Institution machen kann.«
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räumten ihnen den ersten Platz ein« 2 0 . Bei Herodot ist also ebenfalls nicht von einer »Höhle« oder einem anderen Ort »unter der Erde« (Aristoteles) die Rede, sondern wie bei Gregor nur von einem verschlossenen Raum. Allerdings werden die Kinder dort nicht geboren, sondern sofort nach der Geburt dort eingesperrt, was jedoch denselben Zweck erfüllt. Es handelt sich also i n beiden Fällen u m einen »Menschenversuch« (Blumenberg), wenn er auch bei Gregor nicht als historischer Bericht, sondern nur in hypothetischer Form als Gedankenexperiment vorgeführt wird, wie das schon in der Schrift »Adversus nationes« (nach 303) des (Älteren) Arnobius geschah 21 . Dieser afrikanische A u t o r bestritt heftig die göttliche Herkunft der Menschen, die sich dafür auch nicht auf ihre vielfältigen Fähigkeiten berufen dürften. M i t etwas Nachdenken über sich selbst hätten sie sich niemals eine göttliche und unsterbliche Natur angemaßt und sich auch nicht für so großartig gehalten, nur weil sie verschiedene Gegenstände herzustellen i n der Lage seien. numquam y inquam, crederent typho et adrogantia subleuati, prima esse se numina et aequalia principis summitati, quia grammaticam musicam oratoriam pepererunt et geometricas formulas 22. Richtet sich die Polemik also vor allem gegen Hochmut und Überheblichkeit, so gerät sie doch auch in K o n f i k t mit der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, von welcher der neubekehrte Apologet offenbar nichts w u ß t e 2 3 . Für ihn kann der Mensch schon deshalb nicht göttlichen Ursprungs sein, weil er all die Künste nicht von sich aus besitzt, sondern erst i n Bildung und Erziehung erwerben muß. U m dies zu verdeutlichen und u m damit zu zeigen, »welchen Wert der Mensch [wirklich] habe« {cuius sit pretii homo), führt Arnobius dies Gleichnis an, bei dem man sich ein neugeborbnes K i n d i n einem Raum unter der Erde versetzt zu denken habe, ohne alle kulturellen oder natürlichen Erfahrungsmöglichkeiten, doch mit einer (nackten) Amme versehen, die es mit einfacher Nahrung versorgt, aber - wie bei Herodot - nicht mit ihm sprechen darf 2 4 . Wenn er zwanzig-, dreißig-' oder vierzigjährig an die Erdoberfläche und damit i n menschliche Gesellschaft käme, würde dieser »Kaspar Hauser der Spätantike« 25 auf alle an ihn gestellten Fragen keine
20 Herodot, Historien 11,2, dt. A . Horneffer [Kröners Taschenausgaben, 224] (Stuttgart, 3 1963), S. 100; dazu Blumenberg, Höhlenausgänge (wie A. 6), S. 323f.; A r n o Borst, Der Turmbau von Babel: Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker (Stuttgart, 1957-1963), Bd. 1, S. 39f. u.ö. (vgl. Register Bd. 4, S. 2266 s.v. »Psammetich«). 21
Dazu (auch zur späteren Rezeption) Blumenberg, Höhlenausgänge (wie A. 6), bes. S. 315-364; vorher schon ders., Das dritte Höhlengleichnis [Studi e Ricerche di Storia della Filosofia, 39] (Turin, 1961); auch ders., Die Genesis der kopernikanischen Welt (Frankfurt a.M., 1975), S. 33-35. 22
Arnobius, Adversus nationes 11,19, CSEL 4, S. 63.
23
Blumenberg, Höhlenausgänge (wie A . 6), S. 329.
24
Arnobius, Adversus nationes 11,20f., C S E L 4, S. 64f.
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A n t w o r t geben k ö n n e n 2 6 . M i t seiner ausdrücklich gegen Piatons »Menon« gerichteten P o l e m i k 2 7 gegen eine natürliche Ausstattung des Menschen als M i k r o k o s m o s 2 8 mit (göttlichem) Wissen verfolgt Arnobius eine völlig andere Zielsetzung als Gregor der Große, kommt aber mit i h m darin überein, daß der Mensch sich nicht erinnern könne an etwas, das er nicht selbst erfahren oder erlernt hätte.
IV Die Mutter in Gregors Gleichnis spricht mit ihrem K i n d und dieses versteht sie auch; die Fähigkeit zur Sprache ist uns Menschen i n diesem Leben gegeben. Aber die Sprache stößt dort an Grenzen, w o sie etwas benennt, das uns (noch) nicht in der Anschauung gegeben ist. Gregor geht nicht auf die Frage ein, die sich wie ein Leitfaden durch Blumenbergs Buch zieht: wie könnte man dem Höhlenbewohner erklären, was eine Höhle ist? Wie bekäme er eine Vorstellung v o n einem geschlossenen Raum, zu dem es als »Innen« noch ein »Außen« gibt? I n konsequentester Form ist Edmund Husserl das Problem angegangen mit der A n t w o r t : nur am Modell! Man müßte ihm eine Höhle oder so etwas wie eine Höhle (jedenfalls einen Gegenstand mit Innenraum) konstruieren, damit er i n Analogie dazu sich vorstellen könnte, was der Begriff »Außen« überhaupt meine 2 9 . Daran, dieses nicht erklären zu können, würde bei Gregor die Belehrung durch die Mutter ebenso scheitern wie die durch den Rückkehrer bei Piaton. Aber trotz dieser Unstimmigkeiten auf der Bildebene erfüllt das Gleichnis seinen Zweck; denn wehn der i m Kerker Geborene auch nicht wissen mag, was ein Kerker ist, so weiß der Leser es doch genau. Insofern illustriert das Gleichnis eine Funktion religiöser Meta25 Blumenberg, Höhlenausgänge (wie A . 6), S. 327. Z u m Fall »Kaspar Hauser« ebd. S. 396-411 (»Die leibhaftig auftretende Versuchsperson«). 26 Arnobius, Adversus nationes 11,22, CSEL 4, S. 66: poteritne, si quaeras, sol quid sii ostendere, terra maria sidera nuhes nebula pluuiae tonitrua nix gr andò? poterit arbores scire quid sit, herbae aut gramina, taurus equus aut aries, camelus elephantus aut miluusì I n seinem rhetorischen Eifer zählt der A u t o r noch allerhand Dinge auf, m i t denen der Höhlenzögling nichts anzufangen wüßte (11,23, S. 66 f.), was die Stelle vor allem unter wortgeschichtlichen Gesichtspunkten interessant macht. 27 Arnobius, Adversus nationes 11,24, CSEL 4, S. 67: quid in Menone, ο Plato, quaedam rationibus numeri admota ex puerculo sciscitaris et ex eius niteris responsionibus comprobare, quae discamus non discere sed in eorum memoriam quae antiquitus noueramus redire ? (Vgl. Platon, Menon 82aff.). Blumenberg, Höhlenausgänge (wie Α . 6), S. 326 f. 28 Arnobius, Adversus nationef 11,25, CSEL 4, S. 68: hic est ille pretiosus et rationibus homo augustissimis praeditus, mundus nìinor qui dicitur et totius in speciem similitudinemque mundi fabricatus at que formatus, nullo melior, ut apparuit pecore, obtusior ligno, saxo? 29 Z u Husserls Gedankenexperiment Blumenberg, Höhlenausgänge (wie A . 6), bes. S. 705 ff.
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phorik: am Bekannten (Sichtbaren) aufzuzeigen, wie es sich mit dem Unbekannten (Unsichtbaren) verhält, das w i r anders als auf solche analoge Weise nicht zu denken i n der Lage sind 3 0 . Haben w i r erst einmal eingesehen, uns i n dieser Welt nur wie in einem dunklen Kerker zu befinden, dann können w i r der theologischen Verkündigung von einem besseren (»hellen«) Jenseits Glauben schenken. V
D o c h es bleiben Zweifel. Nach Gregors Bewertung wäre zwar der Knabe dumm, wenn er meinte, seine Mutter lüge i h m etwas vor über das Licht, nur weil er selbst nichts anderes als die Dunkelheit des Kerkers kennenlernte 3 1 ; doch müssen w i r uns die Frage stellen, woher die mit der Mutter bezeichneten Personen die Kenntnis des Lichtes haben. M i t dem Wechsel v o m »Stammvater des Menschengeschlechts« zur Mutter des Gleichnisses ist nicht nur ein Wechsel i m Geschlecht verbunden 3 2 ; die Mutter w i r d sinnvollerweise nicht den ersten Menschen meinen, da Adam schon lange nicht mehr lebt und den Glauben ans Jenseits uns deshalb auch nicht aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Zumindest hinsichtlich der Erziehung meint die Mutter w o h l Prediger und solche Menschen, die v o m Jenseits wissen, also nicht in Dunkelheit und Blindheit des Unwissens sich befinden. Damit verläßt Gregor die Bildebene des Gleichnisses und führt von der Bedeutungsseite her eine »Erleuchtung« ein: »Deshalb kam der Schöpfer des Unsichtbaren und des Sichtbaren, der Eingeborene des Vaters, zur Erlösung des Menschengeschlechts, und er sandte uns den Heiligen Geist i n unsere Herzen, damit w i r durch ihn belebt glauben, was w i r bisher aus Erfahrung nicht wissen können. Haben w i r also diesen Geist, das Unterpfand unserer Erbschaft, empfangen, dann zweifeln w i r nicht am unsichtbaren Leben« 3 3 . Die Erlösung besteht demnach darin, i m Glauben an das »Licht« gestärkt zu werden. Für diesen A k t der göttlichen Gnade bietet das Gleichnis keine Analogie (zeitweilige Befreiung aus dem Kerker, entsprechend dem Höhlenaufstieg bei Piaton?), w o h l aber für die Sünde: sie ist der Zweifel an den Wahrheiten des Glaubens, der nicht aus Bosheit geschieht i m
30 Dazu die Einleitung meiner kommenden Dissertation zur Sündenmetaphorik (vgl. A . 35). 31
Gregor, Dialoge I V , 1,5, SC 265, S. 22: Nam stultus est puer , si matrem ideo aestimat de luce mentiri, quia ipse nihil aliud quam tenebras carceris agnouit. 32 33
V g l . de Vogûé, »Un avatar« (wie A . 5), S. 24, A . 14.
Gregor, Dialoge I V , 1,4, SC 265, S. 20: Vnde factum est, ut ipse inuisibilium et uisibilium creator ad humani generis redemptionem Vnigenitus Patris ueniret, et sanctum Spiritum ad corda nostra mitteret, quatenus per eum uiuificati crederemus, quae adhuc scire experimento non possumus. Quotquot ergo hunc Spiritum, hereditatis nostrae pignus, accepimus, de uita inuisibilium non dubitamus.
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Noch ein Höhlengleichnis Sinne einer G o t t e s l e u g n u n g ,
s o n d e r n aus d e r
S c h w ä c h e der
menschlichen
S i t u a t i o n n a c h d e m S ü n d e n f a l l heraus. » W e r aber i n diesen G l a u b e n s d i n g e n n o c h n i c h t gefestigt ist, m u ß z w e i f e l l o s d e n W o r t e n d e r [ i n g e i s t i g e m V e r s t ä n de] Ä l t e r e n G l a u b e n s c h e n k e n u n d d e n e n v e r t r a u e n , die d u r c h d e n H e i l i g e n G e i s t s c h o n eine E r f a h r u n g d e r u n s i c h t b a r e n D i n g e e r h a l t e n h a b e n « 3 4 . G l a u b e n s z w e i f e l , das ist die H a u p t a u s s a g e , s i n d z w a r v e r s t ä n d l i c h aber u n v e r n ü n f t i g . V e r s t ä n d l i c h s i n d sie i n der P e r s p e k t i v e des i m d u n k l e n K e r k e r
Gebore-
n e n , also des i n S ü n d e g e b o r e n e n M e n s c h e n , d e r n i c h t s anderes k e n n t als D u n k e l h e i t u n d G e f a n g e n s c h a f t , w e s h a l b diese E l e m e n t e des Gleichnisses a u c h als S ü n d e n m e t a p h e r n v e r s t a n d e n w e r d e n k ö n n e n , w o r a u f an anderer
Stelle
ausführlich eingegangen w i r d 3 5 . U n v e r n ü n f t i g sollen Glaubenszweifel dagegen aus der Sicht d e s j e n i g e n erscheinen, d e r w e i ß , was e i n K e r k e r ist, also des Lesers, f ü r d e n es i n der T a t u n v e r n ü n f t i g w ä r e , n i c h t f ü r w a h r z u h a l t e n , was er w e i ß . A l l e r d i n g s e r g i b t sich solche U n v e r n u n f t a u s s c h l i e ß l i c h aus d e r L o g i k des Gleichnisses u n d daraus, daß m i t i h m die S i t u a t i o n des M e n s c h e n g e n a u b e s c h r i e b e n w i r d . B e i einer a n d e r e n M e t a p h e r f ü r die » W e l t « 3 6 als d e r des abgeschlossenen R a u m e s f o l g t e die A n n a h m e eines Jenseits d u r c h a u s n i c h t so z w i n g e n d . N u r m i t H i l f e der M e t a p h o r i k v e r l e i h t G r e g o r der G r o ß e s e i n e m
34 Gregor, Dialoge I V , 1,5, SC 265, S. 20-22: Quisquis autem in hac credulitate adhuc solidus non est, debet procul dubio maiorum dictis fidem praebere, eisque iam per Spiritum sanctum inuisibilium experimentum habentibus credere. 35 Z u Metaphern wie »Dunkelheit«, »Blindheit«, »Gefangenschaft«, »Verbannung« usw. w i r d ausführliches Material mein Forschungsvorhaben zur Sündenmetaphorik darbieten, aus dem zunächst Studien zu den zentralen Bildbereichen »Schmutz«, »Krankheit« und »Rechtsbruch« als Dissertation vorgelegt werden sollen; zur »Blindheit« der Sünde nun schon G u d r u n Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter [Münstersche Mittelalter-Schriften, 35] (München, 1985), w o reiche Belege aus den Werken Gregors und seiner Nachfolger vorgeführt werden. Sonst zur Sündenmetaphorik Paul Ricoeur, Symbolik des Bösen: Phänomenologie der Schuldll, dt. Maria O t t o , (Freiburg - München, 1971); Günter Röhser, Metaphorik und Personifikation der Sünde: Antike Sündenvorstellungen und paulinische Hamartia [Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament I I , 25] (Tübingen, 1987). Die Metaphern für einen mehrstufigen Fortschritt i m Sündigen
b e h a n d e l t F r i e d r i c h O h l y , Metaphern
für
die Sündenstufen
und die Gegenwirkungen
der Gnade
[Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G ] (Opladen, 1990; i m Druck). Z u m Laster der Habgier in einem engumrissenen Zeit- und Gattungsrahmen Gabriele Hooffacker, Avaritia radix omnium maiorum: Barocke Bildlichkeit um Geld und Eigennutz in Flugschriften, Flugblättern und benachbarter Literatur der Kipper- und Wipper%eit (1620-1625) [Mikrokosmos, 19] (Frankfurt a. M . - Bern - N e w Y o r k , 1988). 36 Beispiele bei Michael Schilling, Imagines Mundi: Metaphorische Darstellungen der Welt in der Emblematik [Mikrokosmos, 4] (Frankfurt a. M . - Bern - Cirencester, 1979); Ergänzungen bei Dietrich und Christoph Gerhardt, »Welt-Ansichten. Z u Michael Schillings Buch imagines M u n d i [ . . . ] < « , Daphnis, 10 (1981), S. 415-482. Material erschließt von der Bedeutungsseite her das Register bei Alexander Demandi, Metaphern für Geschichte: Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken (München, 1978), S. 526 f.
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pastoraler Sorge u m das Heil der Menschen entspringenden A u f r u f zum Glauben Überzeugungskraft und Evidenz. VI
Bei seinem das Höhlengleichnis variierenden Kerkerbild weicht Gregor einmal von der fast durchgängigen Gewohnheit ab, metaphorische Argumentationen mit Hilfe der Allegorese auf Biblisches aufzubauen 37 . Dies ist umso erstaunlicher, als die Schrift sehr w o h l einen Deutungsansatz geboten hätte, den Gregor auch an anderen Stellen nutzt. D o r t ist sogar ausdrücklich von einem »Höhlenausgang« die Rede, dessen Auslegungsgeschichte Blumenberg jedoch unberücksichtigt läßt, wie überhaupt die geistliche Literatur des Mittelalters i n seinem Buch ausgeblendet bleibt. Bei seiner Flucht, so lautet der biblische Bericht, wollte der Prophet Elias in einer Höhle am Berg Horeb übernachten, als das W o r t des Herrn an ihn erging (3 Reg. 19,9). Nachdem er mehrere Epiphaniezeichen wahrgenommen hatte (Sturm, Erdbeben, Feuer), verhüllte der Prophet das Gesicht mit seinem Mantel, trat hinaus und stellte sich in den Eingang der Höhle (et ingressus stetit in ostio speluncae; 3 Reg. 19,13). A u c h dieser Höhlenaustritt belehrt uns nach den »Moralia« Gregors über die Erkenntnis Gottes (de cognitione Dei). I n einer ausführlichen Allegorese verschiedener Elemente der Erzählung geschieht das Verhüllen des Anlitzes aus dem Wissen u m die eigene Schwäche heraus 3 8 . Die Höhle dagegen bedeutet die »Wohnung des Verderbens«, also das Leben i n diesem durch die Erbsünde verderbten Leib: Quid namque spelunca nostra est nisi haec corruptionis habitatio, in qua adhuc ex uetustate retinemurì Sed cum aliquid percipere de cognitione diuinitatis incipimus quasi iam in speluncae nostrae ostio stamus 39. Diese Höhle verhindert vollständige Gotteserkenntnis; aber sie hat einen Ausgang, i n dem w i r stehen und uns dem (hellen) Außen zumindest zuwenden können 4 0 . Weshalb es 37 Z u r Allegorese bei Gregor z. B. Dietram Hofmann, Die geistige Auslegung Schrift Gregor dem Großen [Münsterschwarzacher Studien, 6] (Münsterschwarzach, 1968).
bei
38 Gregor, M or. V,36,66, CCL 143, S. 265 f.: Vultui namque pallium superducere est ne altiora mens quaerere audeat, hanc ex consideratione propriae infirmitatis uelare; ut nequaquam intelligentiae oculos ultra se praecipitanter aperiat, sed ad hoc quod apprehendere non ualet, reuerenter claudat. Garnerius, Gregorianum X I I I , 1 4 , P L 193,407 C D ; Hraban, In 3 Reg. 19, P L 109,212 A B ; Richard v o n St. V i k t o r , Liber exceptionum 11,7,14, ed. Jean Chatillon [Textes philosophiques du Moyen Age, 5] (Paris, 1958), S. 325 f. 39 Gregor, Mor. V,36,66, CCL 143, S. 266. Garnerius, Gregorianum X I I I , 1 4 , P L 193,407D; Hraban, In 3 Reg. 19, PL 109,212B; vgl. Richard v o n St. V i k t o r , Liber exceptionum 11,7,14 (wie A . 38), S. 326. 40 Johannes Tauler spitzt die Argumentation weiter zu, indem er gerade i m Bedecken der Augen die visto der Gotteserkenntnis verstehen w i l l ; Tauler, Predigten, ed. Ferdinand Vetter [Deutsche Texte des Mittelalters, 11] ( D u b l i n - Zürich, 2 1968), S. 228: Dise hüle das ist menschliche unlidelicheit, aber die türin das enist anders nüt denne do man in die gotheit sieht. Und das er den mantel für die ögen tet, das was das gesteht. Tauler bildet aufgrund dieser
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jedoch nicht möglich sein soll, ganz aus der Höhle hinauszutreten, läßt sich nicht direkt mit dem Bibeltext begründen. Gregor findet die Erklärung dennoch dort, indem er offenbar zum »Sturm« assoziert, w i r würden in einem solchen Fall v o n diesem erfaßt: Quia enim progredì per fede non possum us ad cognitionem tarnen ueritatis inhiantes, iam aliquid de libertatis aura captamus. In ingressu ergo speluncae stare , est represso nostrae corruptionis obstaculo ad cognitionem ueritatis incipere exire. 41 I n den Ezechiel-Homilien greift Gregor das Bild erneut auf, legt jedoch den Schwerpunkt auf das Hören der Stimme Gottes durch Elias, auf welches hin er in den Ausgang der Höhle trat. Elias hörte G o t t zwar, doch er sah ihn nicht, da er sein Gesicht ja verhüllte. So verhalte es sich auch mit der Seele, die Gott nicht schauen kann, doch auch nicht vollständig in der »Höhle« eingeschlossen ist; sie vernimmt die Worte Gottes mit dem »Ohr des Herzens« 42 . Elias werde deshalb als i m Eingang der Höhle stehend beschrieben, quia cum per contemplationis gratiam uox supernae intelligentiae fit in mente y totus homo jam intra speluncam non est y quia animum carnis cura non possidet, sed stat in ostio, quia mortalitatis angustias exire meditatur A2>. Gregor geht an dieser Stelle nicht soweit, die Höhle ausdrücklich mit dem Leib zu identifizieren, wenn auch der »enge« Ausgang (angustus / angustiae) an Sterblichkeit und T o d gemahnt. Der A u t o r fordert vielmehr dazu auf, alles Körperliche von (den Augen) der Seele fernzuhalten, u m die »Stimme des inneren Wesens« vernehmen zu können 4 4 . Daß die unsichtbare Welt Realität besitzt, wissen w i r seit dem sichtbaren Erscheinen des Erlösers. Wenn auch irdische Sorgen uns hindern, vollständig ins Freie zu treten, »so laßt uns doch wenigstens i m Ausgang unserer Höhle stehen, um dereinst durch die Gnade unseres Erlösers hinaustreten zu können«: Nos itaque, fratres carissimi , qui iam per Redemptoris Allegorese die Metapher v o n der »Tür der Gottesgegenwart«; ebd. S. 251: (Elias) stunt in der türin der hülin, das was in seiner menschlichen krankheit in der türin der gegenwürtkeit Got Z u den weiteren Elementen der Allegorese Taulers Antoinette Vogt-Terhorst, Der bildliche Ausdruck in den Predigten Johann Taulers [Germanistische Abhandlungen, 51] (Breslau, 1920), S. 131 f.; daß Tauler die Deutung m i t jener v o n H i o b 4,15 f. vermischt (ebd. S. 132), dürfte allein aus der Rezeption der Moralia zu erklären sein, w o die EliasGeschichte zu eben dieser Stelle herangezogen wird. 41
Gregor, Mor. V,36,44, CCL143, S. 266. Garnerius, Gregorianum XIII,14, P L 193,407D; Hraban, In 3 Reg. 19, P L 109,212B; Richard v o n St. V i k t o r , Liber exceptionum 11,7,14 (wie A . 38), S. 326. 42 Gregor, In 11,1,18, CCL 142, S. 223: Sed iam qui in ostio speluncae consistit et uerba Dei in aure cordis percipit, necesse est ut faciem uelet, quia dum per supernam gratiam ad altiora intellegenda ducimur, quanto subtilius leuamur, tanto semper per humilitatem nosmetipsos in intellectu nostro premere debemus [. . .], ne dum nimis inuisibilia discutimus, aberremus, ne in illa natura incorporea corporei luminis aliquid quaeramus. 43 44
Gregor, In
11,1,17, CCL 142, S. 223.
Gregor, In 11,1,18, CCL 142, S. 223: Aurem enim intendere et faciem operire est uocem interioris substantiae audire per mentem, et tarnen ab omni specie corporea oculos cordis auertere, ne quid sibi in illa corporale animus fingat, quae ubique tota et ubique incir cum scripta est.
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nostri mortem ac resurrectionem adque ad caelos ascensionem, gaudia aeterna didicimus, qui in testimonium diuinitatis eius apparuisse exterius ciues nostros angelos illius scimus, concupiscami Regem, desideremus ciues quos cognouimus, atque in boc sanctae Ecclesiae aedificio stantes oculos in porta teneamus; demus terga mentis huic corruptioni uitae temporalis, intendamus cordis faciem ad caelestis patriae libertatem. Sed ecce adhuc multa sunt quae nos de cura uitae corruptibilis premunt. Quia ergo perfecte exire non possumus, saltern in speluncae nostrae ostio stemus, exituri quandoque prospere per gratiam Redemptoris nostri, qui uiuit et régnât [ . . . ] 4 5 . Das »Licht« außerhalb der Höhle w i r d hier nicht nur positiv bewertet. Als dem unsichtbaren Licht der Freiheit des himmlischen Vaterlandes soll das »Antlitz des Herzens« ihm zugewandt sein; als dem aus derselben Richtung wahrzunehmenden sichtbaren Licht der körperlichen Erscheinungen ist es von den »Augen des Herzens« fernzuhalten. V o n der Dunkelheit der Höhle als »Blindheit« und »Nacht« der Sünde steht an diesen Stellen zur mystischen Erfahrung nur wenig; diese Bedeutung dürfte aber beim Denken an Fleisch und Sterblichkeit immer mit gemeint sein. Deutlich ausgesprochen w i r d sie dagegen in einer unter dem Namen des Richard v o n St. V i k t o r gedruckten Hohelied-Auslegung 4 6 , wo die Paradoxie des i m Höhlenausgang Stehenden und doch das Licht nicht wahrnehmenden Elias die Situation des Menschen bezeichnet, der — i m Gegensatz zum völligen B l i n d e n 4 7 — seine Unwissenheit erkennt und sich danach sehnt, den Zustand der Verdorbenheit zu verlassen und zum erleuchtenden Tag der Gnade zu gelangen: Sic homoy percepta gratia et per hanc cognita in perfectione sua, vultum pallio operit; quia quanta ignorantia tegatur agnoscit, et in ostio speluncae stat, qui post noctem cognitae caecitatis de corruptionis vitio exire ad illucescentem sibi diem gratiae venire desiderati. Stärker noch betont den negativen Aspekt des »Fleisches« ein anderer Text, der ebenfalls dem monastischen Bereich entstammt. Der Eintritt i n die Höhle bezeichnet die Lust des Leibes, das Hinaustreten hingegen die Zuwendung zum Göttlichen. I m Ausgang seiner Höhle stehen zu sollen, meint deshalb, v o m Körperlichen zum Göttlichen zu streben, jedoch nicht »vor der Zeit« i n Ungeduld zum Schauen des göttlichen Antlitzes hinauszutreten. Sta in ostio speluncae tuae, sta per sever antia, sta patientia. Perseverantia, ut non abeas retrorsum. Patientia, ut ante tempus ad exitum non festines. Sta, exspecta donec voceris. Sta paratus per desiderium exeundi. Sta fixus per obedientiam sustinendi. Sta in ostio speluncae, ut nec ingrediaris per concupiscentiam, nec egrediaris 4
* Gregor, In Εξ. 11,1,18, CCL 142, S. 223.
46
Dazu Friedrich Ohly, Hohelied-Studien: Grundlage einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes bis um 1200 (Wiesbaden, 1958), S. 223-229. 47
Ps.-Richard v o n St. V i k t o r , In Cant. 5, P L 196,421 A : Remissus et caecus, nec se videt, nec gratiam amat, quia tenebris suis obvolvitur, et lucem gratiae ignorât. 48 Ps.-Richard v o n St. V i k t o r , In Cant. 5, P L 196,420 D - 4 2 1 A ; corruptionis vitium meint hier nicht das »Laster der Bestechlichkeit« (Schleusener-Eichholz, Auge [wie A . 35], S. 486).
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per impatientiam. Sta in ostio speluncae tuae y et ecce pertransibit dominus. 49 Das Stehen i m Ausgang der Höhle ist also Bild für die Pflicht des Christen, sich v o m Irdisch-Körperlichen abzuwenden und gleichzeitig geduldig abzuwarten, bis Gott ihn zum Heraustreten aufruft. Dieser Höhlenaustritt ist dann der Tod.
VII Damit sei der kleine Ausblick auf die Auslegungsgeschichte v o n 3 Reg. 19,9 abgebrochen, der nur andeuten sollte, i n welche Richtung die Erforschung literarischer »Höhlenausgänge« weitergehen k ö n n t e 5 0 . I n derselben Absicht soll nun kurz die mittelalterliche Rezeption des Gleichnisses der »Dialoge« angesprochen werden. Daß sie dies einzelne M o t i v betreffend offensichtlich nicht sehr umfangreich ist, wird damit zusammenhängen, daß solche Werke, die Gregor sonst in extenso nutzen, meist exegetischen Charakters sind (Bibelkommentare, Homilien, allegorische Wörterbücher, an biblischen »res« orientierte Enzyklopädien) und deshalb ein nichtbiblisches Gleichnis für sie kaum infrage kam. Als Ganzes wurden die »Dialoge« freilich oft abgeschrieben und auch übersetzt 5 1 — ins Angelsächsische bereits i m späten 9. Jahrhundert i m Auftrag K ö n i g Alfreds des Großen 5 2 . V o n den illustrierten Handschriften stellt der Codex X I , 4 der ehemaligen Sammlung L u d w i g (heute Malibu, The J. Paul Getty Museum) aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts (wahrscheinlich Mittelitalien) als Titelminiatur zu Buch I V die Szene
49 H u g o v o n St. V i k t o r
(?), Miscellanea
1,109, P L 1 7 7 , 5 3 8 B ; e b d . 5 3 8 B C :
Quomodo
homo per concupiscentiam carni inhaerens Deum videre poterit, cum ille etiam qui toto desiderio ad exitum carnis inhiat, in hac corruptione adhuc positus non nisi transeuntem videre queat? In hac ergo mortalitatis caligine adventus Dei ad animam in transitu fit, quia quod hic de ipsius dulcedine mutabiliter viventibus ostenditur, ab ipso animo, quamvis illuminato, ad suae corruptionis tenebras rursum relabente nequaquam diu retinetur. 50 Z u behandeln wäre noch Symeon der Neue Theologe, Ethik 1,12, SC 122, S. 296305, Hinweis v o n Cécile Raymond bei de Vogûé, »Un avatar« (wie A . 5), S. 24, A . 15; dort: »Bien plus développée que celles d'Aristote et des deux Grégoire, cette version rappelle par son ampleur, ses péripéties multiples et même certains détails (l'accoutumance à la lumière, notamment) le morceau-source de Platon. Dans la perspective eschatologique de Grégoire de Nysse (on sort de prison par la mort), elle insère une analyse de l'extase et de la contemplation mystique ici-bas, considérées comme des anticipations partielles, l'une fugitive, l'autre durable, de la vision bienheureuse.« 51 V o r allem am italienischen Sprachgebiet interessiert ist Georg Dufner, Die Dialoge Gregors des Großen im Wandel der Zeiten und Sprachen (Padua, 1968); einen Überblick über deutsche Fassungen gibt K u r t Ruh, A r t . »Gregor der Große« ( V L 23, Sp. 233-244) Sp. 238-240. 52 Bischof Warferths von Worchester Übersetzung der Dialoge Gregors des Großen, ed. Hans Hecht [Bibliothek der angelsächsischen Prosa, 5] (Leipzig, 1900 bzw. Hamburg, 1907, N d r . Darmstadt, 1965).
5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
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Meinolf Schumacher
d a r 5 3 (s. A b b . 1): i n d e m ( r u n d a u s g e m a u e r t e n , also h ö h l e n ä h n l i c h e n ? )
Raum
eines Gebäudes e r k e n n t m a n eine F r a u i m W o c h e n b e t t m i t i h r e m K i n d
im
A r m ; z w e i a u ß e r h a l b stehende P e r s o n e n w e n d e n sich i h r z u , w e s h a l b m a n sie w o h l als die b e i d e n P a r t n e r d e r » D i a l o g e « , G r e g o r u n d P e t r u s , z u i d e n t i f i z i e ren h a t 5 4 . Hugos
An
von
literarischen
Trimberg
Rezeptionsforschung wird
Gregor
in
Zeugnissen
ist aus D e u t s c h l a n d
der
»Renner«
z u n e n n e n , was a u f e i n e n interessanten A s p e k t
verweist:
diesem
eher
Trotz
seiner aszetisch-monastischen
auf praktische
Lebensführung
des
der
Tendenz Christen
a u s g e r i c h t e t e n L e h r g e d i c h t 5 5 sehr h ä u f i g als A u t o r i t ä t z i t i e r t ; m i t d e r Ü b e r n a h m e eines l i t e r a r i s c h e n Beleges m u ß n i c h t ebenfalls d i e u r s p r ü n g l i c h e I n t e n t i o n i n das z i t i e r e n d e W e r k e i n g e h e n , s o n d e r n k a n n , w e n n a u c h n i c h t eine völlige Veränderung,
so d o c h z u m i n d e s t
eine V e r s c h i e b u n g
des
Aussage-
s c h w e r p u n k t s erfahren. A n der f o l g e n d e n Stelle n e n n t H u g o d e n A u t o r des Gleichnisses n i c h t b e i m N a m e n 5 6 : 22989
Uns armen ist üf erden alle %ît Als einem der blint gevangen lit, Dem selten ie dehein liep geschach Und in der werlde ouch nie gesacb Stern, mânen noch die sunnen, Loup noch gras mit werlde wunnen: Swer dem vil sagte von schœnen frouwen, Von berge, von tal, von walde, von ouwen, Von vogeln, von vischen und von tieren, Wie sunne und mane die werlt gieren, Wa% ιμΐΐζ,
swar rôt,
blâ, grüene, gel,
Brun si, daζ ist im ein spei: Als ist uf erden uns allen gelîch: K'ònde wir die fröude in himelrîch
53
A n t o n v o n E u w - Joachim M . Plotzek, Die Handschriften der Sammlung Ludwig, Bd. 3 ( K ö l n , 1982), S. 62-65 (Nr. X I , 4 ) m i t Farbabb. v o n fol. 9 0 v auf S. 63; zur Hs. auch ebd. S. 30-32. 54 Anders v o n E u w , »Gregor« (wie A . 5), S. 38: »Der M a n n draußen spricht die neben i h m stehende Frau an und scheint ihr jene dem platonischen Höhlengleichnis nicht unähnliche Parabel vorzutragen, mit der Gregor über das Wesen des Glaubens spricht«. 55 Friedrich Ohly, »Süße Nägel der Passion: E i n Beitrag zur theologischen Semantik«, Collectanea Philologica. FS Helmut Gipper, edd. Günther Heintz — Peter Schmitter, Bd. 2 [Saecula Spiritalia, 15] (Baden-Baden, 1985), S. 403-613, S. 498; auch als Buchausgabe [Saecula Spiritalia, 21]: Baden-Baden, 1989, mit gleicher Paginierung. 56 Da H u g o sich hier nicht ausdrücklich auf Gregor als Autorität beruft, findet das Zitat auch keine Erwähnung bei Lutz Rosenplenter, Zitat und Autoritätenberufung im Renner Hugos von Trimberg: Ein Beitrag %ur Bildung des Laien im Spätmittelalter [Europäische Hochschulschriften 1,457] (Frankfurt a . M . - Bern, 1982); dort zu den übrigen Gregorzitaten S. 221 - 258.
Noch ein Höhlengleichnis
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Gewegen gein di se m jam er tal,
Sô wer der werlde wunne smal, Valschaft, unflêtic unde blint Utide noch wilder denne der wint. bl Bei aller Differenz, wie sie sich etwa i m L o b der »schönen Damen« (v. 22995) äußert, das bei Papst Gregor w o h l undenkbar wäre, stimmen beide Autoren doch darin überein, die Schönheit weltlicher Dinge metaphorisch auf ein noch schöneres Jenseits verweisen zu lassen. Aber während es Gregor um die Existenz einer jenseitigen Welt überhaupt geht und u m die Gefahr von Glaubenszweifeln, fordert H u g o zum richtigen Verhältnis der Welt gegenüber auf, die i n Relation zum H i m m e l gesehen und bewertet werden soll: es ist ein Problem v o n »uns Armen« hier auf Erden i n Gesamtheit (vv. 22989, 23001), die Freuden des Himmels nicht gegen dies »Jammertal« abwägen zu können; niemand wird davon ausgenommen. Anders dagegen in den »Sieben Staffeln des Gebets« des Mystikers David von Augsburg, w o trotz der Ergänzungen um das M o t i v des schwachen Kerzenscheins und der Relativität von Süß und Sauer die Übereinstimmung mit Gregor weit größer ist als i m »Renner«. Bei David sind es die »Heiligen«, die in der Kontemplation bereits ein wenig von den Freuden des Himmelreichs »geschmeckt« haben und sich deshalb ihres Zustandes des Gefangenseins kläglich bewußt werden; sie weinen und seufzen, das sv hie sint in disem eilende alse in eime kerker gevangen 58. Wer hingegen noch nicht »verzückt« wurde, hat genug an den »schwachen Freuden dieser Welt«: Alse der in dem kerkere geboren ist vnde nie svnnen schin gesach: den dvnket ein hohes lieht, so ime ein ker^e Ivhtet, vnde der nie besser s enbei^, den dvnket svr sv Abir die heiligen, die der himelischen vröiden hie ein lv%el in inren gnaden gesmaket habent, die gerent ir also sere, vnde dis eilende, das si da vone svment, tragent si swere, da% si wunschent mit aller hande marter das leben virwandelene mit vrolichem mite, das si deste sneller von hinnan erloset wurden, wan sv wol wissen, das hant, so si den totlichen lip von in geschvttent, da$ si denne svllen die vn^ergencliehen crone der himelischen ere vrolichen von gottis hant ewecliehe enphahen,59 Das Springen von der Metaphorik
57 H u g o von Trimberg, Der Bd. 3, S. 249 f.
Renner, ed. Gustav Ehrismann (Ndr. Berlin, 1970),
58 D a v i d von Augsburg, Die sieben Staffeln des Gebetes, ed. K u r t Ruh [Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters, 1] (München, 1965), S. 70. D a v i d kennt auch ein Gleichnis v o m engen Tal, das seine Bewohner leicht für die »Welt« halten; Die sieben Vorregeln der Tugend [Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, ed. Franz Pfeiffer, Bd. 1] (Leipzig, 1845; N d r . Aalen, 1962), S. 309-325, S. 324: Uns ist als den, die in einem engen tälltn erlogen sint und nie wîte gesähen: die wundert wie den wîten landen sì, dà man î(u ende niht gesehen kan von der wîte. Wir stn in dirre erde tunc gewahsen und wissen niht, da% diu erde da% kleineste stücke ist der werlde under den elementen. So ist disiu gesihtltchiu werlt vil kleiner und untiuwerer denne diu geistliche werlt [. . . ].
5:
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des dunklen Kerkers in die des »Schmeckens« zeigt an, daß es David ebensowenig wie Gregor gelingt, ein kontemplatives Vorempfinden des H i m mels i n diesem Leben i m Rahmen eines Gleichnisses v o n Kerker oder Höhle einleuchtend darzustellen. Die Welt zu verlassen ohne zu sterben, ist ein Gedanke, für den der Metaphorik offenbar keine Analogie aus dem Bereich der äußeren Erfahrung zur Verfügung steht.
59 D a v i d v o n Augsburg, Staffeln (wie A . 58) S. 71; Ruh verweist zur Stelle nur auf Piatons Höhlengleichnis, nicht auf Gregors Dialoge.
D i e Antike als Darstellungsmuster weltlicher und geistlicher Machtansprüche des Papsttums V o n Julius I I . bis Pius V I . V o n Volker Kapp I n einer Umfrage zum Thema »Quäle Roma?« erhielt eine unabhängige, linke Parlamentariergruppe als knappste A n t w o r t den lapidaren Satz: »Una Roma senza il papa« 1 . Diese A n t w o r t von Carlo Calante Garrone greift eine Zielsetzung auf, die schon zu den politischen Wunschträumen der frühen Humanisten gehörte. Sie berührt eine der Voraussetzungen des hier zu behandelnden Themas, daß nämlich das Papsttum nicht nur eine religiöse, sondern auch eine politische Größe ist. I m heutigen, kommunistisch regierten Rom w i r k t es wie eines der vielen Relikte aus einer großen Vergangenheit, die Massen von Touristen und Herden von Pilgern anziehen, denen Horden von Straßenhändlern, Bettlern und Dieben auf dem Fuß folgen. Dieses Rom ist seit Jahrhunderten immer wieder als die »ewige Stadt« verherrlicht worden. Es ist aber auch zunehmend als die »Un-Stadt« durch Literatur, Kunst und F i l m herabgewürdigt worden 2 . Diese Schmähung bringt die Kehrseite des für unsere abendländische Tradition so schicksalhaften Mythos zur Geltung. U m diesen Mythos des päpstlichen R o m soll es i m folgenden gehen. Ich möchte zeigen, daß dieser Mythos über einen gewissen Zeitraum das Selbstverständnis des Papsttums und der römischen K u l t u r getragen und so befruchtet hat, daß die Geschichte zum Impuls für die Gegenwart und damit K u l t u r zum Nährboden neuer K u l t u r geworden ist. Es gibt verschiedene Gründe für die Wahl des Zeitraums v o m Pontifikat Julius' I I . bis zu dem v o n Pius V I . Ich übergehe aus Zeitmangel die Genese des Renaissancepapsttums und streife nur knapp die Ausformung des RomMythos i m Mittelalter. Ich setze an dem Punkt ein, w o die Rückbesinnung auf die Antike politisch und kulturell eine Umorientierung des päpstlichen Selbstverständnisses nach sich zog. Diese Umorientierung ließ die Kurie zu einem 1 Z i t . bei Titus Heydenreich, Das unheimliche Rom in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Aspekte des Erzählens in der modernen italienischen Literatur, hrsg. v o n U. Schulz-Buschhaus u. H . Meter (Tübingen, 1983), S. 193. 2
V g l . Heydenreich, art. cit., S. 186.
70
Volker Kapp
der Zentren des europäischen Humanismus und zu einem der Vorbilder der Hofkultur und des sich herausbildenden modernen Regierungsapparates werden. Ich ende mit Pius V I . , weil unter seinem Pontifikat die bei Julius I I . durchbrechende kulturelle und politische Leitidee letztmals für das profane Europa Vorbildcharakter besaß, obwohl sie i m Gegenüber zu Aufklärung und Französischer Revolution selbst schon zu etwas Musealem geworden war und von profanen Instanzen eingefordert wurde. Geht man v o m heutigen Selbstverständnis des Papsttums aus, dann sind Politik und Kunst nur sekundäre Erscheinungsbilder einer Institution, die ihre Legitimation aus ihrem geistlichen Auftrag herleitet. I n den drei hier zur Debatte stehenden Jahrhunderten haben sie jedoch eine zentrale Rolle gespielt. Dies w i l l selbst vielen Kunstliebhabern schwer eingehen. A u c h die Historiker neigen dazu, den Päpsten dieser Zeiten ihre Weltlichkeit vorzurechnen. Die Theologen schließlich scheuen sich, diese Zusammenhänge eingehender zu erörtern, weil ihrer Ansicht nach die damaligen Päpste einfach zu weltlich waren, was gleichbedeutend mit einem Mißbrauch des Amtes sein dürfte. Hans Urs von Balthasar hat i n seiner vielbändigen theologischen Ästhetik 3 verschiedenste Spielarten christlicher Ästhetik dargestellt, das hier zu behandelnde Thema jedoch übergangen. Auch sein apologetisches Buch über das Papsttum 4 macht einen Bogen um dieses Thema. Dies erklärt sich vermutlich damit, daß er wie die meisten Vertreter seiner Disziplin jeweils die Vergangenheit nach ihrem Ertrag für die Gegenwart befragt, und da muß er zu einem negativen Ergebnis kommen; denn die damalige Verbindung von Glaube, Politik und Kunst ist aus heutiger Sicht völlig unbegreiflich. Eben deshalb muß sie aber v o n der Wissenschaft verständlich gemacht werden, war sie es doch, die einen der Gipfelpunkte unserer europäischen K u l t u r ermöglichte. Seit die Reformatoren sich gegen den Luxus der Päpste erhoben haben und seit Jacob Burckhardt die Diskrepanz zwischen den Bildprogrammen und der Lebensweise der Päpste zum Anlaß genommen hat, den profanen Geist der Renaissancepäpste zu betonen 5 , w i r d die christliche Substanz der römischen K u l t u r zwischen Renaissance und Französischer Revolution häufig unterschätzt. Die neuere Kunstgeschichtsforschung hat vieles re vidiert. Ich verdanke den Kunsthistorikern viel von dem, was ich vortragen werde. D o c h möchte ich das Thema als Literaturwissenschaftler behandeln und dabei vor allem an die neueren Studien über die Rhetorik anknüpfen, die dem von Burckhardt
3
Herrlichkeit:
Eine theologische Ästhetik
(Einsiedeln, 1961-1969), 3 Bde. (in 7 Teilbän-
den) 4
Der antirömische Affekt
5
Die Kultur der Renaissance in Italien (1960), I , 10; 111,2; V I .
(Freiburg, 1974) [Herderbücherei 492].
Antike als Darstellungsmuster von Machtansprüchen des Papsttums
71
geringgeachteten neulateinischen Schrifttum zu neuem Leben verholfen und dadurch unser Bild dieser drei Jahrhunderte wesentlich modifiziert haben. I m hier zu behandelnden Zeitraum bildeten (neu)lateinisches und italienisches Schrifttum noch eine Einheit, weswegen hier beides gleichermaßen ausgewertet wird. Außerdem rechne ich, ganz i m Sinne der Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts, alle die Schriften zur Literatur, die aus der intensiven Beschäftigung mit den auctores, d.h. den alten Dichtern, Schriftstellern und Rednern, hervorgegangen sind. Ich werde deshalb den eigentlichen Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft nicht verlassen, wenn ich mich auf Quellen berufe, die seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr zum Kanon der Literatur gehören. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts profitierte das Papsttum politisch wie kulturell in hohem Maße von der Sakralisierung des antiken Rom. Allerdings hatte es dabei immer wieder gegen jene anzugehen, die den Rom-Gedanken gegen die päpstlichen Machtansprüche auszuspielen suchten. Cola di Rienzo ist hierfür an der Schwelle zur Renaissance das bekannteste Beispiel 6 . Die Päpste konnten das Prestige dieses Gedankens so lange nicht v o l l politisch ausmünzen, wie sie mit der Opposition aus den Reihen der römischen Aristokratie oder des Kardinalskollegiums zu kämpfen hatten. Alexander V I . und sein natürlicher Sohn Cesare Borgia haben diesen Feind i m Innern grausam bekämpft. Machiavelli hat i n seinem Principe auf den Nutzen hingewiesen, den die Politik dieser beiden dem Papsttum gebracht hat: [. . .] benché l'intento suo (d.i. v o n Alexander) non fussi fare grande la Chiesa ma il duca (d.i. Borgia), nondimeno ciò che fece tornò a grandezza della Chiesa: la quale dopo la sua morte [. . .] fu erede delle sue fatiche. Venne dipoi papa Iulio, e trovò la Chiesa grande avendo tutta la Romagna e sendo spenti e baroni di Roma e, per le battiture di Alessandro, annuiate quelle fazioni; e trovò ancora la via aperta al modo dello accumulare danari [ . . . ] . 7
Machtpolitische und ökonomische Gründe macht Machiavelli dafür verantwortlich, daß unter Julius I I . das Rom der Päpste die Bedeutung erlangen konnte, die es i n die Lage versetzte, der Hochburg des Humanismus Florenz seinen Rang streitig zu machen. Pietro Aretino meinte vom Nachfolger Julius' II.: »Leone X fu l'inventore della grandezza dei Papi« 8 . Diese Erfindung setzte bereits bei Julius I I . auf ideologischem Gebiet dadurch ein, daß die Antike zur Darstellung weltlicher und geistlicher Machtansprüche des Papsttums systema-
6 V g l . Konrad Burdach, Reformation, Renaissance, Humanismus: Zwei Abhandlungen über die Grundlage moderner Bildung und Sprachkunst ([ 2 1926] Darmstadt, 1978), S. 141-146. 7
Opere a cura di M . Bonfantini (Milano — Napoli, 1954), S. 38.
8
Z i t . bei Guiseppe Toffanin, Il Cinquecento, rist. della 7 a ed. (Milano, 1953), S. 5.
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tisch ausgeschlachtet wurde. Z u einem Zeitpunkt, w o die Einheit der Christenheit endgültig zerbrach, verstanden es die Päpste, die Sakralisierung des antiken Rom zur Darstellung ihrer weltlichen und geistlichen Machtansprüche auszunutzen. Die Wirksamkeit dieses Darstellungsmusters ist auf dem Hintergrund einer Entwicklung zu ergründen, in deren Verlauf die Häresie, die einzelne innerhalb der gesamten Christenheit isolierte, durch das Schisma ersetzt wurde, das ganze Räume und Völker gegen den Katholizismus abgrenzte 9 . Die Rom-Idee ließ sich dadurch zu einer Waffe ausbauen, die Universalismus gegen Partikularismus, Kontinuität gegen Diskontinuität, Tradition gegen Neuerung setzte. Die Gegner des Papstes konnten so nicht nur von der religiösen, sondern auch von der kulturellen Kontinuität ausgeschlossen werden, deren Pflege sich der Humanismus zum Ziel gesetzt hatte. I n vielfachen Schattierungen konnten Abweichende v o m Quell der Wahrheit ferngehalten und damit i n eine Identitätskrise gebracht werden, die auf die Dauer die Zersplitterung förderte, vordergründig aber die Macht des Papsttums stärkte. I m Denken der Humanisten wie in dem der Theologen gab es genügend Elemente, die dieses politische Programm religiös fundieren halfen. Deshalb konnte von Raffael bis Bernini die heute als peinlich empfundene Verquickung geistlicher und weltlicher Machtansprüche des Papsttums durch theologische Konzepte zum Verhältnis v o n Antike und Christentum aufgefangen werden. Der römische Humanismus benutzte die Sakralisierung Roms zur Darstellung des universalen Anspruchs der Päpste, alleinige Verwalter der Wahrheit zu sein, und weckte damit bei den Ausgeschlossenen heftige Reaktionen, die zunächst vorgestellt werden. Danach w i l l ich das Selbstverständnis dieser römischen K u l t u r skizzieren und abschließend umreißen, wie dieses Konzept seine W i r k u n g verloren hat.
Angriffe gegen die Verwendung der Antike als Darstellungsmuster weltlicher und geistlicher Machtansprüche des Papsttums Wenn ein Leitbild durch die Geschichte außer Kraft gesetzt worden ist, erscheinen nachträglich dessen Kritiker überzeugender als dessen Befürworter. Deshalb sei zunächst Erasmus von Rotterdam das W o r t gegeben, der die Koppelung der geistlichen Führungsrolle des Papsttums mit einem weltlichen, politischen Machtanspruch schlichtweg für Usurpation hielt.
9 V g l . dazu Hérésie et société dans l'Europe préindustrielle, XI e — XV IIΙ" J. Le G o f f (Paris — La Haye, 1968); Annales E.S.C. , 29 (1974), S. 1185-1305.
siècle, éd. par
Antike als Darstellungsmuster von Machtansprüchen des Papsttums
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I n einem Schmähepigramm wirft er Julius I I . vor, ein zweiter Julius Caesar zu sein, denn Et pontifex fuit ille quondam maximus, Et per nefas arripuit ille tyrannidem. 1 0
Caesar wie Julius sind Tyrannen, weil sie unrechtmäßig die Herrschaft an sich gerissen haben. Nach dem T o d des Papstes veröffentlichte Erasmus einen Dialog Iulivs exclusus e coelis (1517). Darin spielt er die Bibel gegen den Papst aus, indem er Petrus, den ersten Papst, eine rein geistliche Sicht des Amtes, Julius eine rein weltliche vertreten läßt. Er stilisiert dabei Julius zum Inbegriff aller Untugenden. Erasmus hat es leicht, das Urchristentum gegen das Renaissancepapsttum auszuspielen. E i n gutgläubiger Leser von heute könnte sogar versucht sein, die heutigen Päpste als Erfüller der Forderungen des Humanisten anzusehen. Ich würde mich dann allerdings lieber an die Seite der eingangs erwähnten italienischen Linksintellektuellen stellen, die dem Papst noch immer seine weltliche Macht vorwerfen, obwohl er demonstrativ die Tiara abgesetzt hat. Es wäre sogar zu zeigen, daß man manches, was Erasmus dem Julius mit kritischer Absicht in den M u n d legt, auf dem Hintergrund der damaligen Zeit verteidigen kann, denn es wäre für einen Papst des beginnenden 16. Jahrhunderts ebenso fatal gewesen, wenn er auf seine weltlichen Machtansprüche und auf deren Darstellung verzichtet hätte, wie es für einen heutigen Papst undenkbar ist, daß er die Schätze des Vatikanischen Museums bei Christie's versteigern läßt, u m damit die Hungernden i n den Ländern Asiens und Afrikas zu ernähren. Die radikale religiöse Geste steht bei Gläubigen wie bei Außenstehenden hoch i m Kurs, doch gibt es einen Zwang der Verhältnisse, dem sich die Renaissancepäpste weder entziehen wollten noch konnten. Erasmus betreibt i n seinem Dialog eine Schwarz-Weiß-Malerei, die von den Reformatoren w i l l i g aufgenommen wurde. Lucas Cranach d. Ä. hat vier Jahre nach der Veröffentlichung des Dialogs ein Passional Christi und Antichristi herausgebracht, dessen knappe Texte Melanchton und Schwertfeger schrieben 1 1 . Darin stellen 26 Holzschnitte je einer Szene aus dem Leben Christi eine aus dem des Papstes gegenüber, in der die Hofhaltung des Papstes als antichristliche Schande gegeißelt wird. Der Himmelfahrt Christi steht am Ende der Höllensturz des Papstes gegenüber. Diese Serie ist literaturgeschichtlich insofern bemerkenswert, als sie aus propagandistischer Absicht das von Eras-
10 Ich zitiere Erasmus nach der Ausgabe Ausgewählte Werke, hrsg. v o n W . Welzig (Darmstadt, 1967-1980), 8 Bde. unter Angabe v o n Band und Seite, hier V , S. 3. 11 V g l . dazu Dieter Koepplin - T i l m a n n Falk, Lukas Cranach. Gemälde, Zeichnungen, Druckgraphik (Basel — Stuttgart, 1974), Bd. 1, S. 330.
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mus benutzte Medium aufgibt und durch ein anderes ersetzt. Aus dem zwar amüsanten, aber doch nur v o n einem kleinen Kreis von Gelehrten wahrgenommenen lateinischen Werk w i r d eine A r t Comic mit deutschen Untertiteln. Die Reformatoren waren hierin versierter als die Päpste, die auf solche Angriffe mit den komplexen Bildprogrammen reagierten, die ihre Repräsentationsräume schmückten. Sie ließen sich dort durch vielfältige Anspielungen auf historische, besonders dem Humanismus heilige Vorstellungen als Hüter der ewigen Wahrheit verherrlichen. Die gezielten Zerstörungen durch die Landsknechte beim Sacco di Roma (1527), wie sie bei neueren Restaurierungsarbeiten zutage traten, zeugen für die Verständlichkeit dieser Bildprogramme. A n einer zentralen Stelle der Disputa von Raphael hat jemand den Namen Martinus Luther eingeritzt. I m Saal des Heliodor liest man »Got hab dy sela Borbons Diewart may«, w o m i t an Charles de Bourbon erinnert wird, der die Eroberung Roms zu verantworten hat und bei diesem Unternehmen sein Leben lassen mußte 1 2 . Erstaunlicherweise sind bisher keine Graphiti gefunden worden, die direkte Angriffe gegen die weltliche Macht des Papsttums enthalten. Da die Päpste die Sakralisierung des antiken Rom betrieben, machten ihre Gegner auch vor den ehrwürdigen Altertümern der Stadt nicht halt. Cranach identifiziert Rom mit Babylon, weil die Kirche schon vor der Reformation immer zugleich als Braut ohne Makel und als Hure dargestellt wurde, Luther aber die römische Kirche mit der babylonischen Hure identifizierte 13 . Cranachs Holzschnitte zum sogenannten September-Testament (1522), einem Druck von Luthers Ubersetzung des Neuen Testaments y legt bei der Darstellung von Babylons Untergang, wie er in der Apokalypse angekündigt wird, einen Holzschnitt von Rom aus der Weltchronik (1493) des Hartman Schedel zugrunde 1 4 . Das R o m der Päpste w i r d dabei dem sündigen Babylon gleichgestellt, und dies nicht, obwohl dort Altertümer sind, sondern gerade weil dort diese Altertümer verehrt werden. Der bereits erwähnte Dialog des Erasmus ist in diesem Punkt expliziter als die Bildaussage v o n Cranach. Bei Erasmus sagt Petrus zu Julius II.: Ego Romam antea gentilem primus Christum docui; tu Christianae iam gentilitatis extitisti magister. 1 5
Erasmus zögert nicht, die Verehrung der Antike durch Julius I I . als Verbreitung von Aberglauben zu taxieren, denn ihm ist das Rom des Renaissancepap12 V g l . André Chastel, Le sac de Rome 1527 (Paris, 1984), S. 123 ff. 13 V g l . Hans Urs v o n Balthasar, Sponsa Verbi. Skizzen zur Theologie I I (Einsiedeln, 1960), S. 203-305. 14
Chastel, op. cit., S. 100f.
15
V , S. 96.
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stes zu heidnisch. Er macht nämlich dem Papst zum V o r w u r f , daß er die Kontinuität zwischen dem heidnischen und dem christlichen R o m sinnfällig zu demonstrieren sucht. Die Laokoon-Gruppe besaß dabei einen ganz besonderen Prestigewert. Die Laokoon-Gruppe ist unter dem Pontifikat von Julius I I . wieder entdeckt und v o m Papst für teures Geld erworben worden. Dieses Ereignis hat so viel Aufsehen erregt, daß man Umstände und Tag dieser Entdeckung (14. Januar 1506) kennt. Als der Papst von dieser Entdeckung in einem Weinberg bei San Pietro in V i n c o l i erfuhr, schickte er sofort Giuliano da San Gallo dorthin, den kein Geringerer als Michelangelo begleitete. Julius ließ den wertvollen Torso so aufstellen, daß ein ganzes Geflecht v o n Bedeutungen entstand: M i t dem Verständnis des geschichtlichen Zusammenhangs für den Augenblick ist die Inschrift am Eingang zu dem Antikegarten zu lesen: »procul est profani«, »Entfernt euch, Uneingeweihte«, ein Zitat aus der Aeneis des Vergil ( V I , 258). Die cumaeische Sibylle ruft diese Worte dem Aeneas zu, der sich anschickt, in die Unterwelt hinabzusteigen, w o er den Schatten seines Vaters trifft, der ihn in seiner Weissagung ein Bild des zukünftigen R o m schauen läßt. Julius I I . , der sich als Neubegründer der aurea saecula (Aeneis V I , 792/3) fühlt, weist der Laokoongruppe hier ihren Platz an, und zwar in der Mittelnische der Südseite zwischen A p o l l o n und Venus: A p o l l o n , der dem Aeneas immer als Deuter der fata und als Wegweiser zum Land der Verheißung zur Seite stand, und Venus, die Caesar als Stammutter der Julier verehrte. 1 6
Der Besitz dieser Gruppe ließ den Papst als Erben der römischen Kaiser erscheinen, deren berühmteste Sammelobjekte gleichsam eine Garantie für die politische Kontinuität von heidnischem und christlichem R o m waren. Dieses Zeugnis hatte eigentlich nur für Humanisten Aussagekraft, die solche Zeichen durch ihre Kenntnis der antiken Literatur verstehen konnten. Sieht man die zahlreichen Repliken auf die Laokoon-Gruppe an 1 7 , dann versteht man die politische Bedeutung besser, die Julius I I . dem Besitz dieses Werkes beimaß. Es entstand nämlich eine derartige Nachfrage nach Repliken, daß Tizian sich über die Nachahmer in einer karikierenden Darstellung der Laokoon-Gruppe mit Affengesichtern lustig machte 18 . Dieser Prestigewert der Gruppe färbte natürlich auch auf deren Besitzer ab und erhöhte die Anziehungskraft Roms als Zentrum der Christenheit wie als Sitz eines Herrschers. Der Papst arbeitete 16 Georg Daltrop, Die Laokoongruppe im Vatikan: Ein Kapitel aus der Museumsgeschichte und der Antiken-Erkundung (Konstanz, 1982), S. 14.
römischen
17 V g l . hierzu A r n o l d v o n Salis, Antike und Renaissance: Über Nachleben und Weiterleben der alten in der neueren Kunst (Erlenbach — Zürich, 1947), S. 136-142 und Henrik Brummer, The Statue Court in the Vatican Belvedere (Stockholm, 1970), S. 73-120. 18 Z u r Affen-Metapher vgl. Ernst Robert Curtius, »Der Affe als Metapher«, in: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern, 1963), S. 522 f.
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hierbei mit Argumentationsmustern, die wirklich nur noch indirekt mit der theologischen Deutung des Verhältnisses v o n Antike und Christentum zu tun hatten. Er strebte nach Veranschaulichung seiner Macht und nicht nach Sichtbarmachung der Überzeugung, daß das Christentum Erfüllung und Überhöhung des antiken heidnischen Rom ist. D o c h dachte Erasmus gar nicht an solche vordergründigen Details, sondern an eine grundsätzliche Divergenz in der Sicht des Verhältnisses von Antike und Christentum. Dabei ging es um weitreichende kulturelle und politische Konsequenzen, die besonders auf dem Gebiet der Rhetorik deutlich hervortreten. I m März 1528 veröffentlichte Erasmus bei Froben i n Basel einen Dialog Ciceronianus sive de optimo dicendi genere. I n i h m rechnete er mit der CiceroImitation der Römischen Akademie ab, die unter dem Pontifikat Leos X . endgültig auf die Linie des Papstes eingeschwenkt und zu einem ergebenen Instrument des Oberhaupts der katholischen Kirche geworden war. Leo hat ein Jahr nach seiner Wahl zum Papst den ob seines lateinischen Stiles berühmten Bembo zum Sekretär für seine Rundschreiben, die Breve, ernannt und sogar den Auftrag gegeben, die Hymnen des Breviers stilistisch zu überarbeiten, u m sie dem ciceronianischen Stil anzupassen. Erasmus kennt den Rang Bembos zu gut, als daß er ihn persönlich angreifen würde. Er lobt i h n 1 9 , um sich in der Folge gegen die sklavischen Nachahmer Ciceros erheben und der Erneuerung durch die Anlehnung an Cicero eine Erneuerung aus der Offenbarung des göttlichen Logos entgegenhalten zu können. U m zu verstehen, warum sich Erasmus ausgerechnet die Cicero-Nachahmung zur Zielscheibe wählte, muß man wissen, daß Cicero einer der Angelpunkte i n der Auseinandersetzung zwischen mittelalterlichem Denken und Humanismus der Renaissance war. Erst i n der Renaissance trat Cicero als Redner und Stilist in den Blickpunkt, vor allem seit der Bischof von L o d i 1421 den vollständigen Text v o n Ciceros rhetorischer Spätschrift Brutus entdeckt hatte 2 0 . Petrarca begeisterte sich für Ciceros Briefe an Atticus, verfolgte aber selbst ein eklektisches Stilideal, dem sich Erasmus mehr verbunden fühlte als dem strengen Ciceronianismus, zu dessen Hochburg das R o m Leos X . geworden war. D o c h ist seine Polemik gegen die sterile Cicero-Imitation kein Plädoyer für mehr schöpferische Freiheit. Hinter der Alternative v o n Nachahmung und Freiheit sieht nämlich Erasmus die grundsätzlichere Alternative zwischen Heidentum und Christentum. Als Kenner der Kirchenväter wußte Erasmus, daß bereits der heilige Hieronymus die Cicero-Imitation als etwas Unchristliches verurteilt hat. Dieser 19 V g l . V I I , S. 312. 20
1886).
V g l . Remigio Sabbadini, Storia del ciceronianismo e di altre questioni letterarie
(Torino,
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Kirchenvater berichtet nämlich v o n einem Traum, in dem i h m Christus erschienen sei und gesagt habe: »Non es Christianus, sed Ciceronianus« 21 . Dieser V o r w u r f w o g so schwer, daß Lorenzo Valla, der i m Geiste philologischer K r i t i k die sogenannte Konstantinische Schenkung als spätere Fälschung entlarvt hat, den Traum des Hieronymus erörtert hat. I n der Vorrede zum vierten Buch seiner Elegantiae, einem Werk über die gute lateinische Ausdrucksweise, das eines der Grundbücher des italienischen Humanismus war, suchte er das Gewicht dieses Tadels abzuschwächen. Er behauptete, Christus habe den Heiligen nicht wegen seiner Cicero-Nachahmung, sondern wegen seines Übereifers getadelt, der ihn vor lauter Beschäftigung mit den Heiden die christliche Botschaft habe vergessen lassen 22 . Erasmus kannte sicherlich Vallas Elegantiae, gab sich jedoch mit dessen A n t w o r t auf den Traum des Hieronymus nicht zufrieden, weil sie, in eine neuere Begrifflichkeit übersetzt, eine Trennung zwischen Ästhetik und Ethik vornahm, die er grundsätzlich ablehnte. Die sklavische Nachahmung von Cicero verstößt nach Erasmus nicht bloß gegen die Regeln des guten Geschmacks. Wenn nämlich die päpstliche Kurie ihre Schreiben in ciceronianischem Stil verfaßt und sich die Redner der Römischen Akademie und die dortigen Prediger an Cicero orientieren, so handeln sie gegen den Geist des Christentums wie der Rhetorik, die beide eine Einheit v o n Gegenstand und Ausdruck, Rede und Überzeugung erfordern: Proinde de rebus sacris p r i m u m ea combibenda est persuasio, quae vere Christiano digna sit. I d si fit, nihil ornatius caelesti philosophia, nihil suavius Iesu Christi nomine [ . . .] Ne videbitur ullius sermo venustus, qui non congruit personae nec rebus est accomodatus [. . . ] Q u i sic est Ciceronianus, ut parum sit Christianus, is ne Ciceronianus quidem est, quod non dicit apte [ . . . ] . 2 3
Erasmus kehrt hier einfach den Spieß um. Während sich die römischen Humanisten auf die Konvergenz von Antike und Gegenwart bis ins Sprachliche hinein berufen, weist er mit dem Instrumentarium der Rhetorik das Unüberbrückbare zweier konkurrierender Weltanschauungen nach und betont die historische Distanz. W o die einen sich auf Cicero beriefen, u m sich ein M o n o p o l zu sichern, antwortet der andere mit Cicero, u m die ideologische
21
Ερ. X X I I , 30; Saint Jérôme, Lettres , texte établi et traduit par J. Labourt, tome I (Paris, 1949), S. 145. 22 »Quare non fuit ilia accusatio quod ciceronianus esset Hieronymus, sed quod non christianus, qualem se falso esse praedicaverat, cum litteras sacras despiceret. N o n Studium huius artis, sed n i m i u m Studium [. . .] reprehensum. N o n ceteri, sed solum Hieronymus accusatus est [ . . . ] (Lorenzo Valla, Elegantiarum libri, in: Prosatori latini del Quattrocento a cura di E. Garin, Milano — Napoli, 1962, S. 616 ff). 23
V I I , S. 352.
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Konstruktion aus den Angeln zu heben und den Römern ihre Sonderstellung streitig zu machen. Der A n g r i f f gegen den römischen Ciceronianismus sollte die ganze K u l t u r politik der Kurie treffen. Dies sieht man an der K r i t i k , die Erasmus an einem der Prestigeprojekte der K u l t u r Leos X . vorträgt. 1526 hat Jacopo Sannazaro ein lateinisches Epos De partu Virginis veröffentlicht, zu dessen Vollendung ihn Leo mit einem Breve v o m 6. August 1521 ermutigt hatte. Der Papst und seine Akademie versprachen sich von solchen Werken eine Erneuerung der antiken Epik aus christlichem Geist. Raffael hat Sannazaro i m Parnaß neben die größten Dichter gestellt und damit die in ihn gesetzten Hoffnungen bestätigt. Erasmus hingegen tadelt, daß dort die Musen und A p o l l angerufen werden. Er tadelt den Vers: »Tuque adeo spes fida hominum, spes fida deorum« 2 4 . Maria könne nur die Hoffnung der Götter genannt werden, wenn man Ciceronianer auf Kosten des Christseins ist. Die römischen Humanisten vergessen vor lauter Heidentum das eigentliche Ziel aller Gelehrsamkeit, von dem Erasmus schreibt: Hue discuntur diseiplinae, hue philosophia, hue eloquentia, ut Christum intelligamus, ut Christi gloriam celebremus. Hic est totius eruditionis et eloquentiae scopus. 25
Christus ist das Zentrum, zu dem alle Wissenschaft und Beredsamkeit hinführen muß. Diesen Gedanken hat Erasmus v o m Kirchenvater Augustinus übernommen, dessen Schrift De doctrina Christiana seinem letzten großen Werk, dem Ecclesiastes (1535), Pate gestanden hat. Darin vertritt er die Auffassung, daß letztlich die wahre Frömmigkeit zur echten Beredsamkeit führe. Dieser Gedanke gehört zu den zentralsten in der Geschichte der christlichen Ästhetik. Er hat die gallikanische Magistratur bei ihrer Opposition gegen die Jesuiten und die päpstliche Zentralgewalt geleitet 26 . Er sollte die Sakralisierung des heidnischen Rom durch das Papsttum und damit den Lebensnerv der dortigen Renaissancekultur treffen. Erasmus hat stärkere Aggressionen gegen die römischen Humanisten als die gallikanische Magistratur, weil er den Ausschluß aus dem Kreis derer, die sich als die alleinigen Hüter des humanistischen Erbes empfanden, direkter und bedrohlicher erfahren hatte. Deshalb zieht sich die Polemik gegen die römischen Humanisten durch sein ganzes Werk. I m Laus Stultitiae spricht er v o m Dünkel ganzer Nationen und zählt den Traum der Römer v o m alten R o m unter diese torhaften D ü n k e l 2 7 . Er lenkt
24 2
V I I , S. 318.
5 V I I , S. 353 ff.
26 V g l . Marc Fumaroli, L'Age de l'éloquence : Rhétorique et 'res literaria' au seuil de l'époque classique (Genève, 1980), S. 109, 637 ff.
de la Renaissance
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damit die K r i t i k an den allzu losen Sitten der Kurie und am Verkauf von Ablaß und kirchlichen Pfründen auf die ideologischen Grundlagen des päpstlichen Selbstverständnisses. Die massive Präsenz heidnischer Elemente i m damaligen Rom ist skandalös, denn i m »Musentempel der Ciceronianer« finde man nirgendwo »ein Bild des Gekreuzigten, der Heiligen Dreifaltigkeit oder der Apostel«. Deshalb klagt er: Paganismi monumentis plena reperies omnia. E t in tabulis magis capit oculos nostros Iupiter per i m p l u v i u m illapsus in gremium Danaes quam Gabriel sacrae V i r g i n i nuntians caelestem conceptum [ . . . ] Haec sunt mysteria, quae sub
Ciceroniani
nominis velo teguntur. M i h i crede, per speciosi t i t u l i praetextum insidiae tenduntur simplicibus et ad fraudem idoneis adulescentibus. Paganitatem profited non audemus. Ciceroniani cognomen obtendimus. 2 8
Die rhetorische Übertreibung ist hier offenkundig, doch dient sie der grundsätzlichen Denunziation des Paktierens mit dem Heidentum. Hier steht nicht nur die mythologische Malerei zur Debatte, sondern wie schon Jahrzehnte zuvor in Florenz beim Dominikaner Girolamo Savonarola 29 die Vermengung heidnischer und christlicher K u l t u r , deren philosophische Basis das Haupt des Florentiner Neuplatonismus Marsilio Ficino gelegt hatte. Was als Unvereinbarkeit zweier Strömungen des Humanismus zunächst innerhalb von Florenz, dann in der Spannung zwischen den Humanisten i m weltlichen Florenz und i m geistlichen R o m aufgetreten war, erhielt durch Erasmus europäische Dimension und ging dadurch endgültig i n die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Reformatoren ein, die hier nicht mehr behandelt werden können. O b w o h l nicht zu leugnen ist, daß Savonarolas Abrechnung mit dem Florentiner Humanismus und seine K r i t i k am Papst eine politische Dimension hat, darf man behaupten, daß erst durch die Verlagerung des Schwergewichts von Florenz nach Rom die humanistische Diskussion über das Verhältnis v o n Antike und Christentum wirklich politisch geworden ist. Erasmus ist in einer analogen Situation wie die Reformatoren. Er ist v o m Quell der Wahrheit ausgeschlossen und wehrt sich gegen diesen Ausschluß, indem er darauf aufmerksam macht, daß die Päpste und die römischen Humanisten ihrer
27
» [ . . . ] Galli m o r u m civilitatem sibi sumant: Parisienses, Theologiae scientiae laudem omnibus probe submotis, sibi peculiariter arrogent: Itali bonas litteras et eloquentiam asserant: Atque hoc nomine sibi suavissime blandiantur omnes, quod soli mortalium barbari non sint. Quo quidem in genere felicitatis Romani primas tenent, ac veteram illam Romam adhuc iucundissime somniant« ( I I , S. 102). 28 29
V I I , S. 176.
V g l . dazu die Zitate aus seiner Schrift Apologeticus de ratione poeticae in: Storia della letteratura italiana, , Bd. 3 (Milano, 1966), S. 328 ff.
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Umgebung die Sonderstellung Roms zu einem politischen Instrument gemacht haben, dessen Wirksamkeit von der Sakralisierung des heidnischen Rom herrührt.
D i e Sonderstellung Roms und der Universalitätsanspruch der Päpste Die Anziehungskraft Roms war so groß, daß es nicht an Versuchen gefehlt hat, das Prestige der Stadt zu erklären. Die Kunstliteratur der zweiten Hälfte des Cinquecento enthält solche Erklärungen. Die eine stammt von Giorgio Vasari, dem A u t o r der umfangreichen Sammlung von Künstlerbiographien, der nicht müde wurde, die Sonderstellung der Toskana bei der Neugeburt der Kunst zu betonen. Dies hinderte ihn nicht daran, in der ersten Auflage seiner Vite die Einleitung zur Biographie des Raffael-Schülers Vincenzo da San Gimignano zu einer Huldigung an Rom zu benutzen: Quanto obligo debbono avere gli scultori e'pittori alla aria di Roma et a quelle poche antiquità che la voracità del tempo e la ingordigia del fuoco, malgrado loro, v i hanno lasciato! Con ciò sia che ella uno altro spirito in corpo forma, et in uno altro gusto lo appetito converte; attesoché infiniti si sgannano da una vana pazzia un tempo sequitata, i quali nel vedere le mirabili fatiche di tanti antichi e moderni artefici che v'hanno operato, i passati errori abbandonano, e seguitando le vestigie di coloro che trovarono la buona via conducono le cose loro a perfezione di una bella maniera, et imitando quel buono che e' veggono, sono cagione che quegli che v i stanno fanno i l medesimo. 3 0
Die Toskana hatte den rechten Geist, u m zur wahren Kunst zurückzuführen, aber nur Rom hat die Altertümer, an denen sich die Künstler messen mußten. Rom verwandelt, so meint Vasari, die Künstler, denn der unmittelbare Umgang mit den Altertümern und mit den Werken, die v o n den Neueren i m Geist der Alten geschaffen wurden, treibt die falschen Vorstellungen aus und befruchtet zu vollendeten Leistungen. U m diese Sonderstellung halten zu können, hat ein Julius I I . die Laokoongruppe u m jeden Preis für Rom sichern wollen. Vasari spricht i m obigen Zitat von der Faszination Roms, nicht von der Macht der Päpste. Er hat offenbar nachher diese Huldigung als Herabwürdigung von Florenz empfunden und i n der zweiten, erweiterten Auflage seiner Vite den Passus ersatzlos gestrichen. Vielleicht dachte er dabei an seine Kritiker, die wie Giovambattista Gelli i h m angekreidet haben, daß er die Toskana und nicht allein Florenz zur Wiege 30 Le vite de' più eccellenti Pittori Scultori e Architettori nelle redazioni del 1550 e 1556. Testo a cura di R. Bettarini, torn. I V (Firenze, 1976), S. 263.
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der großen Renaissancekunst gemacht hat. Gelli hatte den Plan gefaßt, i n einer eigenen Sammlung von Künstlerbiographien gegen Vasari den Beweis zu erbringen, daß Florenz allein diese Ehre zukommt. Er konnte sein Vorhaben nicht vollenden. V o n den uns überlieferten Bruchstücken ist die Einleitung mit einem Widmungsschreiben bemerkenswert. D o r t huldigt er seiner Heimatstadt, indem er behauptet, daß die meisten und besten Künstler sono stati fiorentini, si che e' non è maraviglia se oggi in Firenze si ritrovono p i ù cose belle in ciascheduna di queste arti che in qual si voglia altra città del mondo, excetto però Roma, la quale per avere ne' tempi de la sua grandezza spogliato tutto Ί mondo di cose belle, e per essere oggi più tosto un ricettacolo di forestieri che una città, i quai portono q u i v i ciò che egP anno di bello come a una fiera ο un mercato publico sperando cavarne maggiori prezzi che in alcun altro luogho [. . . ] . 3 1
Gelli degradiert Rom zu einem Handelsplatz, w o viel Geld vorhanden ist und deshalb gute Umsätze zu erzielen sind. Er hat damit zweifelsohne etwas Richtiges erkannt, jedoch aus Nationalismus die Stadt zu einem bloßen Konglomerat von Fremden herabgewürdigt, die in der Tat die autochtone Einwohnerschicht überlagert und in die Defensive gedrängt haben. Viele Päpste und Kardinäle, Künstler und Intellektuelle sind keine Römer. Viele von ihnen sind von der dort versammelten Macht und dem Geld angezogen worden. Doch eint sie letztendlich nicht ihr Machtstreben oder ihre Geldgier, sondern ein ideelles Band, das Rom i m realpolitischen und i m ideologischen Sinne zu einem Machtzentrum werden ließ. I n Rom ist die Antike nicht nur wie in Florenz neu entdeckt, sondern schon immer gegenwärtig gewesen. Die Renaissance ist daher dort nichts Künstliches, sondern etwas, das organisch aus dem historisch Gewachsenen weiterentwickelt werden konnte. Dies hat bereits Cola di Rienzo gesehen. Dies haben die Päpste seit Julius I I . unablässig durch ihre Künstler und Gelehrten wiederholen und i n je neuer Einkleidung auf den Wänden ihrer Paläste veranschaulichen lassen. Eines der berühmtesten Beispiele hierfür ist das Bildprogramm der Stanca della Segnatura , w o Raffael in der Schule von Athen Piaton als Inkarnation der Weisheit (sapientia) und Aristoteles als Inkarnation der Wissenschaft (scientia) miteinander diskutieren läßt. Die Disputa stellt die göttliche Offenbarung dar, indem sie Gedanken aus dem 13. Buch der Confessiones von Augustinus mit Gedankengut der italienischen Dichtung von Dante über Petrarca bis hin zum damaligen Petrarkismus mit philosophisch-theologischen Spekulationen von Dionysius Areopagita über Marsilio Ficino und Pico della Mirandola bis hin zu Egidio da Viterbo verarbeitet, der damals i n Rom wirkte und sicherlich direkten Einfluß auf die Bildprogramme der Stanca della 31
Vita d'artisti a cura di G. Mancini, in: Archivio storico italiano ser. V Bd. 17 (1896),
S. 36 f. 6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
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Segnatura genommen hat. Augustinus entwickelt dort eine allegorische Deutung des Schöpfungsberichts der Genesis, indem er das 1. Buch Moses mit dem ersten Korintherbrief von Paulus verbindet und zwischen dem »sermo sapientiae« und dem »sermo scientiae« differenziert. Die erstere Rede ist für jene »qui perspicuae veritatis luce delectantur tamquam in principio diei« 3 2 . Die letztere Rede enthält »omnia sacramenta« und richtet sich an jene »quibus ille prudentissimus servus tuus >non potuit loqui quasi spiritualibus, sed quasi carnalibus< (1 K o r 3,1) [ . . .] Haec nobiscum disputas sapientissime, deus noster, in libro tuao, firmamento tuo, tuo discernamus omnia contemplatione mirabili« 3 3 . V o n dieser Augustinus-Stelle leitet sich der Titel Disputa her, denn »Gott ist es, der durch die heilige Schrift mit den Menschen >disputiertDisputa< i m O h r hatte, aber nicht dessen augustinischen Sinn verstehen konnte und aus diesem G r u n d v o n Theologen spricht, die disputieren« (ebd.). 35 André Chastel, Art 21961), S. 455. 36 Z i t bei Pfeiffer, Ausführungen. 37
et humanisme à Florence au temps de Laurent le Magnifique S. 163, A n m . 59. I c h folge hier wie i m folgenden
Z i t . bei Pfeiffer, S. 164, A n m . 64.
(Paris,
Pfeiffers
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Kirchenväter, den Pico della Mirandola in seiner Schrift De hominis dignitate aufgegriffen hat, daß nämlich Christus der wahre A p o l l ist und über dem erdichteten A p o l l der antiken Mythologie steht 3 8 . Diese symbolisch verschlüsselten, philosophisch-theologischen Aussagen waren für die Zeitgenossen als Anspruch des Papsttums evident, die Antike für die Universalität der katholischen Kirche zeugen zu lassen. Es ist dabei kennzeichnend für die bildende Kunst der Hochrenaissance, daß die Anspielungen diskret in der Weise geschehen, daß »die Antike hinter den Werken« 3 9 bleibt. Diese Anverwandlung antiker Formen und Vorstellungen erfolgte jedoch mit dem eindeutigen Ziel, die sichtbare Gestalt der römischen Kirche mit ihrem Papst als Oberhaupt als Zentrum zu verherrlichen, zu dem alles Suchen der Heiden, die ganze Entwicklung der Geschichte und alle kulturellen Leistungen der Antike als zu ihrem Konvergenzpunkt tendieren. Die eigentümliche Symbolik von sichtbarer Repräsentation eines unsichtbaren Zusammenhangs ließ sich am besten an der Eucharistie illustrieren, die i m Zentrum der Disputa steht. Die theologische Erklärung dieses Sakramentes hat sich i m Mittelalter dahingehend entwickelt, daß zusammen mit der Lehre v o m Altarsakrament eine Lehre v o n der Kirche entstand. Die Kirche wurde als mystischer Leib Christi gedeutet, der durch sie ebenso wie durch das eucharistische Brot in der Welt vergegenwärtigt w i r d 4 0 . Diese Lehre bildet das theologische Fundament der Disputa. Gegen die Vorstellung der Reformatoren von der unsichtbaren Kirche w i r d die Sichtbarkeit der Institution unterstrichen und dabei die Führungsrolle des Papstes symbolisch verkleidet, aber doch ohne Abstriche herausgekehrt. Symbolisch verkleidet ist sie durch die Deutung von Offenbarung und Altarsakrament als Wahrheit, zu der alles hinstrebt und an der sich die Geister scheiden. Der Papst ist der Verwalter dieser Wahrheit, wie durch einen Verweis auf seine juristische Stellung unterstrichen wird. Dies geschieht durch die räumliche Situierung, denn »die Disputa stößt an die Jurisprudenzwand an, die den Papst Julius I I . als Gregor I X . , als Herausgeber kirchlicher Gesetze zeigt« 4 1 . Michelangelo greift i n der Sixtinischen Kapelle analoge Gedankengänge auf, wenn er die Darstellung des Jüngsten Gerichts auf den Altar zentriert und damit einen Zusammenhang zwischen Eucharistie und Gericht herstellt. I n dem Konzept des Papstes, »über den Altar seiner Kapelle und zu Seiten seines Thrones das Jüngste Gericht zu setzen, liegt etwas v o m alten Machtanspruch, »zu binden 38 Pfeiffer, S. 147. 39 Heinz Ladendorf, Antikenstudium und Antikenkopie: Vorarbeiten in der mittelalterlichen und neueren Zeit (Berlin, 2 1958), S. 28.
%u ihrer Darstellung
40 V g l . Henri de Lubac, Corpus mysticum: L·'Eucharistie et l'Eglise au Moyen Age (Paris, 21948). 41
6*
Pfeiffer, op. cit., S. 207.
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und zu lösen« an Christi Statt. I n dem richtenden Christus über dem Altar ist gleichsam eine der göttlichen Machtbefugnisse des Papstes selbst dargestellt« 42 . Michelangelo bezieht sich dabei auf eine bis ins 13. Jahrhundert zurückzuverfolgende Tradition von Apsisbildern mit Gerichtsdarstellungen, die ihrerseits auf die Apsis der römischen Basilika als Sitz des Gerichtstribunals zurückgeht43. I n der bildenden Kunst hat die Anverwandlung der Antike zur Darstellung weltlicher und geistlicher Machtansprüche des Papsttums überzeugende Früchte getragen. Die parallelen Erscheinungen i m literarischen Bereich haben vor den Augen der Nachwelt weniger bestehen können. W i r müssen Luther und die Reformatoren vergessen, um die Anklänge an das mittelalterliche Ideal der Theokratie nicht als bloßen Anachronismus jener lateinischen Literatur zu verurteilen, die sich das L o b der Herrschaft des Papstes zur Aufgabe gemacht hat. Egidio da Viterbo sah in Julius I I . die Erfüllung der Hoffnung der Renaissance auf den Anbruch einen neues goldenen Zeitalters 4 4 . Er verherrlichte i n einer Rede über das goldene Zeitalter den projektierten Neubau v o n St. Peter mit seiner von Bramante geplanten Kuppel über dem Petrusgrab als äußeres Zeichen für den Anbruch dieses Zeitalters: [ . . .] nemo profecto fuit unquam nisi tu unus, Iuli, pontifex maxime, q u i magna mente tua et quae communibus rebus contenta esse non potest ad diui Petri aedem instaurandam et miro aedificio in coelum usque tollendam animum iniecisti, relicturus posteris eternum monumentum animi, magnifìcentiae pietatis tuae, certioresque nepotes facturus qualis quantusque fuerit Iulius, quicque inter te aliosque principes interfuerit, qui unus senseris te imperare Romanis esseque summi principis, praesentia omnia ut statim contemnere, de publico uenturorum commodo, de futuris saeculis, de ipsa eternitate cogitare [. . . ] . 4 5
Dieser Lobpreis ist v o n der Hyperbolik allen Herrscherlobs gekennzeichnet. D o c h selbst wenn man diese gattungsbedingte Übersteigerung rückgängig macht, ist noch etwas von jenem neuplatonischen Enthusiasmus zu spüren, der auch in den Liebesgedichten zum Ausdruck kommt, die Raffael auf Skizzenblätter mit Entwürfen für die Disputa geschrieben h a t 4 6 . Dieser für Symbolik
42 V g l . Ruth Feldhusen, Ikonologische Studien Michelangelos Jüngstem Gericht (Phil. Diss. Hamburg, 1953, Unterlengenhardt — Bad Liebenzell, 1978), S. 20. 43
Feldhusen, op. cit., S. 15ff.
44
V g l . Fritz Schalk, »Das goldene Zeitalter als Epoche«, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 199 (1962), S. 85-98; Jochen Schlobach, Zyklentheorie und Epochenmetaphorik: Studien %ur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich von der Renaissance bis %ur Frühaufklärung (München, 1980), S. 48 f. 45
Zit. bei Pfeiffer, op. cit., S. 175, A n m . 23.
46
Kritische Ausgabe dieser 4 Sonette bei Pfeiffer, op. cit., S. 255-259.
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offene Enthusiasmus geht auf die Philosophie des Marsilio Ficino zurück, die »est une esthétique transformée en théologie et en cosmologie« 4 7 . Seine A r t der Schau vermag hinter der materiellen Seite v o n Geld und Macht, an der sich die Reformatoren gestoßen haben, die ideelle Absicht beim gigantischen Bau von Sankt Peter zu sehen. Die Einforderung der Antike ist dabei mit Spekulationen über das Verhältnis v o n Makrokosmos der Welt und Mikrokosmos der architektonischen Anlage dieser Kirche verbunden, die sich noch 1694 i n einem Stich des Petersplatzes von Carlo Fontana finden. D o r t w i r d der Petersplatz als Welttheater dargestellt, in das ein römisches Amphitheater hineinprojiziert i s t 4 8 . Wenn man die Vorstellungswelt derer zu verstehen sucht, die sich trotz aller möglichen Vorbehalte gegen den Mißbrauch der geistlichen Macht zu weltlichen Zwecken durch die Päpste doch i n den Dienst der Kirchenfürsten stellten, so braucht man deshalb nicht zu verheimlichen, daß, bewußt oder unbewußt, häufig in der Renaissance der geistliche Universalanspruch des Oberhaupts der katholischen Kirche mit dem Römischen Imperium so in eins gesehen wurde, daß eine Verwechslung beider denkbar wurde. E i n Beispiel hierfür ist die Huldigung an Leo X . in Girolamo Francastoros kleinem Epos über die Syphilis mit dem Titel Syphilis sive de morbo gallico (1530): Te vero ut taceam, atque alios, quos fama futura Post mutos cineres, quos et venientia saecla Antiquis conferre volent, at, Bembe, tacendus Inter dona deum nobis data non erit umquam Magnanimus Leo, quo Latium, quo maxima Roma A t t o l l i t caput alta, paterque ex aggere Thybris Assurgit, Romaeque fremens gratulatur ovanti, [...] Unus, qui aerumnas post tot, longosque labores, D'ulcia jam profugas revoca vit ad ocia Musas Et leges Latio antiquas, rectumque, piumque 'Restituit; qui justa animo jam concipit arma Pro re Romana, pro religione D e o r u m . 4 9
Hier w i r d die Renaissance dem Papsttum zugeteilt und Leo für die Wiedereinsetzung der alten römischen Welt gepriesen. Diese Aussage stimmt mit dem 47 André Chastel, »Art et religion dans la Renaissance italienne: Essai sur la méthode«, in: Bibliothèque d'Humanisme et Renaissance, 7 (1945), S. 58. 48 V g l . Maurizio e Marcello Fagiolo dell' Arco, Bernini, una introduzione al gran teatro un barocco (Roma, 1967), S. 244; Andreas Haus, Der Petersplatz ™ d se* n Statuenschmuck (Phil. Diss. Freiburg, 1970). 49 I I , 43-57 Lehrgedicht über die Syphilis. Herausgegeben und übersetzt v o n Georg Wöhlre (Bamberg, 1988), S. 50.
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Selbstverständnis des Papstes überein, das aus andern Zeugnissen zu entnehmen i s t 5 0 . Sie beweist, daß die Päpste und ihre Umgebung sich die Grundgedanken der Renaissance angeeignet haben, weil sie sich v o m Zusammentreffen der lokalen historischen Tradition v o n Rom mit dem Streben nach einer Wiederbelebung der Antike eine Erneuerung der von innen bedrohten Kirche versprachen, und dies ausgerechnet zu der Zeit, w o deren Einheit i m Westen dem Schisma endgültig zum Opfer fiel. Die Projektion weltlicher und geistlicher Machtansprüche des Papsttums konnte i n der Renaissance nur in der Form mittels der Einforderung der Antike geschehen, weil die neuplatonische Schau einen problemlosen Überstieg v o m Heidentum ins Christentum erlaubte. Die Zusammenschau dieser unterschiedlichen Welten wurde durch die Angriffe der Kritiker der Renaissancepäpste wie durch den Mißbrauch der geistlichen Macht für weltliche Zwecke fragwürdig. Sobald sich die Kirche nach dem K o n z i l von Trient wieder innerlich gefestigt hatte, ging sie erneut daran, die antike Tradition Roms für sich einszuspannen. D o c h mußte dann die römische K u l t u r mit mehr Kautelen arbeiten, deren Darstellung zu weit führen w ü r d e 5 1 .
D i e Antike als lebendiges und als museales Darstellungsmuster Die Sakralisierung Roms ist keine Erfindung der Renaissance. Sie wurde jedoch erst an der Wende zum 16. Jahrhundert zu einem Argument, u m die weltliche Macht des Papsttums zu rechtfertigen. Machiavelli hat sehr w o h l gesehen, daß dies ein fragwürdiges Mittel war, denn die römische Kirche hat nach seiner Meinung mit ihrer weltlichen Macht zweierlei bewirkt: Abbiamo adunque con la Chiesa e con i preti noi Italiani questo primo obligo: di essere diventati sanza religione e cattivi. Ma ne abbiamo ancora uno maggiore, i l quale è la seconda cagione della rovina nostra: questo è che la Chiesa ha tenuto e tiene questa provincia divisa. 5 2
Diese Bemerkung aus den Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio stieß auf den Widerspruch Guicciardinis, der in seinen Considerazioni ai discorsi del Machiavelli
50 V g l . dazu den v o n Jacopo Sadoletto verfaßten Brief Leos X . zur Tacitus-Ausgabe v o n Filippo Bervaldo (1515), zit. in: Deltrop, op. cit., S. 68f; vgl. auch Max Wegner, Altertumskunde (Freiburg, 1951), S. 58 ff. 51 Einiges hierzu in: Verf., »Das Barberini-Theater und die Bedeutung der römischen K u l t u r unter Urban V I I I : Versuch einer literarhistorischen Einordnung des Schaffens v o n Giulio Rospigliosi«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 26 (1985), S. 75-100. 52
Opere, S. 127.
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sopra la prima deca di Tito Livio zwar der K r i t i k seines Freundes an der Kurie z u s t i m m t 5 3 , aber dann doch die politische Rolle des Papstes anders bewertet: Però se la Chiesa romana si è opposta alle monarchie, io non concorro facilmente essere stata infelicità di questa provincia, poi che l'ha conservata in quello modo di vivere che è p i ù secondo la antiquissima consuetudine ed inclinazione sua. 5 4
Die Benutzung der Antike zur Darstellung der weltlichen Machtansprüche hat dem geistlichen A m t geschadet, aber auch dann noch dem Land genützt, weil sie eine lebendige Beziehung zur Antike wachgerufen hat, die bei den einen für die Kirche, bei Machiavelli und Guicciardini gegen diese Anregungen vermittelt hat, von denen die europäische K u l t u r wesentliche Impulse erhalten hat. Machiavelli hat in mancher Beziehung eigentlich nur die umgekehrten Folgerungen aus der Inanspruchnahme der Antike wie die Päpste gezogen. Guicciardini hat diese A r t der Inanspruchnahme grundsätzlich kritisiert, wenn er in seinen Ricordi bemerkt: Quanto si ingannono coloro che a ogni parola allegano e Romani! Bisognerebbe avere una città condizionata come era loro, e p o i governarsi secondo quello esemplo: el quale a chi ha le qualità disproporzionate è tanto disproporzionato, quanto sarebbe volere che uno asino facessi el corso di uno cavallo. 5 5
Die lebendige Beziehung zur Antike setzt voraus, daß das Ungleichzeitige zusammengebracht und in einem die historische Distanz überbrückenden überzeitlichen Raum vereint wird. Was aber als lebendiger Teil der Gegenwart empfunden wird, mit dem geht man entsprechend unbefangen um. Die Verbundenheit mit der historischen Tradition kommt paradoxerweise in einer Verhaltensweise zutage, die v o n den Humanisten getadelt, von deren Nachfahren verabscheut wird. Ich meine die Zerstörung v o n Altertümern, deren letztes berüchtigtes Beispiel zu dem Ausspruch führte: »Quello che non hanno fatto i Barbari, facevano i Barberini« 5 6 . Der Leibarzt Urbans V i l i . Giulio Mancini soll dies gesagt haben, als 1625 die Bronzebalken i n der Vorhalle des Pantheons eingeschmolzen wurden, u m die Bronze für den Guß
53 »Non si può dire tanto male della corte romana che non meriti se ne dica di più, perché è una infamia, uno esemplo di t u t t i e' vituperi ed obbrobri del mondo« (Opere a cura di V . de Caprariis, Milano — Napoli 1953, S. 340). 54
Opere, S. 341. V g l . auch Guicciardinis K r i t i k an der Kirche i n seiner Storia d'Italia ( I V , 12), S. 564 f. 55 N r . 110, Opere, S. 120. Vgl. auch die direkte Auseinandersetzung m i t Machiavelli in Opere, S. 335. 56 L u d w i g Freiherr v o n Pastor, Geschichte der Päpste (Freiburg, 1929), Bd. 13, 2, S. 850.
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v o n Kanonen und v o n Säulen für das Kuppelziborium über dem Petrusgrab in Sankt Peter zu gewinnen. Der H o f Urbans V I I I . war ein Zentrum des Humanismus, das neuere Studien in einem Z u g mit dem Leos X . nennen 5 7 . Wie läßt sich dann ein so barbarischer A k t erklären? Vielleicht mit wirtschaftlicher N o t , besser und wahrscheinlicher jedoch mit dem Bewußtsein, daß die Gegenwart wichtiger ist als die Vergangenheit, und daß die Altertümer ein Besitz sind, mit dem man ebenso frei wie mit seinem sonstigen Eigentum umgeht. Warum sollte man eigentlich mit den Bauwerken anders verfahren als mit den Mythen? Das damalige religiös inspirierte Theater, vor allem das der Jesuiten, ging mit ihnen ebenso frei um wie die heutige Psychoanalyse, die in ihnen Archetypen sieht und ihre Eigenmächtigkeit in der Deutung damit rechtfertigt, daß sie in ihnen einen immer noch gültigen Wahrheitskern vermutet. Genau i n der Weise sah man die Altertümer nicht als etwas denkmalspflegerisch zu Hütendes, sondern als ein Vermächtnis an, das man jeweils in die eigene Gegenwart zu integrieren hatte. Barbarische Zerstörungsakte zeugen also i n solchen Fällen nicht nur von Verständnislosigkeit für das Altertum, sondern auch von einem lebendigen Bezug zu ihm. Die denkmalspflegerische Tabuisierung und Konservierung der Altertümer setzt ein historisches Bewußtsein voraus, das gleichzeitig eine Distanzierung v o m Altertum bedeutet. Diese historisierende Haltung hat i m philologischen Bereich des Humanismus früher eingesetzt als i n der bildenden Kunst. Deshalb sind auch viele literarische Erzeugnisse der Humanisten weniger lebendig als die der Kunst. Zwar hat Raffael vor Winkelmann das A m t eines Romanorum Antiquitatum Praeses innegehabt, doch setzte er die antiken Bilderzeugnisse wieder in Kunst um. »Die Freude am Besitz des Besonderen, Großen Edlen, Merkwürdigen und Wertvollen leitet aus dem künstlerischen Genießen erst allmählich zu Sammlungen über, in denen ein genaueres historisches Verständnis archäologische und antiquarische Studien um ihrer selbst willen treibt« 5 8 . Die Antikensammlungen der Päpste hatte daher zunächst die doppelte Funktion, die damals solche Sammlungen haben konnten 5 9 : sie dienten der zur Repräsentation eines jeden Herrschers gehörenden Selbstdarstellung und sie waren Modellsammlungen, mit denen die Künstler arbeiten und v o n denen aus sie ihre eigenen Werke entwickeln konnten. I m 18. Jahrhundert rücken auch die Künstler die antiken Denkmäler in eine melancholische Ferne, denn
57 V g l . Marc. Fumaroli, »Cicero Pontifex Romanus: la tradition rhétorique du Collège Romain et les principes inspirateurs du mécénat des Barberini«, in: Mélanges de l'Ecole Française de Rome, 90 (1978), S. 797-835. 58 59
Ladendorf, op. cit., S. 29.
V g l . Wilhelm Schlink, »Die Kunstsammlung« in: Sammeln — Marotte?, Trierer Beiträge 14 (Trier, 1984), S. 4 f.
Kulturtat
oder
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sie entdecken die Ästhetik von Ruinen 6 0 . Piranesis hinreißende Veduten enthüllen in den antiken Monumenten ähnliche Reize wie seine Kerkerbilder in den Gefängnissen. Pannini komponiert mit musealem Interesse für den wohlhabenden Touristen seine Ruinenbilder, i n denen er für den Liebhaber die Dinge versammelt, die sonst nicht beieinander sind. A l l dies paßt zum Pontifikat von Pius V I . , dessen Sammeleifer für Rom die wichtigste Ausbeute der Grabungen gesichert und verhindert hat, daß die römischen Altertümer in alle Welt verstreut werden. Die Sicherung der Altertümer in einem Museum durch Pius V I . war verdienstvoll, doch signalisiert sie eine Neutralisierung des ästhetischen A n spruchs der Kunst, die nun einmal die K r u x jedes Museums i s t 6 1 . Die einzelnen Stücke werden nicht mehr i n einen lebendigen Kontext v o n Repräsentation und Kunstschöfpung integriert, sondern nach ihnen äußerlichen, wissenschaftlichen Kriterien zusammengestellt, wobei die Nachbarschaft des Gleichartigen eine Konkurrenz des je Einmaligen nach sich zieht, die nivellierend wirkt. Sobald sich der Papst zum Archäologen und Museumswärter macht, kann die Qualität seines Museums zwar immer noch faszinierend und für Touristen wie Wissenschaftler reizvoll sein, die lokale römische Tradition jedoch nicht mehr als einzigartiges Darstellungsmuster für seine weltlichen und geistlichen Machtansprüche dienen. Pius V I . hat mit der Begeisterung eines Kenners und der Distanz eines Wissenschaftlers die vatikanischen Sammlungen vorbildlich katalogisieren lassen und das nach i h m benannte Museum Pio-Clementinum erbaut, das die Antikensammlung des Vatikan beherbergt. Er tat dies alles wahrscheinlich auch noch i n der Überzeugung, daß seine Sammlung zur Stärkung der Römischen Kirche beitragen. D o c h hatte dies alles bereits etwas Fragwürdiges an sich. Sein historisches Bewußtsein war sicherlich der Zeit ebenso angepaßt wie die humanistische Gesinnung Leos X . , doch war angesichts der Angriffe gegen die Kirche von Seiten der Aufklärung das archäologische Interesse v o n Pius V I . ebenso diskutabel wie die Bildprogramme Leos X . angesichts der Reformation. Die ideale Konvergenz von Antike und Christentum ließ sich i m 18. Jahrhundert nicht mehr in der noch v o m Cinquecento vertretenen Form aufrecht erhalten, weil inzwischen das Christentum eine unter vielen konkurrierenden Heilslehren und die katholische Kirche eine unter vielen Kirchen
60
V g l . Jean Starobinski, L'invention de la liberté (Genève, 1964), S. 180. V g l . Alois Hahn, »Soziologie des Sammeins« in: Sammeln — Kulturtat oder Marotte? cit., S. 17ff. und die dort zitierten Äußerungen v o n Paul Valéry, Le Probleme des musées, in: Oeuvres (Paris, 1960), Bd. 2, S. 1290 ff. 61
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war. Die Entwicklung des historischen Denkens machte die ideologische Zielsetzung der universalhistorischen Konstruktion von der Kirche als Vollenderin der Antike zur Gewißheit. Das kulturelle Ideal, das drei Jahrhunderte lang befruchtend gewirkt hatte, konnte von Pius V I . nur u m den Preis nochmals lebendig erhalten werden, daß es um seinen ursprünglichen Sinn gebracht und in das neue historische Denken eingegliedert wurde. I m Rom Pius* V I . malte der Franzose Louis David seine Horatier, die seinen Ruhm begründeten. Er w i r d dafür v o m Papst bewundert, später jedoch von dessen Gegenspieler Napoleon i n Dienst genommen, damit er die neuen Mächtigen in antike Helden verwandelt. Sein historisierender Akademismus ist das Letzte, was das päpstliche Rom den profanen Staaten zur Nachahmung überlassen hat. Er wurde zum V o r b i l d des Monumentalstils, der bis in unsere Zeit eine Versuchung der Nationalstaaten und das Ideal der Diktatoren v o m Schlage Mussolinis und Hitlers ist. Er ist ein Wendepunkt, weil nun der rein profane Staat die Antike zur Darstellung seiner rein weltlichen Macht einfordert. Diese Auseinandersetzung war schon seit der Regierungszeit Ludwigs X I V . abzusehen, wo die Vereinnahmung der Antike Teil der Strategie zur Erlangung der Hegemonie in Europa war. D o c h erst am Ende des 18. Jahrhunderts verlor der römische Papst endgültig die Möglichkeit, die Antike als Darstellungsmuster seiner weltlichen und geistlichen Machtansprüche zu benutzen. Es entbehrt nicht der Pikanterie, daß die den Papst entmachtenden französischen Revolutionäre mit denselben antiken Vorstellungsmustern operiert haben wie früher das Papsttum selbst. Berthier verlas 1798 auf dem Kapitol eine Deklaration, die dann zweisprachig verbreitet wurde. Darin heißt es: Manes de Caton, de Pompée, de Brutus, des Cicérons, des Hortensius, recevez Thommage des Français libres, dans le Capitole où vous avez tant de fois desfendu les droits d u peuple et illustré la République Romaine. Ces enfans des Gaulois, l'olivier de paix à la main, viennent dans ce lieu Auguste, y rétablir les autels de la liberté dressés par le premier Brutus. E t vous, Peuple Romain, en reprenant vos droits légitimes, vous avez senti quel est le sang qui coule dans vos veines; vous avez jetté les yeux sur les monumens de gloire qui vous environnent. Vous reprenez votre antique grandeur et les vertus de vos pères. 6 2
Der Revolutionär Berthier gibt sich als Befreier der v o m Papst unterjochten Römer, die nun zu der Staatsform zurückkehren, die ihnen Guicciardini i m 62 Roma 1798, unpag. Die Struktur der Übersetzung läßt keinen Zweifel daran, daß der französische Text nachträglich ins Italienische übersetzt worden ist. Z u r napoleonischen Ära vgl. Paul Wescher, Kunstraub unter Napoleon (Berlin, 1976).
