Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 17. Band (1976) [1 ed.] 9783428441198, 9783428041190

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 17. Band (1976) [1 ed.]
 9783428441198, 9783428041190

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH

NEUE FOLGE / SIEBZEHNTER BAND

1976

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

LITERATÜRWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. HERMANN KUNISCH

NEUE FOLGE / S I E B Z E H N T E R BAND

1976

Das ,Literatur wissenschaftliche Jahrbuch' wird im Auftrage der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Professor Dr. Hermann Kunisch, Nürnberger Straße 63, 8000 München 19. Schriftleitung: Professor Dr. Günter Niggl, Löfftzstraße 1, 8000 München 19. Das ,Literaturwissenschaftliche Jahrbuch' erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind an den Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig in Maschinensdirift einzureichen. Den Verfassern wird ein Merkblatt für die typographische Gestaltung übermittelt. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des ganzen Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Sdiriftleitung erbeten. Eine Gewähr für die Besprechung kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot, Dietrich-Schäfer-Weg 9, 1000 Berlin 41.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH SIEBZEHNTER BAND

Leonardo

da Vinci,

Weiblicher K o p f . Studie.

( V g l . zu S. 198 f.)

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES·GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON H E R M A N N K U N I S C H

NEUE FOLGE / S I E B Z E H N T E R BAND

1976

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Schriftleitung: Günter Niggl

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanlschen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1978 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1978 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany I S B N 3 428 04119 4

INHALT Johannes Broermann zum 17. Oktober 1977

VII

AUFSÄTZE Jörg-Ulrich

Fechner (Bochum), Paul Gerhardts Lied. Tradition und Innovation

Albert Fuss (Würzburg), Racines »Athalie* Winfried

Kreutzer

1 23

(Würzburg), Corneille und das Tragische

41

Ernst E. Metzner (Frankfurt a. M.), »Der leidige Trompeter Till". Unerkannte Steffens-Persiflagen in J. Baggesens ,Vollendetem Faust* und in den literarischen Scherzen* A. W. Schlegels 61 Hanns-]osef Ortheil (Mainz), Idylle und Reflexion. Zur Geschichtlichkeit von Jean Pauls ,Wutz* 83 Bruno Hillebrand

(Mainz), Frühe Nietzsche-Rezeption in Deutschland

99

Franz H. Link (Freiburg i. Br.), Emily Dickinson: Kunst als Sakrament

129

Julie Meyer (München), Madonna-Kore und Mänade. Zeugnisse zum Wandel des Frauenbildes im Werk René Schickeies zwischen 1907 und 1917 191 Ernst Pfeiffer

(Göttingen), Rilke und die Psychoanalyse

247

Klaus Weissenberger (Houston, Texas), Dissonanzen und neugestimmte Saiten. Eine Typologie der Exillyrik 321

K L E I N E BEITRÄGE Walter Pötscher (Wien), Euripides' ,Herakliden c und Ferdinand Raimunds ,Der Bauer als Millionär* 343 Lothar Speer (Köln), Zum „herzog Hainrich" im Epilog des deutschen Rolandsliedes. Untersuchungen zur Entstehungszeit 348 BERICHTE Helmut F. Pfanner (Durham, New Hampshire), Friedrich Sally Grosshut. Nachlaßbericht 357 Robert Ρ'ιώΙ (Wien), Das Werk Ingeborg Bachmanns. Probleme und Aufgaben 373

Inhalt

VI

BUCHBESPRECHUNGEN Martin Kießigy Dichter erzählen ihre Träume. Selbstzeugnisse deutscher Dichter aus zwei Jahrhunderten. (Von Gottfried Diener) 387 Rolf Kloepfer,

Poetik und Linguistik.

(Von Volker Kapp)

389

Ridoard Alewyn, Probleme und Gestalten. Essays. (Von Hermann Kunisch) . . 392 Namen- und Sachregister

401

N A C H W E I S DER ABBILDUNGEN Titelbild: Leonardo da Vinci, Weiblicher Kopf (Studie), Florenz/Uffizien. Wiedergabe nach: Leonardo da Vinci (Hrsg. Istituto Geografico de Agostini), Novara und Berlin (1940). Nach S. 200: Foto des jungen Ehepaares Schickele (etwa 1904). Wiedergabe nach: Friedrich Bentmann (Hrsg.), René Schickele. Leben und Werk in Dokumenten, Nürnberg 1974. Vor S. 201: Ernst Stadler, Otto Flake, Minna Flake (?) um 1910. Originalfoto im Besitz des Flake-Archivs der Stadtbücherei Baden-Baden, auf der Rückseite (Bleistift): „E. Stadler, O. Flake". Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis von Frau Eva Maria Seveno, Baden-Baden. Nach S. 244: Otto Flake, Ferdinand Hardekopf, Anna Schickele, unbekannt, Minna Flake. Originalfoto, vermutlich aufgenommen von René Schickele 1910 im Garten von Meudon bei Paris. Leihgabe im Deutschen Literaturarchiv Marbach a. Neckar. Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis der Herren Professoren Rainer und Hans Schickele, Berkeley/USA. Vor S. 245: Merline, dessin par elle-même 1917. Wiedergabe nach der Reproduktion in: Rainer Maria Rilke et Merline. Correspondance 1920-1926, Zürich 1954.

JOHANNES B R O E R M A N N zum 17. Oktober 1977

Verehrtester Herr und Freund! Erlauben Sie mir diese schöne alte Anrede, wie sie in Briefen des neunzehnten Jahrhunderts zwischen einander nahestehenden Männern begegnet. Sie kennzeichnet auf anmutige und ernste Weise das Verhältnis, das nun schon mehrere Jahrzehnte zwischen uns besteht, seit unser beider Freund, der unvergeßliche Dr. theol. Hermann-Josef Schmitt, uns in den schweren Jahren des Unheils zusammengeführt hat. Was damals das Miteinander bestimmte, war die gleiche Einschätzung des „Zeitgeistes", jenes geheime Einverständnis, das den Grund so vieler menschlicher Beziehungen abseits des öffentlichen Weges bildete. Aus dieser Gesinnungsgemeinschaft erwuchs Ihre Anteilnahme an meiner wissenschaftlichen Arbeit. Sie haben noch während des Krieges meinen ersten „Rilke" verlegt, obwohl er in den Grundansichten der Zeit entgegengesetzt war. Seitdem sind Sie der großzügige, verständnisvolle, geduldige Förderer meiner Bestrebungen geblieben, ja, es immer mehr und freundschaftlicher geworden. Dem ersten „Rilke" folgte der „Stifter", später ein erster Band „Kleiner Schriften" und jüngst der zweite „Rilke". Gerne möchte ich, was sich an Neuem andeutet, zur Verwirklichung wieder Ihnen anvertrauen. Die Begegnung mit Ihnen zähle ich zu den 'Glücksfällen meines Lebens; ich weiß, was ich Ihnen zu danken habe. Zu meinen eigenen Arbeiten haben Sie, nachdem .mehrere andere Versuche gescheitert waren, vor zwei Jahrzehnten noch das „Literaturwissenschaftliche Jahrbuch" übernommen, das der damalige Präsident der Görres-Gesellschaft, Professor Hans Peters, mir anvertraut hatte. Ich erinnere mich genau der ersten Überlegungen mit Hans Peters, als wir beide unmittelbar nach dem Kriege an der Berliner Universität lehrten, und meiner an Sie gerichteten, wieder von Hermann-Josef Schmitt unterstützten, Frage, ob das Jahrbuch in Ihrem Verlag seinen Ort gewinnen könnte. Sie haben es trotz der nicht geringen Zahl bereits bestehender literaturgeschichtlicher Zeitschriften gewagt und das Unternehmen durch manche innere und äußere Schwierigkeiten hindurchgeführt. So sind Sie der „Herr" dieses Jahrbuchs gewor-

Vili den und der „Freund" seines Herausgebers. Wo verbinden sich in unserer, dem Persönlichen und Intimen so abgeneigten Zeit für einen wissenschaftlich und literarisch Tätigen in idem Verhältnis zu seinem Verleger noch einmal diese beiden menschlichen Qualitäten und Haltungen, „Herr und Freund", so schön und ganz wie i n unserem Fall; über das unumgänglich ökonomische hinaus in die Bezirke geistiger Wechselwirkung reichend! So sage ich denn Ihnen in diesem Gruß wort vor einem neuen Band „unseres" Jahrbuchs aufrichtigen und herzlichen Dank. Diesem Dank gesellen sich Wünsche für Sie, für Ihr Werk und alles Ihrige sonst. I n Verehrung grüßt Sie Ihr alter Hermann Kunisch München, im Oktober 1977.

PAUL GERHARDTS L I E D Tradition und Innovation* Von Jörg-Ulrich Fechner Klaus Günther Just zum Gedenken Wer sich zu philologischer Beschäftigung mit geistlicher Lieddichtung anschickt, steht vor einer komplexen und vielschichtigen Schwierigkeit. Da ist einmal der Befund, daß die akademische Literaturbetrachtung seit langem die Gattung und ihr Traditionsgut unbeachtet links liegen gelassen hat oder es als fertig klassifiziert und etikettiert abtut 1 . Ist das vielleicht bereits ein Ausdruck des Vorurteils, geistliche Lieder als Zweckformen und Zwecktexte seien ,unakademisch', also akademischer Beschäftigung nicht würdig? Gerade die Ausrichtung der Literaturwissenschaft in den letzten Jahren auf didaktische und triviale Texte sollte hier eine Neubesinnung auch auf das geistliche Lied bewirken. Bis jetzt aber kann man nur auf einige, allerdings große Ausnahmen unter den Literaturhistorikern der Vergangenheit hinweisen, die die soeben genannte Regel bestätigen: vor allem Philipp Wackernagel, dann Hofmann von Fallersleben und schließlich Rochus Freiherr von Liliencron, alles also Gelehrte des neunzehnten Jahrhunderts. Kennzeichnend für den hier an den Anfang gestellten Befund ist jedoch, so scheint mir, daß keine der heute gängigen und gültigen Interpretationsanthologien Beispiele aus Gerhardts Liedschaffen einschließt. Bedürfen seine Texte der Interpretation etwa nicht? Verlieren oder gewinnen sie durch die interpretatorische Annäherung, die den Text buchstäblich ernst nimmt und ihn zu diesem Zweck allerdings aus der gewohnten Umgebung des Absingens in der kirchlichen Gemeinschaft herauslösen muß? * Vortrag, gehalten auf einer gemeinsamen Tagung der Katholischen Akademie Schwerte und der Evangelischen Akademie Iserlohn, 11./12. September 1976. Aiuis Gründen der Gewohnheit ist hier in Titel und Text an der eingebürgerten, aber falschen Form des Vornamens nicht geändert worden. 1 Nur .spärliche Literaturhinweise finden sich in den Sachartikein jLied4 bzw. geistliches Lied4 im Reallexikon, G. v. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur und RGG», Bd. 3, 1959, Sp. 1460 - 63. Nachdrücklich sei zugleich auf die intensive Neubeschäftigung mit dem evangelischen Kirchengesangbuch hingewiesen, die von theologischer Seite ausgeht. Vgl. das Anm. 24 genannte Handbuch. 1 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 17. Bd.

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Jörg-Ulrich Fechner

Das alles mag etwas mit jener weiteren Schwierigkeit zu tun haben, die den Weg, einen unbefangenen Zugang zu diesen Texten belastet, verstellt und erschwert. I d i meine den Umstand, daß, wenn irgendwo, so hier die von Rudolf Borchardt geprägte Wertkategorie eines „ewigen Vorrats deutscher Poesie" ihre verbindliche Gültigkeit erweist. Wo immer der deutsche Sprachraum hinreichte und hinreicht, sind über die Grenzen von Herkunft, Stand, Bildung, Konfession und auch Ideologie hinaus Texte Paul Gerhardts im Bewußtsein oder doch Unterbewußtsein der Sprecher wie Hörer dieser Sprache gegenwärtig. (Vielleicht erleben wir in diesen Jahren einen Wandel solcher Tradition.) Gerhardts Lieder teilen im Hinblick auf den Bekanntheitsgrad in deutscher Sprache den höchsten Rang mit sehr wenigen anderen Texten: vornehmlich mit der Grimmschen Sammlung der ,Kinder- und Hausmärchen4, dann — aber schon in eingeschränktem Maße — mit Luthers Eindeutschung der Heiligen Schrift und schließlich mit Luthers eigenen Kirchenliedern. Der Fundus dieser Texte, deren Liste sich wohl kaum um anderes Gleichrangiges vermehren ließe, bildet eine Art von Referenzrahmen, ein sekundäres System für alle fiktiven wie nicht-fiktiven Sprech- und Schreibsituationen dieser Sprache. Schon in Fetzen oder Bruchstücken, als die solches Traditionsgut ohnehin fast ausschließlich den Benutzern bekannt ist, ergeben sich Verweise, die so fest im Bewußtsein verankert sind, daß schon aus der Angemessenheit bzw. Unangemessenheit solcher Zitatmontage oder Collage hier eine sinnträchtige Obertonreihe, da ein Umschlag in Parodie, Witz oder gar Zote erfolgt. Exempla sunt odiosa . Erschwerend kommt zu dieser Situation des Rezipienten noch hinzu, daß er fast nie die Texte nach ihrer Original gestalt — sei es aus zeitgenössischen Erst- und Originaldrucken, sei es aus dem einzigen verläßlichen Neudruck, dem nicht zufällig erst in diesem Jahr erschienenen Faksimiledruck 2 — kennt. Nicht ohne Grund fehlt bis heute eine kritische Ausgabe. Der Sprecher der deutschen Sprache bezieht seine Gerhardt-Kenntnis aus Vermittlungsstufen, wie sie Schullesebücher, Anthologien und vor allem natürlich das Kirchengesangbuch bieten. Diese vermittelnden Textträger beeinflussen 2 Paul Gerhardt, Geistliche Andachten [1667]. Samt den übrigen Liedern und lateinischen Gedichten hrsg. v. Friedhelm Kemp . Mit einem Beitrag von Walter Blankenburg und mit den Melodien von Johann Georg Ebeling, Bern u. München, Francke 1976. — Die Ausgabe enthält auch die bisher umfassendste Sekundärbibliographie ztu Gerhardts Leben und Werk. Vgl. (dazu auch Zedier, Jöcher, Erscb u. Gruber, ADB, NDB, RGG, MGG. Für den hier verfolgten Zusammenhang ist beachtenswert: August Ebeling, Wo ist der Originaltext der Paul Gerhardtschen Lieder zu finden? in: Lyons Zeitschrift für den deutschen Unterricht 11 (1897), S. 745 - 783 ; ferner Winfried 2eller, Zur Textüberlieferung der Lieder Paul Gerhardts, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 19, 1975, S. 225-228.

Paul Gerhardts Lied

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die Textfassung, die Textgestalt und besonders die Art der Rezeption. I d i erinnere nur beiläufig an die vielfachen Textrevisionen und Strophenauslassungen, die Gerhardts Liedtexte in allen Anthologien und Gesangbüchern durch die Jahrhunderte erfuhren. (Klopstocks Textänderungen allein verdienten etwa eine eigene Darstellung!) Dazu kommt des weiteren, daß die Texte gewöhnlich nicht als Texte, sondern mit der oft vorgegebenen Melodie rezipiert und tradiert sind. Das war durchaus im Sinne von Paul Gerhardt, der seine Texte als Lieder und nicht als Leseliteratur plante und formte. Eine solche Darlegung des Sachverhalts ergibt zugleich eine alternative Annäherung, der wir uns im folgenden auch bedienen wollen: den Versuch nämlich, Gerhardts Lieder als literarische Texte zu lesen, die sie ja auch, zunächst sogar vornehmlich sind. Als solche Texte gehören auch Gerhardts Lieder in das beständige Verhältnis von Tradition, Rezeption und Innovation, wie es in je besonderer Art in jeder zu definierenden kulturellen und damit auch literarischen Situation besteht. M i t anderen Worten heißt das, Gerhardts Lieder aus einem Bereich zeitloser geistlicher Erbauung zu lösen und Gerhardt als einen Autor seiner Zeit, also des gesamteuropäischen Barock zu lesen und zu verstehen zu trachten. Tradition und Innovation sind in diesem Sinne, um es mit einem geometrischen Bild auszudrücken, die faktoriellen Geraden, die sich in der literarischen Situation des Verfassers schneiden. Ich hoffe, Sie werden mir nicht an dieser Stelle entgegenhalten, Gerhardt geschehe schon dadurch ein Unrecht, daß man es überhaupt wagt, sich ihm so säkular zu nähern! Es würde nicht schwerfallen, aus der Zeit nach Gerhardts Tod Stimmen die Menge anzuführen, die das Werk des Liederdichters einhellig auf den Gebrauchswert geistlicher Erbauung festlegen und unter diesem Gesichtspunkt dem Verfasser Gerhardt als dem Zenith deutscher Beiträger zu dieser inhaltlich-didaktischen Gattung gern und huldigend ihren Tribut zollen. Wie weit das führen kann, kennzeichnet die Fehldeutung, die eine nicht nur ahistorische, sondern gar chronologisch widerlegbare Legende erfand, um ein Lied — kein geringeres als ,Befiehl du deine Wegec — im Sinne der nadi-goetheschen Unmittelbarkeitsforderung als lyrischen Ausdruck eines authentischen Erlebens und Erleidens zu stilisieren 3. Demgegenüber fehlen das Selbstverständnis wie die Intention direkt bekundende Deutungen des Verfassers, ebenso eine literarische Kritik in sei3 »Befiehl du deine Wege* wurde gern so gedeutet, daß es aus Anlaß von Gerhardts Vertreibung aus dem Berliner geistlichen Amt 1667 gedichtet sei, während es bereits 1656 gedruckt wurde, also bevor Gerhardt überhaupt in Berlin als Prediger angestellt war.

l*

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Jörg-Ulrich Fechner

ner Zeit. Immerhin darf man getrost stutzen, wenn man in Jöchers ,Gelehrtenlexikon' von 1750 liest, Gerhardt sei der Verfasser vieler „geistreicher" Lieder. ,Geistreich': das ist ein zentrales Wort aus der gesamteuropäischen barocken Poetik, ein Wort, das anspielt auf den Stilwert des acutus, acumen, der acutezza oder agudeza, jener Formulierung also, die Martin Opitz erstmals und bildhaft überzeugend als den „Wetzstein des Verstandes" eindeutschte. Freilich könnte man hier nodi meinen, daß dem Setzer des Lexikons ein Fehler unterlaufen sei, daß also statt ,geistreich' etwa ,geistlich' richtig zu lesen sei. Doch ein solcher Einwand ließe sich leicht entkräften; derselbe Lexikonartikel verweist auf Erdmann Neumeisters Leipziger Dissertation von 1696 specimen Dissertationis Historico-Criticae De poetis germanicis hujus secali praecipuis', den ersten Versuch, die Ernte deutscher Literatur des siebzehnten Jahrhunderts einzubringen und literaturhistorisch zu erfassen. Da nun Neumeister seine Autoren nach eben jenem Kriterium des acumen auswählt und bewertet, bedeutet der Einschluß Gerhardts in dieser Aufstellung bereits eine Einschätzung dieses Verfassers als eines Barockautors, nicht bloß als eines zeitlos erbaulichen Dichters: Gerhard / (Paul) Poeta vere Christianus, dulcis, perspicuus, cujus Hymni perplures, pii omnes ac infucati neutiquam, Ecclesiae nostrae oppido sunt familiares. Sunt mihi ipsius G e i s t r e i c h e A n d a c h t e n . Nürnb. 8 / 83 4 .

Dem Attribut geistreich' bei Jöcher steht bei Neumeister das qualifizierende Beiwort keineswegs geschminkt' gegenüber. Die zunächst gegensätzlich erscheinenden Attribute erweisen ihre Gemeinsamkeit, wenn man bedenkt, daß sie, ebenso wie die weiteren Bezeichnungen der dulcedo und pcrspicuitas, Stilforderungen und Ideale der rhetorischen Dichtkunst des Barock bilden. Damit ergibt sich in der Rhetorik bereits eine gemeinsame Grundlage 5. Bevor an drei Texteinheiten — einer Strophe, einem Lied und einem einzelnen Wort — diese Gemeinsamkeit überdacht werden soll, ist es jedoch nötig, den heute kaum mehr allgemein bewußten geistesgeschichtlichen Hintergrund kurz raffend anzudeuten. 4 ,Paul Gerhardt, ein wahrhaft christlicher, lieblicher, deutlicher Autor, dessen sehr viele, insgesamt fromme und keineswegs geschminkte Lieder in der Gemeinschaft unserer Kirche wohlbekannt sind. Ich besitze seine Geistreichen Andachten. Nürnberg 1683. 8 ° / Specimen Dissertationis Historico-Criticae De Poëtis Germanicis hujus se culi praecipuis. In Academia quadam celeberrima publice ventilatum a M.[agistro] E.[rdmanno] N . [eumeistero]. Récusa Wittenbergae, Anno M D C C V I I I . Literis Johannis Michaelis Goderitsdiii. S. 38. (Benütztes Exemplar: Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek, Signatur: Ln 344. Ebendort (Signatur: Ln 343) ein weiteres, textidentisches Exemplar mit anderem Titelblattaufbau, etwa ohne Orts- und Druckerangabe, Anno 1706.) 5 Vgl. zu den im Zitat verwendeten Termini technici Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960.

Paul Gerhardts Lied

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Die barocke Welt steht noch in einem geordneten Zusammenhang. I m Rückblick auf die göttlich eingerichtete Schöpfung und die Behandlung der Wirklichkeit nach der Technik des vierfältigen Schriftsinns haben Sachen wie Wörter ihren festen Ort und sind durch Verweisungen aneinander gebunden. Ohne sich dieses Bezugssystems bewußt zu sein, verengt ein heutiger Interessent die barocken Kulturwerke auf die bloße Aussage ihrer Oberfläche. Kennzeichnend ist für die damalige Epoche etwa das Emblem, das eine Sentenz, das Motto oder Lemma, an einem konkreten Objekt in der Pictura verbildlicht und das Ganze in einer beigegebenen Subscriptio in eine andere Richtung allegorisch oder didaktisch ausdeutet und überträgt. Das ist auch der Gebrauch beim Umgang mit kirchlichen Texten, also auch mit dem Kirchenlied. Nachdem Luther das geistliche Lied erfolgreich und polemisch eingesetzt hatte, um die junge Gemeinde zusammenzubinden, erlebte das siebzehnte Jahrhundert für beide Konfessionen eine Blütezeit des Kirchenliedschaffens. Dem entspricht innerhalb des Akademismus der Zeit eine gleichstarke Ausformung der Theorie und der normativen Poetik für diese Textgattung. Hymnologie als Sonderfeld theologischer Beschäftigung erhielt damals einen seither nicht wiederholten Aufschwung. Der Rang des geistlichen Liedes, dessen Alter und Würde mit Stellen des Alten Testaments verbürgt ist, erhält eine Gleichstellung mit den kanonischen Texten selbst. So wie bei diesen gilt es vor allem, den reinen, unverfälschten Text der Lehre zu vermitteln, um Mißdeutungen, Häresien, vorzubeugen. Dahinter steht einerseits das Problem der Orthodoxie im konfessionellen wie sektiererischen Streit, zum anderen aber auch das Bewußtsein, daß gerade die Beliebtheit des geistlichen Liedgutes zu einem Zersingen des reinen Liedtextes führen kann. Angesichts der postulierten Gleichwertigkeit mit den kanonischen Bibeltexten bildet sich bereits vor Mitte des siebzehnten Jahrhunderts die Sonderform der „Liedpredigt" 6 heraus, jene Predigten über Lieder und Liedertexte, wie sie noch im Umkreis des Grafen Zinzendorf ihren Höhepunkt erleben werden. Das Phänomen aber besagt auch, daß die Technik der Predigtverfertigung gleichermaßen für das Dichten von Kirchenliedern gilt 7 . In Bezug auf Paul Ger6 Zur Sonderform der ,Liedpredigt' fehlen m. W. einschlägige Untersuchungen bisher überhaupt. — Olearius (vgl. Anm. 11 u. 12) verweist in diesem Zusammenhang auf das mir unzugängliche Werk: Johann Benedict Carpzow, Lehr- und Lieder-Predigten, Leipzig 1689. 12mo. 7 Zur Predigt im Barock vgl. noch immer die nützliche Arbeit (von katholischer Seite) P. Maximilian Neumayr O. M. Cap., Die Schriftpredigt im Barock, Paderborn 1938. Von evangelischer Seite vgl. die einflußreichen Arbeiten des Johann Moller, etwa: Formulae Concionatoriae, In Concionibus conscribendis & habendis utiles & necessariae, quibus inspersae sunt observationes plurimae hue facientes, In gratiam tyromim studii Concionatori! collectae & conscriptae à Johanne Mollero

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Jörg-Ulrich Fener

hardt etwa läßt sich bemerken, daß die explizite rhetorische Gliederung seiner erhaltenen Leichenpredigten strukturell im Aufbau seiner geistlichen Lieder wiederkehrt. Johann Moller 8 , ein preußischer Pastor, ist gleichermaßen die evangelische Autorität für Predigt wie Kirchenlied. Wir wollen ihn, dessen Werke seit den vierziger Jahren in wiederholten Auflagen erschienen, für die Deutung der Schaffenssituation Gerhardts heranziehen. Schon 1653 erscheint seine Loci-communes-Sammlung der Kirchenlieder seit Luther, die die Lieder wie auch deren einzelne Verse anthologisch nach den Glaubensstücken verzeichnet 9. Dies geschieht, um mit Mund oder Feder, also in Predigten oder Druckwerken, die reine Lehre anhand der geistlichen Lieder darzustellen. Ihren Wert bekräftigt schon die Vorrede: „Ut enim cantiones ha pits nota, summaque cum pietate conjunct a sunt: ita citata mirum quantum ad movenda Auditorum corda valent , teste ipsa ex perientia" 1*.

Lieddichtung ist also zugestandenermaßen eine zweckhafte, ist didaktische Dichtung. Ihre Wirkung auf den oder die Zuhörer ist eine rhetorische; es ist darum nur folgerichtig, daß man sich hierfür der Möglichkeiten des ausgefeilten rhetorischen Systems bedient. Andacht, Erbauung und Erquickung: das alles scheint dem Bereich des delectare gegenüber dem des prodesse in Horazens bekannter Formel aus der ,Epistula ad Pisones* anzugehören. Doch, wie schon Quintilian im Blick auf diese Stelle an mehreren Punkten seiner Jnstitutiones Oratoriae c betont, ist gerade die delectatio ein affektbezogenes Ziel, das sich allein mit der Kunst des Redners erreichen läßt. Das vorgegebene Thema, so fährt Moller an der genannten Stelle fort, wird genannt und dann rhetorisch durchgeführt. Dazu dienen die formulae amplificationis seu, movendorum affectuum, also die Redeformeln der Erweiterung oder der zu bewegenden Affekte. Dabei unterscheidet Moller des weiteren drei Hauptgruppen: Leor. Siles. Ecclesiae, quae est Dirschaviae in Borussia, Evangelicae Concionatore. Editio Tertia, priore multò au c ti or & locupletior. Jenae, formis Georgi Sengenwaldii, Impensis Hered. Petri Hendelii Bibliop. Regiomontani. Anno M. DC. L U I . (Benütztes Exemplar: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Signatur: P. 1482 Heimst. 8°. (3).) 8 Zu Johann Moller (oder Möller), gest. 1651 im Alter von vierzig Jahren, vgl. Zedier, Bd. 21, 1739, Sp. 782 und Jöcher, Bd. 3, 1751, Sp. 572 f.; weitere Titel von ihm im N U C , s. v. Möller, Joh. • Loci Communes Cantionum Ecclesiasticarum à Β. Luthero, aliisque viris orthodoxis compositarum & in Ecclesia Evangelico Lutherana cani solitarum, collecto à Johanne M oller ο [ . . . ] . Jenae, Typis Georgi! Sengenwaldi, Apud Heredes Petri Händeiii Bibliop. Anno M D C L I I I . (Benütztes Exemplar: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Signatur: P. 1482 Heimst. 8°. (4).) 10 Ebd., Bl. A 2 V . — „In dem Maße, wie nämlich diese Lieder den Frommen bekannt und audi mit höchster Erbaulichkeit verbunden sind, dienen selbige in außerordentlicher Weise sehr zur Bewegung der Herzen der Zuhörer, nach Zeugnis der eigenen Erfahrung."

Paul Gerhardts Lied 1) formulae

applicationis

2) formulae

in usu hortatorio,

3) formulae

per figuras

7

doctrinae, rhetoricas .

Sie alle werden sich bei Gerhardt als bewußt eingesetzte M i t t e l wiederfinden. Dasselbe B i l d bestätigt sich, wenn man es v o n der Zeit nach Gerhardts T o d her betrachtet. 1702 veröffentlichte der Arnstädter Prediger u n d Bibliothekar, Magister Johann Christophorus Olearius 1 1 , einen }Kurtzen Entwurff einer nützlichen Lieder-Bibliotbeck, darinnen von Geistlichen Liedern insgemein' (.. J 1 2 . I m angeschlossenen zweiten T e i l druckt Olearius einige seiner Liedpredigten u n d versieht sie m i t den rhetorischen Schemata. Das L i e d bedarf danach einer praefatio, die eine allgemeine Vorrede, das Thema, enthält, „welche i n sich begreiffet praecognoscenda". D a r a u f folgen partes accessoria , „Stücke/ die n u r zufällig dem Liede angehängt sind", dann partes principalia, „ d i e Haupt-Stücke des Liedes an sich selbst", dann partes eucharisticae, die die „Erhebungen eines danckbaren Gemüthes" einschließen. D a z u gehört die Bezugnahme auf formalia, d. i. Worte, u n d materialia, d. i. Stücke, Taten, Dinge, beide zu Ehren Gottes. D e n Abschluß bilden die confirmatio hu jus articuli oder die paraenesis, „eine Lehre oder Vermah" Zu Olearius vgl. Zedier, Bd. 25, 1740, Sp. 1176-1134 mit ausführlichem Titelverzeichnis seiner Arbeiten. Seine Hymnologia passionalis oder Homiletische Lieder-Remarquen über folgende 6 Paßions-Lieder [ . . . ] . Arnstadt 1709, 8°, enthält S. 109 ff. zu „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld" einen längeren Abschnitt über Paul Gerhardt. — Das Werk war mir z. Z. nicht zugänglich. 12 Kurtzer Entwurff einer nützlichen Lieder-Bibliotheck/ darinne Von Geistlichen Liedern insge-mein/ audi insonderheit von denen Autoribus, welche dergleichen verfertiget/ erklä-ret/ oder sonsten davon etwa angemercket/ Zu Probe eines weitläufigen Wercks/ gehandelt und zugleich allerhand gute Anmerkungen beygefüget hat M. Joh. Christoph. Olearius, Prediger und Bibl. in Arnstadt. Jena/ verlegts Joh. Bielcke. Arnstadt/ Druckts Nie. Bachmann. Anno 1702. — Mir stand nur ein unvollständiges Exemplar zur Verfügung (Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: Signatur: Ti 357). Innerhalb des Kanons der namentlich bekannten Kirchenlieddichter lautet S. 45 bei Olearius der Abschnitt über Paul Gerhardt: „Gerhard, Paul, war erstlich Probst zu Mittenwalde/ hernach Diaconus zu S. Nie. in Berlin. Weil er aber einige Religions-Sachen betreffende Edicta nicht annehmen wolte/ wiurde er A. C. 1666. removiret. Worauff er nach Lubben in die Niederlausitz kam/ und daselbst Diac. wurde/ allwo er als Past. Primär. 1676. d. 27. Maj. gestorben set. 70. Zu Nürnberg sind seine Lieder 1683. zusammen heraus kommen/ wie auch 1700. zu Eißleben. Conf. Adami Delie. Bibl. 1693. p. 664. Neumeist. 1. c. p. 38." Die neben Neumeister angegebene Verweisstelle bezieht sich auf das mir unzugängliche Werk: Deliciae biblicae oder Biblische Ergetzligkeiten, worinnen alle curieuse merck- und denckwürdige, zweiffelhaffte Oerter, Sprüche und Fragen, nach der Richt-Schnur göttliches Worts, aus bewährten Theologis erörtert [ . . . ] werden von Misandern [d.i. Johamn Samuel Adami]. [Dreßden & Leipzig:] Mieth 1690 -1697.

Jörg-Ulrich Fechner

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nung/ darinnen die Übung dieses Articuls enthalten ist". Dieser wichtige paränetische oder lehrhafte Zielpunkt der partes didacticae ist wieder in mehreren Alternativen verwendbar: 1) die deploratio oder „Leid-Thränen", 2) imploratoria oder „Hilfsthränen" und 3) encomium oder „Lobspruch". Oder auch griechisch ist dieses triadische Schema gegeben: Προσφώνησιν geschieht der Anspruch an den, der Tugenden üben, Laster vermeiden soll; Έκφώνησιν erfolgt eine Erzählung der notwendigen Stücke: Δοζολογίαν schließt eine Lobrede ab. M i t dem rhetorischen wird zugleich der Kunstcharakter betont: „Hiernechst wird ein jeder selbst es also befinden / daß Lieder gesungen werden von allerhand Arten; denn etliche sind so beschaffen /' daß sie sich gar nicht nach Poetischer Kunst reimen / sondern wie ein Psalm Davids / oder Maria Magnificat gleichweg zu singen seyn; Etliche sind zwar also eingerichtet / daß sie sich reimen sollen / haben aber ihre Mängel / wenn sie in ihrer vormahligen / alten und einfältigen Reim-Art / nach denen accuraten Reguln der heutigen hochgestiegenen Poesie untersuchet werden; Etliche aber sind auch sehr zierlich / nachdrücklich / ungezwungen / ja recht Kunst- und Geistreich eingerichtet. Vid. Dn. W. Ε. Τ e n z e 1 Monatl. Unterred. A. C. 1693, p. 790. & Clar. W e i s , in seinen Cur. Gedancken von teutschen Versen. Wiewohl ein andächtiger und verständiger Christe des Athanasii Worte bedencken muß / da er in Epist. ad Marceil. und auch Bernhard, in Epist. 312. schreibet: Hymnum composui metri negligens, ut sensui non deessem y i. e. man solle mehr auf den Innhalt / als Kunst / bey einem erbaulichen Liede sehen"13. Gerhardt, so dürfen wir vorwegnehmen, gehört zu dieser letzteren Gruppe, auch wenn er, wahrscheinlich durch die Provinzialität seiner Wirkungsstätten bedingt, kein Mitglied eines der damals blühenden poetischen Dichterorden war. Obwohl auch bei ihm der Liedinhalt gegenüber der Kunst vorrangig ist, hat sein Liedschaffen die Qualitäten, die die vorgenannten metrischen und allgemein dichterischen Attribute bezeichnen. Das erweist am besten eine Betrachtung der Gerhardtschen Strophen. Auch Kirchenlieder sind strophische Lieder. Neben die alte Bauform dreiteiliger Strophen aus zwei Stollen und einem Abgesang tritt seit Beginn des siebzehnten Jahrhunderts die neue französische Strophenform des Hugenottenspalters, wie er sich unter Théodore de Bèze und dem noch bei Goethe erinnerten Komponisten Charles Goudimel herausgebildet hatte und wie ihn Paulus Melissus Schede und erfolgreicher Ambrosius Lobwasser ausgangs des sechzehnten Jahrhunderts für liturgische Zwecke eingedeutscht hatte. Gerhardt schließt sich dem vorhandenen Vorrat an Kirchenliedmelodien gern an. Das beeinflußt seine Strophe. I m Gegensatz zu sei13 ]Ebd., S. 5 f,

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nen Vorgängern ist Gerhardt als Versifex jedoch auf der Höhe der Zeit. Auch wenn er mit gelegentlichen Silbenkontraktionen oder dem Füllsel eines unbetonten ,e' hinter Anweisungen von Opitzens ,Poeterei' zurückfällt, Opitzens Reformidee einer alternativen Versbetonung und Buchners, Gerhardts Wittenberger Lehrers, ,Poetik', die zu Opitzens nur zweisilbigen Versfüßen (Jambus und Trochäus) die dreisilbigen des Daktylus und des Anapäst hinzugewonnen hatte, sind Gerhardts handwerkliches Rüstzeug. So erzielt er die Geschmeidigkeit seiner metrischen Sprache, die sich der vorgegebenen Strophenform einfügt und nun durch die kontrollierte Behandlung der Akzente wirksam Hebung und Senkung mit dem Inhalt und lehrhaften Ziel vereint. Einige seiner Lieder aber wagen die freie Strophenfindung, plurimetrische Zeilenanordnungen, die an den anderen Großen unter den geistlich-weltlichen Dichtern des deutschen Barock erinnern und vielleicht auch bewußt anknüpfen: Andreas Gryphius. Gerhardt fügt mit Vorliebe in dieser Liedergruppe vier- und achtsilbige Verse aneinander, spielt mit dem Wechsel des Reimgeschlechts und läßt Jamben und Trochäen gegeneinanderlaufen. Nur eins vermeidet er mit sicherem Instinkt: den am wenigsten sangbaren Vers, der zugleich in der Zeit den Modevers par excellence abgibt, den Alexandriner. Ein Beispiel mag dies veranschaulichen. Die erste Strophe von Gerhardts Lied über den siebten Vers von Psalm 37 lautet: Gib didi zufrieden und sei stille In dem Gotte deines Lebens; In ihm ruht aller Freuden Fülle, Ohn ihn mühst du dich vergebens. Er ist dein Quell Und deine Sonne, Scheint täglich hell Zu deiner Wonne. Gib dich zufrieden! 14

Vergegenwärtigt man sich einmal das dürre metrische Schema, so entsteht die Aufbauform: 9 jambisch a weiblich 8 trochäisch b weiblich 9 jambisch a weiblich

14 Alle Texte Gerhardts sind nach folgender, leicht zugänglicher Ausgabe zitiert: Paul Gerhardt, Dichtungen und Schriften. Hrsg. u. krit. durchgesehen v. Eberhard von Cranach-Sichart. Zug, Verlag der Obelisk (München: Verlag Paul Müller), 1957; hier S. 273.

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10 8 4 5 4 5 5

trochäisch b weiblich jambisch c männlich jambisch d weiblich jambisch c männlich jambisch d weiblich jambisch e weiblich (Waise und Refrain).

Ähnliche, wenngleich abgewandelte plurimetrische Strophengebilde eigener Prägung zeigen Gerhardts ,Fröhlich soll mein Herze springen' 16 , ,Auf, auf, mein Herz, mit Freuden* 16, das einzigartige Lied ,Die giildne Sonne'17, ,Der Tag mit seinem Lichte' 18 , ,Was trotzest du, stolzer Tyrann' 1 9 und schließlich ,Nicht so traurig, nicht so sehr' 20 . Eine Einschätzung Gerhardts als Verstechniker und Metriker müßte sich besonders diesen Eigenschöpfungen zuwenden. Doch schon bei dem hier versuchten knappen Überblick zeigt sich, daß Gerhardts eigener Ort in Bezug auf die verstechnische Leistung im Schnittpunkt von Tradition und Innovation liegt. Gerhardts Liedschaffen gehört in einen zeitgeschichtlich kulturellen Rahmen. Vor Opitz hatten Kirchenlieddichter keine weltlichen Lieder, vor allem aber keine Liebesgedichte, verfaßt. Paul Gerhardt ist geistlicher wie weltlicher Dichter; allerdings sind auch die weltlichen Gelegenheiten und Ereignisse stets im Blick auf eine an ihnen ablesbare geistliche und erbauliche Lehre behandelt. Das gilt für die mehrfachen Kometenlieder, in deren Naturphänomenen nicht volkstümliche Astrologie im Sinne der Zeit betrieben wird, sondern in denen Gerhardts objektives Weltbild direkte Zeichen und Winke Gottes verspürt. So ist es mit der umfänglichen Gruppe von Leichengedichten, die den individuellen Anlaß in Familie, Freundesoder Bekanntenkreis aufgreifen, um eine nachvollziehbare Lehre für das eigene Leben und Sterben zu entwickeln. Ebenso lehrhaft ist die Schlußfolgerung sogar in dem ,un-gerhardtschesten' Lied, der Ode ,Weltskribenten und Poeten' 21 , in der Cato, Plato, Homer und Vergil namentlich aufgeführt werden, um über alle die Bibel zu stellen, die allein in „Unglück, Kreuz und Übel" Rat, Trost und Beistand zu geben vermag. Weltliche Literatur wird hier in die Schranken gewiesen, sie hat ihren „Glanz und Schein" nur dann, „wenn wir leben außer Nöten". Immerhin, sie ist nicht 15 a.a.O., a.a.O., 17 a.a.O., « a.a.O., ι» a.a.O., 20 a.a.O., 21 a.a.O.,

S. S. S. S. S. S. S.

13 ff. 76 ff. 111 ff. 116 ff. 197 ff. 202 ff. 163 f.

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nur vorhanden, sondern audi dem geistlichen Lieddichter bewußt, der an dieser Stelle einmal wenigstens seine Zugehörigkeit zum Zeittypus des poeta doctus topisch eingesteht, zugleich aber aus dem Kontrast eine Aussage des Selbstverständnisses und der durchlaufenden erbaulich didaktischen Intention entwickelt. Hauptthema aber sind ganz ohne Zweifel die biblischen Stoffe und Motive, die in komplexester Weise ineinander verschränkt werden. Die Schrift deutet sich durch die Schrift, heißt der hier zugrunde liegende, paränetische Lehrsatz. Was nach außen als Flick- und Mosaikwerk erscheinen mag, entspringt so einer tiefen Notwendigkeit. Psalmen- oder Prophetenstellen mit solchen aus dem Neuen Testament zu kombinieren, das Ganze in den Ablauf des Kirchenjahres einzugliedern, ist hier wesentliche Form wie „geistreiches" Strukturprinzip. Gerhardts Lieder sind in der letztverbindlichen Sammlung in zwölfmal zehn Liedereinheiten angeordnet. Dahinter steht zweifellos eine auch sonst bei Gerhardt spürbare, christliche Zahlenmystik, die hier die Jüngerzahl mit der Zahl der Gebote verbindet. Eine solche Anordnung schafft bereits Korrespondenzen zwischen den Liedern jeder Gruppe einerseits wie andererseits zwischen Liedern gleicher Position in verschiedenen Gruppen. Moderne Ausgaben, die die Lieder inhaltlich über die Kapitel des Kirchenjahres und der Erbauung verstreuen, zerstören diese Binnenreihen von zusätzlichen Bedeutungsebenen. Die Texte der Lieder sind von Ausgabe zu Ausgabe überarbeitet, verändert und vermehrt, dokumentieren also eine Absicht, sie der idealen Formung möglichst anzunähern. Nichts könnte ferner liegen als eine Deutung, die die Texte aus der Unmittelbarkeit eines einmaligen Erlebens verstehen wollte. Sodann sind viele Lieder auf vorgegebene Melodien von Kirchenliedern — teils mit ursprünglich weltlichen Vorlagen — verfaßt. Auch diese Verfahrensweise schafft einen Verweisrahmen, der mitbedacht sein will. Wie klingt ein Passionslied auf die Melodie eines Weihnachtsliedes? Die mit diesen Fragen verbundene Bedeutungsebene verlangt nach Antworten, die m. W. bisher an keiner Stelle erschöpfend behandelt wurden. Freilich tritt auch hier ein philologisches Problem ins Spiel, solange es weiterhin an einer kritischen Gerhardt-Ausgabe fehlt. Seine Lieder sind häufig genug in späterer Zeit neu vertont und mit diesen Vertonungen tradiert worden. Findet man in Gerhardt-Ausgaben heute Hinweise auf das ältere Kirchenlied und seine Melodie, so muß man erst umständlich mit den Nachschlagewerken von Fischer-Tümpel und Wackernagel das modellhafte alte Kirchenlied identifizieren, bevor ein solcher Vergleich möglich wird.

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Statt hier nun eine solche Kontrafaktur vorzustellen, beziehe ich mich für den folgenden Abschnitt auf ein neues, eigenständiges Lied Gerhardts. ,Ο Welt, sieh hier dein Leben' 22 wird als ein Passionslied aufgeführt, das seit 1648 in der .Praxis pietatis melica c gedruckt vorliegt. Paul Gerhardt ist überhaupt ein Lieddichter, für den die Passion in der Mitte seines Textsdiaffens steht, gefolgt von dem Weihnachtsthema und dann der sich auf das ganze Kirchenjahr erstreckenden Erbauung. Hier also ein Passionslied» wie es schon in Ebelings Ausgabe von 1666/67 bezeichnet wird. Das Lied verweist auf keinen Bibeltext, entbehrt überhaupt eines Untertitels. Dennoch ist es vielfältig mit der Bibel verknüpft. Gegenüber dem vorher genannten Schema der rhetorischen Liedbehandlung fällt auf, wie hier fast das ganze Lied auf den Formen der admonitio und exhortatio aufgebaut ist. In regelmäßigem Wechsel verlagert der Liedtext den Blickpunkt vom Du Christi auf das Ich des zur Identifikation aufgeforderten singenden Einzelnen. Nur im Eingang umgreift die sprachliche Gebärde den Anspruch an die ganze Welt. Neben dieser Einteilung nach perspektivischen Binneneinheiten der Du-Ich-Polarität, die in Strophe 15 zur Identifikation gebracht werden, steht die große Dichotomie, die das Lied in zwei wechselseitig aufeinander bezogene Hälften aufspaltet. Strophe 1 - 8 enthalten die ausgeführte (per amplifie ationem) theologische Begründung des gekreuzigten Heilandes in seiner Wirkung für den einzelnen Gläubigen, Strophe 9 - 1 6 die ethische Begründung für die daraus resultierende Forderung der Nachfolge. Kein anderes evangelisches Passionslied fordert so eindringlich nach der ethischen Motivation für eine Nachfolge. Dieser Dichotomie entspricht als Quellbereich die zentrale Bibelstelle, an der sich das Lied orientiert: 1. Petrus 2, 21-25. Es lohnt, den Bibeltext vergleichend heranzuziehen. Dabei nutzt Gerhardt die verbindliche Predigerbibel seiner Zeit, die sogenannte ,Kurfürstenbibel', die, zur Jahrhundertwiederkehr von Luthers Bibelübersetzung erstmals 1640 erschienen und mit den Kupfern aller sächsischen Kurfürsten seit Friedrich dem Weisen geziert, für ein gutes Jahrhundert das evangelische Predigt- und Lehramt entscheidend beeinflußte. Die beiden sächsischen theologischen Fakultäten waren aufgefordert, die Lutherübersetzung dem neuen Predigtnutz anhand der theologischen Fortschritte zu ergänzen; die Stelle lautet dort so: 22 a.a.O., S. 33 f. — Erst nach Abschluß der Arbeit nahm idi die auf dieses Lied bezogene, jüngere Debatte zur Kenntnis: Waldtraut Ingeborg Sauer-Geppert, Eine Vorlage zu Paul Gerhardts ,Ο Welt, sieh hier dein Leben', in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 15, 1970, S. 153- 159; Lisbet Juul-Nicolaisen, Welche Vorlage hat Paul Gerhardt für sein Lied ,Ο Welt, sieh hier dein Leben' benutzt?, in: ebd. 16, 1972, S. 235-239; W. I. Sauer-Geppert, Noch einmal: Zur Quellenfrage von Paul Gerhardt ,Ο Welt, sieh hier dein Leben', in: ebd. 16, 1972, S. 239-241.

