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German Pages 301 Year 1962
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBÜCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. H E R M A N N K U N I S C H
NEUE FOLGE / Z W E I T E R BAND
1961
Das ,Literaturwissenschaftlidie Jahrbuch* wird im Auftrage der Görresgesellschaft herausgegeben von Professor Dr. Hermann Kunisch, München 19, NürnbergerStraße 63. Sdiriftleitung: Dr. Wolf gang Frühwald, Seminar für deutsche Philologie der Universität München, München 22, Geschwister-Scholl-Platz. Das ,Literaturwissenschaftliche Jahrbuch' erscheint als Jahresband jeweils im Herbst im Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind an den Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig in Maschinenschrift, einzureichen. Den Verfassern wird ein Merkblatt für die typographische Gestaltung übermittelt. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des ganzen Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Schriftleitung erbeten. Eine Gewähr für die Besprechung kann nicht übernommen werden. Anschrift des Verlages: Duncker & Humblot, Berlin-Lichterfelde, Geranienstr. 2.
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH ZWEITER
BAND
Berliner Eichendorffnachlaß B l a t t 97 b.
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN
NEUE
VON
FOLGE
HERMANN
/ ZWEITER
KUNISCH
BAND
1961
D U N C K E R
&
H U M B L O T
/
B E R L I N
Alle Rechte vorbehalten © 1962 Duncker & Humblot, Berlin Gedruckt 1962 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin S W 6 1 Printed in Germany
INHALT AUFSÄTZE Georg Pfligersdorffer (München), Fatum und Fortuna. Ein Versuch zu einem Thema frühkaiserzeitlidier Weltanschauung 1 Siegbert Lützel (Rothenburg o. T), Die ästhetische Vernunft. Bemerkungen zu Schillers 'Kallias' mit Bezug auf die Ästhetik des 18. Jahrhunderts 31 Friedrich
Braig (München), Kleist und Calderon
Hans Graßl (Mündien), Das neue Bild der Münchner Romantik
41 55
Dietmar Kunisch (München), Textkritische Studien zu Ekhendorffs Novellenfragment 'Unstern* 69 Elmar Hertrich in Arkadien'
(Mündien), Über Eichendorffs satirische Novelle 'Auch ich war 103
Eugen Thurnher (Innsbruck), Staat und Liebe. Racines 'Bérénice* und Grillparzers 'Jüdin von Toledo' 117 Maurice Colleville
(Paris), Rilkes Auffassung von der Dichtung
135
Wilhelm Ho ff mann (Köln), Elisabeth Langgässer. Existentielles und dichterisches Welterlebnis 145 Hermann Kunisch (Mündien), Zum Problem des Manierismus. Einführung. 173 Heinrich Rombach (Freiburg i. B.), Philosophie in späten Zeiten
177
Friedrich Piel (Landau/Pf.), Zum Problem des Manierismus in der Kunstgeschichte 207 Helmut Hucke (Frankfurt a. M.), Das Problem des Manierismus in der Musik 219 HaraldWeinrich
(Kiel), Fiktionsironie bei Anouilh
239
BUCHBESPRECHUNGEN Johann Caspar Goethe. Cornelia Goethe. Catharina Elisabeth Goethe. Briefe aus dem Elternhaus. Hrsg. von Wolf gang Pfeiffer-Belli 251 Frauen der Goethezeit in Briefen, Dokumenten und Bildern. Von der Gottschedin bis zu Bettina von Arnim. Eine Anthologie von Helga Haberland und Wolfgang Pehnt. (Von Christiane Briegleb) 255 Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Sdilegelkreis. Hrsg. v. Josef Körner. Bd. 3: Kommentar. (Von Klaus Briegleb) 259
VI
Inhalt
Georg Bürke, Vom Mythos zur Mystik. und die romantische Naturphilosophie
Joseph von Görres* mystische Lehre 266
Reihardt Habel, Joseph Görres. Studien über den Zusammenhang von Natur, Geschichte und Mythos in seinen Schriften. (Von Hans Graßl) 266 Literatur-Revolution 1910—1925. Dokumente, Manifeste, Programme hrsg. von Paul Pörtner. Bd. I : Zur Ästhetik und Poetik. (Von Günther Erken)... 274 Friedrich von der Leyen, Leben und Freiheit (Von Hanns Fischer)
der Hochschule.
Namen- und Sachregister
Erinnerungen. 258 281
NACHWEIS DER ABBILDUNG Zu dem Faksimile vgl. den Beitrag über Eichendorffs Novellenfragment 'Unstern* S. 69 ff. dieses Bandes. Das Blatt entstammt dem Eichendorff-Konvolut der Deutschen Staatsbibliothek, Berlin. Für die freundliche Genehmigung des Abdrucks sei der Deutschen Staatsbibliothek hiermit herzlich gedankt.
F A T U M U N D FORTUNA Ein Versuch zu einem Thema frühkaiserzeitlicher Weltanschauung Von Georg Pfligersdorffer Hermann Kunisch zum 27. Oktober 1961 Tacitus bietet in einer bekannten Partie der Annalen (6, 22) 1 die Diskussion einer das Geschehen in der Welt betreffenden Alternative. Die Mitteilung über die Voraussage der späten und kurzen Herrschaft Galbas durch Tiberius führt den Geschichtsschreiber nach einer Einlage über die Beziehungen zwischen Tiberius und Thrasyllus, dem Lehrer dieses Kaisers in der Kunst der Chaldäer, auf die Frage, die Tacitus nicht zu entscheiden wagt: fatone res mortalium et necessitate immutabili an forte
volvantur. Die Stel-
lungnahmen zu diesem Problem seien gegensätzlich: die Epikureer verträten den Zufallscharakter des Geschehens, womit sie auch der ungerechten Verteilung der Schicksalslose zu entsprechen glaubten, die Stoiker aber unterwürfen das Geschehen den principia et nexus naturalium causarum, näh-
men also 'die Übereinstimmung des Geschehens mit dem dieses bestimmenden Fatum an. Der Zusammenhang bei Tacitus, die vorausgehenden Bemerkungen über die Astrologenkunst, machen eine verdeutlichende Einschränkung erforderlich: die Übereinstimmung von fatum und res beruhe dein Stoikern zufolge nicht auf Sternenwirkung — damit wird das astrologische Fatum abgewiesen —, sondern auf einer Struktur des Geschehens, die von strenger Kausalität getragen und damit von unwandelbarer Notwendigkeit (necessitate immutabili) und Unausweichlichkeit der Folgen bestimmt ist, die ihrerseits von den principia, also den Erstursachen, ihre Richtung erhalten. Tacitus zeigt also das hier beschäftigende Begriffspaar in der Form von fatum - fors 2. M i t fatum bezieht er sich auf die Position der Stoiker; um stoische Weltanschauung ist es auch diesem Aufsatz zu tun. Für sie ist die Koinzidenz der Begriffe deus, natura, fatum, Providentia kennzeichnend 3 . 1 Mit ihr hat sich in tief eindringender Untersuchung Theiler, Phyllobolia für Peter Von der Mühl, Basel 1946, S. 35—90 beschäftigt. 2 Daß sich fortuna im Bedeutungsgehalt bei Tacitus fors stark nähert, hat Kroymann, Fatum, fors, fortuna und Verwandtes im Geschichtsdenken des Tacitus (Satura Otto Weinreich dargebracht, 1952), 80 f., nachdrücklich betont und mit Beispielen belegt. 8 Darüber ausführlicher unten S. 7 f.
1 Literaturwissenschaftlidies Jahrbuch, 2. Bd.
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Georg Pfligersdorffer
Das Fatum ist nidits anderes als der göttliche Wille in seiner zeitlichen Entfaltung; die Welt wieder ist der unserer Anschauung dargebotene göttliche Wille, muß also im HinblidT auf den Vernunftcharakter der Gottheit von vollendeter Ordnung und Gesetzlichkeit geprägt sein. Dieses göttliche Weltgesetz darf mithin im weiteren der Kürze halber nach dem Aspekt der zeitlichen Entfaltung einfach Fatum genannt und darunter mitbegriffen werden (im Sinne des von Diog. Laert. 7,149 [SVF I I 915] über Chrysipp und andere namentlich genannte Stoiker Referierten: etra öe eifiaQfxevr] . . . Xoyog xafr 9 ov o xoajios bie^ayexai). Es liegt übrigens der Zweck der folgenden Ausführungen nicht im Aufweis der historischen Bezüge der betreffenden Gedanken, sondern in der versuchsweisen Zeichnung bestimmter Grundlinien für das Verständnis des Verhältnisses von zwei Potenzen, die für die Erklärung des Weltgeschehens in Betracht kommen, aber eben nicht nur alternativ, auch — und hier stellen sich Schwierigkeiten ein — einander ergänzend, miteinander verbunden. Anders als bei Tacitus sind nämlich die Begriffe von göttlicher Weltordnung und zufallgeprägtem Weltlauf einander gesellt an der einen der beiden Stellen, die hier im Vordergrund stehen sollen: Seneca, Phaedra 959 ff. Theseus hatte seinen Vater Poseidon um Ahndung des vermeintlichen Verbrechens seines Sohnes Hippolytos an dessen Stiefmutter Phaedra gebeten; ein Bote hat auch bereits von dem schrecklichen Ende, das Hippolytos so unverdient gefunden, berichtet. Des Chores der Bünger bemächtigt sich das bittere Gefühl maßlosen Unrechts, und in bewegten Anapästen führt er Klage darüber, daß die Gottheit sich darauf beschränke, nur in den hohen Regionen der Gestirne und überhaupt im Bereich des Naturgeschehens auf Ordnung zu achten und für diese Bezirke allein Sorge zu tragen: Cur tanta tibi cura perennes agitare vias aetheris altif (964 f.)
Warum reicht diese Sorgewaltung nicht auch in die Menschenwelt hinein? Sed cur idem qui tanta regis . . . ... hominum nimium sccurus abes, non sollicitus prodesse bonis, nocuisse malisf (971 ff.)
Warum wird Fortuna dort uneingeschränkt gewähren gelassen? Res humanas ordine nullo Fortuna regit sparsitque manu munera caeca, peiora fovens; vincit sanctos dira libido, fraus sublimi regnat in aula. tradere turpi fasces populus gaudet, eosdem colit atque odit.
Fatum und Fortuna
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tristis virtus perversa tulit praemia recti: castos sequitur mala paupertas vitioque potens regnat adulter. (977 ff.)* I n zwei Teile scheint die Welt zerfallen, einen Bereich göttlicher Ordnung und einen anderen, ausgespart aus diesem, i n dem Fortuna blindwütig, ungerecht und zum Schaden der Edlen ihre Launen austoben darf. Göttliche Ordnung aber ist dem Stoiker etwas, was zunächst ein Regiment von Fortuna neben sich gründlich auszuschließen scheint — sofern man dem Sinn der Stelle entsprechend Fortuna v o n einem objektiven Sachverhalt, einer Weltgestalt, versteht (und nicht primär von dem subjektiven Bezug v o n xvxr\, daß uns soundsoviele Erscheinungen i n ihren Ursachen nicht einsichtig sind 5 ). D i e Unvereinbarkeit der beiden Begriffe hat w o h l B. M . M a r t i 6 dazu bestimmt, auch i n der Partie der Phaedra eine mehr situationsbedingte und aus der Stimmung entspringende Äußerung zu sehen, die für das ruhige Denken i m Rahmen des Systems unverbindlich und nicht sonderlich ernst zu nehmen sei. Es scheint, daß man sich durch eine solche Betrachtungsweise das Problem nicht zu leicht machen sollte 7 . Es begegnet nämlich auch i n so abgeklärten und besonnenen Texten, wie es die M a r k Aurels sind, eine ähnliche Gegenüberstellung (2, 3, 1): xa xcov flecov jiQovoiag neaxä, xa xrjg «pvaecog. Also ein Bereich, der v o n der göttlichen Vorsehung 8 getragen ist, v o n einem anderen unterschie4 Vgl. Hermes 87 (1959), S. 351 f. Dort (S. 351 Anm. 5) ist auch auf die in Form und Inhalt nahestehende Stelle aus Boethius, Philosophiae Consolatio (1, metr. 5) hingewiesen. Nach Peiper (Ausgabe 1871, Ind. I I ) und Klingner, De Boethii Consolatione Philosophiae, Philologische Untersuchungen 27, Berlin 1921, S. 4 hat Kurt Reicbenberger, Untersuchungen zur literarischen Stellung der Consolatio Philosophiae, Kölner Romanistische Arbeiten, N . F. Heft 3, Köln 1954, S. 26 auf die Gemeinsamkeiten aufmerksam gemacht. 5 Das kommt ohnehin dazu. Wenn uns aber die Ursachen im einzelnen nicht einsichtig sind, braucht das noch nicht für das Prinzip und die Voraussetzungen des Geschehens zu gelten. 6 American Journal of Philology 66 (1945), S. 357. 7 PohlenZy Philosophie und Erlebnis in Senecas Dialogen, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philol.-Histor. Kl. Jahrg. 1941, S. 107 Anm. 1 mißt dem Chorlied der Phaedra entschieden mehr Bedeutung bei, wenn er es für wahrscheinlich hält, daß durch diese Äußerungen die excusatio der Götter benef. 4, 31 ausgelöst ist. 8 Neuenschwander, Mark Aurels Beziehungen zu Seneca und Poseidonios (Diss. Bern, Noctes Romanae 3, 1951) S. 10 sieht in Mark Aurel 12, 14, 1 die jiq6vokx »im Gegensatz« zur ef|iaQ|ji£vTi, so daß eine Übertragung dieses Verständnisses die Betrachtung von 2, 3, 1 in unserem Rahmen verbieten würde. Theiler adnotiert in seiner Ausgabe zu 12, 14, 1 die Seneca-Parallele epist. 16, 4 quid mihi prodest philosophia, si fatum est? quid prodest, si deus rector est? quid prodest, si casus imperatf Zumindest wird man die beiden ersten Glieder wie bei Seneca so auch bei Mark Aurel nicht auf der gleichen Ebene alternativ nehmen müssen — sie stellen die beiden stoischen Möglichkeiten, das dritte Glied den epikureischen Aspekt
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Georg Pfligersdorffer
den, dem der x^xti, in dem jtQ0V0ia un'd ihr Wirken nidit offenkundig sind9. Wie eine von der Vorsehung verlassene Welt (xoa^iog . . . jtQovoiag xevog 2, 11, 2) aussieht, wie also das Wirken der i n ihrem Bereich im Hinblick auf 2, 3, 1 vorzustellen ist, das läßt sich aus 2, 11 ablesen: dort handelt nämlich § 5 f. von Phänomenen, aus denen man auf ein in verschiedener Weise denkbares Versagen der xcov OXCDV cpvaig schließen könnte, auf ihr Unwissen oder ihr Unvermögen, kraft dessen »Tod . . . und Leben, Ruhm un)d Ruhmlosigkeit, Schmerz und Lust, Reichtum und Armut, all diese Dinge gleichmäßig den guten und schlechten Menschen begegnen« (§ 6, Ubersetzung von Theiler), so daß das Gute und das Schlechte in gleicher Weise auf die guten und schlechten Menschen träfe, ohne daß ein Unterschied gemacht würde (§ 5) — wenn es sich bei jenen Dingen wirklich um Gutes und Schlechtes handelte (in Wirklichkeit sind sie ja Adiaphora). Diese Richtigstellung ändert nichts an dem Sachverhalt: es begegnen tatsächlich jiecpugpivcog diese Dinge in gleicher Weise den Menschen, ob sie nun gut oder schlecht sind. Wovon nun in 2, 3, 1 gesagt ist, daß es nicht avev (pvoecog geschehe, das sind offenbar die gleichen Dinge, die eben, als Güter und Übel gefaßt, den abgelehnten Aspekt nahelegen könnten, die Vermutung nämlich, die cpuaig lasse es hierin irgendwie fehlen. Sie sind dort als xd xrjg xuxTig bezeichnet10. Der xvxti Getriebe ist also dadurch gekennzeichnet, daß die verschiedenen Wechselfälle des Lebens nur zu oft gegen die sittliche Qualität und das Verdienst der Betroffenen sich ereignen. dar (Farquharson, The Meditations of the Emperor Marcus Antoninus. Oxford 1944, S. 423; vgl. auch Theiler, Phyllobolia S. 47 mit Anm. 5) —, so daß doch auch einmal in einer Stelle wie 2, 3,1 das eine für das andere stehen könnte. (Beachtung verdient auch, wie in der Briefstelle aus Seneca im weiteren nur mehr mit zwei, nicht mehr mit drei Gliedern operiert wird!) Wenn elfACXQuevr) in 5, 8, 10 tivieta xov x69 f|(xlv das spezifisch menschliche Reservat gegenüber dem Schicksal darstellt, iso wäre auch fortuna in engster Beziehung zum Geschehen im Bereich der Menschenwelt zu denken38. 35
Vgl. Theiler, S. 41 Anm. 3, der diese Notiz »wohl halbmißverstanden« findet; aber ob man die Berührung mit Comment. Lucan. 9, 573 nicht zum Anlaß nehmen sollte, sie ernster zu nehmen? Da steht: hoc (fato) omnia esse constricta et ex aeternitate quadam catenatione causarum implicata destinatis diebus et nasci et finiri. Zur Servius-Notiz und der von ihr erklärten Vergil-Stelle s. auch Friedrich, Hermes 73 (1938), S. 407 Anm. 2. 36 Einen »landläufigen Widerhall stoischer Auffassung« (Theiler, S. 67) bietet diesbezüglich die Charakterisierung der Lehrmeinungen der Pharisäer bei Iosephus antiqu. lud. 13, 172 (auch 18, 13 und bellum 2, 162 f.), von denen er vita 12 erklärt, daß sie den Stoikern entsprechen. Vgl. Theiler, S. 39 f. und etwas anders — in einem völlig unerheblichen Punkt — E. Meyer, Ursprung und Anfänge des Christentums, Bd. I I , 1921, S. 297 Anm. 1. 37 Ein Beispiel für sich nahelegende Konfrontierung hat der Tacitus-Leser in der hier den Ausgangspunkt bildenden Annalen-Stelle 6, 22, 1 fato ... an forte und andererseits ann. 4, 20, 3 fato et sörte nascendi... an sit aliquid in nostris consiliis. 38 Die Beziehung auf das menschliche Planen unterscheidet bekanntlich schon bei Aristoteles die TV%r\ vom avTojiatov. (Ähnliches bei Chalcidius comm. 145 p.204, 24 f.; 158 p. 213, 23 f. und 214, 10 ff. — in einem auf Gaios zurückweisenden Zusammenhang, vgl. Gercke, RhM 41, 1886, S. 279 und Theiler, a. a. O., S. 71.) Zur oben herangezogenen Stelle des Servius fügt sich übrigens passend - wenn auch nur den Volksglauben seiner Zeit betreffend — Plin. nat. 2, 22: huic (fortunae) omnia expensa, huic feruntur accepta et in tota ratione mortalium sola utramque paginam facit, eine Stelle, auf die v. Pöhlmann, a. a. O., S. 20 (mit Anm. 4) aufmerksam gemacht hat. Schließlich ist es immerhin auffällig, wie Lukan zu Beginn des zweiten Buchs die Alternative gestaltet: während Tacitus sich die Frage, ob das Schicksal oder der Zufall das Geschehen bestimmt, für die res mortales stellt, er-
Fatum und Fortuna
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Das erste der beiden Begriffspaare, dessen Geschichte und Problematik Theiler in seinem schon genannten Aufsatz ausgeführt hat, entsprang mit seinem Ansatz des dem Menschen Anheimgegebenen einem tiefen Anliegen der Stoa; ein »hinreißendes... Schauspiel« hat es Gerhard Nebel 89 genannt, wie die Stoa ihrer starren Fatumthese zum Trotz aber auch gar nichts von der Freiheit der sittlichen Entscheidung des Menschen preiszugeben bestrebt war. Es war vor allem auch das Problem des Ursprungs des Bösen, das ein Offenhalten dieses Ventils des »an uns Gelegenen« erforderte. Für den römischen Stoiker der frühen Kaiserzeit kommt hinzu, daß er sich in einer besonderen menschlichen Situation findet: seine in die Enge getriebene virtus — eine deprensa heißt sie bei Lukan — drängte dazu und gebot es, sich an diese letzte in seiner freien Persönlichkeit gelegene Möglichkeit zu klammern, sie zu steigern und zu hypertrophieren. Es genügte ihm nicht, dem Schicksal gleichsam «die Weiche zu stellen: er empfand hier die Gelegenheit zu einem Neuansatz in gewissem Sinn, zu seiner Selbstvollendung und damit zur eigentlichen Entfaltung seiner sittlichen Persönlichkeit — man denke nur an die Wucht der Gestalt Catos, wie sie im ersten Jahrhundert der Kaiserzeit gesehen wurde 40 . So war es die Freiheit des Wollens, die dem Opponenten gegen die politische Ordnung des Prinzipats die Möglichkeit bot, in einer Art Bewältigung und Umschöpfung der Verhältnisse seiner Zeit diesen den Charakter der andrängenden Gewalt und des feindlichen Zwanges zu nehmen und ihnen so ein anderes Vorzeichen zu geben41; wie aber die gleiche Freiheit des Wollens in ihrem Mißbrauch der theoretischen wägt Lukan die Geltung des fatum für das Gesamt der Welt (cuncta coercet in Vers 9), während die andere Potenz auf mortalia (V. 13) sich auswirken würde: sive... fors incerta vagatur, / fertque refertque vices et habet mortalia casus (12 f.); wenn man Lukan beim Wort nimmt, läßt sich aus seiner Ausführung — ähnlich wie für Sen. Phaedra - die Aussparung des Menschenbereiches aus der allgemeinen Gesetzmäßigkeit als die andere Möglichkeit entnehmen. 89 Griechischer Ursprung, Bd. I, 1948, S. 343. 40 Aufschlußreich die von Zeller, Die Philosophie der Griechen, Bd. I I l 3 , S. 257 Anm. 5 und 6 angeführten Seneca-Stellen, an denen der Weise der Gottheit in der Wertung so sehr genähert ist. 41 Für den oben umrissenen Komplex, der in einer von der Lebenswirklichkeit auferlegten Bewährung an einer besonderen materia virtutis seine Mitte hat, darf auf des Verfassers Aufsatz 'Lucan als Dichter des geistigen Widerstandes* im Hermes Klingnerianus (87, 1959, S. 344 ff.) verwiesen werden, besonders S. 349 f., 364 ff. Vf. ergreift die Gelegenheit zu einigen Nachträgen: Für die willentliche Aneignung der öu^ißaivovTa vgl. Theiler, a. a. O., S. 86 und S. 87 Anm. 5; ihre Bedeutung in auswegloser Zwangslage (deprensa virtus) läßt auch das Bild bei Máximos von Tyros erkennen, orat. 13, 8 b, p. 167, 15 yévoix' &v xai öeaficoxfl &vöqI é^ouaía éjto^iévcp atrftaieéxcog xoíg ayouaiv. (Oinomaos hat jedenfalls seinen Spaß an diesem in das Unvermeidliche sich schickenden und es ergreifenden Wollen, bei Euseb. praep. 6, 7, 1 p. 112, 23 Mras: ó ö* 'AjióMcdv . . . wvl ßotiXexai [$c. év AeXcpoíg aicojiáv], oúx öxi ßovXexai, áXk' öxi vn 9 dvdYXTjg eig xó ßouXr|{Kivai xéxaxxai.) Die verwandelnde Kraß des Willens meint Sen. dial. 1,2,4: quicquid accidit boni consulant (viri boni), in bonum v er t an t; Mark Aurel hat 5, 20, 2 JtegixQOJirj, er-
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Georg Pfligersdorffer
Bewältigung, d. h. der Erklärung einer solchen widrigen Umweltgestalt dienstbar gemacht werden konnte, wird sich noch zeigen. Wenn etwa Philo 'Quod deus sit immutabilis' 48 betont 42 , daß einzig die menschliche Seele von der Gottheit die exovatog xivriaig erhalten habe und gerade dadurch zur Gottähnlichkeit emporgehoben sei (öjiouofteiaa auxca sc. ftecp), frei von jeglichem Zwang geworden, so erhalten wir vor allem durch den Hinweis auf die ojAoicoaig ftecp einen bedeutsamen Fingerzeig für die Richtung, die in diesem Zusammenhang entscheidend ist. M i t dem Blick auf die Gottähnlichkeit, die sich zwar bei Philo an dieser Stelle auf das Sein des Menschen und dessen Ausstattung beschränkt, aber zwangsläufig auch den Aspekt des entsprechenden Wirkens auf den Plan ruft, stellt sich das Innewerden der Verantwortung ein; die Möglichkeiten des Versagens und des Abweichens von dem den Wegen der Gottheit Gemäßen lassen sich ermessen. Der eigenen Entscheidung des Menschen wächst in dieser Sicht weittragende Bedeutung zu, die nicht ohne Rückwirkung auf die Art bleibt, in der die spezifischen Kräfte der Seele gedacht werden. Unser Thema, dem es um die Voraussetzungen zu tun ist, unter denen das Auseinanderklaffen des Weltgetriebes in zwei Sphären von unterschiedlicher Art vorgestellt werden konnte, erfordert das Eingehen auf diese Wertung der entsprechenden seelischen Möglichkeiten. M i t dem der menschlichen Seele (s. gleich unten) zugesprochenen at>X8|oiJaiov tritt dem bloßen exovaiov ein Element zur Seite, das den Aspekt der Machtvollkommenheit bei der Entscheidungsfreiheit des Menschen ins Auge faßt. Der Begriff überhaupt begegnet, wenn ich richtig sehe, erstmalig im vierten Makkabäerbuch 43 und in größerer Dichte etwa seit Albinos 44 . M i t Alexander von Aphrodisias etwa gleichzeitig gibt ihn Tertullian (an. 21, 6) läutert auch durch 8, 35, 2: Jtav xcbXlijia vXrjv eauxoü Jtoielv xai XQ^frai auxcp, ¿e Providentia* I I 82 hier in Betracht kommt. Danach besagt die Leitung der Welt durch die göttliche Vorsehung keineswegs, daß Gott die Ursache von allem wäre, insbesondere nicht der Übel 50 und der Dinge, quae extra naturam fiunt (so hat es Aucher aus dem Armenischen übersetzt — ob man es von Regelwidrigkeiten im Menschenleben, vom nicht naturgemäßen Handeln der Menschen verstehen soll?). Es folgt der Vengleich des göttlichen Weltregimentes mit dem Staat, in dem das Gesetz für dessen vortrefflichen Zustand und gedeihliche Verhältnisse alle Vorsorge getroffen hat, für allfällige Abweichungen von seinem Konzept jedoch in keiner Weise verantwortlich gemacht werden kann: violentiae vero et rapinae ac consimilium non lex in causa est, sed iniquitas incolarum legem contemnentium. Ähnlich verbürgt das Wesen der Gottheit die beste und nützlichste Gestalt ihrer Schöpfung; contraria vero vel materiae vel malitiae naturae immoderatae erroris sunt foetus, quorum deus non est causa. Wiederum fällt der Hinweis auf die Materie mit ihren Widerständen — dieser Gedanke war bereits oben (S. 10) für Seneca nachzuweisen; er begegnet zur Erklärung des Übels nicht minder im 2. Jahrhundert bei dem Stoiker Hierokles (Stob. Ecl. I I p. 182,25 W.), dem Gedanken von der menschlichen xaxia an die Seite gestellt, und ebenso51 bei Máximos von Tyros, der in orat. 41,4 c zwischen dem »Gebrechen der Materie« und der ilwxrjg E^ouaia zur pior^r)qta unterscheidet52. Die andere Wurzel für die contraria (nämlich des Guten und Nützlichen) ist die malitia, die sich im Gefolge des haltlosen Schwankens — erroris — einer maßlosen Menschennatur einstellt (so möchte ich Auchers Ubersetzung verstehen). Maßlosigkeit ist nichts anderes als Mangel an Ordnung, Verlust der Orientierung am Weltgesetz (vgl. im Passus über den Staat knapp zuvor legem contemnentium) 53. 49
v. Arnim, RE V 778. So beginnt auch der Stoiker Hierokles bei Stob. Ecl. U p. 181, 11 W. (jedenfalls dem 2. Jahrhundert angehörig, möglicherweise sogar mit dem von Gellius 9, 5, 8 genannten Hierocles Stoicus vir sanctus et gravis identisch). 51 Die mannigfachen Berührungen zwischen dem Stoiker Hierokles und dem auch dem 2. Jahrhundert angehörenden Máximos von Tyros hat nach dem Vorgang von dessen Herausgeber Hobein bereits Praechter, a. a. O., S. 21 ff. aufgewiesen. 52 Vgl. Anm. 30 und 34. 58 Alexander Aphrodis. de fato 25 p. 196,7 ( = SVF I I 949, aber mit Auslassung) zieht in der Bekämpfung der stoischen Heimarmene mit ihrem starren Ausschluß jeglicher Durchbrechung der series causarum von einer anderen Seite einen ähnlichen Vergleich, der auch sonst zur Ausführung Philos paßt: ov Jiäöd xe xd^ECog jiapdßaaig ávaiQETixrj xcov év otg ytoeTai" Y'i v e c r i & a i Y dp 2via xal Jtapa xrjv TOV ßaadECog xd?iv otix aÖvvaxov, d oti Jtdvxcog xfjg ßaattaiag t^öt] YWExai cpdagxixd, I TJXOV ¿V XCp XÓOJC l p Y t V 0 l T 0 >rtdvXCOg^ÖT] XOÍXO MeI XT|V Evöaijioviav OUÖE El XI TOO 50
Fatum und Fortuna
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Mit malitia ist keineswegs etwa eine metaphysische Potenz gemeint, sondern ganz offenkundig ein Verhalten, zu dem der Mensch in einer Weise fähig ist 54 , daß er Tatbestände setzen und Entwicklungen einleiten kann, die einen Einbruch in die göttliche Weltordnung darstellen. So ist die malitia eine schwere Gefährdung des dem Menschen aufgegebenen öjAOicoftfjvat decp, vor allem für das diesem gemäße Wirken. Hat doch der Mensch die Entscheidungsfreiheit zusammen mit der Vernunft gerade auch im Hinblick darauf erhalten, daß er das weltordnende Wirken der Gottheit in seinem Bereich im Sinn einer avveQyia 55 oder auvöunxTjaig an der Seite der Gottheit wahrnehme. Es ist nicht nur die Größe der Aufgabe, sondern schon die Tatsache dieser Aufgabe, was dem Logoskeim im Menschen und damit dem Menschlich-Seelischen den Rang einer jtQCDtouQYÖg ama verleihen ¡mußte: nur ein Gott im kleinen konnte solcher Berufung gerecht werden 56. Freilich, in der vom Schöpferlogos geplanten und gewünschten Weise ist dies dem Ableger im Menschen nur dann möglich, wenn er dem Planen jenes getreu an der Seite bleibt 57 , die Gemeinschaft (xoivcovia) mit ihm wahrt. Aber vermöge des freien Willens droht die Gefahr des Abfalls, sobald der Mensch diese Bindung löst und sich in die iöicoaig, in die Eigenwilligkeit und Engherzigkeit persönlichen Strebens und Wünschens begibt. Hierin ist die xaxia, die [AoxfrriQia beschlossen; für Philos malitia mit ihrer Grundlage im error ist diese Richtung des Verständnisses besonders deutlich, und das legem contemnere aus dem Vergleich zuvor legt seinerseits die damit vollzogene Perversion der Weltordnung nahe. Hier nun scheint das menschliche Verhalten mit einer Wirkkraft ausgestattet, aus der bei hinreichender 8 c t j i 6 t o \ ) I\ rvxoüöa xcov TOV x6ct(iov, xaftdjteg ovöfc xf|v tov oixou xal tt|v XOV Ö oIxetüW £That has no beautyYYeviis) hält sie sich stets zu ihm . . . dann hat sie Ruhe von ihrem Irren und ist auch im Bezogensein auf jenes mit sich selbst gleich (jteQi exeiva aei xata xavra (baavrwg e'xei), weil sie eben solches (d. h. auch mit sich Gleiches) berührt« (Phaidon, 79 d). Die Seele vereint sich mit dem Seienden, indem sie selbst den eigentümlichen und nicht selbstverständlichen Grundcharakter des Seiendseins erhält. Sie ist »gesammelt in sich selber« und genau darin liegt das rechte Philosophieren (öpftcog cpiAoaoqpeiv).