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oben angeführten Zitat als die gemäße zuerkannt hatte. Er spielt dabei den Papst gegen frühere Päpste aus, indem er deren A r t der Berufung auf die Antike, i m Sinne von Machiavelli, gegen die christliche Geschichtsdeutung kehrt. Er mag dabei persönlich überzeugt gewesen sein, daß er die Erfüllung des alten Traums der Humanisten des Quattro- und Cinquecento einleitet. D o c h war seine Überzeugung i m Lichte der damaligen historischen Wissenschaften bereits etwas Anachronistisches. Der Versuch, die historische Distanz zum Altertum auszuklammern, hat zwar noch das ganze 19. Jahrhundert hindurch die europäische K u l t u r befruchtet. D o c h ließ sich der durch das historische Bewußtsein aufgerissene Graben nicht mehr leugnen. Die K u l t u r der Renaissance wurde für das Bürgertum des 19. Jahrhundert zum Garanten seines Verlangens, hinter die v o m Christentum geschaffenen Verhältnisse zurückzugehen. Doch konnte es sich die Renaissance nur deshalb für dieses Bestreben aneignen, weil es die tiefen Verbindungen zwischen Mittelalter und Renaissance verkannte 6 3 .
Kunst und Macht in R o m von Julius I I . bis Pius V I . Der lebendige Umgang mit der Antike hat i n R o m eine kulturelle Blüte ermöglicht, die von Voraussetzungen abhing, von denen einige zum Schluß genannt werden müssen, u m begreiflich zu machen, daß diese A r t des Zueinander von Kunst und Macht an einmalige Umstände gebunden war, die durch die Entwicklung der Geschichte hinfällig wurden. Eine erste Voraussetzung war, daß die Päpste und ihre Umgebung grundsätzlich die weltliche Machtenfaltung als einen normalen Vorgang betrachteten, der ihrem religiösen Selbstverständnis keinen Abbruch tat. Sie beanspruchten deshalb für sich dieselben Formen des Repräsentationsaufwands wie andere weltliche Herrscher. Sie konstruierten sich wie andere Herrscherhäuser eine Vorgeschichte, die Historie und Mythos miteinander verband. D o c h unterschieden sie sich von weltlichen Herrschern durch ihr religiöses Selbstverständnis und durch die eigentümliche A r t der Wahlmonarchie, die beide zu einer Potenzierung der i m Mythos v o m ewigen R o m 6 4 schlummernden Dynamik beitrugen. Diese Dynamik konnte durch den Niedergang des profanen Zentrums des Humanismus Florenz und durch die Stärkung der weltlichen Macht des Papstes unter Julius I I . fruchtbar gemacht und zu einer Symbiose v o n humanistischem und religiösem Denken genutzt werden, die dem römi-
63
V g l . dazu Zu Begriff
und Problem der Renaissance hrsg. von A . Buck (Darmstadt,
1969). 64 V g l . Kenneth J. Pratt, »Rome as eternal«, in: fournal (1965), S. 23-43.
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sehen Humanismus ermöglichte, das Prestige des genius loci v o l l auszukosten. Das alte Ideal von der Konvergenz zwischen Antike und Christentum erhielt dadurch neue kulturelle Triebkraft. Es konnte etwa drei Jahrhunderte lang Dichter, Künstler und Gelehrte mit dem römischen Papst verbinden und den selbstbewußter werdenden Künstlern der Neuzeit die Identifizierung mit der päpstlichen Herrschaft ermöglichen. Dieser Augleich zwischen profaner und religiöser Welt war zu dem Zeitpunkt nur noch auf dem historischen Boden von Rom i n der Form möglich. Der Gedanke einer Konvergenz von Antike und Christentum war religiös anfechtbar und theologisch immer umstritten. Seine Verwendung zur Legitimierung der weltlichen Macht des Papsttums gab aus profaner Sicht wie bei Machiavelli und Guicciardini, aus religiöser Sicht bei Erasmus, ja aus päpstlicher Sicht bei Hadrian V I . Anlaß zur K r i t i k , wobei den Letzteren als Papst das allzu profane Rom mit Empörung erfüllte. Unter Leo X . waren die äußeren Bedingungen w o h l am günstigsten, um die Konvergenz v o n profanem und sakralem Rom bis zur Selbstzelebration der dortigen Humanisten auszukosten. Damals konnte es für einen europäischen Humanisten die K r ö n u n g seiner Karriere bedeuten, wenn er in diesen römischen Kreis aufgenommen und durch die Einbürgerung in R o m zu ihrem vollwertigen Mitglied wurde. Der französische Gelehrte Christoph de Longueil strebte dieses Ziel an. Seine schlimmen Erfahrungen mit bornierten ortsansässigen Humanisten 6 5 sind durch Erasmus ganz Europa bekannt geworden. Erasmus berichtet i n seinem Ciceronianus über den Fall Longolius und ruft dabei aus: Nunc autem quid est esse civem Romanum? Profecto minus aliquanto quam esse civem Basiliensem, si contemptis verborum fumis rem aestimare libeat. 6 6
Diese Respektlosigkeit gegenüber einem der alten Ideale des christlichen Humanismus ist ein Signal für einen Zeitenwandel, der an ein historisches Ereignis gebunden war. Erasmus schrieb nähmlich den Ciceronianus als A n t wort auf den Sacco di Roma (1527). Die Einnahme und Plünderung Roms durch die Truppen des Kaisers und die mit ihnen verbündeten Reformierten löste unter den Humanisten einen Schock aus, den man aus der Sicht der Nachwelt als entscheidenden Schlag gegen die Sakralisierung Roms bezeichnen kann. André Chastel hat diesen Schock eingehend dargelegt und dabei auf einen bemerkenswerten Umstand hingewiesen. Es war in jener Zeit üblich, daß Herrscher ihre Siege durch die Kunst verherrlichen ließen. I m Falle des Sieges von K a r l V . über Clemens V I I . ließ 65
V g l . dazu Pastor, op. cit., Bd. 4, 1, S. 455 ff.
66 V I I , S. 300.
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diese Verherrlichung fast 30 Jahre auf sich warten und blieb auch dann noch etwas Problematisches 67 . I m Zyklus der Stiche v o n Hieronymus Cock nach Zeichnungen von Martin von Heemskerck w i r d nicht der T r i u m p h des Feldherrn Charles de Bourbon über den Papst, sondern dessen T o d während der Eroberung Roms gezeigt. Die Verhandlungen des Herolds mit dem in der Engelsburg eingeschlossenen Papst Clemens V I I . sind so dargestellt, daß der Papst oberhalb des Schauplatzes angesiedelt und damit über dem Kriegsgeschehen gezeigt wird. Cellinis Autobiographie La Vita schildert den Kirchenfürst wesentlich leidenschaftlicher i n seiner Anteilnahme am Kampfgescheh e n 6 8 . Man erkennt auf dem Stich i m Vordergrund die Statuen von Petrus und Paulus. Petrus w i r k t dabei so brüskiert, daß der Betrachter den Eindruck bekommt, der erste Papst nehme für seinen Nachfolger Clemens Partei und tadle die Landsknechte. Das offizielle L o b auf den siegreichen Kaiser ist also mit dem Tadel für den Frevel verbunden, den die Plünderung in den Augen vieler Katholiken, besonders aber der Humanisten darstellte. Sie alle hatten Rom für unverletzlich gehalten und mußten nun miterleben, wie eine der geheiligten Stätten des christlichen Humanismus entwürdigt und die dortigen Sammlungen zerstreut wurden. Der Glaube an die sozusagen magische Kraft heiliger historischer Stätten und Reliquien mußte in dieser Weise erschüttert werden, damit die charismatische Wirksamkeit des Rom-Mythos verloren ging·
Die Erschütterung des Vertrauens in die Wirkmacht der Reliquie hat den Schritt v o m lebendigen zum musealen Umgang mit der Antike beschleunigt, doch war er keineswegs die alleinige Ursache dafür, daß die Päpste die Grundlagen für die Darstellung ihrer weltlichen und geistlichen Macht mittels der Antike verloren. Es war vielmehr die v o n der Kirche und ihren Theologen mitgetragene Entwicklung der gesamten europäischen Zivilisation, die diese Grundlage unterminiert hat. Die Theologen selbst haben das symbolische Denken aus dem Gesamthaushalt des Wissens ausgegliedert, als sie daran gingen, das Mystische als eine eigene Erkenntnisweise aus dem normalen Erkenntnis Vorgang auszudifferenzieren 69 . Sie haben dem neuplatonischen Denken, das die Einheit von Antike und Christentum bruchlos denken konnte und großen Anteil an den Bildprogrammen der Stanzen i m Vatikan hatte, den Boden entzogen. Sie haben damit i m religiösen Raum einen Vorgang ratifiziert, der sich auch i n Rhetorik und Poetik beobachten läßt 7 0 . Dieser Vorgang
67
V g l . Le sac de Rome cit., S. 68ff.
68
Ζ . Β. Kap. 37 in: Opere di Β. Castiglione , G. della Casa, B. Cellini a cura di C. Cordié (Milano — Napoli, 1960), S. 578 ff. 69 V g l . Michel de Certeau, La fable mystique XVI S. 107-126.
e
— XVII
e
siècle (Paris, 1982), bes.
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setzt bereits zu dem Zeitpunkt ein, wo in Rom v o n den Päpsten der genius loci nochmals zur Legitimierung ihrer Macht benutzt worden ist. Die Blüte der römischen K u l t u r ist deshalb w o h l selbst schon Teil dieser gesamteuropäischen Entwicklung. Sie erklärt sich durch das Nutzen der Chance, alte Vorstellungsmuster i n den Bereichen wirksam werden zu lassen, wo sie durch die Entwicklung des Neuen bisher nicht vorhandene Potenzen freisetzten.
70 V g l . Verf., »Intertextualité et rhétorique des citations«, in: Recherches sur l'histoire de la poétique. Etudes publiées par M . — M . Münch, (Frankfurt — Bern, 1984), S. 237-254.
E i n verkannter Aufklärer: Johann Karl Wezel V o n Isabel Knaut%
Einleitung Der neueren Wezel-Forschung har Arno Schmidt den Weg gewiesen. Er zog Wezeis 1776 erschienenen Roman Belpbegor ans Licht, würdigte ihn als Buch »des ehrwürdigsten Gott-, Welt- und Menschenhasses«1 und weckte neues editorisches und literaturwissenschaftliches Interesse an Wezel. I m Lauf v o n drei Jahrzehnten formierte sich eine regelrechte Renaissance des fast schon vergessenen Aufklärungspoeten; sein reiches Gesamtwerk — sechs Romane, Erzählungen, Schriften zur Pädagogik, Anthropologie, Literaturund K u l t u r k r i t i k sowie Lustspiele — wurde größtenteils durch Neueditionen zugänglich und erfuhr erstmals wissenschaftliche Würdigung. Pathos und Passion des Schmidtschen Urteils teilten sich der nachfolgenden Forschung mit, und die literaturgeschichtliche Bewertung Wezeis greift fortgesetzt zu Superlativen. Es verschafft sich eine Entdeckerfreude Ausdruck, die »zur Rehabilitierung einer der faszinierendsten deutschen Schriftstellergestalten des 1 A r n o Schmidt, »Belphegor oder Wie ich euch hasse«: »Das dritte dieser alten Bücher des ehrwürdigsten Gott-, Welt- und Menschenhasses ist ein deutsches: 1776 erscheint, v o n Johann K a r l Wezel [ . . . ] , der [ . . .] B E L P H E G O R . « In: A . Schmidt, Nachrichten von Büchern und Menschen, Bd. 1 (Frankfurt, 1980), S. 90. V g l . weiterführend zu den folgenden Darlegungen v. Verf.: Epische Schwärmerkuren. J.K. Wedels Romane gegen die Melancholie (Würzburg, 1990). I m Text werden die häufiger zitierten Werke Wezeis m i t Sigle, Band- und Seitenzahl in Klammern angegeben: Β : Johann K a r l Wezel, Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne (Frankfurt, 1978). H U : Johann Carl Wezel, Herrmann und Ulrike. E i n komischer Roman. 4 Bände (Leipzig, 1780; Nachdruck: Stuttgart, 1971). KS: Johann Carl Wezel, Kritische Schriften H g . Albert R. Schmitt, 3 Bde (Stuttgart, 1971-75). R : Johann K a r l Wezel, Robinson Krusoe (Berlin, 1979). V : Johann K a r l Wezel, Versuch über die Kenntniß des Menschen. 2 Bde (Leipzig, 1784/85; Nachdruck: Frankfurt, 1971). T K : Johann Carl Wezel, Lebensgeschichte Tobias Knaut s, des Weisen, sonst der Stammler genannt. 4 Bde (Leipzig, 1773-1776; Nachdruck: Stuttgart, 1971). W A : Johann K a r l Wezel, Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit. 2 Bde, Dessau (Leipzig, 1782; Nachdruck: Frankfurt, 1970).
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aufgeklärten Saeculums« antritt. 2 I m neueren literaturgeschichtlichen buch findet Wezel seinen Platz 3 , und man steht nicht an, »Wezel großen Autoren des 18. Jahrhunderts zu zählen«. 4 Indes gewinnt Apostrophe den Rang des gelehrten Vorurteils, wenn gleichzeitig — fend — der Beginn der »interpretatorische [n] Erschließung von Wezeis erst postuliert wird. 5
Handzu den solche zutrefWerk«
Tatsächlich leistet Wezeis Werk einer homogenen Gesamtinterpretation Widerstand. I m Spiegel der Forschung geradezu polarisierende Funktion gewinnen dabei seine beiden Romane Belphegor und Herr mann und Ulrike, die — formal und inhaltlich — die Pole »Provokation« und »Konvention« zu markieren scheinen. D e m konventionellen, komischen Erziehungsroman Herrmann und Ulrike, der seinen Titelhelden in die Geborgenheit gesellschaftsdienlicher Tätigkeit führt, steht in Belphegor eine radikale Gesellschaftssatire entgegen, die der in H err mann und Ulrike angebotenen Lösung H o h n zu sprechen scheint. Demgemäß verteilen sich K r i t i k und Beifall: konnten die Zeitgenossen — insbesondere Wieland — in Herrmann und Ulrike ein zeitgemäßes Romanmodell ästimieren, so mußte bei ihnen Belphegor als »Frevel an der armen Menschheit« 6 Ablehnung finden. Umgekehrt muß die neuere Forschung, die — mit Schmidt — den Belphegor als Beginn der Linie des literarischen Nihilismus und Mephistophelismus 7 , als frühes Zeugnis eines richtungweisend modernen, radikalen Skeptizismus würdigt, das harmonische Finale des Erziehungsromans H err mann und Ulrike als politische Idylle, Utopie und »Märchen« kritisieren. 8
2 Albert R. Schmitt, »Paralipomena zu Gerhard Steiners Wezel-Aufsatz«, in: Sinn und Form, 32 (1980), S. 492. 3 V g l . W i l h e l m Voßkamp, »Formen des satirischen Romans i m 18. Jahrhundert«, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 11: Europäische Aufklärung, 1. Teil. H g . Walter Hinck (Frankfurt, 1974), S. 165-184; W . Voßkamp, »Johann Carl Wezel«, in: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts: Ihr Leben und Werk, H g . Benno v o n Wiese (Berlin, 1977), S. 577-593. 4 Gerhard Sauder, »Johann K a r l Wezel«, S. 404, in: Deutsche Dichter: Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Bd. 3: Aufklärung und Empfindsamkeit (Stuttgart, 1988). 5
Sauder (s. A n m . 4), S. 410.
6
Wieland i m Brief an Wezel v o m 22. Juli 1776, in: Carl Schüddekopf, »Klassische Findlinge«, in: Freundesgaben für Carl August Hugo Burckhardt %um 70- Geburtstag (Weimar, 1900), S. 99. 7 Eva D . Becker, Der deutsche Roman um 1780 (Stuttgart, 1964), S. 113; Jörg Schönert, »Fragen ohne A n t w o r t . Z u r Krise der literarischen Aufklärung i m Roman des späten 18. Jahrhunderts: Wezeis Belphegor, Klingers Faust und die Nachtwachen von Bonaventura«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14, 1970, S. 184. 8 Wilhelm Voßkamp, Besprechung zu: Johann Carl Wezel, Herrmann und Ulrike, H g . Eva D . Becker (Stuttgart, 1971), in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 92 (1973), S. 592.
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Das Dilemma kompliziert sich durch zweifelhafte biographische Daten, den Ausbruch von Wezeis als »Wahnsinn« überlieferter Geisteskrankheit betreffend; insbesondere die frühe Rezeption des Autors wies den bis heute beschrittenen Weg, Dunkelheiten des Werks in ihr zu bergen und Unverständliches der Romane dem Wezelschen »Wahnsinn« zuzurechnen. 9 Indes läßt sich biographisch sondern zwischen Wezeis — relativ kurzer — produktiver Lebensphase, die v o n 1773 bis 1788 reichte, und seinem anschließenden verbitterten Rückzug aus dem geselligen Leben in den Geburtsort Sondershausen, w o er die verbleibenden 31 Lebensjahre in anscheinend selbstgewählter Isolation unter fürstlicher Fürsorge zubrachte. Wezeis früher Biograph H . Marggraff stand nicht an, die diversen Phasen der Wezelschen Vita zum Gesamtbild eines bereits i m Ansatz, nämlich aus dem Charakter heraus, verfehlten Lebenslaufes zu verschmelzen, der folgerichtig i m Wahnsinn kulminiere. 10 Der gegenwärtigen Forschung, die mit dem Erschwernis des verschwundenen Nachlasses Wezeis und mit einer dürftigen biographischen Faktenlage zu arbeiten hat, obliegt es, das von der tradierten Wahnsinnslegende verzerrte Wezel-Bild neu zu konturieren. Dabei erweist sich zusehends die Abwesenheit selbst der geringsten Spur geistiger Verwirrung in Wezeis Schrifttum, das ausschließlich vor dem für den Beginn der Geisteskrankheit als terminus post quem diskutierten Jahr 1788 liegt. 1 1 Es empfiehlt sich der Verzicht auf Formeln wie »schizophrener Größenwahn« oder »Psychopath« mit »querulatorischen und paranoiden Zügen« 1 2 i m Hinblick auf den Dichter Wezel. N i m m t man Wezeis episches und theoretisches Werk i n den v o n derartigen biographischen Prämissen unverstellten Blick, so zeichnet sich der Umriß einer geistigen und dichterischen K o n t u r ab, die selbst die scheinbaren Gegenpole seiner Produktion — H err mann und Ulrike und Belphegor — widerspruchsfrei einschließt. Der Schritt zur »interpretatorische[n] Erschließung von Wezeis Werk« ist überfällig; eine Schlüsselposition fällt dabei dem frühen Roman Belphegor zu, der bisherigen Enträtselungsversuchen weitge-
9 Carl Georg Maassen, Einleitung zu: Johann Carl Wezel, Herrmann und Ulrike (München, 1921), Bd. 1, S. X V I I ; M o n i k a Ammermann, Gemeines Leben. Gewandelter Naturbegriff und literarische Spätaufklärung. Lichtenberg, We^el, Garve (Bonn, 1978), S. 50. 10 Herrmann Marggraff, »J. K . Wezel, der Sonderling H. Marggraff, Bücher und Menschen (Bunzlau, 1837), S. 206 f.
aus Sondershausen«,
in:
11 Einen der gegenwärtigen Forschungslage angemessen vollständigen Überblick über Wezeis Biographie gibt Gerhard Steiner in seinem Nachwort zu: Johann K a r l Wezel, Herrmann und Ulrike (Berlin, 1980), S. 823-882. I n der Konsequenz der inzwischen erreichten präziseren Sonderung v o n Krankheit und Werk liegt es, daß der Herausgeber der dreibändigen Sammlung der Kritischen Schriften Wezeis, Albert R. Schmitt, sich in einem neueren Aufsatz v o n der zuvor selbst vertretenen WahnsinnsThese distanziert; vgl. Albert R. Schmitt (s. A n m . 2), S. 493.
12 V g l . Schmitt (s. A n m . 2), S. 494. 7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
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hend standgehalten hat, gleichsam wie i m Banne des von Wezel beigegebenen Geleitworts: »'Tis too much to write books and to find heads to understand them.« (B 10). Belphegor Denn freylich, eine Menge zusammengestoppelter übertriebner Situationen zusammenzureihen; gezwungene unnatürliche Charaktere ohne Sitten, Leben und Menschheit zusammenzustellen, und sich plagen, hauen, erwürgen und niedermetzeln zu lassen, oder einen Helden, der kaum ein Mensch ist, durch die ganze Welt herumzujagen und ihn Türken und Heiden in die Hände zu spielen, daß sie i h m als Sklaven das Leben sauer machen;
[. . .] ein solches Chaos v o n verschlungenen,
gehäuften,
unwahrscheinlichen Begebenheiten, die nirgends als in Romanen existirten
und
existiren konten, solche Massen ohne Plan, poetische Haltung und Wahrscheinlichkeit zu erfinden, bedurfte es keines Dichtergenies und keiner dichterischen Kunst. ( H U I, If.)
Man ist versucht, diese Sätze aus der Vorrede des 1780 erschienenen Romans Herr mann und Ulrike als nachträglich-einsichtsvolle Selbstrezension Wezeis zu seinem vier Jahre zuvor erschienenen Belphegor zu lesen, geben sie doch den präzisen Abriß der Struktur des Belphegor. Der Kontext verrät, daß Wezeis K r i t i k den Barockromanen gilt, »Misgeburten« ( H U I , I) i m Licht aufklärerischer Poetik, deren Existenz die ganze Gattung in Verruf gebracht habe. Wezeis Verdikt über den Barockroman trifft sich mit der zeitgenössischen K r i t i k an seinem Belphegor. als »Abentheuer über Abentheuer« 1 3 , »Begebenheiten [ . . . ] ohne Wahl und Anordnung oder Verbindung der Geschichte zu einem Ganzen« 1 4 und »Chaos der wundersamsten Begebenheiten« 15 wurde Belphegor einhellig abgelehnt. Die ebenso unwahrscheinliche wie unglaubliche Erzählung mißachtet die fundamentalen Errungenschaften des aufklärerischen Begriffs von poetischer Fiktion: »sichtbarlich erfunden, und i m einförmigsten Kleide erzählt« 1 6 , verweigert die poetische Handlung dem Leser hartnäckig Illusion und damit »Unterhaltung« 1 7 . Der Blick auf Wezeis eigene theoretische Konzeption des Romans, in Vorreden und literaturkritischen Schriften formuliert, zeigt Wezel ganz auf dem Boden spätaufklärerischer Romanpoetik. M i t der Formel der »bürgerlichen Epopee« gibt Wezel seinen Begriff des Romans in der Vorrede zu 13
Frankfurter
gelehrte Anzeigen, 1777, S. 254.
1 4 Johann K a r l August Musäus, in: AdB X X X , 2, 1777, S. 527. 15 Johann Heinrich Merck, Werke, H g . A r t h u r Henkel, Frankfurt (zuerst in: DerTeutsche Merkur, 1776, 3, S. 79-81.). 16
Ebd., S. 597 f.
17
Ebd., S. 598.
1968, S. 597.
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Herr mann und Ulrike\ dieser Roman kann tatsächlich als Durchführung des epischen Programms gelesen werden. Die bürgerliche Epopöe, der Roman, tritt die zeitgemäße Nachfolge des Epos, des Heldengedichts, an: Das bisher sogenannte Heldengedicht und der Roman unterscheiden sich blos durch den Ton der Sprache, der Charaktere und Situationen: alles ist in jenem poetisch, alles muß in diesem menschlich, alles dort zum Ideale hinaufgeschraubt, alles hier in der Stimmung des wirklichen Lebens seyn. ( H U I, I I f.)
Dieses Programm einer »auf den T o n der wirklichen Welt« gestimmten Prosa (R 9) stellt den Roman als zeitgemäße Form poetisch-realistischer Darstellung dem Heldenepos als »idealistischer« Poesie gegenüber. N u r auf dem Feld realistischer Dichtung sieht Wezel die Chance, »Lorberfn] zu sammlen« (KS I I I , 482), setzt doch wahres poetisches Schaffen voraus, seine Muster der eigenen Zeit aus unmittelbarer Anschauung entnehmen zu können. Den »vollkommnen Dichter« bestimmt folglich »ein schneller, weit umfassender Beobachtungsgeist« (KS I , 256); die Gegenstände seiner Darstellung soll er »aus der Nation selbst nehmen und also wahres Interesse und Vergnügen erwecken.« (KS I I I , 390) Der Rückzug auf die Empirie macht das Wahrscheinliche zum Maß des poetisch Wahren; das »gewöhnliche Menschenleben« w i r d zum Fundus poetischer Materialien, deren Glaubwürdigkeit förmlich durch ihre Alltäglichkeit ausgewiesen ist. ( H U I, I I I ) Wenn der Dichter »Ursachen und Folgen der Handlungen, Charaktere und Leidenschaften« (R 12) treu beachten und »in der Natur« (R 13) bleiben muß, so erfüllt er Grundgebote aufklärerischer Poetik. Wahrscheinlichkeit und funktionale Kausalverknüpfung, als Voraussetzung für ein »wahres hinreisendes [!] Interesse des Lesers« (KS I I , 565), sind die zentralen Aspekte der wirkungsästhetisch orientierten, zeitgemäßen Poetik Wezeis. Unschwer erhellt, daß Wezeis Belphegor, diese »wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne«, an den angedeuteten Postulaten seines Autors für einen zeitgemäßen Roman notwendig scheitern muß; wenig Sinn macht es indes, den Belphegor-Verfasser mit Hilfe des Theoretikers Wezel der Kunstlosigkeit zu überführen. Was Belphegor dem Leser an Abenteuerlichkeiten und Ungeheuerlichkeiten zumutet, übersteigt weit das Maß einer auf Illusion und Glaubwürdigkeit bedachten Fiktion. A u c h spart der A u t o r nicht an Fiktionsbrüchen, gezielt eingesetzten Erzählklischees und ironischen Erzählerkommentaren, u m das Erzählte fortgesetzt ins Licht des Lächerlich-Unglaublichen zu rücken und ein »wahres hinreisendes Interesse des Lesers« zu untergraben. Erzählt w i r d das »alte Lied« (B 146) v o n »Neid und Vorzugssucht« (B 8) der Menschen, die i m Mosaik verschiedenster geographischer und historischer Erscheinungsformen — i m Bild von Kinderstreit, Weiberscharmützel, Bauernkrieg, Imperialismen aller A r t , Kannibalismus — Gestalt gewinnen, immerfort das M o t t o »bellum omnium contra omnes« variierend. 7*
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Gleich das erste Buch des Romans eröffnet nachdrücklich das bellum-ìs/ioùv\ es bringt den weltfremden Belphegor mit der die pikarische Ausgangssituation suggerierenden Devise auf den Weg: »Lerne, was für ein D i n g der Mensch und die Welt ist!« (B 19) Belphegor erfährt eine durch und durch kriegerische Welt: der Habicht schlägt die Taube, ein »dickstämmiger« und ein schwächerer Bube streiten sich, ein hagerer »Kerl, der müßig an einem Baum lehnte« (B 26), erweist sich als Räuber; ein entsprungener Leibeigener, etliche Freibeuter, ein Weiberscharmützel, ein Bruderzwist und ein Bauernkrieg vervollständigen den kriegerischen Auftakt. Der Kursus der Zwiste, den Belphegor mit wachsender moralischer Entrüstung durcheilt, illustriert Ursituationen menschlichen Verhaltens. Als solche werden sie gerade durch die reduzierte und typisierte Ausgestaltung erkennbar, die auf die Angabe wirklichkeitsgetreuer, eigentlich »realistischer« Details wie Namen, Ort, Zeit oder genauere Umstände verzichtet. War schon die eröffnende Tauben-Szene eine abgegriffene Metapher, die Wezel andernorts zur Bebilderung einer komischen Szene verwendet, 1 8 so stellen Kinderstreit, Bruderzwist oder Weiberscharmützel archetypische Verhaltensmuster vor, deren schockierende W i r k u n g auf Belphegor in keinem Verhältnis zu ihrer nahezu banalen Alltäglichkeit steht. T r i t t schon hier die Farbigkeit des Erzählten weit hinters Klischeehafte zurück, so erfüllt der weitere Romanverlauf Wezeis eingangs zitiertes Verdikt über den kunstlosen Barockroman mit staunenswerter Präzision. Seeräuber und türkische Gefangenschaft, beides Inbegriff eines veralteten und verbrauchten literarischen Motivs, zählen zu den Stationen der Vita Belphegors und seiner beiden Freunde. A u c h diese Episode reduziert der Erzähler auf ein dürres Faktengerüst: nachdem »die Räuber« sich der drei Freunde bemächtigt und sie nach Algier geschafft haben, erhält die türkische Gefangenschaft den Raum einer Textzeile. Was hier erzählt wird, ist, folgt man Wezel, eine »Trivialität«. 1 9 Diese Trivialität als »das alte Lied des menschlichen Lebens« (B 146) zu durchschauen, ist der Leser nach dem Willen des allzeit distanziert-ironischen
is V g l . H U I , 119; H U I I , 217. 19 Wezel erläutert in seiner Oberon-Rezension: »man könnte vielleicht außerdem noch viele Vorfalle einer zu großen Trivialität beschuldigen, wie z.B. die Seeräuber, die Sklaverey des Scherasmins, die Liebe der Sultanin zu einem Sklaven, [ . . .]: alles das sind Vorfälle, die man zu häufig in alten Romanen und Reisebeschreibungen antrift.« (in: K S I I , S. 590) — A u c h in seinem Robinson Krusoe setzt Wezel dieses Klischee ein, dort indes i m ironischen Dialog mit dem Leser, der das Klischee zu durchschauen aufgefordert ist: »Die größten Widerwärtigkeiten vereinigten sich, seinen seemännischen M u t zu erschüttern. Wer w i r d hier nicht sogleich einen Seeräuber kommen sehn, der ihn in die türkische Gefangenschaft bringt? — Getroffen! [ . . .] Die Leser, die v o r h i n die A n k u n f t des Seeräubers so richtig mutmaßten, werden gewiß nunmehr ganz schreckliche Behandlungen in dieser Gefangenschaft erwarten, aber da irren sie sich: es geht unserm Robinson ziemlich gut darinne.« (R 19 f.).
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Erzählers zweifellos aufgefordert; nach der Funktion solchen Erzählens mit verbrauchten Mustern ist desto dringlicher zu fragen. Die epischen Qualitäten dieses Romans, der in der Erstreckung über 10 Bücher das eine Thema des bellum grobstrichig-flächendeckend variiert, wurden von den Zeitgenossen kritischer bewertet als i m heutigen gelehrten Urteil. »Immer zu Bestätigung Eines Grundsatzes sichtbarlich erfunden« 2 0 , erscheint Merck der Belphegor als der mißglückte Versuch einer allzu fingierten Beweiskette von Geschehnissen, die des Verfassers Theorie von der Universalität v o n Neid und Vorzugssucht dokumentieren sollen. Es entging schon der zeitgenössischen K r i t i k nicht, »daß der Candide die Idee zum Belphegor erzeuget hat« 2 1 ; unverständlich blieb indes nicht nur die gegenüber dem französischen V o r b i l d verdoppelte Länge, sondern vor allem das satirische Telos. Was dem Candide an offensichtlich er- und verdichteten Anhäufungen von Greueln zugestanden w i r d — mit Blick auf die Absicht, »den Optimism lächerlich zu machen« — und als »Caricatur auf Leibnizens System« noch »behagliches Lachen« erregt 2 2 , stößt i m Fall von Wezeis Belphegor auf Unverständnis und Abwehr. Wenngleich die komischen Aspekte der geplagten Belphegor-Vita den Zeitgenossen nicht verborgen blieben 2 3 , so blieb man doch u m die satirische Intention des Romans verlegen. Dies Dilemma reicht bis in die heutige Forschung; der Roman, den schon Wieland als philosophisches Produkt einer „menschenfeindlichen Theorie« 2 4 ablehnte, wurde i n den Rang eines »philosophischen Romanfs]« 2 5 gehoben, seine Aussage dahingehend absolut verstanden, Wezel beabsichtige, »die Deformationen der Welt zu zeigen«. 26 Nicht zu leugnen ist freilich, daß Wezel, hätte er einen philosophischen Thesenroman intendiert, kaum absichtswidriger hätte verfahren können, deutet doch schon die gewählte Romanform, i n der Nachfolge des Candide , auf das satirische Vorhaben hin. N u r parodistisch ist die Übernahme einer Handlungsstruktur aus der barocken Tradition des pikarischen und heroischen Romans zu verstehen, der i m übrigen Wezeis ganze K r i t i k gilt. Bekräftigt w i r d die Parodie schon durch den ironisch verstandenen Untertitel von der »wahrscheinlichsten Geschichte unter der Sonne«; was erzählt wird, spricht 20 Merck (s. A n m . 15), S. 597. 21 Musäus (s. A n m . 14), S. 525f. 22 Merck (s. A n m . 15), S. 596. 23
V g l . Almanack der deutschen Musen auf das Jahr 1777 (Leipzig, 1777), S. 110.
24
Zitiert nach Schüddekopf (s. A n m . 6), S. 99 f.
25
Lenz Prütting, »Nachrichten aus der Strafkolonie: Einige Anmerkungen zu Johann K a r l Wezeis philosophischem Roman Belphegor«, in: J. K . Wezel, Belphegor (Frankfurt, 1978), S. 453-494; s. auch S. 464. 26 Hans Peter T h u m , Der Roman der unaufgeklärten Prosawerk fohann Karl Wedels ( K ö l n , 1970), S. 57.
Gesellschaft.
Untersuchungen
%um
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aller Wahrscheinlichkeit Hohn, und Wezel, der strenge Verfechter der poetischen Wahrscheinlichkeit, wäre sein eigener schärfster Kritiker, wollte man i h m hier anderes als den parodistischen Einsatz veralteter M i t t e l zu satirischen Zwecken zuschreiben. Wie die gewählte Form, so stehen auch die erzählten Inhalte ganz unter dem Vorzeichen satirischer Reduktion, Vereinfachung und Verfremdung. Daß indes diese aufgedunsene Candide- Imitation »wohl i n der Folge ermüden möchte« 2 7 und »wohl keine große Unterhaltung gewähren« k a n n 2 8 , vermerkte die zeitgenössische K r i t i k ebenso distanziert wie ratlos. Immerhin wurde, richtungweisend für die Deutung, erkannt, »daß man sich nicht w o h l das Überschlagen verwehren könnte, wenn das Raisonnement der [ . . . ] Personen und die verschiedene A r t über diese Zufälle zu denken und sich dabey zu benehmen, den Leser nicht gewissermaßen wieder schadlos hielten.« 2 9 Tatsächlich vermag der Roman das Interesse des Lesers erst durch die Betrachtungen der Hauptfiguren zu gewinnen, die sich an die v o n ihnen erlebte Wirklichkeit knüpfen. Hier wird, was einförmig und klischeehaft erzählt wurde, zum Gegenstand verschiedenster Reflexion und Spekulation. Auch darin noch steht das V o r b i l d Candide nahe; unschwer läßt sich die Parallele ziehen zwischen den geistigen Physiognomien von Candide und Belphegor, Pangloß und Medardus, schließlich Fromal und Martin. Bleiben aber die bei Voltaire vorgeführten Reflexionen eingespannt in den Rahmen der satirischen Konfrontation zwischen einer vulgarisierten Theodizee und einer dagegen gesetzten, fingierten Realität, so fehlt i m Belphegor dieser Bezugsrahmen. Nicht mehr als Medium satirischer Konfrontation erscheint die vorgeführte Wirklichkeit, sondern als — gemäß der »Theorie des Verfassers« — poetisch absolut gesetzte Basis für die Diskussion der Akteure. Die Schwierigkeit, die satirische Zielrichtung des Romans aufzufinden, verführte zu philosophisch-lehrhaften Deutungen: »Das Böse in der Welt w i r d durch das Prisma der Wahrnehmungen dreier Freunde gezeigt [ . . .]«. 3 0 Unzweifelhaft ist, daß es die »Wahrnehmungen dreier Freunde« sind, die ins Zentrum des Romans und seiner Intention führen. Dabei dürfen insbesondere die auktorialen Hinweise nicht übersehen werden, die schon das V o r w o r t bereithält. Wezel eröffnet das V o r w o r t mit einer kontrasthaltigen Betrachtung idealistischer und demgegenüber wirklicher Welt von augenscheinlicher Unoriginalität. I n bewußt groben und vereinfachenden Zügen, offensichtlich auf krasse Klischees zurückgreifend, skizziert Wezel das Schicksal eines Idealisten, der — 27 2
Almanack (s. A n m . 23), S. 110.
8 Merck (s. A n m . 15), S. 597 f.
29
Musäus (s. A n m . 14), S. 527.
30
Maria Tronskaja, Die deutsche Prosasatire der Aufklärung
(Berlin, 1969), S. 178.
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in menschenfreundliche Illusionen eingesponnen — mit der wirklichen Welt konfrontiert wird. »In den Wirbel des Eigennutzes, des Neides und der Unterdrückung geworfen«, erblickt er i m Menschen nicht länger das »Geschöpf höherer Ordnung«, sondern den »Räuber«; die menschliche Gesellschaft, zuvor scheinbar i n »gutherziger Eintracht«, w i r d i h m zum »zusammengerotteten auflauernden Haufen«, die eingebildete Harmonie der Welt verwandelt sich in blutiges Chaos. (B 7 f.) Unschwer wird, wer den Roman bis zum Ende verfolgt hat, diesen ersten Absatz rückblickend als Ankündigung des Schicksals des Titelhelden erkennen. Weniger augenfällig, dafür u m so bemerkenswerter ist, daß dieser erste Absatz — der Intention Wezeis zufolge — auf alle drei Protagonisten zu beziehen ist; die folgenden Kurzcharakteristiken schließen sprachlich an das eröffnende »So lange ein Mann [ . . . ] « an (B 5), und die Beobachtung w i r d i m Verlauf der Erzählung bestätigt durch Rückblicke der drei Akteure auf die verlorene Idylle. Den drei Helden hat »die Natur gleich viel Feuer in die Einbildungskraft und in die Empfindung gelegt«, sie aber die Erfahrungen zu ihren Begriffen bloß aus ihrem guten Herzen und dem kleinen Zirkel »simpathisierender Freunde« gewinnen lassen. Die Tragweite dieser Charakteristik erhellt der Blick auf Wezeis anthropologisches Konzept, das insbesondere aus seinen pädagogischen Aufsätzen und seinem Versuch über die Kenntniß des Menschen zu erfahren ist. Hier zeigt sich der strenge Empiriker Wezel als Schüler Lockes, dessen Essay on Human Understanding er sein entscheidendes geistiges Bildungserlebnis verdankt. 3 1 Die beiden Pole, die i m Belphegor-Votvrott als »Begriffe« und »Erfahrungen« markiert sind, bezeichnen den weiten erkenntnisphilosophischen Abstand zwischen einem cartesischen Realismus, der dem Empiriker i n erkenntniskritischer Hinsicht untauglich sein muß, und der aus Beobachtung und Erfahrung gewonnenen Empirie, die allein zur Kenntnis von Welt und Menschen taugt. »Begriffe«, die des weiten empirischen Horizonts entbehren, sind nichts als »individuelle Vorurtheile«, und vor ihnen »kann sich derjenige am wenigsten sichern, der seine Erfahrungen nur in einem kleinen Zirkel an einerley Gegenständen, unter einerley Beziehungen macht.« (KS I I , 513 f.) Führt die normale Entwicklung eines Menschen allmählich v o n jugendlichem Idealismus über »zunehmende Erfahrung« zu endlichem »Urtheil« (vgl. K S I I , 513 f.), so hat der Belphegor-Autor ein Personal konstruiert, das Hals über K o p f aus arkadischen Träumen in eine höllische Welt stürzt: »wie w i r d sich die ganze Scene in seinem Kopfe verwandeln!« (B 5) Schon hier deutet sich an, wes Ursprungs die einseitig finstere, chaotische Belphegor-Welt ist: 31 Der u m gesicherte biographische Daten verlegenen Wezel-Forschung muß die v o n Wezel selbst rückblickend i m Jahr 1782 gegebene Schilderung seines großen geistigen Bildungserlebnisses mit Lockes Essay on Human Understanding sehr w i l l k o m m e n sein; vgl. K S I I I , 446 ff.
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imaginiertes Produkt nämlich eines radikalen Idealismus, dem sich die wirkliche Welt zum Chaos verwandelt hat. Der aus dem Traum gerissene Idealist ersetzt seine »Begriffe« durch nicht minder absolute und extreme Gegenbegriffe, die ihren Antipoden, den idealistischen Vorstellungen, an tatsächlichem Erklärungswert nichts voraus haben. Nach wie vor steht die schmerzlich erlittene Wirklichkeit unter dem Anspruch der Ideale, der erst die — jegliche empirische Realität weit verfehlenden — Gegenbegriffe erzeugt. So w i r d der geträumte H i m m e l zur eingebildeten Hölle, der ganze Vorgang bleibt »Scene i n seinem Kopfe«; mit anderen — wiederum Wezeis — Worten, es hat ein Wechsel der »Vorstellungsart« stattgefunden. Die plump-plakative Begrifflichkeit, die das Romanvorwort durchwaltet, ist parodistisches Signal für bewußt vereinfachte, da i m Licht vorgefaßter Begriffe vorgeführte Vorstellungsarten v o n Wirklichkeit. Was die anschließenden Steckbriefe der drei Helden schildern, sind die nach dem — physiologisch begründeten — Temperament der Einzelnen sich bestimmenden Reaktionsweisen auf die gemeinsame Erfahrung des enttäuschten Idealismus. Hier macht sich Belphegors »brausendes« Temperament geltend, das seinen »Unwillen« ob des Widerspruchs zwischen den vormals verträumten und den neuen Begriffen auslösen und seinem Leben Z o r n auf die Menschen und anhaltende Unruhe eintragen wird. Fromal demgegenüber, der später zu Belphegor sagen wird: »du weißt, w i r hatten beide i n Einem Traume der Fantasie geschlummert« (B 192), reagiert auf den »Kontrast zwischen den Begriffen, die i h m die gegenwärtige Erfahrung aufdringt, und den Vorstellungen, die er ehmals hatte« (B 7), nach Maßgabe seines kälteren Temperaments; er distanziert sich von dem »Schauspiele der Welt« (B 7), sucht nach einer Erklärung für den Widerspruch, »und sein Räsonnement führt ihn auf die Nothwendigkeit des Schicksals, welcher er alle Unordnungen aufbürdet.« (B 7) »Nach seinem Temperamente« (B 7) kann er schließlich Beruhigung finden. Der zuletzt vorgestellte, buchstäblich gesetzte Medardus ist zwar offensichtlich der Ausgangssituation angeschlossen; durch sein fröhliches Temperament, in Verbindung mit nur zu eingeschränktem K o p f , bleibt ihm die Unruhe seiner beiden Gefährten erspart, und er erfreut sich anhaltender Heiterkeit. N o c h einmal mag der Pädagoge Wezel zur Erläuterung des Gedankengangs beispringen. 1778 erschien sein Aufsatz »Welche Seite der Welt soll man jungen Leuten zeigen?« Die »Seiten der Welt« korrelieren mit den »Vorstellungsarten« des Subjekts; beide Begriffe signalisieren den erkenntniskritischen Skeptizismus Wezeis, dem Welt und menschliche Natur nicht in ihrem unveränderlichen Sein, sondern nur in wechselnden Erscheinungsformen, also v o m betrachtenden Subjekt her, erkennbar sind. Soll dessen Welt- und Menschenkenntnis mehr sein als bloßes Vorurteil, so gilt:
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E i n wahrer Weltbürger muß diesen großen Staat auf allen Seiten kennen lernen, die er nach seinen Umständen nur kennen lernen kann, und ihn ja niemals auf Einer allein zu lange oder zu oft betrachten: das Urtheil darüber fallt alsdann immer partheiisch aus; die Welt w i r d zum H i m m e l oder zur Hölle, da sie doch keines v o n beiden für sich allein ist. 3 2 M i t den besonderen Risiken strikt einseitiger W e l t s i c h t macht Wezel w e i t l ä u f i g b e k a n n t ; seine p ä d a g o g i s c h e n A u s f ü h r u n g e n g e b e n die präzise p s y c h o l o g i s c h e A u s l e u c h t u n g des Schicksals d e r d r e i Belphegor-Helden.
Menschen
nämlich,
d e n e n d u r c h E r z i e h u n g » n i c h t s als g u t e , liebe, f r e u n d l i c h e M e n s c h e n « v o r g e m a l t w e r d e n u n d die i n » T r ä u m e
v o n einer blos g u t e n W e l t «
eingewiegt
w e r d e n , erfahren i m w i r k l i c h e n L e b e n eine h ö l l i s c h e G e g e n w e l t : Unglücklicher Jüngling,, der du durch so wohlmeinende Falschheit
hintergangen
wardst! und noch unglücklicherer Mann\ Dein Glück war es, wenn die Natur dir Nachdenken, Reflexion und Geist versagte: in der seligen Trunkenheit des D u m m kopfs wandeltest du deinen Weg dahin, ließest dich stoßen und drängen und treiben, und starbst, ohne dich recht besonnen zu haben, wie es in der Welt war: aber welch trauriges Opfer deiner Erziehung wurdest du, wenn du jemals zum Nachdenken erwachtest! D u fandest in der wirklichen Welt nicht deine geträumte Güte [ . . . ] Welch eine Welt! Deine Eigenliebe, deine betrogne Erwartung schwellte kleine Unordnungen der Natur zu großen Gebirgen v o n Ungerechtigkeit und Grausamkeiten empor, schuf sich aus den Menschen, die blos nach den Gesetzen ihrer Natur handelten, Teufel, Bösewichter, Lasterhafte: du fandest itzt nirgends Spuren der Güte Gottes, weil du sie in deiner Jugend allenthalben finden mußtest, gar nichts Gutes an deinen Mitbrüdern, weil du nicht wußtest, daß ein Mensch, wenn sein Interesse v o n irgend einer A r t m i t dem Interesse eines Andern in Kollision geräth, diesem sehr schlimm scheinen, und doch sehr gut seyn kann. Jeder so betrogne Mensch, w i r d zuverläßig entweder das gänzliche Opfer
von
Zweifeln, Unruhen und Martern, oder er muß sich durch zehn Jahre v o l l Martern, Qualen und Unruhen, wie durch einen ersäufenden Strom, hindurcharbeiten, bis i h m Erfahrung und Nachdenken den Standpunkt angewiesen haben, w o er Welt und Menschen übersehen, und ruhig seyn kann. 3 3 » R u h e « ist i n der Belphegor-Welt
augenscheinlich n u r dem schlichten G e m ü t
des M e d a r d u s v e r g ö n n t , der sich m i t d e r F o r m e l »Bey m e i n e r
Schlafmütze!«
( B 54, 155) h i n l ä n g l i c h z u e r k e n n e n g i b t u n d t r o t z erlebter W i d e r w ä r t i g k e i t e n in
beschränkter
Zufriedenheit
verharren
kann;
daß
er j e n e n
geistesarmen
T y p u s v e r k ö r p e r t , d e r » i n der seligen T r u n k e n h e i t des D u m m k o p f s «
seinen
W e g w a n d e l t , ist e v i d e n t . B e l p h e g o r h i n g e g e n , d e r z u m N a c h d e n k e n e r w a c h t ,
32 33
Vorrede der längeren Fassung des 2. Knaut-Bandes, in: T K I V , Anhang S. 62.
Wezel, »Welche Seite der Welt soll man jungen Leuten zeigen?«, in: Pädagogische Unterhandlungen, hrsg. v o n dem Dessauischen Erziehungs-Institut, 2. Jahr, 1. Quartal (Dessau, 1778), S. 52-54.
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Isabel Knautz
w i r d sich nach der Prognose seines Verfassers »mit Unruhen und Zweifeln martern« (B 6), und der Roman selbst läßt keinen Zweifel, daß sein Schicksal das jenes »Unglücklichen« ist, dem die betrogene Erwartung eine von Enttäuschung verfinsterte Gegenwelt erschaffen hat. I m selben Zusammenhang erklärt Wezel die »Einseitigkeit der moralischen Grundsätze« für »eine der wichtigsten Ursachen«, »warum die Urtheile und die mannigfaltigen Vorstellungsarten v o n der Welt alle so einseitig ausfallen.« 34 Es muß u m so zulässiger sein, diese Gedanken mit Belphegor i n Verbindung zu bringen, als Wezel selbst gerade in dem zitierten Aufsatz auf Belphegor als bewußt einseitiges »Gemälde« zurückblickt. 3 5 Der Hinweis mag verlohnen, daß sich der Pädagoge Wezel einem aufklärungstypischen Eudaimonismus verpflichtet zeigt, der der Devise huldigt: Lebt mit A7/«gheit, das heißt, sucht euch jede Sache so zu kehren und zu wenden, daß sie euch Vergnügen macht! Selbst in eurem Unglücke, in euren Thränen müßt ihr die Freude zu finden wissen! 3 6
Das Ausmaß der bisherigen Fehleinschätzung Wezeis mag ersichtlich werden, vergegenwärtigt man sich exemplarisch die folgende neuere, durchaus repräsentative Einsicht der Literaturwissenschaft: »Mit der eudaimonistischen Lebensphilosophie und dem Perfektibilitätsdenken der Aufklärung hat er nichts i m Sinne.« 37 Die Sichtung sämtlicher theoretischer Schriften Wezeis, mit Einschluß der wenigen erhaltenen Briefe, ergibt sowohl eine radikal eudaimonistische Lebensphilosophie, wie zugleich ein kulturgeschichtliches und individuelles Perfektibilitätsdenken, das sich sogar bis zur These versteigt: »wenn w i r den ernstlichen Vorsatz fassen, so können w i r mit der Zeit unser ganzes T h u n und Wesen umschmelzen.« ( V I , 256) Auch daß der individuellen Perfektibilität diejenige der nationalen K u l t u r zur Seite steht, ist für Wezel ausgemacht; wer daran zweifelt, werfe einen Blick i n die literaturkritischen Schriften, die getragen sind v o m Grundgedanken der »Entwicklung, K u l t u r und Politur des teutschen Geistes«. (KS I I I , 325) Gut aufklärerisch, verfolgt Wezel dieses Konzept v o n den »rohen Zustände[n] der Gesellschaft« (KS I , 22) über die »Unwissenheit und Ungeschicklichkeit der m i t t l e m Zeiten« (KS I I I , 325) bis an die Schwelle der eigenen Zeit, für die zu fragen ist, »was unserm Unterricht und unser [!] Litteratur noch fehlt, u m unsere Aufklärung und unsern litterarischen Ruhm vollkommen zu machen.« (KS I I I , 303) Nicht nur i m Pädagogen und Literaturkritiker Wezel steckt der Aufklärer, der auf Vervollkommnung und Glück des menschlichen Geschlechts sinnt, sondern 34
Ebd., S. 51.
« Ebd., S. 44f. 36
Ebd., S. 62f.
37
Sauder (s. A n m . 4), S. 408.
Ein verkannter Aufklärer: Johann Karl Wezel
107
auch i m Romancier, der i n seinem Belphegor die Satire selbstverschuldeter unglücklicher Existenz gestaltet hat. Einem richtigeren Verständnis des Romans weist jene zeitgenössische Rezension den Weg, die konstatiert: »Der Endzweck des Romans geht nicht dahin, uns Ueberdruß und Abscheu gegen die Welt beyzubringen, sondern uns frühzeitig in die Gleichmuth zu versezen, die Belphegor so theuer erkaufen mußte.« 3 8 Daß die einseitige Belphegor-Welt aus dem Idealismus ihres Helden — genauer: ihrer drei Helden — heraus geboren ist, Wezel hier also die Gefahren eines schwärmerischen Idealismus satirisch-übertreibend ausbreitet, bestätigt der Erzähler zuletzt ganz explizit, wenn es lakonisch heißt: »So war nach vielfältigen, meistens selbsterregten Leiden Belphegor i n Ruhe.« (B 422) Der ganze Roman hatte zuvor den epischen Aufweis der psychologischen Zusammengehörigkeit von Erwartung und erlebter Realität i m Sinne einer der Schwärmerei komplementär zugeordneten Misanthropie gegeben. Der Mensch, den Belphegor ausgezogen war kennenzulernen, stellt sich seiner Erwartung planmäßig als »Unmensch« dar. Z u m »Ungeheuer« (B 72) erklärt Belphegor Akante anfänglich ob ihrer Treulosigkeit; die erlebten Abenteuer werden blutig, und »der Mensch — ist das ärgste Ungeheuer der Hölle«. (B 117) I n Belphegors Urteilen untrennbar vereint sind moralische N o r m und deren reale Nichterfüllung: »Welch Unthier ist der Mensch!« Immergleicher Maßstab all seiner Urteile ist »der Mensch, dies empfindende, denkende, mitleidige Thier, wie ich mir ihn sonst abmahlte.« (B 65) Die Wirklichkeit bringt nichts als »Raubtiere« hervor. Vermag sich Fromal mit seiner Philosophie dieser neuen Erfahrung anzupassen, indem er seine ursprünglichen »Begriffe« v o m Menschen ins Gegenteil verkehrt, so hält Belphegor beharrlich an dem aus der Illusion geborenen Ideal fest; was der Verfasser eingangs als »außerordentlichen Widerspruch« in Belphegors Leben angekündigt hatte, w i r d Belphegor zum Anlaß fortgesetzter Unruhe. »Welch ein Kontrast! M i r springt das Herz, wenn ich ihn denke: ich hätte Lust, ein Rebell wider Natur und Schicksal zu werden.« (B 216) Tatsächlich ist ja Belphegors ganze Existenz eine Anklage gegen die Natur, bzw. ihren Schöpfer; »und wie unglücklich, ein Rebell gegen den Schöpfer zu seyn!« — lautet Wezeis philanthropisches Urteil zu diesem Dilemma. 3 9 Ist dem Erzähler auch daran gelegen, den Titelhelden »unglücklich! höchstunglücklich!« (B 149) zu zeigen, so wahrt er doch durchgängig ironische Distanz zu seinem ridikülen Rebellen, der »zürnte, daß die Natur nicht I H N u m Rath 38
Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1778 (Leipzig, 1778), S. 94.
39
Wezel, »Welche Seite der Welt soll man jungen Leuten zeigen?« (s. A n m . 33),
S. 56.
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gefragt hatte, als sie eine Welt schaffen wollte.« (B 403) Es muß nur an das bei Haller entlehnte M o t t o — zugleich die Kernaussage — v o n Wezeis Versuch über die Kenntniß des Menschen erinnert werden, u m die Absurdität des Belphegorschen Ansinnens zu erkennen: »Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist, Z u glücklich, wem sie noch die äußre Schale weist.« So wenig der Mensch alter deus , vielmehr »erschaffner Geist« ist, so wenig kann Belphegors radikaler weit- und menschenverbessernder Eifer fruchten, dem jegliche Einsicht i n die Natur der Dinge fehlt. E i n satirisches Exempel seiner diesbezüglichen gänzlichen Unkenntnis gibt jene abenteuerliche Episode des Romans, i n der er zur Herrschaft über einen afrikanischen Zwergstaat gelangt. »Durch Einen mächtigen Zauberschlag sollten seine afrikanischen Thiere in europäische Menschen verwandelt seyn: sie lehnten sich gegen seine schnelle Umschaffung auf, blieben, was sie waren, und ihr Regent ward misvergnügt, überdrüßig, an ihrer Polirung zu arbeiten.« (B 200 f.) Es entspricht dem Gang der Natur, »die niemals einen Sprung thut, sondern in allen ihren Anstalten v o n Stufe zu Stufe fortschreitet [ . . . ] « ( V I , 185), daß der Enthusiast hier scheitert, und es ist nur konsequent, daß dem Schwärmer Belphegor, der i n seinen Begriffen verfangen ist, auch die rechte, nämlich empirische Kenntnis der Natur abgeht. Wie unkundig Belphegor selbst seiner eigenen Natur ist, demonstriert dieselbe Episode. Erwartungsgemäß prophezeit Belphegor für seine eigene Regentschaft die Geltung v o n Recht, Gesetz und Freiheit, die ja seine leitenden Ideale sind; ebenso erwartungsgemäß stellt ihm der Fatalist Fromal sein moralisches Scheitern in Aussicht. Energisch bestreitet Belphegor, »so viel ich mich kenne« (B 162), die unmoralische Perspektive, die ihn doch binnen kurzem einholt: Neid und schließlich ungerechter K r i e g beenden seine kurze Regentschaft. Belphegors anschließende reuevolle Selbstzerknirschung bestätigt nur seine Unfähigkeit, auf moralische Dogmatik zu verzichten: »ich bin der Neidische, der Habsüchtige, der Unterdrücker gewesen.« (B 213) Der Vorgang wiederholt sich bei seinem zweiten Herrscher-Intermezzo, diesmal an der Seite von Medardus: »Genug, der weise Moralist wurde zum Unterdrücker.« (B 254) Auch an sich selbst erfährt Belphegor also die moralische Antithese, die den gesamten Roman durchwaltet, und das damit verbundene Problem erwächst ihm zum »unauflöslichen Räzel« (B 262). »Wie man so vortreflich und so schlecht zu gleicher Zeit handeln, zu gleicher Zeit so gutdenkend und ein Räuber seyn könne« (B 262) — so lautet das Rätsel anläßlich der Begegnung mit einem grausam-edlen Räuber. Das Rätsel ist das der ambivalenten menschlichen Natur selbst, die, empirisch betrachtet, das Schema der begrifflichen Antithesen Belphegors — »Engel«-»Wolf«, »Paradies«-»Mördergrube« — sprengt. Dies wunderbare K o m p o s i t u m , das w i r Menschen nennen, ist i m einzelnen und i m Ganzen ein wahrer J A N U S , eine Kreatur mit zwey Gesichtern, eins abscheulich, das
Ein verkannter Aufklärer: Johann Karl Wezel
109
andre schön — eine Kreatur, bey deren Zusammensetzung ihr Urheber muß haben beweisen wollen, daß er die streitendsten Elemente vereinigen, Geselligkeit
und
Ungeselligkeit verknüpfen und auch ein Etwas formen kann, dessen Masse aus lauter Widersprüchen bereitet ist und durch diese Widersprüche besteht. (B 10) V e r g e g e n w ä r t i g t m a n sich, w i e w e i t d e r S c h w ä r m e r B e l p h e g o r diese — ernstzunehmende —
E i n s i c h t seines A u t o r s v e r f e h l t ,
so w i r d das
seines I r r t u m s d e u t l i c h , der z u g l e i c h m e n s c h l i c h e s G l ü c k u n d unterbindet.
Z e i g t s i c h der Verfasser
W e z e l an anderer
Zufriedenheit
Stelle als
A d v o k a t der N a t u r , » w e n n m a n sie b e s c h u l d i g t , daß sie uns z u b e s t i m m t e « 4 0 , so ist seinem B e l p h e g o r als e w i g e m A n k l ä g e r i n g l e i c h e n d e m fatalistischen F r o m a l —
das Schicksal eines
sehr
Ausmaß strenger
Schmerzen
der N a t u r
—
Melancholikers
u n d M i s a n t h r o p e n beschert. E r k e n n t d e r A u t o r W e z e l i n d e n G r u n d t r i e b e n d e r m e n s c h l i c h e n N a t u r , N e i d u n d V o r z u g s s u c h t , die » U r h e b e r alles G u t e n u n d Bösen« ( B 8), so s i n d B e l p h e g o r u n d F r o m a l v e r u r t e i l t , das einseitige D i l e m m a v o n N e i d u n d V o r z u g s s u c h t z u b e k l a g e n , das i n d i e m i s a n t h r o p i s c h e conclusio m ü n d e t : » w i r w o l l e n uns v o n u n s e r m G e s c h l e c h t e t r e n n e n , nicht
ein
neidischer
Anfall
von
ihnen
unsre
Glückseligkeit
damit
unterbricht.«
( Β 4 4 0 ) 4 1 Es ist s c h l i e ß l i c h F r o m a l , als einziges i n d i e s e m R o m a n m i t
der
F ä h i g k e i t z u r R e f l e x i o n begabtes G e s c h ö p f , d e r aus d e r F i k t i o n h e r a u s t r i t t u n d e i n e n abschließenden F i n g e r z e i g g i b t , i n d e m sich d i e p e r s p e k t i v i s c h e B e d i n g t h e i t der g a n z e n R o m a n w i r k l i c h k e i t m a n i f e s t i e r t : Wer die Erde zum Garten, zur Heimath der Glückseligkeit macht, ist ein Schwärmer oder ein Unwissender; wer sie als eine Wüste, ein Jammerthal schildert, ist ein Milzsüchtiger oder ein Bösewicht. Sie ist ein M i t t e l zwischen beiden, ein what d'ye call ist —
(Belphegor:) Das aber doch bisweilen mehr der letztern
Schilderung
gleicht. — (Fromal:) Ja, es scheint, besonders wenn man den Lauf der vergangnen Begebenheiten i m Ganzen überschaut: aber merke auch, daß die Geschichte derselben
40 »Thut man also der Natur nicht Unrecht, wenn man sie beschuldigt, daß sie uns zu Schmerzen bestimmte? Sie baute den Menschen dauerhaft genug und theilte i h m das große Talent mit, daß er sich an alles gewöhnen kann: sie konnte freilich nicht hindern, daß es unter so vielen Millionen Menschen nicht einige Unglückliche gab, die ihr sieches Leben in beständigen unangenehmen Empfindungen hinbringen müssen, oder daß manche Körper äußerst zart und für jeden äußern Eindruck zu empfindlich wurden; allein ihre Anzahl ist unstreitig nicht die größte unter dem menschlichen Geschlechte.« ( V I I , 158) Wider alles Vermuten — legt man das tradierte Wezel-Bild zugrunde — erweist sich Wezel als Apologet einer zu Unrecht angegriffenen Schöpfer-Natur und erklärter Pangloß naturwissenschaftlicher Provenienz. V g l . auch die längere Fassung der Vorrede des 2. ^ » / - B a n d e s , in: T K I V , Anhang S. 57 f. 41 Daß es Wezel mit der positiven Seite der eigennützigen Antriebe menschlichen Verhaltens ernst ist, dokumentiert bündig und schon i m Titel sein Aufsatz »Noch eine Apologie des Ehrtriebes«, der die moralische Ambivalenz dieses Antriebs betont. Erschienen in: Pädagogische Unterhandlungen (s. A n m . 33), S. 68-101.
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ein gedungnes v o l l gruppirtes Gemälde ist, w o zwischen den armseligen Spitzbübereyen und Mördereyen etwas heitre Intervalle waren. (B 442)
Belphegor könnte auch den Untertitel »die Gefahren der Schwärmerei« tragen; als »gedungnes«, nämlich in den Dienst der Satire genommenes Gemälde zeichnet der Roman das Zerrbild gleich mehrerer mit der Realität konfrontierter Idealismen, verkörpert in einer enthusiastischen, einer rationalen und einer dummgläubigen Variante. Neid und Vorzugssucht, v o m Verfasser als vitale Agenzien menschlichen Lebens gewürdigt, entarten zum ausweglosen Dilemma vermeintlicher Unmenschlichkeit erst bei Betrachtung durch die »moralische Brille«. Die »Herren Moralisten« 4 2 und ihre »Beschwerde über unsre gegenwärtigen Zeiten« (KS I, 21) sind es, denen i n Belphegor der satirische Spiegel vorgehalten wird. Ihre Strafe ist gleich eine doppelte, sind sie doch verurteilt zu ewigem Mißvergnügen ob des Widerspruchs zwischen Ideal und Wirklichkeit. Zugleich werden sie Opfer der »strafenden Satire« Wezeis, die der Anmaßung des moralischen Dogmas das Zerrbild seiner misanthropischen Folgen ausmalt. Daß die Satire unscharf wird, verdankt sie nicht zuletzt der Ausfaltung in drei Spielarten des Idealismus; daß gleichwohl eine echte Satire vorliegt, bekräftigt die gewählte Romanform ebenso wie der durchwegs komische Erzählton. Hierzu zählen die zahlreichen Fiktionsbrüche sowie — als »eins der vorzüglichsten Hülfsmittel« komischer Dichtkunst ( V I, 160) — das Prinzip des Kontras ts. I m Wider spiel von Erwartung und Realität — zu gegenläufigen Extremen gesteigert — kündigt bereits die Vorrede die kontrastive Grundstruktur des Romans an. A u f die komisch verfremdete Zuspitzung der A n t i these von erwartetem Paradies und erlebtem Jammertal sind Erzähldramaturgie und Reaktionen der Akteure abgestimmt; Personal und Ereignisse sind aufs moralische Thema reduziert. Bevölkert ist die Belphegor-Welt v o n namenlosen Räubern, Mördern und Barbaren i m Dienst der moralischen Antithese: »Beweise der Unmenschlichkeit genug, aber keinen Menschen.« (B 270) Derart reduziert, gelangen die Mitspieler kaum auch nur zu körperlicher Konsistenz. Der Physis der Protagonisten bedient sich der Erzähler lediglich, u m Beweise der Unmenschlichkeit an ihnen zu demonstrieren, die indes nicht als körperlicher Schmerz, sondern als »Scene i m Kopf« erlitten werden und die temperamentsbedingt divergierenden Reaktionen spiegeln. Solch kurzfristige Fleischwerdung — v o n Organizität weit entfernt — ist poetische Funktion der jeweiligen physiologisch-geistigen Physiognomie; nur so kann zuletzt der Invalide Belphegor, der schon auf halber Erzählstrecke zu »krüplicht« war, u m
42 Wezel, »Silvans Bibliothek oder die gelehrten Abenteuer«, in: J. K . Wezel, Satirische Erzählungen (Berlin, 1983), S. 62.
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auf dem Sklavenmarkt einen Käufer zu finden, enthusiastisch zu neuen Heldentaten aufbrechen, wogegen der minder lädierte Medardus i m T o d seine abschließende Ruhe findet. Nicht nur Typen von wenig ausdifferenzierter Individualität stellen die Akteure vor, sondern alters- und fleischlose Artefakte, deren Leidensauftrag das französische V o r b i l d des Candide weit übertrifft. Gefährten des Unglücks sind Belphegor und seine Freunde nicht nur i m Übermaß widriger Erlebnisse, sondern i m Geist des ironisch-distanzierten Erzählers. Der lässigen, routinierten Unmoral seiner mit dem Raubprinzip vertrauten Mitmenschen steht Belphegor mit immer gleich entrüsteter Emphase gegenüber: »Man lächelte; Belphegor glühte.« (B 25) Ins Karikaturistische streben bereits die drastisch übertriebenen und unzeitgemäßen schmerzlichen Erlebnisse, v o m bühnenkomisch wirksamen Fußtritt bis zur selbsterlittenen Barbarei des Kannibalismus. Nicht nur bei seinen poetischen Mitgeschöpfen begegnet dem Enthusiasten das Lächeln der Wissenden, sondern v o r allem auf selten des Erzählers. Die eingenommene Erzählperspektive ist variabel; sie changiert zwischen scheinernstem Einlassen auf die Sicht Belphegors — etwa i m »Tauben«-Erlebnis — , ironisch-distanzierten Kommentaren zu Belphegors ständig neu angestimmtem »Kummer«- und »Klagelied« (vgl. Β 314, 381) und Seufzer Variationen, und schließlich un verhüllt-wertenden Kommentaren. I n satirischem Kontrasteffekt wird, was Belphegor mit hellem deklamatorischem Strafeifer als Unglücksgeschehen und Ungerechtigkeit beklagt, v o n einem vergnügt-distanzierten, keineswegs verbitterten Erzähler als »Komödie« (B 208, 305) dargeboten. Die eigennützigen Motive der Mitspieler, deren Entdeckung Belphegor in nimmermüden Zorn, Fromal immerhin i n bittere Laune versetzt, deckt der Erzähler mit der Heiterkeit des Kundigen auf, der u m die menschlichen Egoismen weiß. Seine komische W i r k u n g verfehlt dieser Erzählton schwerlich; die elementarsten poetischen Möglichkeiten ignoriert, wer zugunsten des Tränenreichtums der Akteure die zahlreichen Kunstgriffe des Autors übersieht, die erzählten Begebenheiten — Neidmechanismen und aufgestörten Idealismus — auf der lächerlichen Seite vorzuführen. M i t den zur Klagepose geronnenen Gefühlen des Protagonisten nicht zu verwechseln ist die von Wezel intendierte poetische Wirkung, die alles andere als das Übergreifen v o n »Betroffenheit und Empörung« Belphegors auf den Leser anstrebt. 43 Lachen und Weinen ist an sich weder komisch noch tragisch, es ist bey den handelnden Personen nur Mittel, einen komischen oder tragischen Effekt auf den Zuschauer zu thun. [ . . . ] Die handelnden Personen können w o h l i m Trauerspiel lachen und i m Lustspiel weinen, aber der Zuschauer soll gerade das Gegentheil thun. (KS I , 129)
« V g l . Schönert (s. A n m . 7), S. 196.
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Isabel Knautz
Z u solcher Gegenläufigkeit v o n Gegenstand und W i r k u n g verbinden sich die Erlebnisse, v o m Erzähler sprachironisch durchheitert und ihres Greueleffekts beraubt, in der allzeit karikierten Klageperspektive des Titelhelden; bleiben die Torturen und Blutbäder dank der begrifflichen, hyperbolischen Erzählsprache und ironisch verfremdender Einsprengsel geruchfrei, so gelangen die Helden vermittels ihrer reduzierten Organizität zur poetischen Wirksamkeit komischer Marionetten. So kommt es zu einer rundum verlachten Erzählwelt, die tatsächlich weder implizit noch explizit jenen Gegenentwurf aufscheinen läßt, der erst den Moralsatiriker ins Recht setzt. Die zeitgenössische Leserschaft des Belphegor war immerhin hellhörig genug, diesem Roman, in dem sich Witz und Ironie des Erzählers auf Kosten der satirischen Zielschärfe verselbständigt haben, eine berechtigte Absage zu erteilen. Fast schon höhere Ironie liegt in der Rezeptionsgeschichte, wenn das Ärgernis Belphegor, von den Zeitgenossen empfindlich zurückgewiesen, der gegenwärtigen Germanistik gerade in Verkennung der satirischen Intention zu modernistischen Forscherfreuden an der gemutmaßten nihilistischen Absicht des Romans verhilft. 4 4
Herrmann
und Ulrike
Herrmann und Ulrike, 1780 erschienen, wurde von Wieland als bester deutscher Roman gelobt. 4 5 Ungleich klarer als i m Belphegor liegt die Absicht des Verfassers zutage, »ein Beispiel großer, edler, aufstrebender Tätigkeit« zu geben, »wie sie jeder Jüngling nachahmen kann«. (R 8) Als Erziehungsroman i m doppelten Sinne, mit Blick auf Titelheld und Leser, erfüllt Herrmann und Ulrike die i n der Vorrede aufgestellten Kriterien der »bürgerlichen Epopee«; »auf der einen Seite der Biographie und auf der andern dem Lustspiele« angenähert ( H U I , I I ) , entsteht ein »komischer Roman« (Untertitel), der — i m Sinne der Maßgabe Blanckenburgs — einem »möglichen Menschen der wirklichen
44 I n der Forschung existiert, soweit ich sehe, nur eine i f o ^ g ö r - I n t e r p r e t a t i o n , die das komplementär sich bedingende Verhältnis v o n Vorstellungsarten der Figuren und erzählter Realität klar erkennt. Sie steht i m Rahmen v o n T h i l o Joergers Wezel-Arbeit Roman und Emanzipation (Stuttgart, 1981). Joerger schreibt zum Belphegor. »Es ist die Absicht des Romans, zu zeigen, w o h i n idealistische Verfälschungen des Weltbildes führen können. Es ist logisch und konsequent, wenn die einseitige Darstellung durch eine ebenso einseitige Gegendarstellung entlarvt wird.« (S. 154) Joerger bleibt jedoch dem Bild des mißmutigen Gesellschaftskritikers Wezel verpflichtet und verkennt Witz und Aufgabe dieser launigen Schwärmersatire, wenn er, Belphegor mit Tobias Knaut vergleichend, konstatiert: »Wezeis T o n ist noch bitterer geworden.« (S. 147). 45 Nach Gustav Kreymborg, Johann Karl Münster, 1913), S. 105.
We^el. Sein Leben und seine Schriften
(Diss.
Ein verkannter Aufklärer: Johann Karl Wezel
113
W e l t « 4 6 zu erzähltem Leben verhilft. Wieder klingt die Abwehr des Barockromans nach, wenn Wezel für den Titelhelden verspricht, er sei »ohne die mindeste idealische Vollkommenheit« (R 8); sein Lebensweg soll ihn »durch eine Reihe von wahrscheinlichen Begebenheiten ohne alle Abenteuerlichkeit« hindurchführen (R 8 f.). Schon diese von Wezel gegebene Verlaufsskizze signalisiert, daß Herr mann und Ulrike dem Belphegor diametral entgegensteht; die genauere Interpretation kann erweisen, daß sich die beiden Romane wie Positiv und Negativ desselben Weltbildes zueinander verhalten, also einander komplementär zugehören. Allgemein findet Herr mann und Ulrike i m Urteil der neueren Forschung seinen Platz als Entwicklungsroman zwischen Agathon und Wilhelm Meister 41, teilweise unter der Perspektive der Emanzipation des — von Herrmann repräsentierten — »Bürgerlichen«. 48 Gleicherweise übereinstimmend herrscht Verlegenheit über den harmonisierenden Schluß des Romans, der nicht nur der Bildung des Helden ein zeitiges Ende setzt, sondern zudem aus dem Handlungsverlauf schwerlich hervorzugehen scheint: Handlungsführung und Romanschluß, so w i r d man demnach sagen müssen, orientieren sich an zwei verschiedenen Romantypen. Während jener das alte Schema der Donquijoterie zugrundeliegt, baut dieser [ . . . ]
auf dem moderneren Prinzip des
Entwicklungsromans auf, und der Fehlschluß Wezeis liegt offenbar i n der Annahme, daß eine Reihe v o n Desillusionierungen bereits eine E n t w i c k l u n g ergeben könnte. 4 9
Daß die Grundstruktur des Handlungsverlaufs v o n H err mann und Ulrike dem Prinzip der »Desillusionierung« folgt, bestätigt Wezeis Maßgabe, der Held solle auf seinem Weg stolpern, gar fallen und »sich wieder emporreißen, mit Leidenschaft, Phantasie, Menschen und Schicksal kämpfen [ . . . ]«, bevor er »mit unerschütterlichem Ausharren« am Ziel »nützliche[r] Geschäftigkeit« anlange. (R 8 f.) Schon hier klingt an, daß der Kursus des Helden den Rang
46
Friedrich v o n Blanckenburg, Versuch über den Roman. Nachdruck der Ausgabe v o n 1774 (Stuttgart, 1965), S. 257. 47 V g l . K u r t Adel, Johann Karl We^el: Ein Beitrag %ur Geistesgeschichte der Goethe^eit (Wien, 1968), S. 108; Günther Weydt, »Der deutsche Roman v o n der Renaissance bis zu Goethes Tod«, in: Deutsche Philologie im Aufriß, hrsg. v o n Wolfgang Stammler, Bd. I I , 2., Überarb. Aufl. (Berlin, 1960), Sp. 1292f.; T h u m (s. A n m . 26), S. 222; Phillip Scott M c K n i g h t , The Novels of Johann Carl We%el: Satire, Realism and Social Criticism in Late 18th Century Literature ( A n n A r b o u r / L o n d o n , 1979), s. 351; Voßkamp, »Johann Carl Wezel« (s. A n m . 3), S. 588. 48 Gerhard Steiner, »Zerstörung einer Legende oder Das wirkliche Leben des Johann K a r l Wezel«, in: Sinn und Form, 31 (1979), S. 703. 49 Burghard Dedner, »Wezeis Herrmann und Ulrike-. Idealbilder, Kontraste und die fragwürdige Realität«, in: B. Dedner, Topos, Ideal und Realitätspostulat. Studien %ur Darstellung des Landlebens im Roman des 18. Jahrhunderts (Tübingen, 1969), S. 151.
8 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
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einer durch »Ausharren« definierten Bewährung gewinnt; für die Deutung des Romans ist es richtungweisend, das alte Grundmuster der Bewährungs- oder Prüfungsstruktur zu erkennen, das nicht nur den Handlungsverlauf, sondern auch das schließliche Entwicklungsziel des Helden i n befremdlicher Weise prägt. A n die 1500 Seiten zu kurz greift mit seiner Verwunderung, wer mit Blick auf den harmonisierenden Schluß des Romans ein »politische [s] Märchen« 50 konstatieren muß; dies Märchen beginnt bereits i m ersten Buch. K a u m auf der Bildfläche erschienen, spricht das sechsjährige, altkluge Rokokokind Heinrich Herrmann »voll edlen Bewußtseins« die »stolzen« Worte: »ich bleibe dennoch, wer ich bin.« ( H U I, 26) Der Seelenadel des Kindes hat sich zuvor in einer gespielten Szene bewährt, nicht ohne gesellschaftliches Aufsehen zu erregen. Herrmann hatte die Gunst erhalten, den gräflichen Kammerdiener als Richter über die Stadtjugend bei einem sonntäglichen Spiel zu vertreten; beträchtlichen Unwillen ruft die »neue Weisheit des Richters« Heinrich hervor, der als »Knabe klüger seyn wollte« als der alte Kammerdiener. ( H U I , 26) Die Szene, so realistisch sie motiviert und i n den Geschehensablauf integriert ist, hat ihre poetische Funktion in der symbolischen Vorausdeutung auf den Romanschluß; dort wiederholt sich mit dem Rang einer »großen Staatsveränderung« ( H U I V , 347) die Aufnahme des jungen politischen Reformers Herrmann i n den Dienst des Fürsten. Das gesamte zwischenzeitliche Romangeschehen, die zahlreichen Unglücksfalle positiv eingeschlossen, verbindet sich zur poetischen Intention, den Helden seiner Bestimmung zuzuführen, die i n dessen kindlich-naivem »ich bleibe dennoch, wer ich bin« gleichsam providentiell geborgen liegt. Als »Bildungsgang« weist der Erzähler den Lebensweg seines Helden wiederholt aus; an keinem Punkt dieses Weges aber erwacht in Herrmann der Wunsch, »mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden«. 51 Seine Ausbildung ist v o m A u t o r i m Namen eines »guten Schicksals« inszeniert und w i r d v o n ihm — i m doppelten Wortsinn — erlitten. Die Deutung seines Entwicklungsganges w i r d vor allem nach der aktiven Teilhabe des Helden an seinem »Schicksal« und nach dem zugrundeliegenden Bildungsbegriff zu fragen haben. Die nichtadelige Ausgangsposition des bürgerlichen Helden schafft die Spannung, die seine Vita von den kindlichen Anfängen bis zum schließlichen Ziel familiären und gesellschaftlichen Glücks antreibt und trägt. Kindliche Verliebtheit weckt den Ehrgeiz Heinrich Herrmanns, die Hand der u m ein Jahr älteren Baronesse Ulrike zu gewinnen; »Eine That [ . . .], die meine Geburt auslöscht« ( H U I I , 237), strebt der ehrgeizige Heinrich durch den 50 51
Voßkamp, Besprechung (s. A n m . 8), S. 592.
Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: J. W . Goethe, Werke, Hg. Erich Trunz, Bd. 7, München 1977, S. 290.
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ganzen Roman hindurch an, u m Ulrike zu erlangen. I m gleichen Maße, wie sich sein Ehrgeiz gerade i m Dienst der Liebe zu Ulrike anspannt, w i r d er herausgefordert. Proportional mit Heinrichs aktivem Bemühen u m Ulrike, an deren »Bestimmung« für Heinrich — ihrem eigenen Bewußtsein zufolge — kein Zweifel besteht, wachsen die äußeren Widerstände gegen die Verbindung. Was i m barocken Staatsroman Stürme, Räuber und andere Unwahrscheinlichkeiten besorgen mußten, die Trennung des füreinander bestimmten Paares — Heinrich und Ulrike tauschen bereits als Kinder die Ringe — , versucht Wezel durch den Standesunterschied glaubhaft zu motivieren: die ganze Welt — i m realistischen, eng bemessenen Lebensraum der Helden — stellt sich der unstandesgemäßen Verbindung entgegen. So entsteht eine über vier Bände ausgedehnte Lektion des Leidens für den Titelhelden, der eine fast übermenschlich zu nennende Probe des Ausharrens gibt. Der philosophische Rat seines Lehrers Schwinger gewinnt den Rang eines Lebensmottos: »Durch Standhaftigkeit allein kannst du deine schadenfrohen Feinde demütigen; laß dir nicht Eine Klage über dein Schicksal entwischen! Leide und freue dich ihnen zum Trotze über deine Leiden!« ( H U I , 388) Es ist Eigenart der Heinrich zugedachten Prüfungen, daß sie ihn in ein beständiges Wechselspiel v o n Erwartung und Enttäuschung, Hoffnung und Verzweiflung versetzen; den psychologischen Vorgang deckt der A u t o r i n zahlreichen Reflexionen, Monologen und Selbstbesinnungen des Helden auf. Das heimtückische Spiel, das der Erzähler mit seinem Helden treibt, kann nicht einfach als Desillusionierung eines Schwärmers, etwa Agathon vergleichbar, gelesen werden. Die Enttäuschungen Heinrichs gelten nicht einem philanthropischen Idealismus des Weltunkundigen, sondern dessen persönlichen Ambitionen auf Ehre, Größe und privates Glück mit Ulrike. I n immer neuen Anläufen, von seiner Einbildungskraft zugleich beflügelt und lächerlich irregeführt, verfolgt Heinrich das einmal gefaßte Ziel, seine eigentliche persönliche Leistung liegt i n der durch Mißerfolge noch gesteigerten Beharrlichkeit, mit der er die regelmäßig auf jede Enttäuschung folgenden melancholischen Anfälle überwindet und zur Maxime zurückfindet: »Aber ich muß meinem Schicksal entgegenarbeiten.« ( H U I I , 127) Einen besonderen Rang unter Heinrichs zahlreichen Enttäuschungen nimmt — gerade i m Hinblick auf den Belphegor — die Episode seiner Bekanntschaft mit dem pietistischen Prediger Wilibald ein. V o m Erzähler vor den Augen des Lesers bereits bei seinem ersten Auftreten als Heuchler entlarvt, gewinnt der Pietist Heinrichs Vertrauen und lenkt dessen »Ehrbegierde« ( H U I I , 234) auf ein konkretes Projekt. Der gewitzte Wilibald stellt Herrmann Jahrtausende währenden Ruhm in Aussicht. »Herrmann: Und welches ist diese große, herrliche, einzige That? Wilibald: W i r wollen die Berliner bekehren. — Herrmann stuzte und schwieg.« ( H U I I , 239) Wilibald zerstreut letzte Zweifel 8*
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bei Heinrich, die beiden Bekehrer brechen mit neuen Namen in Richtung Berlin auf — Herrmann heißt nunmehr Bonifacius; die Reise endet i m nächsten Dorf, w o Wilibald Herrmann bestiehlt und verschwindet. Heinrichs Enttäuschung gleicht einem Sturz aus dem »Vorzimmer des Himmels [ . . . ] in die dürftigste, kahlste, menschenloseste Heide nach Ißland.« ( H U I I , 266) Der »in seiner Einbildung so aufgeschwollne und stolze« Herrmann erwacht aus einem »Traum«, der »Horizont seiner Gedanken« schrumpft »izt in ein enges elendes Stübchen« ( H U I I , 267) zusammen. Das skizzierte Erlebnis verrät des Erzählers auffallendes didaktisches Interesse mit Blick auf den Leser. Daß Heinrichs Unternehmen ein Irrlauf zu werden verspricht, steht bereits in der Physiognomie des heuchlerischen Pietisten geschrieben. »Die Natur hatte ihn mit einem Gesichte gebrandmahlt, das mit so belehrender Deutlichkeit, als ein eingebrannter Galgen, vor i h m hätte warnen sollen.« ( H U I I , 212) Der Pietist spielt eine perfekte misanthropische Pantomime vor. Seine Reden, selbst sein Aussehen — »Seht mich nicht an, daß ich so schwarz bin; denn die Sonne hat mich verbrannt« ( H U I I , 214) — sind offensichtliche Montagen zeitgenössischer misanthropischer M o t i v e und Gemeinplätze. Hierzu zählen sein stereotypes: »die Welt liegt i m Argen: es ist alles eitel. Entsagen Sie der Welt?« ( H U I I , 217), seine Berufung auf Augustinus, den Schutzpatron aller christlichen Misanthropen aus aufklärerischer Sicht, und seine gespenstische Schilderung des angeblichen Sündenpfuhls Berlin. Seiner »fanatische[n] Ruhmsucht« ( H U I I , 249) verdankt Herrmann die anfängliche Bereitschaft für das unsinnige Bekehrungsprojekt; auch i m weiteren ist er »von Fanatismus und Brantewein zu sehr berauscht« ( H U I I , 258), u m die Widersprüche zwischen Wilibalds frömmlerischem Geschwätz und seiner ekelerregenden Behausung, Trinklust und den aufdringlichen »Besuche[n] v o n Weibspersonen« ( H U I I , 258) zu beargwöhnen. Begeistert und immer betrunken (vgl. H U I I , 260) zieht Herrmann mit dem neuen Namen Bonifacius gen Berlin, bis seine »kranke Einbildung« ( H U I I , 261) ernüchtert wird. I m Zusammenspiel v o n Heinrichs seelischer Disposition — Fanatismus, Begeisterung, Rausch — und Wilibalds verlogenem Weltverbesserungsprojekt führt der Erzähler demonstrativ den Kausalzusammenhang der Misanthropie vor. Nahezu alle Motive der mißglückten Unternehmung sind dem Leser des Belphegor bereits vertraut: der — nur i n Gedanken — projektierende Pietist, der Namenswechsel beim Aufbruch zur großen Donquijoterie, der aus maßloser innerer Unzufriedenheit, nur vermeintlicher Menschenliebe geborene Weltverbesserungseifer, die krankhaft hypertrophierte Einbildungskraft und das Erwachen aus dem Traum, der Sturz aus dem »Vorzimmer des Himmels«, mit dem Belphegors Leidensgeschichte beginnt. Was der allzeit zürnende Belphegor nur ex negativo gelehrt hatte, führt Herrmann beispielhaft zur Nachah-
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mung vor: »Sein Z o r n über diese Bosheit brannte freilich in großen Flammen empor: aber was half Zorn? — Er sähe das ein, zog sich allgemach an und gieng hinunter zum Wirthe.« ( H U I I , 268) Nach weiteren enttäuschenden Erlebnissen, insbesondere der — intrigant beförderten — Verführung Ulrikes, steigern sich Herrmanns innere Unzufriedenheit und Selbstzerknirschung bis zu Selbstmordgedanken. Zugleich dämmert ihm, was es auf der unfreiwilligen Bildungsreise zu lernen galt: Ist es möglich? fieng er endlich m i t gerungnen Händen an: also ist leben w i r k l i c h eine so schwere Kunst als mir Schwinger oft sagte? Unter einer solchen Last v o n Unglück den A t h e m nicht zu verlieren, das erfodert Riesenstärke. — Aber wenn doch leben unser Beruf auf der Erde ist, warum muß dieser Beruf so sauer seyn?
Die Frage, »in einer der finstersten Launen« ( H U I I I , 327) gestellt, eröffnet das alte Belphegor-Thema. Der »fürchterliche Gedanke des Selbstmords« verfolgt ihn »wie eine Furie« ( H U I I I , 332); Herrmann ist nach Kräften bemüht, das »Gespenst« abzuschütteln und w i l l soeben zu einem Ablenkungsspaziergang aufbrechen, als ihn sein neuer Freund, Pommer und Repräsentant der Medardusschen Philosophie, besucht. Wieder fügt sich, nachdem der innere Widerstand geleistet ist, die Realität gleichsam v o n selbst dem Bedürfnis Herrmanns. Der Pommer, ein Muster an Selbstgenügsamkeit und Gemütsruhe, erklärt auf Herrmanns Frage, ob er niemals Unruhe verspüre: »In Pommern nicht; aber hier! [. . . ] Wenn mirs denn so gar zu bange wird, so pfeif ich: da vergehts.« ( H U I I I , 334) Unvermerkt, v o n Herrmann kaum durchschaut, gerät sein Gespräch mit dem Pommer zum Bildungserlebnis ersten Ranges: Herrmann wurde durch die genügsame zufriedne Philosophie des Burschen beschämt: er tadelte sich, daß ein so tummes Geschöpf mehr Standhaftigkeit haben sollte, das Unglück zu ertragen, als er, und fand in der A n m e r k u n g des Schäfers >man w i r d das Unglück gewohnt< einen Schatz v o n Weisheit, die ihn weder der Umgang m i t seinen gelehrten Freunden, noch sein eignes v o n der Leidenschaft bestochnes Nachdenken so anschauend gelehrt hätte. ( H U I I I , 340)
Auch diese Lektion hat ihren fruchtbaren G r u n d i n Herrmanns latentem Stolz: Der nämliche Stolz, der i h m den Mangel an Gelde als einen unerträglichen Schandfleck vorstellte, mahlte i h m nunmehr den Mangel an Standhaftigkeit und die Verzagtheit i m Unglücke als einen noch größern Schandfleck ab. ( H U I I I , 340 f.)
Die Philosophie der Zufriedenheit und Standhaftigkeit i m Unglück, die Herrmann zu lernen bestimmt ist, stellt die positive Entsprechung zur ewigen Unzufriedenheit seines Gegenbildes Belphegor dar; hatte diesen seine Misanthropie i n steten Widerspruch zur menschlichen Gesellschaft gesetzt, so findet Herrmann schließlich seinen Platz i m Dienst der Gesellschaft.
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Der bürgerliche Held, den natürlicher Charakter und »Schicksal« zu seinem Stand i n Widerspruch setzen, gibt das paradoxe Beispiel des Erstrebens i m Verzicht. War er aufgebrochen in dem Glauben, »daß man auf unserm Planeten nur wollen dürfte, um zu finden« ( H U I, 362), bleiben i n der Folge alle Wünsche und Projekte unerfüllt; jede Enttäuschung hält das Maß der v o n Temperament und Phantasie beflügelten Erwartung, wodurch die ungefüge widrige Realität dem Bewußtsein als Kette persönlicher Unglücksfälle erscheint. Immer tanzt das Glück, wie ein Irrlicht, v o r den Schritten her, und je hurtiger man nachläuft, je weiter stößt man es m i t seinem eignen Odem fort. Es ist wahrhaftig schwer, über so ein zauderndes Schicksal nicht zu zürnen: wenn man eine Glückseligkeit doch gewiß einmal haben soll, warum bekommt man sie nicht gleich, w o man sie am liebsten hätte? ( H U I I I , 247 f.)
Soll die freudige Erwartung auch nicht nachlassen — Herrmann ist allzeit auf der Suche nach seiner Bestimmung — , kann sein Glück doch nur aus der Bereitschaft zum Entsagen erwachsen; Herrmanns aufstrebende Energien lehren, gerade indem sie ihn vielfältig zu Fall bringen, die »Kunst [ . . .], leben zu wissen«. ( H U I, 361) Z o r n und Verdruß über mißglückte Anläufe werden regelmäßig von neugefaßten Entschlüssen abgelöst, beflügelt v o n neuerlicher Erwartungsfreude. Seine »Ehrbegierde« hat die vitale Kraft und paradoxe Funktion, Enttäuschungen aufzufangen und Hoffnungen und eingebildete Freuden zu stiften, die den Grund für neue Enttäuschungen legen. Freilich täuscht uns unsre Erwartung allemal: aber was ist denn i m menschlichen Leben das süßeste? Entwurf, Ausführung, Erwartung! Außer diesen Träumen ist nichts einer Stecknadel werth. Wer sich hieran nicht begnügen kann, sondern bey der ersten getäuschten Hoffnung gleich schlaff w i r d , bey dem war die Ehrbegierde nur fliegende Hitze, aber nicht Leidenschaft. 52
N u r dem Betrachtenden präsentiere sich das einseitige Ergebnis einer zerstörten Hoffnung, die dem illusionär beflügelten Subjekt ausgiebige Freuden der Einbildung, ungeachtet des Resultates, gewährt habe. 53 Dieser Subjektivismus verhilft Wezeis Romanhelden zu seiner langjährigen Widerstandsleistung; Herrmanns hartnäckig bewahrte Zielstrebigkeit gründet auf »Träumen«, die der Erzähler gerade in dessen zahllosen Selbstbesinnungen als bloße freudige Hoffnungen decouvriert. D o c h können Herrmanns Illusionen zu keinem Zeitpunkt auf ihr ehrgeiziges Ziel gesellschaftlicher Wirksamkeit verzichten, das den einzigen nichtsubjektiven Maßstab bereithält. Erst — und nur — der erfolgreiche Abschluß des scheinbaren Irrlaufes rechtfertigt 52
Wezel, »Noch eine Apologie des Ehrtriebes« (s. A n m . 41), S. 85.
53 Ebd., S. 85 f.
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alle vorangegangenen Fehlschläge und Illusionen. Schimäre bliebe ein nicht gesellschaftlich orientiertes und zuletzt sanktioniertes Streben; »wenn sich die Ehrbegierde, und das Vermögen, sie zu befriedigen, gegen einander verhalten, wie Eins und N u l l « 5 4 , werden alle ehrgeizigen Wünsche zur Quelle persönlichen Unglücks. Desfalls liegt der einzig erträgliche Ausweg nicht in der Rebellion des Subjekts gegen das Schicksal à la Belphegor, sondern in der Resignation; diese Alternative führt i n Herrmann und Ulrike der unglückliche Lehrer Herrmanns vor, dem seine ursprünglich hochfliegenden Lebensziele den sprechenden Namen Schwinger eingetragen haben mögen. Z u m Ziel gelangt Herrmanns triebhafter Ehrgeiz, nachdem er i m Ertragen von Rückschlägen ohne Einbuße an Vitalität und Lebensfreude »realistisch« geschult ist und endlich das eigennützige Ziel — Ulrike — dem gemeinnützigen unterordnet. A u c h diese »Einsicht« vollzieht sich unter dem Druck einer Ehrbegierde, die i n verliebter Geschäftigkeit kein Genügen mehr findet. Geradezu providentiellen Charakter erhält der Lebensweg Herrmanns, indem der Erzähler den physiologisch begründeten »Ehrtrieb« des Helden i n empirisch-sensualistischer Genese mit Hilfe von Erziehung und Schicksal zeitgemäß ausbildet; zum Helden der »Tätigkeit« w i r d Herrmann i m fortgesetzten — nicht nur grammatischen — Passiv. Seine wunderlichste Blüte treibt Wezeis unfreiwilliger Determinismus i n diesem Roman, der mit den zahlreichen psychologisch ausdifferenzierten Selbstportraits Herrmanns einen Entwicklungs- und Lernprozeß suggeriert, den alle inneren und äußeren Umstände unumgänglich aufnötigen. Herrmann ist nicht minder nach der Theorie des Belphegor-Verfassers gebildet, derzufolge »Neid« und »Vorzugssucht« als Antriebe zum Guten wie Bösen bereitliegen. Seine teuer erkaufte Weisheit, »leben zu wissen«, lehrt ihn empirisch die Ambivalenz menschlichen Lebens und Verhaltens, das »unauflösliche Räzel« Belphegors. Daß Herrmann die Lektion durchsteht und positiv abschließt, verdankt er der auktorialen Fügung v o n Naturell, Erziehung und Schicksal. Er durchlebt ein seelisches Kräftespiel v o n »nicht wollen und doch sollen, verwerfen und doch begehren, vermeiden und doch suchen« ( H U I I I , 192); sein Glücksstreben bleibt ein Wechsel v o n Illusion und Enttäuschung, der erst durch »Arbeit und eifriges Streben nach Einem vorgesezten Zwecke« ( H U I V , 295) zur Ruhe kommt. I m »Gemeinwohl« findet die utilitaristische, immer zugleich auch egoistische Motivation seines Handelns ihren empirischen Maßstab, der einen völligen moralischen Subjektivismus und Agnostizismus verhütet und das flüchtige Glück der Illusion i n solides Bürgerglück verwandelt. War Herrmanns Entwicklungsweg ein labiles Kräftespiel gewesen, anfällig nicht nur für Unzufriedenheit und misanthropische Irrungen, so erzeugt die 54
Ebd., S. 87.
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Selbstverwirklichung i m Dienst der Gesellschaft »das Gute« wie von selbst. Waren die bei Schwinger erlernten moralischen Grundsätze prägende Orientierungshilfe mit schwankendem inneren Rückhalt, treibt sie der Gleichklang von Eigeninteresse und Gemeinwohl zwanglos hervor; der lebenspraktischen, gesellschaftlichen Funktion von Moral entspricht, daß sie individuell je neu durch Tätigkeit gesichert werden muß. Der Pädagoge Wezel definiert Moral als eine erworbene Fertigkeit, entweder moralische Handlungen nach ihren Folgen für die Gesellschaft zu beurtheilen, oder an den guten Folgen derselben sein Vergnügen zu
finden,
und sie wegen dieses Vergnügens
zu wollen.
Je mehr ich in
die
Zergliederung desselben eindringe — [ . . .] — je deutlicher w i r d mirs, daß es eine Modification des Ehrtriebes und Vergnügens ist, eine Fertigkeit m i t den Beziehungen der Handlungen auf uns, auch ihre Beziehungen auf Andre, als Vergnügen oder Ehre bringend, zu verbinden. 5 5
Einen »Mann für unsre Welt« kann nur bilden, wer die jedem Menschen natürlichen Antriebe — »Nutzen, Vergnügen, Ehre« 5 6 — gesellschaftlich modifiziert und lenkt, wie es Schwinger m i t Herrmann spielerisch einübt. Erst derart — auch moralisch — erfolgreiche Erziehung i m Einklang mit der Natur löst den ewigen Widerspruch des Idealismus und bildet einen wirklichen Menschen, kein mislungenes Ideal, [ . . .], [keinen] Selbstsüchtigen, aber auch keinen moralischen Enthusiasten, der alles für andre thun w i l l , u n d doch nur für sich thun kann; keinen moralischen Weichling, der immer nach Liebe und Freundschaft lechzt, sondern einen Mann v o n robuster, gesunder Religion und Moral, der sein W o h l und das W o h l Anderer in die gehörige Proportion zu setzen weis, — kurz einen Menschen, wie ihn die Natur haben w i l l . 5 7
Dieselbe »Vorzugssucht«, die den Belphegor — satirisch einseitig gegen das idealistische Personal gewendet — als destruktives Prinzip durchwaltet, dient Herrmann, ganz i m Sinne des Pädagogen Wezel, nicht nur als vitaler Antrieb innerhalb einer vielfach widrigen Realität, sondern erzeugt eine praktische Moral, die dauerhaftes Glück verspricht, da sie auf der menschlichen Natur gründet. I n seiner schließlich »allbegleitende[n] Idee«, »durch politische Veranstaltungen ein Völkchen weiser und glücklicher zu machen, als Moralisten und Prediger vermögen« ( H U I V , 273), sind Ethik und Politik i m Dienst des Eudaimonismus zwanglos vereint. Der Begriff einer Erziehung, die sich am Erfolg menschenbeglückender Wirksamkeit bemißt, ist weniger »eminent politisch« 5 8 denn pragmatisch. Auftrag von Erziehung ist es, die — anthropo55
Ebd., S. 99.
56
Ebd., S. 99.
57
Ebd., S. 101 f.
58
Joerger (s. A n m . 44), S. 244 f.
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logisch konstante — Bestimmung zur Tätigkeit m i t der jeweiligen politischen und sozialen —
auch ständischen —
Wirklichkeit zu vermitteln.
»Denn
v o l l k o m m e n ist nur dann die Erziehung, wann sie die Subjekte zu den durch die Verfassung errichteten Verhältnissen des bürgerlichen Lebens geschickter und passender macht.« 5 9 Diesen H ö h e p u n k t politischer Anpassung erreicht Herrmann i m pädagogisch ausgereiften Alter v o n 25 Jahren 6 0 ; m i t
dem
politischen Erfolg verschränkt sich der Bildungserfolg des Charakters und Temperaments Herrmann, der seinem natürlichen Tätigkeitsdrang i n der politischen Laufbahn das wirksamste Instrument erkämpft hat. E i n solcher Bildungsbegriff, der auf die Tätigkeit des Individuums nach Maßgabe v o n Naturell u n d gesellschaftlicher Wirklichkeit zielt, offenbart sein vorrangiges Interesse an der erfolgreichen V e r m i t t l u n g v o n — gisch konstanter —
anthropolo-
physiologischer Natur und dem historisch
variablen
»herabschiessenden Strome der Nothwendigkeit« (vgl. K S I , 23). Hieraus erklärt sich, daß Herrmanns E n t w i c k l u n g zuletzt nicht viel mehr ist als die providentiell anmutende gesellschaftliche Eingliederung eines Temperaments, das schon als K i n d auftritt m i t den signifikanten Worten: »ich bleibe dennoch, wer ich bin.« D i e umstrittene Pädagogik des Erzählers setzt zuletzt i m B i l d erlangter Reife das Ideal eines Charakters ans Licht, das als organische E n t w i c k l u n g des Helden i m Zuge der Erzählhandlung schwerlich gelesen werden kann. Vielmehr stehen W e g und Ziel Herrmanns zueinander förmlich i n Opposition. War der W e g eine zufallsgeleitete Donquijoterie, gezeichnet v o n innerer und äußerer Unruhe, eine Folge v o n Begebenheiten nach dem Strukturgesetz des Widerspruchs — zwischen Phantasie und Realität, Naturell und Schicksal, Temperament und Vernunftgebot — , so führt das Schlußbild alle Gegensätze zu Harmonie und Ausgleich. I m Maße, wie Herrmann »die K u n s t zu leben i n ihrem ganzen Umfange« 6 1 gelernt hat, durch Erfahren und Ausschreiten v o n Gegensätzen, sind zuletzt alle inneren und äußeren Widerstände und Extreme gleichsam integrativ aufgehoben. Die bewegliche Szenerie v o n Unrast und unerfülltem Streben, innerer und äußerer Labilität erstarrt zur glücklichen Schlußidylle der Ruhe, erfüllten Tätigkeit und innerer wie äußerer Stabilität v o n Jahre währender, also beständiger Dauer.