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21. Denn darzu seyd ihr beruffen, (daß ihr Gutes thun und dodi darbey leiden sollet,) Sintemal auch Christus (unser aller HErr und Haupt) gelidten hat für uns, und uns ein Fürbilde (eine Fürschrifft) gelassen, daß ihr sollet nachfolgen seinen Fußstapffen (seiner Gedult, Sanfftmuth und andern Tugenden, welche er in seinem Leiden, uns zum Exempel der Nachfolge erwiesen hat.) 22. Welcher keine Sünde gethan hat, ist auch kein Betrug in seinem Munde erfunden, (weither niemals weder mit Worten, nodi mit Wercken, noch mit Gedancken gesündiget.) 23. Welcher nicht wieder schalt, da er gescholten (mit Worten verlästert) ward, nicht dräuet, da er liedt, (Schläge, Geissein, und den Tod des Creutzes,) Er stellete es aber dem heim, der da recht richtet, (Er befahl die Radie GOtt seinem himmlischen Vater.) 24. Welcher (nemlidi Christus) unsere Sünde (wie auch icLie Straffe der Sünden) selbst geopffert (als eine grosse schwere Last getragen) hat, an seinem Leibe auf dem Holtz, (des Creutzes, er hat seinen Leib zum Opffer für die Sünde aufs Holtz des Creutzes geleget,) auf das wir der Sünde abgestorben, (von ihrem Joch und Herrschafft erlöset,) der Gerechtigkeit leben, (ein Gottseeliges, gerechtes Leben forthin führen,) durch welches (Blutrünstige) Wunden ihr seyd heil worden (denn Christus ist nicht allein darum am Creutz gestorben, daß er für unsere Sünde büssete und bezahlete, sondern daß er auch die Sünde in uns tödtete, und wir der Wercke der Gerechtigkeit forthin uns befleissigten.) 25. Denn ihr wäret (weiland) wie die irrende Schaafe, (ihr wäret von GOtt durch die Sünde büssete und bezahlete, sondern daß er auch die Sünde in uns tödtete, den) zu dem (Seelen-)Hirten (Christo, der euch verlohrne Schääflein gesucht und gefunden, Luc. 15. v. 4. auch in diesem Leben auf die grüne Wey de des Worts führet, und dermaleins das Leben und volle Gnüge geben wird, Joh. 10. v. 10) und Bischoffe eurer Seelen, (der auf eure Seelen ein wachendes Auge und fleissige Aufsicht hat.)(!:*) (*) ihr aber hingegen ihm, da er so gar für euch den Tod gelitten, als einem treuen Hirten, in allem desto williger folgen sollet 23 . Die Textstelle „sintemal auch Christus gelitten hat für uns" entpuppt sich als Thema der ersten Liedhälfte, die Folge „ u n d uns ein V o r b i l d gelassen, daß i h r sollt nachfolgen seinen Fußtapfen" ist Thema der zweiten H ä l f t e von Gerhardts Lied. D i e weiteren Verse der Bibelstelle sind Exempel u n d werden als solche v o n Gerhardt i n beiden Liedhälften nach dem Schema der amplificatio ausgebaut. Zudem ist jedes K a p i t e l i n der Kurfürstenbibel m i t einem mehrfachen „ N u t z e n " ausgezeichnet, der das Z i e l der Predigt verbindlich anzeigt. W e n wundert es, daß der dort ausgedruckte „ N u t z " m i t dem des gerhardtschen Liedes identisch ist: der ethischen Nachfolge v o n Christi Leiden u n d Sterben? R u d o l f Köhler, dessen bewundernswerte Arbeit über die biblischen Quellen der L i e d e r 2 4 ich hier m i t großem N u t z e n verglichen habe, unterscheidet 23 Kurfürstenbibel, Neues Testament, S. 378. 24 Rudolf Köhler, Die biblischen Quellen der Lieder, Göttingen 1965, S. 130 bis 133. ( = Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch. Hrsg. v. Christhard Mahrenholz u. Oskar Söhngen unter Mitarbeit v. Otto Schlteßke. Bd. I, Zweiter

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zwischen einer „biblischen Mitte" des jeweiligen Kirchenliedes — hier der zitierten Versfolge aus dem 1. Petrusbrief —, sodann der biblischen Hauptassoziationen und ferner den biblischen Nebenassoziationen. In seinen Angaben trifft er sich für knapp die Hälfte der Belege mit den in der Kur fürstenbibel marginal notierten Korrespondenzstellen. Seine als neu in der Theologie sich verstehende Motiv- und Toposforschung zum Kirchenlied geht nur vom Text der heute gültigen Bibeltextfassung aus und übersieht daher die historischen Hilfsmittel philologischer Bibelexegese, die mit den behandelten Kirchenliedern gleichzeitig ist. Die so bei allem theologischen Scharfsinn ausgeklammerte philologische Annäherung ermöglicht, scheint mir, erst den angemessenen Zugang zu der Leistung auch eines Lieddichters vom Rang Paul Gerhardts, dessen Lieder dann eben nicht nur Kirchentexte gleicher Wertigkeit mit anderen zu kommentierenden kanonischen Texten werden, sondern zugleich ihr Recht als historische Texte mit eigener Tradition und Innovation behalten. Ich meine, daß man sie dadurch nicht schlechter, sondern erst recht verstehen lernt. Zur Begründung für diese Auffassung füge ich an, daß nur aus dieser Betrachtungsweise heraus eine Verständigungsmöglichkeit entsteht, die der Intention des Verfassers — und das heißt auch dem ursprünglichen Zeitbezug — nahekommt. Schon vorhin habe ich erwähnt, daß seit Ebelings Ausgabe von 1666/67 dieses Lied unter den Passionsliedern aufgeführt ist. Ist das sein rechter Ort? Damals wie heute bildet der von Gerhardt ausgeführte Bibeltext die Epistellesung am Zweiten Sonntag nach Ostern, dem Sonntag Misericordias Domini. Schon das sollte den Deuter in dieser Hinsicht stutzig machen. In der Tat bildet das Lied ja eine Ausdeutung des Sonntagsthemas, das schon der Sonntagsname im Kirchenjahr bezeichnet: misericordias Domini. Zu dieser Verwurzelung im Kirchenjahr kommt des weiteren eine Beziehung zu dem Predigttext desselben Sonntags. Es ist Johannes 10, 1 2 - 1 6 : das Gleichnis vom guten Hirten. Erst wenn man über den Text der gerhardtschen Lieder hinaus Verweise dieser Art berücksichtigt, erhält man die Möglichkeit, ihren ursprünglichen Bedeutungsrahmen wieder sprechend werden zu lassen. I n der Verwendung dieser Verfahrensweise bestätigt sich erneut der hier gewählte Ansatz, Paul Gerhardt in seiner Eigenleistung aus der Verschränkung der Faktoren von Tradition und Innovation in der geistigen Situation seiner, der barocken Zeit wiedererstehen zu lassen und ihn dadurch zu verstehen. Das geht auch auf anderem Wege, nämlich durch den Vergleich. Das deutsche siebzehnte Jahrhundert kennt viele Dichter, die sich den SonnTeil.) Schön das siebzehnte Jahrhundert besaß eine Konkordanz der Gesangbuchlieder, vgl. das mir unzugängliche Werk: Serpilius, Lieder-Concordanz. 1696. 4°. Es wird von Olearius (vgl. Anmm. 11 u. 12) zitiert.

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u n d Feiertagen, ihren Episteln oder Evangelien dichterisch zugewendet haben, u m das kanonische T e x t v o r b i l d i m eigenen Gedicht nachzuschaffen. D e r Binnenvergleich der Gleichzeitigen gestattet ein intensives H i n h ö r e n auf T o n u n d Eigenart der Verglichenen. H i e r ist M a r t i n Opitzens Behandlung der Epistel für den Sonntag Misericordias D o m i n i : Am Sontage Misericordias Domini. 1. Petr. 2. Auff den 91. Psalm. Wer in deß Allerhöchsten hut. BEdenckt/ ihr Brüder/ jederzeit/ In euren rechten Hertzen/ Worzu ihr wol beruffen seyd/ Ertraget Noth und Schmertzen/ Seht wie doch Christus in der Welt Hat für uns leiden wollen/ Sich als ein Fürbild dargestellt/ Daß wir ihm folgen sollen. Bey ihm hat kein Betrug und Schuld/ Kein falsches Wort gegolten: Er schwieg und litte mit Gedult/ Im Fall er ward gescholten: Ließ man ihm weder Rast noch Ruh/ So dreut er doch mit niditen/ Gab aber dem die Rache zu/ Der einig recht kan riditen. Der schweren Sünden Last und Schuld/ Hat er für uns getragen/ Hat seinen Leib von grosser Huld An's Creutze lassen schlagen: Nun haben wir Gerechtigkeit Für unsre Schuld gefunden/ Sind selig noch bey Lebenszeit/ Und heil durch seine Wunden. Ihr wäret wie die Schaffe Schar/ Die irrend umb uns lauffen/ Steht augenblicklich in Gefahr Für wilder Thiere hauffen/ Eilt müde/ krafftloß und beschwert/ Durch Berge/ Püsch' und Holen: Nun seyd ihr frey/ seyd gantz bekehrt/ Zum Hirten eurer Seelen.25 25 Hier zitiert nach der Fellgiebelschen Gesamtausgabe von 1690, Bd. 3, S. 121 f. — Die Angabe des Untertitels bezieht sich auf die Melodie im Hugenottenpsalter nach der Lobwasserschen Übersetzung. Die französische, zugrunde liegende Textfassung beginnt: „Qui en la garde du haut Dieu . .

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Stärker als jeder philologische Kommentar erweist der Vergleich mit dieser 1628 erstmals gedruckten, im ganzen deutschen siebzehnten Jahrhundert einflußreichen Bearbeitung derselben Bibelstelle die betont ethisch-exhortatorische Ausrichtung des gerhardtschen Liedes. Ebenso wie ein ganzes Lied oder die einzelne Strophe bietet auch das Einzelwort die Möglichkeit, etwas von der Eigenart eines Dichters zu erkennen und zu verdeutlichen. Gewiß wird man diese Methode nicht auf jedes Wort im Sprachbestand eines Dichters ausdehnen wollen! Üblicherweise behandelt der Philologe in diesem Zusammenhang die sogenannten „Schlüsselwörter". Ich möchte den umgekehrten Weg beschreiten und ein Wort aufgreifen, das nur einmal bei Gerhardt verwendet wird. Es ist das Wort ,Küchlein', also die Verkleinerung von ,Kükenc in einer dialektalen Sonderform. Gerhardt verwendet es in einem seiner meistgesungenen Lieder, in einer Strophe, die manchmal auch als Kindergebet „zur guten Nacht" verwendet wird: in dem geistlichen Abendlied ,Nun ruhen alle Wälder*. Die achte und vorletzte Strophe lautet: Breit aus die Flügel beide, Ο Jesu, meine Freude, Und nimm dein Küchlein ein ! Will Satan midi verschlingen, So laß die Englein singen: Dies Kind soll unverletzet sein.26

Nicht nur bei Gerhardt ist diese Wortverwendung einmalig. Auch die Konkordanz des evangelischen Kirchengesangbuches führt allein diese einzige Stelle auf. Das führt wohl zu der Frage nach der Herkunft des ungewöhnlichen Bildes. Christus wird hier im Bilde einer die Flügel spreizenden Glucke aufgerufen, den einzelnen Gläubigen als Küchlein zu schützen und zu behüten. Wieder lohnt ein Blick in die Konkordanz der Lutherschen Bibelübersetzung, die beide, Lutherübersetzung wie Konkordanz, ohnehin die verläßlichsten Hilfen sind, um Gerhardts Lieder ernsthaft zu lesen und zu verstehen. Wiederum gibt es nur eine Stelle, an der Luther sich des Wortes „Küchlein* bedient. Es ist Matthäus 23, 27: „wie eine Henne versammelt die Küchlein unter ihre Flügel." Ein Zufall in der Wortentsprechung ist damit ausgeschlossen; Gerhardt nimmt Bezug auf diese Stelle. Obwohl er sie vereinzelt, bleibt sie für den barocken Autor wie Leser im Relevanzverweis auch ihres Kontextes. Der Vergleich der Matthäus-Stelle entstammt nun der Strafpredigt Christi gegen die Stadt Jerusalem. Es ist der Wehruf angesichts der unausweichlichen Passion. Nicht 2β a.a.O., S. 116.

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umsonst dient eben diese Stelle zum Evangelium für die Predigt am 2. Weihnachtstag. Das ist der St. Stephanus-Tag, an dem das Gedenken an den Protomärtyrer die Gläubigen an die möglichen grausamen Konsequenzen bei der Nachfolge Christi, freilich in der Gewißheit des eben begangenen Weihnachtsfestes, ermahnt. Die ganze Stelle lautet in ihrem Sinnzusammenhang: „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest «die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt." Erst jetzt wird kenntlich, daß Gerhardt die Mehrzahl der Küchlein im biblischen Vergleich auf die Singularität des Sängers dieses Liedes vereinzelt. Zudem erhält das Abendlied so einen theologisch-politischen Beiklang, der eine Zivilcourage des Einzelnen ebenso wie eine Kritik an den Machthabern und den bestehenden weltlichen Verhältnissen enthält. Das mag als moderne, sich der Gegenwart anbiedernde Deutung erscheinen. Lesen wir also zur Kontrolle wieder im Sinne der barocken Verweistechnik. Das Bild gehört zu Gerhardts Zeiten bereits seit einem knappen Jahrhundert zum Fundus christlicher Emblematik. Georgette de Montenay, die schweizer Calvinistin des ausgehenden sechzehnten Jahrhunderts, hatte an die Bibelstelle bereits eine emblematische Deutung angeschlossen. In der Pictura birgt die Henne ihre Küken unter den Flügeln, während ein Raubvogel im Begriff ist, vom Himmel herabzustoßen. Dazu gehört das Lemma Ibi licet esse securis (dort darf man mit Fug sicher sein) und dazu kommt die moralische Ausdeutung in der Subscriptio: Comme la poule assemble sous ses ailes Les poulets siens, du Milan les gardant, Ainsi aussi le Seigneur ses fideles, De Γ Antéchrist leur ennemi mordant. Le Chrestien soit à ceci entendant. Que si ailleurs il cherche seureté, Cuidant fuir, il tombe sous la dent De l'ennemi par sa témérité. 27

Ein zeitgenössischer Druck deutscht das so ein: Gleich wie ein Henn jhr Hünckelein Bedeckt mit jhren Flügelein. Vnd schützt sie für deß Sperbers Mord/ Also behüt das Göttlich Wort. 27 Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hrsgg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1967, Sp. 850 f.

2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 17. Bd.

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Jörg-Ulrich Fechner Vnd Christus mit den Engeln sein/ Die gantze Christliche Gemein. Dein Leib vnd Seel Christo befehl/ Der hilfft dir wider Todt vnd Hell.se

Georgette de Montenays Buch war 1571 erstmals erschienen. Schon 1596 verweltlicht Camerarius den christlichen Bezug, wenn er die Henne nicht mehr mit Christus, sondern mit dem guten Fürsten gleichsetzt. Entsprechend verfänglich ist auch sein gewandeltes Lemma: Dulce et decorum est 29. Das ist jener zweideutige Vers des Horaz, der vom süßen und gebührenden Tod für das Vaterland spricht. Entsprechend innerweltlich und politisch ist die Ausdeutung in Peter Is(s)elburgs ,Emblemata Politica* (Erstdruck 1617). Das Lemma lautet nun Alit et protegit; die Henne bzw. der christliche Fürst nährt und beschützt. Hier lautet das Beiwerk der Subscriptio: Pullos alit que protegitque gallina: Nutrii, tuetur, äuget, ornat, et mactat Civets bonus Princeps beatitate omni.

Oder deutsch: Die Gluckhenne jhr Küchlein klein Versamblet vnd bedecket fein Mit jhren Fittigen/ damit Sie einign Schaden nemen nit. Ein Christlich Fürst vnd Obrigkeit/ Sein Vnterthanen schützt allzeit. 30

Wieder ins Christliche zurück wendet Johann Mannich dieses Emblem in seinen ,Sacra Emblemata' von 1625. Das Lemma wird hier Maleachi 4, 2 entnommen: fons sic latitare salutis und direkt weiterbezogen: in festo D. Stephani, Evang. Matt. 23. v. 37. Die Pictura ist erweitert und entsprechend auch die Subscriptio: PRotegit heic tener os pullos gallina sub alis , Vultur eis possit ne noeuisse rapax. Si fugis ad CHRISTVM, numquam Basiliscus averni Te laedet, cum te pro te gat ala DEL

Das wird umständlich auf deutsch so ausgeführt: All Heyl allein/ Hierundr muß sein. E I N Gluckhenn ist hie figurirt/ CHRistum JEsum sie praesentirt/ 28 ebd., Sp. 851. 2« ebd., Sp. 851. so ebd., Sp. 851 f.

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Denn wie ein Henn jhr Küchelein/ Bedeckt mit jhren Flügelein/ So thut vns auch der fromme Gott/ Er schützt vnd deckt vns in der Not. Ein alt Capell steht an der seit/ Der Juden Synagog bedeut/ Die gleich wie auch jhr Väter lehn/ Dem guten Geist stets widerstrebn. Ein Basilisck steht an der Thür/ Der zeigt der Juden boßheit dir: Denn wie ers Gifft in Augen hat/ Damit verletzet frü vnd spat; Solch Schlangenart die Juden seyn. Drumb ist das Tach auch gfallen ein/ Daß nun ein end jhr Regiment/ Zerstrewet sind in alle end. Die Geyer die fliegen vmbher/ Weisen wo jhr Feind kommen her/ Die müssn verrichten GOttes Willn/ Hierdurch sein grediten zorn auch stilin. Drumb wilt secur vnd sicher seyn/ Gib dich vnter die Flügel rein.si

Die beigebrachten Embleme zeigen in Bildlichkeit und beigeordneten Texten der Lemmata und Subscriptiones ein vielschichtiges, gleichzeitiges Bezugsfeld für Paul Gerhardts einmalige Verwendung des Wortes „Küchlein". Daß seine Lieder überhaupt mit emblematisch sinnträchtigen Verweisen durchsetzt sind, ist eine bislang nur aperçuhafte Einsicht, deren gründliche Erforschung eine lohnende Aufgabe darstellt. Wie aber stellt sich der Lieddichter nun in die so ausgewiesene Tradition? Bleibt er traditionell oder verfügt er über ein innovatorisches Stimulans? Ich glaube, daß es wiederum nachweislich eine solche Erneuerung gibt, eine Erneuerung allerdings, die erst voll bewußt werden kann, wenn man die zu Gerhardts Zeiten gültige Tradition noch im Blick hat. Bei Gerhardt w i l l das sprechende Ich; sein Imperativ ist nicht nur bittend, sondern auch fordernd in der Gewißheit der Glaubensverheißung durch Christi Leben, Leiden, Sühnetod und Auferstehung. Das Ich, das hier die Perspektive — zur Erinnerung nochmals: welche Wandlung gegenüber dem Bibelwort! — abgibt, verweist mittels der Korrelation des Reizwortes in seinem anderen, dem biblischen Kontext über sich hinaus auf ein „Jerusalem". Darf man sagen: auf eine zentralistische Haupt- und Verwaltungsstadt der damaligen Gegenwart, wie es Berlin für Paul Gerhardt war, der dort das Lied um 1648 vor einer festen bürgerlichen Anstellung schrieb? Der noch arbeitslose, späebd., Sp. 852. 2*



Jörg-Ulrich Fechne

ter an St. Nicolai in der Residenzstadt beamtete Prediger bricht so aus dem Amt hervor und wird selbst Einzelner vor Christus. Dies, was sich hier beispielhaft an einem einzelnen, bedeutsamen Wort zeigen ließ, ist Ziel wie Leistung Gerhardts überhaupt, begründet seine vorrangige Stellung unter den wahrlich großen wie großartigen deutschen evangelischen Lieddichtern seiner Zeit: Johannes Heermann, Johann Rist, Georg Neumark oder Knorr von Rosenroth; von andern ganz zu schweigen. Daß aber Gerhardt trotz solch nachweislicher Verflechtungen mit dem Barock in der Liedtradition verwurzelt bleibt, zeigt wiederum der Vergleidi mit einem weniger auf den Gottesdienstverlauf bezogenen, aber dennoch vergleichbaren Text: ich meine, Andreas Gryphius' ,Feiertagssonettc auf denselben Bibel text: Auff den Tag Stephani. Actor., Vi. Matth. 23. DEr festen Himmelburg die Schuld* vnd Grim verschlossen/ Ist Hütt vnd Riegel frey/ dort sah ich JEsum stehn An Gottes rechter Hand/ großmächtig hoch vnd schön/ Nicht wie auff Golgatha mit vielem Blutt begossen/ Ich schaue neben Ihm die seiner Schmach genossen/ Wie herrlich schau ich sie/ wie jauchtzend vmb ihn gehn/ Vor Angst itzt Freudenvoll/ Welt spotte/ spey vnd höhn: Die keine Noth vnd Schmach vnd Folter hier verdrossen Sind auß der Angst zu Trost/ durch Tod zu Gott/ geführt/ Vnd mit der Ehren-Kron von Christus Hand geziehrt. Trotzt Feinde/ jagt mich auß/ versperrt mir eure Thüren! Wenn jenes Thor auffgeht/ werf ft diesen Cörper eyn! Zubrecht was irrdisdi ist/ diß Fleisch/ die Arm vnd Bein! Ich kan den Schatz doch nicht/ der darinn ist/ verlieren. 32

Tradition wie Innovation machen Zeitverbundenheit und Zeitlosigkeit Gerhardts aus, sind bestimmend für seinen literarischen, erbaulichen und religiösen Rang. Versuchte man, ein Fazit der hier angestellten Beobachtungen und Uberlegungen zu ziehen, so wäre festzuhalten: Paul Gerhardt gehört als geistlicher Liederdichter zu den rhetorischen und ästhetischen Normen und Tendenzen seiner Zeit. Er ist ein Barockdichter, und ein guter dazu. Nur eine Rückbesinnung auf seine geistes- und literaturgeschichtliche Situation als Schnittpunkt von Tradition und Innovation erlaubt es dem Heutigen, Gerhardt entsprechend der Autorintention nachvollziehend sich anzueignen. 32 Andreas Gryphius, Sonette. Hrsg. v. Marian Szyrodet, Tübingen 1963, S. 226 f. ( = Andreas Gryphius, Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hrsg. v. Marian Szyrocki u. Hugh Powell, Bd. 1). — Vgl. auch die frühere Fassung dieses Sonetts, ebd., S. 168.

Paul Gerhardts Lied

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Kurt Ihlenfeld verwendet in seiner »Huldigung für Paul Gerhardt' 33 , m. W. erstmals in diesem Zusammenhang, eine Bemerkung Goethes gegenüber Eckermann. „Es ist eigen", sagte Goethe, „ich habe doch so mancherlei gemacht, und doch ist keines von allen meinen Gedichten, das im lutherischen Gesangbuch stehen könnte." (Im katholischen übrigens wohl auch nicht!) Die Bemerkung zeigt, daß Goethe sich der wesentlichen Unterschiedlichkeit seiner Gelegenheitsdichtung und ihrer Machart gegenüber der affektbezogenen Rhetorik bewußt war, die die Identität wie Intention des (oder zumindest des damaligen) Kirchenliedes ausmacht. Der heutige Leser, Hörer oder Mitsänger in der kirchlichen Gemeinschaft, der Goethes Schema der Unmittelbarkeit auf eine Identifikation mit Paul Gerhardts Texten nach rückwärts ausdehnt, wird weder Gerhardt noch Goethe gerecht. Gerhardt richtig zu verstehen, verlangt nach der intensiven Kontrolle von Tradition wie Innovation, wie sie hier nur in wenigen, beispielhaften und verkürzten Andeutungen versucht werden konnte. Vieles bleibt hier zu tun; doch schon jetzt läßt sich absehen, daß Gerhardts Lieder nicht nur solchen mikrologischen Erprobungen standhalten können, sondern daß sie eben durch solche Annäherungen gewinnen werden.

33 Berlin 1956; mir lag vor: München u. Hamburg: Siebenstern Taschenbuch Verlag 1964. — Die Stelle findet sich dort S. 94,

RACINES , Α Τ Η Α Π Ε ' Von Albert Fuss Wer Racine sagt, fühlt sich zunächst gehalten, die seit eh und je von der Kritik als Meisterwerk gepriesene »Phèdre' zu meinen. Für eine Auseinandersetzung mit ,Athalie' sprechen aber immerhin auch eine Reihe gewichtiger Gründe. Als Abschluß einer bewegten dichterischen Karriere weckt diese Tragödie jene Neugier, die in den letzten Werken großer Autoren eine dichterische Summa sucht und nicht selten einen Schlußstein findet, der die Dynamik von Entwicklungslinien hervortreten läßt, indem er sie bündelt. ,Athalie c speist literar-kritische Neugier aber auch noch aus anderen Quellen. Racine hatte sich mit seinen beiden letzten Dramen, ,Esther' (1689) und jAthalie* (1691) auf thematisches Neuland begeben: an die Stelle der griechischen und römischen Geschichte bzw. Mythologie der meisten voraufgegangenen Stücke war nun die biblische Geschichte des Volkes Israel getreten. Außerdem schrieb Racine beide Werke auf Bestellung der inzwischen ebenso devoten wie einflußreichen Madame de Maintenon zum Zwecke der Erbauung des von ihr protegierten Mädchenpensionats von St. Cyr, für ein Publikum also, mit dem er bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts zu tun hatte. Wie hat sich dies alles ausgewirkt? Konnte Racine sich selbst treu bleiben, sein bisheriges Schaffen vielleicht sogar nodi überbieten oder markiert jAthalie* einen Rückschritt, einen Mißerfolg? Uberblick über die Rezeption des Werkes Wenn man beginnt, diesen Fragen nachzugehen, ergibt sich bald ein recht eigenartiger Befund. Nach den glanzvollen Vorstellungen von,Esther' in St. Cyr, bei denen die schauspielenden Pensionatsmädchen auf königliche Kosten prachtvoll ausstaffiert worden waren, geriet die Aufführung von ,Athalie e eher spartanisch. Devot-klerikale Kritik hatte die moralischen Gefahren, die von mondäner Theateratmosphäre in der Klosterschule ausgehen sollten, in so drastischen Farben geschildert, daß ,Athalie c fast heimlich und vor einem sehr kleinen Publikum über die Bühne gehen mußte. Versteckte politische Anspielungen auf die Revolution in England mögen für weiteren Zündstoff gesorgt haben1. Das Stück wurde zu Lebzeiten Ra1

Vgl. Jean Orcibal, La genèse d'Esther et cTAthalie, Paris 1950.

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Albert Fuss

eines nur wenige Male vor den engsten Freunden der Madame de Maintenon gespielt. Ein Mißerfolg also, den Racines Gegner in zahlreichen Spottversen mit höhnischem Triumph kommentierten. Fontenelle, dem Neffen Corneilles, wird folgendes giftiges Epigramm zugeschrieben: Gentilhomme extraordinaire, Poète Missionaire, Transfuge de Lucifer, Comment diable as-tu pu faire Pour renchérir sur Esther f 2

Der Mißerfolg war jedoch nur vorläufig. Bald nach dem Tode Racines wurde ,Athalie c 1702 in Versailles mit den Mädchen von St. Cyr als Darstellerinnen nochmals gespielt. I m ,Mercure galant* erwähnt Donneau de Visé diese Aufführungen als glanzvolles gesellschaftliches Ereignis. Die Comédie Française übernimmt das Stück erstmals 1716, ohne überwältigenden Erfolg, denn von 1716 bis 1718 kam es lediglich zu 29 Aufführungen. Diese Zahl erhöhte sich bis 1750 auf 93 3 . Von der generellen Aufwertung Racines durch die Literaturkritik des 18. Jahrhunderts profitiert ,Athalie* im besonderen. Schon 1714 wertet Fénelon die Einbeziehung des Kindes Joas als ein „bewußt angewandtes Mittel, um der Tragödie eine ungewöhnliche psychologische Wirkung zu geben"4. Lange bevor Voltaire in seinem ,Dictionnaire philosophique', ,Athalie' als „chef-d'oeuvre de l'esprit humain" 5 bezeichnete, hatte Antonio Conti 1726 in seinem Vorwort zu ,Giulio Cesare' Racines letzte Tragödie als „miglior tragedia, die nel Secolo di Luigi X I V siasi composta" bezeichnet6. Nichtsdestoweniger ist unbestritten, daß Voltaire, wenn auch nicht als einziger seiner Epoche, den Blick für die Originalität Racines und dessen literaturgeschichtliche Leistung geschärft hat 7 . Im 19. Jahrhundert ist die Bewertung des Stückes geteilt: weithin positiv bei Hugo, Chateaubriand und Sainte-Beuve — letzterer stellt ,Athalie c auf eine Stufe mit der griechischen Ödipus-Tragödie — ; negativ bei Taine, der Racine mangelhafte Kenntnis bzw. Mißachtung der historischen Situation vorwirft. In unserem Jahrhundert hat die Literaturkritik der jüngsten Vergangenheit Racine neu entdeckt. Racine wurde, wie Serge Doubrovsky schreibt, 2 Zitiert nach Georges Mongrêdien, Athalie, Paris 1929, S. 63. 3 Vgl. G. Mongrêdien, a.a.O., S. 86, 90. 4 Wolf gang Τ heile, Die Racine-Kritik bis 1800. Kritikgeschichte als Funktionsgeschichte, München 1974, S. 121. 5 Vgl. Stichwort „Art dramatique". « Zitiert bei W. Theile, a.a.O., S. 130. 7 Vgl. G. Mongrêdien, a.a.O., S. 109 f.

Racines ,Athalief

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zum „champ de bataille privilégié de la critique (.. .)" 8 . In der Tat haben die bedeutendsten Richtungen der zeitgenössischen Literaturkritik, die psychologische Maurons 9, die strukturalistische Barthes' 10, die biographische Picards 11 und die marxistisch-soziologische Goldmanns 12 , ihre methodologisch-theoretischen Überlegungen vorzugsweise an Racine auf ihre literaturkritische Verwendbarkeit hin überprüft. Daher sieht Roland Barthes in Racine den einzigen Vertreter der französischen Klassik, dem es gelungen ist, „à faire converger sur lui tous les langages nouveaux du siècle" 13 . Folgerichtig definiert sich so das Werk Racines für Barthes als „degré zéro de l'objet critique, une place vide, mais éternellement offerte à la signification" 14 . Die Barthes'sche Maxime trifft ganz besonders für ,Athalie c zu, denn während die „nouvelle critique" in bemerkenswerter Ubereinstimmung mit der „ancienne critique" bei der Bewertung der ,Phèdre' Bestnoten verteilt, zeigen sich bei der Einstufung von Racines letztem Werk ganz erhebliche Bewertungsunterschiede.

Der Tragödienstoff und die biblische Vorlage Wie in den meisten Racine'schen Tragödien konzentriert sich die Handlung auf Personen, die durch die Bande des Blutes in enger Beziehung zueinander stehen. Die Bibel, das 4. Buch der Könige, liefert das Handlungsgerüst, an das sich Racine, wie er selbst im Vorwort seines Stückes ausführlich darlegt, recht genau hält. Es geht um den blutigen Streit zwischen den Königen von Juda, d. h. den Nachkommen Davids, und dem gottlosen Königshaus Achab, das Israel beherrscht. Jehu, der vom Propheten Elisäus zum König von Juda gesalbt wurde, gelingt es, das gesamte Haus Achab zu vernichten, eingeschlossen die Mutter Athalies. Athalie ihrerseits, die in Jerusalem herrscht und sich dem Baalskult verschrieben hat, rächt sich grausam an der Nachkommenschaft Davids und läßt die Kinder des Ochosias umbringen. Ochosias war aus der Ehe Athalies mit dem früh verstorbenen König Joram aus dem Geschlecht Davids hervorgegangen. Nur Joas, noch ein Säugling, entgeht dem Massaker. Er wird durch Josabet, die mit dem Hohenpriester Joad verheiratete Halbschwester Athalies, gerettet und im Tempel unter dem Namen Eliacin strenggläubig erzogen. Die Tragödie Ra8

Serge Doubrovsky , Pourquoi la nouvelle critique, Paris 1972, S. 76. Charles Mauron , L'inconscient dans l'oeuvre et la vie de Racine, Paris 1969 10 Roland Barthes , Sur Racine, Paris 1963. 11 Raymond Picard , La carrière de Jean Racine, Paris 1956, 21961. 12 Lucien Goldmann , Le Dieu caché. Etude sur la vision tragique dans les pensées de Pascal et dans le théâtre de Racine, Paris 1959. i* R. Barthes , a.a.O., S. 10. 14 Ebda., S. 11. 9

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eines berichtet den Abschluß dieser Episode des Alten Testaments, die sich wie folgt liest: Athalja vernahm das Geschrei des Volkes und begab sich zu den Leuten in den Tempel des Herrn. Da bot sich ihr dieser Anblick: Der König stand, wie es dem Brauch entsprach, auf dem Sockel; die Vornehmen und die Trompeter umgaben den König. Alles Volk des Landes freute sich und stieß in die Trompeten. Da zerriß Athalja ihre Kleider und rief: „Verrat, Verrat!" Der Priester Jojada gab dem Obersten der Hundertschaften, die über die Truppen gestellt waren, Anordnung und befahl: „Führt sie aus den Reihen hinaus! Folgt ihr jemand, so schlagt ihn mit dem Schwerte nieder" Der Priester wollte nämlich nicht, daß sie im Hause des Herrn getötet werde. Da legten sie Hand an sie, und sie wurde auf dem Fahrweg der Pferde in den Königspalast gebracht und dort getötet. (4 Könige, 11,13 - 16).

Es scheint angebracht, diesen Text in seiner lapidaren Kürze zu zitieren, weil er direkt die Frage provoziert, wie es Racine gelang, aus diesen wenigen Zeilen eine dramatische Handlung von 5 Akten zu entwickeln. Tatsäch lidi bezieht die Tragödie ihre Dynamik nicht, bzw. nur zu einem geringen Teil aus der biblischen Handlung, sondern aus einer Reihe von zusätzlichen Momenten, die Racine in der ihm eigenen, unverwechselbaren Handschrift dazuerfindet. Die Zusätze Racines weiten den Stoff nicht nur umfangmäßig aus, sie führen zu einer durchaus qualitativen Veränderung der biblischen Vorlage, die auf diesem Wege bruchlos in jenes Konzept des Tragischen einbezogen wird, das Racine auch in seinen früheren Tragödien, etwa ,Andromaque' und ,Phèdre', entfaltet. Auf die für den gesamten Verlauf der Handlung entsdieidenste Erfindung Racines deutet schon die 1. Szene des 1. Aktes hin. Ahner, einer der Davidnachkommen und dem Hohenpriester Joad treuen Offiziere, berichtet Joad: Enfin depuis deux jours la superbe Athalic Dans un sombre chagrin paraît ensevelie. Je Vobservais hier , et je voyais ses yeux Lancer sur le lieu saint des regards furieux. (Akt 1, Szene 1)

Die plötzliche Wandlung Athalies läßt Joad wenig später zu seiner Frau Josabet sagen: „Les temps sont accomplis, Princesse, il faut parler" (Akt 1, Szene 1). Sein Entschluß, Joas noch am gleichen Tage zum König zu krönen, ist damit gefaßt. Den Grund für Athalies beunruhigendes Verhalten deckt Racine erst in der 5. Szene des 2. Aktes auf. In einem sich seither wiederholenden Traum hatte Athalie ihre Mutter, Jézabel, gesehen, die ihr Schlimmes prophezeite:

Racines ,Athalie

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Je te plains de tomber dans ses mains redoutables , Le cruel Dieu des Juifs Vemporte aussi sur toi , Ma fille. ( . . . ) (Akt 2, Szene 5)

I m Anschluß an diese Erscheinung der Mutter, die, als Athalie sie umarmen will, in einen Kadaver zerfällt, taucht das Bild eines Kindes in einem Priestergewand auf und bringt Athalie mit dem Schwert um. Die Gestalt der Athalie — Zerfall einer Persönlichkeit Dieser im 4. Buch der Könige nicht erwähnte Traum bildet den Motor der ganzen Handlung. Er zwingt Athalies Augen nach innen, auf ihr eigenes Ich. Der Traum, der sie unvermittelt in die Grenzsituation ihres eigenen Todes geführt und ihr in Gestalt des todbringenden Kindes Gott selbst als Widersacher zugewiesen hatte, läßt die so sicher geglaubten Konturen ihrer eigenen Identität plötzlich verschwimmen. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, da ein Abner ihr noch uneingeschränkte Macht über die äußeren Dinge, die Natur, zuerkennt 15 , wenn er sagt: L'audace d'une femme (...) En des jours ténébreux a changé ces beux jours. (Akt 1, Szene 1)

Zacharie erlebte, daß sie eine ebensolche absolute Macht zu haben schien, ihre eigene Identität zu bestimmen, hatte sie sich doch, als sie in den Tempel eindrang, über die durch den Ritus gezogenen Grenzen ihres Frau-Seins hinweggesetzt und das Recht des Mannes usurpiert: Dans un des parvis , aux hommes réservé . Cette femme superbe entre , le front levé. (Akt 2, Szene 2)

Der Zuschauer erfährt jedoch alsbald, daß das, was hier als uneingeschränkte Selbstbestimmung aufscheint, in Wirklichkeit nur das paradoxe Spiegelbild eines fortschreitenden Selbstverlustes16 ist. Dies zeigt sich deutlich in Szene 5 des 2. Aktes. Sie, die gewohnt ist, zu befehlen, fragt ihre Kreaturen um Rat. Sie versucht, ihr Bild von sich selbst durch den Rückgriff auf eine glänzende politische, staatsmännische Leistung zu festigen

15 Vgl. hierzu: Ebda., S. 130. Vgl. zu dieser Thematik: Karlheinz Biermann, Selbstentfremdung und Mißverständnis in den Tragödien Racines, Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich 1969. Biermann behandelt »Esther' und ,Athalie' nicht. 16

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Albert Fuss Le ciel même a pris soin de me justifier. Sur d'éclatants succès ma puissance établie A fait y jusqu'aux deux mers respecter Athalie. (Akt 2, Szene 5)

Doch der Rückgriff auf die Vergangenheit kann die Angst, die Verwirrung der Gegenwart nicht aufheben. Die Zeit, von der Athalie sich definiert glaubte, erweist sich auf einmal als leer: Je jouissais en paix du fruit de ma sagesse; Mais un trouble importun vient , depuis quelques jours , De mes prospérités interrompre le cours. Un songe (me devrais-je inquiéter d'un songef) Entretient dans mon coeur un chagrin qui le ronge. (Akt 2, Szene 5)

Die Vergangenheit fällt in sich zusammen, bietet keine Stütze mehr in einer Gegenwart, aus der es kein Entrinnen gibt, weil die Perspektive in die Zukunft keine echte Wirklichkeit mehr umgreift: Je puis, quand je voudrai , parler en souveraine. (Akt 2, Szene 5)

Athalie projeziert hier eine Haltung der Vergangenheit in die Zukunft. Aber es wird sich bald zeigen, daß mit den Mitteln der Vergangenheit die sich stellenden Probleme nicht zu lösen sind. I m übrigen deutet unser letztes Zitat an, daß mit dem Zerfall der Zeit auch die Koordinaten des Raumes ihre unerschütterliche Stabilität verlieren. Athalie zählt zu ihren großen politischen Leistungen der Vergangenheit, daß man sie respektiert bis zu den beiden Meeren, daß Jerusalem unangefochtene Ruhe und Sicherheit genießt, der Araber den Jordan nicht mehr überschreitet, die Philister sich über ihre Grenzen nicht mehr hinauswagen, daß der König von Syrien Athalie mit Hochachtung entgegenkommt und in Samaria König Jehu vor ihr zittert. Aber all diese Räume und Weiten, die sie beschwört, nützen ihr nichts; sie bieten keinerlei Zuflucht und Schutz; sie sind zu klein, wie alles zu klein ist, was einen Namen und damit eine Grenze hat; zu klein für die Flucht weg von dem „Nicht-Ort" „partout", an dem sie von dem Traum verfolgt wird : Je V evite partout, partout il me suit. (Akt 2, Szene 5). Immerhin kleidet Athalie diese „Ortsangabe" noch in eine affirmative Satzform mit einem Tätigkeitsverb, das sie selbst als handelnde Person ausweist. Wenig später wird sie sich der ganzen Fragwürdigkeit ihres räumlichen Koordinatensystems bewußt, das, wenn es sich auflöst, auch die Frage nach dem Sein, der Befindlichkeit der Person, stellt. Als Joad ihr den neuen König vorstellt und damit gleichzeitig Athalies Königin-Sein Vernich-

Racines , A t i e

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tet, reagiert Athalie mit der Frage: Oü suis-je ? (Akt 5, Szene 5). Mit dieser Frage reiht sich Athalie auch formal in die Reihe der großen tragischen Heldengestalten Racines, deren Identität sich plötzlich in Fragen nach äußeren Definitionsschemata auflöst, so als ob sie damit ihr aus den Fugen geratenes Sein ein letztes Mal zusammenhalten könnten. So sagt Phèdre zu Oenone: Insensée , où suis-je? et qu'ai-je diti Où laissé-je égarer mes voeux et mon esprit? (,Phèdre', Akt 1, Szene 3)

Hermione überschüttet sich selbst in einem langen Monolog mit Fragen nach dem eigenen Wesen: Où suis-je? Qu'ai-je fait ? Que dois-je faire encore? Quel transport me saisit? Quel chagrin me dévore? Errante et sans dessin , je cours dans ce palais. (jAndromaque', Akt 5, Szene 1)

Freilich darf man bei all diesen Fragen nicht übersehen, daß nirgends das Subjektpronomen „je" aufgegeben wird. Es bleibt ein „Ichkern", wie Biermann sich ausdrückt 17, eben jenes Bewußtseinszentrum, das alle auseinanderfallenden Gefühle, Absichten und Akte noch auf sich selbst bezieht" 18 . Es war unserem Jahrhundert vorbehalten, den Ichzerfall bis zur totalen Bewußtlosigkeit zu steigern. Becketts Monolog ^'innommable* mag zeigen, bis zu welchem Extrem Racines Verfahren geführt werden kann. Bei Beckett fragt das namenlose Ich: „Où maintenant? Quand maintenant? Qui maintenant? Sans me le demander. Dire je. Sans le penser. Appeler ça des questions, des hypothèses"19. Eine Welt im Zeichen des Schismas Der Traum Athalies, den Racine selbst erfunden und in die biblische Handlung eingeflochten hat, gewinnt also für den Verlauf der Tragödie, für die psychologische Vertiefung der Titelperson und darüber hinaus für die Einhaltung der Einheiten von Ort, Zeit und Handlung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Er führt aber auch noch zu einem weiteren Effekt, der im Alten Testament ebensowenig auftaucht, der aber für den Zusammenhang des Stückes von besonderer Bedeutung sein wird. Das Athalie im Traum erschienene und 17

K. Biermann, a.a.O., S. 98. is Ebda. 19 Samuel Beckett, L'innommable, Paris 1953, S. 7.

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ihr später als Joas bzw. Eliacin leibhaftig gegenübertretende Kind fasziniert sie und führt wiederum zu Fragen jener schon bekannten Art, die Athalies Bild von sich selbst in Frage stellen: Quel prodige nouveau me trouble et m'embarasse? La douceur de sa voix , son enfance , sa grâce , Font insensiblement à mon impiété Succéder ... Je serais sensible à la pitiéf (Akt 2, Szene 7)

Daß nicht nur Mitleid, sondern weit mehr im Spiel ist — R. Barthes spricht in diesem Zusammenhang von „Eros" 2 0 und Ch. Mauron entdeckt in Athalie die Nachfahre der inzestuösen Phèdre 21 — zeigt sich, als Athalie Joas das Angebot macht, ihn an Kindesstatt anzunehmen. Essayez dès ce jour l'effet de mes promesses. A ma table, partout , à mes côtés assis. Je prétends vous traiter comme mon propre fils . (Akt 2, Szene 7)

Würde dieser Vorschlag Athalies von Joas angenommen, könnte die Tragödie wahrscheinlich nicht stattfinden. Daß sie stattfindet, d. h. daß der von dem Hohenpriester Joad gesteuerte Joas den Vorschlag zurückweist, besiegelt in diesem Fall, im Unterschied zu den früheren Tragödien Racines, nicht nur das Schicksal eines oder weniger Menschen. Es geht nicht mehr um den Kampf eines Einzelnen gegen alle, eine punktuelle Unordnung, die durch den Tod oder das Verschwinden des Einzelnen wieder aus der Welt zu schaffen wäre, wie dies etwa in ,Bérénice4 oder .Phèdre' noch der Fall war. In ,Athalie' ist das ganze dramatische Universum schismatisdi gespalten. Zwei Gottheiten (Jahwe, Baal), zwei Priester (Mathan, Joad), zwei Tempel (der Tempel Jahwes und der des Baal), zwei Könige (Athalie,Joas) stehen sich gegenüber. Das Streitobjekt des Schismas ist, wie R. Barthes sich ausdrückt, „un être qui tient également àPune et à Tau tre lignée et qu'elles se disputent. Joas est constitué à la fois par la confusion des deux sangs et par leur division: ce paradoxe constitue l'être même du schisme"22. Athalies Vorschlag hätte das Schisma aus der Welt schaffen könnenden proposant de recueillir l'enfant (...), elle recommande une fusion libre des deux sangs, la restauration juste d'un univers déchiré par le schisme, des deux légalités 20

R. Barthes, a.a.O., S. 131. Ch. Mauron, a.a.O., S. 298: „Phèdre voudrait posséder son beau-fils; il refuse et elle l'envoie à la mort. Athalie veut ravir son petit-fils, pour l'aimer peut-être, ou pour le tuer, elle hésite. ( . . . ) Nous pouvons mime dire avec certitude que la beauté d'Athalie, sa réalité, sa palpitation humaine lui vient de ce qu'elle a, encore, de Phèdre." 22 R. Barthes, a.a.O., S. 128. 21

Racines,Athalie

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rivales, elle veut faire une légalité unique et nouvelle, retourner l'infanticide en adoption, substituer à la filialité naturelle , source de crimes, une filialité élue, gage de réconciliation" 23 . Diese Beobachtung trifft, wie wir meinen, sehr genau die Problematik des Stückes. I m weiteren Verlauf der Tragödie geht es daher audi nicht mehr ausschließlich, wie im Text des AT, um die Bestrafung eines Schuldigen, um den Beweis der Großtaten Gottes an seinem Volk, sondern es geht auch um die Abweisung eines Angebotes; es geht um die Vernichtung der Möglichkeit für eine neue Harmonie, einen neuen Bund mit Jahwe, bei dem nun allerdings nicht der allmächtige Gott die Initiative ergreift, sondern der schuldig gewordene Mensch, der damit eine außerordentliche moralische Qualität an den Tag legt. Ein so weittragendes Problem hatte Racine in keiner seiner früheren Tragödien auf die Bühne zu stellen gewagt. Wie geht Athalie unter? Welche Akteure setzen diesen Untergang in Szene? Athalies Untergang Athalies Schicksal wird im wesentlichen durch den Hohenpriester Joad und Joas, den jungen König aus dem Hause David, besiegelt. Joas erfährt erst im Laufe der Handlung, daß er königlichen Blutes ist. Als Athalie ihn zum ersten Mal sieht, fragt sie ihn nach seinem Namen und erhält die Antwort: J'ai nom Eliacin. (Akt 2, Szene 7). Wie dieser Name, so ist auch die mit diesem Namen verbundene Geschichte unauthentisch, aus 2. Hand sozusagen. Joas existiert als Person nur in dem Maße, in dem der Hohepriester Joad ihm durch sporadische Informationen eine lückenhafte Vergangenheit entwirft. Die wichtigste, alles entscheidende Tatsache, der Name der Eltern, bleibt dabei ausgespart: Je suis, dit-on, un orphelin Entre les bras de Dieu jeté dès ma naissance , Et qui de mes parents n'eus jamais connaissance. (Akt 2, Szene 7)

Auf Athalies Frage, welches sein Heimatland sei, antwortet Joas: Ce temple est mon pays , je n'en connais point d'autre. (Akt 2, Szene 7)

Die übrigen Fragen Athalies beantwortet er mit formelhaften, fast rituellen Wendungen, deren Nähe zu biblisdien Texten unverkennbar ist: 23 Ebda., S. 131.