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4 Audi bei Aristoteles finden wir eine entsprechende Grunderfahrung des Seins. Er versteht das Seiendsein aus dem »Ist«. Sein Verständnis des Seienden bestimmt sich vom Satze, von der Aussage her. Die Grunderfahrung des Seins liegt für ihn im Sprechen und Bestimmen. Wir sagen z. B.: »Das Gras ist grün.« Damit sagen wir, daß sich das Gras im Grünsein befindet. Grün ist ein Zustand (ein »Sein«) des Grases. Wir sagen im selben Sinne auch: »Das Gras wächst.« In diesem Satz ist zwar kein »Ist« ausgesprochen, doch liegt dasselbe darin. Der Satz hat nämlich den genauen Sinn von: »Das Gras ist wachsend.« Auch hier wieder meinen wir, das Gras befindet sich im Zustande des Wachsendseins. In solchen Sätzen liegt immer derselbe Vorgang. Es sind Bestimmungen des Grases so ausgesprochen, daß jeweils ein Zustand des Grases zur Aussage gebracht wird. Das Entscheidende, auf dem für Aristoteles das ganze Gewicht ruht, liegt darin, daß in all diesen Bestimmungen und Sätzen das Gras, als bloßes Gras, immer schon vorausgesetzt ist. Gras muß schon Gras sein, um grün oder gelb, um frisch oder dürr, um in der Scheuer oder vordraußen sein zu können. A l l diese Bestimmungen sind Einzelweisen seines Seins, sind nachträgliche Seinsweisen, hinzukommende, hinzufallende, aufxßeßrixoTa, accidentia. Grünsein, Dürrsein, Großsein usw. ist ein So-oder-so-beschäffensein, das das Grassein-selber schon voraussetzt. Was bedeutet also das Grassein für das Gras? Das Grassein gibt diesem Ding überhaupt erst das Sein, das Sein schlechthin (ajdcog ov), das immer schon vorausgesetzt ist, wenn die weiteren Bestimmungen des So-oder-so-Seins hinzukommen. Am Seienden müssen also zwei Weisen des Seins unterschieden werden, einmal das ursprüngliche Sein (daß dieses Ding überhaupt einmal Gras ist), sodann das Sobeschaffensein (daß dieses Gras grün, frisch usw. ist). Das Grassein macht aber nun das »Wesen« der Sache aus. Es ist das, was diese Sache ist. Es ist also das Wassein selber, das dem Seienden sein Sein schlechthin beibringt und es so bereit macht für die Aufnahme näherer Bestimmungen im Sinne des So-oder-so-beschaffenseins. Das Wesen ist nicht nur ein Wasgehalt, sondern das Seingebende, oder das, was am Seienden das »Ist« in erster und grundlegender Bedeutung ausmacht. Darum heißt das Wesenswas für Aristoteles ouaia, bzw. in der lateinischen Übersetzung essentia , was zu deutsch noch am ehesten mit »Seiendheit« getroffen wäre. Auch »Wesen« hat den Sinn von Seiendheit, insofern dieses Wort eine Stammform von sein ist, die sich heute noch in unserem »gewesen« oder »anwesend-sein« bzw. »abwesend-sein« kundgibt. Sein ist für Aristoteles nicht das, was wir heute in der Popularphilosophie Existenz nennen. Das bloße Vorkommen setzt nämlich das Seiende schon
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voraus; nur ein Etwas kann »vorkommen« oder »nicht vorkommen«. Demnach gehört das Sein im Sinne der bloßen Existenz mit den nachträglichen Bestimmungen zusammen, die sich erst an Wesen und Seiendheit ansetzen. Nun gibt es, nach Aristoteles, Wissenschaften, die sich auf die nachträglichen Bestimmungen richten. So zum Beispiel geht die Medizin nicht eigentlich auf das Seiende selbst, sondern nur auf sein Gesundsein, also auf einen bestimmten Zustand des im Wesen bereits konstituierten Seienden. Die Mathematik geht nur auf das Wieviel der Dinge, also auch nur auf eine nachträgliche Bestimmung. Im Unterschied dazu steht eine Wissenschaft, die nicht das Seiende nach seinem So-oder-so-sein, sondern nach seinem Seiendsein selbst, nach dem also, was es im Wesen ist, beurteilt. Diese Wissenschaft ist die Wissenschaft vom Seienden, nur gerade als Seiendes genommen (ov f) ov); sie geht also auf das Wesen der Dinge, ist Wissenschaft von der ovaia. Da aber diese, und nur diese, das Seiende ins Sein bringt und allen einzelnen Bestimmungen vorausgeht, ist »die ovcria-Wissenschaft die erste Wissenschaft (jtQcotT] (piAocroqpia), »Metaphysik«. Aus all dem ergibt sich, daß das Seiende nicht einfachhin ist und nicht ein schlichtes ununterschiedenes Sein hat, sondern zumindest sich verdoppelt (to ov jtoXXaxcbg Xeyetcxi). Es hat ein substantielles und ein accidentelles Sein, aber so, daß beide Seinsweisen aufeinander bezogen und aufeinander angewiesen sind. Sie verweisen wechselseitig aufeinander und sind in sich verklammert, wenn auch nicht mit sich identisch. Seiendes-sein heißt: sich in sich zu sich verhalten; heißt: in sich auseinandergelegt sein. Nun ist aber das Auseinanderlegen, das zugleich ein Zusammennehmen ist, der Wesens Vollzug des Denkens und Sprechens. A l l unsere Aussagen haben die Form: etwas ist etwas. Und darin zeigt sich dieses Auseinandernehmen von Etwas und wieder Zusammenlegen in der Form des Ist. Das Sein des Seienden und der Wesens Vollzug des Denkens sind also in sich dasselbe. Das Seiende ist in sich selbst sprechend; das Sprechen hat die genaue Struktur des Seins. Beides »entspricht« sich. Aber dieses Entsprechen gelingt nicht zufolge einer Übereinstimmung von Dingen, die schon für sich ihr Wesen hätten, sondern das Sprechen ist offensichtlich das Wesen des Seins, — und Sein ist das Wesen des Sprechens. Und genau dies, worin für Aristoteles der Grundansatz der Philosophie liegt, ist in dem Satz des Parmenides ausgesprochen: tö ydQ avxö voeiv ecrciv xe xai elvai. 5 Aus diesen sehr groben und skizzenhaften Überlegungen mag sich folgendes ergeben haben: Die Hochform des griechischen Denkens hat eines
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ihrer auszeichnendsten Merkmale darin, daß das Denken und das Sein in eine innerliche Entsprechung gebracht sind, nicht nur in eine Annäherung, sondern in eine Einheit, durch die der denkende Mensch und das alldurchwaltende Sein aufeinander bezogen und voneinander durchwirkt sind. Darum ist das »Sein« für dieses klassische Philosophieren niemals eigentlich ein »Problem«. Wie sollte es auch zum Vorwurf des Denkens werden, wo es doch innen im Denken sitzt und als dessen Wesen wirkt. Wie das Auge nicht seine Netzhaut sieht, so vermag auch das klassische Denken das Seinsproblem nicht als ein eigenes Objekt der denkerischen Bemühung zu betrachten. Der Mensch ist in den Seinsvollzug der Welt hineingenommen, insofern in ihm das Wesen dieses Seins selber wirkt. Die Welt liegt ihm darum offen. Sie ist ihm von Wesen her erschlossen. Er steht der Welt nicht gegenüber, sondern er wirkt und handelt als Denker im Sinne und im Herzen dieser Welt. Die Welt ist menschenförmig, so wie der Mensch weltförmig ist. Die Weltform des Menschen ist die Philosophie, die nie nur eine Veranstaltung des neugierigen Subjektes, sondern eine Vollzugsweise des alldurchwirkenden Seins selber ist. Wie steht es nun um die Philosophie der Spätzeit? Wie setzt sie sich von diesen klassischen Formen ab? Die Spätform des griechischen Denkens nennen wir gewöhnlich hellenistische Philosophie. Diese umfaßt so unterschiedliche und gegensätzliche Positionen wie Stoa und Epikureismus, Skeptizismus, Akademie und Peripatos, Eklektizismus, Gnostizismus und ähnliches. So unterschiedlich die Positionen sein mögen, so ist doch allen gemeinsam, daß hier die Welt in einer ganz anderen Form erscheint, nämlich distanziert, streng, gleichsam feindselig. Die Natur ist in sich verschlossen, sie geht einen unnachgiebigen Gang. I n diesem ist nicht auf den Menschen Rücksicht genommen. Die Welt ist nicht menschenförmig und nicht seinem Denken zugedacht. In der Welt wirkt so etwas wie ein Verhängnis, EtyuxQixevT], fatum, eine Geschehensform, die dem Menschen nicht zugänglich und im Grunde auch nicht verständlich ist. Es vollzieht sich eine Weltverdüsterung. Diese Naturauslegungen greifen gerne auf die mechanistischen und atomistischen Formen der Weltinterpretation zurück. Das Atom ist ein bevorzugtes Spielzeug der Spätzeit. Der Mensch hebt sich vor dem dunklen Hintergrund einer ihm fremd gewordenen Welt in scharfer Kontur ab. Er legt eine ausgesprochene Distanz zwischen sich und die Welt. Er versteht sein Leben in Negationsverhältnissen zur Umwelt und fordert von sich Autarkie, Apathie, Ataraxie. Der Mensch zieht sich in seine eigene Ordnung zurück und kann nur in diesem Rückzug sein Wesen bewahren. Gelingt es ihm, sich in der eigenen
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Ordnung heimisch zu machen, dann ist die bloße Natur mit ihrem mechanistischen und dunklen Gang gegen ihn im Wesen machtlos. Begibt sich der Mensch ins Äußere, läßt er sich in die Verstrickungen der Welt und des Schicksals ein, so wird er einer anderen Macht unterworfen als der, die er selber ist. Er lebt dann im Zustande des Selbstverlusts. Wesentlich für das spätzeitliche Denken ist die Kategorie der Selbstentfremdung. Ja, sie ist die primäre und reguläre Bestimmung des menschlichen Daseins. Der Mensch ist immer zunächst außer sich. Er ist seiner selbst entsetzt, und dieses ontologische und grundlegende Entsetzen prägt sich in den vielfältigsten Formen aus und beunruhigt selbst noch die harmlosesten Äußerungen dieses Menschentums. Die Kategorie der Selbstentfremdung stellt etwas Neues gegenüber dem klassischen Denken dar. Für dieses ist es schlechterdings unmöglich, ein Seiendes zu denken, das nicht in seinem Wesen ist. Wie sollte dies auch geschehen können, da doch das Wesen erst das Sein des Seienden beschafft? Jetzt aber begreift sich der Mensch als das, was zunächst außer seiner Natur lebt und sich also zurückholen muß. Der Mensch ist nicht Mensch, sondern er wird Mensch. Darin kann man vielleicht auch den Grund sehen für das Vordringlichwerden des Erziehungsbewußtseins der Spätzeit. Pädagogik hat hier ihren Ursprung. Vermutlich liegt der Grund für das Erwachen des Bildungsbewußtseins der Spätzeiten nicht darin, daß die alten Überlieferungen schwankend und zweifelhaft werden und darum dem Menschen jetzt erst ausdrücklich und mit Absicht ein innerer Halt gegeben werden muß, sondern darin, daß der Mensch sich als ein Wesen versteht, das sich zu leisten, sich selbst aufzubauen hat. Menschsein bedeutet Menschwerden. Menschwerden heißt Zurückkommen zu sich, einig zu sein mit sich selbst. Jetzt muß freilich der Mensch als vordringlichstes Objekt in sein eigenes Blickfeld rücken. Er ist für sich selber das einzige ernst zu Nehmende. Auf ihn konzentriert sich das Nachdenken. Es bedarf jetzt einer eigenen Lehre, wie sich der Mensch erwirkt, bzw. worin das Selbersein des Menschen besteht. Philosophie ist die Wissenschaft, die diesen Rückzug des Menschen in sich selbst oder diese Überwindung der bloßen Natur zeigt. Philosophie ist in dieser Hinsicht ein »Leben-1 ehren«. Der Sachverhalt wird nicht genau getroffen, wenn man das Hauptinteresse der spätzeitlichen Philosophie in der Ethik sucht. Ethik meint in unserem Sprachgebrauch soviel wie Verhaltenslehre. Hier aber geht es nicht erst um das Verhalten, sondern schon um eine Seinslehre des Menschen. Ihr liegt die Frage zugrunde: Wie nimmt sich der Mensch aus der Zerstreuung in die bloße Natur heraus und in die Sammlung seines eigentlichen Menschseins zurück?
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Das Distanzierungsbedürfnis legt dem Menschen ein neues Naturverständnis nahe. Die Natur rückt in die Ferne des bloßen Hintergrundes für ausdrückliche Abhebungsbemühungen hinaus. Dies drückt das Xäfte ßicoaag des Epikur aus. Das eigentliche Verhältnis, das dem Menschen sein Menschsein ermöglicht, ist jetzt nicht mehr die AXr|deia als die Unverborgenheit und das von sich her Anwesen der Welt und des Seienden, sondern ist im Gegensatz dazu die W|fh], die Verbergung und die Abscheidung, die überhaupt erst den Menschen in sein Sein kommen läßt. Aus dieser Distanz, die gleichsam über das Nichts der Xrjftri hinwegführt, gewinnt der Mensch seine Freiheit. »Freiheit« ist jetzt das Wesensfeld des Menschen, das sich von der Welt und Natur aufs bestimmteste unterscheidet. Frei ist der Mensch nur für sich selbst und nur zu sich selbst. Er muß sich nach innen richten. Dort allein ist er Herr. Was immer mit dem Menschen geschieht und wozu ihn auch das Schicksal bestimmt haben mag, es bleibt ihm ein »freier Ausgang«, nämlich der Weg nach innen. Das Ziel dieses Weges können wir Innerlichkeit nennen. Diese ist eine neue Dimension, ein neuer Bestimmungsbereich mit grundsätzlich eigenen Gesetzen, der sich nicht aus der bloßen Natur, nicht aus der Welt und nicht aus dem Seiendsein des Seienden ableiten läßt. In dieser Innerlichkeit liegt das entscheidende Erfahrungsgebiet des spätzeitlichen Bewußtseins, das sich in der Entdeckung dieser Verhältnisse von der vorausgehenden Hochform klassischen Denkens unterschieden weiß. Jetzt erst kommt es dem Menschen in seinem Handeln auf die innere Einstellung an, die das entscheidende Gegengewicht gegen die bloß äußere Rechtmäßigkeit des Handelns hat (Unterschied von xatoQ^cöfxa und xaftrjxov). Diese Abhebungstendenz, diese Flucht in die Innerlichkeit löst den Menschen aus den natürlichen Bedingungen, die ihm durch das Schicksal und die Welt zubestimmt worden sind. So kommt es nun darauf an, sich aus den Bindungen rein geschichtlicher Natur wie z. B. Nation und Stand oder Gemeinschaft und Staat zu lösen. Der Weise braucht die anderen nicht. Der Weise braucht auch nicht den Weisen. Er hebt sich in eine abstrakte Existenz, die von aller Natürlichkeit und Geschichtlichkeit gereinigt ist. Dieser abstrakte Mensch gerät in eine Nähe zu Gott, in der die Unterscheidungen nicht mehr sichtbar sind. Was ist denn nun noch der Mensch? »Ein Gott, der in einem menschlichen Körper Wohnung genommen hat« (Seneca). Auch gegenüber Gott wird der Mensch autark, da er auf diesen nicht mehr angewiesen ist. »Wozu verlangende Gebete? Mach dich selber glücklich!« Das Zusammenrücken des Menschlichen und des Göttlichen bis zur völligen UnUnterscheidbarkeit betont und unterstreicht noch einmal den Unterschied der Ordnungen des Menschlichen einerseits und der bloßen Natur andererseits. Dem widerspricht auch nicht die Forderung nach einem natur-
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gemäßen Leben, wie wir sie in der Stoa finden (6pioXovoi)|jiEV(Dg xf\ cptiaei £f]v). Diese Naturgemäßheit bezieht sich auf die menschliche Natur, nicht aber auf das Äußere des bloßen Weltgeschehens. Zwar sind die beiden Naturen zuletzt und zuhöchst dasselbe — und gerade dies erlaubt diese stoische Forderung —, doch ist die obere, soweit sie einander entgegengesetzt bleiben, der Tod der unteren. Das, was wir zuvor als den »freien Ausgang« bezeichneten, der dem Menschen aus der Ordnung der bloßen Natur immer offengehalten bleibt, ist schließlich und im Entscheidungsfalle der Selbstmord. »Bereite dich auf den Tod vor, das will sagen, bereite dich auf die Freiheit vor.« Und weiter: »Was können dem Menschen Kerker, Wachtposten und Riegel anhaben? Er hat einen freien Ausgang« (Seneca). 7 Der Neuplatonismus zeigt uns die Endgestalt des griechischen Philosophierens. Auch er hält an der Ablösung des Menschen aus der bloßen Natur und Körperwelt fest. Die Seele ist, nach Plotin, ein eigenes Prinzip. Sie soll aus sich selber leben, und nur so ist sie frei, d. h. vernünftig. Wenn sie jedoch von außen her lebt, dann lebt sie aus der bloßen Natur. Darüber hinaus aber reißt der Neuplatonismus eine neue Kluft auf: zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. Gott liegt noch weit über der Idee des Guten. Er ist die absolute Einfachheit selbst, die sich nicht mehr in Eigenschaften differenziert und also auch nicht die Eigenschaft des Guten zu haben vermag. Gott ist Einheit und Einfachheit schlechthin. Darum kann man auch nicht sagen, daß er denke, denn in diesem Satz würde das Denken von dem Gotte schon unterschieden werden. Darum ist er eigentlich auch nicht Gott, sondern er ist vor jeglichem (jtQÖ ¿xaatov). Gott ist also auch kein Seiendes (ovöe ov), er ist ohne die Verfassung der Seiendheit (|xoQcpf| t o i övtog). Da Gott ohne alle Eigenschaften, ohne alle Verdoppelung seines Seins und damit ohne alle Sagbarkeit ist, kann die Philosophie als Metaphysik ihn nicht mehr in ihren Aussagenkreis einschließen. Das Gott zugewendete E>enken mündet daher hinaus in eine sprachlose Theologie (^eoXoyia äjto(patiwr)). Ist diese Zuwendung auch sprachlos, so ist sie eben doch noch eine Zuwendung. In ihr erschließt sich Gott als das Eine und Einzige dem reinen Schauen, in dem der Schauende zuletzt über sich hinausgerissen und aufgenommen wird in das Geschaute selbst. Dies geschieht in der exataaig, die mehr ist als nur ein Denken, unendlich viel mehr als bloße Philosophie. »So ist es denn dort oben vergönnt, jenen (das ev) und dich selbst zu schauen, so weit Schauen dort das rechte ist, sich selbst von Glanz erhellt, erfüllt vom geistigen Lichte, vielmehr das Licht selbst, rein, ohne Schwere,
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leicht, ja Gott geworden — nein: seiend; entzündet in diesem Augenblick; wenn man aber wieder schwer wird, gleichsam erlöschend.« Mit der Ekstase eröffnet sich dem Menschen eine neue Möglichkeit, die über dem Verstehen liegt und doch seine Helle behält. Es ist dies die Dimension des Seienden selbst; hier west dieses nicht nur an und nimmt den Menschen in die Entsprechnung, sondern es nimmt den Menschen in sich auf, identifiziert und vereinigt ihn mit sich selbst. Aber genau dies war der Gegenstand und die Absicht der Philosophie in der klassischen Zeit gewesen. — Demnach müssen wir feststellen, daß das, was die Philosophie intendierte und was nur sie zuwege zu bringen vermochte, jetzt in ein neues Vermögen verlegt ist, das von der Philosophie nicht nur gradmäßig, sondern auch wesensmäßig und radikal verschieden ist. Die Philosophie kann das ihr ursprünglich gesetzte Ziel nicht mehr erreichen; sie bleibt hinter ihrer Aufgabe zurück und muß — wenn diese Aufgabe überhaupt ihre Erfüllung finden soll — sich selbst vor ihr zurückziehen. Die Philosophie gerät in die Notwendigkeit, sich selbst zu begrenzen, sich selbst in enge Schranken zurückzunehmen und in ihrem altangestammten Anspruch zu beschneiden. Sie muß sich nicht nur auf sich selber wenden, d. h. zur kritischen Philosophie verwandeln, sie muß sich auch noch so einschränken, daß sie sich zugleich für anderes freimacht und auf andere Zugangsformen hin öffnet. Ihr kann nur noch die Rolle zukommen, für diese Zugangs weisen bereit zu machen und ihnen zu dienen. 8 Von hier aus läßt sich die Spätphilosophie der Antike als ein einheitlicher Vorgang verstehen. I n ihm treten die Naturen auseinander und stellen sich in verschiedengestalteten Ordnungen neu zusammen. In diesem Vorgang findet die Philosophie eine Begrenzung und Beschränkung nach zwei Seiten hin. Einmal ist ihr das eigentlich Seiende, das ev unzugänglich (dxaTdXr]jtTOv). Nach der anderen Seite hin ist ihr das Reich des bloß Vorkommenden, die bloße Natur gleichgültig (döidcpoQOv). Sie grenzt sich darum ein auf ein eigentümliches Feld, in dessen Mitte der Mensch steht. Dabei jedoch sieht sie nicht nur auf dieses ihr eigentümliche Objekt, sondern sie blickt durch ihn hinaus auf das Eigentliche, von dem her der Mensch die Aufgabe seines Menschseins empfängt. Dieses Eigentliche aber ist weder in der Abbildhafligkeit des Seienden noch im bloß formalen Verweis alles Endlichen über sich hinaus faßbar, sondern der Gott gibt sich nur in der Exataoig über allem Verstehen als das von sich her selbst Ankommende, als das sich selbst Zeigende und Offenbarende zu erkennen. Kein Verstehen vermag in dieses Geschehen hinauszureichen. Die Realität, die in diesem Geschehen offenkundig
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wird, ist unvordenklich und kann nur in der Erfahrung und in der reinen Rezeption gegenwärtig werden. So hat sich also die Philosophie aus einer ihr eigentümlichen Bewegung für ein Geschehen freigemacht, daß außerhalb ihrer und über ihr das Eigentliche zum Vorschein bringt. Und nur so ist es denkbar, daß das Christentum als eine Lehre, die für die Philosophie nicht nur unsichtbar, sondern auch unverständlich bleiben muß, in das abendländische Bewußtsein eintreten konnte. Dieser Eintritt ist nicht nur eine Selbstdarstellung geblieben, sondern hat die Philosophie im ganzen und von Grund auf geprägt. Man muß sich die historische Bedeutung dieses Vorganges zu vergegenwärtigen suchen. Die Größe des griechischen Denkens liegt doch wohl gerade darin, daß hier die Philosophie nicht zu einer Betrachtungsweise unter anderen, sondern zu dem Bewußtseins- und Denkvollzug selbst und als solchem gemacht worden ist. Menschsein, das ist eigentlich Philosophieren, und nichts sonst. So betrachtet, konnte in die Geschichte des Menschentums nie etwas anderes eintreten und entscheidende Bedeutung gewinnen als eben nur solches, das in die Ebene des Philosophierens transponiert und dort vergegenwärtigt und abgehandelt werden konnte. Daß das Philosophieren selbst übersprungen wird, würde im klassischen Denken soviel bedeuten wie, daß das Menschsein, die Geschichte, d. h. überhaupt das Erzählbare und Sagbare, hintergangen ist. Erst dann, wenn sich die Philosophie aus diesem radikalen, absoluten und universalen Anspruch zurückgenommen hat, geöffnet hat und Augen gewonnen hat für eine Realität, die zwar dem Menschen gegeben aber doch nicht in der Philosophie darstellbar ist, erst dann kann überhaupt so etwas wie das Christentum in der Geschichte Platz finden und d. h. Bedeutung haben für das abendländische Menschentum. 9 Wenn wir nun die Konzeption der Hochscholastik als ein weiteres Beispiel für die klassische Form des Philosophierens heranziehen, so entdecken wir hier wieder eine Einheitsgestalt der Welt, in der die tragenden und entscheidenden Prinzipien ungebrochen durch die Gesamtheit der Schöpfung bis hinauf zum Schöpfer, oder umgekehrt vom Prinzip des Schöpfergottes bis hinab in die zerstreutesten Einzeldinge gültig sind. Die Konzeption der Hochscholastik ist zwar von größeren Spannungen durchzogen und darum strittiger in der Durchführung, aber sie ist trotzdem eine Konzeption der Einheit und der durchgängigen Wesensentsprechung. Der Grund des Seins und des Denkens liegt in Gott. Gott ist das Sein selbst, wie es für sich zu sein vermag und wie es aus seiner eigenen Fülle und Kraft heraus subsistiert (ipsum esse per se subsistens). Gott ist dasjenige
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Seiende, das selber ist, was es ist; das will besagen, daß Gott nicht innerhalb eines Wirklichkeitsraumes sein Vorkommen hat, sondern daß er für sich selbst seine Ermöglichung, sein Wirklichkeitstraum, sein Sein ist: Ego sum qui sum. Wenn also immer etwas sein soll, so muß es von ihm her sein. Alles, was den Namen seiend verdient, kann diesen Inhalt nur durch die Teilhabe am Sein selbst erlangen. Wenn Gott als der Schöpfer gedacht wird, dann ursprünglich nicht in dem Sinne, daß er der Hervorbringer, gleichsam der Handwerker der Natur ist, sondern so, daß er die Oberfülle ist, aus deren Uberfluß an Sein das Seiende entsteht. Was das Seiende ist, kann man daher nur von Gott her begreifen. Die Wurzeln unseres Wissens, auch dort, wo es sich um das innerweltliche Seiende handelt, sind theologischer Natur. Was immer ist, muß aus dem Sein selbst begriffen werden, muß als Geschöpf Gottes verstanden sein. Wenn Gott schafft, entsteht Sein; und es entsteht nichts anderes als Sein. Im Grunde gibt es darum in der Ganzheit der Schöpfung nur Sein; es wäre schon ein Mißverständnis, wenn man über dem Sein auch noch Wesensgehalte annehmen würde als etwas, was außerhalb des Seins und diesem hinzu beigefügt werden müßte. Gott schafft nicht notwendig, sondern aus dem Oberfluß seiner Güte. Diese Güte ist sein Wesen selbst, also sein Sein. Da alles andere Sein aus der Partizipation am ursprünglichen Sein besteht, bedeutet Sein überhaupt und überall zuletzt nichts anderes als perfectio und bonitas , Vollkommenheit und Güte. Deus intendit solum communicare suam perfectionem quae est ejus bonitas (Thomas von Aquin). Die Welt ist Selbstoffenbarung Gottes. Sie enthält nichts anderes als Sein. Es gibt nichts, das einen anderen Inhalt hätte als eben nur: Sein. Darum ist alles miteinander dasselbe. Wenn Verschiedenheiten zu finden sind, dann können dies nur Unterschiede in der Dichte des Seins sein. Alle Unterschiede lassen sich demnach auf solche der Intensität, d. h. auf solche des Grades, d. h. auf solche des Ranges, zurückführen. Die Weltkonzeption des Mittelalters ist demnach eine Rangordnung, ein Stufenbau in strenger Hierarchie. Solche Stufen sind etwa das bloße Sein (esse), das Leben (vivere), das Empfinden (sentire), das Denken (cogitare) und das Schauen (intelligere). Jede dieser Stufen möglicher Seinsdichte macht einen Bereich für Seiendes aus. Die unterste Stufe erlaubt nichts anderes als das tote Sein der bloßen Körperlichkeit. Die nächste Stufe ist die des pflanzlichen Lebens, das über sein stumpfes Vorkommen hinweg sich in gewisser Weise selbst gegeben ist. Die folgende Stufe enthält die Grundmerkmale des tierischen Daseins, in dem sich das Seiende nicht nur selbst gegeben ist, sondern in dem sich dieses Selbstgegebene noch eigens empfindet. Die Stufe des Denkens, die dem Men-
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sehen zu eigen ist, enthält neue Möglichkeiten der Potenzierung des Seins. Hier ist das Seiende sich nicht nur in der Empfindung vergegenwärtigt, sondern diese Empfindungen sind selber noch Thema und Gegenstand eines höheren Vermögens, das wir als das Urteilsvermögen kennen. In der Schau jedoch ist nicht mehr das einzelne Seiende, sondern das Sein im ganzen gegenwärtig, und zwar so, wie es aus der Überfülle heraus sich in die Schöpfung ergießt und dort das eigentliche Grundthema allen Daseins ausmacht. I n dieser Welterfahrung ist alles eins. Darum ist ein Mensch, genau genommen, nichts anderes als ein Tier, er enthält keine anderen Inhalte, aber er enthält sie in einer wesensmäßig höheren Stufe und größeren Dichte. Die verschiedenen Wesenheiten sind nicht verschiedene Washeiten, wobei diese Washeiten neben dem Sein und außer ihm einen Sinn hätten. Das Wesen ist gerade nur der Grad des Seins; die Weise, wie ein Seiendes dieses Sein übernommen hat und es zu tragen vermag. Darum heißt es ganz richtig und streng: nomen essentiae sumitur ab esse. Alle Wesen sind Sein und sonst nichts; sie unterscheiden sich nur nach dem Grad ihrer Vollkommenheit. Geist ist dabei das Seiende, das in vollkommenster Höhe das Sein zum Ausdruck bringt. Innerhalb ider endlichen Schöpfung gibt es nichts, das in dieser Vollendung das eigentliche Grundthema durchklingen ließe und in sich austrüge. Worin besteht nun die Vollkommenheit in der Höhe des Seins? Darin, daß der Geist alles in sich zusammennimmt und allem eine neue Existenzform erlaubt, nämlich die der innersten Entsprechung im Gegensatz zur Diaspora in die Vielheit und scheinbare Wesens Verschiedenheit. Geist ist eine unerläßliche Vervollkommnungsstufe der Welt. Alles Seiende wartet auf ihn, um durch ihn in die ursprüngliche Seinsverfassung, die allem Seienden zugrunde liegt, zurückgehoben zu werden. Die eigentümliche Aufgabe des Geistes ist die Heimführung der Schöpfung zum Schöpfer. Wichtig ist in dieser Konzeption, daß der Geist zur Welt gehört. Er ist ein Stück ihrer. Er ist aus ihrem Wesen, als Schöpfung, gefordert. Es könnte eine geschaffene Welt gar nicht gedacht werden, in der nicht die höchste Stufe der welthaften Vollendung mit einbeschlossen ist. Welt ohne Geist wäre nicht Welt. Vor allem wäre es nicht die Welt des Schöpfers, dessen Sein die Vollkommenheit ist und dessen Merkmal in der Welt die Vollkommenheit der Welt selber genannt werden muß. Der Geist gehört also zur Welt; und dies wesenhaft und unabdingbar. Niemals kann der Geist verstanden werden als etwas, das der Welt gegenübersteht und diese im ganzen zum Objekt und Gegenwurf hat; eine Konzeption, die ja erst die neuzeitliche Philosophie aufbringt und die dieses Denken durch eine Kluft von der mittelalterlichen Konzeption trennt.