59 Wezel, »Präliminarien über deutsche Erziehung«, in: Pädagogische Unterhandlungen, hrsg. von dem Dessauischen Erziehungs-Institut, 2. Jahr, 1. Quartal (Dessau, 1778), S. 16f. 60 »Das K i n d muß fünf und zwanzig Jahre lang wachsen, trinken, essen, gehen, laufen, durch Natur und Kunst gebildet werden, eh es alle Proportion, allen Anstand und alle Schönheit erlangt, die sein Körper erreichen kann.«, zitiert aus: Wezel, »Präliminarien über deutsche Erziehung« (s. A n m . 59), S. 19. 61 Wezel, »Ankündigung einer Privatanstalt für den Unterricht und die Erziehung junger Leute zwischen z w ö l f und achtzehn Jahren«, in: Deutsches Museum 1780, 1, S. 292.
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Z u derartiger Statik geronnen, gibt sich das Bildungsziel Herrmanns als vollendeter Pragmatismus zu erkennen. Weniger organisch, denn kompositorisch gefügt, gewährt Herrmanns langjährig bewährte Fähigkeit, innere Widersprüche und äußere Schicksalsschläge ohne Resignation zu verkraften, zuletzt das glückliche Arrangement mit der Realität. Z u r glücklichen Auflösung der bestehenden Spannungen verhilft das Lustspielinstrumentarium von Zufall und Intrige. Nicht zufallig sind kulturell-geistige Güter ohne lebenspraktischen Wert aus Herrmanns Lebensweg förmlich ausgegrenzt, nicht aber Politesse, Galanterie und Ökonomie; die zuletzt ausbalancierte Harmonie der »richtig [ . . . ] gestimmten Seele« ( H U I V , 222) stabilisiert und genügt sich in tätiger Wirksamkeit. I n den zahllosen Phasen der Irritation am eigenen Ziel, ein »großer Mann« zu werden, gerät Herrmann in den Bann einer Welt, die mit komischkarikaturistischen Geschöpfen bevölkert ist. M i t diesen i n der psychologischen Ausgestaltung vernachlässigten Nebenfiguren — auszunehmen sind lediglich der Erzieher Schwinger und die perfekte Heuchlerin Vignali, eine Geistesverwandte der Marwood — , hat der Erzähler ein Lustspielpersonal aufgeboten, i n dessen diversen Stücken Herrmann kurzfristige Gastrollen spielt. Dabei erscheint das komische Ensemble nicht pauschal als Ansammlung v o n Narren und lächerlichen Geschöpfen; der »alte Adam«, Herrmanns Vater, vereint in derbkomischen Szenen zur Geltung gebrachten Grobianismus mit dem gesunden Gespür für die falsche »Politesse« ( H U I , 57) des Grafen Ohlau, gegen den er mit beachtlicher Zivilcourage auftritt. E i n ähnlicher Narrweiser begegnet in dem Advokaten Nikasius, dem der Erzähler allerdings noch weniger Individualität vergönnt; Gutherzigkeit, einfach-heiteres Gemüt und — hiermit kontrastierend — verschraubte juristische D i k t i o n erfüllen diesen Typus. Diesen beiden offen-gutherzig grundierten Charakteren sind eitle, frömmlerische Ehefrauen zugesellt; die Gegensätze begründen eine Vielzahl komisch inszenierter Ehestreitigkeiten und bekräftigen Wezeis Vorliebe für das dichterische Hilfsmittel des Kontrasts. Wezel hat in der Lustspieldramaturgie seines Romans, aus der nur die beiden Protagonisten regelmäßig zur ernsthaften Seelenmikroskopie hervorgezogen werden, das literarische V o r b i l d des Bühnenrealismus i n Fieldings Tom Jones weit überboten. Während Fieldings K o n traste, etwa gegenläufige Charaktere, allmählich erzählerische K o n t u r gewinnen, die ironisch gemildert bleibt, setzt Wezel seine Gegensatzpaare schlagartig ins Licht schärfsten Kontrastes; exemplarisch sei auf die Gegenüberstellung des jungen Herrmann und seines kindlichen Widersachers Jakob verwiesen, die i n T o m Jones und Blifil ihr gemildertes V o r b i l d hat. Eine Komödiantenwelt von Heuchlern und Narren, allesamt Karikaturen, Typen und Chargen, formiert sich zu Herrmanns »widrigem Schicksal«; der Fixierung der Rollen entspricht die Bühnenblindheit der Figuren, etwa des
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Grafen Ohlau, der, seinerseits nur komische Marionette, den »Pavian« Jakob dem vorbildlichen Herrmann jahrelang vorzieht. Nicht nur jeglicher Verhaltensspielraum ist dieser gräflichen Karikatur verwehrt, sondern auch die Gestaltung in der Zeit. Die zehn Jahre, die Herrmann auf dem Grafenschloß zubringt, verlebt der Graf in der Statik einer Lustspielrolle mit anhaltendkomischem Effekt. Gleiches gilt für das übrige Schloßpersonal. Insbesondere die altjüngferliche, liebesgierige Gouvernante Hedwig, »die Krone aller häßlichen Fräulein« ( H U I , 107), die sich mit burlesken Einlagen um die Trennung der Kinder Herrmann und Ulrike verdient macht, gewinnt persönliche K o n t u r ausschließlich mit den M i t t e l n des Kontrasts; während des gesamten Romans ist sie unerschöpfliche Quelle des Lächerlichen, entlarvt sich doch ihr gewaltiger Bildungsdünkel als Übermaß französisierender Unkultur und ihre deklamierte Sittenstrenge als Kehrseite einer Liebes- und Heiratswut, die sich über die Standesgrenze nach unten bereitwillig hinwegsetzt und schließlich i m dritten Anlauf zum Erfolg führt. N u r zu Beginn der Biographie Herrmanns hat diese Bühnenfigur Hedwig ihre verhindernde Aufgabe i m Bezug auf den Protagonisten; i m weiteren gewinnt sie poetisch funktionslosen Eigenwert in der Verselbständigung ihrer statischen komischen Rolle, die i n szenischen Einblendungen den Lebensweg des Helden begleitet. Eine menschliche Verbindung zwischen H e d w i g und Herrmann, wie sie der Erzähler am Ende des Romans durch einen Brief Hedwigs suggerieren möchte — der indes mit der Nachricht der Verheiratung lediglich dem Leser den komischen Abgang der Figur vermittelt — besteht zu keinem Zeitpunkt. Positiver Einfluß auf die seelische Entwicklung des Helden, auf seine Biographie, kann weder Hedwig, noch den übrigen zahlreichen Mitgliedern des intriganten Ensembles zugesprochen werden. Das triviale Ende des Romans bringt nicht nur Herrmann ans Ziel seines Bildungsganges; zugleich verändert sich die fiktive Wirklichkeit. Die ränkespinnende Vignali w i r d »mit Schimpf vertrieben« ( H U I V , 377), und mit ihr verschwinden »Kabalen, Intriguen und Ränke, als wenn sie mit ihrer Urheberin entflohen wären: kleine unbedeutende Feindseligkeiten ausgenommen, wurde der H o f ein Schauplatz der Ruhe und Ordnung.« ( H U I V , 411) Zugleich zeigen sich »im ganzen Lande [ . . .] Spuren v o n allen diesen glücklichen Veränderungen.« Herrmann ist »glücklich, als Mensch, als Bürger, als Gatte, als Vater — welches Loos kan herrlicher seyn?« ( H U I V , 420) Das Ensemble der Narren, Sonderlinge und gesellschaftlichen Nichtsnutze aller Stände verschwindet; es triumphieren die Bürgertugenden v o n privater Liebe und gesellschaftlicher »Thätigkeit« ( H U I V , 412), »Verdienst« ( H U I V , 412) und »Großmuth« ( H U I V , 387). Was in einer Welt der »Caricatur« 62 v o n
62
Johann Heinrich Merck, in: H U I V , Anhang S. 11.
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Beginn an u m Durchsetzung gerungen hatte, findet zuletzt die verdiente Anerkennung i n der ihm gemäßen Wertwirklichkeit. Herrmann und Ulrike überwinden alle Komplikationen i m Schluß des rührenden Lustspiels. Die durchlebte und durchlittene Realität erscheint zuletzt als närrische und unterhaltsame Spielwelt, in der der Held — ohne ernsthaft Schaden zu nehmen — seine jugendlichen Irrtümer begehen und enttäuschenden Erfahrungen sammeln kann. Für Herrmanns Entwicklung hat diese Spielwelt eher funktional-dramaturgischen denn gehaltlich-bildenden Wert. M i t beendeter Lektion verschwindet sie und weicht einer politischen Wirklichkeit, die als positive Wertwelt Bestand zu haben verspricht; aus der harmlos-komischen Spielaktion mit Lustspielpersonal entrinnen die beiden menschlich ausdifferenzierten und beispielhaften Titelhelden völlig unvermittelt i n jene andere Welt gesellschaftlich relevanter Tätigkeit. Die desillusionierende Vorgeschichte — und mit ihr die erzählte Wirklichkeit i m Licht lächerlicher Bedeutungslosigkeit — erhält zuletzt, als »verliebtes Drama« ( H U I V , 421) v o n komischem Unterhaltungswert, den Rang eines Familienspiels. Der geistige Gewinn, den diese Lehrjahre darbieten, ist ideell völlig indifferent; i n »Lebenskunst« geschult, vermöchte Herrmann, der mit 23 Jahren gesellschaftswirksam zu leben beginnt, seine Nützlichkeit in den verschiedensten gesellschaftlichen Funktionen zu erweisen. Zufall und Ehrgeiz weisen i h m die politische Laufbahn zu; hier eigentlich, am Ende des Romans, beginnt sein Leben, das zuvor weniger »Bildung« denn empirische Lehre, Auffüllen von Begriffen war. N u r zum geringeren Teil ist Herrmann, dem gerade die Überwindung der Widersprüche menschlicher Existenz in der Tätigkeit bestimmt ist — längst hat sich sein jugendlich-enthusiastisches Verlangen nach »Einer That« aufs Maß des Bürgerlichen reduziert — dieser Zwiespalt bewußt; lähmende Grübelei und geistiger Tiefgang bleiben i h m — i n sorgfältiger Ausgrenzung rein geistiger Bildungswerte — erspart, und seine ungebrochene, von Reflexion ungetrübte triebhafte Tätigkeit hebt ihn i n den Rang eines kleinformatigen Anti-Hamlet.
Auch ein Anatom der Melancholie Die beiden besprochenen Romane konvergieren i n der aufklärungsgemäßen Frage nach menschlicher Zufriedenheit. Belphegor verweist — satirisch einseitig — auf die Gefahren von Idealismus, Schwärmerei und Einbildungskraft, die das Unglück des Titelhelden auslösen; i n Herrmann und Ulrike sind die positiven Perspektiven derselben Einbildungskraft aufgewiesen, wenn sie sich empirisch belehren und dem gemeinnützigen Maßstab unterordnen läßt. Geht Belphegor ganz explizit aus der Einlassung auf das misanthropische Thema hervor, so führt Herrmann und Ulrike seinen Titelhelden wiederholt an den
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Rand der Misanthropie, u m ihn zuletzt sicher i n der sozialen Sphäre der Gesellschaft zu bergen. Der Blick auf die weiteren Romane Wezeis verdeutlicht, daß sich der A u t o r einer diagnostischen Fragestellung verschrieben hat, die immer neue Variationen des misanthropischen Themas hervortreibt. I n seinem Romanerstling, der Lebensgeschichte Tobias Knauts (1773-76), findet man gleich zwei tödlich endende Melancholieschicksale eingeschlossen: die Seelengeschichte Selmanns und die »Geschichte Amaliens«. Auch der Titelheld Tobias Knaut, T o r und Weiser zugleich, ist dem misanthropischen Thema zumodelliert. Als Parodie eines Stoikers demonstriert er jene satirische Variante der Lebenskunst, die einem unsensiblen Gegenbild des Schwärmers von selbst zuwächst: sein Mangel an Empfindsamkeit ist es, der i h m zum natürlichsten Stoizismus und damit zur Zufriedenheit verhilft. Das melancholische Thema w i r d neu variiert i n Wilhelmine Arend, die den »Gefahren der Empfindsamkeit« (Untertitel) erliegt und ihr melancholisches Schicksal mit solcher medizinisch-diagnostischer Akribie durchlebt, daß die K r i t i k befand, »sich i m Grunde doch nur mit einer Krankengeschichte unterhalten zu haben« 6 3 . Das Thema zu intensivieren, ist der Titelheldin der seelenverwandte Webson zur Seite gegeben; den beiden Melancholikern sind zwei Ärzte zugesellt, deren fachkundiges M i t w i r k e n i m Roman den Rang der Melancholie als einer Krankheit bekräftigt. K a u m nimmt es mehr wunder, daß auch Wezeis letzter Roman, Kakerlak, die Geschichte eines Unzufriedenen erzählt, der auf allerlei Umwegen schließlich zu menschlichem Glück und Zufriedenheit findet; Misanthrop auch er, gelingt es i h m zuletzt mit Hilfe seiner »Einbildungskraft«, sich glücklich zu dünken und den »Schabernack« der Welt gelassen hinzunehmen. Seine Glückseligkeit ist, anders als diejenige Herrmanns, nur noch eine eingebildete; hier ist es tatsächlich erlaubt, v o n einem »Märchen« zu sprechen i m doppelten Sinne. Kakerlak steht, als Hexen- und Wundergeschichte, in der Tradition des Feenmärchens; märchenhafter noch ist aber Kakerlaks List, glücklich zu sein allein, weil er sich glücklich wähnt. Die Gefahren der Einbildungskraft mit den Mitteln der Einbildungskraft zu lösen, bleibt diesem Märchen Wezeis vorbehalten; die Reihe seiner zuvor zur Unzufriedenheit, ja sogar zum Melancholietod verurteilten Melancholiker legt Zeugnis ab von den Risiken der Krankheit und der Unwirksamkeit einer »Kur«, wie sie die Ärzte der Wilhelmine Arend vergebens bereithalten. Was Wezel hier schreibend sich zu kurieren unternimmt, ist seines Erachtens nichts geringeres als eine »Nationalkrankheit« (R 5), wie es die Vorrede seines Robinson Krusoe deklariert. A u c h der Robinson versteht sich als Beitrag zu ihrer »Heilung«, wenn auch mit anderen Mitteln. Er w i l l einen Beitrag geben 63 AdB 54, 1783, 1, S. 173.
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zur Kenntnis »von Menschen und Welt« (R 13) und damit der »teutsche[n] Empfindsamkeit« nicht den Spiegel vorhalten, sondern einen Ausschnitt empirischer Wirklichkeit. Die desillusionierenden Wirkungen des Robinson wurden allenthalben erkannt; Wezeis Absicht ist jedoch auch hier nicht bloß, eine apokalyptische Vision zu geben, sondern die Jugend — der dieses Buch gewidmet ist — mit historischen und anthropologischen Kenntnissen zu versorgen, »die sie später mit ihrem Schaden durch eigne Erfahrung erwürben.« (R 9) Der »Schaden«, den Wezel sich hier zu verhüten vornimmt, ist derjenige, den die aus Unkenntnis und verklärter Erwartung heraus geborene Enttäuschung in sich trägt; sein anderer Name ist Melancholie, und seiner Abwehr gilt Wezeis gesamtes literarisches Schaffen. Davon sind selbst seine Briefe nicht auszunehmen, i n denen Wezel wiederholt bekennt: »Ich bin zufrieden, froh und heiter.« 6 4 Auch hier findet Wezel mißvergnügte Zeitgenossen als Opfer seiner satirischen Schilderung 6 5 , und dem Leser dieser wenigen erhaltenen Zeugnisse weht eine sorgsam gepflegte Heiterkeit entgegen. Daß diese Heiterkeit nur die Kehrseite eigener misanthropischer Anfechtung sei, läßt sich mit Gründen annehmen. 66 Bekannt ist, daß Wezel genötigt war, das unbefriedigende Leben eines schriftstellernden Privatgelehrten zu führen, weil seine zahllosen Versuche — insbesondere i m pädagogischen Metier — , beruflich Fuß zu fassen, scheiterten. A u c h seine poetische Produktion verhallte ungehört, nachdem der Erstling Tobias Knaut noch ein gewisses Interesse, Belphegor immerhin Widerspruch i n der literarischen Öffentlichkeit gefunden hatte. Wezeis Vita, verdüstert von Finanzsorgen, Zensurstreitigkeiten, gescheiterten Berufsprojekten, Gelehrtenfehden, negativen und gar irrigen Deutungen seiner Romane, verharrt i n notgedrungener gesell-
64 Wezel an Bertuch am 8. Juni 1776, in: Pierre Chevallier, »Deux lettres inédites de Johann K a r l Wezel«, in: Etudes Germaniques , 30 (1975), S. 47; Wezel an Ramler am 2. August 1781, in: Steiner, Nachwort (s. A n m . 11), S. 847. 65
Wezel an G. K . Böttger am 8. März 1776, in: F. Schnorr v o n Carolsfeld, »Johann K a r l Wezel«, in: Archiv für Literaturgeschichte, hrsg. v o n F. Schnorr v o n Carolsfeld, Band 14 (Leipzig, 1886), S. 178 f. 66 Wezel berichtet am 2. August 1781 am Ramler, daß er »Berlin vor zwei Jahren i m größten hypochondrischen Unmuthe verließ.« Zitiert nach Steiner, Nachwort (s. A n m . 11), S. 847. I m späteren Versuch über die Kenntniß des Menschen liefert Wezel einen autobiographischen Exkurs: » [ · . . ] und daß alle Eindrücke, die auf unsre Nerven v o n außen und in uns geschehen, ungewöhnlich stark sind: auch eingebildete Sensationen finden sich nicht selten dabey. N o c h v o r einigen Jahren, als ich die ersten Bogen dieses zweiten Bandes schrieb, befand ich mich in einem solchen Zustande ohne meine Schuld, aus Ursachen, die ich nicht verhüten konnte, und ich erfuhr damals, wie sehr er die Antipathien erhöht und vermehrt: ihre Anzahl wuchs fast m i t jedem Tage. Itzt nach einer Reise v o n siebzig Meilen, einem zweijährigen Aufenthalte in einer andern L u f t , [ . . . ] , weis ich v o n ihnen allen nichts mehr [ . . .]«. ( V I I , 319f.).
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schaftlicher Unwirksamkeit; seine Hoffnung des »devenir plus utile au monde« 6 7 und der Wunsch, »etwas Gutes zu t h u n « 6 8 , bleiben unerfüllt, und die Grenzen des öffentlichen Desinteresses werden v o n Wezel empfindlich respektiert: »Die Dienstfertigkeit ist unstreitig der unangenehmste Fehler, wenn man sie aufdringt.« 6 9 I h m verblieb das Wirkungsfeld des »mit Nutzen schreiben« ( T K I , I X ) , und es ist nur teilweise ironisch zu verstehen, wenn er den Leser v o n Herrmann und Ulrike anweist, »aus jeder Zeile [ . . .] sich eine Moral [zu] ziehen,« ( H U I , V I I I ) Er verabschiedet den platten Moralismus Gottschedischer Prägung zugunsten seiner eigenen poetischen Kasuistik, die »mit den Lesern zu spielen scheint, und [ . . . ] unvermerkt Unterricht i n das Spiel mischt.« ( T K I, V I I I ) Dieser Unterricht ist ein alle Romane umfassender »Sermon v o n der Menschenkenntniß« ( T K I I I , 118), in dem sich der Aufklärer Wezel zu W o r t meldet und den Ursachen menschlichen Glücks bzw. Unglücks nachspürt. Bevorzugtes Fach des Poeten Wezel ist die »Charakteristik« ( T K I I , 183), deren Tradition — auch über die Kurzform des »character« hinaus 7 0 — er der eigenen psychologischen Schreibart anverwandelt. Schon der Tobias Knaut eröffnet eine Charakterologie, die das spätere Werk in den verschiedensten Formen — Roman, Erzählung, Lustspiel — fortsetzt; einen fleißigen Auftakt zum unendlichen Spektrum der möglichen Charaktere birgt der vierbändige Erstling, von den individuell gezeichneten Hauptcharakteren Tobias und Selmann bis hin zur Vielzahl der schemenhaft nominell statuierten Typen. »Weil Jeder einen andern Charakter hat« 7 1 , ist dem psychologisch ambitionierten Erzähler die Variation des menschlichen Themas ad infinitum aufgegeben; flächendeckende, grobstrichige Ausfaltung männlicher und weiblicher Typologien — i n der Ehestandsgeschichte des Peter Marks und der wilden Betty und i n den satirischen Erzählungen — wechselt mit individualpsychologischer Tiefenschau, und alle Formen der Charakteristik sind i n den drei größeren Romanen vereint. I n allen Fällen aber gilt die Frage des Erzählers den »Triebfedern« menschlichen Verhaltens, und seine »Charaktere« verdienen mit gleichem Recht die Bezeichnung »Naturell« ( T K I, 67). Der epische Aufweis ergibt, daß jeder tut, »was seiner Natur ist.« 7 2 67 Brief Wezeis, zitiert nach: August v o n Blumröder, »Johann K a r l Wezel. Fragmente über sein Leben und seinen Wahnsinn«, in: A . v. Blumröder, Zeitgenossen. Ein biographisches Magazin für die Geschichte unserer Zeit, Hg. Fr. Chr. A u g . Hasse, 3. Reihe, 4 Bd. (Leipzig, 1833), S. 151. 68
Wezel, »Ankündigung einer Privatanstalt« (s. A n m . 61), S. 296.
69
Wezel i m Deutschen Museum 1780, 2, S. 287.
70
V g l . R u d o l f Fürst, Die (Halle a. S., 1897), S. 33. 71
Vorläufer
der modernen Novelle im achtzehnten Jahrhundert
Wezel, Nachwort zu Wilhelmine Arend, 1. Teil, ohne Seitenzählung.
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Die proklamierte Mannigfaltigkeit der Charaktere ist indes nichts anderes als die »Vielgestaltigkeit« des einen »Schwärmerwesens« 73 , das unter dem forschenden Blick des Psychologen aus dem »stadtübliche[n] Modekleid« (R 6) herausschaut. Reiben sich Selmanns hochgetriebene Empfindsamkeit und Einbildungskraft an einem universalen moralischen Idealismus auf, der schließlich i n Trübsinn umschlägt, so erscheint Wilhelmines traurige Empfindsamkeit als übertriebene Tugend- und Liebesschwärmerei und unnatürlich gesteigerte Schamhaftigkeit. Belphegor, ein ums Ingrediens des glühenden Zorns vermehrter Selmann, treibt es zu Revolution und Rebellion gegen Schöpfer und Menschen; Fromals enttäuschter Idealismus nimmt dank des kälteren Temperaments eine resignative Form materialistisch fundierter Unmoral und Menschenhasses an. Weltflüchtig-resignativ trägt der empfindsame Derwisch i m Belphegor sein Geschick zerronnener Illusion. Als förmlicher Z w i l l i n g Selmanns findet Webson sein individuell variiertes Schicksal nach enttäuschter Liebesschwärmerei in Einsamkeit und jenem Seelentod, der Selmann schon von Namens wegen verwehrt ist. Religiöse Varianten schwärmerischer Weltunlust verkörpern die Pietisten, etwa der heuchlerische Wilibald i n Herrmann und Ulrike und der ehemalige Herrnhuter i m Belphegor. Nicht weniger trägt die K o n t u r des zeitgenössischen Pietismus der »finstre Bußprediger« (R 251) i m Robinson, der Selbstzerknirschung, Traurigkeit und Melancholie predigt; V o r urteile, Schwärmerei und schließlich Fanatismus verschränken sich schulmäßig zu misanthropischer Wirksamkeit. I n die Religion als Brutstätte melancholischen Wesens war schon i m Knaut-Roman der am Weltleben gescheiterte Stutzer Euphorb geflüchtet, u m zuletzt als gläubiger Christ aus dem irdischen Jammertal zu scheiden; zum Sammelbecken der Mißvergnügten gerät Emilies »fromme Gesellschaft« i m Knaut ( T K I I I , 212), Forum verschiedenster Exzesse religiöser Schwärmerei und Klagen »über die Verderbtheit der Welt« ( T K I I I , 224). Der Metaphysiker Kakerlak beschließt den Reigen der Melancholiker. Vereint sind all diese grämlichen Physiognomien nicht nur in ihrer Weltund Menschenunlust, sondern auch i m Stigma der Krankheit, die nicht selten zum Tode führt. Der Autor, der die unzähligen variablen Perspektiven auf Welt und Menschen erproben und aufklärerisch nutzen w i l l — »von Menschen und Welt vollständige Kenntnis geben« (R 13) — , gerät i n den Bann einer diagnostischen Fragestellung, die die immergleichen epischen Antworten hervortreibt. Als Galenist gewinnt er K o n t u r in den verschiedensten M o d i 72
Wezel, »Welche Seite der Welt soll man jungen Leuten zeigen?« (s. A n m . 33),
S. 65. 73 Hans-Jürgen Schings, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts (Stuttgart, 1977). Die gesamte Arbeit v o n Schings ist grundlegend für das hier behandelte Thema; vgl. bes. S. 144, S. 197.
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erzählter Therapie, die den Melancholiker i m selbstgeschaffenen Unglück satirisch zeichnet und verlacht oder seine Leiden i n warnender Eindringlichkeit vor Augen führt. Der Therapien sind indes mehr, vermittelt doch Wezeis großer Erziehungsroman das Beispiel eines Gesunden, dessen Kursus durch eine widrige Welt Zeugnis ablegt von der Gabe, sich gegen alle melancholische Anfechtung sein Glück zu erkämpfen. Aufs Deutbild des melancholischen Schwärmers zielt nicht zuletzt die große Eröffnungssatire Tobias Knaut, deren Titelheld durch Entzug der beiden Melancholiekonstitute — Empfindsamkeit und Einbildung — physiologisch zu Weisheit und Zufriedenheit manipuliert wird. »Freund der Freude und Feind des Trübsinns« (B 9), geriert sich der A u t o r als Ausrufer einer »gesunden« Moral, die auf der psychologischen Ebene nach dem V o r w u r f einer physiologischen Organisation modelliert ist. Dabei bedient sich Wezel des Deutmodells eines Système de la nature , teilt den tragenden Gedanken einer an Natur und Naturkenntnis gebundenen menschlichen Glückseligkeit und setzt an, den »homme moral« aus dem »homme physique« herauszuentwickeln; und wenn der moralische Mensch Heinrich Herrmann aus einem erzählten »Streit der Leidenschaften« ( H U I, 248) heraus geboren wird, ist schließlich der moralische Relativismus und Pragmatismus eines Helvetius i n epische Anwendung gebracht. Herrmann, wohlausgewogenes Konstrukt aus Ehrbegierde, Empfindung, Einbildungskraft und Vernunft, verkörpert das Modell der »wohltemperierten Seele« 74 , die in psychisch-physischer Harmonie gesundes Naturell und Zufriedenheit verbindet und zu jenem glückhaften Dasein gehoben wird, dem alles Trachten des Autors gilt. Dieser exemplarische Held lehrt zugleich, Wezeis unermüdliche K r i t i k an Empfindsamkeit und Einbildungskraft i n ihrer antimelancholischen Funktion zu erkennen; sie greift nur dort, w o die eingebildeten Leiden und enttäuschten Freuden gesundes Maß übersteigen und den Schwärmer in den Kreis der Melancholie ziehen. Selbst abmahnend noch bestätigt und bekräftigt der A u t o r den Sog des Irrational-Abgründigen; keine seiner Physiognomien gelangt zu so differenzierter und anschaulicher poetischer Gestaltung wie jene des Melancholikers, der — sein Name sei Selmann, Webson, Wilhelmine oder selbst Belphegor — als Opfer gerade seiner besten Seelenkräfte kenntlich gemacht ist. 7 5 Sie alle liefern den poetischen Nachweis für Wezeis psychologische conclusio, daß gerade die "Bestorganisierten« als empfindsame und einbildungsstarke Naturen auch die Anfälligsten sind. 7 6 »Was ist der Mensch ohne Begierden und 74
V g l . Wezel, Robinson Krusoe, Vorrede S. 7f. und K S I , 120.
75
V g l . W A I I , 288, Webson über Wilhelmine: »Übermaaß des Guten, [ . . . ] eine Übertreibung vortreflicher Eigenschaften.« 76 Keineswegs bloßen Rationalismus also, wie es Wezeis zeitgenössische Empfindsamkeits- und Schwärmerkritik nahelegen möchte, propagiert sein anthropologisches
9 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
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Wünsche? — E i n lebender Leichnam [ . . . ]«. ( W A I, 459) Einem solchen Gespenst hat der satirische A u t o r früh zu lebloser Romanexistenz verholfen, und seine stoische Karikatur steht dem Bilde des Menschlichen ferner als alle seine traurigen Physiognomien. »Disproportion« ist des wünsch- und freudlosen Tobias' Dasein nicht weniger als das unruhige Schwärmerleben eines dem Glück nachjagenden Belphegor; beide verfehlen jenes »Ebenmaß der Kräfte« (R 8), das »die Natur haben will, die Verstand und Herz machte, daß sie die menschliche Maschine i m Gleichgewicht erhalten sollen«. (KS I, 120) Die von der späteren Rezeption so gründlich verwischte Spur der aufklärerischen A m b i t i o n Wezelscher Satire und Prosa hat in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik ihren markantesten Abdruck hinterlassen. Als Humorist der pneumatophobischen, also physiologischen Spielart steht Wezel i n der Riege jener aufklärerischen Galenisten, deren prominentester Vertreter Wieland ist. 7 7 Seine romanesken »Schwärmerkuren« 78 wider die Zeitkrankheit der Misanthropie gedeihen auf demselben Boden aufklärerischer Anthropologie, der Wezeis gesamtes Œuvre trägt. »Die gehäufte Anzahl hypochondrischer und hysterischer Personen« (R 6) weist dem A u t o r den Weg einer galenischen Schriftstellerei, die, sie enthalte heilsames satirisches »Gelächter« (R 7) oder immunisierendes »Gegengift« (R 7), allzeit i m misanthropischen Thema konvergiert. Frühzeitig — schon i m Tobias Knaut — taucht die Vision der eigenen melancholischen Verdüsterung i n Wezeis Werk auf. 7 9 Einen biographischen Bezug stellt auch Wilhelmine Arend her, deren melancholisches Schicksal — parallel zu Wezeis späterem Geschick — sich in der Einsamkeit von Wezeis Geburtsort Sondershausen vollendet. Es entbehrt nicht der Naivität, wenn der frühe Biograph Blumröder i m Hinblick auf Wezeis literarische Melancholiebilder räsoniert: »Sonderbar, daß die Klippe, wovor er wie ein kluger Pilot Andere warnt, gerade diejenige war, an welcher sein eigner Verstand Schiffbruch l i t t . « 8 0 Gegenläufig gelesen, möchte der Vorgang seine Sonderbarkeit
Ideal des »größte[n] Kopf[es], bey dem sich Empfindung, Imagination, Verstand und Beurtheilung das Gleichgewicht halten.« (V I I , 299; vgl. V I I , 159). 77 V g l . Jean Paul, Vorschule der Ästhetik,, S. 342. 78 Schings (s. A n m . 73), S. 197.
H g . Norbert M i l l e r (München, 1963),
79 »Ich erschrecke, wenn ich daran denke, daß das Rosenroth, das izt v o n Gesundheit und Frölichkeit auf meine Gedanken zurückfallt, vielleicht einst, wie das R o t h auf den Wangen einer irrdischen G ö t t i n n , verschwinden und sich ins todtblasse verlieren w i r d ; daß ich vielleicht über das weine, worüber ich izt lache; daß die anscheinenden Unordnungen und Unvollkommenheiten der Natur, über die ich izt gern weghüpfe, vielleicht einst große Gebürge für mich werden, die ich nicht ohne Grauen ansehn kann [ . . . ] . « ( T K I I I , 208). 80
Blumröder (s. A n m . 67), S. 171.
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verlieren, scheint sich doch die Warnung einer unfreiwilligen lebenslangen Vertrautheit mit dieser Klippe zu verdanken. Wezeis zeitgenössisches Umfeld ist reich an Beispielen für diese Koinzidenz von Melancholieanfälligkeit und -abwehr; nicht nur an Lichtenberg ist da zu erinnern, sondern auch an Wezeis frühen Mentor Geliert. 8 1 Schon der große Anatom der Melancholie, Robert Burton, mußte 1621 erklären: »I write o f melancholy, by being busy to avoid melancholy.« 8 2 Wezels Œuvre ist der großangelegte Versuch einer literarischen Melancholieabwehr mit den Mitteln der Aufklärung über »Menschen und Welt«. Das spätere Schicksal des Autors gibt das traurige Dokument der Erfolglosigkeit dieses literarischen Abwehrgefechts.
81 V g l . Schings (s. A n m . 73), S.130. 82
9*
Robert Burton, The Anatomy of Melancholy (London, 1924), S. 4.
D i e Briefausgabe Karl Leberecht Immermanns Kritik und Berichtigungen V o n Alfred Anger
multa donanda ingeniis puto; sed donanda vitia, n o n portenta Seneca d . Ä . , X , Praef. 10
K a r l Leberecht Immermann, Briefe. Textkritische und kommentierte Ausgabe i n drei Bänden. Hrsg. von Peter Hasubek. München u. Wien: Carl Hanser 1978-1987. 8° L w . Zus. D M 760,1.
Briefe
1804-1831
(1978), 1041 S. D M 180,-
2.
Briefe
1832-1840
(1979), 1182 S. D M 185,-
3.1 Nachträge. Kommentar
den Briefen
1804-1831. Unter M i t w i r k u n g v o n Marianne
Kreutzer erarbeitet v o n Peter Hasubek. (1987), 714 S. 3.2 Kommentar
den Briefen 1832-1840.
Register.
Unter M i t w i r k u n g v o n Marianne
Kreutzer erarbeitet v o n Peter Hasubek. (1987), S. 716-1716. Zus. D M 395,-
I m Zusammenhang mit den umfangreichen Vorarbeiteten zu seinem bahnbrechenden, auch heute noch längst nicht überholten Buch Immermanns erzählerisches Werk (Gießen, 1957) hatte Manfred Windfuhr u. a. die Briefe Immermanns aus entlegensten Quellen zusammengetragen, die Handschriften (schon i m Hinblick auf eine mögliche Briefausgabe) zum Teil transkribiert und für sein Buch ausgewertet. I n der Folgezeit verlagerte sich das Schwergewicht seiner Forschungen jedoch auf das 17. Jahrhundert, dann auf Heinrich Heine und die große kritische Düsseldorfer Heine-Ausgabe. So überließ er Peter Hasubek, der über Gutzkow (Diss. 1964) auf Immermann gestoßen war, 1967 großzügigerweise sein gesamtes Material: rund 750 Briefe Immermanns an etwa 110 Adressaten, »Zirkulare und berufliche Korrespondenz nicht eingerechnet.« 1 Als Hasubek dann nach 11 jähriger Forschung die beiden Briefbände veröffentlichte, umfaßten sie, einschließlich der i n einem Anhang beigegebenen zweifelhaften Dokumente, 1097 Nummern. 2 Hinzu kommen noch 122, 1 Peter Hasubek, Marianne Kreutzer, »Zur E d i t i o n der Briefe Immermanns . . .«, in: Heine-Jahrbuch 21 (1982), S. 145-185, S. 153 (abgekürzt: Aufsatz). 2
I n den »Nachträgen« des 3. Bandes (S. 11-80) konnten inzwischen weitere 46 Briefe, darunter sehr wertvolle Funde, vorgelegt werden.
134
Alfred
ng
meist kurze (und sich ζ. T . wiederholende) hsl. Exzerpte aus Briefen Immermanns an seine Verlobte Marianne Niemeyer aus dem Jahr 1839, die Windfuhr allerdings auch schon kannte (vgl. Windfuhr 230). Damit dürfte das heute noch erreichbare Briefmaterial vollständig erfaßt sein. Den größten Zuwachs gegenüber der Sammlung von Windfuhr verdankt das vorliegende Briefkorpus der Aufnahme von briefähnlichen Dokumenten, namentlich von Zirkularen an verschiedene Mitgliedergruppen des Düsseldorfer Theaters, von öffentlichen Aufrufen und Bekanntmachungen. Acht Jahre nach den Briefbänden, 20 Jahre nach Beginn der Forschungsarbeiten, konnte Hasubek den Kommentarband, in zwei Halbbände geteilt, vorlegen. — Finanziell wurde die Edition seit 1971 großzügig von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt: zunächst durch Sach- und Reisemittel, seit 1976 durch zusätzliche Personalmittel und Druckkostenzuschüsse. 3 — Natürlich konnte Hasubek die umfangreichen Editions Vorbereitungen nicht allein bewältigen. I m V o r w o r t zum 3. Band (S. 85) dankt er namentlich acht »Mitarbeitern«, die »mit großem Eifer ihre Aufgaben erfüllten«. Keiner von diesen hat für irgendeinen Teil des Kommentars oder der Register verantwortlich gezeichnet. Selbst der »langjährigen« Mitarbeiterin Marianne Kreutzer, die »einen Teil des Kommentars erarbeitet [und] durch intensive Recherchen den Textbestand der Ausgabe vermehrt« hatte (ebda), konnte Hasubek nicht die Ehre einer offiziellen Mitherausgeberschaft gewähren. Es blieb bei einem öffentlichen Bekenntnis der bloßen »Mitwirkung« auf dem Titelblatt des Kommentarbandes. N u r i m Aufsatz v o n 1982 tritt Frau D r . Kreutzer gleichberechtigt als Mitverfasserin auf. Die A n t w o r t auf die Frage, an wen sich L o b und Tadel also richten müssen, ist eindeutig: an den einzigen und alleinverantwortlichen Herausgeber Peter Hasubek. Da eine Ausgabe der Briefe Immermanns von vielen Seiten gefordert wurde und seit langem ein echtes Desiderat war, n i m m t es nicht wunder, wenn die beiden Briefbände gleich nach ihrem Erscheinen begeistert begrüßt wurden. Ich verweise hier ausdrücklich auf die Besprechungen v o n Hartmut Steinecke {The German Quarterly , 52, 1979, S. 548 ff.) und Gunther Holst {Journal of English and Germanic Philology , 80, 1981, S. 101 f.). Ganz rein können w i r den Enthusiasmus dieser Rezensenten über eine Gesamtausgabe nicht teilen. Sie enthält doch auch viel Nebensächlich-Privates, was uns bei einem Lichtenberg, Bürger, Goethe, Heine oder selbst Grabbe sehr interessieren könnte, bei einem Immermann jedoch nicht. Daß sich indes in diesen Briefen auch viel Widersprüchliches, ja Peinliches offenbart, ist wichtig. Es gehört notwendig zu dem Immermann, den w i r auch heute noch schätzen: zum Verfasser der Epigonen und des Münchhausen und zum Intendanten des Düsseldorfer Stadttheaters! —
3
V g l . die »Editorische Notiz« in Band I, S. 1016 u. Aufsatz 1982 A n m . 55 u. 70.
Die Briefausgabe Karl Leberecht Immermanns
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Inzwischen sind auch zwei sehr positive Besprechungen des Kommentarbandes erschienen: eine kurze i n Germanistik, 28 (1987), S. 899 — und eine längere in Deutsche Literatur^eitung, 109 (1988), Sp. 673-Ó76. 4
Handschriftliche Quellen * (1) Da ein solches »Editionsprojekt . . . mit hoher Wahrscheinlichkeit v o n der Wissenschaft nicht zum zweiten Male i n A n g r i f f genommen werden wird« (Aufsatz S. 154), war es das erklärte Ziel des Hrsgs., nicht nur alle Briefe, sondern auch alle briefähnlichen Dokumente (»Brief- und Widmungsgedichte, 4 Einladungsbillets, Stammbucheintragungen«, dazu Mitteilungen an bestimmte Personen und Personengruppen, »Zirkulare«, öffentliche Aufrufe und Bekanntmachungen) aufzunehmen, ebenso alle Dokumente, die bestimmten Briefen beilagen. — Bei diesem Streben nach größtmöglicher Vollständigkeit berührt es seltsam, daß aus dem relativ kleinen I M M - K o n v o l u t des Heinrich Heine Instituts zwei Hss übersehen wurden. Bei Hasubek fehlen: ein signiertes Albumblatt v o m »13. Maerz 1813« (»Willkommen hier i m Grünen . . . « ) und ein undatierter Einladungsbrief zu einer »Vorlesung v o n Egmont« an das Ehepaar Grube und »Frl. Diez« v o m A p r i l 1840 (vgl. »Tagebücher« 684). — Aus dem Stadtmuseum Düsseldorf hat der Hrsg. grundsätzlich alle Eintragungen I M M s in die beiden umfangreichen »Circularien«-Bücher als briefähnliche Dokumente aufgenommen. 1 O b w o h l diese Bücher durchlaufende hsl. und
4 Bei den folgenden Ausführungen habe ich die Abkürzungen und Siglen benutzt, die auch Hasubek gebrauchte (vgl. Band I I I , S. 91 ff.), dessen Ausgabe der Leser ohnehin zur Hand haben sollte, weil hier auf vieles nur hingewiesen werden kann. »Wiese« bedeutet also die fünfbändige Immermann-Ausgabe (1971 ff.) usw. Zusätzlich: I M M ( s ) = Immermann(s); N r . = die Briefnummer der vorliegenden Ausgabe; I I , 682/7 (v. u.) = Bd. I I , S. 682, Zeile 7 (von unten); Hs(s) = Handschrift(en); Textvw., Seitenvw. oder einfach V w . = Verweis(e), Verweisung(en); »Tagebücher« = K a r l Immermann, Zwischen Poesie und Wirklichkeit. Tagebücher 1831-1840. Nach den Handschriften, unter Mitarbeit v o n Bodo Fehlig hrsg. v o n Peter Hasubek. München: Winkler 1984.
* Der Rezensent hat nur Düsseldorf und v o n den 4 Düsseldorfer Archiven (Vgl. I I I , 93) nur das Heinrich Heine Institut und das Stadtmuseum besuchen können. Die folgenden Beobachtungen beziehen sich also i m wesentlichen auf das dort vorhandene hsl. Material. 1
Die Beschreibung dieser Bücher ( I I I , 941) ist unvollständig und fehlerhaft: 1. fehlen (wie überall) die genauen Titel dieser Konvolute; 2. stammen nicht alle Zirkulare v o n I M M selbst; die v o n i h m nicht unterzeichneten (aber sicherlich v o n i h m gebilligten) fehlen in Hasubeks Ausgabe. Wer also die Theatermitteilungen ganz überblicken w i l l , muß nun doch die Hss i m Stadtmuseum einsehen; 3. enthalten nicht alle Zirkulare eine zusätzliche Angabe, »welchen Personen die Nachricht vorzulegen sei« (vgl. N r . 634, 640, 738, 843 usw.), und nicht alle wurden v o n den angesprochenen Personen gegengezeichnet (ζ. B. zu N r . 738 u. 871); 4. wenden sich die Zirkulare nicht nur »an das Gesamten-
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gestempelte Blatt- und Seitenzählungen tragen, fehlen bei Hasubek die von I M M unterzeichneten Zirkulare v o m »24. Oct. 1834« 2 , v o m »28.ten M a i 1835« und v. a. das »Zweite größere Repertoire beginnend v o m 3ten Januar 1835«, das am » I l t e n December 1934« unterzeichnet wurde. 3 V o n diesem Repertoire w i r d sogar ausdrücklich behauptet ( I I I , 980), daß es »im Circularien-Buch (1) nicht überliefert« sei, obwohl es sich tatsächlich »umstehend« (II, 369), d. h. auf den nachfolgenden Seiten »39« und »40« befindet. Hasubek merkt nun an: eine ebenfalls von I M M unterzeichnete Zweitschrift davon befände sich »im Besitz des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf«. Die Frage, warum die autorisierte Abschrift dieses wichtigen Dokuments nicht als Druckvorlage benutzt wurde, bleibt unbeantwortet. Eine der Folgen ist jedenfalls, daß nun mehrere Stücke in Hasubek Bühnenwerkverzeichnis ( I I I , 1471 ff.) nicht erscheinen und daher nicht identifiziert wurden. 4 Wie die Eintragungen in die Zirkularienbücher hätten auch alle Eintragungen I M M s ins »Strafbuch« 5 aufgenommen werden müssen. Berücksichtigt wurde jedoch nur der Fall Hoppe (Nr. 719, 725, 727), und selbst dieser unvollständig und fehlerhaft. 6 Die Begründung, weshalb das »Strafbuch« nicht berücksichtigt wurde, findet sich, soweit ich sehe, nur einmal an sehr versteckter Stelle: i n der Anm. 30 des Aufsatzes v o n 1982 (S. 180): Diese Eintragungen hätten lediglich »Protokollcharakter«, sie enthielten nur »Feststellungen über das Fehlverhalten einzelner Theatermitglieder mit Festsetzung des entspre-
semble . . . oder an eine Gruppe v o n Bühnenmitgliedern«, sondern auch an einzelne oder mehrere Theaterbeamte (vgl. N r . 637, 643 usw.; zum Unterschied zwischen Bühnenmitgliedern und städtischen Beamten vgl. das »Regulativ« I I I , 916 ff. auch I I , 570, 603). — Unrichtig ist übrigens auch, wenn der Hrsg. in der Adressatenzeile immer schreibt: »An die Mitglieder des Düsseldorfer Stadttheaters«, denn dazu gehörten z.B. auch die »Mitglieder . . . des Orchesters« (vgl. I I I , 921). 2
A u c h v o n Mendelssohn egh. unterzeichnet.
3
Schreiberhand; m i t egh. Unterschrift, Änderungen und 7 »Zugesetzten Stücken« v o n I M M ; enthält nach Genres getrennt 57 Schauspiele, Opern und Singspiele. 4
Darunter: »Der erste Eindruck«, »Die Fremde«, »Joseph und seine Brüder«, »Die Lotterielisten«, »Der neue Gutsherr«, »Die Schachmaschine«, »Der Schatzgräber« und »Die ungleichen Brüder«. 5 Kurze Beschreibungen, doch wieder ohne genaue Titelangabe: I I I , 961 u. 1086 (ein typisches Beispiel für die bei Hasubek leider häufig vorkommenden Doppelkommentierungen, die z. großen Teil aus Wiederholungen bestehen). Die Behauptung, daß die letzte Eintragung am »28. 2. 1837« stattfand und v o n I M M stammt, ist falsch. A u f dem letzten beschriebenen Blatt steht eine Eintragung v o n Jenke, datiert v o m »6. 3. 1837«! 6 Hoppe antwortete am 5. 7. 1835 nicht »mit einem Schreiben i m Circularien-Buch« ( I I I , 1023), sondern m i t einem an I M M persönlich gerichteten Brief, den dieser am 6. 7. ins Strafbuch einheften ließ (wo er auch hingehörte) und dort egh. mit einem kurzen Kommentar und einer neuen Anzeige umrahmte, auf die bei Hasubek jeder Hinweis fehlt.
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chenden Strafmaßes«. Diese Charakterisierung trifft jedoch nur auf ein i m Oktober 1834 angelegtes (und vielleicht verlorengegangenes?) »Stt&fregister« zu: »mit folgenden Kolonnen: N r o — Name des Bestraften — Strafbetrag — Ursache der Bestrafung — Bemerkungen.« 7 I n dem i m Juni 1835 angelegten »Straftet« finden sich dagegen keine protokollartigen Kolonnen mehr. D o r t w i r d zunächst eine datierte und signierte Anzeige eingetragen, i n der (oft wortreich) die Straftat geschildert und oft auch Zeugen benannt werden. Danach folgt eine Notiz, wem diese Anzeige zur Unterschrift vorgelegt werden muß, »um sich über den Inhalt obenstehender Strafanzeige nach Vorschrift des § 25 der Bekanntmachung v o m 2oten Mai d. J. zu verantworten« (s. »Strafbuch« S. »1« u. oft.). I n den Zikularienbüchern durfte ein Bühnenmitglied einen Vorbehalt oder Widerspruch nur durch ein »NB« und höchstens eine kurze Bemerkung andeuten, mußte aber seine Einwendungen »binnen 24 Stunden nach der Vorlegung . . . unmittelbar bei der Intendanz . . . schriftlich anzeigen« ( I I , 596). Beim Strafbuch dagegen mußte das Bühnenmitglied seine Entschuldigungen oder Verteidigungen ins Strafbuch selbst eintragen (vgl. I I , 604), w o v o n auch häufig Gebrauch gemacht wurde. I M M antwortete auf diese Einlassungen dann wieder eigenhändig; erst danach wurde mit Datum und Unterschrift die Strafe festgesetzt, gemildert oder niedergeschlagen. 8 — Weshalb der Hrsg. solche gelegentlichen Mini-Briefwechsel sich hat entgehen lassen, aus denen menschliche Züge des Intendanten I M M , manchmal sogar ein seltener H u m o r deutlicher hervortreten als in allen Zirkularen, bleibt unverständlich. I m Zusammenhang mit dem Strafbuch taucht ein weiteres Problem auf. Die Strafanzeigen wie die Geldstrafen selbst gehen auf umfangreiche Strafbestimmungen zurück, die der Verwaltungsrat am 20. 5. 1835 erlassen hatte und die »am 3. 6. 1835 als Druck an jedes Mitglied des Ensembles verteilt« worden waren (vgl. I I I , 1085 ff.). O b w o h l Hasubek ein Exemplar dieser wichtigen »Bekanntmachung über die künftig i n Contraventionsfällen festzusetzenden Geldstrafen« i m GSA Weimar vorfand, druckte er es nicht einmal i m K o m mentarband ab, wahrscheinlich weil es als Beilage zu einem bestimmten Brief nicht nachgewiesen werden konnte. 9 Einerseits ist es nun undenkbar, daß die Mitglieder des Stadttheaters nicht i n einer Bekanntmachung aufgefordert wor7 V g l . N r . 637; in der letzten Kolonne sollte nur »die N o t i r u n g der Niederschlagung« der Strafe erfolgen. 8 A m Beispiel Hoppe kann man erkennen, wie w i c h t i g es für I M M war, jeden Vorfall in seiner Gesamtheit i m Strafbuch erscheinen zu lassen, indem er seinen eigenen Brief an den Schauspieler ebenso wie die abschließende Strafresolution und Hoppes Originalbrief ins Strafbuch einbrachte. 9 Eine veränderte Fassung v o m folgenden Jahr (4. M a i 1836) wurde, als Beilage zu N r . 812, in Bd. I I (590-604) aufgenommen.
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den wären, die gedruckten Strafbestimmungen entgegenzunehmen und den Empfang schriftlich zu bestätigen. Andererseits hat Hasubek gegen seine eigenen Prinzipien ( I I I , 86) auch andere wichtige Theaterdokumente vollständig i n den Kommentar aufgenommen, die ebenfalls bestimmten Briefen nicht >beilagenGesinnungsterror< der Teutonia und der brutale Schläger Wenzel nach einer höchst parteilichen Schrift zunächst in den schönsten Farben geschildert. — I m Gegensatz zu den beiden Briefbänden ist der Kommentarband durch zahllose Druckfehler entstellt, auf die w i r weiter unten immer wieder aufmerksam machen müssen. Hier genüge der Hinweis auf S. 1196 (zu Nr. 919), w o mehrere Zeilen der Erläuterungen durcheinander geraten sind und keinen Sinn ergeben, was den Zweifel bestärkt, ob der 3. Bd. jemals wirklich verantwortlichem Korrekturlesen unterzogen worden ist. Jeder, der den Kommentar zum 1. M a l irgendwo aufschlägt und zu lesen beginnt, w i r d seine Fülle bewundern, v o m mannigfaltigen Reichtum überwältigt sein. Woher kommt dieser außergewöhnliche Reichtum? Da ist zunächst der Glücksumstand zu nennen, daß aus I M M s engerem biographischem Umkreis eine ganze Reihe von zeitgenössischen Biographien, Autobiographien, Memoiren, Tagebücher, Briefwechsel usw. veröffentlicht wurden (vgl. I I I 95-102). Hinzu kommt die Auswertung der Briefe an I M M , durch die unzählige Anspielungen und Rätsel der IMM-Briefe (auf-)gelöst werden konnten. 6 Und schließlich haben I M M s Tagebücher, von Hasubek selbst herausgegeben, einen nicht zu überschätzenden Wert als Quelle für Erläuterungen, Berichtigungen und Ergänzungen aller Art. D o c h mit diesen reichen Quellen gibt sich Hasubek nicht zufrieden. Wenn es gilt, Erläuterungen zu Lokalitäten
4 Literaturangaben folgen den Übersichten und sind v o n runden Klammern eingefaßt auch dort, w o sie einen eigenen langen Absatz einnehmen. Sie sind nicht klar genug gegliedert und verwirren durch weitere Klammern in den Klammern. Der Leser braucht Engelsgeduld, um ein Labyrinth wie z.B. I I I , 137 zu entwirren! 5 So findet man z.B. ( I I I , 133) die Quellen »Schiele« und »Wiese« i m Abkürzungsverz., nicht aber »Dietz«, zu dem der Nachweis erst S. 137 nachgeliefert wird. 6 Die Auswertung dieser Briefe war relativ leicht. V o n den etwas über 1000 A n Briefen, die der Hrsg. nachgewiesen hat ( I I I , 1406 ff.), erschienen zwar nur 180 i m Druck. Die Handschriften aber finden sich konzentriert an nur 2 Orten: rund 900 in Weimar, über 75 in Düsseldorf.
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oder Ereignissen zu finden, werden alte (und neue) Reise- und Kunstführer bis hin zu abgelegenen Lokalgeschichten, zu Schul- u. Gerichtsakten und alten Zeitungen usw. mit größtem Eifer gesucht und genutzt. K a u m ein Dörfchen, Bauwerk, Gasthof, Park, eine Kirche oder Sehenswürdigkeit entkommt der kommentierenden Feder! U n d zusätzliche Forschungsreisen auf den Spuren I M M s suchten das Erlesene noch aus persönlicher Anschauung zu ergänzen. Hier aus der Überfülle nur wenige Beispiele! I M M erwähnt (I, 10/21) »Holzzelle«; Hasubeks langer lokalgeschichtlicher Kommentar beginnt (S. 106): Der Ort »geht auf ein der Jungfrau Maria geweihtes . . . Kloster zurück« . . . und endet: »Gegenwärtig (1977) ist die Domäne Holzzelle eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, die einen verwahrlosten Eindruck macht . . .«!! Da erwähnt I M M nur, daß er sich in K ö l n an »Ruinen, bunten Gläsern, Gemälden und dem ewigen D o m erfreut« habe: S. 455 f. folgt ein 18zeiliger Kommentar zu den möglichen Ruinen, Gemälden und zur Geschichte der Kölner Glasmalerei und des Doms. Da schreibt I M M , daß er in Berlin »so ziemlich Alles Sehenswürdige« gesehen hat (darunter ein Mausoleum und verschiedene Kunstsammlungen), bedauert aber, daß das »nur gleichsam wie i m Fluge« geschehen konnte: die Erläuterungen dazu (181 f.) füllen eine ganze Seite! 7 Fast ein Nichts, ja ein wirkliches Nichts genügt, u m Hasubeks Erläuterungsleidenschaft zu entzünden. 8 Da plant I M M , die Kunstsammlung in Nordheim zu besuchen: der Kommentar dazu (224) füllt 20 Zeilen, obwohl I M M die Sammlung offensichtlich nie gesehen hat! Da bedauert I M M ausdrücklich, die sog. Wiedertäuferkäfige i n Münster noch nicht gesehen zu haben: der historische Kommentar zu diesen allbekannten Käfigen (185 f.): 16 Zeilen! . . . W o solche Erläuterungen nicht ganz und gar überflüssig sind, hätten meist 1 - 3 Zeilen oder eine verweisende Lit.-Angabe v ö l l i g ausgereicht, besonders da sich die Ausgabe ausdrücklich an »Fachgelehrte und fortgeschrittene Studenten der Literaturwissenschaft« wendet und nicht »relativ populäres Wissen vermittelt, vielmehr . . . der wissenschaftlichen Kenntniserweiterung für den Gegenstand >Immermann< dienen« soll (Aufsatz 160 u. ö.). 9 Erläuterungen sollten nicht als Grabstätten überflüssigen Bildungs-
7 Man vgl. weiter etwa 131 (zu »Ball«), 162 (Huisburg), 178f. (Kritiken), 219 (Mimigardia), 212 (Schillerzitat: der lange Hinweis auf einen Artikel i m >Brockhaus< ist ebenso abwegig wie überflüssig!), 223 (Antikenwelt), 230 (Straßenpeter), 296 (Bentheim), 316 (Regierungs-Jubilär), 373 (Banausen), 548 (lebende Bilder) . . . 8
Diese führt gelegentlich dazu, daß Hasubek i m Übereifer vergißt, die Quelle zu nennen: vgl. z.B. die Ausführungen v o n H. Immermann I I I , 141! 9 I m Hinblick auf diese >Zielgruppe< sind z.B. auch viele Erl. zu mythologischen Gestalten (vgl. etwa I I I , 263, 282, 353!, 373; auch zu »Laokoon« 1285, »Manichäer« 497 f. oder »Walpurgisnacht« 175 — letztere ist ungenau! — usf.) ebenso überflüssig wie Erklärungen, die sich für jeden Leser aus dem Zusammenhang v o n selbst ergeben: vgl. etwa I I I , 368 zu 448/4; 498 zu 630/19; oder 521 zu 663/12 f. . . . usw.
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und Forschungsmülls benutzt werden, wie er sich bei jedem Hrsg. anzusammeln pflegt! — Der goldenen Regel für alle Kommentare: so lang wie nötig, so kurz wie möglich, ist Hasubek selten gefolgt. 1 0 Das zeigt sich besonders bei den (ansonsten hilfreichen) Einleitungen zu Briefpartnern, deren Biographie oft über I M M s T o d hinaus verfolgt wird, statt auf weiterführende Literatur zu verweisen. 11 N u r selten sind sie ganz überflüssig; 12 viele aber sind zu lang und neigen zu epischer Breite, was zu Formulierungen führen kann wie (308): Als Uechtritz »im August 1822 mit dem v o n i h m bewunderten, nur wenig älteren Dramenautor Immermann brieflichen Kontakt anzuknüpfen suchte, war nicht abzusehen, daß sich 1829 in Düsseldorf ihrer beider Lebenswege kreuzen würden«!! Besonders der Drang, Charakterbilder i m Stil des 19. Jahrhunderts entwerfen zu müssen, treibt merkwürdigste Blüten hervor: Schon in der Jugend beobachtete man Ferdinands Hang zu
selbstquälerischem
Gedankenspiel, zum Hadern mit sich, den Verwandten, G o t t und Welt. Wenngleich als Folge davon Melancholie sein Wesen bestimmt, findet er als gefestigter sittlicher und religiöser Mensch immer wieder zum Einklang mit sich und den Mitmenschen zurück. . . . (S. 114)13
Hier spricht w o h l eher die verschwommene Sprache einer schlechten alten Quelle als die eines Hrsg.s v o m Ende des 20. Jahrhunderts! W i r müssen allerdings darauf hinweisen, daß sich Hasubek bei der beschreibenden Interpretation mancher späten Briefe bedenklich jener Grenze zum Geschmacklosen nähert, die I M M selbst in seinen Briefen an seine Braut Marianne peinlicherweise oft überschritten hat (vgl. z.B. S. 1303!!!). Gegen Erläuterungs- oder sonstige Wiederholungen, gegen überflüssige oder sich episch ausbreitende Kommentare usw. wäre eigentlich nur der Einwand des >Lästigen< zu erheben, wenn nicht der Hrsg. selbst über Raumnot so häufig bewegte Klage geführt hätte, die sogar die Form der Anklage gegen die »Germanistische Kommission der D F G « annehmen kann (vgl. Aufsatz, A n m . 70)! D o c h es geht hier u m mehr als u m Seitenverschwendung. Über seiner vornehmlich personen- und sachbezogenen Kommentarleidenschaft — über seiner Stoffhuberei — hat Hasubek zu oft die erste Herausgeberpflicht versäumt: die Texte zu klären, Textanspielungen und -zusammenhänge trans-
10 I m Gegensatz zum Kommentar der »Tagebücher«, dessen Umfang der Verlag von Anfang an strenge Grenzen zog und der sich deshalb durch eine wohltuende Knappheit auszeichnet (vgl. dort S. 729). 11 Das gilt besonders auch für die langen Ausführungen über das Verhältnis zwischen Elisa und Marianne nach dem Tode I M M s ; vgl. I I I , 1276f., 1337ff. u. ö. 12 Wie die zu Chr. Schultz (342); hier hätten 3 Zeilen genügt, den Hintergrund des einzig erhaltenen Briefes aufzuhellen.
» Man lese den ganzen Absatz! V g l . 123 ob., 280 ob., 381 /7ff., 1276 ob.! . . .
Die Briefausgabe Karl Leberecht Immermanns
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parent zu machen. — Z u allen nachfolgenden Zeugengruppen können aus der sich anbietenden Fülle immer nur wenige Beispiele genannt werden. Lemmata, die i m >Fremdwörterduden< oder durch die Register geklärt werden, oder den Vermerk >nicht ermittelt< tragen (s. I I I , 89), wurden natürlich nicht aufgenommen. Da gibt es ungeklärte veraltete, mundartliche oder sonst ungewöhnliche Ausdrücke wie: I , 12/10 »quaslicht«, 60/10 »symbolisches« Holz fassen, 60/32 »Brausche«, 100/18 »Füchschen«, 256/3 »bürstete . . .«, 314/17 »flecken«, 672/7 »Relache«; I I , 361/10 »Die Ochsenmenuett« (vgl. I I I , 20/17 »das . . . Fuhrerlohn«), 669/10 »refüsirt«, 930/1 »quiemen« . . . usf.; weitere Einzelformulierungen wie I, 222/13 »Götter der eisernen Stirn«, 246/21 »Theemaschinenlampe«, 303/2 »Cavaliade«, 347/2 »nach Deinem Pfingstblatte, i m vorigen Winter«, 633/4 »dahin«, 679/6 f. »Kohlenrechnung«, 740/19 f. »mit All« (muß sicherlich heißen: » A h l « = A a l ) usw. . . . ; unerklärte Personen wie: I, 55/18 »Hochgeladen«, 307/16 »dem Herrn Vetter«, 307/20 »hier drucken« (bei wem?), 313/11 f. »das Wundermannsche Comptoir Vieh«, 415/17 f. »Aschendorfsche Buchdruckerey hieselbst«, 457/34 ff. »Staatsgefangener«, 625/18 f. »die jüngste Le Gayn«, 626/24 ff. »den armen Sack« (durch PR nicht identifizierbar), 653/28 »Häffelin«, 677/9 f. »Fischer«; I I , 683/25 »Man«, 875/9 »Martha« ( = A n s p i e l u n g auf Lukas 10, 40ff.!) usw. . . . Manchmal bleiben auch größere Textzusammenhänge dunkel und werden nicht aufgehellt. 14 — Oft sind die gegebenen Erläuterungen ungenügend und lassen Wesentliches aus: 173 (zu 97/17): Identifizierung von »Blau, blau, blau« fehlt; 222 (zu 184/27): hier sind alle 15 Zeilen überflüssig! Es fehlt der Hinweis auf die (mehrfach überlieferte) allbekannte Fabel des Prodikos, die nicht nur Wieland zur Vorlage diente!! 263 (zu 277/3ff.): Erläuterungen zu »W'schen . . . des W . W o h n o r t « fehlen! 297 (zu 332/1): über der Lokalgeschichte wurde die Anspielung auf die »Papierfenster« übersehen und nicht aufgelöst! 356 (zu 434/5 f.): die Erl. ist viel zu lang; »Zwiebelpoeten« = Vf. von weinerlichen Rührstücken! 433 (zu Nr. 274 u. ö.): Warum wurde nicht erwähnt, daß I M M alle Briefe von Schlüsser verbrannte (s. »Tagebücher« 78 u. 767)? 595 (letzter Satz): Hier hat Hasubek die vorausgehende Erl. zu 787/5 f. vergessen. Menzel, als Gegner I M M s , hätte einen solchen >Bildungsfehler< mit Freuden aufgegriffen! 713 (zu 1011/6ff.): vgl. I I , 14/21 ff. (Dieser Text blieb unerläutert!): E i n von Joh. Wolfgang Döbereiner 1823 erfundenes chemisches Feuerzeug! 1268
14 V g l . z.B. I , 12/3ff., 9 8 / 3 - 6 , 217/10, 21 u. 24-27, 288/31f., 296/21-25, 3 0 4 / 5 - 9 , 311 /21 ff., 318/16-18, 332/23-27, 346/24f., 623/16-21, 782/19-22, 794/22f., 8Ö88/911 usf.; 331/15-20: zu I M M s Auffassung der Sonette v o n Shakespeare und dem berüchtigten »Herzog v o n Suffolk« ist ein aufklärendes W o r t erforderlich; vgl. dazu auch den merkwürdigen Verw. v o n »Suffolk« I I I , 1661 auf W i l l i a m de la Pole: I I I , 1631!
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(zu 880/9): hier hätte man anmerken müssen, daß nach I I , 904/16-19 der lange Reisebericht weniger an die Adresse von Ferdinand (u. der Familie) sondern v. a. an die von Marianne Niemeyer gerichtet war! Noch öfter führen die Erläuterungen völlig am Text vorbei und/oder sind einfach falsch. Hierzu eine kurze Blütenlese 15 : 117 (zu 18/7): Unsinn, dem Vater w i r d nur ein gesegnetes Alter gewünscht! 250 (zu 244/27 f.): Unsinn, hier ist einfach »Tinte« gemeint! 277 (zu 302/5 f.): Unsinn, hier ist »Steiß« gemeint! 302 (zu 347/16f.): Unsinn, Johanna Strümpfler war 1822 erst 14 Jahre alt (vgl. 1660)! 525 (zu 671/1 f.): v o n einem »geplanten Besuch Düsseldorfs« war i m Brief nicht die Rede. 647 (zu 884/15): Unsinn! 720 (zu 15/11): am Text vorbei. I M M schrieb »um Michaelis«; die eigentliche Anspielung Z. 8-24 (Witze — Überzug) wurde nicht gesehen! 1080 (zu 580/1): hier handelt es sich nicht u m den »Jungen Tischlermeister«, sondern u m »Eigensinn und Laune«! 1141 (zu 683/10): hier geht die ganze Erl. am Text vorbei. Der zu klärende Schlüsselbegriff ist (Z. 9) »Schiboleth« nach Richter 12, 5-6! 1302 (zu 949/34): auch diese Verweisung geht am Sinn des Textes vorbei! — Bei fremdsprachigen Zitaten stieß der Rezensent auf (I, 787 / 34) »in einem lustro«, Hasubek I I I , 596: »lustro: (lat., lustrum) Morast, Pfütze«; auf (II, 670/34) »in articulo mortis«, Hasubek I I I , 1134: »(lat., articulus: Thema, Überschrift) unter dem Vorzeichen des Todes« (nach I I I , 715: »im Zustand des Toten«); oder auf (II, 681) »Dixi salvavi animam [meam]«, Hasubek I I I , 1138: »Ich sprach und rettete das Leben.« Unübersetzt blieben etwa (I, 12/24f.): »materia peccans« oder (I, 104/1 f.): »exempla sind gegenwärtig dafür in promptu, sed odiosa«. — E i n griechisches Zitat (I, 266/1) übersetzt Hasubek freundlicherweise mit »Auf Widersehen i n Liebe«; die klassische Bedeutung war dem Philologen Ferdinand sicher bekannt! Aus dem Französischen »Pere noble« (I, 102/6) wurde ein »Heldenvater« ( I I I , 177). Und beim Englischen »Cap-cheap« handelt 15 vgl. auch I, 169: Fouqué gab das »Frauentaschenbuch« 1815 -18^7 heraus, und es muß natürlich »Thiodolfs« heißen (falsch auch S. 1564!); 176 m.: »(gestern)« = kursiv! ebenso etwa 2 7 9 / 7 v . u.: »geliebt habe«; 279/5 v. u.: »S. 1020, 18«; 379/9: »zu N r . 202«; 548/14 (zu 705/5): die Gräfin hieß Stéphanie-Félicité de Genlis (1746-1830)! Falsch auch i m PR unter »Senlis«, w o natürlich nähere Angaben fehlen; 569 m.: Schnabels »IrrGarten« erschien 1738 (nicht erst 1749); 622 ob.: Kerners »Seherin« erschien 1829; 686: bei den Zitaten aus K ö p k e muß es heißen »Theil II«; 721/3: »vgl. Nr. 462«, und Deinhardstein wurde 1794 (nicht 1789/1790) geboren; 763 (zu 99/13): das »Reisejournal« erschien zuerst 1834, und das Zitat aus den »Tagebüchern« steht auf S. 117 (nicht S. 11); 859 m.: die beiden Beiträge in der »Düsseldorfer Zeitung« erschienen in den Ausgaben v o m 19. u. 20. 12. (nicht 18. u. 19. 12); vgl. 872 u.: »Düsseldorfer Zeitung v o m 15.2.« (nicht 14.2.); 1027 u.: es muß »Tagebücher, S.472« heißen; 1175 (zu 739/12-17): der Originaltitel lautet: »The D u k e o f Millaine« (nicht Milan); 1192/1 v. u.: Quellenangabe ist falsch; 1276/11 v. u.: es muß »Marianne Wolff« heißen; 1282 (zu 911 / 6): es muß »Nr. 1013« heißen; 1370 (zu 1080/29 f.): die Verweisung ist falsch! . . . usw.
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es sich kaum um ( I I I , 476) »eine anglisierende Sprachschöpfung Immermanns, da i m Englischen, auch i n Analogiebildung, nicht nachweisbar«, sondern u m eine Ver Schreibung v o n »kep-« bzw. »kip-cheap«! Daß Hasubek bei der Personenidentifizierung gelegentlich höchst fahrlässig vorging, belegen die folgenden Beispiele. Der Schriftsteller, Kupferstecher und Buchhändler Eberhard mag zwar (nach den I I I , 140 genannten Quellen) identisch sein mit einem »namhaften zu Halle lebenden Gelehrten« (I, 15/27). Dieser Eberhard besaß jedoch keinen Dr.-Titel und war niemals Universitätsprofessor! 16 — Der folgende Fall zwingt zu größerer Ausführlichkeit. I n einem Brief v o m 23. 9. 1817 an G ö r i n g 1 7 heißt es: »Zimmernann I habe ich Meckels Gegenschrift mitgegeben für Dich.« Eine Erläuterung zur Person des Überbringers fehlt; doch erfahren w i r aus dem Personenregister ( = PR 1677 u. aus I I I , 133), daß dieser Zimmermann I zusammen mit I M M und Göring in Halle studierte, zu den »engsten Freunden« I M M s zählte und 1822 Assessor am Oberlandesgericht Magdeburg war. D o c h w o bleibt Zimmermann I I , der Göring auch bekannt gewesen sein mußte? O b w o h l i m PR unter Zimmermann I angeführt, hatte Hasubek vielleicht gewisse Zweifel, ob jener »junge Zimmermann«, der i m Brief N r . 241 kurz erwähnt wird, mit Zimmermann I identisch ist: »Biographische Daten nicht ermittelt«, heißt es dazu ( I I I , 388). Weitere Verweisungen gibt es i m PR nicht. W i r wundern uns natürlich, daß einer der »engsten Freunde« I M M s (so auch I I I , 138) so spurlos verschwinden kann. Sollte diese Formulierung lediglich Hasubeks Phantasie entsprungen sein? Durch Zufall entdeckten w i r in den Briefen 2 weitere junge Zimmermänner. Anfang Januar 1818 berichtete I M M Göring über seine Examenszeit i n Halberstadt (I, 71): »mein dortiger Aufenthalt war eben nicht angenehm, da ich wie D u weißt keinen Bekannten außer Zimmermann dort habe, und dieser seiner Geschäfte wegen auch nicht oft bei mir seyn konnte.« Bei diesem Halber Städter Zimmermann w i r d es sich w o h l u m den fehlenden Zimmermann I I handeln, ebenso wie i m Brief N r . 167 (vom August 1822), w o es heißt: »wie mir Zimmermann, als Assessor bei dem Appellationshofe zu Coeln angestellt, schreibt« (I, 347 f.), — denn Zimmermann I war ja 1822 i n Magdeburg tätig! U n d w i r dürfen w o h l mit Recht annehmen, daß dieser Halberstädter Zimmermann I I der Sohn jenes »alten Zimmermanns« war, den I M M i m Dezember 1821 i n Halberstadt besuchte (vgl. I , 293 u. PR 1678). Aus welchen Gründen Hasubek jene beiden Briefstellen nicht kommentierte und i m PR nicht auf sie verwies, ist ein Rätsel! 18 — M i t einem Beispiel aus dem 2. Teilband wollen w i r schließen! Bei
16 V g l . I I I , 132 u. und das PR 1559. Ebenso ist w o h l zu bezweifeln, daß der Gerichtsassessor »Bormann« (I, 691 u. 730) identisch ist m i t dem »Obertribunalrat« Bormann in Berlin ( I I I , 1546).
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W o h l nach Holzzelle: vgl. I , 55/19 und I I I , 150 zu N r . 32.
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Namensgleichheit macht auch der Intendant I M M bei seinen Eintragungen i n die Zirkularienbücher meist die Unterscheidung zwischen »I« und »II«, die dann das PR und der Kommentar übernimmt: so gibt es »Giesen I« und »Giesen II«, Blumauer I u. I I , Hanff I u. I I , bei Lauber sogar eine »I« und eine »III«, wer Lauber I I war, w i r d uns leider nicht gesagt. G i b t es schon hierbei genug Verwechslungsmöglichkeiten, 19 so müssen w i r i m Folgenden v o n einem Skandal sprechen. Aus der zusammenfassenden Einleitung über den Schauspieler und Opernregisseur Jenke ( I I I , 898) und mehreren Einzelkommentaren erfahren w i r , daß Jenke Ende März 1836 nach Dresden floh, doch von Tieck dazu bewogen wurde, nach Düsseldorf zurückzukehren. I M M schreibt dazu an Tieck am 13. April: . . . ich danke Ihnen »für den Rückschub des Deserteurs Jencke. . . . Vorigen Sonntag ist er, . . . den Trotz Cains auf der Stirn, hier wieder einpassirt. Dieser Mensch kam hierher und konnte nichts spielen als den Barbierer Schelle; unablässige Mühe, die ich mir mit i h m gab, brachte es endlich dahin, daß er in Calderon u. Shakespeare producirt werden konnte, und noch zuletzt einen recht hübschen Mercutio lieferte, und als ich ihn soweit hatte . . .« (usw.) Diese Schilderung widerspricht völlig dem Bild, das I M M v o n Carl Jenke bis dahin gezeichnet hatte, den er von Anfang an 2 0 für einen der »talentvollsten« Schauspieler gehalten, stets seine Leistungen bewundert und ihm schon früh (Ende 1834) die Regie der Oper übertragen hatte. Man erkennt sofort: i n dem Brief an Tieck muß es sich u m einen ganz anderen Jenke gehandelt haben. U n d tatsächlich taucht Jenkes Name i n den Unterschriftslisten v o m 10. 3. 1836 plötzlich als »Jenke I« auf und danach immer wieder bis zur Auflösung des Stadttheaters i m März 1837. 21 Es muß also einen Jenke I I gegeben haben. U n d den gab es i n der Tat! Grabbe schreibt i m Düsseldorfer »Fremdenblatt« zur Aufführung von Töpfers »Die Einfalt auf dem Lande« (15. 2. 1836): »Herr Jenke I . . . schien mit Vorsatz alles Übertriebene niederzuhalten. Herr Jenke I I ist ein kräftiger Anfanger, der bald w ü r d i g neben Herrn Jenke I , seinem Bruder stehen dürfte«! 2 2 . . . W i r können aus Raumgründen den Fall nicht i n all seinen traurigen
18 E i n »Staatsrath v o n Zimmermann« (I, 679) bleibt ebenfalls ohne Erl. und w i r d i m PR vergessen! 19 I m PR der »Tagebücher« tritt z. B. Lauber I I I als »Lauber (II)« auf; daß es sich bei den beiden »Hanff« u m Schwestern handelt, weiß nur das PR der »Tagebücher«; I I I , 1128 (zu N r . 850) hat Hasubek z.B. Hanff I ( = Frau Albrecht, die Sängerin) m i t Hanff I I (Frl. Hanff, die Schauspielerin) verwechselt. 20 Hasubek schreibt, daß Carl Jenke seit »Oktober 1834« der Düsseldorfer Bühne angehörte ( I I I , 898); i m Rollen-»Austheilungs-Buch« findet sich Jenkes Unterschrift jedoch schon unter der 1. Eintragung v o m »5ten September 1834«! 21 Vgl. I I , 611, 637, 643, 672, 690. Diese Angaben sind unvollständig, da Hasubek nicht alle Zirkularien aufnahm und v. a. das Rollen-»Austheilungs-Buch« nicht kennt! 22 V g l . v. a. auch Grabbes Besprechung der Aufführung v o n »Romeo und Julia« (27. 3. 1836): »Dem Merkutio dieses Abends w i r d es bei seinem sonstigen bedeutenden
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Einzelheiten verfolgen. 2 3 Sicher ist jedenfalls, daß nicht C. Jenke nach Dresden floh, sondern der jüngere Bruder, 2 4 daß I M M Tieck nicht C. Jenke für eine Anstellung nach Dresden empfahl (Brief Nr. 862), sondern den Bruder und daß wahrscheinlich auch der Brief N r . 894 nicht an C. Jenke, sondern an den Bruder gerichtet war. Fazit: nicht nur die Haupteintragung zu Jenke, auch eine ganze Reihe von Einzelerläuterungen und Registereintragungen müssen geändert werden. U n d wieviel ähnliche Fälle sich noch in den Hasubekschen Kommentaren und Registern verbergen, mögen die Götter wissen!
Register und Verzeichnisse Schon i m Aufsatz von 1982 wurde die Erstellung von detaillierten Registern als »besonders dringliche Aufgabe« erkannt. I n der Tat: i m Hinblick auf Benutzer mit unterschiedlichsten Forschungsinteressen würde die Briefausgabe nur einen sehr begrenzten Wert besitzen, wenn die Vielfalt der Texte und der Reichtum der Kommentare nicht durch sorgfaltige Register und Verzeichnisse zugleich aufgeschlüsselt und zusammengefaßt wären. Solchen Forderungen hat der Hrsg. i n einem Anhang von über 300 Seiten in Petitdruck Rechnung getragen. Diese Register »haben aber nicht allein den Zweck, dem Benutzer das Auffinden bestimmter Textstellen zu ermöglichen, sie sollen darüber hinaus der Kommentierung der Briefe dienen und somit die Erläuterungen der Einzelbriefe entlasten; sie sind selbst Bestandteil des Kommentars.« (1982, S. 163, vgl. I I I , 1401). Das gilt i m besonderen Maße für das »Verzeichnis der Bühnenwerke« (1471 ff.) und für das »Register der Werke Immermanns« (1515 ff.), noch mehr aber für das Personenregister (1532ff.). I n aberhundert Fällen enthalten diese die einzigen Informationen zu bestimmten Werken oder Personen. Wenn w i r also i n unserer K r i t i k ausführlich auf diese Register eingehen, so behandeln wie sie ganz i m Sinne des Hrsgs. als Bestandteile des Kommentars. Daß es bei diesen Registern aus notwendig gewordenen Beschränkungen des Umfangs zu Änderungen und Kürzungen der Entwürfe von 1982 kam, ist
Talent was Leichtes sein, in solchen komischen Rollen, welche höher liegen als die Schellen m i t Raupachs Barbierbecken geklappert . . . « (usw.) 23
Dazu wäre auch eine Vergleichung der Hasubekschen Texte m i t den benutzten und v. a. den nicht benutzten Handschriften des Düsseldorfer Stadtmuseums erforderlich. 24 U n d dieser durchaus nicht zusammen mit Eduard E u l i n g am »29. 3. 1836«, wie Hasubek gegen die Texte phantasiert ( I I I , 1079). Laut Brief N r . 794 hatte E u l i n g schon am 23. 3. Düsseldorf verlassen (und damit das Repertoire in Gefahr gebracht), war aber spätestens am 3. 4. wieder in Düsseldorf zurück (vgl. N r . 797)!
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durchaus nicht überall zu beklagen. A m leichtesten läßt sich ein Verzeichnis von I M M s Bibliothek entbehren, da dieses zur Erläuterung und Kommentierung von I M M s Briefen, v. a. auch zu seiner Tätigkeit als Intendant nur einen sehr bescheidenen Quellen wert besitzt. 1 Sehr vermißt man hingegen eine (auch 1982 nicht geplante) Zeittafel, die das gewaltige Detailmaterial des äußeren Lebens auf wenigen Seiten übersichtlich gliederte. Ebenso notwendig wäre es gewesen (nicht nur für I M M , sondern nächste Verwandte, engste Freunde und zahllose Bekannte), auf einer Seite die übliche juristische Beamtenlaufbahn nach Abschluß des Studiums zu skizzieren. — Da nicht nur beim Intendanten I M M viel von Geld die Rede ist, wurde 1982 eine Umrechnungstabelle der zahlreichen Währungssorten angekündigt, die allerdings schwer zu erstellen ist und w o h l deshalb aufgegeben wurde. D o c h eine kurze Zusammenstellung von einigen Gehältern, Gagen, Löhnen, Autorenhonoraren und ein paar Lebenshaltungskosten etc. in der Zeitwährung hätte schon genügt, dem ratlosen Leser ein Bild zu verschaffen. Sie hätten leicht den Briefen selbst entnommen werden können.
I. Der Briefwechsel Immermanns nach Korrespondenzpartnern (1406-1470) Da die geplanten chronologischen und alphabetischen Verz. der An-Briefe aus Raumgründen wegfallen mußten, hatte der Hrsg. den genialen Einfall, die An-Briefe mit den Briefen I M M s zu einem alphabetischen Gesamtverzeichnis ( G V ) zu verbinden. Das Ergebnis ist bestechend, läßt doch die chronologischtabellarische Anordnung innerhalb der einzelnen Briefwechsel nun in vielen Fällen auf einen Blick Bezugs- und Antwortbriefe erkennen. Chronologische Verz. der IMM-Briefe finden sich überdies in den beiden Textbänden, i n die man die wenigen Nachträge aus Bd. I I I leicht eintragen kann. — Ins G V aufgenommen wurden auch alle mit Fundort nachgewiesenen An-Briefe von solchen Briefpartnern, bei denen alle Briefe I M M s verloren gingen. Schade ist nur, daß nicht auch die zwar mit Sicherheit erschlossenen, aber nicht überlieferten V o n - und An-Briefe berücksichtigt wurden. Leider ist dieses reiche und gut gegliederte G V nicht frei von Nachlässigkeit e n 2 und groben Fehlern, von denen w i r einige anführen wollen. Da w i r d ein 1 Das Verz. ist gesondert erschienen: P. Hasubek, »Die Bibliothek K a r l Immermanns«, in: Internationales A r c h i v für Sozialgeschichte der dt. Literatur, 9 (1984), S. 67107. Z u bedauern ist, daß das Verz. den eher zufalligen Ordnungsnummern v o n I M M folgte (was das Auffinden einzelner T i t e l sehr erschwert) und nicht alphabetisch nach Verf. u. Titeln angeordnet wurde. — V o n ungleich größerem Wert wäre ein Verz. der Bibliothek gewesen, die I M M für das Düss. Stadttheater anlegte: vgl. »Tagebücher« S. 343 u, oft.
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Widmungsgedicht ( I I I , 24 f.) kommentarlos als an einen »Verwandten oder Freund« gerichtet angesehen und so eingeordnet (1467), w o h l nur weil es ein >Du< anspricht — es hätte unter der Rubrik »Unbekannt« eingereiht werden müssen! 3 Da erscheinen mehrere Briefe I M M s , die an die »Redaktion der / Jahrbücher der Literatur. / zu Wien« gerichtet sind, unverständlicherweise (vgl. 1699) unter »Wiener Jahrbücher . . .« (1468), während ein dazugehöriger An-Brief unter »Redaktion der Jahrbücher . . .« (1452) auftaucht. Sie hätten alle unter »Jahrbücher der Literatur, Wien« zusammengefaßt werden müssen! 4 Da gibt es eine Reihe von An-Briefen mit falschem D a t u m ! 5 Erschlossene Datierungen sollen (laut 1401) i n Spitzklammern erscheinen. Diese fehlen aber unbegreiflicherweise bei einer Vielzahl von Briefen I M M s , bei denen das Datum gar nicht oder nicht vollständig überliefert wurde!! 6 Andererseits erscheinen i n Text und Kommentar mit Sicherheit datierte Briefe i m G V in Spitzklammern, also nur mit einer erschlossenen Datierung. 7 Ja, es fehlen eine Anzahl von An-Briefen i m G V , aus denen i m Kommentar sogar zitiert w i r d ! 8 — und schließlich und endlich zwei Briefe von I M M selbst: N r . 636 a an die »Bürger von Düsseldorf« und N r . 225 a an Elisa v o n L ü t z o w ! ! ! 9
2 Entschuldbar könnten einige Druckfehler sein, wenn nicht die beiden Kommentarbände v o n einer unglaublichen Fülle v o n übersehenen Druckfehlern entstellt wären. Hierzu einige Beispiele: so hat z.B. Chr.Schultz (1459) eigentlich nichts i m G V zu suchen, bis man bemerkt, daß die Z. der Briefnr. 199 zu hoch gesetzt wurde; ähnliches gilt für N r . 465, S. 1433; so erscheint der An-Brief v o n G. v. Cotta v o m 26. 12. 1828 gleich zweimal (1412); so muß die Briefnr. an Mendelssohn ( v o m 1.11. 1834) >642a< lauten, nicht »642 b«. 3 V g l . I I I , 1375 (zu N r . 1077). Die vertrauliche >DuVorwort< schreibt Hasubek ( I I I , 83), daß er nachträglich korrigierte Adressenzuschreibungen »nicht in das Gesamtregister aufgenommen, sondern in einer gesonderten Liste angefügt« habe. Ehe w i r das bedauern konnten, erwies eine Überprüfung dieser Korrekturliste ( I I I , 1714), daß i m G V alle falschen Zuschreibungen getilgt, alle neuen eingefügt wurden. 1 0 Wie ist der Widerspruch zu erklären? H. meinte mit »Gesamtregister« nicht das umfangreiche G V , sondern ein (1708-13) angehängtes »Alphabetisches Verz. der Adressaten«, in dem die neuen Zuweisungen tatsächlich nicht durchgeführt wurden. Da nun aber auch das G V alphabetisch nach Adressaten angelegt ist, erweist sich das angehängte unkorrigierte Verz. als überflüssig.
II. Verzeichnis der Bühnenwerke (1471-1489) = VB Da es sich bei den in den Texten genannten Bühnenwerken meist u m Titel handelt, die heute unbekannt sind, da diese Titel oft in abgekürzter Form erscheinen und da Angaben zu den Verfassern oder zum Genre i n der Regel fehlen, war ein alphabetisches Verz. mit entsprechenden Kurzinformationen eine schiere Notwendigkeit. Dabei muß sich der Benutzer allerdings bewußt sein, daß dies V B mit seinen rund 400 Titeln nicht einmal i n Bezug auf das Repertoire des Düsseldorfer Theaters auch nur annähernd vollständig ist. 1. blieben die vielen, nur in den Kommentaren auftauchenden Werke i m V B unberücksichtigt: so fehlen ζ. B. »Der Schnee« von Auber, »Die Fremde« von Bellini, »Der Blaubart« von Grétry oder »Euryanthe« von C. M . v. Weber (vgl. I I I , 1052 f.) usf. 2. wurden die Theaterdokumente nicht vollständig überliefert und das Überlieferte nicht vollständig erfaßt. So fehlen aus dem wichtigen »Repertoire des Düsseldorfer Stadttheaters unter der Leitung I M M s « ( I I I , 1490ff.) i m V B z.B. Birch-Pfeiffer »Die Günstlinge« und »Katharina II.«, D u v a l / M e h u l »Joseph in Ägypten«, Ebers »Lustiger Faßbinder«, Hoffmann / Solié »Das Geheimnis«, Iffland »Hausfrieden«, Kotzebue »Die Brandschatzung« und »Verlorenes Kind«, Spohr »Jessonda«, Stawinski »Familienleben Heinrich I V « oder Zahlhaas »Jacobe von Baden«. 11 Man erkennt: dies V B hat einen nur sehr begrenzten Wert. Man hätte (auch zur genauen Identifizierung) alle Bühnenwerke aufnehmen müssen, nicht nur die in den überlieferten Brieftexten zufällig genannten! — Dieser an sich schon begrenzte Wert w i r d durch zusätzliche Fehler weiter vermindert.
10 Diese Überprüfung war bei der Umschreibung v o n K o r t ü m zu A . Solger nicht ganz einfach, weil dort (1714) Band- und Seitenzahlen vergessen wurden! — Unverständlich ist es, warum nicht auch die wenigen neuen Briefdatierungen I I I , 1714 angeführt wurden, so daß sie der Benutzer in sein Exemplar hätte eintragen können. 11 Da alle diese Werke auch nicht i m Personenregister Hasubeks Ausgabe so gut wie nicht vorhanden.
erscheinen, sind sie in
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(a) Was die Aufnahme von Werktiteln aus den Textbänden betrifft, so weist sie unbegreifliche Lücken auf, wie Stichproben ergaben. So fehlen z.B. »Andreas Hofer« ( = die Oper: I , 891), »Clementine« (I, 980), »Figaros Hochzeit« ( = das Lustspiel I, 800), »Glück und Unglück« (I, 980), »Isaure« (I, 766), »Joseph Kroquet« ( I I , 979 f.), »Kaiser Albrecht« (I, 685), »Der Rabe« (I, 346, 367), »Unser Verkehr« (I, 739), etc. — und ausgerechnet auch I M M s »Das Mädchen aus der Fremde« ( I I , 628 f. u. oft.)! Dafür werden gelegentlich falsche Titel genannt 1 2 oder Bühnenwerke verzeichnet, die gar nicht existieren. 1 3 So erscheint (1472) ein Lustspiel von Herzenskron »An Überbringer«, das 1824 in Wien seine Uraufführung erlebt haben soll. Folgen w i r jedoch den 4 Textvw., so müssen w i r feststellen, daß das Stück überall »Der K u ß an Überbringer« heißt und unter diesem Titel mit den gleichen 4 V w . auch i m V B geführt wird. Wie »An Überbringer« ins V B geraten ist und sich trotz allem Korrekturlesen dort halten konnte, bleibt eines der vielen Rätsel des V B . 1 4 Ebenfalls unter dem Buchstaben >AD< scheinbar den richtigen Titel, sogar gleich zweimal (1474): einmal als Oper (und verweist uns wieder auf den falschen »Apotheker« zurück), i n der 2. Eintragung aber als Schauspielposse mit einem Verweis auf »Die feindlichen Brüder« (1475) v o n Raupach, das den
12 So w i r d die bekannte komische Oper von Boieldieu ausdrücklich als »Die weiße Frau« geführt, o b w o h l alle Textstellen und Komentare (auch I I I , 68 und das Personenregister) nur den richtigen T i t e l »Die weiße Dame« kennen. Ebenso ist »Das Neusonntagskind« nicht zu finden: in den Texten und Registern heißt es überall: »Das neue Sonntagskind«! 13 Was nach dem T i t e l »Die E r b i n aus Braunschweig« m i t »( = Die Erbin?)« gemeint sein kann, ist ein Rätsel, denn der einzige Textvw. führt nur zum vollen Titel. Hier scheint eine N o t i z aus der frühen Arbeit des Hrsg.s stehengeblieben zu sein, die nun sinnlos geworden ist. Ebenso dürfte es sich bei der Eintragung »Der goldene Kranz« (mit dem Verweis auf »Das goldene Kreuz«) um eine erste falsche Lesung der Handschrift handeln. Der T i t e l »Der goldene Kranz« ( I I , 513) wurde dort jedenfalls unter den »Errata« ( I I I , 1716) verbessert, während er i m V B stehenblieb. Schon die »Tagebücher« (von 1984) kannten den richtigen Titel (S. 980)! 14 Daß die falsche Eintragung den franz. A u t o r Scribe nicht kennt, die richtige v o n der Wiener Uraufführung nichts weiß, wirft ein erstes Licht auf spätere Konfusionen. 15 V g l . I I I , 1511. Stephanie d. J. war i m Personenregister nicht zu finden; unter Ditters v. D . steht wieder nur der falsche »Apotheker« m i t einer neuen Verweisung auf I I I , 1137. D o r t aber spricht eine Schauspielerin in einer hsl. N o t i z wieder nur v o m richtigen »Doctor u. Apotheker«!
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Untertitel »Homöopath und Allopath« tragen soll (was nicht stimmt!). D o r t finden sich zwar 3 Textvw., doch ist in diesen Texten nirgends ein »Doktor und Apotheker« zu entdecken. 16 Woher diese Schauspielposse v o m »Doktor u. Apotheker« stammt, bleibt (vorläufig) ein Rätsel! — N o c h größerer Verwirrung begegnen w i r bei der Titelaufnahme der 13 »Lebenden Bilder«, mit denen das V B schließt. 17 Nach Hasubeks eigenen editorischen Prinzipien haben jedoch »Der Handschuh« und »Die Katzen und der Hausherr« i n diesem Verz. nichts zu suchen, da die Brieftexte keinerlei Hinweise darauf enthalten. Aus gleichem Grund sind bei allen übrigen Titeln die Textvw. auf den Kommentarband (III) zu streichen. Die Textvw. auf »II, 337« bei »Parnaß«, »Raphael« und »Trauriges Königspaar« müssen in »II, 357« geändert werden: sie beruhen auf einem (der vielen) unkorrigierten Druckfehler v o n Bd. I I I (S. 970)! Die drei Titel »Amor und Psyche«, »Landschaft mit Pan . . .« und »Weinberge, Genien« sind reine Erfindungen Hasubeks (einem längeren szenischen E n t w u r f I M M s entnommen, vgl. I I , 540 ff.) und gehen keineswegs auf bildliche Vorlagen des Malers Hildebrandt (oder auf Canova) zurück. Es handelt sich gar nicht u m 3 getrennte, selbständige Lebende Bilder (als die sie in der alphabetischen Auflistung erscheinen), sondern u m ein einziges, das den kurzen Geistergesang der Studierzimmerszene des »Faust I« v o n Goethe (Vers 1447-1505) zur Vorlage hat. U m den inneren Gang dieses Gesanges als Lebendes Bild i n Szene zu setzen, hatte I M M »3 große Tableaux« entworfen, »die i m Hintergrund [des Studierzimmers] nach und nach erscheinen« sollten, — und hatte Hildebrandt nur um Skizzen dazu gebeten, damit der Maschinist Hausmann sie ausführen konnte!! (b) Ebenso lücken- und fehlerhaft wie die Aufnahme von Werktiteln sind die Textverweisungen auf die Bde I u. I I . Bei »Iphigenie« und »Romeo« fehlt ζ. Β. I, 379, beim »Sturm« 776, bei »Andreas Hofer« 836; bei »Albrecht Dürer« fehlen I I , 171, 183, 189f., bei »Iphigenie« 671, bei »Gunst des Augenblicks« und »Verirrungen« 763; beim »König Enzio« fehlt I I I , 695 ( = Briefnr. 451) usf. Umgekehrt gibt - es auch einige Fehlvw. auf Seiten, auf denen das betreffende Stück nicht zu finden ist: so bei Marlow »Jude von Malta« I , 994 oder bei Sophokles »Antigone« I, 281 . . . Manchmal w i r d bei Titelgleichheit auf das falsche Werk verwiesen: so bei Terenz »Die Brüder« auf I I , 548, w o man nur »Die Brüder« von I M M findet (als »Die Nachbarn«). Häufiger müssen w i r natürlich Verweisungen auf solche Seiten vermissen, auf denen ein Werk zwar erwähnt oder gar besprochen wird, jedoch ohne ausdrückliche 16
auch nicht unter Raupach i m Personenregister oder in den Registern der »Tagebü-
cher«. 17
Hasubek hat hier offensichtlich versucht, alle Lebenden Bilder zusammenzustellen; übersehen hat er dabei den »Sieg des Christentums«, der am 21. 11. 1836 aufgeführt wurde (vgl. I I I , 1509).
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Titelnennung (die dann erst der Kommentar liefert): so I, 219 (Beiisar), 253 (Die Schwestern), 296 (Romeo), 324 (Die Brüder von Terenz), 572 (Trauerspiel in Tirol), 623 (Faust), 654 (Piccolomini), 780 (Don Carlos), 937 (Wallensteins Tod), 948 (Bojaren), 980 (Nehmt ein Exempel daran); I I , 217 (Albrecht Dürer) oder 684 (Die Gunst des Augenblicks) usw. usf . . . Sind solche Fälle (die natürlich immer nur auf Stichproben beruhen) schon irritierend genug, so kann die Aufnahme der Bühnenwerke aus den wenigen Seiten der »Nachträge« von Bd. I I I (11-80) nur als skandalös bezeichnet werden. Hier fehlen nicht nur eine Fülle von Einzel Verweisungen 18. Aus I M M s wichtiger »Übersicht der Leistungen des Düsseldorfer-Stadt-Theaters . . .« (65-70) fehlen im V B die Verweisungen auf sage und schreibe 33 verschiedene Trauerspiele, 51 Schauspiele und 21 Opern!! Die Vermutung, daß diese »Übersicht« zu spät entdeckt wurde und deshalb im V B nicht mehr berücksichtigt werden konnte, trifft nicht zu. Denn aus jeder Rubrik (»I. Trauerspiel«, »II. Schauspiele«, »III. Oper«) sind Seitenverweise auf einige, aus »IV. Operette« und V . »Zur künftigen Darstellung« sogar auf alle Werke ins V B aufgenommen worden! Aufmerksam machen wollen wir noch auf die Tatsache, daß auch das Personenregister ( = PR, — bei I M M das Werkregister 1515 ff.) noch einmal alle Titel und Textverweisungen wiederholt, die im V B vorkommen. Denn, so heißt es in der editorischen Einleitung (III, 1404): »In den Briefen und im Kommentar erwähnte literarische, musikalische . . . Werke der Personen werden als Unterrubriken bei den betreffenden Namensträgern nachgewiesen.« M i t anderen Worten: die Verweisungen bei den rund 400 i m V B genannten Titeln müßten mit denen des PR identisch sein, jedenfalls was die Texte betrifft. Sie sind es in vielen Fällen jedoch nicht. 1 9 Befremdend kommt hinzu, daß bei den Bühnenwerken des PR viele Hinweise auf die »Nachträge« erscheinen, die wir i m V B vermissen mußten. Hier wußte die Linke wieder einmal nicht, was die Rechte tat. Und Hasubek scheint nie die Idee gekommen zu sein, die Eintragungen im V B und PR zu vergleichen und in Übereinstimmung zu bringen! — Schon hier sei eine allgemeine Bemerkung gestattet, die sich nicht nur auf das V B bezieht. Register müssen vollständig und zuverlässig sein, wobei zugestanden wird, daß sich bei jedem Hrsg. ein paar Fehler einschleichen können. 1 9 3 Register und Verzeichnisse mit einem so unverant18 Ζ . B. 37 f., 41, 43, (Nathan), 41, 43 (Andreas Hofer, Braut v o n Messina, D o n Juan, Egmont, Wasserträger), 50 ( D o n Carlos, Maria Stuart, Wilhelm Teil), 57, 58 (Kurfürst Johann), 57, 59 (Prinz v o n H o m b u r g ) usw. 19 V g l . Müllner »Albaneserin«, Immermann »Albrecht Dürer«, Harry »Angelo«, Ditters v. D . »Apotheker« (recte: »Doktor«), Winkler »Benefizvorstellung«, Beer »Bräute«, Paër »Camilla« usw. usf. 19a
A u c h diese Rezension m i t ihren aberhundert Nachweisen w i r d nicht ganz ohne Fehler sein, zumal die Korrekturen in Deutschland gelesen werden mußten, also ohne die Möglichkeit, auf die umfangreichen Originalnotizen zurückgehen zu können.
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wortlichen Grad an UnZuverlässigkeit, wie er bei Hasubek vorliegt, haben nicht nur ihren Sinn verloren; sie sind schlimmer, weil gefährlicher als gar keine, da der unwissende Benutzer ihnen vertraut und vertrauen muß. (c) Z u r Identifizierung der Werke gehören natürlich die Verfasser. I m V B werden die Nachnamen der Autoren »sowie der Librettisten und Komponisten«, bei ausländischen Stücken auch der deutschen »Übersetzer (Ü) bzw. Bearbeiter(B)« genannt (1401; die Namen der Komponisten folgen immer zuletzt »durch Schrägstrich getrennt«). So werden etwa bei »Romeo . . .« Shakespeare und der >Ü< Schlegel, bei der Zauberposse mit Gesang »Lumpazivagabundus« Nestroy / Müller, bei der »Stummen v o n Portici« Scribe und Delavigne, der deutsche >B< Ritter und der Komponist Auber vollständig angeführt. So vollständig sind die Angaben leider nicht immer. Es fehlen die deutschen >Ü< bzw. >B< z.B. bei Destouches' »Hammelburger Schöngeist«, Marsolliers »Zwei Worte«, Oehlenschlägers »Axel« und »Corregio« oder Shakespeares »König Johann« usw. Bei »Fidelio« vermissen w i r Sonnleithner, bei »Struensee« Meyerbeer, bei der »Weißen Dame« Ellmenreich, beim »Standhaften Prinzen« Mendelssohn (vgl. I I , 172), beim »Richter v o n Zalamea« Rietz ( I I , 906), beim »Auge der Liebe« Blum (vgl. I , 648 u. I I I , 512), bei Glucks »Iphigenie« Alxinger, bei Mozarts »Don Juan« Rochlitz, bei seiner »Entführung« Stephanie d. J., beim »Figaro« Beaumarchais und Kollmann usw. usf. Bei Tiecks »Blaubart«, Calderons »Semiramis« und »Standhaftem Prinzen« etc. fehlt I M M als wichtiger Bearbeiter, der auf den abgedruckten Theaterzetteln dieser 3 Stücke ausdrücklich genannt w i r d (II, 610, 672, 172). 20 Geradezu rührend ist die Eintragung zum »Kapellmeister v o n Venedig«, Autoren: »diverse«! 21 — Alle notwendigen, über den bloßen Nachnamen hinausgehenden biographischen Informationen »enthält das Personenregister. Pseudonyme werden dort ebenfalls erklärt« ( I I I , 1401). W i r kommen weiter unten darauf zurück. Einen Namen werden w i r i m PR allerdings vergeblich suchen, den Namen des Komponisten v o n Goldonis »Mirandolina«: »Lolandeira« (Druckfehler! es muß >Locandiera< heißen). »La Locandiera« (ital. >Die HerbergswirtinLustspiel< gemeint!), »kGem.«, »ISGem.«, »mQu.« oder »rkZsp.« usw., die nur eine ständige Befragung des Abkürzungsverz. ( I I I , 91 f.) aufzulösen vermag. Das macht den Eindruck größter Genauigkeit und Verläßlichkeit. D o c h woher hat der Hrsg. diese detaillierten Genrebezeichnungen? 23 D o c h w o h l aus zeitgenössischen oder späteren Drucken und/oder Nachschlagwerken. Stichproben ergaben nun, daß diese Genrebezeichnungen (die meist als Untertitel auftreten) alles andere als eindeutig und zuverlässig sind. I n zeitgenössischen Drucken fanden w i r bei Werken von Calderon, Ditters v. D . , Goethe, Grabbe, Kleist, Kotzebue, Lessing, Schiller oder Tieck ganz andere Bezeichnungen als die i m V B angegebenen. Und zwischen dem V B und dem Düss. »Repertoire« gibt es zahlreiche Differenzen, so auch zwischen den Brieftexten und dem V B . 2 4 Ja, sogar innerhalb des »Repertoires« (1490 ff.) selbst kann ein Stück seinen Untertitel ändern: so erscheinen Ifflands »Jäger« dort mal als »ländliches Sittengemälde«, mal als »Familiengemälde« (wenn die Eintragungen des Hrsg.s stimmen). 2 5 Man darf diesen Untertiteln, die sich als Modeerscheinungen v o n Auflage zu Auflage ändern, v o n Bühne zu Bühne wechseln können, also keine größere Bedeutung zugestehen, als sie bei den Tagesschriftstellern selbst oder bei den Spielleitern hatten. — Ganz abgesehen v o n den vielen Fragwürdigkeiten, Widersprüchlichkeiten und Fehlern 2 5 3 haben die meisten detaillierten Genrebezeichnungen bei Hasubek kaum irgendeinen Erkenntnis wert! 22 = Tragödie / Trauerspiel, Schauspiel / Drama, Singspiel / Vaudeville, — was Haarspalterei bedeutet bei 9 0 % der Stücke, der Tagesware. Es w i r d zu oft vergessen, daß seinerzeit die Bühne, zum Leidwesen I M M s auch die Düsseldorfer, Bedürfnisse befriedigte und befriedigen mußte, die bis zur M i t t e unseres Jahrhunderts das K i n t o p p , später das Unterhaltungsfernsehen erfüllen. 23 da er sich die Auswertung v o n Theaterzetteln ja für das Repertoireverz. (1490 ff.) aufgespart hat (vgl. 1402)! 24 Ζ . B. »Der Waldfrevel« (II, 160 »Singspiel«) VB=»Liederspiel« oder »Kapellmeister v o n Venedig« ( I I , 160 »Operette«) V B = »musikalisches Quodlibet« usw. 25
V ö l l i g verwirrt w i r d man, wenn viele Genrebezeichnungen aus dem »Verzeichnis der in den Tagebüchern erwähnten Bühnenwerke« (»Tagebücher« 977 ff.) m i t denen des V B nicht übereinstimmen: so etwa bei »Alter Feldherr«, »Andacht zum Kreuz«, »Apotheker«, »Don Carlos«, »Ehrgeiz . . . «, »Hermann und Dorothea«, »Julius Cäsar«, »Kabale und Liebe«, »Käthchen v o n Heilbronn«, »Kaufmann v o n Venedig«, »Kean«, » K ö n i g Enzio«, » K ö n i g Richard I I I « , »Laune des Verliebten«, »Leonore«, »Mulier taceat«, »Nathan der Weise«, »Ochsenmenuett«, »Platzregen«, »Robert der Teufel«, »Die Unvermählte« usw.