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Albert Fuss Aux petits des oiseaux il donne leur pâture , Et sa bonté s'étend sur toute la nature. (Akt 2, Szene 7)

I n der Tat ist der Tempel der Ort des Ritus, der Zeremonien. Seine Zeit ist die Zeit der Wiederholung, des Sich-im-Kreise-Drehens. Hier gibt es keine echte Gegenwart, sondern eine Art „Nicht-Zeit". Abner eröffnet das Stück mit den Worten: Oui, je viens dans son temple adorer l'Eternel. Je viens, selon l'usage antique et solennel, Célébrer avec vous la fameuse journée Où sur le mont Sina la loi nous fut donnée. (Akt 1, Szene 1)

In analoger Weise konstituiert der Tempel auch keinen geographischen Ort. Der Tempel definiert sich ausschließlich durch die Präsenz der Bundeslade — Tempel ist immer da, wo die Bundeslade steht —. Die Antwort Joas: Le temple est mon pays , je n'en connais point d'artre. (Akt 2, Szene 7)

kann man nur als Metaphernmißbrauch werten. Was Länder sind, das hatte Athalie durch die Aufzählung ihrer politischen Erfolge klargestellt. Ihre Haltung dem Tempel gegenüber ist ein zusätzlicher Beweis für unsere These. Sie hat nie versucht, den Tempel in ihren Machtbereich zu integrieren. Sie hat ihn einfach nicht zur Kenntnis genommen. Er war für sie bisher ein „Nicht-Ort". Der Hohepriester Joad, die Instanz, von der Joas seine Weisungen und seine vorerst lückenhafte Persönlichkeit bezieht, kann ebenfalls als Person ohne eigene Geschichte gelten. Joads Zeit ist die Zeit der Heilsgeschichte, die jede individuelle Zeit, damit aber auch die individuelle Geschichte und das individuelle Bewußtsein, aufhebt. Bezeichnenderweise stellt daher Joad fest: Les temps sont accomplis , Princesse, il faut parler. (Akt 1, Szene 2)

und nicht etwa: „J'ai accompli mon temps". Man könnte ihn kaum treffender kennzeichnen, als er dies selbst Abner gegenüber tut: Voici, comme ce Dieu vous répond par ma bouche. (Akt 1, Szene 1)

Joad ist Sprachrohr und über diese Mittlerfunktion hinaus hat er keine Existenz, kein Bewußtsein. Dies ergibt sich mit aller Deutlichkeit, wenn

Racines,Athalie

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man Joad mit seinem Gegenspieler, dem Baalspriester Mathan, vergleicht. Racine hat letzteren mit einer reichhaltigen Biographie und einem hohen Maß an Bewußtsein ausgestattet: Qu'est-il besoin , Nabal, qu'à tes yeux je rappelle De Joad et de moi la fameuse querelle, Quand j'osai contre lui disputer l'encensoir, Mes brigues, mes combats, mes pleurs, mon désespoir? (•••)·.. Toutefois, je l'avoue, en ce comble de gloire, Du Dieu que j'ai quitté l'importune mémoire Jette encore en mon âme un reste de terreur; Et c'est ce qui redouble et nourrit ma fureur. (Akt 3, Szene 3)

I m Gegensatz zu Joad verbleibt Joas nicht im Bereich der „Nicht-Zeit*, die, da sie keine persönliche Vergangenheit umfaßt, einen Zustand der „Nicht-Schuld" impliziert. Der Weg des Joas führt, ähnlich wie bei Athalie, zunächst zu einer mit Fragen nach der eigenen Person angefüllten Gegenwart. Princesse, quel est donc ce spectacle nouveau? Pourquoi ce livre saint, ce glaive, ce bandeau? D'un semblable appareil je n'ai point vu l'exemple. (Akt 4, Szene 2)

Die Zeit der Wiederholung wird für Joas hier erstmals durchbrochen. Ein Ereignis bereitet sich vor, das erstmals ihn alleine angeht, das seine eigene persönliche Geschichte konstituiert und schließlich in die Enthüllung seiner eigenen Identität mündet. Die Reaktion Joas' ist Erstaunen, Überraschung, Frage nach dem Ich: Joas, Moi? (Akt 4, Szene 3). Nachdem Joas erfahren hat, wer er ist und das Angebot Athalies abgewiesen bat, kann das Schisma der beiden Königshäuser nicht mehr durch einen Neuanfang beendet werden. Joas muß seine Identität, d. h. seine Vergangenheit, auf sich nehmen, und diese Vergangenheit verpflichtet ihn auf den Gehorsam gegenüber Jahwe. Aber wir wissen, daß Davids Geschlecht gespalten ist und Athalie seinen verworfenen Zweig verkörpert. In den Adern des jungen Königs vermischt sich das Blut des bösen wie des guten Zweiges, so daß nun beide auf ihn ihre Hoffnung setzen: Zacharie, der Sohn des Hohenpriesters, berichtet seiner Schwester von der Krönungszeremonie: Ο ciel ! dans tous les yeux quelle joie était peinte A l'aspect de ce roi racheté du tombeau! Ma soeur , on voit encore la marque du couteau. (Akt 5, Szene 1) 3 Literaturwissenschaftlidies Jahrbuch, 17. Bd.

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Diadem und Robe können das Zeichen der Vergangenheit, die Spur des Dolches, nicht verdecken. Für Zacharie bedeutet sie die Legitimation der Abstammung von David. Aber auch Athalie sieht dieses Zeichen; sie wertet es als Brandmal, das Besitzansprüche ausweist: Oui, c'est Joas, je cherche en vain à me tromper . Je reconnais l'endroit où je le fis frapper (Akt 5, Szene 6)

Nach der Erkennungsszene fallen die durch den Traum in Athalie aufgekeimten Zweifel an ihrem eigenen Wesen, ihrer Identität, von ihr ab. Sie, die einen Moment lang die Waage des Schicksals zwischen schuldbeladener Vergangenheit und erlösungsverheißender Zukunft in der Schwebe halten konnte, sinkt zurück in ihre Vergangenheit. Indem sie sich mit dieser identifiziert, spricht sie sich ihr Todesurteil: Dieu des Juifs,

tu l'emportes

(Akt 5, Szene 6)

Aber Athalies Untergang hat etwas Triumphierendes : (...) je meflatte, j'espère Qu'indocile à ton joug, fatigué de ta loi, Fidèle au sang d'Aòab, qu'il a reçu de moi, Conforme à son a'ieul, à son père semblable, On verra de David l'héritier détestable Abolir tes honneurs, profaner ton autel, Et venger Athalie, Achab et Jézabel. (Akt 5, Szene 6)

Sie scheint mit der Gewißheit der Mutter, die durch den eigenen Sohn in den Tod getrieben wird, zu wissen, daß Joas, wenn er erst einmal der „Nicht-Zeit" und dem „Nicht-Ort" des Tempels, in dem er ohne eigene Persönlichkeit im Zustand der „Nicht-Schuld" eingeschlossen war, entronnen sein wird, seinen Weg zu sich selbst gehen muß, zurück in die Vergangenheit. Eines Tages wird er an den Punkt gelangen, wo die Stimme des Blutes ihn in das Lager der Mutter treiben wird. Racine wird diesen Weg des Joas nicht auf die Bühne stellen. Aber er vollendet das chimärische Schisma seines Universums durch eine Weissagung des Hohenpriesters Joad, deren Inhalt exakt den Fluch Athalies bestätigt. I n prophetischer Schau sieht Joad die Zukunft des neuen Königs, seinen Abfall von Jahwe, die Ermordung des Hohenpriesters Zacharias, voraus:

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Racines »Athalie' Comment en un plomb vil l'or pur s'est-il (hangéì Quel est dans le lieu saint ce pontife égorgé ? Pleure Jérusalem , pleure , cité perfide, Des prophètes divins malheureuse homicide . (Akt 3, Szene 7)

Für die Weissagung Joads kann sich Racine nicht auf eine biblische Quelle berufen. Er begründet die Abweichung von dem Text des Alten Testaments in seinem Vorwort zu Athalie ausführlich: On me trouvera peut-être un peu hardi d'avoir osé mettre sur scène un prophète inspiré de Dieu, et qui prédit l'avenir. Mais j'ai la précaution de ne mettre dans sa bouche que des expressions tirées des prophètes mêmes (Préface). Diese, den Forderungen der „bien-séance" Rechnung tragenden Ausflüchte Racines verschleiern bestenfalls die Tragweite seiner Kühnheit, von der ein wesentlicher formaler und inhaltlicher Aspekt kurz untersucht werden soll. I n formaler Hinsicht gelingt Racine hier der Überstieg der von ihm ansonsten stets streng und mühelos beachteten Einheit der Zeit. Genau genommen kann Racine allerdings kein Verstoß gegen die Regel vorgeworfen werden, denn die Weissagung des Hohenpriesters liegt ja innerhalb der wenigen Stunden der Handlung. Andererseits hat die prophetische Rede einen anderen Wirklichkeitsstatus als eine normale auf die Zukunft gerichtete Aussage, denn während menschliche Aussagen über die Zukunft bestenfalls Wahrscheinliches ankündigen, fällt das Wort des Propheten mit der Wirklichkeit ineins. Was er ankündigt, erlangt schon dadurch Wirklichkeit, daß es formuliert ist; es steht kraft der göttlichen Garantie, von der es getragen wird, als Wirklichkeit im Raum. Damit schafft Racine erstmals eine Tragödie, die, trotz der Geschlossenheit ihrer Handlung, offen ist. Das historische Material des Alten Testaments wird direkt angebunden an die v/eitere Geschichte Israels bis hin zur Wirklichkeit der Kirche, denn Joad sieht nicht nur die Verbrechen des neuen Königs; er schaut auch das „Neue Jerusalem". Eine wesentliche inhaltliche Konsequenz, die sich aus der Weissagung des Joad ergibt, erschließt sich aus dem Vergleich mit der schon erwähnten Verfluchung des Davidkönigs durch Athalie. Athalies „Prophezeiung" ist inhaltlich identisch mit der des Hohenpriesters, obwohl die Voraussetzungen für die eine und die andere sich auszuschließen scheinen. Athalie formuliert ihre Vision im Angesicht des Todes, in einem Augenblick, in dem sich die Linie ihres Lebens auf den Punkt einer äußersten Wesentlichkeit reduziert: David, David triomphe, Achab seul est détruit. Impitoyable Dieu, toi seul as tout conduit. (Akt 5, Szene 6)

3*

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Sie hat damit den Sinn bzw. Un-Sinn ihres Lebens ausgesprochen. Er besteht in einer totalen Niederlage gegen den unbarmherzigen Gott, den das Alte Testament wohl nicht zu Unrecht häufig den eifersüchtigen nennt. Aber die Niederlage ist auch ein Triumph, denn sie erlaubt in einem letzten Aufbäumen noch einmal das Autonom-Setzen der eigenen Persönlichkeit, das Recht auf den eigenen Stolz, ja sogar eine Ahnung von dem künftigen Sieg über Gott. Auf der anderen Seite steht Joad. Er lebt in der „Nicht-Zeit" am „NichtOrt" des Tempels. Von allen Personen hat er den niedrigsten Grad an Bewußtheit. Zwar scheint auch er einmal an jenen Gegenwartspunkt zu gelangen, an dem er, wie Athalie und Joas, Fragen an sich selbst und über sich selbst stellt: Où suis-je? De Baal ne vois-je pas le prêtre ì Quoi fille de David , vous parlez à ce trait rei

ο..). Que veut-ilf De quel front cet ennemi de Dieu Vient-il infecter l'air qu'on respire en ce lieu ? (Akt 3, Szene 5)

Doch diese Fragen sind Fragen einer „mauvaise foi". Joads Pläne stehen schon fest, und er denkt nicht einen Augenblick daran, sie oder gar sich selbst in Frage zu stellen. Mathan, der Baalpriester, an den Joad diese Fragen richtet, erkennt dies sehr deutlich, wenn er antwortet: On reconnaît Joad à cette violence (Akt 3, Szene 5). Wie Athalie den Höhepunkt an Ichgewißheit in dem Augenblick erreicht, in dem sie in den Tod geht, erreicht Joad den Gipfelpunkt an „Nicht-Bewußtsein α im Augenblick seiner prophetischen Entrückung. Gott selbst äußert sich in Racines Bühnenproduktion zum erstenmal so direkt, nie zuvor greift er in ähnlicher Weise, gleichsam als handelnde Person in das Bühnengeschehen ein. Für Lucien Goldmann markiert ,Athalie', zusammen mit ,Esther' daher ein „dépassement de la tragédie" 24 , denn der Held „se trouve dans l'univers du Dieu présent et victorieux" 25 . ,Athalie' ist für Goldmann keine Tragödie, weil er unter Tragödie „un spectacle sous le regard permanent de la divinité" 2 6 versteht, wobei dieser Gott zwar immer gegenwärtig, aber gleichzeitig auch immer verborgen bleibt und schweigt. In ,Athalie' dagegen gibt Gott sich selbst kund und führt die gerechte Strafe des Schuldigen herbei. Goldmann kommt bei der Beurteilung der beiden Gegenspieler Athalie und Joad zu folgendem Ergebnis: „Non seulement Athalie elle-même, mais encore Joas, 24 25 26

L. Goldmann, Le Dieu caché, a.a.O., S. 445 f. Ebda., S. 446. Ders., Racine. Essai, Paris 21970, S. 19.

Racines ,Athalie

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l'instrument de Dieu, le roi légitime, sont entièrement mauvais et dépourvus de toute valeur morale" 27 . Wenn man von einer solchen Voraussetzung ausgeht, kann man weiterhin wie Goldmann folgern: „Avec ,Athalie', le théâtre racinien se termine sur une note optimiste de confiance et d'espoir en Dieu et en l'éternité qui n'implique aucune concession sur le plan du réalisme terrestre (.. .)" 2 8 . Wir teilen diese Anschauung Goldmanns nicht und können in den von Joad gesprochenen Schlußversen nicht mehr entdecken als eine kaum verschleierte, grausame Ironie: Par cette terrible fin, et due à ses forfaits, Apprenez, roi des Juifs, et n'oubliez jamais, Que les rois dans le Ciel ont un juge sévère, L'innocence un vengeur, et l'orphelin un père (Akt 5, Szene 8)

Racine hat mit,Athalie' keineswegs die tragischen Konflikte seiner früheren Stücke im Raum einer religiösen Zuversicht und Hoffnung aufgehoben. I m Gegenteil: die Tatsache, daß der schweigende, verborgene Gott in das Geschehen direkt eingreift, verleiht einer vorher latenten Problematik deutliche Konturen. I n ,Athalie' geht es nicht mehr um die Auseinandersetzung zwischen mythologischen Göttern und einzelnen Menschen, sondern um den Kampf zwischen dem Gott des Alten Testaments und dem Menschen schlechthin. Gott zeigt sich dabei seiner Schöpfung gegenüber als der unberechenbare, launische, ungerechte Gott, der neben sich niemand duldet, am wenigsten den Menschen, der in klarsichtigem Bewußtsein sich selbst und auch Gott beurteilt. Gott erscheint hier echter Einsicht unfähig; ihm fehlt auch die geringste Spur gütiger Weißheit. Athalie beweist durch ihren Versuch, das Schisma zwischen Gott und Mensch aufzulösen, daß sie fähig und gewillt ist, über ihren eigenen Schatten zu springen. Gott dagegen besteht auf seinem Sieg; er setzt eine ganze Maschinerie von Hinterhältigkeiten ein, um Athalie in eine Falle zu locken. Dabei ist es gerade deren mütterliche Regung, die ihr zum Verhängnis wird. I m übrigen ist der Sieg Gottes, die Krönung des neuen Königs, absurd, denn hier wird nichts gelöst, sondern nur der Anfang eines neuen Massakers gesetzt, fast so, als ob dieser von dunklen Impulsen beherrschte Gott sich am Schauspiel seiner unumschränkten Macht nicht satt sehen könnnte. Wir sind mit ,Athalie' nicht sehr weit entfernt von der Thematik des Buches Hiob. I n diesem Zusammenhang ist auch noch ein Wort zu dem in ,Athalie' auftretenden Chor zu sagen. Für Goldmann ist die Präsenz des Chores ein 27

Ders., Le Dieu caché, a.a.O., S. 443. 28 Ebda., S. 446.

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Hinweis darauf, daß die tragische Situation der absoluten Einsamkeit des Helden aufgehoben ist. „Le choeur a une signification précise. I l est la voix de la communauté humaine et par cela même la voix des dieux" 2 0 . Nach Goldmann ist in den vor ,Esther' liegenden Tragödien Racines die „communauté authentique" aufgehoben durch einen „jungle d'égoismes rapaces et de victimes inconscientes"30. Dort, wo der Chor bei Racine auftritt, gewinne er die Funktion, die er in der griechischen Tragödie hatte, von der Goldmann ausführt: „La tragédie grecque racontait la destinée d'un héros qui dans un univers homogène, régi par l'accord de la communauté et de la divinité, venant de briser par son jhybris' l'ordre traditionnel, en quittant l'une et en irritant l'autre, avait ainsi attiré sur soi la colère et la vengeance des dieux" 3 1 . Es ist richtig, daß auch bei Racine der Chor Ausdruck einer Gemeinschaft ist, ob aber diese Gemeinschaft der Übereinstimmung mit Gott Ausdruck verleiht, kann bezweifelt werden. Der erste Auftritt des Chores im vorliegenden Stück ist ein Lobgesang Gottes, in dem sich uneingeschränktes Gottvertrauen kundtut (Akt 1, Szene 4). Der zweite Auftritt beginnt mit den Versen: Quel astre à nos yeux vient de luiref

und endet: Quel sera quelque jour cet enfant merveilleux ? Ο réveil plein d'horreur ! Ο songe peu durable! Ο dangereuse erreur! (Akt 2, Szene 9)

Der Anfang des Liedes bezieht sich auf Joas, der soeben in der Auseinandersetzung mit Athalie seinen Mut und sein Gottvertrauen bewiesen hatte. Das Ende soll den Untergang der Gottlosen beschreiben und ist auf Athalie gemünzt. Die Weissagung Joads im folgenden A k t (Szene 7) nimmt den zitierten Versen jedoch im Nachhinein ihre Zuversicht und taucht sie ins Zwielicht des Doppeldeutigen. Nach der Weissagung des Hohenpriesters schlägt die Stimmung des Chores in das Gegenteil des hoffnungsfrohen A fangsliedes um. Alles wird plötzlich fragwürdig, bekommt eine fatale Doppeldeutigkeit; der Chor sieht sich außerstande, den Willen Jahwes zu erkennen; er ist allein gelassen und in der Beurteilung der Vorgänge gespalten: Le Seigneur a daigné parler . Mais ce qu'à son prophète il vient de révéler, Qui pourra nous le faire entendrei 2

» Ders., Racine, a.a.O., S. 27. Ebda. Ebda.

30 31

Racines jAthalïe' S'arme-t-il S'arme-t-il

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pour nous défendre ? pour nous accabler ?

/···/

O promesse ! ô menace! ô ténébreux mystère ! Que de maux ; que de biens sont prédits tour à tour! Comment peut-on avec tant de colère Accorder tant d'amour ? (Akt 3, Szene 8)

Kurz vor dem letzten Akt, in dem sich Athalies Schicksal vollendet, hat der Chor seinen letzten Auftritt, und in seinen Aussagen verschärft sich das Bewußtsein der Gespaltenheit. Insistierende Fragen nach dem Wesen Gottes werden gestellt und finden keine Antwort: Une voix, seule Où sont les traits que tu lances, Grand Dieu, dans ton juste courroux ? N'es-tu plus le Dieu jaloux ? N'es-tu plus le Dieu des vengeances Ì One autre Où sont, Dieu de Jacob, tes antiques bontés ? Dans l'horreur qui nous environne, N'entends-tu que la voix de nos iniquités ? N'es-tu plus le Dieu qui pardonne ? (Akt 4, Szene 6)

Schließlich flieht der Chor: Courons, fuyons ; retirons-nous A l'ombre salutaire Du redoutable sanctuaire (Akt 4, Szene 6)

Der Chor bildet in diesem Stück durchaus keine Gemeinschaft, die in der Sicherheit einer tragenden Gewißheit lebt. Er wird durch die Selbstäußerung Gottes sogar erst recht eigentlich in die Unsicherheit und Gespaltenheit hineingetrieben. Faßt man die Ergebnisse unserer Überlegungen zusammen, wird man feststellen müssen, daß Racine in keiner seiner früheren Tragödien mit der gleichen Konsequenz ein so hoffnungslos gespaltenes Universum auf die Bühne stellte wie in ,Athalie'. Aussicht auf Versöhnung der Gegensätze, Aufhebung der Schuld ist nirgends in Sicht.

CORNEILLE U N D DAS TRAGISCHE Von Winfried Kreutzer Das klassische französische Theater hat, nachdem es lange als ein durch und durch erforschtes und kaum mehr Neues versprechendes Gebiet erschienen war, in den letzten Jahren wieder an Beachtung gewonnen: die Anwendung neuer Methoden, beispielhaft etwa im Ansatz der Nouvelle Critique am Werk Racines vorexerziert, ließ an einem längst bekannt geglaubten Objekt neue, bisher nicht einmal vermutete Strukturen aufscheinen und aktivierte gleichzeitig das Wissen um die Möglichkeit neuer Fragestellungen. I n diesem Sinne sollen auch die folgenden Ausführungen verstanden werden: das Werk Corneilles, bisher trotz der zunehmenden Einbeziehung des weniger bekannten Schaffens seiner mittleren und späten Periode noch häufig anhand klischeehafter Fragestellungen der Schultradition untersucht und beschrieben, soll auf seinen Gehalt an „Tragischem" überprüft werden. Es ist dies eine Fragestellung, die, anders als etwa im deutschen Bereich, aufgrund unterschiedlicher philosophischer Tradition in der französischen Literaturwissenschaft generell nie populär gewesen zu sein scheint; die entsprechenden Begriffe werden, auch in der Corneille-Literatur, weitgehend unreflektiert und Undefiniert verwendet 1. Auch dem unbefangenen Leser wird die Einordnung Corneilles als Tragiker zunächst wohl zumindest problematisch erscheinen; ein Blick in die Rezeptionsgeschichte wird diesen Eindruck bestätigen, anstelle der erhofften Klärung vielleicht aber auch die Verwirrung angesichts der Masse der diesbezüglichen Äußerungen und der auf den ersten Blick kaum umgreifbaren Heterogenität ihres Argumentierens zur Perplexitat steigern. Immerhin kann man, wenn man die Rezeption Corneilles bis zu den Anfängen zurückverfolgt, zunächst zwei Richtungen feststellen: die eine, die in Corneille den großen Tragiker und Begründer der französischen Tragödie sieht, und die andere, die ihm das Signum des Tragischen abspricht. Die erste dieser Auffassungen kann als einen ihrer frühesten namhaften Vertreter keinen geringeren als Racine aufweisen, der im ,Discours à l'Aca1 In André Lalandes ,Vocabulaire technique et critique de la philosophie' fPaβ ris, P. U. F., 11 1972) kommt das Stich wort „tragique" bezeichnenderweise überhaupt nicht vor.

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démie', der Gedenkrede auf den kurz zuvor verstorbenen Corneille vom 2. Januar 1685, mit uneingeschränkter Hochachtung und Bewunderung von seinem ehemaligen Rivalen sprach, in ihm den Reiniger und Ordner des französischen Theaters sah und ihn mit Aischylos, Sophokles und Euripides verglich; als großen Tragöden sahen ihn auch Fontenelle, sogar Voltaire, im 19. Jahrhundert dann Lanson und mit und nach ihm die gesamte ungeheuer publikumswirksame und meinungsformende Tradition der Schulliteraturgeschichte der Lycées und weiterführenden Bildungsanstalten2. Die Reihe derer, die Corneille nicht als Tragiker sehen, wird von Boileau eröffnet. I n einem Brief an Perrault (1700) schreibt er: II [Corneille] n'a point songe, comme les poètes de l'ancienne tragédie , à émouvoir la pitié et la terreur , mais à exciter dans l'âme des spectateurs, par la sublimité des pensées et par la beauté des sentiments, une certaine admiration, dont plusieurs personnes, et les plus jeunes surtout, s'accomodent mieux que des passions tragiques ß

Boileau schließen sich im 17. Jahrhundert Dacier in seinen ,Remarques sur la Poétique d'Aristote' (1692), im 18. Jahrhundert Voltaire, im 19. Jahrhundert Brunetière und im 20. Jahrhundert, neben einer Reihe angelsächsischer Gelehrter, die sich mit der Frage beschäftigten 4, vor allem Schlumberger mit seinem berühmt gewordenen ,Plaisir à Corneille' (1936)5 und, als letzte größere Publikationen, Octave Nadal in ,Le sentiment de l'amour dans l'oeuvre de Corneille' 6 und Jacques Maurens in seiner Thèse ,La tragédie sans tragique' 7 an. Es sollen hier nicht die einzelnen Argumente, die dabei für oder wider den tragischen Charakter Corneille'scher Schöpfungen vorgebracht werden und die ein sehr vielgestaltiges Spektrum bieten, aufgezählt werden. Zwei Fakten allerdings, die bei der Sichtung dieser Argumente deutlich werden, seien hier auf gewiesen: 1. Es darf nicht ohne weiteres eine inhaltliche Gleichsetzung der Begriffe tragique und tragédie vorgenommen werden. Dacier, Voltaire, Brunetière und viele andere, die den tragischen Charakter des Corneille'schen Werkes leugnen, sprechen nichtsdestoweniger von seinen „tragédies", was im gege2 L. Wang, The ,Tragic* Theatre of Corneille, The French Review 25 (Baltimore, 1951/52) S. 184- 185. 3 Zit. nach G. May, Sept années d'études cornéliennes, The Romanic Review 43 (1952) S. 291. 4 Ibid. S. 291. « Paris, Gallimard, 1936 p. 11. — Audi Id., „Corneille", La Nouvelle Revue Française, Juillet — Décembre 1929, S. 337. « Paris, Gallimard, 1948. 7 Paris, Colin, 1966.

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benen Fall zu einer völligen Ausdünnung des Begriffs führen bzw. zur pointierten Gegensetzung der Begriffe tragédie und tragique Anlaß geben kann, wie dies im Titel des Buches von Jaques Maurens geschieht8. Man wird also gut daran tun, sich in den weiteren Überlegungen auf den Begriff des Tragischen zu konzentrieren und tragédie als traditionelle Genrebezeidinung der französischen Literatur zu sehen, deren Bedeutungsumfang hier nicht weiter verfolgt werden soll. 2. Der überwiegende Teil der Argumentation für oder wider das Tragische bei Corneille vollzieht sich auf der Basis der aristotelischen Poetik und ihrer bekannten Bestimmung der Tragödie als Nachahmung δι 9 έλέου και φόβου περαινουσα την των τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν9. Diese rezeptionsbezogene Bestimmung der Tragödie sieht in ihr „eine Veranstaltung, um die spezifisch tragische Erschütterung hervorzurufen" 10 . Ob ein Schauspiel Tragödie oder tragisch ist oder nicht, erhellt nicht aus dem Vorhandensein bestimmter formaler oder inhaltlicher Faktoren, sondern aus der Fähigkeit des Werks, eben den tragischen Prozeß der Erschütterung — Kommerell spricht von „Entladung" 1 1 — zur Reinigung des Gemüts im Zuschauer oder Hörer hervorzurufen. Die aristotelische Blickrichtung auf das Tragische ist bis ins 19. Jahrhundert, in Bezug auf Corneille sogar bis in unsere Tage anzutreffen. Im letzteren Fall verbindet sie sich bisweilen, wie etwa in der Stellungnahme Wangs, mit dem Hinweis auf den von Corneille neben crainte und pitié eingeführten Begriff der admiration , die, überhöhte Heldengestalten voraussetzend, eine Identifikation des Rezipienten mit diesen und damit auch die Erweckung der tragischen Gefühle Furcht und Mitleid erschwert bzw. unmöglich macht 12 . Diese ausschließlich rezeptionsästhetische Begründung des Begriffs macht ihn, zumindest nach dem jetzigen Stand der Forschung, zu einem wie uns scheint weitgehend untauglichen Instrument bei dem Versuch, dem Tragischen im Opus Corneilles wissenschaftlich näherzukommen. Erfolgversprechender scheint es, das Tragische, soweit möglich, als Struktur zu fassen und zu einer Aussage über ihr Vorkommen und ihre eventuelle spezielle Ausprägung in Corneilles Werk zu kommen, was auch das Ziel der vorliegenden Untersuchung sein soll. s Ähnlich bei Nadal, S. 140. * Aristoteles, Poetik V I , 2. In: Aristotle, The Poetics. Longinus, On the Sublime. Demetrius, On Style. Translated by W. Hamilton Fyfe and W. Rhys Roberts, London-Cambridge/Mass., 1965, 5. 22. 10 M. Kommereil, Lessing and Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, Frankfurt, 1940, S. 201. 11 Ibid. S. 201. 12 Wang, S. 190 f.

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Wie problematisch die Frage nach dem Wesen des Tragischen oder dem Tragischen als Essenz ist, ist allgemein bekannt. Wir wollen andererseits nicht soweit gehen wie Peter H . Nurse in einem kürzlich erschienenen Aufsatz ,Quelques réflexions sur la notion du tragique dans l'oeuvre de Pierre Corneille', der, gestützt auf Aussagen Wittgenstein'scher Philosophie, aus der Ablehnung einer Wesensbestimmung des Tragischen, das als solches nicht existent sei und nur in jeweils konkreten Manifestationen als bestimmte Tragödie erscheine, diesem durch Erstellung eines „réseau d'éléments similaires qui s'entrelacent et s'entrecroisent" 13 näherzukommen sucht und aus zwei Dramen Corneilles, ,Horace* und ,Cinna', diejenigen Elemente und Strukturen herauslöst, die ihnen — nach Wittgenstein'schem Sprachgebrauch — eine gewisse „Familienähnlichkeit" (Nurse: „un air de famille") 1 4 geben, welche erlaubt, sie in die Kategorie anderer, wohlbekannter und als solche nicht umstrittener Tragödien einzuordnen. I n der Praxis führt das dazu, daß unter den Elementen, die durch ihr Vorhandensein in den beiden obengenannten Tragödien Corneille als Tragiker ausweisen, sich z. B. auch die Aufeinanderfolge von Glücksfällen und Unglükken befindet, die, indem sie uns die Schwäche und Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz — man vergleiche ,King Lear' — vor Augen führen, nach Nurse die echteste Erfahrung des Tragischen darstellen 15. Die Gefahren des Ansatzpunktes von Nurse liegen auf der Hand: der Begriff des Tragischen bzw. der Tragödie wird immer unschärfer und letztlich unverbindlich; er umgreift alles, was in herkömmlichen Tragödien „eben so vorkommt". Als Kriterium der Unterscheidung von Tragödien und Nichttragödien wird er damit willkürlich, als Instrument eines tieferen Eindringens in die Strukturen der Gattung, aber auch des Einzelwerks, unbrauchbar. Angesichts der Verlegenheit, einen operativen Begriff des Tragischen zu konstruieren, haben wir uns entschlossen, uns jene Bestimmung des Tragischen zur weiteren Untersuchung der Werke Corneilles zu eigen zu machen, die Peter Szondi in seinem ,Versuch über das Tragische' 16 gegeben hat. Die Frage nach dem, was das Tragische eigentlich sei, war von Anfang an eine Domäne der idealistischen deutschen Philosophie und wird auch in ihrer Nachfolge immer wieder gestellt. Szondi untersucht eine Reihe diesbezüglicher Aussagen und stößt auf ein all diesen Bestimmungen gemeinsames, ja selbst bei philosophisch so deutlich abseits stehenden Denkern wie Walter 13 »Quelques réflexions sur la notion du tragique dans l'oeuvr-e de Pierre Corneille', Travaux de Linguistique et de Littérature, publiés par le Centre de Philologie et de Littératures Romanes de l'Université de Strasbourg, X I I I , 2 Etudes Littéraires, Strasbourg, 1975, S. 164. 14 Ibid. S. 165. is Ibid. S. 170. ie Frankfurt, Insel, 21964.

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Benjamin, nachweisbares Strukturelement des Tragischen, das er „das dialektische Moment" nennt und das man vielleicht treffender als Paradoxie o. ä. bezeichnen könnte. Das Tragische ist für Szondi ein Modus, eine bestimmte Weise drohender oder vollzogener Vernichtung, und zwar die dialektische. Nur der Untergang ist tragisch, der aus der Einheit der Gegensätze, aus dem Umschlag des Einen in sein Gegenteil, aus der Selbstentzweiung erfolgt. Aber tragisch ist auch nur der Untergang von etwas, das nicht untergehen darf, nach dessen Entfernung die Wunde sich nicht schließt. Denn der tragische Widerspruch darf nicht aufgehoben sein in einer übergeordneten — sei's immanenten, sei's transzendenten — Sphäre. 17

Szondi weist darauf hin, daß diese Bestimmung des Tragischen durch das „dialektische Moment" offensichtlich nicht hinreiche, da sie nicht reversibel sei. Tragik müßte als eine Dialektik „in einem bestimmten Raum" erkannt werden und so von ähnlich strukturierten Gegenbegriffen wie Humor und Ironie abgegrenzt werden. 16 Dieses Desiderat fällt im Hinblick auf die uns gestellte Frage kaum ins Gewicht, geht es doch nicht darum, ob ,Horace', ,Rodogunee usw. tragische oder komische Stücke sind, sondern ob die in ihnen dargestellten Peripetien und Katastrophen tragisch oder nur einfach traurig und erschütternd sind. Der Vorteil der Szondi'schen Bestimmung scheint darin zu liegen, daß wir mit ihr tatsächlich ein quasi formales Kriterium vor uns haben 19 . Exkurshaft hier noch einige Bemerkungen zu einem Motiv, das bei Corneille, wohl aber ganz allgemein in der älteren Tragödie, durchgehend verwendet wird, das schon Aristoteles ausdrücklich als wirksame Matrix von Furcht und Mitleid erregenden Handlungen nennt 20 und das Szondi als Beleg für das Vorkommen des „dialektischen Moments" bei Aristoteles anführt 2 1 : den Konflikt bzw. Mord unter Verwandten oder Nahestehenden. Szondi führt nicht explizit aus, inwiefern dieser Casus tragisch oder „dialektisch" ist. Dieses Motiv, das verschiedene Aspekte aufweist, etwa den Widerspruch zwischen natürlicherweise vorauszusetzender Liebe oder Loyalität und Haß, das Tun von etwas, was man eigentlich nicht wollen kann, die Zerbrechung schon seit je sakral verstandener Bande, d. h. die Verletzung der Weltordnung und die notwendige Strafe, hat in seiner wesentlich binären Anlage zweifellos eine besondere Affinität zum Tragischen. Ob der 17 Op. cit., S. 6. !β Ibid. S. 60. 19 Viktor Sklovskij führt in seinem Aufsatz: Der Aufbau der Erzählung und des Romans, beispielsweise das „Motiv des scheinbar Unmöglichen" (z.B. ödipus) an, das „auf einem Widerspruch aufgebaut" ist. In: Sklovskij, Theorie der Prosa, Frankfurt, S. Fischer Verlag, 1966, S. 64 f. 20 Aristoteles, Poetik. Ubersetzung von Olof Gtgon, Stuttgart, Reclam, 1966, S. 46. 21 Op. cit., S. 58.

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\ r erwandtenmord als solcher freilich jeweils tragisch ist, scheint doch vom Kontext abzuhängen. Im folgenden sollen einige Tragödien Corneilles auf das „dialektische Moment" befragt werden und im gegebenen Falle seine konkrete Ausformung untersucht werden. Das erste bedeutende Werk Corneilles, in dem man auf das „dialektische Moment" stößt, ist gleichzeitig das erste bleibend erfolgreiche nichtkomische Werk unseres Autors, ,Le Cid* (1636). Zwischen Personen, die sich so nahestehen, daß sie umgehend in familiäre Beziehungen zueinander treten sollen, kommt es zu einem Konflikt. Rodrigue sieht sidi zunächst zwei schwer in Einklang zu bringenden Forderungen gegenüber: der Pflicht, seinen Vater zu rächen, und der Liebe zu Chimène. Diese an sich noch nicht tragische Situation, der der Held durch einen wenn auch für ihn unangenehmen „choix" gerecht werden könnte, wird eigentlich erst durch die voraussehbare Reaktion Chimènes tragisch, die er nun in jedem Fall verlieren wird: im Falle der vollzogenen Rache als der Mörder ihres Vaters, der ihren Haß auf sich ziehen muß; im Falle des Verzichts auf Rache durch die noch weitere Entfernung von ihr, wie Doubrovsky zeigt 22 , durch den „mépris", der die „Nicht-Würdigkeit" mit sich brächte (V. 895 f.); der einzige Weg, der für Rodrigue gangbar ist, [...] sauvons du moins l'honneur Puisqu'après tout il faut perdre Chimène. (V. 339 f . ) 2 2 a

vereint und trennt die Liebenden zugleich: Tu t'es , en m'offensant, montré digne de moi , Je me dois, par ta mort, montrer digne de toi. (V. 931 f.)

Die Vereinigung, die hier erreicht und als einzige möglich ist, ist die Vereinigung in der Entzweiung, die in einem weiteren Handlungsschritt, den Chimène folgerichtig erkennt — zu dem es freilich nicht mehr kommt —, zum Tod Rodrigues und zum Selbstmord Chimènes führen müßte (V. 847 f.). „L'amour héroïque unit les amants dans l'étreinte et la réciprocité du meurtre." 23 22 Serge Doubrovsky, Corneille et la dialectique du héros, Paris, Gallimard, 1963, S. 105. 22a Corneille wird, wenn nicht anders angegeben, nach der Ausgabe Pierre Corneille, Théâtre complet. Texte préfacé et annoté par Pierre Lièvre, Edition complétée par Roger Caillots, 2 voll., Paris, Gallimard/Pléiade, 1950, zitiert. 23 Doubrovsky , a.a.O., S. 105 Anm. 22.

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Die dem tragischen Moment eigentümliche Blockierung spiegelt sich in der Psyche Chimènes im Zusammenfall von Wollen und Nichtwollen: Je ferai mon possible à bien venger mon père; Mais maigre la rigueur d'un si cruel devoir Mon unique souhait est de ne rien pouvoir . (V. 982 f.)

M i t diesem Motiv des Stillstandes und der Ohnmacht endet auch die ganze Szene 111,4, die eine A r t Bilanz der nach der Tötung des Grafen eingetretenen Situation darstellt. Ne m'importune plus , laisse-moi soupirer , Je cherche le silence et la nuit pour pleurer. (V. 999 f.)

Die weiteren Szenen und Akte sind, wie man weiß, der Rettung der Liebenden gewidmet, eine Rettung, die freilich nur von außen, durch den König quasi als „deus ex machina", erfolgen kann, die aber gerade durch diese Notwendigkeit und die Modalitäten des Vorgehens die tragische Ausweglosigkeit zeigt; das Argument, mit dem der König Chimène von ihrer Rachepflicht „entbindet", interpretiert, ohne daß es in diesem Punkt einen wirklich expliziten Hinweis gäbe, das Überleben Rodrigues in soviel Gefahren als Willen des Himmels und Zeichen der Satisfaktion des Toten (V 1766 f.). Wie wenig Chimène dieses Eingreifen des Königs, das zunächst nur Rodrigue außer Lebensgefahr bringt, wirklich als Lösung akzeptiert, zeigen ihre Hinweise auf die Gehorsamspflicht gegenüber dem König, der sie als Untertan nachzukommen hat (V. 1804) und auf ein utilitaristisches Motiv, das die Entscheidung des Königs mitbeeinflußt: die Wichtigkeit Rodrigues für den Staat (V. 1809) 24 ; schließlich grundsätzlich ihr Widerstand gegen eine Heirat mit Rodrigue, den sie von neuem mit dem Hinweis auf die Tötung ihres Vaters begründet (V. 1812), und die sie offenbar nur aufgrund der vom König gesetzten Frist akzeptiert — die Interpretation, sie hoffe auf ein im Laufe der Zeit auftauchendes Hindernis für diese Eheschließung, liefert übrigens Corneille selbst in seinem „Examen" des »Cid* (1660) 25 . Die Zeit, auf die der König hofft, ist, wie das oben erwähnte utilitaristische Motiv, ein dem tragischen Mechanismus fremder Faktor der Lebenspraxis. ,Horace', der vier Jahre nach dem ,Cid e zur Aufführung kam, weist in seiner Handlungsstruktur ebenfalls das „dialektische Moment" auf. I n welcher Ausformung wird es hier greifbar? 24 Vgl. Äußerung des Königs gegenüber Rodrigue in IV,3, V. 1253 f.; vgl. V. 1411 f. 2 5 Théâtre complet, I, S. 702.

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Wie schon im ,Cid c spielt sich der Konflikt wieder zwischen sich menschlich, in diesem Falle sogar durch Familienbande Verbundenen ab, wobei zwei der unmittelbar Beteiligten dieses Konfliktes zu Tode kommen. Die Handlungskonstruktion hat durch ein auffallendes Merkmal, nämlich ihre Zweigipfligkeit, schon immer das Interesse der Kritik erregt, die freilich nicht selten — so Corneille selbst in seinem „Examen" zu ,Horace' (1660) 2 · — einen Fehler darin sah. Faßt man das Phänomen unter dem von uns gewählten Gesichtswinkel ins Auge, wird deutlich, daß sich im zweiten Gipfel — der Tötung Camilles — die Tragik Horaces erst wirklich vollendet: eben die Haltung, die unbedingte und fanatische Hingabe an das Vaterland als Ausformung des eigenen Ehrbegriffs — Paul Bénichou hat diese Metamorphosen der „gloire" aufgezeigt 27 —, die dem Helden den Sieg über die Curiaces ermöglicht hatte, muß ihn, „guerrier trop magnanime" (V. 1759), unter den gegebenen Umständen zum Mörder an Camille werden lassen. Die Parallelität der Taten (Verwandtenmord) unterstreicht ihren Zusammenhang. Bemerkenswert ist, daß Horace selbst den tragischen Charakter des Schicksalsablaufs nicht zur Kenntnis zu nehmen scheint. Nur den ersten tragischen Handlungsgipfel, den Kampf gegen die Curiaces, bezeichnet er als „malheur" (V. 433), aber auch nur um damit sofort den Gedanken einer besonderen Privilegierung durch das Schicksal, das diese Gelegenheit der Bewährung und Auszeichnung biete, zu verbinden. Sowohl der König (V. 1453 - 1456) als auch der alte Horace sprechen den Zusammenhang zwischen den beiden Taten aus; der alte Horace spricht sogar von Schuld: Le seul amour de Rome a sa main animée; Il serait innocent , s'il l'avait moins aimée. (V. 1655 f.)

Horace selbst kommentiert die Tötung seiner Schwester zweimal: gegenüber Procule stellt er sie als „un acte de justice" (V. 1323) dar, gegenüber seinem Vater bezeichnet er — wie übrigens dieser selbst auch (V. 1411; 1417) — Camilles Haltung als „crime" (V. 1427), das zu bestrafen war, sein eigenes Vorgehen als einen Versuch zur Rettung der Familienehre; eine eigene Anerkenntnis seiner Schuld erfolgt nicht; seine Bereitschaft, Strafe zu erleiden, ist ein A k t des Gehorsams und schiebt die Entscheidung über Schuld und Nichtschuld jeweils einer höheren Autorität, Vater oder König, zu (V. 1421; 1537; 1540). 26

Ibid. S. 781. „Le héros cornélien", in: Id., Morales du Grand Siècle, Paris, Gallimard, 1967, S. 15 - 79. 27

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Die Anerkennung seiner eigenen Tragik vermeidet Horace durch ständig neue Rechtfertigungen und damit Sinngebungen seiner Tat: er deckt die Tötung seines Schwagers mit der Ver absolu tierung seines Vaterlandsbegriffs ab und tötet Camille eben dann, als sie in Schmähungen gegen Rom ausbricht — Camille ami Leben zu lassen könnte einenvEingeständniä der eigenen tragischen Situation gleichkommen —; die Tötung Camilles rechtfertigt er mit dem Hinweis auf das Vaterland gegenüber Procule, mit dem Hinweis auf die Familienehre gegenüber seinem Vater, gegenüber dem König überhaupt nicht. Wenn er vor dessen Gericht den Tod sucht, dann, um seine eigene Ehre nicht zu überleben: La mort seule aujourd'hui peut conserver ma gloire: Encor la fallait-il sitôt que j'eus vaincu , Puisque pour mon honneur j'ai déjà trop vécu. (V. 1580 f.)