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Da das Erkennen ins Sein «gehört und vom Sein der Welt selbst gefordert ist, muß es auch für seine Aufgabe voll gerüstet und tauglich sein. Der Gegenstand des menschlichen Verstandes, die Wesenheiten der materiellen Dinge (essentiae rerum materialium), ist für dieses Verstehen offenbar, gegenwärtig und notwendig zu bewältigen. Diese Wesenheiten sind auf uns zu gedacht, sie haben ihre Erkennbarkeit und erlauben dem Geist die Durchführung seiner Aufgabe. »Wissenschaft« ist das Wissen des Seienden in seinen wesentlichen Bestimmungen, ist die Rückführung der Welt auf ihren Seinsgrund und damit die Erhellung der Welt in Richtung auf das, was sie in Wahrheit ist. In der Wissenschaft vollzieht sich darum die Entsprechung von Mensch und Welt. Auch hier wieder ist die Welt mensdienförmig gedacht, so wie der Mensch als ein wesentliches Konstituens der Welt in dieser steht und auf sie angelegt ist, also weltförmig heißen darf. Da die Welterkenntnis prinzipiell möglich ist, muß sie auch schon geschehen sein. Es bestehen ja keine Anlässe und keine prinzipiellen Hinderungsgründe, um das dem Menschen zugedachte Wissen der Welt auszuschließen. Die Menschheit weiß also, was zu wissen notwendig und möglich ist. Sie hat einen abgeschlossenen Fundus an Erkenntnissen, den es zu tradieren und wohl auch in den Einzelheiten zu verbessern gilt, der aber seinem Grundbestand nach unangetastet bleiben kann und bleiben muß (Autoritäten). Die Welt des Hochmittelalters ist in ihrem Wesen eine geklärte Welt und eine solche, die für den Menschen durchsichtig und gegenwärtig ist. Es gibt keinen dunklen oder gar unendlichen Problemhintergrund, aus dem die bekannte Sphäre nur ein Ausschnitt wäre, von dessen Ort keine Aussagen möglich sind. Gibt es keinen Problemhintergrund, so ist auch so etwas wie »Forschung« unsinnig. Daß die mittelalterliche Wissenschaft Forschung nicht kennt, hat seinen Grund darin, daß das Wissen in sich abgeschlossen war und auf einer Weltkonzeption beruhte, in der offene Fragebahnen, die sich auf einen dunklen Hintergrund hin verlieren, gar nicht Platz finden können. So sagt z. B. ein Augustinuswort: »Nichts ist so abgelegen und schwierig, das nicht durch Gottes Hilfe hell und zugänglich gemacht werden könnte« (de libero arbitrio I, 6). Das dem Menschen mögliche Wissen ist schon immer niedergelegt. Es findet sich gesammelt bei den Autoritäten, und darum muß der Wissenschaft treibende Mensch sich auf die Autoritäten zurückbeziehen. Mittelalterlicher Wissenschaftsbetrieb setzt darum Autoritätensammlungen voraus (z. B. die Sentenzen des Petrus Lombardus) und geschieht in der Kommentierung. (Ein jeder Baccalareus der mittelalterlichen Universität mußte die Sentenzen lesen und erklären.) Aus der Welterfahrung der Hochscholastik ergibt sidi darum die Situation einer geschlossenen und geklärten Kenntniswelt, die einen Weitergang
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von sich aus nicht zuläßt. Gegenthesen gegen diese Konzeption könnten nur auftauchen, sofern sie innerhalb der Grundannahme stehen, d. h. sofern sie die Geschlossenheit der Welt als solche akzeptieren. Wie sollte die Geschichte des Denkens über diese Position hinausgehen, wenn nicht so, daß sich dieser Gedanke selbst zurücknimmt? 10 .
Die klassische Form des mittelalterlichen Denkens läßt eine Bewegung des Geistes, etwa in der Art des »Fortschritts« vom Wesen her nicht zu. Soll eine neue Zeit innerhalb des europäischen Bewußtseins Raum finden, so kann dies nur so geschehen, daß die klassische Einheit destruiert wird. Die Destruktion des mittelalterlichen Gedankens geschieht in derjenigen Bewegung, die wir mit Nominalismus bezeichnen. Es ist dies eine Richtung, die in der Form, um die es uns hier zu tun ist, im 14. Jahrhundert ihre Hauptzeit hat, aber noch weit in die Neuzeit hereinreicht und diese bestimmt. Der Ansatz des Nominalismus ist die absolute Transzendenz Gottes, der in seiner völligen Freiheit und Schöpferwillkür durch keine allgemeinen Gesetze eingeschränkt ist. Ausgangspunkt alles Verständnisses von Sein und Seiendem muß die omnipotentia Dei absoluta sein. Sie besagt, daß es keine ontologischen Vorstrukturen der Welt gibt, an die Gott bei der Schaffung des Seienden gebunden wäre. Gott ist der Herr und nicht der Knecht der Welt. Was seiend ist, hat nicht seine Bestimmung durch einen Platz innerhalb der Gesamtarchitektur der Welt und ist nicht innerhalb eines hierarchischen Gefüges durch das Prinzip der Vollständigkeit gefordert und ernötigt sondern es ist eben nur darum seiend,, weil Gott es schaffen wollte. Es gibt keine Möglichkeit, aus dem Gedanken des Seins selbst die Stufungen des Seienden herzuleiten. Der Geist muß Seiendes hinnehmen so wie es sich eben bietet; die Dinge sind einzig und allein verständlich aus dem freien göttlichen Willen. Illud quod solum dependet ex voluntate divina contingenter causante et libere , non potest probari nec inprobari ratione naturali (Wilhelm von Occam). Aus einem solchen Gedanken entspringt ein eigenartiges Weltverhältnis. Das Seiende, das aus aller Notwendigkeit und natürlichen Vernünftigkeit herausgenommen ist, erscheint jetzt in der ganzen Zufälligkeit und Eigentümlichkeit seiner jeweiligen Verfassung. Gott hätte die Welt so einrichten können, daß sie auf das Gegenteil hinausläuft. Das Feuer könnte auch kühlen statt wärmen, das Licht hätte so eingerichtet werden können, daß es nicht erhellt, sondern verdunkelt, usw. Ja, dieser Gedanke wird so weit geführt, daß es als möglich anerkannt wurde, Christus hätte in der Gestalt eines Esels inkarniert werden können. Die Welt ist jetzt in das Licht der Absurdität
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gestellt. Im Grunde ist alles absurd; und das Gewöhnliche erscheint uns darum normal, weil wir es gewöhnt sind. Es ergibt sich aus diesen Grundlagen, daß das Sein des Geschaffenen in nichts vorbestimmend ist für die Washeit des jeweiligen Seienden. Alles kommt nur noch darin überein, daß es eben ist. Dieses Daßsein besagt nicht mehr als nur das Vorkommen innerhalb eines nicht näher bezeichneten und nicht näher zu bezeichnenden Raumes von Wirklichkeit. Sein hat nicht selbst quiditiven Charakter, ist nicht inhaltlich bestimmt, auch nicht als bonitas dei. Der nominalistische Ansatz führt notwendig zu einer Nivellierung des Seinsbegriffs, dem aller Inhalt ausgetrieben werden muß, damit die absolute Omnipotenz Gottes in ihrer Schöpfertätigkeit sich erweisen kann. Nicht nur die Nivellierung des Seinsbegriffs, sondern auch die Umprägung des Verständnisses von Erkenntnis und Wissen ist ist< und >geschiehtinvenzione< möglich werdende Realität höherer Art, ein nur in der Bezogenheit auf sich selbst stimmiges System zusammenspielender Teile« (W. Hager). Das Prinzip, »Zweiheit der Intention« bis zur Gespaltenheit hin, deutet den Ursprung des Manierismus. Das Organische, d. h. gestalthaft Einheitliche, in der Hochrenaissance gewonnen, wird als Form, als Gestaltumriß beibehalten, jedoch (und gerade dadurch) auf intellektuelle Normen reduziert. »Das bewußt gewählte und unbewußt vermiedene Vorbild des Klassischen . . . ein natürlich Gewordenes in die erstarrende Atmosphäre der betrachtenden Absicht versetzt — dies ist die erste Voraussetzung des Manierismus30.« Es ist immer betont worden, daß der Manierismus »an dem gesamten Formenbestand der klassischen Kunst festhält. Er stellt ihn nur unter ein anderes Vorzeichen« 31. Die dergestalt antithetische Rezeption der klassischen Bildgestalt findet ihren Ausdruck in Übersteigerungen der kategorialen Struktur der Gattungen. Die Grundstruktur einer Gattung ist je bestimmt aus dem spezifischen Verhältnis, in dem Raum und Körper zueinander sich befinden. Dieses Verhältnis bestimmt die Erscheinungsweise des Kunstwerks, und es bestimmt das Verhältnis des Betrachters zum Werk, indem seine Identität entweder gesichert oder aber in Frage gestellt wird. Die eigentlich stilbildende Leistung der Hochrenaissance bestand in der Integration von Raum und Körper im Phänomen der »optischen Bildebene«32. Die im Bildtiefenraum imaginierten Gegenstände werden gleichzeitig als auf der idealen Bildebene befindlich dargestellt, wodurch eine Integration des Plastischen mit der Fläche erfolgt und ein Bildorganismus entsteht, dessen Geschlossenheit Ausdruck höchster Verwirklichung eines Prinzips ist, das nur als »Intention der Einheit« gefaßt werden kann. Im Ge29
W. Hager, op. cit. W. Finder, op. cit. 31 H . Sedlmayr, Verlust der Mitte, a. a. O. 32 Uber das Phänomen der »Optischen Bildebene« vgl. W. Schöne, Uber das lacht in der Malerei, Berlin 1954; F. P. op. cit. 30
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richtetsein auf ein Objekt außerhalb seiner selbst erfährt der Künstler sich im Leibe, erfährt er sich in Einheit mit der Welt. Das Kontinuum von Gegenstand und Raum, die im Phänomen der optischen Bildebene integrieren, hat seine Entsprechung in dem kontinuierlichen Ubergang von Umraum des Betrachters und Bild, zwischen die dennoch Distanz gesetzt ist. Denn im Gerichtetsein auf das Kunstwerk greift der Betrachter über das Bild hinaus, konstituiert er sich im Leibe. Mit der Konstitution dieses Phänomens waren alle quattrocentistischen Bemühungen um Darstellung des Naturraumes überflüssig geworden; das beiordnende Prinzip der Frührenaissance war überwunden, indem das, was in der Bildebene neben- im Bildtiefenraum nacheinander dargestellt ist, in der optischen Bildebene im Zugleich als Einheit erfahren wird. In der Terminologie Th. Hetzers bedeutet diese Vermählung des Plastischen mit der Fläche »Bildleib«, der den »Bildkörper« der Frührenaissance ablöst. Die Leistung der Hochrenaissance, den Riß zwischen Raum und Körper durch Leibbezogenheit integriert zu haben, wird durch den Manierismus zutiefst in Frage gestellt. Doch sind in der großen Leistung der klassischen Kunst Gefahren latent, die aus dem Streben einer jeden Gattung nach Autonomie sich ergeben. Mit der Hochrenaissance hatten sich Architektur, Plastik und Malerei als Gattungen freigespielt. Ihre »Harmonie« war zu einem guten Teil ermöglicht aus dem Maß an »Autonomie«, das sie auszeichnet. Von dieser Position der ¿«^historischen Fakten her kann in gewissen Grenzen die kunsthistorische Bedeutung des Manierismus analysiert werden, die in der Doppeldetermination der Gattungen liegt. Die Spältigkeit macht sich schon zu Lebzeiten Raffaels (und zum Teil in seinem eigenen Werk) geltend. In Rom, Florenz, Siena, in der Emilia und der Lombardei, überall in Italien entstehen Werke, die auf Negierung der klassischen Werte tendieren. In gewissen Erscheinungsformen kann schon die Kunst ab 1515 als manieristische bezeichnet werden, doch liegen hier, wie Pinder bemerkte, Manieristisches und Barockes dicht nebeneinander. Zur allgemein herrschenden »Form« wird der Manierismus ab 1530. Um die Mitte des Jahrhunderts hat er seinen schöpferischen Höhepunkt erreicht, im letzten Drittel endlich können wir von seiner Ubersteigerung isprechen. Gab es zu Anfang der Bewegung eine »antiklassische « Richtung , so jetzt eine »anti manieristische « Strömung. Der Manierismus bleibt nicht auf Italien beschränkt, er dehnt sich zu einer europäischen Erscheinung. »Dank seiner klassizistischen und intellektualistischen Aufgabenstellung wurde der Manierismus die erste kunsthistorische Epoche, die man folgerichtig mit einem 'ismus' bezeichnet, und die sich im ganzen Abendland als Dogma ausbreitete, ähnlich wie wir das von den
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modernen 'ismen* gewohnt sind33.« Nach W. Friedländer 34 »entspricht der auf das Subjektivistische eingestellten Revolution um 1520 gegen das Allzuschöne und Allzuausgeglichene, gegen das Normative und allzu-NatürlichRationale der Hochrenaissance und dem Zurückgreifen des neuentdeckten Stils auf ältere archaische Tendenzen (wozu auch das Rezipieren des Nordischen gehört) eine konservative Reaktion in den achtziger und neunziger Jahren, die nun als Heilmittel gegen die maniera ihrer Vätergeneration auf die soliden Grundlagen der renaissancistischen Malerei in Italien zurückgeht und auf ihr aufbaut«. Das, was die Kunstgeschichte als Manierismus bezeichnet, ist ein Gebilde von großer Komplexheit, das sich nicht aus wenigen Axiomen erklären läßt. Doch gibt es Phänomene, welche die Stellung der Kunst des Manierismus in der jüngeren Kunstgeschichte bestimmen. Dabei geht man sinnvoll aus von dem Begriff der Einheit jener Epoche, die heute allgemein durch die Jahre zwischen ca. 1470 und 1770 begrenzt wird 3 5 . Diese Zeit ist als Epoche dadurch ausgezeichnet, daß sie einen bestimmten Formenkanon entwickelt und (von der Renaissance bis zum Rokoko) variiert, stets aber beibehält. Daran entzündet sich die Frage, was der Manierismus für die Epoche bedeutet. Für die Antwort ist, neben den Phänomenen, die Kunstlehre wichtig, in welcher der künstlerische Subjektivismus seine Theorie bekommt. Auch die Kunstlehre ist dualistisch: »Sie predigt die Systematisierbarkeit des künstlerischen Schaffens und verkündet dennoch die visionäre, irrationale Macht der subjektiven Phantasie, sie stellt formale Dogmen auf und weist gleichzeitig die mathematischen Regeln zurück. »Dieselbe Zeit, die die künstlerische Freiheit so mutig gegen die Tyrannei der Regeln verteidigt, macht aus der Kunst einen rational organisierten Kosmos< (Panofsky) 36.« Das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das in seinen Spannungen in der neueren Kunst (bis zur Zerspannung der modernen) verfolgt werden kann, wird zunächst in der Kunsttheorie der Frührenaissance zum Problem. Schon das Faktum einer Künstlertheorie (die das Mittelalter nicht gekannt hat) weist auf eine Stellung des Künstlers hin, in der er wesentlich sich selbst in das Werk und im Werk projiziert. Die Traktate zeigen, daß sich das SubjektObjekt-Verhältnis im Manierismus gegenüber der Renaissance entschieden gewandelt hat. Während es in dieser naturalistisch zu fassen ist (Subjekt und Objekt kongruieren im ästhetischen Bewußtsein) wird es im Manierismus metaphysisch überhöht, indem sich (entsprechend dem Neuplatonismus Ficinos, der erst im Manierismus aktuell für die Kunsttheorie wurde) die Idee 33
E. Forsman, Säule und Ornament, Stockholm 1956. W. Friedländer, Der antimanieristische S t i l . . . a. a. O. 35 Vgl. H . Sedlmayr, Die Wiedergeburt der antiken Götter im Bilde, in: PiperAlmanach, München 1954. 38 W. Hofmann, Bildende Kunst I I (Das Fischer-Lexikon Bd. 22) S. 160. 34
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als ein drittes ergibt, das Subjekt und Objekt übergreift; — gleichzeitig aber wird das künstlerische Subjekt, das sich in den Vordergrund spielt, überbetont. Für den Theoretiker der Frührenaissance war die »Schönheit eine gewisse Übereinstimmung und ein Zusammenklang der Teile zu einem Ganzen gemäß einer bestimmten Zahl, Proportionalität und Ordnung, wie es die concinnitas, das oberste und absolute Naturgesetz erfordert« 87. Dazu, daß die Renaissance die Ideenlehre als metaphysische Begründung der Schönheit nicht verwendet hat, meint Panofsky, daß » . . . dieser Verzicht auf eine metaphysische Erklärung des Schönen zum ersten M a l e . . . das seit dem Altertum niemals gelöste Band zwischen dem pulchrum und dem bonum gelockert h a t . . . und die Autonomisierung der ästhetischen Sphäre einleitete, die erst nach mehr als drei Jahrhunderten (nämlich im 18. Jahrhundert) begründet werden sollte«88. In der Rezeption der Ideenlehre durch den manieristischen Traktatisten zeigt sich der Wandel im Subjekt-Objekt-Verhältnis in mehrfachen Aspekten. Vor allem aber wird der Mensch aus der Natur herausgestellt und wird, über die Natur gestellt, zum zweiten Schöpfer, der die Natur nicht mehr nachahmt, sondern korrigiert. So tritt an die Stelle der Natur die künstlerische Vorstellung, womit sich das Subjekt-Objekt-Verhältnis gegenüber der Renaissance umgekehrt hat: »Nicht die sinnliche Wahrnehmung verursacht die Ideenbildung, sondern diese letztere setzt — vermittels der Einbildungskraft — die sinnliche Wahrnehmung in Tätigkeit 89 .« Damit tritt an die Stelle der Einheit Zwiespalt; die künstlerische Persönlichkeit selbst verliert im Dualismus von Freiheit und Gebundenheit, in der Orientierung an sich und an der Form, in der Doppelorientierung ihre Identität. Das Werk wird gespalten, Raum und Körper verfremden, das Subjekt-Objekt-Verhältnis ist einseitig bestimmt. Manierismus als kunsthistorisdie Erscheinung ist das Faktum einer Desintegration, innerhalb der Epoche aber kommt ihm reintegrierende Bedeutung zu. Er hat die Struktur einer historischen Antinomie, die sich aus einem »ungelösten Rest« der Hochrenaissance entfaltet. »So gewiß jedes Kunstwerk nach Vollendung strebt, die durch eine Norm bestimmt und in diesem Sinne notwendig ist, so wird eine realistische Auffassung des Schaffensprozesses doch nicht verkennen, daß in dieser >gemisditen< Welt die Vollendung ein Zustand ist, dem man sich zwar mehr oder weniger nähern, den man aber nie ganz erreichen kann. Deshalb bleibt in jedem Kunstwerk, auch in dem scheinbar vollendeten, ein unaufgelöster Rest, eine unausgeglichene Spannung, ein geheimer Widerspruch (Antinomie). Und gerade dieser verdeckte 87 88 89
E. Panofsky, Idea, Leipzig-Berlin 1924. ibid. Panofsky. ibid.
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(oft im Unbewußten wirkende) Widerspruch dürfte das bewegende Prinzip, der Motor der immer fortwährenden Wandlungen der Kunst sein40.« Was sich der w5ihistorischen Betrachtung als Desintegration zeigt, stellt sich in kunsthistorischer Sicht als Reintegration dar: Das Auseinanderstreben der Strukturelemente von Werken einer Gattung tendiert auf Verschleifung der Gattungen; Werke einer Gattung orientieren sich an den Prinzipien einer anderen. Das sprengt jene Tendenz der Hochrenaissance, die auf Autonomie ging und ihr Äquivalent in jenem Ästhetizismus der Kunsttheorie hat, den Panofsky analysierte. Bedeutet kunsthistorische Entwicklung »schrittweise Enthüllung der potentiellen Eigenschaften« der künstlerischen Gebilde (A. Riegl), so ist das kunsthistorische Geschehen — in welchem sich »Notwendigkeit und Freiheit, Sinn und Zufall in immer neuer Weise verflechten« (H. Sedlmayr/ 9, in dem die Hochrenaissance entsteht, von der Situation der Kunst um 1500 her nur durch einen »Sprung« zu verstehen: Die schrittweise Verwirkligroßer Meister überchung wird durch die schöpferische Verwirklichung sprungen. Ebensowenig nun, wie die Hochrenaissance nur evolutionistisch erklärt werden kann, läßt sich der Manierismus nur revolutionistisch interpretieren. Die Hochrenaissance hinterließ als reifste Schöpfung den »Bildleib«, — sie hinterließ ihn als Aufgabe; und diese Aufgabe hieß: Übertragung dessen, was für das einzelne Kunstwerk erreicht war, auf das Gesamte. Ziel der Desintegration, die man im Manierismus in zahlreichen Prägungen erkennt, ist, geschichtlich gesehen, nicht Trennung,, nicht Spaltung, sondern (und das macht die Teilepoche zur Sphäre der Reintegration) die Einheit der Gattungen im Gesamtkunstwerk, ein Ziel, das im Barock verwirklicht wurde. Dessen Prinzip ist die Intention der Einheit, die sich nicht mehr, wie in der Renaissance, in einzelnen Werken, sondern in der Komplexion von Werken verschiedener Gattung verwirklicht. Daß der Wandel des Manierismus in den Barock als Vorgang historischer Dialektik zu fassen ist, hat W. Hager klar gesehen, wenn er schreibt: »Gegen die Mitte des Jahrhunderts hin aber wird überall die reale Aufgabe ergriffen, der Lebensraum vom Größten bis ins Kleinste künstlerisch durchgeordnet und durchformt, dergestalt, daß es danach nur einer Umwertung der Werte, nicht aber der Neuerfindung bedarf, um dem Barock die Straße freizugeben 41.« Was im vorhergehenden umrissen wurde, ist im wesentlichen das Ergebnis der jüngeren Forschung zum »Problem des Manierismus in der Kunstgeschichte«. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach dem Manierismus als stets wiederkehrender Konstante, eine Frage, die von manchen Forschern, so vor allem auch von Wilhelm Pinder, positiv beantwortet und in jüngster 40 41
H . Sedlmayr, Die Grenzen der Stilgeschichte . . . , a. a. O. W. Hager, op. cit.
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Zeit von G. R. Hocke dominant gesetzt wurde 42 . In dieser Fassung wäre Manierismus (als »methodische Aporie«) das notwendige Glied eines dialektischen Prozesses, in dem sich Geschichte darstellt. Diese Konzeption hat dort ihre Grenzen, wo prinzipiell ähnlichen rationalistischen Konstruktionen je eine vom Wesen her verschiedene Intention zugrunde liegt. Hier zeichnet sich ein neues Aufgabengebiet der kunstwissenschaftlichen Methodologie ab: Zu präzisieren, wodurch formal analoge Epochen differieren. Die Differenz scheint in einem Wandel im menschlichen Wesensausdruck zu liegen, der sich im Kunstwerk darstellt. Es wird Aufgabe der Kunstwissenschaft sein, ein Instrumentarium zu schaffen, mit dessen Hilfe das Kunstwerk auf den Wesensausdruck des Menschen zu befragen ist 43 . Ein Ansatz scheint d. V. dort zu liegen, wo die Dialektik von Wesen und realer Erscheinung, welche mit dem Wesensausdruck des Menschen weder real identisch noch von ihm absolut verschieden ist, die ontologische Struktur seiner Realität ausmacht, die hinwiederum in der Dialektik von Raum und Körper eine Entsprechung besitzt, von der jedes Kunstwerk seinen ursprünglichen Anfang gewinnt. Manierismus wäre von hier aus zu charakterisieren aus dem Verfall der Leiblichkeit und dem Zwang, den das über sich selbst reflektierende rationalistische Bewußtsein auszuüben versucht.
42
G. R. Hocke, Die Welt als Labyrinth, Hamburg 1958 (Rowohlts Deutsche Enzyklopädie). 43 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Arbeit von Diether Wendland , Ontologie des Ausdrucks, Würzburg 1957, in der die Bildproblematik eindringlich abgehandelt wird.
DAS PROBLEM DES MANIERISMUS I N DER MUSIK Von Helmut Hucke Ich muß meinen Beitrag mit der Feststellung beginnen, daß in der Musikwissenschaft die Rede vom Manierismus als Epoche zwischen Renaissance und Barock nicht geläufig ist und daß es bis jetzt keine Diskussion über den musikalischen Manierismus in dem Sinne gibt, wie ihn Ernst Robert Curtius für die Literaturgeschichte als »Gesamtnenner für alle literarischen Tendenzen, die der Klassik entgegengesetzt sind, mögen sie vorklassisch oder nachklassisch oder mit irgendeiner Klassik gleichzeitig sein«, eingeführt hat 1 . Allerdings beginnt man in jüngster Zeit gelegentlich von einem musikalischen Manierismus zu sprechen mit dem Blick auf das späte Madrigal 2 . Gustav René Hocke hat in seinem Band 'Manierismus in der Literatur' 8 auch den Versuch gemacht, Manierismus in der Musikgeschichte aufzuweisen. Aber dieser Versuch hat bisher keine Stellungnahme von Seiten der Musikwissenschaft ausgelöst. Eine ältere musikwissenschaftliche Arbeit von Leo Schrade4, die die »Maniera« der Komposition in der Musik des 16. Jahrhunderts als musikalischen Stil zwischen Renaissance und Barock zu begreifen sucht, ist zwar viel beachtet worden, hat .aber wenig Resonanz gefunden. Typisch für ihre Aufnahme ist das Urteil des allerdings gern etwas galligen Jacques Handsdiin über den Aufsatz: Die »lesenswerte Abhandlung... ist die Hypostasierung einer recht nebelhaften >Maniera< als eines Mitteldings zwischen >Renaissance< und Barock im 16. Jahrhundert 5.« Meine Lage hier ist demnach etwas schwierig und ich muß Sie gleich zu Beginn meines Diskussionsbeitrags bitten, das in Rechnung zu stellen: Ich kann keinen Forschungsbericht und keinen Diskussionsbericht bieten. Und wenn ich mich in Teilprobleme vertiefen würde, was an sich zunächst not1 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1954. 2 So Hans Engel, Werden und Wesen des Madrigals, in: Bericht über den 7. Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Köln 1958, Kassel 1959, S. 51 f. 8 Hamburg 1959 (Rowohlts deutsche Enzyklopädie, Bd. 82/83). Vgl. vom gleichen Autor: Die Welt als Labyrinth (ebda. Bd. 50/51). 4 Leo Schrade, Von der Maniera der Komposition in der Musik des 16. Jahrhunderts, Zeitschrift für Musikwissenschaft 16 (1934), S. 3—20, 98—117 und 152—170. 6 Jacques Handsdiin, Musikgeschichte im Überblick, Luzern 1948, S. 21.
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wendig wäre, würde das für diese Diskussion wenig hergeben. Von dem Wunsch, Diskussionsstoff zu bieten, gehe ich in meinem Beitrag aus. Dabei sind einige Vorbemerkungen zur Epochengliederung in der Musikgeschichte und ihrer Beziehung zu den anderen Künsten vonnöten. Weil die Musikwissenschaft im Rahmen der Geisteswissenschaften eine junge Disziplin ist, stand sie stets vor der Frage, ob sie sich, anstatt die Musikgeschichte aufgrund musikalischer Stilbegriffe zu gliedern, an die Epochengliederung anderer Geisteswissenschaften anlehnen sollte. Es hängt damit zusammen, daß es eine allgemein angenommene Epochengliederung in der Musikwissenschaft noch viel weniger gibt als anderswo und daß gerade in der Musikwissenschaft die Übertragung von Stilbegriffen aus anderen Geisteswissenschaften heftig diskutiert worden ist. Etwa hinsichtlich des Barock: Soll man von Barockmusik oder Musik des Barock oder vom Zeitalter des Generalbaß oder des konzertierenden Stils sprechen bzw. sollte man »nicht mit dem gleichen Recht«, mit dem man den Begriff des Barock für die Musikgeschichte entlehnt, »verlangen können«, daß der Kunsthistoriker von »konzertierender« Malerei, Plastik, Architektur spricht6? Über die Abgrenzung des Barock in der Musik gibt es kaum zwei gleiche Meinungen. Curt Sachs hat versucht, Wölfflins Begriffspaar Renaissance-Barock auf die Musikgeschichte zu übertragen 7 und Leo Sdirade hat demgegenüber darauf hingewiesen, daß dabei die Musik eigentlich gar nicht mit der bildenden Kunst, sondern mit der Kunstwissenschaft bzw. mit einer bestimmten Deutung innerhalb der Kunstwissenschaft konfrontiert wird 8 . Schließlich ist das durch Nietzsche aufgeworfene Problem der »Gleichzeitigkeit« der Musik mit den anderen Künsten zu erwähnen: Hugo Riemann, einer der Begründer der modernen Musikwissenschaft, läßt die Renaissance in der Musik mit dem 14. Jahrhundert beginnen9. Man hat, allerdings vorwiegend außerhalb der Musikwissenschaft, Analogien zwischen bildender Kunst und Musik gesucht. So meint Gustav F. Hartlaub, es gäbe »kaum eine bessere Analogie zu Berninis Heiliger Therese... als etwa Isoldes Liebestod« 10 . Aber so geistvoll solche Analogien gesucht sein mögen, sie weisen ja keine echte Gleichzeitigkeit oder Gleichartigkeit oder echte Beziehung auf. 6 Handschin, a. a. O., S. 22. Im übrigen vgl. zu diesem Problem Friedrich Blume, Artikel 'Barock', in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG) Bd. I, Kassel 1949/51, Sp. 1275—1290 und die dort Sp. 1334 angegebene Literatur. 7 Curt Sachs, Barockmusik, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters, 26 (1919), S. 7 ff.