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2) Ähnlich ungesichert ist die Angabe der Aktî(ahlen, die sich auch v o m ausländischen Original zur dt. Bühnenbearbeitung, v o n Ausgabe zu Ausgabe, v o n Bühne zu Bühne ändern können und die ohnehin bei Hasubek bei mehreren Werken fehlen. A u c h hier sind viele Angaben des V B höchst fragwürdig. 2 6 Wenn w i r Hasubeks Angaben trauen dürfen, gab es selbst von I M M s »Schelmischer Gräfin« zwei Versionen: eine i n 3 A k t e n (1484) und eine »in einem Aufzug« (1528). U n d I M M selbst strich etwa Goethes »Stella« oder Tiecks »Blaubart« von 5 auf 3 Aufzüge zusammen. 27 Da der Hrsg. nirgends sagt, welcher Quelle er bei seinen Aktzahlen folgt, der Druckfassung (welcher?) oder etwa der Düsseldorfer Bühnenbearbeitung, bleiben alle diese Zahlen ohne jeden überprüfbaren Wert! — 3) N o c h größere Vorsicht ist bei den Daten der Uraufführungen geboten. Bei einigen Werken meint Hasubek mit »U« gar nicht die wirkliche Uraufführung, sondern nur die dt. Erstaufführung (ohne das irgendwo ausdrücklich zu sagen), so bei Goldonis »Diener zweier Herren« und seiner »Mirandolina« (recte: Breslau 1828!), bei Glucks »Iphigenie«, dem »Ochsenmenuett«, Aubers »Stumme von Portici« (recte: Rudolstadt 1828!), Rossinis »Wilhelm Teil« (nicht Mannheim?) oder Boieldieus »Weißer Dame« (nicht Wien?) usw. A u f der anderen Seite tauchen daneben unvermittelt wirkliche Ur- ohne die dt. Erstaufführungen auf: z.B. bei »Barbier von Sevilla«, »Graf Ory« oder V . Hugos »Hernani«. Darüber hinaus sind viele Aufführungsdaten ergänzungsbedürftig, andere einfach falsch! 28 — 4) Daß die
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V g l . dazu auch hier die A n m . 37. Bei Calderons »Richter . . . « zählen w i r 3 (nicht 5) Akte, bei Ditters v. D . »Doktor und Apotheker« 2, bei Grabbes »Aschenbrödel« 4, bei Marivaux' »Der Liebe u. des Zufalls Spiel« 3, bei Mozarts »Entführung« 3, bei Schillers »Braut v o n Messina« 4 usw. — Laut »Theaterdiarium« hatte »Die Schule der Alten« eindeutig 5 A k t e (»Tagebücher« 428)! — Laut Grabbes Aufführungsbesprechungen (er hatte ja die Theaterzettel vor sich, auf die er auch oft einging) hatten »Die Hagestolzen« 2 (nicht 5) Aufzüge, »Königin v o n 16 Jahren« 2 (im V B fehlt eine Angabe), »Lüge und Wahrheit« 4, »Die Neugierigen« 2, »Richter v o n Zalamea« 4 und »Die schelmische Gräfin« einen Aufzug, nicht 3! 26
27 A u c h bezüglich der Aktzahlen gibt es wieder unerklärte Widersprüche zwischen den Angaben in den Brieftexten und dem V B (z.B. »Kapellmeister v o n Venedig« I I , 160 »in 2 Acten«, V B = 1; »Die beiden Figaro« I I , 160 »in 3 Acten«, V B = 5; »Die beiden Pächter« I I , 161 »in 3 Acten«, V B = 2; »Richter v o n Zalamea« I I , 580, »in 4 Acte«, V B = 5! usw.) und zwischen dem »Verzeichnis« der »Tagebücher« (977 ff.) und dem V B : dort haben der »Blaubart« 5, »Donna Diana« 5, Mozart »Entführung« 3, »Der Essighändler« 3, »Die Hagestolzen« 3, » K ö n i g Enzio« 5, »Robert der Teufel« 6 oder »Trilby« 3 A k t e usf. 28 Z u Beethovens »Fidelio«: U 1805 in Wien, 1814 nur die E. der 3. Fassung; zu »Mirandolina«: in der Blumschen Bearbeitung U 1828; zu Goethes »Jery und Bäteli«: U mit der Musik v o n Kayser, Weimar 1780; Schillers »Fiesko« U 1782 in Bonn, E. der späteren Fassung am 11. 1. 1784 i n Mannheim. — Falsch sind die U beispielsweise bei Deinhardsteins »Garrik«: 1832; Goethes »Laune des Verliebten«: recte Weimar 1779; bei
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noch 1982 geplanten Aufführungsdd/tf« durch das Düsseldorfer Stadttheater nun i m V B fehlen, ist höchst bedauerlich. Denn um das Aufführungsdatum eines bestimmten Werks zu finden, muß man jetzt jedesmal die rund 700 Titel des Düsseldorfer »Repertoires« (1490 ff.) mühevoll durchgehen. I m V B begnügt sich Hasubek mit der Angabe der A u f f ü h r u n g s ^ ^ / i « auf den Bühnen i n Düsseldorf, Elberfeld und Krefeld, und diese sind, wie könnte es anders sein, nicht immer zuverlässig. 29
III. Repertoire des Düsseldorfer Stadttheaters unter der Leitung Immermanns (1490-1513) = RDS. Dieses Repertoire registriert in chronologischer Folge die Aufführungen i n Düsseldorf, Elberfeld und Krefeld v o m Oktober 1834 bis zum März 1837. Aus den Repertoireankündigungen, einschließlich aller Programmänderungen, wie sie in den Briefen erscheinen, lassen sich die wirklichen Aufführungsdaten nicht erschließen; dazu gibt es viel zu viele Differenzen zwischen diesen und jenen. Auch existiert meines Wissens keine auch nur annähernd vollständige Sammlung von Theaterzetteln. Woher hat also Hasubek die genauen Aufführungsdaten? Sie stammen i n allen Einzelheiten (wie Stichproben ergaben) v o n Richard Fellner, 3 0 der schon 1888 I M M s sorgfältig geführtes »Theaterdiarium« benutzte, ferner Aufführungsbesprechungen v. a. in Düsseldorfer Zeitungen, Theaterzettel, gedruckte und ungedruckte Briefe usw. V o n Fellner stammt Hasubeks »Weiße Frau« (statt »Dame«), die w i r i n den Briefbänden und Kommentaren Hasubeks nicht finden konnten; 3 1 v o n Fellner stammt auch das Possenspiel von Raupach »Der D o k t o r und der Apotheker« (mit dem richtigen Untertitel »oder Homöopath und Allopath«) 3 2 und das richtige Aufführungsdatum: 21.2. 1836! 3 3 Warum Hasubek diese Quelle i n der editorischen
Grillparzers »Ein treuer Diener . . .«: 28. 2. 1828; bei Kleists »Familie Schroffenstein«: Graz 1804; ja selbst bei I M M s »Schelmischer Gräfin«: recte Berlin 1827! 29 So wurde die »Leonore« zweimal gespielt (nicht l x ) , »Die Wiener in Berlin« 5mal (nicht 4x), »Die weiße Dame« nur einmal i n Krefeld und I M M s »Die Brüder« ( = »Die Nachbarn«) erlebten nur eine, nicht 3 Aufführungen in Elberfeld, dafür wurden sie 2mal in Düsseldorf gegeben! . . . V g l . dazu auch u. S. 162 und die A n m . 35. 30
»Geschichte einer dt. Musterbühne. K a r l Immermanns Leitung des Stadttheaters zu Düsseldorf«, Stuttgart 1888, S. 322-506. 31 A u c h in den Texten der »Tagebücher« (269, 344, 403, 476 u. i m PR S. 995) taucht immer nur die »Weiße Dame« auf. Fellner (S. 526) verwies übrigens v o n der »Weißen Frau« auf den richtigen Titel »Weiße Dame«, während Hasubek umgekehrt v o n der »Weißen Dame« auf die in all seinen Texten nicht vorkommende »Weiße Frau« verweist! 32 Dieses Stück fehlt auch in den »Tagebüchern«, dort auch nicht i m PR unter »Raupach«!
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Vorbemerkung zum RDS (1402) nicht nennt, ist ein Rätsel. 34 — W o immer nun v o n dieser Quelle abgewichen wird, handelt es sich, soweit ich sehe, u m eindeutige Fehler bei Hasubek. So war laut RDS am 29. 12. 1834 »Maske für Maske« aufgeführt worden. Nach Fellner fiel das Stück jedoch kurzfristig aus, und Fellner hat recht (vgl. »Tagebücher« 410)! A m 9. 2. 1835 kam laut RDS eine Arie von Rossini zur Aufführung, die bei Fellner fehlt. Diese Arie fiel aus, weil die Gastsängerin erkrankt war (vgl. »Tagebücher« 427 und 867ob.)! Laut Fellner wurde am 15. 5. 1835 neben »Hermann und Dorothea« noch »Das Rätsel« von Contessa aufgeführt, das i m RDS fehlt (vgl. »Tagebücher« 467f. U N D Briefe I I I , 1010!); ebenso kam am 11. 10. 1835 neben »Der Unschuldige muß viel leiden« Holteis »Die Wiener in Berlin« zur Aufführung (vgl. »Tagebücher« 477); oder am 13. 3. 1837 wurde »Der Diamant des Geisterkönigs« von Raimund wiederholt (»Tagebücher« 545 U N D Briefe I I I , 1144!). 35 Nach Holbeins »Der Verräter« trat am 11.11. 1834 der franz. Schauspieler Alexandre in dem Stück »Nicolaus' lustige Streiche« auf, und am 29. 11. 1834 wurde Alexandres »Das Paketboot oder Der Gastwirt in Calais« gegeben. Beide Gastspiele (wobei Alexandre die Hälfte »der Netto Einnahme« erhielt) fehlen i m RDS (vgl. »Tagebücher« 372 ff.). Nach Fellner gab es am 9. und 26.3. 1835 Konzerte, ebenso am 17. 11. 1836, an dem Johann Strauß d. Ä . mit seiner Wiener Kapelle eine »Humoristisch-musikalische Abendunterhaltung« darbot (»Tagebücher« 510 U N D Briefe I I , 656!). 36 — Hasubek hat also nicht nur seine wichtigste Quelle nicht genannt, er hat sie obendrein auch fehlerhaft ausgewertet! 37
33 Titel, Untertitel und Aufführungsdatum sind gesichert durch eine Aufführungsbesprechung v o n Grabbe, die Fellner benutzte. 34
Während Hasubek bei jeder Briefnummer gewissenhaft vermerkt, w o sie schon i m D r u c k erschien, vergißt er zu sagen, daß der lange und wichtige Brief an Friedrich W i l h e l m I I I . v o n Preußen v o m 10. 7. 1835 ( = N r . 722) schon bei Fellner zu finden ist (s. dort S. 409-412)! (Weitere Beispiele habe ich nicht überprüft.) — Soweit ich sehe, fehlt bei Fellner nur das Repertoire des Gastspiels in Krefeld, für das sich auch in den »Tagebüchern« keine zuverlässigen und vollständigen Zeugnisse finden: Hasubek w i r d das Krefelder Repertoire w o h l den gedruckten Quellen entnommen haben, die er I I I , 1067 nennt. 35
D u r c h diese und andere Korrekturen müssen natürlich auch die Aufführungszahlen der betreffenden Stücke i m V B nochmals revidiert werden. 36 Wenn Hasubek dagegen am 15. 10. 1835 in Elberfeld eine Aufführung des »Freischütz« vermerkt, die bei Fellner fehlt und auch i m sorgfältig geführten Theaterdiar i u m (»Tagebücher« 477) nicht genannt w i r d , dann dürfen w i r an dieser Aufführung w o h l berechtigte Zweifel anmelden. 37 Laut Grabbes Aufführungsbesprechungen (vom Dezember 1835 bis M a i 1836) stimmen auch manche Genrebezeichnungen des RDS nicht, die Hasubek den Theaterzetteln entnommen haben w i l l ( I I I , 1402). Nach Grabbe ist »Hans Heiling« eine »Romantische Oper«, »Das Leben ein Traum« ein »Romantisches Schauspiel«, »Das
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IV. Register der Werke Immermanns (1515-1531) = RWI Da das R W I nicht nur die veröffentlichten Werke (nach den Erstausgaben), sondern auch alle gedruckten und ungedruckten Vorläufer zu diesen, ferner alle unpublizierten Werke, Pläne und Entwürfe verzeichnet, wäre es für die IMM-Forschung w o h l das wichtigste Register, wenn es nicht durch unbegreifliche Mängel und Fehler entstellt wäre. — Zunächst muß man sich bewußt machen, daß das R W I keineswegs vollständig ist, weil es sich nur auf die »in den Briefen und i m Kommentar erwähnten« Werke beschränkt ( I I I , 1402). 38 Darüber hinaus hat Hasubek viele Titel einfach übersehen, die in seiner eigenen Ausgabe vorhanden sind: so ζ. B. zum »Epilog zu Goethes . . . « den Beitrag in der »Allgemeinen Zeitung« ( I I I , 732), zu den »Morgenbetrachtungen . . .« (s. »Papierfenster«) die >Erklärung< i m »Kunst- und Wissenschaftsblatt« ( I I I , 288), zu Seydelmann (»Düsseldorfer Briefe«) die Besprechung des Gastspiels in der »Allgemeinen Theater-Chronik« ( I I I , 873); so aber auch die geplante Rezension von W . Alexis' Roman »Cabanis« (II, 80, I I I , 756), so den Plan einer Abhandlung »über die neueste Novellistik« ( I I I , 1257), die programmatischen »Andeutungen über den Zweck des Kunst-Vereins« (I, 711 ff., I I I , 551), den fingierten Brief »An einen Freund i n Danzig« ( I I , 1109 ff. und zu N r . 1092) oder (nach I, 230 u. 249 u. ö.) die Pläne zu den Dramen »Friedrich Barbarossa«, »Konradin von Schwaben« oder »Rudolph v o n Habsburg« . . . — Da die Schriften zur Entstehung des Düsseldorfer Kunstvereins aufgenommen wurden (darunter das »Statut . . .«), vermißt man mit Verwunderung natürlich die wichtigeren Schriften zur Entstehung des Stadttheaters, z.B. die »Statuten« des »Theater-Vereins« ( I I I , 831 ff.) und des »Stadttheaters« (II, 486ff.), die »Regulative« ( I I I , 915ff., 942ff.) usw., zumal 2 einschlägige Schriften: das »Promemoria über die Bildung einer neuen Bühne« und der »Plan eines in Düsseldorf zu stiftenden Theater-Vereins« ins R W I aufgenommen wurden! — Oft liegt es nur an der W i l l k ü r des Kommentators, ob ein Titel das Glück hatte zu erscheinen: wie der Plan einer »Abhandlung über die neueste Romanliteratur« (nach I I I , 411 als einziger Quelle) oder das Unglück hatte, nicht zu erscheinen: wie das Besprechungsfragment v o n Heines »Tragö-
Kätchen v o n Heilbronn« ein »Ritterschauspiel«, »Die K ö n i g i n v o n 16 Jahren« ein »Drama«, » K ö n i g Johann« ein »Historisches Schauspiel«, »Marie Tudor« ein »Drama« oder sind »Die Jäger« nur ein »Sittengemälde«. 38 V o n den vielen, seinerzeit berühmten und meist in der Form v o n Souffleurbüchern überlieferten Bühnenbearbeitungen I M M s nennt das R W I z.B. nur 5; es fehlen u.a. Calderon »Leben ein Traum«, Kleist »Prinz v o n Homburg«, Schiller »Wallensteins Tod«, Shakespeare »Hamlet«, »Julius Cäsar«, » K ö n i g Johann«, » K ö n i g Lear« oder »Othello« (vgl. Fellner u. »Tagebücher«). — W i r hätten dem Hrsg. den M u t gewünscht, alle i h m in 2 langen Forschungsjahrzehnten bekanntgewordenen zusätzlichen Titel (in einem Anhang?) zusammenzufassen.
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dien«. 39 Andererseits tauchen auch leere Eintragungen auf (wie »Erinnerungsschrift, s. Das Fest . . .«) oder höchst zweifelhafte: So läßt sich eine Absicht I M M s , z.B. gesonderte »Aufzeichnungen über den Frankreichfeldzug 1815« zu schreiben, aus dem Zusammenhang v o n I I , 623 (Z. 10-25) gerade nicht entnehmen! 4 0 Zusätzlich zu dieser unbegreiflichen Unvollständigkeit und Willkürlichkeit mindern weitere erhebliche Mängel den Wert des R W I . Die großen Lücken bei den Seitenvw. empfindet man hier besonders schmerzlich, v. a. wenn sie erste Erwähnungen eines Werkes betreffen. 41 Neben I , 678 fehlen bei der Rezension über Heines »Reisebilder« ζ. B. die wichtigen V w . auf I , 540, I I I , 378 u. 678; bei der Rezension über Steffens fehlen sogar alle Hinweise auf Brieftexte (vgl. I , 540, 556, 586, 593f.)! — Aus den editorischen Vorbemerkungen (1403) hat der Benutzer erfahren, daß für »Gedichte« und »Rezensionen« i m R W I eigene Rubriken eingerichtet wurden. Wenn er die einschlägigen Titel also dort und nicht sonstwo sucht, muß er sich genasführt fühlen, denn ζ. B. die »Romanzen auf den K ö n i g v o n Rom« oder das »Widmungsgedicht an Lotte« finden sich nicht unter »Gedichte« und die »Düsseldorfer Briefe 1.«, die nur 2 Buchbesprechungen enthalten (vgl. Aufsatz 145 u. A n m . 1), nicht unter »Rezensionen«! 42 — Solche Rubriken, die die gesamtalphabetische Ordnung 39 V g l . Windfuhr 247f. und Wiese I, 540ff., besonders aber S. 838! Die Erwähnung v o n Heines »Tragödien« (I, 402/21 ff.) blieb leider ohne Erläuterung, in die man dieses Rezensionsfragment leicht hätte aufnehmen können; auch i m Übersichtskommentar zu Heine (406 ff.) hätte es seinen Platz gefunden. 40 Es handelt sich hier u m ein verlorengegangenes Tagebüchlein (vgl. »Tagebücher« 941). I M M s Tagebücher, sofern es sich nicht um »Reisetagebücher« handelt, wurden nicht ins R W I aufgenommen. 41 Aus der Unmenge fehlender Seitenvw. hier nur wenige Beispiele zu möglichst verschiedenen Titeln: bei »Brief an einen Freund« (I, 367), »Edwin« ( I I I , 170), »Düsseldorfer Briefe« (Seydelmann: I I I , 873), »Gedichte« 1822 ( I I I , 284), »Graf Adam« ( I I I , 591), »Ivanhoe« (I, 454, 460, I I I , 281), »Kaiser Friedrich« (I, 249), »Kurfürst Johann« ( I I I , 57 f.), »La femme« ( I I I , 1175), »Merlin« (I, 923, I I I , 1164), »Münchhausen« ( I I I , 374), »Opfer des Schweigens« ( I I I , 1168), »Papierfenster« (I, 219), »Rasender Ajax« ( I I I , 394, 396, 398 f.), »Reisejournal« ( I I I , 687, 774), »Trauerspiel in Tyrol« ( I I I , 678), »Tristan« (I, 923, 946f., I I I , 666); zur Bearbeitung v o n Calderons »Richter« ( I I , 727, I I I , 1167); zu den Rezensionen v o n Beers »Paria« und »Struensee« ( I I I , 599) usw. usf. — Bei den >Aufsätzen< über das »Junge Deutschland« und die »neuesten Lyriker« muß es » I I I , 1257/.« heißen. — A u c h Fehlvw. gibt es wieder. So ist z.B. auf I I I , 521 v o n einer Bühnenbearbeitung des »Trauerspiels in Tyrol« (1529) keine Rede; auf S. 556 der »Tagebücher« (auf die I I I , 1222 verwiesen wird) findet sich nichts über Brockhaus . . . usw. 42 V g l . auch Wiese I, 688 ff. Die »Rezensionen« sollen übrigens nach 1403 »in alphabetischer Reihenfolge der Verfassernamen der besprochenen Werke« erscheinen: Alexis, A r n i m , Heine, Beer, Heine, . . . V o ß , Tieck, Corrodi, Beding, Falk, Steffens! Was hat sich Hasubek w o h l dabei gedacht? — Ebenso ist übrigens »Eudoxia« (1519)
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erheblich stören, können bei der Auffindung eines Werkes zu fast unüberwindlichen Schwierigkeiten führen. A u f I I , 739 erfahren w i r etwa, daß I M M beabsichtigte, Massingers »Herzog von Mailand« und seine »Bürgerfrau als Dame« (nach der Übersetzung Baudissins) für das zeitgenössische Theater umzuschreiben. Unter dem Autor, dem Übersetzer oder den dt. und engl. Titeln sind diese Stücke nicht zu entdecken. Sie finden sich versteckt unter der versteckten (weil nicht durch Druck hervorgehobenen) Rubrik »Bearbeitungen von Theaterstücken« (1516) 4 3 , auf die auch die editorische Vorbemerkung nicht hinwies, — und sie stehen dort obendrein am falschen Ort. Denn bei den anderen dort aufgeführten Titeln handelt es sich nur u m dramaturgische Bühneneinrichtungen, während die Massinger-Dramen nur die Vorlage zu völlig neu zu schreibenden Texten bildeten (vgl. etwa I I I , 1175). — Die Leserfeindlichkeit des R W I stellt dem Benutzer noch weit schwierigere Aufgaben. Da lesen w i r (I, 464), daß I M M an »einem Aufsatz über das Verhältniß Falstaff s zum Prinzen Heinrich« arbeitet. I m Kommentar (378 f.) heißt es, daß dieser Beitrag laut Heine »in der münchener Zeitschrift: Orpheus« erscheinen sollte, daß der E n t w u r f jedoch nie vollendet wurde. W o sucht man i m RWI? Nichts unter: Falstaff, Heinrich, Prinz Heinrich, Shakespeare, »König Heinrich I V « usw.! N u r eine nicht ermüdende Verzweiflung entdeckt schließlich unter dem Buchstaben >A< einen »Aufsatz über Shaekspeares >Heinrich IVG< (1523), doch dort ist die Eintragung fehlerhaft und unvollständig. 43 Hasubek vergaß, 2 weitere »Theaterbearbeitungen« in dieser Rubrik zu erwähnen, auf die das R W I nachdrücklich hinweist: vgl. unter »Auge der Liebe« und »Trauerspiel in Tyrol«! 44
Abgesehen v o n Formulierungen wie »Abhandlung«, »Aufsatz« scheinen selbst so authentisch klingende Titel wie »Aufzeichnungen über den Frankreichfeldzug 1815«, » K r i t i k des Rheinischen Ritterschaftsstatus« oder »Widmungsgedicht an Lotte« v o m
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muß verwirren und kann zu falschen Schlüssen führen. I n modernen Editionen übliche Spitzklammern bei nicht eindeutig v o m Dichter formulierten Titeln hätten das Problem aus der Welt geschafft! Nach den editorischen Vorbemerkungen (1402 f.) dürfen w i r bei publizierten Werken oder Teildrucken vollständige bibliographische Angaben, bei ungedruckten Werken die Jahreszahl der Niederschrift, eine Genrebezeichnung und den Vermerk »ungedr.«, bei Plänen die Jahreszahl der ersten Erwähnung erwarten — müssen das alles jedoch oft vermissen. 45 — Nach 1403 werden »Vorstufen und Teildrucke« eines Werkes auch »als Unterrubriken bei den . . . Werktiteln geführt.« D o c h ζ. B. beim »Auge der Liebe« fehlen die Teildrucke i m »Gesellschafter« (vgl. I I I , 310 f.), bei »Papierfenster« ein Hinweis auf »Die Verschollene« (vgl. 1530); und wie die »Bruchstücke« des »Münchhausen« hätten auch das »Fragment einer Bildungsgeschichte« und »Die Wunder i m Spessart« Querverweisungen verdient; ebenso vermißt man bei »Brief an einen Freund« und »Ein ganz frisch schön Trauer-Spiel« Verweisungen aufeinander, denn sie erschienen nicht nur, sie gehören auch inhaltlich zusammen! Bei dem wichtigen Werk »Jugend vor 25 Jahren« fehlen anscheinend alle Hinweise auf Briefe und Kommentar. D o c h dann muß man erkennen, daß hier wieder Druckfehler die Verwirrung stifteten. Denn der nachfolgende »Oheim« ist nicht etwa alphabetisch falsch eingeordnet worden, er hätte (wie auch schon »Aus meinem Leben«) als Teildruck der »Jugend« eingerückt und mit einem Unterrubrikzeichen versehen werden müssen! — Hasubek Angaben zu zeitgenössischen Aufführungen (oder Aufführungsablehnungen) bei den Dramen sind höchst unvollständig und die Eintragungen der beiden Düsseldorfer Aufführungen unter »Alexis« irreführend, denn »Eudoxia« wurde auch i n Düsseldorf unter I M M nie gespielt (vgl. jedenfalls I I I , 1012f.)! — Lückenhaft sind auch die Eintragungen unter der Rubrik »Reisetagebücher«, die ebenfalls nicht i m editorischen V o r w o r t genannt wird. Zunächst vermißt man hier einen Hinweis auf das »Reisejournal«, dem auch ein
Hrsg. zu stammen. Z u den letzteren fehlt der Nachweis einer Formulierung I M M s ; bei den »Aufzeichnungen . . .« lautet I M M s einzige Briefstelle ( I I , 623): »ein kleines Büchelchen m i t Notizen über den Feldzug«! 45 So fehlen bei den 3 angeführten Vorabdrucken aus den »Papierfenstern« die Zeitschrift und alle sonstigen Angaben (vgl. I I I , 283), bei der Steffens-Rezension »Breslau 1826 und 1827. Drei Bände« (vgl. Wiese I, 846); bei »Wort der Beherzigung« die übliche Verlagsangabe (vgl. I I I , 144), bei »Wunder i m Spessart« ( = Münchhausen) alle bibliographischen Angaben (vgl. Wiese I I I , 817 f.), bei den Bühnenbearbeitungen fehlt das Entstehungsjahr, beim »Märchen« und »Gespräch über Censurzwang« der Vermerk »ungedr.« und die Jahreszahl, beim Letztgenannten auch das Genre: »Satire«; bei den Rezensionsplänen zu Berling und Falk die Jahreszahlen der ersten Erwähnung; bei »Letztes Wort« muß es »4ten März« heißen statt >14. März14. 6.< »13. 6.« (vgl. I I I , 761) . . .
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Reisetagebuch zugrunde lag; ferner wenigstens einen Hinweis auf die Reise nach Hamburg und Bremen (1838, vgl. I I , 880-895, I I I , 1268 u. »Tagebücher«)! Unter dem Hasubekschen Titel »Herbstreise 1832« gibt es zwar einen Hinweis auf den v o n I M M bearbeiteten Auszug »Ahr und Lahn« (1835), doch fehlen dort der Erstdruck in »Hermann« von 1834 (vgl. »Tagebücher« 771) und hier der Originaltitel: »Ausflucht in das Ahr- und Lahnthal«; bei der »Herbstreise 1833« fehlt der Hinweis auf den von I M M bearbeiteten Auszug »Blick ins Tyrol«; beim »Tagebuch der Reise durch Franken . . .« fehlt hier und unter >F< der Titel des Teildrucks: »Fränkische Reise. Herbst 1837«. — Alles in allem hat man den Eindruck, daß die Rechte wieder nicht wußte, was die Linke tat: daß der Erfinder der ausführlichen editorischen Prinzipien (1402 f.) das R W I nicht kannte und daß der Ersteller des R W I nichts von diesen Prinzipien wußte. Die Rubrik »Gedichte« (1519-1522) strotzt v o n Ungereimtheiten, Mängeln und Fehlern. Unter dem Titel »Gedichte« 46 werden zunächst die Gedichtsammlungen von 1822, 1830 und 1835 genannt. I m Widerspruch zu der danach folgenden Rubrik »Einzelne Gedichte« werden dann doch eine ganze Reihe von Gedichtsammlungen und -Zusammenfassungen aufgeführt, wie »Chiliastische Sonette«, »Epigramme«, »Frühlings-Capriccio«, »Frühlingskranz für meine Marianne«, »Skizzen und Grillen«, »Sonette«, »Sonette an Marianne« oder »Xenien«, von denen die »Balladen« 47 , die »Langenschwarz-Gedichte« und die »Neun Elegien« sogar als Unterrubriken eigene Gedichttitel mit selbständiger alphabetischer Folge enthalten 4 8 , was das Auffinden einzelner Gedichte sehr erschwert. Verwirrend kommt noch hinzu, daß manche Gedichte nur nach ihren Titeln, nicht aber nach ihren Anfängen verzeichnet s i n d 4 9 und daß gegen jede editorische Regel und L o g i k bei den Gedichtsanfangen und -Überschriften die bestimmten und unbestimmten A r t i k e l alphabetisch nicht berücksichtigt wurden: eine Anfangszeile wie »Den Zauberspiegel giebt's hienieden« erscheint bei Hasubek also unter >ZKunverbürgtem Vater, dem späteren K ö n i g Christian V I I I . , ist sie jedenfalls nicht zu finden (vgl. I, 630, I I I , 498). N u r aus den »Tagebüchern« (PR s.v. >AdolphineKegel< w i r d sie in unserem PR aufgeführt, was natürlich kein Leser ahnen kann! — Die Eintragung i m PR unter >F< (1566) »Freundin, s. Elisa v. LÜTZOW« kann nur ein Scherz sein.
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die Nennung bloßer Nachnamen beschränkte, denn die zur Identifizierung notwendigen Vornamen, Auflösungen v o n Pseudonymen und sonstige »biographische Angaben zu den Autoren, Komponisten etc. enthält das Personenverzeichnis«, so heißt es I I I , 1401. Trotz dieser doppelten Pflicht fehlt nun i m PR unbegreiflicherweise eine lange Reihe v o n Namen aus dem V B ! A n dt. Dichtern vermissen w i r auf den ersten Blick schon Zschokke, trotz seiner »Bastille«; an dt. Bearbeitern ζ. B. Brockmann u. Dengel (Der Jude) oder Wall (Die beiden Billets); unter ausländischen Verfassern fehlen z.B. Andrieux (Humoristische Studien), Entlive (Er mengt sich), Favart (Gänserich), Rowley (Gebrüder Foster), Rozier (Der Mann meiner) oder T o l d ( V o n sieben die). 6 1 N o c h größer sind die Lücken bei den musikalischen Bühnenwerken. V o n den dt. Komponisten fehlen i m PR z.B. Drechsler (Diamant), Eberwein (Leonore), H i m m e l (Fanchon), A d o l f Müller (Der böse Geist), Münchhofen-Lauer (Rose), Reichardt (Jery u. Bäteli) oder Seidel (Talentprobe). Haydn erscheint zwar, doch ein Singspiel v o n i h m »Die Ochsenmenuett« gibt es nicht. Wie schon der Artikel hätte zeigen können, handelt es sich vielmehr u m ein franz. Vaudeville von Jules Gebriel und Alexis Wafflard, das nur Melodien von Haydn verwandte 6 2 , erst nach seinem Tode entstand und 1812 in Paris uraufgeführt wurde! — Unter den bekannteren Textdichtern und Librettisten des V B fehlen: Bis und v. Haupt (Wilhelm Teil), Bretzner (Entführung), Guillard (Iphigenie auf Tauris), de Jouy (Wilhelm Teil), Metastasio (Titus), da Ponte ( D o n Juan u. Figaro), Sterbini (Barbier), Vulpius (Figaro), Wohlbrück (Templer und Jüdin) oder Stephanie d. J. ( D o k t o r u. Apotheker). Wichtiger als bei diesen wäre eine Kurzidentifizierung natürlich gerade bei den vielen unbekannteren Dichtern, Librettisten und Bearbeitern gewesen! 63 Solche unglaublichen L ü c k e n 6 4 sind schließlich selbst Hasubek aufgefallen. So fügte er (wohl nachträglich) i n die editorische Vorbemerkung zum PR ein ( I I I , 1404): »Namen von Personen, die nur in den Registern dieses Bandes erwähnt sind, werden nicht berücksichtigt«, ohne zu merken, daß das nun seinen eigenen Prinzipien völlig widersprach. 65 61 O b sich Schenk m i t seiner »Erbin aus Brandenburg« unter den Schenks des PR befindet, läßt sich nicht feststellen, da der identifizierende Werktitel dort fehlt. Ä h n l i ches gilt v o n Costenoble (Der Unsichtbare), Hoffmann (Gänserich) oder Schneider (Kean). 62
Was I M M bekannt war; vgl. »Tagebücher« S. 404.
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So bei: d'Aucourt, Balocchi, Berio, Bernard, Carpani, Delestre, Foppa, Fredric, Herklots, Ihlée, Koller, Kupelwieser, Oldenburg, Ritter, Romani, Rossi, Sander, Sedaine, Soumet, Stegmeyer, Vinzentini, Weidmann usw. 64 Die in Wirklichkeit doppelt so groß sind, da, wie w i r zeigen konnten, schon das V B selbst alles andere als vollständig ist. 65 Daß es sich hier nur u m eine nachträgliche verlegene Ausrede handelt, ist auch daran zu erkennen, daß Dutzende der aus dem V B ins PR aufgenommenen Namen (laut
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(b) 1. »In den Briefen und i m Kommentar erwähnte literarische, musikalische und bildnerische Werke der Personen werden als Unterrubriken bei den betreffenden Namensträgern nachgewiesen« ( I I I , 1404). I n diesem Paragraphen geht es also um die Vollständigkeit und L o g i k der Titelaufnahme unter den i m PR angeführten Personen 66 , wobei w i r uns aus Raumgründen wieder auf die i m V B genannten Bühnenwerke beschränken. 67 — 2. »Deutsche Bearbeitungen fremdsprachiger Bühnenwerke werden bei dem Namen der deutschen Bearbeiter aufgenommen« (ebda). Diese 2. editorische Bemerkung ist absurd und widerspricht vollkommen der i m PR geübten Praxis, w o selbstverständlich fremdsprachige Werke von Auber, Calderon, Mozart, Rossini, Shakespeare usf. bis hin zu allen 7 Stücken eines kaum bekannten Duveyrier als Titel unter diesen Verfassern erscheinen. Was Hasubek hier vielleicht gemeint haben könnte, ist: Seitenvw. tauchen in der Regel nur bei den dt. Übersetzern / Bearbeitern auf, auf die bei der Originaleintragung hingewiesen w i r d (vgl. dazu als Beispiel wieder Duveyrier!). — I m PR wurden einfach vergessen: »Ajax« bei Sophokles, »Erbin aus Brandenburg« (Schenk), »Der K u ß und« (Schall), »Die Liebe in« (Blum), »Die Rückkehr« (Blum) usf. Sozusagen als Ausgleich erhalten manche Dramen dafür gleich 2 Autoren, v o n denen einer allerdings falsch ist: z.B. »Der Oheim« v o n Amalia von Sachsen, die Eintragung unter
Seitenvw. des V B und des PR) weder in den Briefen noch i m Kommentar auftauchen! V g l . z.B. Bahrdt, Bernbrunn, Bouilly, Bury, Castelli, Cumberland, Decker, Ditters ν. D., D o r v i g n y , Duveyrier, Eule, Fischer, Fletscher, H ü t t , . . . Marivaux, Marsollier, Pain, Panse, Petrat, Richaud-Martelly, Sewrin, Théaulon usw. — So große Blößen (und Widersprüche) lassen sich halt nicht durch ein editorisches Feigenblatt bedecken! 66 So lückenhaft dieses PR in sich selbst auch immer sein mag. Wenn Verfassernamen ganz vergessen wurden, fehlen natürlich auch deren Werke. 67 Andere Zufallsfunde: bei Abeken fehlt »Goethe i n meinem Leben« ( I I I , 319), bei Arnims »Wunderhorn« das Gedicht »Antonios Fischpredigt« (vgl. I I I , 374 f. zu 457/17), bei Bauernfeld »Der literarische Salon« ( I I I , 1146). Michael Beers »Der fromme Rabbi« ( I I I , 604) u n d »Des Kaisers Traum« ( I I I , 615) sind Gedichte und hätten unter diese eingereiht werden müssen. Z u Bendemanns »trauernde Juden« fehlt ein Hinweis auf I I I , 33 und w o h l eine erläuternde Erklärung. Bei Fernow fehlt »Orlando Furioso« (I, 166, I I I , 213), bei Fouqué fehlen die Schrift »Etwas über den deutschen Adel« ( I I I , 206), das »Frauentaschenbuch« (I, 109, I I I , 169 u. 183) und seine Bearbeitung v o n »Heinrich IV«; bei Grabbe fehlen die »Dramatischen Dichtungen« 1827 (vgl. I, 626), bei Heine das Gedicht »Wie der M o n d sich . . .« (I, 464, I I I , 378), bei H i t z i g »Aus Hoffmann's Leben . . .« ( I I I , 344), bei Johnson »The Lives o f the Most Eminent English Poets« ( I I , 1047), bei Mendelssohn das »Klavierkonzert N r . 2« ( I I I , 1317), bei M ü n d t der Roman »Graf Mirabeau« ( I I I , 1159), bei Joh. Gottfried Schadow die »KunstWerke und Kunst-Ansichten« ( I I I , 1166), bei Fr. Schlegel das »Poetische Taschenbuch« ( I I I , 171), bei Spontini der »Große Trauermarsch« ( I I I , 731), bei Johann Strauß (Vater) einige I I I , 1125 genannte Werke. Uhlands »Unstern« gehört als Gedicht unter seine Gedichte. Bei V i g n y fehlen die Übersetzungen v o n »Romeo« und »Hamlet« ( I I I , 582), bei Winckelmann die »Description . . .« ( I I I , 182); usw. usf.
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Iffland ist falsch (vgl. I I I , 1193 u. Fellner). Daß »Der Alpenkönig und der Menschenfeind« nicht nur unter Raimund, sondern auch unter Nestroy auftaucht, ist ein Skandal! — Bei Scribe erscheinen ohne Textvw. 8 Werke, jeweils mit Hinweis auf die dt. Bearbeiter; aus unerfindlichen Gründen fehlen bei i h m jedoch »Erster Eindruck«, »Flitterwochen«, »Der K u ß an«, »Lestocq« oder »Weiße Dame«. 6 8 Manchmal erscheint ein Titel ohne Textvw., aber auch ohne den Bearbeiter (z.B. V . H u g o »Der Glöckner«), mal mit Textvw. ohne Bearbeiter (Cumberland »Der Jude« oder H u g o »Marie Tudor«); mal erscheinen Titel und Textvw. bei A u t o r und Bearbeiter (z.B. Lope de Vega »Stern von Sevilla« oder Terenz »Die Brüder«) oder bei 2 Autoren gleichzeitig (Desnoyer und Labat: »Richard Savage«), ohne aufeinander zu verweisen. E i n einheitliches Prinzip ist nirgendwo erkennbar! — Natürlich wurden alle Dramen von Calderon (oder Shakespeare etc.) nicht nur übersetzt, sondern auch bearbeitet, 69 doch nur bei »Arzt seiner Ehre« w i r d auf einen Bearbeiter verwiesen. Bei Gries werden nur seine Übersetzungen v o n »Leben ein Traum« und »Tochter der Luft« angeführt, seine Übersetzungen (immer laut V B ) v o n »Richter«, »Standhafter Prinz«, »Wundertätiger Magus« fehlen! Schlegels Übertragung von »Heinrich I V « w i r d genannt, alle seine anderen Übersetzungen, die das Düsseldorfer Theater benutzte, müssen w i r vermissen. Bei V o ß vermissen w i r »König Lear« und »Othello«, bei Winkler ( = Hell) »Marie Tudor«, bei Baudissin fehlt jeder Übersetzungstitel (!) — all das immer gemessen an den vielen anderen Übersetzungen / Bearbeitungen, die das PR enthält. 7 0 — Was die musikalischen Werke betrifft, so findet man sie meist mit allen Textvw. unter den Komponisten. D o c h auch davon gibt es Ausnahmen: »Fanchon« oder »Rose, die Müllerin« werden z.B. nur bei ihren Autoren aufgezählt. O b unter den Namen der Dichter und Librettisten, soweit sie das PR überhaupt enthält, dann auch die Titel der Opern erscheinen, ist dem reinen Zufall überlassen. Hier nur wenige Beispiele. Was C. M . v. Webers Opern betrifft, so fehlt bei Hiemer »Abu Hassan«, bei Planché »Oberon«; bei K i n d wird mit einem Verweis auf Weber »Der Freischütz« genannt, bei W o l f f gar erscheinen bei »Preciosa« alle Textvw. (doch ohne Hinweis auf den Komponisten). V o n allen Opern Mozarts taucht nur bei Schikaneder die
68 Ebenso fehlen ζ. B. bei Bayard »Königin v o n 16«, bei D o r v i g n y »Kleeblatt«, bei Picard »Unschuldige« und bei Gozzi jeder Titel (trotz »Lautes Geheimnis« oder »Turandot«)! 69 Philologisch genaue Übersetzungen aus neueren Sprachen kannte man noch kaum; sie bildeten alle mehr oder weniger tiefgreifende Bearbeitungen, zumal wenn sie für die Bühne hergestellt wurden. Das gilt auch für Schlegel-Tieck usw. 70 Bei Holbeins »Die bezähmte Widerspenstige« und »Liebe kann alles« hat Hasubek nicht gemerkt, daß es sich u m T i t e l und Untertitel ein und desselben Werkes handelt (vgl. Fellner, Register S. 521)!
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»Zauberflöte« auf. Allerdings erscheint auch der »Figaro« bei Beaumarchais, obwohl gerade dieser Dichter i n der Eintragung des V B fehlte! Bei Scribe fehlt (alles nach V B ) »Fra Diavolo«, »Stumme von Portici« »Graf Ory«, bei Hoffmann »Gänserich«, bei Malsburg »Lediges Ehepaar«, bei Ellmenreich »Romeo u. Julia«, bei Delavigne »Robert der Teufel«, bei Devrient »Hans Heiling«, bei Bouilly »Der Wasserträger«, bei Duveyrier »Zampa« usf. — während auf der anderen Seite unter Bouilly, Castelli, Gentil, Gubitz, Holtei, Pain, Perinet, Sewrin, Théaulon usw. musikalische Bühnenwerke aufgeführt werden. 7 1 Fazit: Schlimmer noch als bei der Aufnahme der Personen folgt auch die Aufnahme der Werktitel ins PR keiner erkennbaren Regel und Logik. Deshalb ließ sich darüber auch nachträglich kein schlüssiges Prinzip aufstellen! (c) Wie beim V B sind auch hier die Textvw. sehr lückenhaft. Es ließe sich leicht eine lange Liste von V w . zusammenstellen, die bei Hasubek fehlen. Was die Bühnenwerke betrifft, so müßten ja eigentlich die Textvw. des V B mit denen des PR identisch sein, i m letzteren nur u m V w . auf den Kommentar erweitert. Daß das nicht der Fall ist, haben w i r (ob. S. 157) bereits nachgewiesen. Der Benutzer sollte also immer beide Register (bei I M M auch das R W I ) zu Rate ziehen. — Die Textvw. sind auch nicht immer zuverlässig; zu oft blieben z. B. verwirrende Druckfehler stehen. 72 — Die endlos langen V w . bei Charlotte (s. auch unter Charl. Bertog), Ferdinand, Hermann und Wilhelmine I M M übersteigen jedes vernünftige Maß. Hier hätte der Hrsg. sich auf bedeutendere Eintragungen beschränken sollen; ähnliches gilt von Goethe, Elisa v. Lützow oder Marianne Niemeyer, besonders wenn man bei den letzteren die Rubriken zu I M M s »Liebesbeziehungen« (1593) hinzuzählt. Eine Zeittafel zu I M M s äußerem Leben hätte viele Stichworte zu »Immermann« (1590-1594) mit ihren zahlreichen Unterrubriken und zahllosen Seitenvw. weitgehend überflüssig machen, das chronologisch ungeordnete Material übersichtlicher gliedern und auch die Eintragungen bei den Familienmitgliedern erheblich entlasten können! — Seltsam ist, daß unter I M M praktisch nur die Zeit nach Beendigung des Studiums berücksichtigt wurde, also Rubriken zu Kindheit, Schule und Studium fehlen. 73
71 Wenn sich hier beim Leser ein leichtes Schwindelgefühl einstellt, so handelt es sich um jenen Schwindel, der jeden Leser befallt, der die Register Hasubeks zu benutzen gezwungen ist. 72
V g l . z.B. I I I , 1581/1 f. zu Harrys »Angelo«; 1630 zu Pillwitz muß es: » / / / , 69« heißen; 1644 zu C. Schiele: »/, 248« usw. 73 N o c h einige Errata verschiedener A r t zum PR: Assing heißt Rosa Ludmilla und wurde 1821 geboren; Auersberg (A. Grün) war ein Graf\ Barbier heißt Henri Auguste; W . G. Becker, geb. 1753\ zu B l u m (1544): der Titel muß nach I I , 1066 »Schwämerei*»« lauten; Börne: »eigtl. Juda Low Baruch«; Bouterwek lehrte seit 1789 in Göttingen und wurde dort 1797 Professor; Büsching starb 1829; Der Vorname v o n Clauren ist Heinrieb;
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VI. Verzeichnis der Adressaten, Ortsregister ( = OR) und Sachregister ( = SR) 1679 ff. Daß das unkorrigierte Adressaten verz. überflüssig ist, sagen w i r bereits (s. ob. S. 154). — Das O R , das w i r auf Vollständigkeit (auch der Textvw.) nicht überprüften, listet mechanisch-objektiv alle Ortsnamen aus den Briefen in alphabetischer Folge auf. V o n diesem Prinzip hätte man bei »Düsseldorf« und »Magdeburg«, auch bei »Berlin« abweichen sollen; die endlosen Seitenzahlenkolonnen dort enthalten viele Leerstellen. — D e m Benutzer w i r d nicht gesagt, daß er zum O R stets auch das SR hinzuziehen muß, denn dieses enthält unter Stichwörtern wie »Justizbehörden«, »Kunstausstellung«, »Kunstsammlungen«, »Theater« oder »Universitäten« viele Ortsnamen mit zahllosen einschlägigen Informationen, auch allgemeiner A r t . 7 4 Da das O R relativ klein ist und das SR ohnehin geographische Bezeichnungen und Ländernamen umfaßt, hätte man die beiden Register zusammenfassen und dadurch viele Überschneidungen vermeiden können. 7 5 Sachregister 76 sind immer Auswahlregister, also subjektiv; gerade darin besteht ihr Wert! Abgesehen von unerläßlichen Realia w i r d ein guter Hrsg. aus der Fülle seines intimen Wissens ein SR nur mit solchen Stichworten zu besetzen suchen, die Wesentliches und Charakteristisches seines Gegenstandes, hier also der Person und Welt I M M s erschließen. Solche Augen öffnenden Schlüsselbegriffe finden sich (als Zufallstreffer) auch i m vorliegenden SR: vgl. z.B. »Musik« (hier fehlt V w . auf I I , 894f.!) oder »Natur«; doch sind sie viel zu selten. 77 Das SR ist überfrachtet mit bedeutungslosen, ins Leere weisenden Gaudy war Mitherausgeber des »Dt. Musenalmanachs« v o n 1833-1839; es muß Paul »Gerhard/« heißen; Hoppe und Parrod sind laut I I I , 48 »Bassisten« nicht Baritone; der T i t e l bei Panse muß nach I I , 160 (einzige Quelle!) »Die Fischerin in Island« lauten; Perinet wurde am 20. 10. 1763 geboren; die Gräfin »Senlis« (1633) heißt >Genlis1Workaholismus< . . .
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78 V g l . neben den meisten geographischen Bezeichnungen (z.B. Afrika, Amerika, Asien, Dänemark, Elba, Europa, Indien, Kanada, Kurhessen, Portugal, Türkei usf.) auch Atlantis, Bürger, Dichter (-deutscher), Freigeist, Historische Schule, Idylle, Penaten, Puppenspiel, Römer, Spartaner, Steindruck, Universitäten (-Leipzig, -Moskau, -Salamanca), Vatikan usf. 79 Wie etwa »Allgemeine D t . Burschenschaft« unter »Burschenschaften«, »Allgemeiner D t . Zollverein« unter »Zollvereine«, »Chor« unter »Oper«, die verschiedenen Gemäldegalerien etc. unter »Kunstsammlungen« usw. 80 Etwa »Dramaturgische Erinnerungen«, » K r i t i k . . . des Alexis« u. »der Epigonen«, die »Leichenrede« usw. 81
1692-1695, vgl. dazu auch »Theaterrepertoire, Düsseldorf« (1696).
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Briefwechsel I M M s (1451 f.) fehlen von 10 Titeln z.B. i m SR sechs! 82 Auch hier hat Hasubek versucht, diese Lücken durch eine fragwürdige und vieldeutige Erklärung zu verteidigen: »Erwähnungen v o n Zeitschriften . . . i m Kommentartext werden nur dann verzeichnet, wenn die betreffenden Stellen erläuternde Funktion besitzen« (1404). E i n vergeblicher Versuch, denn das Verz. enthält viele Periodika, die i m Kommentar nur einmal bloß genannt werden. 8 3 — Das SR als Ganzes ist ein Zeugnis von Flüchtigkeit, Unerfahrenheit und Ahnungslosigkeit! *
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W i r können nur hoffen, daß dem Leser die Geduld nicht ausgegangen ist. Irgendeine Wald-und-Wiesen-Editition kann und darf anders besprochen werden als eine erste »textkritische und kommentierte« Gesamtausgabe der Briefe I M M s , v o n der zu lesen und zu hören ist, daß sie »das opus summum der Immermann-Philologie« darstellt, eine Leistung v o n so »hohem Rang«, daß sich dahinter »selbst die Düsseldorfer Heine-Ausgabe verstecken« könne. — N u n , über die wahre Qualität der vorliegenden Edition brauchen w i r kein W o r t mehr zu verlieren. Angefangen bei der Suche nach hsl. Quellen und deren Beschreibung und Behandlung über die Editionsprinzipien und deren Exekution, über die Kommentare und Einzelerläuterungen bis hin zu den kommentierenden Registern sprechen die Ergebnisse unserer Stichproben w o h l ihre eigene Sprache. Was neben den unzähligen Mängeln und Fehlern v. a. ins Auge fällt, ist die unerfahrene Prätention eines Herausgebers, der die Briefe Immermanns i n Text und aufgeblähtem Apparat so behandelt, als handele es sich u m Briefe eines Lichtenberg, Forster oder Heinrich Heine oder gar um dichterische Zeugnisse. Ohne jedes Augenmaß für ein ausgewogenes Verhältnis von Mittel und Zweck hatte Hasubek sogar noch einen weit umfangreicheren Apparat geplant, vor dem uns schließlich das Einschreiten der D F G bewahrte. 84 Hasubek fühlte sich durch solche höchst verständlichen
82 Es fehlen ferner: »Archiv für Geschichte, Statistik . . . « ( I I I , 509), »Beiträge zur Geschichte dramatischer Kunst und Literatur« ( I I I , 510), »Berliner Conversationsblatt« ( I I I , 520), »Blätter für Scherz und Ernst« ( I I I , 1144), »Constitutionnel« (I, 859, I I I , 634), »Deutsche Revue« ( I I I , 1273), »Die Diplomaten« (I, 780, I I I , 591), »Hallisches Patriotisches Wochenblatt« ( I I I , 145, 154), »Hallische Allgemeine Literatur-Zeitung« ( I I I , 178), »Über Kunst und Altertum« ( I I I , 558), »Der Menschenfreund« ( I I I , 468), »Neue dramaturgische Blätter« ( I I I , 520) usw. usf. 83 84
V g l . dazu als Beispiel die Kommentarseite I I I , 343!
Aufsatz 1982, A n m . 70: »Aus Gründen des Umfangs des Kommentars, der zeitlich überschaubaren Fertigstellung der Ausgabe mit der damit verbundenen Kostenbegrenzung folgte der Herausgeber einer Empfehlung der Germanistischen Kommission der D F G , auf eine ausführliche Beschreibung der Handschriften (einschließlich Blattzahl,
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Einschränkungen in seinem wissenschaftlichen Enthusiasmus so stark behindert, daß er der D F G dann auch einen ausdrücklichen Dank für die 15jährige finanzielle Förderung (durch Sach-, Reise-, Personalmittel und Druckkostenzuschüsse) i m Kommentarband von 1987 versagte. W i r wundern uns nur, daß die Germanistische Kommission nicht schon viel früher einen kritischen Blick in die Editionspartitur warf und viel einschneidendere Empfehlungen zur Auflage machte. Ja, es stellt sich die dringende Frage, ob es für die D F G keine geeigneten Mittel gibt, künftig ähnlich teure editorische Fehlleistungen zu verhindern.
Größe, Textumfang usw.) zu verzichten. Gleiches gilt für den textkritischen Apparat, der ursprünglich nicht nur die Herausgebereingriffe, sondern auch sinnändernde Varianten i m Text Immermanns verzeichnen sollte. D u r c h diese Reduzierung w i r d die textkritische Arbeit des Herausgebers für den Benutzer nur noch zum Teil transparent und überprüfbar. 12 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
Lust u n d Verlust in den Gedichten v o n E d g a r A l l a n Poe u n d E m i l y D i c k i n s o n V o n Alfred Hornung »For i f men read aright, methinks they w o u l d never read anything but poems.« H . D . Thoreau
Edgar Allan Poe und Emily Dickinson über ihre Gedichte miteinander i n Verbindung zu setzen, mag vielen als der verwegene Versuch erscheinen, den oft als streitbar und trunksüchtig bezeichneten Literaten mit häufig wechselndem Wohnsitz und vermeintlich häufig wechselnden Frauen sowie die zurückgezogene »white nun« aus Amherst zu einem »odd couple« zu vereinen. 1 Die zufällige historische Überschneidung ihrer Leben von 1830 bis 1849 wäre an sich noch keine hinreichende Begründung, wenn nicht dieser Schnittpunkt zweier so unterschiedlicher Menschen und Karrieren die Epoche der amerikanischen Literatur konstituierte, i n der sich mit Emerson, Hawthorne, Melville und Whitman eine eigenständige amerikanische Nationalliteratur herausbildet. Bei der Neubewertung der literarischen Werke dieser Epoche in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts werden Edgar Allan Poe und Emily Dickinson in der Regel ausgeklammert, am Rande behandelt oder als »odd« und »provincial« klassifiziert. 2 Dieser literaturgeschichtliche Befund w i r d schließlich 1941 i n F. O. Matthiessens epochemachendem Werk zur American Renaissance kanonisiert. 3 1 Neuere biographische Untersuchungen widerlegen schlüssig diese klischeehaften Vorurteile: D w i g h t Thomas und D a v i d K . Jackson, The Poe Log: A Documentary Record of the Life of Edgar Allan Poe (Boston, 1987); Cynthia Griffin Wolff, Emily Dickinson (New Y o r k , 1986) sowie Paula Bennett, My Life a Loaded Gun: Female Creativity and Feminist Poetics (Boston, 1986), S. 13-94. 2 Cf. T . S. Eliot, »From Poe to Valéry« (1948), zit. in To Criticise the Critic (London, 1965), S. 27-42; S. 29f.; Y v o r Winters, »Edgar Allan Poe: A Crisis in the History o f American Obscurantism« (1937), zit. in The Recognition of Edgar Allan Poe: Selected Criticism Since 1829, hg. Eric W . Carlson ( A n n A r b o r , 1966), S. 176-202. Stellvertretend für ablehnende Äußerungen zu Dickinsons D i c h t u n g s. Andrew Lang, »The Newest Poet« (1891) sowie Thomas Bailey Aldrich, »Emily Dickinson« (1892), beide zit. in The Recognition of Emily Dickinson : Selected Criticism Since 1890, hg. Caesar R. Blake und Carlton F. Wells ( A n n Arbor, 1964), S. 24-27 und 54-56.
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Alfred Hornung
Die Revision der amerikanischen Literaturgeschichte I m Z u g e der i n jüngster Z e i t v o r allem i n den U S A betriebenen R e v i s i o n d e r a m e r i k a n i s c h e n L i t e r a t u r g e s c h i c h t e , die A u s d r u c k einer d u r c h neue t h e o r e tische A n s ä t z e u n d f e m i n i s t i s c h e L i t e r a t u r k r i t i k ausgelösten
Neuorientierung
i s t , w i r d v o r a l l e m E m i l y D i c k i n s o n , aber a u c h E d g a r A l l a n Poe v e r m e h r t jene B e a c h t u n g g e s c h e n k t , die i h n e n z u v o r m e i s t n u r v e r e i n z e l t v o n
amerikani-
schen D i c h t e r n w i e W i l l i a m Carlos W i l l i a m s , C o n r a d A i k e n o d e r
Richard
W i l b u r zuteil w u r d e . 4 T r o t z der großen A n z a h l v o n P u b l i k a t i o n e n zu jedem e i n z e l n e n der b e i d e n A u t o r e n g i b t es b i s l a n g k a u m k o n k r e t e U n t e r s u c h u n g e n ü b e r V e r b i n d u n g e n z w i s c h e n Poes Poesie u n d D i c k i n s o n s D i c h t u n g , die ü b e r allgemeine
Hinweise
a u f gemeinsame
Entwicklungslinien
und
thematische
Berührungspunkte hinausgingen.5 W e n n i m folgenden versucht w i r d , Berührungspunkte
in
den
Gedichten
der
beiden
Autoren
zu
entdecken,
dann
3
American Renaissance: Art and Expression in the Age of Emerson and Whitman (1941; Neudr. N e w Y o r k , 1968). I m V o r w o r t zu der v o n Matthiessen herausgegebenen Gedichtanthologie The Oxford Book of American Verse (New Y o r k , 1950) w i r d Poe allerdings neben Whitman als einer der Begründer der beiden für die amerikanische L y r i k bestimmenden Dichtungsweisen gesehen (S. xxvii). 4 Cf. William Carlos Williams, In the American Grain (1925; Neudr. N e w Y o r k , 1956), S. 216-33; Conrad Aiken, »Dickinson, Emily« (1924); Neudr. in Collected Criticism (New Y o r k , 1968), S. 156-63; Richard Wilbur, Responses: Prose Pieces , 1953-1976 (New Y o r k , 1976), S. 39-66, 127-38, 190-214. Z u m radikalen Wandel in der Rezeption v o n Emily Dickinson s. Klaus Lubbers, Emily Dickinson: The Critical Revolution ( A n n A r b o r , 1968). Die Beschäftigung des Poststrukturalismus mit Poe hat zu einer Flut v o n einschlägigen Publikationen geführt. S. stellvertretend D a v i d Murray, »>A Strange Sound, as o f a Harp-string Brokern: The Poetry o f Edgar Allan Poe«, in Edgar Allan Poe: The Design of Order, hg. Robert A. Lee (London, 1987), S. 135-53; Shoshana Felman, »On Reading Poetry: Reflections on the Limits and Possibilities o f Psychoanalytical Approaches«, in The Purloined Poe: Lacan, Derrida and Psychoanalytic Reading, hg. John P. Muller und William J. Richardson (Baltimore, 1988), S. 133-56. 5 Hinweise allgemeiner A r t finden sich bei H . H . Waggoner, American Poets: From the Puritans to the Present (1968; Neudr. N e w Y o r k , 1984): »There are very few important American poets either before or after her whose w o r k is not suggested somewhere in hers, whose images she did not try out, whose insights she did not recapitulate, criticize, or anticipate. She not only bridged the gap between Edward Taylor and Emerson, she bridged the one between Emerson and Frost — and even more rarely but distinctly enough — between Emerson and Eliot and Stevens.« (S. 213), sowie bei K a r l Keller, The Only Kangaroo Among the Beauty: Emily Dickinson and America (Baltimore, 1979), S. 114, 126, 258, 327. Genauere Beziehungen zwischen den beiden Autoren werden bei Hans Galinsky, Weghereiter moderner amerikanischer Lyrik: Interpretations- und Receptions Studien Emily Dickinson und William Carlos Williams (Heidelberg, 1968) und besonders bei Franz H. L i n k , Zwei amerikanische Dichterinnen: Emily Dickinson und Hilda Doolittle (Berlin, 1979) erstellt. Konkrete thematische Bezüge deckt Franz L i n k in »Poes >TamerlanerevivalsWhiskypriesters< und des Leutnants, seines Verfolgers, zwei gegensätzliche Alltagskonzeptionen. Der Priester erinnert sich an die Zeit vor der Kirchenverfolgung, als er in einer Kleinstadt arbeitete. Bezeichnenderweise w i r d für ihn eine Szene lebendig, i n der er, leicht betrunken, mit frommen Bürgern zusammentraf, den energischen, alles für seine Gemeinde tuenden Vertreter der Kirche mimte und sich an dem Ergebnis der Spendensammlungen ebenso erfreute wie an seiner Eloquenz und der geschickten Manipulation der Gemeindemitglieder. Wie sehr er in der Gefahr schwebt, in die routinierte, oberflächliche Frömmigkeit von früher zurückzugleiten, w i r d dem Priester bewußt, als er auf seiner Flucht io dem friedlichen O r t eines Nachbarstaates die Messe liest und mit den Gläubigen über die Gebühren für eine Taufe feilscht. O b w o h l er weiß, daß er in eine Falle gelockt werden soll, kehrt er beinahe erleichtert in den Heimatstaat zurück: The oddest thing o f all was that he felt quite cheerful; he had never really believed in this peace. He had dreamt o f it so often on the other side that now it meant no more to h i m than a dream. (P, S. 180)
Der Scheincharakter alltäglicher Frömmigkeit i n äußerlich befriedeten Verhältnissen w i r d von Juans Vater betont, der seinem skeptischen Sohn über frühere Zeiten sagt: »You don't remember the time when the Church was here. I was a bad Catholic, but it meant — well, music, lights, a place where you could sit out o f this heat — and for your mother, well, there was always something for her to do. I f we had a theatre, anything at all instead, we shouldn't feel so — left. (P, S. 51)
Wie der Vergleich mit dem Theater nahelegt, übernimmt nach Greenes Deutung die Kirche i m normalen Alltag hauptsächlich die Funktionen des Spektakels, der Unterhaltung und Ablenkung. M i t dieser Alltagskonzeption rechnet der Leutnant ab. Er assoziiert die Leiden seiner Kindheit mit der Klassengesellschaft und macht die katholische Kirche als einen gesellschaftlichen Stabilisierungsfaktor für die A r m u t , die Unbildung und den Aberglauben des Volkes mitverantwortlich (Ρ, S. 58, 194). Als Sozialist und Atheist w i r d der Leutnant von Graham Greene verschiedentlich mit einem Theologen und Priester verglichen. 1 9 I n der Tat tritt er als Propagandist und Anwalt einer 19 Z u dem Leutnant als »l'homme révolté« i m Sinne v o n Albert Camus vgl. R. W . B. Lewis, »The >Trilogy< (1959)«, in Graham Greene: Λ Collection of Critical Essays,
222
Paul Goetsch
säkularen Religion auf. Er vertraut auf Vernunft und Aufklärung und träumt von einem utopischen Staat, in dem die Menschen nicht mehr hungern und leiden müssen und in dem sie das Recht erhalten, nach ihrer Façon glücklich zu werden. Die Daseinsberechtigung eines solchen Staates leitet er aus der Überzeugung ab, daß die Sterblichkeit des Menschen und die Sinnleere des allmählich erkaltenden Universums unleugbare Fakten seien — die Rahmenbedingungen, die Lebensauffassung und Glücksverständnis begründen müßten. U m der Verwirklichung seiner Utopie näherzukommen, ist der Leutnant zum rücksichtslosen Einsatz v o n Gewalt bereit. A n seiner rationalistischen Einstellung übt Graham Greene auf verschiedene Weise K r i t i k . Zunächst einmal zeigt er, daß das Sinnbedürfnis des Menschen wesentlich größer ist, als der Leutnant annimmt. Obgleich die Kirche seit Jahren unterdrückt wird, jeder Kontakt mit Priestern verboten ist und die Polizei nicht vor Geiselerschießungen zurückschreckt, w i r d der heruntergekommene Whiskypriester v o m V o l k i n seiner Funktion als Seelsorger und Spender der Sakramente ernst genommen. Die Aufgabe des Priesters als Mittlers zwischen Gott und den Menschen droht i m normalen, befriedeten Alltag nach Greenes Deutung allzuleicht hinter der Selbstinszenierung der Kirche zu verschwinden; in der existentiell gefährlichen Situation, die der Roman entwirft, erfassen die Menschen die Bedeutung des priesterlichen Amtes eher: Religion legitimiert sich mithin nicht als den Alltag stabilisierende und von den Problemen ablenkende Ideologie, sondern als Sinnorientierung i n einer chaotischen, gefallenen Welt. Neben dem Sinnbedürfnis ist auch die Leidensfähigkeit der Menschen wesentlich größer, als die ersehnte >Brave New World< des Leutnants unterstellt. Vielleicht, so erklärt der Whiskypriester seinem Widersacher, wollen die Menschen sogar leiden (P, S. 194); wie dem auch sei, das Leiden läßt sich entgegen den Wünschen des Leutnants nicht mit Hilfe der Vernunft aus der Welt schaffen. I n einem gewissen Sinne kommt der Mensch erst über das Leiden dazu, die Fähigkeit des Mitleidens und die Einsicht in die eigene Verantwortlichkeit zu erwerben. 20 Symbolisch hierfür ist die schon erwähnte Gefangnisszene, in der verschiedene Einzelgänger und Außenseiter der Gesellschaft aus ihrer Isolation heraustreten und Solidarität beweisen. Wie der Whiskypriester auf seiner Pilgerschaft allmählich seine Ichbezogenheit überwindet und religiöses Verantwortungsbewußtsein entwickelt, wie sein hg. S. Hynes (Englewood Cliffs, N . J., 1973), 49-74, hier S. 63. Z u dem Roman als A n t w o r t auf den europäischen Nihilismus siehe F. Mauriac, »Graham Greene«, in Hynes, a.a.O., 75-78. 20
V g l . Κ . H . Göller, »Graham Greene: The Power and the Glory «, in Der moderne englische Roman: Interpretationen, hg. H . Oppel (Berlin, 1972 2 ), 245-261, hier S. 255; J. P. Kulshrestha, Graham Greene the Novelist (New Delhi, 1977), S. 74.
Alltag und Religion in der neueren englischen Literatur
223
Leidensweg der Passion Christi zu ähneln beginnt und wie er zum Märtyrer wird, — das ist schon oft dargestellt worden. 2 1 Hier muß festgehalten werden, daß Graham Greene den normalen Alltag wegen seiner Illusions- und Ideologieanfälligkeit ebenso abwertet wie die in äußeren Formen erstarrende Religion. Er möchte die Schäbigkeit, Widerwärtigkeit und das Chaos dieser gefallenen Welt nicht ausblenden und testet deshalb den Glauben nicht i n harmonisch anmutenden Alltagsszenen, sondern i n außergewöhnlichen Grenzsituationen. Entsprechend ist sein Whiskypriester als sündiger Mensch und als gesellschaftlicher Außenseiter konzipiert, der eben wegen dieser Merkmale Christus zu ähneln beginnt und i m Sinne des Romantitels Zeugnis von Gottes Macht und Herrlichkeit ablegt. Der Whiskypriester w i r d zum Märtyrer, allerdings nicht in der A r t der i m Werk vorgelesenen sentimentalen Erbauungsgeschichte, sondern eher i m Sinne eines mit den Mitteln der modernen Erzählkunst arbeitenden Romans. Dieser Sachverhalt mag daran erinnern, daß der Priester selbst das Buch La Eterna Mârtir in einem Romaneinband versteckt, auf dessen Umschlagseite eine erotische Szene dargestellt ist.
T . S. E l i o t The Cocktail
Party:
D i e Erneuerungsbedürftigkeit des Alltags Daß religiöse Literatur, wenn sie von einem weltlichen Publikum zur Kenntnis genommen werden soll, sich heutzutage in anderen, gängigeren literarischen Formen verbergen muß, ist eine Erkenntnis, die auch T. S. Eliot beherzigte. Der zum Anglokatholizismus konvertierte Dichter hatte zwar mit Murder in the Cathedral (1935) über das Canterbury Festival hinaus einen großen Erfolg erzielt, doch ging er dann, u m ein neues Theaterpublikum zu erreichen, andere Wege. I n dem Stück The Cocktail Party (1949) lehnt er sich an die traditionelle Sittenkomödie an, bricht deren Form aber allmählich auf und öffnet sie für die Gestaltung religiöser Thematik. Der erste A k t führt in die Welt des gehobenen Bürgertums v o n London. I m Mittelpunkt steht ein in dieser Schicht übliches gesellschaftliches Ritual, die Cocktailparty, die zwanglos Menschen zusammenbringt, den Austausch von Gedanken und Gefühlen i m Rahmen feststehender Regeln ermöglicht und insgesamt Ausdruck einer verbindlich-unverbindlichen Geselligkeit ist. Das Ritual erweist sich alsbald als Sinnbild der Ordnung und des Verhaltenskodexes des großbürgerlichen Alltags. 21 V g l . Böker, a.a.O.; A. A . DeVitis, Graham Greene,, rev. Aufl. (Boston, 1986), 7484; Göller, a.a.O. V g l . ferner E. Stürzl, Von Satan %u Gott: Religiöse Probleme bei Graham Greene (Wien, 1954); Eva Charvat, Die Religiosität und das Thema der Verfolgung in sechs Romanen von Graham Greene (Bern / Frankfurt, 1973).
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Paul Goetsch
A u f die Fragwürdigkeit dieses Alltags bereitet formal schon die Abänderung einiger für die traditionelle Sittenkomödie charakteristischer Konventionen vor. I m Vergleich zu Oscar Wildes The Importance of Being Earnest , ja selbst zu den Sittenkomödien von Somerset Maugham und Noel Coward verflachen die üblichen witzigen theatralischen Dialoge zu Geistreichelei, Klatsch und Gerede; wenn eine Figur anfangt, eine Geschichte zu erzählen, braucht sie diese nicht mehr zu Ende zu führen, denn keiner ist daran interessiert. Das Partygeschwätz verweist auf die Labilität der gesellschaftlichen Ordnung i m Alltag. Daß diese i n der Tat bedroht ist, deckt die Handlung des ersten Aktes auf, indem sie die Form der Sittenkömodie und damit den auf der Bühne vorgeführten Alltag der Oberschicht destabilisiert. Sir Henry Harcourt-Reilly, ein zunächst namenloser Gast, erklärt dem Gastgeber Edward Chamberlayne in der ersten längeren Aussprache: When you've dressed for a party A n d are going downstairs, w i t h everything about you Arranged to support you in the role you have chosen, Then sometimes, when you come to the b o t t o m step There is one step more than your feet expected A n d you come d o w n w i t h a jolt. Just for a moment Y o u have the experience o f being an object A t the mercy o f a malevolent staircase. (C, S. 134) 2 2
Er beschreibt hier genau, wie leicht die Solidität der Alltagswelt erschüttert und wie schnell das Subjekt zum Objekt der Umstände werden kann. Zugleich erinnert er Edward mit seinen Bemerkungen an die Ausgangssituation des Stückes: A m Tage der geplanten Cocktailparty muß Edward feststellen, daß seine Frau Lavinia ihn verlassen hat. Seine komischen Anstrengungen, diesen Sachverhalt auf der Party zu verheimlichen, fruchten nichts; seine Ausreden werden durchschaut und geben den anderen Figuren Anlaß, Spekulationen über den Verbleib Lavinias anzustellen. A u c h andere Geheimnisse kommen ans Licht: Edwards Verhältnis zu Celia, Peters zeitweiliger Flirt m i t Lavinia und seine Bewunderung Celias. I n der Sittenkomödie hat der schöne Schein der gesellschaftlichen Manieren üblicherweise die Funktion, den Partnerwechsel und ggf. auch illegitime Beziehungen zu erleichtern und zugleich zu verheimlichen. I n The Cocktail Party erweist sich die Fassade der guten Manieren jedoch als brüchig. Außerdem ist Edward v o m Verschwinden seiner Frau stärker betroffen, als es Protagonisten von Sittenkomödien zu sein pflegen. Die Form der Sittenkomödie scheint darüber hinaus grundsätzlich nicht mehr mit den Absichten T . S. Eliots vereinbar zu sein, denn der A u t o r 22 Z u der Textstelle vgl. auch G. T. Davenport, »Eliot's The Cocktail Party: Perspective as Salvation«, Modern Drama, 17 (1974), 301-306, hier S. 302f.
Comic
Alltag und Religion in der neueren englischen Literatur
225
ist weit davon entfernt, komisches Kapital aus dem Spannungsverhältnis zwischen den Sitten und Ritualen und der lockeren Moral der für diese Dramenform typischen Gesellschaft schlagen zu wollen. E i n Indiz hierfür ist die Tatsache, daß bereits am Ende des 1. Aktes einige frühere Verhältnisse aufgekündigt werden. Peter verfolgt eine Karriere i n H o l l y w o o d , Celia verabschiedet sich von i h m und den Chamberlaynes. Nicht die Salonrituale und der Hedonismus einer bestimmten Schicht interessieren T. S. Eliot, sondern die kritische Auseinandersetzung mit einem Alltag, dem eine über Werte wie Geselligkeit und Lebensgenuß hinausgehende Sinnorientierung fehlt. Infolge des Verschwindens von Lavinia, einer Katastrophe, die die Verläßlichkeit des Alltags aufhebt, w i r d sich Edward bewußt, wie es u m seine Ehe und sein Leben bestellt ist. Er erkennt seine Mittelmäßigkeit, seine Einsamkeit sowie die Verlogenheit seiner Ehe und zieht nach der überraschenden Rückkehr Lavinias am Ende des ersten Tages folgende negative Bilanz: There was a door A n d I could not open it. I could not touch the handle. W h y could I not walk out o f my prison? What is hell? H e l l is oneself, Hell is alone, the other figures in it Merely projections. There is nothing to escape from A n d nothing to escape to. One is always alone. (C, S. 169)
Er gelangt damit zu jenen Einsichten, die Lavinia zu ihrem zeitweiligen Verschwinden veranlaßten. Deutet man Lavinias Flucht vor dem Alltag als symbolischen T o d (wozu die zahlreichen Parallelen zwischen Eliots Stück und Euripides' Alkestis 23 ermutigen) und Edwards seelische Verfassung als Krise des bisherigen Weltverständnisses — in seinen eigenen Worten als »death o f the spirit« (C, S. 176) — , dann setzt die Erneuerung der Ehe v o n Lavinia und Edward eine symbolische Wiedergeburt oder Heilung, eine Neuorientierung i m Alltag, voraus. I n formaler Hinsicht bedeutet dies, daß sich T . S. Eliot nicht mit dem Aufbrechen der Sittenkomödien begnügen kann, sondern diese i n ein Stück anderer A r t , in eine high comedy 24 umwandeln muß, i n ein Werk, i n dem es 23 V g l . O. K u h n , Mythos — Neuplatonismus — Mystik: Studien %ur Gestaltung des Alkestisstoffes bei Hugo von Hofmannsthal, T. S. Eliot und Thornton Wilder (München, 1972), S. 56 ff. 24 V g l . P. G. Mudford, »T. S. Eliot's Plays and the Tradition o f >High ComedyGuardians< in T . S. Eliot's Cocktail Party«, Modern Drama, 24 (1981), 54-66.
Alltag und Religion in der neueren englischen Literatur
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The condition to which some w h o have gone as far as you Have succeeded in returning. They may remember The vision they have had, but they cease to regret it, Maintain themselves by the common routine, Learn to avoid excessive expectation, Become tolerant o f themselves and others, G i v i n g and taking, in the usual actions What there is to give and take. They do not repine; Are contented w i t h the morning that separates A n d w i t h the evening that brings together For casual talk before the fire T w o people w h o k n o w they do not understand each other, Breeding children w h o m they do not understand A n d w h o w i l l never understand them. (C, S. 189).
Wenn Reilly diesen Alltag ausdrücklich als »good life« (C, S. 189) bezeichnet, so mag dies, wie zahlreiche kritische Stimmen belegen, 27 als befremdlich erscheinen. Folgendes ist jedoch zu bedenken: I m Gegensatz zu früher leben Edward und Lavinia in ihrem neuen Leben nicht blind nebeneinander her, sondern gehen i m Bewußtsein ihrer gemeinsamen Schwächen eine enge Bindung ein; in dieser Beziehung blenden sie Grunderfahrungen wie Einsamkeit und Sinnleere nicht einfach aus, sondern versuchen, sie zu bewältigen; sie finden dabei einen Halt an der Routine des täglichen Lebens und gewinnen bei rechter Selbstbescheidung wenigstens Zufriedenheit; alles i n allem ist daher ihr neuer Alltag in einem profunderen Maße sinnorientiert als der alte. 2 8 Gleichw o h l ist vielleicht die These vertretbar, daß T . S. Eliot die Möglichkeit der wechselseitigen Durchdringung v o n Alltag und Religion zwar nicht völlig in Abrede stellt, aber ähnlich wie schon Graham Greene stark relativiert. Sichtbar w i r d dies an dem Kontrast zwischen dem Weg, den Edward und Lavinia beschreiten, und jenem, den Reilly als den Weg des aus der Verzweiflung geborenen Glaubens definiert. 2 9 Diesen zweiten Weg geht Celia. Als zwei Jahre nach dem 1. A k t die Nachricht von ihrem Märtyrertod als Nonne die Chamberleynes erreicht, bereiten diese sich gerade auf eine neue Cocktailparty vor. Celias T o d macht sie und ihre Freunde betroffen und führt immerhin zu einer Aussprache, die 27 V g l . D . Jones, The Plays ofT. S. Eliot (London, 1960), S. 137f.; K . Schlüter, Der Mensch als Schauspieler: Studien %ur Deutung von T. S. Eliots Gesellschaftsdramen (Bonn, 1962 2 ), S. 20; Gerd Schmidt, Die Struktur des Dramas bei T. S. Eliot (Bielefeld, 1962), S. 112; Sena, a.a.O., S. 398f. 28 V g l . F. L i n k , »Das christliche Schauspiel T . S. Eliots«, in Literatur und Sprache der Vereinigten Staaten, hg. H . Helmcke, K . Lubbers, R. Schmidt-v. Bardeleben (Heidelberg, 1969), 165-179, hier S. 173. 29
15*
V g l . ebda, S. 174 f.
Paul Goetsch
228
i m alten Alltag undenkbar gewesen wäre; letztlich bleibt er freilich befremdlich, unbegreifbar. Indem sich die Chamberlaynes entschließen, die Cocktailparty nicht abzusagen, bestätigen sie unter Zustimmung Reillys ihre frühere Entscheidung für den ersten Weg. M i t dem Beginn der Party schließt sich der Kreis ihrer alltäglichen Handlungen wieder, der sich einen Augenblick lang für die Erfahrung des Numinosen oder genauer: die Nachricht von solch einer Erfahrung geöffnet hatte. The Cocktail Party, weitere Stücke T. S. Eliots und die christlich orientierten Werke anderer Autoren stießen i n der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf große Resonanz. Bald setzte aber eine große Ernüchterung ein, die i m Theater des Absurden einen besonderen extremen Ausdruck fand. Becketts Happy
Days:
D i e A b s u r d i t ä t des A l l t a g s
Weit radikaler als T . S. Eliot entwertet Samuel Beckett i n seinem Stück Happy Days (1961) den Alltag und das Alltagsbewußtsein. Dem Zuschauer führt der Dramatiker das Leben als absurde Endspielsituation vor. I m ersten A k t steckt seine weibliche Hauptfigur Winnie bis zur Brust in einem Hügel in einer sonnenverbrannten Einöde, während ihr Mann — meistens unsichtbar — hinter dem Hügel kauert und seine grabähnliche Höhle noch verlassen kann. I m zweiten A k t ist die Zeit scheinbar ruckartig vorgerückt: Der Hügel ist angewachsen und umschließt Winnie bis zum Hals, ihr Mann reagiert nur noch einmal auf ihre zahlreichen Anreden und zeigt sich erst zum Schluß des Aktes wieder, als er vergeblich auf Winnies Hügel emporzukriechen versucht — vermutlich i n der Absicht, den oben liegenden Revolver zu ergreifen. Becketts theatralisches Bild der zeitlichen Verfallenheit des Lebens gewinnt dadurch gleichermaßen menschliche und komisch-groteske Züge, daß Winnie ihre existentielle Lage zwar bemerkt, aber nicht begreifen und anerkennen w i l l und sie immer wieder verdrängt: Als Vorläuferin der Zellenbewohner späterer Stücke Becketts richtet sich Winnie in dem Zustand des Noch-nicht-zu-EndeSeins ein und interpretiert ihn in eine selbstverständliche Alltagssituation um. O b w o h l sie sich bisweilen bewußt wird, daß der jetzige Alltag gegenüber jenem früherer Zeiten ein ganz anderer ist und weitere Verschlechterungen ihrer Lage bevorstehen, bemüht sie sich, ihrer Welt Dauerhaftigkeit zu verleihen und sie zu strukturieren. Ausgangspunkt ist hierbei i m Sinne v o n esse est percipi die Annahme der Existenz ihres Mannes als eines potentiellen Zuhörers (und auf der Ebene des theatrum mundi 30 der Glaube an die Anwesen30 V g l . P. Goetsch, »Theatrum M u n d i — Varianten i m modernen angloamerikanischen Drama«, in Theatrum Mundi: Götter, Gott und Spielleiter im Drama von der Antike bis Zur Gegenwart, hg. Franz L i n k (Berlin, 1981), 305-345.
Alltag und Religion in der neueren englischen Literatur
229
heit eines Zuschauers). A u f der Basis dieser so doch noch sozial verstandenen Welt entsteht die »Ideologie des glücklichen TagesInkognito< des Religiösen für sich zu retten und neu zu legitimieren suchte — was die religiös tingierte Rede i m Doktor Faustus letztlich wieder als indirekte Rede von etwas anderem erscheinen läßt. U m diese Differenz deutlich hervortreten zu lassen, ist es notwendig, die beiden Autoren getrennt ins Auge zu fassen.
II
Alfred D ö b l i n ist vermutlich schon zu Beginn der zwanziger Jahre auf Kierkegaard gestoßen, 1 doch gibt es keine belegbare Bezugnahme auf ihn. Daß der Kritiker W i l l y Haas 1929 i n Berlin Alex anderplat^ das Kierkegaardsche Prinzip der »Reduplikation der Person i n der Form« realisiert sah, 2 ist,
* Vortrag während der Jahresversammlung der Görres-Gesellschaft in Salzburg i m Oktober 1989 1
V g l . E r w i n Kobel, Alfred 1985), S. 378 A . 34.
Döblin: Er^ählkunst
im Umbruch (Berlin und N e w Y o r k ,
234
Helmuth Kiesel
wenn überhaupt, eine jener überraschenden Affinitäten zu Kierkegaard, die der Kierkegaard-Experte Theodor Haecker schon 1914 als die »lebendigen Spuren« Kierkegaards bezeichnete — : als Spuren, die zwar auf Kierkegaard verwiesen, aber nicht Zeichen einer Kierkegaard-Lektüre sein mußten. 3 Z u einer bewußten, intensiven und wirkungsvollen Kierkegaard-Lektüre kam es erst in den dreißiger Jahren i m Pariser Exil, und auch da bedurfte es eines zweimaligen Anlaufs. D ö b l i n berichtet selber, 4 daß er 1935, vor der Niederschrift der Awa%onas-Trilogie f einiges v o n Kierkegaard las und davon berührt wurde, sich aber doch nicht v o n ihm gefangennehmen ließ; dies geschah erst bei einer weiteren und intensiven Lektüre 1938/39 während der Arbeit an dem großen Erzählwerk über die deutsche Revolution v o m November 1918 und i n einer noch weiter zugespitzten geschichtlichen Situation, deren Katastrophenträchtigkeit für D ö b l i n vor allem die Folge eines umfassenden geistigen Versagens war. Hier schien Kierkegaard Hilfe zu bieten — : für die Analyse der katastrophischen Situation und ihrer Genese wie für die nötige Neuorientierung. Was D ö b l i n v o n Kierkegaard tatsächlich gelesen hat, ist schwer zu sagen. Er selbst nannte in seinem autobiographischen »Epilog« nur »Don Juan« bzw. Entweder / Oder als Einstiegslektüre, w i l l dann aber »Band für Band« verschlungen und exzerpiert haben. Belege dafür gibt es i m Nachlaß — und natürlich auch i m Werk selbst, w o v o n der Forschung eine beträchtliche Zahl v o n Anklängen an Kierkegaard und von direkten Zitaten ausgemacht wurden. 5 I m übrigen trifft w o h l zu, was i n der bis heute umsichtigsten Studie über die »Religiosität« i n Döblins »Persönlichkeit und Werk« v o n Monique Weyembergh-Boussart steht: I n Kierkegaard »fand D ö b l i n einen Geistesverwandten. Diese Geistesverwandtschaft machte ihn für Kierkegaards Werke empfanglich, die das schon i n i h m Schlummernde bloß verstärkt haben. I m Grunde scheint der Schriftsteller hauptsächlich durch den allgemeinen Rhythmus, durch die allgemeine Stimmung und Glaubensauffassung des Dänen beeinflußt worden zu sein, und nicht so sehr durch bestimmte Aspekte seiner Beweisführungen
2
Alfred Döblin im Spiegel der zeitgenössischen Kritik, Bode (Bern und München, 1973), S. 224. 3 Theodor Haecker, Satire und Polemik 1914-1920 und Kierkegaard«).
hg. I n g r i d Schuster und I n g r i d
(Innsbruck, 1922), S. 23f. (»Blei
4 Alfred D ö b l i n , Schriften zu Eeben und Werk, hg. Erich Kleinschmidt (Ölten und Freiburg i m Breisgau, 1986), S. 297 und 299 sowie 314 und 316 (»Epilog«); Alfred D ö b l i n , Briefe, hg. Heinz Graber (Ölten und Freiburg i m Breisgau, 1970), S. 236 (am 16. 6. 1939 an A l v i r a und A r t h u r Rosin). 5
V g l . bes. Monique Weyembergh-Boussart, Alfred Döblin: Seine Religiosität in Persönlichkeit und Werk (Bonn, 1970), S. 11, 262, 296, 336f., 341, 348ff., 364, 366 und 375; K o b e l (wie A n m . 1), S. 194, 306, 363, 365 und 378 A . 34.
Kierkegaard, Döblin, Th. Mann und der Schluß des Doktor
Faustus
235
und Auseinandersetzungen« 6 . Daß sich D ö b l i n gelegentlich auch kritisch über Kierkegaard äußerte, sein verzweifeltes Ringen u m die angeblich ganz und gar unzugängliche Wahrheit als Zeichen hochmütiger Verstocktheit wertete, sei nur angemerkt. 7 Nach K a r l L ö w i t h war Kierkegaard für die zwanziger Jahre interessant vor allem durch das unnachahmliche »Neben- und Miteinander von erotischästhetischen, psychologisch experimentierenden und erbaulich-religiösen Gedankengängen«. 8 Für D ö b l i n lassen sich die Interessen- und Anknüpfungspunkte indessen noch genauer bestimmen. Es sind dies — erstens die v o n Kierkegaard vor allem i m Begriff Angst vorgenommene Bestimmung des Menschen als Synthese von Körper und Geist, Leib und Seele, die sich auch i n Döblins Schriften aus den zwanziger Jahren findet; — zweitens die Frage nach der Bedeutung v o n Leid und Opfer für die menschliche Existenz: nicht zufällig sind Abraham und Hiob, die i m Zentrum zweier Schriften von Kierkegaard stehen, auch in Berlin Alexanderp lat^ Exempelfiguren; — drittens die Frage nach dem Ursprung und dem Wesen des Bösen in der Welt, die D ö b l i n schon vor dem Beginn der NS-Herrschaft umtrieb, danach allerdings erst recht: hier kamen i h m Kierkegaards Spekulationen über das Böse und die Sünde, über Schuld und Angst entgegen; — viertens war Döblin, als er Kierkegaard dann las, eingenommen von seiner Passion des Fragens und von seinem unerbittlichen, das Risiko des Untergangs in K a u f nehmenden Willen zur Wahrheit. Und schließlich: Der eben schon zitierte K a r l L ö w i t h hat auch gesagt, Kierkegaard habe das Christentum den Gebildeten unter seinen Verächtern wieder interessant gemacht. 9 Z u den Verächtern des Christentums und der Religiosität gehörte D ö b l i n zwar nicht gerade, aber doch zu denjenigen, die in ihrer als naturwüchsig empfundenen Religiosität durch die verächtlichen Reden eines Nietzsche und eines Freud stark verunsichert worden waren. 1 0 Wider seine massiv hervortretenden religiösen Neigungen wollte D ö b l i n zu 6
Weyembergh-Boussart (wie A n m . 5), S. 348 f.
7
Alfred D ö b l i n , Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen, hg. Edgar Pässler (Ölten und Freiburg i m Breisgau, 1980), S. 211. 8 K a r l L ö w i t h , »Jener Einzelne: Kierkegaard«, in Materialien zur Philosophie Seren Kierkegaards, hg. Michael Theunissen und Wilfreid Greve (Frankfurt am Main, 1979), S. 540.
9 Ebd., S. 541. 10 Z u m folgenden vgl. H e l m u t h Kiesel, Literarische Spätwerk Alfred Döblins (Tübingen, 1986), S. 161 ff.
Trauerarbeit:
Das
Exil-
und
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Helmuth Kiesel
Anfang der zwanziger Jahre eine Position »Jenseits von Gott« erringen. Kierkegaards Behauptung der religiösen Anlage eines jeden Menschenlebens, die sich i m »Begriff Angst< findet, muß für D ö b l i n eine außerordentlich große Hilfe bei der Befreiung v o n dem Zeitzwang zum Atheismus und zur Irreligiosität gewesen sein. Die drei großen Entlarver Marx, Nietzsche und Freud, die D ö b l i n einmal zu den »Göttern« seiner Jugend rechnete, bekamen in Kierkegaard einen mächtigen Rivalen. 1 1 Das hat i n Döblins Werk klar ablesbare Folgen: Berlin Alexanderplat% von 1929 zeigt D ö b l i n als einen Autor, der das ihm bekannte und ihn beeindruckende jüdisch-christliche Traditionsmaterial zur Disposition stellt. Episoden und Figuren aus dem Alten und Neuen Testament werden in die Geschichte über den »Kaldäer« Franz Biberkopf einmontiert und spielen sichtlich eine exemplarische Rolle, 1 2 ohne daß allerdings zweifelsfrei deutlich würde, welche Verbindlichkeit sie für die Deutung des Romans haben. Es sind, pointiert gesagt, Denkmodelle, die den A u t o r faszinierten, zu denen er sich aber zu diesem Zeitpunkt nicht direkt bekennen mochte. Der nächste Roman, Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall, 1933 noch i n Berlin begonnen und 1934 i n Zürich und Paris vollendet, stellt die Frage nach Schuld und Sühne ganz direkt und läßt sie durch die Figur eines zwinglianischen Theologiestudenten auch ganz direkt beantworten; aber auch hier w i r d spürbar, daß diese A n t w o r t für den Roman und seinen A u t o r nur hypothetischen Charakter hat. 1 3 Dasselbe ist für einen weiteren Roman zu sagen — : für die 1935 begonnene und 1938 abgeschlossene Ama^onas-Trilogie, die v o n der Kolonialisierung Südamerikas und von dem »heiligen Experiment« der jesuitischen respublica Christiana handelt, nach Döblins eigenen Worten eine »Generalabrechnung mit unserer Civilisation« 1 4 sein soll und dafür auch nach der geschichtlichen Rolle des Christentums fragt — : nach der realisierten, i n der das Christentum vorzugsweise als Verbündeter der machtbesessenen und menschenverachtenden Staaten erscheint, aber auch nach der möglichen und dem Wesen des Christentums besser entsprechenden Rolle, in der Christen als Vertreter und Schützer der Humanität auftreten. Dies w i r d gleichsam experimentell durchgespielt und hypothetisch erwogen; ein Bekenntnis zum Christentum w i r d indessen noch vermieden, als Heilmittel gegen die Depravationen der Ge» Wie A n m . 7, S. 207 ff. 12 V g l . O t t o Keller, Döblins Montageroman als Epos der Moderne: Die Struktur der Romane >Der schwarte Vorhängt, >Die drei Sprünge des Wang-lun< und >Berlin Alexanderplat^ (München, 1980), S. 140 ff.
» V g l . Kiesel (wie A n m . 10), S. 117 ff. ι * V g l . ebd., S. 233 A . 15.
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schichte w i r d es noch nicht empfohlen. »Das Christentum ist eine Verzweiflung«, heißt es gegen Ende der A ma%onas-T rilogie einmal, »es läßt sich nur auf das Ich ein«. 15 Diese sichtlich v o n Kierkegaard abgeleitete Erkenntnis schien das Christentum als den ins Auge gefaßten Promotor und Garanten der ersehnten Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu desavouieren. Gleichwohl — : M i t den nächsten beiden (und letzten) großen Werken, mit der 1937 begonnenen und 1943 abgeschlossenen Roman-Trilogie November 1918 sowie mit dem 1945/46 entstandenen Hamlet-Roman, hat D ö b l i n dezidiert Kierkegaardsche Figuren in sein Werk eingeführt und zu subjektiv verzweiflungsvollen, aber objektiv zu Hoffnung Anlaß gebenden Protagonisten gemacht. 16 Wie der v o n Kierkegaard angestachelte A u t o r D ö b l i n werden Friedrich Becker, der Protagonist der November-Ätilogie, und Edward Allison, der Protagonist des Hamlet-Romans, v o n dem Verlangen nach »Redlichkeit« umgetrieben, und zwar v o n einem Verlangen nach Redlichkeit i m Hinblick auf die persönliche Existenz wie auf die gesellschaftliche Rolle und Verantwortung. Beide durchlaufen dabei (oder wiederholen in einem nachträglich geistigen Aufarbeitungsprozeß) die v o n Kierkegaard profilierten Existenzmodi — : lassen i n Akten scharfer Selbstkritik die ästhestische Sphäre hinter sich, erfahren die Aporien der ethischen Sphäre und sehen sich schließlich genötigt, den Sprung in die religiöse Sphäre zu versuchen, also Christ zu werden, was aber — nach Kierkegaard — in dieser Welt weniger Rettung oder auch nur Entlastung und Beruhigung bedeutete als vielmehr Verzweiflung. NovemberTrilogie und Hamlet-Roman sind weit davon entfernt, die Utopie einer durchs Christentum von allem Übel erlösten Welt zu entwerfen und i n Aussicht zu stellen. Vielmehr w i r d deutlich, daß Christ zu werden für diejenigen, die sich dazu entschlossen haben, und für ihre Umgebung eine höchst unbequeme Affäre werden w i r d — : weil normal menschliche Wünsche und christliche Forderungen weit auseinandergehen. Sowohl der Protagonist der NovemberTrilogie als auch der Protagonist des Hamlet-Romans bringen ihre familiäre und gesellschaftliche Umgebung i n eine zerstörerische Verwirrung, und sie enden selbst i m gesellschaftlichen Abseits. Aber zu dem von beiden vertretenen Prinzip Redlichkeit und persönliche Verantwortung scheint es keine Alternative zu geben. Hieß es am Ende des Amazonas-Romans: »Das Christentum ist eine Verzweiflung. Es läßt sich nur auf das Ich ein«, so ist die deutlich exemplifizierte Botschaft der November -Ύ rilogie und des Hamlet-Romans: Das Christentum ist die Hoffnung, weil es bei der persönlichen Verantwortung
15 Alfred D ö b l i n , Amazonas: Romantrilogie. Dritter Teil: Der neue Urwald, hg. Werner Stauffacher (Ölten und Freiburg i m Breisgau, 1988), S. 132. 16 Z u m folgenden vgl. Kiesel (wie A n m . 10), S. 427 ff. und 492 ff. sowie, zum Hamlet, außer der dort genannten Literatur bes. K o b e l (wie A n m . 5), S. 368 ff.
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ansetzt und nicht erlaubt, Ursache und Schuld für die geschichtlichen Übelstände i n den anonymen gesellschaftlichen Verhältnissen zu suchen. Man kann also sagen, daß sich seit der Begegnung mit Kierkegaard zu Beginn der Arbeit an der Amazonas-Trilogie eine massive und zuletzt entschiedene Christianisierung von Döblins Werk vollzieht. Nicht nur, daß von dezidiert christlichen Stoffen gehandelt w i r d und dezidiert christliche Viten entworfen werden; mehr und mehr werden biblische und liturgische Texte in die Erzählung eingeflochten und bekommen zunehmend größeren Stellenwert. I n der Amatçpnas-T tilogie. w i r d u.a. zweimal der biblische Schöpfungsbericht rekapituliert und interpretiert, und vielfach und ausführlich werden die Gebete und Gesänge zitiert, die v o n den Jesuiten bei ihren Wanderungen durch den Urwald angestimmt wurden. Die November-Ttilogie enthält mehr als vierzig Stellen, an denen v o m Beten die Rede ist oder gebetet w i r d — : fast möchte man eine Formulierung dieses Romans auf Döblins Werk selbst anwenden und sagen, es erklimme eine »Leiter der Anbetung«, 1 7 und anders als i m Fall der Ama^onas-Trilogie, w o man die Jesus- und Marienhymnen gleichsam den historischen Kostümen zurechnen könnte, läßt die November-Ttilogie keinen Zweifel daran, daß an diesen Gebetsstellen — wie an den Gebetsstellen der gleichzeitig entstehenden Religionsgespräche 18 — gegenwärtig Gültiges vorgeführt und propagiert wird. Der November-Roman. betreibt die propaganda fidei fast direkt. Diese direkte und bekenntnishafte Präsentation des Christlichen hat der November-Ttilogie seitens der (säkularen) Literaturkritik schwere Vorwürfe eingetragen, und man könnte sogar versucht sein, diese Vorwürfe durch den Hinweis darauf zu legitimieren, daß schon Kierkegaard zu seiner Zeit die indirekte Mitteilung des Christlichen propagiert und praktiziert hat. 1 9 Allerdings wäre dann auch die veränderte geschichtliche Situation zu berücksichtigen. Kierkegaard sah sich i n einer Zeit, die sich i n dem Maße als christlich verstand, daß sie sich mit einer direkten Darlegung christlicher Positionen v ö l l i g i m Einklang gefühlt hätte; folglich glaubte er, daß es wirkungsvoller sei, indirekt zu arbeiten und beispielsweise die ästheti(zisti)sche Verfassung der
17 Alfred Fronttruppen gung< ebd., A n m . 10), S.
D ö b l i n , November 1918: Eine deutsche Revolution. Band 3: Heimkehr der (München, 1978), S. 388. — Ihren Höhepunkt findet diese >GebetsbeweS. 334. Weitere Stellenhinweise und Erläuterungen bei Kiesel (wie 429 A . 9 und S. 472 f.
18 Alfred D ö b l i n , Der unsterbliche Mensch: Ein Religionsgespräch / Der Kampf mit dem Engel: Religionsgespräch, hg. A n t h o n y W . Riley (Ölten und Freiburg i m Breisgau, 1980), S. 261, 265, 298f., 345, 362, 367, 493f. und 612; vgl. dazu Kiesel (wie A n m . 10), S. 182f. 19 V g l . Torsten Bohlin, Sòr en Kierkegaards Leben und Werden Gütersloh, 1925), S. 99 ff. und 111 ff.; M . Theunissen und W . Greve (wie A n m . 8), S. 38f. (»Einleitung«).