Ob diese Haltung schon eine implizite Anerkennung des eigenen tragischen Schicksals bedeutet, könnte diskutiert werden. Die stete Verengung des Bezugsrahmens durch den Fall der jeweils vorgeschobenen Werte führt jedenfalls zu einem Zustand, der der Einsamkeit des tragischen Helden sehr ähnlich ist. Bemerkenswert ist weiterhin, daß nicht nur die Figur Horace ihre tragische Situation nicht zu erkennen scheint, sondern Corneille selbst nicht. Er weist in seinem „Examen" zu ,Horace' auf die Zweigipfligkeit der Handlung hin und schreibt: Le second défaut est que cette mort fait une action double , par le second péril où tombe Horace après être sorti du premier. L'unité de péril d'un héros dans la tragédie fait l'unité de l'action ; et quand il en est garanti , la pièce est finie , si ce n'est que la sortie même de ce péril l'engage si nécessairement dans un autre que la liaison et la continuité des deux n'en fasse qu'une action ; ce qui n'arrive point ici , où Horace revient triomphant , sans aucun besoin de tuer sa soeur , ni même de parler à elle; et l'action serait suffisamment terminée à sa victoire. Cette chute d'un péril en l'autre , sans nécessité , fait ici un effet d'autant plus mauvais que, d'un péril public où il y va de tout l'Etat , il tombe en un péril particulier où il n'y va que de sa vie et, pour dire encore plus , d'un péril illustre où il ne peut succomber que glorieusement , en un péril infâme , dont il ne peut sortir sans tache. 2*

Der vorliegende Text — er wurde fast zwanzig Jahre nach ,Horace' verfaßt und mag wohl Spuren persönlicher Verletztheit tragen und des Bedürfnisses, zu beweisen, daß er sehr wohl die Regeln beherrsche — läßt jedenfalls eines deutlich hervortreten: daß jenes zentrale Merkmal des Tragise Théâtre complet, I, S. 781. 4 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 17. Bd.

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sehen, sein „dialektisches Moment", dem Dichter kaum als solches bewußt war, ja, daß er unter dem Druck des Postulats der Einheit der Handlung zumindest theoretisch einem Konzept der Tragödie folgte, das in der Gefährdung und siegreichen Überwindung der Gefahr durch den Helden das Handlungsmodell sieht. Corneille scheint nicht — oder nicht mehr — zu sehen, was Titus Livius wohl noch bewußt war, nämlich, daß die beiden „périls", die Horace erfährt, durchaus aufeinander bezogen sind. Als Einzelvorkommnis beinhaltet ein „péril" kein „dialektisches Moment"; die Abwertung der Position Camilles im „Examen" — deutlich im Hinweis, ihre Begegnung mit Horace sei unnötig — steht dazu in enger Entsprechung. Wesentliche Kennzeichen des Tragischen und seiner Paradoxie ist die Unaufhebbarkeit des Widerspruchs. Wie steht es damit in borace'? Wie der Cid überlebt auch Horace, freilich um einen ähnlichen Preis. Horaces Schuld wird nicht getilgt, nicht „aufgehoben", sie bleibt in ihrer ganzen Enormität und Unentschuldbarkeit auch für den König bestehen (V. 1740), weil sie nicht aufhebbar ist. Das beinhalten nicht nur explizit die Worte des Königs, das verdeutlicht auch implizit das z. T. widersprüchliche Kreuzund-quer-Argumentieren des alten Horace, der seinen Sohn verteidigt. Doch die Schuld wird überdeckt durch Horaces Verdienste, die Gesetze „schweigen" (vgl. V. 1754 f.), nicht zuletzt vor der Notwendigkeit, dem Staat bzw. der Familie eine so nützliche Stütze zu erhalten. Der alte Horace befindet sich in diesem Punkt in einer der des Königs analogen Situation und reagiert ähnlich. Die ausdrückliche Aufforderung des Königs an Horace, auch Valére, seinen Ankläger, zu lieben (V. 1763 f.), beinhaltet die Anerkennung der Vertretbarkeit des Anklägerstandpunkts. Die Paradoxie des „dialektischen Moments" legt ein Weltbild nahe, in dem irrationale und tückische Mächte das Schicksal der Menschen bestimmen; daß das grundsätzlich christliche und neostoische Weltbild Corneilles das Auftreten solcher Mächte in seinem Werk nicht völlig verhindert hat, zeigt,Horace 4 . Sabine und Camille glauben als erste die wirklichen Urheber des tragischen Konflikts erkannt zu haben. Sabine, die angesichts des Konflikts zwischen Rom und Alba und der Schwierigkeit der Parteinahme die Götter um Seelenruhe gebeten hatte, begreift ihr ironisches Wirken in dem Augenblick, als das volle Ausmaß der Konfrontation in ihrer Konzentration auf die beiden Familien deutlich wird, die ihr durch den sicheren Verlust entweder des Ehemanns oder des Bruders den Ausgang des Kampfes in der Tat gleichgültig machen kann: C'est là donc cette paix que j'ai tant souhaitée! Trop favorables Dieux , vous m'avez écoutée! (V. 759 f.)

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Noch einmal hofft sie auf die Weisheit und Güte der Götter, als der momentane Kampfaufschub zur Neubestimmung der Kämpfer bekannt wird; diesmal ist es Camille, die auf die Fühllosigkeit der Götter hinweist (V. 839 f.). Valére — ob in seiner Anklage voreingenommen oder nicht — zeichnet das zynischste Bild der Unberechenbarkeit der Götter: sie haben Horace an einem Tag zum Triumph und zu einem todeswürdigen Verbrechen geführt — er traut ihnen ohne weiteres zu, daß sie nun auch als Rächer der Unschuldigen, d. h. Camilles, auftreten und die Annahme des geplanten Siegesopfers mit den entsprechenden Konsequenzen verweigern könnten (V. 1519 f.). Auf die Götter beruft sich auch der alte Horace, freilich immer voll Vertrauen und in konsequenter Hintanstellung eigenen Wollens. So hätte auch er gern das Aufeinandertreffen der Familien vermieden, doch La prudence des Dieux autrement en dispose ; Sur leur ordre éternel mon esprit se repose: Il s'arme en ce besoin de générosité , Et du bonheur public fait sa félicité . (V. 979 f.)

Auch in der Tötung Camilles und ihren Folgen sieht er das bewunderungswürdige Handeln der Götter, die den menschlichen Stolz sofort zu dämpfen wissen (V. 1403 f.). Begriffe wie „prudence des Dieux", „ordre", aber auch „jugement" (V. 1403 f.) lassen das Wirken der Götter als sinnvoll erscheinen. I n der Welt des alten Horace kommt Tragik nicht vor, ebensowenig wohl wie in der seines Sohnes, der nie von den Göttern spricht und seine eigene Tragik kaum erkennt. Freilich, die Götter sind nicht nur Deutungsmodelle im Munde der betroffenen Figuren, sie beeinflussen direkt die Handlung, indem sie das von den Heeren gewünschte Auswechseln der Kämpfer explizit verweigern (V. 931). Ihre Ironie zeigt das Orakel, welches Camille das baldige Ende ihrer Sorgen und die immerwährende Vereinigung mit ihrem geliebten Curiace voraussagt (V. 195 f.) — eine Aussage, deren Kommentierung in der ursprünglichen Fassung den Schluß der Tragödie bildete 29 . Doch das ironische Wirken der Götter erstreckt sich nicht nur auf die Verwandtenmorde des Horace; diese vollziehen sich in der Tat vor dem Hintergrund einer Geschichte, die ganz unter dem Zeichen des „parricide" zu verstehen ist. Der Krieg gegen Alba ist der Krieg Roms gegen seine Mutter (V. 56), die Verfluchung Roms durch Camille stellt, noch über den 29 Oeuvres de P. Corneille. Nouvelle édition par M. Ch. Marty-Laveaux , I I I , Paris, Hachette, 1862, S. 358.

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Ansturm fremder Völker, die Selbstzerfleischung des Bürgerkriegs (V. 1311 f.) und der König schlägt das Verfahren gegen Horace mit dem Hinweis auf Romulus und Remus nieder (V. 1756). Der Staat, den Horace verteidigt, ist, ähnlich dem Atridenhaus, längst mit dem Makel des sich immer fortzeugenden Verwandtenmordes gezeichnet. Stellen wir rückblickend die beiden Werke nebeneinander, so fallen Gemeinsamkeiten in Handlungsführung und Thematik ins Auge. Der Held gerät in die tragische Verstrickung durch den Konflikt mit nahestehenden Personen, der in Tötung und Mord mündet. In beiden Fällen überlebt der Held, freilich nur durch Eingreifen des Königs, der in Richterfunktion auftritt. Der König hebt die Verfolgung des Helden auf: in ,Horace 4, indem er die Gesetze schweigen heißt, im ,Cid' unter Berufung auf einen kaum faßbar werdenden Willen des Himmels. Gestützt werden diese Entscheidungen jeweils durch Einbeziehung der Lebenspraxis. Ziehen wir den Schluß aus dem bisher Gesagten, so kommen wir zu folgender vorläufigen Hypothese: Corneille suchte Tragik in dem von uns verstandenen Sinn nicht bewußt; eine Kritik seines Gegners Georges de Scudéry am ,Cid c zeigt übrigens das gleiche Unverständnis 30 . Die von Corneille gewählten beiden tragischen Stoffe zeigen bei aller Rigueur der Verstrickung doch ein deutliches Widerstreben, in der Vernichtung des Helden die letzte Konsequenz zu ziehen. Betrachten wir nun unter Einbeziehung der von uns soeben hypothetisch skizzierten Tendenzen das Drama ,Cinna4, das ein Jahr auf ,Horace' folgte und schon von den Zeitgenossen als Meisterwerk eingeschätzt wurde 31 . Hier findet die dialektische Katastrophe, der Umschlag des Einen in sein Gegenteil, nicht mehr statt. Freilich ist die uns bekannte Konstellation vorhanden, die tragische Tat vorbereitet: Cinna, Günstling und Freund des Kaisers Augustus, wird von Emilie, mit der ihn gegenseitige Liebe verbindet, genötigt, ihren Vater, welcher der vormals skrupellosen Gewaltpolitik des Augustus zum Opfer gefallen war, durch Ermordung des Kaisers zu rächen. Aus einer Wahl zwischen zwei Pflichten würde eine tragische Situation, wenn sich die Tat, die Cinna um der Liebe Emilies willen ausführen soll, letztlich zwischen ihn und Emilie stellte, eine Situation, die sich abzeichnet, als Cinna an der Tat zu zerbrechen droht, als er ankündigt, nach der Ermordung seines Wohltäters und Kaisers Selbstmord begehen zu wollen (V. 1061). Daß es schließlich nicht dazu kommt, liegt nicht nur an 30

Vgl. Le Cid. Par L. Lejealle et J. Dubois. Nouvelle édition, Paris, Larousse, 1959, Nouveaux Classiques Larousse, S. 143 f. 31 Vgl. dazu Corneille selbst im „Examen" zu Cinna in Théâtre complet, I, S. 848.

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der vorzeitigen Verhaftung Cinnas, sondern daran, daß er angesichts der für ihn erkennbaren Tragik die Tat aufschiebt bzw. verweigert; nachdem er eben zum zweiten Mal den Entschluß gefaßt und besiegelt hat, Augustus zu ermorden und dann zu sterben, besinnt er sich auf Zureden Fulvies erneut anders und ist bezeichnenderweise im Moment der Verhaftung gerade dabei, „plus traitable et plus doux" (V. 1275) zu Emilie zurückzukehren und sie um Entlassung aus der Verpflichtung zu bitten. — Emilie befindet sich übrigens mutatis mutandis in der gleichen Situation wie Cinna: sie zögert zwar nicht vor der Tat, kommt jedoch an der möglichen tragischen Wendung nur dadurch vorbei, daß sie in der Hoffnung auf einen irgendwie sich ergebenden letztlich positiven Ausgang sich weigert, den tragischen Fall in seiner ganzen Konsequenz zu denken (V. 52; 126 f.; 1075 f.). René Jasinski spricht im Hinblick auf ,Cinna* von der Ersetzung der festgelegten Charaktere, die in großen Konflikten ihre „vertu" bewähren, durch die „héros en mutation" 32 . Der Souveränität dieser Charaktere, die zwar der Unbedingtheit eines Cid oder Horace ermangeln, dafür aber nicht blind der tragischen Verstrickung anheimfallen, sondern sich ihr verweigern, entspricht das Fehlen einer höheren Macht, die den ihr zu Gehorsam verpflichteten Menschen durch tückische Ironie zu Fall bringt. Die tragische Falle ist von vorneherein erkennbar. Die Verzeihung des Augustus, in der er sich gleichsam über das frühere Ich des blutrünstigen Tyrannen erhebt, bedeutet gleichzeitig das Aufsprengen der engen ethischen Mechanik, auf der Tragik beruht und der sich Cinna bereits durch sein Zögern verweigert hatte. In der unbedingten Konsequenz wie im ,Cid c und in ,Horace* kommt der tragische Ablauf bei Corneille — mit Ausnahme des ,Oedipec — zunächst nicht mehr vor. Freilich wird doch wieder die Anlage dazu aufgebaut, die Falle gespannt. Neben ,Cinna* zeigt das deutlich ,Rodogune* mit einer Handlung, die in vielem an die Atridengeschichte erinnert, sodaß sogar die Theorie vom Zugrundeliegen des Atridenmythos aufgestellt werden konnte 33 . Nicanor, König von Syrien und Gemahl der Cléopâtre, hat, um aus parthischer Gefangenschaft entlassen zu werden, der parthischen Prinzessin Rodogune seine Hand versprochen. Auf dem Rückweg in sein Reich, wo er Rodogune zu heiraten und seine Gemahlin Cléopâtre, die inzwischen auch anderweitig verheiratet gewesen war, nun aber wieder verwitwet ist, zu verstoßen beabsichtigt, läßt Cléopâtre ihn ermorden. Rodogune fällt in 32 „Sur ,Cinna*". Europe 52, nn. 540-41 (1974) 127. Marc Fumaroli , Tragique paien et tragique chrétien dans Rodogune, Revue des Sciences Humaines 38 (1973) S. 605. 33

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ihre Hand. Aufgrund eines Vertrags mit den Parthern muß sie dem Land einen König geben, der Rodogune zu heiraten hat. Sie läßt ihre beiden inzwischen erwachsenen Zwillingssöhne Antiochus und Seleucus, die im Ausland erzogen worden waren, kommen: sie w i l l verkünden, welcher der ältere ist, dieser soll Rodogune heiraten und König werden. Beide Brüder lieben Rodogune, die ihre Präferenz noch nicht deutlich gemacht hat. Die klassische Situation des Bruderkonflikts zeichnet sich ab. Doch als beide entdecken, daß sie bereit wären, jeweils auf die Herrschaft zu verzichten, um Rodogune zu erhalten, entschließen sie sich, in brüderlicher Freundschaft die Entscheidung der Mutter zu erwarten und sie anzunehmen. Cléopâtre, deren Haß gegen Rodogune inzwischen deutlich geworden ist, eröffnet den Söhnen eine unerwartete Bedingung: derjenige wird König, der den Gattenmord Cléopâtres rechtfertigt, indem er Rodogune tötet. Die Brüder entschließen sich, nach Beratung mit Rodogune die Mutter gemeinsam zu entmachten; Rodogunes Liebe soll dann entscheiden, wer ihr Gemahl und König wird. Doch Rodogune stellt die Brüder ihrerseits vor eine ebenso unmenschliche Bedingung: derjenige wird König und ihr Gemahl, der seinen Vater, den ermordeten Nicanor, rächt. Der Weg zum Thron scheint nur noch über Verbrechen zu führen. Angesichts dieser Situation verzichtet Seleucus auf Thron und Rodogune und zieht sich zurück. Antiochus versucht, Rodogune umzustimmen, was ihm auch gelingt; es gelingt ihm auch scheinbar, Cléopâtre umzustimmen. Sie erklärt ihn zu Erstgeborenen, er wird Rodogune heiraten und König werden. Ein letzter Versuch Cléopâtres, Seleucus gegen seinen Bruder aufzuhetzen, scheitert. Cléopâtre läßt Seleucus ermorden. Der Versuch, Rodogune und Antiochus bei der Hochzeitszeremonie zu vergiften, schlägt fehl, sie fällt ihm selbst zum Opfer. Die tragische Anlage besteht darin, daß, wiederum vor der Grundkonstellation des Konflikts unter Nahestehenden, legitime Akte wie Rechtfertigung der Mutter, Rache für den Vater, Rettung einer Unschuldigen, vielleicht sogar Notwehr, gleichzeitig zu Verbrechen werden müssen. Die „Gutmachung" einer Schuld schafft gleichzeitig eine neue. Charakteristisch ist hier zum einen die konstante Vermeidung des Bruderkonflikts, für den alle äußeren Voraussetzungen gegeben scheinen und der zu mehr als einem Anlaß ausbrechen könnte. Eine Parallele dazu bietet eine ähnliche Anlage in ,Nicomède', wo der Interessenkonflikt zwischen den Brüdern Nicomède und Attale auf amourösem wie politischem Gebiet von Außenstehenden in ihrem Interesse instituiert und geschürt wird, bis der Jüngere das Spiel durchschaut und sich mit dem Älteren verbündet;

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Si je suis son rival , je suis aussi son frère ; Nous ne sommes qu'un sang [.../ (,Nicomède', V. 1092 f.)

Wie sich die Brüder dem Brudermord verweigern, so auch dem sogar zu rechtfertigenden Mord an der Mutter: Seleucus, indem er kompromißlos auf alles verzichtet und jeden A k t in welcher Richtung auch immer verweigert (V. 1081 f.); Antiochus, der demgegenüber versucht, unter Einbeziehung praktischer Faktoren wie Überredung, Zeitgewinn usw. die tragische Falle zu demontieren, was ihm im Hinblick auf Rodogune tatsächlich, im Hinblick auf Cléopâtre nur scheinbar — sein Profit ist immerhin Zeitgewinn —, durch den von ihr selbst verschuldeten Tod aber dann endgültig gelingt. Die Faszination, die Cléopâtre in ihrer absoluten Bosheit und ihrem manischen Machtwillen immer wieder auf Kritiker und Leser ausübt, mag nicht zuletzt aus ihrer eigenen tragikähnlichen Situation resultieren, in der sie von Verbrechen zu Verbrechen schreitet, immer einsamer wird und schließlich genau das Gegenteil dessen erreicht, was sie erstrebt hatte: Règne! de crime en crime enfin te voilà roi. Je t'ai défait d'un père , d'un frère et de moi. (V. 1817 f.)

Tragikähnlich hatten wir diesen Untergang genannt, denn nach unserer Definition ist tragisch „auch nur der Untergang von etwas, nach dessen Entfernung die Wunde sich nicht schließt. Der tragische Widerspruch darf nicht aufgehoben sein in einer [ . . . ] übergeordneten Sphäre" 34 . Genau das aber ist hier der Fall : ihr Untergang ist Folge ihrer bewußt verübten Verbrechen — sie erkennt sie selbst als solche an — und damit gerechte Strafe. Das ist sein Sinn. Die Tendenz des Corneille'schen Theaters, so haben wir gesehen, wendet sich nach ,Horace', also nach 1640, vom Tragischen, wie es hier verstanden wird, ab, sei es, daß der Held angesichts der gespannten tragischen Falle zögert, sich verweigert, sei es, daß die Handlung das \ on Szondi geforderte „dialektische Moment" nicht mehr erkennen läßt. Nicht ohne eine gewisse Erwartung nähert man sich dem 1659 erschienenen ,Oedipec, einem Drama, das einen der beispielhaft tragischen Stoffe bearbeitet. Ein Handlungsablauf, dessen Tragik der Held nicht ausweichen kann, weil das Ungeheuerliche beim Aufgehen des Vorhangs bereits ge34

Szondi, S. 60, s. oben Anm. 16.

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schehen ist, dessen nicht weniger tragischer Enthüllung er sich nicht entziehen kann, weil er nicht erkennt, was er tut. Ein Sujet, das Corneille übrigens zusammen mit zwei weiteren von Fouquet vorgeschlagen bekommen hatte. Soweit die tragische Konstruktion betroffen ist, bewahrt Corneille den Handlungsablauf, wenn auch die seiner Dramaturgie eigenen Kunstmittel wie Verzögerungen, falsche Spuren, neue Figuren u. ä. Eingang finden, wodurch das Stück stellenweise einem Kriminalstück ähnlich wird 3 5 . Freilich kann man diese Hinzufügungen durchaus mit den von uns genannten Tendenzen eines Abbaus des Tragischen in Verbindung bringen: ein Kritiker weist darauf hin, daß diese Freiheiten, die sich Corneille erlaubt, die Möglichkeit bieten, die Perspektivik zu bereichern und neue Standpunkte erscheinen zu lassen36 — ein Verfahren, das der Konzentration der Tragik durchaus entgegenwirken kann; daß das gebrochene Verhältnis Corneilles zur Tragik durchaus fortbesteht, zeigt die Position, die ödipus schließlich gegenüber dem über ihn verhängten Schicksal einnimmt: es ist das sehr modern anmutende Selbstbewußtsein des Individuums vor der Übermacht der Götter, das der Schändlichkeit der durch ihre geheime Fügung von ihm unbewußt begangenen Verbrechen den „éclat de ces vertus que je ne tiens pas d'eux" gegenüberstellt (V. 1820- 1840) und mit einer aufrührerischen Geste die Welt vorzeitig verläßt. Der sophokleische Ödipus wird sich selbst ein Greuel, er reißt sich die Augen aus, um seine Verbrechen nicht sehen zu müssen37; Corneilles ödipus tut dies mit den Worten: Prévenons , a-t-il dit , l'injustice des Dieux , Commençons à mourir avant qu'ils nous l'ordonnent, Qu'ainsi que mes forfaits mes supplices étonnent. Ne voyons plus le ciel après sa cruauté, Pour nous venger de lui dédaignons sa clarté, Refusons lui nos yeux, et gardons quelque vie Qui montre encore à tous quelle est sa tyrannie. (V. 1988 - 1994)

Der Held, der dem tragischen Schicksal nicht ausweichen konnte, akzeptiert es nicht, indem er die Schuld nicht anerkennt; die Geste der Verweigerung, die Cinna, Antiochus und Seleucus angesichts des Tragischen charakterisierte, ist auch Corneilles ödipus eigen. 35 Vgl. James Dauphiné, ,Oedipe' de Corneille: une expérience de la liberté, Europe 52, S. 540-541 (1974) 154. 36 Ibid. 153. 37 Oedipus. Sophokles. Seneca. Corneille. Voltaire. Platen, hg. v. J. Schondorff , München-Wien, 1968, S. 60.

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Corneilles letztes Drama, ,Suréna' (1674), bedeutet in wesentlicher Hinsicht einen Bruch mit dem bisherigen Schaffen und weist eine Krise der Welt Corneilles auf, die sich am deutlichsten im Zerbrechen der Einheit von Staat und Held äußert. Welchen Einfluß hat diese Veränderung auf den Stellenwert des Tragischen? Murena* zeigt schon auf den ersten Blick Charakteristika, die oft im Zusammenhang mit dem Tragischen auf zutreten pflegen: die physische Vernichtung des Helden; eine von vorneherein gegebene Starre bzw. Ausweglosigkeit der Situation. Auch die von der Kritik oft angemerkte Nähe zu Racine 38 könnte an ein neues Erscheinen von Tragik denken lassen. Suréna befindet sich in der Tat in einer Situation, die von einer Paradoxie gekennzeichnet ist, wie sie dem Tragischen eigen ist: ähnlich wie der griechische Mythos die fast notwendig zum Fall verurteilte Größe kennt, gefährdet auch im System der „Maîtrise" 39 , das die dramatische Welt Corneilles beherrscht, gerade seine Größe den Helden. Suréna spricht es selbst aus: „Mon vrai crime est ma gloire, et non pas mon amour" (V. 1651). M i t dem Helden, der den König zum König macht, aber gerade deshalb fallen muß, ist die tragische Falle gespannt. Doch die Falle ist — wir haben es gesehen — demontierbar 40. Orode, der die Ordnung der „Maîtrise" verkörpert, versucht zunächst, auf die bewährte Weise, unter Einbeziehung der Lebenspraxis, die Situation zu entschärfen und ihre Tragik nicht zum Austrag kommen zu lassen. Die entwaffnende Offenheit, mit der er Suréna die Situation vor Augen stellt (V. 881 - 900), zeigt sein Verhaftetsein in dieser Ordnung, aber auch sein in diesem Rahmen ehrliches Bemühen, den angelegten Konflikt zu umgehen. Bemerkenswert ist, daß dieser Versuch nicht von dem vom Tragischen bedrohten Helden, sondern von einem Vertreter des Systems selbst unternommen wird, und daß dieser Versuch an der Persönlichkeit des Helden scheitert. Die Figur Suréna besitzt eine Dimension, die die früheren Heldenfiguren Corneilles nicht besaßen; sie ist in der Übung ihrer „générosité" nicht mehr auf eine ausschließlich politisch-gesellschaftliche „gloire" fixiert, sondern sie weitet den Anspruch der Selbstbestimmung auf einen Seinsbereich aus, der bisher in der Welt der Corneille'schen Tragödie ohne Gewicht oder mit den politischen Interessen deckungsgleich gewesen war und durch sein Hervortreten nun das Kraftfeld dieser Welt verändert: der Raum des privaten Empfindens. Suréna ist nicht mehr der cornelianische 3 8 Nach Lanson und Lemaitre (vgl. Doubrovsky, S. 431) auch Bernard Dort, Corneille dramaturge, Essai, Paris, L'Arche, 1972, S. 127 f. 3 ® Zum Begriff „Maîtrise" vgl. Doubrovsky , S. 92 f. (s. oben Anm. 22). 40 Doubrovsky, S. 470.

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Held, der jedes Interesse dem Glänze seiner heldischen oder königlichen „gloire" — und sei es unter Schmerzen — unterordnet, er ist es aber noch und in womöglich höherem Maße als seine Vorgänger in der Betonung der Autonomie seiner ganzen menschlichen Persönlichkeit, für die „gloire" ein fast verinner lichtes Ideal wird: „J'aurai soin de ma gloire, ordonnez de mes jours" (V. 1380). Diese Ambiguität wird im Tod des Helden deutlich spürbar, der nicht wie ein aus der Ausweglosigkeit der tragischen Verstrickung sich ergebender, mit dem Odium der Schuld belasteter Tod anmutet, sondern eher wie der siegreiche Tod des Märtyrers, der „die Welt überwunden" hat, „l'affirmation d'une liberté qui refuse de se laisser prendre au piège d'un monde mauvais" 41 . Wie die früheren Helden sich der blinden Mechanik eines Rituals von Rache und Verbrechen verweigerten und darin ihre Autonomie bewiesen, verweigert Suréna die Unterwerfung und Opferung eines bisher kaum relevanten Sektors der menschlichen Persönlichkeit, seines „Herzens" (V. 1310). Das Tragische erfüllt sich jedoch nicht nur, weil sich in der Figur Surénas das Menschenbild geändert hat, weil ein neues Verständnis des Autonomiebegriffs den Helden hindert, die ihm offenen Ausweichmöglichkeiten wahrzunehmen, sondern auch, weil die Rettung nicht kommt, weil kein Volksaufstand, kein Parteiwechsel, kein plötzlicher Tod des Königs, kein Einbruch der Lebenspraxis Surénas Beharren und Euridices Verzögerungsversuche honorieren. Sie bleiben ergebnislos. Das Tragische wird in ,Surenae wieder wirksam, weil ein neues Menschenbild alte Neutralisierungsmöglichkeiten des Tragischen nicht mehr zuläßt und neue nicht sichtbar werden. Die Wandlungen des Tragischen durch das Werk Corneilles hindurch legen, jenseits eines generellen Niditerfassens des Begriffs in der von uns bestimmten Form — wie es aus dem „Examen" zu ,Horace 4 deutlich und durch die Nichtbehandlung des Begriffs bei Aristoteles verständlich wird — eine tendenzielle Unvereinbarkeit seines Welt- und Menschenbildes zwischen ,Horace' und ,Surena', das der Tragik in einer neuen Einstellung wieder Raum gibt und zehn Jahre vor seinem Tod als sein letztes dramatisches Werk erscheint, nahe: das Wissen Corneilles um die Nicht-mehr-Akzeptierbar keit des antiken Tragikbegriffs angesichts veränderter weltanschaulicher Grundpositionen 42 und die als Hintergrund stets präsente christlich-neostoische Weltanschauung Corneilles ließen wohl keinen Raum für Tücke und Bosheit transzendentaler Mächte 43 . Die explizite Verifizierung Ebda., S. 154. 42 Fumaroli , S. 606 - 608. « Maurens y S. 316.

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dieser Hypothese und die Einordnung des Wandels des Tragischen bei Corneille — einschließlich seines letzten Werkes! — in psychische, soziale und geistesgeschichtliche Großzusammenhänge wäre noch zu leisten, geht aber über den Rahmen unserer Fragestellung hinaus.

„DER LEIDIGE TROMPETER T I L L " Unerkannte Steffens-Persiflagen in J. Baggesens ,Vollendetem Faust* und in den ,Literarischen Scherzen* A. W. Schlegels* Von Ernst E. Metzner

Habent sua fata libelli — und auch Aufsätze wie dieser! Während der Vorarbeiten zu meinem Buch ,Zur frühesten Geschichte der europäischen Balladendichtung: Der Tanz im Kölbigk* (Frankfurt 1972), in dem mehr oder minder direkt auch über die mittelalterliche Gattungsgenese der dänischen Folkevise gehandelt werden mußte und dann audi gehandelt wird, bin ich zur Klärung lokalhistorischer Probleme nach entsprechender Empfehlung mit Franz Stieler in Bernburg/Saale (DDR) in Verbindung getreten. Der Ort des ersten bezeugten Balladentanzes Kölbigk liegt in der unmittelbaren Nähe dieser ehemals sächsisch-anhaltischen Stadt (mit einem Namen der Dietrichs-Sage!) — die in der deutschen Dichtungsgeschichte u. a. auch dadurch in Erscheinung tritt, daß sie als Aufenthalt T i l l Eulenspiegels zu gelten hätte, wenn man der 22. Historie des Volksbuchs von ,Dyl Ulenspiegel* und der örtlichen Uberlieferung glauben wollte 1 . Wie es auch sei, auf die spätere Übermittlung meiner Kölbigk-Untersuchung hin hat F. Stieler, inzwischen nach Rellingen bei Hamburg verzogen, mir unter anderem einen eigenen, letztlich ebenfalls seinen Bernburger Interessen entsprungenen Aufsatz im Eulenspiegel-Jahrbuch 1974 ,August Wilhelm Schlegel und * Der Aufsatz erschien in leicht veränderter Form zuerst auf dänisch in: Convivium 1976, S. 48 -65, unter dem Titel „Steffens, Baggesen og A. W. Schlegel: Uopdagede satiriske Steffens-portraetter i Baggesens ,Der vollendete Faust* og i A. W. Schlegels ,Literarischen Scherze' Da er auf eine Fragestellung im Eulenspiegel-Jahrbuch 1974 zurückgeht, sind die Ergebnisse in Gestalt einer sehr gekürzten Fassung als ,Antwort* auch im Eulenspiegel-Jahrbuch 1977, S. 29 - 34, veröffentlicht: „,Der leidige Trompeter Till': Eulenspiegel-Rezeption im Umkreis der deutschen Romantik (oder: Antwort auf eine Frage im Eulenspiegel-Jahrbuch 1974)". 1 S. Ein kurtzweilig lesen von Dil Ulenspiegel, nach dem Druck von 1515 mit 87 Holzschnitten herausgeg. v. W. Lindow, Stuttg. 1966 ( = Reclams UniversalBibl. Nr. 1687/88/88 a/b), S. 65 f. und F. Stieler, Turmbläser Till Eulenspiegel im Volksbuch und in der Bernburger Überlieferung, in: Eulenspiegel-Jahrbuch 1969, 9. Jg., S. 10 - 13.

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Eulenspiegel ( I I ) ' 2 zugänglich gemacht. Er drückte dabei die Hoffnung aus, daß der Literarhistoriker die darin wieder ins Bewußtsein gerückte Aufgabe lösen könne: Wen unter seinen Zeitgenossen meint A. W. Schlegel, wenn er im Jahr 1831 und mit deutlichem Rückbezug wieder 1844 offenbar aus aktuellen Anlässen, aber in poetischer Verschlüsselung zu einem „Zeter" schreienden, „lang verschollenen" und „leidigen Trompeter" Till Eulenspiegel dichtend Stellung nimmt? 3 Daß die Antwort auch auf diese Frage von spezieller Bedeutung für dänische Leser hätte sein können, oder daß weitere Eulenspiegel-Rezeption im Umkreis der deutschen Romantik in den Blick kommen würde, war nicht anzunehmen; und nicht zu erwarten war, daß ein hauptsächlich mit Mediaevistik befaßter Germanist zur Lösung beitragen könnte. Doch wie der Zufall so spielt: Die während meiner Aarhuser Lektoratsjahre unter Einfluß des genius loci erworbenen Kenntnisse des deutsch- und dänischsprachigen Werks von J. Baggesen, die durch eigene spätere Untersuchungen noch vertieft wurden 4 , wiesen sogleich einen Weg, oder besser Umweg zur Beantwortung. Besagter Umweg führt über einige Passagen aus Baggesens seinerzeit berühmt-berüchtigter deutschsprachiger Zeitsatire ,Der vollendete Faust', die sich auf einen zeitgenössischen ,Till Eulenspiegel' bezogen, auf die Person von Henrich Steffens, also auf einen anderen Skandinavier dänischer Herkunft, der im deutschen Geistesleben seiner Zeit eine nicht geringe Rolle spielte. Nachdem man vor kurzem in der Bundesrepublik ausführlich über die durch den Schelling-Schüler Steffens vermittelte Rezeption der deutschen Romantik in Skandinavien gearbeitet bzw. Steffens' Vermittlerrolle in Erinnerung gebracht hat 43 ', erscheint es nur recht und billig, wenn man nun umgekehrt einmal wieder das Augenmerk auf die Wirkung dieser faszinierenden Persönlichkeit und ihres Werkes im damaligen geistigen Deutschland lenkt; wenn dabei noch Hinweise auf Baggesens Stellung zu seinem jüngeren Landsmann und auf bisher nicht erkannte Baggesen-Kenntnisse bei A. W. Schlegel abfallen — um so besser!

2 F. Stieler, August Wilhelm Schlegel und Eulenspiegel (II), in: EulenspiegelJahrbuch 1974, 24. Jg., S. 22 - 26. 3 Die beiden A.-W.-Schlegel-Gedidite werden künftig zitiert nach A. W. von Schlegel, Sämmtliche Werke, hrsg. v. E. Böcking, I I , Poetische Werke 2. Theil; Nachdruck der 3., sehr vermehrten Ausgabe Leipzig 1846, S. 240-42, Hildesheim 1971. 4 S. dazu vorläufig die Besprechung von: J. Schillemeit, Bonaventura. Der Verfasser der ,Nachtwachen*. München 1973, in: Aurora, Jb. d. Eichendorff-Gesellschaft 34, 1974, S. 96 - 100. 4a Vgl. F. Paul, Henrich Steffens. Naturphilosophie und Universalromantik, München 1973, bes. S. 159-233; s. auch V. A. Schmitz, Dänische Dichter in ihrer Begegnung mit deutscher Klassik und Romantik (=Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jh.s 23), Frankfurt 1974, S. 44 - 48.

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Doch n u n zur Sache, d. h. zu den beiden fraglichen Schlegel-Texten : I n Amadeus Wendts ,Musenalmanach für das Jahr 1832' steht einleitend das 1831 entstandene Gedicht ,Eulenspiegel als Thurmwächter'; i n ,A. W . v o n Schlegels sämmtlichen Werken', hrsg. v o n E. Böcking, Leipzig 1846, findet man es i m 2. Band bei den »Epigrammen u n d litterarischen Scherzen auf Zeitgenoßen' (S. 240 f.) — unmittelbar v o r dem 13 Jahre jüngeren, aber inhaltlich zugehörigen Poem ,Erwiederung auf den letzten Z u g an der Lärmglocke aus dem irdischen Jammerthale. I m M ä r z 1844' (a.a.O., S. 241 f.) 5 . Nach dieser Ausgabe zitieren w i r i m Folgenden:

Eulenspiegel als Thurmwächter Ihr kennt des Eulenspiegels Streiche, Gar weit berühmt im röm' sehen Reiche. Fast jedes Handwerk gieng er durch, Nahm Kriegsdienst aiuch in einer Burg; Da ward er auf den Thurm gestellt, Wo weit zu schauen war das Feld, Daß er in die Trompete stieße, Wenn Feindes Schaar sich blicken ließe. Sie sprachen: »Siehst du Fähnlein nah'n, So blase nur sie flugs heran'. — Das war so eine Redensart. Dabei bedrohten sie ihn hart, Wenn er entwiche von dem Posten, So würd' es seinen Sold ihm kosten. Nun kam die Zeit zum Mittageßen, Und Eulenspiegel ward vergeßen, Durch keinen guten Trunk getrost't, Und audi von niemand abgelös't. Da griff er zur Trompete fein, Und blies aus Leibeskräften drein. Die Knechte waffnen sich zu Haufen; Viel· kamen auf den Thurm gelaufen. ,Wo ist der Feind? Sag\ Eulenspiegel! ,Man sieht ja nichts um Wald und Hügel·. — Er sprach: ,Ich kann ihn auch nidit sehn, Doch solches ist mit Fleiß geschehn. Ich sah, daß keine Feinde kamen: Da hab' ich denn, in Gottes Namen, Heranzublasen sie versucht'. — Sie Sprachen: ,Schalksnarr, «ei verflucht! Du hast die Mahlzeit uns verstört, Da wir den Zeterlärm gehört'.

s a.a.O., S. 240 f., siehe Anm. 3; vgl. F. Stieler, a.a.O., S. 22, siehe Anm. 2.

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So schrie jüngst Zeter, Zeter, Zeter, Ein lang verschollener Trompeter. Tragt ihm das Eßen fleißig zu, Auf daß er künftig schweigen thu\

Danach das jüngere Gedicht des Bonner Professors A. W. von Schlegel, dem zufolge „Gott Vater" den armen, aber keineswegs bösartigen Irren in das zur Zeit der Abfassung als Irrenhaus dienende Kloster Michaelsberg bei Siegburg (nicht weit von Bonn), das vom H l . Erzbischof Anno von Köln gegründet worden war, verweisen möchte: Erwiederung auf den letzten Zug an der Lärmglocke aus dem irdischen Jammerthale. Im März 1844. Gott Vater. Schau vor das Himmelsthor hinaus, Sanct Peter; Wer schreit da draußen Zeter, Zeter, Zeter; Es ist gewiß der leidige Trompeter, Der schon vor dreizehn Jahren uns erschreckte, Und die Gefahr, die nirgends war, entdeckte. Sanct Peter. Ja, höchster Herr! Es ist Till Eulenspiegel; Schon hab' ich vorgeschoben alle Riegel: Doch schließ* ihm selbst den Mund mit deinem Siegel. Till Eulenspiegel. Ach Herr! komm Herr! nimm deines Donners Hammer Und schlag* entzwei den unentwirrbar'n Jammer. Gott Vater. Man sperr' ihn ein in der Verrückten Kammer, Dort aiuf des frommen Bischofs Anno Berge, Daß ihn der Doctor vor der Welt verberge. Ich habe Mitleid mit dem armen Tropfe: Bös* ist er nicht, nur spukt es ihm im Kopfe.

Zuerst hat es den Anschein, als wäre die wahrscheinlich in Bernburg spielende 22. Historie des Eulenspiegel-Volksbuchs („wie Ulenspiegel sich zu dem Grafen von Anhalt verdingt für ein Thurnbläser, und wan Feind dar kamen, so bließ er sie nit an, und wan kein Feint da was, so bließ er sie an" 6 ) neben dem „Zeterlärm" des Zeitgenossen der einzige noch nennenswerte stoffliche Hintergrund der beiden Gedichte; jedenfalls darf man zunächst — bis zum Erweis des Gegenteils — aus dem Faktum, daß in beiden Texten gewissermaßen stereotyp von einem „Trompeter" die Rede ist, obwohl im Wortlaut des Volksbuchs das Instrument des „Thurnbläsers" 6

a.a.O., S. 65, siehe Anm. 1.

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nicht ausdrücklich genannt wird, sogar auf Kenntnis auch der zugehörigen Volksbuch-Illustration schließen: Auf ihr ist ganz ohne Zweifel ein Trompetenbläser auf einem Turm über einem menschenleeren Feld dargestellt 7. Gleichwohl gibt Schlegel, wenn er, wie es also scheint, tatsächlich vom Volksbuch ausgeht, die dortige ziemlich umfängliche Geschichte nicht genau wieder, sondern er modelt sie zu seinem Zweck um; am deutlichsten ist die Kürzung um das ganze erste Erzählglied, das berichtet, wie der nicht mit Speise versorgte Eulenspiegel aus Rache sein Wächteramt vernachlässigte und nicht vor tatsächlichen Feinden warnte. Das Ergebnis der Umarbeitung ist eine „Zweckdichtung" des literarischen Kritikers Schlegel, „die an epischer Spannung und Wirkung recht arm geworden ist" 8 , aber mit der veränderten Aussage eben auf die persiflierte zeitgenössische Wirklichkeit zu verweisen vermag. Der Sinn könnte danach mit den Worten Stielers richtig umschrieben sein: „Gewährt dem vergessenen Künder einer überwundenen Denkweise, der durch einen erschreckenden Aufschrei sich und seine Ideen noch einmal zur Geltung bringen will, mitleidige Aufmerksamkeit, damit er euch nicht ernstlich stört!" 9 Stärker zu betonen ist allerdings die trotz aller Distanzierung deutliche apologetische Tendenz in beiden Äußerungen A. W. Schlegels, vor allem im ersten Gedicht. Denn offenbar ist es wie im Volksbuch nicht rechtens, daß der Turmwächter T i l l in Vergessenheit geriet, und es soll verständlich erscheinen, daß er sich mit seinem nichtig-närrischen Alarm sowohl in Erinnerung bringt als auch an seinen Brotherrn und Kollegen auf harmlose Weise schadlos hält. I m Volksbuch resümierte Eulenspiegel entsprechend : „Warzu jederman Recht hat, das nimpt man ihm gern." 10 Und nicht ausdrücklich gesagt ist, daß der Zeternde 1831 und 1844 dieselben Ideen vertritt wie zur Zeit seiner früheren Berühmtheit: Nur auf die Tatsache des neuerlichen Hervortretens des „Trompeters" wird ausdrücklich verwiesen. Dazu erscheint es im Hinblick auf das spätere Gedicht und auf die ausstehende Identifikation des Helden noch bemerkenswert, daß auch schon in ,Eulenspiegel als Thurmwächter' suggeriert wird, der gemeinte Zeitgenosse habe „in Gottes Namen" gehandelt; im Volksbuch spielt Gott kennzeichnenderweise nicht mit hinein! Der Gemeinte scheint also in irgendeiner Form bzw. nach der Auffassung Schlegels religiösen Wahnvorstellungen verfallen zu sein, denenzufolge Gott ihn zu seinem Tun autorisierte — ohne daß Gott oder eben A. W. Schlegel „dem armen Tropfe" — so das spätere Gedicht — deswegen wirklich zürnen könnten: denn „Bös* ist er nicht", der 7 8 0

S. den Holzschnitt a.a.O., S. 65. F. Stieler a.a.O., S. 23, siehe Anm. 2. ebda. a.a.O., S. 67 f.

5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 17. Bd.

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Tropf. Alle diese Aussagen sind natürlich zu beachten, wenn es um die Identifizierung des Armen geht. Daneben ist selbstverständlich von Wichtigkeit, daß es aller Wahrscheinlichkeit nach gedruckte Äußerungen dieses neuzeitlichen T i l l von 1831 und 1844 sind, auf die A. W. Schlegel reagiert, wobei noch zu berücksichtigen wäre, daß die Verlautbarung von 1844, als „letzter Zug an der Lärmglocke aus dem irdischen Jammerthale", auf ein schon vom Tod überschattetes Spätwerk, vielleicht auf das letzte aus einer Reihe ähnlicher, verweist. Nur derjenige Autor kann darum in Frage kommen, der, nicht mehr in jungen Jahren, 1831 und 1844 mit Verlautbarungen an die Öffentlichkeit trat, auf die die Charakterisierung durch A. W. Schlegel in etwa zutrifft, und nur eine solche Persönlichkeit kommt in Frage, deren einstiger Ruhm von Schlegel, aus welchen Gründen auch immer, noch in den dreißiger und vierziger Jahren des Jahrhunderts als berechtigt anerkannt wurde. Keineswegs eine nichtssagende captatio benevolentiae dürfte es, was diesen T i l l anlangt, jedenfalls sein, wenn vor den ,Epigrammen und litterarischen Scherzen auf Zeitgenoßen', zu denen die beiden Eulenspiegel-Gedichte ja zählen, der Vierzeiler steht 11 : Nur das Berühmte taugt zum Epigramme: Auf hohe Gipfel zielt des Blitzes Flamme. Drum, wenn euch hier die Muse scherzend nennt, So nehmt es, bitt* ich, für ein Compliment.

Man würde aber trotz aller durch die Schlegel-Poeme bereitgestellten Indizien wohl weiterhin im Dunkeln tappen müssen, wenn nun nicht ein „hallischer Trompeter", genannt „ T i l l " , der auch „unläugbar viel / Von unsrem seligen T i l l Eulenspiegel"12 habe, schon in J. Baggesens zeit- und literaturkritischem „dramatischen Gedicht" ,Der vollendete Faust', das nach Auskunft der Söhne des Verfassers „bereits im Jahre 1804" entworfen wurde 123 -, unter denjenigen Tollhausinsassen erschien, die der frühen Romantik zuzurechnende „Philosophen und Minnesänger des neunzehnten Jahrhunderts", Bewohner der jugendlich tollen, zeitgenössischen „romantischen Welt" Deutschlands, darstellen sollten 12b . Vor kurzem habe ich an etwas entlegener Stelle den einen, der mit dem „Trompeter T i l l " zusammen im Personenverzeichnis des „Stücks" Aufgeführten, „Klingel", mit dem epigonalen Romantiker A. Klingemann identifiziert, der neuerdings mit 11 a.a.O., S. 190. 12 S. J. Baggesens poetische Werke in deutscher Sprache, hrsg. v. den Söhnen des Verfassers, Carl und August Baggesen, I I I , Leipzig 1836, 57, 74, 75, 76 u. 103. Die Werke werden künftig zitiert als: PW. 12a PW I, S. X I I . i2b PW I I I , 103 u. 102.