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Sehr ade, a. a. O., S. 4 Anm. 1.
Hugo Riemann, Handbuch der Musikgeschichte, Bd. I I , 1: Das Zeitalter der Renaissance, Leipzig2l920, S. 12 ff. und passim. 10 Gustav F. Hartlaub, Barockmusik?, in: Fragen an die Kunst, Stuttgart (1950), S. 168.
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Und schließlich ist die Analogiensuche eine gewagte Sache. Gerade Hocke stellt das in seinen Überlegungen über den Manierismus in der Musik unter Beweis11. So verdienstvoll es ist, daß er die Musik in seine Betrachtungen einbezieht, so schlagend macht er deutlich, daß solche Analogiensuche in die Irre führt. Hocke bezeichnet eine ganze Reihe von musikalischen Erscheinungen als manieristisch, dabei fehlt aber und muß immer wieder fehlen die Kenntnis der Zusammenhänge und Funktionen dieser Erscheinungen. Aber nicht nur das. Wenn Hocke beispielsweise behauptet, die weitgeschwungenen Melismen gregorianischer Melodien fänden sich »optisch in überzeugender Weise in der manieristischen Initialen-Malerei von Neudörfer und seiner Schule wieder« 12, dann übersieht er nicht nur die Vielfältigkeit dieser Melismatik und die Problematik der Choralüberlieferung überhaupt; er hält sich an ein einziges Teilmoment der Musik, die Aufeinanderfolge der Melodietöne, ja nicht einmal das: er hält sich an ein optisches Bild, das doch nicht die Musik selbst ist und zu alledem vermutlich an das moderner Ausgaben, d. h. an das optische Bild einer Notenschrift, die viel jünger ist als die Musik selbst. In älteren Aufzeichnungen sieht das optische Bild sehr viel anders und je nach Alter und Provenienz sehr verschiedenartig aus. Noch schlagender als Hocke das hier tut, kann man die Analogiensuche gar nicht ad absurdum führen. Beim Blick auf die Musik dürfen wir nicht von dem optischen Bild der Aufzeichnung ausgehen und wir haben ihre besondere Erscheinungsweise und Uberlieferungsprobleme zu beachten: Musik muß jedesmal neu realisiert werden (erst neuerdings kann man sie konservieren) und die Aufzeichnung ist nicht die Musik selbst, sie kann nur andeuten, tut das nur mehr oder weniger fragmentarisch, die Aufzeichnung selbst ist Objekt der Historie mit allen Problemen, die sich daraus ergeben. Die oben erwähnte Arbeit von Leo Schrade 'Von der Maniera der Komposition in der Musik des 16. Jahrhunderts* spricht ausdrücklich nicht von Manierismus. Das Wort hat für Schrade »gänzlich negative Bedeutung« und er meint: »Wenn man in den Komponisten, deren Werke sich in den Jahren 1520—1550 durchsetzen, unselbständige Epigonen sehen würde, die eine >Manier< ausschreiben oder zu Tode hetzen, so würde man der geschichtlichen Situation am allerwenigsten gerecht werden. Eine >Manier< in solchem Sinne (Sie würde in einem Manierismus ihren gemäßen Ausdruck haben, Anm.) besteht nicht18.« »Die Maniera«, so sagt er kurz darauf, »ist in sich, ihrem ganzen Wesen nach, eine idealistische Form, gewonnen durch die Besinnung auf ein vorgestelltes Ideal und erhoben zu klassischer Geltung«14. 11 12 18 14
Hocke, a. a. O., S. 181 ff. Hocke, a. a. O., S. 189. Schrade, a. a. O., S. 5. Schrade, a. a. O., S. 5.
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Sdirade versucht im ersten Teil seines Aufsatzes, die Theorie dieser Maniera vor allem an Hand der Interpretation der Istitutioni harmoniche von Gioseffo Zarlino 15 und mit Verweisen vor allem auf Vasari und Zuccari auszubreiten — übrigens hatte 4 Jahre vorher Hermann Zenck das gleiche Werk »als Quelle zur Musikanschauung der italienischen Renaissance« gedeutet16. Er macht sich sodann daran, die Maniera als Stil in der Musik des 16. Jahrhunderts aufzuweisen. Sie breche um 1520, etwa mit dem Tode von Josquin Desprez, in die Musik ein. Das Werk Josquins hat in einer bis dahin in der Musikgeschichte ganz ungewöhnlichen Weise nachgelebt. Noch der um mehr als eine Generation jüngere Glarean sagt 1547 in seinem 'Dodekachordon', die Musik Josquins sei die perfecta ars, cui ut nihil addi potest. Als erstes Kennzeichen der Maniera, die im übrigen wenig einheitlich sei und sich nirgends auf eine knappe Formel bringen lasse, nimmt Schrade »die Anlehnung an den Stil der ersten beiden Jahrzehnte des Cinquecento, den man bis zur völligen Nachahmung zu beherrschen sich bemüht« 17 . Man sei sich dessen bewußt geworden, was Stil ist; die überkommene Form wurde zur Maniera, zu einem Besitz, dessen man sicher sei, umgedeutet. Die Maniera als musikalischer Stil zeige sich sodann darin, daß die Komponisten »versuchen, die stilistisch-formale Eigenentwicklung jeder Gattung abzuschneiden und sie neu mit der Maniera durchzubilden. Wenn das Madrigal zunächst den >Konstruktivismus< der Motette übernimmt, wenn sich umgekehrt die Motette mit dem Pathos des Madrigals zu füllen beginnt, wenn von einem Zentrum her jede einzelne Gattung gleichsam aus ihrem geschichtlichen Eigenleben herausgehoben und nicht mehr irgendeinem traditionellen Prinzip der Gattung selbst, sondern der alles gleichmäßig belebenden Maniera unterstellt wird, so sehen wir in diesen Vorgängen die herrschende Bedeutung der Maniera bis zur Jahrhundertmitte« 18. Als drittes Kennzeichen der Maniera nennt Schrade den Konstruktivismus als Kompositionsprinzip in der Weise, daß nicht eine Stimme von den anderen umspielt oder wie im Kanon eine Melodie mit sich selbst kombiniert und vervielfältigt, sondern in der Durchimitation jede Stimme gleichwertig beteiligt wird und dabei neben dem Problem der rhythmischen und intervallischen Struktur im Satz das der Harmonie Bedeutung gewinnt. Sein eigentliches Gesicht enthülle dieser Konstruktivismus erst in der 2. Jahrhunderthälfte, er reiche bis in den Barock hinein. 15 Geboren 1517 in Chioggia, Franziskaner, seit 1565 Kapellmeister an S. Marco Venedig, gestorben 1590. Die Istitutioni harmoniche sind 1558 in Venedig erschienen und erlebten 1562 eine zweite, 1573 eine dritte Auflage. 16 Hermann Zenck, Zarlinos Istitutioni harmoniche als Quelle zur Musikanschauung der italienischen Renaissance, Zeitschrift für Musikwissenschaft 12 (1930), S. 540 bis 578.
17 18
Schrade, a. a. O., S. 99. Schrade, a. a. O., S. 100.
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Als Beispiel für die Musik der Maniera dieser Epoche bespricht Schrade Motetten des Venezianers Andrea Gabrieli (um 1510—1586). Er weist innerhalb der durchimitierenden Anlage auf konstruktivistische Umgestaltung des Soggetto, unebenmäßige Gliederung, Zerdehnung und Verzerrung der melodischen Linie, asymmetrische Struktur, auf die figura serpentinata im Melos hin. Mit Andrea Gabrielis Neffen und Schüler Giovanni Gabrieli (1557—1612) setzt Schrade den Beginn einer dritten und letzten Periode der Maniera an und umschreibt sie so: Verbindung mit dem Enthusiasmus der Gegenreformation, fast ekstatische Bewegung, größere Vehemenz, Steigerung des Affekts. Das Mittel dazu ist nicht zuletzt die Steigerung von der Vierbis Sechsstimmigkeit zur Besetzung mit drei bis zweiundzwanzig Stimmen. Damit entsteht aber gleichzeitig ein neuer Klangstil, die Melodía serpentinata und der Konstruktivismus der musikalischen Imitation wird zerschlagen, der Instrumentalchor tritt neben den Vokalchor. Von den Stilmerkmalen der Maniera bleibt das der affektbetonten Imitazione delle parole , es wird übersteigert — Schrade verweist auf die Chromatik in Madrigal und Motette — und mündet in den Barock. Als Beispiele bespricht Schrade neben Werken von Giovanni Gabrieli solche von Orlando di Lasso und Hans Leo Haßler, weist auf Luca Marenzio und Carlo Gesualdo hin und kommt zum Schluß auf Palestrina zu sprechen: Der Stilwandel bei Palestrina in den fünfziger Jahren sei als ein Rückgriff auf musikalische Formen vor 1500 und im Lichte der Maniera zu sehen. So interessant und so anregend Schrades Studie ist, so sind doch gewisse Bedenken anzumelden. Zunächst zum Begriff der Maniera selbst: Eine musikalische Begriffsgeschichte dieses Wortes fehlt bisher, sie zu schreiben wäre eine reizvolle Aufgabe. Das Wort erscheint als Terminus technicus bereits in der Musiktheorie des 13. Jahrhunderts; dort sind die modus vel maneries systematisierte rhythmische Bewegungsformen. Im 17. Jahrhundert nimmt der Begriff wiederum den Charakter eines musikalischen Terminus technicus an. Anknüpfend vielleicht an einen Wortgebrauch wie in den Regole, Pas saggi di Música des Giovanni Battista Bovicelli (Venedig 1594), der in seiner Verzierungslehre von diverse maniere di descendere und ascendere per grado spricht, entwickelt sich seine Bedeutung in Richtung auf das Verzieren der melodischen Linie hin. Der Heinrich Schütz-Schüler Christoph Bernhard bezeichnet in seinem Traktat 'Von der Singe-Kunst oder Manier' mit »Manier« eine »künstliche Art des Singens, welche man insgemein so nennt«, er nennt »Maniera« aber auch bereits »diejenigen Kunststücke, welche ein Singer beobachtend und anbringend eines Sängers Namen verdienet« 19. Im 18. Jahrhundert sind die »Manieren« in Deutschland die Verzierungen im 19 Ernest T. Per and, Embellished 'Parody Cantats' in the Early 18th Century, Musical Quarterly 44 (1958), S. 41 f.
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Sinne der Musiklehre, das heißt typische Formeln der Melodieauszierung, bzw. die sie andeutenden Zeichen. Das Wort taucht aber auch in Zusammensetzungen auf wie in dem Ausdruck »manierlicher Generalbaß« bei Johann David Heinichen ('Anweisung zum Generalbaß', 1711). I n der Musiktheorie des 16. Jahrhunderts erscheint das Wort aber, soweit ich sehe, nicht als musikalischer Terminus technicus, sondern in der allgemeinen Bedeutung von »Art und Weise« und ich vermag nicht einzusehen, wieso Schrade in einem jüngeren Lexikonartikel maniera definieren kann als a 16th Century term explained by numerous theorists and used to denote the aesthetic basis of contemporary musical composition 20. Damit wird der Begriff zum Terminus technicus pointiert. Weitere Bedenken betreffen die theoretische Grundlegung der maniera. Man hat den Eindruck, als interpretiere Schrade Zarlino von einer vorgefaßten Meinung her. Die eigentliche manieristische Wendung fehlt bei Zarlino und es bliebe zu untersuchen, ob nicht andere Musiktheoretiker, etwa Nicola Vicentino 21 oder Pietro Aaron 22 in dieser Hinsicht ergiebiger sind. Dabei ist aber auf die Deutungsschwierigkeiten zu achten, die sich dadurch ergeben, daß Begriffe wie soggetto in der musiktheoretischen Literatur als musiktechnische Termini verwendet werden. — Man vermißt sodann und vor allem den Niederschlag dessen, was Schrade in der Musik selbst aufweist, in der Kompositionslehre. Und was die unebenmäßige Gliederung, Zerdehnung und Verzerrung der melodischen Linie etwa bei Andrea Gabrieli angeht: es liegt nun einmal in der Natur des durchimitierten Satzes, daß die einzelnen Stimmen nicht in einem ebenmäßigen Verhältnis zueinander stehen. Sind nicht etwa die krause Rhythmik, die unendliche Melodik, der dichte Satz Ockeghems im 15. Jahrhundert konstruktivistischer? Ist Schrade hier nicht ebenfalls der Analogiensuche, der Suche nach der figura serpentinata in der melodia serpentinata zum Opfer gefallen? Und dann noch etwas: Die Musikwissenschaft beginnt sich in den letzten Jahren immer mehr der Tatsache bewußt zu werden, daß das Notenbild der Musik des 16. Jahrhunderts der Klangwirklichkeit nicht entspricht. Die Musik wurde durchaus nicht in jenem a cappella-Stil vocaliter von großen Chören aufgeführt, wie es die Palestrina-Wiederbelebung getan hat und noch tut. Wechsel zwischen Solo und kleinem Chor, Verzierung der Solostimmen, Mitspielen oder Umspielen der Vokalstimmen mit Instrumenten, Ausführung von Vokalstimmen durch Instrumente, klangliche Buntheit und das alles improvisatorisch auch in der Besetzung, das ist das wirkliche Bild der sog. »a cap20 Willi Apel, Harvard Dictionary of Music, Cambridge (Mass.) 1944 und zahlreiche weitere Auflagen, Artikel 'Maniera'. 21 L'antica Musica ridotta alla moderna prattica, Rom 1555. Faksimile-Neudruck hrsg. von Edward E. Lowinsky, Kassel 1959. 22 Insbesondere in der Schrift 'Lucidario in Musica', 1545.
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pella-Polyphonie« im 16. Jahrhundert 28. Sollte diese Verzierungspraxis Manierismus sein? Sicher nicht, sie reicht in der Opernarie bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts und ist keine Errungenschaft des 16. Jahrhunderts. Aber die Verzierungspraxis zeigt wiederum, wie problematisch es ist, vom bloßen Notenbild auszugehen. Es ist eigentlich erstaunlich, daß die Musikwissenschaft bisher kaum eine Verbindung zwischen dem Manierismus und einer Erscheinung in der Musikgeschichte des 16. Jahrhunderts hergestellt hat, die wir allerdings erst in den letzten Jahren allmählich zu fassen beginnen und die uns immer noch vor viele Probleme stellt. Ich meine das Phänomen der Música riservata 24. Der Begriff taucht nach unserem bisherigen Wissen zuerst im Compendium musices des Adrian Petit Coclico 1551 auf, die bisher letzten und jüngsten Belege hat Heilmut Federhofer kürzlich 25 im Vorwort der Regole et Dichiarationi di alcuni Contrappunti doppii... von Antonio Bruneiii, Florenz 1610, und in einer Aktennotiz von 1610 oder 1611 vom Grazer Hof nachgewiesen. Die Bedeutung des Terminus ist gerade in den letzten Jahren viel diskutiert worden, sie ist noch keineswegs völlig geklärt. Als letzte Arbeiten sind der soeben zitierte Aufsatz von Hellmut Federhofer und eine Zusammenfassung «der bisherigen Diskussion von Bernhard Meier 26 zu nennen. Danach »scheint es, daß música riservata... die inhaltlich variable Bezeichnung einer für humanistisch gebildete Kenner fürstlichen oder patrizischen Standes >reservierten< und deshalb besonders kunstvollen >Kammermusik< gebildet habe, deren Umfang sich vorerst noch nicht genau bestimmen läßt. Auszuschließen sind jedoch wohl ¡das deutsche Lied, die Villanelle und französische Chanson sowie auch jene Werke, die als mehrstimmige Bearbeitung liturgischer Melodien ihre Zugehörigkeit zur Kirchenmusik eindeutig zu erkennen geben«27. Mit der Música riservata verbunden ist offenbar eine besonders »künstliche« Faktur. Die vorhandenen Belegstellen zeigen, daß der Begriff nicht auf die Verzierungspraxis zu beziehen ist. Hingegen ist im Zusammenhang mit Música riservata von Chromatik und Enharmo28 Beispiele bei Ernest T. Ferand, Die Improvisation, Köln 1956, Das Musikwerk, hrsg. von K. G. Feilerer. Vgl. auch MGG, Artikel 'Improvisation' (E. T. Ferand), Bd. V I , bes. Sp. 1103—1113. 24 In seinem oben Anm. 2 zitierten Vortrag hat Hans Engel Manierismus und Musica riservata im Zusammenhang mit dem späten Madrigal genannt, ohne allerdings eine Verbindung zwischen den beiden Erscheinungen herzustellen. Hellmut Federhofer (Monodie und Musica riservata, in: Deutsches Jahrbuch der Musikwissenschaft für 1957, 2. Jahrgang Leipzig 1958, S. 30—36) nennt unter den Charakteristika der Musica riservata »manieristische und exzentrische Züge«. Vgl. unten Anm. 29. 25 In der in Anm. 24 zitierten Arbeit. 26 Bernhard Meier, Reservata-Probleme. Ein Bericht, Acta musicologica 30 (1958), S. 77—89. 27 Bernhard Meier, a. a. O., S. 88.
15 Literaturwissenschaftllches Jahrbuch, 2. Bd.
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nik die Rede28. Eine der von Federhofer namhaft gemachten Belegstellen bezieht sich auf eine besonders kunstvolle kontrapunktische Huldigungsmotette, die andere auf ausgesuchte kontrapunktische Musterstücke. Schließlich hat Bernhard Meier wahrscheinlich gemacht, daß bestimmte Satzeigentümlichkeiten wie »zahlreiche Anomalien im Gebrauch der Tonarten, wie Ambitusüberschreitung, Einführung irregulärer Kadenzen, commixtio und Veränderung des Affektcharakters der Kirchentöne durch gelegentlich eingeführte >Dur- oder Moll-Klänge< in Beziehung zur Musica riservata zu setzen sind, ferner die eigentümliche Verwendung gewisser musikalisch-rhetorischer Figuren« 29. Der Komplex der Musica riservata ist durchaus noch nicht restlos geklärt und er stellt die Musikwissenschaft noch vor viele Aufgaben. Aber immerhin werden uns hier schon greifbare Merkmale an die Hand gegeben und das ganze Problem ruft geradezu nach wechselseitiger Erhellung in Gemeinschaft mit den anderen Geisteswissenschaften und im Zusammenhang mit der Diskussion um den Manierismus. Ich kann hier nicht die Probleme um die Musica riservata ausbreiten und erwägen. Hingegen scheint es mir wichtig, die bezeichnenden Elemente, die sich im Rahmen der Musica riservata abzeichnen, näher zu umschreiben, Hinweise für ihr Auftreten zu geben und sie wenigstens andeutungsweise in ihre historischen Zusammenhänge zu setzen. Es handelt sich um die folgenden Elemente: 1. Das Phänomen der »Musik für Kenner« an sich, 2. kontrapunktische Künstelei, 3. Chromatik und Enharmonik, 4. Irregularitäten im musikalischen Satz, wie sie Bernhard Meier angedeutet hat. Diesen letzten Punkt können wir hier nicht weiter verfolgen, weil es sich da um Erscheinungen handelt, die zu beobachten wir die Musik jeweils in die zeitgenössische Theorie hineinprojizieren müssen. Daraus ergibt sich die Not28 Nach der Doctrina de tonis von Eucharius Hoffmann ist die Verwendung des genus chromaticum in der Vokalmusik ein Kennzeichen der Musica riservata (Bernhard Meier, a. a. O., S. 83 ff.). Bei Nicola Vicentino werden Chromatik und Enharmonik mit der Musica riservata in Verbindung gebracht (E. Lowinsky, Secret Chromatic Art in the Netherlands Motets, New York 1946, S. 88 ff.). 29 Bernhard Meier, a. a. O., S. 86 f. Vgl. Hellmut Federhofer, a. a. O., S. 34 f.: »Versucht man die zum Teil stark divergierenden Charakteristiken auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, so läßt sich musica reservata vorläufig etwa als eine für Kenner bestimmte und ihnen gewidmete Vokalmusik der Renaissance und des Frühbarocks definieren, die sich durch Verwendung ungewöhnlicher Mittel, wie zum Beispiel auffallenden Tonartwechsels..., gehäufter Chromatik, Enharmonik, musica ficta, gesucht künstlicher Kontrapunktik sowie manieristischer und exzentrischer Züge . . auszeichnet.«
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wendigkeit umfänglicher Erörterungen und Untersuchungen, die in unserem Rahmen hier nicht möglich sind. 1. Wir wenden uns in Kürze dem ersten Punkt zu, dem Phänomen der Musik für Kenner. Es begegnet uns in der Musik des 16. Jahrhunderts nicht zum ersten Mal. Wir finden es bereits in der Spätantike; Zeuge spätantiker Kennermusik ist etwa die Schrift De Musica des heiligen Augustinus. Musica est scientia bene modulandi 30. »Große Männer geben sich der Musik zuweilen nach großen geistigen Anstrengungen mit Besonnenheit hin, um sich zu erholen und ihre Seele wiederherzustellen« 81. Kennermusik ist auch die Motette gegen Ende des 13. Jahrhunderts in Paris. Sie darf, so schreibt der Musiktheoretiker Johannes de Grocheo um 1280, »nicht dem gewöhnlichen Volke dargeboten werden, weil es die Feinheit dieser Kunst nicht zu erfassen vermag und durch das Anhören auch nicht ergötzt wird. Vielmehr ist sie für die Literaten und diejenigen, die die Feinheiten der Künste suchen, passend«82. Der etwas jüngere Jacobus von Lüttich spricht von einer Kunst der valentes cantores et laici sapientes 33. Aber auch nach der Musica ritervata des 16. Jahrhunderts taucht das Phänomen der Kennermusik wieder auf. Wir finden es wieder zu Beginn des 18. Jahrhunderts und es tritt uns insbesondere in der italienischen Kammerkantate entgegen, in der sich um diese Zeit ausgesprochene Kabinettstückchen finden. Non e per ogni professore überschreibt Alessandro Scarlatti ein Werk dieser Art aus dem Jahre 171234. Merkwürdigerweise ist der soziologische Hintergrund dieser Kennermusik bisher ebensowenig untersucht worden wie der gewisser Werke von J. S. Bach wie die 'Kunst der Fuge' und das 'Musikalische Opfer', die als einzigartige Werke eines auf einsamer Höhe stehenden Meisters aus lutherischer Kantorentradition doch wohl nicht hinreichend erklärt sind. Die Goldberg-Variationen und ihre merkwürdige Geschichte gehören in diesen Zusammenhang: Der Bachbiograph Johann Nikolaus Forkel berichtet, daß der russische Gesandte in Dresden, Graf Kayserling, Bach um einige Stücke für seinen Pianisten Goldberg bat, »die so sanften und etwas munteren Charakters wären, daß er dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte«. Forkel meint, die Goldberg-Variationen seien Bach »unter der 80 Augustinus, De Musica Lib. I cap. 2., Migne, Patrologia Ser. lat. Bd. 32, Sp. 1083. 31 Ebda., Lib. I cap. 4, Sp. 1086. 82 Ernst Rohloff, Der Musiktraktat des Johannes de Grocheo nach den Quellen neu herausgegeben, Leipzig 1943, S. 56. 88 Jacobus von Lütticb, Speculum musicae Lib. V I I cap. 46. E. de Coussemaker, Scriptorum de Musica medii aevi nova series Bd. I I , Paris 1867, Sp. 432 a. 34 Seine zweite Vertonung der Kantate Andate o miei sospiri. Vgl. dazu unten Anm. 48. 15*
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Hanid« zu Kunstmustern geworden. Jedenfalls sind sie eine nicht nur für schlaflose Nächte außerordentlich anspruchsvolle Musik. Forkel berichtet weiter, der Gesandte habe sich nicht satt hören können an seinen Variationen »und lange Zeit hindurch hieß es nun, wenn schlaflose Nächte kamen: >Lieber Goldberg, spiele mir doch eine von meinen Variationen«^ 5. Man denkt unwillkürlich an den oben zitierten Ausspruch des heiligen Augustinus. — Der gleiche Forkel berichtet über das Schicksal der 'Kunst der Fuge': Sie »war doch für die große Welt zu hoch; sie mußte sich in die kleine, mit sehr wenigen Kennern bevölkerte Welt zurückziehen. Diese kleine Welt war sehr bald mit Abdrücken versorgt; die Kupferplatten blieben ungenutzt liegen, und wurden endlich von den Erben als altes Kupfer verkauft« 86. Allerdings muß man sich davor hüten, Zeugnisse und Erscheinungen vorschnell im Sinne einer Musica riservata zu deuten. Wenn Mozart gelegentlich an den Vater schreibt, seine Musik sei nicht für »die langen Ohren«, ist das etwas anderes. Beethovens letzte Streichquartette sind ausgesprochene Kennermusik, aber wie die sprichwörtlich gewordenen »Kenner und Liebhaber« zur Zeit ider Wiener Klassik im Verhältnis zu einer Musica riservata stehen, bliebe erst noch zu prüfen. Wagners Festspielhaus ist Musica riservata in einem ganz anderen Sinn. Ausgesprochene Kennermusik haben wir wieder in der jüngsten Vergangenheit und in der Gegenwart. Aber hier hat das Problem auch andere, vielfältige Aspekte. 2. Wir kommen zum nächsten Punkt, zur Chromatik und Enharmonik. Wir sprechen von Chromatik beim Gebrauch von Tönen, die nicht zur diatonischen Skala gehören, also in C Dur etwa c-dis-e statt diatonisch c-d-e. Von Enharmonik sprechen wir bei Tönen, die in unserem »wohltemperierten Tonsystem« in der chromatischen Leiter zwar als gleiche Töne erklingen, aber verschiedene Funktion haben, verschieden geschrieben und verschieden benannt werden, z. B. gis und as. In reiner Stimmung sind diese Töne jedoch nicht identisch. Die Begriffe »chromatisch« und »enharmonisch« stammen aus der antiken Musiktheorie, sie bedeuten dort aber etwas anderes. Und zwar bezeichnen sie dort zwei Genera des Tetrachords, der Viertonreihe: Innerhalb der Viertonreihe a g f e (abwärts) z. B. wird im chromatischen Genus der Schritt a-g auf drei Halbtöne, also a-ges, erweitert und das verbleibende Intervall ges-e halbiert, so entsteht die Reihe a ges f e. Im enharmonischen Genus wird der Schritt a-g auf vier Halbtöne erweitert, also a-f, und das verbleibende Intervall f-e wird ebenfalls halbiert, damit ergeben sich zwei Vierteltonschritte. Die Erfindung der Enharmonik wird dem phrygischen Auleten Olympos zugeschrieben, sie ist bei den Theoreti85 Johann Nicolaus Forkel, Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Nach der Originalausgabe von 1802 neu herausgegeben... von J. M. Müller-Blatt au, Kassel81942, S. 73 f. 88 Forkel, a. a. O., S. 74.