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Zeit so zu beschreiben, daß für den, der hören wollte, deutlich wurde, daß das vermeintlich Christliche i n Wahrheit nur Ästhetizismus war. Aber während sich Kierkegaard in einer Zeit der heimlichen und unbewußten Abweichung v o m eigentlichen Christentum fühlte, sah sich D ö b l i n in einer Zeit der öffentlichen und programmatischen Apostasie — : und dies schien i h m nun wieder die direkte Mitteilung des Christlichen nötig zu machen, und zwar i n einem solchen Maß, daß er glaubte, auf die zeitüblichen, nicht zuletzt von Kierkegaard mitverursachten ästhetischen Vorbehalte gegen die unmittelbare Formulierung dezidiert christlicher (und auch unmodern-ärgerlicher) Positionen in seinem künstlerischen wie in seinem autobiographischen Werk keine Rücksicht mehr nehmen zu sollen. Damit geriet D ö b l i n , wie nur kurz angedeutet sei, i n Gegensatz zu zwei für die Moderne grundlegend wichtigen Tendenzen: Z u m einen widersprach D ö b l i n , indem er in seinem Werk dezidiert und unmodern wirkende christliche Positionen vertrat, dem v o n K a r l Barth so genannten und als Zeichen der Moderne herausgestellten »Religionismus«, 20 der alles, was am Christentum skandalstiftend (und als solches einst dogmatisch scharf profiliert) war, abzuschleifen und in eine weniger herausfordernde Form zu bringen suchte. Schon i n den zwanziger Jahren, also lange vor der Konversion, 2 1 hatte er — i m Hinblick auf die faschistische und bolschewistische Herausforderung — beklagt, daß das Christentum, insbesondere das protestantische, »das ungeheure fabelhafte Faktum des Jesus von Nazareth nicht genügend ausmünzt«, nicht i n einen »Sturm von Gefühl und Tatkraft« verwandelt, sondern hinnimmt, daß vieles, was v o n i h m ausgehen und insbesondere der Gewaltneigung der Zeit entgegenwirken könnte, »vergessen« oder »verschlafen« oder »in Alltagsreden abgeschliffen« ist. 2 2 M i t den nach der Konversion entstandenen Werken wollte D ö b l i n dies rückgängig machen, indem er versuchte, gerade das am Christentum herauszustellen, was für die Zeit zwar zum Ärgernis werden mußte, seiner Meinung nach aber auch zum Remedium werden konnte. Z u m zweiten: Habermas bemerkte unlängst: »Kierkegaards Entweder-Oder stellt sich unausweichlich i m Gespräch der einsamen Seele mit Gott. Das ethische Lebensstadium ist nur Durchgang zum religiösen, w o sich die Zwiesprache mit sich selbst als Maske erweist, hinter der sich das Gebet, die
20 V g l . K a r l Barth, Die kirchliche Dogmatik I: Die Lehre vom Wort Gottes, 2. Halbband (3. Aufl. Z o l l i k o n / Z ü r i c h , 1945), S. 304ff., 316 und 319. 21 D ö b l i n wurde am 30. November 1941 nach intensiven Vorbereitungen Jesuitenpatres in der Blessed Sacrament Church in H o l l y w o o d getauft. 22
Ostwart-Jahrbuch
y
hg. V i c t o r Kubczak (Breslau, 1926), S. 149.
durch
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Zwiesprache mit G o t t verborgen hatte«. 23 Indem Kierkegaard diese Zwiesprache mit Gott i n einigen seiner Schriften in der Form von Gebeten realisierte, 24 hielt er an einer A r t der Literatur fest, die schon zu seiner Zeit überholt war. Habermas führt — mit Verweis auf Jauß — aus: »Von Augustin bis Kierkegaard behalten die inneren Monologe des Bekenntnis ablegenden, missionierenden Schriftstellers die Struktur des Gebetes. Aber schon i n der Mitte des 18. Jahrhunderts hat J.-J. Rousseau das vor dem richtenden G o t t abgelegte Sündenbekenntnis zu einem Selbstbekenntnis profaniert, das der Privatmann vor dem Lesepublikum der bürgerlichen Öffentlichkeit ausbreitet. Das Gebet w i r d zum öffentlichen Gespräch deflationiert«. 25 Genau diesem für die Moderne bezeichnenden Strukturwandel der Literatur entzieht sich Döblin, indem er dem Gebet in seinem Werk wieder einen großen und bekenntnishaft ernst gemeinten Stellenwert gibt, indem er sein ganzes Werk als »Gebet« deklariert, 2 6 und indem er — in seinen letzten autobiographischen Aufzeichnungen wieder zur direkten Zwiesprache mit G o t t i n Form des Gebets übergeht. 2 7
III Thomas Mann dürfte, wie viele andere Zeitgenossen auch, schon in den zwanziger Jahren v o n Kierkegaard gehört haben; 28 intensiver beschäftigt hat er sich mit i h m i m Sommer 1944 während der Arbeit am Doktor Faustus. Die Tagebücher sprechen wiederholt von Kierkegaard-Lektüre und lassen vermuten, daß es sich dabei vor allem um die musikalischen Passagen von Entweder I Oder gehandelt hat. Meist heißt es aber nicht »von« Kierkegaard gelesen, sondern »über« Kierkegaard. Damit sind dann die Kierkegaard-Arbeiten v o n Georg Brandes und Theodor W. Adorno gemeint. Diese beiden Arbeiten dürften für Thomas Manns Bild von Kierkegaard wichtiger gewesen sein als die vermutlich spärliche Lektüre Kierkegaards selbst. Thomas Mann hat in seinem Bericht Die Entstehung des Doktor Faustus selber darauf hingewiesen, daß er seinerzeit die folgende, für ihn — als dezidierten H u m o r i s t e n 2 9 begreiflicherweise sehr interessante Stelle »bei Kier23 Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken: Philosophische Aufsätze (Frankfurt am Main, 1988), S. 204. 24
V g l . z.B. Sören Kierkegaard, Einübung im Christentum (Gütersloh, 1980), S. 13f. und 151. 25 Habermas (wie A n m . 23), S. 204, mit Verweis auf Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (Frankfurt am Main, 1982), S. 232 ff. 26
Wie A n m . 6, S. 214; vgl. zu dieser Problematik Kiesel (wie A n m . 10), S. 148 ff.
27
Wie A n m . 6, S. 488.
28
Hermann Kurzke, Thomas Mann: Epoche — Werk — Wirkung (München, 1985), S. 176.
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kegaard« exzerpiert hat: »Der Humorist stellt beständig die Gottesvorstellung mit etwas anderem zusammen u. bringt den Widerspruch hervor, aber verhält sich nicht selbst in religiöser Leidenschaft (stricte sie dictus) zu Gott, er verwandelt sich selbst zu einer scherzenden u. tiefsinnigen Durchgangsstelle für diesen ganzen Umsatz, aber verhält sich nicht selbst zu G o t t . « 3 0 — Aber das steht nicht nur bei Kierkegaard; es w i r d ausführlich auch von Adorno zitiert; 3 1 und von diesem hat es Thomas Mann am 23. Juli 1944 in sein Tagebuch übertragen. 32 Dies festzustellen bedeutet nicht, Thomas Mann i m Hinblick auf seine Kierkegaard-Rezeption der Hochstapelei zu bezichtigen; es ist nur ein Indiz dafür, daß die Kierkegaard-Rezeption bei Thomas Mann eine sehr vermittelte und durch Adorno vielleicht allzu sehr ins Ästhetische gewendete war; Adornos Habilitationsschrift gilt ja doch der »Konstruktion des Ästhetischen« bei Kierkegaard, und es scheint mir fraglich zu sein, ob Thomas Mann ohne diese spezifische Vermittlung ein so großes Faible für Kierkegaard hätte entwickeln können. Aber wie dem auch sei — : Unter der Ägide Kierkegaards verstärkte sich i m Schaffen v o n Thomas Mann die schon länger zu beobachtende Tendenz v o m Ästhetischen zum Ethischen, und es kam sogar zu einer bemerkenswerten Annäherung ans Religiöse. — So zu sprechen heißt i m übrigen nicht, Thomas Mann in das bekannte Kierkegaardsche Sphären- und Stadienschema hineinzupressen; er hat sich selbst dieser Begriffe bedient und i m Doktor Faustus mit dem Kierkegaardschen Modell gearbeitet. Die v o n Thomas Mann selbst behauptete »Verwandtschaft des Romans mit der Ideenwelt Kierkegaards« 3 3 ist v o n Hans Joachim Sandberg, 34 Heinz G o c k e l 3 5 und Hans Wisskirchen 3 6 in den letzten Jahren verdeutlicht worden.
29
Thomas Mann, »Humor und Ironie«, in Thomas Mann, Das essayistische Band 8: Mis^ellen, hg. Hans Bürgin (Frankfurt am Main, 1968), S. 240ff. 30 Thomas Mann, Doktor Main, 1981), S. 737.
FaustusI Die Enstehung des Doktor
31 Theodor W . A d o r n o , Kierkegaard: 1974), S. 173.
Konstruktion
Werk,
Faustus (Frankfurt am
des Ästhetischen (Frankfurt am Main,
32
Thomas Mann, Tagebücher 1940-1943, hg. Peter de Mendelssohn (Frankfurt am Main, 1982), S. 80: »Nach Tische über [!] Kierkegaard.« 33
Thomas Mann, Entstehung (wie A n m . 30), S. 750.
34
Hans Joachim Sandberg, »Der Kierkegaard-Komplex in Thomas Manns >Doktor Faustusc Z u r Adaption einer beziehungsreichen Thematik«, in Text und Kontext, Bd. 6.1/6.2 (1978), S. 257ff. 35 Heinz Gockel, »Thomas Manns Entweder und Oder«, in Thomas Manns Faustus und die Wirkung, hg. R u d o l f W o l f f (Bonn, 1983), 2. Teil, S. 134ff. 36 Hans Wisskirchen, Zeitgeschichte >Doktor Faustus< (Bern, 1986), S. 184ff.
Dr.
im Roman: Zu Thomas Manns >Zauberberg
letztem Ausdrucke U n d diese zweite Lesart w i r d durch Thomas Manns Äußerungen über Gott und Religion nahegelegt. Die r e l i g i öse Schamhaftigkeitobersten Namens< zu überwinden hatte, ist Folge einer religionskritischen >Schulung< (durch Nietzsche und Freud vor allem), die es i h m für immer verboten hat, so selbstverständlich und gläubig von Gott zu sprechen, wie es — trotz aller Skrupel — Kierkegaard und D ö b l i n getan haben. Gewiß ist in den JosephRomanen, die dem Doktor Faustus unmittelbar vorausgehen, viel von G o t t die Rede, w i r d der Glaube an ihn als eine fürs menschliche Zusammenleben förderliche Sache gezeigt; aber die Existenz dieses v o n Abraham und seinen Nachfolgern »hervorgebracht[en]« 47 Gottes erhält mehr und mehr den Charakter einer F i k t i o n — und verliert i m übrigen völlig an Bedeutung: Wichtig ist allein der Effekt des Glaubens an Gott, nicht dessen Existenz oder NichtExistenz. 48 Wenn Thomas Mann persönlich danach gefragt und u m eine bekenntnishafte A n t w o r t gebeten wurde, hat er von seiner grundsätzlichen
45 Entstehung (wie A n m . 30), S. 740; vgl. dazu Eckhard Heftrich, Vom Verfall zur Apokalypse: Über Thomas Mann. Band II (Frankfurt am Main, 1982), S. 281 f f , sowie H . Gockel (wie A n m . 35), S. 148. 4 * Wie A n m . 44, S. 340. 47
Thomas Mann, Joseph und seine Brüder (Frankfurt am Main, 1975), S. 315.
48
V g l . Kurzke (wie A n m . 28), S. 257f.
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Religiosität gesprochen, aber alle weiteren Festlegungen vermieden. 49 Seine Abneigung, persönlich und bekenntnishaft von Gott zu sprechen, wurde unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs vielleicht schwächer, blieb aber letztlich bestimmend. A m 30. März 1955 schrieb er in einem Brief an Else Vielhaber: 5 0 Es ist gut, finde ich, »Natur« zu sagen oder einfach »Leben« und lieber nicht »Gott«, ein W o r t , m i t dem sich doch u n w i l l k ü r l i c h gewisse menschliche, aber offenbar nicht adäquate Moral-Begriffe verbinden. [. . .] Man unterläßt das also besser und spricht bloß v o n Natur, die sich denn, ich hätte fast gesagt: in Gottes Namen, v ö l l i g unverantwortlich und moralfremd benehmen mag. Unter ihrem Namen läßt man's leichter hingehn. Aber was fange ich an m i t einem nach seinem T u n und Geschehenlassen absolut unverständlichen und unergründlichen Gott? Nicht, daß ich gläubiger Atheist wäre. Das ist auch wieder lächerlich. Denn schließlich steht ja doch die Frage da nach dem letzten Ursprung v o n Natur und Leben, der ganzen ungeheuerlichen kosmischen Veranstaltung. K e i n Mensch w i r d die Frage je beantworten. W i r leben und sterben alle i m Rätsel, und das Gefühl dafür kann man, wenn man w i l l , religiös nennen. Es ist ein etwas anspruchsvolles W o r t , aber das Bewußtsein hoffnungsloser Unwissenheit k o m m t ja einer gewissen Frömmigkeit ohne Weiteres gleich.
Diese letzte Klarstellung, die Thomas Manns früheren Äußerungen über G o t t und Religion korrespondiert, macht noch einmal deutlich, daß das »Stoßgebet« am Ende des Briefes an den Dekan der Philosophischen Fakultät zu Bonn und zumal die Anrufung Gottes am Ende des Doktor Faustus nicht als Indizien für eine Zuwendung Thomas Manns zum christlichen Gott oder Gottesverständnis gelesen werden dürfen. Sie sind weniger von einem Glauben an G o t t diktiert als vielmehr v o n dem Wunsch nach »letztem Ausdrucke der sich der religiösen Sprache bedient, ohne ihre Implikationen zweifelsfrei zu teilen. Die religiöse Rede w i r d v o n Thomas Mann nicht ihrer zu glaubenden (und von ihm eben bezweifelten) Implikationen wegen genutzt, sondern wegen ihrer kommunikativen Wirkung. I m Brief an den Bonner Dekan, der Thomas Manns vollgültige Unterschrift trägt und daher als persönliches Bekenntnis bewertet werden könnte, w i r d dies durch den einleitenden Satz vor dem »Stoßgebet« angedeutet. Er nimmt der folgenden Anrufung Gottes den eindeutig religiösen Charakter und gibt ihr eine kommunikativ-funktionale oder eben ästhetische Qualität. U n d eben so verhält es sich i m Doktor Faustus, auch wenn dort ein entsprechender Satz fehlt. I m Hinblick auf den Erzähler muß er fehlen, weil sonst das Bild des Katholiken Zeitblom allzu brüchig
49 Anstelle einzelner Belege sei jetzt auf einen umsichtigen Beitrag v o n Hans K ü n g verwiesen, der freilich erst nach Fertigstellung dieses Vortrags erschienen ist: Walter Jens/Hans K ü n g : Anwälte der Humanität: Thomas Mann, Hermann Hesse, Heinrich Boll (München, 1989), S. 81 ff. 50 Thomas Mann, Briefe 1948-1955, S. 389 f.
hg. Erika M a n n (Frankfurt am Main, 1979),
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würde; i m Hinblick auf den A u t o r darf er fehlen, da alles, was in dem Roman gesagt wird, ja prinzipiell unter einem ästhetischen Vorzeichen steht. A n dieser ästhetischen Einschränkung oder Modifizierung der religiösen Rede bei Thomas Mann hat sich auch durch die Begegnung mit Kierkegaard nichts geändert. Mitnichten wurde Thomas Mann durch Kierkegaard auf den Weg in die religiöse Sphäre gebracht. Zwar goutierte er die Kierkegaardsche Idee, daß der H u m o r das K o n f i n i u m zwischen dem Ethischen und dem Religiösen bilde, und er vindizierte diese Idee für die Kunst (und zumal für seine Kunst, als deren Quintessenz und Elixier er ja den H u m o r betrachtete). Aber die autobiographischen und theoretischen Schriften aus der Zeit um 1947 versuchen fortwährend, die religiöse Sphäre als eine außerhalb der Kunst liegende und für sich seiende zu negieren. Pointiert gesagt: H u m o r und Kunst sind für Thomas Mann nicht Wege zum Religiösen, sondern Herstellungsmittel dessen, was als das Religiöse erscheinen kann, aber — nüchtern besehen — doch nur das Humane ist. I m Klartext heißt es i m Nietzsche-Essay v o n 1947: »Es gibt zuletzt nur zwei Gesinnungen und innere Haltungen: die ästhetische und die moralische [ . . . ] « (oder ethische). 51 V o n einer religiösen Haltung als einer von der ethischen geschiedenen ist da nicht die Rede; stattdessen w i r d später das Religiöse aufs Ethische und Humane reduziert, »Religion« kurzerhand als »Ehrfurcht« vor dem »Geheimnis« des Menschen definiert. 5 2 Insofern kann man auch sagen, daß die religiöse Rede bei Thomas Mann allgemein der indirekten Mitteilung des Humanen und i m Falle des Doktor Faustus der Rettung und Aufwertung seiner ästhetischen Erscheinungsform dient. Zwar ist für Zeitblom die »künstlerische Paradoxie«, die er i m hoffnungsvoll ausklingenden Verzweiflungswerk seines Freundes Leverkühn entdeckt, nur Verweis auf die Möglichkeit eines »religiösen Paradoxon«; aber genetisch ist es ja so, daß die Kierkegaardsche Vorstellung des »religiösen Paradoxon« die Grundlage war für die Idee der »künstlerischen Paradoxie«, die sich i n dem Leverkühn zugeschriebenen Werk realisiert und die Kunst als Medium des Heils- und Gnadenerwerbs erscheinen läßt — wobei >Heil< und >Gnade< weniger i m christlichen Sinn als vielmehr — i m Sinne des oben zitierten Briefes v o m 30. März 1955 — lebensphilosophisch als Versöhnung mit dem Natur- oder Lebensprozeß zu verstehen sind. Daß sich hier unüberbrückbare Differenzen zu Kierkegaard auftun, liegt auf der Hand. Der Kierkegaard-Experte Theodor Haecker, der sich mit dem Doktor Faustus ja leider nicht mehr so enragiert auseinandersetzen konnte wie mit den früheren Werken Thomas Manns, 5 3 hätte zweifellos nicht angestan51 Thomas Mann, Das essayistische Werk (wie A n m . 29), Band 3: Schriften Literatur y Kunst und Philosophie, S. 44.
52 Ebd., S. 48.
und Reden %ur
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den, zu behaupten, Thomas Mann habe Kierkegaard zwar sehr w o h l verstanden, sei i h m aber nicht gefolgt: habe sich als Humorist damit begnügt, sich i m K o n f i n i u m zwischen dem Ethischen und dem Religiösen zu bewegen, ohne die strikt religiöse (also mit dem geglaubten G o t t rechnende) Position ernsthaft für sich i n Erwägung zu ziehen; 54 und habe, anstatt die Religion als Seele der Kunst anzuerkennen, das Religiöse als eine Provinz der Kunst betrachtet, 55 und zwar als eine rückständige und erst noch ganz zu humanisierende. U n d beides wären i h m Indizien einer »verkehrte[n]« W i r k u n g Kierkegaards gewesen, wie er sie 1914 schon bei Franz Blei und anderen feststellen zu müssen glaubte. 5 6 — Dies kann als K r i t i k freilich nur gelten, wenn man — wie Haecker — Kierkegaard zum Maßstab nimmt.
IV Was der Doktor Faustus i m Unterschied zu Döblins letzten Romanen nicht ist: Versuch der direkten Mitteilung des Religiösen, w i r d i n i h m reflektiert und, w o nicht als unmöglich, als vergeblich gezeigt. Es ist ja doch so, daß Leverkühn am Schluß (Kap. X L V I I ) eine Ansprache hält, i n der nicht nur vage von Schuld oder Verfehlung die Rede ist, sondern unmißverständlich von Sünde, die als Abwendung v o n Gott gekennzeichnet wird. Leverkühn stellt sich nicht als jemanden dar, der nur humanitäre Prinzipien verraten hätte und »dem Menschen feind« 5 7 geworden wäre, sondern ganz betont als jemanden, der sich — i n Wiederholung der Ursünde — aus »Hochmut und Stolz« 5 8 von G o t t abgewandt und dem Teufel verschrieben hat. Der religiöse Ernst dieser Rede w i r d durch das Luther-Deutsch eher verdeutlicht als, wie früher, hintertrieben; die parodistische Wirkung, die dieses Luther-Deutsch i n dem Bekenntnis-Brief aus Leipzig (Kap. X V I ) und i n der Aufzeichnung des Teufelsgesprächs (Kap. X X V ) hatte, w i r d durch Leverkühns entrückte Erscheinung 5 9 und durch seine unfreiwilligen Versprecher 6 0 aufgehoben. Nach und nach w i r d den Zuhörern deutlich, daß sie nicht einer »launig« 6 1 inszenier53 V g l . H i n r i c h Siefken, »Thomas Mann und Theodor Haecker«, in Thomas-MannStudien, hg. Thomas-Mann-Archiv Zürich, Bd. 7 (Bern, 1987), S. 246 ff. 54 V g l . dazu die v o n Thomas Mann selbst exzerpierte Kierkegaard-Stelle (s.o. bei A n m . 30). 55
V g l . Haecker (wie A n m . 2), S. 167 f. (»Aus dem >Nachwort< 1917«).
56
V g l . ebd., S. 23 (»Blei und Kierkegaard«).
57
Doktor Faustus (wie A n m . 30), S. 664.
58 Ebd., S. 661. 59
Ebd., S. 657.
60 Ebd., S. 658. Ebd., S. 657.
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ten Selbstmystifikation eines Künstlers beiwohnen, sondern einem v ö l l i g ernstgemeinten Sündenbekenntnis eines ob seiner selbstverschuldeten Gottverlassenheit verzweifelten Menschen. 62 Wie aber reagieren die Zuhörer auf die »Eindeutigkeit« dieses nicht mehr musikalisch eingekleideten, sondern, wie Zeitblom sagt, »unübertragenen Geständnisses«? 63 Zunächst amüsiert (Lachen), dann befremdet (Kopfschütteln, Zungenschnalzen), dann peinlich berührt (gespannte Stille, hochgezogene Brauen), dann mit einem Versuch der ästhetischen Neutralisierung (»Man glaubt, Poesie zu hören«), dann klar ablehnend (Verlassen des Raumes), schließlich intellektuell radikal negierend und ausgrenzend (»Dieser Mann ist wahnsinnig« und ein Fall für die »irrenärztliche Wissenschaft«). Kurz: Nachdem klargeworden ist, daß Leverkühns Sündenbekenntnis ernstgemeint ist, w i r d es als »Taktlosigkeit« 6 4 empfunden und schließlich als pathologische Entgleisung abgetan. Eine positive Berührungskraft kann es nur für zwei der Zuhörer entfalten: für Serenus Zeitblom und Mutter Schweigestill, die freilich als Gleichgesinnte v o n vornherein zu betrachten sind. Für alle anderen muß es, wie sogar Zeitblom sieht und einräumt, infolge seiner »bloßstellenden K r u d h e i t « 6 5 peinlich wirken. Indem der Doktor Faustus dies beschreibt, w i r d er zu einem bemerkenswerten Beitrag zur Disskusion u m die Möglichkeiten der religiösen Rede und der religiös geprägten Literatur i n der Moderne. Er zeigt zweierlei: 1. Die Chancen der Mitteilung des Religiösen sind nicht nur v o m Artikulationsvermögen der Produzenten abhängig, sondern auch von der Aufnahmebereitschaft des Rezipienten. W o das rechte »Verständnis« fehlt, wie Frau Schweigestill am Ende des letzten Kapitels sagt, hat die Mitteilung des Religiösen kaum eine Wirkungschance, selbst wenn sie aus Künstlermund kommt und sich einer zweckdienlich scheinenden Stilisierung bedient. 2. Die Verträglichkeit (oder Akzeptanz) der Artikulation des Religiösen hängt von den Medien ab bzw. von der mit verschiedenen Medien in verschiedenem Maß gegebenen Möglichkeit, die religiöse Mitteilung als Produzent zu verschleiern oder als Rezipient zu derealisieren. Genau darauf reflektiert Zeitblom, wenn er in seine Schilderung von Leverkühns Bekenntnisrede einflicht: »Nie hatte ich stärker den Vorteil der Musik, die nichts und alles sagt, vor der Eindeutigkeit des Wortes empfunden, ja, die schützende Unverbindlichkeit der Kunst überhaupt, i m Vergleich mit der bloßstellen-
62 Ebd., S. 661. 63 Ebd., S. 659. 64 Ebd., S. 658. 65 Ebd., S. 659.
Kierkegaard, Döblin, Th. Mann und der Schluß des Doktor
Faustus
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den Krudheit des unübertragenen Geständnisses.« 66 Während man im Falle religiös motivierter Musik die religiösen Momente relativ leicht so weit derealisieren kann, daß sie einem völlig säkularen Bewußtsein erträglich wird, ist dies bei einem Text, der seine religiösen Motive nicht auf eine besonders geschickte Weise verschleiert, nicht möglich: viel eher als die Musik läuft er Gefahr, als unverwindbare Z u m u t u n g empfunden zu werden. Damit sind zwei wichtige Faktoren genannt, die der Mitteilung des Religiösen i n der Moderne entgegenstehen und die autoritativ wirkende Artikulation von religiösen Überzeugungen in der Dichtung fast zum crimen laesae modernitatis werden läßt. I m Unterschied zu Alfred D ö b l i n hat Thomas Mann dies sehr klar gesehen, zuletzt und während der Arbeit am Doktor Faustus vielleicht am Beispiel Alfred Döblins: Das X L V I I . Kapitel des Doktor Faustus könnte durch den gewiß nicht nur von Brecht 6 7 als »peinlich« empfundenen »Vorfall« v o n Döblins Bekenntnisrede inspiriert worden sein.
66 Ebd. 67
V g l . Brechts Gedicht »Peinlicher Vorfall« und seine Eintragung in sein Arbeit sjournal unter dem D a t u m v o m 14. 8. 1943.
» F l o w e r s of a Perfect S k e p t i c i s m « Formen des Erkenntnisskeptizismus i n Thornton Wilders Romanen V o n Bernd Engler Franz L i n k zum 65. Geburtstag M i t Ausnahme des als Sammlung fingierter historischer Dokumente komponierten Caesar-Romans The Ides of March, der sich explizit mit dem Thema des Zweifels am Erkenntnisvermögen des Menschen befaßt, scheint das erzählerische Werk Thornton Wilders erkenntnisskeptische Positionen nur am Rande aufzugreifen. Hinsichtlich ihrer fiktionalen Strategien und ihrer Perspektivierung sind Wilders Romane weitgehend an den Konventionen des realistischen Romans orientiert und lassen eher auf ein Weltbild schließen, das individueller Wirklichkeitserkenntnis noch uneingeschränkt Objektivität zubilligt. Die Mehrzahl der Kritiker sieht das Hauptanliegen des Autors folglich i n der Propagierung eines christlichen Humanismus erschöpft. 1 Mag diese Klassifizierung i n bezug auf die grundsätzliche Ausrichtung des Wilderschen Weltbildes auch zutreffen, so stellt sie in Hinblick auf die sein literarisches Werk kennzeichnenden Aussageintentionen jedoch eine unzulässige Reduzierung 1 Seit Edward K . Browns »A Christian Humanist: T h o r n t o n Wilder«, The University of Toronto Quarterly , 4 ( A p r i l 1935), 356-370, dient Wilders christlich humanistisches Weltbild immer wieder als Ausgangspunkt v o n Interpretationen. Die Tatsache, daß bisher noch keine befriedigende Darstellung dieser weltanschaulichen Orientierung und ihrer Umsetzung in Wilders Werk vorliegt und daß K r i t i k e r den christlichen Humanismus des Autors oft nur dadurch nachweisen, daß sie die Weltanschauung einzelner Figuren als Ausdruck seiner Überzeugungen interpretieren, zeigt indes, wie unreflektiert die beiden Begriffe als Deutungsschablone übernommen wurden. Siehe auch Joseph J. Firebaughs wenig hilfreichen, aber doch einflußreichen A r t i k e l »The Humanism o f T h o r n t o n Wilder«, Pacific Spectator , 4 (1950), 426-438, die Ausführungen Erika Schleifers in ihrer unveröffentlichten Dissertation »Das Welt- und Menschenbild T h o r n t o n Ν . Wilders« (Wien, 1952), bes. 105 f., oder neuerdings M . C. Kuners Studie Thornton Wilder: The Bright and the Dark (New Y o r k , 1972) und James W . Blakes Dissertation »Thornton Wilder: Perspective i n Fiction and Belief« (Milwaukee, W I , 1979). Für weitere Belege in der frühen Wilderrezeption siehe Heinz Kosoks umsichtigen, die Sekundärliteratur bis 1962 referierenden Bericht »Thornton Wilder: E i n Literaturbericht«, Jahrbuch für Amerikastudien, 9 (1964), 196-228; bes. 199-208.
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Bernd Engler
dar, die einige der Erzähltexte 2 ihrer bewußt konzipierten Widersprüchlichkeit und Ambiguität beraubt. Viele Mißverständnisse und Fehldeutungen von Wilders Werk sind in der problematischen Gleichsetzung des dem A u t o r zugeordneten Weltbildes mit der >Botschaft< seines Werkes begründet. M i t dem Hinweis auf das christliche Weltbild des Autors, das in einzelnen literarischen Texten, in Interviews und anderen >Selbstzeugnissen< — so etwa i m V o r w o r t zu der Sammlung früher Kurzdramen, The Angel that Troubled the Waters — zutage tritt, w i r d einzelnen Texten, die sich nicht v o n selbst dem christlich-humanistischen Deutungshorizont öffnen, jene Eindeutigkeit in der Aussage zugesprochen, die Wilders Œuvre zum beliebig vervielfältigbaren Produkt eindimensionaler Sinnprojektionen macht und nichts mehr von jenen Spannungen offenbart, aus denen sich Wilders Kunst i n einem Prozeß immer neuer Auseinandersetzung mit verschiedenen weltanschaulichen Positionen entfaltete. Der A u t o r w i r d vielfach mit jenen Romanfiguren identifiziert, die explizit christliche Positionen vortragen. 3 Wenn i m Einzelfall auch gute Argumente dafür sprechen mögen, Romanfiguren als Ideenträger Wilders zu betrachten, so muß doch berücksichtigt werden, daß hinsichtlich der Gesamtkonfiguration und des komplexen Widerspiels unterschiedlicher Auffassungen in den meisten Werken eine Differenzierung der künstlerischen Aussage erkennbar wird, die gezielt die rasche ideologische Vereinnahmung des Autors unterläuft. 4 * *
*
2 Aufgrund der geringen Ergiebigkeit hinsichtlich der hier verfolgten Fragestellung werden i m folgenden Theophilus North, The Cabala, Heaven's My Destination und The Woman of Andros nicht berücksichtigt. D i e Analyse w i r d sich auf die Diskussion der Romane The Bridge of San Luis Rey, The Ides of March und The Eighth Day beschränken. 3 Beispiele für diese in der K r i t i k keineswegs unübliche Gleichsetzung finden sich u. a. in E r w i n Stürzls »Weltbild und Lebensphilosophie T h o r n t o n Wilders«, Die Neueren Sprachen, 4 (1955), 341 -351, oder bei K u n e r (197). 4 Wenn K r i t i k e r feststellen, daß sich der christliche Aussagekern des Wilderschen Œuvres in den Gedanken und Äußerungen zentraler Romanfiguren offenbare, so erbringt ihre Deutung — der Zirkularität der Argumentation entsprechend — zweifellos die gewünschten Ergebnisse, kann doch Figuren, die sich in eine christlich-humanistische Interpretation nicht oder nur m i t Vorbehalten einfügen lassen, leicht der Status unbedeutender Randfiguren zugewiesen werden. The Ides of March w i r d neben The Eighth Day als Ausdruck eines christlich orientierten Existentialismus in der Nachfolge Kierkegaards gedeutet; vgl. dazu u. a. R u t h Fichtner, Elemente außeramerikanischer Kulturkreise in Wilders Werk (Birkach, 1985), bes. 52-95. Z u r Diskussion über existentialistische Einflüsse auf Wilders Werk vgl. meinen Beitrag »Thornton Wilder und Lukrez' De Rerum Natura: Anmerkungen zur Rezeption epikureischer Philosophie i n The Ides of March und The Eighth Day «, arcadia, 22 (1987), 270-283.
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Bereits Wilders i m Jahre 1927 erschienener Roman The Bridge of San Luis Rey macht es dem Leser schwer, eindeutige Bedeutungszuweisungen zu treffen. O b w o h l der christliche Sinnhorizont des Romans deutlich i n Erscheinung tritt, konterkariert schon die spezifische Form der narrativen Vermittlung diesen Horizont, so daß sich die Identifizierung des Autors mit Romanfiguren wie Brother Juniper, dem missionierenden Franziskanermönch, oder Madre Maria, der Äbtissin eines Klosters in Lima, bald als voreilige Simplifizierung erweist. Hinsichtlich seiner Struktur wirft The Bridge of San Luis Rey Fragen auf, die keine eindeutigen Antworten erwarten lassen. Die beiden Rahmenkapitel des i n fünf Teile gegliederten Romans umreißen mit ihrer Benennung »Perhaps an Accident« bzw. »Perhaps an Intention« den Reflexionshorizont des Erzählers und sind für uns v o n besonderem Interesse, insofern i n ihnen unterschiedliche Wirklichkeitsbegriffe und erkenntnistheoretische Positionen gegeneinander abgegrenzt werden. I n dem »Perhaps an Intention« überschriebenen ersten Teil v o n Wilders The Bridge of San Luis Rey berichtet ein nicht namentlich genannter Erzähler v o n einem Ereignis, das sich i m Jahre 1714 in der Nähe v o n Lima in Peru zugetragen haben soll. A m 20. Juli dieses Jahres — so der Erzähler — stürzte die Hängebrücke von San Luis Rey ein und riß fünf Menschen, die sie gerade überquerten, mit sich in die Tiefe. E i n fahrender Mönch, Brother Juniper, habe angesichts des Unglücks beschlossen, i m Rahmen seiner Studien zur Theodizee der Frage nachzugehen, warum gerade diese fünf Menschen ums Leben kamen. Das Unglück schien ihm besser als andere i h m bekannte Vorkommnisse geeignet, die Wege der göttlichen Vorsehung zu erforschen: I f there were any plan in the universe at all, i f there were any pattern in a human life, surely it could be discovered mysteriously latent in those lives so suddenly cut off. Either we live by accident and die by accident, or we live by plan and die by plan.
(B, 19)5 [ . . . ] this collapse o f the bridge o f San Luis Rey was a sheer A c t o f God. I t afforded a perfect laboratory. Here at last one could surprise His intentions i n a pure state.
(B,20)
Brother Juniper begann alsbald, die »secret lives« {B, 19) der fünf Verunglückten systematisch zu erforschen. I n sechs Jahren füllte er Hunderte v o n Seiten i n seinen Notizbüchern, u m die Welt als plan- und sinnvolle Schöpfung Gottes begreifbar zu machen und nachzuweisen, »that each o f the five lost lives was a perfect whole« {B, 22). I m weiteren Verlauf seiner Erzählung 5
A u f Wilders Werke w i r d m i t folgenden Abkürzungen verwiesen: B=The Bridge of San Luis Rey (New Y o r k , 1927) IM=The Ides of March (New Y o r k , 1948) ED=The Eighth Day (New Y o r k , 1967).
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berichtet der Erzähler, daß die Ergebnisse von Brother Junipers langjähriger Forschung eines Tages zusammen mit ihrem A u t o r öffentlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, daß jedoch eine Abschrift der als ketzerisch verworfenen Untersuchungen gerettet wurde und v o n ihm selbst in der Bibliothek der Universität von San Martin eingesehen werden konnte. Unzufrieden mit Brother Junipers bloßer Katalogisierung v o n »thousands o f little facts and anecdotes and testimonies« (B, 23), vor allem aber mit den theologischen Schlußfolgerungen, die der M ö n c h hinsichtlich der Rechtfertigung Gottes angesichts des Todes der fünf Opfer in seinen Nachbemerkungen gezogen hatte, macht es sich der Erzähler zur Aufgabe, die Lebensdaten der Verunglückten erneut hinsichtlich ihrer Bedeutung zu überprüfen, u m ihnen unter Zuhilfenahme neuer Erkenntnisse der Biographieforschung und eigener spekulativer Ergänzungen einen Sinn abzuringen. Das Ergebnis dieser imaginativen Geschichtsrevision liegt uns i n den drei Erzählungen des Binnenteils vor. 6 Der Erzähler legitimiert seinen eigenen Ansatz dadurch, daß der M ö n c h trotz der großen Sorgfalt, mit der er ans Werk gegangen war, Opfer vieler Fehlinformationen wurde (»Everyone knew that he was w o r k i n g on some sort o f memorial o f the accident and everyone was very helpful and misleading«, Β , 22) und daß seine Darstellung darüber hinaus heutigen Objektivitätskriterien nicht standhalten würde. N o c h weitgehender als in Kapitel I fällt die ironische Distanzierung des Erzählers von Brother Juniper i m Schlußkapitel von The Bridge of San Luis Rej aus. Hier berichtet er über den Versuch des Mönchs, den Wert eines Menschen sub specie aeternitatis nach Kriterien wie Frömmigkeit oder Nützlichkeit für die Gemeinschaft mit Hilfe statistischer Methoden und einer Werteskala von eins bis zehn zu ermitteln. Der Erzähler gibt eine Kostprobe der »ambitious chart« (Β, 213) Brother Junipers, kommentiert das Unternehmen nicht ohne Boshaftigkeit und bricht schließlich den Bericht über die Bemühungen des Mönchs mit einer Wendung an den Leser ab, die seine von Ironie geprägte Haltung bezeugt: »I shall spare you Brother Juniper's generalizations. They are always w i t h us. He thought he saw i n the same accident, the wicked visited by destruction and the good called early to Heaven« (B, 219). Das bisher Gesagte könnte leicht den Eindruck erwecken, Wilder habe die Figur Brother Junipers mit satirischer Absicht i n das Geschehen des Romans
6 A u f Beispiele in der amerikanischen Literatur, i n denen Erzähler vorgegebene Ereignisberichte imaginativ ergänzen, verweist Franz L i n k in »Auschwitz und die Grenzen der Imagination: Erzähltheoretische Überlegungen zu W i l l i a m Styrons Sophie's Choice «, Theorie und Praxis im Erzählen des 19. und 20. fahrhunderts: Studien tçur englischen und amerikanischen Literatur Ehren von Willi Er^gräber, hg. W . Herget et al. (Tübingen, 1986), 311-321, bes. 317-319.
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einbezogen oder bediene sich des Mönchs lediglich als negativer Kontrastfigur zum allwissenden Erzähler, um dessen eigene Rekonstruktion als Lösung des Theodizeeproblems aufzuwerten. 7 Einer solchen Deutung widerspricht indes nicht nur die Ernsthaftigkeit, mit der der Erzähler die persönliche Tragik der mißglückten Sinnstiftungsversuche des Mönchs weiterverfolgt. Mögen i h m die Bemühungen Brother Junipers auch lächerlich vorkommen, er hat doch Hochachtung vor diesem Manne, der den Weg seiner verzweifelten Suche nach einem verborgenen Sinn und Plan der göttlichen Weltordnung unerschrocken und konsequent zu Ende ging. I n den Worten, mit denen der Erzähler Brother Junipers Einsicht in die Zwangsläufigkeit seines Scheiterns kommentiert, schwingt die Trauer u m das Wissen u m die eigene Fehlbarkeit und die grundsätzliche Ungewißheit über den Wert menschlichen Erkennens mit: [ . . .] on that afternoon Brother Juniper took a walk along the edge o f the Pacific. He tore up his findings and cast them into the waves; he gazed for an hour upon the great clouds o f pearl that hang forever upon the horizon o f that sea, and extracted from their beauty a resignation that he did not permit his reason to examine. ( Β , 214f.)
Die Wolken, die den Erkenntnishorizont des Menschen begrenzen, sind für den M ö n c h aber bezeichnenderweise »clouds o f pearl«; sie sind i h m sowohl Objekt seiner ästhetischen Meditation als auch Inbegriff eines sich i m Geheimnisvollen verbergenden Göttlichen, das per definitionem das Begriffsvermögen des Menschen transzendiert. Es ist fraglich, ob Brother Junipers Deutung der Ereignisse tatsächlich nur — wie Malcolm Goldstein behauptet 8 — die Negativfolie zu Wilders »superior Interpretation« darstellt. Ist gegen diese Deutung schon einzuwenden, daß die Interpretation, die jene des Mönchs ersetzt, nicht die des Autors, sondern 7 Als Kontrastfigur w i r d Brother Juniper u. a. in Helmut Papajewskis Thornton Wilder (Frankfurt / Bonn, 1961) und in Rex Burbanks Thornton Wilder (Boston, 2 1978) gedeutet. A u f notwendige Einschränkungen macht Leonhard Alfes i n »Bruder Junipers conversio und die perhapses i n T h o r n t o n Wilders The Bridge of San Luis Rey«, Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 6 (1973), 98-109, aufmerksam. 8
Das folgende Urteil Malcolm Goldsteins umschreibt eine dieser extremen Positionen: »[Brother Juniper's] presence is little more than an excuse for the three episodes, and that little serves only to establish his o w n interpretation o f them, w h i c h eventually Wilder overthrows in favor o f a superior interpretation. [ . . .His] presence is an ungainly expository contrivance, and his by-the-book religiosity, weighing so much good in each v i c t i m o f the fall against so much evil, is too obviously unavailing in the search for the meaning o f the disaster«, The Art of Thornton Wilder (Lincoln, N B , 1965), 52. Z u ebenso voreiligen Urteilen k o m m t Goldstein, wenn er z.B. das Uncle Pio und D o n Jaime gewidmete Kapitel als »unnecessary decoration upon the novel's structure« beschreibt (58).
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die des Erzählers ist, so kann darüber hinaus nicht mit Bestimmtheit angegeben werden, ob die Methode des Erzählers überhaupt eine höherwertige Sinndeutung des Geschehens erbringt. Die kritische Haltung, die der Erzähler gegenüber Brother Juniper einnimmt, zeigt an, daß es Wilder mit dem Einbezug dieser Figur um mehr als u m einen Erzählvorwand ging. Die teils spöttische Zurückweisung v o n Brother Junipers statistischer Methode bei der Erforschung der göttlichen Vorsehung und die gleichzeitige Hochachtung für seine Ergebenheit i m Moment des Scheiterns markieren Positionen, die uns Auskunft über die Bewertungen geben können, die der Erzähler Versuchen der Sinnfindung grundsätzlich entgegenbringt. O b w o h l der Erzähler beansprucht, wichtige neue, sogar über den Stand der zeitgenössischen Biographieforschung hinausgehende Erkenntnisse über die »central passions« der fünf Opfer des Brückeneinsturzes zu besitzen, und auf dieser Grundlage fähig scheint, in ihren Biographien ein anderes Bild von ihrem Charakter, v o n ihren Handlungsmotiven und Plänen zu zeichnen, als dies noch Brother Juniper vermochte, 9 ist er sich der Tatsache bewußt, daß selbst seine Deutung nie mehr als ein hypothetischer E n t w u r f sein kann. Für ihn — wie für den impliziten Leser des Romans — ist der Zweifel nicht nur an einem göttlichen Weltplan, sondern auch an der Erkennbarkeit eines solchen ein wesentliches Kennzeichen des menschlichen Bewußtseins: Y o u and I can see that coming from anyone but Brother Juniper this plan w o u l d be the flower o f a perfect skepticism. I t resembled the effort o f those presumptuous souls w h o wanted to walk on the pavements o f Heaven and built the Tower o f Babel to get there. But to our Franciscan there was no element o f doubt in the experiment. He knew the answer. (B, 20)
Für den Erzähler gilt jedoch anders als für Brother Juniper der Satz, »[that] doubt springs eternal in the human breast« (Β, 21). I n dieser prinzipiellen Skepsis gründet auch der Zweifel an der Gültigkeit der eigenen Erkenntnisleistung und des Gelingens seines eigenen Sinnentwurfs: A n d I , w h o claim to k n o w so much more, isn't it possible that even I have missed the very spring w i t h i n the spring? Some say that we shall never k n o w and that to the gods we are like the flies that the boys k i l l on a summer day, and some say, on the contrary, that the very sparrows do not lose a feather that has not been brushed away by the finger o f God. (B, 23)
Die meisten Kritiker nehmen an, daß Thornton Wilder mit den Biographien, die uns der Erzähler i m Binnenteil des Romans vorstellt, das Ziel verfolge, das Bild jener dämonischen Götter zu widerlegen, die uns, wie der Earl o f Gloucester i n Shakespeares King Lear feststellt, nur zu ihrem Spaß und 9 Der Erzähler distanziert sich v o n Positionen Brother Junipers bes. in Hinblick auf dessen Charakterisierung der Marquesa; vgl. B , 27 und 219.
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Zeitvertreib zu töten scheinen. 10 I m Sinne dieser Annahme wurde immer wieder der Versuch unternommen, die Binnenerzählungen als Bestätigung der christlich-humanistischen Weltsicht Wilders zu lesen. So behauptet Mary E. Williams, daß Wilder durch die Verwirklichung des »potential for love«, die den drei erwachsenen Opfern, der Marquesa de Montemayor, Uncle Pio und Esteban, kurz vor ihrem Tode vergönnt war, die These belege, »that the inner life o f man [. . . ] has as much power over the direction o f his life as do the external influences upon it«, 1 1 und M . C . Kuner folgert i n ähnlicher Weise, daß der Roman christliche Vorstellungen propagiere, da die Charaktere i m Moment ihres Todes i n ein besseres Leben erlöst worden seien. 12 Entgegen allen Versuchen, in den Biographien der Opfer Prozesse der Läuterung individueller Leidenschaften nachzuweisen, ist es jedoch zweifelhaft, ob ein solcher Nachweis tatsächlich gelang. Trotz vieler Hinweise darauf, daß sich das Leben der fünf Opfer am Ende i n einem »perfect whole« {Β, 22) erfüllt habe, bleiben beim Leser gewisse Irritationen hinsichtlich der A r t und Weise, i n der der Erzähler die Todesumstände seiner Figuren mitteilt. I m Falle der Marquesa de Montemayor schließt sich an deren hoffnungsvolles Flehen u m einen Neubeginn — »>Let me live now,< she whispered. >Let me begin againBekehrung< durch jenen Unfall ums Leben gekommen, »which we know befell them«. Die Formulierung, mit der der Erzähler den T o d Uncle Pios und seines Schützlings D o n Jaime erwähnt, scheint ebenfalls nicht frei von einer Distanziertheit, die an Sarkasmus grenzt: »Uncle Pio said that when they had crossed the bridge they w o u l d sit d o w n and rest, but it turned out not to be necessary« {B, 207). Die Erwartung, daß i m Schlußteil v o n The Bridge of San Luis Rey verbindliche Antworten auf die Frage nach der Existenz bzw. Erkennbarkeit eines göttlichen Weltplanes gegeben würden, w i r d nicht eingelöst. 13 Zwar scheinen 10 V g l . King Lear, A k t I V , Szene I , Vers 36f.: »As flies to wanton boys, are we to th* G o d s ; / T h e y k i l l us for their sport«; zitiert nach der Arden E d i t i o n (London, 1972), 140. 11 Mary E. Williams, Λ (Pocatello, 1979), 35.
Vast
Landscape: Time in the Novels of Thornton Wilder
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V g l . Kuner, 65f.: »[. . . ] when death finds them on the bridge they have overcome their agony and look forward to a new and better life. H a v i n g discovered the noblest portion o f their natures when they were under stress, they really have, artistically speaking, no further reason to survive. They have fulfilled their destiny.« Es läßt sich w o h l kaum eine Deutung v o n The Bridge of San Luis Rey finden, die die Aussageintentionen Wilders weniger träfe, als die v o n K u n e r skizzierte. Hätte Wilder eine derartige >Botschaft< i m Sinne gehabt, hätte er sich m i t der Wiedergabe der Schlußfolgerungen Brother Junipers begnügen können, deren »nichtssagenden Verallgemeinerungen« der Erzähler dem Leser jedoch ersparen möchte. E r hätte Brother Juniper zudem nicht in seinen Deutungsversuchen scheitern lassen und schon gar nicht einen skeptischen Erzähler einführen dürfen, der dem Unterfangen des Mönchs kritisch gegenübersteht.
17 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
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sich die Worte der Äbtissin Madre Maria, mit denen der Roman schließt, als Vermächtnis Wilders anzubieten, insbesondere wenn dort die Liebe als einzige Möglichkeit der Sinnstiftung gegenüber der Vergänglichkeit menschlicher Existenz, als »only meaning« oder als Brücke zwischen der Welt der Lebenden und der Toten apostrophiert wird, doch bleibt die Gültigkeit dieser Äußerung durch ihren narra ti ven Kontext eingeschränkt. 14 Die Schlußpassage gibt lediglich die Gedanken einer der fiktionalen Figuren wieder, und diese werden durch den Erzähler keineswegs bestätigt. Mag auch die Wahl des Titels »Perhaps an Intention« — i m Gegensatz zu dem eher den Zufallscharakter der Ereignisse betonenden Titel des ersten Teils — die Vermutung nahelegen, Wilder habe die Entwicklung von einer Haltung des Skeptizismus zum Glauben nachzeichnen wollen und mit der Titelgebung zumindest implizit eindeutige Positionen bezogen, so bleibt doch ungeklärt, weshalb er dann nicht auf ein erneutes »perhaps« in der Benennung des Schlußteils hätte verzichten können. Bei der Interpretation des Romans sollte berücksichtigt werden, daß sich die Binnenerzählungen und die Schlußfolgerungen, die sie nahelegen, aus der komplexen Dynamik zwischen dem Erzähler und Brother Juniper ergeben, einer Dynamik die aus dem Zweifel an der Gültigkeit der Untersuchungsmethoden und -ergebnisse des Mönchs erwächst und sein Scheitern als Paradigma menschlicher Erkenntnisunsicherheit begreift. Die Struktur des »Perhaps an Accident« — »Perhaps an Intention« impliziert das Eingeständnis des Erzählers, daß letzte Gewißheiten i n bezug auf die Bedingungen der Wirklichkeit und die Ausrichtung ihrer Prozessualität jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens liegen. Die Lösung der aufgeworfenen Probleme, die Thornton 13 V g l . Franz H . L i n k , »Das Amerikanische und das Menschliche bei T h o r n t o n Wilder«, Der Rotarier, 36 (1976), 386: »Damit, daß der Mensch bei Wilder den Wert des Alltäglichen erkennt, ergibt sich für ihn noch nicht der Sinn des Lebens. [ . . . ] A m Ende [von The Bridge of San Luis Rey] steht Madre Maria, der auch ein letztes Wissen um den Sinn ihres Lebens versagt bleibt, die jedoch in ihrer helfenden Liebe das Ausstehen der Ungewissheit darüber möglich macht.« 14 Paul Friedman zieht aus dem Kontext eindeutig negative Folgerungen. Für ihn w i r d Wilders Roman zum Zerrbild einer optimistischen Wirklichkeitskonzeption. Friedman betont: »[. . .that] the theme itself, w i t h its profoundly tragic implications, belies the moderate optimism o f its conclusion; the inescapable fact is that the Bridge o f San Luis Rey breaks. [. . .] That the theme is not the miracle o f love, but its failure, is apparent in the final scene.« Als Beleg für die Richtigkeit seiner Deutung führt Friedman einen Kommentar des Autors an, der in bezug auf die vorgetragene These allerdings nur begrenzt aussagefahig ist. I n einem Brief an Friedman schrieb Wilder: »At the close, I use the bridge as a connection to a »meaning o f lifeAbwertung< der Bedeutung des Alkestismythos kann indes nicht auf andere Werke Wilders übertragen werden. Helmut Viebrock hat i n seiner Studie »Thornton Wilders Hauptmotiv«, Die Neueren Sprachen, 10 (1961), 349-363, die Bedeutung des Mythos der Rückkehr aus dem Reich der Toten (u.a. anhand der Figur der Alkestis und der Persephone) für das Gesamt werk überzeugend nachgewiesen. 23 Die Figur Catulls widerlegt die Theorien Caesars, insofern es i h m nie gelingt, die angesprochene Harmonie auch nur annäherungsweise zu realisieren. Eine ähnliche
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Anders als das M o t t o des Romans vermuten lassen konnte, widmet sich Wilders The Ides of March gerade der Entmystifizierung jenes Schauderns, das der A u t o r dort als Ursprung herausragender Erkenntnisleistungen begriff. Angesichts des eklatanten und unaufhebbaren Erkenntnisdefizits gegenüber dem Bereich des »Unknowable« fühlt sich der Mensch zwar immer wieder zu neuen Sinnentwürfen aufgerufen, er w i r d sich aber dadurch auch der subjektiven Verfaßtheit und Begrenztheit seines jeweiligen Wirklichkeitszugriffs bewußt. D o c h allein i m erneut notwendigen Vollzug seiner Fähigkeit, sich Welt als Bild und Vorstellung zu entwerfen, vermag er sein Mensch-Sein zu realisieren. Eingedenk der Tatsache, »[that] the mind is free [. . . and that] there is no limit to the pictures it makes« {IM, 238), w i r d dann freilich das ursprünglich metaphysische »£/nknowable« zum innerweltlichen »//nknowable« {IM, 239) eines noch nicht geleisteten Sinnentwurfs, w i r d zum »promise«, zur unabschließbaren Herausforderung des sinnstiftenden Bewußtseins des Menschen. Thornton Wilder begnügt sich indes nicht damit, die aufgeworfenen erkenntnistheoretischen Fragen allein von seinen Figuren diskutieren zu lassen. Wie i n keinem anderen seiner Romane gelingt es dem A u t o r in The Ides of March, die Romanstruktur und ihre narrativen Strategien in Einklang mit seiner Aussageintention zu bringen. Nicht von ungefähr bemerkt Wilder in seinem V o r w o r t zum Roman, »[that the] attention of the reader is called to the form in which the material is presented« {IM, viii). Er macht wiederholt deutlich, daß sein vorrangiges Ziel nicht »historical reconstruction« sei, sondern daß er eine »fantasia on certain events and persons o f the last days o f the Roman republic« i m Sinne gehabt und sich auch beträchtliche Freiheiten genommen habe, was die korrekte Verwendung historischer Daten anbelangt. Die Ausführlichkeit, mit der Wilder die Abweichungen seiner »fantasia« von der überlieferten historischen Wirklichkeit kommentiert, mit der er aber auch auf der Historizität jener Daten insistiert, »which may most seem to have been o f [his own] contriving« {IM, vii), läßt bereits erahnen, wie zentral ihm das Thema der fiktionalen Wirklichkeitskonstruktion i m Spannungsfeld zwischen bloßer Fiktion und scheinbar Wahrheit und Authentizität verbürgender historischer Dokumentation ist. Wenn Wilder schließlich seine »suppositional R E C O N S T R U C T I O N « mit dem V o r w u r f der »inequalities« der historischen D o k u mente begründet, die die Wahrheit ohnedies schon durch die Vorurteile ihrer
Strategie der gezielten Desillusionierung der Annahmen Caesars verfolgt The Ides of March auch hinsichtlich der Vermutung, das Göttliche würde sich i n Caesars politischem Mandat offenbaren. I n letzter Konsequenz müßte Caesar auch seinen Mörder als ein v o n den Göttern auserlesenes Instrument der Vorsehung begreifen (vgl. D o k u m e n t L X I , IM, 217).
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Verfasser verzerrten, so legt er allerdings eine Umwertung nahe, die das historische Dokument zur inauthentischen Fiktion, die bewußte F i k t i o n (des Romans) aber zum Dokument macht. I m Kontext der Fragestellung nach dem historisch >Wahren< kommt gerade der Form der Vermittlung der scheinbaren Dokumente Bedeutung zu. I m Verzicht auf die Figur des traditionellen Erzählers und i m Rückgriff auf die F i k t i o n des unbeteiligten und vorurteilsfreien Herausgebers vorgefundener Dokumente suggeriert der Roman eine Objektivität, die der Leser erst i m Verlauf seiner Rezeption des Romans als bloße Vorspiegelung zu entlarven vermag. A u c h wenn er sich zunächst der Illusion hingeben sollte, bei den Dokumenten handle es sich u m objektiv erfaßtes Material, muß er bald erkennen, daß die Dokumente nach höchst subjektiven Kriterien zusammengestellt sind. Wie der A u t o r schon in seinem V o r w o r t betont, erfolgte die Gruppierung der einzelnen Texte streng nach thematischen Gesichtspunkten und ist somit keineswegs frei von vorgefaßten Aussageinteressen. Die K r i t i k hat zu Recht davon gesprochen, daß die »Simulation v o n >Quellen< « den Leser i n die Rolle des auswertenden Historikers versetze, der Geschichte »gewissermaßen i m Rohzustand, in statu nascendi% erfahre und als solche zu werten habe. 24 Bereits zu Beginn des Romans zeigt sich, daß der fiktive Herausgeber der Dokumente vor allem darauf bedacht ist, die historische Wirklichkeit aus unterschiedlichen Perspektiven zu beschreiben. V o r dem Leser des ersten Buches entfaltet sich beispielsweise ein verwirrendes Bild Clodia Pulchers, zu dem neben selbstcharakterisierenden Briefen, negative und teils verleumderische Beurteilungen durch Cicero, Julia Marcia, Sempronia Metella oder Caesar, aber auch Aufzeichnungen öffentlicher Schmähschriften beitragen. Ziel dieser äußerst vielschichtigen Charakterisierung ist hier — wie auch i m zweiten Buch i m Falle der höchst widersprüchlichen Präsentation Cleopatras — weniger die möglichst lebensnahe und komplexe Portraitierung historischer Figuren, sondern die Begründung der Frage nach der Wirklichkeit anhand der Widersprüchlichkeit jenes Materials, das diese Wirklichkeit jeweils objektiv darzustellen vorgibt, sie jedoch i m A k t der Darstellung erst subjektiv konzipiert. A u c h hinsichtlich der divergierenden Berichte über den T o d Catulls (Dokument I L und I L - A ) oder über die A n k u n f t Cleopatras in Rom (Dokument X X X I I I und X X X I I I - A ) geht es dem fiktiven Herausgeber nur sekundär u m die Inhalte der unterschiedlichen Ansichten v o n Wirklichkeit. I m Mittelpunkt seines Interesses steht das Bemühen, die Perspektiviertheit jedes Wirklichkeitszugriffs zu verdeutlichen. 25
24
Nimax, 133 f.
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Dieser Aussageintention entsprechend, ist es sicherlich kein Zufall, daß Wilders Roman gerade mit der Wiedergabe eines der wenigen >echten< D o k u mente über Caesar, 26 nämlich mit Suetons Bericht über die Ermordung des Imperators abschließt. M a g dem Leser die i m sprachlichen Duktus geradezu sachlich-objektiv gehaltene Darstellung der Ereignisse, die zu Caesars T o d führten, zunächst noch als Dokumentation eines Augenzeugen erscheinen, so w i r d diese Illusion bereits von Sueton selbst zerstört, wenn er beispielsweise vermerkt, »certain writers« hätten bezüglich einiger Details abweichende Meinungen vertreten. G i b t der Text somit bereits — wenn auch i m Gewände der beabsichtigten Erhöhung der Objektivität — seine eigene Perspektiviertheit zu erkennen, reduziert Wilder (beziehungsweise der fiktive Herausgeber) den dokumentarischen Anspruch des Sueton-Berichts zusätzlich noch dadurch, daß er in einem Kommentar explizit auf die beträchtliche zeitliche Distanz zwischen dem historischen Ereignis und seiner Aufzeichnung und somit auf die bloße Vorspiegelung dokumentarischer Unmittelbarkeit hinweist. 2 7 Die bisherige Analyse von The Ides of March läßt es mehr als fraglich erscheinen, ob Wilder auf den Caesar-Stoff allein wegen seines Interesses an der historischen Figur zurückgriff. Die Vermutung liegt nahe, der Stoff habe sich als besonders geeignet erwiesen, die Frage nach der subjektiven Verfaßtheit menschlicher Erkenntnis nicht nur auf der Ebene der fiktiven Figuren zu stellen, sondern auch auf die traditionelle Opposition zwischen der fiktiven >Wirklichkeit< der Literatur und der gleichsam authentischen Wirklichkeit gegenwärtigen oder vergangenen Lebens auszuweiten. Gerade eine hinlänglich bekannte Figur wie Caesar konnte dazu beitragen, dem Leser zu verdeutlichen, daß auch das scheinbar objektiv Bekannte als subjektiv Erkanntes, also als 25 E i n illustratives Beispiel findet sich in D o k u m e n t X X X I I I . Der Geschichtsschreiber Cornelius Neppos thematisiert in seinem Bericht die Perspektivität unterschiedlicher Wirklichkeitsansichten: »To me at a distance [Cleopatra] seemed very beautiful; Alina [ . . .], having a view o f better advantage [. . .] and being a woman, reports that she is decidedly plain [ . . . ] . Gossips report [ . . . ] « {IM, 121). Die vorrangig subjektive Komponente und der fiktionale Charakter v o n Erkenntnis w i r d schließlich auch durch die kontrastive Beurteilung Cleopatras in Dokument X X X I I I - A betont. Z u r Polyperspektivität des Romans — jedoch ohne Analyse der erkenntnistheoretischen Funktion — Nimax, 120, und Miller, 36. 26
Papajewski verweist auf weitere Dokumente, u.a. auf einen Bericht v o n Plinius dem Jüngeren über die Legende, nach der Caesars Leichnam v o n einer Mysteriengemeinde zerstückelt wurde und die Leichenteile in den einzelnen Stadtteilen Roms vergraben worden seien. 27 Fraglich bleibt indes, warum der Kommentator / A u t o r die Zeitspanne m i t »some seventy-five years« angibt, o b w o h l i h m bekannt sein mußte, daß Sueton seine Biographien erst i m zweiten Jahrhundert nach Christus, etwa 150 Jahre nach Caesars T o d , verfaßte. Horst Brinkmann (68) sieht i m Gegensatz zu unserer Deutung durch die Einfügung des Sueton-Berichts den Dokumentarcharakter des Romans betont.
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Konstruktion des erkennenden Bewußtseins gelten müsse. I m Rahmen dieser theoretischen Voraussetzungen w i r d schließlich die traditionelle Opposition v o n »fact« und »fiction« hinfällig, und vermag selbst die F i k t i o n eines Romans Wahrheitsstatus zu beanspruchen, weil sich auch das Faktische letztlich als Fiktionales erweist. I n diesem Sinne legt Wilder w o h l mit Bedacht seinem fiktiven Cicero die These i n den Mund: [ . . .that] conjectures have a way o f looming larger than facts. Facts can be controverted; a gloss can nullify them; but conjectures are not easily dismissed. The histories we read are little more than processions o f conjectures pretending they are facts. {IM, 202 f.)
Wenn Wilder den philosophisch gestimmten Caesar seine erkenntnistheoretischen Reflexionen wenig später mit der These abschließen läßt, »[that we] are not i n relationship to anything until we have enwrapped it i n a meaning, nor do we know for certainty what that meaning is until we have costingly labored to impress it upon the object« {IM, 233), zieht er ein wichtiges Fazit für die Bestimmung der erkenntnistheoretischen Position seines »fantasia« genannten Romans, das uns mit Nachdruck auf die Subjektivität und Relativität aller Erkenntnisleistungen hinweist.
Als T h o r n t o n Wilder fast zwanzig Jahre nach der Publikation v o n The Ides of March i m Jahre 1967 wieder mit einem Roman an die Öffentlichkeit trat, waren viele Kritiker überzeugt, der Autor habe nunmehr sein »magnum opus«28 vorgelegt und seinem christlich-humanistischen Weltbild i n endgültiger Weise Ausdruck verliehen. Schon diese Einschätzung macht deutlich, daß The Eighth Day als Resultat eines Prozesses der Abkehr von existentialistischen Einflüssen gewertet wurde, wie sie u. a. in The Ides of March erkennbar waren. Wenn sich The Eighth Day mit Ausnahme des »Prologue« und des epilogartigen letzten Kapitels mit dem teils irreführenden Titel »Coaltown, Illinois, Christmas, 1905« zwar auch nur am Rande mit Fragen menschlicher Erkenntnis und Wirklichkeitsstiftung zu befassen scheint, so reduzieren dennoch all jene Interpretationen, die die Intention des Romans i n der bloßen Propagierung religiöser Vorstellungen erschöpft sehen, Wilders Aussage in unzulässiger Weise.
28 V o m »magnum opus« spricht Edward E. Ericson, Jr., »The Figure in the Tapestry: The Religious Vision o f T h o r n t o n Wilder's The Eighth Day«, Christianity and Literature , 22, 3 (1973), 32-48, hier: 32. Vergleichbare Einschätzungen finden sich aber auch bei Dalma H . Brunauer, »Creative Faith i n Wilder's The Eighth Day«, Renascence, 25 ( A u t u m n 1972), 46 f., und Prema Nandakumar, »Thornton Wilder: The Eighth Day«, Indian Studies in American Fiction, hg. Μ . K . Naik et al. (Dharwar u n d Delhi, 1974), 166.
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Es ist bezeichnend, daß sich alle Versuche, The Eighth Day als »religious novel« zu definieren, in ihrer Deutung fast ausschließlich auf die Analyse jener Kapitel beschränken, die sich den Biographien der fiktiven Figuren widmen. Insofern i m Sinne einer solchen Erwartungshaltung insbesondere die spirituelle Entwicklung der beiden Protagonisten John und Roger Ashley zentrales Thema des Romans ist, lassen sich mit einer gewissen Schlüssigkeit innerhalb der eigenen Argumentation eine Reihe störender Figuren und auch wesentliche Textpassagen, die dieèem Erkenntnisinteresse nicht gerade förderlich sind, als marginal disqualifizieren. 29 Gegenüber den beiden bedeutungsvollen Szenen, i n denen der Erzbischof v o n Chicago beziehungsweise der Diakon der sektiererischen Gemeinde von Herkomer's K n o b Roger Ashley ihr christliches Weltbild zu vermitteln versuchen, werden andere Passagen, die dieses Weltbild hinterfragen, zum bloßen Ornat erklärt, das Wilder aus >künstlerischen< Erwägungen dem Roman beigefügt habe, um Platitüden i n der Aussage zu vermeiden. Mag es noch angehen, Wilders Einbezug von Figuren wie Dr. MacKenzie, Peter Bogardus oder T. G. Speidel i n diesem Sinne zu deuten, so entstehen doch beträchtliche Argumentationsprobleme, wenn es gilt, die geradezu prominente Rolle, die Dr. Gillies i m »Prologue« einnimmt, in diese Deutungsschablone einzupassen. Wilder hat w o h l mit Bedacht den Titel des Romans jener Ansprache entnommen, in der D r . Gillies am Silvesterabend 1899 die Zukunft des Menschen i m zwanzigsten Jahrhundert in leuchtenden Farben ausmalte, i n der er aber auch — wie der Erzähler des Romans einräumt — seine Zuhörer hinsichtlich seines Optimismus rundum belog. Welche Aussageabsicht verfolgt jedoch Wilder mit der Wahl seines Titels, wenn schon die Vorstellung v o m »neuen« Menschen des achten Schöpfungstags als bewußte Irreführung einer naiven Zuhörerschaft entlarvt wird. Machen w i r uns als Leser nicht ebenso wie die Bürger von Coaltown einer unkritischen Haltung schuldig, wenn w i r dem Titel und damit dem Roman gegenüber nicht den Verdacht der ironischen Umkehrung der Aussage hegen? Die A r t und Weise, in der Wilder
29 Ericson wertet Figuren, die skeptische oder pessimistische Positionen vertreten, v ö l l i g ab, entlarvt aber die Zirkularität seiner Argumentation, wenn er behauptet, »the primary sympathetic characters are Christian« (46), wobei zunächst gilt, daß sie i h m sympathisch sind, weil sie seine Deutung v o n The Eighth Day als christlichem Roman stützen: »In sum, nothing in Wilder's vision is contradictory to Christianity, and the general outlines o f his vision coincide w i t h those o f the Christian faith« (47). I n »Kierkegaard in Wilder's The Eighth Day «, Renascence, 26 (Spring 1974), 123-138, gelingt Ericson ein überzeugender Nachweis des Kierkegaardschen Einflusses auf Wilders Konzeption der »men o f faith«. Ericson schließt allerdings erneut zu einseitig v o n der Glaubenshaltung der »Hauptcharaktere« auf Wilders Aussageabsicht. Z u Kierkegaards Einfluß auf The Eighth Day (mit einigen Differenzierungen gegenüber Ericson) siehe auch Ruth Fichtners Studie, bes. 115-145.
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seinen Erzähler die >Lüge< Dr. Gillies' kommentieren läßt, wirft ein bezeichnendes Licht auf die geistige Verwandtschaft, die der Erzähler (zumindest i m Prolog) mit der i n Wahrheit skeptischen und zutiefst pessimistischen Lebenseinstellung des Arztes empfindet: D r . Gillies was lying for all he was worth. He had no doubt that the coming century w o u l d be too direful to contemplate — that is to say, like all the other centuries. [ . . .] D r . Gillies had no faith in progress, in the future o f mankind. [ . . .] He lied roundly because his eyes rested on Roger Ashley and George Lansing. He spoke as he w o u l d have spoken i f Hector had been there. I t is the duty o f old men to lie to the young. Let these encounter their o w n disillusions. We strengthen our souls, when young, on hope; the strength we acquire enables us later to endure despair as a Roman should. {ED,
17f.)
Teilt jedoch der Erzähler die Aussageposition Dr. Gillies', welchen Grund haben w i r dann, darauf zu vertrauen, daß er uns, seine Leser, nicht auch belügt. 3 0 Dürfen w i r die exemplarischen Lebensgeschichten der Ashley s und Lansings, die uns i m Verlauf v o n The Eighth Daj vorgestellt werden, wirklich als einen auf die Vollendung des Geistigen i m Menschen ausgerichteten Bildungsprozeß lesen, 31 an dessen Ende uns die wahren »children of the eighth day« {ED, 16) begegnen? Selbst wenn man geneigt sein sollte, einigen Romanfiguren eine derartige spirituelle Entwicklung zuzuschreiben, bliebe immer noch zu begründen, weshalb Wilder seinen Roman nicht mit dem hoffnungsvollen Ausblick des Diakons auf die Ankunft eines neuen Heilsbringers beendete, sondern die so verheißungsvolle Entwicklung des zum Stammvater eines neuen Messias stilisierten Roger Ashley gleichsam mit dem Ausblick auf dessen Sohn Johnny scheitern läßt. I m Schlußkapitel des Romans
30 Helmut Viebrock geht in seiner Deutung des Romans, »Thornton Wilder: The Eighth Day : Hauptmotive und Schlüsselbegriffe«, Der amerikanische Roman im 19. und 20. Jahrhundert, hg. E. Lohner (Berlin, 1974), 216-237, hier: 225, davon aus, daß der Erzähler die Ansichten D r . Gillies* nicht teilt, weil der »Kommentar« über die Lügen des Arztes auch als erlebte Rede, also als Innenbericht in personaler und damit quasi unverbindlicher Perspektive interpretiert werden könne. Allerdings spricht die den »Prologue« bestimmende ironische Grundhaltung des Erzählers für die Deutung, daß der Erzähler auch in bezug auf D r . Gillies v o n der Möglichkeit auktorialen Kommentierens Gebrauch macht. Gerade das Urteil, daß D r . Gillies lüge, kann zudem nicht als Bestandteil erlebter Rede gesehen werden. 31
Ericson (1973, 40) spricht bezüglich der Hauptcharaktere v o n einem »increase i n wisdom«, der in »souls [ . . . ] made whole« kulminiere. Gegen die These, daß der Bildungsprozeß einzelner Figuren i m Vordergrund des Aussageinteresses stehe, spricht die Tatsache, daß dieser in H i n b l i c k auf die gesamte Menschheitsgeschichte bereits i m Prolog durch D r . Gillies ironisch kommentiert wird. V g l . auch das Urteil des »maestro«, ED, 264.
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scheinen sich alle hoffnungsvollen Ansätze einer Weiterentwicklung des Menschen in einem universellen Prozeß des Verfalls beziehungsweise — i n erweiterter historischer Perspektive — der Zirkularität der Lebensabläufe aufzuheben und ihre Bedeutung zu verlieren. Der Erzähler bezeichnet den Lebensweg Johnny Ashleys als Prozeß einer »long lamentable self-destruction« {ED, 435) und die Spur der Nachkommen George Lansings verliert sich gleichsam i m Nichts der Zeit: »They seem to have disappeared in that turbulent time« {ED, 421). Gerade die Aufhebung der individuellen Lebensgeschichte i n einer zeitlich nicht mehr eingrenzbaren Geschichte des Universums ist es aber, die der vordergründig so eindeutig optimistischen Aussage v o n The Eighth Day einen skeptischen Fragehorizont eröffnet. Die Konzeption der Historie, die der Erzähler des Romans anhand des äußerst aussagekräftigen Bildes eines unermeßlichen Teppichs entwickelt, ist besonders hinsichtlich seiner erkenntnistheoretischen Implikationen vieldeutig, wenn nicht gar chiffrehaft unbestimmt. Wie das Prinzip geschichtlicher Entwicklung ist das »design« des Teppichs für den Menschen grundsätzlich nicht erkennbar, da dieser als Beobachter immer nur sehr begrenzte Ausschnitte einer komplexen Totalität wahrnehmen k ö n n e : 3 2 This is a history. But there is only one history. I t began w i t h the creation o f man and w i l l come to an end when the last human consciousness is extinguished. A l l other beginnings and endings are arbitrary conventions — makeshifts parading as self-sufficient entireties, diffusing petty comfort or petty despair. The cumbrous shears o f the historian cut out a few figures and a brief passage o f time from that enormous tapestry. Above and below the laceration, to the right and left o f it, the severed threads protest against the injustice, against the imposture. I t is only in appearance that time is a river. I t is rather a vast landscape and it is the eye o f the beholder that moves. {ED,
395)
V o r allem zwei Gesichtspunkte sind bei dieser Geschichtskonzeption v o n Belang für unsere Fragestellung: Z u m einen ist Geschichte immer an ein erkennendes Subjekt gebunden, ist letztlich also Bewußtsein v o n Geschichte und daher subjektiv willkürliche K o n s t r u k t i o n ; 3 3 zum anderen ist jeder
32 V g l . IM, 185. A u f die Motivvorlage in Henry James' »The Figure i n the Carpet« verweist Franz L i n k , Geschichte der amerikanischen Er%ählkunst 1900-1950 (Stuttgart, 1983), 265. 33 H . Viebrock (1974) spricht i n seiner umsichtigen Deutung v o n The Eighth Day davon, daß das spezifisch Wildersche am B i l d des »Teppichs des Lebens« die Tatsache sei, »daß das Muster, >designpatternGeschichte< mit den lakonischen Worten: There is much talk o f a design in the arras. Some are certain they see it. Some see what they have been told to see. Some remember that they saw it once but have lost it. Some are strengthened by seeing a pattern wherein the oppressed and exploited o f the earth are gradually emerging from their bondage. Some find strength in the conviction that there is nothing to see. Some
I m Gegensatz zu Rogers Gesprächspartner, der trotz der Feststellung, daß für den Menschen, dem ja nur der Blick auf die »losen Fäden und Knoten des Lebens« gewährt sei, kein Muster zu erkennen ist, an ein überirdisches »design« glaubt, legt sich der Erzähler von The Eighth Day nicht eindeutig fest. 34 Helmut Viebrock hat dennoch mit einiger Berechtigung i n seiner Interpretation des Romans die provokative These vertreten, daß die Relativität der W i r k u n g des Musters »nur eine vorgetäuschte« sei, daß der »ganze Roman [ . . .] als entfaltete Metapher die vorsichtige Bestätigung eines Sinnes [darstelle], dessen Leugnungs- oder Umdeutungsmöglichkeit v o m A u t o r freilich taktisch eingeräumt wird«, dessen Richtung zwar »durch skeptische Störfeuer des Autors immer wieder i n Frage gestellt, aufs Ganze gesehen aber doch durch die Geschichte selbst und ihre Höhepunkte unwiderstehlich bekundet und bekräftigt w i r d . « 3 5 Angesichts des überaus reichen Kontexts an skeptischen »Umdeutungsmöglichkeiten«, die sich vor allem i n der ironischen Haltung des Erzählers gegenüber vorgefertigten Sinndeutungen i m »Prologue« und i m epilogartigen Schlußteil offenbaren, deutet sich in der gesuchten Vieldeutigkeit des Schlusses v o n The Eighth Day jedoch auch eine erkenntnistheoretisch fundierte Reflektiertheit Wilders an, die nicht als »vorgetäuschtes Störfeuer«, sondern als Eingeständnis einer unaufhebbaren Erkenntnisungewißheit zu verstehen ist. Die Offenheit, i n die der letzte Satz den Leser entläßt, ist demnach auch als Aufforderung zu begreifen, den aufgeworfenen Fragen über die Dauer der Romanlektüre hinaus nachzugehen und voreilige
34 A n Interpretationen, die i m Sinne ihrer weltanschaulichen Vorgaben dem Erzähler eindeutige Aussageabsichten zusprechen, hat es nicht gefehlt; siehe u. a. Ericson, Brunauer, Williams, Kuner, Blake, Nandakumar oder Fichtner.
35 Viebrock (1974), 222.
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Antworten zu meiden, da solche angesichts der engen Grenzen, die der menschlichen Erkenntnisfähigkeit gesetzt sind, nicht gegeben werden können. * *
*
Aus thematischen Gründen standen i n unseren Analysen Textpassagen aus Wilders Romanen The Bridge of San Luis Rey, The Ides of March und The Eighth Day i m Vordergrund, i n denen sich Tendenzen eines tiefgründigen Erkenntnisskeptizismus abzeichneten. Insgesamt scheint Wilders Œuvre allerdings nur punktuell von einer skeptisch kritischen Haltung gegenüber einem geschlossenen beziehungsweise gesicherten Weltbild bestimmt zu sein. Jene Textanteile der Romane, die ein verbindliches Weltbild anzeigen — i n The Bridge of San Luis Rey und The Eighth Day sind dies vor allem die i n den erzählerischen Rahmen der beiden »perhaps«-Kapitel beziehungsweise des Prologs und Epilogs eingelagerten Erzählungen, die sich den Lebensgeschichten der dominanten Romanfiguren widmen, in The Ides of March all jene Dokumente, i n denen Caesar seinen Agnostizismus durch verbindliche Sinnsetzungen zu überwinden sucht — verstellen jedoch den Blick auf die vielfältigen Ausdrucksformen v o n Wilders erkenntnistheoretischem Skeptizismus. V o n der offensichtlichen, rein quantitativen >Dominanz< eines i n sich geschlossenen Weltbildes christlicher Ausrichtung kann auf eine uneingeschränkt christliche Sinndeutung in Wilders Werk allerdings nur auf Kosten der thematischen Komplexität individueller Texte geschlossen werden. Wichtiger als quantitative sind qualitative Beurteilungskriterien, die beispielsweise die immer wieder beobachtbaren ironischen Umwertungen der Aussage erfassen. Wie i n den Rahmenkapiteln der beiden Romane The Bridge of San Luis Rey und The Eighth Day zu beobachten ist, w i r d die Aussage vieler unter quantitativem Aspekt dominanter Textpassagen durch zunächst scheinbar unbedeutende Textsignale ins Ironische gewendet. Ohne die Berücksichtigung dieser ironisch distanzierenden Kommentare der jeweiligen Erzähler w i r d die Werkanalyse zwangsläufig zu Fehldeutungen kommen. Entscheidend für die Interpretation ist, daß Wilder die wenigen »Leugnungsund Umdeutungsmöglichkeiten« einer klar erkennbaren Sinnrichtung, die er — so die Analyse Helmut Viebrocks 3 6 — nur aus taktischen Gründen eingeräumt habe, gerade an jenen die Rezeption maßgeblich beeinflussenden Textstellen am Romananfang und -ende nahelegt, Textstellen also, die den Deutungshorizont des Lesers zuerst konstituieren oder ihn hinsichtlich seines Fortwirkens über die Dauer der eigentlichen Textrezeption hinaus verstärken oder demontieren können. Eine Deutung von Wilders Werk, die dessen skeptische Impulse übergeht oder negiert, beraubt es auch der komplexen Dynamik innerer Widersprüche, in der sich Wilders Sinnentwürfe als Ausdruck einer unabschließbaren Sinnsuche objektivieren. 36 Ibid. 18 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
V o n F i c h t e zu H i t l e r ? Zur Rezeption Fichtes in der Exilliteratur 1937 -1958 V o n Christoph Eykman Die Erfahrung des. nationalsozialistischen Terrors und der Nöte des Exils veranlaßten manche der aus Deutschland bzw. Österreich geflüchteten Intellektuellen, ihren geistigen Standort i m Rahmen der deutschen Katastrophe neu zu bestimmen. Dabei rückt nicht nur das jeweils gegenwärtige Geschehen i n den Blickpunkt. Die Suche nach dem Sinn der Zeitereignisse erstreckt sich vielmehr auch in vergangene Epochen deutschen Geisteslebens. Zwar gehört die Hinwendung zum geistigen »Erbe« eo ipso zum Habitus des geistigen Menschen, gewinnt aber i n der Exilsituation der dreißiger und vierziger Jahre besondere Dringlichkeit. Der von seiner Sprache und K u l t u r weitgehend abgeschnittene Exilant bedarf der Vergewisserung der Tradition, i n welcher er steht. Er zieht darüber hinaus moralische Stärkung aus dem Umgang mit Schriften vergangener Epochen, die das »andere«, wahre Deutschland repräsentieren und als geistige Waffe gegen die nazistische Barbarei zu dienen vermögen. Z u den Motivationskomplexen der geistigen Selbstvergewisserung, der moralischen Stärkung und des antifaschistischen Kampfes treten noch weitere Anstöße, die den Exilanten zur Auseinandersetzung mit seinem kulturellen Erbe nötigen. Z u m einen: das Bedürfnis, sich dem Gastlande gegenüber als Repräsentant einer Kulturnation auszuweisen, deren Werte i n krassem Gegensatz zu denen des Dritten Reiches stehen. Z u m anderen: der Zwang, das eigene Exilantenschicksal am Beispiel anderer berühmter Fälle aus vergangener Zeit (Musterbeispiel: Heine) zu veranschaulichen, es am historischen Exempel tiefer zu verstehen und glaubwürdiger zu legitimieren. Schließlich dient die Beschäftigung mit vorbildlichen Gestalten des literarischen Erbes wie Lessing, Herder, Kant, Goethe, Schiller, Hölderlin und Heine dem Bestreben, einem künftigen, von der NS-Herrschaft befreiten Deutschland Leitideen für den kulturellen Wiederaufbau zu vermitteln. Die Annäherung der Exilanten an Tradition des deutschen Sprachraumes Aufrechterhaltung bzw. Rehabilitierung lich-antiken Überlieferung zum Zwecke 18*
die literarische und philosophische dient nicht zuletzt vor allem der humanistischer Werte aus der christder deutlichen Abgrenzung des Gei-
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s tes des Exils gegen den Hitlerschen Ungeist. Das deutsche Schrifttum der Vergangenheit gewinnt damit eine positive Funktion als Refugium in geistiger N o t wie auch als Arsenal von Leitbildern einer unverfälschten Menschlichkeit. Z u diesen Intentionen tritt aber noch ein gänzlich anderer Beweggrund, der die Exilanten dazu drängt, geistesgeschichtlich Bilanz zu ziehen, und zwar kritische Bilanz. Die Grundfrage, welche eine kritische Sichtung der deutschen Geistesgeschichte leitet, ist nämlich diejenige nach den geistigen »Ahnherrn« des Nationalsozialismus. Man sieht Hitler als Endphase bzw. Resultat einer schon längst angebahnten kuturellen Entwicklung, welche bereits früh präfaschistische Züge aufweist. I n der deutschen Kulturgeschichte steckt also — nach der Auffassung mancher Emigranten — v o n Anfang an der Wurm. Oder u m ein anderes bei emigrierten Intellektuellen, insbesondere Th. Mann, 1 beliebtes Bild zu gebrauchen: der Krankheitskeim w i r k t schon von jeher i m deutschen Kulturkörper. Der langen Inkubationszeit folgt dann endlich i m Dritten Reich der vehemente Ausbruch der Krankheit. Die These der Emigranten: >Es mußte so kommen, da die geistigen Weichen schon seit langem so gestellt waren< bezieht sich vor allem auf Epochen und Autoren, welche sich i m Nationalsozialismus großer Popularität erfreuten bzw. für propagandistische Zwecke verwendbar waren. Das gilt ζ. B. für manche Aspekte der deutschen Romantik überhaupt. I h r werfen einige (linksgerichtete) Exilautoren ästhetizistische Unverantwortlichkeit sowie Mangel an gesellschaftspolitischem Engagement vor. Die Romantik, so w i r d i n diesem Zusammenhang häufig argumentiert, sei der v o n der Französischen Revolution gestellten Aufgabe ausgewichen. Sie bedeute Flucht i n die Vergangenheit, Neigung zum Fatalismus, Erhebung des »sacro egoismo« des Staates über die Sphäre einer verbindlich geltenden Moral und endlich: Humanitätsfeindlichkeit. 2
1 T h . Mann, Politische Schriften 1968), S. 176. 2
und Reden 3, hrsg. v o n Hans Bürgin (Frankfurt/M.,
Z u r Romantik-Rezeption der Exilanten vgl. Klaus Mann, »Wiederbegegnung m i t den deutschen Romantikern«, in Mass und Wert, 1. Jg., H . 6 (1938), S. 942. Ferner: W i l h e l m Röpke, The German Question, übers, v o n E . W . Dickes (London, 1946), S. 135. Erich Kahler, Man the Measure: A New Approach to History (New Y o r k 1961) (entst. 1941 -42), S. 458, 493. Alfred Kurella, »Deutsche Romantik« (1938) in: Kurella, Zwischendurch: Verstreute Essays 1934-1940 (Berlin [Ost], 1961), S. 180f. August Siemsen, Die Gefahr Europas (hrsg. v o n Anna Siemsen) (Paris, 1937), S. 35. Ernst Cassirer, The Myth of the State (New Haven, 1950), S. 265 ff., 269. Gelegentlich findet sich allerdings auch bei Exilanten der Hinweis auf progressive Gedanken der Romantik. So etwa bei L u d w i g Marcuse, »Reaktionäre und progressive Romantik«, in Monatshafte [Wisconsin], vol. X L I V , N r . 1 (1952), S. 195-201. Überhaupt zitieren die Schriften der Exilanten immer dann zustimmend aus den Texten der Romantiker, wenn es sich u m liberale bzw. progressive Gedanken handelt. V g l . z. B. das Uhland-Zitat (gegen die Tyrannei) aus dem
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Neben der Romantik werden vor allem Friedrich Nietzsche und Richard Wagner von exilierten Schriftstellern gern der geistigen Mitschuld an der nationalsozialistischen Katastrophe geziehen. M a n wirft dem Philosophen die Entthronung des Geistes, die Liquidierung der überkommenen Moral, die unverantwortliche Verkündung des Machtgedankens sowie die Propagierung des Nihilismus vor, während Wagner gelegentlich als Erzieher zum Faschismus hingestellt w i r d . 3 Selbst so unverdächtige Gestalten wie Goethe und Schiller entgehen nicht ganz dieser kritischen Sicht. Goethes Immoralismus, seine angebliche Indifferenz gegenüber sozialen Problemen seiner Zeit, das brutale Machtstreben des alten Faust, Schillers »Flucht« ins Reich der Ideale müssen als Indizien einer spezifischen deutschen Geistesverfassung herhalten, die den Nazismus präfiguriert oder i h m zumindest den Weg geebnet habe. 4 I n letzter Konsequenz läuft eine solche Sichtweise auf kulturgeschichtlichen Vansittartismus hinaus. Die sich v o n L o r d Vansittart herleitende Ansicht, »die« Deutschen seien v o n jeher Nazis gewesen, es führe eine geschichtliche Entwicklungslinie von Luther bis zu Hitler, fand bei einigen Exilanten (C. Brinitzer, F. W . Foerster, E. L u d w i g , E. Mann und W . Schlamm) A n klang, aber auch bei gewissen anglo-amerikanischen Autoren der Kriegszeit. 5 I n diesem Kontext hat man die Rezeption Fichtes i m deutschen bzw. österreichischen Exilschrifttum zu sehen. Die pauschale Verdächtigung deutschen Kulturerbes i m Sinne einer präfaschistischen Verderbtheit »des« deutschen Geistes sieht i n Fichte eine besonders markante Ausprägung des UngeiProlog v o n Herzog Ernst von Schwaben in: Neue Deutsche Blätter, 11. Jg., N r . 2 (1934), S. 65 oder die gegen die Reaktion gerichteten Jean Paul-Zitate (aus der »Abhandlung über die Pressfreiheit«, dem Freiheitsbüchlein und anderen Schriften) in derselben Zs. N r . 3 (1935), S. 140 ff. V g l . auch die insgesamt positive Betrachtung der deutschen Romantik bei dem Exilschriftsteller Ferdinand L i o n , Romantik als deutsches Schicksal (Stuttgart / Hamburg, 1947). 3
V g l . dazu: Joachim Radkau, »Richard Wagners Erlösung v o m Faschismus durch die Emigration«, in Exilforschung, 3, (1985), 71-105. 4 Z u r Goethe-Kritik seitens der Exilanten vgl. O t t o Zarek, German Kultur: The Proper Perspektive ( L o n d o n / N e w Y o r k / M e l b o u n e , 1942), S. 32, 38, 77. Ferner: Oskar K o koschka, »In letzter Stunde«, in: Die Wahrheit (Prag), Jg. X V I , N r . 7, (1937), S. 90 und Thomas Mann, Briefe 1937-1947, hrsg. v o n Erika M a n n (Frankfurt 1963), S. 581. Z u Schiller: Anna Siemsen (Hg.), Die Gefahr Europas (von August Siemsen) (Paris, 1937), S. 35. 5 Peter Viereck, Metapolitics: From the Romantics to Hitler (New Y o r k , 1941). Desgleichen: W i l l i a m M . M c G o v e r n , From Luther to Hitler : The History of Fascist- Ναζί Political Philosophy (Boston. 1941). Ferner: Ε . Ο . Lorimer, What the German Needs (London, 1942); Jay M . Scandrett, The Nat(i Disease (Boston, 1939); Sigrid Schultz, Germany Will Try it Again (New Y o r k , 1944); James F. Shotwell, What Germany Forgot (New Y o r k , 1942), A . J . P . Taylor, The Course of German History (London, [2. Aufl.], 1945); L o r d Vansittart, Lesson of my Life (New Y o r k , 1943).
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stes, der später zwangsläufig und folgerichtig in den Nationalsozialismus münde. Die K r i t i k der Exilanten an gewissen Gestalten und weltanschaulichen Tendenzen des deutschsprachigen Kulturraumes orientiert sich zunächst an der politischen Realität des nationalsozialistischen Regimes und verlängert von dorther vermeintliche Entwicklungslinien nach rückwärts bis zu Luther. Dabei rücken zwei Erscheinungen der politischen Geschichte des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts ins Blickfeld: der Machtstaat und der Nationalismus. Die oft oberflächliche Fichte-Rezeption mancher Exilschriftsteller hat wenig Mühe, i n einigen Werken des Philosophen Gedanken aufzufinden, die den Anschein einer totalitären und nationalistischen Gesinnung erwecken und sodann ohne weitere Prüfung der Teixte bzw. deren späterer Rezeption vorschnell i n einen kausalen Nexus mit dem Nationalsozialismus gebracht werden. Schon in der Schrift Der geschloßne Handelsstaat v o n 1800 räumt ja Fichte bekanntlich dem Staat weitreichende Vollmacht i n Bezug auf die Regulierung des gesamten Handels mit dem Ausland ein. 6 Darüber darf jedoch nicht übersehen werden, daß es sich u m einen idealen »Vernunftstaat« 7 handelt, dem es u m »gleiche Verteilung der Güter« geht, der nach Konsolidierung seiner natürlichen Grenzen keine Eroberungskriege führen w i l l 8 und der nicht beabsichtigt, den Zusammenhang v o n Literatur und Wissenschaft, welcher die Landesgrenzen ignoriert, aufzuheben. 9 Fichtes i m Winter 1806/1807 entstandener Machia velli-Aufsatz bietet dem durch das Erlebnis des Dritten Reiches sensibilierten Urteil ebenfalls Anlaß zu Skepsis und K r i t i k . Referiert doch Fichte in dieser Schrift zustimmend Machiavellis These von der Notwendigkeit des Krieges. Zudem w i r d dort i m Gefolge des Florentiners der Gedanke vertreten, zwischen Staaten gebe es kein Recht und die Außenpolitik des Fürsten müsse ausschließlich am Prinzip orientiert sein, »sich innerhalb der Grenzen seines Einflusses zu verstärken.« 10 A u c h hier geht es also u m staatliche Macht. Aber auch hier taucht bereits der Begriff der Nation auf, allerdings nicht i m Sinne modernen imperialistischen Machtstrebens. Immerhin sind Fichtes Gedanken zur Nation in dieser Schrift zweideutig genug, u m die K r i t i k der späteren Opfer des Nationalismus herauszufordern. »Jede Nation,« so heißt es dort, w i l l »das ihr eigentümliche
6 Johann Gottlieb Fichte, Der geschloßne Handelsstaat. Fichtes Werke, hrsg. v o n Fritz Medicus, Bd. 3 (Leipzig, 1922) S. 495. 7
Ebd., S. 427.
8
Ebd., S. 508.
9 Ebd., S. 512. 10 Fichte, »Über Machiavelli als Schriftsteller«. In: Johann Gottlieb Fichtes nachgelassene Werke, hrsg. v o n J . H . Fichte, 3 Bd. (Bonn, 1835) S. 424.
V o n Fichte zu Hitler?
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Gute so weit verbreiten, als sie irgend kann, und soviel an ihr liegt, das ganze Menschengeschlecht sich einzuverleiben, zufolge eines v o n G o t t den Menschen eingepflanzten Triebes, auf welchem die Gemeinschaft der Völker, ihre gegenseitige Reibung aneinander und ihre Fortbildung beruht.« 1 1 Die Schrift jedoch, die mehr als irgendeine andere Fichte i n den Augen mancher Exilanten zum Ahnherrn des Nationalsozialismus machte, sind seine berühmten Reden an die deutsche Nation von 1807. Diese wurden während der napoleonischen Fremdherrschaft konzipiert und vorgetragen und rufen bekanntlich die Deutschen wortgewaltig zur Selbstbesinnung auf, indem sie eine geistig-sittliche Wiedergeburt der Nation mittels umfassender erzieherischer Maßnahmen fordern. I m Rahmen dieser Konzeption unterlaufen Fichte freilich Aussagen, deren Fragwürdigkeit i m Lichte der nationalsozialistischen Pervertierung der Nationalidee provozieren mußten und die noch aus heutiger Sicht wenig stichhaltig erscheinen. Fichtes sprachphilosophisch untermauerte These, nur das deutsche V o l k sei schöpferisch, da seine Sprache keinen überfremdenden Einflüssen ausgesetzt gewesen sei, ist unhaltbar. Irritierend für heutige Ohren klingen auch all jene Bemerkungen des Philosophen, i n denen das Ausland als O r t der »Willkürlichkeit und Künstlerei« 1 2 , des Oberflächlichen, Flüchtigen, als unschöpferisches und i n die ewig sich wiederholende Kreisbewegung (den »Kreistanz«) gebanntes Leben hingestellt wird, wohingegen dem Deutschen Schöpferkraft, Naturgemäßheit 1 3 , Sinn für T i e f e 1 4 und Charakter 1 5 zugesprochen werden. D o c h richtet sich der Z o r n der aus Deutschland und Österreich Verbannten wirklich gegen Fichte selbst? Vermutlich war die auf die K r i t i k des Machtstaates wie des Nationalismus eingeengte Fichte-Rezeption eines Teiles der deutschen Emigration eher eine Rezeption der nationalistisch ausgerichteten Fichx.e,-Rezeption von Treitschke bis zum Nationalsozialismus als das Ergebnis eines intensiven Fichte-Studiums. Es ist hier nicht der Ort, das oft holzschnittartig auf die Gestalt des kernigen Patrioten reduzierte Fichtebild der Deutschen seit etwa der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts i m historischen wie populären Schrifttum (weitaus weniger i m fachphilosophischen) nachzuzeichnen. Einige Streiflichter mögen genügen. So schreibt etwa Heinrich v o n Treitschke, Fichte haben i n Machiavelli den »Propheten seines Vaterlandes« erkannt. I n den Reden schildere er den Deutschen »die unverwüstliche Kraft und Majestät des 11
Ebd., S. 423.
12
Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, (Hamburg, 1955), S. 84. 13
Ebd., S. 84.
"
Ebd., S. 88.
"
Ebd., S. 193.
hrsg. v o n Fritz Medicus
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deutschen Wesens so groß, so kühn, so selbstbewußt, wie i n diesen zwei Jahrhunderten des Weltbürgertums niemand mehr zu unserem Volke geredet hatte [ . . . ] « 1 6 I n seinem Aufsatz »Fichte und die nationale Idee« verkehrt er das Verhältnis v o n Nationalidee und Weltbürgertum bei Fichte, indem er behauptet, daß Fichtes Kosmopolitismus »in Wirklichkeit als Patriotismus erscheine.« 17 Die bei Treitschke bereits anklingende Fichte-Begeisterung steigert sich noch i n K a r l Bartheis Vorlesungen über die deutsche Nationalliteratur, in welchen Fichte als ein Mann vorgestellt wird, »welcher durch seine energischen Reden an die deutsche Nation [ . . . ] jenen Brand i n aller Herzen warf, der i n den Siegesfeuern von Leipzig und Waterloo zur Flamme emporschlug.« 1 8 I n Hermann Kluges Geschichte der deutschen National-Literatur: Zum Gebrauche an höheren Unterrichtsanstalten v o m Jahre 1909 lesen wir, Fichte sei »ein fester Charakter und feuriger Patriot« gewesen, »der durch seine 1808 in Berlin gehaltenen Reden an die deutsche Nation viel zur Erhebung Deutschlands gegen die Fremdherrschaft beitrug [ . . . ] . 1 9 Der Erste Weltkrieg löste neue Impulse der patriotischen Fichte-Verehrung aus. I m Jahre 1915 erschien die 16. Auflage v o n K a r l Lamprechts Deutscher Aufstieg 1750-1914, ein auch für den Schulgebrauch bestimmtes Büchlein, i n welchem der Historiker als Quintessent v o n Fichtes Reden »die engste Verbindung der nationalen Idee mit dem Staat«, also den Nationalstaat, nennt. 2 0 Oswald Spengler {Der Untergang des Abendlandes) verweist zustimmend auf den »durch und durch preußisch empfundenen, heute europäisch gewordenen Staatssozialismus Fichtes [ . . . ] . « 2 1 I n seinem bereits i m Dritten Reich veröffentlichten Geschichtswerk Der Aufstieg des Reiches (1936) paraphrasiert Erich Mareks zustimmend Fichtes »geistigen Glauben an die Unentbehrüchkeit einer deutschen Nation«, deren Wesen er »als sittliche Tiefe, als seelische Ursprünglichkeit, als einzige, alle Völker der Welt überragende und befruchtende geistige Schöpferkraft« umschreibt. 2 2 Wie Treitschke, so glaubt auch Mareks
16 Heinrich v o n Treitschke, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, (Leipzig [6. Aufl.], 1897), S. 306. 17
Heinrich v o n Treitschke, Deutsche Lebensbilder (Leipzig, o. J.), S. 47.
18
Karl Bartheis Vorlesungen über die deutsche Nationalliteratur Georg R. Röpe) (Gütersloh, [9. Aufl.] 1879), S. 126 f. 19
Erster T e i l
Hermann Kluge, Geschichte der deutschen National-Literatur: Unterrichtsanstalten (Altenburg, 1909), S. 217.
der Neuheit (fortges. v o n Zum Gebrauche an höheren
20 K a r l Lamprecht, Deutscher Aufstieg 1750-1914: Einführung in das geschichtliche Verständnis der Gegenwart zur Selbstbelehrung für jedermann zum Gebrauche bei Vorträgen Zum Schulgebrauch. (Gotha, [16. Aufl.] 1915), S. 28. 21
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (München, 1969), S. 464 f. V g l . auch das v o m Nationalgedan ken bestimmte Buch v o n Reinhold Schneider, Fichte: Der Weg zur Nation (München, 1932).
und
Von Fichte zu Hitler?
bei Fichte einen »Wandel des Weltbürgers
281
z u m Patrioten« feststellen
zu
können.23 D e m Nationalsozialismus endlich ist es ein leichtes, die auf die nationale Idee ausgerichtete Fichte-Rezeption bruchlos fortzuführen. 2 4 Sie mündet gegen Ende des Z w e i t e n Weltkrieges i n Publikationen wie: Fichte für
heute des
Oberkommandos der Wehrmacht, N S Führungsstab Inland (Soldatenbücherei 130, 1944) und: Deutschland Erwache! Aus Fichtes Reden an die deutsche Nation {Die bunten Hefte für unsere Soldaten, 105, Stuttgart 1944). Das beharrliche Vorbeisehen an den aufklärerischen u n d idealistisch-humanitären Z ü g e n Fichtes seitens mancher Exilschriften läßt vermuten, daß die K r i t i k der Exilanten i n der Tat der nationalistischen Fichte-Rezeption sozusagen auf den L e i m gegangen ist, indem sie einen z u m Propheten des deutschen Nationalismus zurechtstilisierten Fichte attackiert u n d i n weitaus geringerem Maße die originalen Texte des Philosophen. » V o n Fichte zu H i t l e r geht ein gerade Linie,« schreibt W i l h e l m Foerster, »alles ist logische Konsequenz, auch das alldeutsche Programm.
Deutschland hat das Nationalitätenprinzip
als
alleinstehenden Regulator Europas ad absurdum geführt, es hat dies Prinzip i n seinem ganzem Gehalt ausgelebt u n d zeigt es n u n der Welt: >dies ist Euer Nationalprinzip, so sieht es aus, w e n n man es ernst n i m m t u n d v o r keiner Folgerung zurückschreckte« 2 5 D i e Formel v o n der »geraden Linie« meint unmißverständlich, daß v o n Fichtes Erörterungen der Nationalidee gefährliche Impulse auf die geschichtliche E n t w i c k l u n g der Deutschen ausgegangen seien. D e r deutsche Geist, so Foerster, sei i n Fichtes Reden »in nationale Selbstverherrlichung« versunken u n d habe »die Lehre v o n der Herrenrasse« vorbereitet. »Der nationalistische deutsche Größenwahn« sei i n dieser Schrift sowie i m Fichteschen Gedanken eines deutschen >Urvolkes< bereits angekündigt. 2 6 D e r Nationalsozialismus erscheint i n solcher Sicht als der Vollender längst angebahnter Tendenzen, wie auch der emigrierte Soziologe Franz Borkenau i m H i n b l i c k auf Fichte meint: »This idea o f a Germany miraculously
rising
t h r o u g h a decree o f the divine Spirit f r o m the embers o f destruction to the glories o f w o r l d domination and w o r l d salvation has ever since dominated the
22 Erich Mareks, Der Aufstieg des Reiches: Deutsche Geschichte von 1807-1878, Bd. (Stuttgart/Berlin, 1936), S. 51.
Erster
23 Ebd., S. 52. Z u r Fichte-Rezeption in Deutschland vor 1933 vgl. auch: Ernst Weymar, Das Selbstverständnis der Deutschen: Ein Bericht über den Geist des Geschichtsunterrichts der höheren Schulen im 19. fahrhundert (Stuttgart, 1961). 24 Als Beispiel für die nationalsozialistische Fichterezeption sei genannt: Ernst Bergmann, Fichte und der Nationalsozialismus (Breslau, 1933). 25
Friedrich Wilhelm Foerster, Europa und die deutsche Frage (Luzern, 1937), S. 42.
26
Ders., Erlebte Weltgeschichte
1869-1953. Memoiren (Nürnberg, 1953), S. 340, S. 664.