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der Zuschreibung der berühmten »Nachtwachen* durch J. Schillemeit wieder zu einiger, aber doch wohl ungerechtfertigter Berühmtheit gelangt ist 1 3 . Kein Zweifel, daß der „hallische Trompeter T i l l " bei Baggesen und die Gestalt des „leidigen Trompeters T i l l Eulenspiegel" bei A. W. Schlegel, die ebenfalls einen etwa gleichaltrigen Zeitgenossen persifliert, in irgendeiner Form zusammenhängen und die gleiche Person meinen können; kein Zweifel, daß man bis zum Erweis des Gegenteils von der Identität ausgehen kann und darf. Da Baggesen nun schon 1826 gestorben und sein pollendeter Faust', obgleich erst 1836 posthum erschienen, wie gesagt, bereits 1804 konzipiert (und jedenfalls noch im ersten Jahrzehnt des 19. Jhs. ausgearbeitet) worden ist, liegt es folglich nahe, für die 1831 und 1844 entstandenen Schlegel-Gedichte die Kenntnis dieser romantisch-antiromantischen Satire, mit der sich Baggesen zwischen alle Stühle des damaligen deutschen Literaturbetriebs zu setzen im Begriff war, anzunehmen — was nicht bedeutet, daß Schlegel daneben nicht auch das Volksbuch gekannt bzw. herangezogen haben könnte; die Stilisierung „Tills" als „Trompeter" durch Baggesen sollte ja wohl als Hinweis eben auf die dortige Geschichte vom Turmbläser Eulenspiegel verstanden werden, und Baggesen konnte die Kenntnis davon und ein entsprechendes Verständnis um so eher voraussetzen, als sie auch ihm — und möglicherweise eben aus dem Volksbuch mit seiner bildlichen Darstellung — geläufig war. Die Annahme einer Abhängigkeit Schlegels von Baggesen liegt auch deshalb nahe, weil wir wissen, daß ,Der vollendete Faust' zu seiner Zeit „fast allen Romantikern" handschriftlich zugänglich gewesen ist 14 . Und sie bildet so lange die einzige Erklärung für die Gemeinsamkeiten, wie nicht nachgewiesen ist, daß sowohl Baggesen als auch Schlegel unabhängig voneinander aus der gleichen, uns unbekannten Quelle schöpften; diese hätte dann allerdings wohl denselben Zeitgenossen als ,Trompeter' gekennzeichnet, den auch Baggesen und Schlegel meinten. Daß aber die Schlegel-Gedichte entgegen allen notwendigen Zweifeln doch ein Zeugnis für die Rezeption Baggesens durch die Romantiker sind und man von einer gemeinsamen Quelle nicht wird sprechen können, macht wohl ein genauerer Textvergleich wahrscheinlich, der zumindest für das spätere Poem von 1844 die Annahme der Benutzung von Baggesens inzwischen ja gedrucktem ,Faust' nahelegt. So findet sich im ersten Teil (4. Aufzug, 1. Auftritt), in der Szene, in der der besonders tolle, w i l l sagen: romantische „hallische Trompeter" — unmittelbar neben „einem 13 S. das Anm. 4 als Gegenstand der Rezension gen. Buch; zu ,Klingel = Klingemann' s. die gen. Rezension S. 98. 14 L. L. Albertseriy Das vorgeformte Wort. Baggesen als Übersetzer und Parodist, in: Nerthus I I , S. 151-185, S. 171.

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Schock / Einsiedler — die für ganz unheilbar heillos / Gehalten werden" — zum ersten Male erwähnt wird, bei der Vorstellung eines anderen „ganz und gar verkehrten" Tollhausinsassen, des „Kohlenbrenners Keit" ( = von hinten nach vorn gelesen: Tiek = Tieck), eine Passage, die ohne Frage als Anregung für Wortlaut des späteren Schlegel-Poems gedient haben könnte; bei der Präsentation begegnet der Tollhausinspektor mit ihr der eifernden Empörung des dümmlichen, philiströsen Landesherrn 15 : Ich bitte für den armen Kauz. Er meint's Mit allem dem nicht bös'. Es ist unmöglich, So sehr er beißt, ihm nicht recht gut zu seyn.

Der Erfolg bleibt nicht aus; der Herzog ist von der Harmlosigkeit überzeugt, denn, so resümiert er: „Gott und ich /' Wir sehn auf's Herz" 1 6 . Erinnert das alles nicht an die begütigende Rede des allwissenden „Gott Vaters" bei Schlegel (1844), mit der er den oberflächlichen Eifer des Himmelspförtners leise tadelt: Ich habe Mitleid mit dem armen Tropfe: Bös' ist er nicht, doch spukt es ihm im Kopfe.

Kaum ein Zufall auch, daß das Tollhausmotiv hier wie dort erscheint! A. W. Schlegel hat sich darum mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit 1844 durch das Szenarium des ,Vollendeten Fausts' und die dortige Personendarstellung der Tollhausinsassen anregen lassen: Wenn er sich im Jahre 1831 nicht mehr an den Wortlaut erinnerte, 1844 diente dieser ihm, inzwischen gedruckt, als Vorlage bei der Charakterisierung des ,Till c — als Vorlage, die er eben darum heranzog, weil er dieselbe Person bereits 1831 nach dem Muster des ,Vollendeten Faust', soweit er ihn damals vergegenwärtigen konnte, gezeichnet hatte! Ist die Suche nach dem historischen Vorbild des „Trompeters T i l l " jetzt noch notwendig? Ist mit dem unumgänglichen Einbezug von Baggesens ,Vollendetem Faust' die Verrätselung A. W. Schlegels nicht automatisch entschlüsselt? H a t nicht R. Kratochwil in seiner Dissertation über Baggesens Faust-Dichtung den „hallischen Trompeter T i l l " nicht längst mit dem „romantischen Dramatiker" Wilhelm von Schütz (1776- 1847) identifiziert? 17 PW I I I , 57, 64, 65. ie ebda 66. 17 R. Kratochwil, Jens Baggesens ,Vollendeter Faust'. Eine Monographie, I + I I , Diss. Wien 1930 (masch.) I, S. 87 f. Über W. von Schütz s. H . Sembdner, SchützLacrimas. Das Leben des Romantikerfreundes, Poeten und Literaturhistorikers Wilhelm von Schütz (1776 - 1847), Berlin 1974.

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Wie sehr diese — chronologisch an sich auch jetzt noch mögliche — Gleichsetzung allerdings auf schwachen Füßen steht, kann man bereits aus dem Umstand folgern, daß Kratochwil zur Erklärung des nicht zu W. von Schütz passenden, mehrfach verwendeten Beiworts „hallisch" eine Verwechslung W. v. Schütz' mit dem „Hofrat Schütz in Halle" durch Baggesen annehmen muß 1 7 a . Ganz entsprechend baufällig konstruiert erscheint das Gedankengebäude Kratochwils, wenn er aus Baggesens ausführlicher Schilderung des Trompeters einen Hinweis auf seinen Vornamen in der Realität, auf Wilhelm, herauslesen zu können meint. Wir zitieren die angeblich beweiskräftige Passage zur Gänze, weil ihre Angaben ja auch für unsere Argumentation von Bedeutung werden. Der „hallische Trompeter" scheint dem Tollhausinspektor besonders gefährlich zu sein 18 : Vor dem würd' oft mir selber bange wenden, Wär' er nicht ein Coujon 19 im Grund*. Er ist Der überschwänglich tollste, Eure Hoheit. Er giebt ein' Ohrfeig jedem, der ihn nidit Eur Allerhödiistgeboren nennt. Genie Hört er am liebsten sich betiteln; nämlich So nennt er auch am häufigsten sich selbst. Er spricht von nichts als seinen eignen Werken, Und seiner tragisch-göttlichen Natur — Sein wahrer Nam' ist Pausback, sagt man, aber Sie nennen Till ihn. Er ist pudeldrollig In guter Laun', und hat unläugbar viel Von unsrem seligen Till Eulenspiegel. Herzog. Teil Eulenspiegel! will er sagen. Schiller hat den beschrieben. — Wilhelm hieß er auch — Hat einst dem guten alten Hause Oestrich Viel Schabernack getan! — er war ein Schweizer.

Tollhausinspector. Der Till, von dem ich spreche, Eure Hoheit, Macht freilich Schabernack genug — allein — Herzog. Weiß wohl; Er spricht nur von dem tollen Teil; Er ist hodimüthig, sagt er, aufgeblasen? Das kömmt von dem Trompeten! Mag das nicht.

Tollhausinspector. Gar Niemand mag's, mein gnädiger Fürst . . . (usw.). i7a ebda S. 187. is PW I I I , 75 f. 19 ,Coujon' im deutschen Text hat hier entgegen der modernen Bedeutung »Schuft, Quäler' noch den Sinn ,Feigling', wie frz. ,coillon'!

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Zum Argumentationsgang Kratochwils zurück! Der Auftritt einer zeitgenössischen Figur unter dem Decknamen des „Trompeter T i l l " ist ganz offensichtlich nicht, wie Kratochwil meint, dadurch motiviert, daß Baggesen unvermerkt auf den Namen eines „Schütz" mit dem Vornamen „Wilhelm" kommen w i l l 2 0 . Vielmehr soll das besserwisserische Abirren des Herzogs von „ T i l l " auf „Teil", der neben „Eulenspiegel" also „auch" noch „Wilhelm" geheißen haben soll, die gewissermaßen exemplarische totale Ignoranz des (Duodez-)Fürsten in Sachsen Kultur und Literatur bloßstellen, wobei Baggesen sogleich die Gelegenheit zu besonderer Aktualität beim Schöpf ergreift: 1804 war Schillers ,Wilhelm Teil* erschienen — 1804 aber ist wohl der ,Vollendete Faust' bereits in den Grundzügen konzipiert worden! Wie konnte man bei der an sich schlüssigen Nennung von Wilhelm Teil an Wilhelm von Schütz denken, wenn diese Identifizierung so schlecht vorbereitet war? Das Epitheton „hallisch", wie gesagt wiederholt gebraucht und also von großer Bedeutung, mußte ja geradezu davon ablenken, ebenso der eben aufgezeigte — und immer wieder aufzuzeigende — zeitkritische Impetus der Satire, den es nicht zu übersehen gilt. Bei der gegebenen Sachlage ist also die Frage nach der Identität des Trompeters mindestens noch offen — doch sie ist nach dem Einbezug der beiden Gedichte A. W. Schlegels, den wir oben begründet haben, natürlich keineswegs mehr so schwer zu beantworten wie bisher! Wir dürfen um der Einfachheit willen einen Sprung machen: Durch Überschrift und Einleitung ist ja bereits die Lösung des literarischen Rätsels, die wir nun zu vertreten haben, angezeigt. Das Vorbild für die Mystifikation „Trompeter T i l l " bei J. Baggesen und A. W. Schlegel ist der bekannte dänisch-deutsche romantische Naturphilosoph und Schelling-Schüler Henrich Steffens (1773 - 1845), den man in Dänemark und gerade heute in Deutschland nicht genauer vorstellen muß 21 . Auf ihn führt zunächst sein Aufenthalt im Tollhaus der deutschen Romantik, als dessen Insassen Baggesen ja den „Trompeter T i l l " bezeichnet — man hätte ja schon längst auch Steffens in dieser Gesellschaft vermuten müssen! Darauf führt auch seine Einreihung unter die „Philosophen und Minnesänger des neunzehnten Jahrhunderts", wo „ T i l l " mit „Schrelling" ( = Schelling!) genannt wird 2 2 . Und darauf führt eben vor allem auch das von Kratochwil bagatellisierte, aber durch mehrfache Nennung 20 a.a.O. I, Anm. 1; S. 188, Anm. 17: Die Passage erkläre, „weshalb Baggesen seinen Mann als Till auftreten läßt. Um Till Eulenspiegel ist es ihm nur wenig zu tun, sondern viel mehr um den Teil soll es sich handeln. Teil ist ein »Schütz' . . . Wilhelm heißen beide . Λ* 21 Vgl. jetzt vor allem H . Hultberg, Den unge Henrich Steffens 1773 - 1811, Kopenhs^en 1973 (=Festskrift udg. af Kobenhavns Universitet i Anledning af Universitets Arsfest Nov. 1973) u. F. Paul (siehe Anm. 4 a). 22 PW I I I , 103,

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hervorgehobene Epitheton „hallisch" — das dann u. E. mit Fug bei A. W. Schlegel nicht mehr erscheint! War doch H . Steffens, nachdem er im März 1804 nach Halle berufen worden war, von Herbst 1804 bis 1806 und dann wieder von 1808 bis 1809 Professor an der dortigen Universität, also eben zu der Zeit, in der der ,Vollendete Faust' Baggesens konzipiert und geschrieben worden ist. Wenn wirklich Steffens gemeint wäre, würde also dcrtselbst zu Recht der Hinweis auf die Stadt an der Saale erscheinen. 1831 und 1844 aber, als A. W. Schlegel von offenbar demselben Mann spricht, lebte und lehrte Steffens schon längst in Breslau und Berlin: Kein Wunder u. E. darum, daß das Beiwort „hallisch" in den fraglichen Gedichten Schlegels fehlt. I n Halle war Steffens ohne Zweifel die interessanteste, befeuerndste Gestalt unter den dortigen Romantikern, wie ein oft wiederholtes Zitat aus J. von Eichendorffs ,Halle und Heidelberg' zeigt; Eichendorff hatte als blutjunger Student den Skandinavier selbst erlebt. I n Halle stand, heißt es, an der „Spitze der Romantiker" Steffens: „Jung, schlank, von edler Gesichtsbildung und feurigem Auge, in begeisterter Rede kühn und wunderbar mit der ihm noch fremden Sprache ringend, so war seine Persönlichkeit selbst schon eine romantische Erscheinung, und zum Führer einer begeisterungsfähigen Jugend vorzüglich geeignet. Sein freier Vortrag hatte durchaus etwas Hinreißendes duräi die dichterische Improvisation, womit er in allen Erscheinungen des Lebens die verhüllte Poesie mehr divinierte, als wirklich nachwies." 22a Die Passage illustriert aufs beste den Eindruck von Kühnheit und Oberschwang, dazu die örtliche Führungsrolle von Steffens, alles in allem die positiven, gewinnenden Züge dieses frühen Romantikers, die auch Baggesen, gegen dessen ,Vollendeten Faust' Eichendorff übrigens im Heidelberg-Kapitel dezidiert Stellung bezieht, bei aller berechtigter Kritik andeutet, wenn er etwa von dem Trompeter T i l l als dem „überschwenglich tollsten" der Irrenhausinsassen, von seiner „bange" machenden Attitüde, von seinem „pudeldrolligen" Wesen „ i n guter Laun'" spricht. Noch ein anderer biographisch auszudeutender Hinweis Baggesens läßt an Steffens denken, als an einen Insassen im Tollhaus der deutschen Romantik, dessen fremde Herkunft ein auffälliges Kennzeichen war! Der Tollhausinspector weist denn auch ausdrücklich auf Tills »Ankunft' daselbst hin 2 3 : Herzog. Wer ist er seiner eignen Meinung nach? Tollhausinspector. AIP, Eure Hoheit. Das ist, seit er ankam, Der ewige Streitapfel in dem Garten. 22a j . von Eichendorff, Werke, hrsg. v. W. Rasch, München 1959, S. 1522,

23 PW III, 76.

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Doch nun endgültig zum Psychogramm des Trompeters Till, verglichen mit dem von H . Steffens! Der innere Abstand, mit dem unserer These zufolge im ,Vollendeten Faust4 Baggesen seinen zu den Jenenser Romantikern gestoßenen Landsmann betrachtet hat, der — ein knappes Jahrzehnt jünger — gewissermaßen bereits einer anderen Generation angehörte 24, diese D i stanz entspricht völlig der unenthusiastischen, ja kühlen Beiläufigkeit, mit der H . Steffens in seinen Lebenserinnerungen des ihm — fast möchte man sagen: natürlich — persönlich bekannten Baggesens 'gedenkt; es sind nur drei Vorkommen zu registrieren. Daß dabei einer Verunglimpfung im »Vollendeten Faust' nicht Erwähnung getan wird, darf nicht verwundern, muß die Satire doch Steffens nicht zu Gesicht gekommen sein, und braucht er doch, falls dies doch der Fall war, die unfreundliche, aber doch verdeckte Steffens-Persiflage darin nicht auf sich bezogen zu haben. I n ,Was ich erlebte' bemerkt so Steffens zu 1824, daß damals sein ehemaliger Eleve in romanticis, Oehlenschläger, in Dänemark „von einer übermüthigen Jugend, aber auch von dem alten Baggesen angefeindet wurde" 2 5 . Andernorts, bei der Schilderung einer früheren Lebensphase, läßt Steffens erkennen, daß er sich den „leichten Witz" des dänischen Dichters Wessels „ i n seinen komischen Erzählungen", dessen „Manier" sich der junge Baggesen angeschlossen hätte, „gern gefallen ließ" 2 6 ; doch später wird an der einzigen Stelle, an der sich Steffens ausführlicher über Baggesen äußert, deutlich gemacht, wie wenig Gewicht diesem indirekten Lob zukam. Aus Anlaß seines berühmten Kopenhagen-Aufenthalts 1802- 1804 spricht Steffens von der durch Oehlenschläger vermittelten engen Bekanntschaft mit A. S. Oersted, in dessen Hause er nun „auch einen schon seit vielen Jahren in seinem Vaterland geschätzten, auch in Deutschland berühmten Dichter, Baggesen", gefunden habe: 24 Der 1773 geborene Steffens gehört eindeutig in die Generation der Romantiker, der 1764 geborene Baggesen zusammen mit anderen zwischen 1760 und 1766 geborenen Dichtern wie Matthisson, SalLs-Seewis oder Jean Paul zu denjenigen, die den Schritt zur Romaitik nicht mehr mit letzter Uberzeugung mitmachen konnten (vgl L. L. Albertsen, Baggesen zwischen Vorromantik und Biedermeier. Ein Beitrag zum Verständnis der zwischen 1760 und 1765 gebornen deutschen Diditer, in: ZfdPh 84, 1965, 563 ff.). Es ist interessant, wenn man von dieser chronologischen Ausgangsposition herkommt, daß der 1767 geborene A. W. von Schlegel, um dessen schließliche Haltung gegenüber dem jüngeren Romantiker Steffens es hier vor allem geht, in seiner Spätzeit auf das distanzierte Urteil des Vorromantikers Baggesen zurückgreift; dazu stimmt, daß er nicht wie sein jüngerer Bruder Friedrich den katholisierenden Tendenzen der Zeit auf Dauer verfällt. Der Altersunterschied zwischen Baggesen und dem älteren der Brüder Schlegel erweist sich so als nicht so gravierend wie der zwischen Baggesen und Steffens — ohne daß doch A. W. Schlegel seine Mittlerposition verleugnete. Von hier aus wäre natürlich weiter zu fragen! 25 Henrich Steffens, Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben, I - X , Breslau 1840 - 44; 1X265 f. Das Werk wird künftig zitiert als: Was ich erlebte. 2β Was ich erlebte, I I , S. 117.

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„Flüchtig hatte ich schon früher in Kiel seine Bekanntschaft gemacht. Ich schätzte zwar sein Talent, besonders wie es sich früher in leichten launigen Erzählungen geäußert hatte, ich bewunderte das Geschick, mit welchem er die deutsche Sprache metrisch zu beherrschen wußte: aber er gehörte einer Dichterschule an, die ich bekämpfte, und er blieb mir fremd. Doch hatte er eine gewisse Leichtigkeit, sich neuen Ansichten anzuschließen und ich erinnere mich nicht, daß er in dem Kreise, in welchem er, fast beständig mit seiner Lage unzufrieden, und von aller Gesellschaft ausgeschlossen, lebte, mir störend entgegengetreten wäre". 27 Soweit zum Verhältnis des Älteren, des Vorromantikers Baggesen, zum Jüngeren, zum Romantiker Steffens, speziell zu ihrer Beziehung in einer Periode, in der Baggesen tatsächlich immer geneigter wurde, sich — am Beginn einer „zweiten" Epoche seiner Dichtung — zumindest im Formalen den neuen Ansichten anzuschließen, von denen Steffens in Kopenhagen gesprochen hatte, und von seinen alten Vorbildern „Klopstock, Wieland und Voß" abzurücken 28. Eben der ,Volendete Faust' ist, bei aller ζ. B. von Eichendorff hervorgehobenen Kritik an den Romantikern im Tollhaus, in seiner gleichzeitigen Abwertung der umgebenden „Philister-Welt" 29 ein gutes Beispiel der zeitweiligen weitgehenden inneren Annäherung Baggesens an die deutsche Frühromantik; in formaler Hinsicht scheint das romantische Drama Tiecks Anregung gegeben zu haben. Grotesker Ausdruck dieses mehr oder minder latenten Romantizismus um 1805, dem man auch Eifersucht des dänisch-deutschen Dichters Baggesen auf die angemaßte Vermittlerrolle des dänisch-deutschen Philosophen Steffens unterstellen kann und den man darum keineswegs als zwingenden Grund für ein günstiges Steffens-Urteil bei Baggesen annehmen muß, ist wohl der bekannte Versuch Baggesens, 1806 im Reimbrief ,Noureddin til Aladdin' an Oehlenschläger, Aladdin, sich-Noureddin öffentlich die Stelle des tatsächlichen Mentors Steffens zuzuschreiben.30 Das geschah, als Oehlenschläger schon mit Steffens gebrochen hatte, und zwar aus eben den Gründen, die die Persönlichkeit Steffens auf die Dauer für nähere Bekannte wenig anziehend machten — und die auch Baggesen im ,Vollendeten Faust' überzeichnend benannte; die Übereinstimmung in der Beurteilung ist ein Hinweis mehr für die Richtigkeit unserer Annahme. Am 11. 8. 1807 hatte Oehlenschläger aus Paris über Steffens geschrieben: „Et saadant Menneske kan ikke ν aere min Ven . . . Ό et er ikke Sandbeden, men Rethaveriet der giör ham varm. Han praler bestandig med Kundskaber, som han ikke har. Hos Poeten er han Philosoph; hos Philosophen 27 Was ich erlebte, V, S. 31 f. 28 PW I, S. X I I f. 2» PW I I I , S. 1. 30 S. dazu F. Paul, a.a.O., S. 211 (s. oben Anm. 4 a).

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Poet" 31. U. Ε. klingt das beinahe wie eine ungewollte Erklärung für die Kennzeichnung Steffens als „Trompeter Till", die von Baggesen verwendet, wenn nicht erfunden wurde! Handelt es sich doch in der damit sicherlich angespielten 22. Historie des Eulenspiegel-Volksbuchs, von der schon oben zu sprechen war, um eine Szene, in der der zum Wächter bestellte T i l l mit falschem Trompetenalarm um des eigenen augenblicklichen Vorteils willen ein Wissen vorgab, das er nicht hatte: Er kündigte das Nahen von Feinden an, die es nicht gab, so wie, könnte man jetzt ergänzen, der junge Steffens „mit Kenntnissen prahlte, die er nicht hatte" — und so wie der älter Gewordene, um mit A. W. Schlegel zu sprechen, „die Gefahr, die nirgends war, entdeckte". Von Baggesen wird der prahlerische, hochstaplerische Zug im Wesen des Romantikers denn auch unmißverständlich hervorgehoben 32 : Er bild't sich ein, zu sein, wofür die Andren Sich halten. Er ist Keit — er ist Bombastus (und beide zwar, der rechte, wie der linke), 1st Shakspear, Daus, und Meister Opitz selbst. Dem armen Juden macht er den Homer Gar streitig, und er behauptet fest, Er könnte Ganz andre Hexameter machen, wollt' er Von seiner Höh* so tief herab sich lassen. Herzog. Das meint er? Er ist also doch Poet — Tollhausinspector. Nur ein Trompeter ist er — 'ne Trompete Noch eigentlicher, die sich selber bläst.

Illustriert und erläutert werden diese Äußerungen durch eine andere ziemlich negative Kritik aus einer Ecke, die man beileibe nicht als voreingenommen gegen Vertreter der Romantik ansehen darf. Einer der Brüder Grimm, der jüngere Bruder, Wilhelm, hat wähend seines Aufenthalts in Halle zum engesten Bekanntenkreis um Steffens gehört, der ihm bei der Übersetzung einiger Folkeviser half — bei Vorarbeiten zu Wilhelms wichtigem und anregendem Buch über ,Altdänische Heldenlieder, Balladen und Märchen' (1811) 33 . Wilhelm Grimm nun schreibt in seinem Brief an Achim von Arnim vom 5. Juli 1809 von seiner Stellung zu Steffens bzw. über seine allgemeine Unzufriedenheit in Halle 3 4 : „Es mag auch das sein, daß ich durchaus keinen 31 Breve fra og til Adam Oehlenschläger, Bd. I I , S. 272, zitiert nach F. Paul a.a.O., S. 211, Anm. 235. 32 PW I I I , S. 77. 33 S. dazu L. Denecke, Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm, Stuttg. 1971, S. 188 ff. 34 Achim v. Arnim und die ihm nahestanden, I I I , 38 f., zitiert nach H . Huitberg , a.a.O., S. 105 (s. oben Anm. 21).

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männlichen Umgang hier erlangen kann, mit Steffens wohl, aber nur auf einen Punct, der aber sogleich kommt, da nämlich, wo seine Eitelkeit anfängt, die alle Unterredung endigt. Er fängt sogleich einen Gegenstand mit seiner Person auf, und erzählt nun von seiner Genialität, Talent etc., wozu ich durchaus nichts zu sagen weiß, nicht einmal, welch ein Gesicht ich dazu machen soll; seine Freunde, d. h. seine Anhänger haben wohl den Muth ihn ins Gesicht zu loben . . . Der Wein entbindet bei Steffens einen bösen Geist . . . Steffens meint es gut und recht, allein es ist, wie mir vorkommt, eine Schuld in ihm, daher das zerstörende Abspringen zwischen einem Wüthen und einem Weinen vor Rührung, das in einer Viertelstunde geschieht, das letztere ist besonders häufig und alltäglich." Irren wir nicht, so deutet sich in der Rührseligkeit und Weinerlichkeit, die hier in diesem Brief getadelt wird, bereits jener religiöse, ja bigotte Steffens der Spätzeit an, wie er in dem persiflierenden, aber immer noch nicht ohne Sympathie gezeichneten Porträt des alten Freundes A. W. Schlegel aus dem Jahre 1844 in Erscheinung tritt oder in dem bösartigen Epigramm Grillparzers 35 : Nachbeten war der Inhalt deines Lebens, Vorbeten bildet richtig drum den Schluß.

I n den frühen Hallenser Jahren, der Zeit von 1804 bis 1806, auf die sich Baggesens ,Faust'-Text offenbar bezieht, dürfte die zum lutherischen Glauben seiner Kindheit zurückfindende Religiosität Steffens' noch nicht so augenfällig gewesen sein, doch scheint sie eben in der Folgezeit die helle, befeuernde Seite von Steffens' Natur, die 1802 ff. so mächtig auf Oehlenschläger wirkte und nachmals im Rückblick von Eichendorff so enthusiastisch gelobt wurde, die aber auch von Baggesen nicht übersehen und noch von dem alten A. W. Schlegel wohl in Erinnerung behalten wurde, immer mehr und auf immer längere Strecken hin verdunkelt zu haben. Immerhin konnte noch 1811 Sibbern nach einem kürzeren Besuch glauben, einen Steffens vorgefunden zu haben, der ganz seinem alten Ruf entsprach 36: „Munter, fuld av Liv og Haaby ligefrem og aaben er ban, som ban altid skal have vaerei" Es müßte uns übrigens wundern, wenn in der Satire Baggesens, dessen Deutschkenntnisse Steffens ja hervorgehoben hat, nicht auch ironisch auf die noch langhin mangelhafte Sprachbeherrschung des „Trompeters T i l l " 35 F. Grillparzer, Sämtl. Werke . . . , hrsg. v. P. Frank u. K. Pörnbacher 3 I, Mündien 1960, S. 478, zitiert nach F. Paul S. 9. » Breve til og fra F. C. Sibbern, I I , 1866, 19, zitiert nach H . Hultberg, a.a.O., S. 104.

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hingewiesen worden wäre; das indirekte Zitat, daß T i l l zu seinem Schaden des öfteren „zu laut von der Erkennung / des Donnergotts in seinen Locken spricht" 37 , scheint in seiner grotesken Unbeholfenheit eben auf diesen Sachverhalt anzuspielen. Der polygotte A. W. Schlegel redet am 7. August 1841 noch in einem Brief von Steffens als von dem „kauderwelschen Skandinavier", als dieser ihm ein offenbar fehlerhaftes Billet mit der Einladung zu einem Tieck-Ehrenmahl geschickt hatte 38 . Um aber noch einmal auf die Geltungssucht von H . Steffens zurückzukommen! Wie genau sie bei aller Uberzeichnung von Baggesen getroffen wurde, zeigt wohl auch ein Vergleich zwischen der unmittelbar folgenden Insinuation Tills, „er sey geheimer / Papa von allen öffentlichen Kindern" 3 9 , d. h. er sei der Befruchter aller wesentlichen Veröffentlichungen der Zeit, und einer gewiß verharmlosenden Äußerung von Steffens in seiner Autobiographie, in der er das geistige Klima im Hause des bald befreundeten A. W. Schlegel von Herbst 1798 an schildert 40 : „oft schien mir Alles als ein Mitgeteiltes, als eine Gabe, die ich mit dankbarer Freude empfing, und dann doch wieder als wäre Alles mein innerstes Eigentum, rein aus der eigensten Betrachtung entsprungen". Doch genug von der „bisweilen geradezu abstoßenden, hochfahrenden A r t " und der „bisweilen krankhaften Renommiersucht" 41 dieses changierenden Charakters, von der auch und gerade auch Baggesen gewußt hat. Es bleibt die Frage nach dem „Zeterlärm", der 1831 A. W. Schlegel zur dichterischen Reaktion veranlaßte, und nach dem konkreten Grund für seine Anknüpfung an diesen eigenen „literarischen Scherz" im Jahre 1844. Lassen sich in Steffens' Leben und Werk 1831 und 1844 denkbare Bezugspunkte feststellen? Hintergrund ist die mutige, ja geradezu selbstmörderische Konversion des Breslauer Universitätsprofessors Steffens, seine Rückkehr zum Luthertum seiner Kindheit in einer geschichtlichen Phase, in der in Preußen von Staat und Theologie die sog. ,Union' zwischen Lutheranern und Reformierten gewünscht bzw. über die Köpfe der ,Altlutheraner' hinweg betrieben wurde: Steffens selbst hat die Vorgänge ausführlich in seinen Lebenserinnerungen geschildert 42. Den von Schlegel gemeinten „Zeterlärm" aber verursachte 37

PW I I I , 76. L. Tieck und die Brüder Schlegel, neu herausgeg. u. komm. v. E. Lohner, München 1972, S. 222; vgl. dazu S. 270 f. 3» PW I I I , 76. 40 Was ich erlebte, IV, S. 85. 4 1 F. Paul a.a.O., S. 130 und 194. 42 Was ich erlebte, I X u. X .

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Steffens dann wohl mit seiner apologetischen ,Confession' von wohlgemerkt 1831 ,Wie ich wieder Lutheraner wurde und was mir das Luthertum ist' 43 . Konkreter Anlaß für die aufsehenerweckende Veröffentlichung war die Durchführung der ,Union' am 25. Juni 1830, der sich eine relativ kleine und gesellschaftlich negligable Gruppe von Breslauer Lutheranern, darunter auffälligerweise aber der damals noch in Breslau lehrende Steffens, aus Gewissensgründen widersetzte. Für den empfindlichen Steffens schienen nun, nach der Konfessionsschrift zu schließen, die „Religionsverfolgungen" der Vergangenheit erneut anzubrechen, zumal der Widerstand gegen die ,Union' zeitlich in etwa zusammenfiel mit der Julirevolution und man in Preußen einen inneren Zusammenhang, ja eine geistige Abhängigkeit der resistierenden Altlutheraner von den Pariser Ereignissen vermutete 44 . Steffens reichte aufgrund der Anfeindungen und der gesellschaftlichen Ächtung noch 1830 seinen Abschied ein und erneuerte 1831 die Bitte, nachdem er keiner Antwort gewürdigt worden war 4 5 . Seine Situation zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner ,Confession' und kurz danach beschreibt er im Rückblick wie folgt 4 6 : „So war ich von allen Seiten gedrängt und während ich täglich meinen Abschied erwartete und die Zukunft meiner Familie mir drohend vorschwebte, eben als sie sich einigermaßen vortheilhafter zu gestalten anfing, erschienen meine Aussichten, hier oder im Auslande eine Anstellung zu erhalten, immer unwahrscheinlicher; denn ich mußte es gestehen, auch das öffentliche Urtheil stellte sich immer bedenklicher. Zwar hatte ich in der kleinen Schrift, ,wie ich wieder Lutheraner wurde', die Beschuldigung einer beschränkten Religiosität, so weit meine damalige Stellung zur Gemeinde es erlaubte, abzuweisen gesucht . . . aber äußerlich in der Literatur war sie mir sogar schädlich, denn die bloße Ankündigung des Werks, der Titel schon, war hinlänglich, um ein Urteil zu begründen. Dieses, verbunden mit der Thatsache, daß ich die Gemeinden vertrat, machte das Lesen der kleinen Schrift völlig überflüssig . . . " Wer aber noch mehr als die Uberschrift zur Kenntnis nahm und las, wie wohl Steffens' alter „Symphilosoph" A. W. Schlegel, der konnte wahrhaftig, wenn auch in vorsichtiger Form, den Teufel an die Wand gemalt finden, an dessen Wiederkehr keiner mehr glauben konnte und wollte, der konnte sich wirklich durch die Berufung einer „Gefahr, die nirgends war" — wie sich denn schließlich auch herausstellte — genasführt fühlen 47 : „ . . . giebt es 43 H . Steffens, Wie ich wieder Lutheraner wurde und was mir das Luthertum ist. Eine Confession, Breslau 1831. Künftig zitiert als: Wie ich wieder Lutheraner wurde. 44 Was ich erlebte, X , S. 136 u. 194. 45 ebda S. 196. 4β ebda S. 209 f. 47 Wie ich wieder Lutheraner wurde, 13 f.

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eine gebotene Staatsreligion — sind die Lutheraner Ketzer geworden?", sorgt sich da Steffens. „Ist das Mittelalter wieder wach geworden mit seinem Verbote und Interdikte? Wird man die geheimen Lutheraner, wie die Waldenser in ihren Schlupfwinkeln aufspüren und vor Gericht ziehen? — Thor! rief ich, als dieses Bild meiner erhitzten Phantasie mich immer mehr erschütterte — welch' ein Wahnsinn hat dich ergriffen! . . . Darf nicht der Rationalist, ja der Ungläubige ungehemmt lehren und schreiben — und nur der alte Stamm der Lutheraner wäre zum dauernden Stillschweigen verdammt? — Dieses Land, seit mehr denn siebenzig Jahren, als das Land unangetasteter Duldung, unter allen Reichen Europas ausgezeichnet, hätte sich wie durch einen Zauber verwandelt? — Ich erzählte meinen besorgten Freunden den Traum, sie lächelten und schämten sich der thörichten Einwendung". Der Zeitgeist ist's, der hier lächelt, aus welchen Motiven auch immer; und warum sollte A. W. Schlegel es 1831 ihm nicht nachgetan haben? Bedenkt man den allgemeinen Widerwillen, sich mit den damaligen bekennerhaften Äußerungen von Steffens genauer zu befassen, und das Unverständnis, das seiner öffentlichen Parteinahme für eine verfolgte, gesellschaftlich irrelevante religiöse Minderheit entgegengebracht wurde, so könnte man wohl verstehen, wenn A. W. Schlegel bei seinem ihm längst einigermaßen fremd gewordenen alten Freund Steffens in der fernen schlesisdien Provinz andere als bloß altruistische Motive vermutet hätte; die gescheiterte Absicht, mit der Religionsschrift seinen Leumund in Gebildetenkreisen zu verbessern, hat Steffens im nachhinein ja deutlich zu erkennen gegeben, und immer wieder schlägt denn auch in ,Wie ich wieder Lutheraner wurde f der Ton einer Mitleid heischenden Larmoyanz durch 48 : „Und du? Armer, Verlassener! — ist es dir fremd geblieben, wie sehr du deinem eigenen Rufe geschadet hast, seit du deine religiöse Überzeugung öffentlich auszusprechen wagtest?" Andererseits mochte der Kritiker A. W. Schlegel, der nach einer katholisierenden Phase ebenfalls im Protestantismus seiner Herkunft eine positive Kraft zu sehen gelernt hatte 49 , die Stellungnahme des einstigen Schützlings und Kampfgefährten, den er vom Herbst 1798 an bis ins Frühjahr 1799 hinein fast täglich in seinem Haus gesehen hatte 50 , doch nicht völ48

ebda S. 15. Vgl. B. von Brentano, August Wilhelm Schlegel. Geschichte eines romantischen Geistes, Stuttgart 1949, S. 242 ff. (zu Schlegels,Berichtigung einiger Mißdeutungenc). 50 Vgl. F. Paul a.a.O., S. 120; dort auch Anm. 99 die illustrative Stelle aus einem Brief Steffens* an Caroline Schlegel: „Nirgends war ich so z u H a u s e , wie in Jena. Und daß ich dem Umgang mit Ihrem Hause und Schelling's Freundschaft alles verdankte, das brauche ich wohl nicht zu sagen" (nach: Aus Schellings Leben. In Briefen. Hrsg. v. G. L. Plitt, I., Leipzig 1896, S. 271). 49

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lig abstoßen. Genau diese unentschieden-vermittelnde, zugleich unangenehm berührte und verständnisvolle Haltung drückt sich nun 1831 in ,Eulenspiegel als Thurmwächter' gegenüber dem „Zeterlärm" des „lang verschollenen Trompeters" aus, und audi 1844 ist noch etwas von der alten Schätzung zu spüren. Setzt man den Schlegelschen „Trompeter T i l l " mit dem Steffens von 1831 (und 1844) gleich, wie es bis zum Erweis der Unrichtigkeit erlaubt ist, wird die Interpretation, die A. W. Schlegel den zeitgenössischen Verlautbarungen von Steffens gibt und die wir dem Schlegelschen Poem geben müssen, klar: Steffens plötzlicher Lärm um Nichts entspringt dem Kritiker aus der unerträglichen Verschollenheit, in die der Geltungssüchtige geraten ist, muß als der verzweifelte, letzten Endes närrisch-unkluge Versuch angesehen werden, durch öffentliche Denunziation etwa der Behörden und Theologen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wieder auf sich zu ziehen, die ihm die Gebildeten inzwischen längst zu versagen begonnen hatten. Viel Feind — viel Ehr, dieses Motto etwa wird so Steffens unterstellt. Neue Geltung, reichlichere Versorgung, etwa ein ehrenvoller Ruf aus der Provinz nach Berlin (wie er 1832, auf Verwendung des damaligen Kronprinzen, des nachmaligen preußischen Königs Friedrich Wilhelms IV., denn auch erfolgte) 5 1 —dies alles würde, so die Meinung Schlegels 1831, die Unterstellungen des Übergangenen künftig zum Schweigen kommen lassen, und A. W. Schlegel rät den Verantwortlichen diese Maßnahme an, man weiß nicht, ob aus bloßer Irritation über den Lärm oder aus fortwährender Sympathie mit dem Verursacher. So noch 1831; 1844 aber hält er „ T i l l Eulenspiegel" schon für irrenhausreif, wenn er ihn auch immer noch guten Glaubens und Willens sein läßt. Die Bezugnahme A. W. Schlegels eben auf die Konfessionsschrift von 1831 wird u. E. deutlich dort, wo er — um den Vergleich zwischen der vorweg erzählten Eulenspiegelei und der zeitgenössischen Konstellation zu ermöglichen — -die überlieferte Fabel abzuwandeln sich bemüßigt sieht. Redet Steffens ζ. B. als ironischer advocatus seiner alten „Freunde", die ihm ebenfalls mit „schweren Beschuldigungen" zusetzen, davon, welche „Verantwortung" er u. a. mit der gegenwärtigen Veröffentlichung auf sich lade, indem er „das freundliche Einverständnis so vieler wohlgesinnter Menschen störe, und da . . . einschreite, wo ein liebevoller Sinn das ganze Land vereinigt zu haben scheint" 52 , so formuliert der Leser Schlegel ganz ähnlich hintersinnig, wenn er den durch den Trompetenlärm des vergessenen Eulenspiegels vom gemeinsamen „Mittagessen" aufgestörten philiströsen Mitknechten das Wort erteilt: 5

1 S. dazu Was ich erlebte, X , S. 231 ff. Wie ich wieder Lutheraner wurde, S. 17 f.

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Ernst E. Metzner Sie sprachen: ,Schalksnarr, sei verflucht! Du hast die Mahlzeit uns verstört, Da wir den Zeterlärm gehört/

Wird man danach kaum nodi daran zweifeln können, daß die SteffensSchrift von 1831 ,Wie ich wieder Lutheraner wurde 4 der konkrete Anlaß für A. W. Schlegels „literarischen Scherz" von ,Till Eulenspiegel als Thurmwächter' gewesen ist, so fällt es auch nicht allzu schwer, die Erwiederung auf den letzten Zug an der Lärmglocke aus dem irdischen Jammerthale* von 1844 auf eine Steff ens-Veröffentliäiung dieses Jahres zurückzuführen: Gemeint ist u. E. der 1844 zusammen mit Band I X erschienene l e t z t e Band (X) der Autobiographie ,Was ich erlebte' ; in ihm war vor allem resümierend von eben dem Religionsstreit zu sprechen, der Beweggrund für das Schlegelsche Gedicht 13 Jahre zuvor wurde. In dem Buch konnte darum auch Schlegel wieder genau dasselbe Zetergeschrei zu vernehmen meinen, oder jedenfalls das Gezeter eines alten Mannes, der sich in diesen Jahren nicht mehr sehr geändert hatte, es sei denn, daß sein Lärme nicht mehr mit Trompetenstößen zu vergleichen, sondern mit dem Ton einer verklingenden, mit nachlassender Kraft betätigten Alarmglocke. Es ist das letzte Zeugnis für jenes zugleich weinerliche und widerspenstige Lamentieren, das sich bereits in den Hallenser Jahren des Philosophen-Poeten immer stärker bemerkbar machte. Um zur Bestätigung die Charakterisierung des späten Steffens durch einen modernen dänischen Literaturhistoriker zu zitieren 53 : ,Ηαη skulle vel senere opleve perioder med en behersket optimisme , men bans tro pa tilvaerelsens iboende godhed bar lidt et ubodeligt knaek. Han indser menneskets principielle afmagt, og selv pa det videnskabelige plan bar Steffens mistet troen pa andern altbesejrende kraft'. Adi Herr! Komm, Herr! Nimm deines Donners Hammer, Und schlag entzwei den unentwirrbar'n Jammer!

läßt jedenfalls Schlegel, die Summe ziehend, seinen T i l l Eulenspiegel jetzt kurz vor seinem absehbaren Tod flehen, einen T i l l ganz offensichtlich ebenfalls ohne Zutrauen zu sich selbst oder zu anderen Menschen, Änderung schaffen zu können. Ein Lamento also gewiß — doch kann man daraus wohl auch auf ein zwar ungeduldiges, aber auch unbeirrbares Gottvertrauen des an der Macht der menschlichen Vernunft und der Vernunft der irdischen Mächte Verzweifelnden schließen, kann man darin die gewalttätige Gläubigkeit eines von den Händeln im irdischen Jammertal immer nodi Bedrängten erkennen: eines Eiferers wie Steffens, dem auch die land53 H. Hultberg a.a.O., S. 105 (s. oben Anm. 21).

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desherrlidie Gewalt in der Gestalt seines königlichen Gönners Friedrich Wilhelm IV. nicht die Abhilfe gewähren mochte, die er sich wahrscheinlich von ihr als von einem deus ex machina erhoffte. Er, der König, bemerkt Steffens mit einiger Zurückhaltung, kenne „wohl die Verhältnisse, wie sie sich verworren um ihn her entwickeln, aber die Verwirrung entspringt nach seiner Uberzeugung nur aus Mißverständnissen. Man muß sich wechselseitig verständigen, nicht durch Zorn und Ungestüm die Verwirrung steigern" 54 . Das ist, gegen Ende des letzten Bandes hin gesagt, sicherlich nicht die Ansicht des Autors, sondern des Königs, vielleicht einer Äußerung des Verehrten gegenüber Steffens' eigenem Zorn und Ungestüm entsprungen und von Steffens pflichtschuldig, wenn auch mit vorsichtiger Distanz referiert. So gesehen stimmt A. W. Schlegels Gedicht von 1844 zum Tenor der etwa gleichzeitigen Schlußpartien von ,Was ich erlebte4, wo nicht zufällig auch das echatologische Wolken- bzw. Gewitterbild evoziert wird und immer erneut die Hinweise auf die allgemeine Verwirrung der Gegenwart begegnen; „verworren" und „Verwirrung" waren ja auch Leitbegriffe des obigen Zitats. Das vorletzte Kapitel, aus dem wir eben zitierten, endet dementsprechend nach der Erwähnung der nationalen Enttäusdiung, des Verebbens der „großen Erhebung der Gemüther" bei und nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV., mit einer Szenerie, hinter der man wohl wirklich die verzweifelte Hoffnung des ohnmächtigen Steffens auf eine befreiende Tat des in den drohenden Wolken thronenden Gottes erkennen kann; bei Schlegel fließt dieser dem Klagenden mit dem skandinavischen Donnergott Thor (mit seinem Hammer!) zusammen55 — wohl keine zufällige Insinuation, wenn man an Steffens' skandinavische Herkunft denkt 5 6 : „Alles verbarg sich in den Wolken der verwirrenden Gegenwart. Aber wir wissen, daß der Tag nahe ist; und die düstern verdunkelnden Wolken machen uns nicht irre" 5 7 . Und schließlich ganz am Ende, wieder unter Evokation des Chaotischen in der Gegenwart mit einem letzten Aufraffen zu jenem „beherrschten Optimismus" 58 , zu dem ihm sein Glaube immer wieder verpflichtete 59: „So bin ich bereit das Leben zu verlassen, wie ich früher mein Vaterland verließ. Die um mich herrschende Verwirrung stört mich nicht, und meine jugendliche Hoffnung liegt vor mir . . . " .

54 Wa5 ich erlebte, X , S. 438. Vgl. aus dem Schlegel-Gedicht von 1844 die Zeile: „Ach Herr! Komm Herr! Nimm deines Donners Hammer". 5 « Vgl. Anm. 38. 57 Was ich erlebte, X , S. 446. 58 Vgl. Anm. 53. 5 « Was ich erlebte, X , S. 493. 55

6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 17. Bd.