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kern als fremdartig und weichlich oft umstritten, die Kirchenväter haben gegen sie gewettert. Bezüglich der Chromatik in der mittelalterlichen Musik, auch im Gregorianischen Gesang, stehen wir noch vor vielen ungelösten Fragen. In der mittelalterlichen Musiktheorie fällt die Chromatik unter den Begriff der musica falsa, von der schon ein Magister Lambertus um 1260 schreibt, sie sei non falsa, sed mutata und quandoque necessaricF. Bei Philipp de Vitry heißt es um 1325 noch schärfer, die Musica falsa sei non falsa, sed vera et necessaria, quia nullus motetus, sive rondellus sine ipsa cantari non posfunt, et ideo vera, quia id quod falsum est, sequitur quod non sit verum, sed hoc non est falsum, ergo* 8. Um die gleiche Zeit beschäftigt sich Marchettus von Padua mit dem Problem der Unterteilung des Ganztons39. In der musikalischen Uberlieferung begegnen wir der Musica falsa dann vor allem in den Balladen von Guillaume de Machaut (1300—1377) in chromatischen Leittonschärfungen und gelegentlichen kühnen Klangrückungen 40. Ein erstes Beispiel verkünstelter Chromatik findet sich dann wieder bei Josquin Desprez in der als private Erbauungsmusik zu betrachtenden Motette Absalon fili mi y die zur Affektdarstellung durch ganz entfernte Tonarten moduliert; es tauchen die Töne b, es, as, des, ges auf 41 . Das Stück gilt dann bereits als ausgesprochene Musica reservata und ist in der Folge viel nachgeahmt worden. Mit Adrian Willaert (um 1480—1562) und dessen Schüler Cyprian de Rore (1516—1565) beginnt die Chromatik in der Musik, und zwar in allererster Linie in der »Kammerkunst« des Madrigals, eine neue Rolle zu spielen42. Der schon erwähnte Theoretiker Nicola Vicentino versucht 1555, die griechische Enharmonik wieder einzuführen — natürlich unter allerlei Mißverständnissen; als Enharmonik verstand er eine Stimmung in kleineren Tönen als Halbtönen. Im Anschluß an Vicentino ist versucht worden, eine »geheime Chromatik« in der Musik des 16. Jahrhunderts nachzuweisen, die sehr viel weiter gehe als man an Hand der musikalischen Überlieferung selbst anzunehmen habe43. Bei Luca Marenzio (um 87 Cujusdam Aristotelis Tractatus de Musica. Coussemaker, a. a. O., Bd. I, Paris 1864, Sp. 258 a. Vgl. zur Entwicklung der Chromatik Johannes Wolf, Geschichte der Mensural-Notation, Bd. I, Leipzig 1904, S. 109 ff. Wolf schlägt für die erste eben zitierte Stelle bei Lambertus die Lesung »non falsa, sed inusitata« vor (S. 111, Anm. 5). 38 Philippi de Vitriaco 'Ars nova\ Coussemaker, a.a.O., Bd. I I I , Paris 1869, Sp. 18 b. 39 Marchettus von Padua, Lucidarium in arte musicae planae. Martin Gerben, Scriptores ecclesiastici de Musica Sacra, Bd. I I I , St. Blasien 1784, S. 64 bis 121. 40 Heinrich Besseler in MGG I, Sp. 716. 41 Helmuth Osthoff in MGG V I I , Sp. 211. 42 Theodor Kroyer, Die Anfänge der Chromatik im italienischen Madrigal des 16. Jahrhunderts. Publikationen der Internationalen Musikgesellschaft,
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1560—1599) und vor allem Carlo Gesualdo (um 1560—1614) wird die Chromatik zum ausgesprochen artifiziellen Kunstmittel, ja nimmt /ausgesprochen experimentellen Charakter an. Gewisse extrem chromatische Passagen im späten Madrigal stellen uns heute vor schwerwiegende akustische Probleme im Zusammenhang mit der Stimmung, von der aus sie zu begreifen sind und wie sie musiziert wurden 44 . Man konstruiert Instrumente, auf denen man enharmonische Leitern hervorbringen will. Zarlino ließ sich 1548 ein Cembalo mit 19 Tasten in der Oktave bauen. Vicentino entwarf ein Cembalo mit einunddreißigstufiger Stimmung. Anfang des 17. Jahrhunderts baute der Neapolitaner Fabio Colonna ein fünfzigsaitiges Pentecontacordon. Das Museo civico in Bologna besitzt ein Clavemusicum omnitonum, Modulis diatonicis, cromaticis et enharmonicis mit einunddreißigstufiger gleichschwebender Temperatur von 160645. Michael Praetorius berichtet 1619 von einem Cembalo, das er in Prag gesehen hat und »in welchem nicht allein alle Semitonia... durch und durch dupliret, sondern auch zwischen dem e und f noch ein sonderlich semi- oder semitonium gewesen, welches bei dem genere Enharmonico notwendig sein muß, daß es also in den vier Octaven, von c bis im c'", in alles 77 Claves gehabt hat«. Praetorius weiß auch von einem Positiv mit doppelten Halbtönen am Hof in Graz und von einem Mittelsmann zu berichten, der ähnliche Instrumente in Italien gesehen hat. »Welcher daneben angezeigt, daß keine Nation gefunden werde, die da reiner und perfecter nach solchen justificirten Instrumenten, Clavicymbeln oder Spinetten singen könnte, als Graeci Musici, deren derselben Zeit vier Vocales an dem Ort vorhanden gewesen«46. Steht diese »Eroberung der Chromatik« zunächst im Zeichen des Experiments und einer Übersteigerung des musikalischen Ausdrucks vor allem im Madrigal, so führt sie gleichzeitig zu einer Erweiterung der Harmonik überhaupt. Chromatik wird zum geläufigen musikalischen Mittel und wir haben auf ihre Funktion zu achten, wenn wir weitere Parallelen im Zusammenhang mit der Musica riservata suchen. Ausgesprochen artifizielle Chromatik begegnet uns wieder zu Beginn des 18. Jahrhunderts. J. S. Bachs 4. Beiheft, Leipzig 1902. Vgl. auch Alfred Einstein, The Italian Madrigal, 3 Bde., Princeton (New Jersey) 1949, den oben Anm. 2 zitierten Vortrag von Hans Engel und dessen Artikel 'Madrigal' in MGG V I I I , Sp. 1424—1438. 43 Edward E. Lowinsky, Secret Chromatic Art in the Netherlands Motets, New York 1946. 44 Dazu vgl. Hans Engel in seinem oben Anm. 2 zitierten Vortrag S. 48 ff. 45 Vgl. Hans Engel in: MGG I I I , Sp. 415 (Artikel Diatonik — Chromatik — Enharmonik). 46 Michael Praetorius, Syntagma Musicum I I : De Organographia, Wolfenbüttel 1619. Faksimile-Neudruck, herausgegeben von Wilibala Gurlitt, Kassel 1958, S. 63—66.
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'Chromatische Fantasie und Fuge' gehört wohl hierher ebenso wie die chromatischen und enharmonischen Kunststückchen in italienischen Kammerkantaten dieser Zeit; man hat von Problemkantaten gesprochen. Nur einige Beispiele: Von dem Bologneser Francesco Gasperini (1668—1727) besitzen wir eine Cantata enarmonica 47. Zwei Kantaten über einen gleichen Text von Alessandro Scarlatti (1660—1725) mit den rätselhaften Überschriften In idea humana und In idea inhumana, ma in regolato Cromatico weisen ebenso verblüffende harmonische Künsteleien auf 48 . Und 'der Neapolitaner Francesco Durante (1684—1755) hat diese Künsteleien geradezu potenziert, indem er die Kantaten Scarlattis zu Kammerduetten im strengen Satz verarbeitete 49. Benedetto Marcello (1686—1739) hat eine Kantate La Magia geschrieben, in deren erstem Stück er den Sopran in Des, den A l t in Cis notiert. I n seiner Kantate La stravaganza d'Amore schreibt er den Sopran in Dis, den Baß in Es und er unterscheidet zwei Arten von Halbtonschritten, die aber, wie er im Vorwort sagt, in der Praxis nicht unterschieden werden können, da sie auf dem Cembalo nicht hervorzubringen sind. Das Tempo der letzten Arie dieser Kantate ist, wie er schreibt, di novitä stravagante: Der Sopran singt im 5 A-Takt, und nicht genug dieser außergewöhnlichen Taktart spielt der B. c. im 5 /2-Takt 50 . Eine 'Enharmonische Sonate' besitzen wir von Gottfried Heinrich Stölzel (1690—1749). Die Frage, ob und wo die Entwicklung zur chromatisch alterierten Harmonik im 19. Jahrhundert ausgesprochen artifizielle Züge aufweist, möchte ich ebenso offenlassen wie die der Einordnung der jüngeren Entwicklung. 3. Schließlich zum dritten Punkt: kontrapunktische Künstelei. Kontrapunktischer Satz ist an sich artifiziell und auf der Suche nach besonders artifiziellen Formen mag man zunächst auf den Kanon verfallen. Wäre dann vielleicht die besondere Beliebtheit, deren sich der Kanon hier oder dort erfreut, ein Kriterium für die Neigung zum Artifiziellen? Sicherlich nicht, denn der Kanon kann verschiedene Funktion haben. Er begegnet schon in urtümlicher Mehrstimmigkeit, er kann als Rätselkanon auftreten, aber auch als anspruchslose Gesellschaftsmusik; man denke an Mozarts Kanons, und die Kanonproduktion der musikalischen Jugendbewegung wird man nicht gerade als einen Höhepunkt artifizieller Musik ansehen. Der Kanon ist offensichtlich aus der Umgangsmusik in die abendländische Kunstmusik eingedrungen. I m Laufe des 14. Jahrhunderts erringt er 47
Ein Bruchstück davon teilt Th. Kroyer, a. a. O., S. 143 mit. Edward Dent, Alessandro Scarlatti. Neudruck, hrsg. von Frank Walker, London 1960, S. 140 ff. 49 Über die Stücke handelt Ernest T. Ferand, Über verzierte »Parodiekantaten« im frühen 18. Jahrhundert, in: Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Wien 1956, Graz — Köln 1958, S. 203 ff. 50 Caroline Sites, More on Marcello's Satire, in: Journal of the American Musicological Society 11 (1958), S. 141 ff. 48
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sich wachsende Beliebtheit, im Werk des oben schon einmal genannten Guillaume de Machaut (und zwar in seiner Gesellschaftsmusik) spielt er eine wichtige Rolle, er findet sich dann aber auch in der Kirchenmusik. Bei Machaut findet sich auch der erste bekannte Krebskanon, das Rondeau Ma fin est mon commencement: Das Stück ist dreistimmig, aber nur zwei Stimmen sind notiert und von diesen beiden bricht eine in der Mitte ab, sie ist von der Mitte des Stückes an rückwärts zum Anfang zurück zu singen51. Aus ider zweiten notierten Stimme ergibt sich die dritte durch Rückwärtslesen. Hier wird also Kanonkunst zur Künstelei, überhaupt zeigt die Musik dieser Zeit stark konstruktive Züge; es ist die Blütezeit der sog. isorhythmischen Motette, deren Beliebtheit mit dem Beginn des 15. Jahrhunderts allmählich zurückgeht. Eine einzigartige Hochblüte der Kanonkunst beobachten wir in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Die »Kanonkünste der Niederländer« sind geradezu sprichwörtlich geworden. Ganze Kanonmessen werden komponiert. Als Beispiel sei hier nur die Missa prolationum von Ockeghem genannt: Ein zweistimmiger Kanon ergibt in Kombination mit vier Mensurzeichen, die jeweils eine verschiedene Schnelligkeit der Ausführung in fester Proportion zueinander vorschreiben und indem die Kanonstimmen vom Kyrie bis zum Hosanna nacheinander in sämtlichen Intervallen der diatonischen Leiter einsetzen, eine vierstimmige Messe52. Es ist eine Eigenart dieser Kanonkünste, daß keine klare Anweisung gegeben wird, wie aus den notierten Stimmen die anderen zu finden sind, vielmehr wird die Auflösung in einem Kanonspruch (eigentlich Canon, daher der Name des Kanons) verschleiert. Canon est regula voluntatem compositoris sub obscuritate quadam ostendens, heißt es bei Tinctoris 58 . Daß in einer Stimme zwei weitere verborgen sind, wird beispielsweise durch die Aufschrift Trinitas in unitate angedeutet. Daß sich eine zweite Stimme aus der ersten durch Rückwärtslesen ergibt, durch den Canon Wade retro satanas. Die Kanonsprüche haben also oft symbolische Bedeutung und in dieser Kanonkunst steckt viel Symbolik. Die Kanonkünste der Niederländer scheinen eine Fundgrube für den zu sein, der musikalische Analogien zum Manierismus sucht. Die Hochblüte dieser Künste liegt in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts geht sie zurück. Manierismus im 15. Jahrhundert? Also doch Phasenverschiebung zwischen der Musik und den anderen Künsten? Die Deutung der Kanonkünste des 15. Jahrhunderts ist für die Musikwissenschaft immer noch ein Problem. Man spricht von »spätgotischem Kon51
Gesamtausgabe (Friedrich Ludwig) Bd. I, Leipzig 1926, S. 63 f. (Nr. 14). Gesamtausgabe (Dragan Plamenac) Bd. I I , New York 1947, S. 21 ff. 58 Johannes Tinctoris, Terminorum musicae diffinitorium, hrsg. von Heinrich Bellermann in: Jahrbücher für musikalische Wissenschaft, hrsg. von Fried rieh Chrysander, Bd. I, Leipzig 1863. 52
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struktivismus«, verweist auf die M y s t i k der devotio moderna M, denkt an zunftmäßige Geheimnistuerei, die es dem Uneingeweihten unmöglich machen soll, die Stücke zu singen. I n unserem Zusammenhang scheinen m i r folgende Bemerkungen wichtig: Es sei davor gewarnt, Analogien zwischen den Kanonkünsten und manieristischen Buchstaben- und Wortspielereien zu suchen. Es ist etwas anderes, ein W o r t rückwärts zu lesen als eine Reihe von Tönen, die Voraussetzungen v o m Material her sind verschieden. — Die Kanonkünste des 15. Jahrhunderts finden sich vor allem i n der Messe 55 und nicht i n der K a m mermusik, sie gipfeln meist i m Agnus Dei u n d das scheint m i t dem spätmittelalterlichen Verständnis des Agnus Dei innerhalb der Messe zusammenzuhängen 56 . — Die Kanonkünste sind nicht ohne weiteres hörbar, sie werden nur dem Sänger gänzlich offenbar, der aber nicht eigentlich der Adressat dieser Musik ist. Es handelt sich also um eine Konstruktivität, die sich nicht darbietet, ganz anders etwa als gewisse Notationskünsteleien i m kammermusikalischen Madrigal zu Ende des 16. Jahrhunderts, die dort aufhören, w o es sich um Darbietungsmusik handelt, bei der der Adressat die N o t e n nicht sieht 57 . U n d die i n der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts wieder 54 Walter Blankenburg (Artikel 'Kanon' in MGG V I I , Sp. 523) urteilt: »Die geistigen Wurzeln der altniederländischen Kanontechnik mit ihrer bis in das Phantastische reichenden Vielfalt sind wohl in den mystischen Strömungen der devotio moderna des ausgehenden Mittelalters zu suchen. Das Höchstmaß an geistiger Konzentration, das diese Kunst vom Komponisten verlangte, hat in der theologischen Literatur jener Epoche, aber auch in der spätgotischen Baukunst eine offenbare Parallele. Konstruktivismus und Rationalität treten hier keinesfalls als bloße Verstandestätigkeit, sondern als Erfassen außergewöhnlicher musikalischer Möglichkeiten infolge geistiger Versenkung auf. Jene Kanonkunst ist daher von gleichnishafter Bedeutung, über sich selbst auf die göttliche Weltordnung hinausweisend.« 55 weist darauf hin, daß die konstruktivistischen EleHelmuth Osthoff mente bei Josquin Desprez »nicht ausschließlich als >ostentatio ingenii< (Glarean) oder gar als l'art pour Part zu deuten sind, weil die Komponisten dieser Zeit sicher nicht ohne tieferen Grund vorzugsweise der polyphonen Messe als Schmuck der feierlichsten Kulthandlung ein Höchstmaß musikalischer Kombinatorik widmeten«. Artikel 'Josquin Desprez', MGG V I I , Sp. 206. 56 Josef Andreas Jungmann macht darauf aufmerksam, daß die »Riten zur Huldigung vor dem Sakrament, die sich dann zu den Wandlungsgebräuchen entwickelt haben, im 12. Jahrhundert zunächst beim Agnus Dei ansetzen« und daß »der Ausdruck huldigender Begrüßung später vielfach beim Agnus Dei auch dadurch verstärkt (wurde), daß der Priester die beiden Hälften der Hostie nach der Brechung nicht niederlegte, sondern bis zur Kommunion über den Kelch erhoben hielt oder daß er doch nach weitverbreitetem Brauch die für die Mischung bestimmte Partikel während des Agnus Dei noch über dem Kelch in Händen hatte«. (Missarum sollemnia Bd. I, Freiburg Br. 41958, S. 416 f.). 57 Zu Worten wie nero, notte y oscuro werden immer wieder geschwärzte Breven und Semibreven gesetzt oder es tritt die proportio hemiöla, d. h. durch Schwärzung der Noten angezeigter Ubergang von der Zwei- zur Dreizeitigkeit ein, wobei häufig eben nicht auf den Wechsel des Rhythmus, sondern lediglich auf die Schwärzung der Noten in der sonst »weißen« Mensuralnotation gezielt ist. Bei-
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auflebende Beliebtheit kanonischer Künste ist anderer Art (Cerreto, L. Zacconi). Als Beispiel sei hier nur der Canone sopra le parole del Salve regina des Römers Pietro Francesco Valentini (1629) genannt, der nicht weniger als 2000 verschiedene Auflösungsmöglichkeiten bietet; Athanasius Kircher hat von einem Canon polymorphus Valentinis eine Auflösung zu 512 Stimmen ermittelt 58 ! Das ist sozusagen das Gegenstück zu ,den Kanonkünsten der Niederländer, bei denen sich an Hand der verschiedenen Leseweisen das eine Stück ergibt, deren Resultat eindeutig ist. Daß J. S. Bach einen Höhepunkt kontrapunktischer Kunst und des kontrapunktischen Kabinettstücks bezeichnet — man denke etwa an die 'Kunst der Fuge* und das 'Musikalische Opfer' — ist bekannt. Auch in dieser Hinsicht steht Bach jedoch durchaus nicht vereinzelt da. K. G. Feilerer hat darauf hingewiesen, daß »die Palestrinanachahmung um 1700... sich besonders in der Hervorhebung der kontrapunktischen Fertigkeiten gefiel« 59. Man hat zum Vergleich mit Bach auf den Wiener Hofkapellmeister Johann Joseph Fux (1660/61—1741) hingewiesen, dessen in Form eines Dialogs zwischen »Joseph« (Fux selbst als Schüler) und »Aloysius« (Palestrina als Lehrer) abgefaßter Gradus ad parnassum (Wien 1725) Grundlage des Kontrapunktunterrichts bis in die Gegenwart ist. Wichtiger ist in unserem Zusammenhang aber seine um 1718 geschriebene, Kaiser Karl V I . gewidmete Messa di San Carlo, tutta in Canone e particolarmente diversificata; in der Widmung drückt Fux die Hoffnung aus, die Messe möge dem Kaiser zeigen, non esser affatto smarrita Vantica Musica e che a noi ne rimane qualche avvanzo, il quäle coltivato dalla meditazione, e dallo studio puo far comparire ancor vivente il gusto e la dignitä della medisima 80. Aber auch von dem spiele stellt Einstein, a. a. O., Bd. I, S. 234 ff. zusammen. Im Anschluß daran, daß Giuseppe Baini in seinen Memorie storicocritiche della vita e delle opere di Giovanni Pierluigi da Palestrina (Rom 1828, Bd. I, S. 93) meint, daß die Komponisten des 16. Jahrhunderts tingevano costantemente le note di quel colore, che si nominasse, erwägt er die Möglichkeit, daß beispielsweise Luca Marenzio an einer Stelle, wo zu den Worten piü che i ligustri bianca, piü vermiglia che'l prato geschwärzte Noten auftreten, rote Tinte benutzt haben könnte. Einstein weist darauf hin, daß in den großen Festmadrigalen, die zum Gehörtwerden bestimmt waren, auf »Augenmusik« verzichtet wird. 58 Diese und weitere Hinweise bei W. Blankenburg, MGG V I I , Sp. 528 ff. — »Auf der Schwelle zum Zeitalter des Barock erwachte, ausgehend von Italien, ein neuer Sinn für die reine Kanontechnik. Hierbei scheint die musikalische Entwicklung Roms unter dem Einfluß des Jesuitismus besonders maßgebend gewesen zu sein. Die Vorgänge bedürfen jedoch in vielen Einzelheiten noch der näheren Untersuchung; auch die Frage nach der geistigen Verbindung zwischen dem Zug zum Mystisch-Phantastischen in der Kanonkunst und dem Jesuitismus ist noch ungeklärt« (ebda. Sp. 527). Die Frage des »Jesuitismus« als einer geistigen Strömung und des Einflusses einer solchen geistigen Strömung auf die musikalische Entwicklung kann hier nicht erörtert werden. 59 Karl Gustav Feilerer, Der Palestrinastil und seine Bedeutung in der vokalen Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts, Augsburg 1929, S. 287. 60 Ausgabe in: Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Bd. I, Wien 1893.
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neben Fux in Wien wirkenden Antonio Caldara (um 1670^1736) besitzen wir eine Missa in contrapuncto canonico sub duplici canone inverso, contrario e cancrizante und von dem ebenfalls in Wien wirkenden Marc Antonio Ziani (um 1653— 1715) ein Magnificat ä 8 voci in Canone con Sinfonia pure in Canone61. Der bereits mehrfach erwähnte Alessandro Scarlatti (1660—1725) hat eine fünfstimmige Messe tutta in Canone di diversa specie und eine weitere vierstimmige Kanonmesse geschrieben62. Schon in den Titeln der Werke offenbart sich der Unterschied zu den Kanonkünsten der Niederländer und auch über die Titel hinaus sind die Handschriften in der Regel bemüht, daß Scharfsinn und Kunstfertigkeit, die der Komponist aufgewandt hat, ja nicht übersehen werde! Auch eine zwölfehörige, achtundvierzigstimmige Messe, die der Kapellmeister an St. Peter in Rom, Giuseppe Ottavio Pitoni (1657—1743) schreiben wollte, »dürfte in diesen Zusammenhang gehören. Pitonis Schüler Girolamo Chiti berichtet uns von dieser Messe und daß Pitoni sie nicht beendete, weil ihn das noch mindestens mehr als zwei Jahre col farci pero serio studio almeno due ore ogni giorno gekostet hätte 63 . Aber nicht nur bei J. S. Bach ist die kontrapunktische Kunstfertigkeit nicht auf die Kirchenmusik beschränkt. Es sei hier nur auf die (A Cappella'-Sätze und insbesondere den Satz A Cappella: Canone di Palestrina im dritten der fälschlich unter den Namen Pergolesi und Ricciotti gehenden sechs Concertini für Streicher und auf die kontrapunktischen Sätze in den acht Streicherkonzerten von Francesco Durante (1684 bis 1755) verwiesen, dort besonders auf das Ricercare nel IV. Tono im vierten und den Canone ä 3 im sechsten Konzert. Allerdings ist auch bei den kontrapunktischen Neigungen in der Musik der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts nach Funktion und Bedeutung zu fragen. Es scheint, als hätten wir zwei verschiedene Wellen des Interesses am Kontrapunkt zu unterscheiden, deren eine (und hier vornehmlich zu beachtende) in erster Linie auf die kontrapunktische Kunstfertigkeit selbst und deren zweite eigentlich auf den »alten Stil«, auf eine Regeneration der Kirchenmusik, auf Palestrina zielt. Repräsentant der ersten Welle wären etwa die Kanonmessen der beiden ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, und Fuxens Gradus ad parnassum (1725) würde zu der zweiten Welle überleiten, zu der dann etwa die späten Kirchenwerke von Pitoni und Leonardo Leo (1694—1744), Francesco Durantes Messa a 4 voci in Palestrina von 1739 und das Wirken von Giovanni Battista Martini (1706—1784) gehörten 64. Das Problem bedarf noch näherer Untersuchung. 81
Feilerer, a. a. O., S. 287. « 2 Feilerer, a. a. O., S. 105 ff. 89 Helmut Hucke, G. O. Pitoni und seine Messen im Archiv der Cappella Giulia, Kirchenmusikalisches Jahrbuch 39 (1955), S. 70 f. 64 Vgl. Hucke, a. a. O. und Artikel 'Leonardo Leo', MGG V I I I , Sp. 622—630.
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So werden wir hier ebenso wie angesichts der Kanonkünste der Niederländer noch einmal gewahr, welche Vorsicht bei Überlegungen, wie wir sie anstellen, geboten ist. Wir müssen uns davor hüten, unseren Blick von Einzelerscheinungen bannen zu lassen, die Erscheinungen aus dem Zusammenhang zu reißen, sie vorschnell zu deuten. Wir haben stets auf das Zusammentreffen der Phänomene zu schauen und haben nach der Funktion der Erscheinungen zu fragen. Den Phänomenen »Musik für Kenner«, »kontrapunktische Künstelei«, »Chromatik und Enharmonik« und »Irregularitäten im musikalischen Satz« möchte ich zum Schluß dieses Diskussionsbeitrags noch ein Weiteres an die Seite stellen. Leo Schrade hat als ein Stilmerkmal der »Maniera« die Stilangleichung, Stilvermischung genannt65 und damit auf einen Punkt hingewiesen, der mir ein fruchtbarer Ansatz für musikhistorische Erörterungen in unserem Zusammenhang zu sein scheint. Die Stilangleichung, das Ubertragen von Stilelementen aus einer Gattung, in der sie historisch gewachsen sind in eine andere, in der diese Stilelemente zunächst als Fremdkörper erscheinen, die Vermischung der Stile, das gibt es nicht nur im 16. Jahrhundert und im Austausch zwischen Mottete und Madrigal. Hier kann nur stichwortartig und ohne Anspruch auf Vollständigkeit eine Reihe von weiteren Beispielen in der Musikgeschichte namhaft gemacht werden: Die hochmittelalterlichen Nachschöpfungen von Choralmelodien beachten die Verschiedenheit der Gattungen nicht mehr. Nicht nur, daß beispielsweise eine Antiphon wie ein Responsorium vertont wird: Antiphonenstil und Responsorienstil durchdringen sich. Wann und wo diese Stilvermischung auftritt, bedarf im einzelnen noch der Klärung. Das Phänomen tritt uns auch im Organum der Pariser Notre-Dame-Schule um 1200 entgegen. Heinrich Besseler spricht vom »Austausch mit lebensverbundener, volkstümlicher Spielmannsmusik«, »daß Lied und Tanz als neue Grundkraft in die Kultmusik eingedrungen sind. In dieser Synthese und ihrer Auswertung darf man den Kern des Notre-Dame-Schaffens erblicken, insbesondere der Organakunst Perotins« 66. Zu einer neuen Stilvermischung, auf die ebenfalls Heinrich Besseler hingewiesen hat, kommt es gegen Ende des 14. Jahrhunderts. »Die jüngeren französischen Komponisten standen, ähnlich wie im 19. Jahrhundert, einem klassischen Formkanon gegenüber, den sie nicht zu ändern, allenfalls mit neuem Inhalt zu erfüllen wagten. Der Typus der isorhythmischen Motette war ebenso unantastbar wie die drei Textschemata Ballade, Rondeau und Virelai als Grundlage des drei- oder vierstimmigen Kantilenensatzes. Die Poesie der sog. seconde rhétorique fand ihr Gegenstück in der stets er65 66
Siehe oben. S. 222. Heinrich Besseler in MGG I, Sp. 686 f. (Artikel 'Ars antiqua').
Problem des Manierismus in der
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neuten musikalischen Ausschmückung feststehender Formen. Man be5chränkte sich darauf, Melodie, Rhythmus und Klang zu verfeinern, wodurch allerdings die Musik ein anderes Aussehen erhielt... So starr man am überlieferten Formschema festhielt, so deutlich ist andererseits das Bestreben, die alten und neuen Techniken überall zu mischen und zu bereichern. Dazu kam, vermutlich durch Vermittlung Avignons, die Kenntnis italienischer Trecentomusik, deren Tonalität und plastische Melodik Eindruck machte. So steht die Epoche im Zeichen einer Formenmischung, die teils den bisherigen Typus mit fremden Zutaten versah, teils durch Kombination Neues erzielte 67.« Die Stilvermischung in der Musik des 16. Jahrhunderts kündigt sich wohl schon im Schaffen von Josquin Desprez (um 1440—1521?) an, beispielsweise mit den in der Messe, der Motette auftretenden Partien im klangsatten Akkordstil der in bürgerlichen Bruderschaften beheimateten, volkstümlichen italienischen Laute und in den Motetten Fama malum und Dulces exuviae auf Texte aus Vergils 'Aeneis'68. Ihren Höhepunkt erreicht sie um die Wende zum 17. Jahrhundert, etwa in den stark madrigalistischen Motetten von Giovanni Gabrieli. Wir begegnen dem Phänomen der Stilvermischung dann wieder zu Beginn des 18. Jahrhunderts: Der vokale Solosatz in der Kirchenmusik nimmt Merkmale der Arie, die Arie Elemente des Vokalkonzerts auf, der Chorsatz nimmt an dieser Stilvermischung teil. In der Instrumentalmusik durchdringen sich Sonata da Cbiesa und Sonata da Camera, der Stil der Sonata und des Concerto 60. Francesco Geminiani (1679/80—1762) zum Beispiel hat sechs Violinsonaten seines opus 4 von 1739 fünf Jahre später als Concerti grossi bearbeitet, er hat auch Solosonaten Corellis in dieser Weise umgestaltet und zwei Sammlungen von Suiten für das Cembalo zusammengestellt, deren Sätze sämtlich aus Konzerten und Sonaten stammen. Konzerte wie die sechs für Violoncello, die Leonardo Leo 1737/38 für den 67 Heinrich Besseler in MGG I, Sp. 723 f. (Artikel 'Ars nova'). - Die Frage nach der Bedeutung der Constitutio 'Docta Ss. Patrum* Papst Johannes X X I I . von 1324, die von den triplis et motetis vulgaribus gewisser novellae scholae discipuli spricht (vgl. dazu K. G. Feilerer, Kirchenmusikalische Vorschriften im Mittelalter, in: Kiräienmusikalisches Jahrbuch 40, 1956, S. 1—11) für unsere Frage lassen wir hier beiseite. 88 Helmuth Osthoff hat die beiden Stücke zusammen mit drei Vergilmotetten von A. Willaert, J. Arcadelt und C. de Rore herausgegeben in: Das Chorwerk, Heft 54, Wolfenbüttel 1956. Vgl. dazu Helmuth Osthoff, Vergils Aeneis in der Musik von Josquin Desprez bis Orlando di Lasso, Archiv für Musikwissenschaft 11 (1954), S. 85—102. 69 Vgl. dazu das Urteil von Erich Schenck über die venetianischen Meister des Spätbarock: Sie »führen die Triosonate zu herbstlicher Reife, indem sie Corellis Gemessenheit und Klarheit venezianische Klangsinnlichkeit und leuchtendes Kolorit, rhythmische Beweglichkeit und die virtuose Brillanz des Solokonzerts hinzufügen . . . « Die italienische Triosonate, Das Musikwerk, hrsg. von K. G. Feilerer, Köln o. J.
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Herzog Carafa-Maddaloni in Neapel schrieb, sind stilistisch aufs engste mit der Solosonate verknüpft 70 . Ich muß hier abbrechen. Wir haben, von der Musica riservata ausgehend, gewisse Phänomene durch die Musikgeschichte verfolgt und dabei stellte sich heraus, 'daß wir in ganz bestimmten Epochen ein Zusammentreffen ähnlicher Erscheinungen finden. Selbstverständlich kann das, was hier versucht wurde, nur ein skizzenhafter Entwurf sein, Ausgangspunkt eingehenderer Untersuchungen. Die einzelnen Punkte bedürfen der Nachprüfung und Ergänzung. Weitere Gesichtspunkte sind heranzuziehen. Die Betrachtung ist auf die jüngere Musikgeschichte auszudehnen, wegen der Fülle und Mehrdeutigkeit der Erscheinungen und in Anbetracht der mir zur Verfügung stehenden Zeit mußte ich das hier zurückstellen. Ein fertiges Konzept von Seiten der Musikwissenschaft zu dieser Diskussion hier vorzulegen, ist angesichts des Mangels an Vorarbeiten nicht möglich. Ich habe bei meinen Vergleichen bewußt nicht von Manierismus gesprochen und die Periodizität, die sich aus ihnen ergibt — ich habe sie nicht gesucht — paßt nicht ganz und gar zur Diskussion um den Manierismus. Aber vielleicht ergibt sich schon daraus ein willkommener Ansatzpunkt für das Gespräch.
70 Auf die Systematisierung der Stile im 17. und 18. Jahrhundert (Kirchenstil, Kammerstil, Theaterstil; Stile grave, a cappella, concertato, concitato, stylus mixtus usw.) kann hier nicht eingegangen werden (vgl. dazu die Dissertation von Erich Ratz, Die musikalischen Stilbegriffe des 17. Jahrhunderts, Freiburg Br. 1926); ihre Bedeutung in dem hier zur Rede stehenden Zusammenhang bedarf einer eigenen Untersuchung.