282
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German mind, and to an everincreasing degree. Here the Nazis only bring to a climax developments which date back more than a century.« 2 7 I n dieser Aussage erkennt man auch die für manche Exilanten so charakteristische Variante des Vansittartismus, die den Nazismus als eine in der gesamten deutschen Kulturgeschichte latent angelegte Weltanschauung auffaßt, deren Umsetzung i n die politische Praxis sich i m Reiche Hitlers vollzogen habe. Das geistige Wirken Fichtes erscheint i n dieser Sicht i m Bilde der Brandstiftung, so etwa bei Erich Meissner: »The >consuming flames o f higher patriotism< which Fichte was trying to kindle have devoured since then the happiness o f millions and devastated the ancient commonwealth o f nations.« 2 8 Meissner verweist dabei allerdings auf eine noch weiter zurückliegende Ursache, die bereits auf Fichte eingewirkt habe: die Französische Revolution samt ihren terroristischen und totalitären Elementen. Fichte habe Napoleon mit dessen eigenen Mitteln, einem gefahrlichen, weil der moralischen Kontrolle entzogenen Dynamismus des Staates bekämpfen wollen. Unter den Schriften Fichtes eignete sich natürlich besonders sein Machiavelli-Aufsatz v o n 1807 für eine kritische Betrachtung aus der v o m Erlebnis des Nationalsozialismus bestimmten Retrospektive. A n diesem Text demonstriert der Historiker und frühere religiöse Sozialist Karl Thieme die unheilvolle Rolle Fichtes, die dieser als Erwecker nationaler Hybris gespielt habe. A n die Stelle des Bildes v o m Brand tritt hier das der Saat: »Mit dieser Schrift [ . . . ] ist zum ersten Male die giftige Saat i n die deutsche Seele gesät worden, die heute scheinbar alles überwuchert hat.« 2 9 U n d er fährt fort: »Von Fichte und Clausewitz führt ein gerader Weg über Treitschke und Bismarck zu A d o l f Hitler [ . . . ] . « 3 0 O b man Fichtes Aufsatz die W i r k u n g beimessen darf, die Thieme hier unterstellt, ist allerdings höchst fraglich. Hans K o h n , der verdienstvolle Erforscher der geschichtlichen Entstehung und Verbreitung der Nationalidee, 31 der ebenfalls zu den v o m Hitlerreich Vertriebenen zählte, veröffentlichte 1949 einen Aufsatz mit dem Titel »The Paradox o f Fichte's Nationalism,« ein spätes Zeugnis der Exilliteratur. 3 2 Zwar
27 28
Franz Borkenau, The Totalitarian
Enemy (London, 1940), S. 131 f.
Erich Meissner, Confusion of Faces. The Struggle Europe (London, o. J. [1946]), S. 72.
between Religion and Secularism
in
29 K a r l Thieme, Das Schicksal der Deutschen. Ein Versuch seiner geschichtlichen Erklärung (Basel, 1945), S. 32. 30 Ebd., S. 34. A u c h Ernst Cassirer geht in seiner i m E x i l veröffentlichten Schrift The Myth of the State (New Haven, [3. Aufl.] 1950, Erstveröffentlichung 1946) auf Fichtes Machiavelli-Aufsatz ein und vermißt in ihr den »moral rigorism« Fichtes (S. 123). 31
V g l . Hans K o h n , The Idea of Nationalism (New Y o r k , 1944).
32
In: Journal of the History of Ideas, vol. X , Nr. 3 (1949), S. 319-343.
V o n Fichte zu Hitler?
283
besticht die Arbeit durch ihre ausgewogenen und fairen Urteile über Fichte. K o h n sieht durchaus die humanitär-sittliche Zielsetzung wie auch die universalistische und kosmopolitische Dimension in Fichtes Reden, kommt aber dennoch zu negativen Aussagen, die nur aus dem impliziten Vorausbezug auf den Nationalsozialismus erklärbar sind. So argumentiert er etwa, i n Fichtes Nationalismus nach 1806 fehle jegliche auf Frieden gerichtete Bestrebung. 33 Die Reden gäben zudem den rationalen Liberalismus preis, 3 4 desgleichen die Vernunft als Fundament des Verstehens. Fichte spreche nicht als Staatsmann, Erzieher, Historiker oder politischer Philosoph, sondern als ein Realität und Ideal verwechselnder utopischer Metaphysiker. 3 5 Franz Neumann v o m Institute o f Social Research geht i n seinem berühmten Buch Behemoth noch einen Schritt weiter als K o h n und zieht wie K a r l Thieme eine direkte Linie von Fichte zum Nationalsozialismus, indem er den Philosophen aufgrund der Reden als »one of the forerunners o f racial nationalism« hinstellt. 3 6 Dieselbe Denkfigur bestimmt das Buch German versus Hm, das der Journalist Carl Brinitzer 1941 mit Berthe Grossbard herausgab, eine Zitatensammlung aus den Schriften deutscher Autoren. D o r t finden sich unter der bezeichnenden Überschrift »Hitlers before Hitler« zwei Fichte-Zitate aus den Reden, i n welchen Fichte den »Keim der menschlichen Vervollkommnung« i m deutschen Volke zu finden glaubt und behauptet, der Untergang der deutschen Nation werde das Versinken der gesamten Menschheit nach sich ziehen (beides: Ende der 14. Rede). 37 Ohne den Kontext einer sittlichen Mission, welche bei Fichte den Nationalgedanken erfüllt, wirken die Zitate natürlich weitaus provokanter als wenn sie i m Zusammenhang der i n den Reden entwickelten Gedanken gelesen werden. Als Resultat einer solchen verkürzenden Verfahrensweise findet man dann Walther v o n der Vogelweide, K l o p stock, Körner, Treitschke, Geibel, David Friedrich Strauß m i t Bismarck,
33 Ebd., S. 331. 34
Ebd., S. 333.
35 Ebd., S. 335. 36 V g l . Franz Neumann, Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism 1933 1944 (New Y o r k , 1967 [1942]), S. 102. Die Fußnote zu diesem Zitat aus Neumanns Buch verweist ausdrücklich auf die Reden. 37 Carl Brinitzer und Berthe Grossbard, German versus Hun, übers, v o n Bernard M i a l l (London, 1941), S. 246 f. Der Exilschriftsteller Paul A . Robert (Pseudonym für: Roubiczek) liest aus den Reden lediglich die »Forderung nach einer strafferen Führung der Regierung« heraus, »die der finstersten Reaktion sehr w i l l k o m m e n ist« und verweist des weiteren auf Fichtes »Schlagworte, die eine fruchtbare nationale Bewegung zum Verhängnisvollen nationalistischen Größenwahn weitertreiben.« (Paul A . Robert, Der mißbrauchte Mensch (Paris, 1934), S. 75).
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Turnvater Jahn und Kaiser Wilhelm dem Zweiten i n einer höchst seltsamen Kumpanei der »Hitlers before Hitler« vereint. So entsteht der Eindruck, als seien die Deutschen v o n jeher Nationalsozialisten gewesen, und nicht v o n ungefähr stehen denn auch bei Brinitzer / Grossbard die vansittartistischen Sätze in der Einleitung ihres Buches: »For t w o thousand years the German leopard has not changed his spots. The Nazi system o f today is only a new form of an old disease. For as long as there have been Germans there have been Nazis.« 3 8 Das vielleicht späteste Zeugnis einer kritischen Fichte-Rezeption aus der Feder eines Exilanten findet sich i n Golo Manns 1958 erschienenen Werk Deutsche Geschichte des Neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhunderts. I n einem Abschnitt über Fichte zeichnet Mann eingangs den bedenklichen Weg des Philosophen v o m Menschheitsgedanken über den Machtstaat bis hin zum Nationalstaat nach. Aber er räumt zugleich ein, Fichte sei noch immer Idealist gewesen, »noch immer sah er die Aufgabe der Nation als menschheitliche und als das letzte Ziel den Völkerbund.« D e m folgt jedoch die kritische Volte: »Aber die Medien des Weltgeistes waren i h m nun die Völker und das deutsche V o l k vor und über allen anderen, weil es in einer verdorbenen Welt das einzig noch echte, ursprüngliche V o l k sei. Das war Unsinn, das war nicht wahr, Fichte kannte die Welt nicht [ . . . ] . « Manns knappes Fichte-Portrait endet freilich mit dem Hinweis auf die Wirkungsgeschichte, welche den Intentionen Fichtes nicht entsprochen habe: »Noch die schalen, frechen Redensarten v o m deutschen Wesen, an dem die Welt genesen müsse, wie sie nach hundert Jahren i m Schwange waren, sind späte Folgen des Werkes, das Fichte und seine Gesinnungsfreunde begannen; Folgen, welche dieser unbeugsame Charakter gewiß zornig verworfen hätte.« 3 9 Die zitierten Aussagen, welche die Fichte-Rezeption auf die Ideen des Machtstaates und des Nationalismus eingrenzen und i n einigen Fällen simplifizierendes Kausalschema zwischen dem Werk des Philosophen und der politischen Realität des Nazismus annehmen, ohne die Prozesse geschichtlicher Vermittlung, der vergröbernden und oft verfälschten Aneignung wie auch der propagandistischen Verzerrung genügend i n Rechnung zu stellen, finden ihre Entsprechung in den Schriften einiger anglo-amerikanischer Historiker, die die deutsche Romantik als den Wurzelboden des Nationalsozialismus deuten und
38 Brinitzer / Grossbard, S. 11. Es ist in diesem Zusammenhang erstaunlich, daß der Vansittartist E m i l L u d w i g Fichte und seine Reden durchaus positiv beurteilt, d. h. die Unerschrockenheit und den M u t Fichtes gegenüber den geistigen und politischen Autoritäten seiner Zeit hervorhebt. ( E m i l L u d w i g , The Germans (London, 1942), S. 206). 39 G o l o Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts München, 1958), S. 88 f.
(Frankfurt/M./
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i n diesem Rahmen auch Fichte attackieren. Rohan d O Butler etwa stellt Ideen aus Fichtes Der geschloßne Handelsstaat unvermittelt neben eine Skizze des politischen und wirtschaftlichen Systems des NS-Staates, als habe sich das letztere der Fichteschen Schrift als eines Vorbildes bedient. 4 0 Ähnlich spricht William M c Govern von den Nationalsozialisten als »Fichte's spiritual descendants« 41 und behauptet, Hitler habe nicht gezögert, »to follow Fichte's advice and compel men to seek rigtheousness and freedom which he himself has laid d o w n . « 4 2 Peter Viereck schließlich nennt die Reden »the philosophic foundation of modern German Realpolitik .«43 Wo stehen jene exilierten Autoren, die Fichte zum Ahnherrn des Nationalsozialismus erklären, politisch und weltanschaulich? Foerster war Katholik, Pazifist, an ethischen Fragen interessiert, leidenschaftlicher Gegener des preußischen Militarismus und seiner metaphysisch überhöhten Staatsidee, hatte aber keine Verbindungen zur politischen Linken. Thieme, ebenfalls Katholik und Feind des preußischen Machtstaatsgedankens, gehörte der SPD an und stand linken katholischen Gruppen nahe. A u c h Neumann war Mitglied der SPD und interessierte sich für die Entwicklung des Kapitalismus und sozialistisches Arbeitsrecht. K o h n und Golo Mann sind liberale Historiker. Meissner, auch er Katholik, verachtete Preußen, pries »the noble aspirations o f 1848« 44 , sehnte sich aber zugleich nach vorpreußischen, präindustriellen Zuständen. 45 Borkenau schließlich, ein katholischer Publizist, war zeitweilig K P D - M i t g l i e d , trat für christlich-humanitäre und liberale Werte ein und sagte sich später v o m Sowjetkommunismus los. Die meisten der K r i t i k e r Fichtes i m E x i l kommen also aus dem liberalen oder sozialdemokratischen Spektrum der Weimarer Republik, einige von ihnen auch mit christlichen Querverbindungen. I h r humanitärer Liberalismus — sei er christlich geprägt oder nicht — richtet sich gegen den preußischen Geist, als dessen Repräsentant Fichte gewertet w i r d sowie gegen Staatsvergottung und nationalistische Exzesse, als deren Mit-Stifter der Verfasser der Reden in solcher Sicht erscheint. Die Fichtegegner unter den Exilanten beklagen zudem den Verlust einer positiv aufgefaßten Tradition in Deutschland, nämlich entweder derjenigen der christlich-antiken Wertordnung oder aber derjenigen des westlich-liberalen, aufklärerischen Demokratieverständnisses. 46 O b sie nicht gerade diese Traditionen bei Fichte auch hätten finden können, sei weiter unten kurz erörtert. 40
Rohan d O Butler, The Roots of National Socialism 1783-1933 (London, 1941), S. 44.
41
W i l l i a m M . McGovern, From Luther to Hitler . The History of Fascist-Na^i Philosophy (Boston, 1941), S. 239.
Political
42
Ebd., S. 256.
43
V g l . dazu Fußnote 5.
44
Erich Meissner, Germany in Peril ( L o n d o n / N e w Y o r k / T o r o n t o , 1942), S. 82.
4
* Ebd., S. 87.
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Fichtes v o n einigen Exilautoren so heftig befehdete Reden erstellen in äußerst schematischer und apodiktischer Weise ein positives Charakterbild der Deutschen als des »Urvolkes«, i n dem der Fluß ursprünglichen Lebens allein noch lebendig sei (7. Rede) und welchem die Mission aufgetragen sei, unter den anderen Völkern das neue Reich einer vernünftigen Sittlichkeit aufzurichten. Dieses v o n einer — wenn auch idealistisch überhöhten — gewissen Hybris nicht freie Bild hat seine W i r k u n g auf die sich entfaltende Selbstauffassung der Deutschen getan. Wie immer man auch zur Frage der geistigen Verantwortlichekeit Fichtes stehen mag und wie man auch seinen Anteil an der Entstehung des deutschen Nationalismus einschätzt, es läßt sich nicht bestreiten, daß das Ringen um eine deutsche Nation v o n den Befreiungskriegen bis hin zum Dritten Reich nationale Identifikationsmuster hervorbrachte, die nicht selten ins Überhebliche tendiert. Auch sie aber gehören zum kulturellen Erbe, und es überrascht nicht, daß gerade sie nach 1933 v o n der Emigration i n Frage gestellt oder radikal umgewertet wurden. Trotz aller Hinweise auf das »andere«, d. h. bessere, nicht-nazistische Deutschland fällt die Bestimmung des deutschen Nationalcharakters aus der Feder mancher Exilanten häufig höchst unvorteilhaft aus. Es wiederholt sich hier auf breiterer Ebene, was i m Falle eines Segmentes der Fichte-Rezeption schon sichtbar wurde: Hitler erscheint i n vansittartistischer Sicht als Ausdruck und Resultat nicht einer Entwicklung, wohl, aber einer schon von jeher existenten Charakterkonstellation. W i r zeichnen diese i n aller Kürze nach. D e m deutschen Sinn für die Pflicht eigne — so argumentiert man oft aus der Sicht des Exils — eine gewisse antihumane Tendenz. 4 7 Autoritätsgläubigkeit, Kadavergehorsam und Knechtseligkeit gehörten zum ererbten deutschen Charaktergut. 48 Pathologische Unrast 4 9 stehen einem übertriebenen Ordnungssinn gegenüber, der den natürlichen Freiheitssinn unterdrücke. 5 0 Widersprüchliche Strebungen fanden sich i m Charakter des Deutschen: Stumpfheit mit G e m ü t 5 1 , goldenes Herz mit Wolfsrachen. 52 Einerseits spiele der Deutsche 46
V g l . Foerster, Erlebte Weltgeschichte, S. 535; Meissner, S. 87; Borkenau, S. 129; Hans K o h n , The Mind of Germany: The Education of a Nation (New Y o r k , 1960), S. 9. 47 Veit Valentin, The German People: Their History and Civilisation from the Holy Roman Empire to the Third Reich (New Y o r k , 1946), S. 679. 48 Ebd., S. 678. V g l . auch: Walter Mehring, Müller: Chronik einer deutschen Sippe ( F r a n k f u r t / M . / B e r l i n / W i e n , 1980 [1934]), S. 125, 140. Ferner: E m i l L u d w i g , How to Treat the Germans , übers, v o n Eric Mann (New Y o r k , 1943), S. 12, 14; ders. The Germans (London, 1942), S. 142f., 253, 304, 324, 328. 49
K a r l Otten, Torquemadas Schatten (Stockholm, 1938), S. 58.
50
E m i l L u d w i g , The Germans, S. 42, 304.
51
F. C. Weiskopf, Himmelfahrtskommando
52 Ebd.
(Stockholm, 1945), S. 92.
287
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gegenüber anderen Völkern seinen schöpferischen Überlegenheitsanspruch aus, andererseits bettele er bei anderen u m Gleichberechtigung und Ehre. 5 3 Überhaupt mangele den Deutschen eine höhere M o r a l , 5 4 jegliche metaphysische oder geschichtliche Autorität sei bei ihnen nihilistisch untergraben. Daher gelte ihnen nur noch die nackte äußere Macht, 5 5 sie suchten nach einer künstlichen Ersatzautorität, 5 6 ersetzten moralische durch technische Werte. 5 7 Der unpolitische Deutsche flüchte vor den Widrigkeiten des politischen und sozialen Lebens ins Irrationale, i n die berühmt-berüchtigte Innerlichkeit. Hierher gehöre das Erbe der Romantik, die Neigung zu Musik und Mystik, die Vernebelung oder gänzliche Abdankung der kritischen Vernunft zugunsten übergeordneter irrationaler Mächte wie das Leben oder das Unbewußte und schließlich das mangelnde Verhältnis zum politischen Humanismus wie zur Französischen Aufklärung, kurz: der antiwestliche Affekt. 5 8 Der deutsche Bürger gilt als ungebildet bzw. als Bildungsphilister. 5 9 Er bewundere Militär und Feudalität, 6 0 kooperiere mit den oberen, nicht den unteren Gesellschaftsklassen. 61 Aus dem unverhofften Zustand der Freiheit fliehe er i n neue Bindung an Autorität. 6 2 Das Bild des »häßlichen Deutschen«, wie es i m Exilschrifttum gezeichnet wird, wäre nicht vollständig ohne die K r i t i k des Preußentums. M a n geißelt den preußischen Militärgeist 6 3 und charakterisiert den Preußen als heidnisch,
53 Otten, S. 58. 54
Eugen Gürster, Volk im Dunkel: Die geistige Tragödie 1946), S. 53. 55
Heinrich Mann, Ein Zeitalter wird besichtigt (Düssendorf, 1974), S. 233.
56
Erich Fromm, Escape from [1941]). 57
des deutschen Volkes (Luzern,
Freedom (New Y o r k / Chicago, San Francisco, 1969
Heinrich Mann, Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 16.
58
Valentin, S. 680f.; Thomas Mann, »Deutschland und die Deutschen« [1945], in: Mann, Gesammelte Werke XI, Reden und Aufsätze 3 (Oldenburg, 1960) S. 1143; Weiskopf, S. 67; H e l m u t h Plessner, Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche ( Z ü r i c h / Leipzig, 1935), S. 67; Heinrich Mann, »Was uns bleibt«, in: Die Neue Weltbühne I I , N r . 42 (1933), 1306f.; Alfred Kerr, Die Diktatur des Hausknechts und Melodien ( F r a n k f u r t / M . 1983 [1934/38]), S. 43. 59
Heinrich Mann, »Triumph der Spießer«, in: Europäische Hefte I, N r . 1 (1934), S. 13.
60 Alfred D ö b l i n , Briefe (Ölten/Freiburg i.Br., 1970), S. 206. Valentin, S. 678. 62 63
V g l . F r o m m passim.
E m i l L u d w i g , »Krieg gegen Preußen«, in: Das Neue Tagebuch V I I I , H . 7 (1940), S. 166.
288
Christoph Eykman
amusisch, tüchtig und humorlos. 6 4 Hitler, den Nichtpreußen, sieht man i m Kontext der Prussophobie als einen »Überläufer zum Preußentum.« 6 5 So abschreckend und unvorteilhaft das Portrait der Deutschen aus der Feder der Exilanten auch ausfallen mag, 6 6 es fehlt doch nicht gänzlich an positiven Zügen. Man ist beinahe versucht, eine Wiedergeburt Fichteschen Geistes zu verspüren, wenn man liest, die künftige Mission Deutschlands werde darin bestehen, Wegbereiter von Geist, Gerechtigkeit und Freiheit in Europa zu sein. 67 Da ist auch die Rede v o m Weltbürgertum, 6 8 und die Deutschen werden gelegentlich sogar als »the most spiritual people of the w o r l d « 6 9 apostrophiert. Neue Rede an die deutsche Nation aus dem Exil? I n einem Punkte der positiven Bestimmung geht man allerdings über Fichte hinaus, indem als Ziel der Deutschen gerade die Überwindung der Nation »in sich selbst« gefordert w i r d , 7 0 die utopische Vernichtung des Nationalgeistes aus Schuldbewußtsein. 71 Wie das Deutschlandbild der Exilautoren, so zeigt auch ihre Fichte-Rezeption neben den negativen auch durchaus positive Züge. Manche unter ihnen verteidigen Fichte gegen den V o r w u r f ihrer Mit-Emigranten, er sei ein Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen und kehren stattdessen die humanitäre und weltbürgerliche Seite des Philosophen hervor. Das gilt etwa für Heinrich Manns anti-vansittartistisches W o r t über Fichte, A r n d t und Jahn, »deren ausgelassenes Deutschtum heute überall beweisen muß, daß die Deutschen von jeher wie Hitler waren.« 7 2 »In Fichte's outlook,« schreibt Julius Braunthal, »love for humanity leads necessarily to love for one's o w n people. Cosmopolitanism and patriotism are, i n this context not contradictions.« 7 3 64
Fritz Jellinek, Die Krise des Bürgers (Zürich, 1936), S. 52, 107.
65
L u d w i g , »Krieg der Preußen«, S. 167.
66
Viele dieser Charakterbilder des Deutschen sind nicht neu. V g l . dazu: Heinz A r n o l d , Deutsche über die Deutschen: Auch ein deutsches Lesebuch (München, 1972). Wenn die Exilanten Brinitzer / Grossbard negative Urteile Deutscher über sich selbst aus verschiedenen Jahrhunderten zusammentragen (German versus Hun), so w i r d damit ja auch gerade die positive Seite, also nicht der »Hun«, am geistigen Deutschtum hervorgehoben. 67 Jellinek, S. 105. 68
im Exil
Carl Zuckmayer, »Weltbürgertum«, in: Michael Winkler (Hg.), Deutsche Literatur 1933-1945: Texte und Dokumente (Stuttgart, 1977), S. 47.
69 Prinz Hubertus zu Loewenstein, The Tragedy (London, 1934), S. 37. 70
Ernst Glaeser, Der letzte Zivilist
of a Nation.
Germany
1918-1934
(Paris, 1935), S. 214.
71
Franz Werfel, Stern der Ungeborenen: Ein Reiseroman ( F r a n k f u r t / M . , 1967 [1946]), S. 203-206. 72
Heinrich Mann, Ein Zeiltalter wird besichtigt, S. 25.
V o n Fichte zu Hitler?
289
Fichtes nationales Pathos der Reden erscheint hier also eingebettet in seinen Humanismus. Ähnlich argumentiert der Jurist Friedrich Darmstaedter: »Fichte, i n his Adresses to the German Nation, very poignantly, even exaggeratedly emphasizes the existing connexion between the new nationalism and the idea o f humanity that had prevailed thus far.« 7 4 Sehr entschieden wendet sich auch der exilierte Philosoph Arthur Liebert sowohl gegen die Deutung Fichtes als eines Proto-Faschisten als auch gegen die ältere nationalistische Fichte-Rezeption: »Gleich seinem Zeit-, Geistes- und Gesinnungsgenossen Friedrich Schiller ist dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte das Schicksal nicht erspart geblieben, für die jeweiligen Absichten und Zwecke einer besonderen politischen Machtgruppe und Zeitströmung gebraucht, d. h. mißbraucht zu werden. [ . . .] Er [Fichte] erkennt als einen politischen Charakterzug seines Zeitalters die innige Durchdringung des Bürgers v o m Staate. Aber er ist unendlich weit entfernt von jeder totalitären Staatsvergötzung. Denn er kennt Mächte, welche über den Staat hinausliegen. Das sind die Religion, die Wissenschaft und nicht zuletzt die Philosophie.« N u r Unverstand oder Gehässigkeit oder unkritische Sucht nach einem philosophischen Helfershelfer, so fahrt Liebert fort, »kann aus Fichte einen Nationalisten i m Sinne des Chauvinismus machen. [ . . . ] M i t keinem Hauch w i l l Fichte durch den Gedanken, daß die Deutschen ein U r v o l k seien und ihre Sprache eine Ursprache, andere Völker oder Sprachen herabwürdigen. Er ist ein Bürger der Zeiten, die da kommen werden, der Zeiten der Vernunft, der sittlichen Gerechtigkeit und der Liebe, wenn sich erfüllen wird, was er in der ersten Vorlesung seiner Grundlage formuliert: Der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, daß sie i n demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte. Das ist Fichtes ethischer Idealismus, der sich nicht für eine übernationalistische Vergottung des eigenen Volkes oder für die Rechtfertigung der Macht und des Erfolges und für keinen Machiavellismus gebrauchen läßt.« 7 5 Prinz Hubertus zu Loewenstein deutet Fichtes Nationalidee ebenfalls als integrales Moment eines für die gesamte Menschheit geltenden, d. h. universalen sittlichen Prinzips: »The duty of the awakening nation is one not toward Germany alone, but toward mankind. Fichte saw clearly that an enslaved, dishonored, and divided Germany would inevitably lead to a Europe i n the same predicament. A free, righteous, and self-conscious Germany on the other hand, w o u l d constitute a guaranty o f peace and freedom for all occidental nations.« 7 6 73
Julius Braunthal, Need Germany Survive ? (London, 1943), S. 38.
74
Friedrich Darmstaedter, Germany and Europe: Political Tendencies from Frederick Great to Hitler (London, 1945), S. 39. 75 In: Heinrich Fraenkel (Hrsg.), Der Weg S. 55, Fußnote. 76
einem neuen Deutschland (London, 1943),
Prince Hubertus zu Loewenstein, The Germans in History (New Y o r k , 1945), S. 226.
19 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
the
290
Christoph Eykman
Eine weitere Variante dieser Deutung findet sich bei dem Religionssoziologen Carl Mayer: »The nation, whether defined by Herder or Ranke or even Fichte, is always defined as part of, and therefore charged w i t h a definite duty toward, humanity entire. The idea of humanity is an integral part o f Romantic nationalism . . . « 7 7 Humanistische Aspekte i m Denken Fichtes betont ebenfalls der Theologie Friedrich Siegmund-Schulze i n seiner Schrift Die Überwindung des Hasses, die i n Bezug auf Fichte den Gedanken der aus der Vernunft geborenen Liebe, insbesondere der Gottesliebe, akzentuiert, welche aus der Vernichtung der Selbstliebe hervorgehe. 78 I n Bezug auf den vielbeschworenen Humanismus Fichtes stellt man dem Gedanken der Liebe auch denjenigen der Verteidigung bürgerlicher Freiheit zur Seite — so etwa i n einer Schrift des emigrierten Publizisten W o l f Franck. 7 9 Dabei hebt dieser A u t o r Fichtes Idee eines Vernunftreiches für alle Menschen und seinen Kosmopolitismus hervor, nimmt also insgesamt die genaue Gegenposition zur kritischen Fichte-Rezeption von Foerster, Thieme, Meissner, Borkenau, K o h n , Neumann und Brinitzer / Grossbard ein. Vernunft, Freiheit und Weltbürgertum figurieren auch in einem unsignierten Text der Exilzeitschrift Die Neue Weltbühne als fichtesche Leitbegriffe der gesamten Menschheit, denen die Nationalidee lediglich als Instrument dient. Fichte habe i n seinen Reden zum Ausdruck gebracht, »daß es i h m darauf ankam, das Reich der Freiheit und Vernunft, das i h m in Frankreich verlorengegangen war, jetzt durch die Deutschen, die i h m dazu allein noch fähig schienen, verwirklicht zu sehen. D u r c h die nationale Befreiung hoffte er die bürgerliche Freiheit, die demokratische Revolution verwirklicht zu sehen — für das deutsche V o l k und damit zugleich für alle anderen V ö l k e r . « 8 0 Der Historiker Friedrich C. Seil schließlich betont ebenfalls die Verankerung v o n Fichtes Denken i m Vernunftbegriff und in der Freiheitsidee. Zwar wirft er Fichte Überheblichkeit vor, grenzt die Intentionen des Philosophen aber auf das »rein Geistige« ein und bescheinigt i h m gleichzeitig eine liberale Haltung: »Jeder Nationalismus schließt das Moment der Überheblichkeit in sich. Bei Fichte grenzt sie jedoch fast ans Pathologische.
77 Carl Mayer, »On the Intellectual O r i g i n o f National Socialism«, in Social Research 9 (1942), S. 240. V g l . hierzu auch die Aussage v o n Alexander Abusch: »Fichtes Utopie eines geschlossenen Handelsstaates, die in unseren Tagen oft als eine geistige Vorbereitung der nazistischen Autarkie bezeichnet wurde, konnte es schon deshalb nicht sein, weil Fichte den freien Austausch des Geistes und der Künste in dieser Utopie wünschte.« (Alexander Abusch, Der Irrweg einer Nation: Ein Beitrag %um Verständnis deutscher Geschichte, E l L i b r o Libre (Mexico, 1945), S. 139). 78 Friedrich Siegmund-Schultze, Die 1946), S. 84, 86. 79
Überwindung
des Hasses ( Z ü r i c h / N e w
York,
W o l f Franck, »Fichte als Schriftsteller«, in Das Wort (Moskau), H . 2 (Feb. 1939),
S. 67. so Die Neue Weltbühne, Nr. 11 (1939), S. 334.
V o n Fichte zu Hitler?
291
N o c h ist sie auf das rein Geistige bezogen; es bedurfte nur der Wendung ins Materielle, um zu dem Traum des Herrenvolkes und der Weltherrschaft zu kommen. Sie ist historisch aber auch bedeutsam als die Stelle, an der Liberalismus und Nationalismus zusammenfließen.« 81 Die »Wendung ins Materielle«, d.h. die weitere Entwicklung des deutschen Nationalismus und seine politischen Konsequenzen werden Fichte hier offensichtlich nicht angelastet. Die Fichte-Rezeption des Exils spiegelt also insgesamt die zwiespältige Haltung der Exilierten gegenüber dem deutschen kulturellen Erbe, i n welchem man einerseits den Wurzelboden des nazistischen Übels sieht, das aber andererseits ein Stück geistesgeschichtlicher Tradition bejahend aufnimmt, zur Legitimierung des »anderen Deutschland« dient, Rüstzeug für den ideellen K a m p f gegen Hitler liefert und Leitbilder für ein künftiges freies und menschliches Deutschland bereitstellt. Die Apologeten Fichtes unter den Exilanten sehen dabei v o n einer Diskussion des Machtstaates weitgehend ab und ordnen die Idee der Nation den universalen Begriffen der Menschheit, des Kosmopolitismus, der Vernunft und der Freiheit unter, die Fichte v o n der Aufklärung übernimmt. Sieht man sich die Gruppe der Fichte-Apologeten auf ihren weltanschaulich-politischen Standort an, so unterscheidet sie sich grundsätzlich nicht v o n der der Kritiker. Franck trat für die deutsche Volksfront ein, Seil war Liberaler, desgleichen der Neokantianer Liebert, der Jurist Darmstaedter (der schon 1932 ein Buch über Rechtsstaat oder Machtstaat veröffentlicht hatte und einen antiautoritären Staat befürwortete), und Siegmund-Schultze, der Theologe und Sozialpädagoge, warb für die Zusammenarbeit des Bürgertums mit dem Proletariat und stand einem Kreis religiöser Sozialisten nahe. Die Verteidiger Fichtes unter den exilierten Autoren vertraten also die gleiche sozialliberale Position mit christlichem Einschlag wie die Fichte-Kritiker. Diese Position erklärt zwar zur Genüge die Wendung gegen eine übersteigerte Auffassung von der Nation wie gegen den totalen Staat. Aus ihr läßt sich jedoch nicht zwingend der vansittartistische Z u g ableiten, insbesondere die Tendenz, i m deutschen Kulturerbe nach der geistigen Mitschuld an der nazistischen Barbarei zu fahnden. Denn wie wäre es sonst zu verstehen, daß die einen den vermeintlichen Nationalisten Fichte, den Propheten des Machtstaates, die anderen aber den Freiheitsapostel, den Weltbürger und Anhänger der Französischen Revolution hervorkehren? Man w i r d hier den Bereich des Dokumentierbaren verlassen und der bloßen Vermutung Raum gewähren müssen. Das Ausmaß der leidvollen Exilerfahrung mag in manchen Fällen eine
81 Friedrich C. Seil, Die Tragödie des deutseben Liberalismus (Stuttgart, 1953), S. 61. Seil steht also hier i m Widerspruch zu seinem Mit-Exilanten und Historiker-Kollegen Hans K o h n . V g l . Fußnote 33.
19
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Christoph Eykman
Mentalität geformt haben, i n welcher der Haß auf Nationalismus, Totalitarismus, auf das Verbrecherische i m Nationalsozialismus übergreift auf alles Deutsche überhaupt oder zumindest doch auf gewisse Segmente seiner kulturellen Substanz bzw. Überlieferung. Was beim heutigen Betrachter angesichts der kulturgeschichtlichen Variante des Vansittartismus i n der Exilliteratur Betroffenheit auslöst, ist nicht das verzerrte Fichtebild einiger Exilautoren. Deren Fehlurteile als solche sind von geringem Interesse, wären sie nicht Symptom einer Geistesverfassung, welche Totalitarismus und Exilerfahrung hervorzubringen vermögen. Daß geistige Desorientierungserscheinungen und polemische Einseitigkeit, daß also Fehlrezeption des kulturgeschichtlichen Überlieferten als Folge von Terror und Vertreibung den Blick auf die Werke der Vergangenheit trüben können, verdient jedoch dokumentiert und bedacht zu werden. Der heutige unvoreingenommene Leser Fichtes w i r d trotz mancher überheblicher Töne i n den Reden den Apologeten Fichtes unter den Exilschriftstellern eher zustimmen als seinen Verächtern. Durchdringt doch der Gedanke einer universalen, vernünftig-sittlichen Humanität Fichtes Begriff der Nation, welcher, wie die sittliche Weltordnung als Ganzes, i m Göttlichen gründet. 8 2 Er trägt, wie schon Friedrich Meinecke aufgewiesen hat, 8 3 kosmopolitische Züge. Fichte ruft nicht auf zur Schaffung einer deutschen Nation i n der Form des Machtstaates. Selbst w o er dem Staat weitgehende Vollmachten zuspricht, postuliert er gleichwohl als seinen Endzweck das W o h l der Menschheit. 8 4 Die durch Erziehung erst noch zu schaffende Nation soll zum Träger einer Mission werden, deren Ziel i n der Verbreitung einer neuen Sittlichkeit besteht. Der den Deutschen von Fichte zugedachte sittliche Führungsanspruch — mag er auch noch so provokant wirken — gründet auf »Vernunftgesetzen«. 85 Diese aber sind universal, d.h. übernational. Der Deutsche soll lediglich den Anspruch erheben, sie zuerst wahrhaft entdeckt und vorbildhaft in die Lebenspraxis eingeführt zu haben. Fichtes Vaterlandsliebe ist nicht die eines agressiven Imperialismus, sondern vielmehr der Inbegriff der »vernunftgemäßen Liebe zu seiner Nation.« 8 6 Wenn er die deutsche Nation zur geistigen Führerin i n der »Erziehung des Menschengeschlechtes« erhebt, so ist damit eine Rolle gemeint, welche Deutschland »mit weltbürgerlichem Geiste« 8 7 zu spielen habe. 82
Fichte, Reden an die deutsche Nation, S. 128 f.
83
Friedrich Meinecke, Weltbürgertum (München, 1962), S. 107.
und Nationalstaat,
hrsg. v o n Hans Herzfeld
84 Johann Gottlieb Fichte, Die Grund^üge des gegenwärtigen Zeitalters (Hamburg, 1956), S. 151. 85
Fichte, Reden an die deutsche Nation, S. 39.
36 Ebd., S. 125. 87
Ebd., S. 113.
V o n Fichte zu Hitler?
293
Fichtes Reden an die deutsche Nation dürfen zwar als auslösendes Moment, keinesfalls aber als Wegbereiter eines militanten Nationalismus angesehen werden. Die seitens der Exilanten zuweilen behauptete »gerade Linie« v o n Fichte zu Hitler ist zwar aufweisbar i m Sinne einer Entwicklung des deutschen Nationalgedankens zu einem immer mehr auf imperialistische Ziele hin verengten Nationalismus. Wenn sich aber die Exponenten dieser Entwicklung auf Fichte berufen, so tun sie das i m Kontext einer entstellenden und verfälschten Fichte-Rezeption eben dieses Nationalismus. Die — oft ebenso verzerrende — Gegenrezeption der Fichte-Kritiker unter den Exilanten schließlich erweist sich letztlich als eine Rückprojektion der verhaßten nationalsozialistischen Ideologie auf das kulturelle Erbe, d.h. sie macht Fichte zur Symbolfigur des deutschen Nationalismus und liest häufig präfaschistische Inhalte in seine Schriften hinein. Die Apologeten Fichtes unter den Exilschriftstellern dagegen bringen ihrerseits eine Gegenrezeption zum Ausdruck, die das verengte Fichtebild wieder ins Vernunftgemäße und Kosmopolitische weitet und zugleich die ältere nationalistische Fichte-Rezeption wie auch die darauf antwortende antinationalistische kritische Fichtedeutung ihrer Mit-Exilanten verurteilt. Wer eine in Hitler gipfelnde deutsche Kulturgeschichte von Fichte ableitet, übersieht zunächst einmal, daß ein so komplexes historisches Phänomen wie der Nationalsozialismus nicht mono kausal v o n geis tes geschichtlichen Prämissen determiniert ist. Die kulturgeschichtliche Spielart des Vansittartismus überschätzt in dem Bestreben, das Hitlerreich zu verstehen, die geistigen Wirkfaktoren der Geschichte und spiegelt zudem einen oft uneingestandenen Schuldkomplex seitens der Intellektuellen, die i m E x i l schrieben und glaubten, die Vertreter »des« Geistes hätten mehr als andere die Heraufkunft des Bösen verhindern können und müssen. Wer so denkt, w i r d indessen auch der langen, wenn auch tragischen, Geschichte des Liberalismus in Deutschland nicht gerecht. Es darf überdies nicht übersehen werden, daß es nicht eine geistige Tradition war, die den Nationalsozialismus erzeugte, sondern daß Hitlers Gefolgsleute dem kulturellen Erbe entnahmen, was nur immer zu Propagandazwecken verwertbar war. Die propagandistische Anverwandlung und verfälschte Einverleibung geistigen Gutes durch das Dritte Reich berechtigt daher nicht zu dem Urteil: post hoc ergo propter hoc.
L i t e r a t u r als Subversion Religiöse T h e m e n und Motive i n der Sowjetliteratur V o n Norbert Fran %
Vorbemerkung Die Sowjetunion ist der erste Staat, dessen politische Führungsschicht behauptete, er sei nach den Prinzipien des Marxismus / Leninismus organisiert. Der Marxismus ist ein K i n d des 19. Jahrhunderts, was sich auch i n der Einschätzung der Religion zeigt. A u f dem Hintergrund der damals modischen materialistischen Religionskritik, wie sie etwa Feuerbach vertrat, definiert Marx 1843 in seiner K r i t i k der Hegeischen Rechtsphilosophie (pikanterweise mit einer Anspielung auf das achte Kapitel des Römer briefs 1 ): Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das O p i u m des Volkes. 2
Marx verstand die Religion also durchaus als Signal für eine defizitäre Erfahrung irdischer Zufriedenheit. Er mißt dieser Erfahrung jedoch keinen zentralen Wert i n der Anthropologie bei, sie ist i h m vielmehr Anlaß, dazu aufzurufen, die Gesellschaft so einzurichten, daß solche Defiziterfahrungen überflüssig werden. I n dieser neuen Gesellschaft, die es zu schaffen gilt, wären religiöse Vorstellungen eigentlich überholte Denkinhalte, Kennzeichen für ein zurückgebliebenes Bewußtsein. 3 Für die Theoretiker und Praktiker des Kommunismus i n Rußland war der Marxismus aber nur eine Traditionslinie. V o r der Oktoberrevolution hatten die 1
D o r t heißt es bekanntlich in Vers 22: »Denn w i r wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt«. (Einheitsübersetzung). 2 K a r l Marx, »Zur K r i t i k der Hegeischen Rechtsphilosophie«. (1843). I n K a r l Marx / Friedrich Engels, Gesamtausgabe [MEGAJ. Erste Abteilung, Band 2 (Berlin, 1982), S. 171. 3 V g l . die Definition des Terminus »Religija« (Religion) in der Großen Sowjetenzyklopädie: D i e Religion w i r d dort als typische Erscheinungsform überlebter historischer Formationen gedeutet, für die es i m Sozialismus keine Daseinsberechtigung gäbe. Deshalb stelle es sich der Kommunistischen Partei als eine wichtige Aufgabe, »die Massen über die Schädlichkeit der religiösen Vorurteile aufzuklären«. [Boffa/a Sovetskaja Ènciklopedija, Sub voce: >religijaChristus erscheint dem Volke< gewidmet. Nachhilfeunterricht in biblischer Geschichte wechselt sich ab mit ästhetischen Betrachtungen und Ausdeutungen des religiösen Inhaltes. Bezeichnenderweise bleiben die Bilder der russischen Moderne, etwa Kandinskij und Male vie, aus der Betrachtung ausgeschlossen. Den Zensoren war nach dem Vorabdruck i n der Zeitschrift Molodaja gvardija w o h l einiges nicht mehr ganz geheuer, für eine Buchausgabe mußte Solouchin einige Kürzungen vornehmen. 1 9 Er bleibt dem Thema aber treu, drei Jahre später erschien Cernye doski 20 (wörtlich: »Schwarze Tafeln«), ein Werk, das sich mit der Ikonenkunst beschäftigt. Solouchin beschreibt in Ich-Form, wie er die Schönheit von Ikonen kennengelernt hat und durch die Heimatregion streift, u m Ikonen für seine private Sammlung aufzukaufen. Kulturhistorische Erläuterungen sind i n diesen Bericht ebenso eingeflochten wie ein Exkurs zur Ikonographie der Ikonen, man erfährt Wissenswertes über Malweisen und
17 Eine sehr knappe Übersicht zu Leben und Werk bei Kasack, Lexikon der russischen Literatur ab 1917 (Stuttgart, 1976). Ausführlicher: Norbert Franz, »Vladimir A . Solouchin,« Kritisches Lexikon der fremdsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. H . L . A r n o l d (München, 1983 ff.). 18
Die v o n I. Jablonowski angefertigte Übersetzung Museum: nachdenkliche Betrachtungen eines sowjetischen kennzeichnet die Stellen, die später gestrichen werden russische Fassung w i r d in Deutschland noch einmal gedruckt. 19 20
u. d. T.: Briefe aus dem Russischen Dichters (München u. Salzburg, 1972) mußten. A u c h die vollständige ohne Nennung eines Verlags
Siehe A n m . 18.
Deutsche Fassung: Schwarbe Ikonen: Ich entdeckte G. Berkenkopf (München-Salzburg, 1978).
das verborgene
Ruß land, Übs.
Literatur als Subversion
301
Restaurierungstechniken. Der Titel spielt an auf den immer wieder nachgedunkelten Firnis, der in früheren Jahren Ikonenmaler veranlaßte, die Tafeln noch einmal zu übermalen, so daß die Restauratoren immer wieder Überraschungen erleben. Der Leser w i r d mit unbekümmerten Dörflern bekannt, die die Ikonen ihrer Kirche zu Futtertrögen verarbeitet haben, aber ebenso z.B. auch mit einer Nonne, die bei der Zerstörung des Klosters Ikonen i n einen Kellerraum gerettet hat und dort als einzige noch lebende Klosterinsassin die Bilder hütet und ehrt und für bessere Zeiten aufhebt. Solouchin versteckt sich zunächst hinter der Ästhetik, die es i h m ermöglicht, die andächtige Haltung der Nonne als positiv und den Ikonoklasmus der Kommunisten als verwerfliche Handlung zu werten. E r befreit die Religion aus dem semantischen Feld v o n »Obskurantismus« und »Unwissenheit«, indem er deutlich macht, daß die Religion die Ikonenmaler zu solch herrlichen Bildern inspiriert hat. Ironisch formuliert er: Daß die Religion Unwissenheit und Finsternis sei, das hätte man den Künstlern zu der Zeit, als sie malten, beibringen sollen! 2 1
Die Beispiele ließen sich fast beliebig mehren, an denen auch andere Autoren Erscheinungen des religiösen Lebens, der Volksfrömmigkeit oder des offiziellen kirchlichen Kultes mit dem Hinweis auf die Ästhetik oder die Bedeutung für die nationale K u l t u r rehabilitieren. Seit dem Ende der sechziger Jahre ist es ζ. B. wieder üblich, i n Kommentaren zu Klassikern auf Bibelzitate aufmerksam zu machen und die Stellenangabe hinzuzufügen. Da Bibeln bis vor kurzem nicht eingeführt oder gar gedruckt werden durften, war es von dem Hinweis auf Bibelzitate nur noch ein Schritt zur Forderung nach einer Neuauflage der Bibel unter den Auspizien der Bewahrung der russischnationalen Tradition. A u c h der oben zitierte Evtusenko erhob diese Forderung i n einem Leserbrief an die Zeitung des Kommunistischen Jugend ver bandes, in der gerade eine Debatte über das religiöse Erwachen geführt wurde: Die Bibel ist ein großes Kulturdenkmal. Bis heute verstehe ich nicht, warum der Staatsverlag den K o r a n herausgebracht hat, aber nicht die Bibel. Ohne Kenntnis der Bibel kann unsere Jugend vieles bei Puskin, G o g o l ' und Tolstoj nicht verstehen. 22
Daß es sich bei dem Religiösen i n der Funktion für die Nationalkultur nicht u m eine ausschließlich russische Angelegenheit innerhalb der Sowjetunion handelt, sei hier nur mit dem Verweis auf den moldauischen A u t o r D r u c e 2 3
21 Vladimir Solouchin, Pis* ma A n m . 18). 22 23
Russkogo Mu^eja (Germany [sic], 1968), S. 50 (vgl.
»[Leserbrief. Ohne Titel]«. I n Komsomolskaja pravda, 10. 12. 1986.
I o n Druce veröffentlicht meist auf Russisch. Das Thema des Religiösen ist sehr offensichtlich in seiner Erzählung Belaja cerkov' [»Die weiße Kirche«] (Moskva, 1983).
302
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und den F i l m Pokajanie (»Die Reue«), ein Werk des georgischen Regisseurs Abuladze, angedeutet. Es ist allerdings die Gefahr nicht zu übersehen, daß die Religion, gerade wenn es u m Frömmigkeitsformen geht, als eine A r t folkloristisches Element i n dem etatistischen Gesamtkonzept vereinnahmt wird. Groß ist auch die Gefahr, religiösen Minoritäten weiterhin mit der tradierten Abneigung zu begegnen. Pfingstler und Baptisten kommen immer noch relativ schlecht weg, wenn Religiosität mit Nationalem gepaart ist, und die katholisch unierte Kirche der Ukraine ist immer noch nicht »literaturfahig«. Die Verbindung mit dem Nationalen kommt nur den etablierten Nationalkirchen zugute.
Religion als Begründung einer öffentlichen Moral Die zweite wichtige Domäne, i n der Religion eine Rolle spielt, sind die Werke, die eine soziologische Analyse und Interpretation liefern. Die literarische Komposition als Modell der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist eine auch in der Sowjetunion weitergeführte Aufgabe der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, es ist der schon erwähnte Ersatz für die fehlenden Gesellschaftswissenschaften. I m Parteiprogramm von 1962 glaubte man noch, durch die Fixierung eines »Moralkodex für die Erbauer des Kommunismus« aus dem Selbstverständnis des Staates als sozialistischem Anweisungen für das Handeln in der Öffentlichkeit ableiten zu können. 2 4 Die Ausrichtung auf das W o h l der kleinen und großen Kollektive, denen der einzelne angehört, wurde als selbstverständlich vorausgesetzt; speziell Parteimitglieder würden ihr Handeln zum Nutzen des Ganzen einsetzen. Je weniger bestimmt die Partei auf der Reproduktion dieser Annahme auch i n fiktionalen Werken bestand, umso mehr konnte die Literatur Handlungen modellieren, die nicht den Idealen, w o h l aber den Erfahrungen aus der Realität entsprachen. Die Gorbacev-Zeit ermöglichte eine fast tabufreie Analyse. Als Beispiel mag eine längere Erzählung gelten, die V i k t o r AstaPev 1986 vorgelegt hat, Petal' nyj defektiv 25 (»Der traurige Detektiv«). E i n früh pensionierter Mitarbeiter der Miliz hält Rückschau auf seine Dienstjahre und läßt vor dem Leser ein Panorama schockierender Entsetzlichkeiten Revue passieren. Der Alltag in dem Provinzstädtchen ist grau und perspektivelos, Rohheit, Ignoranz und Brutalität kennzeichnen die Handlungen der Bewohner, von denen einer i m Rausche fähig ist, mit einem gestohlenen L K W wahllos Passanten niederzuwalzen. AstaPev läßt seinen
24 Z u r Umsetzung des Moralkodex in die Idealvorstellung v o m Positiven Held siehe Alexander Steininger, Literatur und Politik in der Sowjetunion nach Stalins Tod (Wiesbaden, 1965), S. 24 ff. 2
5 Abgedruckt in Oktjabr',
1986, Heft 1, S. 8-74.
Literatur als Subversion
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Erzähler zwar noch über die Herkunft des Bösen nachsinnen, nicht mehr aber über eine moralische Besserung. Dies tut Cingiz Ajtmatov i n seinem Roman Placha. 2(> Während einer der beiden Erzählstränge aus dem Blickwinkel v o n Wölfen das Treiben der Menschen beschreibt, erzählt ein anderer die Geschichte eines Diakonsohnes, der seiner wenig orthodoxen Gedanken wegen aus dem Priesterseminar komplimentiert w i r d und sich — u m darüber in der Zeitung zu schreiben — einer Bande anschließt, die AnaSa, eine Haschischvariante, aus den asiatischen Steppengebieten ins eigentliche Rußland transportieren soll. Der junge Mann mit dem Namen A v d i j Kallistratov legt sich mit dem Rädelsführer an, dem er die jugendlichen Drogenschmuggler entfremden will. Es kommt zu einer langen Auseinandersetzung um die Wahrheit des Lebens und die Wahrheit der Droge, die der Bandenführer damit beendet, daß er A v d i j in einsamer Steppe aus dem Z u g prügeln läßt. Später legt sich A v d i j mit einer Gruppe an, die erschossene Antilopen (Sajgas) aufsammelt. Deren Anführer w i r d so wütend, daß er A v d i j zwischen zwei Bäume binden läßt und dem T o d ausliefert. Parallel dazu w i r d die Geschichte Jesu vor Pilatus erzählt, wobei Jesus ähnliche Formulierungen über G o t t i n den M u n d gelegt werden, wie sie der Seminarist A v d i j äußert. Der kriminellen Gewinnsucht und dem menschenverachtenden Zynismus der Drogenhändler und Antilopenschlächter stellt Ajtmatov einen friedfertigen religiösen jungen Mann gegenüber, der i n der konkreten Situation zwar scheitert, dessen Philosophie aber die auf Dauer historisch überlegene ist. M i t seinen Gedanken bewegt er sich i m Einklang mit der Natur, seine Begegnung mit den Wölfen verläuft friedlich. Eine harmlosere Variante zu den kriminellen Drogenschmugglern bilden die Schäfer, die i m letzten Teil des Romans den Wölfen nachstellen. A u c h sie verwirklichen nicht Ajtmatovs Ideal eines friedfertigen Eingebundenseins i n die natürlichen Lebenszusammenhänge, aber zumindest einer führt ein Leben i n Respekt vor der Natur. A u c h er scheitert, weil er zur Gewalt greift. Es ist ungewöhnlich, daß ein i n den muselmanischen Traditionen aufgewachsener, mittlerweile nur noch auf russisch publizierender Autor, der seit den 60er Jahren Abgeordneter i m Obersten Sowjet ist, nicht mehr wie in früheren Romanen gläubige Moslems als positive Helden zeigt 2 7 , sondern ein Ethos der Gewaltlosigkeit fordert, das in der Hingabe, der Imitatio Christi begründet ist, wenn auch dieser Christus Ajtmatovs theologisch wenig ergiebig und literarisch flach ist. I n einem Zeitungsinterview gibt A j t m a t o v an, Christus fasziniere ihn gerade deshalb, weil er für seine Ideen den T o d auf sich genommen habe:
26 Eine Übersetzung in der D D R wählte die Titelvariante »Schafott«, eine aus dem Westen wählte »Der Richtplatz« (Zürich, 1986). 27 Sehr ausgeprägt in dem Roman I dolse veka dlitsja den' (dt. u. d. T . »Ein Tag länger als ein Leben«).
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Norbert Franz
Mohammed war kein Märtyrer. E r hatte schwere qualvolle Tage, aber daß man ihn für eine Idee gekreuzigt hätte und daß er dies den Menschen für immer verziehen hätte — das gibt es nicht. Christus gibt m i r die Gelegenheit, den gegenwärtigen Menschen etwas Verborgenes mitzuteilen. Deshalb bin ich, der ich Atheist bin, i h m auf meinem schöpferischen Weg begegnet. 28
Die Religion als Möglichkeit, die Verbindlichkeit moralischer Leitsätze zu garantieren — daß der Gedanke soweit hat Raum greifen können, macht deutlich, wie desolat es u m das staatsbürgerliche Ethos bestellt sein muß. Alle Kampagnen zur Arbeitsdisziplin, zu Nüchternheit u.ä. mehr haben sich totgelaufen, hier hofft man w o h l auch offiziellerseits auf Erfolge der Liberalisierung der Religionsgesetze. Man wirbt geradezu u m die Gläubigen als Verbündete der Perestrojka. Hand in Hand damit geht die Wiederentdeckung Kants durch die sowjetische Philosophie, die auch ganz i m Zeichen der Begründung einer Moral steht. Arsenij Gulyga, Vorsitzender der Philosophischen Sektion der Akademie der Wissenschaften, fragt i n einem Artikel: Warum müssen unsere K i n d e r die Liebesabenteuer des Zeus kennenlernen, die m i t M o r a l nicht das geringste zu t u n haben, und warum erzählen w i r ihnen nichts v o n den Versuchungen Christi, v o n seinem Leben und T o d ? 2 9
Religion als Antwort auf die »letzten Fragen« Eine besondere Rolle spielt die Religion i n dem Bereich, der mit »Ewigen Fragen« oder »Sinn des Lebens« umschrieben werden kann. Literaturgeschichtlich läßt sich das Auftauchen ebenfalls in den sechziger Jahren ansiedeln, es geht Hand i n Hand mit der Abkehr v o n der Regelpoetik des Sozialistischen Realismus. Als literarische Stilformation steht der Sozialistische Realismus in der Nähe der Trivialliteratur, da die gültigen Problemlösungsmöglichkeiten und Typisierungen der Figuren standardisiert sind. Der zum Inventar gehörige Positive Held ist eine Konkretion der Überlegungen sozialistischer Autoren des 19. Jahrhunderts, die noch unverblümter v o n dem »Neuen Menschen« sprachen. 30 Der Positive Held ist ein säkularer Heiliger, bei dem die Haltung der Bescheidenheit und Demut durch die eines aktiven Suchens ersetzt wurde. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, daß die sozialistischen Entwicklungsromane als moderne Heiligenlegenden zu lesen sind. 3 1 I n dem Maße, als sich die Autoren nach dem X X I I . Parteitag v o n 1962
28
Cingiz A j t m a t o v , »Cena-zizn'«. I n Literaturnaja ga^eta, 1986, N r . 33 (13. Aug.), S. 4.
29
Arsenij Gulyga, »Poiski absoljuta«. I n Novyi mir, 1987, Heft 10, S. 245-253. Hier S. 248. 30 So gab etwa Nikolaj Cernysevskij seinem Roman Cto delafi (»Was tun?«) v o n 1863 den Untertitel rasska^pv ο novych ljudjach (»Erzählungen v o n neuen Menschen«).
Literatur als Subversion
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auch aus den Fesseln des Sozialistischen Realismus befreiten, wurde der triviale Typus durch Charaktere verdrängt. Zentrales Genre war nun auch nicht mehr der monumentale Roman, sondern vielmehr die längere Erzählung. Der mittlerweile verstorbene Jurij Trifonov äußerte i n einem Interview: M i c h interessieren die Charaktere.
U n d ein Charakter ist eine Einheit, ist ein
unwiederholbares Zusammenspiel v o n großen und kleinen Wesenszügen. 32
Das Situationenrepertoire des Sozialistischen Realismus hatte keine Lösungsmöglichkeiten für die sogenannten Ewigen Fragen. Krankheit, Leiden und T o d gab es nur i m Dienst an der Sache, die Liebe war sowieso funktionalisiert. Echte Tragik konnte es nicht geben, das Happy Ending war obligatorisch. M i t den Typen verschwanden die Situationsstereotypen, mit den Charakteren hielten individuelle Lösungsmöglichkeiten wieder Einzug in die Literatur. Der Mensch ist nicht mehr nur Rädchen i n einem sozialen Getriebe, für das er besonders gut zu funktionieren hat, seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre werden die von Marx noch als unnütz abgelehnten Fragen nach dem Sinn des Lebens und Sterbens ausdrücklich anerkannt und zugelassen. Der 1974 verstorbene A u t o r und Regisseur Vasilij Suksin gestaltet mehrere literarische Figuren, die sich plötzlich mit der Sinnfrage konfrontiert sehen, die sie dann aber keiner Lösung zuführen können. Die Erzählung Verujul (»Ich glaube!«) beginnt folgendermaßen: Sonntags immer, da kam über ihn eine so merkwürdige Schwermut. So eine nagende, so v o n innen her [ . . . ] . Maksim fühlte es physisch, das Scheusal, gerade so, als begrabsche ihn ein aufdringliches Weibsbild, ein unappetitliches, ungesundes, m i t üblem Mundgeruch und tätschle ihn und versuche ihn zu küssen. 33
Es ist w o h l nicht ganz bedeutungslos, daß dieses v o n den Russen »toska« genannte Gefühl sich gerade an einem Sonntag einstellt, an dem Tag, der i m Russischen von seinem Namen her an die Auferstehung erinnert. 3 4 Es bleibt aber bei diesem Hinweis. Maksim erfährt die Macht der Sinnfrage, er erfahrt an sich, daß er eine Seele hat, die unruhig ist, weiter aber führt ihn der A u t o r nicht. Die menschliche Existenz bleibt rätselhaft, zu einer positiven A n t w o r t kommen die Figuren nicht. Suksin bewegt sich i m Vorfeld des Religiösen, wodurch die Sinnfrage als solche besonders deutlich wird. Ähnliches läßt sich
31
V g l . etwa Hans Günther, Die Verstaatlichung
der Literatur
(Stuttgart, 1984), S. 81-
111. 32 Jurij Trifonov, »Vybirat', resat'sja, zertvovat'«. I n Voprosy literatury, S. 62-65. Hier S. 63. 33
1972, Heft 2,
Vasilij Suksin, Verujul I n Idem, Brat moj: Rasskavy, povesti (Moskva, 1975), S. 133.
34
Der Sonntag heißt »voskresen'e«, es ist dies die volkssprachliche Entsprechung zu dem kirchenslavischen »voskresenie«, (»Auferstehung«, »Ostern«),
20 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
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in vielen Texten des Sibirjaken Valentin Rasputin beobachten. Die Atmosphäre seiner Romane und Erzählungen ist gekennzeichnet durch Offenheit gegenüber den Realitäten, die die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit übersteigen. Literarische Ausdrucksmittel dabei sind sowohl die Motive v o n Traum und Nacht als auch Vorahnungen und bisweilen fast mediale Fähigkeiten einzelner Figuren. Die höheren Mächte, deren sich die Menschen bewußt werden, sind anfangs noch etwas Unbestimmtes, Unberechenbares. I n späteren Texten sind sie verbunden mit der Geborgenheit, die zwar die Härten v o n Leid, Krankheit und T o d nicht aufhebt, sie aber als Bestandteil einer Weltordnung erscheinen läßt, die insgesamt Vertrauen einflößt. 3 5 Sie gibt die Kraft zur Bewältigung derartiger Schwierigkeiten und stellt einen wesentlichen Schritt zur Annäherung an die christliche Gottesvorstellung dar. Der schon erwähnte Vladimir Solouchin behauptet i n einer Aphorismensammlung, die i n Anspielung an das alttestamentarische Buch »Koheleth« den Titel trägt: 1Vremja sobirat' kamni: (»Es ist Zeit, Steine zu sammeln«): I m 20. Jahrhundert kann es für einen Menschen mit gesundem Verstand keinen Zweifel daran geben, daß auf der Welt, i m Universum und in der Vielfalt des Lebens ein höchster vernünftiger Ursprung existiert. [ . . .] Die Frage lautet nicht, ob es eine höchste Vernunft gibt, sondern ob diese v o n m i r weiß und zu mir
irgendeine
Beziehung hat. 3 6
Das Religiöse und die Ideologie Schon in der Zeit, die man mit Gorbacev heute gerne die der »Stagnation« nennt, war es möglich geworden, i n der Literatur die Frage nach einem personalen G o t t zu stellen. Die erreichten Fortschritte erscheinen als folgerichtig hintereinander ablaufende Schritte, die angekündigt haben, daß auch die Sowjetideologie ihren Alleinvertretungsanspruch irgendwann aufgeben müsse. Daran hat subversiv die Religion mitgearbeitet, nicht eine bestimmte Religion, sondern die Suche nach der Anbindung an ein Höheres, das dem Leben einen Sinn, der Gemeinschaft Wert geben könnte. Die Literatur hat die Defizite der herrschenden Ideologie aufgedeckt; sie hat gezeigt, daß die ideologischen Lösungen ungeeignet sind, sobald wirklich wichtige Fragen gestellt werden. Historisch betrachtet war die Sowjetideologie seit spätestens 1920 schon nicht mehr Movens der Politik. Es gibt keine wichtige politische Entscheidung, der nicht eine ideologische Begründung nachgeliefert worden wäre, die Teilbereiche der Ideologie neugestaltet hätte. Aber auch die Funktion der Machterhaltung und Machtlegitimation kann von der Ideologie heute nicht mehr ausrei-
35
V g l . hierzu die sehr gelungenen Darstellungen bei Holtmeier, loc. cit.
36
Vladimir Solouchin, Vremja sobirat' kamni. I n Nal sovremennik, 1981, Heft 3, S. 39.
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chend geleistet werden, deshalb ist es nicht verwunderlich, daß die derzeitige Führung nach anderen Legitimationsmöglichkeiten sucht und dabei auch vor einer Demokratisierung nicht zurückschreckt. Das Religiöse i n der Literatur hat an der Korrosion der Ideologie kräftig mitgewirkt und den Weg dafür bereitet, daß die Religionen und Kirchen allmählich wieder als positive Faktoren i m gesellschaftlichen Leben gelten. Was sich seit den sechziger Jahren in der Literatur tut (und seit dem Amtsantritt Gorbacevs i m März 1985 auch i n der Publizistik) 3 7 , war schon i n den dreißiger Jahren exemplarisch von Michail Afanas'evic Bulgakov vorweggenommen worden, i n dessen Roman Master i Margarita 38 das Religiöse subversiv die herrschende Staatsidee und das Selbstbild der Sowjetgesellschaft untergräbt. I m Gewand der Groteske erscheint ein satirisches Spiegelbild der Sowjetunion, i n der der Teufel selbst die Hohlheit der Phrasen entlarvt und für die Realität des Übernatürlichen einsteht. Gemessen an der Gesellschaftskritik, die i n Master i Margarita steckt, ist die heutige Sowjetliteratur zahm und i n gewisser Weise auch naiv. Die vielen Hinweise auf die Defizite der Ideologie zeigten jedoch auch ihre Wirkung. Hier konnten nur einige wenige Namen genannt werden — dazu auch fast nur Prosaiker, weil deren Werke sich besser referieren lassen. Bezieht man die Poesie mit e i n 3 9 , ließe sich mindestens ein Dutzend Autoren nennen, in deren Werken religiöse Elemente in positiver Funktion auftauchen. Es sind bezeichnenderweise fast alle Vertreter der »ersten Garnitur«, so daß man w o h l auch für die Zukunft optimistisch sein kann.
37 V g l . etwa Lorenzo Amberg, »Religiöse Themen i n der Sowjetpresse«. I n Glasnost*, Christen und Genossen: Realität und Hoffnung. H g . Norbert Sommer (Berlin, 1988), S. 6876. 38
Der Roman — v o n Bulgakov in seinem Todesjahr 1940 vollendet — konnte erst 1966/67 in der Zeitschrift Moskva — und auch nur stark zensiert — erscheinen. Nachdem in Paris eine vollständige Version erschienen war, entschloß man sich auch in der Sowjetunion zu einer ungekürzten Ausgabe. 39 V g l . dazu etwa Johann Meichel, Auf der Suche nach einer Alternative: Sowjetrussische Poesie der Gegenwart im Spannungsfeld soifioökommt scher und kulturpolitischer Tendenzen (Mainz, 1988), S. 171 ff.
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P o p Aesthetics a n d D e c o n s t r u c t i v e I n t e l l i g e n c e O n Some Tendencies of Innovative American Literary Criticism: Susan Sontag, Leslie Fiedler and Ihab Hassan B y Julika
Griem
The Cultural Climate Reality doesn't exist, time doesn't exist, personality doesn't exist. [ . . . ] I n view o f these annihilations, it should be no surprise that literature, also, does not exist — h o w could it? There is only reading and writing, which are things we do, like eating and making love, to pass the time, ways o f maintaining a considered boredom in face o f the abyss. 1
W i t h these words from his 1960 short story w i t h the programmatic title »The Death of the Novel« Ronald Sukenick contributed towards initiating a variety o f literary experiments that radically question our assumptions concerning the role of author and audience as well as the status, the effect and the function of the work of literature. Sukenick's apodictic sellout o f every kind o f fiction that claims to depict, illuminate and analyze the w o r l d we live i n can be seen as a reaction to previous avantgardist impulses i n the other branches o f American arts: Abstract Expressionist painters like Sidney Pollock and Willem de K o o n i n g had already set out to shift the emphasis from the results to the very activity of painting; Andy Warhol attacked and undermined the conventional canon o f elitist and autonomous art w i t h Campbell soup cans and photographs o f Marylin Monroe; new compositions had begun to use the devices of electronic communication technology; and the theatre ventured to free its audiences from a contemplative, meaning-consuming attitude i n assault-like happenings designed to replace any intellectual distance by forms o f sensous participation. Influenced by these innovative aesthetic movements and stirred by the antiauthoritarian and rebellious spirit o f the student protest movement, a number o f American authors advocated both radical and playful alternatives to the traditional concepts and categories o f literature. 1 Ronald Sukenick, The Death of the Novel, in: The Death of the Novel and Other Stories (New Y o r k , 1969), p. 41.
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For John Barth, i n his significant essay »The Literature of Exhaustion« from 1967, the »used-upness« o f the »proper, naive« novel and its »conventional devices — cause and effect, linear anecdote, characterization, authorial selection, argument, and interpretation« is »by no means necessarily a cause for despair«; the »difficulty, perhaps the unnecessity o f w r i t i n g original works o f literature« 2 results not only from changed political and historical constellations but already carries a crucially political dimension itself. I n a further epistemological twist, Barth turns the new novels, »which imitate the form o f the Novel, by an author w h o imitates the role o f Author« into metaphors o f themselves: »Not just the form o f the story but the fact o f the story is symbolic; the medium is (part of) the message.«3 For Barth, only novels o f the new kind can confront the readers w i t h the essential literariness o f the reality that seems to surround them: »When the characters in a w o r k of fiction become readers or authors o f the fiction they're in, we are reminded of the fictitious aspect of our o w n existence.« I n other words: what we make o f the w o r l d around us should not be confused w i t h an apparently authentic and real essence o f the phenomena we experience, but has to be reconsidered as the attempt to apply an arbitrarily chosen method o f meaning production to the chaotic and fragmentary impressions we receive through our perception. Raymond Federman, i n his collection o f theoretical essays discussing similar problems under the title o f Surfiction (1975), completes Barth's epistemological inversion as follows: for him, »reality exists only in its fictionalized version« and »no meaning preexists language.« Since there is no authentic reality fiction could struggle to reach out at, »to write, then, is to produce meaning, and not to reproduce a preexisting meaning.« 4 Writing, i n this sense, enables the author to perpetually reinvent himself and a new reality among countless other possible realities. Together w i t h Barth, Ronald Sukenick, one o f the first >hangmen< of the >old< fiction, argued for a fundamental materialization of the genre: since fiction exists »in the realm o f experience rather than o f discursive meaning and available to multiple interpretation or none«, the face o f the text is to be changed until the book is rendered visible as a »concrete structure«. T o guarantee »the immediacy o f experience« the reader has to be involved in the process o f fictional meaning constitution by confronting him w i t h deliberate
2 John Barth, »The Literature o f Exhaustion«, in: The Friday p. 64.
Book (New Y o r k , 1984),
3 Ibd., p. 71. 4
Raymond Federman, Surfiction
Now . . . and Tomorrow
(Chicago, 1975), p. 8.
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incoherency and disorder, materialized as typographic variation, unlinear paginage or even empty pages, as neglect o f conventional grammar and syntax. Such deviations from the fictional norm are meant to force the reader to discover »that the truth of the page is on top o f it, not underneath or over at the library« 5 ; and to give him the feeling o f participating in the process of fictionmaking, just as the Abstract Expressionist painters i n their happenings or Peter Handke i n his Publikumsbeschimpfung violently included their audiences. But it soon became obvious that the complex inconsistencies o f poetic time and space could not be done w i t h i n a gesture o f literary actionism, and so the authors began to create metaphors o f their o w n practice to emphasize the ingenuities and difficulties o f their art. Images o f disorientation and futile, illusionary striving characterized the new fiction; authors and readers found, lost and reproduced themselves in mirrors, labyrinths and mazes. Thomas Pynchon wrote fiction about secret societies threatening the existence o f this very fiction itself (The Crying of Lot 49)y John Barth chased himself through the solipsistic mechanisms of the fictional act in his »Life Story«. Others, like Donald Barthelme and Richard Brautigan, mixed trivial elements and clichés, the >dreck< o f a commercialized society, and settings from all different kinds of literary eras and genres to arrive at works o f a surprisingly playful and cheerful nihilism. I n their works, the idea o f the surrealist montage is transformed into an amusing pastiche: the presentation of inscrutable surfaces as the world's involuntary comment on itself. A n d yet: despite the fictional genre's theoretical efforts to dig its o w n grave there remained a grain o f salt. Literature, i n contrast to other arts, could scarcely be performed as happening. Public demonstrations of the fictional act, public burnings o f failed chapters, public readings o f successfully revised metaphors remained rare; books were still written by the single author at his or her desk, and read, weeks or years later, by the single reader in his or her armchair. While other arts escaped into the fanciful combination o f different media and created new, non-verbal vocabularies o f forms, fiction was left to face the fact o f its o w n death by making a new story out o f it. Whereas the other arts could compensate for their refusal to >say< anything any longer by offering an arsenal o f fascinating or troubling images and sounds, and thus expanded their borders in a flourishing culture o f happenings, fiction could only continue to paraphrase the dilemma of its existence i n its very o w n medium: language.
5 Ronald Sukenick, »The N e w Now. . ., p. 44 and p. 45.
Tradition
in Fiction«, in: Federman, Surfiction
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Those glimpses into the sometimes paradox implications o f f k t i o n w r i t i n g , the disillusioning insight of the ever visible historicity o f words and the attempt to turn fiction into a conscious witness o f its o w n operations have a number of famous forerunners in the history of the genre: from Laurence Sterne's Tristram Shandy to André Gide's Les Faux-Monnaiyeurs we find attempts to fictionalize the theoretical assumptions o f the w r i t i n g process and to simulaneously reflect on this >metafictional< practice. What distinguishes the contemporary American authors from this tradition is their conscious involvement i n a larger cultural and political context, their interrelation w i t h other innovative tendencies which should soon result in a general reorientation w i t h i n American literary theory. Although many o f the metafictional experiments amounted to nothing more than an obsolete and redundant self-mirroring o f author and medium, the epistemological challenge o f the self-reflexive approaches had already disseminated among those who had so far been responsible for the analytical clarification o f the authors' caprices: the literary scholars and critics. Already stirred by impulses from innovative theoretical thinking from other disciplines, an important part o f the criticism that had dedicated itself to the new works was itself drawn into the labyrinthine circles o f self-reflexion: since fiction now seemed to contain the critique o f its theoretical premises, criticism appeared deprived o f its skeptical distance to the phenomena it was to examine, and apparently could not but become literature itself. I t is hard to say what came first: metafictional experiments or critical reorientation. Impulses from both disciplines (which, by the way, were never as easily discernible as some people like to suggest) encouraged each other to »cross borders« i n a parallel enterprise o f self-exploration. The first euphoric phase of this common enterprise is characterized by its rejection o f the tradition o f New Criticism, that at the beginning o f the 1960ies was still dominating American literary theory. Originating i n a cultural and political resistance of a number o f Southern scholars to a more scientific, industrialized and urban kind o f intellectual culture, the New Criticism soon came to oust the historical scholarship o f the 1920ies by advocating an immanent approach toward literature which excluded social, political and historical circumstances in favour o f a more formalistic analysis of the stylistic elements o f the w o r k o f art and their contribution to the whole structure. From the late 1930ies on the New Criticism had established itself as the dominant interpretive strategy of those years through its academic institutionalization on the one hand and its popularization by the Kenyon Summer Institutes for teachers and its potential congruency w i t h the intentions o f the General Education movement on the other hand.
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Reexamining the history of the New Criticism, its institutional organization and its interpretive strategies, one has to deal w i t h a considerable contradiction between its formalistic approaches and its pedagogical, sometimes even moralistic impetus: by providing their students w i t h the means to perform refined stylistic analyses many of the New Critics hoped to serve a humanistic pedagogical purpose. The selected work o f art was to offer insight i n problematic regions of the human existence; or, i f one wants to formulate it paradoxically: »Die Relevanz der Literatur für die Lebenswelt beruhte auf der Irrelevanz der Lebenswelt für sie.« 6 I t is this separation between hermetically isolated works o f art and a supposedly trivial and alienated everyday-reality which is attacked by the younger critics. D u r i n g the 1960ies their opposition against the institutional establishment and its moral and political convictions was nourished from various theoretical discourses; and this integration o f psychoanalytical, linguistic, anthropologist, deconstructive, Marxist and feminist strands of thinking does not make it easier to clarify the simultaneous literary and theoretical movements of those years. What can be observed, however, is that in the course o f events the initial enthusiastic mood of cultural, political and aesthetic breaking-up was more and more undermined by an acute sense of crisis, o f methodological chaos and arbitrariness, since it proved more difficult than one had expected to establish new strategies of reading capable of putting the programmatic impulses into critical practice. The explosive expansion o f theoretical discourse during the 1960ies enhanced the need to sharpen the awareness o f the ideological and philosophical premises o f literary criticism. I f one talks about this increased interest o f literary theory and practice in itself one cannot but mention the both fashionable and problematic term o f postmodernism which, from the early 1970ies on, has provided the theoretical debates w i t h a spuriously suitable label for different kinds o f innovative theorizing. T o preserve at least a minimum of analytical precision in using this term I suggest to distinguish between some aspects which are often confused i n the multifaceted term of postmodernism: on an initial level, it is useful to differentiate between the poststructuralist literary theory (which has in many cases been based on the analysis o f modernist works) and the programmatic identification o f postmodernist works of literature; and, on a further level, between European poststructuralist philosophy and American cultural and literary criticism. 7 M y topic being some movements in the development o f
6 Jürgen Schlaeger (Ed.), Kritik (München, 1986) p. 14.
in der Krise. Theorie der amerikanischen Literaturkritik
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American criticism during the last 20 years, I w i l l try to illustrate some o f the American roots and impulses for the current debates on the phenomenon of postmodernism from a perspective of literary and critical history. I n this sense, today's view back from a distance of more than 15 years offers the chance to take a more differentiated look at the net o f interweaving continuities and discountinuities of theoretical thinking during those years. The following examination o f the writing o f t w o American critics who have helped to drive forward the critical debates o f those years, tries to look back from a point o f view that does not claim objectivity because of an apparently safe distance to the phenomena observed but just a greater awareness concerning any complicity w i t h the theoretical and critical problems under consideration. I n his book Framing the Sign (1988) Jonathan Culler describes this perspective: Complaints about the chaos o f critical perspektives and the abusive intrusion o f criticism into literary life are not so much analytical judgements about the domain o f literary studies as symptons o f attending to criticism: it may well be that criticism seems orderly or controlled only when it is taken for granted, and that as soon as one begins to study .criticism, one finds not an ordered activity but disputes about norms and meanings. W r i t i n g about literature is not a science or even a discipline but a changing collection o f diverse projects. A history o f criticism then becomes an attempt to reorder what necessarily seems disorder to the contemporary eye. 8
Since there are many ways o f reordering literary events, thoughts and tendencies w i t h i n the context of a coherent structure, it is important not to withhold the inevitable inherent bias underlying every interpretive project. However, the awareness o f the historicity o f every theoretical position does not turn the chosen interpretive strategy into a vain and arbitrary enterprise but it contributes to keeping alive a theoretical dialogue which still offers many positions and projects w o r t h being argued about. I n many works examining the development of centemporary American criticism and literature Susan Sontag and Ihab Hassan are considered t w o landmarks in this region of American letters. 9 The line I have drawn to 7 The term postmodernism entered American literary debates through I r w i n Howe's essay »Mass Society and Postmodern Fiction« {Partisan Review, 1960) and was immediately taken up in Harry Levin's »What was Modernism?« {Massachusetts Review , 1960). Further useful information to the history o f the term can be found in: Michael Köhler, »>PostmodernismusModernPostmodern< and >Contemporary< as Criteria for the Analysis o f 20th Century Literature«, in: Amerikastudien 22 (1977), p. 19-46; Andreas Huyssen, »Mapping the Postmodern«, in: New German Critique 33 (1984), p. 5-52.
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1 9 ) , p.
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illustrate the actual contribution those t w o critics have made starts w i t h Susan Sontag's attempt to promote an American Pop aesthetics which is to incorporate the provocative elements o f the European avantgardes, but simultaneously to discard their elitist assumptions. W i t h regard to the tradition o f the New Criticism, Sontag's theoretical position oscillates between a decisive moral and political rejection o f the former's pedagogical impetus in one hand and a tendency to radicalize the formalistic aspects o f the immanent approach on the other hand. I t is this complex interplay between continuity and discontinuity that makes her writings important documents for the development of American literary criticism and theory. I f one tries to discover possible paths through the critical landscape of those years, Leslie Fiedler's programmatic essay »Cross the Border — Close the Gap« from 1970 provides one o f the missing links between Sontag's position and the radically innovative theory o f some younger critics: his polemic argument for an antiauthoritarian »postmodernist« aesthetics culminated i n the appeal to turn criticism into literature; to »close the gap« between poetic and discursive texts, between amateur, professional and creative writing. But only Ihab Hassan, i n his Paracriticisms from 1975, puts Fiedler's ideas into practice: his no longer >critical< essays have assimilated the techniques o f experimental fiction; instead o f linear argument he presents eclectic collages o f theoretical and literary allusions and quotations, metaphorical impressions and extremely personal comments. Thus having carried the theoretical suggestions o f Sontag and Fiedler to their furthest possible extent, Hassan's writings already embody the exhaustion o f critical and aesthetic innovation. Deprived o f his task o f writing about literaturé, Hassan turns to metaphysical and spiritual projects i n a region o f increasingly diffuse speculation, whereas other critics have tried to push the theoretical disputes without ignoring the limitations of academic dialogue. Hassan's return to a more >conventional< critical w r i t i n g during the 1980ies exemplifies not only the unwritten rules of the university domain o f literary theory but it also mirrors the exhaustion of the metaflctional experiments and the resulting return to more traditional narrative techniques.
9 See the discussions o f Sontag's and Hassan's writings in the following works: Jürgen Peper, »Postmodernismus: Unitary Sensibility ( V o n der geschichtlichen O r d n u n g zum sychronenvironmentalen System)«, in: Amerikastudien 22 (1977), p. 65-89; Peter and Christa Bürger (Ed.), Postmoderne: Alltag, Allegorie und Avantgarde« (Frankfurt, 1987); Jürgen Schlaeger, op. cit.; Gerhard Hoffmann (Ed.), Der zeitgenössische amerikanische Roman: Von der Moderne zur Postmoderne (München, 1988).
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Susan Sontag As one of the first critics in America Susan Sontag tried to undermine the New Criticism's virtual canonization o f the work o f art by reevaluating the social, political and historical reality at the expense o f the traditional notion of the autonomy o f the work o f art: »Perhaps there are certain ages which do not need truth as much as they need a deepening o f the sense o f reality, a widening of the imagination.« 1 0 Sontag's arguments for works o f art that do not longer exist i n isolation from every-day reality can be traced back to t w o main sources: she draws a great number o f impulses from avantgardist movements i n other arts, and she broadens the American perspective to include the latest developments in European culture. This readjustment o f the critical perspective reflects a shift which had also begun to influence the literary theory o f her time: although Northrop Frye, i n his Anatomy of Criticism from 1957, still denounced the influence o f other theoretical desciplines on literary theory, 1 1 the following years showed a growing interest w i t h i n the critical profession to integrate elements from the discourses of other theoretical disciplines. Landmarks o f these new interdisciplinary activities were the »Yale French Studies in Structuralism«, founded in 1966, and a conference at the Johns Hopkins university i n the same year, featuring lectures on »the languages of criticism and the sciences o f man« by such prominent scholars as Claude Lévi-Strauss, Roland Barthes, Jacques Lacan, Jacques Derrida and Georges Poulet. Susan Sontag's collection o f essays under the title Against Interpretation, written between 1961 and 1967, reflects the new influences on American literary criticism: its 20 critiques o f mainly European artists and theoreticians from the fields o f fiction, theatre and film, anthropology and psychoanalysis, are framed by six programmatic theoretical essays. The author's acknowledgements to her essays appeal to her readers to focus their attention on the theoretical part o f her criticism: Which is to say that, in the end, what I have been w r i t i n g is not criticism at all, strictly speaking, but case studies for an aesthetics, a theory o f my o w n sensibility. I t was not (though I didn't always k n o w it) the particular judgement about the particular w o r k
o f art I was really after. I wanted to expose and clarify
the
assumptions underlying certain judgements and tastes. What might have been objects o f criticism have been, instead, materials available for this task o f theoretical 10 Susan Sontag, »Against Interpretation« and Other Essays (New Y o r k , 1967), p. 50; subsequently quoted as A I w i t h pagenumbers given i n brackets.
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1 9 5 ) , p.
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clarification. I hope to persuade some o f my readers o f the urgency o f this task; w i t h o u t attempting it, any challenge (in art and in critical discourse) to prevailing standards o f taste falls into arbitrariness ( A I viii).
W i t h this project o f »a theory o f my o w n sensibility« Sontag combines the metacritical analysis of the sometimes hidden assumptions o f contemporary aesthetic judgements w i t h the intention of establishing a new critical discourse more fitted to reaching the cultural >frontier< o f her days. This double enterprise sometimes results in a not always moderate sense o f heroic leadership in matters o f avantgardist taste i n Sontag's writings, but at the same time she is aware of the historical contextuality of her critical project: »One cannot detach criticism from its roots and, ultimately, from that party to which it sets itself in antagonism« ( A I 254); an argument she later expands to the critic's responsibility to »do justice to the t w i n aspects o f art: as object and as function, as artifice and as living form o f consciousness, as the overcoming or supplementing o f reality and as the making explicit o f forms o f encountering reality, as autonomous individual creation and as dependent historical phenomenon« ( A I 31). Sontag's short essay »Piety without Content« from 1961, a review o f W. Kaufmann's book Religion from Tolstoy to Camus, can also be read as a first tentative illustration o f the critical and philosophical climate, the cultural >Zeitgeist< of the early sixties. Using her review as an opportunity to characterize certain contemporary modes of thinking Sontag writes: We live in a society whose entire way o f life testifies to the thoroughness w i t h w h i c h the deity has been dispatched, but philosophers, writers, men o f conscience everywhere squirm under the burden. For it is a far simpler matter to plot and commit a crime than it is to live w i t h it afterwards ( A I 249).
As a consequence of the fundamental disillusionment she diagnoses the desire to compensate for the loss o f spritual guidance by indulging in a spurious religiosity: This is a piety w i t h o u t content, a religiosity w i t h o u t either faith or observance. I t includes in differing measures both nostalgia and relief: nostalgia over the loss o f the sense o f sacredness and relief that an intolerable burden has been lifted.
(The
conviction that what befell the old faiths could not be avoided was held w i t h a nagging sense o f impoverishment ( A I 250).
From today's perspective, this phenomenon of a post-Nietzschean >anythinggoespostmodernism< i n t w o essays from 1959 and 1960 the two American scholars I r v i n g H o w e and Harry Levine were moved by the same cultural pessimism Sontag criticizes when
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they lamented a postmodern decline from modernist achievements: »Lacking the courage o f their [the modernists'] convictions, much o f our arts and letters simply exploits and diffuses, on a large scale and at a popular level, the results o f their experimentalism.« 12 But the progressive mood o f the early sixties Susan Sontag shared despite her admiration for many modernist works, called for a change of spirit; for departure from the nostalgic admiration o f singular modernist talents to a more >down-to-earth< attitude toward the arts; and for a different theoretical evalution of modernist works under the influence o f the latest theoretical developments. I t is this less respectful attitude toward the works o f classical modernism which inspired many o f the approaches that were soon to be labeled postmodernist. This new term, however, does not give a name to a completely new era but rather characterizes a new simultaneity of postions and convictions which historically had been antagonisms: A sense o f ungovernable stylistic glut, formal multiplicity and interfusion, artistic synaesthesia, dominated the sixties arts. Signs seemed to outrun signification; styles; in the imaginary museum o f multiple forms, fascinated, but became styleless; offering themselves as parody. There was much talk o f a new tendency, postmodernism, which was the sum o f the styles: the term suggested a return to the experimental and avantgarde spirit o f modernism, but also a revolt against modernism's high seriousness and hope for formal coherence and transcendence. 13
Susan Sontag, however, did not bother to enter the theoretical debates about the suddenly fashionable term o f postmodernism, even i f the historical constellation critics have tried to elucidate by this term must be seen as the basis of her writings, too. I n her essays between 1961 and 1965 Sontag confined herself to advocating new modes o f cultural receptiveness which have their roots in the experimental arts of the sixties, and i n a certain understanding o f the surrealist dimension o f European modernism. The essay »Happenings: A n Arts o f Radical Juxtaposition« from 1962 describes and analyzes a new mode o f aesthetic expression to demonstrate that the status o f the work o f art has been radically altered: the title's association o f the »radical juxtaposition« of heterogeneous elements is diametrically opposed to the concept o f autonomous unity in which the parts contitute the whole w o r k via meaningful relations to one another. I n contrast to a poem we can reread or a painting we can look at whenever we want, the happening is characterized by its »deliberate impermanence« ( A I 266): it can neither be preserved nor be purchased, in contrast to a theatrical performance 12 Harry L e v i n in »What was Modernism?«, here quoted from Köhler, »Ein begriffsgeschichtlicher Überblick«, p. 12. 13
Malcolm Bradbury, The Modern American Nove/ (New Y o r k , 1983), p. 160.
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there exists no score or transcript which could be read as a documentation of the happening's content or message. Its effect is extremely limited to the very moment of its performance; here, art does not function as a vehicle o f ideas or to deliver a certain message; it cannot be read or interpreted because it is consumend by >happening< just once; thus, for Sontag, it gains the »freedom to mean nothing« ( A I 28). As she further elaborates i n the essay »On Style«, the happening moves our attention from the results to the processes o f »showing, recording, witnessing« ( A I 29), from the application o f meaning to the production o f meaning. The happening is not a »statement about« something ( A I 22), it does not tell a story or plot but it finds images, sounds, words and actions for the epistemological procedures of seeing and hearing and telling anything at all. W i t h her analysis o f the story-, plot-, and suspenseless happening Sontag prepares her dispensation w i t h a whole set of traditional dichotomies: i n »Against Interpretation« and »On Style« she ultimately discards the distinction between form and content, or style and content; between an >inner substance< and an >outer packagingc now »the mask is the face« ( A I 19). Sontag's increasing rejection o f the remnants o f the traditional theories o f representation and the »auratic« w o r k o f art (as W . Benjamin called it in »The W o r k o f A r t i n the Age o f Mechanical Reproduction«) was anticipated i n the works of the American Abstract Expressionist painters of the 1950ies: here, the canvas was no longer regarded as »a surface on which to paint but rather as an arena on which to act.« 1 4 This shift from the fixed result o f aesthetic activity to its mechanisms o f signification needed not only a different consciousness o f artist and critic but also a different audience. The challenging to conventional receptive attitudes is, along w i t h her redefinition of the status o f the w o r k o f art, Sontag's second major preoccupation. For her, the confrontation w i t h art does not consist in an intellectual exegetic act but in the »experience o f a thing i n the world« ( A I 22). T o overcome the »reactionary« and »Stifling« attitude ( A I 7) which »violates« art by turning it into an »article for use« ( A I 10) and »assimilating it into Thought« ( A I 13), we have to »recover our senses« ( A I 14): we have to understand art as an »extension«, not as mere »criticism o f life« ( A I 300); we have »to cut back content« to see how the works o f art »is what it is rather than to show what it means« ( A I 14). Despite Sontag's enthusiastic advocating of an »erotics o f art« ( A I 14), which is to enable the audience to experience the work's »transparence« ( A I 13) w i t h all senses, her considerations do not answer the question o f how a 14 Jerome K l i n k o w i t z , Literary Subversions. Criticism (Carbondale, I L 1985), p. xxxiii / xxxiv.
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committed and involved receptiveness is to guarantee an accurate description and a critical evaluation o f the work of art. The unsolved problem o f the relation between the involvement o f experience and the detachment o f critical judgement also touches the crucial relationship between aesthetic pleasure and an ultimately ethical dimension inherent i n all our critical evaluations. Sontag's answer to this question shows more rhetorical self-evidence than consistency of argument: »There is no necessary denial of the role of moral evaluation here, only the scale has changed: it has become less gross, and what it sacrifices in discursive explicitness it gains i n accuracy and subliminal power« ( A I 300). I n »On Style«, she responds to the same question w i h more theoretical energy: she identifies the problem o f critical evaluation as »historic Western confusion about the relation between art and morality, the aesthetic and the ethical« ( A I 23), and she scraps this conspicous dichotomy of theoretical reflexion by simply fusing the polarities: »But i f we understand morality i n the singular, as a generic decision on the part o f the consciousness, then it appears that our response to art is >moralpamphlets< of postmodernism. As i f to demonstrate its programmatic argument at a first view already, the essay first appeared i n the American Playboy and ultimately confirmed Fiedler's reputation o f being one of the enfants terribles o f American literary criticism. After a considerable number of essays, short stories and literary studies like the influential Love and Death in the American Novel from 1967, Fiedler now presented his view o f the literary climate of his days: whereas the metafictional 21 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
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authors had made their fiction the arena of its o w n criticism, he suggested to turn criticism into literature to challenge »the unconfessed scandal o f contemporary literary criticism«: Criticism is literature or it is nothing. N o t amateur philosophy or objective analysis, it differs from other forms o f literary art in that it starts not w i t h the w o r l d in general but w i t h the w o r l d o f art itself, that it uses one w o r k o f art as an occasion to make another. 1 6
M u c h more directly than Sontag, Fiedler uses his idea o f a criticism which is »aesthetic, poetic in form as well as i n substance«, and also »comical, irreverent, vulgar« (CE 273) to overcome the formalistic »Death-of-the-Art criticism« (CE 274) of the New Critics. For him, this >old< criticism is as dead as the O l d G o d and the O l d Novel, since a new era has begun: »We have, however, entered quite another time, apocalyptic, antirational, blatantly romantic and sentimental; an age dedicated to joyous misology and prophetic irresponsibility; one, at any rate, distrustful of self-protective irony and too great self-awareness« (CE 271 / 272). I n contrast to Susan Sontag, Fiedler — writing i n 1970 — already seems to have digested the metafictional experiments and worked them into a critical equivalent o f the new fiction. I n his essay, he puts Sontag's more ambivalent and indirect characterization o f the postmodern scenario in an aggressively optimistic light. For him, the »used-upness« of aesthetic, moral and political values implies the chance o f an antiauthoritarian opposition against the hegemony o f intellectual elitism. Whereas the strong European influence in Sontag's writings can hardly deny the elitist flair high modernism and the historical European avantgardes have i n common, Fiedler adds to Sontag's argument »against interpretation« an »American mythologism« he finds expressed, curiously enough, in the writings of the French author Boris Vian (CE 277). Thus, his »postmodern« attitude is eager to integrate elements o f American popular culture like the Western, Science Fiction, pornography, television, advertisements and folklore. Such a >democratized< culture is to contain a subversive dimension: it is meant to close a class as well as a generation gap by liberating American mass audiences from the immanent class bias inherent i n the notion of »European high art« (CE 278). Fiedler's postmodernism does not only promise an American liberation from the European hegemony but it also proclaims to free the readers' receptive capabilities from the grip o f the strict exegetic New Critical way o f reading: 16 Leslie Fiedler, »Cross the Border — Close the Gap«, in: The Collected Essays of Leslie Fiedler, vol. 1 & 2 (New Y o r k , 1971), p. 270-294, here p. 273; subsequently quoted as C E w i t h pagenumbers given in brackets.
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. . . a renewed criticism certainly w i l l no longer be formalist or intrinsic; it w i l l be contextual rather than textual, not primarily concerned w i t h structure or diction or syntax, all o f w h i c h assume that the w o r k o f art >really< exists on the page rather than in a reader's passionate apprehension and response (CE 272).
Fiedler's idea of a postmodern criticism is not only reader-oriented but also outspokenly anti-intellectual; and by polemically discarding o f all traditional dichotomies, the author has his postmodern culture »straddle the border, i f not quite close the gap between high culture and low, belles-lettres and pop art«, between »the Marvelous and the Probable, the Real and the Mythical« (CE 289), between critic and audience, »artist and audience, or, at any rate, between professional and amateur in the realm o f art« (CE 278). Fiedler's concept o f a postmodern criticism in 1970 is foreshadowed i n his essay »The New Mutants« from 1965, where he seeks to clarify the function o f literature i n the particular historical and political situation o f the year 1965. I n this context he acknowledges a »contemporary« and »traditional« function o f literature, but to illustrate the contemporary cultural climate he emphasizes the »revolutionary, prophetic or futurist« function o f literature (CE 380/381). This »futuristic« view o f the potential o f literature turns the »mutants« o f science fiction novels into the true representatives of the contemporary situation: as »nonparticipants in the past«, as »dropouts from history«(CE 383) they reject the traditional humanist notion o f cultural continuity and progress as well as modernism's resulting disillusionment and its element o f alienation as a »profound longing to end disconnection« (CE 389). W i t h his »new mutants«, Fiedler does not only attack a modernism which for him has become a dominating cultural paradigm, but he introduces an new idea o f discontinuous time and history which allows him to combine previously antagonistic concepts in a strikingly eclectic manner. Considering Fiedler's notion of a fluid simultaneity o f past, present and future, it does not surprise that he welcomes the rapid technological change o f his time in a much more carefree manner than Marshall McLuhan. For Fiedler, the book is not likely to disappear under the influence of the new media but just has to adapt to the accelerated rhythm and popular appeal o f T V entertainment (CE 257). I t is this anti-modernist and anti-intellectual attidude which leads Fiedler in 1965 to welcome »the prospect of the radical transformation (under the impact o f advanced technology and the transfer o f traditional human functions to machines) of homo sapiens into something else« w i t h an astounding naïveté (CE 382). Since Fiedler has liberated himself from the obligation to consider cultural phenomena on the basis of a model of historical continuity, he has no difficulties in merging technological enthusiasm w i t h a simultaneously diagnosed need to surrender to archaic patterns and genres: 21*
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What recent writers have learned, and are true enough children o f the Present Future to find exhilarating, is that not only that the Naïve can be machine produced, but that dreams themselves can be manufactured, projected on T . V . or Laser beams w i t h all the vividness o f the visions o f Saints (CE 292).
W i t h the help of this technological access to a collective and individual unconscious, Fiedler is able to reintroduce »the Dream, the Vision, ekstasis «, »wonder and fantasy« into contemporary literature (CE 292). The result o f his deliberately ahistoric sythesis is a post-electronic Romanticism, w h i c h knows that the point is no longer to pursue some uncorrupted West over the next horizon, since there is no incorruption and all our horizons have been reached. I t is rather to make a thousand little Wests in the interstices o f a machine civilisation, and, as it were, on its steel and concrete back; to live the tribal life among and w i t h the support o f machines; to shelter new communes under domes constructed according to the technology o f Buckminster Fuller; and warm the nakedness o f N e w Primitives w i t h advanced techniques o f solar heating (CE 293).
I t took probably less than 20 years to realize that this enthusiastic vision o f a friendly synthesis of tradition and technology has remained wishful thinking. Although Fiedler, i n »The New Mutants« from 1965, still denies »Christian overtones« (CE 389) in the peculiar mysticism of the postmodernists, the last part of »Cross the Border — Close the Gap« reveals that the supposedly happy marriage between technological innovation and collective phantasy can only be maintained w i t h the help of a spurious religiosity: »We live i n the midst of a great religious revival«, where »not W o r k but Vision is the proper activity o f men« and »the books which most move the young are essentially religious books, as, indeed, pop art is always religious« (CE 293). I n this »religious revival«, literature is given a crucially mediating task: But in a time o f Closing the Gap, literature becomes again prophetic and universal — a continuing revelation appropriate to a permanent religious revolution, whose function, is precisely to transform the secular crowd into a sacred cummunity: one w i t h each other, and equally at home in the w o r l d o f technology and the realm o f wonder (CE 294).
Fiedler's attempt to make room for a new national literary canon and an appropriate critical response can be better understood i f one reads this critic as a literary incorporation o f the American student protest movement. I n his essay »Academic Irresponsibility« from 1968 he provides the missing link between social and institutional reality and literary practice, between the still repressive climate of the early sixties and his idea o f a sensously and intellectually liberating postmodern literature.
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Fiedler's bold Utopia o f a postmodernist criticism has not so much introduced new methodological standards but ultimately established a carefree subjective and speculative critical style. His essay »Cross the Border — Close the Gap« radicalizes the tendencies Susan Sontag had paved the way for; but although it questions fundamental methodological stances, from today's perspective, it still owes too much to the prevailing ideology o f Pop aesthetics to offer serious theoretical alternatives. Fiedler definitely crossed some borders w i t h his postmodern venture; whether the resulting gap i n the academic practice of criticism could be closed, must be left to the discussions w i t h i n literary theory during the following years.
Ihab Hassan From Leslie Fiedler's postmodern criticism to Ihab Hassan's critical writings there is no great distance. A t the time a professor at the university of Milwaukee, Wisconsin, Hassan was one o f the first literary scholars who enthusiastically promoted the new experimental fiction and who radically questioned the theoretical assumptions of literary criticism from w i t h i n the academic profession. I n the 1974 introduction to his book about contemporary American literature Hassan describes his o w n development from his more conventional publications Radical Innocence (1961), The Literature of Silence (1967) and The Dismemberment of Orpheus (1971) to his Paracriticisms from 1975; and he puts himself i n line w i t h those o f the younger critics »more inward w i t h contemporary trends«, like the above mentioned Susan Sontag and Leslie Fiedler. 1 7 I n his Paracriticisms, Hassan assimilates the radically self-reflexive attitude of the metafictional authors by turning his w r i t i n g into an act »in quest and question of itself«: 18 »When w i l l criticism confront the implications o f its o w n queries and what then w i l l it become?« (PC X V ) . A l t h o u g h this approach seems to resemble Sontag's initial intention to analyze the covert premises of contemporary aesthetic judgements, it implies more: Hassan proposes not only a discursive analysis o f certain methodological conventions of criticism, but he turns his o w n w r i t i n g into a kind of methodological performance, into a dramatic dialogue between different methodological voices. T o achieve a revelation o f criticism's innermost mechanisms, he uses the tools of selfexamining metaflction: »provisional disconfirmation, discontinuity, silence, space and surprise, [. . . ] typographic variation and thematic repetition, serial17 Ihab Hassan, Contemporary Y o r k , 1973), p. 18.
American Literature
1945-1972.
An Introduction (New
18 Hassan, Paracriticisms. Seven Speculations of the Times (Urbana, 1975), p. 46; subsequently quoted as PC w i t h pagenumbers given in brackets.
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ism and its parody, allusion and analogy, query and collage, mutation and juxtaposition« (PC xii). Supporting a kind o f fiction which already incorporates its o w n criticism as passionately as his colleage Leslie Fiedler, Hassan also fulfills the latter's demand to turn criticism into literature. Since metafiction has deprived him of his professional task, his criticism is no longer criticism, but »essays in language, traces o f the times, fictions o f the heart«. I n the Paracriticisms the professional critic writes no longer as »critic or scholar — nor yet impersonate poet, novelist or playwright — but to find [his] o w n voice in the singular forms that speculation sometimes requires« (PC xi). But although these subjective, creative and even poetic writings o f an »amateur o f change«, a »witness to the New« put into practice Sontag's appeal for a critical ethics of participation and immediacy, Hassan wants more than the mere application o f Pop aesthetics: »Thé sixties are already behind us, and behind the reactions to their antinomian will« (PC xiii). The political opposition against the establishment, the deconstruction of intellectual and critical hegemony has already taken its course, and Hassan seems to observe the new plurality and simultaneity of norms and ideas w i t h mixed feelings: »Humanist culture is becoming a small part o f our culture, and criticism a smaller culture still. W h o , then, w i l l be left to empower our metaphors, our dreams? [ . . . ] This is not reassuring. H o w many can look beyond humanism, can carry forward a fundamental commitment to human Being into new and unthinkable forms?« (PC xiii)
Since Hassan writes his Paracriticisms after the first impulse to break the formalistic and conservative hegemony o f the New Criticism and after the theoretical self-exploration of the metaficitional authors, he has to look for new projects. But interpretation as the discursive reformulation o f the meaning o f narrative texts has become obsolete, thus he tries to close the gap between complex theory and aesthetic action by taking on a responsibility which crosses the border o f the literary discipline: »At the center o f my concerns is an awkward vision o f change, a pressing query about the destiny o f our race. What role w i l l expanding human consciousness play in the universe? A t the center, too, is an intuition that the imagination — the full informing power o f mind, the fictive legacy o f our dreams — my help to articulate, and indeed to shape, the convergent life o f our race« (PC xii).