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Irren wir uns, wenn auch wir glauben, diesen Gegenstand verlassen zu können?60

«o Nachtrag: In einem zustimmenden Brief vom 2. 5. 1977 weist F. Paul auf die Möglichkeit hin, in dem Herzog' im ,Vollendeten Faust', der sich gegen den ,Hochmut' und die ,Aufgeblasenheit' des „Till" ( = Steffens') wendet (s.o.), Züge des zeitgenöss. dänischen Unterrichtsministers, des Herzogs von Augustenburg, zu erkennen, der die Anstellung des unruhestiftenden Romantikers Steffens in Dänemark verhindert hat und dessen der Aufklärung verhaftete platte Beschränktheit vom alten Steffens noch in ,Was ich erlebte' hervorgehoben wird (s. F. Paul, a.a.O., S. 165 f. u. 189 f.). Man wird allerdings nicht ausschließen dürfen, daß der Herzog in Baggesens Werk eine synthetische' Figur ist und noch andere, zumal deutsche Potentaten mitgemeint sind; es scheint, daß das ganze überlebte politische System des ,ancien régime' mit ihm angegriffen werden soll. Baggesen geht damit allerdings z. T. weit über die Opposition der romantischen Tollhausinsassen seines Vollendeten Faust' hinaus, deren Affront er gleichwohl nicht ohne Sympathie betrachtet (vgl. oben zu Anm. 28 - 30).

IDYLLE U N D REFLEXION Zur Geschichtlichkeit von Jean Pauls ,Wutz' Von Hanns-Josef Ortheil 1 In Jean Pauls Erzählung vom ,Leben des vergnügten Schulmeisterleins Maria Wutz in Auenthal' wendet sich der Erzähler zu Beginn nach zwei Seiten: er spricht die Figur seiner Erzählung an, wie die um ihn versammelten Zuhörer und Leser1. Auf diesen beiden Ebenen entwickelt sich die Erzählung. Ihr Ganzes ist der Prozeß des Begreifens der /Wutz'-Geschichte durch den Kommentar des Erzählers, der sie so dem Leser vermittelt. Im Kommentar reflektiert der Erzähler auf die Geschichte; er macht die Bedingungen der Geschichte des Wutz wie die Bedingungen ihres angemessenen Verstehens deutlich. Die folgende Interpretation versucht, diese Struktur der Erzählung zu erläutern und ihren historischen Sinn verständlich zu machen. 2 I m letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wird in den Zeugnissen der meist bürgerlichen Intelligenz in Deutschland das Bewußtsein einer Krise deutlich, deren Empfinden durch den Ausbruch der Französischen Revolution verschärft worden ist. Diese Krise kann als eine der Identität des Individuums, als Krise der Ich-Identität, begriffen werden. Ihre Ursachen lassen sich verkürzt so skizzieren: Die Gewalten der feudalen Herrschaft, Kirche, Fürstentum und Adel, waren am Ende des 18. Jahrhunderts in private und öffentliche Elemente zerfallen. Die absolutistische Regierungsform hatte, indem sie die Stände sozial zu integrieren suchte, gerade ihre Verselbständigung gefördert. Büro1 Vgl. die beiden Anreden des ersten und zweiten Abschnitts der Erzählung. Diese wird zitiert nach der Hanser-Ausgabe : Jean Paul, Werke, 1. Band, hrsg. von Norbert Miller, München 1970. (Seitenangaben im Text beziehen sich auf diesen Band.)

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kratie und Militär waren als Sphäre der öffentlichen Gewalt dem Privatleben der Einzelnen gegenübergetreten 2. Die Aufklärung hatte den Prozeß des Zerfalls des Staates in eine öffentliche und eine private Sphäre beschleunigt. Sie veränderte das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Umwelt, wie das des Bürgers zum Staat. Ihre Kritik an der Kirche, der Selbstverständlichkeit des Glaubens, und am Staat, der Selbstverständlichkeit des Herrschens, maß die politischen und geistigen Erscheinungsformen an der Vernunft, die zur Legitimation des Handelns wurde. Aus der dogmatischen Geschlossenheit des christlichen Weltverständnisses, als dessen Statthalter der absolute Monarch an die Spitze des Staates getreten war, verwies die Aufklärung das Individuum auf sich selbst und seine Vernunft. Die angestrebte Autonomie des Individuums, die sich in den durch Vernunft erreichten Ergebnissen von Wissenschaft und Philosophie offenbarte, schlug jedoch in dem Maß auf das Individuum zurück, in dem es sich nicht mehr als Teil einer Gemeinschaft des Denkens und Handelns verstehen konnte. Dieses Verständnis war durch den veränderten und beschleunigten wirtschaftlichen Prozeß zerrüttet, in dessen Folge — der Intensivierung des Warenkreislaufs, der allmählichen Aufhebung der Hindernisse für den Handel — der Kaufmann zum freien Unternehmer wurde, dessen Wettbewerbsdenken eine Einordnung der privaten Interessen in die des Gemeinwohls kaum noch zuließ. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde mit dem Ausbruch der Französischen Revolution auch in Deutschland deutlich, daß die Bindung an Vernunft und allgemeines Wohl, durch die die Aufklärung die Autonomie des Individuums an die Gemeinschaft zu ketten versucht hatte, längst unglaubhaft geworden war. Den kaum noch übersehbaren Prozessen des Zerfalls der früheren Autoritäten, Kirche und Staat, Theologie und Wissenschaft, standen die Individuen isoliert gegenüber. So läßt sich die zu dieser Zeit entstehende Krise der Ich-Identität, die an die Isolierung der Individuen gebunden ist, als Offenheit des Weltverständnisses gegenüber einem früher noch normativen abheben3: Das Individuum glaubt, einer nicht überschaubaren, chaotischen Umwelt gegenüberzustehen^ Die Wahrnehmung der Umwelt strukturiert sich als Wahrnehmung nicht mehr überschaubarer Einzelheiten. Deren Verbindung ist 2 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied und Berlin 19715. 3 Zum Identitätsbegriff und seiner Problematik vgl. den zweiten Abschnitt, „Identität", in Jürgen Habermas Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt 1976.

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nicht durch allgemein anerkannte Grundsätze garantiert, sondern wird dem isolierten Individuum selbst überlassen. Der Wahrnehmung des Chaotischen entspricht die Offenheit eines Weltverständnisses. Durch die Scheidung von Staat und Gesellschaft, Staat und Kirche, Allgemeinem und Besonderem, ist das Individuum nicht mehr in einem überschaubaren und von ihm beglaubigten Ganzen geborgen. Die zur Privatsache gewordene christliche Lehre, die keine allgemeine Gültigkeit mehr besitzt, und die Lehren der Vernunft, die ebenso an Allgemeingültigkeit in dem Maße eingebüßt haben, in dem die geschichtlichen Prozesse sich ihnen gegenüber verselbständigten und sich nicht mehr auf sie zurückführen ließen, reichen nicht mehr aus, der isolierten Individualität Totalität zu vermitteln. Das Individuum ist so auf sich selbst verwiesen. Ich-Identität wird zur Selbstkonstruktion. Die Darstellung dieses Konstruktionsprozesses übernehmen am Ende des 18. Jahrhunderts die Werke der Kunst ebenso wie die der idealistischen Philosophie. 3 Wie kaum ein anderer Schriftsteller des 18. Jahrhunderts hat Jean Paul den Umbruch von einem normativen zu einem offenen Weltverständnis plötzlich vollzogen. Seine Jugendbildung blieb trotz der intensiven Lektüre in den engen Grenzen, die vom Umfang der ihm erreichbaren Bibliotheken in den Heimatstädten im Fichtelgebirge diktiert waren. Theologische Schriften und Schriften der Aufklärung wie Gottscheds ,Weltweisheit' umschrieben das Spannungsfeld dieser Bildung, der in der Gegenüberstellung von orthodoxer und heterodoxer Theologie das Verständnis der noch begrenzt wahrgenommenen Welt aufgehen sollte4. Das änderte sich, nachdem er aus den Dörfern der Heimat, Wunsiedel, Joditz, Schwarzenbach und Hof, nach Leipzig gezogen war, damals eine der größten Städte des Alten Reiches. Dort erschien ihm alles fremd, die Bewegung der Menschenmengen auf den Straßen, die Eitelkeit der Lehrenden wie der Studenten. In Leipzig entstanden seine Jugendsatiren. Sie waren der Reflex auf das Unverständlichwerden der Umwelt. I n ihnen führte er seine Umgebung, die Theologen und Gelehrten, im Spiegel ihrer ins Satirische gehobenen Eigenheiten an sich vorüber. In den Satiren war er der 4 Zur Jugendentwicklung Jean Pauls vgl. Johannes Alt: Die Entwicklung Jean Pauls von 1780- 1790. Diss. phil. München 1922 (Maschms.); Ferdinand Josef Schneider: Jean Pauls Jugend und erstes Auftreten in der Literatur, Berlin 1905; Wolfgang Harich: Jean Pauls Revolutionsdiditung, Reinbek bei Hamburg 1974, S. 15-128.

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Richter seiner Umwelt. Die Metaphern, deren Bildung er übte, setzte er richtend gegen die Verurteilten ein. Schon in diesen Jugendschriften war ihm das Schreiben zur Wehr gegen die kaum noch begreifbare Umwelt geworden. In den Briefen in die Heimat bekannte er, daß eines seiner größten Vergnügen eben der Briefwechsel mit den zurückgebliebenen Freunden ausmache5. Der Blick in die Heimat wurde zum Blick in ein in sich geschlossenes Weltverständnis, die Aura der Kinderzeit: „Uber die verwelkten Kindheits-Jahre weht auf uns ein Wolgeruch herüber, der schwer zu erklären ist, wenn man auch 2erlei weis — daß erstlich die KindesSinne nicht wie unsre die Eindrücke aufnehmen sondern aufgreiffen, indes bei uns jeder Gegenstand sein Petschaft auf erkaltetes und hartes Siegellak drükt — und daß 2tens diese neuen Sinne lauter neuen Objekten begegnen, die mit allen Vortheilen des ersten Eindrucks wirken." 6 In der nur scheinbar biographischen Spannung von Kinder- und Jugendzeit ist die historische wirksam: indem Jean Paul nach den Bedingungen und Konstituentien der Kinderzeit sucht, klären sich ihm insgeheim die einer geschlossenen Weltbetrachtung. Die Spannung, die er so stark empfindet, ist nur möglich als Reflex jener historischen, die sich im 18. Jahrhundert ausbildete. Uber die Konstituentien des geschlossenen, identischen Erlebens hat Jean Paul während seines ganzen Lebens nachgedacht. Er hat sie mehrfach zu fassen versucht. Ihre wichtigste war ihm die Neuartigkeit der Welt, die Unberührtheit, der „frische" Zugriff zu den Dingen, den schon die Briefpassage festhielt und den später ein Aufsatz — ,Warum sind keine frohen Erinnerungen so schön als die der Kinderzeit?' — an erster Stelle vermerkt 7 . Schon in dieser Entdeckung ist das historische Gefälle wirksam: am Ende des 18. Jahrhunderts stellen sich dem Betrachter die Objekte nicht mehr in Bezügen dar, die auf ihn verweisen. Der Raum des Erlebnisses stellt sich nicht von selbst her. Dagegen ist das kindliche Empfinden dadurch bestimmt, daß es im geschlossenen Raum sich vollzieht, am Detail sich entwickelt, im Endlichen unbewußt ein Unendliches gewahr wird, im Tropfen Burgunder „eigentlich ein rothes Meer", im Schmetterlingsstaub „Pfauengefieder", im Sand „einen Juwelenhaufen" (so im ,Billet an meine Freunde anstatt der Vorrede' zum ,Quintus Fixlein') 8 . 5 Vgl. Jean 1. Band: Briefe β Jean Pauls 7 Jean Pauls 8 Jean Pauls

Pauls Sämtliche Werke, histor. kritische Ausgabe, 3. Abteilung, 1780-1793, hrsg. von Eduard Berend, S. 10. Sämtliche Werke, a.a.O., S. 304. Sämtliche Werke, 1. Abteilung, 16. Band, S. 77. Sämtliche Werke, 1. Abteilung, 5. Band, S. 5.

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Will das Individuum diese Totalität des Raumes zurückgewinnen, muß es sich in seine jetzt konstruierte Geschlossenheit zurückziehen: „Man sieht, ich dringe darauf, daß der Mensch ein Schneidervogel werde, der nicht zwischen den schlagenden Aesten des brausenden, von Stürmen hin und her gebognen unermeßlichen Lebensbaumes, sondern auf eines seiner Blätter sich ein Nest aufnähet und sich darin warm macht/ 49 Für diese Konstruktion einer in sich geschlossenen Identität war das Organon zu bestimmen. Jean Paul entdeckte es in der Phantasie, der Einbildungskraft. Sein für die poetologische Bestimmung seiner Erzählungen wichtiger Aufsatz ,Ueber die natürliche Magie der Einbildungskraft 4 enthält die wegweisende Passage: „Was nun unserem Sinne des Gränzenlosen . . . die scharfabgetheilten Felder der Natur verweigern, das vergönnen ihm die schwimmenden nebligen elysischen der Phantasie."10 Zu differenzieren ist jedoch zwischen der Phantasie der Kinderzeit, der unbewußten, und der eine Identität erst konstruierenden. Beide Formen des Erlebens ordnen die Dinge zuständlich. Das phantasievolle Erlebnis des geschlossenen Raumes ist als „Das stille milde Erfreuen über das Sein" (so in dem Aufsatz ,Bruchstücke aus der ,Kunst, stets heiter zu sein' < ) 11 . Erlebnis und Raum bestehen als Zustand, nicht als Veränderung. Die Maßstäbe dieses Erlebnisses setzt das Subjekt in sich selbst. Es verwandelt die Umwelt, indem es Elemente auswählt, die es zur Totalität eines geschlossenen Raumes erweitert. Diese Art zu empfinden aber ist verschieden von den Formen empfindsamen Verhaltens, die im späten 18. Jahrhundert gezüchtet wurden und denen Jean Paul auf den Straßen Leipzigs begegnete: „Die Stuzzer bedekken die Straße, bei schönen Tagen flattern sie herum wie die Schmetterlinge. Einer gleicht dem andern; sie sind wie Puppen im Marionettenspiele, und keiner hat das Herz, Er selbst zu sein." 12 Die Empfindsamkeit der konstruierenden Phantasie dagegen ist nicht Nachahmung. Sie entdeckt in ihrer Umwelt den immer gleichen, unveränderten Raum, der als unveränderter zur Totalität wird. Für ihre Darstellung erfand Jean Paul die Gestalt des Wutz.

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Jean Pauls Sämtliche Werke, 1. Abteilung, 5. Band, S. 6. Jean Pauls Sämtliche Werke, 1. Abteilung, 5. Band, S. 190. 11 Jean Pauls Sämtliche Werke, 1. Abteilung, 16. Band, S. 89. 12 Jean Pauls Sämtliche Werke, 3. Abteilung, 1. Band, S. 20.

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I n der Neigung zur Kindlichkeit gab Jean Paul der Wutz-Gestalt die Konstruktion einer in sich geschlossenen Identität auf. Das macht die Figur nicht kindlich, sondern kindisch in ihrer Emphase. Sie hält wie das Kind sich vom Bewußten fern und hat doch jene Unmittelbarkeit nicht, durch die das Kind die Ferne des Bewußtseins zu ersetzen vermag. Das Leben dieser Gestalt wird zum Konstruieren, zur Arbeit des Vergnügt- und Kindlich-Seins13. Wie sie sich nachts unter der Decke zusammenzieht, so ist ihr die Umgebung einer Decke vergleichbar, die sie um sich schlägt. Spielend wird diese Umgebung in die Geschlossenheit des Subjekts einbezogen. Für Wutz sind die Dinge Figuren des Spiels, einer gleichsam unveräußerlichen Kindheit, die dauern soll. Über ihm schließt sich der Himmel, und es bedarf des Erzählerblickes, um diesen Himmel zu öffnen. Dann nur erscheint der geschlossene Raum der Wutz-Gestalt unter dem „unabsehlichen Gewölbe des Universums" (424) und Wutzens spielendes Schaffen ereignet sich „auf dieser stürmenden Kugel, wo die Winde sich in unsre kleinen Blumen wühlen" (453). Diese Spannung von Geschlossenheit, die die Wutz-Gestalt charakterisiert, und Offenheit, durch die der Erzähler die Welt der Erzählgegenwart bezeichnet, gibt der Erzählung die Struktur 14 . Die Identität des Wutz erhält sich, indem sie nur an Eigenes, nicht an Fremdes rührt. Das Schulmeisterlein verschließt die Umwelt, auf die es sich einlassen muß, in das Bild seiner Subjektivität; so richtet sich seine Freude etwa auf das Zuketten der Fensterläden: „weil er nun ganz gesichert vor allem in der lichten Stube hockte, daher er nicht gern lange in die von abspiegelnden Fensterscheiben über die Läden hinausgelagerte Stube hineinsah (424). Die Stube, die sich im Fensterglas spiegelt, stört, weil sich im Spiegelbild der Bereich der geschlossenen Existenz mit der Umgebung mischt. Von dieser zieht die identische Subjektivität des Wutz nur in sich hinein, was sich in ihr auflösen läßt. Die Auflösung ereignet sich räumlich, indem der vorhandene Raum der Umwelt durch den Raum der Phantasie erweitert wird. Die Umwelt wird mit subjektiver Erinnerung, deren Mittel die Phantasie ist, überzogen. Dadurch wird sie dem Raum der Kindheit verwandt: „Wir könnens leicht bei seinen ältern Jahren erfragen, wie er in seinen Flegeljahren war. I m Dezember von jenen ließ er allemal das Licht 13 So etwa: „Eh' ich von ihm weiter beweise, daß er im Alumneum glücklich war: will ich beweisen, daß dergleichen kein Spaß war, sondern eine herkulische Arbeit" (429). * 4 Vgl. dazu den 5, Abschnitt dieser Interpretation.

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eine Stunde später bringen, weil er in dieser Stunde seine Kindheit — jeden Tag nahm er einen andern Tag vor — rekapitulierte" (423). So verwandelt Wutz die Fremdheit der Objekte in die Geschlossenheit der Subjektivität. Dafür hat Jean Paul ein deutliches Bild gefunden: er läßt Wutz „Wutzsche" Bücher schreiben. Die Werke Kants, Lavaters und Rousseaus, die in der Bibliothek des Schulmeisterleins stehen, hat dieses sich selbst geschrieben. Aus den dem Meßkatalog entnommenen Titeln baut Wutz sich das eigene literarische Reich: auf den Buchdeckeln stehen die Namen der fremden Autoren, innen aber sieht es „Wutzisch" aus. So haben die Bücher wie die Dinge vor Wutz doppelte Gestalt: die scheinbarer Objekthaftigkeit. Wie der von Wutz erinnerte Raum den der Gegenwart austönt, so hebt die erinnerte Zeit die gegenwärtige auf: „Indem der Wind seine Fenster mit Schneevorhängen anblinkte: drückte er die Augen zu und ließ auf die gefrornen Wiesen den längst vermoderten Frühling niedertauen" (423). I n beiden Momenten bewährt sich die Identität des Wutz als Selbstkonstruktion. Die Objekte dringen nicht als eigener und gegenständlicher Bereich in sie hinein. Die Untersuchung dreier Szenen soll den Aufbau dieser sich in sich konstuierenden Identität von anderen Formen der Identität abheben. Die erste ist die Tanzszene, in der sich Wutz verliebt. Sie kontrastiert der berühmten Tanzszene in Goethes ,Werther'. Da der Alumnus unter dem Tanzen (wenige Gymnasiasten hätten mitgetanzt, aber Wutz war nie stolz und immer eitel) den Augenblick weghatte, was — ihn nicht einmal eingerechnet — an der Justel wäre, daß sie ein hübsches gelenkiges Ding und schon im Briefschreiben und in der Regeldetri im Brüchen und die Patin der Frau Seniorin und in einem Alter von 15 Jahren und nur als eine Gast-Tänzerin mit in der Stube sei: so tat der Gast-Tänzer seines Orts, was in solchen Fällen zu tun ist; er wurde, wie gesagt, verliebt — schon beim ersten Schleifer flogs wie Fieberhitze an ihn — unter dem Ordnen zum zweiten, wo er stillstehend die warme Inlage seiner rechten Hand bedachte und befühlte, stiegs unverhältnismäßig — er tanzte sich augenscheinlich in die Liebe und in ihre Game hinein. — Als sie noch dazu die roten Haubenbänder auseinander fallen und sie ungemein nachlässig um den nackten Hals zurückflattern ließ: so vernahm er die Baßgeige nicht mehr — und als sie endlich gar mit einem roten Schnupftuch sich Kühlung vorwedelte und es hinter und vor ihm fliegen ließ: so war ihm nicht mehr zu helfen, und hätten die vier großen und die zwölf kleinen Propheten zum Fenster hineingepredigt (432).

M i t Vorsicht und allmählich entwickelt sich die Empfindung, und mit derselben Vorsicht und Langsamkeit wird sie vom Erzähler entwickelt.

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Schon mit der einleitenden Bemerkung (Wutz „tat, was in solchen Fällen zu tun ist") wird das Erlebnis von aller künstlichen Emphase getrennt. Anders als Werther erlebt Wutz das Alltägliche nicht in der Aura des Besonderen, sondern er erlebt noch das Besondere im Charakter des Alltäglichen, der Wiederholung. Dadurch ist nicht wie für Werther schon im einzelnen Moment die Totalität des Erlebens schlagartig da, sondern sie baut sich Zug um Zug auf. Diesen allmählichen Aufbau der Empfindung hält die Darstellung des Erzählers ein, indem die Gedankenstriche das Geschehen verlangsamen. Der erste Schleifer, das Ordnen zum zweiten, das Halten der rechten Hand der Geliebten, die auseinanderfallenden Haubenbänder, das rote Schnupftuch — in diesen Momenten baut sich die Empfindung allmählich auf. Die so gewachsene Empfindung wird aber nicht länger beschreibend festgehalten. Der Erzähler weicht vielmehr für einen Moment aus, um sie gerade vergessen zu machen: „Dorfkoketten machen sich aus dem Schnupftuch die nämliche Feldschlange und Kriegsmaschine, die sich die Stadtkoketten aus dem Fächer machen; aber die Wellen eines Tuchs sind gefälliger als das knackende Truthahns-Radschlagen der bunten Streitkolbe des Fächers" (432/433). Die Digression hat wie viele andere bei Jean Paul den Auftrag, den sich verfestigenden Erzählzusammenhang zu lösen und diesen dadurch zu entwickeln. Sie füllt die Zeit, die nötig gewesen wäre, Wutzens gesteigerte Empfindung darzustellen. Statt dessen führt der Erzähler den Leser so wieder ins Geschehen: „Wutz trug seinen mit dem Gas der Liebe aufgefüllten und emporgetriebnen Herzballon freudig ins Alumneum zurück, ohne jemand eine Silbe zu melden, am wenigsten der Schnupftuch-Fahnen-Junkerin selber" (433). Die verwandte Metapher scheint nichts mit dem Vorgang der entstandenen Liebesempfindung zu tun zu haben. Doch sie gibt den satirischen Nachschlag zu dieser: sie deutet auf das allmähliche Wachsen, Sich-Aufblähen der Empfindung und trennt, indem sie den Vorgang noch einmal, jetzt satirisch, faßt, diesen von aller Überhöhung. So bleibt die Wutzsche Empfindsamkeit als unkünstliche, stille erhalten. Wutz nämlich mißt nicht wie Werther die Objekte an der Totalität seiner Subjektivität, sondern er geht auf ihre einzelnen Züge ein und setzt aus diesen Vereinzelungen durch Wiederholung des Empfindens einen Zustand. Das wird in der zweiten Szene deutlich: Er ging da sonntags nach der Abendkirche heim nach Auenthal und hatte mit den Leuten in allen Gassen Mitleiden, daß sie dableiben mußten. Draußen dehnte sich seine Brust mit dem aufgebaueten Himmel vor ihm aus, und halbtrunken im

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Konzertsaal aller Vögel horcht* er doppelselig bald auf die gefiederten Sopranisten, bald auf seine Phantasien. Um nur seine über die Ufer schlagende Lebenskräfte abzuleiten, galoppierte er oft eine halbe Viertelstunde lang. Da er immer kurz vor und nach Sonnen-Untergang ein gewisses wollüstiges trunknes Sehnen empfunden hatte — die Nacht aber macht wie ein längerer Tod den Menschen erhaben und nimmt ihm die Erde —: so zauderte er mit seiner Landung in Auenthal so lang', bis die zerfließende Sonne durch die letzten Kornfelder vor dem Dorfe mit Goldfäden, die sie gerade über die Ähren zog, sein blaues Röckcben stickte und bis sein Schatten an den Berg über den Fluß wie ein Riese wandelte. Dann schwankte er unter dem wie aus der Vergangenheit herüberklingenden Abendläuten ins Dorf hinein und war allen Menschen gut, selbst dem Präfektus. (433/434)

Die Wutzsche Identität bildet sich in derartigen Erlebnissen durch Wiederholung, der Spaziergang wird zu ihrer Bestätigung. Wie Wutz immer denselben Weg geht, so konstruiert er Natur als Wiederholung der immer wieder auftretenden Zeichen. Die Brust kann nur so sich „mit" dem aufgebauten Himmel ausdehnen, die Vögel nur so „gefiederte Sopranisten" sein, die abendlich untergehende Sonne das Zeichen zum Heimgang geben. Die Innenwelt des Wutz bewahrt sich als Zustand, indem sie durch Wiederholung der äußeren Eindrücke diese zum Zustand umbildet. Die Zeit wird aufgelöst in der Statik des Empfindungsraumes, der sich nicht zu verändern vermag 15 . Dadurch sind Innen- und Außenwelt schließlich nicht mehr zu scheiden, verschwindet die Gestalt in ihrer Indifferenz: „Freilich, du, mein Wutz, kannst Werthers Freuden aufsetzen, da allemal deine äußere und deine innere Welt sich wie zwei Muschelschalen aneinander löten und dich als Schal tier einfassen . . . " (435). Am Beispiel der dritten Szene wird deutlich, wie Jean Paul die Originalität der Wutzschen Empfindung von der übertriebenen Empfindsamkeit seiner Zeit abhob, obwohl sie dem Stoff nach den Bildern dieser falschen Empfindsamkeit nahe ist: sie führt einen Sonnenuntergang und die Reaktion der ihn Betrachtenden vor. Als Vergleich soll die Darstellung einer stoffgleichen Szene dienen. August Moritz von Thümmel beschrieb etwa zur gleichen Zeit wie Jean Paul einen Sonnenuntergang so: Die Scheibe der Sonne, als wäre sie allein für dieses Tal geschaffen, hing, zu ihrem Untergange geneigt, gerade vor mir. Ein breiter, schäumender, in die Tiefe stürzender Wasserfall schien ihr nachzuhängen, und die letzten Goldmassen ihrer heutigen Spende zu übernehmen, um sie in flimmernden Körnern über das Abendbrot dieser glücklichen Talbewohner zu streuen . . . Der mit ihrem wallenden Lichte überschwemmte Teppich grünender Triften, der sich, so weit der Blick reichen konnte, in dem Grunde verbreitete, warf mit den Gruppen ruhender Herden, in seiner unglaublich sanften Verschmelzung einen Widerschein in die Höhe, der selbst ein sterbendes Auge noch würde erquickt haben. Die meinigen — ach! 15 Bezeichnend heißt es über den „elysäischen Zwischenraum" zwischen Amtsantritt und Hochzeit, daß dieser „aus lauter ähnlichen Tagen" (440) bestehe.

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wie soll ich dir das Wohlbehagen versinnlichen, in dem sie schwammen! — Alle besseren Empfindungen meiner Seele schienen sich gegen die Sehnerven zu drängen, und aus ihnen Dank gegen Gott, Freude des Lebens und Zufriedenheit mit der Welt zu saugen. Wie liebt, wie ehrt man sein Selbst in solcher Stimmung! Wie gereinigt fühlt sich das Herz von allen verächtlichen Wünschen, die es in so seligen Augenblicken nicht einmal zu begreifen vermag. 16

Das Pathos der Empfindung, das diese doch wortlos und undeutlich bleiben läßt, versetzt bei Thümmel den Beobachtenden in eine Erregung, die auf die doch stille und idyllische Umgebung der Talbewohner und Herden nicht zu reagieren vermag. Die Empfindung setzt sich künstlich in Szene. Sie verblaßt in den Floskeln des Unsagbaren. Dagegen die Stoff gleiche Szene im ,Wutz': Die Sonne kroch jetzt ein zu einem einzigen roten Strahle, der mit dem Widerscheine der Abendröte auf dem Gesichte der Braut zusammenkam; und diese, nur mit stummen Gefühlen bekannt, sagte zu Wutz, daß sie in ihrer Kindheit sich oft gesehnet hätte, auf den roten Bergen der Abendröte zu stehen und von ihnen mit der Sonne in die schönen rotgemalten Länder hinunterzusteigen, die hinter der Abendröte lägen. Unter dem Gebetläuten seiner Mutter legt* er seinen Hut auf die Knie und sah, ohne die Hände zu falten, an die rote Stelle am Himmel, wo die Sonne zuletzt gestanden, und hinab in den ziehenden Strom, der tiefe Schatten trug; und es war ihm, als läutete die Abendglocke die Welt und noch einmal seinen Vater zur Ruhe — zum ersten und letzten Male in seinem Leben stieg sein Herz über die irdische Szene hinaus — und es rief, schien ihm, etwas aus den Abendtönen herunter, er werde jetzo vor Vergnügen sterben . . . Heftig und verzückt umschlang er seine Braut und sagte: ,Wie lieb hab* ich dich, wie ewig lieb!' Vom Flusse klang es herab wie Flötengetön und Menschengesang und zog näher; außer sich drückt* er sich an sie an und wollte vereinigt vergehen und glaubte, die Himmeltöne hauchten ihre beiden Seelen aus der Erde weg und dufteten sie wie Taufunken auf den Auen Edens nieder. Es sang: Ο wie schön ist Gottes Erde Und wert, darauf vergnügt zu sein! Drum will ich, bis ich Asche werde, Midi dieser schönen Erde freun. Es war aus der Stadt eine Gondel mit einigen Flöten und singenden Jünglingen. Er und Justine wanderten am Ufer mit der ziehenden Gondel und hielten ihre Hände gefaßt und Justine suchte leise nachzusingen; mehre Himmel gingen neben ihnen. Als die Gondel um eine Erdzunge voll Bäume her umschiff te: hielt Justine ihn sanft an, damit sie nicht nachkämen, und da das Fahrzeug dahinter verschwunden war, fiel sie ihm mit dem ersten errötenden Kusse um den Hals . . . Ο unvergeßlicher erster Junius! schreibt er. — Sie begleiteten und belauschten von weitem die schiffenden Töne; und Träume spielten um beide, bis sie sagte: ,Es ist spät, und die Abendröte hat sich schon weit herumgezogen, und es ist alles im Dorfe 16 Zitiert nach: Deutsches Lesebuch, Band 1/2, hrsg. von Waither Κ illy, Frankfurt/M. 1970, S. 124/125.

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still.' Sie gingen nach Hause; er öffnete die Fenster seiner mondhellen Stube und schlich mit einem leisen Gutenacht bei seiner Mutter vorüber, die schon schlief. (444 - 446)

Wutz und die Geliebte sind „nur mit stummen Gefühlen bekannt". Den einzigen Augenblick, an dem sich die Identität des Wutz zu öffnen scheint („zum ersten und letzten Male in seinem Leben stieg sein Herz über die irdische Szene hinaus"), überführt dieser wieder in die Identität, indem er sich an die Braut schmiegt und ihr sagt: „Wie lieb hab' ich dich, wie ewig lieb!" Die Regungen der Gestalten bleiben in einer Gelassenheit, die fern ist von aller Empfindelei: sie „hielten ihre Hände gefaßt", so versuchte Justine, „leise" nachzusingen, so hielt sie den Wutz „sanft" an, so „begleiteten und belauschten" sie den Gesang und so endlich öffnete Wutz die Fenster der mondhellen Stube und „schlich" ins Bett. Bis aufs äußerste ist die Bewegung gemieden, die vor der Umgebung sich laut machen könnte. Das „Gutenacht", das der doch schlafenden Mutter gilt, steht für die innere Anteilnahme an der Umgebung, die die Empfindung mit Ehrfurcht in sich selbst beläßt. Dadurch erhält die Wutzsche Empfindsamkeit ihre Stille, daß sie den Dingen nicht Gewalt antut. Sie deutet nicht, sie ist betrachtend. — Durch diese Bedingungen ist die Wutzsche Identität nicht vor das Maß von Anfang und Ende gerückt. Sie ist schon immer in sich geschlossen, innere Kontinuität. Sie ersetzt den Raum der realen Zeit durch den der erinnerten, der subjektiven, der zugleich endlos ist, da er nur als Wiederholung der immergleichen Eindrücke zu bestehen vermag. Daher baut die Wutzsche Identität im Werden immer den Zustand auf. Mittel dieses Bauens ist die konstruierende Phantasie, die das wahrgenommene Einzelne zur Totalität der Innenwelt erweitert, ohne es zu deuten. Unterschieden wird daher nicht mehr zwischen Zeiten und Dingen. Identität ist Kontinuität, ein „fortwährendes Gefühl", ein „fortbleibendes (perennierendes) Vergißmeinnicht der Freude" 17 . I n dieser Kontinuität des Erlebens bleibt sie dennoch unbewußt, da das Bewußtsein die Geschlossenheit öffnen würde 18 . Indem Wutz so nicht um sich weiß, erfaßt er seine Umgebung nicht im Urteil. Diese ist wie selbstverständlich eingebettet in die Identität, die sich mit jeder Regung neu aufbaut. Selbst vor dem Tod zerbricht sie nicht. Sie hält ihn ab im Blick auf die 17 Jean Pauls Sämtliche Werke, 1. Abteilung, 16. Band, S. 89. 18 Zum Verhältnis von Bewußtsein und Naivität, das die Waage halten muß und eine der Schwierigkeiten der Erzählung ausmacht, sagt Max Kommereil sehr richtig: „Wenn Wuz schließlich als Umkehrungsbild zu einem Spiel des Geistes mit sich selbst wird, so entsteht die Gefahr, daß er zuviel von sidi weiß -und daß statt seiner eigenen kleinen Lebemsseele ihn zu sehr der Werkwille seines Erdichtens regiert." Max Kommerell, Jean Paul, Dritte, unveränderte Auflage, Frankfurt/M. 1970, S. 286.

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Imago der Kindheit: „Auf dem Deckbette lag eine grüntaftne Kinderhaube, wovon das eine Band abgerissen war, eine mit abgegriffnen Goldflitterchen überpichte Kinderpeitsche, ein Fingerring von Zinn, eine Schachtel mit Zwerg-Büchelchen in 128-Format, eine Wanduhr, ein beschmutztes Schreibbuch und ein Fingerkloben fingerlang. Es waren die Rudera und Spätlinge seiner verspielten Kindheit." (455) — Ehirdi diese Konstituentien der Gestalt war die Gattung, in der ihre Darstellung möglich war, bestimmt: die Idylle. Schon die frühen antiken Muster der Gattung, die Idyllen Theokrits, kennen den Vorrang des Statischen, des Räumlich-Zuständlichen der Darstellung 1". Aufhebung der Zeit, Darstellung des geschlossenen, abgegrenzten Raumes sind charakteristische Momente der Gattung 20 . Als Ganzes aber ist die Erzählung der Wutz-Gestalt. I m Untertitel hat gemacht; er nennt das Erzählte „eine sche Darstellung tritt der Kommentar

nicht Idylle. Idyllisch ist der Raum Jean Paul den Unterschied deutlich Art Idylle". Denn neben die idyllides Erzählers.

5 Als Idylle ist die in die Erzählung integrierte WTutz-Geschichte Darstellung einer in sich geschlossenen Existenz in abgegrenztem Raum. Dem steht der Erzähler gegenüber, der in der Anrede an seine Zuhörer und Leser auf den Erzählzusammenhang der Idylle reflektiert. Ist die Wutz-Geschichte Ausdruck einer nicht mehr erreichbaren Vergangenheit, so spricht der Erzähler in der Gegenwart einer Zeit, die durch andere Bedingungen charakterisiert ist als die der Wutz-Gestalt. In ihr ist die „Welt" als Raum der Empfindung offen und chaotisch. Dem Erzähler ersdieint sie als „der unbändige stürzende Strom der Dinge", der „auf seinen Katarakten und Strudeln zerstoßet und schüttelt und rädert" (440). Das Verstehen zwischen Erzähler und Zuhörern gründet in der Beiden gemeinsamen Erfahrung offenen Erlebens, das sich einer nicht mehr faßbaren Umgebung gegenübersieht. Die Möglichkeit der Ich-Identität ist für eine derartige Erfahrung begrenzt: „aber bei uns armen Schelmen, die wir hier am Ofen sitzen, ist die Außenwelt selten der Ripienist und Chorist unserer innern fröhlichen Stimmung." (435) Dadurch ist die Distanz zur Wutz-Gestalt gesetzt. Sie könnte zur Ironisierung der kauzigen Figur genutzt werden. Die Reflexion des Erzählers über die seinen Lesern vorgestellte Figur würde — als Ironie — die Distanz 19 20

Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Vgl. Renate Bösdbenstein-Schäfer,

Idylle. Stuttgart 1967. S. 8. a.a.O., S. 8 ff.

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so auslegen, daß die sich ihres Tuns nicht bewußte Wutz-Gestalt zum Opfer des wissenden und gelehrten Erzählers würde. Die Reflexion hätte dann den Auftrag, Bewußtheit gegen unbewußte Naivität auszuspielen, deren angestrebte Selbständigkeit, die sich im geschlossenen Raum erfüllt, als Schein zu entlarven 21 . Diesen Sinn hat die Reflexion des Erzählers jedoch nicht. Sie gründet in der Sympathie mit der Gestalt, die er, je länger er erzählt, um so lieber gewinnt (vgl. S. 443). Er ist ihr vielmehr „herzlich gut" (443) und füllt als Ausdruck dieser Güte die Distanz, die er gleichwohl durch Reflexion erhält, in anderer Weise aus. Die Ferne der Gestalt wie ihrer Geschichte erfaßt er, indem er sich und die Leser nötigt, auf sie wie auf eine zerbrechliche Spielfigur zu blicken, an die das gewohnte Verstehen nicht reicht. Indem die Zerbrechlichkeit der Gestalt geachtet wird, setzt der Erzähler zu ihr eine Distanz, die es ermöglichen soll, sie zu betrachten, ohne sie zu verurteilen. Die Anrede der Gestalt als „Ding" läßt ihr den Raum ihrer eigenen Existenz als Raum des eigenen Schaffens. Wie die Gestalt — als „Ding" — Gegenstand der bloßen Betrachtung, nicht des Urteils, ist, so greifen auch die Reflexionen des Erzählers nicht in den Raum dieser Dinglichkeit. I n einer charakteristischen Wendung hält so etwa der Erzähler fest, daß er wünsche, sich und seine Zuhörerschaft „zu transparenten Sylphiden" verdünnen zu können, um Wutz „ohne Störung seiner stillen Freude" (450) zu betrachten. Die Imperative des Erzählerkommentars legen die Weise des rechten Verständnisses der Wutz-Gestalt als Betrachtung fest: „sehet nur den Mann hintennach, der den Sonnen- und Himmelweg zu seiner Braut geht und auf den andern Weg drüben nach dem Alumneum schauet und denkt: ,wer hätt's vor vier Jahren gedacht'; ich sage, sehet ihm nach!" (450) Im Kommentar weist also der Erzähler der erzählten Geschichte Bedingungen ihres Verständnisses zu. Er trennt diese von den möglichen Formen ironischen Verstehens: „Ich könnt' aber den Pinsel fast jemand an den Kopf werfen, wenn mir beifällt, mein Wutz und seine gute Braut werden 21 Genau in dieser Weise hat Wolfgang Harich die Wutz-Erzählung mißverstanden: „Bei fast allem, was Wutz denkt, fühlt und tut, wird die Überzeugung des Autors spürbar, daß man ein infantiler Narr sein muß, um imstande zu sein, sich in einer dermaßen scheußlichen Umwelt freudig und mit Behagen einzurichten." (Wolfgang Harich, Jean Pauls Revolutionsdichtung, Reinbek bei Hamburg 1974, S. 155.) Harich hat angestrengt über die Struktur der Erzählung hinweggelesen. Nur so kann er zu derart kuriosen Ergebnissen kommen: „Eben infantile Züge aber sind typisch bei einfachen (!) Leuten, wenn sie, politisch ahnungslos, die sie umgebenden Zustände wie Naturgegebenheiten hinnehmen." (S. 154)

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mir, wenns abgedruckt ist, von den Koketten und anderem Teufelszeuge gar ausgelacht . . ." (451). Das Verständnis für die Wutz-Gestalt wird vielmehr zur unbedingten Voraussetzung der Erzählung. I n der einleitenden Anrede an seine Zuhörer und Leser fordert der Erzähler zu einer Haltung auf, die der des Wutz recht nahe kommt und so das Verständnis vorbereitet: „Jetzt aber, meine Freunde, müssen vor allen Dingen die Stühle um den Ofen, der Schenktisch mit dem Trinkwasser an unsre Knie gedrückt und die Vorhänge zugezogen und die Schlafmützen aufgesetzt werden" (422) 22 . Der Leser muß, um zu verstehen, von sich absehen, als Betrachtender den "Raum der Wutz-Gestalt nachbilden. So wird seine Aufmerksamkeit auf die Bildung einer Identität gelenkt, die als künstliche Konstruktion des Ich gelingt. Indem der Leser ihr Gelingen nachbildet und dessen Künstlichkeit als Not der Situation, als geheime Gegenwehr gegen die Zeittendenzen, begreift, stellt ihn die WutzGeschichte vor das ungelöste Problem der eigenen Identitätsfindung. Der Kommentar des Erzählers soll also die konventionelle Identität des Lesers aufheben und ihn öffnen für die Betrachtung der Geschichte. An dieser nimmt der Leser im Geleit des Erzählerkommentars als Beobachtender teil. Er begreift die Mühen einer Identitätskonstruktion, die sich nicht auf Vorbilder bezieht. Gleichzeitig kann ihm Wutz aber ebensowenig zum Vorbild werden. Das verhindert die Kuriosität der Gestalt ebenso wie die Distanz, die der Erzähler zu ihr aufbaut, im Kommentar und in der Dinglichkeit ihrer Sphäre. Durch das Verhältnis von Kommentar und Geschichte wird der Leser auf sich selbst verwiesen und der Anspruch der vorbildlosen Selbstbegründung seiner Identität gestellt. Die Wutz-Erzählung ist als Ganzes Aufforderung zur Selbstbestimmung des Subjekts, das im Vollzug ihres Verstehens, in der Betrachtung der Wutz-Gestalt, sich auf sich selbst beziehen muß. An der Identität des Wutz erfaßt der Leser seine Nicht-Identität, am Vergangenen der Gestalt den Kontrast der Gegenwart, an der Kontinuität des Wutz-Erlebens die Gebrochenheit des eigenen, an der Wutzschen Uberspielung des Todes die Bedrohung durch diesen: „aber warum macht doch mir und vielleicht euch dieses schulmeisterlich vergnügte Herz so viel Freude? — Ach, liegt es vielleicht daran, daß wir selber sie nie so voll bekommen, weil der Gedanke der Erden-Eitelkeit auf uns liegt und unsern Atem drückt und weil wir die schwarze Gottesacker-Erde unter den Rasen- und Blumenstücken schon gesehen haben, auf denen das Meisterlein isein Leben verhüpft?" (444) 22 Darauf hat bereits Jens Tismar hingewiesen. Vgl. Jens Tismar: Gestörte Idyllen. München 1973, S. 16.

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6 In der Wutz-Erzählung wird die geschichtliche Spannung von öffentlicher und privater Sphäre thematisiert. Die Bestimmungen der öffentlichen Sphäre — Krise der Identität, Erfahrung des Chaos, Bewußtsein des Todes — erscheinen als Bedingungen der ^ e l t ' der Erzählergegenwart, in die der Leser als Zuhörer des Erzählers einbezogen wird. Die private Sphäre, der die Konstruktion der Identität aufgegeben ist, erscheint zweifach abgehoben von der öffentlichen: als Raum der Wutz-Gestalt, der zugleich zum Imaginationsraum des Lesers wird. Dieser muß sich von den Vorstellungen der öffentlichen Sphäre trennen („an die grand monde über der Gasse drüben und ans Palais royal muß keiner von uns denken" [422]). Die Distanz zur privaten Sphäre des Wutz wird durch die Erzählerreflexion zum Aufbau der privaten Sphäre des Lesers genutzt. Dieser wird genötigt, die Wutzsche Identitätskonstruktion mit der Schwierigkeit der eigenen Identitätsfindung zu kontrastieren. Jean Paul erfaßt in der Wutz-Erzählung als Konstruktion und Kommentar der Idylle die geschichtlich problematisch gewordene Gattung als Ausdruck der Krise seiner Zeit. I n der Aura der Wutz-Gestalt erreicht er die einer verlorenen, in sich geschlossenen Identität, die den Leser nötigt, zur Stille der Selbstbesinnung zu finden; zu ihr leitet die Erzählung und in ihr klingt sie so aus: „Es ist genug, meine Freunde — es ist 12 Uhr, der Monatzeiger sprang auf einen neuen Tag und erinnert uns an den doppelten Schlaf, an den Schlaf der kurzen und an den Schlaf der langen Nacht" (462).

FRÜHE NIETZSCHE-REZEPTION I N D E U T S C H L A N D Von Bruno Hillebrand Um 1890 beginnt ebenso plötzlich wie heftig die Auseinandersetzung mit Nietzsche. Dessen Gedanken hatten auch vorher schon zündend gewirkt, aber doch nur vereinzelt und im Umkreis ihm nahestehender Zeitgenossen. M i t steigender Intensität und ohne schöpferische Pause hatte Nietzsche in den 80er Jahren seine Werke publiziert: ,Der Wanderer und sein Schatten' (1880), ,Morgenröte' (1881), ,Die fröhliche Wissenschaft' (1882), ,Also sprach Zarathustra' (1883-1885), Jenseits von Gut und Böse' (1886), ,Zur Genealogie der Moral' (1887), ,Götzendämmerung' (1889)1. Das geistige Erlebnismaterial tritt in äußerster Weise verdichtet zutage. Ephemere Daseinsaspekte dringen kaum in das geistige Selbstgespräch ein. Der Monolog drängt zunehmend zur aphoristischen Schärfe. Insgesamt war das Werk ein Magazin von ungeheuerer Sprengkraft. Der Leser war aufs äußerste gefordert. Die geistige Situation der Zeit war von Nietzsche mit einer bis dahin nicht gekannten Rücksichtslosigkeit aufgerissen worden. Die Verzögerung des Begreifens dauerte Jahrzehnte. Erst nach einem halben Jahrhundert war die gründliche Aufarbeitung geleistet. 1950 hielt Gottfried Benn den Vortrag ,Nietzsche — nach fünfzig Jahren' 2 . Das ist ein abschließendes Datum. Insgesamt für die Nietzsche-Rezeption, nicht nur als Dokument Benns. Auch für diesen lag die vehemente Auseinandersetzung zu diesem Zeitpunkt schon über zwanzig Jahre zurück. I m Pathos dieses Vortrags zeigt sich schon einmal die expressionistische Emphase, deren Ende um 1925 anzusetzen ist. Generell läßt sich sagen, daß mit dem Hitler-Regime und dessen Nietzsche-Verfälschung die langanhaltende Rezeptionsgeschichte abgeschlossen ist. Gottfried Benn, der sich und seine Generation oft genug von Nietzsches geistigem Einfluß her definiert hatte, sieht deutlich diese Zäsur (,Züchtung I I ' ) 3 . Seine „Bedenken gegen Nietzsche" sind letztlich aber nicht gegen 1 Geschrieben in diesem Jahrzehnt, aber erst später veröffentlicht: ,Ecce homo' (1908), der Nachlaß in zwei Folgen veröffentlicht unter dem Titel,Wille zur Macht' (1901 und 1906). 2 G. B., Gesammelte Werke. Bd. 1, Wiesbaden 1959, S. 482 - 493. 3 a.a.O., S. 295 - 298.