FIKTIONSIRONIE BEI A N O U I L H Von Harald Weinrich Stellen Sie sich bitte vor, Sie seien Zuschauer bei Jean Anouilhs Alouette und verfolgten auf der Bühne das Schicksal der Jeanne d'Arc, der »Lerche«1. Sie sehen das tumbe Bauernmädchen in Domremy, die Botschafterin ihrer Verheißung in Vaucouleurs und am Hof des Dauphin, die Kriegerin im Feldlager, die Nationalheldin bei der Krönung in Reims, die Angeklagte im Hexenprozeß von Rouen und die Märtyrerin auf dem Scheiterhaufen im Angesicht des Todes. Aber der Autor läßt uns nicht in dieser, der chronologischen Reihenfolge das Leben der Jungfrau begleiten. Das Stück beginnt vielmehr kurz vor dem Prozeß, springt dann zurück in die Kindheit, greift den Prozeß auf, springt abermals zurück, holt Teile der Vorgeschichte, eingeblendet in den Prozeß, nach, führt dann den Prozeß bis zur Verurteilung fort, endet aber nicht mit der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen. Denn als eben der Bruder Ladvenu der Verurteilten das Kreuz reicht, kommt Beaudricourt gelaufen und gebietet Einhalt. Ist es die Rettung für Johanna? Ja und nein. Beaudricourt ruft Cauchon zu: On ne peut pas finir comme ça, Monseigneur! On n'a pas joué le sacre! ... Jeanne a droit à jouer le sacre, c'est dans son histoire! Und so endet das Stück nicht als eine Tragödie, sondern als ein Triumph. La vraie fin de l'histoire de Jeanne est joyeuse 2. Jean Anouilh wählt also aus 'dem Leben der Jeanne d'Arc die denkwürdigsten Abschnitte und ordnet sie in seinem Theaterstück nach Gesichtspunkten, die nicht die chronologischen sind. Der Autor schaltet mit der Zeit so frei, wie wir es kaum von der Erzählerwillkür der Epik oder der Einblendungstechnik des Films her gewohnt sind. Auch der Raum ist keine vorgegebene Einheit. Die Personen sind gleichzeitig auf der Bühne und treten zu ihrer Szene vor. Anouilh versäumt nicht, komische Effekte daraus zu ziehen. Der Ubergang von Domremy nach Vaucouleurs vollzieht sich z.B. in der Weise, daß sich Johanna mit ihren Brüdern zu Hause balgt, dabei gegen den Bauch von Beaudricourt rennt und sich damit in Vaucouleurs befindet. 1
Zum Titel des Stückes vergleiche man Baudelaires Gedicht Elévation :
... Heureux celui qui peut d'une aile vigoureuse S'élancer vers les champs lumineux et sereins; Celui dont les pensers, comme des alouettes , Vers les deux l matin prennent un libre essor , Qui plane sur la vie et comprend sans effort Le langage des fleurs et des choses muettes! 2
Seite 226 f. - Ich zitiere nach der Ausgabe Paris, La table ronde, 21956.
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Und am Fuße des Scheiterhaufens stehen nicht nur die Richter und die Gegner, sondern auch der König und sein Gefolge und tragen ihr schlechtes Gewissen zur Schau. Es kümmert Anouilh nicht, daß der König nach der Ordnung der Dinge weder in Rouen zugegen ist noch auch sein Gewissen mit dem Martyrium Johannas beschwert. Aber sie sind jedenfalls alle zugleich auf der Bühne und schauen als Zuschauer ersten Grades den Szenen, an denen sie nicht direkt beteiligt sind, als einem Theater auf dem Theater zu, die Primärhandlung stellenweise mit einer Sekundärhandlung durchkreuzend. Wozu dieses Spiel, werden Sie vielleicht fragen. Ist es Ubermut? Artistik? Verfremdung? Narretei? Modernität? Oder Manierismus? Französische Zuschauer werden eine vorläufige Antwort sogleich bereit haben. Anouilhs Alouette ist nicht klassisches Theater. Und sie werden die unklassischen Symptome aufzählen: Verzicht auf die Einheiten von Zeit, Raum und Handlung, Mischung von Tragik und Komik, Theater auf dem Theater. Eben diese Merkmale sind aber nach Gustav René Hocke Symptome des Manierismus, dessen Kontinuität er in der Nachfolge von Ernst Robert Curtius glaubhaft machen will 3 . Er bezeichnet sie als »paralogisch-abstrus« (ebd., S. 272) und zieht einen Traditionsstrang manieristischen Theaters von Euripides über Shakespeare und die Romantik bis hin zum sog. »Neomanierismus« (ebd., S. 213) unserer Zeit. Er nennt zwar nicht ausdrücklich Anouilh, zitiert vielmehr als Repräsentanten des neomanieristischen Theaters Pirandello und Thornton Wilder, aber da die Symptome stimmen und sich übrigens auch Abhängigkeiten nachweisen lassen, dürfen wir wohl auch an Anouilh nachprüfen, was es mit dem paläo- und neomanieristischen Theater und mit dem Manierismus als einer literarischen Konstante überhaupt auf sich hat. Anouilh schreibt seine Stücke nicht immer in der beschriebenen dramaturgischen Technik. Er hat zur Genüge gezeigt, daß er die Regeln der herkömmlichen Dramaturgie vorzüglich beherrscht. Warum also lockert er gerade hier in so irritierender Weise den Gang der Handlung durch eine fiktionsironische Dramaturgie auf? Man muß beachten, daß Anouilh nicht der einzige Autor des 20. Jahrhunderts ist, der die Geschichte der Johanna dramatisiert. Dabei kommt der Claudeischen Dramatisierung in dem »dramatischen Oratorium« Jeanne d'Arc au Bucher, das Anouilh offenbar sehr sorgfältig studiert hat, besondere Bedeutung zu. Denn Claudels Drama, uraufgeführt 1938 in Basel, enthält bereits eine Reihe fiktionsironischer Elemente, die wir -dann bei Anouilh wiederfinden. Auch Claudel beginnt seine Geschichte nicht mit dem 3 Manierismus in der Literatur, 1959 (Rowohlts Enzyklopädie), S. 171. Vgl. E. R. Cur tins: » . . . ist der Manierismus eine Konstante der europäischen Literatur.« (Europ. Lit. und lat. Mittelalter, 2 1954, S. 277).
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Anfang, sondern ungefähr mit dem Ende. Johanna steht in der ersten Szene bereits — wie der Titel des Oratoriums zum Ausdruck bringt — auf dem Scheiterhaufen, aus dem dann in der letzten Szene die Flammen schlagen. Zwischen diesen beiden Szenen liegt das Leben Johannas, an das sie sich im seelsorgerischen Gespräch mit dem Bruder Dominicus erinnert. Claudel hat dieses Verfahren folgendermaßen begründet: Pour comprendre une vie comme pour comprendre un paysage, il faut dooisir le point de vue et il n9en est pas de meilleur que le sommet. Le kommet de la vie de Jeanne d'Arc, c'est sa mort, c'est le bucher de Rouen 4. In dieser Technik folgt also Anouilh seinem Vorgänger, nur daß er den »Standpunkt«, der den Blick vorwärts und zurück gestattet, vom Scheiterhaufen in den Prozeß zurückverlegt. Das geschilderte Verfahren ist im Grunde nicht eigentlich modern. Wir kennen es vor allem aus der Aeneit. Vergil wählt dort seinen Standpunkt in Karthago, wo Aeneas bei Dido Asyl findet (Buch I) und nun rückblickend den Untergang Trojas erzählt (Buch I I und I I I ) , bis die Erzählung mit der Ankunft in Karthago wieder den Ausgangspunkt erreicht (Buch IV). Die Rhetorik hat diesen ordo artificiosus 5 oft gelobt und zur Nachahmung empfohlen. Aber durch das große Vorbild Vergils ist der ordo artificiosus eben ein episches Kompositions verfahren geworden und geblieben. Die Übertragung auf das Drama blieb moderneren Zeiten vorbehalten. Das Drama gewinnt damit einen Aspekt, den wir mit der Epik zu verbinden gewohnt sind, und wird episches Theater. Wir wollen uns aber mit dieser Feststellung nicht zufriedengeben. Denn sowohl Claudel als auch Anouilh gehen über den ordo artificiosus hinaus. Ebensowenig wie Anouilhs Johanna im Prozeß erinnert sich Claudels Johanna auf dem Scheiterhaufen ihres vor auf gehenden Lebens in der Reihenfolge des chronologischen Ablaufs. Claudels Johanna vergegenwärtigt sich am Anfang den Prozeß, dann das politische Spiel der Könige, die Stimmen der Heiligen, nun wieder vorspringend den Ritt des Königs nach Reims, schließlich ihre Kinderjahre im lothringischen Elternhaus. Die Reihenfolge der Erinnerungen ist also im ganzen rückläufig, mit der einen Inkonsequenz der Krönung, die auch in der rückläufigen Ordnung nicht an der zu erwartenden Stelle steht. So sehr nun diese Techniken den Zuschauer desorientieren mögen, so haben doch beide Autoren Anstalten gemacht, den irrationalen, oder, wie Gustav-Ren^ Hocke sagen würde, »paralogisch-abstrusen« Charakter ihrer Stücke zu mildern. Beide Autoren geben nämlich dem fiktionsironischen Spiel eine rationale Erklärung in Form einer psychologischen Motivierung 4 5
Oeuvres, Ed. Pleiade, Bd. II, S. 1315.
Vgl. H . Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, § 317.
16 Literaturwissenschaftlicfaes Jahrbuch, 2. Bd.
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bei. Claudel erinnert an ¡die Volksmeinung, daß die Sterbenden in ihrer Todesstunde noch einmal ihr Leben in einer endgültigen Schau vor sich ablaufen sehen8. Und Johanna erwacht in der letzten Szene »wie aus einem Traum« zur grausamen Wirklichkeit ihrer Hinrichtung (Szene 11). Anouilh ersetzt, seinem veränderten Beobachtungspunkt entsprechend, diese Motivierung durch eine andere. Bei ihm bilden der Prozeß und seine Voruntersuchung den Rahmen des Geschehens. Der Prozeß hat vergangenes und fernes Geschehen zu seinem Gegenstand und vergegenwärtigt es am Gerichtsort. Das Verhör fordert die Angeklagte auf, hier und jetzt zu reproduzieren, was zu anderer Zeit und an anderem Ort geschehen ist. Der Prozeß bildet also eine Einheit der Zeit und des Raumes. Damit sind in Anouilhs Stück gleichzeitig auch die ständige Gegenwart zuschauender Personen auf der Bühne, also die Situationen des Theaters auf dem Theater, sowie die auf den ersten Blick so sehr irritierenden Handlungskreuzungen motiviert und rationalisiert. Bei beiden Dramatikern hat jedoch die rational-psychologische Erklärung auch ihre Grenzen. Das wird bei Claudel deutlich in der Szene I I I , in der er von der Gegenwart des Scheiterhaufens in die Vergegenwärtigung der Vergangenheit übergeht. In dieser Szene ruft Johanna kurz nacheinander, ohne daß dazwischen ein äußeres Ereignis eingetreten wäre, aus: — C'est vrai qu'ils veulent me brûler vive ? — Je me souviens! Le feu qui brûle ! cette fumée qui étouffe ! Oh comme cela fait mal! Johanna erinnert sich, obwohl noch gar kein Feuer an den Scheiterhaufen gelegt ist, schon ihrer Verbrennung. Das ist nicht mehr psychologisch motivierbar und muß sub specie aeternitatis verstanden werden 7. In ähnlicher, jedoch säkularisierter Weise reicht auch bei Anouilh die psychologische Motivierung der dargestellten Situationen als Zeugenaussage Johannas vor Gericht nicht aus. Anouilh blendet nämlich in den Prozeß eine Szene ein, die in Chinon am Hof des Dauphin spielt, bevor Johanna dort erscheint. Eine Szene also, der Johanna nicht beigewohnt hat 8 . Sie ist innerhalb des Prozesses psychologisch nicht motivierbar und setzt im Grunde einen allwissenden Erzähler voraus. Hier dringt also wieder ein episches Element in 6 7
Oeuvres, Ed. Pléiade , Bd. II, S. 1315. La Jeanne d'Arc que nous contemplons sur son bâcher , ce n'est pa le jeune être héroïque dont les minutes du procès de Rouen nous ont décrit la passion. Ou plutôt c'est l'héroïne d'un autre procès dont nous-mêmes avons vu, après la Grande Guerre, la conclusion, je veux dire le procès de béatification. C'est la Jeann d'Arc éternelle, celle qui au seuil des temps modernes a été constituée la patronne de notre unité nationale. (Ed. Pléiade, Bd. II, S. 1315). 8 Vgl. H . J. Linke, Dramaturgie des Wunders in Jean Anouilhs Schauspiel 'L'Alouette' in: Zeitschr. f. französ. Sprache u. Literatur, 69 (1959), S. 46—80, 129—149; hier S. 63 Anm. 3.
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das Theater ein. Sicherlich hat Anouilh, der seine Filmerfahrungen hat, dabei von der Einblendungstechnik des Films gelernt. Er hat aber insbesondere von Claudel gelernt, daß die Ordnung der Zeit auf der modernen Bühne nicht unbedingt eingehalten zu werden braucht. Beide Autoren vermengen ganz bewußt die Zeiten. Bei Claudel wird das besonders deutlich, als Johanna die Stimmen vergegenwärtigt, die sie zum Aufbruch auffordern. Sie antwortet: J'irai! J'irai ! Je vas! Je vas V Je suis allée / (Szene V I I ) . Das Nebeneinander der drei Tempora in der einen Antwort repräsentiert die Gleichzeitigkeit aller Zeiten sub specie aeternitatis. Anouilh läßt Johanna ähnlich antworten, als der Inquisitor dem Mädchen die folgenschwere Frage stellt, ob es sich im Stande der Gnade glaube. Johanna entgegnet fragend: A quel moment, Messire? On ne sait plus où on en est. On mélange tout. Au commencement quand j'entends mes Voix ou à la fin du procès quand j'ai compris que mon roi et mes compagnons aussi m'abandonnaient , quand j'ai douté, quand j'ai abjuré et que je me suis reprise ? (S. 29). Und Johanna spricht von ihrer Absicht, Männerkleidung zu tragen, während sie schon Männerkleidung trägt (S. 46 f.). Die Zeit wird, wie Hans Jürgen Linke beobachtet hat, ebenso wie der Raum zu einem bloßen Attribut der Personen10. Die Parallelen zu Claudel sind deutlich11. Bis hierher mag es den Anschein haben, als übernehme Anouilh — mit gewissen Abwandlungen — einfach die dramaturgischen Techniken Claudels. Gewiß, Anouilh übernimmt vieles. Aber sein Stück ist gleichzeitig auch ganz anders, und zwar auch unter dem Gesichtspunkt der Fiktionsironie. Denn bei Claudel sind die Erinnerungen Johannas, wie es auch der Gattung des Oratoriums entspricht, im wesentlichen verbal. Johanna bleibt die ganze Dauer des Stückes auf dem Scheiterhaufen und greift nicht mehr handelnd in das erinnerte Geschehen ein. Anouilh geht darüber weit hinaus. Am Anfang des Stückes zwar und auch später noch gelegentlich haben auch bei Anouilh Johannas Erinnerungen erzählenden Charakter. So entspricht es auch dem Rahmen des Prozesses ; Johanna sagt ja aus. Sehr deutlich wird das am Anfang der Szene im Elternhaus. Johanna leitet sie mit folgenden Worten ein: Dans le champ où je garde le troupeau, la première fois que j'entends les Voix. C'est après l'Angélus du soir. Je suis toute petite . J'ai encore ma tresse ... (S. 12 f.). Johanna nimmt hier in ihren Worten die Funktionen wahr, die sonst der Regieanweisung und dem Ansager zufallen. 9
Dialektformen. ZfSL 69 (1959), S. 61 ff. Beide Autoren bedienen sich außerdem auffälliger Anachronismen, die die Verbindung zu unserer Zeit herstellen. Bei Claudel befindet sich unter denen, die Johanna des Irrtums zeihen, auch Anatole France (Szene 8.). Und Anouilh spielt, wie er es in seinen Stücken überhaupt gern tut, mehrfach auf die Verhältnisse in Frankreich unter der deutschen Besatzung an (vgl. S. 74). 10
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Im Fortgang des Stückes verselbständigen sich dann aber die Aussagen Johannas immer mehr, verlieren den Charakter prozeßgebundener Rede und werden reproduzierte Vergangenheit. Die Ubergänge sind unmerklich wie in der vom Film her bekannten Technik der sog. Überblendung. In der Aussage wird die Erinnerung Johannas übermächtig und gewinnt die eidetische Dichte der Vision. Alles Licht — wörtlich zu verstehen: alles Bühnenlicht — fällt auf die vergegenwärtigte Szene, und die andern Personen wie auch die Gerichtssituation verschwimmen im Dunkel des Bühnenraums. Das Gericht und der Prozeß sind vergessen. Die Angeklagte von Rouen ist wieder das Mädchen von Domremy, die Politikerin von Chinon oder schließlich die Heldin und Heilige von Reims. Das ist der große Unterschied gegenüber Claudel. Dramaturgisch können wir ihn fürs erste so formulieren, daß Anouilh zusätzlich zu den Einheiten der Zeit und des Raumes auch noch die Handlungseinheit aufgibt, insofern die verschiedenen Phasen einer an sich einheitlichen Handlung ineinander verschachtelt werden, als wären es verschiedene Handlungen. Es geht hier jedoch um mehr als um eine Frage der Bühnentechnik, und wir müssen uns nun sogleich die Frage vorlegen, warum Anouilh den Stoff der Jeanne d'Arc wiederaufgegriffen und gerade in der beschriebenen Weise abgewandelt hat. Denn das Leben der Jeanne d'Arc ist kein beliebiges Leben. Als Hexe verbrannt und als Wahnsinnige verspottet, wird sie zugleich als Nationalheldin gefeiert und als Heilige verehrt. Die Dichter und Historiker haben ihr Leben und Sterben immer wieder neu interpretiert. I n der Reihe der Schiller, Michelet, Péguy, Shaw und anderer klingt jedoch bei Paul Claudel zum erstenmal in der literarischen Geschichte der Jeanne d'Arc ein besonderer Ton an. Claudel ist derjenige, der es verschmäht, die Historie in einer literarischen Fiktion wiedererstehen zu lassen, und der die Illusion des Spiels fiktionsironisch durchkreuzt. Das ist sehr ernst gemeint bei Claudel. Er verzichtet in der Fiktionsironie auf die Wahrscheinlichkeit, die nach den Regeln einer säkularen Poetik dem illusionären Spiel zugeordnet ist, um Platz zu schaffen für die Wahrheit, die ihm mehr ist als Wahrscheinlichkeit. So kann dann im Mittelpunkt seines Oratoriums die entscheidende (weil aus der Bibel abgeleitete) Frage stehen: Qui est cette Jeanne au juste? (Szene 11). So standen also die Dinge, als Anouilh das Thema neu aufgriff. Welche Form sollte er seinem Drama geben? Man versteht, glaube ich, daß Anouilh nach Claudels pathetischer Wahrheitsfrage nicht mehr unter (das Gesetz der Wahrscheinlichkeit zurückkehren wollte. Das ist das besondere der Fiktionsironie: sie versperrt die Rückkehr zur Fiktion. Ironie ist ein Habitus des Spätkommenden. Sie schließt ab, nicht auf. Das ist freilich kein unabwendbares Gesetz, findet aber viele Bestätigungen, im Leben wie in der Lite-
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ratur. Es ist zu verstehen, daß Anouilh nach Claudels Fiktionsironie nicht, als wäre nichts geschehen, zur frischen dramatischen Naivität Schillers zurückkehren konnte. Er mußte wohl oder übel, wenn er auf der Höhe ¡seiner Zeit sein wollte, die Bedingungen annehmen, die Claudel gestellt hat, und konnte die Fiktionsironie seines großen Vorgängers nur überbieten, kaum unterbieten, es sei denn, er hätte, wie Bert Brecht in seiner Heiligen Johanna der Schlachthöfe, ganz andere Ziele mit ganz anderen Mitteln verfolgt. So wurde seine Aoluette eine Replik auf Claudels Oratorium, eine Replik in dem Sinne, idaß Anouilh auf Claudels Werk mit Claudeischen Ausdrucksmitteln eine Antwort gibt, die ihm gemäß ist. Anouilh schreibt sein Stück nicht als Christ. Die Replik mußte also ganz anders ausfallen als ihre Vorlage. Manchmal meint man durchzuspüren, wie sehr Anouilh durch Claudels Darstellung gereizt worden ist. Unter den Richtern verleiht er z. B. dem Bischof Cauchon die bei weitem sympathischsten Züge. Es ist derselbe Cauchon, den Claudel mit einem 'sehr geschmacklosen Namenwitz am maßlosesten beschimpft und als Schwein auftreten läßt. Und in der berühmten Allegorie des Kartenspiels am Hofe des Dauphin (S. 111 ff.) hat man den Eindruck, daß Anouilh dieses schon von Claudel ausgeführte Motiv 1 2 mit größerer Virtuosität durchzuspielen trachtet 13. Aber auch die Fiktionsironie selber wird, so sehr sie in einzelnen Elementen mit Claudels Dramaturgie übereinstimmt, Vehiculum .seiner fast polemischen Replik. Denn unter den Bedingungen der Fiktionsironie erscheint das Leben Johannas, vom Elternhaus bis zur Gefangennahme, nicht in der Primärfiktion des Prozesses, sondern in der Sekundärfiktion der vorstellenden Vergegenwärtigung. Der Zuschauer sieht sie kraft des Vorstellungsvermögens der Johanna. Das gilt insbesondere für die Erscheinungen, die Johanna gehabt hat. Sind sie Wirklichkeit oder Wachtraum? Soll Anouilh also die Stimmen, wie Claudel, erklingen lassen oder nicht? Anouilh tut weder das eine noch das andere. Er rückt nämlich gerade diese Szene in die Sekundärfiktion der erinnernden Vorstellung. Johanna spielt diese Szene vor den Richtern, und zwar in einer Doppelrolle. Als sie nämlich anfangen will, fragt einer: Qui fera les voixf Da antwortet sie spontan: Moi, bien sür (S. 13). Und sie spricht den Part des hl. Michael mit veränderter Stimme. So stellt sich die übernatürliche Verheißung für den Zuschauer als ein Dialog zwischen Johanna und Johanna und als eine nur erinnerte Wirklichkeit dar. Die Verheißung des Engels ist hier nur Vorstellung Johannas: mentale Vorstellung, sichtbar in der theatralen Vorstellung. Gerade in der Tatsache, daß sich die 12 1S
Szene 6: Les rois ou Vinvention du jeu de cartes.
Das virtuose Umgehen mit der Allegorie hat Anouilh bei seinem Lehrer Giraudoux gelernt. Es ist die Technik der berühmten Lektion im Siegfried-Drama (II, 2). Anouilh lockert hier die Claudeische Allegorie in seiner Replik mit der preziösen Ironie Giraudoux* auf.
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Aussagen Johannas vor dem Gericht immer sogleich zu bildhaften Szenen verselbständigen und nicht bloß Erzählung bleiben, zeigt Anouilh Johanna, unbeschadet seiner Sympathie für ihre schlichte Menschlichkeit, als eine Eidetikerin. Hier haben wir seine, Anouilhs Meinung von Johanna. Anouilh braucht sie nicht mittels eines Ansagers oder Raisonneurs explizit auszusprechen. Er kann sie mit Hilfe einer dramaturgischen Technik, nämlich seiner besonderen Form der Fiktionsironie, dem Zuschauer insinuieren. Sein Wortführer ist die Struktur des Stückes. Indem Anouilh, ebenso wie Claudel, die Fiktion des Stückes als Fiktion zeigt, erscheint, anders als bei Claudel, die Botschaft Johannas als Aussage von bloß subjektiver Wahrheit. Die theatrale Fiktion ist dabei Äquivalent der mentalen Fiktion, und die Ironie der einen ist die Ironie der andern. Anouilhs episches Theater ist ironisches Theater. Anouilhs Alouette ist also kein Mysterienspiel. Genau das Gegenteil, könnte man sagen. Das Wunder wird, indem es im Spiel reproduziert wird, als produziert dargestellt. Der Zuschauer erfährt nur eine Imagination des Wunders und versteht Johanna daher als ein Wunder an Imagination. Das Wunder wird damit belanglos, und es wird Platz für Anouilhs Uberzeugung, daß das wahre Wunder der Mensch ist, der Mensch — stark wie Johanna, schwach wie Johanna14. Diese Johanna ist im Grunde eine Schwester der Antigone, Eurydike, Jeannette, der ewigen Anouilhschen »Wilden«. Freilich, die Schlußszene in Form der nachgeholten Krönung von Reims ist als glorreicher Abschluß ein gleichsam typologischer Hinweis auf ihren Nachruhm, aber nichts deutet an, ob der Nachruhm in der Kirche, bei Michelet oder bei Anouilh gemeint ist. Anouilhs Theatertechnik in der Alouette ist keine Dramaturgie der Frömmigkeit. Eine solche Auffassung sei Anouilh unbenommen. Er ist ja nicht der erste, der übernatürliche Erfahrung auf eine natürliche Einbildungskraft zurückführt. Bemerkenswert ist jedoch, daß diese Kritik nicht proklamiert, sondern inszeniert wird, daß eine dramaturgische Technik Trägerin einer Meinung wird. Damit können wir wieder zu Claudel und zu der Frage nach dem Manierismus zurückkehren. Es ist unbezweifelbar, daß Anouilh seine fiktionsironische Gestaltung des Themas der Jeanne d'Arc im Widerspruch zu Claudel und als eine Replik auf dessen fiktionsironische Dramaturgie aufgefaßt hat 15 . Es muß für ihn einen ganz besonderen Reiz gehabt haben, Claudel mit dessen eigenen Waffen entgegenzutreten. Denn so wie Claudel versucht hat, gerade mit der Fiktionsironie seines Oratoriums den Wahrheitsanspruch 14 15
S. 34. — Vgl. auch Becket ou Vhonneur de Dieu (Akt IV).
Diesen Widerspruch zu Claudel und seiner fiktionsironischen Dramaturgie
übersieht H. J. Linke.
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Johannas zu beglaubigen, so versucht nun Anouilh in seiner Replik, denselben Wahrheitsanspruch mit den gleichen Mitteln zu verwerfen, nur indem er die Fiktionsironie Claudels noch einige Grade weitertreibt. Darin liegt auch Ironie. Ist das Manierismus? Es ist möglicherweise kein naives Dichten. Denn Anouilh schreibt sein Stück weniger im Blick auf Johanna als im Blick auf Claudel. Er weiß sich am Abend, nicht am Morgen einer literarischen Tradition. Es ist die Stunde des Raffinements; Anouilh schreibt für Kenner, speziell für Kenner Claudels. Er rechnet bei seinen Lesern auf ein Sensorium für die Nuancen dieser Ironie. Nicht Aufklärung also, nicht Erleuchtung, sondern kunstvolle Brechung des Lichts in den Ironiemedien. Aber gleichzeitig ist sein Stück unüberhörbar Widerspruch zu Claudel, Widerspruch zur Legende der Heiligen. Beides gehört zusammen. Wer nur Manierismen sucht, übersieht das leicht. Wir wollen nun unsere weiteren Überlegungen an einem anderen Stück von Anouilh entwickeln, seinem besten wohl, ider Antigone. Es stammt aus dem Jahre 1944, ist also älter als die Alouette , die 1953 entstanden ist. Aber wenn Anouilh so wenig Respekt vor der Chronologie hat, mag uns eine gleiche Respektlosigkeit gestattet sein. Sie sehen also an einem zweiten Abend, so wollen wir annehmen, die Antigone und verfolgen auf der Bühne die leidenschaftliche Auflehnung der jungen Antigone gegen den König Kreon, ihren Onkel — eine Auflehnung nicht des Rechtes gegen die Satzung, wie bei Sophokles, sondern das prinzipielle Nein eines freien Geistes gegen die konformistische Routine der Regierenden. Der trotzige Aufstand scheitert, Antigone wird zum Tode verurteilt, sie sieht ihrer Hinrichtung entgegen — in diesem Augenblick tritt der Ansager auf die Bühne und gibt betont lässig einen gattungstechnischen Kommentar zu dem Stück, das als Tragödie aufzufassen und damit für den Zuschauer besonders geruhsam sei, da man sich ja keine Gedanken mehr über den Ausgang zu machen brauche: c'est reposant, la tragédie , parce qu'on sait qu'il n'y a plus d'espoir 1 5 a . I n solcher und ähnlicher Weise greift der Ansager, der bald als Prologus, bald als Chorus bezeichnet wird, mehrfach ironisch in die Fiktion ein und mischt unter die Tragödie Elemente, die aus der Tradition der Komödie stammen. Wieder müssen wir uns die Frage vorlegen, welchen Sinn diese Technik hat und ob wir uns vielleicht damit zufriedengeben können, den Ansager, seine störenden theatertechnischen Kommentare, dais Spiel im Spiel und die Vermischung von Tragik und Komik als manieristische Abstruisität zu kennzeichnen und der apollinischen Gemessenheit klassischen Theaters zeitlos entgegenzusetzen. Der in der Theatergeschichte bewanderte Zuschauer wird sich beim Auftreten des als Prologus bzw. als Chorus deklarierten Ansagers daran erinnern, 15f t
Antigone, in: Nouvelles pièces noires, Paris, La table ronde, 1947, S. 166.