Hassan's ambitious project is »the growing spritual unity o f humanity«: »I have never understood how anything less can do« (PC χ vi). I t was unavoidable that this daring answer to the increasing professional specialization w i t h i n the academic business was to cause him trouble. 1 9 I n his personal preface to 19 I n his »personal preface« to the Paracriticisms Hassan draws the readers' attention to the intellectual risk he sees in his way o f w r i t i n g and thinking: »There is freedom i n
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the Paracriticisms, Hassan has not only expanded the critical scope i n a gesture o f unprofessional hybris; he has also violated the unwritten law o f academic discourse — intersubjectivity — by entitling himself to the right »to improvise on the possible« (PC 3). Hassan is, however, aware o f the difficulties inherent in his risky enterprise. First, he has to cope w i t h a receptive problem the metafictional authors were also confronted with: he has to prevent his Paracriticisms from becoming »so self-reflexive as to vanish in a game o f mirrors, or foolishly deny the mortality o f any art or heart« (PC xii). As a second possible hindrance to his intentions Hassan mentions the inner dynamics o f the academic profession: »Thus the humanities in general and criticism i n particular, intent on the systemization o f their most radical insights, end by exempting themselves from the hazards o f innovation« (PC xiv). I n other words: from a more distanced historical perspective Hassan's almost scandalous approach w i l l necessarily be domesticized through the dialectical development o f the critical discourse. I f one reads Hassan's preface to the Paracriticisms closely, it already reveals the problematic implications of his critical enterprise. The following seven pieces of »Paracriticism« contribute to intensify the discussion about the changed role o f the critic and the function and effects of criticism. As already mentioned, Hassan's writings differ from those o f Sontag and Fiedler insofar as he has taken seriously Fiedler's demand that critisicm become literature by adopting the techniques of experimental fiction. His affinity to these writers becomes evident i n the fifth essay »Fiction and Future: A n Extravaganza for Voice and Tape«. I n this polyphonic collage Hassan tries to explore the scenery o f contemporary fiction i n relation to its traditions. He comes to differentiate between t w o main tendencies: Imagine t w o lines meeting at some point in the future. Call the left line the N o v e l o f Silence, or as Barth w o u l d say, the Literature o f Exhaustion. Call the right line the Fantastic Novel, or as Vonnegut w o u l d want, Science Fiction. The area between these lines is the literary domain, and it is filled w i t h all manner o f fictions. Most o f these fictions acknowledge the boundaries that enclose them; that is, acknowledge their future (PC 105).
As representatives o f the N o v e l o f Silence Hassan lists Ronald Sukenick and John Barth, but also older works like Sterne's Tristram Shandy, Sade's Justine, intellectual risk excitement, perhaps originality. But risk is not risk w i t h o u t its price: isolation, crankiness, the quick stab o f doubt. I have paid, w i l l continue to pay, the price. But one may learn from one's excesses, and others may learn even more. I n any case, the chances I have taken in these speculations are not the largest a man could take: N o r have the penalties w i t h i n my profession been intolerably harsh. T o be denied a fellowship by the American Council o f Learned Societies is more than a nuisance but hardly a crash (PC xiv).
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Gide's The Counterfeiters , Sartre's Nausea and Robbe-Grillet's The Labyrinth. The fantastic genre, featuring Science Fiction as well as burlesque, romantic and Pop elements, can be traced back to works like More's Utopia, Swift's Gulliver's Travels, Wells' The Time Machine and Huxley's Brave New World. Its contemporary representatives include, following Hassan, K u r t Vonnegut, Richard Brautigan, Ishmael Reed, Thomas Pynchon, Donald Barthelme, Joseph Heller and William Gass. Somewhere in between the poles o f »selfparody or play, irreality or surreality, autodestruction or transcendence«, between a novel »that moves toward abolition of its form« and one »that moves beyond itself into vision« (106), Hassan locates authors like Joyce Carol Oates, Jerzy Kozinski, John Hawkes and also Bernard Malamud and Saul Bellow. This rather arbitrary classification o f contemporary fiction is not substantiated by further interpretations o f the works themselves. Instead, Hassan gives way to his desire that the t w o lines »may meet at some point in the future« (PC 105): Recent and remarkable, the works I have cited suggest that fiction moves toward subversion or transcendence o f itself, and sometimes moves toward both at once. The way d o w n and the way up are the same. Perhaps only the transfiguration o f reality, into something or nothing, matters. A n y t h i n g can happen (PC 109).
This astonishingly vague evalution of contemporary fiction is only surpassed by Hassan's prophetic final version o f his favourite dialectical theme: »But the boundaries, t w o sides of the cone, meet again at some future point where the apex hides. There, beyond where Silence and Fantasy exhaust themselves, a new form of art, of consciousness may lie« (PC 115). A l t h o u g h he has to realize that his »angry students seldom read novels« but »Malcolm X , Mao, Marcuse, McLuhan and Cage« and prefer rock music to literature (PC 102), Hassan continues to teach and write about literature. He at least seems to consider fiction a suitable occasion to speculate about the present state of affairs. His favourite of these occasions seems to be James Joyce's Finnegans Wake, the theme of the essays N o . 3 and 4: »Joyce — Beckett: A Scenario in 8 Scenes and a Voice« and »( ): Finnegans Wake and the Postmodern Imagination«. I n his montage o f a fictitious encounter between Joyce and Becektt i n a hotel, Hassan again presents the dichotomy between a literature o f silent emptiness and one o f fantastic overflux: now protestant Beckett represents a tendency of ascetic self-abolition, whereas catholic Joyce stands for a sensually perceptible explosion o f language: »For Joyce, pride is the form o f metaphysical revolt; for Beckett, revolt takes the form of metaphysical disgust. For Joyce, history is a large confession; for Beckett, it is a solipsist cry. Nature fills the work of one and drains the work o f the other« (PC 68). T h o u g h as i f reminded of his intention to rebel against distinctions, Hassan soon leaves the level of analytic differentiation and repairs to the
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metaphor o f the mosaic which he has chosen to illustrate not only the dynamics of literary history but also the structural mechanismus of his o w n writing: »Consciousness is play and pattern« (PC 69). But whereas in the mosaic the relations between the elements are subjected to permanent change, Hassan imagines a dialectical fusion o f the contradictory tendencies represented by Beckett and Joyce: »Can Sound and Silence rejoice forever in their counterpart?« (PC 73) Through the critic's gift o f creating abstract paradox formulas they can: Perhaps nothing is ever exhausted. Even the serpent swallowing its tail, and the artist eating his flesh. Even the silence o f anti-literature. The cannibalisms o f language may prove a critique of consciousness; the destructive principle o f the W o r d
may
formulate a new creation myth. Else we are all embodiments o f the negative [. . . ] Perhaps we are nothing else. Perhaps man incarnates the square root o f minus in all creation (PC 72/73).
The apparent oppostion, which so far has been marked by the antipodes of Silence and Sound, abolition and transcendence, Beckett and Joyce, is now carried into Hassan's choice o f the masterwork of the postmodern imagination itself: Finnegans Wake. Studying the fourth Paracriticism, the reader learns nothing basically new about Joyce's work. Hassan confesses from the start that he is »no deep reader o f that book«; that he has »little to say that w i l l illuminate its puns and patterns; its susurrus and sources«. Despite this interpretive disinterest he is convinced »that the w o r k stands as a monstrous prophecy« (PC 77), which merges the antipodes he already set to describe contemporary fiction: »I call Finnegans Wake not only a death book but also a book o f life, not simply an end but a progress as well« (PC 79). According to Hassan's argument, Joyce did not really ever conceive »a difference between birth and rebirth, occurence and recurrence« (PC 94). I n Finnegans Wake the main structural principle for Hassan is that o f coincidence; and just like the critic's metaphor o f the mosaic it contains both »identity and accident, recurrence and divergence«, and »the frightening disorder every fanatic order itself implies« (PC 85). These last words reveal why Hassan reads Finnegans Wake as an incarnation of the postmodern imagination. For him, the postmodern constellation presents not only a reverse of modernist assumptions, but it merges the contradictory concepts w i t h i n a dialectical simultaneity. I n this sense, postmodernism as the overcoming of irreconcilable dichotomies includes the sum o f the antagonistic movements of the past. O n the basis o f this concept o f polyphonic trivial and folkloristic elements o f Finnegans postmodernism in Leslie Fiedler's sense o f Fiedler identifies w i t h postmodern, is never
plurality, Hassan interprets the Wake as indicators of a literary the term: »Pop, which Leslie far from the edge o f Finnegans
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Wake « (PC 81). As a truly postmodern work, Joyce's w o r k does not only challenge modernist antagonisms, but it ultimately unites them: »Finnegans Wake carries the tendencies o f high art and popular culture to their outer limits, there, where all tendencies of mind may meet; there, where the epiphany and the dirty joke become one. I f this still be elitism, it is elitism of a certain kind« (PC 81). A t this point, one may be allowed to rise a question about the comprehensibility o f not only Finnegans Wake but even more o f Hassan's Paracriticisms. Whereas Joyce wrote for a highly learned reader who was to dedicate a large amount o f time to study the master's work Hassan shares Leslie Fiedler's demand to reach out beyond the interests o f an academically schooled audience. Yet, to follow and to appreciate Hassan's eclectic critical collages from materials o f all different kinds o f theoretical and literary scources, the reader's knowledge in these fields cannot be large enough. Thus it has remained wishful thinking that the paracritical essays ever were to reach a degree o f popularity authors like R . D . Laing, Norman O. Brown, Carlos Castaneda or Herbert Marcuse had gained among younger audiences. But the illusionary assumption of a wide-spread new sensibility toward new critical modes is above all a consequence o f the central crux i n Hassan's argumentation. This crucial point lies exactly between what he intends to overcome and what he wants to achieve; between his still antiauthoritarian impetus against the hegemony of established criticism and his vison o f a Utopian fusion of all antinomian theoretical positions. Hassan's problem is that, i n order to challenge the prevailing critical methodology, he has to offer alternatives that have to differ radically from the postitions which had held fast so far. Since, however, at the center o f his alternative lies the intention to overcome a way of thinking which is based on meaning differentiation through opposition, Hassan deprives his apparent alternative of all possible theoretical relevance. This theoretical dilemma becomes obvious in his attempt to clarify the problematic term postmodernism in his second paracritical essay. Here, Hassan suggests a number of postmodern concepts which have apparently come to replace the features of modernism (»urbanism, technologism, dehumanization, elitism, irony, abstraction, primitivism, eroticism, antinomianism, experimentalism«, PC 48-51). By confronting each aspect of modernism w i t h a variety o f simultaneous >isms< typical for postmodernism, Hassan tries to illustrate his argument that postmodernism has not simply outdated modernism, but that the latter is integrated and deprived of its rigorous convictions i n a constellation of polyphonic multivocation. But the term postmodernism itself shows that the problem o f historical periodization remains crucial: the prefix >post< suggests a temporal and historical linearity which many postmodernist theoreticians deny; the dilemma being that postmodernism can only
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identifly itself though an included opposition to the modernism it claims to integrate, not just to outmode. Since Hassan refuses to >argue< (in the conventional discursive manner) for the relevance of his positions, he leaves, at least i n his Paracriticisms, nothing more than a diffuse collection of contradictory suggestions, handed over to the anonymous processes o f meaning constitution which are said to be no longer controlled by an intelligent subject, but by the structural pattern o f coincidence. Total deconstruction o f literary judgement, discursive argument and the possibility o f theoretical relevance are the ultimate consequences o f Hassan's attack on the medium of criticism. O n a professional level, Hassan did not have to worry about the theoretically motivated irrelevance o f his critical positions: his writings continue to be published; and during the past few years, he has been considered more frequently as a particularly typical incarnation o f the dilemmata o f a postmodern criticism. 2 0 O n a metaphysical level, however, Hassan appears all the more concerned about the widening g u l f between theoretical deconstruction and spiritual reconstruction. The new lack of ethical commitment occupies him to such an extent that his literary essays have undergone a striking transformation from theoretical analysis to prophetic speculation. Hassan's t w o pieces about Finnegans Wake can be read as an illustration o f the author's move from literary themes to larger spiritual projects: in the end o f No. 4, Finnegans Wake simply »aspires to the condition of a universal consciousness« (PC 90). As i f this evaluation wasn't universal enough, Hassan further expands his perspective to a conspicously religious outlook that closely resembles the religious mysticism we find in Leslie Fiedler's »Cross the Border — Close the Gap«: Yet having emphasized the prophetic sense o f Joyce's master riddle, part o f me cries (yes, it is the cry o f some exorbitant hope akin to pride): Human destiny may be larger than this vast, retrograde, and reversible riddle implies [ . . . ] Is this enough for the largest effort o f the imagination in our time? Unabashedly, I w o u l d ask not only to save the heavy ark, nor only seek the rainbow sign in the sky, but even to become the very matter o f which all rainbows are made. O r perhaps more: N E W L I G H T . . . (PC 94).
A t this point we w i l l leave Ihab Hassan, since he seems to have decided to leave literature and its theoretical contexts. The interpretation o f literary texts and its methodological reflexion finally had to make room for a blatantly subjective spiritual idealism, producing teleologica! visions of the spuriously
20 See for example Hassan's t w o essays in Hoffmanns Der zeitgenössische amerikanische Roman, vol. 3, p. 354-373.
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religious sort Susan Sontag criticized i n her early essay »Piety Content«.
without
Conclusions Asked whether the fictional experiments o f the sixties and early seventies could be a valid response to the history o f fiction, Susan Sontag answered Joe David Bellamy in 1972: I think it's a dead-end response, a decadent response that is often very creative as long as it lasts. But it can't last very long [ . . . ] I f by >valid< you mean does it answer a real need, yes, it does. It's harder and harder to take things straight. Everything seems to come in quotation marks w i t h its o w n built-in ironies. But I ' m not sure that the situation is going to go on very l o n g . 2 1
T o substantiate her forecast o f a change i n the development o f fiction Sontag argues: »It's important to remember that the discussion we're having has to do w i t h where we are politically and morally, and is limited by who we are sociologically and historically.« 2 2 T w o years later, in his introduction to his book on contemporary American fiction, Hassan criticizes Sontag as following: »Her insights into art and society falter when, insisting too much on her hard-edged intelligence, she evades the emotional or spiritual nuances of her subject.« 23 Whereas Sontag maintains a critical distance from the topics she writes about and reminds us of the historicity not only of the works o f literature but o f all critical judgement itself, Hassan, in his Paracriticisms, attempts to become the living incarnation o f Leslie Fiedler's 1970 appeal for a postmodern literary actionism. Instead of describing, Hassan invents; instead o f analyzing, he indulges in personal impressions on a variety o f themes; instead of evaluating, he hands the responsibility to judge back to the reader. Above all: he substitutes critical analysis by a pseudo-artistic mimicking o f metafictional techniques. W i t h the Paracriticisms, literary criticism has been turned into a happening as far as the printed medium allowed. By transforming his criticism into an eclectic embodiment o f Pop aesthetics, Hassan has risked subjecting his w r i t i n g to the ostensible historicity of aesthetic fads. From today's perspective, the Paracriticisms are, after all, as much products of their time as the tracts of Timothy Leary, the music o f Pink Floyd or the paintings o f Roy Liechtenstein; w i t h the slight difference that Hassan had set out to explore the premises and implications o f criticism beyond their historical contextuality. 21 Joe D a v i d Bellamy, The New Fiction. Interviews (Chicago, 1974), p. 128. 22
Ibd., p. 129.
23
Hassan, Contemporary American Literature, p. 18.
with Innovative American Writers
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L o o k i n g for critical alternatives to the writings o f Ihab Hassan, one does not have to be as angry a jugde as Robert Scholes: Once we knew that fiction was about life and criticism was about
fiction
and
everything was simple. N o w we k n o w that fiction is about other fiction, is criticism in fiction, or metafiction. A n d we k n o w that criticism is about the impossibility o f anything being about life, really or even about fiction,
or finally, about anything.
Criticism has taken away the very idea o f >aboutness< from us. I t has taught us that language is tautological, i f it is not nonsense, and to the extent that it is about anything, it is about itself. Mathematics is about mathematics, poetry is about poetry, and criticism is about the impossibility o f its o w n existence. 24
Contrary to what this cynical evaluation of the representatives o f radical self-reflexion might suggest, the counter-cultural and interdisciplinary impulses o f the sixties have found a stronger response than many of the conservative critics had thought possible. The student protest movements led to a reorganization of university education; new ways o f teaching and different literary canons were accepted; new departmental branches (Comparative Literature, Women's Studies) arose and new journals like New Literary History in 1969 and Diacritics i n 1970 were founded. A greater availability o f financial resources made possible interdisciplinary projects, symposia and visiting professorships, all o f which fostered the >import< o f new versions o f European philosophical and psychoanalytical thought. These intellectual challenges endowed the theoretical debates w i t h i n the American humanities w i t h an unfamiliar sense o f crisis. Lacking the theoretical guidance o f a discipline like speculative philosophy, the American humanities had always confined themselves to more pragmatic and pedagogical tasks. N o w , for the first time, a general suspicion arose »daß hier nicht nur u m literarische Positionen gekämpft, sondern auch an der Literatur eine A r t Stellvertreterkrieg der Wirklichkeitsauffassungen ausgefochten w i r d . « 2 5 A l though by the end of the 1960ies, criticism had become a highly academic and specialized university enterprise, the confrontation of American pragmatism w i t h European speculation helped to create a climate o f fundamental ambivalence: Den Theorievorbehalt hat die amerikanische Literaturkritik inzwischen aufgegeben, aber die Bürde der Verantwortung für den >ganzen Menschen< glaubt sie immer noch tragen zu müssen, und es ist diese Bürde, die sie in einer Zeit, in der die Beschäftigung mit den großen Werken der Vergangenheit mehr und mehr als kulturell marginal angesehen wird, in ganz besondere Schwierigkeiten bringt, denn
24 Robert Scholes, quoted from Charles Newman, The Postmodern Aura. Fiction in an Age of Inflation (Evanston 1985), p. 119. 25
Schlaeger, op. cit., p. 11.
The Act of
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sie reklamiert dabei ja immer noch als Adressaten der Literatur und des kritischen Diskurses eines Menschen, der in der gegenwärtigen K u l t u r offensichtlich nur noch als Ausnahmeerscheinung bzw. als Wunschbild oder Produkt einer Spezialdisziplin denkbar ist. 2 6
This evaluation o f the American critical landscape also goes for the central dilemma o f Ihab Hassan's Paracriticisms. Where the latter, i n 1975, seemed to escape into subjective cofessions and apocalyptic conjurations, other critics attempted to explore the premises o f their theoretical frameworks in a still discursive manner which did not render academic dialogue impossible. As a mediator between some of the most vital sources o f contemporary theorizing and their possible application on literary theory, Jonathan Culler has tried to establish Jaques Derrida's philosophical strategy o f >deconstruction< as a highly reflexive strategy of reading. I n his book On Deconstruction, published in 1982, Culler points out some o f the most crucial hermeneutical problems o f contemporary theorizing, as they are already relevant for the writings o f Susan Sontag and Ihab Hassan. Culler claims that every concept o f a meta-theory (be it metafiction, metacriticism or metahistory) implies that its practitioners work »within the terms o f a system, but i n order to break i t . « 2 7 The first methodological impulse to entangle oneself from this paradoxical situation w o u l d be to look for a certain external perspective from which the critic could reveal what has been excluded and repressed by the prevailing way o f seeing things without endangering his o w n position. But the deconstructive approach »appeals to no higher logical principle or superior reason but uses the very principle it deconstructs« ( O D 87). This case o f methodological >Catch 22< puts the critic in a position »not of sceptical detachment, but o f unwarrantable involvement« ( O D 88); his attempts to demask the traditional devices o f argument demonstrate nothing than the indi spensabili ty of those very means. Theoretical discourse, Culler claims i n accordance w i t h Derrida, defines itself »in opposition to itself«; and this opposition must be regarded as »a structural property o f the discourse itself« ( O D 89). Thus, it is difference and not harmonic concurrence (as Hassan hoped in 1975) which continues to constitute all theoretical discourse. Despite an overabundant variety o f plausible critical approaches, the difference between a theoretical suggestion and its well-founded opposition is still the motor o f any venture in literary theory:
26 27
Ibd. p. 12.
Jonathan Culler, On Deconstruction. Theory and Criticism after Structuralism 1982), p. 86; subsequently quoted as O D w i t h pagenumbers give in brackets.
(Ithaca,
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Literary critics, dismayed by the proliferation o f interpretations and the prospect o f a future in w h i c h w r i t i n g w i l l breed ever more w r i t i n g so long as academic journals and university presses survive, frequently imagine ways o f bringing w r i t i n g to an end by reformulating the goals o f literary criticism to make it a true discipline. Claims about the true purpose o f criticism usually define tasks that could in principle be completed. They invoke the hope o f saying the last word, arresting the process o f commentary. I n fact, this hope o f getting it right is what inspires critics to write, even though they simultaneously k n o w that w r i t i n g never puts an end to writing. Paradoxically, the more powerful and authoritative an interpretation, the more w r i t i n g it generates ( O D 90).
Today, a more pragmatic attitude toward the paradoxical implications of literary criticism is spreading among scholars. I n the United States, too, selfreflexive theory has been given a proper domain in which it is understood not as »prescription o f methods of interpretation but as the discourse that results when conceptions of the nature and meanings o f texts and their relations to other discourses, social practices and human subjects become the objects o f general reflection.« 28 Equipped w i t h a more subtle awareness o f their doing, the critics can again take up the task o f interpreting the literary texts that tended to be neglected during the phase o f self-examination. Interpretation w i l l always be possible, even though it now demands a larger amount o f the critic's courage to defend its results and devices. The new variety o f critical approaches has equipped us a little better to fulfill that task Susan Sontag described i n 1964 as follows: None o f us can ever retrieve that innocence before all theory when art knew no need to justify itself, when one did not ask o f a w o r k o f art what it said because one knew (or thought one knew) what it did. F r o m now to the end of consciosness, we are stuck w i t h the task o f defending art. We can only quarrel w i t h one or another means o f defense. Indeed, we have an obligation to overthrow any means o f defending and justifying art which becomes particularly obtuse or onerous or insensitive to contemporary needs and practice ( A I 4 / 5 ) .
But since, as Ihab Hassan writes in the same year, »we perceive what we need to perceive, and our sense o f pattern as of relation is conditioned by our deeper sense o f relevance« (PC 9), we need to cultivate our awareness o f the contextual frameworks o f our judgements. This awareness does not destroy the possibility to produce valuable statements about literary texts.
28
Culler, Framing the Sign, p. 22.
Bestimmungen der amerikanischen Erzählkunst nach 1950: E i n Forschungsbericht V o n Franz Link Es kann heute als eine Selbstverständlichkeit gelten, daß die amerikanische Erzählkunst der Gegenwart ein Gepräge zeigt, das sich sehr deutlich v o n demjenigen der ersten Jahrhunderthälfte unterscheidet. Zur Diskussion steht allerdings, wie dieses Gepräge zu bestimmen ist und welchen Veränderungen es selbst wieder i m Verlauf v o n nun vierzig Jahren unterworfen war. I n Anbetracht des fast als »monumental« zu bezeichnenden Versuches von Gerhard Hoffmanns dreibändiger Darstellung des Gegenstandes Der amerikanische Roman: Von der Moderne zur Postmoderne (München, 1988) scheint es uns angebracht zu sein, i n Form eines Forschungsberichts Rückschau auf die Entwicklung der Vorstellung zu halten, die die K r i t i k v o n der Eigenart der amerikanischen Erzählkunst dieser Zeit formulierte. Sehr bald nach dem letzten Weltkrieg wurde vermerkt, daß sich die Situation, in die der Erzähler hineinsprach, wesentlich verändert hatte. Z u den Kritikern, die diese Situation zuerst zu bestimmen versuchten, gehörte John W. Aldridge mit seinem Essayband After the Lost Generation v o n 1951, vor allem mit dem Beitrag über »The Y o u n g Writer i n America: 1945-1951«. Für Ihab Hassan zeichnete sich in der ersten umfassenderen Studie des Gegenstandes die Situation »after the Lost Generation« als die der »radical innocence« aus. So unterschiedliche Erzähler wie Flannery O'Conner und Norman Mailer sieht er i n seiner Studie, Radical Innocence: Studies in the Contemporary American Novel (Princeton, 1961) darin übereinstimmen, »that violence and distortion must be the means o f projecting a vision«, (4) der die Gesellschaft seiner Zeit feindlich gegenübersteht. Angesichts dieser Gesellschaft w i r d für sie der Mensch zum »rebel or victim, l i v i n g under the shadow o f death« (5). A u f der einen Seite sieht Hassan das Selbst i m Erkennen seiner absurden Situation in der heutigen Welt sich zurückgestoßen »from the world, against itself« (ebd.), das heißt, auf sich zurückgestoßen, auf der anderen Seite w i r d dieses Auf-sichselbst-Verwiesensein zur Quelle des Bewußtseins seiner Möglichkeiten. D e m destruktiven Element seiner Situation gesellt sich dementsprechend ein konstruktives bei. V o n dem Menschen seiner Zeit heißt es schließlich, daß er »flawed i n his sainthood and grotesque i n his criminality, he finally appears as an expression o f man's quenchless desire to affirm, despite the voids and 22 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
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vicissitudes o f our age, the human sense o f life!« (6). Diese Qualität seiner Leidenschaft, seines Bewußtseins, bezeichnet er als seine »radical innocence« (ebd.). M i t dieser Bestimmung kennzeichnet Hassan zunächst den modernen Menschen schlechthin. Sie entspricht mehr oder weniger derjenigen, die auch der europäische Existentialismus vertritt. Ihre amerikanische Note erhält diese Bestimmung, wenn Hassan diese »innocence« als die herausragende Eigenschaft des »mythic American Seif« (ebd.) identifiziert. Hinter der »radical innocence« sieht er schließlich »a radical plea for the Seif« (325), und dieses Plädoyer für »the aboriginal Seif« (ebd.) sollte sich i n Hassans weiterem Schaffen bis zu seinem diesbezüglichen Höhepunkt i n Paracriticism (Urbana, I L , 1975) zu einer mystischen Weltanschauung weiterentwickeln. Der spätere Mystizismus zeigt sich i n seinem Kern deutlich bereits i n der frühen Schrift angelegt, wenn es i n ihr am Schluß zu der nochmaligen Definition der »radical innocence« i m Sinne des »American Dream« i m folgenden Kontext kommt: »The anarchy in the American soul is nourished on an old dream: not freedom, not power, not even love, but the dream o f immortality. America has never really acknowledged Time. Its vision o f Eden or Utopia is essentially a timeless vision. Its innocence is neither geographical nor moral: it is mainly temporal, hence metaphysical. This is a radical innocence« (ebd.). N o c h enthusiastischer heißt es eine Seite weiter: »After the death o f God, proclaimed by Nietzsche, the dissolution o f society was inevitable. Only the Self remained. A n d the V o i d all around it. The modern soul is eternally poised o f the eve o f Creation. This is the song American literature sings« (326). M i t dieser v o n i h m selbst als »broad existential view« bezeichneten Betrachtung der amerikanischen Literatur i m allgemeinen und der amerikanischen Erzählkunst seiner Zeit i m besonderen w i r d Hassan seinem Gegenstand dabei kaum gerecht. Die Hauptautoren, die er heranzieht sind Carson McCullers, Truman Capote, J. D . Salinger und Saul Bellow. Es handelt sich bei Hassans »doctrine« (7) eher u m seine Vision einer Literatur seiner Zeit oder — nach seiner Konzeption — der Zeitlosigkeit. Z u m Teil stellt sie auch eine Vorwegnahme der alsdann in dem auf das Erscheinen der Studie folgenden Jahrzehnt einsetzenden experimentellen Erzählkunst mit ihrer Dekonstruktion der herkömmlichen Wirklichkeit und der fabulistischen Konstruktion neuer Wirklichkeiten dar. Den alten »American Dream« sieht er dabei durch einen neuen ersetzt: I t is the national desire to placate the guilt and the arrogance o f America's monstrous vision, a vision which broods over gothic horror and the blackness ten times black as symbolic expression o f the demonic aspirations o f the Self. I t is the novelist's desire to create order under the conditions o f chaos, and possessing the energy thereof.
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[ . . . ] A n d it is the desire o f all human beings alike to discover in literature images o f their unacknowledged life. [. . . ] The curse o f Columbus is still w i t h us: every one must rediscover America for h i m s e l f — alone!« (335 f.).
Als Propagator der experimentellen Erzählkunst gilt dann Ihab Hassan auch bis heute. Es n i m m t daher nicht wunder, wenn i h m Gerhard Hoffmann das Schlußwort zu seiner dreibändigen Darstellung des Gegenstands überläßt. I m eigentlichen Sinne orientiert sich seine K r i t i k keineswegs mehr an dem Corpus von Werken, die nach allgemeinem Konsensus die amerikanische Erzählkunst nach 1950 ausmachen. Seine Literature of Silence (New York, 1967) beruft sich z.B. auf Henry Miller und Samuel Beckett als deren Exponenten. V o n der modernen amerikanischen Erzählkunst ausgehend entwickelt er seine eigene Analyse des »Zeitgeistes«. Dabei w i r d der Rückzug des Ich aus Radical Innocence — mit immer stärkerer Berufung auf Nietzsche — zu einem Rückzug aus der apollinischen Welt des Geistes und zu einer Rückkehr i n die chaotische Welt des Dionysus. Literatur — wie Kunst überhaupt — stellt sich dabei selbst in Frage oder w i r d zur »Antiliteratur« oder »Aliteratur«. »The negative, acting through art, language and consciousness shapes the boundary state that I call silence« (14), heißt es in The Dismemberment of Orpheus (Madison, W I , 1971). D u r c h »silence« w i r d sich nach Hassan die Literatur der Notwendigkeit bewußt, ihre Formen, Gesetze und Methoden anzuzweifeln, zu überprüfen und zu untergraben. »Silence develops as the metaphor o f a new attitude that literature has chosen to adopt toward itself. This attitude puts to question the peculiar power, the ancient excellence, o f literary discourse — and challenges the assumptions o f our civilization« (15). »Silence« bedeutet denn auch »an innovation i n consciousness« (ebd. 216) und symbolisiert, wie es wieder i n The Dismemberment of Orpheus heißt, einen neuen Anfang: Language acquires new concreteness and reveals, at the same time, new dimensions o f the Absolute. I t opens itself to the unknown, to dream, chance, absurdity, and in so doing creates mental space for the artist, an altered perception. (79)
Literaturkritik befindet sich in solchen Aussagen auf dem Wege zur Mystik. Literaturtheorie bedarf der Ansicht Hassans nach nicht mehr einer Konsistenz. »If we need literary theory at all,« sagt er i n Paracriticism: Seven Speculations of the Times, »it is a theory o f playful discontinuity« (24). Es kommt nicht mehr auf die L o g i k der Argumente zur Gewinnung eines Sinnes an, sondern allein auf ein Umsetzen i n Handeln, u m eine äußerste Erweiterung der Seele zu erreichen, die er w o h l meint, wenn er von »mind« spricht. The theme o f this paracritical essay is the g r o w i n g insistence o f M i n d
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to apprehend reality im-mediately; to gather more and more m i n d in itself: then to become its o w n reality. Consciousness becomes all. A n d as in a gnostic dream, matter dissolves before the L i g h t . (122 f.)
U m zu diesem Bewußtsein zu gelangen, »everything that rises must converge«, u m ein Zitat v o n Teilhard de Chardin zu gebrauchen, dessen sich Flannery O'Conner als Titel einer ihrer Kurzgeschichten bedient. Dieser »New Gnosticism«, als was Hassan diese Vorstellung bezeichnet, »eludes distinctions o f the old mind, seeking unknown synergies« (127). D o c h handelt es sich eigentlich u m nichts anderes als Entropie. Auch Hassan verwendet den Begriff der Entropie, doch nie als ein endgültiges Ende oder als Ende v o n Leben überhaupt, sondern eher als Rückkehr ins reine, nur undifferenzierte Leben. »Paracriticism« seiner A r t soll zu einem »New Gnosticism o f American Literature« führen. Ihab Hassan wäre damit dessen Prophet. O b w o h l bei i h m viel die Rede ist v o n Prometheus, Osiris oder Orpheus, durch die auf eine Wiedergeburt verwiesen wird, und obwohl er von Dingen spricht, die sich jenseits des Schweigens zeigen oder ereignen sollen, bleiben diese für den Leser — wenn nicht auch für Hassan selbst — ein Geheimnis. Hassans Vorstellung gelangt zu ihrer letzten Apothese, wenn am Ende von Paracriticism das v o l l entfaltete Bewußtsein seines neuen Gnostizismus identisch w i r d mit der Realisation des »American Dream« als eines Neuen Atlantis: Atlantis recedes, America grows. Yet w i t h i n the moist, dark imagination, men and woman still seek alternative realities o f plastic plains and cities o f steel. They seek, beyond »struggling afflictions«, Blake's prophesy o f America: »another portion o f the infinite.« I t is not a place: there is an informing power o f the m i n d that neither »Atlantis« nor »America« circumscribes. I t is all together human and more than human. (176)
Die Studien Hassans nach derjenigen zur Radical Innocence betreffen unseren Gegenstand oft nur peripher; w i r gingen dennoch auf sie ein, da er die weitere Entwicklung der K r i t i k nicht unbeträchtlich mit ihnen beeinflußte. Z u einer ganz anderen Bestimmung der amerikanischen Erzählkunst nach der Jahrhundertmitte als Hassan gelangt Marcus Klein i n seiner Studie After Alienation : American Novels in Mid-Century (Chicago, 1964). Für ihn bestimmt sich die Situation »after the Lost Generation« als diejenige der »accomoda-
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tion«. »Accomodation« w i r d v o n Klein, wie schon der Titel seiner Studie besagt, in Abgrenzung zur »alienation« in der vorausgehenden Periode zwischen den beiden Weltkriegen bestimmt. »In the first years of this century and for almost half a century the novelist worked typically, it may be said, w i t h i n a mood — though not necessarily a conviction — of usefulness, and his usefulness was precisely that he was outside this Philistine, this commercial, this restrictive American society, and therefore i n a position to be its critic and a rebel« (17, nach der Meridian Books Ausgabe 1965). Als Propagatoren der Position dieser »Strategie« der »alienation« betrachtete er v o r allem Van Wyck Brooks and Randolph Bourne. Die Distanz, i n die der Schriftsteller geraten war und i n die er sich stellte, gab i h m die Möglichkeit, die Gesellschaft, der er sich entfernte, besser zu kritisieren. D o c h nach 1945 hatte die Gesellschaft, der sich der Schriftsteller »entfremdet« hatte, begonnen, sich so zu wandeln, daß »the revolution i n behalf of an alienated engagement found itself ancient, respectable, and irrelevant to the social reality« (25). Die neue Situation der »accommodation«, i n die sich der Schriftsteller nun gestellt sieht, umschreibt er als eine »Gemütsverfassung« (»mood«): By »accommodation« I mean to refer to a m o o d i n the best o f our contemporary literature, the mood that occurred when rebellion had exhausted itself, when suddenly the manner in w h i c h the individual — the intellectual, the writer, any man — might meet society was no longer so certain, when there was no politics to speak o f and when there were no orthodoxies to speak o f to restrict one's freedom, and when all theories o f society had been shattered. (29)
Sehr deutlich w i r d dabei die kritische Ausgangsbasis v o n Kleins Denken selbst. Sie orientiert sich an der gesellschafts- und bewußtseinsverändernden Potenz des literarischen Schaffens, die er i n der Erzählkunst seiner Zeit nicht mehr gegeben sieht. »Accommodation« ist bei i h m aber nun kaum als »Anpassung« zu verstehen, sondern eher als ein »Abfinden« mit einer Situation, die eine Vielfalt v o n Möglichkeiten der Orientierung anzubieten vermag. K l e i n kommt dabei der These von Tony Tanner sehr nahe, die es noch zu beschreiben gilt, daß der amerikanische Schriftsteller schon immer, i m besonderen Maße aber zu unserer Zeit in der Spannung steht zwischen freiem Gestalten seiner Welt und der Abwehr von Fremdbestimmungen. So sieht K l e i n als besten Ausweg des zeitgenössischen Erzählers aus dem Dilemma »a cautionary, tentative accommodation .« Er bewegt sich zwischen »engagement« und »disengagement«: The hero begins in freedom o f the self and discovers that he is isolated. The hero chooses community [ . . .] and he discovers that he has sacrificed his identity, and his adventures begin all over again. (30).
Die fünf Autoren, die K l e i n unter dem Aspekt der »accommodation« dann betrachtet, sind Saul Bellow, Ralph Ellison, James Baldwin, W r i g h t Morris,
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Bernard Malamud, vier davon bezeichnenderweise Autoren einer ethnischen Minderheit, der fünfte heute weitgehend vergessen. Norman Mailer und Truman Capote scheiden aus seiner Betrachtung aus, da sie sich für ihn noch der vorhergehenden Periode verpflichtet sehen. Der Erfolg von After Alienation führte zu der Sammlung von Essays zu dem Gegenstand, The American Novel Since World War II (Greenwich, CT, 1969), i n dessen Einleitung Marcus K l e i n die Thesen seiner vorausgegangenen Publikation weiterentwickelte. Die »accommodation« w i r d dabei zu »a continuous adjustment o f hysterias«, zu dem das private wie das öffentliche Leben getrieben werden (23). Z u W o r t kommen nun aber in dem neuen Band auch Norman Mailer, den er zuvor eher auszuschließen versuchte, sowie die eine neue Weise des Schreibens ankündigenden experimentellen Erzähler wie John Hawkes, William H . Gass und John Barth, die inzwischen von Robert Scholes als »Fabulators« Beachtung gefunden hatten. Robert Scholes' Studie The Fabulators (New Y o r k , 1967) führte in eine ganz andere Richtung als die bisher besprochenen Werke. Die neue Richtung w i r d besonders i m Titel ihrer wesentlich erweiterten Fassung v o n 1979 deutlich: Fabulation and Metafiction (Urbana I L ) . Sie unterscheidet sich von den bisher betrachteten Studien einmal dadurch, daß sie Autoren außerhalb der Vereinigten Staaten einbezieht wie Laurence Durreil, Iris Murdock und — später — John Fowles, zum anderen dadurch, daß sie auf eine neue Weise des Erzählens abhebt, die als charakteristisch zunächst für die sechziger Jahre betrachtet wird, sich in den siebziger Jahren fortsetzt, aber auch ihren Höhepunkt bereits überschreitet und von i h m als »metafiction« bezeichnet wird. Z u ihr gehören aus dem Bereich der Vereinigten Staaten K u r t Vonnegut, John Hawkes und John Barth, später Donald Barthelme, Robert Coover, William H . Gass und Raymond Federman. Flannery O'Connor, Saul Bellow, Philip Roth oder James Baldwin spielen bei Scholes keine Rolle. Entscheidend für die Bestimmung des »Fabulierens« sind für Scholes die Abkehr von dem Bestreben, der erfahrbaren Wirklichkeit direkt gerecht zu werden, und die Freude am Erzählen als solchem. Z u letzterem gehört auch die Freude an der Kunst des Erzählens, an der Form, wie erzählt wird. Kennzeichen des Fabulierens ist dann »Delight in design, and its concurrent emphasis on the art o f the designer« (3). Die Phantasie des Fabulierers ist dabei aber »ethically controlled« (ebd.); sie dient einem didaktischen Zweck. Bei der Bestimmung der i n der Erzählkunst dargestellten Wirklichkeit beruft sich Scholes auf Charles Saunders Pierce, nach dessen Vorstellung Wirklichkeit immer nur das von uns als wirklich Vorgestellte zu sein vermag. Die Erzählkunst wendet sich damit nicht v o n der Wirklichkeit als solcher ab, sondern nur v o n einer positivistisch verstandenen Wirklichkeit.
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Des weiteren knüpft Scholes wie die meisten der von i h m behandelten Autoren an Jorge Luis Borges an, vor allem an dessen Vorstellung von der unüberbrückbaren Opposition v o n Sprache und Wirklichkeit. Er wendet sich allerdings gegen die Interpretation, Borges betrachte die Sprache nur als »selfreferential«, unfähig, über sich hinaus zur Wirklichkeit vorzudringen. Vielmehr sieht er Borges' Sprachverständnis daraufhin angelegt, daß die Sprache zwar nicht mit der Wirklichkeit gleichgesetzt werden kann, sich aber auf sie zubewegt. Als Vermittler zwischen Sprache und Wirklichkeit sieht Scholes i m Einklang mit Borges die Allegorie, da sie sich nicht auf Sprache, sondern auf Zeichen beziehe. Nach einem Bilde v o n H . G. Wells w i r d Kunst dabei zu einer Karte: »Of the world, art is merely a map, but it is a map that points accurately to things that are there i n reality« (13). Die neue Erzählkunst w i l l damit nichts anderes, als der Wirklichkeit, wenn auch auf Umwegen, besser gerecht zu werden als der bislang dominierende »Realismus«. Sie versucht, eine Wirklichkeit einzufangen, die jenseits ihrer jeweiligen Erscheinungsformen angesiedelt ist, eine »reality beyond reality, which enables it to survive as myth«. Bei der Interpretation der einzelnen Werke erweist sich diese »Wirklichkeit als Mythos« immer wieder als bloßer Entwurf. D o c h steht dieser E n t w u r f in einer kreativen Spannung zu der sonst uns bekannten Wirklichkeit. Diese Spannung zeigt Scholes am Werk v o n John Barth; sie kann aber als gültig auf die ganze v o n ihm als »experimental« oder »metafictional« betrachtete Erzählkunst generell übertragen werden: Because life is a rather badly made funhouse, the artist tries to imagine a better one. Because G o d was a realist, man must be a fabulator. The energizing power o f Barth's universe is the tension between the imagination o f man and the conditions o f being which actually prevail. (119).
Insofern es in der Studie v o n Scholes nur u m eine besondere Richtung der Erzählkunst der sechziger Jahre geht, die ihren Höhepunkt i n den siebziger Jahren bereits überschritten hat, käme ihr nur eine untergeordnete Bedeutung für die Betrachtung der amerikanischen Erzählkunst i n ihrer vollen Breite zu. Sie bedarf aber allein deswegen der besonderen Erwähnung, insofern seit dem Erscheinen ihrer ersten Fassung eine ganze Reihe von Studien speziell zu der »new fiction« entstanden, die z . T . den von Scholes formierten Werkkorpus tradierten und die in der »new fiction« die allein bedeutsame Erzählkunst ihrer Zeit sahen. Andere z. T . schon etablierte Autoren sahen sich genötigt, sich der Tendenz des »experimentellen Erzählens« anzupassen oder sahen sich unberechtigterweise v o n der K r i t i k vernachlässigt. Einige der Studien zu der »new fiction« seien i n unserem Zusammenhang genannt. Der ersten Fassung der Scholes'schen Studie zeitlich am nächsten steht davon diejenige v o n Raymond Olderman, Beyond the Waste Land: A Study of the American Novel in the Nineteen-Sixties (New Haven, 1972). Wie sein
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Vorgänger diagnostiziert er die »new fiction« als Kunst des Fabulierens, kennzeichnet sie jedoch i m Unterschied zu i h m als Spiegelbild der »absurdity o f ordinary life«. Sehr deutlich setzt Jerome K l i n k o w i t z i n Literary Disruptions: The Making of a Post-Contemporary American Fiction (Urbane, I L , 1975) die Erzählkunst der sechziger Jahre v o n der der fünfziger ab. Updike, Roth, Bellow oder Malamud haben seiner Ansicht nach dem Leser seiner Zeit nichts mehr zu sagen. Die Formen, deren sie sich bedienen, vermögen die Wirklichkeit ihrer Zeit nicht mehr zu fassen. D o c h auch Barth oder Pynchon genügen nicht den Ansprüchen, die er an die Erzählkunst der Zukunft stellt. Beispiele sind für ihn Coover, Steve Katz, Brautigan, Vonnegut, Donald Barthelme, Kosinski, James Park Sloan, Sukenick, Federman oder Sorrentino. N o c h ungewöhnlicher w i r d dann die Auswahl i n dem Folgeband Literary Subversions: New American Fiction and the Practices of Criticism (Carbondale, I L , 1985). Z u den neuen Namen zählen John Irving, Thomas McGuane, Richard Yates, Dan Wakefield oder T o m Glynn. Die wichtigste Studie v o n Seiten der deutschen Forschung, The Story of Identity: American Fiction of the Sixties (Stuttgart 1979) v o n Manfred Pütz versucht sogar eine Periodisierung. Zunächst übernimmt sie von K l e i n die Abgrenzung der Erzählkunst der fünfziger Jahre als gekennzeichnet durch »accomodation« gegenüber der »alienation« vor 1950. Die nächste Phase sieht sie in der Gegenkultur der »beats«, »hippies, u.a., die i n den späten fünfziger Jahren begann und »an anarchic creativity« feierte, »which did not mind what it created as long as it could go on creating. The self was no longer to be established as a separate, independent entity holding on to itself« (41). Den Anfang der »new fiction« sieht Pütz dann gegeben, wenn einige der Charaktere »were struck w i t h apoplexy and instantly became petrified non-persons« (41) wie Jacob Horner i n John Barths The End of the Road (dies schon 1958). Die Lösung, die diese »non-persons« zu finden versuchen, »involves a specific use oft the creative imagination and a re-application o f m y t h to history and everyday life« (42). Den gemeinsamen Nenner der Romane der sechziger Jahre, die er untersucht, sieht er darin, daß sie »fictionalized forms o f a transcending movement o f given contexts« transkribieren, be it the context o f an epoch and a country (Barth), contemporary society (Brautigan), a cultural and historical context (Pynchon), a form o f personal being (Rhinehart), or the context o f literary genres and conventions (Sukenick, Nabokov). A n d it is in the course o f such movements that i n Barth mythopoetic concord-fictions are tested as a means o f fictional self-creation; that in Pynchon fictions o f history become the alleged precondition for a realization o f the self; that in Brautigan a revival o f the myths o f pastoral Utopia and new Arcadia are attempted; that in Rhinehart the fable o f identity turns self-conscious and leads to the self-negation o f fictional autobiogra-
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phy; and that i n Sukenick and N a b o k o v authors begin to play upon and to parody an exhausted formula by shifting its controlling focus from the level o f histoire to that o f discours and manipulated reader response. The overall course charted i n the works in question thus describes a development which marks perhaps the most decisive feature o f American »new fiction« as such: subject matter and thematic concerns are gradually transposed from problems of fiction
fictional
characters to problems o f the character o f
and from there to problems o f the reader's attitude towards and participation
in the act o f fictional communication. (60).
Larry McCafferys The Metafictional Muse: The Works of Robert Coover, Donald Barthelme, and William H. Gass (Pittburgh, 1982) behandelt zwar ausführlich nur die i m Untertitel genannten Autoren, formuliert aber i n seinem einleitenden Kapitel auf kürzestem Raum noch einmal die theoretischen und historischen Grundzüge von »metafiction«, deren Blütezeit er für das Jahrzehnt von 1965 bis 1975 ansetzt. Abweichende Bestimmungen finden sich in Charles Caramellos Silverless Mirrors: Book, Self Reality< Status, its Historical Development and its Transformation« (REAL, Bd. 1, 1982, S. 267364) vor, die wie andere seiner Untersuchungen in seine umfassende Darstellung des zeitgenössischen Romans von 1988 eingegangen ist. Hoffmann sieht die »metafiction« als Endprodukt einer stufenweisen Verabsolutierung des Phantastischen. »The history of the fantastic,« heißt es bei ihm, »can be seen as a gradual radicalization o f the ways i n which various levels o f narration are >fantasizedreal< explanation, interpretation or understanding o f the w o r l d or the self. (362)
Die postmodernen Romane werden damit für ihn zu »radical experiments« (362). Die genannten »aspects« sind »the only reality« (ebd.). Die »true unification«, die für ihn der postmoderne Text durch das Phantastische erreicht, liegt »in the endlessness o f the possibilities of the imagination to
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create.« Darin sieht Hoffmann wie Ihab Hassan »a humanizing perspective« (364). Diese positive Bewertung scheint uns nicht gerechtfertigt zu sein. I n der »Verunendlichung« der Möglichkeiten werden diese willkürlich und führen nicht zu einer einen Sinn notwendig werden lassenden Vermenschlichung, sondern zu einer entmenschlichenden Sinnentleerung, wie menschlich die Intentionen einzelner Autoren auch gewesen sein mögen. Die Diskussion über die Bestimmung der amerikanischen — und nicht nur der amerikanischen — »metafiction« geht weiter und noch 1987 betrachtet sie Brian McHale i n Postmodernist Fiction (New Y o r k ) als die allein bedeutsame Erzählkunst seiner Zeit. E r beschränkt sich auf die experimentellen Schriftsteller i m engeren Sinne. Den Übergang v o n »Modern« zu »Postmodern« mitberücksichtigend, behandelt er u. a. Beckett, Robbe-Grillet, Guentes, Nabokov, Coover und Pynchon. Autoren wie Bellow oder Updike fallen nicht unter seine Bestimmung. Da w i r in bezug auf die experimentelle Erzählkunst zeitlich vorgegriffen haben, sei an dieser Stelle auch auf ein Buch über die Kurzgeschichte der Zeit kurz eingegangen, da sich auch in dieser die Bedeutung des Einbruchs der neuen Erzählkunst niederschlug. Dabei handelt es sich u m Gordon Weaver, ed., The American Short Story, 1945-1980 (Boston 1983). Etwas schematisch nach dem Erscheinungsdatum der Geschichten oder Sammlungen von Geschichten vorgehend hat das Werk einen stark enzyklopädischen Charakter. Es dokumentiert jedoch einerseits die Kontinuität der »traditional formal conventions«, auf der anderen Seite, beginnend mit Gass, die Erzählung »of formal experimentation and innovation« ( X I ) . Für die Zeit v o n 1945 bis 1956 sieht Jeffrey Walker die Thematik vor allem bestimmt durch die Identitätssuche oder durch die Auseinandersetzung der Personen mit einem ihnen auferlegten gesellschaftlichen Rahmen, der für sie als unannehmbar erscheint. Eine ähnliche Thematik zeigt Ε. P. Walkiewicz auch in den v o n 1957 bis 1968 veröffentlichten Geschichten. Nach James C. Robinson geht es auch noch i n der folgenden Zeit darum, »to find some moral base in society i n general or groups w i t h i n it on which contemporary characters can mount and articulate a vision o f individual identity and culture« (13). Deutlich w i r d dabei aber auch, wie i n den 60er Jahren die Rassenkonflikte und Vietnam die Thematik beherrschen. Shirley A n n Graus The Black Prince and Other Stories (1954) w i r d dabei als Markstein für die Darstellung des Konfliktes u m eine afro-amerikanische Identität hervorgehoben. I m Vergleich zu Graus Sammlung w i r d an Gasses In the Heart of the Heart of the Country (1968) der Übergang zur experimentellen Kurzgeschichte aufgezeigt. »If Grau's story can be said to anticipate what was to come w i t h respect to the race >problempost-modern< America« ( X I V ) . Interessant erscheint dabei auch die Charakterisierung der drei Kurzgeschichtensammlungen von Raymond Carver. Als »epiphany« w i r d bei diesem A u t o r die Kurzgeschichte auf ein M i n i m u m eines Lebensausschnittes reduziert, die ein Wirklichkeitsbewußtsein kaum noch aufkommen läßt. E r ist kein experimenteller Erzähler wie Gass, Davenport oder Barthelme, »but his short stories do take traditional form to an extremity that begins to constitute selfconscious desertion o f established aesthetics, despite reliance on authentic dialogue and realistic action« ( X V ) . Insgesamt sind die experimentellen Erzähler i n dem Band sehr spärlich vertreten. Vielleicht ist dies dadurch bedingt, daß es für den Herausgeber noch nicht möglich erscheint, das Genre der Kurzgeschichte für seine Zeit zu definieren, gerade weil sich der experimentelle Zweig nicht mehr unter einen gemeinsamen Begriff mit der eher traditionellen Form subsumieren läßt. Die allgemeinen Darstellungen der Erzählkunst der Gegenwart setzen sich in einer Reihe gewichtiger Studien i n den 70er Jahren fort. D e n Reigen eröffnen Helen Weinberg und Jerry H . Bryant 1970 und T o n i Tanner 1971. Für Helen Weinberg w i r d The New Novel in America (Ithaca, N Y , 1970) zu einer »reaction against New Critical aestheticism and the self-protectively t h i n academic novel to which that aestheticism had brought the novel form« ( I X ) . Es ist sehr schwer, sich vorzustellen, welche Romane die A u t o r i n dabei i m Sinn hat. Dieser nicht mit Namen und Titel umschriebenen Vergangenheit setzt sie eine »rebirth o f the novel that turned toward life« (ebd.) entgegen, als deren Hauptschrittmacher sie Saul Bellow betrachtet. Die beiden anderen Hauptvertreter sind für sie Norman Mailer und J. D . Salinger. I n this renaissance o f human concern, various novelists found their story i n the self and its isolated, and therefore private and personal, search for meaningful human value; these novelists implicitly acknowledge that value besides i n or i n relation to an undefined, often undefinable, spiritual region, not in or i n relation to society, (ebd.)
Nach der Festigung ihrer Position sieht die A u t o r i n jedoch gegen Ende der sechziger Jahre wieder eine Hinwendung zu sozialen und politischen Fragestellungen: »In those later novels« — Paradigma ist für sie dabei Mailers The Armies of the Night — »one is often given a picture of that hero, but he is transformed from a seeker after self i n a larger spiritual w o r l d to a self that confronts a whole complex o f social and political structures and conventions« X V I ) . Franz Kafka sieht sie als den Pionier für das Anliegen der Erzähler der 50er und 60er Jahre, für das Leben und nicht für die Kunst zu schreiben. I m Detail ihrer Interpretation unterscheidet Weinberg dann zwei Typen v o n Romanen, den »absurden« und den »aktivistischen«. Für den letzteren spielt
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vor allem der spiritual activist [hero] eine hervorragende Rolle, wie sie ihn nach dem V o r b i l d von Kafkas K . i n Das Schloß bei Bellow, Mailer, Malamud, Roth und Herbert G o l d ausgeprägt sieht. Die allgemein existentialistische Grundhaltung dieser Helden w i r d durch »a remnant sense of the religious, or social, >condition< of the writer« mitbestimmt, wobei sie zwischen jüdischen (Kafka), christlichen und afroamerikanischen unterscheidet. Es ist — von Kafka ausgehend — für Weinberg dabei kein Zufall, »that the modernist imagination is most pronounced in Jewish writers« ( X V I I ) . Festzuhalten ist, daß Weinberg i n bezug auf die Schriftsteller der beiden Jahrzehnte noch wie selbstverständlich als »modernist« spricht. Es fällt aber allerdings auch schwer, nach ihren Kriterien, die Grenze zu der Erzählkunst vor 1950 zu ziehen, die sie zu pauschal und u. E. auch falsch charakterisiert. Autoren wie Flannery O'Connor, Truman Capote oder John Updike treten nicht i n ihr Blickfeld. Jerry H . Bryants The Open Decision: The Contemporary American Novel and Its Intellectual Background (New Y o r k , L o n d o n 1970) stellt die zur Zeit ihres Erscheinens umfassendste Studie des amerikanischen Romans von 1945 bis 1970 dar. Ihre Besonderheit liegt darin, daß sie die Romane dieser Zeit v o n dem diese bestimmenden Menschenbild her interpretiert. Dieses Menschenbild sieht er i n Anlehnung an Max Weber als das der i m Titel genannten »Open Decision« formuliert. Es läßt sich nicht kürzer und besser zusammenfassen als in des Autors eigenen Worten: I t assumes that reality lies in the individual, that the individual is subjective and ambiguous, that the preferred state is to be as much an individual as possible, that such individuality requires »true consciousness«, that from true consciousness emerges a concern for others and a sense o f human solidarity. These metaphysical and moral assumptions reflect some o f the main preoccupations o f our age. Men, bereft o f their old explanations, feel themselves adrift; condemned to freedom, find themselves terrified to choose; confronted w i t h inescapable responsibility for their actions, draw back from the risk it entails; deprived o f total explanation, continue their frustrated search for it; limited i n their strengh, are vulnerable to the apparatus; isolated in their o w n individual skins seek for love and community. (395)
I n dem Bemühen u m die Verwirklichung dieses Menschenbildes sieht er die Protagonisten der Romane zum einen durch gesellschaftliche oder institutionelle Tyrannei an ihrer Entfaltung gehindert, zum anderen durch ihren Mangel an Selbstbewußtsein unfähig, eine solche erst zu versuchen. Die erste Gruppe sieht er dargestellt erstens i m Kriegsroman — genannt werden u.a. Mailer, James Jones und Heller — , i n dem die Disziplin der militärischen Maschinerie das Haupthindernis bildet, zweitens in der »business novel«, i n der die wirtschaftliche Macht die der militärischen übernimmt — wobei allerdings sonst kaum von der K r i t i k beachtete Romane herangezogen werden — , drittens i m »hip«-Roman — genannt werden u. a. Burroughs und Kerouac
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— , in dem der Protagonist sich als moderner K a i n der »repressiveness of an industrialized, middle-class technological society« (199) zu entziehen versucht. Weniger profiliert erscheint die zweite Gruppe von Protagonisten unter dem Aspekt der »Ambiguity and Affirmation«. Zunächst behandelt Bryant das Thema der Adoleszenz (Salinger, Updike, McCullers), wonach die Helden nicht bereit sind, die Grenzen anzuerkennen, die das Erwachsensein ihnen auferlegt. Als weitere Themen erscheinen das der notwendigen Ergänzung der Wirklichkeit durch Abstraktion bei so unterschiedlichen Autoren wie James Purdy und Thomas Pynchon und das der Lösung durch »irrational faith« (258) in unterschiedlicher Weise bei Flannery O'Connor und William Styron. Allen gemeinsam — und dazu gehören auch K e n Kesey, Walker Percy und Ralph Ellison — ist »an integrity in the individual which is good in itself and which must be preserved from bad faith and false consciousness and the suffocating embrace o f system demanding conformity of its citizens« (281 f.). Allgemeiner behandelt das letzte Kapitel Autoren, die die Werte der »open decision« i n Frage stellen, sie jedoch letztlich bejahen. Die »higher consciousness«, zu der ihre Protagonisten gelangen, »is the intense awareness of these paradoxes, an awareness which does not dissolve them but which receives them as contrasts w i t h i n the unity o f organicism« (283). Die unter diesem Aspekt behandelten Autoren sind Barth, Vonnegut, Mallamud, Bellow und Mailer. A n dieser Zusammenstellung allein kann deutlich werden, daß der Leser kaum etwas über die unterschiedliche Realisation u . U . gleicher Menschenbilder erfährt. Somit erhebt sich die Frage, ob es nicht für diese selbst einer größeren Differenzierung bedurft hätte. Immerhin gewinnt Bryants Studie allein durch die Definition des Menschenbildes ihrer Zeit Gewicht, da es in der Folge i n der K r i t i k immer wieder u m den V o r w u r f des zu pessimistischen Menschenbildes v o r allem bei den experimentellen Erzählern gehen sollte. Bryants Bild ist auf alle Fälle differenzierter und fundierter, als es uns bei Brüning i n der Essaysammlung v o n Bock und Wertheim später begegnen soll. V o n britischer Seite wurde ein erster umfassender Versuch, die amerikanische Erzählkunst nach 1950 i n ihrer Besonderheit darzustellen, v o n T o n y Tanner, einem ihrer besten Kenner, i n City of Words: American Fiction 19501970 (New Y o r k , 1971) unternommen. Tanner geht dabei — ähnlich wie schon Marcus K l e i n — v o n seiner Charakterisierung der amerikanischen Literatur i m allgemeinen aus, die er durch die Spannung bestimmt sieht, die zwischen dem »Traum«, demzufolge ein voraussetzungsloses Leben möglich sei, in dem jeder seine eigene Bestimmung zu finden vermag, und der »Furcht«, fremdbestimmt zu werden, bestehe. Demzufolge sieht er auf der einen Seite den Versuch der Helden der Erzählkunstwerke, ihre eigene Welt
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zu stiften, auf der anderen, sich i n einem Netz eingefangen zu sehen, das sie selbst oder andere für sie knüpften. Dieses Dilemma des amerikanischen Schriftstellers ist für ihn eine der Hauptvoraussetzungen für den vorsichtigen Umgang mit der Sprache. Der amerikanische A u t o r ist seiner Auffassung nach sich deutlicher als der europäische des Unterschieds zwischen ihrer referentiellen und ihrer verbalen Bedeutung bewußt. Tanner spricht von dem »foregrounding«, dem Bewußtmachen der prekären Beziehungen der Sprache zur Wirklichkeit, die er schon bei den klassischen Autoren der Neuen Welt, Hawthorne, Melville, Poe, Mark T w a i n und Henry James vorgegeben sieht. Insgesamt vermerkt Tanner auch außerhalb Amerikas eine fortschreitende Unsicherheit, Wirklichkeit erfassen zu können. Die amerikanische Erzählkunst v o n 1950 bis 1970 sieht er sich aber graduell von der allgemeinen Tendenz unterscheiden. Wirklichkeit, wie w i r sie sehen, w i r d immer mehr als ein Konstrukt, als eine v o n uns erschaffene F i k t i o n verstanden. »But it is one which seems to have been entertained by American novelists o f the past t w o decades to an extent that makes it begin to look like an obsession« (29). Eine weitere Qualifikation erfolgt nicht. Es ist daher denn auch nicht verwunderlich, daß fast alle Schriftsteller, die i n diesen zwanzig Jahren ihre ersten Erfolge feierten, zu W o r t kommen, ohne nach unterschiedlichen Tendenzen gruppiert zu werden. Tanner entschuldigt sich, Autoren wie William Styron, James Baldwin oder Flannery O'Connor — die uns davon wichtigsten — nicht behandelt zu haben — Joyce Carol Oates, Robert Coover oder Ishmael Reed waren noch zu neu auf der Szene — ; die Auslassungen zeugen jedoch nicht v o n der Bevorzugung bestimmter Tendenzen. Nabokov k o m m t i n gleicher Weise zu W o r t wie William Burroughs, Ralph Ellison wie Saul Bellow; Thomas Pynchon ist i n gleicher Weise vertreten wie K e n Kesey, Norman Mailer oder John Updike. Der Wert der Studie liegt denn auch nicht so sehr i n der Charakterisierung der möglichen Zusammenhänge und Unterscheidungen, sondern i n der Interpretation der Werke einzelner Autoren. Auffallend ist, daß William Gaddis erst i n der »Conclusion« behandelt wird, dort aber immerhin versucht wird, ihn dem — nach Tanner — unverdienten Vergessen zu entreißen. I n dieser abschließenden Betrachtung w i r d übrigens zudem Donald Barthelme und Richard Brautigan ein Wert zugemessen, der deren Rezeption weiterhin wesentlich beeinflussen sollte. Die erste umfassendere deutschsprachige Studie zur amerikanischen Erzählkunst nach 1950, Brigitte Scheer-Schätzlers Konstruktion als Gestaltung: Interpretationen %um zeitgenössischen amerikanischen Roman (Wien) v o n 1975, folgt i m großen ganzen, jedoch unabhängig und gleichzeitig entwickelt, Tony Tanners These von der charakteristischen Spannung der amerikanischen Literatur insgesamt zwischen dem Glauben, frei für neue Selbstgewinnung zu sein, und der Angst, in vorgegebene Muster eingesperrt zu sein, von denen es sich zu
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befreien gilt. Die Besonderheit der österreichischen Forscherin besteht dann aber darin, daß sie diese These am Bild der Konstruktion des Hauses darstellt. Ihre »Betrachtung der Konstruktionsvorgänge beginnt bei einfachen Versuchen, sich einen Lebensraum einzurichten, wie es etwa die Helden i n Roths Romanen unternehmen«, über die Konstruktion komplizierterer Gebilde, auch gedanklicher »Konstruktionen« bis »zum Zusammenbruch des Errichteten, zu Fragmentation und Dekonstruktion« (7). Die Zerstörung endet für sie — hierzu Ihab Hassan aufnehmend — i n der »literature of silence« (7). Das Konstrukt kann »als schützend oder als beengend empfunden werden« (8). Die Palette der von ihr interpretierten Autoren folgt weitgehend einem sich schon abzeichnenden Corpus. Die weite Spanne unterschiedlicher Erscheinungsformen der Konstruktion und Dekonstruktion zeigt sie selbst in ihrem abschließenden Vergleich von John Barth und Norman Mailer. I m selben Jahr wie Scheer-Schätzlers Studie erschien auch die von Frieder Busch und Renate Schmidt-von Bardeleben herausgegebene Sammlung v o n Aufsätzen über ausgewählte Romane und Kurzgeschichten: Amerikanische Erzählliteratur 1950-1970 (München 1975). Die Auswahl w i l l »verschiedene Strömungen der zeitgenössischen amerikanischen Literatur erkennbar werden [lassen], die zum Teil in entgegengesetzten Richtungen verlaufen« (9), kann aber kaum als Bestimmung ihrer Entwicklungstendenzen betrachtet werden. Der Wert des Buches besteht in den z . T . sehr gut gelungenen Interpretationen. Leider fehlen Autoren wie Donald Barthelme, John Hawkes, Flannery O'Connor, Philip Roth oder William Styron. Frank D . McConnells Studie über Four Postwar American Novelists : Bellow , Mailer, Barth und Pynchon (Chicago 1977) hätte auch den Titel seines Vorworts tragen können »After Apocalypse«. Apocalypse ist dabei die Katastrophe des letzten Weltkriegs, durch die er einen Wandel in der »modern sensibility« eingetreten sieht, die wie die Werke Hawthornes, Melvilles und Withmans zur Mitte des 19. Jahrhunderts und diejenigen Hemingways, Faulkners und Fitzgeralds i n den 20er Jahren eine Renaissance der amerikanischen Erzählkunst ermöglichten. Die v o n i h m untersuchten Autoren sind für ihn entschieden » >post-Apocalyptic< novelists, since their fictions, carefully examined, represent not so much a continuation of the early vision o f imagination and society, but rather a reversion from that vision, literally a revision o f the modern context, an attempt to locate, w i t h i n the very center of the contemporary wasteland, mythologies o f psychic survival and social, political health« ( X I f.). Er ist sich bewußt, daß er sich für die Perspektive der meisten seiner Zeitgenossen einer Heresie verschreibt. Er begibt sich damit in etwa die gleiche Position wie John Gardner mit seiner K r i t i k an dominierenden Interpretationen der Gegenwartssituation i n On Moral Fiction (1975) und beruft sich wie dieser auf William Blake als seinen Kronzeugen. I n dessen
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Epigramm »I must create a system or be enslaved by another man's« ( X X ) sieht er das Dilemma des Dichters seit der Romantik formuliert, das die Erzählkunst nach 1945 auf ihre Weise zu lösen versucht. Die Systeme, mit denen der Mensch der Wirklichkeit eine Ordnung aufzuerlegen vermochte, haben ihre Glaubwürdigkeit verloren, doch es bedarf einer Ordnung, um mit der Wirklichkeit leben zu können. By midcentury [ . . .] the dissolution o f the m y t h o f the G o o d City seems to have attained a totality, a terminal entropy, past w h i c h there is no direction to go except toward a new cohesion, a difficult and deliberate reconsolidation o f those values the early years o f the era had so successfully dismantled« ( X V I ) .
Die Schwierigkeit der »reconsolidation« besteht für ihn darin, daß der neue »myth of the City« auf der »deceptive, shifty, unstable foundation o f our realization o f that myth's o w n fictiveness« gebaut werden muß. I t w o u l d have to find a principle o f personal authenticity, o f personal integration w i t h i n the universal cycles o f man, society, and nature, which could bear the knowledge o f inauthenticity, o f universal pointlessness, established in the visions o f Joyce, Eliot, Hemingway, and Faulkner. I t w o u l d be a fiction which could accept the reality o f man as »individual«, as living his life in demonically invested commas, and could yet make o f that reality a further »reality« which w o u l d assert the legitimacy o f his claims to importance and moral existence. ( X V I I f.)
Die Suche nach einer neuen Authentizität sieht McConnor als ein E p i t o m aller postapokalyptischen Literatur, weist aber Amerika dabei eine besondere Aufgabe zu: »it had [ . . . ] become the country i n the European cummunity o f culture where the deathly difficulties o f the city might find their most complete imaginative expression and, hopefully, their most satisfying imaginative solution« ( X X V I ) . I m Gegensatz zu K r i t i k e r n wie Philip Stevick, die die Literatur der Zeit ohne Höhepunkte sehen, als »eine Pyramide ohne Spitze«, präsentiert McConnell mit den vier i m Titel genannten Autoren seiner Auffassung nach die vier bedeutendsten Präger der v o n i h m als neuer Renaissance bezeichneten Bewegung. Ihren jeweiligen Beitrag formuliert er i n seiner Einleitung i n so klarer Weise, daß w i r uns zur Wiedergabe wieder des Zitats bedienen: Bellow articulates, in all his fiction, the »terms o f our contract,« the persistent value o f that great and humane civilization which the modern w o r l d so sorely tests but does not, for him, manage to destroy. Mailer is obsessed throughout his career w i t h the »cutting edge o f style,« the idea o f an absolutely original, individual prose i d i o m as a k i n d o f saving grace against the impingements o f »other men's systems.« Barth, heir o f Bellow, explores the »key to the treasure«, the ways in w h i c h fiction, returning to a self-conscious examination o f its mythic origin, might recapture the primal civilizing culture-sustaining life o f those myths. A n d Pynchon, most problematic o f l i v i n g novelists, articulates the m y t h o f the »abreaction o f the L o r d o f Night,« an original
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and radical imaginative style (realization o f Mailer's dream) which imitates, recapitulates, and overturns the power o f Death over the m i n d of urban,
conditioned,
processed man. ( X X I X )
M i t Ausnahme vielleicht von Mailer betrachten wir die Auswahl der Autoren als berechtigt. Statt Mailer wäre zu erwägen, Flannery O'Connor, William Styron oder Walker Percy aufzunehmen. I n der weiteren Auswahl zieht McConnell selbst John Updike, John Gardner, E. L. Doctorow, Joyce Carol Oates und William Gaddis i n Erwägung. McConnel stellt mit seiner Studie eine These i n den Raum, die mehr Beachtung verdient, als sie bisher gefunden hat. Die Frage nach dem Menschenbild i n der Erzählkunst wurde 1978 von einem der Erzähler selbst aktualisiert, nämlich durch John Gardner mit seinem Buchessay On Moral Fiction (New York). Er gehört nur bedingt in unseren Forschungsbericht, spielt aber eine Rolle i n der Entwicklung der K r i t i k , •insofern er durch seine Beschuldigung fast aller seiner Zeitgenossen, die sich als »experimental writers« zu profilieren und die literarische K r i t i k zu dominieren versuchten, Aufsehen erregte. I n der Darstellung des Menschen als »comic accident« und der Willkürlichkeit aller Sinnbestimmung der Realität sieht er bei den von ihm Angeklagten einen Nihilismus vertreten, der Leben unmöglich macht. Dagegen setzt er seine »Moral Fiction«, die eine Welt entwirft, mit der es sich leben läßt. Auch seine Erzählkunst ist in hohem Grade experimentell und nur bedingt optimistisch. Die Apokalypse ist auch für Gardner unvermeidlich. Der Künstler aber hat, wie er meint, das Mittel, sie so lange wie möglich zurückzuhalten. Kunst darf nach seiner Überzeugung kein resignatives Hinnehmen des doch Unvermeidbaren sein, sondern aktives Handeln, das — soweit es nicht auf Zerstörung angelegt ist — Leben bejaht: »Moral action is action which affirms life« (23). M i t der Forderung nach Lebensbejahung verbindet Gardner diejenige nach einem erkennbaren Bezug zur erfahrbaren Wirklichkeit. Für Gardner ist die Erzählkunst notwendigerweise mimetisch, wenn sie die Wirklichkeit aus einer Distanz betrachtet, u m sie besser überschauen zu können, als wenn man i n ihr befangen wäre. Erzählen w i r d für ihn a mode o f thought because by imitating we come to understand the thing we imitate. Fiction is thus a convincing and honest but unverifiable science (in the old sense, knowledge): unverifiable because it depends on the reader's sensitivity and clear sense o f how things are, a sense for which we have no tests. (116)
Gardners Attacke gegen die Erzählkunst seiner Zeit und sein Bestehen auf dem Bezug der Erzählkunst zur Wirklichkeit sollte die weitere K r i t i k wesentlich mitbestimmen. Deutlich w i r d dies bereits i n zwei Studien, die i m Jahre darauf erschienen, Warner Berthoffs A Literature Without Qualities: American 2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
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Writing Since 1945 (Berkeley 1979) und Gerald Graffs Literature Against Itself: Literary Ideas in Modern Society (Chicago & L o n d o n 1979). A u c h i n ihnen geht es nicht u m umfassende Darstellungen der Erzählkunst der Zeit. Diese w i r d in ihnen jedoch einer Analyse unterzogen, die i m Verein mit Gardners Essay alle späteren Darstellungen mitbestimmten. Berthoff geht es nun nicht u m bestimmte Interpretationen der gegenwärtigen Wirklichkeit in der Literatur, auch nicht u m formale und thematische Innovationen, sondern um »the developing mind-set of the period as a whole toward the very enterprise o f literary making« (2). Dieses »literary making« sieht er i n Analogie zu Emile Dürkheims religiösen Verhaltensweisen (Les formes élémentaires de la vie rélieuse y 1912) als vor allem »an eminent form and . . . concentrated expression o f the whole collective life« (10). Er setzt eine »idea of society« (ebd.) voraus, an der alle ihre Erscheinungsformen nicht nur gemessen werden können, sondern durch die sie auch erst dem kollektiven Verstehen zugänglich werden. Die Forderung an alle Literatur lautet aufgrund dieser Prämisse: I t is crucial, first, in determining the logic and imaginative strength o f the formal conventions through w h i c h new literary creation takes place, even while plotting to overthrow these conventions or provoke critical resistance to them; in determining also the integrity and force that particular works so created can have for audiences equipped to respond to them. Secondly this plenum (or common repertory)
of
relational experience is crucial in nourishing and bringing to effective issue the uncertain gift, or accident, o f creativity itself, w i t h i n the successions o f human history. (12)
Diesen Konsensus sieht nun Berthoff i n dem größeren Teil der experimentellen Erzählkunst seiner Zeit nicht mehr gegeben. Pynchon, Barth oder Heller bewegen sich mit dem Verzicht auf Mimesis über dessen Grenzen hinaus. Die Prosa, die seiner Forderung gerecht wird, sieht er realisiert i n Salingers The Catcher in the Rye, Styrons The Long March oder Mailers Why Are We in Vietnam? Als Maß für den Ausdruck zieht er Henry Millers Tropic of Cancer heran. So sehr sein theoretischer, von Durkheim gewonnener Ansatz i n einem gewissen Grade plausibel erscheint, zeigen die Wahl, die Interpretation und die Wertung des Textes ein äußerstes Maß an Eigenwilligkeit. Gewichtiger erscheinen demgegenüber die Argumente Graffs. Allerdings geht es i h m dabei noch weniger als Berthoff konkret u m die Erzählkunst, als u m die literaturtheoretische Voraussetzung ihrer Betrachtung und Bewertung. Ohne in unserem Zusammenhang ausführlicher auf seine Argumentation eingehen zu können, sei hier nur gezeigt, warum seine Studie relevant w i r d für die »postmoderne« Erzählkunst, sofern sie sich von ihrem Bezug zur erfahrbaren Wirklichkeit löst und zum arbiträren Konstrukt der Einbildungskraft wird. Die sich von dem Bezug zur Wirklichkeit lösende Erzählkunst bezie-
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hungsweise die sie fördernde Theorie folgt nach Graffs Ansicht einer schon mit dem »New Criticism« einsetzenden Tendenz. Postmodernismus ist nur eine Variante des Modernismus. Dennoch besteht ein Unterschied, den er unter anderem wie folgt definiert: Whereas modernists turned to art, defined as the imposition o f human order upon inhuman chaos [ . . . ] postmodernists conclude that, under such conceptions o f art and history, art provides no more consolation than any other discredited cultural institution. [ . . . ] Alienation from significant external reality, from all reality, becomes an inescapable condition. (55)
Die Aufgabe eines jeden Bezugs zur Wirklichkeit und das Angewiesensein auf willkürliche Konstrukte, läßt Literatur wie Literaturkritik sinnlos werden. Graff w i l l beide aus diesem Dilemma wieder herausgeführt sehen. Als Voraussetzungen hierfür sieht er einmal die Anerkennung der Tatsache, daß W i r k lichkeit etwas ist, das unabhängig von sprachlichen oder mythischen K o n struktionen unserer Imagination Bestand hat, und daß Erzählkunst in ihrer fiktionalen und mimetischen Dimension Wissen u m diese Wirklichkeit zu vermitteln vermag. Er redet damit keinem »documentary realism« (11) das W o r t , versucht aber die durch die poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen »Ideologien« begangenen Irrwege zu diskreditieren. Dies gilt i m wesentlichen für die Theorie. Für die Praxis des literarischen Kunstwerkes bleibt es offen, ob es nicht trotz seines anders intendierten Anspruchs einen Bezug zur Wirklichkeit realisiert. So rechnet er z.B. Pynchon v o n den »Two Postmodernisms« immerhin noch demjenigen zu, i n dem Wirklichkeit zwar nicht mehr erkennbar ist, aber doch noch vorausgesetzt wird, d. h. »distortion as distortion« noch anerkannt wird. I m Unterschied zu der Mehrzahl der Kritiker versucht Philip Stevick i n Alternative Pleasures: Postrealist Fiction and the Tradition (Urbana, I L , 1981) die experimentelle Erzählkunst der sechziger und siebziger Jahre nicht aus einer langen Tradition der »Antitradition« abzuleiten, sondern aus dem Impuls einer jeden Generation, sich gegen die Tradition zu profilieren, damit natürlich selbst einer Tradition folgend. Z u m Teil die 60er Jahre miterfassend, konzentriert sich Stevicks Studie auf die 70er Jahre und die Erzählkunst, die er selbst als »postrealist«, »experimental«, »new«, »innovative« oder — nur ungern — »postmodern« beschreibt, sich aber bewußt bleibt, daß — z.B. Bellows — andere, nicht damit umschriebene Erzählkunst i n der Dekade nicht fehlt. Charakteristisch ist für ihn in dieser Zeit, daß sie ungewöhnlich viele Talente und eine große Energie an Einbildungskraft aufzuweisen hat, »but not a canonical body o f dominant fiction« ( I X ) . Die Periode kennt keine herausragende Persönlichkeit, die als repräsentativ gelten könnte — Stevick spricht von einer Pyramide ohne Spitze — , vertritt entweder keinerlei Ideologie oder 2*
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sehr unterschiedliche und bildet keine Schulen. Gemeinsam ist den «postrealist« Erzählern vor allem, daß sie sich i n ihrer Beziehung zur vorausgehenden (»modernist«) Erzählkunst definieren. »This sense o f discontinuity w i t h the dominant figures o f modernism is one o f the few qualities that unite new fiction« (146). Das Ergebnis seiner Studie für sich selbst sieht Stevick i m folgenden: first, a genuine amazement at the range o f formal options, rhetorical stances, and angles o f interaction w i t h experience now open to writers and, second, a feeling that a kind of fluid eclecticism that opens itself to modes, styles, images, sensibilities, and rhetorical designs upon the reader is the only critical method likely, in the long run, to be true to that fiction. (148)
Stevick charakterisiert i n sehr zutreffender Weise die unterschiedlichen Möglichkeiten der »new fiction« i n den 70er Jahren, weist darüber aber auch hinaus, insofern er sie i n den umfassenderen historischen Kontext einzuordnen weiß. Malcolm Bradburys The Modern American Novel (Oxford, New Y o r k , 1983) vermittelt auf kurzem Raum (186 Seiten) einen konzentrierten umfassenden Überblick über die Geschichte der amerikanischen Erzählkunst v o n 1890 bis 1980. Diese Geschichte ist für ihn die einer Entwicklung v o n »modernism« zu »postmodernism« in unterschiedlichen Kombinationen oder Abgrenzungen zum Naturalismus, Realismus oder einem »self-consciously qualified realism« (164). Bradbury betrachtet die Entwicklung der amerikanischen Erzählkunst sowohl i m politischen und gesellschaftlichen Kontext der Vereinigten Staaten als auch — i m komparatistischen Sinne — i m Kontext der Erzählkunst und ihrer Formen i m allgemeinen. Die unsere Periode betreffende Erzählkunst behandelt er i n zwei Kapiteln: »Liberal and Existential Imaginations: The 1940s and 1950s« und »Postmoderns and Others: The 1960s and 1970s«. Die historischen Ereignisse, die für ihn symptomatisch die zwei Abschnitte eröffnen, sind der Eintritt Amerikas i n den letzten Weltkrieg und die Wahl Präsident Kennedys. Die Romane der 40er Jahre sind für ihn vor allem durch »a marked ideological uncertainty« gekennzeichnet, wie sie sowohl i n Bellows Dangling Man (1944) als auch i n Mailers The Naked and the Dead (1948) offenbar wird. I n dieser Unsicherheit erfolgt ein Rückzug des Ichs aus der es überwältigenden Gesellschaftsmaschinerie. Die Welt w i r d für das Ich zu einem Haus des Schreckens, nicht nur bei einer Reihe von Autoren der Südstaaten, sondern auch bei John Hawkes, Paul Bowles, James Purdy und anderen. Eine A r t der Rettung aus dem Chaos versuchen Autoren wie John Cheever, Salinger oder Updike. I n den 50er Jahren sieht Bradbury die Entfaltung eines fruchtbaren erzählerischen Schaffens i n einer »double heritage«, nämlich der des Realismus und
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des Modernismus. Als Paradigmen hierfür erscheinen die drei klassischen jüdisch-amerikanischen Erzähler Bellow, Malamud und Roth, aber auch die afroamerikanischen, Ellison und Baldwin. Früher Naturalismus und früher Modernismus scheinen sich für Bradbury zu vereinigen »in a complex equation o f uneasy absurdist existentialism and revived self-doubting liberalism«. Das Resultat sieht er dann häufig i n »an oblique realism — an image i f tragi-comic disorder and displacement that still insistently alluded to a real external world« (133). I n drei weiteren Unterkapiteln behandelt er alsdann die »new JewishAmerican fiction«, Salinger und Updike, sowie Mailer zusammen — aber kürzer — mit Burroughs und Nabokov. Die 60er Jahre sieht Bradbury alsdann bestimmt durch »distorting power plays, large conspirational structures, huge technological systems, apocalyptic threats to survival« (157). E i n reduziertes Selbst sieht sich wachsenden Kräften unterworfen, gegen die es sich nicht mehr zu behaupten vermag. Entscheidend aber für die Erzählkunst der Zeit ist der fiktionale Charakter der Wirklichkeit, dem man auf unterschiedliche Weise zu begegnen versucht: »ficiton, unable to form coherent meaning, celebrated its own loss of signification, rejected preformed views of reality, and sought to create its o w n provisional, liberated worlds o f creative consciousness« (159). Die experimentelle Erzählkunst, die sich in dieser Situation entwickelte, sieht er weitgehend unter europäischem Einfluß (plus Borges) stehen, erkennt jedoch eine spezifisch amerikanische Variante der generellen Entwicklung einmal in der Möglichkeit eines »cheerful nihilism« und in der optimistischen Haltung einiger der Autoren. Der Terminus »postmodernism« bleibt für Bradbury vage, da er zu unterschiedliche Tendenzen zu vereinen versucht. Dennoch sieht auch er gewisse Gemeinsamkeiten wie den »scepticism about generic types, disposition to parody, ironic inversion, >meta-fictional< insistence on its o w n chosen modes o f signification, and on the capacity to challenge the stability o f what is signified« (161). Ende der 70er Jahre sieht er sich die experimentelle Erzählkunst in einen Manierismus verhärten, anfangs der 80er Jahre eine Stimmung aufkommen, die konservativere Erzählformen begünstige. I n drei weiteren Unterkapiteln behandelt Bradbury alsdann Heller und Vonnegut, Hawkes, und Pynchon und — mit einem kurzen Vorspann über Gaddis — Barth, Barthelme, Gass und Coover. Federman, Kosinski und Abish werden nur kurz gestreift. E i n letzter Abschnitt faßt zusammen und prognostiziert eine sich eher dem Realismus wieder zuneigende Erzählkunst. I n seinem V o r w o r t zu dem von i h m gemeinsam mit Sigmund Ro herausgegebenen Band zur Contemporary American Fiction (London 1987) greift Bradbury noch einmal auf den Begriff der »Postmoderne« zurück, wie er ursprüng-
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lieh von I r v i n g H o w e i n seinem Essay v o n 1959 über »Mass Society and PostModern Fiction« eingeführt worden war. Danach bezieht dieser sich noch nicht auf die mit Hawkes und Gaddis einsetzende neue experimentelle Erzählkunst, sondern auf die sich nach dem 2. Weltkrieg zeigende zunehmende Schwierigkeit des Individuums, sich an einer vorgegebenen Wirklichkeit zu bestimmen. Seine Beispiele hierfür sind Bellow, Malamud und Salinger. I n den Essays kommt dann neben der experimentellen Erzählkunst auch die eher realistische zu W o r t , zu der schon in dem früheren Band i n den 80er Jahren wieder eine Annäherung gesehen wird. Besonders wertvoll sind i n diesem Zusammenhang auch die Beiträge über die jüngere jüdisch-amerikanische und afroamerikanische Erzählkunst von Paul Levine respektive Robert B. Stepto. Frederick R. Karls American Fiction, 1940-1980: A Comprehensive History of Critical Evalution (New Y o r k 1983) erfüllt i n der Tat den i m Untertitel erhobenen Anspruch auf »Comprehensiveness«. Die einzigen Autoren, die ich bei der Durchsicht des Registers nicht erwähnt fand, waren Harry Crews, James Dickey, William Goyen, Madison Jones, Raynolds Price und John Kennedy Toole, eine weit geringere Ausfallquote als bei allen anderen vergleichbaren Darstellungen. Erstaunlich neben der »comprehensiveness« ist auch der Umfang v o n über 600 zweispaltigen Seiten, der den der dreibändigen Darstellung Hoffmanns mit einer Vielzahl von Beiträgen übertreffen dürfte. Ungewöhnlich ist auch die originelle, oft von der Mehrzahl der K r i t i k e n abweichende Interpretation einzelner Werke, die immer auch, wie selten in den anderen hier angeführten Werken, in Auseinandersetzung mit der bisherigen K r i t i k erfolgt. Eine Eigentümlichkeit, die die Darstellung von anderen abhebt, ist ihre Unterscheidung von »novel« und »literature«, wobei unter »novel« der durch die Medien geförderte populäre Roman und unter »literature« der anspruchsvollere, experimentelle Roman verstanden wird. Unter das Verdikt des populären Romans fallen Salingers Catcher in the Rye, K e n Keseys One Flew Over the Cockoo's Nest und Vonneguts Cat's Cradle, aber auch die nicht mehr gelungenen späten Romane Bellows oder Mailers. Vergessen w i r d dabei, daß der experimentellen Erzählkunst auf ungewöhnliche Weise v o n der »Academia« durch Veröffentlichungen und Vortragseinladungen der Vorzug gegeben wird. Sehr deutlich zeigt sich darin eine Bevorzugung der »new fiction«: William Gaddis erscheint als deren erster Hauptrepräsentant; Hawkes, Barth — selbst mit Letters — und Pynchon spielen die führende Rolle i m Konzert der vielen Stimmen des Romans v o n 1940 bis 1980. Die Epoche bezeichnet er als »American modernism«. Der Modernismus, der sich i n Europa schon i n den 30er Jahren fest etabliert hatte, aber auch i n anderen Kunstgattungen — wie der Verskunst — i n Amerika, sieht K a r l — mit Vorspielen bei Faulkner und Dos Passos — i n der amerikanischen
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Erzählkunst erst in den 40er Jahren endgültig Boden gewinnen. Diesem Modernismus, wie er ihn versteht, geht es darum, »to familiarize the familiar, to make the reader reinvent the world, and while moving human experience to the margins to move the margins to the center« ( X I ) . Er impliziert die Bereitschaft zu experimentieren und des sich Öffnens für die unterschiedlichsten Einflüsse, wie diejenigen v o n Joyce (über Faulkner und Dos Passos), Kafka, Céline, Borges, den französischen Existentialisten u.a. Europäische Ideen verbanden sich dabei — ausgenommen Pynchon — mit typisch amerikanischen: European sense o f time had to w o r k through w i t h American stress on space; European dread w i t h American escape; European historical dimensions w i t h American presentness; European sense o f decline and last-ditch philosophy w i t h American bustle, growth, its o w n forms o f entropy, frustrations, and dejection. American pastoral had to accommodate European »counterfeit«; American openness, European disguise and invisibility. Even American underground — as in Ellison or W r i g h t — had to adjust to European subterranean modes, whether Dostoyevskian or Kafkan. (XIII)
Stark durch die verschiedenen Einflüsse aus Europa bestimmt, sieht K a r l sich die amerikanische Erzählkunst jedoch gerade i n der Auseinandersetzung mit ihnen profilieren. Wie nach Stevick sich jede Generation von Erzählern i m Unterschied zu der vorhergehenden zu definieren versucht und mit diesem »Antitraditionalism« einer Tradition folgt, sieht auch K a r l sich in der Ära v o n 1946-1980 einen ähnlichen Prozeß vollziehen: »American experimentalism has a long lineage, not only from European sources but from its o w n tradition« (4). Wichtig ist dabei aber für Karl, daß »Experimentation is not [ . . . ] the only thing; but it does suggest that fiction is responding to the culture, reflecting it w i t h vitality« (ebd.). Die Schwierigkeit der Erzählkunst nach 1940 bestand für ihn darin, daß die K u l t u r , auf die sie reagiert, sich i n einem ständigen, umwälzenden Wandel befand. Entgegen der Forderung experimenteller Schriftsteller und Kritiker vertritt K a r l die These, daß die Literatur die Wirklichkeit spiegelt. Dementsprechend gliedert er seine Darstellung nach Dekaden, u m auf diese Weise besser i n der Lage zu sein, die Erzählkunst jeweils als Reaktion auf die Wandlung i n der Gesellschaft interpretieren zu können. Dies gelingt i h m am besten für die ersten beiden Dekaden in bezug auf den K r i e g und die unmittelbare Nachkriegszeit sowie auf die Drogenszene und die »subculture« des Beat, aber weniger bei der vielfätigen, unterschiedlichen Reaktion der Literatur auf die politischen, gesellschaftlichen oder technologischen Umwälzungen der 60er oder 70er Jahre. Der Wert der Studie liegt i n diesen Teilen denn auch mehr auf den Interpretationen einzelner Werke als auf deren historischer Einordnung.
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I m Unterschied zu anderen Kritikern — und selbst Vertretern der »new Fiction« — sieht K a r l 1980 das Ende der »experimental novel« noch nicht gekommen. For the experimental novel, that adjunct to modernism, the onset o f what some choose to call postmodernism, is hardly dead or even dying. [ . . .] the impulse is not moribund, nor does end-of-the-decade fiction indicate an end. (593)
Der Erwähnung bedarf i n unserem Forschungsbericht die Studie von Dieter Meindl, Der amerikanische Roman %wischen Naturalismus und Postmoderne, 19301960 (München 1983), wenn sich der von ihr erfaßte Zeitraum auch nicht mit dem unseren deckt. Der Studie geht es vor allem darum, die v o n K l e i n ausformulierte These von dem Kontrast zwischen Vor- und Nachkriegsroman zu widerlegen. Sie plädiert dagegen für eine Beziehung der Kontinuität und Innovation. Grundlegend hierfür ist, daß Meindl i n der Zeit von 1930 bis zum Kriege zwei bedeutende Strömungen aufweist, die er i n einem Entwicklungsverhältnis zueinander stehen sieht. Die eine sieht er i n derjenigen des Naturalismus in seiner auslaufenden Phase, repräsentiert vor allem durch Dos Passos, Steinbeck und Farrell, die andere, die über die Wirklichkeitsauffassung des Naturalismus hinausführt, in der als »existentiell« bezeichneten Romanrichtung, repräsentiert durch Faulkner, Wolfe und Miller (10). Der »existentielle« Roman findet nach seiner Interpretation alsdann seine Fortsetzung i n dem Identitätsroman in der Zeit v o m Kriegsende bis 1960 mit Autoren wie Bellow, Ellison, Kerouac und Mailer. Er betreibt, wie es heißt, »eine konstante Vermittlung von Verhaltens-Mustern und jener Ur-Form des Lebens, die zuvor den existentiellen Roman beschäftigt« (213). I n dem post-modernen Roman, in der Studie am Beispiel von Barths The Sot-Weed Factor charakterisiert, gerät das Thema der Identitätssuche nach Meindls These alsdann zum Maskenspiel mit austauschbaren Identitäten, »zum typischen Periodisierungsmerkmal der Parodie« (126). Wie der Untertitel besagt, handelt es sich bei Meindl um eine »Entwicklungsstudie auf diskurstheoretischer Grundlage«. Die Diskussion über die Diskurstheorie i n Auseinandersetzung mit T o d o r o v erscheint dabei allerdings eher als Beiwerk, von dem die Charakterisierung der Werkgruppen nicht abhängt. Interessant dabei dürfte am ehesten der Hinweis auf das Überwiegen der Er- und Ich-Erzählweisen i n den verschiedenen Werkgruppen sein. Nützlich sind die gelungenen Charakterisierungen früherer Darstellungen der Entwicklung des amerikanischen Romans in der von i h m behandelten Zeit. Bisher haben w i r Studien verschiedenster A r t herangezogen, die in irgendeiner Weise die amerikanische Erzählkunst nach 1950 zu charakterisieren versuchen, dabei aber solche ausgeschlossen, die sich auf speziellere Teilaspekte beschränken. Z u solchen jedoch eine feste Grenze zu ziehen, ist problematisch.