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diesen gerichtet, sondern gegen dessen Ausbeutung im Sinne des nationalsozialistischen Rassismus und Biologismus. Das ästhetisch-künstlerische Postulat Nietzsches wird nicht angezweifelt. Bis 1950 nicht, als Benn rückblikkend zum Thema Nietzsche und die deutsche Literatur noch einmal feststellt: „für meine Generation war er das Erdbeben der Epoche."4 Insgesamt kritischer verhält sich Thomas Mann. Auch er ist ein Kronzeuge für die Endphase dieser Wirkungsgeschichte. Im Unterschied zu Benn distanziert sich Thomas Mann gerade von dem ästhetischen Phänomen und Problem Nietzsche. Thomas Mann sieht Nietzsche historisch, er sieht ihn im Rahmen deutscher Geistesgeschichte. Mitte der vierziger Jahre beschwört er im ,Doktor Faustusc Nietzsche und das deutsche Schicksal mit ergreifendem Engagement. Fassungslos und mit Tränen sieht der Erzähler des Romans das infernalische Ende einer geistigen Bewegung, mit der sich Thomas Mann identifiziert wie nie zuvor. Das ist zugleich der Abschluß seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Nietzsche. Diese hatte ihren Anfang genommen in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts — in den ,Buddenbrooks' ist sie schon, wenn auch beiläufig nur, gegenwärtig. Als Thomas Mann 1897 den Roman zu schreiben begann, lebte Nietzsche noch. Als er 1947 äußerst kritisch Nietzsche's Philosophie im Lichte unserer Erfahrung' 5 betrachtete, hatte mit dem Ende des 2. Weltkrieges eine neue Epoche begonnen. „ I n mehr als einem Sinn ist Nietzsche historisch geworden." 6 Das ist das kritisch abgesicherte Fazit einer sechzigjährgen Rezeptionsgeschichte. Die Nietzsche-Einwirkung seit 1890 ist ein Stück Geistesgeschichte, vergleichbar in etwa dem Einfluß Rousseaus zu seiner Zeit. Geistesgeschichte gedeutet als Geschichte der Umwandlung geistiger Erfahrungen und Sehweisen. Nietzsches Umwertung ist der Umsturz festgefahrener Perspektiven. Die Art und Weise, Welt zu sehen, zu deuten, zu werten, wird umgestoßen, die Immobilität des Denkens wird gesprengt, Tendenzen geistiger Verhärtung werden attackiert. Das satte Selbstgenügen der positivistisch-materialistiscb orientierten Gründerzeit ist aber nur eine Motivation von Nietzsches Denken, die andere, „eigentliche", sitzt tiefer, der Anti-Idealismus, dieser metaphysische Kampf Nietzsches gegen ein Entartungsphänomen, das er zutiefst als lebensfeindlich empfand und das er im Piatonismus und Christentum zu treffen versuchte. Er kritisierte die Tatsache, daß dort die obersten Werte nicht immanent, also irdisch und lebensbezogen gedacht waren, sondern transzendent, in geistiger Autonomie. Nietzsche verwarf diesen Denkansatz 4 a.a.O., S. 483. s Th. Mann, Gesammelte Werke, Bd. I X , Frankfurt 1960, S. 675 - 712. β a.a.O., S. 710.

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und stellte damit das metaphysische Denken von zwei Jahrtausenden auf den Kopf. Wobei zu beachten ist, daß er das idealistische Denken nicht durch ein materialistisches ersetzen wollte, sondern er wollte den idealistischen Ansatz neu ergründen, im Sinne der frühen Griechen, naturhaft im Sinne Heraklits: der immanente Logos als Steuerungsprinzip der Welt. Nietzsches Denken ist vom Kern her metaphysisch strukturiert. Das aber haben die Literaten erst später begriffen, beispielhaft wären hier Robert Musil und Gottfried Benn zu nennen. Am Anfang faszinierten die Dichter andere Momente: Nietzsches Vitalismus, insgesamt die Betonung des Lebensaspekts, die Aufbruchstimmung, der Züchtungsgedanke, von Darwin herrührend und im Phantom des Übermenschen kulminierend; es faszinierte die mitreißende Sprache, das Pathos, der exorbitante Lebenswille, der sich als Rhythmus des Denkens und Sprechens niederschlug. Die Aphorismen der ,Götzendämmerung', so berichtet der Schriftsteller Wilhelm Weigand, habe er 1889, im Jahr des Erscheinens, gelesen: sie „schlugen wie der Blitz in meine Seele, und aus der knappen Sprache klang mir ein Rhythmus entgegen, den ich noch vor keinem deutschen Buch empfunden hatte" 7 . So ging es vielen. Es war ein Überwältigtwerden durch Sprache, ein Berauschtsein ohne rechtes Begreifen. Nicht George gebührte der Ruhm, der entscheidende Sprachschöpfer und Stilbildner seiner Zeit gewesen zu sein, sagt Weigand rückblickend, „sondern Friedrich Nietzsche war es, der, als Meister eines zauberhaften Stils, der deutschen Sprache einen ungeahnt neuen Rhythmus verlieh und ganz Europa aufhorchen ließ" 8 . Im Jahr 1889 erscheint Leo Bergs Studie über Nietzsche9, eines der frühesten Dokumente dieser Wirkungsgeschichte, emphatisch und affirmativ auf der ganzen Linie. Auch hier ist Nietzsches Sprache der Hauptanknüpfungspunkt: die ,Geburt der Tragödie 4 fasziniere durch die „Schönheit ihrer Diktion", man werde unwillkürlich an Piatons Sprache erinnert. „Eine so durchgeistigte, eine so bildreiche und anschauliche und zugleich so abgerundete und klare Sprache findet man nicht bald wieder in irgend einem deutschen Buche." Der ,Zarathustra 4 atme „eine Glut der Empfindungen, wie nur wenige Dichtwerke von heute". Jenseits von Gut und Böse' und ,Zur Genealogie der Moral' seien die reifsten von Nietzsches Schriften, virtuos der Stil, virtuoser als bei Heine, „schärfer, durchgeistigter und schneidender". Insgesamt seien Nietzsches Schriften vergleichbar mit der Flamme in einer Eisschale. „Man mag einst über Nietzsche denken, wie man will, über den Schriftsteller in ihm wird es bald keinen Zweifel mehr geben. Er ist der 7

W. W., Welt und Weg. Aus meinem Leben, Bonn 1940, S. 14 f. a.a.O., S. 244. « L. B., Friedrich Nietzsdie. Studie. In: Deutschland Nr. 9, Berlin 1889. 8

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größte Virtuos der deutschen Sprache." 10 Diese Prognose hat sich bewahrheitet; über den Stilisten, den Sprachartisten Nietzsche haben sich die Literaten bald verständigt — das hielt an, bis 1950 Gottfried Benn noch einmal sagte: „seit Luther das größte deutsche Sprachgenie" 11. Uber den Denker Nietzsche war Einigung nicht so schnell zu finden; verstanden haben ihn nur wenige Literaten der Zeit um 1900. Auch das hat der heute fast vergessene Naturalist Leo Berg, der die Epochenbezeichnung „Die Moderne" mitprägte, vorausgesagt: daß die Zeit für Nietzsche noch nicht gekommen sei. Das war 1889 — Nietzsche hat den vehementen Beginn seines Ruhms nicht mehr mit klarem Bewußtsein wahrgenommen — in den Januartagen dieses Jahres erfolgte der geistige Zusammenbruch in Turin. Ein Jahr vorher allerdings hat er noch erlebt, wie an der Universität Kopenhagen Georg Brandes seine Vorträge „über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche" hielt. Auch die Aufnahme in Falckenbergs weitverbreiteter ,Geschichte der neueren Philosophie' (1886) hatte ihm in den letzten Jahren noch Bestätigung gegeben. Gemessen aber an der Ablehnung, an aller Verhöhnung, an all dem Spott, den er Zeit seines Schaffens ertragen mußte, war das Aufkommen des Erfolgs nur ein schwacher Lichtblick. Erspart blieb ihm wiederum, den Mißbrauch seiner Gedanken länger mitansehen zu müssen. Die Verfälschung etwa ins Antisemitische wie in Hermann Conradis Roman ,Adam Mensch' (1889) oder den bald einsetzenden trivialen Übermenschenkult, der vielfach einem infantilen Verhalten zur Rechtfertigung diente. — Nietzsches eigene Generation hat mehr zum Mißverständnis seiner Schriften als zu deren Verständnis beigetragen. Eine Figur wie Georg Brandes oder die Publikationen der Zeitschrift,Freie Bühne', die programmatisch seit 1890 zum Thema Nietzsche erscheinen, ragen aus der flachen Kulturlandschaft dieser Jahre hervor. Die Generation der von Nietzsche maßgeblich beeinflußten Literaten war um diese Zeit soeben erst geboren, etwa Sorge (1892), Heym (1887), Benn (1886), Stadler (1883), Stefan Zweig (1881), Musil (1880), oder steckte noch in den Kinderschuhen wie Sternheim, Kaiser, Döblin (alle geboren 1878), Hesse (1877), Rilke und Thomas Mann (1875), Hofmannsthal (1874), Heinrich Mann (1871), George (1868). Sie alle wuchsen als Kinder heran in den Jahren, als Nietzsche seine Werke schrieb — die Atmosphäre ihrer Elternhäuser war die Welt, gegen die sich Nietzsche behaupten mußte, die er floh, mit der ihn nichts verband als traumatische Fesseln. Sie wurden ausgebildet an Schulen und Universitäten, die vom Gründergeist geprägt waren: gewinnmaterialistisch, utilitaristisch-optimistisch, natio· io a.a.O., S. 148 f. u G. Β., a.a.O., S. 483.

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nalistisch. Sie alle glaubten zu ersticken in dieser Luft. Nietzsche, der Europäer, verkörperte für sie die Befreiung von solcher Enge; die zunehmende LJngebundenheit seines Lebens, die Bedingungslosigkeit seines Denkens sahen sie wie ein Leuchtfeuer. Nietzsche gab ihnen Selbstbewußtsein, Mut zur Eigeninitiative in einer von Vätern hart regierten Welt, er setzte Energien frei — auch wenn sich diese zunächst nur rhetorisch anwenden ließen. Man las Nietzsche meist schon in jungen Jahren 12 . Nietzsche stachelte diese Jugend mit den Wörtern „Genie", „Instinkt", „Heros", er proklamierte die Zweckfreiheit des Lebens, verherrlichte dessen rauschhaft-immanente Steigerungsfähigkeit. Er führte ein Leben außerhalb der Gesellschaft — um so eindrucksvoller, als er die glänzende, früh ihn verwöhnende Karriere ebenso aufgab wie die beneidete Freundschaft mit dem prominenten Richard Wagner. Das alles machte Eindruck auf die jungen Literaten um 1900, bestätigte ihren Individualtrieb, ihren Drang zum antibürgerlichen Abseits, zur exzentrischen Profilierung. Das aufkommende Massenzeitalter hatte parallel zu den Symptomen der Anonymität, der Auslöschung des Ich, des subalternen Funktionierens, der sozialen Verelendung die Gegenhaltung hervorgebracht. Das Herausspringen aus festgelegten, scheinbar geordneten Gesellschafts Verhältnissen war aber nur die äußere Demonstration einer inneren Ruhelosigkeit, die sich ständig steigerte, bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Nietzsche hatte seismographisch die Bewegung seiner Zeit erfaßt, er registrierte den Erdrutsch, der dem Bürgertum den Boden entzog — zu einer Zeit, als sich dieses Bürgertum sicher fühlte wie nie zuvor. Er decouvrierte die bürgerliche Moral, klopfte an die hohlen Statusformen, deckte brutal das wertlose Fundament dieser Gesellschaft auf. Er tat das nicht materialistisch auf Kollektivinteressen ausgerichtet, er tat das idealistisch in dem Glauben an die Individualstruktur des Menschen. Sein Kampf galt den aufgeblasenen Pseudo-Idealen einer ideenlosen Gesellschaftsschicht. Darum hingen an ihm von Anfang an die rebellierenden Söhne des Bürgertums, die Renegaten, vielfach von jenem Milieu geprägt, gegen das sie vorgingen. Gemeint ist nicht die Generation der Brüder Mann und der späteren Expressionisten, vielmehr die Literaten wie Heinrich und Julius Hart, Hermann Conradi, Michael Georg Conrad, Otto Erich Hartleben, Franz Evers (der Erfinder des „Überweibs"), Adolf Wilbrandt u. a. Falsche Romantik spukte in den Köpfen dieser Literaten, nicht anders als im praktischen Bereich des bürgerlichen Lebens. «Unter den 12 Hofmannsthal lernt ihn mit 16 oder 17 kennen (1891); Rilke mit 20 Jahren (1895); George mit 24 (1892); Dehmel mit 27 (1890); Thomas Mann mit 20 (1895); Heinrich Mann mit 25 (1896); Musil mit 18 (1898) — um nur auszugsweise Zahlen zu nennen.

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jungen Dichtern grassierte die Kraftmeierei. Ihr überspanntes Selbstgefühl, das für den echten Egoismus noch nicht reif war (!), ließ sie sich fühlen als Ubermenschen und Halbgötter. Jeder junge Gott und Tor glaubte sich nun berufen, der ganzen Welt seinen Trotz ins Gesicht zu speien. Jede Liebesnacht wurde den jungen Stürmern, die nach Leben lechzten, zu einer mystischen Offenbarung, die Dirne wurde aus purstem Idealismus zur Göttin erhöht. Es war für alle ausgemacht . . . daß jeder eine Persönlichkeit war. Wozu den Übermenschen in eine ferne Zukunft versetzen, wie Nietzsche das tat . . . Nietzsche selbst wurde zu einem Mythos, zum Heros und Weltenschöpfer. Man drängt zu ihm, man betet ihn an, läßt Weihegesänge zu ihm aufsteigen. Er selbst aber führte bereits ein freudlos stumpfes Dasein in der Nacht des Wahnsinns." 13 Die Auflehnung der frühen Nietzsche-Adepten zeigt mit perspektivischer Verzerrung das Spiegelbild der bürgerlichen Szenerie vor und nach 1890. Nietzsche war im Munde der falschen Propheten. „Sein Publikum ist das Bürgerthum der Decadence", so beginnt 1890 Paul Ernst, damals noch Marxist, seinen Angriff gegen Nietzsche in der ,Freien Bühne' 14 . Aus sozialengagierter Sicht gibt es, ganz folgerichtig, kein Pardon: alles ist Phrase bei Nietzsche: „dicke, geschwollene Phrase". „Nietzsche ist ja jetzt auf dem besten Wege, Modephilosoph zu werden." Er ist „ein Weltverbesserer von der Sorte, wie wir sie jetzt auf allen Straßen finden". Die Propagierung der Herrenmoral kann für den praktizierenden Sozialdemokraten Paul Ernst nur die gewollte Stabilisation des Kapitalismus bedeuten. Ganz anders sieht Joseph Diner zur selben Zeit in derselben Zeitschrift das Phänomen Nietzsche15: „ein originaler Denker", dessen Schriften gekennzeichnet sind von einer „rücksichtslosen Wahrheit" — „ein Seher" — „ein wahrhaft begnadeter Dichter", Schöpfer einer lebendigen, musikalischen Sprache. In Diners Ausführungen steckt aber auch schon das Mißverständnis der frühen Nietzsche-Rezeption: der Optimismus, als ob jetzt alles besser würde, der Fortschrittswahn des naturwissenschaftlichen Positivismus: daß Nietzsche „vollkommen übereinstimmt mit den neueren naturwissenschaftlichen Entdeckungen". Dieser verhängnisvolle Glaube einer materialistischen Ideologie hängt wesensmäßig zusammen mit prosperitivem Gründerdenken, mit Nationalismus, Rassenwahn, insgesamt mit dem Hochmut einer Zeit, die Quantität statt Qualität setzt. „Die Lehren Darwins und Haeckels führen in letzter Consequenz ebenfalls zum Übermenschen." (Diner) 16 13 Hans F. Landsberg, Friedrich Nietzsche und die deutsche Literatur, Leipzig 1902, S. 89 f. P. E., Friedrich Nietzsche. Seine Philosophie. In: Freie Bühne 1, 1890, S. 516. 15 Mit Diners Aufsatz ,Friedrich Nietzsche. Ein Dichterphilosoph' eröffnete die »Freie Bühne' im 1. Jg. 1890 eine Reihe von Publikationen über Nietzsche.

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Nietzsches Terminologie legte infolge einer biologistischen Nomenklatur derartige Mißverständnisse nahe. Daß sein Denken qualitativ gegen die Zeit gerichtet war, hat damals kaum jemand gesehen. Man las nicht sehr aufmerksam, man war schnell begeistert, „berauscht" von der Psychologie (Przybyszewski, 1892), mitgerissen von der Dynamik der Formulierungen, der Forschheit der Begriffe (Raubtierinstinkt, Blonde Bestie, Sklaven- und Herrenmoral, Übermensch usw.), man las das Wort Krieg im Sinne von 1870/71 (ganz gegen Nietzsches Urteil), und man fühlte sich durch einen mißverstandenen Immoralismus animiert zur Promiskuität. Die Dimension von Nietzsches Philosophie blieb im Dunkeln, man bewegte sich auf der platten Bühne egoistischer Luststeigerung. Man sah nicht die Widersprüchlichkeit in Nietzsches Denken, den Widerspruch als Denk-Prinzip, das Nicht-Festgelegte, den Widerstand gegen jede verkürzte Definition des Menschen, sei sie idealistisch oder materialistisch. Man nahm Nietzsche wörtlich. Man zitierte ihn nach Belieben. Man sah nicht einmal die biographischen Tatsachen, man projizierte auch dahinein noch die eigenen Wunschdeutungen. „ I n rhythmischem Schritte kommt er daher, mit heiterem Lächeln auf den Lippen und aus den Augen strahlt ihm reine Lebenslust." (Diner) An diesem Gegenbild seiner selbst trägt Nietzsche selber die Schuld. Der »Zarathustra' ist eine Fundgrube manierierter Bilder, ist auch 1β Vierzehn Jahre später erst, also 1904, hat Samuel Lublinski als erster die realpolitischen Hintergründe aufgezeigt (,Die Bilanz der Moderne'. Vgl. Kap. I, 1: Geistige Struktur um 1890). „Darwin", sagt er, „wurde nicht wissenschaftlich, sondern mythologisch aufgegriffen — und zwar ausschließlich aus Gründen der Herrschaf tsstabilisation; nicht nur von der Bourgeoisie, dem Großkapital, das sich auf Höherentwicklung durch Tüchtigkeit berief, sondern auch von den Konservativen, die im Schatten Bismarcks ihre Junkerprivilegien verteidigten mittels Rassen- und Züchtungsideologie: nämlich höher geboren, weil höher entwickelt zu sein. Die Basis materieller Verteidigung durch Schutzzölle (zum Schutz der eigenen Agrarprodukte) wurde mythisch überhöht durch Cherusker- und Nibelungenwahn." „Auch Fürst Bismarck gehörte . . . zu den Nibelungenenkeln . . . Man half sich, wie es ging, und ließ sich das Schlag wort Kampf ums Dasein nicht entgehen. Wir sind Tiere, wir zerfleischen uns, das stärkere Raubtier siegt über das schwächere, und die blonde Bestie ist stärker als alle anderen Bestien zusammengenommen. So war also die Verbindungslinie von Hermann dem Cherusker zu Charles Darwin glücklich hergestellt . . . " (S. 21 f.). Der Landadel berief sidi auf ein verschöntes Mittelalter, wenn es um Herrschaftsansprüche gegen das Kapital ging; im übrigen pochte man gegenüber der Welt auf „Herrschaftsanspruch kraft Ariertum". Die Deutschen also in der „Maske von Ariern und Nibelungenenkeln" (S. 24). Wagner und Schopenhauer stabilisierten geistig-künstlerisch diesen Wahn. „Er verflog beim ersten Hahnenschrei Friedrich Nietzsches . . . " (S. 41). 1914 folgt abschließend noch einmal eine kritisch-analytische Auseinandersetzung mit den fehlverstandenen Leitbegriffen Nietzsches (vgl. Lublinski, Zehn Jahre nach Nietzsche, S. 367). Daß der Darwinismus Nietzsche nur „als Gleichnis gedient" habe, wird hier klar herausgestellt (S. 368). Aber auch, daß Nietzsche mit dem Gedanken der „Züchtung" die positivistischen Instinkte der Jugend von 1890 angesprochen habe (S. 368).

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Signum des Ungeschmacks der Zeit. Arno Holz nannte ihn schon früh einen „Salontiroler", Thomas Mann sehr spät noch einen „Unhold", gesicht- und gestaltlos, pure Rhetorik, eine „Unfigur", voll erregten Wortwitzes, gequält in der Stimme, hilflos in seiner Grandezza, rührend und peinlich. — Den Denkansatz, der hinter diesem skurrilen Machwerk steht, sah man um 1890 nodi nicht: die Selbstbewußtwerdung des Menschen im Sinne äußerster Verantwortung. Verantwortung für sich selbst und für die Erde, die eine götterlose geworden war. „Tot sind alle Götter, nun wollen wir, daß der Ubermensch lebe — dies sei einst am großen Mittage unser letzter Wille! — " . 1 7 Der große Mittag ist die ausstehende Bewußtwerdung der metaphysischen Verantwortung des Menschen. Die etablierte Moral ist unzureichend für die große Aufgabe — der Mensch hat noch nicht gelernt, Herr seiner selbst zu sein. Der metaphysische Sinnhorizont, der ihn früher umstellte mit Werten, ist zusammengebrochen: das Kraftfeld des Mythos und das Kraftfeld der Religion. Der Aufruf Zarathustras „Werde, der du bist!" (4,1) muß zusammengedacht werden mit der Entfremdung von Natur, die das Wesen des neuzeitlichen Menschen ausmacht. Der Mensch ist aus dem Lebensprozeß als einem intuitiven Vollzug herausgefallen. Der Übermensch muß den verlorenen Zustand auf bewußter Stufe selbst leisten. Das heißt: „über sich hinaus zu schaffen" — das „schaffende Selbst" (1,4) vollzieht den irdischen Auftrag. Der Übermensch „redet vom Sinn der Erde" (1,3). Die historische Situation wird als geistige verstanden: „An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste . . . " (Vorrede) — denn nichts Höheres gibt es für den Menschen als diese Erde, als den LebensWillen. Es gibt nicht mehr die übersinnliche Welt, die einst Sinn setzte. Zarathustra beschwört: „bleibt der Erde treu" — es ist Zeit, „daß der Mensch sich selbst sein Ziel stecke" (Vorrede). Aber nicht im Sinne von technischer Ausbeutung, egoistischer Weltzerstörung. Gerechte Weltherrschaft basiert auf Selbstbeherrschung des Menschen. Die Literaten haben von diesem Aufruf, der immer noch Zukunft ist, zunächst nichts verstanden. Zarathustras Wort: „Noch hat die Menschheit kein Ziel" blieb ihnen dunkel. Die ersten zehn Jahre der Nietzsche-Rezeption sind voller Mißverständnis, und sicher ist eine so fundamentale Kritik wie die von Paul Ernst am Anfang des Jahrzehnts förderlicher und klärender gewesen als das gemütvolle Umranken der Figur Nietzsches mit „HeilandsGlorie", mit „Übermenschen-Schöne", mit „Sphären-Harmonien", wie es 1899 symptomatisch in Michael Georg Conrads ,Zarathustra'-Gedicht geschieht18. Die Verkitschung des Leids mittels „Golgatha"-Schwärmereien 17

Zarathustra, 1,22, Ende des 1. Buches. 18 M. G. C., Salve Regina, Berlin/Leipzig 1899, S. 95 f.

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richtete sich tiefer als alle Angriffe gegen Nietzsche. Das Mißverständnis hatte schon Tradition, Hermann Conradi hatte den ,Triumph des Übermenschen' schon unter diesem Zeichen gefeiert: „Golgathas blutrotes Schmerzenskleid" 19 . Sentimentalität war die rosa Kehrseite des brutalen, erfolgsegoistischen 19. Jahrhunderts. Aus Conrads Feder stammt auch das Produkt ,In purpurner Finsterniß. Roman-Improvisation aus dem dreißigsten Jahrhundert' (1895). — Nach furchtbaren Kriegs-Verheerungen Ende des 20. Jahrhunderts lebt das Volk des Landes Teuta unterirdisch, ist über alle Natur hinaus in einem Zustand perfekter Mechanik und Mystik. Man verehrt den Märtyrer „ZarathustraNietzischki" als Nationalheiligen, feiert das „Zarathustra-Fest". Zu Lebzeiten mußte er sich im Wahnsinn verbergen, erst 500 Jahre nach seinem Tode wurde er anerkannt. Als er gestorben war, hörte man noch 50 Jahre seine Stimme aus dem Grabe murmeln, darüber am Tage seine Gestalt als dunkler Schatten, in der Nacht als Lichtschein zu sehen war. Der Name Nietzischki darf in Teuta nur einmal im Jahr öffentlich ausgesprochen werden. I m selben Jahr erschien von Adolf Wilbrandt der Roman ,Die Osterinsel'. Ein Dr. Adler (Zarathustras Wappentier!) sieht sich in einem Wachtraum als Phönix aus der Asche steigen, und nun verfolgt er „die Heranzüchtung des Vollmenschen", will dies auf den Osterinseln bewerkstelligen, wird aber an die Sozialisten verraten. Mit den „Gleichmachern, den Kleinmachern" will dieser Dr. Adler aber nichts zu schaffen haben. Nicht Kommunismus sei sein Ziel, sondern „eine neue Aristokratie der Menschheit". Er stirbt, die Hinterbliebenen trösten sich: „Uns bleibt am Ende nichts als die innere Oster insel; wenig, Fräulein Mal wine. Aber das will der Mensch!" — Der Roman erreichte fünf Auflagen (1908); erschienen war er in dem renommierten Verlag Cotta. Bekannter als Wilbrandt und Conrad ist heute wohl Paul Heyse, Nobelpreisträger von 1910. Er veröffentlichte im selben Jahr 1895 den Roman ,Über allen Gipfeln'. — I n einem Duodezfürstentum entfacht ein heimgekehrter Legationsrat die Moraldiskussion und vertritt die in aller Welt verbreitete Auffassung, der wahre Mensch stehe jenseits von Gut und Böse. Neu sei das eben nicht, meint ironisch der Minister des Landes; jener unglückliche Mensch (es fällt auch der Name Nietzsche im Buch), der dies verkündet habe und jetzt „in geistiger Umnachtung" ausruhe, habe die Gesellschaft nur wieder daran erinnert. Aber man möge die Untertanen mit der Moral der „blonden Bestie" nicht erschrecken, es sei genug, wenn man politisch danach handele. Dem sonst erfolgreichen Legationsrat jedoch fehlt ι» H . C., Gesammelte Schriften. Bd. 1. München/Leipzig 1911, S. 195.

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das Talent zum Übermenschen „des Herrn Nietzsche" — er verschmäht die Neigung der ebenso heißblütigen wie schönen Landesfürstin und heiratet die „tugendstolze" Freundin Lena. Das deutsche Butzenscheibengemüt hat wieder einmal gesiegt. Das „intime Tete-a-tete" mit Ihrer Durchlaucht ist harmlos und gibt der Bürgerphantasie pikante Würze — daß ein Mensch „nur für eine kurze Frist der wahnwitzigen Verblendung anheimfallen konnte, jenseits von Gut und Böse zu stehen" (2, I I , 219), in solch seichter Moralauffassung versickerte das Denken Nietzsches bei Paul Heyse. Auch dieser Roman ging bis 1899 in die 10. Auflage. Der Weg Nietzsches ins Bewußtsein breiter Leserschichten ist hier zu suchen, nicht führte er durch die anstrengende Lektüre von Nietzsches Schriften. Überhaupt waren Schlagworte die Vehikel jener allgemeinen Rezeption, die sich öffentlich als Boheme oder Rabaukentum darstellte. Alberne Künstlerallüren und dummer Hochmut bestimmten die Szene des Literaturjahrmarktes. Michael Georg Conrad dünkt sich davon weit entfernt, er spricht verächtlich von „gigerlhaftem Zarathustra-Äff en tum", von jenem hybriden „Übermenschentum", das sich in nichts anderem darstellt, als in „Kleidung und Haltung, Mienen und Gebärden". Conrad sagt das im selben Jahr, als sein „Nietzschischki"-Roman erscheint 20. Ein Jahr später persifliert Arno Holz in seiner Komödie ,Sozialaristokraten' die geistlose Anmaßung der Zeit. Ein Dr. Gehrke, Schriftsteller, „urgermanischer Typus . . . zwischen Waldmensch und Oberlehrer", selbstbewußt, herablassend, setzt sich deutlich von „den verworrenen Jüngern eines Nietzsche" ab. „Leutchen, die ihre zufällige Individualität in Gänsefüßchen mit einer gewissen Naivität heute in den Vordergrund zu stellen belieben." Sein Ideal sei nicht „der bloße sogenannte Übermensch, sondern, wohlgemerkt, die Übermenschheit! Ein Ideal, dessen erstmalige Schöpfung mein geistiges Eigentum ist." 2 1 Die Banalisierung Nietzsches geht durch alle Zonen, von der literarischen Trivialisierung bis zur Gassen-Rüpelei, wie Leo Berg berichtet: „Nachdem Nietzsche aber sein Zauberwort ausgesprochen hatte, war in Deutschland plötzlich alles Übermensch . . . Man machte Schulden, verführte Mädchen und besoff sich, alles zum Ruhme Zarathustras." 22 20 M. G. Conrad, Der Übermensch in der Politik. Betrachtungen über die Reichszustände am Ende des Jahrhunderts, Stuttgart 1895, S. 25 f. 21 Arno Holz, Werke Bd. IV. Hrsg. W. Emrich und A. Holz, Neuwied, Berlin 1961, S. 55. — Die sozialpsychologische Seite des Phänomens läßt sich heute klarer sehen. Man war Künstler, um sich über den Ständen etablieren zu können. Man gab sich geistig-aristokratisch, weil es anders keine Chance gab, als aristokratisch zu gelten. Die gesamte Intelligenz damals steckte in dieser Situation, audi wenn sie über den hybriden Künstleraristokratismus lästerte. 22 Leo Berg, Der Übermensch in der modernen Literatur. Ein Kapitel zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1897, vgl. S. 216 ff. Ein Katalog literarischer Namen verweist auf die Rezeptionsbreite allein dieses Schlagworts.

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Später handelte man politisch kriminell im Namen Nietzsches. Der faschistische Mißbrauch Nietzsches ist in der aufgezeigten Linie zu sehen. Weder am Anfang von privategoistischer noch später von machtkollektiver Seite her wurde der Aufruf Zarathustras verstanden: der Übermensch sei der Sinn der Erde. Materialistisch und ideologisch wurde mißdeutet, was eine Metapher war für menschliche Sinnfülle, für das Bewußtsein, aus menschlicher Geistesgeschichte die konstruktive, verantwortete Summe zu ziehen. Aufzubrechen nach neuen Ufern, zu wagen den utopischen Entwurf. Pfeile der Sehnsucht, heißt es im ,Zarathustra', sollten vorauseilen dem Menschen, damit er in gerechter Weise zu eigener Machtfülle gelange. Diese aber ist jenseits aller Willkür und Ausbeutung gedacht. Es geht um Selbstverwirklichung des Menschen, um äußerste Selbstverantwortung. Die Nietzsche-Rezeption beginnt mit trivialer Verfälschung; die philosophischen Grundaspekte bleiben unerkannt. Neben der Fehldeutung des Übermenschen steht die Verkennung von Ästhetik als Genuß: „daß Nietzsche immer nur in erster Linie ästhetisch aufgefaßt, genossen — eben genossen! — werden wolle und müsse." Das ist um 1890 nicht nur die private Auffassung des neuromantischen Dichters Otto Erich Hartleben 23 , er versucht dieses Mißverständnis auch seinen literarischen Kollegen Arno Holz und Johannes Schlaf in geselliger Runde zu soufflieren. Der „Menschenclub", in dem dies vorgetragen wurde, war nach Hartleben „eine freie Gruppierung der isolierten ,Menschen' beim Biere". Auch im „Genie-Klub", federführend waren die literarischen Brüder Heinrich und Julius Hart, wurde im Namen Nietzsches palavert; Teilnehmer u. a. Gerhart Hauptmann, Arno Holz, Johannes Schlaf, Bruno Wille. Nietzsche rangierte gleichwertig neben Spiritismus und Theosophie. Der Kreis um Dehmel, bestehend aus den Brüdern Hart, Liliencron, Otto Julius Bierbaum, Holz, Schlaf, Wilhelm Bölsche u. a., drängte im Zeichen Nietzsches über den engen Rahmen des Naturalismus, des Pessimismus und thematischen Sozialismus hinaus. „Man hatte sie satt, übersatt, die graue Nüchternheit und Elendsliteratur, die engbrüstige Moral der Massenprediger, den herrschenden Rationalismus und die herrschende Politisier er ei." 2 4 Die Worte Lebensfreude, Ausleben, Sinnlichkeit, Freiheit wurden im Namen Nietzsches beschworen. Ein Leben in Schönheit, die neue Renaissance eines „kunstfreudigen Heidentums" — so wurde Nietzsche banalisiert. Ästhetik als Genuß, als geistige Delikatesse, als Beschäftigung der Unbeschäftigten hat auf lange Zeit den philosophischen Zugang zum Kern von Nietzsches Denken versperrt. Auch romanhafte Schwärmereien, wie die der Gräfin zu Reventlow, waren dem philosophi23 24

S. 92.

O. E. Hartleben, Tagebuch. Fragment eines Lebens, München 1906, S. 117 ff. H . Hart, Wir Westfalen. In: H.H., Gesammelte Werke. Bd. 3, Berlin 1907,

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sehen Verständnis des ,Zarathustra' nicht eben förderlich. D i e Szene i n ,Ellen Olestjerne' hat autobiographische Hintergründe u n d spielt i m Lübeck des Jahres 1888: Eines Abends kam Detlev mit einem Buch nach Hause. Die Eltern waren aus, und dann machten die beiden Jüngsten es sich in des Vaters Zimmer bequem. Sie holten sich ihren Tee herüber, vor dem Ofen schliefen die Hunde, Ellen lag auf dem Sofa, Detlev saß neben ihren Füßen und las vor — es war Nietzsches Zarathustra. Sie bebten beide — der Himmel tat sich über ihnen auf in lichter flauer Ferne — jedes Wort löste einen Aufschrei aus tiefster Seele, band eine dumpfe, schwere Kette los, sagte etwas, was kein Mensch sagen konnte oder je gesagt hatte, wonach man im Dunkeln herumgetappt hatte und geglaubt, es nie zu finden. Das war nicht mehr Verstehen und Begreifen — es war Offenbarung, letzte äußerste Erkenntnis, die mit Posaunen schmetterte — brausend, berauschend, überwältigend. Und alles andere, der Alltag, das Alltagsleben und -Empfinden schrumpfte in eine öde, farblose Masse zusammen, verlor sein Dasein — nur das wahre, das heilige, große Leben leuchtete und lachte und tanzte. Sie konnten sich nicht mehr zurückfinden — noch spät in der Nacht saß der Bruder an Ellens Bett und las immer weiter — wie aus einer andern Welt hörten sie Eltern und Schwester heimkommen, die Haustür zufallen und alles wieder ruhig werden. Und von nun an lasen sie jeden Abend, der Zarathustra wurde ihre Bibel, die geweihte Quelle, aus der sie immer wieder tranken und die sie wie ein Heiligtum verehrten. Auch wenn sie mit ihren Freunden zusammen waren, — da gab es Gespräche, bei denen sie alle fieberten: die alte morsche Welt mit ihrer Gesellschaft und ihrem Christentum fiel in Trümmer, und die neue Welt, das waren sie selbst mit ihrer Jugend, ihrer Kraft, mit allem, was sie schaffen und ausrichten wollten. Es war wie ein gärender Frühlingssturm in ihnen, jeder träumte von einem ungeheuren Lebenswerk, und sie alle hätten sich jeden Tag für ihr Lebensrecht und ihre Überzeugung hinschlachten lassen, wenn es nötig gewesen wäre. 25 Detlev v o n Liliencrons Begeisterung v o n 1889 2 6 , „er w a r der geistig höchst stehende Deutsche", ist freundlich gemeint, steht aber auf schwachen Füßen, denn viel v o n Nietzsche hatte Liliencron gewiß nicht gelesen. Er holt das ein Jahr später nach u n d ist „hingerissen". D i e D i k t i o n aber bleibt oberflächlich, das Erkenntnisfazit dünn — m i t forscher Pennälermentalität w i r d über Nietzsche geurteilt: „Es ist selbstverständlich, daß die guten Bier- u n d Skatdeutschen i h n nicht kennen. Z u empörend." 2 7 Über deren „Prüderie" berichtet 1890 Johannes Schlaf i n einer Skizze (ebenfalls i m 25 Franziska Gräfin zu Reventlow, Ellen Olestjerne. In: F. G. z. R., Gesammelte Werke, München 1925, S. 575 f. 2« Brief an M. G. Conrad, 15. 4. 1889. 27 Brief an Karl Henckell, 27. 5. 1890.

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1. Jg. der ,Freien Bühne'), die von Nietzsche ausgeht und eben jene Gesellschaft darstellt, gegenüber der sich Nietzsche behaupten mußte — gegen deren „Convenienzen", „Sentimentalitäten", gegen Verlogenheit, Bequemlichkeit, Konfliktfeigheit. Aus eben diesen Jahren weiß Graf Keßler plaudernd zu berichten von der messianischen Wüste in seinem Herzen, über der wie ein Meteor Nietzsche erschien28. Die Literaten dieser Zeit, ob nun adeliger oder bürgerlicher Herkunft, sind durchaus nicht frei vom Stuck und Pomp ihres Milieus. Niemand versteht so recht, daß Nietzsche gerade diese Schichten abschlagen w i l l vom Menschen, um zum Kern vorzustoßen. Man ahnt etwas von Nietzsches Anspruch, aber man scheut sich vor Konsequenzen. Der Geist der Zeit (in Stilschubladen mit den Namen Neuromantik, Impressionismus, Jugendstil untergebracht) ist widersprüchlich in sich, reagiert mit ja und nein. Wie etwa Dehmel, der in späteren Jahren den sentimentalen ,Nachruf an Nietzsche' (»gern hätt ich dir / dein letztes Wort vom Mund geküßt") neben die schnodderige Rezeptionskritik setzt: „ U will den Ubermenschen züchten. / V will's mit Unzucht, W mit Züchten." Dehmel schickte die Erstausgabe (,Erlösungen', 1891) mit den Versen „o dürft ich dir / dein letztes Wort vom Munde küssen" samt Widmung an Nietzsche — später nennt er ihn einen „Rattenfänger von Sehnsuchtshausen"29. Er berichtet 1902 rückblickend, die „Ehrfurcht vor diesem aufrichtigsten aller Selbstbekenner" habe auch ihre Kehrseite. Nietzsche -habe ihn einmal (um 1890) „acht Tage lang völlig berauscht", er sei „besinnungslos hingerissen" gewesen vom ,Zarathustra', dann aber sei eine ebenso „völlige Ernüchterung" eingetreten 30. Er habe sich „Selbstbekräftigung" aus Nietzsche geholt, schreibt Dehmel in diesem offenen Brief an den Herausgeber der ,Kultur', er schreibt es abfällig, blasiert: er seinerseits könne die Phänomene des Lebens besser einschätzen, an denen Nietzsche vorbeidachte. Er tat das dann mit Gedichten wie ,Pfingstlied', ,Weihnachtsglocken', ,Bergpsalm', ,Heilandswort', ,Himmelfahrt', ,Verkündigung', Jesus der Künstler' etc. Darin zeigt sich, daß Dehmel nicht dachte, sondern fühlte, und das nicht immer in den Grenzen des Geschmacks. Die Kritik an Nietzsche ist ohne angemessene Dimension und damit irrelevant. Ähnlich hochmütig und mit 28

Harry Graf Keßler, Erlebnis mit Nietzsche. In: Neue Rundschau 46/1, 1935, S. 392. 29 „Merkt man denn immer noch nicht im Seelenland, daß diese zarathustralische Ubermenschheitsverhimmelung auch nur wieder Erlöserei und blaue Blume gewesen ist?!" (An Christian Rang. R. Dehmel, Ausgew. Briefe 1883- 1920. Hrsg. Ida Dehmel, Bd. 2, Berlin 1923, S. 77.) 30 Was sicher nicht stimmt, denn 1892 noch veröffentlichte Dehmel den Aufsatz „Die deutsche Alltagstragödie"; darin tritt unverkennbar der starke Nietzsche-Einfluß zutage. Von der Pathetik Zarathustras bis zur Terminologie der „Schaffenden", der „Propheten der Sonne".

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einer eigenen Lehre aufwartend trat später Johannes Schlaf auf mit seinem umfangreichen Buch ,Der >Fall< Nietzsche. Eine > Überwindung Λ 8 1 Er gesteht Nietzsche, dem europäischen Dekadent, bestimmte Verdienste zu, besonders auf sprachlichem Gebiet; aber letztlich fehle es an Glaubenskraft, an poetischer Innigkeit. Der Schluß des Buches ist befrachtet mit jener steilen Weltanschauung, die damals so manchen Propheten erfüllte. Das aber war es, was Nietzsche bekämpft hatte, das Aufgeblasene des Pseudoidealismus, das kosmisch Gefühlte, die hohlen Gemüts werte, die man vielfältig drapierte, wissenschaftlich, religiös, messianisch, um ihre Leere zu überdecken. Neben der Schwärmerei steht früh auch schon die emphatische Ablehnung. Gerhart Hauptmanns rückblickendes Urteil: „Friedrich Nietzsche war nicht unser Mann" bezieht sich zum Teil auf den Freundschaftsbruch mit Wagner, zum größeren Teil aber wohl auf die unverstandene Philosophie Nietzsches. „Es fehlte uns auch damals die Zeit, subtile und komplizierte Gespinste des Gehirns, die wesentlich Selbstzweck schienen, zu verfolgen." 32 Das klingt nüchtern gegenüber dem germanisch-nationalistischen Haßausbruch Julius Harts (1899). Nietzsches „romantisch-dilettantisch-weibischen Empfindungen" stellt Hart die Kraft des „nordischen Ariers" entgegen. Nietzsche, der „Täuscher und Betrüger", hörig der romanischen Fremdrassenkultur, habe polnisches Blut in den Adern, gehöre damit einer minderwertigen Rasse an. 33 Das bedarf keiner weiteren Ausführungen. Es zeigt in erschreckender Deutlichkeit, wie fanatisch sich nationalistischer Rassenwahn schon im 19. Jahrhundert verstiegen hatte. — Aufschlußreich für die Ablehnung Nietzsches Anfang der neunziger Jahre sind auch die Berichte des Naturwissenschaftlers und Schriftstellers Wilhelm Bölsche zur aktuellen NietzscheRezeption 34 . Bölsche decouvriert professoralen wie konservativen Dilettantismus, jene Front, die damals lauthals vor der Gefahr Nietzsche warnte. Er zeigt auf, wie Unkenntnis, Indolenz und Hochmut jene Front bilden, die im äußersten Maße signifikant ist für das letzte Drittel des Jahrhunderts. Bölsche kritisierte zur Hauptsache den Aufsatz von Ludwig Stein ^Friedrich Nietzsches Weltanschauung und ihre Gefahren 1, Deutsche Rundschau, 1893); vorher schon warnte Moritz Carriere (1891) vor Nietzsches Übermensch, der eigentlich ein Untermensch sei; verwahrte sich ein Dr. Türck (1891) gegen den Bestienzüchter Nietzsche, dem das Geistesproletariat der 3

* Leipzig 1907. G. Hauptmann, Abenteuer meiner Jugend, Bd. 2, Berlin 1937, S. 438. 33 J. Hart, Der neue Gott. Ein Ausblick auf das kommende Jahrhundert, Florenz/Leipzig 1899, S. 79 ff. Freie Bühne 4, 1893; Neue Rundschau 5 (Freie Bühne 5), 1894.

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Großstädte bereits zujubele; lehnte Eduard von Hartmann (1891) als philosophische Kapazität das Denken Nietzsches brüsk ab (die umsturzlüsterne Jugend könne derartiges genuiner bei Max Stirner finden — später spricht Hartmann von Nietzsches Philosophie des moralischen Irreseins); zur selben Zeit zitiert der Historiker Meinecke Ernst Troeltsch, Nietzsche sei wie „Rattengift im Gedärm"; schreibt der sozialistische Schriftsteller Franz Mehring (1891), mit Hilfe von Lassalle, Marx und Engels sei Nietzsche jederzeit zu widerlegen. Zwar versucht der Schriftsteller Franz Servaes (1892) Nietzsche und den Sozialismus auf einen Nenner zu bringen, aber doch mehr bildreichpathetisch als faktisch. 1894 findet Nietzsche Aufnahme im Konversationslexikon Brockhaus (14. Aufl.): als Stilist ersten Ranges, als Dichter eines neuen Dithyrambus stils. I m selben Jahr erscheint die Gesamtausgabe; in über 20 Jahren waren nicht mehr als 24 000 Exemplare von Nietzsches Büchern verkauft worden (ein Erfolgsbuch brachte schon damals das Mehrfache in einem Jahr!). Aber es erscheinen in diesen Jahren wichtige Bücher über Nietzsche: Lou AndreasSalomé (1894), Rudolf Steiner (1895), Alois Riehl (1897). Gustav Mahler nennt um diese Zeit seine 3. Symphonie zunächst ,Die Fröhliche Wissenschaft', und Richard Strauß leitet die Uraufführung seiner Tondichtung ,Also sprach Zarathustra' (1897). Im selben Jahr erscheint auch das Buch von Leo Berg (,Der Ubermensch in der modernen Literatur') — darin wird der literarische Einfluß Nietzsches nachgewiesen; u.a. auf: Wilbrandt (,Osterinsel'), Heyse (,Über allen Gipfeln'), Bleibtreu (,Der Übermensch ), Conradi (»Phrasen'), Sudermann (,Heimat'), Wedekind (,Der Erdgeist'), Dehmel (,Der Mitmensch'), Holz, Hartleben, Strindberg, Langbehn, Julius Hart, Evers, Morgenstern. 1899 weist Arthur Moeller-Bruck in einer breitangelegten Studie literarische Parallelismen auf; u. a. zwischen Nietzsche und Conradi, Liliencron, Holz, Schlaf, Hauptmann, Dehmel, Halbe, Stehr, Bierbaum, George, Hofmannsthal, Wedekind, Dauthendey, Mombert 85 . Die ersten zehn Jahre der Nietzsche-Rezeption sind in der Urteilslage zwiespältig, das Mißverständnis ist groß — aber hervortretend ist insgesamt das Phänomen der Wirkungskraft, das von Nietzsches Schriften ausging. Bedenkt man, daß noch 1891 Max Dauthendey in einer deutschen Universitätsbuchhandlung mit dem Namen Nietzsches vor ungläubigen Gesichtern steht (man bestritt, daß es einen Philosophen dieses Namens gibt) — daß man aber schon am Ende des Jahrhunderts eine kleine Bibliothek 35 Einen ausgezeichneten Uberblick über den genannten Zeitraum gibt Richard Frank Krümmel, Nietzsche und der deutsche Geist. Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr des Philosophen. Berlin/New York 1974. — Insgesamt zum Uberblick der Nietzsche-Rezeption vgl. Peter Pütz, Friedrich Nietzsche, Stuttgart 21975. 8 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 17. Bd.