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daß diese dramaturgische Technik keine Erfindung Anouilhs, sondern dort zu Hause ist, woher auch der Stoff unserer Tragödie und unser Theater überhaupt stammt: in Griechenland. Aber wir müssen unterscheiden. Wir finden in der sophokleischen Antigone zwar den Chor, aber in einer ganz anderen literarischen und dramaturgischen Funktion. Er ist, in der Formulierung Hegels, »moralische Person« und vertritt »das substantielle, höhere, von falschen Konflikten abmahnende, den Ausgang bedenkende Bewußtsein«16. Er ist nicht fiktionsironisch wie der Ansager bei Anouilh. Aber auch diese dramaturgische Fiktionsironie ist keine Erfindung Anouilhs oder unseres Jahrhunderts. Wir finden sie ebenfalls schon im griechischen Theater, allerdings — das ist charakteristisch — nicht in der Tragödie, sondern in der Komödie. Es ist zu (denken etwa an Aristophanes, bei dem in der sog. Parabasis der Chor im Namen des Dichter das Publikum anspricht. Auch die Person des Prologsprechers steht in Menanders Dyskolos sowie bei Plautus und Terenz außerhalb der Fiktion des Stückes und bezeichnet ihre Grenzen. Wir notieren fürs erste, 'daß Anouilh in seinem Ansager die dramaturgischen Merkmale des antiken Prologus und Chores kombiniert, und zwar in der Weise der Komödie, nicht der Tragödie 17. Also »manieriistische Tragikomödie«? Wir müssen noch genauer zusehen. Bert Brecht hat im Prolog seiner ^rciz'gowe-Bearbeitung darauf hingewiesen, daß es für die Tragödie der Antigone einen großen Unterschied macht, ob sie sich vor Zuschauern aus dem Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts abspielt oder vor Zuschauern unserer Zeit, bei denen Ablauf und Ausgang der Geschichte nicht mehr als bekannt vorausgesetzt werden können18. Damit ergeben sich für den modernen Dramatiker zwei Möglichkeiten: entweder er holt die notwendige bildungsgeschichtliche Information nach — das tut Bert Brecht —, oder er versucht, aus der Unkenntnis oder wenigstens Unsicherheit des Publikums Spannung zu erzeugen, indem er etwa das Publikum bis zum Ende des Stückes im Ungewissen läßt, ob der Trojanische Krieg nun stattfindet oder nicht. Die »Wette« gilt. Anouilh folgt seinem Meister Giraudoux in diesem Punkte nicht, sondern verzichtet, ähnlich wie Bert Brecht, auf jegliche Spannung, indem er den tragischen Ausgang schon vom Prologsprecher mitteilen läßt. Aber zu einem ganz andern Zweck als Brecht, der auf emotinale Beteiligung des Zuschauers in Furcht und Mitleid keinen Wert legt. Anouilh will den Zu16
Ästhetik, Ed. F. Bassenge, Berlin 1955, S. 1083. Das unmittelbare Vorbild für Anouilhs Technik der Einblendung theatertechnischer Reflexionen am Höhepunkt der tragischen Handlung mag Pirandellos Sei personaggi in cerca d'autore sein. Dort unterbricht der Spielleiter die Familientragödie an ihrem Höhepunkt mit der Bemerkung: Graziosissima questa scenetta del cappellino, non vi pare * (Maschere nude, Bd. I I I , Florenz 1928, S. 105). 18 »Unbekannt/ ist euch der Stoff des Gedichts, der den einstigen Hörern/ innig vertraut war« (Neuer Prolog zu Antigone, 1951). 17
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schauer wohl beteiligen, ihn sogar noch tiefer betroffen machen als in Furcht und Mitleid. Dazu dient der Ansager. Er gibt nämlich nicht nur Kommentar oder Erläuterung, sondern vielmehr Information in der besonderen Weise des Vorwissens, das die Heillosigkeit des Geschehens und die Tragik des Ausgangs kennt. I m Prolog und in den verschiedenen Interventionen des Chorsprechers wird der Zuschauer immer wieder daran erinnert, daß alles vorherbestimmt ist und daß es für Antigone keine Rettung gibt, so verheißungsvoll sich diese oder jene Szene auch darstellen mag. Das gleiche Vorwissen des tragischen Ausgangs hatten auch 'die athenischen Zuschauer der sophokleischen Tragödie. Aber es war aus anderen Quellen gespeist, nämlich aus der Vertrautheit des Mythos und aus der Kenntnis der literarischen Konvention, daß das Theaterstück den Mythos in seinen wesentlichen Elementen nicht verfälschen darf. Anouilh erreicht also mit der ständigen Intervention seines Ansagers, daß die Zuschauer des 20. Jahrhunderts das Schicksal der Antigone mit dem gleichen Bewußtsein sehen wie ihre Vorgänger vor zweieinhalb Jahrtausenden. Dieses Bewußtsein aber ist ein ironisches. Hoffendes und zweifelndes Handeln der Personen auf der Bühne sehen und zugleich aufgrund des Vorwissens die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung des tragischen Ausgangs immer gegenwärtig haben, das zwingt den Zuschauer in eine Haltung der Bewußtseinsdoppelung, die charakteristisch für die Ironie ist. Auch in der Alouette erhält der Zuschauer, wie wir gesehen haben, ein bestimmtes Maß an Vorwissen. Denn er erfährt gleich zu Beginn des Spiels, daß dem glanzvollen Aufstieg des unbekannten Dorfmädchens ein jäher Fall folgen wird. Aber er erfährt nicht alles. Denn der Prozeß hängt noch an, und sein Ausgang ist offen und wird sogar dem Zuschauer nie ganz mitgeteilt. So bleibt für Furcht und Hoffnung Raum, wenn auch im Zwielicht der ironischen Fiktionsstörungen. In der Antigone hingegen ist alles entschieden, die Heldin wird in den Tod gehen. Helga Meyer hat hierfür die Kategorie der »Wiederholung« eingeführt. Das soll heißen: die Gestalt der Antigone ist in der mythologisch-literarischen Tradition als tragische Person festgelegt; diese Antigone hier auf der modernen Bühne kann dieses Schicksal nur »wiederholen«, andernfalls ist sie nicht Antigone 19 . Das ist nur bedingt richtig; denn die Konvention, daß der moderne Dichter sich bei einem antiken Stoff an die wesentlichen Momente der Fabel zu halten hat, ist nur bindend, wenn es dem modernen Bearbeiter so beliebt. I n Glucks Oper kehren Orpheus und Eurydike doch noch aus der Unterwelt ins Licht und Glück zurück. Der Dichter ist also prinzipiell frei und braucht auch 19
Helga Meyer, Das französische Drama des 20. Jahrhunderts als Drama der »Wiederholung', Diss. Heidelberg 1952 (Masch.-Schr.). Anders Hans Robert Jauß, Racines Andromaque und Anouilhs Antigone, Die neueren Sprachen 1960, S. 428 bis 444, hier 443.
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gegenüber einem antiken Stoff sein Attribut der Allmacht nur aufzugeben, wenn er sich freiwillig der Konvention unterwirft. Damit muß auch der Zuschauer rechnen, und er darf also prinzipiell auch bei einer Antigone hoffen, daß sie der drohenden Tragik entgeht. Seine Hoffnung ist übrigens um so größer, je schwächer seine Bildungsreminiszenzen sind. Das Schicksal der Anouilhschen Antigone ist also hoffnungslos, nicht weil das Stück die »Wiederholung« einer alten und mehr oder weniger bekannten Fabel ist, sondern ausschließlich, weil der Prologsprecher den tragischen Ausgang schon am Anfang bekanntgegeben hat: . . . il n'y a rien à faire 20. Der Prologsprecher hat daher eine unerhörte Bedeutung für das Bewußtsein des Zuschauers, nimmt ihm im Grunde die behagliche Rolle des Zuschauenden und versetzt ihn in eine wesentlich unbehaglichere Rolle, die wir im folgenden noch genauer beschreiben müssen. Der Ansager, sei es in der Gestalt des Prologus, sei es als Repräsentant des Chores, teilt nämlich nicht einfach den Ausgang vorwegnehmend mit. Er tut es in einer besonderen Weise, nämlich metaphorisch, und zwar mit Hilfe von Theatermetaphern 21. Antigone wird, so kündigt der Prologsprecher an, »ihre Rolle zu Ende zu spielen haben«. Auch die Personen selber führen Theatermetaphern im Mund. Kreon ist sich bewußt, daß er »die schlechte Rolle hat« 22 und Antigone weiß, daß sie den Bruder beerdigen muß, denn »so sind die Rollen verteilt« 23 . Les jeux sont faits . Nicht daß die Personen dabei in der Weise der Bewußtseinsspaltung, wie bei Pirandello, zugleich ein Bewußtsein ihrer bloß theatralischen Existenz hätten; sie gebrauchen vielmehr die Theatermetaphern, so wie jeder von uns alle Tage unreflektiert Theatermetaphern gebraucht. Sie treten also damit nicht aus der Fiktion heraus. Aber für den Zuschauer sind diese Metaphern nicht belanglos. Denn alle denkbaren Metaphern sind auf der Bühne ich möchte sagen harmlos, außer eben Theatermetaphern. Alle andern Metaphern belassen dem Zuschauer die Illusion, die naive Teilnahme an der Fiktion. Theatermetaphern hingegen, wann immer sie auf dem Theater erklingen, erinnern den Zuschauer an das Theater und zeigen die Fiktion als Fiktion. Theatermetaphern auf dem Theater sind ironische Metaphern und sind das 20 Ich kann H . R. Jauß nicht beipflichten, wenn er ein solches Vorwissen des Zuschauers auch für Racines Andromaque annimmt. Racines 'Préface* ist kein Prolog und gibt daher dem Zuschauer auch den Ausgang nicht bekannt. Der Zuschauer bleibt in der Ungewißheit des Ausgangs und begleitet die Personen mit seinem Hoffen und Fürchten. Jede Art von Fiktionsironie ist Racine fremd. Das ist der große Strukturunterschied zwischen Racine und Anouilh, (vgl. Jauß, a. a. O., S. 433). 21 Anouilh verwendet sie öfter in seinen Stücken zu ironischen Zwecken (vgl.
Le Rendez-vous de Senlis III, Roméo et Jeannette III).
22 Antigone, in: Nouvelles pièces noires, Paris, La table ronde, 1947, S. 179. Vgl. S. 186. 23 Ebd., S. 144.
Fiktionsironie bei Anouilh
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Vehioulum, das die Fiktionsironie vom Autor zum Zuschauer trägt, und zwar ohne daß sie den handelnden Personen bewußt werden. Nicht nur also, daß der Zuschauer zusammen mit dem Prologsprecher, dessen Rolle er weiterspielt, den Personen gegenüber das Vorwissen vom tragischen Ausgang voraushat, sondern er muß zudem auch noch aus den Worten dieser Personen heraushören, daß sie selber einige Elemente dieses Vorwissens unwissend besitzen, so unwissend wie ödipus, der die Wahrheit des Orakels hat und sie nicht weiß. Antigone ist in der Lage des ödipus; in den Theatermetaphern, die sie ahnungslos im Munde führt, liegt die Ironie des Schicksals24. Diese hat Anouilh gewollt; aber er wollte sie nicht mit einem Orakelspruch auslösen, das wäre unglaubwürdig in unserm Jahrhundert. So ersetzt er den Orakelspruch der griechischen Schicksalsironie durch das Äquivalent der Theatermetaphern auf dem Theater. Damit tritt aber gleichzeitig an die Stelle des griechischen Schicksals — der Zuschauer, oder genauer gesagt: an die Stelle der Ironie des Schicksals25 tritt als modernes Äquivalent die Ironie des Zuschauers 26. Sie konstituiert eine Tragik, die der griechischen Tragik analog ist. Ihr Signum ist die Vergeblichkeit. Wir befinden uns in der Nähe des Welttheaters. Erinnern wir uns daran, daß das ganze allegorische System des Welttheaters auf einer Metapher aufruht, der Metapher vom Schöpfergott als Dichter. Beide sind auctor. Die Attribute der Allmacht und Allwissenheit gegenüber den Kreaturen sind das tertium comparationis. Diese Metapher aber vom Schöpfer als Dichter hat als Umkehrung die andere, uns ganz geläufige, jedoch ideengeschichtlich spätere Metapher vom Dichter als Schöpfer. Die eine Metapher ruft die andere. Insofern nun Jean Anouilh als »Dichterschöpfer« durch seinen Repräsentanten auf der Bühne, den Ansager, und mittels ¡der Theatermetaphern den Zuschauer an seinem »göttlichen« Attribut der Allwissenheit teilhaben läßt, schaut dieser auf das Handeln der Personen, wie die Gottheit auf das Theater der Weit schaut. Eine andere Gottheit ist bei Anouilh nicht da, mit niemand kann der Zuschauer seine Allwissenheit teilen. Niemand entlastet ihn von ihr. Aber ein anderes Moment kommt hinzu. Von den beiden, die 24
Vgl. auch Balzac: l'ironie
est le fond du caractère de la Providence
nie Grandet, Ed. Pléiade, Bd. I I I , S. 500).^ 25 Vgl. Hans-Egon Hass: »Die griechische Tragödie als Kunstform insgesamt kann man als in der tragischen Ironie gegründet ansehen, insoweit die Zuschauer in die Mythologie, welcher die Tragödie ihre Stoffe entnahm, völlig eingeweiht waren, den Ausgang der Handlung also kannten und so der Diskrepanz zwischen dem Reden und Tun der tragischen Personen und der wirklichen Situation, einer möglichen Rettung, sofort bewußt waren.« (Die Ironie als literarisches Phänomen, Diss. Bonn 1950, Masch.-Sdir., S. 31 f.).
(Eugé-
26 Vgl. Hans Sorênsen: La soi-disant *ironie dramatique ' est une utilisation spéciale de ce ton (seil, ironique ); il s'agit de l'agrément institué par le fait que les spectateurs sont mieux renseignés qu'un ou plusieurs des personnages agissants (Le théâtre de Jean Giraudoux , Aarhus 1950, S. 181 f.).
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Welttheatermetapher konstituierenden Attributen erhält hier der Zuschauer nur eines. Nur die Allwissenheit, nicht die Allmacht. Er weiß das Ende, aber er kann es nicht wenden. Der Dichtergott in Calder6ns Welttheater kann es. Er greift in das Geschehen ein und wendet es, wenn seine Hilfe angenommen wird, zum Guten. Der Zuschauer der Antigone kann nicht helfen, er muß das heillose Spiel bis zum Ende ertragen 27. Er ist allwissend, aber ohnmächtig. Diese Halbierung der göttlichen Attribute spaltet den Zuschauer in einen hoffend Fürchtenden und einen leidend Wissenden. Er soll also nicht, wie bei Brecht, aus der behaglichen Illusion zur Freiheit der Reflexion und zur sozialen Tat erwachen28, sondern soll in der ironischen Gleichzeitigkeit von Illusion und Reflexion seine Ohnmacht erfahren. Seine Ohnmacht ist seine Tragik. Er ist nur ironice ein Gott. Wir sind also doch wohl sehr weit vom Welttheater entfernt. Wir sind aber auch, so glaube ich, sehr weit von einem wie immer verstandenen Manierismus entfernt. Und dies, obwohl wir zunächst so viele Symptome fanden, die gelegentlich als typisch manieristisch gelten. Aber so geht es immer. Schaut man genauer zu, so erweisen sich die manieristisch anmutenden Formelemente, die in der literarischen Tradition so beharrlich wiederzukehren scheinen, als in ihrer Essenz grundverschieden und als Träger jeweils anderer Botschaften. Wir haben hier die scheinbaren Manierismen Anouilhs untersucht und fanden, daß sie als Formen der Fiktionisironie aufzufassen waren. Aber diese Feststellung, weil nur formal charakterisierend, genügte uns nicht, und wir fragten weiter, welchen Zwecken sie dienen und in welchem Zusammenhang zu den Themen der Jeanne d'Arc und der Antigone sie stehen. Wir sahen in der Alouette eine Reduktion des Wunders auf Fiktion und die Fiktionsironie als Vorstufe eines rein menschlichen Ethos. Und wir sahen in der Antigone an der Stelle der antiken Ironie des Schicksals eine fiktionsüberlegene Ironie des Zuschauers, der seiner Ohnmacht innewird. Das ist in beiden Fällen mehr als ein manieristischer Kitzel. Und so finden wir, wo andere nur auf einen immer gleichen Manierismus stoßen, immer andere Intentionen und immer andere Wirklichkeiten. Wir können jedoch, so scheint mir, der negativen Konklusion eine positive Konklusion hinzufügen. Die beiden Interpretationen sollten nämlich zeigen, daß man beide Stücke, sowohl die Alouette als auch die Antigone, nur mit dem Blick auf ihre Vorbilder, Claudels Jeanne d'Arc au Bucher und Sophokles' Antigone, verstehen kann. Denn auch Anouilh hat, als er sie schrieb, auf diese Muster geschaut. Er hat nicht auf sie geschaut wie Racine auf Euripi27
Vgl. auch H . Meyer, a. a. O., S. 13 f. Vgl. das Vorspiel, das Brecht zu seiner Antigone geschrieben hat. Es handelt von zwei Schwestern und einem SS-Mann. Es degradiert das Stück zur Allegorie und lädt zur moralischen Anwendung ein. 28
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des und Voltaire auf Racine, sondern kritisdi, vielleicht — bei Claudel — sogar gereizt. Jedenfalls aber hat Anouilh weder bei Sophokles noch bei Claudel von den Vorformen seiner Stücke abgesehen, um naiv in einen literarischen Morgen hinein zu dichten. Beide Stücke sind Repliken: nachformende Neugestaltungen großer Entwürfe und zugleich Antworten im Dialog der Zeiten. Dabei ist es gleichgültig, ob die Replik von ihrem Muster zwanzig Jahre oder zweieinhalb Jahrtausende entfernt ist. Claudel seinerseits hat bei seiner Jeanne d'Arc au Bücher, ebenso wie schon bei seinem Livre de Cristophe Colomb, die Schutz flehenden von Aischylos als Muster vor Augen, zugleich aber auch den dramatischen Charakter der Messe29. Das läßt deutlich erkennen, wie nahe sich die Zeiten in der Literaturtradition sind. Die literarische Kategorie der Replik meint also nur Nachzeitigkeit und zählt die Jahre nicht. Audi die literarische Technik der Fiktionsironie ist häufig an Nachzeitigkeit gebunden. So tritt sie in Repliken besonders häufig auf. Vielleicht gilt eine solche Bindung auch für die verschiedenen Formen des literarischen Manierismus. So mag die Neigung verständlich sein, die Fiktionsironie dem Manierismus zuzurechnen und beide zusammen den Spätzeiten der Kulturen. Dabei verliert man aber leicht die sehr viel konkreteren Beziehungen aus den Augen, die in der Geschichte der Literatur Autor und Autor, Werk und Werk, Entwurf und Replik verbinden. Sie sind uns wichtiger.
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Oeuvres complètes, Bd. X I V , S. 258 und 278.
BUCHBESPRECHUNGEN
Johann Caspar Goethe. Cornelia Goethe. Catharina Elisabeth Goethe. Briefe aus dem Elternhaus. Hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli. Zürich und Stuttgart 1960, Artemis-Verlag. 1024 S. (1. Ergänzungsband der GoetheGedenkausgabe). Frauen der Goethezeit in Briefen, Dokumenten und Bildern. Von der Gottschedin bis zu Bettina von Arnim. Eine Anthologie von Helga Haberland und Wolfgang Pehnt. Stuttgart 1960, Reclam. 569 S. (Reclams Universalbibliothek 8454—65). Der erste Ergänzungsband der Goethe-Gedenkausgabe schickt den Briefen aus dem Elternhaus drei biographische 'Versuche' Ernst Beutlers voraus: Lebensbilder des Vaters, der Schwester und der Mutter Goethes. Die Beziehung zu den hier zum erstenmal gemeinsam gedruckten Briefen der Drei ist eng, doch gehen diese Lebensberichte in ihrer Fülle und Selbständigkeit weit über eine erklärende Einführung hinaus. Beutler vergleicht sie mit einem zweiten Wiederaufbau des Goethehauses, »diesmal vom Leben seiner Bewohner, von der Familie her« — und dieses Bild charakterisiert am besten Absicht und Ergebnis der etwa ein Drittel des Bandes ausfüllenden Darstellungen. Sie beruhen »weithin auf unbekanntem Material in Bibliotheken und Archiven«. Es scheint sich vor allem (die Quellen werden nicht genannt) um Akten, Dokumente, Urkunden, selten um private Äußerungen zu handeln, also vornehmlich um Material, das wenig Persönliches auszusagen vermag, das den Benützer auf Schlüsse und Kombinationen angewiesen sein läßt. Das auffälligste Ergebnis der Erschließung der neuen Quellen sind deshalb Beiträge etwa zum Verständnis der Lebensbedingungen und zur Entwicklung des Vaters, zur Verlebendigung seiner Umgebung und seiner geistigen Welt, eine sinnvolle Begründung des Verzichtes auf das Amt in Frankfurt und ähnliches mehr. Beutler versagt sich oft eine Deutung seiner Funde, vielmehr versucht er durch Ausbreitung des Materials ein Bild erstehen zu lassen, das von selbst spricht. Eine gewisse Ausführlichkeit — die, vergleicht man Anstrengung und Resultat, gelegentlich ungerechtfertigt erscheinen mag (bei der Biographie des Flacius Illyricus nach dem Buch von Ritter, eines Lehrers von J. C. Goethe z. B., oder dem historischen Exkurs zur Geschichte der Wittelsbacher anläßlich der Krönung Karls VII., überhaupt bei den vielen eingeschobenen Kurzbiographien) — war wohl
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Buchbesprechungen
nicht zu vermeiden, denn vom Ganzen her gesehen werden durch diese anschaulichen Darstellungen empfindliche Lücken der Überlieferung so gut wie möglich geschlossen. Bereits im zweiten Teil der Biographie Johann Caspars, besonders deutlich aber in den Abschnitten über Cornelia und die Frau Rat werden Beutlers vorsichtige Bemühungen um eine gerechtere, begründetere Auswertung der seit langem benützten Quellen zur Lebensgeschichte der Drei sichtbar; manchmal werden seine Umdeutungen mit neuen Funden gestützt (etwa die Harry Luptons), häufiger sind sie das Ergebnis hellhörigeren Lesens der Briefe und anderer autobiographischer Notizen. Bisher häufig kritiklos ausgeschöpfte Quellen wie z.B. 'Dichtung und Wahrheit' oder das als organische Gesamtheit betrachtete Briefopus der Frau Rat werden in ihrer historischen und menschlichen Bedingtheit gesehen und die behutsamen Korrekturen, die Beutler anbringt, tragen wesentlich zum Verständnis der Quelle und des behandelten Menschen oder Vorganges bei. So sehen wir z. B. die Mutter Goethes gelöst von dem ihr häufig als einzige Auszeichnung anhaftenden Attribut »Frohnatur«, das ihre glückliche, unkomplizierte Veranlagung erklären sollte. »Die >Frohnatur< von Goethes Mutter war nicht nur eine Gabe, sie war vielmehr noch eine Leistung« behauptet Beutler (285), und es fällt ihm nicht schwer, das allein aus den Briefen zu beweisen. Die zunächst vielleicht überraschende Reihenfolge Johann Caspar, Cornelia, Catharina Elisabeth Goethe wird sinnvoll vor dem Hintergrund des Lebens Johann Wolfgang Goethes. Keiner der drei Lebensberichte läßt, trotz ihrer Abgeschlossenheit und Unmittelbarkeit, den Eindruck entstehen, als sei er um seiner selbst willen geschrieben. Der Titel des Bandes und die Form seines Erscheinens sind nicht die einzigen Hinweise darauf. Selbst da, wo man es noch gar nicht erwartet, in der Jugendgeschichte des Vaters, ist Goethe ständig anwesend: Beutler wird nicht müde, auffallende Parallelen im Leben der beiden herauszustellen und zu deuten. Vor allem aber liegt ihm an einer gründlichen Darstellung der menschlichen und erzieherischen Wirkung des Vaters auf den Sohn, ihrer Ähnlichkeit, ihrer oft vergeblichen Versuche, einander zu verstehen. — Wichtige Abschnitte aus Cornelias Leben sind ohnehin gleichzeitige Biographie des Bruders; außerdem bietet uns Beutler durch eine vergleichende Charakterisierung der GeschwisterEinblicke in Cornelias Wesen (ihre Fremdheit Natur und Religion gegenüber z.B.), die durch die Interpretation der wenigen von ihr erhaltenen Briefe, Tagebücher (und des kleinen dichterischen Versuchs) allein nicht gewonnen werden können. — Die Gestalt der Mutter schließlich hat naturgemäß am meisten Eigenleben, aber ohne die stete Beziehung auf ihre Kinder und Enkel wäre auch sie gar nicht darstellbar. Es ist verständlich und notwendig, daß Beutler bei seinen eigenen Entdeckungen ausführlicher verweilt als bei längst erforschten und als richtig übernommenen Tatsachen und Ereignissen. Dadurch entsteht eine reizvolle Bewegung, die dem Leser streckenweise das Gefühl, einer chronologischen Lebensbeschreibung zu folgen, nimmt und ihn mitten in Einzelgeschehen
Buchbesprechungen versetzt, wozu Beutlers ganz persönliche Anteilnahme (>wir sind heute noch froh, daß es so war und nicht andersFrühromantikerromantischRomantik< gehabt — und verloren hat. Aber Körners These von den »Krisenjähren der Frühromantik« wurzelt nicht in einer Deutung großer geselliger und politischgeschichtlicher Zusammenhänge, sondern in seiner Ansicht von der individuellen Entwicklung der »Häupter des frühromantischen Kreises«, die von krassem Subjektivismus zur Anerkennung objektiver Bindungen des Nationalen und Religiösen geführt habe (Bd. I Einleitung S. X ff.). — »Republikanismus« — »Monarchie«, »Volk«, »Katholizismus« sind die Stichworte für eine heute notwendig gewordene Überprüfung dieser Ansicht. Nicht zufällig sind sie in den Erläuterungen nicht mit der gewohnten Vollständigkeit verzeichnet und dem in die Frühzeit zurückreichenden Verweisungsnetz (wie sonst) eingewoben worden. Aber im wesentlichen und umfänglichsten Teil, des ganzen Kommentars, den Erläuterungen zu den 200 (von 660 mitgeteilten) Briefen Friedrich und Dorothea Schlegels knüpft Körner die Bezüge zwischen und hinter den Briefäußerungen in biographisch-sachlicher Weise so vollständig, daß doch eine Stimmung der Krise deutlich wird, eine Stimmung, die aus der Berührung einer konsequenten, zur kulturellen Verwirklichung und Selbstkritik drängenden wissenschaftlichen Entwicklung mit der rauhen, unbereiteten Wirklichkeit immer wieder bitter und lähmend entstanden ist. Diese Berührung allein, so scheint es mir, nicht die individuelle Entwicklung selbst, verläuft als Krise — ihre Wurzeln wären dann im Geschichtsgäng (in der Leidensgeschichte) der geselligen und politischen Verwirklichungsmöglichkeiten wissenschaftlicher Entwürfe und Überzeugungen zu suchen. Die Ansichten Körners (wie die meisten bekannten über die Geschichte der Romantik) Stützen sich im wesentlichen auf Friedrich Schlegels Ent-;
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wicklung. Das im Kommentar ausgebreitete Material gibt uns die Möglichkeit, diese Entwicklung für unseren Zeitraum als einen inneren geistigen Weg in seiner Folgerichtigkeit zu erschließen: Nach dem Weggang aus den Herzlandschaften der deutschen »ästhetischen Kultur« (vgl. Goethe an Reinhardt, 22.6.1808), wo er entscheidende unmittelbare Wirkungen (nicht zum wenigsten im Sinne des Einbaus der Ästhetik in eine Enzyklopädie) auf die deutsche Geistesgeschichte genommen hatte (siehe zuletzt Richter, Schleiermacher, Hegel, Ast — 266) ging Friedrich Schlegel an seine großen Pläne (Ausarbeitung der wissenschaftlichen Frühentwürfe) im »besten Vertrauen für die Zukunft« (30). Das Vertrauen richtete sich auch zurück: Im öffentlichen Abschied von seiner Jugendarbeit hatte er 1801 seine Grundsätze einer produktiven Kulturkritik der selbständigen Weiterwirkung empfohlen, aktueller Kritik entsagt und für sich selbst zurückgezogene Arbeit an einer »Geschichte der Dichtkunst« und einer »Kritik der Philosophie«, die auf ihre Weise in das Zeitalter wirken sollten, versprochen (Jugendschriften I I S. 423). Vor diesem Hintergrund müssen wir sehen, worüber wir durch die vorliegende Edition erstmals unterrichtet werden; nämlich den Ausbau der orientalischen Frühstudien (Ursprung der Sprache, Einheit der Philosophie) in Paris — die Privatvorlesungen zur Philosophie (und ein Separatum über Logik) und Universalgeschichte (vor katholischen Zuhörern, in katholischer Umgebung) in Paris und Köln, die zunehmende Konzentration auf die »Geschichte der Deutschen« (173) im europäischen Zusammenhang (germanisches Altertum, Poesie und Wissenschaft, Ständeverfassung des Mittelalters) 9 , das »Studium der Religion« (Brief 220, 293), des »Katholizismus« (364) 10 , der Monarchie 11 als Staatsform, der politischen Gegenwart des deutschen Volkes 12 , schließlich die Konversion, deren schwer greifbare innere, notwendige Geschichte von Körner in der Einleitung zwar unterstellt, im Kommentar aber nicht verzeichnet wird, ja in wichtigen Phasen (255!) verbogen erscheint. (Siehe also 9 »Ich bin sehr überzeugt, daß man das Mittelalter mehr als jedes andre nur im ganzen Zusammenhange verstehen kann, und daß man es eben desfalls eigentlich noch gar nicht kennt, so sehr auch seit unsrer Zeit die Idee des Romantischen und selbst des Katholischen ist anerkannt worden« (129). 10 Vgl. das frühe Auftauchen des Begriffs , der in Sprachtheorie und Dichtungskritik (in den Privataufzeichnungen) die höchste Leistungsstufe, nämlich Transzendentalismus und Universalismus zugleich, beschreibt (s. F. Schlegel: Literary Notebooks 1314. 1319.1981; 2099. 2019). 11 Vgl. auch die zunehmend sich verhärtende Abneigung gegen Preußen; u. siehe die frühe Grundlegung der Monarchie aus den Prinzipien des Republikanismus (Jugendschriften I I S. 60. 63. 65. 66: »Das Kriterium der Monarchie (wodurch sie sich vom Despotismus unterscheidet) ist die größtmögliche Beförderung des Republikanismus«.) Uber den Begriff des Politischen ebd. u. vgl. 'Uber Georg Förster' (Jugendschriften I I 119 ff.). — Vgl. Körners Kommentare 129.136.143. 12 Vgl. Notebooks 102. 261 (»Die Deutschen sind das erste Volk in der Welt, allein es gibt wenig Deutsche.«) Vgl. Lyc. F. 116 u. Notebooks 882.2074.1902. u. siehe weiter über das Register zu den Notebooks.