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Aus Gründen allein des Umfangs müssen w i r auf die Behandlung solcher Studien verzichten, die für das Gesamtbild schon wichtige und interessante Aspekte liefern, doch nicht unbedingt unserem zentralen Anliegen gewidmet sind. W i r sehen uns allerdings genötigt, eine Ausnahme i n bezug auf drei solcher Studien zu machen. Dazu gehört ζ. B. Patrick O'Donnells Studie Passionate Doubts: Designs of Interpretation in Contemporary American Fiction (Iowa City 1986). O ' D o n n e l l geht es darum aufzuzeigen, wie Texte unserer Zeit ein semantisches Feld bilden oder einen Bereich für hermeneutische Spielereien eröffnet, i n denen unterschiedliche »conditions o f meaning« ( X I ) enthüllt werden und bei denen der Leser zur Bildung dieser Bedingungen mitherangezogen wird. I n anderer Formulierung geht es um die Konstituierung des »Lesers« in doppelter Hinsicht, wenn es zusammenfassend am Schluß heißt: The reader as witness constitutes the interpreted patterns and designs o f the text; at the same time, the librarian, the »other« reader reading, is constituted by those patterns. (153)
Der von O ' D o n n e l l freigelegte Prozeß gilt nach seiner Aussage i m Grunde für alle Texte. Die Bedeutung für die Gegenwart liegt für ihn darin, daß sie — und dabei handelt es sich um einen hermeneutischen Zirkel — diese Thematik zu ihrem Gegenstand gemacht hat. Sich der Theorien der Dekonstruktivisten und Poststrukturalisten bedienend, Jacques Derridas, Roland Barthes, Paul de Mans oder Geoffry Hartmans, kommt er mit seiner Interpretation v o n sechs amerikanischen nach 1950 erschienenen Romanen zu den Ergebnissen, die i h m seine Methode vorgegeben hat. Daß diese Romane sich der Methode erschließen, kennzeichnet sie als der Entstehung der Methode kontemporär, doch ist für die Gesamtheit der Erzählkunst der Zeit damit noch nicht notwendigerweise ein Kriterium gefunden. Alan Wildes Middle Grounds: Studies in Contemporary American Fiction (Philadelphia 1987) erhebt keinen Anspruch darauf, eine umfassende Übersicht von der amerikanischen Erzählkunst der Gegenwart zu vermitteln, gewinnt jedoch i m Zusammenhang unseres Überblicks insofern Bedeutung, als sie die Aufmerksamkeit auf in der bisherigen K r i t i k oft vernachlässigte oder seiner Meinung nach falsch interpretierte Erzähler lenkt und damit das Gesamtbild zu korrigieren versucht. Wilde setzt damit das Bemühen seiner früheren Studie über Horizons of Assent: Modernism, Postmodernism, and the Ironic Imagination (Philadelphia 1981) fort, indem er i n der bisherigen K r i t i k eine Überbetonung der Polarisierung v o n Realismus einerseits und experimenteller Erzählkunst andererseits sieht. V o n der v o n i h m behandelten Erzählkunst glaubt er dagegen sagen zu können, »that, even as it interrogates our traditional beliefs, continues to claim for literature, however tentatively or obliquely, a referential
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function« (4). Gerade in dieser A r t v o n Erzählkunst sieht er auch die beste Hoffnung für die weitere Entwicklung. Z u den nach seiner Meinung zu wenig berücksichtigten Autoren gehören vor allem Max Apple, Ted Mooney und Thomas Berger, zu den nach seiner Ansicht falsch interpretierten vor allem Donald Barthelme und Thomas Pynchon. I n der Analyse ihrer Werke, einer »combination o f ethical and phenomenological criticism« (5), versucht er zu zeigen, wie sie auf unterschiedlichste Weise auf eine »potential significance« der Welt verwiesen, ohne ihre »complexity, or, indeed, its stubborn dailiness« (ebd.) zu leugnen. Diese Position des »middle ground« beruht für Wilde »not i n the possibility o f a naive mimesis that seeks to re-present the world, but, rather, i n a cooperative enterprise that matches the constraining force o f that w o r l d w i t h the powers o f consciousness to >in vent< it into being« (6). Wildes Plädoyer für die »middle grounds« ist auch ein solches für den Humanismus, den er durch die Poststrukturalisten und eine Reihe amerikanischer Erzähler, die ihnen folgen, zu Unrecht abgetan findet. K r i t e r i u m i n dieser Auseinandersetzung w i r d die Uniformität des Menschenbildes, das die modernen Antihumanisten i m traditionellen Humanismus vertreten sehen. Entscheidend für Wilde ist, daß die v o n i h m behandelten Schriftsteller einen Humanismus vertreten, der die »diversity« nicht nur zuläßt, sondern als seiner Definition zugehörig betrachtet. »As committed as the antihumanists or the deconstructionists to . the defense o f difference, the writers I've described as midfictional are less systematic than either, more intent on discovering the separate and distinct ways i n which the self creates, i n time and through its acts, its existential definition« (11). Bei den Autoren, für die Wilde spricht, erkennt er weiterhin die humanistische Überzeugung von »the w o r t h o f the individual, [ . . .] the individual's need and capacity to realize his or her o w n potential for being.« Es bleibt fraglich, ob die Interpretation und vor allem die Bewertung der einzelnen Autoren durch Wilde Bestand haben wird; für eine nüchterne Betrachtung der Vielfältigkeit der Erzählkunstszene w i r d sie aber i n der Zukunft als wertvoller Beitrag einzuschätzen sein. V o n einem ähnlichen Dualismus v o n Realismus und experimenteller Erzählkunst wie demjenigen Wildes geht auch Jan Gorak i n seiner Studie God the Artist: American Novelists in a Post-Realist Age (Urbana & Chicago 1987) aus. Die Pole sind für ihn Naturalismus und Symbolismus. Als Extreme vermögen sie nicht zu genügen: »These t w o dominant images o f the modern artist — the symbolist image maker and the naturalist language mechanic — form t w o parts that do not quite add up to a satisfactory whole. The first secures the artist's sovereignty only to condemn h i m to the kingdom of his solitary
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imagination; the second releases h i m into the w o r l d only to vaporize artist and imagination into a void« (3). Wie Wilde für ein angemessenes Verständnis eines modernen Humanismus plädiert, so Gorak für ein besseres Verständnis des deus artifex topos, d.h. für ein Verständnis des Schöpfens, das weder i n Solipsismus noch i n völlige Selbstaufgabe verfällt. Hierzu bedarf es wie bei Wilde eines »middle ground« der »referential function« v o n »fiction« bei Gorak der Wiedereinführung des mimetischen Elements. »Where the symbolist sees the real as dead matter, and the fiction maker sees it as a basis for tall stories, the mimetic deus artifex shapes it into a moving, expanding image o f a shared human world« (5). Es war unfair, eine Studie, die sich gegen Ideen »in some influential modern criticism« (6) wendet, v o n einem v o n deren Vertreter, nämlich Jerome K l i n k o witz, i n American Literature (59, 4, 1987, 688 f.) besprechen zu lassen. Sie mußte notwendigerweise negativ ausfallen. Für K l i n k o w i t z ist Gorak rettungslos konservativ, restorativ i m Sinne eines nicht mehr möglichen Realismus. D o c h erwartet Gorak eigentlich ähnlich wie Wilde nichts anderes als einen Ausgleich der Extrempositionen. Wenn seine Studie negativ ausfällt, dann weil der Topos des deus artifex die Autoren der Gegenwart zwar immer noch fasziniert, diese es aber dennoch nicht vermöchten, ihren »American Rabelais« (194) hervorzubringen. Es ist nicht der realistische Roman alten Stils, den er v o n ihnen erwartet. Wenn sich Gorak allerdings weitgehend auf Nathaniel West (als Vorläufer) und auf John Hawkes und John Barth beschränkt, hat seine Studie als Einblick i n die Gesamtsituation nur beschränkten Wert. Der abschließenden Besprechung von drei Veröffentlichungen deutscher Verlage sei eine kurze Bemerkung über den Wissenschaftsbetrieb und die damit einhergehende Verlagspolitik vorangestellt. Die drei Veröffentlichungen entstanden zur gleichen Zeit und erschienen i n drei aufeinanderfolgenden Jahren, 1986, 1987 und 1988, wozu vermerkt werden müßte, daß das zuletzt erschienene Werk schon zwei Jahre früher hätte erscheinen sollen. I n dem v o n Hoffmann herausgegebenen Werk erscheinen drei Beiträge, die bereits in der von Bock und Wertheim herausgegebenen Essaysammlung abgedruckt waren, darunter der Beitrag von Heinz Ickstadt über Robert Coover, der schon zuvor i n einem Symposium zur Postmoderne in den Amerikastudien 1983 veröffentlicht worden war, sowie der Beitrag v o n Peter Bruck über »Fictitious Nonfiction«, der unter verschiedenen Titeln und geringfügigen Abwandlungen nicht nur auch i n dem von Heller herausgegebenen Band erscheint, sondern auch Bestandteil eines Symposiums i n den Amerikastudien von 1977 war. Letztes Symposium wurde von demselben Beitrag eingeleitet wie nun der 1. Band der Hoffmannschen Veröffentlichung. I n Hellers Buch ist immerhin nur der Beitrag von Bruck identisch mit demjenigen i n Hoffmans. Der Kern v o n
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Ickstadts Beitrag über Pynchon war schon i n der Aufsatzsammlung von Busch und Schmidt-von Bardeleben erschienen. D o c h drei weitere, bei Heller vertretene Autoren leisten auch gleich Beiträge zu Hoffmanns Werk. Die unerfreuliche Redundanz der drei für die Hand des Studenten geplanten Werke, die einen Einblick i n die amerikanische Erzählkunst der Gegenwart vermitteln sollen, muß als Z u m u t u n g für den prospektiven Käufer betrachtet werden. Unerquicklich ist dabei auch, daß in dem umfangreichsten Werk, demjenigen Hoffmanns, früher schon erschienene Beiträge nicht für die Veröffentlichung in dem größeren Zusammenhang neu formuliert, sondern nur jeweils mit einem Nachtrag versehen werden. Hedwig Bock und Albert Wertheims Sammlung v o n Essays on The Contemporary American Novel (München: Max Hueber, 1986) hebt sich von den anderen beiden Veröffentlichungen deutscher Verlage als binationales Unternehmen ab, das sich zudem auf die zwei Jahrzehnte vor seinem Abschluß 1981, also auf die Jahre 1960 bis 1980 beschränkt. Die Herausgeber sind darauf bedacht, die verschiedenen Strömungen zu W o r t kommen zu lassen, »naturalistic as well as post-modernist fiction, ethnic as well as white, mainstream writers« (5). Eine Sonderheit bildet die Sammlung auch insofern, als sie mit Dieter Helms v o n der Universität Bremen und Eberhard Brüning von der K a r l Marx-Universität Leipzig zwei ausgesprochen marxistische Interpretation zu W o r t kommen läßt. Wenn man konzediert, daß i n einem begrenzten Rahmen nicht alle Autoren berücksichtigt werden können, die die Szene der zwei Dekaden bestimmen, so muß die Auswahl — von unseren Erachtens zwei Ausnahmen abgesehen — als durchaus glücklich betrachtet werden. Der Wert der Studie beruht alsdann neben der Auswahl auf der Qualität der einzelnen Beiträge. Die Erzählkunst der Südstaaten ist in der Sammlung durch Essays über Robert P. Warren und William Styron repräsentiert. W i r hätten es für sinnvoller gehalten, einen Essay über Walker Percy abzudrucken als über Warren. Wie A . Robert Lee, der Verfasser des Essays in der Sammlung, schätzen w i r auch Warren doch eher wegen seiner frühen Prosa, vor allem All the King's Men (1946) und World Enough And Time (1950), sowie seiner frühen Verskunst bis Brother to Dragons (1953) als seiner späteren Romane wegen. Lee liefert ausgezeichnete Interpretationen von Warrens beiden letzten Romanen, Meet Me In The Green Glen (1971) und A Place to Come To (1972), muß selbst aber auch deren Schwächen eingestehen. Die Szene der Erzählkunst zwischen 1960 bis 1980 bestimmt Warren sicher nicht mehr mit. Anders steht es diesbezüglich mit Styron. Auch er schrieb u. E. mit Lie Down in Darknes (1951), seinem ersten Roman, bereits sein Meisterwerk, doch sind die i n dem abgesteckten Rahmen veröffentlichten Romane, The Confession of Nat Turner (1967) und Sophie's Choice (1979) von solch kontroverser Bedeutung, daß ihre Behandlung nicht fehlen durfte. Allerdings kann ich nicht
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mit der A u t o r i n des ansonsten sehr ausgewogenen Styron-Essays, die i n letzter Minute für einen anderen Kritiker einspringen mußte, in der Bewertung des zuletzt genannten Romans übereinstimmen. I n meinem Beitrag über »Auschwitz and the Literary Imagination: William Styron's Sophie's Choice « (in F. L i n k , Hg., Jewish Life and Suffering as Mirrored in English and American Literature y Paderborn, 1987, 133-143) habe ich hierfür meine Gründe niedergelegt. Soweit ihre »ethnicity« betroffen ist, haben die Herausgeber mit der Behandlung der drei jüdisch-amerikanischen Klassiker Bellow, Malamud und Philip Roth ihr Möglichstes getan. (Die jüdischen Autoren Mailer, Docotorow und Kosinski spielen nicht ihrer »ethnicity« wegen eine Rolle.) David Galloway gibt i n kompetenter Weise auf wenigen Seiten einen Überblick über das Schaffen Saul Bellows, an dem kaum etwas auszusetzen ist. D o c h hier w i r d die Beschränkung auf die Zeit von 1960-1980 nicht wirksam. Denn sehr deutlich zeigt Galloway, wie Bellows Schaffenskraft i n dieser Zeit nachläßt. Bei einer Konzentration auf diese Zeit hätte immerhin gezeigt werden können, wie sich von Mr. Sammler* s Planet (1969) ab der Unmut Bellows mit der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung dieser Zeit niederschlägt. U n d hier hätte natürlich, wenn das Buch erst 1986 zur Veröffentlichung gelangt, auch The Dean's December (1982) mitberücksichtigt werden sollen. Auch Leslie Field versäumt durch die Spanne zwischen Abschluß seines Essays und Veröffentlichung eines der interessantesten Werke seines Autors, Malamuds God's Grace (1982), er eröffnet aber die Darstellung seines Autors interessanterweise mit Dubin's Life (1979). D o c h er zeigt nicht, was i m Kontext mit den anderen Autoren der beiden Dekaden nahegelegen hätte, wie Malamud gerade in diesem Roman, wie schon i n Pictures of Fidelman (1969) vorweggenommen, die Tendenz der »metafiction« zu assimilieren versucht. Wenn Field zudem Malamud nur am Rande als jüdischen A u t o r gelten lassen will, verkennt er zumindest die Bedeutung seiner Geschichten, die seine Romane nicht nur an Qualität überragen, sondern auch viel direkter i n der Tradition jüdischen Erzählens stehen. Es wäre wünschenswert gewesen, die Herausgeber hätten in diesem Fall einen kompetenteren Kritiker gewinnen können. I n idealer Weise w i r d Hans Borchers mit seinem Beitrag über Philip Roth der gestellten Aufgabe gerecht, wobei i h m natürlich die Tatsache half, daß das Schaffen seines Autors i n etwa zu der Zeit der zu behandelnden Periode begann. Er zeigt aber, wie Roth voraussah, daß sich die amerikanische Erzählkunst von der Wirklichkeit lösen und damit ihrer gesellschaftskritischen Aufgabe nicht gerecht würde, wie er selbst v o n Portnoy's Complaint (1969) ab sich von der unmittelbaren Auseinandersetzung mit seiner Wirklichkeit abwendet, mit seinen späteren Romanen »despite their narrative complexities as
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writings about writing« wieder i n eine engere Referenzialität zur Wirklichkeit tritt, auch wenn er vornehmlich die seines eigenen Lebens ist. I n dem Rahmen, den w i r uns i n diesem Bericht gaben, ist es leider nicht möglich, auf alle der insgesamt 20 Beiträge einzugehen. Die Auswahl der behandelten Autoren ist zum größeren Teil zu begrüßen. Die Autoren und die übergreifenden Themen — wie die »nonfictional novel« und der »New Journalism« — sind kompetent dargestellt. D o c h drei Ausnahmen müssen w i r dennoch nennen. Unglücklich ist die Wahl Kosinskis. Es wäre fraglich, ob dessen erster und bedeutendster Roman ausgerechnet als typisch für die amerikanische Szene gelten darf; auf den fraglichen Wert der späteren Werke weist der Verfasser des Beitrags, Wolfgang Karrer, selbst hin. Daß die Popularität, die diese dennoch gewannen, bedeutsames Licht auf die amerikanischen Leser werfe, sollte kein Argument sein, sie i n diesem Rahmen zu behandeln. E i n Kapitel über Nabokov wäre i n diesem Fall sinnvoller gewesen. Z u bedauern sind die abschließenden Beiträge von marxistischer Seite. I n ihnen geht es weniger u m Literatur als u m Politik, was die Herausgeber aus früheren Veröffentlichungen der Autoren hätten entnehmen können, wie sich i m Falle von Brüning zum gleichen Gegenstand in seinen Studien %um amerikanischen Roman (1983) bereits zeigt. Wenn man schon auch marxistische Literaturkritik vertreten sehen wollte, hätte man auf kompetentere Kritiker zurückgreifen können. A r n o Heller hatte mit seiner Wahl eines zwar auch etwas zu pauschalierenden Beitrags v o n Eva Maske über »Individuum und Gesellschaft in der gegenwärtigen amerikanischen Prosa« (198) eine etwas glücklichere Hand. V o n den beiden letzten Beiträgen abgesehen, vermittelt der Band Einblicke in das Schaffen meist gut ausgewählter Autoren i n der Zeit von 1960 bis 1980, aber keine Geschichte der Erzählkunst ihrer Zeit. D o c h für das gleiche Geld erhielt der Leser beides i n Frederick R. Karls Darstellung mit, eingestandenermaßen, der Ausnahme der drei von Dieter Helms ausgewählten Autoren der »Native American, Chicano, and Puerto Rican Fiction« und einer anderen Wertung v o n Baldwins If Beale Street Could Talk, , des Romans, der für Brüning der einzige Lichtblick i n dem sonst durch ein heilloses Menschen- und Gesellschaftsbild gekennzeichneten amerikanischen Erzählkunst der Zeit. Arno Heller vermittelt i n der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Band 639 der »Wege der Forschung« (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) Der amerikanische Roman nach 1945 auf knappstem Raum nicht nur einen vorzüglichen Einblick i n die bisherige Forschung zu dem Gegenstand, sondern auch einen ausgewogenen, aus dieser Forschung gewonnenen Überblick über die Entwicklung der amerikanischen Erzählkunst von 1945 bis 1980 bzw. — in einigen Fällen — bis 1985. Er ist sich der grundsätzlichen Schwierigkeit der Unterscheidung bewußt, wenn er neben dem »bis in die unmittelbare Gegen-
Bestimmungen der amerikanischen Erzählkunst nach 1950
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wart fortdauernden realistischen bzw. modernistischen mainstream (z.B. Bellow, Updike, Malamud, Styron) und den experimentellen Werken der sog. Postmoderne (z.B. Barth, Pynchon, Coover) eine große Variationsbreite von Übergangs- und Mischformen« ansetzt, »die sich nur schwer der einen oder anderen Gruppe zuordnen lassen (etwa Mailer, Heller, Kesey, Kosinski)« (3). Trotzdem gelingt es ihm, in seiner Einleitung wie mit den v o n i h m ausgewählten Forschungsbeiträgen »zentrale Entwicklungs- und Rezeptionstendenzen herauszuarbeiten« (ebd.). Während der sich in einer Übergangszeit unmittelbar nach dem letzten Weltkrieg vollziehenden Abkehr v o n den Konventionen des Realismus und Naturalismus verzeichnet Heller ein »Abrücken v o m politischen und sozialen Engagement zugunsten >privater< und existentieller Fragestellungen« (6). Obw o h l er den mainstream des realistischen Romans sich i n neuen Formen bis i n die Gegenwart fortsetzen sieht, betrachtet er die tiefgreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen der mittleren und späten sechziger Jahre« als Ursache neuer Entwicklungen auch in der Erzählkunst, wobei er — Paul Levine (The Intemperate Zone: The Climate of Contemporary American Fiction, 1967) folgend — zwei scheinbar entgegengesetzte Richtungen« unterscheidet: »neorealism und neosurrealism.« Während der Neorealismus bislang kaum betretene Nachtseiten menschlicher Existenz erschließe (z. B. Burroughs und Selby) oder auch eine objektivistisch-dokumentarische nonfiction entwickle (Capote, Mailer, T o m Wolfe), verlagere sich i m Neosurrealismus der Schwerpunkt zu grotesken, phantastischen und antimimetischen Erzählelementen (z. B. bei Hawkes, James Purdy, Heller oder Pynchon). I n weiteren Abschnitten der Einleitung wie i n den Sektionen ausgewählter kritischer Beiträge w i r d Heller alsdann den regionalen, subkulturellen und ethnischen Gruppierungen (darunter der Female Literary Culture) sowie der Sonderentwicklung des »postmodernen« Romans gerecht. Erwähnenswert erscheint mir dabei, daß er — einigen anderen K r i t i k e r n folgend — Pynchon »den vielleicht bedeutendsten Schritt über einen rein ästhetischen Solipsismus hinaus« vollziehen sieht, indem er »die Funktion des Bewußtseins als Illusion [ . . . ] entlarvt« (34). Die Autoren, die abschließend durch eigens ihnen gewidmete Forschungsbeiträge hervorgehoben werden, sind Ellison, Bellow, Mailer, Barth und Pynchon. »Der Herausgeber,« meint Heller einleitend, »wird in jedem Fall für das Nicht-Aufgenommene kritisiert werden« (1). W i r wollen ihn dafür nicht kritisieren, denn i n Anbetracht »der extrem pluralistischen Situation« (ebd.) auf dem Gebiet des zeitgenössischen amerikanischen Romans wie auf dem der Forschung zu diesem Gegenstand hat Heller i n dem i h m vorgegebenen Rahmen sein Bestes geleistet. Seine Einleitung ist jedem zu empfehlen, der sich einen ersten Überblick über das Gebiet zu verschaffen versucht. Die ausgewählten Studien vermitteln nicht notwendigerweise einen
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repräsentativen Einblick i n die verschiedenen Forschungstendenzen, bilden jedoch eine qualifizierte Darstellung repräsentativer Ausschnitte der amerikanischen Erzählkunst nach 1945. Die beste Beschreibung der Parameter von Der zeitgenössische amerikanische Roman, der Darstellung, die den Anlaß zu dem hier vorgelegten Forschungsbericht lieferte, stellt Gerhard Hoffmann, ihr Herausgeber, in seiner »Vorbemerkung« ( I X - X X I I ) selbst zur Verfügung. W i r bedienen uns ihrer (ohne weiteren Seitenverweis) für unsere eigene Charakterisierung der Bestimmung der amerikanischen Erzählkunst seit 1945 durch das Werk. Hoffmann bezeichnet das aus drei Bänden bestehende Werk als »das bisher umfassendste [ . . .] zur amerikanischen Erzählprosa der Nachkriegszeit,« das der Vielfalt der Komplexität und dem Aspektenreichtum des untersuchten Gegenstands weitgehend zu entsprechen vermag. Der Superlativ müßte allerdings zurückgenommen werden, da die Darstellung Frederick R. Karls dem Anspruch — wenn auch auf andere Weise — ebenfalls nahekommen könnte. Hoffmanns Werk erfaßt die ganze Spannweite des amerikanischen Romans, seine Entwicklung von Formen der »Spätmoderne« und des traditionellen Realismus bis hin zu den radikalen Elementen der »Postmoderne«. Z u bedauern ist dabei — wie bei den beiden zuvor betrachteten Werken übrigens auch — die zumindest theoretische Beschränkung auf den Roman, da doch eine Reihe der behandelten Autoren — so Flannery O'Connor oder Donald Barthelme — in der Kurzprosa ihr wichtigstes Ausdrucksmittel fanden. Wenn es heißt, daß »sich in der Vielfalt der Stile und ästhetischen Positionen eine reizvolle literarische Gleichzeitigkeit des — thematisch und formal — historisch Ungleichzeitigen« zeige, so stellt sich die Befürchtung ein, die Darstellung könne sich in einem dekonstruktivistischen Spiel mit den Begriffen verlieren. I n der Tat hinterläßt die Begrifflichkeit der Darstellung trotz des Erklärungsversuches in dem einführenden Kapitel auch weiterhin Unbehagen. D o c h glücklicherweise erweist sich die Begrifflichkeit insgesamt als flexibel genug für eine differenzierte Bestimmung der einzelnen Phänomene. Das Werk geht weit über die bisherigen Darstellungen des Gegenstandes hinaus, indem es »eine wechselseitige Erhellung von Theorie, Geschichte und ästhetische[r] Praxis« zu erreichen versucht. Die Frage, ob es sich bei der sogenannten Postmoderne seit den sechziger Jahren u m eine Fortsetzung der Moderne oder u m eine Antimoderne oder auch nur u m eine letztlich überschätzte, vielleicht inzwischen schon wieder überholte Übergangszeit [. . . ] handelt, ist ein wichtiger Aspekt dieser Diskussion.
Die Frage nach der Bewertung der Phänomene w i r d offengelassen, was durch das Nebeneinander der negativen Wertung in einem Beitrag v o n Habermas und der »abwägend« positiven i n einem solchen von Hassan
Bestimmungen der amerikanischen Erzählkunst nach 1950
dokumentiert Herausgebers letzteren das Kapiteln des entwirft.
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werden soll. Die immer wieder durchscheinende Präferenz des zeigt sich allerdings durchaus, wenn dieser nicht nur der Schlußwort erteilt, sondern auch selbst in den drei zentralen ersten Bandes eine umfassende »postmoderne« Erzähltheorie
Z u r Beschreibung der kulturellen Situation der Postmoderne sieht Hoffmann drei bedeutende Ansätze gegeben: 1. den steten und sich beschleunigenden Wandel, der als das einzig Beständige in der heute von Medien beherrschten kulturellen Welt erscheint und der seinen Zweck allein i n sich selbst zu haben scheint, paradoxerweise jedoch einer historischen Perspektive bedarf, »die anhand der Veränderung materieller Gegebenheiten und intellektueller Positionen den Wandel als solchen überhaupt erst erfassen läßt.« 2. den »Verlust einer zentralen Perspektive i m Sinne des Möglichen.« Dabei »sorgt einerseits die Herrschaft medienproduzierender kultureller Trends für eine erhebliche Gleichschaltung der Massenkultur durch das Angebot an gleichförmigen technologischen Unterhaltungen und Zerstreuungen; andererseits ist die kulturelle Szene zunehmend durch den stark differenzierten Pluralismus v o n Gruppeninteressen geprägt.« I m Roman führt dies einerseits — wie bei Vonnegut oder Brautigan — zum Rückgriff auf Formen der populären Literatur, des Detektivromans, des Western oder der Science Fiction, andererseits — wie bei Pynchon oder Barth — zu einem »elitäre [n] Spiel mit als erschöpft angesehenen modernen und auch traditionellen Themen und Ausdrucksformen der Romane.« 3. die radikalisierte Infragestellung der Grundpfeiler der (ästhetischen) Moderne: (a) der [. . .] Realitäts- und Wahrheitsvorstellungen,
die sich nun v o n Klischee und F i k t i o n
offenbar nicht mehr unterscheiden lassen; (b) des Identitätskonzepts,
das [ . . . ] nun m i t
dem Konzept der Rolle und Situationsbestimmtheit des Menschen rivalisiert; und (c) des Anspruchs der Kunst auf V e r m i t t l u n g einer sonst nicht mitteilbaren Wahrheit und Sinngebung.
Den Roman sieht Hoffmann auf zwei entgegengesetzte Weisen auf diese Situation reagieren: er konnte den Wegfall der der Moderne verbliebenen Grundpfeiler beklagen und die dadurch entstandene Problematik thematisieren oder »im Verlust der zentrierenden Ordnungsträger eine Befreiung des Bewußtseins und der Imagination feiern.« Durch die Freisetzung w i r d nun alles möglich. Allerdings gehört zu den Möglichkeiten — wie bei Coover und Pynchon — auch der »Protest gegen die Unverbindlichkeit und Anspruchslosigkeit des >anything goes!gefüllt< werden muß.« D o c h alles »Füllen« durch intuitive oder intellektuelle, wissenschaftliche oder künstlerische Fähigkeiten hat nur »den Experiment Charakter des rein Möglichen« und spielt sich »in einer ihnen eigenen Welt« ab, »ohne Transzendenz und religiöse Basis.« Eine zentrale Bedeutung sieht Hoffman der Sprache für die »Postmoderne« generell und den »postmodernen« Roman i m besonderen zukommen. Als linguistisches System »schafft« die Sprache erst die Welt und den Menschen [ . . . ] I n der performativen
Sprache, als Subjekt des Sprachspiels eröffnen
sich dem
Menschen jedoch [auch] unendliche Möglichkeiten der kreativen Selektion, Variation, K o m b i n a t i o n und Kontextbildung.
Zur Wahrnehmung der »Chancen für den Menschen zu ungehemmter Kreativität« angesichts des »kosmischen Chaos« bedarf es nach Hoffmann in der Postmoderne der Doppelperspektive der aktiven Dekonstruktion und der aktiven Rekonstruktion i m Horizont der entfristeten Zeit. Diese Rekonstruktion muß [ . . . ] immer Züge des Beliebigen und Eklektizistischen, aber auch Unendlichen tragen. Sie hat jedoch zweierlei Wahl.
Sie ist entweder prozessual ausgerichtet, ständig beliebig Neues produzierend, wobei sie das Entstehende reflektiert wie i n der »Meta-Fiktion« oder es als »Collage« (Barthelme) zusammenstellt, oder sie geht davon aus, »daß in der genannten Abwesenheit [des Zentrums] sich das Sein verbirgt, das [ . . .] aufscheinen, keinesfalls aber rationalistisch und systematisch erfaßt werden kann.« Der erste Band des Werkes behandelt die Ästhetik und das kulturelle Umfeld des zeitgenössischen Romans sowie die Erzählelemente und -perspektiven, die sich daraus ergeben, und w i r d zum größeren Teil von Hoffmann selbst bestritten, aber kompetent von einer Reihe von Mitarbeitern und auf dem Gebiet bereits ausgewiesener Forscher ergänzt. Der zweite Band skizziert i n acht Beiträgen »Tendenzen und Gruppierungen i m zeitgenössischen Roman« und beschränkt sich — mit der Ausnahme von Hawkes — auf nichtexperimentelle Autoren. Den experimentellen Autoren ist schließlich der dritte Band gewidmet. W i r vermissen — vielleicht mit der Ausnahme v o n John Gardner — keinen der Autoren, die w i r selbst i n dieser Gruppe für wichtig halten. Der einzige nicht-experimentelle Autor, der in diesem Band behandelt wird, ist John Updike. Leider fehlt den beiden letzten Bänden ein Register. Der Leser findet keinerlei Orientierung für nicht in den Titeln der Einzelbei-
Bestimmungen der amerikanischen Erzählkunst nach 1950
371
träge genannte Autoren und Werke. Er bleibt hierzu auf das Werk von K a r l angewiesen. Die vor allem i m ersten Band festgelegte Bestimmung des amerikanischen Romans und seiner Entwicklung seit 1945 w i r d in den beiden Folgebänden in sehr unterschiedlicher Weise am Gegenstand sichtbar. Die verschiedenen Autoren und Autorengruppen werden qualitativ und quantitativ sehr unterschiedlich behandelt. Allein die Autoren experimenteller Prosa werden weitgehend von erfahrenen Forschern auf dem v o n ihnen behandelten Gebiet mit entsprechendem Tiefgang mit Bezug auf die i m ersten Band entwickelten Vorgaben untersucht. Die Beiträge des zweiten Bandes sind mit Ausnahme der Studie Hornungs über Malamud, Roth und Hawkes kaum oder überhaupt nicht in das Konzept des Herausgebers integriert. Die quantitative Ungleichheit zeigt sich, wenn der Roman der Südstaaten auf 26 Seiten abgehandelt und als Parameter allein die Bedeutung der »Southern Renaissance« für fünf Autoren herangezogen wird, Mary McCarthy allein ein 23seitiges Kapitel gewidmet w i r d und das längste Kapitel der drei Bände (88 Seiten!) drei indianische Autoren mit insgesamt vier Romanen behandelt. Trotz der bei einem Teil der Beiträge angebrachten Ergänzung zur Zeit der abschließenden Redaktion repräsentiert das Werk die Rezeptions situation v o n etwa 1980. Aus der Sicht der i n i h m dargestellten und vertretenen postmodernen Ästhetik dürfte es die umfassendste und theoretisch fundierteste Bestimmung der amerikanischen Erzählkunst nach 1945 sein, aber auch nur ein Modell unter anderen möglichen — und dazu ein zeitbedingtes, das bereits i m Begriff ist, historisch zu werden. Bezeichnend für die »endpostmoderne« oder »postpostmoderne« Situation scheint mir die Frage zu sein, die Joyce Carol Oates am Ende ihres Gedichts »Playground« (The Hudson Review, 40, 1987, S. 90) stellt. I n dem Gedicht sieht sie einen Erwachsenen auf der Schaukel eines verlassenen Spielplatzes sitzen. Für die Kinder war der Spielplatz der Raum, i n dem sie behütet ihrer Einbildungskraft i m Spiel freien Lauf lassen konnten. Der Erwachsene »sits dreaming inside his eye-/lids where all worlds are invented.« D o c h der Erwachsene ist zu groß für die Kinderschaukel. Sein Absatz »[is RJubbing [ . . .] in the dust.« Er kommt mit einer »erfundenen« Welt i n K o n f l i k t mit dem, was Hoffmann als Aktualität i m Kontext der postmodernen Weltsicht bezeichnet. A m Schluß des Gedichts aber stellt der Sprecher/die Sprecherin die Frage, die an all die Rekonstruktion der »Postmoderne« und ihre Erklärungsmodelle gestellt werden kann: »Is that all?« D o c h für den Zeitpunkt, da es konzipiert wurde, ist Hoffmans Werk der beste und umfassendste Deutungsversuch seines Gegenstands, wenn aber auch nur Versuch / Modell unter anderen, die möglich sind und sicher auch zu jener Zeit waren. 2*
KLEINE
BEITRÄGE
D e r R a u b des H e i l i g t u m s in Flauberts Salammbô und sein antiker Hintergrund V o n Bernhard Kyt^ler I
W i r beginnen unsere Betrachtung mit der Beschreibung einer bekannten Belagerungsszene. Bestürmt w i r d eine bedeutende, mächtige, eine reiche und ruhmreiche Stadt. Aus vielerlei Stämmen bunt gemischt bemüht sich das stürmende Heer, sie einzunehmen; doch ihre Fortifikationen erweisen sich als unüberwindlich. So entsteht ein länger sich hinziehender Stillstand: Die beunruhigten Bürger sind bedroht, doch noch nicht unmittelbar dem Untergang verfallen; die Belagerer vermögen die Stadt w o h l zu umzingeln und zu bedrängen, aber nicht zu bezwingen. I n diesen Gleichstand hinein ereignet sich ein besonderer Vorgang: Zwei Anführer der Belagerer unternehmen ein kühnes Wagestück. Sie sind beide tüchtige Kämpfer, doch zeichnet sich der eine mehr durch seine Körperkraft, der andere mehr durch seine klugen, mitunter auch listigen Ratschläge aus. Sie personifizieren i m Grunde den Gegensatz von physischer Kraft und geistiger Gewandtheit. I h r Unternehmen ist v o n geradezu unglaublicher Kühnheit: I m Schutze der Nacht dringen sie heimlich i n die belagerte Stadt ein, auf Schleichwegen besonderer A r t gelingt es ihnen, das Zentrum der feindlichen Ansiedlung, die Burg, zu erreichen. Hier vollführen sie nun eine vollends außergewöhnliche Tat: Sie rauben das dort aufbewahrte höchste Heiligtum der Stadt, gewissermaßen das gegenständliche Unterpfand göttlicher Gnade und des Friedens zwischen der Bürgerschaft und der Gottheit; dieses tragen sie hinaus ins feindliche Lager — mit i h m das Glück der Stadt. Die beschriebene Episode aus dem Belagerungsgeschehen ist gewiß gut bekannt. Der Flaubert-Philologe sieht i n ihr das 5. Kapitel des Romans Salammbô, das den Titel »Tanit« trägt. Freilich: Trüge man dieselbe Beschreibung anderen Ortes vor, nämlich vor einem K o l l o q u i u m klassischer Philologen, so würde man auch dort alsbald auf Verständnis stoßen. Allerdings würden die Latinisten und Gräzisten nicht an den Raub des Zaimph aus
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Bernhard Kytzler
Karthago denken. Sie würden sich vielmehr an einen anderen, einst weithin bekannten Vorgang erinnert fühlen, der — das ist die These, die dieser Studie zugrunde liegt — Flaubert als Modell für seine Episode gedient hat: Den Raub des Palladions durch Odysseus und Diomedes aus dem belagerten Troja. Sämtliche zuvor geschilderten Züge des tollkühnen Unternehmens der beiden Räuber des Heiligtums treffen nämlich auf die beiden homerischen Helden ebenso zu wie auf Flauberts Figuren Spendius und Matho. I m folgenden wollen w i r zunächst einige Einzelzüge und die besonderen Details der Überlieferung erläutern, bevor w i r — nach einem Umweg, besser: einer Umschau i n der Literatur der Klassischen Antike — wieder auf Flaubert zurückkommen und sein modernes Meisterstück gegen das antike Modell abgrenzen.
II
Wer sich etwa fragt, wie es w o h l käme, daß er seinen Homer derart schlecht i m Gedächtnis hat, daß i h m diese Szene nicht selbst auch i n Erinnerung gekommen ist, der darf sich beruhigen: Der Raub des Palladions aus Troja durch Odysseus und Diomedes ist eine jener zahlreichen Episoden des trojanischen Krieges, die uns gerade nicht v o n Homer berichtet sind. Jedoch sei zunächst eine andere homerische Episode i n Erinnerung gerufen, die sogenannte Dolonie. I m 10. Gesang der Was w i r d geschildert, wie zwei Krieger, und zwar ebenfalls Odysseus und Diomedes, nachts gegen das trojanische Lager als Kundschafter ausziehen und dort auch großes Unheil anrichten. Sie töten den K ö n i g Rhesos und z w ö l f seiner Waffengefährten, ferner noch den Späher Dolon, der ihnen i m Dunkeln begegnet, und rauben auch die kostbaren Rosse des Rhesos. Hier scheint erzähltechnisch ein Parallelfall vorzuliegen zu jenem anderen nächtlichen Gang des Odysseus mit Diomedes in die Stadt selbst, der uns hier beschäftigt: zum Raub des Palladions. Dabei muß es hier offen bleiben, w o Modell, w o Imitation zu finden ist, ob die Dolonie das V o r b i l d für den Raub des Palladions abgab oder eher umgekehrt. Bevor aber v o m Raub des Palladions die Rede ist, erst noch ein kurzes W o r t über das Palladion an sich. Es ist als W o r t etymologisch nicht sicher geklärt, auch seine ursprüngliche Form ist nicht eindeutig überliefert. Das Problem stellt sich der neueren Forschung 1 so: »Das P. steht i m Zwielicht v o n orendistischen Vorstellungen (d.h. von solchen der unpersönlichen Kraft), welche der Auffassung v o n dem als D i n g aus sich heraus wirkenden Amulett entsprechen, und von theistischer Vorstellung einer persönlichen Göttin.« Ganz gleich aber, ob w i r an ein regelrechtes K u l t b i l d zu denken haben oder 1 Das Antikenlexikon Der Kleine Fauly, hrsg. v o n K . Ziegler / W. Sontheimer (Stuttgart, 1964-1975), Bd. 4 (1972), 431 f.
Der Raub des Heiligtums in Flauberts Salammbô
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n u r an e i n e n u n f ö r m i g e n F e t i s c h , i n j e d e m Falle ist m i t d e m P a l l a d i o n S c h u t z u n d G l ü c k d e r Stadt v e r b u n d e n . E s ist g e w i s s e r m a ß e n das U n t e r p f a n d Unversehrtheit pignora
des G e m e i n w e s e n s ,
imperii 2.
so w i e
später
in
Rom
die
der
berühmten
E i n P a l l a d i o n g a b es n i c h t a l l e i n i n T r o j a , d o c h ist dieses
dasjenige, welches i n d e r A n t i k e a m w e i t e s t e n b e k a n n t w a r . I n e i n e r E p i s o d e des T r o j a n i s c h e n K r i e g e s , die n a c h d e m E n d e d e r Ilias Homer
nicht berichtet
wird,
l i e g t u n d also b e i
s o n d e r n sich i n v i e l e r l e i B r e c h u n g b e i
w e n i g e n späteren A u t o r e n e r w ä h n t f i n d e t , w i r d dieses H e i l i g t u m i n w a g h a l s i g e n n ä c h t l i c h e n S t r e i f z u g d u r c h D i o m e d e s u n d Odysseus g e r a u b t . V e r g i l l e g t i n seiner Äneis 3 Trojanern
nicht einem
heimlich
d e m S i n o n i n seiner T r u g r e d e v o r d e n
die f o l g e n d e n V e r s e i n d e n M u n d ;
sie seien h i e r als das
wohl
renommierteste Zeugnis der E r z ä h l u n g v o r g e l e g t 4 : Omnis spes Danaum et coepti fiducia belli Palladis auxiliis semper stetit, impius ex quo Tydides sed enim scelerumque inventor Ulixes fatale adgressi sacrato avellere tempio Palladium caesis summae custodibus arcis corripuere sacram effigiem manibusque cruentis virgineas ausi divae contingere vittas: ex ilio fluere ac retro sublapsa referri spes Danaum, fractae vires, aversa deae mens, nec dubiis ea signa dedit Tritonia monstris. vix positum castris simulacrum: arsere coruscae luminibus flammae arrectis salsusque per artus sudor iit, terque ipsa solo — mirabile dictu — emicuit parmamque ferens hastamque trementem. A l l der Danaer Hoffen und Zuversicht auf diesen K r i e g hier stand v o n je auf der Hilfe der Pallas. Aber seitdem der ruchlose Tydeussohn und der Vater der Schandtat, Ulixes, Pallas schicksalsträchtiges B i l d aus heiligem Tempel fortzureißen gewagt, — sie erschlugen die Wächter der Stadtburg, rafften sodann das heilige Bild und wagten, der G ö t t i n rein-jungfräulichen Schmuck m i t blutiger Hand zu besudeln — seit der Zeit zerrann und sank der Danaer Hoffnung jäh dahin, brach nieder die Kraft; es zürnte die Göttin. Unzweideutig bewies es Tritonia grausig in Wundern: Eben erst stand i m Lager ihr Bild; schon brannten und blitzten
2 Z u diesen vergleiche: P. K a r l Groß, Die Unterpfänder der römischen Herrschaft, Deutsche Forschungen, Bd. 1 (Berlin, 1935), insbesondere S. 69-96, Das Palladium.
3 Buch 2, 162 ff. 4
Vergil, Aeneis, Lateinisch und Deutsch hg. J.Götte (München, 6 1983).
Neue
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Bernhard Kytzler Flammen aus weitgeöffnetem Auge, die Glieder hinab rann salziger Schweiß, dreimal v o m Boden — Wunder zu sagen — sprang die G ö t t i n und schwang ihren Schild und die zitternde Lanze.
Sinon schließt dann seine Rede mit der Erklärung, zur Sühne für den Frevel am Palladion hätten die Griechen das Trojanische Pferd gebaut, jedoch so groß, daß die Trojaner es nicht in ihre Stadt einzubringen vermöchten und so des Schutzes der G ö t t i n verlustig blieben. Vergil bringt derart Palladion und Trojanisches Pferd i n Beziehung; er setzt aber in der Form seiner rückerinnernden Trugrede die Kenntnis v o m Raube des Palladions voraus. Das konnte er durchaus tun, denn nicht wenige andere antike Autoren haben auf diese Episode angespielt, sie gestreift oder zitiert. Es kann dabei nicht ausbleiben, daß die Berichte voneinander vielfach abweichen. Man vergleiche ζ. B. die Aufreihung der Zeugnisse durch E. W ö r n e r 5 , w o eine neunzehnfache gegliederte Quellenliste mit der Unterteilung i n neun Hauptelemente der Erzählung das Material darbietet. Wichtig für unsere Überlegungen ist, daß der Vorgang nicht nur weithin bekannt war und i n zahlreichen Quellen aus allen Epochen der Antike vorlag, sondern daß ihm auch Einzelzüge zugeschrieben wurden, wie sie sich in der Fassung Flauberts ebenfalls finden. Es sind dies vor allem die folgenden drei: 1. »Der Frevel des lokrischen Aias bestand darin, daß er i n das A d y t o n der G ö t t i n eingedrungen war, das ein Mann überhaupt nicht betreten durfte, daß er die Jungfrau, die das Bild der G ö t t i n umschlungen hielt, mit Gewalt wegriß und dabei das heilige Bild v o n seiner Stelle gerissen und fortgeschleppt hatte, das nur heiligen Frauen, wie Kassandra und Theano, zu berühren gestattet war.« 6 Die Parallelen zu Mathos Haltung gegenüber Salammbô sind deutlich genug. 2. Die Räuber des Heiligtums dringen i n die Burg der feindlichen Stadt durch einen unterirdischen Gang, vielleicht eine A r t Schleuse, ein. Wörner verweist dafür auf die Kleine Iltas resp. Lesches und Aristophanes Wespen 350 f. 7 Ebenso gelangen Spendius und Matho durch einen Aquaeduct nach Karthago hinein. 3. Vergil und auch Silius Italicus 8 erzählen, wie die beiden Räuber die Hüter des Heiligtums töten; Flaubert schildert, wie Spendius einen Priester umbringt. 5 Roscher, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, (Leipzig, 1884-1936, Nachdruck: Hildesheim, 1965) Bd. I I I , 1 (1902), darin: E. Wörner: >PalladionUnschuldig-Schuldig-Sein< nicht als Paralogismus gedacht zu werden braucht, hätte sich Verf. begnügen sollen. Die abschließende summarische Behandlung der aristotelischen Tragödientheorie übersieht insbesondere, daß das hamartânein zwar Ursache des Handlungsumschwungs in der idealen Tragödie ist, v o n Aristoteles aber keineswegs zur notwendigen Bedingung des Tragischen selbst erklärt wird. Das Verdienst der Arbeit liegt i m Bereich von Aristoteles' Handlungstheorie. Denn ein nicht unerhebliches Nebenergebnis besteht darin, daß hier eine Reihe angeblicher Widersprüche und Unzulänglichkeiten — wie beispielsweise das oft bemängelte Fehlen eines Willensbegriffs — durch strikte Anwendung aristotelischer Kategorien und hilfreiche Exegese spätantiker Aristoteleskommentatoren aufgelöst werden kann. Abschließend bleibt die Frage, wieweit die peripatetische Handlungstheorie mit ihren feinmaschigen Differenzierungen für die Tragödie des fünften Jahrhunderts v.Chr. erkenntnisfördernd ist. Das Problem steht außerhalb des Rahmens der Arbeit; zwei knappe Analysen v o n Medea und Antigone in einem Anhang, in dem Verf. ihr Ergebnis anzuwenden sucht, werden der Komplexität der poetischen Stücke nicht gerecht. H . Flashar hat auf den mit dem zeitlichen verbundenen sachlichen Abstand zwischen der Poetik und den drei großen Tragikern aufmerksam gemacht; 5 gleichwohl erwies sich ein dem aristotelischen entsprechender hamartia-Begriff jüngst als ein Schlüssel für zwei Sophokles-Tragödien. 6 O b sich gleiches an Euripides und vor allem bereits an Aischylos bewährt, bleibt abzuwarten. I n jedem Falle bildet das aristotelische Instrumentarium ein Korrektiv gegenüber einem durch falsche Oppositionen verkürzten Tragik Verständnis. Gregor Vogt-Spira, Freiburg 5 6
»Die Poetik des Aristoteles und die griechische Tragödie«, Poetica , 16 (1984), 1-23.
Z u r Antigone: Α . Schmitt (s. A n m . 4); zum Oidipus Tyrannos unabhängig voneinander: E. Lefèvre, »Die Unfähigkeit, sich zu erkennen: Unzeitgemäße Bemerkungen zu Sophokles' Oidipus Ty ranno s «, Würzburger Jahrbücher, Ν . F. 13 (1987), 37-58; A . S c h m i t t (siehe A n m . 1).
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Buchbesprechungen
Willi Erzgräber und Sabine Volk, hg., Mündlichkeit und Schriftlichkeit i m englischen Mittelalter [Script Oralia, Bd. 5]. Tübingen: Gunter Narr, 1988, 183 S. »Quoniam non cognovi litteraturam, introibo in potentias Domini;« »beatus qui legit et qui audiunt verba prophetiae«. These t w o quotations, respectively from Psalm 70(15) and from the Book of Revelation (1.3), could well represent the dilemma o f medieval clerks and might have been underwritten by the author o f Piers Plowman (oddly absent i n Mündlichkeit und Schriftlichkeit). As it happens, they appear at the beginning o f Heinz Bergner's essay, »Das mittelenglische >Mystery Playc mündliche, bildliche und schriftliche K o m m u nikation«, the last i n the series of eleven that make up the present volume. The t w o Scriptural passages seem to present a divided message: on the one hand, a contrast between literacy and salvation; on the other, the functionality o f the former to the latter. W i t h i n this second statement, a complementarity o f »reading« and »listening«, i.e., o f literacy and orality, is clearly outlined. H o w does medieval literature get out o f this tangle? Bergner answers the question brilliantly by examining mystery plays, and by doing this he gains the advantage o f facing a »text« which is at once »mündlich«, »bildlich«, and »schriftlich«. But other authors are less fortunate, in that the texts they analyse are by definition »written« ones — no purely »oral« literature from the Middle Ages has survived. I n his »Vorwort«, W i l l i Erzgräber shows he is acutely aware o f this problem. He reviews w i t h great clarity past literature on the subject, and points out the t w o main directions the contributors w i l l follow in tackling the issue. I w o u l d summarize these in the following manner. Firstly, we have essays that try to reconstruct the development from orality to literacy or to identify the oral elements surviving i n literary texts by looking for those features which the »fathers« o f the orality theory have established as characteristic o f »oral« literature or by exploring border areas such as those o f sermon writing. Thus, w i t h a good deal o f original results, Hans-Jürgen Diller examines the »problem o f reference« i n Beowulf \ coming to the conclusion that »the strategies of reference identification used i n Beowulf [ . . . ] suggest that the poet knew his sources by hearing« and »show a number o f features which are best explained as left-overs from the habit o f oral composition«. I n the same vein, though w i t h different methods, Wilhelm Busse explores »Written and Oral Traditions i n the Late Tenth Century«, Hildegard Tristram »Original Prose in England from the Seventh to the Fifteenth Century«, Theo Stemmler »Das Überleben alt- und mittelenglischer Lieder in Prosatexten«, and Sabine V o l k the »Problems o f Literacy and Orality in Late Fourteenth and Early Fifteenth Century Vernacular Sermons in England«.
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Volk's article, however, is fully and intelligently open to the kind o f problem that dominates the second »ideal« group of essays which can be called, from the titles o f t w o o f them, that o f the »fictionalized dilemma« and the »fingierte Mündlichkeit«. These, respectively by Ursula Schaefer and Stephan K o h l , open up exciting new perspectives both from a theoretical and a historical point o f view and are a joy to read. They show that oral »fiction« is central to poems composed as written texts. T o quote the t w o authors' o w n words: The unexpected, or rather unexpectable, I want to speak about is the fictional text. I am contending that some o f the elegies have to be fictional due to their substance, namely the theoretical experience o f religious promise, and that they can be fictional due to the textuality, i.e. the utilization o f written texts in a largely illiterate society, o f Anglo-Saxon culture after the conversion (Schaefer, p. 43). Vielmehr geht die Einführung der Erzählstrategie >Fingierte M ü n d l i c h k e i t mit einem deutlich ausgeprägten Funktionswandel der Literatur einher: an die Stelle einer deklamatorischen Bekräftigung des gesellschaftlich verpflichtenden Weltbilds
tritt
nun eine mimetisch angelegte Diskussion sich widersprechender Wertsysteme; statt einer Teilhabe an D i c h t u n g findet sich eine Einladung zur Erörterung des literarischen Texts ( K o h l , S. 145).
Dieter Mehl's and Derek Brewer's articles stand between these t w o »ideal« positions i n the book. While the former wisely reads the »Streitgespräch« of The Owl and the Nightingale as an »art« which i n the end »wird fast losgelöst v o m Sinn der Sprache als Vermittlung von Konzepten oder rationalem Dialog«, the latter surveys in masterly fashion all the devices o f orality and o f literacy in Chaucer. The theme is picked up by Jörg Fichte from another point of view, that o f »hearing and reading«, and focussed on the Canterbury Tales. His article is short, clear, and elegant, and I recommend it to all readers o f Chaucer's collection o f stories, for it shows us how to approach a text where a stratification of at least four medieval »fictions« can still be alive and stimulating to a modern audience. The brilliant conclusion of this essay (pp. 130-1) is representative o f the best this volume contains and of its overall high quality. I t may have been opportune to make all of this available to a wider public by englishing the German contributions. Piero Boitani, Rome
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Robert Fricker, Das Ältere Englische Schauspiel, Bd. 1: Von den geistlichen Autoren bis zu den »University Witsminor dramatists< naturgemäß ebenso i n den Hintergrund wie die Vielzahl anonym überlieferter Dramen. Wiewohl die Reichhaltigkeit des Materials eine Schwerpunktsetzung geradezu zwingend notwendig macht, w i r d man dennoch die Frage stellen dürfen, ob nicht gerade die Werke der sogenannten >minor dramatists< einen noch schärfer konturierten Einblick in die Haupttendenzen der Entwicklung des älteren englischen Schauspiels ermöglicht hätten, ist es doch häufig die Überwindung des Zeitstils, die genialische Um- und Einschmelzung allgemein mentaler (und selbstverständlich auch literarischer) Strömungen in ein konkretes Kunstwerk, was Shakespeare und einige seiner Zeitgenossen i m Urteil der Nachwelt zu den zu Recht großen Dramatikern der Tudor- und Stuartzeit macht. Wenn die Geschichte des älteren englischen Schauspiels Robert Frickers — wie es u.a. der Klappentext zu Band I I I in aller Knappheit formuliert — beansprucht, auch als allgemeine Einführung i n das ältere englische Schauspiel zu gelten, dann muß sie sich fragen lassen, inwieweit sie auch dieser Zielsetzung gerecht wird. Bedauerlicherweise sind die kombinierten Bibliographie-
1 V g l . hierzu die Aufstellung und Diskussion der Forschung bei M . V . DePorte, »William Davenant«, T . P. Logan; D . S. Smith (Hrsg.), The Later Jacobean and Caroline Dramatists. Λ Survey and Bibliography of Recent Studies in English Renaissance Drama (Lincoln, London, 1978), 192-209.
Buchbesprechungen u n d A n m e r k u n g s t e i l e d e r e i n z e l n e n B ä n d e n i c h t e b e n u m f a n g r e i c h . Sie g e b e n also, a u c h dies w i e d e r u m ist angesichts der f ü r d e n e i n z e l n e n F o r s c h e r
kaum
m e h r ü b e r s c h a u b a r e n M a t e r i a l f ü l l e eine S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t , n u r eine A u s w a h l e i n s c h l ä g i g e r F o r s c h u n g s b e i t r ä g e w i e d e r . D a b e i w i r d d e r Spezialist f ü r die e i n z e l n e n F o r s c h u n g s g e b i e t e d e n e i n e n o d e r a n d e r e n B e i t r a g v e r m i s s e n . D i e s l i e g t i n d e r N a t u r d e r Sache; d i e F ü l l e des M a t e r i a l s b e d i n g t d e n Z w a n g der A u s w a h l ; u n d auch hier schuldet m a n Fricker zunächst einmal Respekt, o b w o h l m a n b e i e i n z e l n e n D r a m e n m i t g l e i c h e m R e c h t eine andere A k z e n t u i e r u n g innerhalb der beigezogenen u n d ausgewerteten Sekundärliteratur
hätte
v o r n e h m e n können. F ü r einen ungleich vollständigeren Ü b e r b l i c k über
die
Geschichte u n d auch den Stand der F o r s c h u n g z u m D r a m a der englischen Renaissance w i r d d e r k r i t i s c h e Leser so w e i t e r h i n a u f das v i e r b ä n d i g e T e r e n c e P. L o g a n u n d D e n z e l l S. S m i t h als Survey and Bibliography Studies in English
Renaissance Drama
herausgegebene S t a n d a r d w e r k
von
of Recent zurückgrei-
fen m ü s s e n . 2 Wenngleich die Erfassung und Aufarbeitung der jeweils unmittelbar einschlägigen Forschungsliteratur zu einem so komplexen Untersuchungsgegenstand wie dem älteren englischen Schauspiel naturgemäß nicht beabsichtigt gewesen sein kann, sei dennoch die Frage erlaubt, ob und inwieweit die Auswahl der Sekundärliteratur auch auf die exemplarische Interpretation einzelner Dramen durchschlägt. Oder noch konkreter und bewußt provozierend formuliert: inwieweit gründen Frickers einfühlsame Interpretationen auf dem mittlerweile erreichten Wissensstand? Dies nun für die mehr als zweihundert v o n Fricker i m Detail ausgewerteten Dramen überprüfen zu wollen, ist allerdings ebenfalls v o n vornherein unmöglich. Ich beschränke mich i m folgenden daher auf die Gruppe der Römerdramen, und dies vornehmlich aus zwei Gründen: diese Gruppe vereint zum einen humanistische Dramen, reine Lesedramen und — m i t den Römerdramen W i l l i a m Shakespeares und Ben Jonsons — weltberühmte Tragödien zu einem überindividuellen Querschnitt des dramatischen Schaffens der T u d o r - und Stuartzeit; und zum anderen räumt Robert Fricker den Römerdramen i n seiner
Darstellung
durchaus breiten Raum ein. 3 Gleichsam als erneute Bestätigung der obigen Bemerkungen über Frickers teils betont subjektive Wertungen sei die prägnante Aussage über John Websters Appius Virginia
and
( I I I , 152) zitiert, ein Satz, über den sich m. E. trefflich streiten ließe: »Das
Schauspiel besitzt wenig Tiefe«. Wenn in diesem Falle der Rez. anderer Meinung ist und glaubt, diese auch begründen zu können, so führte eine solche Begründung jedoch nicht
2
V g l . jeweils m i t dem Untertitel A Survey and Bibliography of Recent Studies in English Renaissance Drama T . P. Logan; D . S. Smith (Hrsg.), The Predecessors of Shakespeare (Lincoln, 1973); dies. (Hrsg.), The Popular School (Lincoln, 1975); dies. (Hrsg.), The New Intellectuals (Lincoln, L o n d o n , 1977); dies. (Hrsg.), The Later facobean and Caroline Dramatists (Lincoln, L o n d o n , 1978). 3 V g l . darüber hinaus mittlerweile Robert Fricker, »Caesarenbilder i m Älteren Englischen Schauspiel«, Anglia, 106 (1988), 26-43.
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über das oben bereits allgemein Ausgeführte hinaus. Aus diesem Grunde sei in diesem Falle, wie i m übrigen auch zu Frickers Analysen des anonymen Appius and Virginia,
der
Römerdramen Shakespeares, Antony and Cleopatra bzw. Coriolanus, und Ben Jonsons Sejanus His Fall auf eine detaillierte W ü r d i g u n g verzichtet, die sich nur mit solchen zum Teil v o m Rez. nicht geteilten Wertungen auseinanderzusetzen hätte, jedoch keine grundsätzlichen Einwände erforderlich machen. Als eher marginale Ergänzung sei zu John Marstons The Wonder Tragedy
of Women, Or The
of Sophonisha auf die neue kritische E d i t i o n v o n W i l l i a m K e m p hingewiesen 4 ,
deren Benutzung insbesondere Frickers Bemerkungen zur Tradition des SophonisbaStoffes sicherlich zugutegekommen wäre. I n gleicher Weise hätte der Rückgriff auf P. D . Greenes wichtigen Aufsatz (»Theme and Structure in Fletcher's Bonduca% SEL 22 (1982), 305-316) Frickers Interpretation ( I I I , 248-249) dieses so in deutlicher Dichotomie der Wertvorstellungen konzipierten Dramas befruchten können. Das Problem des Stoizismus in George Chapmans Caesar and Pompey, wie auch für die Tragödien Chapmans insgesamt, scheint mir in der Interpretation Frickers korrekturbedürftig zu sein, wie die richtungweisende Untersuchung v o n Gilles D . Monsarrat, Light from the Porch. Stoicism and English Renaissance Literature,
Coll. Etudes Anglaises Bd. 86
(Paris, 1984), bes. 189-221, verdeutlicht, die allerdings so spät erschien, daß Fricker sie selbstverständlich nicht mehr berücksichtigen konnte. Als letztes i m Kontext der marginalia sei auf die Nichtberücksichtigung der bedeutenden Studie zu Jonsons Catiline His Conspiracy v o n Barbara Ν . De Luna (Jonson's Romish Plot. A Study of Catiline and its Historical
Context, (Oxford, 1967)) aufmerksam gemacht;
gerade diese Untersuchung stellt die zeitgenössisch aktuelle Brisanz (»Gunpowder Plot«) dieser zutiefst politischen Tragödie Jonsons eindringlich heraus. Die Nichtberücksichtigung durch Fricker ist u m so erstaunlicher, als er ansonsten gerade auf solche aktuellen Aspekte der interpretierten Theaterstücke m i t Nachdruck verweist (vgl. etwa I I I , 271 275 zu Philip Massingers The Bondman). Z u John Fletchers The False One ist Frickers Analyse jedoch in Details zu korrigieren: Cleopatra ist ungeachtet ihres zur Schau gestellten großen persönlichen Mutes keineswegs eine »stoische Herrscherin« ( I I I , 253), und auch Pothinus »willigt in die Ermordung des Pompeius« ( I I I , 254) nicht ein, sondern er setzt sie gegen die moralischen Bedenken der übrigen (Achoreus!) in geradezu machiavellistischer Weise durch, wie allein der folgende kurze Ausschnitt aus seiner politischen Analyse der konkreten Situation bestätigen möge (I, 1, 344-358): . . . But alas, What in a man, sequester'd from the world, O r in a private person, is prefer'd, N o policy allows o f in a K i n g , T o be or just, or thankfull, makes Kings guilty, A n d faith (though prais'd) is punish'd that supports
4 W i l l i a m K e m p (Hrsg.), John Marston's The Wonder of Women, Or The Tragedy of Sophonisha, Renaissance Drama, A Collection o f Critical Editions (New Y o r k , L o n d o n , 1979). V g l . bes. 2ff. zu den »Narrative SourcesOur swords into our proper entrailsc Aspekte der Lucanrezeption i m elisabethanischen Bürgerkriegsdrama«, Amodern< anmutet, w i r d der bereits zwei Jahre zuvor publizierte Roman Moll Flanders, der auf eine A r t Versöhnung zwischen der Protagonistin und den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zusteuert, v o n Lesern und Kritikern wesentlich höher eingestuft. Moll Flanders bietet ein facettenreiches Bild der englischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts und beschreibt zugleich den Aufstieg einer aus dem Verbrechermilieu stammenden Frau zu Ansehen und Wohlstand i m bürgerlichen Sinn. Der äußeren Form nach ist der Roman die Autobiographie einer reuigen Sünderin, aber wie bei Robinson Crusoe gehen auch hier religiöse und pragmatische, entschieden dem Diesseits zugewandte Denk- und Verhaltensweisen ineinander über. Die Spannungen zwischen den einzelnen Perspektiven, die ironischen K o n traste in der Selbst- und Wirklichkeitsdarstellung, die M o l l Flanders i n den M u n d gelegt sind, reizen den Leser, auf seine Weise i n die Zusammenhänge zwischen I n d i v i d u u m und Gesellschaft einzudringen und die verschiedensten Interpretationsansätze, die das Werk nahelegt und die von der Forschung aufgenommen wurden, selbst durchzuspielen. Auch bei diesem Kapitel fällt auf, daß die Verf. mit Geschick die werkimmanente Interpretation mit einer kontextbezogenen Betrachtungsweise zu verbinden versteht und auf diesem Weg zu einem ausgewogenen Urteil über den Roman wie über die Sekundärliteratur gelangt. Bei der Interpretation v o n A Journal oj the Plague Year zeigt die Verf., wie der Erzähler einerseits u m die Darstellung der historischen Wirklichkeit
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bemüht ist, andererseits auf die Beeinflussung seiner zeitgenössischen Leser bedacht war, die sich 1722 von einer Pestepidemie bedroht sahen. I m Gegensatz zu den Romanen sind jedoch hier die faktischen, didaktischen und narrativ-fiktionalen Elemente nicht zu einer künstlerischen Einheit integriert. I n ähnlicher Weise werden auch die Memoiren, Verbrecherbiographien und Abenteuergeschichten zwischen »fact« und »fiction« angesiedelt; an die Stelle eines mehrschichtigen, offenen Wirklichkeitsmodells, das die besten von Defoes Romanen charakterisiert, tritt hier »eine eher geschlossene, die Leserreaktion weithin determinierende Wirkungsstruktur« (S. 101). E i n besonderer Platz gebührt i m Rahmen v o n Defoes Gesamtwerk der dreibändigen Reisebeschreibung A Tour Through the Whole Island (1724-26), die eine sozialgeographische Darstellung Englands und Schottlands bietet; die essayistischen Kommentare lassen erkennen, daß Defoe darauf abzielte, ein Gesamtbild einer reichen, fortschrittlichen Nation zu entwerfen. Diese Defoe-Monographie ist insbesondere für diejenigen Leser nützlich, die einen soliden Überblick über das Gesamtschaffen Defoes gewinnen und i m Umriß über die Probleme informiert sein möchten, die in den letzten Jahrzehnten die Forschung beschäftigten. Stilistisch ist an dieser Darstellung wenig auszusetzen; eine Wendung wie »die Leserreaktion ambiguisieren« (S. 33) hätte durch eine bessere Formulierung ersetzt werden sollen. Trennungsfehler, die in Computer-Manuskripten immer wieder anzutreffen sind wie »Äußer-ungen« (S. 54), sollten korrigiert werden. Man würde diese Monographie gerne mit Vergnügen lesen, aber dieser Wunsch w i r d durch den kleinen Druck zunichte gemacht. A m Ende hat der Leser das Gefühl, als habe er sich pflichtgemäß durch 123 Seiten Fußnoten durchgearbeitet. Schließlich sei folgende Bemerkung erlaubt: D e m Rezensenten lagen zwei Exemplare vor, i m ersten Exemplar waren die Seiten 81, 84, 85, 88, 89, 92, 93, 96 nicht ausgedruckt; das zweite Exemplar bot den vollständigen Text. Druckerei und Verlag sollten dem Leser solche Irritationen ersparen. Willi Er%gräber y Freiburg i. Br.
Joseph von Sonnenfels, Briefe über die wienerische Schaubühne, hg. H i l d e Haider-Pregler [Wiener Neudrucke, hg. Herbert Zeman, Bd. 9], Graz: Akademische Druck- u. Verlagsanstalt, 1988, 584 S. Die literaturhistorische Forschung hat sich daran gewöhnt, Joseph v o n Sonnenfels' Briefe über die wienerische Schaubühne (auf dem Titeibl. 1768 datiert) für sich zu requirieren. Was lag dann näher, als sie mit einem — wenigstens vordergründig — ähnlichen strukturierten Unternehmen zu vergleichen — : mit Lessings Hamburgischer Dramaturgie.
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Wie wenig indes ein solcher Vergleich hergibt, dokumentiert die in der Reihe Wiener Neudrucke erschienene Neuausgabe der Briefe aufs eindrücklichste. August Sauer hatte sie 1884 bereits herausgegeben und einen »Commentar« zu dieser »vorzüglichsten Wienerzeitschrift des vorigen Jahrhunderts« angekündigt. Es blieb beim Versprechen. Hilde Haider-Pregler, glänzend ausgewiesen durch eine Reihe großer und kleiner Studien zum mariatheresianischen und josephinischen Theater, hat sich der Aufgabe gestellt und sie überzeugend gelöst. Die vorliegende Ausgabe gibt den Text der in vier »Quartale« eingeteilten Journalfassung von 1768 i m Reprint der Sauerschen Edition wieder. Diese Entscheidung für einen Reprint ist zu begrüßen, vermittelt doch die höchst differenzierte Typographie von 1884 eher den Eindruck des Originalen, als dies ein hinsichtlich der »Suggestivkraft« mit Sicherheit schwächerer Neusatz vermocht hätte. Die Präferenz für die Journalfassung, deren einzelne »Schreiben« — fünfundzwanzig an der Zahl, datiert v o m 27. 12. 1767 bis zum 25. 2. 1769 — jeweils mittwochs »im kurzböckischen Verlagsgewölbe auf den [sie!] Hof« (S. 9) ausgegeben wurden, bedeutete für die Herausgeberin gleichzeitig die Entscheidung gegen einen Reprint oder Abdruck der späteren, von Sonnenfels sorgfältig redigierten Fassung des Texts i m Rahmen seiner Gesammelten Schriften (Bd. 5 u. 6, 1784). Haider-Pregler hat die Fassungen v o n 1768 (bzw. 1767/69) und 1784 kollationiert und die inhaltlichen und sprachlichen Unterschiede i m Zusammenhang eines Nachworts an zahlreichen Beispielen vorgestellt. U m hier die wichtigsten Unterschiede anzuführen: Sicher aus der Gewißheit seines Sieges über die Altwiener Komödie heraus ist Sonnenfels' ins Rigorose gesteigerte Ablehnung des Extempore- und Stegreifspiels i n der späteren — d. h. Buchfassung der Briefe zu verstehen. M i t der Integration einiger Aristoteles-Belege in diese Fassung wollte der zu einem früheren Zeitpunkt weitgehend an Horaz orientierte Kritiker möglicherweise Versäumtes nachholen. Lessing hatte da wahrlich mehr zu bieten! Die Einstellung Sonnenfels' gegenüber einigen Autoren änderte sich 1784 entweder zum Positiven (Molière, Destouches) oder zum Negativen (Diderot). Die Haltung gegenüber Lessing blieb respektvolldistanziert, die gegenüber Goldoni — für den heutigen Leser schier unverständlich — schroff ablehnend. Peinliche Fehler i n der Journalfassung wie etwa die kühne Behauptung, das Stimmvolumen der Bernasconi habe »heynahe vier volle Oktaven« (S. 28, 2) umfaßt, wurden i n der Buchfassung kommentarlos verbessert. Texterweiterungen, v o n Sonnenfels u m der Prononcierung seines Standpunkts willen später eingebracht, werden v o n Haider-Pregler ungekürzt wiedergegeben. Ausgestattet mit einem bemerkenswerten Sensorium für zukunftsweisende Tendenzen, hat Sonnenfels selbst die Veränderung der Literaturlandschaft zwischen 1767/68 und 1784 wahrgenommen und die Buchfas-
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sung seiner Briefe der neuen Situation angepaßt. Die Herausgeberin geht dem i m einzelnen nach und betont mit Recht, daß Inhaltliches und Formales nicht immer voneinander zu trennen sei. Aufschlußreich sind die von ihr registrierten Änderungen i n Orthographie und Lautstand (z.B. schüssen>schiessen, zwainzig>zwanzig, dabey>dabei), die sie als »beträchtliche Modernisierung« (S. 381) qualifiziert. Hier wäre hinzuzufügen, daß es sich offensichtlich um eine Modernisierung i m Sinne Johann Christoph Gottscheds handelt. Dessen »Grundlegung einer deutschen Sprachkunst« (1. Aufl. 1748) erfuhr noch bis ins frühe 19. Jahrhundert zahlreiche Auflagen in den österreichischen Erb- und Kronländern. Die Spätfassung der Briefe von 1784 also auch ein wichtiges Dokument zur Wirkungsgeschichte der Gottschedschen Sprachreform i m österreichischen Raum, kann man füglich sagen. Die Briefe über die wienerische Schaubühne gehen zunächst — bis zum 20. Schreiben v o m 23. A p r i l 1768 — von der Fiktion eines französischen Geschäftsmanns aus, der einen Pariser Freund über das Theaterleben in Wien unterrichtet. Sind aber diese Briefe, »eine A r t v o n Dramaturgie«, wie der »Universitätsbuchdrucker« Joseph Kurtzböck eingangs bemerkt (S. 9), überhaupt noch verständlich? Ohne Lese- und Verständnishilfen gewiß nicht. Dieses Schicksal teilen sie mit anderen kritischen Sammlungen ihrer Zeit, unter anderm mit Lessings, Mendelssohns und Nicolais Briefen, die neueste Literatur betreffend (1759 ff.), auf die sich Sonnenfels ja gelegentlich bezieht. Was die Herausgeberin — vielleicht zu bescheiden — als »Nachwort« und »Anmerkungen zum Text« deklariert, ist in Wirklichkeit eine fundierte Werkmonographie (S. 349-428) sowie ein Kommentar zum laufenden Text (S. 429563). Theater, von Lessing als Schule der Menschlichkeit und nicht als Stätte der Belehrung betrachtet, v o n den Vertretern der i m 18. Jahrhundert aufblühenden Kameralistik als ernstzunehmender Faktor ins fiskal- und wirtschaftspolitische K a l k ü l einbezogen, w i r d nunmehr zur Schule der Sitten, sozialpädagogische Anstalt, für die der Staat eine Fürsorgepflicht und — gleichzeitig — eine Kontrollfunktion zu übernehmen hat. A u c h bei Sonnenfels bleibt das Moment der Utilität spürbar. Haider-Pregler würdigt den Verfasser der Briefe ja auch als bedeutenden Staatslehrer, dessen Standardwerk — Sät%e aus der Policey, Handlungs- und Finan%wissenschaft. Zum Leitfaden der akademischen Vorlesungen (1765, 6 1798) — bis weit in die franziszeische Zeit hinein wirkte. Sie bezieht darüber hinaus Sonnenfels' journalistische Position mit in die Diskussion ein: seine Tätigkeit als Herausgeber von Wochenschriften (Der Vertraute, 1765; Der Mann ohne Vorurteil, 1765-67), seine Stellung i m Beziehungsgeflecht der publizistischen Szene Wiens, Leipzigs, Berlins (Nicolai) und Halles (Klotz). Insgesamt — so Haider-Pregler — überwiege der bildungspolitische Tenor. N u r vor dem Hintergrund dieses zeitweilig recht aggressiven bildungs-
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politischen Engagements sei denn auch Sonnenfels' Rolle i m Zensurwesen des mariatheresianischen und josephinischen Staats zu verstehen. Haider-Preglers Ausführungen gerade zu diesem prekären Thema sind erfreulich differenziert und informativ. Sie qualifiziert die schriftlich Fixiertes und szenisch Dargestelltes gleichermaßen erfassende Theatralzensur Sonnenfelsscher Prägung als »Vorsorge für eine vernünftige Meinungs- und Geschmacksbildung« (S. 373) und unterscheidet sie klar v o m späteren, dem Staat als »Repressionsinstrument« (ebda.) dienenden Zensurwesen. Allerdings: auch noch so einleuchtende Differenzierungen führen den Leser gelegentlich in die Bredouille. War nicht der Eifer, mit dem Sonnenfels sein Ziel eines öffentlichen, als »Sittenschule« definiertes Theater verfolgte, auch eine Form der Repression — andern, nicht dem »regelmäßigen« Stück verpflichteten Spielweisen gegenüber? Man weiß von dem »beispiellosen Haß [. . .], mit dem Kurz [gen. Bernardon, A n m . des Rez.] von einem Manne wie Sonnenfels verfolgt wurde« (Rudolf Münz, Das »andere« Theater, Berlin/Ost, 1979, S. 149). Die Herausgeberin druckt dankenswerterweise zwei Dokumente ab, die die Strategie Sonnenfels' sowie das Procedere der Zensur bis ins einzelne vor Augen führen: seinen E n t w u r f eines »Promemoria« i m Hinblick auf eine zukünftige Theaterzensur« (S. 412-13; A n m . 113) sowie die in einem Handbillett Josephs I I . an den Grafen Choteck erhaltene Kodifikation desselben (S. 414). Per Hofdekret wurde Sonnenfels am 15. März 1770 die Verantwortung für die Durchführung der Zensur übertragen; schon ein halbes Jahr später wurde er seines Amts entsetzt: Grund genug für allerhand Spekulationen. HaiderPregler schließt sich wohlweislich keiner bestimmten »Lesart« an, sondern macht den Leser mit der W i r k u n g dieser mit einiger Wahrscheinlichkeit von Maria-Theresia veranlaßten Entscheidung auf die Zeitgenossen bekannt. Es ist verständlich, daß ein bereits zu seinen Lebzeiten so kontrovers rezipierter A u t o r die Nachwelt zu sehr unterschiedlichen Reaktionen herausforderte. Die Opposition von Altwiener Volkskomödie und bürgerlichem Bildungstheater, von Extempore- und Stegreifspiel einerseits und fixiertem, gut kontrollierbarem Text andererseits hat auch in der wissenschaftlichen Forschung Parteiungen hervorgerufen. Haider-Pregler bleibt sachlich-differenziert da, w o sie auf die Schwächen des Reformers Sonnenfels zeigt, aber auch da, wo sie auf seine weit bis ins 19. Jahrhundert nachwirkenden Leistungen verweist: die Konsolidierung des deutschsprachigen Schauspiels zum »Nationaltheater i m Sinne des aufgeklärten Absolutismus« mit seinem »bis in unsere Gegenwart nachwirkenden Faktum Staatstheater« (S. 425), die Verbesserung und Stabilisierung des künstlerischen und sozialen Niveaus der Schauspieler, seinen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung eines »frühen Burgtheaterstils« (Michael und Josef
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Lange). Auch über sein Ausscheiden aus dem Zensoramt hinaus blieb sein Einfluß auf die weitere Entwicklung des Sprechtheaters beträchtlich. Über den Umfang der i n die Neuausgabe eines historisch gewordenen Texts aufzunehmenden Wort- und Sacherklärungen w i r d man immer trefflich streiten können. Die Herausgeberin beläßt es nicht bei kurzgefaßten Verständnishilfen (Worterklärungen, vervollständigte Titelangaben, Übersetzung fremdsprachlicher Zitate, historische Informationen etc.), sondern druckt gelegentlich größere zusammenhängende, die Briefe näher erläuternde Textpassagen ab (z.B. zu S. 186: Der Mann ohne Vorurtheil, auf den sich S. beruft). Gerade i n diesen kleinen Artikeln, deren Lektüre sich oft wie ein Gang durch die europäische Theatergeschichte i m allgemeinen und die wienerische i m speziellen ausnimmt, steckt die gelehrte Arbeit. E i n Vorschlag für eine eventuelle zweite Auflage: ein separates Literaturverzeichnis, etwa eingefügt zwischen Nachwort und Texterläuterungen, wäre wünschenswert. Zeilenzähler sowie ein ausführliches Autorenregister (einschließlich Verzeichnung ihrer Schriften) erleichtern den Umgang mit dieser vorbildlichen, für Literatur- und Theaterwissenschaftler gleichermaßen anregenden Ausgabe. Wolfgang
F. Bender, Münster
Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820, hg. Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den H e u v e l und Anette Höfer. München: Oldenburg. 1988, Heft 8-10. Das Handbuch politisch-socialer Grundbegriffe in Frankreich ist i n dieser Zeitschrift schon ausführlich vorgestellt worden, als die Hefte 1 - 8 besprochen wurden (30, 1989, S. 311-316). So sollen hier die Hefte 8-10 nur knapp vorgestellt werden. Sie besitzen dieselben Vorzüge wie die guten Beiträge der bisherigen Lieferungen. Heft 8 enthält die A r t i k e l »Barbarie, Civilisation, Vandalisme« von Pierre Michel und »Economie politique« von Jean-Claude Perrot. Heft 9 ist angesichts der Gedenk Veranstaltungen zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution mit den Artikel »Bastille« v o n R o l f Reichardt und »Citoyen-Sujet, Civisme« v o n Pierre Rétat besonders aktuell. Die A r t i k e l »Féodalité, Féodal« von Gerd van den Heuvel und »Parlements« von Michael Wagner i n Heft 10 betreffen den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft nur am Rande, was eigentlich auch für den ausgezeichneten A r t i k e l »Economie politique« gilt, mit dem Perrot Neuland betritt. D o c h zeigt gerade Perrots Beitrag, daß sich der Literarhistoriker davor hüten soll, allzu schnell einen Gegenstand als marginal abzutun. Die politische Ökonomie ist, so Perrot, 1615 durch Montchrétiens Traicté de Γ Ο economie politique begründet worden, bei dem erstmals »die Untersuchung
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der Haushaltung (Oeconomie) mit der Darstellung der staatlichen Angelegenheiten« (S. 52) verbunden wurde. Es handelt sich bei dem Buch u m »eine ausgesprochene Gelegenheitsarbeit« (S. 5 3 ) i n der es darauf ankommt, »von den häuslichen Produktionseinheiten und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auszugehen, Güter und Dienstleistungen nach den einzelnen Kategorien in Betracht zu ziehen, den Handel und den internationalen Verkehr zu beobachten, die monetären Werkzeuge und die Quellen der Macht (Kapitalien, Bevölkerung) zu studieren, um daraus wirtschaftliche Maßregeln herzuleiten« (S. 55). Erst die fünfte Auflage des Wörterbuchs der Französischen Akademie w i r d 1788-1789 diese Bedeutung des Begriffes akzeptieren, obwohl zwischen 1715 und 1775 immerhin »981 französische Autoren mindestens einen Text ökonomischen Inhalts veröffentlicht« (S. 75) haben. Zwischen 1776 und 1789 sind es noch 528 (ebd.), unter denen am Vorabend der Revolution nur noch »Leute zweiten Ranges« (ebd.) sind. Wer philosophische Traktate, Dichtungen über das Landleben oder Romane des 18. Jahrhunderts liest, ist fortwährend mit dieser Thematik konfrontiert. Daher finde ich es schade, daß Perrot nicht wenigstens am Beispiel v o n Rousseaus Nouvelle Héloïse das literarische Echo der politischen Ökonomie erörtert hat. Seit 1969 die zweite Auflage v o n Über den Prozeß der Zivilisation der Theorie v o n Norbert Elias zum Durchbruch verholfen hat, erlebte der Begriff der Zivilisation in der Literaturwissenschaft eine neue Konjunktur. V o r diesem Hintergrund w i r k t es überraschend, daß dieser Terminus hier, dem historischen Befund gemäß, als Gegensatz zu Barbarei bzw. Vandalismus erörtert wird. Der »moderne Vandalismus-Begriff« ist von den Revolutionären selbst »in Auseinandersetzung mit bilderstürmerischen Tendenzen der radikalen Revolution« (S. 37) aufgebracht worden. Zivilisation und Barbarei sind hingegen Schöpfungen der Aufklärung, wobei Barbarei vorwiegend der K r i t i k an der Kirche und am absolutistischen Staat, Zivilisation zunächst dem Bemühen u m eine Synthese von humanitären Vorstellungen der Aufklärung und reli-
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Es ist für mich erstaunlich, daß Perrot diesen Begriff m i t einer negativen Konnotation verwendet, wie wenn nicht die meisten Werke, die während des Ancien Régime entstanden sind, m i t bestimmten Anlässen verbunden wären. M a n sollte endlich damit aufhören, abschätzig v o n Gelegenheits- oder Auftragswerken zu sprechen. Wenn heute ein Komponist einen Kompositionsauftrag erhält, ist sein Werk dadurch nicht automatisch minderwertig. Warum sollte dies in früherer Zeit anders gewesen sein. Zwar hat sich unser Zeitverständnis und unsere Vorstellung v o n schöpferischer Arbeit gewandelt, weswegen w i r die Einbindung eines Werkes in die es anregende Gelegenheit nicht mehr verstehen. D o c h wäre es notwendig, die E n t w i c k l u n g des Zeitverständnisses tiefer zu erforschen, u m verständlich zu machen, daß die Gelegenheit der entscheidende äußere Anstoß war, der eine mehr als subjektive Rechtfertigung des Schreibens bot und damit ein so konzipiertes Werk eher wertvoller machte als jenes, das bloß der persönlichen Initiative seines Urhebers zu verdanken war.
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giösem Gedankengut des Christentums zu verdanken ist. Die Revolution hat den Terminus ohne religiöse Konnotation sanktioniert, doch hat er auch i n nachrevolutionärer Zeit wieder mit dem Adjektiv christlich eine feste Verbindung gebildet. Erst Guizot hat durch seine Vorlesungen an der Sorbonne über die Histoire de la civilisation en France (1828-1830) dem von Elias gebrauchten Wortsinn zum endgültigen Sieg verholfen. Eine spannende Fallstudie liefert Reichardts A r t i k e l »Bastille«, i n dem er die Entwicklung des Festungsnamens zum politischen Schlagwort zwischen dem Ende des 17. Jahrhunderts und der Revolution darstellt und die anschließende Umwandlung i n ein Symbol der Freiheit skizziert. Die in der Bibliographie angeführten Studien, die Reichardt zusammen mit H.-J. Lüsebrink 1989 abgeschlossen oder veröffentlicht hat, werden das dazugehörige literarische Umfeld näher beleuchten und ein wichtiges literaturwissenschaftliches Pendant zu diesem Beitrag bilden. Hier wie auch i m A r t i k e l »Féodalité, Féodal« sind eine Reihe charakteristischer Illustrationen abgebildet. Die drei Hefte des Handbuchs bestätigen den hohen wissenschaftlichen Rang dieses Werkes durch ihre Fülle an Belegen und durch die Klarheit der Darstellung. Sie erweisen wiederum die Fruchtbarkeit des Projekts, Begriffsund Sozialgeschichte miteinander zu verquicken. Volker Kapp, Erlangen
Dene Barnett, The Art of Gesture: The Practices and Principles of 18th Century Acting, with the assistance of Jeanette Massy-Westropp. Heidelberg: Winter, 1987, 503 S. Die nonverbale K o m m u n i k a t i o n ist durch die Semiotik und die Psychologie neuerdings zu einem viel behandelten Forschungsgegenstand geworden. Die wirksame Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit und in den Medien sowie die Notwendigkeit einer adäquaten Entschlüsselung der nonverbalen Zeichen solcher Selbstmitteilungen haben zu einer systematischen, mehr oder minder wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Thema angeregt. Z u m Glück hat sich die Rhetorikforschung gleichzeitig darauf besonnen, daß die heutigen Theorien und Anleitungen eigentlich eine lange Vorgeschichte haben und ursprünglich in der rhetorischen Lehre von der »actio«, der letzten Phase in der Genese einer Rede, grundgelegt waren. Dieser Teil der Rhetorik, der v o n der neueren deutschen Rhetorikdiskussion fast vollständig vernachlässigt wurde, ist erst mit dem Beginn der Neuzeit stärker entwickelt worden 1 . E r 1 V g l . dazu Die Sprache der Zeichen und Bilder: Rhetorik und nonverbale Kommunikation in der frühen Neuheit, hg. V o l k e r Kapp (Marburg, 1990), bes. die Beiträge v o n D . K n o x , I. M . Battafarano, D . Barnett und V . Kapp.
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brachte eine zunehmende Überwachung der nonverbalen Komponenten sprachlicher Mitteilung und erfüllte die Gestik und die M i m i k mit einem Sinngehalt, der sich in einer Potenzierung der Aussagekraft der äußeren Erscheinung niederschlug und zu einer Akzentuierung des Visuellen führte. Die Theatralik des Barock markiert den Höhepunkt dieser Entwicklung, denn ihr Hang zur Ostentation ist nichts anderes als eine gezielte Ausschöpfung der Möglichkeiten nonverbalen Kommunizierens. Die wachsende Bedeutung der Körpersprache regte zur theoretischen Reflexion an, deren Früchte eigentlich erst das 18. Jahrhundert sichtbar macht. Die Gestik w i r d in einzelnen Bereichen nun so kodifiziert, daß die Regeln auch ohne die Vorstellung eines Kosmos auskommen, i n dem sichtbare und unsichtbare Welt sich wechselseitig erhellen und der Mikrokosmos der einzelnen Geschöpfe mit der Ordnung des Makrokosmos der ganzen Schöpfung erklärt wird. Die Aufklärung ist zwar die Epoche, i n der die Aussagekraft nonverbaler Kommunikation immer nachdrücklich hinterfragt wird. Sie ist aber gleichzeitig der Moment, w o die Ausdifferenzierung der Körpersprache etwa in der Schauspielkunst so weit fortgeschritten ist, daß deren Regeln zum selbstverständlichen Instrumentarium erklärt werden können und dadurch v o m damals einsetzenden Niedergang der Rhetorik nicht mehr tangiert werden. Die Lehrbücher des 18. Jahrhunderts stehen unserm modernen Bewußtsein nahe, weil sie die Gestik nach dem Prinzip v o n Ursache und W i r k u n g analysieren. Sie denken jedoch nicht wie beispielsweise die heutige Werbung rein funktional, weil sie, zumindest implizit, noch davon ausgehen, daß alles Visuelle durch das Beziehungsgeflecht v o n Mikrokosmos und Makrokosmos seine Bedeutung erhalten hat. I h r Reiz besteht denn auch darin, daß verschiedene Vorstellungsebenen und Traditionsstränge miteinander verwoben sind. Aus den verstreuten Äußerungen läßt sich demnach eine Zusammenschau der Überlegungen zur Körpersprache während der frühen Neuzeit ableiten, sofern man die Lehren der Handbücher und Traktate des 18. Jahrhunderts mit denen der vorausgehenden bzw. nachfolgenden Jahrhunderte i n Verbindung bringt. Diesen Weg haben Barnett und seine Mitarbeiterin Massy-Westropp eingeschlagen, da sie nicht nur Quellen aus dem Zeitalter der Aufklärung, sondern die gesamte Literatur v o m 15. bis zum 19. Jahrhundert quer durch Europa aufarbeiten 2 . I n einer bis dahin noch nicht erreichten Vollständigkeit 3 haben
2 Als Ergänzung wäre zu nennen Gianvito Manfredi, L·' Attore 1746).
in scena (Verona,
3 Da das Manuskript 1985 abgeschlossen worden ist, konnte Barnett die Studie v o n Angelica Godden, >Actio< and Persuasion : Dramatic Performance in Eigtheenth-Century France (Oxford, 1986) nicht kennen.
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sie die Regeln für den Redner, den Schauspieler und den Künstler zusammengetragen und durch die Anweisungen für das rechte Benehmen ergänzt. Die Untersuchung ist in 13 Teile gegliedert, v o n denen wiederum mehrere innerlich eng zusammengehören. Nach Einleitung und terminologischem V o r spann werden zunächst die grundlegenden Gesten (S. 26-87) und dann deren Realisierung (S. 88-160) besprochen. Den Abschluß dieser A r t Grammatik der Gestensprache bildet das Kapitel »The connection between w o r d and gesture« (S. 161-312). Anschließend leitet der Teil »The connection o f gestures« (S. 313-324) zur Textebene über, auf der dann drei Stilarten (S. 325-346), die Distribution der Gestik (S. 347-386) sowie deren Anwendung i m Theater (S. 387-440) behandelt werden. Wie diese Inhaltsübersicht bereits deutlich macht, liegt die Stärke dieser Studie i n ihrem Bestreben, eine umfassende Beschreibung aller Typen von kodifizierter Gestik und aller Arten ihres Vorkommens zu erstellen. Diese Inventarisierung ist auch das dezidierte Ziel des Verfassers, der sich alle weiter reichenden allgemeinen Überlegungen wie beispielsweise die Frage nach dem Verhältnis von Rhetorik und Schau Spieltheorie oder nach der Bedeutung einzelner Regeln für die Gestik innerhalb der K u l t u r des 18. Jahrhunderts versagt hat, um nur die Fakten als solche auflisten zu können. Seine geradezu tabellarische Übersicht über die verschiedenen Aussagen ist eine A r t enzyklopädisches Gerüst, das eine rasche Information ermöglicht. Barnett hat neben gedruckten Quellen handschriftliche Notizen und Archive von Theatern ausgewertet. Die konkreten Anweisungen v o n Lehrern der Gestik wie z.B. Franz Lang (vgl. S. 177) oder v o n Aufführungen (vgl. z.B. S. 225-232) werden reproduziert und kommentiert 4 . Die vielen Abbildungen sorgen überdies für die notwendige Anschaulichkeit, wie sie schon immer i n Handbüchern der Gestik üblich war. Reizvoll erscheint mir der Vergleich v o n Illustrationen zu einzelnen Affekten, beispielsweise zum Ausdruck der Ablehnung bei Jelgerhuis, Engel, Siddons und Austin (S. 59). Barnetts Untersuchung ist ein monumentales Kompendium, das durch die Fülle der Informationen und die Klarheit der Darstellung besticht. Sie hat die Forschung wesentlich weitergebracht und w i r d noch lange als ein unersetzliches Handbuch wichtige Dienste leisten. Volker Kapp, Erlangen
4 Für einen Deutschen ist es erstaunlich, daß Barnett seine Belege immer sofort in englischer Übersetzung wiedergibt. W i r sind es gewohnt, daß wenigstens in der Fußnote eines solchen wissenschaftlichen Werkes der Originaltext verzeichnet wird.
2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 31. Bd.
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Norbert H . Platz, Die Beeinflussung des Lesers: Untersuchungen zum pragmatischen Wirkungspotential viktorianischer Romane zwischen 1844 und 1872 [Buchreihe der Anglia — Zeitschrift für Englische Philologie, Bd. 25]. Tübingen: Niemeyer, 1986, X und 358 S. Die Entgrenzung der ergozentrischen Literaturtheorie auf wirkungsästhetische und funktionalistische Ansätze hin hat eine Erweiterung der Fragestellungen mit sich gebracht, aber auch die praktischen Grenzen dieser Entgrenzung sichtbar werden lassen: Die Fragen der wirkungsästhetischen Theorien reichen weiter als die belegbaren Antworten. Eine solche Aussage stellt nicht die Theorie i n Frage, w o h l aber den Optimismus hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit i n literaturwissenschaftliche Praxis. Norbert Platzens Buch lotet die Grenzen aus, die einer wirkungsästhetischen Untersuchung gesetzt sind. Der umfangreiche theoriegeschichtliche und programmatische Eingangsteil der Arbeit (13-91) zeigt einerseits eine profunde Vertrautheit mit den jüngeren Entwicklungen der Rezeptionsästhetik und bietet (cf. 2.4.) interessante Ergänzungen dazu an; andererseits verwundert es, daß der Verfasser bei der Darstellung des Nexus v o n leserseitigen Denkgewohnheiten (cf. 15; 24) und deren »Enthabitualisierung« (26) nicht auf Sklovskij, T. E. Hulme oder Husserl zu sprechen kommt, bei denen die i n der modernen Wirkungsästhetik vielfach vermittelten und gebrochenen Grundanschauungen offen zutage liegen. I m dritten, mit »Gefühle als Wirkfaktoren« überschriebenen Kapitel entwickelt der Verfasser eine synkretistische Typologie der Gefühle, die jedoch i m Anwendungsteil der Arbeit (95 ff.) kaum je relevant wird. Begriffe wie Anmutung, Stimmung oder Emotion bleiben solange typologische Abstrakta wie sie nicht als 1Verfahren der Anmutung, Stimmung oder Emotionalisierung des Lesers beschrieben werden. Das Problem der Emotionalisierung w i r d i n der wirkungsästhetischen Analyse v o n Dickens' Chimes sehr viel effizienter abgehandelt als in dem ein gewisses Eigenleben führenden Abriß der Gefühlstheorie. So bleibt letztlich ein Hiat zwischen dem Theorieteil und den Interpretationen bestehen, auch wenn der Verfasser gelegentlich über eigene Reaktionsmechanismen (cf. 59) reflektiert. (Es verwundert, daß der Verfasser i n diesem Zusammenhang die mit seiner Fragestellung eng zusammenhängenden Vorarbeiten, etwa zur Sympathielenkung in den Dramen Shakespeares, nicht zur Kenntnis nimmt.) Produktiver für die nachfolgenden Studien ist das vierte Kapitel über die »Person als Wirkungsinstanz«, w o r i n der Verfasser — anschaulicher i n 5.5. (154 ff.) unter dem Schlüsselbegriff der »persönlichen Beglaubigung« (154; 159) dargestellt — Strategien beschreibt, die mittels Leitbildfiguren die Werturteile des Lesers steuern. Gerade in den Teilen der Arbeit, die sich auf dem
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Hintergrund von sozialen Mißständen mit Vorbild- und Identifikationsfiguren beschäftigen, w i r d ein Gutteil des »pragmatischen Wirkungspotentials« der behandelten Romane sichtbar. Das Hauptkorpus der sozialkritischen Romane (Disraeli, Dickens, Kingsley, Gaskell) bietet sich für diese Fragestellung besonders an, da i m Auseinanderklaffen von dargestellter Wirklichkeit und personal (oder auch auktorial) postulierter Idealität die auf »sozial produktives Handeln« (128) ausgerichtete Intention unmittelbar faßbar wird. Hätte der Verfasser aus dem von i h m mit Bedacht gewählten Zeitraum neben den sozialkritischen Romanen und George Eliots Felix Holt und Middlemarch — und sei es nur zur Überprüfung der erzielten Ergebnisse — Romane wie Wuthering Heights (1847), Jane Eyre (1847), Vanity Fair (1848), Shirley (1849), Henry Esmond (1852) und Our Mutual Friend (1865) mit einbezogen, dann wäre eine sehr viel breiter gefacherte Intentionsskala — und davon abzuleiten — ein differenzierteres Repertoire an Manipulationsstrategien innerhalb derselben historischen Situation in Erscheinung getreten, was sowohl den literaturgeschichtlichen wie dem wirkungsästhetischen Skopus der Arbeit zugute gekommen wäre. Uneingeschränkte Anerkennung verdienen die kompetenten Analysen der objektiven gesellschaftlichen Anlässe für die sozialkritischen Romane und der Haltungen und Intentionen ihrer Verfasser, sowie der Rezeptionsumstände, unter denen die Romane gelesen wurden. Diese Untersuchungen stellen einen außerordentlichen Erkenntniszuwachs über das Spannungsfeld, i n dem die Rezeption der behandelten Romane stattgefunden hat, dar. Aber dabei bewegt sich der Verfasser immer noch auf auch der herkömmlichen Literaturwissenschaft vertrautem Gebiet: Die Herleitung vor allem der thematischen Romanstrukturen aus der Sozialerfahrung und der Gesellschafts- und K u l t u r k r i t i k (Carlyle, Neu-England etc.) überschreitet den Nexus von A u t o r und Text nicht wesentlich. Zudem ist dieser Nexus durch die Verfügbarkeit von schriftlichen Kontexten zu den behandelten Texten wissenschaftlich exakter zu erfassen als das Verhältnis von Text und Leser, da letzterer eine variable und sich dem exakten Z u g r i f f entziehende Größe i m Wirkungskalkül ist. Isers weise Beschränkung auf den impliziten Leser hat ihren Grund in der Ungreifbar keit des realen Lesers. Anerkennt man die realistisch-skeptische Position Isers, dann bleibt ein zwar stark begrenztes, aber dennoch ergiebiges Neuland zu erforschen: Aus der Skala auktorialer Intentionen ist gerade i m Hinblick auf das auktoriale Bild v o m Leser eine Reihe von Strategien abzuleiten, die neben der mimetischen Darstellung den Text als potentielles Wirkinstrument strukturieren. Es sind Verfahren der >Persuasie< und >Convictiorein< fiktionaler und >rein< historischer Narrativik abgrenzt und es insofern i m Spannungsfeld zwischen Komposition und Kontingenz, bzw. >art< und >vie< situiert, übergeht er bezeichnenderweise die Autobiographie, die mit ihrer poetisch durchsetzten Historizität den nächstliegenden und eigentlichen Bezugspunkt i m Gattungssystem darstellt. Die bislang nur vereinzelt erwähnten Strukturanalogien zwischen Rousseaus Confessions und Prousts Recherche erfaßt die Vfin. in ihrer zweiteiligen Untersuchung systematisch, indem sie beide Texte i m Hinblick auf drei Aspekte analysiert: Erzählebenen bzw. Deixis, Fokalisierung und semantische Totalisierungsverfahren. Die Confessions, Genotext der neuzeitlichen Autobiographie, weisen eine dichotomische Grundstruktur auf, wobei das erinnernde und erzählende Ich (T 0 -Ebene) als Instanz sinnstiftender Diskursivität dem erinnerten Ich ( T _ 2 Ebene) sowohl formal als auch semantisch übergeordnet ist. V o r dieser Vergleichsfolie zeigt sich, daß Proust die Struktur der Autobiographie entpragmatisiert, indem er die Dichotomie zur Trichotomie aufbricht. Eine intermediäre Ebene des Wachtraum-Erinnerns ( T ^ - E b e n e ) , die, eingeführt i n Form einer Rahmenerzählung, später i n T _ 2 integriert wird, fungiert hier als die v o m narrativen Produktionsakt losgelöste, generierende Instanz der Erinnerung; das Erinnern erscheint nahezu autonom als spezifische Handlung des Helden. Die Aufsplittung in drei Ebenen bewirkt eine durch semantische Verfahren kaum zu kompensierende Verwirrung der deiktischen Ordnung, sowie Abgrenzungs- und Interferenzphänomene, die die Vfin. detailliert nachweist. Wenn sich die >histoire< somit als Erinnerung der Geschichte darstellt, bedeutet dies für die Ebene T _ 2 , daß eine erinnerte Geschichte aufgrund der Widersprüche i n der zeitlichen Abfolge wie i n der chronologischen Bezugsskala der Lebensgeschichte nicht eindeutig herauszufiltern ist — zumal der Erzähler ( T 0 ) nicht mehr als totalisierende Instanz einer v o m Ende her begriffenen Lebensgeschichte auftritt. Die komplexe Verwobenheit der Erzählebenen und Zeitperspektiven erlaubt nicht zuletzt eine von der Pragmasituation unbelastete, mythisierende Behandlung der literarischen Produktion, dem eigentlichen Thema der Recherche. E i n ähnlich widersprüchliches Ergebnis zeigt sich hinsichtlich der Fokalisierung. Einerseits besteht eine paradoxe Bindung an die autobiographische Fokalisierung, insofern als Proust die Erzähler-Fokalisierung der klassischen Autobiographie in eine extreme Fokalisierung auf den Helden ummünzt, dessen Wahrnehmungsfeld bei allen Restriktionen oft erstaunlich umfassend ist. Andererseits jedoch finden sich auch zahlreiche Fälle einer für den allwissenden Romanerzähler typischen Null-Fokalisierung. M i t dieser dispara-
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ten Gestaltung der Fokalisierungen erweist sich die Recherche als »Produkt der generischen Interferenz von Autobiographie und klassischem Roman«. Konzentrierten sich die semantischen Verfahren der Autobiographie, deren sich Rousseau zur Strukturierung des individuellen wie des generellen Parameters bediente, i m wesentlichen auf den entelechisch aus der Kindheit abgeleiteten Charakter, so gerät bei Proust diese totalisierende Individualitätskategorie ins Wanken. A n die Stelle des Charakters tritt ein »Ensemble ästhetischer Sensoren«, das die übrigen Figuren als Sensationen und Impressionen erfährt. Als >Mann ohne Eigenschaften< w i r d Marcel zur Repräsentanzfigur des Künstlers, dessen Berufung, ein scheinbar zielloser Weg bis zur >Offenbarung< der >mémoire involontaire^ dennoch residuale Züge einer autobiographietypischen Entwicklungsgeschichte aufweist. Darüber hinaus zeigt sich hinsichtlich des generellen Parameters, daß Prousts Roman — i m Gegensatz zur Autobiographie, die auf T i l g u n g der Kontingenz abzielt — gerade vermittels der Konfiguration kontingente Realeffekte imitiert. Prousts ambivalente Bezugnahme auf formale Muster der Autobiographie findet eine Ergänzung auf der Ebene der Referenzialität, w o sich fiktionale Referenzen und authentische Realitätspartikel dergestalt vermischen, daß die Geschichte von Marcels literarischer Berufung als »Interferenzprodukt von fiktionaler und realer Autobiographie« erscheint. Die in allen Bereichen der Analyse nachgewiesene, fundamental disparate Struktur der Recherche findet ihre abschließende Erklärung in Prousts Reaktion auf den naturalistischen Roman. Den Roman eines Zola übertrumpft er geradezu, indem er wesentliche Formkomponenten der Autobiographie übernimmt, sie unter Auflösung der autobiographischen Pragmainstanz umgestaltet und zur künstlerischen Schaffung v o n Realeffekten einsetzt. Die Vfin. erklärt die Recherche i n ihrer innovativen Disparatheit als ironische Negation der metaphysischen Kunstideologie Prousts, indem sie die heterogenen Strukturen des Werks beispielhaft offenlegt und den Produktionsprozeß als dialektische Aufhebung der Alternative Roman oder Autobiographie begreiflich m a c h t
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Mechthild Albert, Frankfurt
am Main
Briefe im Exil: 1933-1940 / Annette Kolb, René Schickele. In Zusammenarbeit mit Heidemarie Gruppe hg. von Hans Bender [Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz, Klasse der Literatur Bd. 65. Vorarbeiten für die Edition von Eva Zeumer]. Mainz: v.Hase und Koehler, 1987, 514 S. Das ist kein ausgeklügelt Buch, sondern der Emigrant mit seinem Widerspruch, möchte man Goethe abwandelnd dem ahnungslosen Leser als Empfehlung und gleichsam vorbeugend mitgeben.
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Warum er denn überhaupt emigriert sei, wurde Schickele gefragt 1 oder gar aufgefordert zu versuchen, nach Deutschland zurückzukehren. 2 E r war sprachlos vor Entsetzen darüber, wie wenig man ihn w i r k l i c h kannte. 3 Fand er sich i n einer Situation, die er sich sinnlos selbst auferlegt hatte? 4 Anders als andere, die unmittelbar an Leib und Leben gefährdet waren? Die jüdischen Emigranten nämlich, mit deren einigen ihn recht persönliche Bande verknüpften, die weit zurückgingen, sich aber je länger desto mehr aus inniger Zusammengehörigkeit und spontaner kämpferischer Gesinnungsgemeinschaft i n immer schwerer zu ertragende Verstrickungen verwandelt hatten, die er w o h l deswegen nicht zu lösen verstand, weil er innerlich auf die Gegenwelt, die sie verkörperten, nicht verzichten konnte. 5 Einen derartigen Dauerkonflikt zu verschweigen, wurde er erst endgültig gezwungen, als er nicht mehr schreiben, d. h. ihn in seinem i h m gemäßen Handwerk ins Allgemeingültige heben konnte. Kurz, die Aufgabe des streitbaren »Kritiker-Dichters« nicht mehr wahrnehmen zu können, kostete ihn seine geistige Existenz. Dieser Verlust manifestiert sich i m bösartigen Geschwätz, i n den zu Papier gebrachten ungerechten Vorwürfen, üblen Nachreden, Gehässigkeiten und seiner besseren Einsicht unwürdigen Verdächtigungen gerade derjenigen jüdischen und anderen Freunde, die i h m durch Geldzuwendungen seine äußere Existenz ermöglichten. 6 1
R. S. an A . K . am 26. 4. 38: [ . . .] Brief einer Leserin »ganz naiv«: »Warum sind Sie fortgegangen?« Die sind gar nicht i m Bild. (S. 324). 2 I n einem nicht in die E d i t i o n aufgenommenen Brief i m Besitz der Handschriftenabteilung der Stadtbibliothek München, für dessen Kopie ich sehr danke, v o m 5. 12. [37] zitiert R. S. den französischen Journalisten Variot, m i t dem er schon sehr lange befreundet war, der i h m m i t Großbuchstaben geschrieben habe: »Essaie donc de rentrer en Allemagne.« 3
R.S. an A . K . am 16. 3. 35: » [ · . · ] in Berlin hiesse es überall: >Was hat Sch. mit der Emigration zu schaffen? Dieser Alemanne gehört doch zu uns!< Jawohl! Lieber gehörte er zur Hölle!« (S. 198). 4 R.S. an A . K . am 16. 3. 35: »[. . .] Früher konnte ich mir einreden, eine Mission zu haben. Gegen Lügenpest und Kriegsluftzeuge (sie!) können w i r nichts ausrichten.« 5 Dazu gehört die Beziehung zu der sozialistisch engagierten jüdischen Mutter seiner außerehelichen Tochter, v o n der i m Briefwechsel immer nur sehr sporadisch und abgebrochen die Rede ist. Z u r Biographie M i n n a Flakes und dem Leben ihrer Tochter vgl. meinen Beitrag »René Schickeies Anti-Muse oder: Wie die Wirklichkeit die F i k t i o n einholte«, Recherches Germaniques, N°18 (1988), S. 103-120. 6 I n erster Linie H u g o Simon, der ehemalige Gesinnungsgenosse i m Bund Neues Vaterland, einer liberalen Widerstandsgruppe i m 1. Weltkrieg, der auch Schickele angehört hatte. Der ehemalige Bankier wurde nach der Revolution Finanzminister der neuen Regierung. Er und seine Frau hatten in den Zwanziger Jahren häufig Schickeies Tochter zu Gast. Wahrscheinlich hängt damit der V o r w u r f der Indiskretion zusammen (R. S. an A . K . 6. 4. 35, S. 206) und der des taktlosen Neureichtums, der die Korrespon-
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Dieses innere Elend — ein gleichsam gesteigertes Ausgeschlossensein aus dem Emigrantenschicksal der physisch Bedrohten, 7 wie es auch Walter Hasenclever erlitt — manifestierte sich in dem äußerlich weiter Vegitierenden als somatische Reaktion einer täglich und nächtlich ihn quälenden Hautallergie. Stellvertretend für die immer wieder auftauchenden Hinweise und Schilderungen der Symptomatik mag folgende Zusammenfassung stehen, die beiläufig den Brief v o m 28. 12. 37 an Annette K o l b beendet — aus dem fünften Jahr seiner Emigration also: »Wenn D u unfreundliche Gedanken über mich hast, denke daran, dass ich jahrelang i n der Juckhölle nach- u. vorbestraft wurde u. jetzt eigentlich nur mehr Freundlichkeit verdiene.« Der Brief schließt: »Sei umarmt von uns beiden!« Gemeint ist auch Anna Schickele, die in den allermeisten Briefen an und v o n Annette einbezogen wird. (Außer i n denen freilich, die die Schriftstellerfreundin i n geheimer Mission zu seiner Tochter und zum Nachrichtensammeln hinter dieser her schicken. 8 ) Der Briefpartnerin revolutionäres Unterlaufen aller etwa aufkommenden Fragen nach dem Sinn der Emigration durch konsequentes Anbetteln jeder irgend in Frage kommenden Person und Institution schien dafür nicht nur die bestehende gesellschaftliche Rangordnung, sondern auch die innere Wertordnung nach dem Selbstverständnis der Emigranten umkehren zu wollen. Sie exponierte sich selbst nicht nur schonungslos, sondern unternahm auch für ihren Freund — und, wie man nicht verfehlen sollte, endlich einmal anzumerken, ihren politischen Mentor — geradezu atemberaubende Beutezüge. Häufig mißrieten sie, was sie mit der Verachtung der sie (und ihn!) Verachtenden
denz durchzieht. Diese Abneigung gegen den Charakterzug eines gewissen Protzentums der Familie Simon scheint allerdings auch M i n n a Flake auf Distanz gebracht zu haben. 7 Aus deren Perspektive n i m m t sich Schickeies Position allerdings recht anders aus. Als ich Frau Renée Barth (Tochter René Schickeies, vgl. A n m . 26) die Briefedition zugesandt und sie sie meinetwegen (bis zum bitteren Ende) durchgegangen war, formulierte sie ihren Schock folgendermaßen (22. 9. 88): »Ich kann nur sagen, dass ich in den Emigrations jähren in Paris (1936 bis 1940) nie so einen T o n , solche Gehässigkeit, und solchen flagranten Antisemitismus gekannt habe. Vielleicht war das bei den >Bürgerlichen< mehr als bei den Politischen, kann sein. Ich erinnere mich nicht, auch je nachgedacht zu haben, ob einer oder der andere Jude sei, ganz zu schweigen davon, dass das besprochen wurde. Natürlich waren >wir< alle bedroht und es war keine Möglichkeit, auch nur so zu tun, als ob w i r mitspielten. Das scheint ja der brennende [=springende] Punkt gewesen zu sein, sowohl beim Abrücken v o n Klaus Manns Zeitschrift, als auch bei A . K . s Streichen der Fußnote [in Die Schaukel vgl. A . K . an R.S. v. 20. 11. 1934]. (Meine Mutter hätte gesagt: >Wir Wilden sind doch bessere Menschen.epischDichter als Bettler< 15 , sondern warnende Spiegel für die Nachgeborenen vor der Verharmlosung eines alltäglichen, gedankenlosen Antisemitismus. Man fragt sich, ob der Herausgeber i n seiner Einleitung in dieser Frage nicht doch noch etwas strenger hätte sein sollen. Gewiß, an einer Stelle benennt Hans Bender die Fatalität dieses Verlustes an mitmenschlicher Achtung, wenn es heißt: »Zu oft bekennen sie beide ihre Abneigung gegen Juden; ebenso heftig, und heftiger noch René Schickele seine Abneigung gegen die Homosexuellen 1 6 unter den Schriftstellern, denen er begegnet, und die zu schmähen er nicht unterläßt und gebraucht dabei die gewöhnlichsten Wörter. A u c h sie, Annette K o l b und René Schickele, sind erfaßt v o n der >Emigrantenpsychose< « (S. 13/14). Aber w o w i r d auch nur die Frage gestellt, aus welcher ideologischen Grundeinstellung der geradezu zelotische Eifer solcher Verurteilung entspringt? Auskunft darüber scheint mir ein fragmentarischer nicht aufgenommener Brief v o m 2. X I I . 37 zu geben, der sich mit der einstigen Größe des Antikriegsdichters René Schickele, in dessen Ruhm sich die Freunde Simon 13
R. S. an A . K . v. 11. 4. 35: » [ . . . ] Ach, Annette, welch ein K o m ö d i e n s t o f f — wenn ich's überstehe!« (S. 211). 14 Es handelt sich u m >GrandmamanLa trêve des Personnages