Buchbesprechungen vor allem die Briefe zu den folgenden Nummern: 44, 136, 199, 201, 220, 227 (vgl. 494 u. 235), 249, 271. Das sind die Stationen bis 1808. Daneben müssen wir die immer wiederkehrenden verzweifelten Klagen in Briefen an den Bruder halten 18 , begründet nicht allein in wirtschaftlicher und gesundheitlicher Not und in »langen Entbehrungen der Freundschaft«, sondern im Begreifen, wie fruchtlos sein national und kulturell gemeintes Wirken in Deutschland war, wie geistig vereinsamt, öffentlich vergessen er jetzt nach wenigen Jahren bereits ist (31 f., 34, 44, 46, 56, 68, 79, 120, 129,143 f., 150, 191). Die Mißstimmung über die geschichtliche Wirkungslosigkeit seiner Ideen hellt sich auf, seit er durch das Studium der österreichischen Geschichte (belegt seit 129; der Kommentar gibt die weiteren Verweise) vaterländische Hoffnungen auf Österreichs >großdeutsch< konzipierte Politik begründet glaubt. Die Krise der Berührung von Geist und Politik tritt nun mit der Übersiedlung nach Wien 1808 in ihr entscheidendes Stadium, das bis über das Ende des Wirkens am Frankfurter Bundestag reichen wird. Die bisher erarbeitete Deutung der deutschen Geschichte trägt er in historischen Vorlesungen 1810 noch mit dem Optimismus auf aktuelle Wirkungen vor, 1812 aber, in den literaturgeschichtlichen Vorlesungen, sind die Tendenzen bereits wieder zu reiner Wissenschaftlichkeit zurückgezogen: »die innere Geschichte des menschlichen Geistes« wird dargestellt mit der nur noch mittelbaren Absicht, ihren Zusammenhang mit der »äußeren Staaten- und Völkergeschichte« zu zeigen (s. die »Ankündigung« in Hormayrs 'Archiv für Geographie . . 3 . Jg. Febr. 1812 S. 96). (Kommentare 438, 441) Dem wissenschaftlichen Kampf schließt sich der publizistische an, 1809 (österreichische Erhebung), 1813/14 (Wiener Kongreß) und 1815/17 (Deutscher Bundestag). Diese ganze Zeit bestimmt ein schmerzlich das persönliche und geistige Dasein zerreißender Wechsel zwischen politischer Hoffnung und Resignation (279, 333, 346, 363, 371, 379, 412, 389, 465, 485), der erst mit dem endgültigen Rückzug in die reine geistige Welt (nach den Frankfurter Erfahrungen) beruhigt ist. Das Material der Briefe und des Kommentars gestattet zwar nur erst eine Skizze jener Jahre, gibt aber doch schon deutlich genug den Hinweis auf den wahren Grund der Krise, in die das politische Schicksal die »Frühromantiker« geführt hat. Der Weg Friedrich Schlegels, der bedeutendsten Begabung in seinem Kreis, ist nicht nur konsequent (wie das Josef Körner ja seit seinen ersten Nachlaßfunden mit wachsender Sicherheit beschrieben hat), sondern in sich selbst krisenlos verlaufen. Sein Wagnis aber, Ideen unmittelbar politisch in das Zeitalter einzuschalten, nicht die Entfaltung der Ideen und wissenschaftlichen Erfahrungen selbst, hat ihn in eine Krise gestellt (deren Angelpunkt der Entschluß zur publizistischen Politik im Jahr 18 z. B. 1804 aus Paris: »Ich bin verdrießlich mehr als ich sagen kann, betrübt und gleichgültig — oder vielmehr recht von Herzen müde. Ich wünsche oft, daß ich recht bald bei Hardenberg wäre; und doch sollt' es dazu noch zu früh sein« (90).
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1809 war); und zwar in eine schwere Krise der geistigen Selbstrechtfertigung in der Welt. Noch vielfältig sind die Argumente, die uns der Kommentar an die Hand gibt, um die Eigengesetzlichkeit der in den meisten Fällen auseinanderlaufenden Wege der Freunde von Jena und Berlin zu erfahren und das sich jeweils verschieden stellende Probleme einer Krise der Frühromantik zu prüfen. Der gegebene auswählende Bericht, zuletzt am Beispiel Friedrich Schlegels, sollte zunächst einmal dazu dienen, das Problem als solches, wie es die Sachfülle des Kommentars aufgibt, herauszustellen. Weitere entscheidende Dokumente, auf die nur noch verwiesen sei, sind die Kommentare zu dem schönsten Zeugnis dieser Ausgabe, zu Hülsens Brief vom Dezember 1803 (42), und zu Fouque (361,120,141; vgl. a. Brief 148 u. 166). — Ein Studium des Kommentarbandes dürfte jedenfalls die thematische Konzeption der gesamten Ausgabe rechtfertigen. Auf was wir auch stoßen mögen, jedes Geschehen, jedes Urteil oder beliebige, mit den Personen in Beziehung stehende Faktum bestätigt den einen großen Zusammenhang alles einzelnen. Kritik, die in tiefer Anerkennung des Kommentierstils Körners heute dennoch da und dort ansetzen mag und soll, muß in einer gewissen Weise schmerzvoll sein, weil man weiß, wie gerne der Gelehrte sie zeit seines Lebens vernommen hätte. Er hat mit seinen Arbeiten auf einsamer Position um eine Philologie der Romantik geworben — die heute auf größere Anerkennung stoßen dürfte. Seine unermeßliche Sachkenntnis hatte ihn überzeugt, daß weder eine reine »Philosophie der Romantik«, noch eine »synthetische« Ideengeschichte oder eine formgeschichtliche Kategorienlehre allein das Problem der >Romantik< lösen werde. Er suchte die Lösung in einer Philologie, der das Element der philosophischen Energie, in der Weise wie es Friedrich Schlegel in seiner Thilosophie der Philologie* gefordert hat, gefehlt haben mag, deren unerbittliche Sachlichkeit aber der Erforschung der geistigen Wahrheiten und sittlichen Individuen unserer Geschichte gewiß nicht weniger gedient hat als die Methoden, denen der Gelehrte nicht vertrauen wollte. Klaus Briegleb , München Georg Bürke, Vom Mythos zur Mystik. Joseph von Görres' mystische Lehre und die romantische Naturphilosophie. Einsiedeln 1958, Johannes Verlag. 256 S. Reinhardt Habel, Joseph Görres. Studien über den Zusammenhang von Natur, Geschichte und Mythos in seinen Schriften. Wiesbaden 1960, Steiner. V I u. 196 S. In den Arbeiten von Reinhardt Habel und Georg Bürke zeigen sich Betrachtungsweisen, die sich in unserer Zeit bereits mehrfach sehr fruchtbar ausgewirkt haben. Habel wendet in seinen Studien das psychologisch beschreibende Verfahren an, er will die seelischen Gehalte der naturphiloso-
Buchbesprechungen phischen, historischen, mythologischen Schriften aufzeigen, die dabei waltenden strukturellen Zusammenhänge des Denkens und Fühlens, die ardiety^pische Bedeutung der Bilder in Görres Sprache klarlegen und gewinnt dadurch ein sehr weites, schier endloses Feld. Das Verfahren ist aber nicht tiefenpsychologisch, nur gelegentlich klingen verwandte Begriffe und Deutungen an. Doch es werden die Texte auch nicht interpretiert, etwa im strengeren Sinn der Literaturwissenschaft. Ein sehr freies, allgemeines Einfühlen waltet vor. Es wird zuweilen fortgerissen von seinem Gegenstand. Eine strengere Methode gerade dem vielschichtigen, wirrenreichen Ideenbau eines Görres gegenüber, hätte die Untersuchung gewiß bündiger, geschlossener gestaltet. Um so mehr besticht die ideelle Klarheit, die methodische Strenge Bürkes. Die Arbeit ist an der katholischen Theologie orientiert, bedient sich eines historisch-systematischen Verfahrens. Erlebnisse, Denkanstöße und ihre Folgen werden in eine sinnvolle, logische Reihe geordnet. Es gelingt, die zahlreichen Eigenheiten, Sonderbarkeiten, die Geschichtserfahrung, die ideelle Not des alternden Görres verständlich zu machen, welche seine Mystik so und nicht anders hervortreiben mußten. Habels Darstellung verschmilzt zuweilen mit ihrem Gegenstand. Bürke schreibt aus einem sehr wohltuenden kritischen Abstand. Nun aber zu Einzelheiten. Habel behauptet, daß wir zwar gute Einzeluntersuchungen besäßen, aber »der Görres«, selbst der »romantische Görres« sei noch unbekannt. Die inneren Zusammenhänge seines Denkens und Fühlens seien unerforscht. »Was vor allem fehlt, ist die Möglichkeit, einen evidenten Zusammenhang zwischen . . . sachlich voneinander getrennten Anschauungsbereichen herzustellen.« Das ist gewiß überspitzt formuliert und hat seine Gültigkeit nur unter dem besonderen Aspekt, unter dem Habel seine Studien betrieben hat. A. Dempf hat die Werkzüsammenhänge schlüssig durch philosophische Betrachtung dreier großer Entwicklungs^ Stadien dargestellt. Habel hebt demgegenüber den besonderen Wert seines »neuen« psycholo-1 gischen Verfahrens hervor: »Es müßte möglich sein, gewissermaßen den Fluß der Gedanken und Ideen selbst zu fassen, noch ehe er im System' erstarrt ist, um damit auch die Quelle zu erreichen, aus der sich die massive Vitalität seiner Natur-, Geschichts- und Mythosauffassung speist. Erst wenn in diesem Sinne der Versuch gemacht wird, nicht nur die Görresschen Ideenkolosse nach Inhalt und Einflüssen zu untersuchen, sondern die in ihnen wirksame Denktätigkeit herauszulösen und spezifisch zu charakterisieren, wird es möglich sein, zu jener tiefer gelegenen Schicht durchzustoßen, wo dib im Gewirre verborgenen Knoten geknüpft werden, denn zwei Ideen aus verschiedenen Seinsbereichen können niemals identisch sein, wohl aber das Denken, das sie hervorbrachte, Es wird also in erster Linie um die Zusdm-. menhänge gehen, die zwischen dem geistigen Dreieck von Natur, Geschichte und Mythos bestehen.« Mit Görres will Habel eindringen in die geistig
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seelischen Schaffensvorgänge, er will erst einmal die »Methode«, deren sich Görres selber bediente, phänomenologisch bestimmen: »Diese Methode ist nicht mehr wie die des enzyklopädischen Rationalismus kausal kategorisierend, sondern genetisch entwickelnd. Ihr liegt eben jener Vorgang des >InsWerden-Setzens< zugrunde, der auch das untergeordnetste Naturding erfaßt und, indem er alles Gewordene als Werdendes entwickelt, bildet, umbildet und schaffend plastiziert. Das reinste, unstofflichste, allgemeinste Bild des Werdens ist aber der kosmogonische Mythos; und so hat sich bei der Durcharbeit der Görresschen Schriften gezeigt, daß jenes genetisch-organismische Denken, das niemals ein Bestehendes aus sich selbst heraus beschreibt, sondern stets bis auf seine Entstehung zurückgeht, sich selbst kosmogonisdi versteht. Kosmogonie bildet den Schlüssel für die Eröffnung des inneren Zusammenhanges von werdender Natur, wachsender Geschichte und Genesismythos. Das Denken im Werden erfaßt sein Urbild im Naturwerden, Menschheitswerden und Weltwerden mythisch.« Man fühlt sich dabei an Alfred Bäumler erinnert. Und wirklich heißt es später: »Was Görres als Mythologen betrifft, kann man sich nur auf das stützen, was Alfred Bäumler zu diesem Thema vielfach überzeugend vorgebracht hat.« In den Anmerkungen wird aber wiederholt auf die Unterschiede gegenüber Bäumler verwiesen: Bäumler habe einseitig nur die mütterlich-gebärende Nacht als den Ursprung des Denkens hervorgekehrt. Die Nacht sei aber nur ein Teil des zugrunde liegenden Ideenbilds, der absolut passive, empfangende Teil, ihm stehe eine aktive Tagseite gegenüber und ferner das große Zwischenreich der Dämmerungen, das Bäumler überhaupt nicht gesehen habe. Erst im Hinblick auf die beiden letztgenannten Lebens- und Geschichtsformen käme man zu der von Görres grundgelegten Denkfigur, zur Denkfigur des Dreiecks im lebenprägenden Sinn. Die treibende Kraft dieser Figur ist für Habel die Polarität. »Nicht die Nacht ist es, die er sucht und nicht das Licht, sondern die Antinomie der beiden Urmächte, jene wesenschaffende Vermischungsregion, wo allein Lebendiges entstehen kann. Dämmerung, Wasser, Organismus, Kind und als universales Zwischenreich von Anfang und Ende: Geschichte, das sind die Inhalte der Görresschen Schriften ...« Und direkt gegen Bäumler gewendet: »Wer Görres nicht die Zweiheit des Werdens beläßt, nimmt ihm den inneren Schwerpunkt seines polarisierenden Denkens: das kosmogonische Entwickeln.« Die Einheit des Werks wird verbürgt durch das »polarisierende Denken«. Es bietet den Schlüssel zum gesamten Werk. »Inhaltsreferate« wichtiger Schriften umkreisen immer wieder diesen zentralen Denkbehelf. Die Ideen der Polarität und Identität seien Görres eigen gewesen, noch bevor er von ihrer »philosophischen Ableitung« gehört habe. Später, seit »Wachstum der Historie« sei er jedoch von dieser Betrachtungsweise abgekommen. Nicht mehr in einem »Kampf des identitätsphilosophischen, natürlichen und geistigen Prinzips«, wie Dempf meinte, hätte sich sein Denken und Erfahren dargestellt. Von nun an habe sich Görres' Weltbild zur Vorstellung leben-
Buchbesprechungen dig sich durchdringender schöpferischer Kräfte gewandelt, in einer »stufenweisen Verwesentlichung der Begriffe« hätten sich Gewalten, Generationen, schließlich Götter als die tragenden geschichtlichen Mächte eingestellt. In ständig wachsender Konkretion sei die Idee zu einem bildenden Wesen geworden, »welches immer bildhafter wirkend, sich zu einer Art mythischer Gottheit verwandelt«. Der Vorgang entspräche einem mählich tiefer werdenden Eindringen in den »archetypischen Werdeprozeß«. Habel versucht, diesen Werdeprozeß in seiner Studie nadizuvollziehen, »... denn im Zurückgehen auf das Bild des ersten Werdens erscheint das Gesamtwerden zugleich urbildlich und konstituierend für alle fernere Entwicklung. Eine Interpretation, die diese Bewegung mitmacht, wird daher nicht fehlgehen können«. In diesem »Mitmachen« besteht das persönliche Anliegen der Arbeit. Die phänomenologische Betrachtung leuchtet Strukturen des Denkens und Fühlens überraschend an. Eine große Zahl der Urbilder, der Mythen und ihrer Deutungen wird auf diese Weise »neu« beschrieben: etwa die bereits erwähnte Durchdringung von Licht und Nacht, Feuer und Wasser, des männlichen und weiblichen Prinzips. Lebenshaltungen der Naturphilosophie werden einheitlich auf die Geschichte und auf die Mythologie übertragen, so auch das »Stirb und Werde« in den Kulturen, die Vorstellung von Nachtzeiten im Bilde unproduktiv sich wiederholender Zyklen, der Tagzeiten im Bilde »eines spiralig kreisenden Progressus«, der sich zu höherer Stufe »metamorphisiert«. Hier erst eröffnet sich das Verständnis der Mythen, wie Görres selber sagt »jener archetypischen Welt, in der der Seher den Logos schon von fern erblickt«. Die Mythe schwebt als das vermittelnde Dritte »in der Mitte« zwischen Himmel und Erde, sie beide finden in ihr die Sphäre ihrer Vereinigung, » . . . daher ist die Mythe der Ort, wo das Empfinden des Göttlichen in der Seele mit der Uroffenbarung Gottes in der Menschheit zusammenfließen kann«. Die Mythologie führt auf diese Weise direkt zur Mystik. Und die Problemstellung verfließt hier mit der Arbeit Bürkes. Habel hat selbst darauf verwiesen. Wegweisend sind die Haltungen der Ahndung, Erinnerung, des Wiedererkennens und der Begeisterung; Haltungen, welche von den Mythologen wie auch von der Mystikforschung vielfach berücksichtigt sind. Und so bieten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte mit Forschungsrichtungen der Gegenwart an: Vom Begriff der »Wachsenden Geschichte« aus werden über den Neffen und Schüler von Görres, Ernst von Lasaulx, aufs neue die Nachwirkungen bei Burckhardt, Spengler, Toynbee besonders deutlich, freilich auch die großen Unterschiede. Vgl. die Einleitung Eugen Thurnhers zur Philosophie der Geschichte von Ernst von Lasaulx, (Ernst von Lasaulx, Neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte, hrsg. und eingel. von Eugen Thurnher, München 1952). Die Intentionen des Mythologen Görres aber weisen direkt hin zu René Guénon, Leopold Ziegler, Carl Gustav Jung u. a.
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Die Zusammenhänge von der Naturphilosophie bis zur Mythologie, so wie Habel sie sieht, dürften wenigstens in Umrissen deutlich geworden sein. Aber entsprechen diese Zusammenhänge nun wirklich den bei Görres vorhandenen? Ist es Habel gelungen, das Polaritätsdenken Görres hinreichend zu erfassen? Er tut es im Verständnis des romantischen Werde-Seins, um hier eine Formulierung Theodor Haeckers zu gebrauchen, etwa in Formulierungen wie der bereits zitierten: » . . . denn im Zurückgehen auf das Bild des ersten Werdens erscheint das Gesamtwerden zugleich urbildlich und konstituierend für alle fernere Entwicklung«. Haben die Ganzheitsprinzipien der Organismen im Denken Görres wirklich »dieselbe Funktion« ausgeübt, wie das alle Gegensätze umfassende Größere der Religion? Können diese Zusammenhänge wirklich hinreichend aus einem sich mehr und mehr eintiefenden Rückschreiten auf das Urwerden erfaßt werden? Görres' Problematik wird hier gewiß sehr vereinfacht. Schon beim »mittleren Görres« taucht eine »vierteilige Dialektik« auf, die weit mehr ist, realistischer ist, als die Polarität im Sinne des werdenden Seins. Die wesenhaften Unterschiede zwischen Gott und Kreatur, die analogía entis wird seither mit zunehmender Schärfe und Schwere erfahren. Gott steht über den Gegensätzen, über allem Werden. Der Kirchenbegriff spielt auch im Geschichtsdenken eine beachtliche Rolle. A l l das klingt bei Habel zuweilen an, rückt aber nicht in die gehörigen methodisch zwingenden Zusammenhänge ein. Görres hat seine Koordinationslehre später zur Subordinationslehre erweitert. Zu den Gegensätzen zwischen Innen und Außen treten die zwischen Oben und Unten. Es gibt nicht bloß Gegensätze, »Polaritäten«, es gibt auch »Widersprüche«, etwa die Sünde. A l l das nähert sich bereits während der mythologischen Forschungen dem Quellbereich der abendländischen Mystik und Metaphysik. Und zwar entspricht der größeren mystischen Tiefe in vieler Hinsicht immer auch ein größerer Wirklichkeitsgehalt, eine stärkere Erfassung des Konkreten; ein Anliegen, das dann freilich erst in der »doppelten Dialektik« des reifen Görres lösbar wird, in der Versöhnung von Glauben und Wissen, die konstruktiv aus einer sehr eigenwilligen Vierheitsspekulation hervorgeht. Sie gipfelt schließlich im Urbild der Geschichte schlechthin, im Kreuz des Erlösers. A l l das kam nicht von außen, sondern wurde von innen her, durch die Systematik der Ideenfolgen aufgezwungen. Diese Systematik, ihre Spannungen, Nötigungen, eine ganze Fülle von Deutungen, Bildern, feineren Unterscheidungen hat bei Habel keine Berücksichtigung gefunden. Auch wenn es sich hier um spätere Entwicklungen handelt, die sich anscheinend nur mittelbar mit dem Arbeitsbereich berühren, so waren sie doch bereits angelegt und hätten ihre Rücksicht verdient, gerade wenn es darum geht, endlich den »ganzen Görres« darzustellen. Man muß nachdrücklich an eine Formulierung des erfahrenen Joseph Bernhart erinnern: »Vielleicht gewagt, aber nicht unbegründet, ist die Vermutung, daß in dieser Fühlung mit dem Osten, nicht dem persischen, aber indischen, die Wandlung seines dynamischen Weltbildes in ein vornehmlich statisches, seine Erklärung findet.« Görres hat deshalb später keine Geschichte der Mystik
Buchbesprechungen gegeben, sondern versucht, ein System der Mystik darzustellen. Die Ansätze dazu können etwa seit 1808 festgestellt werden. Bürke hat die Entwicklung von hier an hin zur Mystik überzeugend dargestellt. Dabei werden die Ergebnisse Dempfs bewußt weitergeführt, gerade auch was das viergliedrige Schema und die doppelte Dialektik anbetrifft. Es wird von zwei »grundwesentlich verschiedenen Substanzen« gesprochen, von Gott und Geschöpf. Erst so wird ja auch das mystische Erlebnis vollziehbar. Görres unterscheidet zwischen einer christlich »ansteigenden«, einer natürlichen und einer dämonisch »absteigenden« Mystik. Er »entfaltet seine Gedanken beide Male ausgehend von der — mittleren — N a t u r . . . von da aus wird dann der Leser stufenweise zum Geist geführt, zum Geist Gottes auf der einen, zum Geist des Bösen auf der anderen Seite. So umfaßt Görres wirklich die Totalität des Christentums, Himmel, Erde und Hölle, die im Mystiker wie in einem Brennpunkt zusammengefaßt und repräsentiert werden.« Görres macht Ernst mit dem, was hier als mittlere Natur verstanden wird: Es ist der Mensch schlechthin, »der Mensch, wie er sich historisch findet, in Mitte aller Naturbezüge«. Das Ordnungsprinzip aller mystischen Phänomene ist ein anthropologisches, und folgerichtig wird der »natürliche Schematismus der menschlichen Persönlichkeit zur Klassifikation und weitgehend auch zur wissenschaftlichen Erklärung aller mystischen Erscheinungen herangezogen werden müssen«. Die Mystik stellt also zunächst nur ein höheres Leben, »eine höhere Potenz des Natürlichen« dar und darf nicht ausschließlich christlich verstanden werden. Die weiteren Zusammenhänge nach Bürke: die Naturmystik wird erklärt aus der »kosmologischen Relation von Innen und Außen, von verborgener Einheit und offenbarer Vielheit und in dem daraus hervorgehenden Parallelismus von Geist und Natur. Der Unterschied von christlicher und dämonischer Mystik dagegen gründet in der hierarchischen Relation von Oben und Unten, die nicht nur eine Vollkommenheitsstufe, sondern eine sittliche Wertordnung des Seins ausspricht«. Hierzu nun noch einige klärende Bestimmungen: Naturmystik kann mit Naturmagie gleichgesetzt werden. Sie ist unbewußt, unfreiwillig, moralisch indifferent; trotz ihrer »schwebenden Temperatur« wird sie aber in das Entscheidungsfeld für oder gegen Gott eingerückt, das mit der Erfahrung der Sünde gegeben ist. Mit ihr eröffnet sich aber zugleich das Reich der christlichen Mystik. Eigentlich schon mit der Bekehrung fängt die Mystik an, eine mählich sich vertiefende »Angestaltung an den Leib des Herrn«. Zahlreiche geistig-seelische, aber auch leibliche Metamorphosen ereignen sich auf diesem Weg: Ekstase, Vision, Stigmatisation. A l l das ist ermöglicht durch den »überhistorischen Ursprung aller Mystik«, durch die Inkarnation und bedeutet zugleich die Restauration des Menschenbildes, die Wiederherstellung der verlorenen Herrschaft des Menschen über die Natur. Es ist aber nun bezeichnend, daß Görres die Höchstform, die einigende Mystik nicht mehr dargestellt hat, obwohl das Werk auf dieses Endziel syste-
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matisch hingeordnet war. Er verweilte bei der absteigenden Mystik, füllte mit der Darstellung der Dämonie allein zwei Bände, ein Material ausbreitend, das wohl sicher bereits während der mythologischen Studien angereichert worden war. Diese Finsterwelt ist das vollendete Gegenbild zur christlichen Mystik. Sie hat ebenfalls ihre Metamorphosen, Letztform ist der Hexensabbat: eine Orgie der Hexen und Zauberer im bereitwillig eingegangenen Bund mit dem Teufel. Görres lehrt: »Wer in die dämonischen Kreise eingeht, erfährt dort eine Transmutation seines ganzen Wesens, durch alle organischen Regionen hindurch . . . auch in der Aura, die den Menschen und jedes einzelne Organ in ihm auf weithin umgibt.« Folgerichtig heißt es später: Es ist der »Antichrist«, der »am Anfang schon gewesen«, welcher »in allem, was durch die ganze Geschichte Antichristliches in Doktrin und Satzung und Lebensäußerung, geschieht, immer wieder aufs Neue geboren« wird. Der Kirche Christi steht die Kirche Satans gegenüber, auch sie mit einer »Hierarchie« und selbst einer »Eucharistie«. Görres ringt hier um ein großes überzeitliches Koordinatensystem, um eine »realistische« Bestimmung des Menschen. In der Entscheidung des Menschen für oder gegen eine der beiden Kirchen wird das gewirkt, was wir Geschichte nennen. Das ist also keine Ideengeschichte mehr im herkömmlichen Sinn, das ist mehr. Und gewiß gehören die schweren Erfahrungen unserer Zeit hinzu, um voll zu begreifen, was Görres mit seiner Geschichtstheologie sagen wollte. Wer die Verirrungen unserer jüngsten Vergangenheit und auch noch der Gegenwart verstehen und darstellen will, sollte erst einmal studieren, was Görres über die Satanskirche und ihre rituellen Formen schreibt. Zum Letzten freilich ist Görres nicht vorgedrungen. Er blieb hier hinter den sehr verwandten Geschichtstheologen de Maistres oder Franz von Baaders zurück. Doch es werden nach den Arbeiten Habels und Bürkes gerade auch die Vergleiche mit den mythologischen Arbeiten Schellings nahegelegt. Erst so ergibt sich der geistige Reichtum des romantischen München. Unter diesem Aspekt müssen aber freilich auch kritische Vorbehalte gegenüber der Mystik Görres' angemeldet werden. Und auch hierin hat Bürke sehr Beachtliches geleistet. Er schreibt: »In den 3000 Seiten der 'Christlichen Mystik' findet sich nirgends eine systematische Untersuchung über die Gnade, über Gebet, Tugendleben, Heiligkeit, Nächsten- und Gottesliebe, Einwohnung des Heiligen Geistes und deren Zusammenhang untereinander und zur Mystik: höchstens verstreute Hinweise. Wegen der Zwiedeutigkeit alles Sichtbaren konnte es ihm auch kaum gelingen, an den äußeren Phänomenen ein Kriterium für die heilige und dämonische Mystik zu finden. Allgemeiner gesagt: die Grenze zwischen Natur und Ubernatur, zwischen Sünde und Gnade kann nicht empirisch gemessen werden. Eine Folge des Ubersehens dieser Grenze war z. B., daß bei Görres die heiligen Sakramente, die naturmagischen Handlungen und die dämonischen >Execramente< gefährlich ineinander übergehen, eben weil sie auf empirisch phänomenaler Ebene in ihrem >Mechanismus< nicht nur große Ähnlichkeit, sondern
Buchbesprechungen prinzipielle Gleichheit aufweisen. Dazu kommt, daß im naturphilosophischen Parallelismus der Seinsstufen der wesentliche, qualitative Unterschied zwischen Natur und Gnade, Dämonie und Heiligkeit zu einem bloß graduellen, quantitativen herabzusinken droht. Görres hat folgerichtig die Mystik als eine Intensivierung und Potenzierung der natürlichen Fähigkeiten und Kräfte aufgefaßt und ihre Definition so allgemein formuliert, daß auch rein natürliche und selbst dämonische Erscheinungen unter ihren Begriff subsumiert werden können.« Bürke läßt sich also nicht mitreißen von seinem Gegenstand. Bei aller Hingabe herrscht eine kritische Orientierung. Der Verfasser kennt auch die neuere Literatur über die Mystik und setzt von hier aus die Akzente. Er kommt bei alledem zu Formulierungen, die den Ideenbau wirklich treffen. Es werden markante Punkte herausgegriffen, sauber bestimmt, nicht einseitig festgelegt, sondern schwebend gehalten und in ihren allseitigen Zusammenhängen gezeigt. Durch kritische Vorbehalte dieser Art kann ja der inneren Größe Görres' kein Abbruch geschehen. Nur die historische Ortsbestimmung wird dadurch treffender und genauer. Man gewahrt die Grenzen des idealistisch-romantischen Zeitalters. Einer geistigen Auflockerung, Umwertung dient bei Bürke zumal auch das größere Kapitel über die katholische Spätromantik. Es wird nachgewiesen, daß der Münchener Görres unter den Einfluß von Männern geriet, die bisher nur als Randfiguren galten: Eschenmayer, Ennemoser, Ringseis und andere. Sie haben gerade in der Spätzeit romantische Aufbauarbeit geleistet und sind noch nicht hinreichend gewürdigt. Bürke hat dabei allerdings auf den Einfluß Baaders zu wenig Rücksicht genommen. Nicht nur, daß die Ebengenannten direkt oder indirekt der Baaderschule nahestanden. Baader selbst richtete an Görres 1826 ein Sendschreiben: 'Uber Segen und Fluch der Kreatur'. Es wird von Bürke erwähnt, aber nicht wie die Schriften der übrigen Romantiker untersucht. Bürke läßt sich hier durch die späteren Zerwürfnisse zwischen Baader und Görres irreführen, die wesentlich durch Görres' Mystik veranlaßt waren. Fest steht allenfalls, daß Görres im Alter trotz mancher Vorbehalte anerkennend über Baader sprach (vgl. Franz von Baader, Sämtliche Werke, Band 15, Leipzig 1857, Seite I V ff.). Das Sendschreiben Baaders zeigt eine viergliedrige Dialektik, hierarchische Stufung zwischen Oben und Unten, sehr ähnlich der später in Görres' Mystik auftauchenden. Wenn auch Unterschiede, Gegensätze deutlich werden, so ist gerade im Anreiz zur Auseinandersetzung im gleichen Stoffgebiet, und in der damit beginnenden Klärung der eigenen Position, ein wenigstens indirekter Einfluß anzunehmen. Die Auseinandersetzungen waren ferner durch das gemeinsame Wirken, die gemeinsamen Freunde, gemeinsamen Ziele gegeben, auch wenn über der Begegnung, wie auch über der mit Schelling, eine unverkennbare Tragik lag. Sailers Einflüsse auf Görres hätten ebenfalls stärkere Berücksichtigung verdient. Vielleicht ist die intensive Beschäftigung Görres' mit Günther durch Sailer angeregt worden. Aber unser Wissen ist hier ohnehin noch sehr lückenhaft. Viele Fragen, die mit der Geis Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 2. Bd.
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schichte der Münchner Romantik zusammenhängen, harren noch der Klärung. Ein Beispiel: Die Dämonologie Görres', seine Auffassung von Sünde und Krankheit, von Umsessenheit und Besessenheit weist zurück auf einen der bedeutsamsten, folgenreichsten Anreger der Münchner Romantik, auf den Exorzisten Gaßner. Von ihm aus gerät man näher an die geistigen Zusammenhänge der Romantik in München. Aber diese Hinweise sind untergeordneter Natur. Die Görresforschung hat mit beiden Büchern einen wesentlichen Fortschritt getan. Wir sind an den »alten Görres« wieder ein Stück näher herangekommen, und das gerade im Hinblick auf neue Forschungsrichtungen unserer Zeit. Die aktuelle Bedeutung des Mythologen und Mystikers hat wesentlich zugenommen. Hans Graßl, München Literatur-Revolution 1910—1925. Dokumente, Manifeste, Programme hrsg. v. Paul Pörtner. Bd. I : Zur Ästhetik und Poetik [>die mainzer reihe, Bd. 13