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mit Werken über Nietzsche zusammenstellen konnte, dann läßt sich das Dynamische der Rezeptionsgeschichte ermessen. „Die letzten Jahre der Entwicklung gehören fast ausschließlich ihm." Das schreibt 1895 Caesar Flaischlen 36 — allerdings mit dem Hinweis, daß dieser Einfluß mehr ein innerlich wirkender war und nicht sosehr äußerlich laut hervortrat. Was Leo Berg 1889 prognostizierte, daß nämlich die Zeit Nietzsches noch nicht gekommen sei, war eine Hellsichtigkeit, die manchen Geist erleuchtete; Flaischlen geht sogar soweit — und trifft damit die Realität —, daß es noch Jahrzehnte dauern werde, bis die Höhen und Tiefen dieses außerordentlichen Denkens begriffen seien. Wer einen ersten tiefen Blick in Nietzsches Leben und Denken warf, war Lou Andreas-Salome; 1891 hob sie in ihrer vortrefflichen psychologischen Studie 37 schon hervor: „den Werth des Leidens für die Erkenntniß", die Bedingungslosigkeit und organische Totalität des Denkansatzes bei Nietzsche. Wer symptomatisch in diesem Rezeptionsfeld einen Entwicklungsprozeß repräsentiert, ist Paul Ernst, der zunächst Nietzsche kritisierte 38 , zehn Jahre später aber hervorhebt, daß Nietzsche überhaupt es gewagt habe, „wieder ein höheres Ziel zu zeigen, das genügt, um ihn für immer unter die größten Wohltäter der Menschheit zu reihen." 39 Samuel Lublinski, dem Kreis um Paul Ernst zugehörend, nennt Nietzsche den „Freund und Führer unserer entscheidenden Jugendjahre" 40 . Rückblickend auf die Zeit Anfang der 90er Jahre stellt Max Halbe fest: „Das große Säkularereignis jener Epoche war Nietzsche" 41 ; und der Nietzsche-Schwärmer Michael Georg Conrad stellt 1899 vergleichsweise sachlich fest, Nietzsche sei „in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts der genialste und stärkste Gährungserreger, der kühnste Frager und Muthmacher im Moralischen, Intellektuellen und Künstlerischen". — „Der Zauber seiner genialen Persönlichkeit ist durch nichts zu brechen." 42 Graf Keßler, Mäzen und literarisch ambitionierter Diplomat, der zu jener Generation zählte, die als erste sich von Nietzsche „tief beeinflußt" fühlte, faßte die Wirkung später mit erstaunlicher Ausschließlichkeit zusammen: „Die Art,wie Nietzsche uns beeinflußte, oder richtiger gesagt, in Besitz nahm, ließ sich mit der Wirkung keines anderen zeitgenössischen Denkers 3

« C. F., Zur modernen Dichtung. Ein Rückblick. In: Pan 1, 1895, S. 240 f. L. A.-S., Zum Bilde Friedrich Nietzsches. Eine psychologische Studie. In: Freie Bühne 2, 1891, S. 64 ff. 38 P. E., Friedrich Nietzsche. Seine Philosophie. In: Freie Bühne 1,1890 S. 516 ff. 39 P. E., Friedrich Nietzsche, Berlin 1900, S. 37. 40 S. L., Zehn Jahre nach Nietzsche. In: S. L., Nachgelassene Schriften, München 1914, S. 354. 41 M. H., Scholle und Schicksal. Die Geschichte meiner Jugend, Salzburg 1940, S. 369. 42 M. G. C., Der Kampf um Nietzsche. In: Die Wage 2, 1899, S. 812. 37

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oder Dichters vergleichen." 43 Am Ende des expressionistischen Jahrzehnts schreibt der exaltierte Nietzsche-Verehrer Rudolf Pannwitz: „Der name nietzsche ist der höchste begriff des deutschen namens das heiligtum des deutschen geistes.. . " 4 4 Nietzsches Einfluß hatte inzwischen die zweite Generation geprägt. Das starke Echo kennzeichnet bis 1950 die literarische Situation. Zu diesem Zeitpunkt resümiert Gottfried Benn noch einmal apodiktisch: „alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinanderdachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breittrat" — alles das habe bereits bei Nietzsche eine definitive Formulierung gefunden; Nietzsche sei, wie sich immer deutlicher zeige, „der weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche" 45 . Thomas Mann — noch der älteren Generation zugehörend — apostrophierte Nietzsche im Jahre 1941 als „den Urheber wohl der faszinierendsten und farbenvollsten philosophischen oder lyrisch-kritischen Produktion unseres Zeitalters" 46 . Am Ende seiner lebenslangen Nietzsche-Auseinandersetzung erweitert er den Bedeutungsrahmen: „wahrlich, nach einer Gestalt, faszinierender als die des Einsiedlers von Sils Maria, sieht man sich in aller Weltliteratur und Geistesgeschichte vergebens um" (1947) 47 . Hofmannsthal,

George,

Rilke

Die Wiener Neuromantiker können begreiflicherweise zunächst nicht allzuviel mit den strengen Forderungen Nietzsches anfangen. Die Stimmung latenter Trauer, die matte Todessehnsucht (Schnitzler: ,Sterben', 1892), das Gefühl des Epigonalen war unvereinbar mit Nietzsches kämpferischer Attitüde. Hofmannsthals Prolog zum ,Anatol c gibt den Empfindungszustand wieder: „Also spielen wir Theater, /Spielen unsre eignen Stücke,/Frühgereift und zart und traurig, / Die Komödie unsrer Seele". Nietzsches Leben und seine Lehre („werdet hart!") sind unvereinbar mit diesem Erlebnisrahmen. Zwar erfreut sich Hofmannsthal an der „kalten Klarheit" von Nietzsches Gedanken, weil bei solcher Lektüre seine eigenen Gedanken Kontur gewinnen (1891) 48 , aber der Erlebnisrahmen ist doch sehr divergent: „Gut, also da les' ich gestern ,Menschliches, Allzumenschliches' und esse Kirschenkuchen dazu." Und es ist Hofmannsthal „sehr leid", daß er „lauter neue Krawatten" mithat, die in diesem Hotel niemand „versteht" 49 . Der verwöhnte Loris ist eben erst 17 Jahre alt; ein Jahr später schreibt er: „wir -ω H . G. Κ., Erlebnis mit Nietzsche. In: Neue Rundschau 46, 1, 1935, S. 403. 44 R. P., Einführung in Nietzsche, München 1920 (Flugblätter Nr. 8), S. 1. 45 G. B., Nietzsche nach fünfzig Jahren, a.a.O., S. 482. Th. M., Ansprache zu Heinrich Manns siebzigstem Geburtstag. In: Thomas Mann — Heinrich Mann Briefwechsel. Frankfurt 1969, S. 208 f. 47 Th. M., Nietzsche's Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, a.a.O., S. 675. 48 An A. Sdinitzler, 13. Juli 1891. 49 Brief an Richard Beer-Hofmann, 9.7.1891 (Briefe I, Leipzig 1935, S. 20 f.).

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reden gern von hübschen Einrichtungsgegenständen, wir sind alle ehrgeizig, ein bißchen verdorben durch Sensitivität, aber doch . . . wir erleben bei 3 Seiten Nietzsche viel mehr als bei allen Abenteuern unseres Lebens, Episoden und Agonien, wir haben Hunde gern.. . " 5 0 — die charmante Selbstironie läßt nur als Andeutung das Betroffensein hervortreten. Selbst 1900 schreibt Hofmannsthal noch in dieser scheinbar unverbindlichen Form vom Genfersee an seinen Freund Poldy (Freiherrn von Andrian zu Werburg): „D'Annunzio hat mir eine recht schöne Ode auf den Tod Nietzsches geschickt", man könne sie, wenn gewünscht, auch zusammen lesen51. Schnitzler antwortet am 27. Juli 1891 seinem Freunde Loris, er lese so mancherlei, zuletzt habe ihn der Schluß von Jenseits von Gut und Böse' ergriffen: „Erinnern Sie sich? Nietzsche Sentimentalität! — Weinender Marmor! Stellen, die sogar auf Weiber wirken, ohne daß man den Stellen oder den Weibern bös werden müßte." Viel mehr ging zwischen den beiden Freunden zu diesem Thema nicht hin und her. Und man muß auch hier den Rahmen beachten, in den es gestellt ist. „Erleben Sie was?", fragt Schnitzler im darauffolgenden Satz. „Spielen Sie aber lieber lawn-tennis, statt sich zu verlieben." Die tändelnde Lebensart! Daß sie so leicht nicht war, sagen die Werke beider Dichter in dieser Zeit. Eine konstitutionelle Schwermut gibt dieser Lebensart ihr Gewicht. Aber zu· Nietzsches preußisch-protestantischer Strenge ist der Abstand doch zu weit. So spielt Nietzsche in Schnitzlers Denken auch keine nennenswerte Rolle 52 , und bei Hofmannsthal suchen die Literaturwissenschaftler seit einiger Zeit nach Nietzsche-Einflüssen, die mehr ahnbar als greifbar sind 53 . so Brief an Felix Saiten, 27. 7. 1892 (Briefe I, S. 57). si 5. 10. 1900 (Briefe I, S. 319). 52 „no specific references to Nietzsche, no clearly defined Nietzschean ideas were discernible", so Herbert W. Reichert, Nietzsche and Schnitzler. In: Studies in A. Schnitzler, Chapel Hill 1963, S. 99. Reicherts unbewiesene Behauptung vom Nietzsche-Einfluß auf Schnitzler weist Gerd-Klaus Schneider zurück: Arthur Schnitzler und die Psychologie seiner Zeit, Univ. of Washington 1969. 53 Paul Re quad t hatte 1955 (DVjs 29) in seinem informativen Aufsatz ,Sprachverleugnung und Mantel Symbolik im Werk Hofmannsthals c einen starken NietzscheEinfluß auf Hofmannsthal herausgestellt. Vor allem wird Hofmannsthals Sprachkrise und Sprachkritik und damit das Bildungsproblem im Zusammenhang mit Nietzsche gesehen (Wiederabdruck in: ,Hugo von Hofmannsthal', hrsg. S. Bauer, Darmstadt 1968, vgl. S. 40 - 54). Vorsichtiger argumentieren Gotthart Wunberg (Der frühe Hofmannsthal, Stuttgart/Mainz 1965, vgl. S. 23 ff.) und Rudolf Tarot (Hugo von Hofmannsthal. Daseinsformen und dichterische Struktur, Tübingen 1970, vgl. S. 69 f.). Wunberg verweist auf den Gesamteinfluß Nietzsches zu seiner Zeit — dem sich auch Hofmannsthal nicht entzogen hat. Tarot hebt die größere Nähe des Hofmannsthalschen Lebensbegriffs zu Dilthey hervor. In wesentlichen Zügen seiner Anthropologie stehe Hofmannsthal wie Dilthey „in scharfem Gegensatz zu Nietzsche". Vgl. auch H . Jürgen Meyer-Wendt: Der frühe Hofmannsthal und die Gedankenwelt Nietzsches, Heidelberg 1973.

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Hofmannsthals Verhältnis zu Nietzsche zeigt sich wie ein schönes Geheimnis, von dem die Wissenden bedeutsam sprechen, aber niemand hat den Schlüssel dazu in der Hand. Die tändelnden Formulierungen der Briefe sind offenbar Maske, also jene Haltung des Verschweigens, der Distanz, die Hofmannsthal an Nietzsche schätzt: „Es ist die Maske, die Nietzsche rät." Als sicher darf gelten, daß Hofmannsthal das Gesamtwerk Nietzsches kannte, einige Bücher hat er mehrfach gelesen. Das geht aus den Anmerkungen seiner Nietzsche-Ausgabe hervor. 1891 wollte er Jenseits von Gut und Böse' ins Französische übersetzen, im selben Jahr liest er ,Menschliches Allzumenschliches', Notizen finden sich zum Band ,Die fröhliche Wissenschaft', angeschafft wird die zweite Auflage ,Zur Genealogie der Moral', Hofmannsthal notiert hier u. a.: „ein reiner Begriff vom schaffenden Künstler und seinem Verhältnis zum Leben" — das ist zentral Nietzsches Denkansatz. Die Wertfrage hat hier ihren Angelpunkt, Hofmannsthal sieht das, auch im Zarathustra', später in den Nachlaßfragmenten. Nietzsches geistiger Griff nach der irrationalen Tatsache des Lebens muß Hofmannsthal bewegt haben. Direkte Äußerungen finden sich nicht zu diesem Problem, Nietzsdie kommt im Werk Hofmannsthals in einer auffallenden Weise nicht vor. Zu vielen geistigen Figuren seiner Zeit hat Hofmannsthal Aufsätze geschrieben, über Nietzsche gibt es keinen in sich geschlossenen Passus der Betraditung oder Reflexion. Liegt das daran, wie er 1903 an Raoul Richter schreibt, als dieser ihm sein Nietzsche-Buch zuschickte, daß all die aufregenden Eindrücke seiner Nietzsche-Lektüre keine „rechte Kontinuität" gefunden hätten? War er zu redlich, hatte er den Widerspruch von Nietzsches Denken vielleicht so tief begriffen, daß er ihn mit schönen Worten nicht glätten wollte? Er hätte sich äußern können, etwa zu dem Kardinalproblem des unverstellten Ergreifens von Leben. Hofmannsthal kannte die Gefahr der historischen Überformung: das Gelesene mehr zu erleben als das Leben selbst. Gerade an diesem Punkte hatte ja Nietzsche mit seinen frühen Schriften angesetzt (,Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben'): die radikale Ablehnung des Historismus; dagegen sollte dem eigenen Erleben, der Selbsterfahrung, ihrer Steigerungsmöglichkeit der oberste Wert beigemessen werden. Insgesamt sind die ,Unzeitgemäßen Betrachtungen* mit Ideenmaterial gefüllt, das sich modifiziert bei Hofmannsthal wiederfindet. Aber Hofmannsthal, der das Spätgeborensein, das Epigonenhafte als Gefühl in dubioser Weise als belastend und bereichernd zugleich empfand („Ganz vergessener Völker Müdigkeiten / kann ich nicht abtun von meinen Lidern" — das heißt doch auch: will ich nicht abtun!), der das Erbe einer langen Kul-

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turreihe gar nicht verleugnen wollte („Den Erben laß verschwenden" — der Titel des Gedichts: ,Lebenslied'!), der das alles audi als Inhalt seines Lebens ansieht: „Verhüllt ein Hauch verklärter Möglichkeiten" (Titel des Gedichts ,Leben'!) — dieser Hofmannsthal mag sich gescheut haben, Nietzsches radikale Postulate nach seinem Geschmack umzudeuten. Wo Nietzsche aktiv, ja aggressiv in Richtung unbedingter Lebenssteigerung dachte, da verhielt sich Hofmannsthal defensiv, geradezu passiv. Nietzsches Ansatz war ideell, metaphysisch, gegen die Entwicklung der Geschichte der Metaphysik gerichtet — Hofmannsthal hatte Lebenspraxis im Sinn, sah poetisch das Gegenständliche, Naheliegende, Konkrete als Lebensprozeß. Ein Satz aus dem Vortrag ,Poesie und Leben' (1896) kann das verdeutlichen: „Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie."54 Das war Hofmannsthals Problem. Nietzsche hätte das in dieser Form nicht gesagt. Hofmannsthal sieht „Leben" hier als alltägliche Praxis, Poesie als die empfindsame Reflexion von Lebensgefühl. Leben einmal als Handeln, zum anderen als Innewerden, Begreifen der geistigen Vorgänge darin. Nietzsches Denken war als Metakritik der Metaphysik aus diesem Praxisrahmen herausgenommen. Als Philosoph steht Nietzsche in einem ganz anderen Bezugsrahmen als Hofmannsthal. Vielleicht hat dieser das gewußt — und respektiert, er äußert sich nicht dazu. Nietzsches philosophischer Grundbegriff des Willens jedenfalls steht in direktem Widerspruch zu Hofmannsthals poetischer Intention. Der dynamische Umwertungsfaktor des Setzens, Befehlens neuer Möglichkeiten ist nicht einzubringen in die sanfte Gebärde des Wahrnehmens, der gegenstandsbezogenen Toleranz. Der Unterschied liegt im Verhalten zur Welt. Die Funktion des Künstlers ist bei Hofmannsthal nur gewährleistet in der Zurücknahme: „daß alle Dinge, die durch ihre (der Künstler) Seele hindurch gehen, einen Sinn und eine Seele empfangen", alles, was die Künstler in diesem dämmernden, sinnlosen Leben berühren, „leuchtet und lebt"; das Heimliche, das Unbewußte fassen sie in Worte und heben es in den Zustand der Erkenntnis (,Eleonora Duse', 1892) 55 . Das ist frühromantisch gedacht, im Sinne jenes transzendentalen Idealismus eines Novalis. Oder empfunden nach A r t der Eichendorffschen Wünschelrute, daß ein Lied in allen Dingen schläft und daß die Welt zu singen beginnt, trifft der Dichter nur das Zauberwort. Gegenüber dieser versöhnlichen Anerkennung einer platonisch-ideellen Substanz wirkt Nietzsches spöttisches Wort von den „Hinterweltlern" kalt und ablehnend. Es gibt keine Welten hinter der Welt. Dieses Thema ist hiermit aber nur angedeutet56. 54 H . v. H., Prosa I, Frankfurt a. M. 1956, S. 263. ss a.a.O., S. 75 f. 56 Vgl. ,Also sprach Zarathustra' 1,3: ,Von den Hinterweltlern'.

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Sowenig sich Hofmannsthal audi explizit zu Nietzsche äußert, so ist er doch diejenige hervortretende Gestalt aus der jüngeren Generation, die sich am kongenialsten, vielleicht in der offensten Weise, vor der Jahrhundertwende mit Nietzsche auseinandergesetzt hat. Daneben wäre noch, so merkwürdig das klingt, Christian Morgenstern zu nennen. Sein Blick reicht tief in die Wesensstruktur von Nietzsches „Seele", ahnungsvoll und schwärmerisch: „Der schönste Mensch, den die Erde je trug, einen noch schöneren Menschen lehren wollend!" 5 7 Morgenstern hat Nietzsche als „Befreier", als „Auferwecker" erlebt. Folgen im späteren Werk oder eine Parallelität der Thematik bleiben dann allerdings aus. Ganz anders begegnet George Nietzsche, streng wie dieser selbst, herrisch, befehlend mit dem Gestus des Gesetzgebers. Spätestens seit dem ,Siebenten Ring* gibt sich George in dieser Rolle. Aus wissendem Munde vernehmen wir, er habe sich „zum willentlichen Gründer eines künstlerischen Staates" erklärt (Cysarz). George sieht sich als Prophet, als vates, sein Sprechen hat das Pathos äußerster Verantwortung. Sein Form-Imperativ durchdringt alle Bereiche des Lebens und der Kunst. 1900 schreibt George ein Gedicht mit der Überschrift ,Nietzsche'; er fügt es später den Gedichten über Dante und Goethe an (,Der siebente Ring') (nachfolgend kommt ,Boecklin'!) — die Indizien ließen sich noch mehr verdichten: George als der adäquate Nietzsche-Nachfolger. Georges Jünger haben diese Behauptung aufgestellt, George sei die Einlösung von Nietzsches Visionen. Nietzsche stelle „ein neues Ziel in die höchste Höhe", aber er selbst habe es nicht erreicht, George dagegen stelle „ein gesteigertes Leben dar, das er selbst schon verwirklicht" — so Gundolf. Oder ein anderer aus dem Kreis: „Erst George ist, was zu sein Nietzsche krampfhaft begehrt." 58 Wie Wolters berichtet, tritt erst an Georges „Lebenswende", um 1900, diese Tatsache ins Bewußtsein. Der George-Mythos wuchs steil empor, und Nietzsche hatte eine dienende Funktion in diesem kultischen Zeremoniell. Wir stehen heute solchen Vorstellungen skeptisch gegenüber. W i r sehen Nietzsches Forderungen in anderen Dimensionen. Das wertschaffende Prinzip der Kunst ist zu allgemein und zu weit gedacht, als daß es personalisierbar wäre. Die schöpferischen Kräfte des Menschen sind insgesamt angesprochen von Nietzsche, wenn er die Kunst als das entscheidende Stimulans des Lebens herausstellt. Kunst als Phänomen zeigt nur im Abglanz den schöpferischen Urimpuls, ohne den Leben nicht wäre. Kunst als Gegenmittel zur Verneinung des Lebens ist selbst Verneinung lebensfeindlicher Verhal57 Ch. Morgenstern, Nietzsche, der Erzieher. In: Neue Rundschau 7, 1896, S. 709. 58 Vgl. Erich Berger, Textparallelen zur Frage George und Nietzsche. In: Monatshefte 46, 1954.

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tensformen. Kunst als Geronnenes im Habitus eines Künstlers (oder einer Gruppe) widerspricht dem Prinzip des Schöpferischen als dem stets Aufbrechenden, Eröffnenden auf Lebensmöglichkeit hin. „Die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit" — dieses Artisten-Evangelium Nietzsches ist perspektivisch-dynamisch gedacht, nicht statisch-hieratisch im Sinne Georges. Kunst sei mehr wert als Wahrheit im Sinne gesetzter Norm, sagt Nietzsche. Er meint Metaphysik, Moral, Religion, Wissenschaft. Er setzt über sie das schöpferische Prinzip, Natur — so wird der Künstler zum „Genie der Lüge". Natur als das im Schein sich Erlösende ist der oberste Wert; die gehämmerten Tafeln des Normativen sind die Basis, von der Kunst sich abhebt. Steigerung je weils in die eigene Möglichkeit hinein — dies als ständiges Prinzip des Werdens und Wechseins der Perspektiven: das ist die Kunst. „Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens." Nur als ästhetisches Phänomen sei das Dasein der Welt gerechtfertigt, sagt Nietzsche — Kunst tritt in diesem Postulat unter den Horizont des Naturgesetzes: „die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen". Diese Artisten-Metaphysik ist schon voll ausgeprägt in der ,Geburt der Tragödie', sie tritt — nach einem skeptischen Intermezzo in Sachen Kunst — wieder in ihr volles Recht seit der Mitte der achtziger Jahre. Die Nachlaßfragmente schließen den Bogen, der sich am Anfang so außerordentlich gespannt öffnet. Nietzsches Kunstlehre ist in ihrer ganzen Tragweite erst spät ins Bewußtsein gedrungen. Die erste von Nietzsche beeinflußte Literatengeneration hat sie nicht begriffen, auch nicht George. Zu gegensätzlich war das Wesen der beiden Geister. Nietzsches bis zur Selbstvernichtung gehender Frage steht die byzantinische Aussage gegenüber. Man nehme die Setzungen im ,Stern des Bundes', die apodiktischen Selbstsetzungen — dagegen in den ,Dionysos-Dithyramben' das Verbanntsein von aller Wahrheit: „ N u r Narr! Nur Dichter!" Nietzsche ist nicht der Künder, der Seher, er propagiert nicht Selbstbewußtsein als in feste Form eingegossenen Geist. George dagegen diktiert, auch sich selbst: „Schon ward ich was ich will." Nietzsche 1888, zurückblickend auf die Erfahrung des Identitätsbruches, der nie mehr heilen sollte: "— gedenkst du noch, gedenkst du, heißes Herz, wie du da durstetest? —" (,Dionysos-Dithyramben'). Der Denker Nietzsche klagt: „daß ich verbannt sei/von aller Wahrheit!" Wahrheit gedacht als Deckungsgleichheit von Idee und Erlebnisform, von Subjekt und Objekt, von Ich und Welt. Das moderne Bewußtsein hat diesen Wahrheitsanspruch — seit Beginn der Neuzeit — nicht mehr einlösen können. Das ist das Leiden, von dem Nietzsche schon in der ,Geburt der Tragödie' spricht. Das

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Wissen, das sich verdichtet in dem Gedicht Vereinsamt*. Der Klageruf, daß keine Heimat mehr ist, d. h. keine Einheit, wie sie mythisches Bewußtsein einst erlebte. George hat das gesehen, im ,Stern des Bundes* beginnt das NietzscheGedicht (ohne Überschrift und Hinweis): „Einer stand auf der scharf wie blitz und stahl/Die klüfte aufriss . . . " Der den Wahnsinn der Entfremdungssituation den Menschen zuschrie: „ M i t solcher wucht dass ihm die kehle barst." Das trifft ins Zentrum der Erlebnissituation; die metaphysische Frage war zu bedingungslos gestellt. Das Zerbrechen war die Konsequenz der Kompromißlosigkeit. Im Nietzsche-Gedicht aus dem ,Siebenten Ring* wird auf Christus verwiesen. „Wie andre führer mit der blutigen krone" — so wird Nietzsche „strahlend vor den Zeiten" stehen. Als „Erlöser"! Höher läßt sich ein Mensch nicht einstufen, weder metaphysisch-substantiell, noch historisch. Um so mehr, als die Erlöserrolle erkauft ist durch Leiden und Verzicht auf alles, was mit dem Dasein versöhnen, was einen Menschen befrieden kann. Die Eis- und Hochgebirgsmetapher in Georges Gedicht zielt ab auf die Bilder des Verlassenseins, die Nietzsches Lyrik im Kern ausmachen. „Versteck, du Narr,/Dein blutend Herz in Eis und Hohn". (»Vereinsamt'). Das Bild der Wüste und des Versteigens in hoher, toter Gebirgslandschaft signalisiert in Nietzsches Dichtungen immer erneut die Ausweglosigkeit, die menschenleeren Räume, das Winterliche. Diese Gedichte sind über den Rand ästhetischer Einfriedung hinausgetreten, sie durchbrechen mittels eingelagerter Sprengkraft den schönen Schein, der Existenz mit Worten bannen kann. Erlösung im Schillerschen Sinne der Ästhetik wurde Nietzsche nicht zuteil; die Konsequenz seiner eigenen Ästhetik blieb ihm versagt. George spricht das aus: „Hast du der sehnsucht land nie lächeln sehn?" In der Tat, Nietzsche erschuf die Götter, um sie selbst zu stürzen. Bis zum vollständigen „schmerz der einsamkeit". 1886 schreibt Nietzsche an Overbeck: „Wenn ich Dir einen Begriff meines Gefühls von Einsamkeit geben könnte! Unter den Lebenden so wenig als unter den Toten habe ich jemanden, mit dem ich mich verwandt fühlte. Dies ist unbeschreiblich schauerlich..." George mag es gelungen sein: „Sich bannen in den kreis den liebe schliesst..." Das heißt doch wohl, sich bergen im Kreis von Menschen, die in poetischer Kommunikation verbunden sind. Ob Nietzsche das gelungen wäre, wenn er poetisch das gesagt hätte, was er denkend sagen mußte — die Frage muß offen bleiben. „Sie hätte singen sollen, diese ,neue Seele' und nicht reden!" So steht es im späten Vorwort zur ,Geburt der Tragödie'. George nimmt diese Aussage als Klage: sie hätte es tun sollen, diese neue Seele, Gesang hätte sie möglicherweise befreit. Identifikation bis zur Sympathie ist selbst bei vorsichtiger Deutung dieser Aufforderung Georges zu

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entnehmen. Einen Vorwurf darin zu sehen, wie es manche Interpreten tun, gelingt mir nicht. Georges kritische Bemerkungen über Nietzsche, wie er sie etwa Edith Landmann gegenüber äußerte, dürfen die Deutung des Nietzsche-Gedichtes nicht überlagern. Die Sicht Georges im Gedicht trifft die tiefe Existenznot, in die Nietzsche geraten war, als er den Weg der unbedingten Umwertung betrat. Der Wanderer zwischen zwei Welten war nirgends mehr zu Hause, hatte sich von allen Ufern gelöst und das neue nodi nicht erreicht — die horizontlose Situation. Die Erkenntnis vom Tod Gottes war poetisch nicht aufzufangen. Sie muß te denkend geleistet werden. Sie steht heute noch in Frage; die Diskussion um die zwei Seiten aus der f r ö h lichen Wissenschaft' (Nr. 125), überschrieben „Der tolle Mensch", ist nicht als abgeschlossen anzusehen59. Die metaphysische Frage ist, so gesehen, eine weltgeschichtliche. Die Horizontsuche, letztlich die Horizontsetzung in mythenloser Zeit — das ist der Ansatzpunkt von Nietzsches Wertfrage. Individualpoetisch ist dieser aufgerissene Fragenkreis nicht zu schließen. Hier liegt die problematische Seite der Auseinandersetzung Georges mit Nietzsche. Der durch menschliche Geschichte weggewischte Wert-Horizont ist nicht durch eine menschliche Einzeltat neu zu setzen. George sah das Problem nicht geschichtsphilosophisch. Der neue Gott, den er verkündete, reicht an Nietzsches Dimension nicht im entferntesten heran; auch dann nicht wenn man Maximin als privaten Lapsus ausklammert. Max Kommerell hat auf das Unvergleichbare von Nietzsche und George in diesem Punkte deutlidi hingewiesen. Er hebt Georges religiösen Optimismus, die Stilisierung der eigenen Person zur religiösen persona kritisch hervor 60 . Andererseits hängt diese Stilisierung aber auch mit einem Faktor zusammen, der George mit Nietzsche verbindet: das Prinzip der Selbstwerdung, die Übernahme der Herrschaft über sich selbst, das Verfügen über sich selbst. George hat den Ruf Zarathustras fanatisch ernst genommen: „werde, der du bist". Das Ergreifen der Existenz in äußerster Strenge läuft allerdings dort Zarathustra zuwider, wo das Verfügen ausgreift auf andere Menschen, wo diese unter das Georgische Joch gezwungen werden, wo ihnen eigene Selbstwerdung verweigert wird. Zarathustra wollte keine Jünger. Immer erneut haben die Interpreten das Gemeinsame von Nietzsche und George herausgestellt. Nach der kultischen Stilisierung des George-Kreises folgt der Hinweis auf die Parallelität der Sprachgestaltung, Sprachbewußtheit, Spracherneuerung 01. I m Thematischen, Sprachlichen wie im Struktu59 Vgl. Martin Heidegger, Nietzsches Wort ,Gott ist tot'. In: M. H., Holzwege, Frankfurt 1957. 60 M. Kommerell, Essays, Notizen, poetische Fragmente, Olten/Freiburg 1969. 61 Rudolf Kayser, Friedrich Nietzsche und Stefan George. In: Monatshefte 29, 1937.

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rellen sieht Peter Pütz Gemeinsamkeiten62. Claude David allerdings stellt deutlich den Gegensatz heraus 63. George setze zwar Nietzsche fort, aber indem er ihn sich dienstbar mache, entstelle er ihn. Georges konservativer Sinn widersetze sich Nietzsches Denkansatz der Umkehrung aller Werte. Für Nietzsches Person sei George offen gewesen, seinen Dankansatz aber habe er negiert. Insgesamt ist die Forschungslage dadurch bestimmt, daß man Rezeptionsfakten sucht, aber in nennenswertem Maße nicht findet. Fest steht: George hat sich intensiv mit Nietzsche auseinandergesetzt, allerdings mit den Äußerungsformen seiner Person, weniger mit der Philosophie. Diese habe nie im „aufbauenden Sinne" auf ihn gewirkt, berichtet Edith Landmann in ihren Gesprächsnotizen 64. Hier liegt der Gegensatz, der nicht zu· überbrücken ist. Nietzsche ist nur in seiner Philosophie ganz zu verstehen. Vergleicht man die Sprachebenen, so sieht man das Offene bei Nietzsche, das Geschlossene bei George. Offen heißt: existenziell aufgerissen, sich preisgebend — geschlossen: abgedichtet, sich distanzierend, preziös bis prätentiös (,Algabal c !). Nietzsches Thematik des Kampfes und der Umwertung in der Philosophie, die Einsamkeitsklage, die aufgerissene Sehnsucht, das Verwundete in der Lyrik stehen konträr zum stilisierenden Prinzip Georges, zum Pochenden, Fordernden, sich Abhebenden in zeitlos gültige Zonen symbolistischer Schönheit65. Noch unbestimmbarer als bei Hofmannsthal — und ganz sicher schwerer greifbar als bei George — ist das Verhältnis Rilkes zu Nietzsche. Kaum etwas Konkretes ist auszumachen. Lokalisierbar sind Marginalien, nicht mehr — sich auf die Verbindungslinie Lou Salomé zu berufen, ist gewagt. Rilke hat sich nachweislich in den neunziger Jahren mit Nietzsche beschäftigt, aber im Frühwerk gerade ist Nietzsches Denken kaum aufspürbar. Es fehlt die Radikalität von Nietzsches Wert-Philosophie. Rilkes religiöser Ansatz ist unvereinbar mit Nietzsches Absage an den substanzlosen Gottesbegriff seiner Zeit. Erst im Spätwerk, in den ,Duineser Elegien', in den ,Sonetten an Orpheus* zeigt sich die Profilierung einer Denklinie, die Nietzsche vorgezogen hatte. Nimmt man hier die Suche auf, verdichtet sich die Fährte, drängt sich immer dringlicher eine Antwort auf 66 . β2 P. Pütz, Nietzsche und George. In: Stefan George-Colloquium, hrsg. E. Heftrich u.a., Köln 1971. 63 Claude David, Stefan George. Sein dichterisches Werk, München 1967. E. Landmanriy Gespräche mit Stefan George, München7Düsseldorf 1963. 65 „Der sterile Idealismus (George)" — wie Robert Musil einmal notiert. (Tagebücher 18. X I . 1928.) 66 Das markiert die Forschungssituation, seit Fritz Dehn 1936 seinen bemerkenswerten Aufsatz schrieb (,Rilke und Nietzsche'). Hellers Essay Anfang der 50er Jahre und eine von ihm beeinflußte Dissertation Ende des Jahrzehnts stellten den Sachverhalt klar: in den ,Elegien' und ,Sonetten' ist Nietzsches Denken deutlich anwesend. Ob dabei von Einfluß zu sprechen ist, lassen beide Arbeiten allerdings

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Nietzsches Thema der immanenten Metaphysik zeigt sich bis ins Wörtliche hinein, mehr aber noch von der Substanz her, in Rilkes Spätwerk. Die Bejahung des irdischen Erfahrungshorizontes in seiner vollen Tragweite wurde zunehmend Rilkes Generalthema. Der Raum solcher Erfahrung ist von der geistigen Struktur her homolog bei Nietzsche und bei Rilke, beide bewegen sich in vergleichbarer Dimension. Solcher Vergleich springt aber aus dem Rahmen purer Einflußphilologie heraus, wird zu transzendentaler Progression. Hier geht es nicht um thematische Komparabilität, sondern um Steigerung von Erkenntnismöglichkeit. Das ist Einsicht in den metaphysischen Charakter von Affirmation. Das Rühmen, das Preisen, das Ja·· sagen über die Abgründe hinweg ist der Weg Rilkes von der auf Faktizität ausgerichteten, konstatierenden Perspektive im ,Malte Laurids Brigge' (1910) hin zu den ,Sonetten' und ,Elegien' (1923). Das Elend der menschlichen Welt w i r d im ,Mal te' seismographisch, mit der von Rodin gelernten Präzision registriert. Als pure Darstellung wird es zur Klage. Das ist der Ausgangspunkt eines Weltbezugs, der um 1910 aus der Masse kulturpessimistischer Erlebnisformen hervorragt durch Objektivität. Uberwindung, genauer Überhöhung der Klage wird Rilke zur inneren Zielsetzung. I m V I I I . der ,Sonette' (1. Teil) heißt es dann: „ N u r im Raum der Rühmung darf die Klage / gehn." Schon in der ,Geburt der Tragödie' hatte Nietzsche solches Rühmen und Preisen Apollon zugeschrieben, dem Gott der Kunst, des Gesangs; der verwandte Orpheus ist nicht fern: „Gesang ist Dasein" ( I I I ) — „Rühmen, das ists!" ( V I I ) — „das unendliche Lob" ( I X ) — „Die Erde schenkt" ( X I I ) — es geht um den Raum der „Erfahrung" des Irdischen ( X I I I - XV).

nicht genügend als Frage offen. Das Suggerieren von Parallelismen bringt die Gefahr mit sich, daß Problemkreise zu früh geschlossen werden. Der Denkhorizont verhärtet sich formelhaft: „Rilke ist der heilige Franziskus des Willens zur Macht." — „Der Übermensch ist für Nietzsche, was der Engel für Rilke ist." (Heller,,Rilke und Nietzsche4. In: E. H., Enterbter Geist, Frankfurt 1954, S. 187, 226). — Aufsdilußreich ist Hellers Hinweis auf Rilkes ,Florenzer Tagebuch' (1898), geschrieben im Zusammenhang der Begegnung mit Lou Andreas-Salome, die in den 90er Jahren über Nietzsche publizierte, u.a. ihr Nietzsche-Buch 1894. Heller meint nun, das ,Florenzer Tagebuch' sei „ganz und gar für Lous Augen produziert" (S. 183): In der Tat wird die Freundin angesprochen mit Gedanken über Kunst, Künstler, Schaffen — der Künstler schafft erst Zukunft, er steigert Kultur; es zählt nur der Prozeß des Schaffens usw. (R. M. Rilke, Tagebücher aus der Frühzeit, hrsg. R. Sieber-Rilke u. Carl Sieber, Leipzig 1942, vgl. S. 36-40). Die Ablehnung der Massen (47 f.), das Gespräch der großen Einsamen von Gipfel zu Gipfel (52), der Tod Gottes (53), der priesterliche Appell à la Zarathustra (76), Kunst sei Gerechtigkeit (86), das Leben lieben (92), das alles verweist auf Nietzsche, dessen Name nicht genannt wird. Manchmal scheint es jedoch, als ob Rilke direkt auf die geistige (von Lout gedeutete) Figur Nietzsches verweist — auf dessen Utopie des großen Schaffenden (vgl. S. 139 f.).

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Fast unstatthaft in ihrer Kürze sind solche Andeutungen, zumal es um einen Problemkreis geht, der insgesamt hier nicht behandelt werden kann: geschichtsphilosophisch um Entfremdung und Neuassimilation von Natur als Ganzheit des Seienden. „Mund der Natur" zu sein, wie es im X X V I . ,Sonett' heißt, ist die Möglichkeit der Überwindung des Spaltungsphäno mens, der Abtrennung des Subjektes von den Objekten. Steigerung im Sinne Nietzsches, „Übersteigung" im Namen des Orpheus (I), soll utopisch die äußerste Möglichkeit einholen, die Erfahrung identischer Lebensfülle. Das letzte Wort des ersten Teils der ,Sonette' enthält die volle Offenheit: „Natur" als neu zu leistende Bewußtseinsstufe. Nietzsches Ästhetik sieht von Anfang an Kunst als Steigerungsphänomen im Sinne naturhaften Prozeßcharakters. Vollkommenheit als utopisches Ziel der durch Kunst geleisteten Vervollständigung. Die Erde braucht den Dichter, den Sänger, im Gesang erst kommen die Dinge zu sich selbst. Das ist wiederum frühromantisch gedacht im Sinne des transzendentalen Idealismus. Über Nietzsche bis zu uns hin führt ein Weg, der als solcher noch nicht erkannt ist. Die erste ,Elegie' verdichtet dieses Wissen: Dasein als „Auftrag". Wörtlich wie sinnmäßig scheint die Zarathustra-Weisheit wiederzukehren: „wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung / mehr zu sein als er selbst." (Rilke) — „Pfeile der Sehnsucht nach dem anderen Ufer" sendet Zarathustra aus. Der immanente Imperativ Nietzsches („Werde, der du bist.") zielt in Richtung naturhafter Identität. Das zu Schaffende, das zu Leistende ist Kunst im Sinne von Steigerung in die je eigene Möglichkeit. Zarathustra beschwört: „bleibt der Erde treu", rühmt sie, preist sie, damit sie werden kann, was sie im Innersten ihres Wesens immer schon ist. So ist der Mensch auf dem Wege in die Vollkommenheit seines Wesens; sein Verhalten ist affirmativ: „ein heiliges Ja-sagen" (,Zarathustra 4). Das Verwandeln potentieller Möglichkeiten überführt die Dinge und das Bewußtsein in die zuständige Dimension. Diese ist eine innerliche für Rilke, das bedeutet: ein innerer Erfahrungszustand. Nicht gemeint ist Praxis in einem voreiligen Sinne. Neuzeitliche Praxis ist gerade in einem spezifischen Sinne heillos, weil sie zunehmend von außen gesteuert ist. Die Vereinzelung der Gegenstände ist konsequent die Folge fehlender innerer Bindung, der materiellen Veräußerlichung. Welt hat sich nicht an sich geändert; verlagert hat sich der perspektivische Ansatz des Menschen: hin auf Ausbeutung. Versprengte Gegenständlichkeit wiedereinzuholen, die Verbindung neu zu leisten zwischen Subjekt und Ding — das meint Verwandlung. Sie kann nur im Innern des Menschen, im zentralen Erfahrungsbezirk — wie einst Mythos — vor sich gehen. Mythos als total Umgreifendes ist tot, aber

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es lebt der Glaube an terrestrische Potentialität. Natur — oder Erde — als totum tritt mit neuem Auftrag an den Menschen heran. „Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar / in uns erstehn?" — „Was, wenn Verwandlung nicht, ist ein drängender Auftrag? / Erde, du liebe, ich will." (,9. Elegie') Das sind keine „Parallelen" — das ist geschichtsphilosophisch, immer noch, seit Schiller, der Vorausentwurf von Erfahrung. Historisch ist es die innerste Bewegung des neuzeitlichen Geistes. I n dieser Bewegung treffen sich Rilke und Nietzsche. „Überzähliges Dasein / entspringt mir im Herzen." (,9. Elegie'). Hier ist keine Spur von dem oft entstellten, sentimentalen Rilke. Das ist mit aller Härte utopisch gedacht. Rilke spricht in der 10. ,Elegie' von „der grimmigen Einsicht", daß am Ende des Prozesses „Jubel und Ruhm aufsinge" — er spricht von „den klargeschlagenen Hämmern des Herzens". Hier steht er auch im Denkhabitus Nietzsche nahe. Aber, es gibt auch andere Seiten, die nicht zueinander passen. Ein traditionell definiertes Rezeptionsverhalten liegt nicht vor. Zu denken, zu glauben an ein „steigendes Glück:", wie es am Ende der ,10. Elegie' steht, das ist der Substanz nach platonisch und christlich tradiert. Als Denkund Erlebnisform hat es sich um die Achse gedreht — schon am Ende von ,Faust I I ' . Dort allerdings kommen dem terrestrischen Steigerungsphänomen transzendente Kräfte entgegen (die Liebe von oben). „Mater Gloriosa: Komm! hebe dich zu höhern Sphären!" Das sind christliche Symbole — keine treffenderen standen ihm zur Verfügung, so Goethe. Aber die religiöse Hoffnung ist eine naturhafte, ist nicht auf Offenbarung hin orientiert. Goethes Aufwärtsbewegung des Geistes in Spiralen ist ebenso erdhaft gedacht wie die Grundprinzipien seines geistigen Naturbildes: Polarität und Steigerung. Was sind die Engel Rilkes anderes als durch Steigerung verwandelte Geistessubstanz: „die Verwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares, die wir leisten", ist hier vollzogen (Brief an Hulewicz). Hier schließt sich ein Ring: Nietzsche ist keinem Dichter zeit seines Lebens treuer verbunden gewesen als Goethe. Die Frage, ob etwas transzendent oder immanent gedacht ist, wird angesichts der Erfahrungsintensität zu einem Begriffsspiel. Transcendere als ständiger Prozeß ist gemeint. Verwandlung ist nur ein anderes Wort dafür. Der Vorgang bleibt ein terrestrischer: „es gibt weder ein Diesseits noch Jenseits, sondern die große Einheit". Das ist die „endgültige Bejahung". Christlich, sagt Rilke in diesem entscheidenden Selbstkommetar 67, ist das der Form nach nicht — das Jenseits ist deutlich ein anderer Modus von Vorstellung. Rilke spricht betont von einem „rein «7 Brief an seinen Ubersetzer Witold Hulewicz, 13. X I . 1925. Rilke, Briefe I I , Wiesbaden 1950.

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irdischen, tief irdischen, selig irdischen Bewußtsein". Es geht um die Ganzheit von Erfahrung, gerade auch im Hinblick auf den Tod. Es geht um Verwandlung »in das Ganze*. Verwandlung unseres Bewußtseins, „unserer Natur" und damit der dinghaften Welt. Das ist mit Nietzsches Umwertungsphilosophie in Adäquation zu sehen. Der Welt ihren „humanen und larischen Wert" wiederzugeben, wie Rilke sich ausdrückt. „Die Elegien stellen diese Norm des Daseins auf", sagt er selbstbewußt. Es geht um den „höheren Rang der Realität" — gewiß war es nach Nietzsche leichter, ein solches Wort in seiner ganzen Konsequenz zu verantworten.

E M I L Y D I C K I N S O N : K U N S T ALS S A K R A M E N T Von Franz H . Link 1855 feiert Walt Whitman — seiner Unsterblichkeit im Einssein mit dem Kosmos gewiß — sich selbst in seinem später als ,Song of Myself betitelten Eingangsgedicht der ,Leaves of Grass*. Nur drei Jahre danach unternimmt es — von vereinzelten früheren Versuchen abgesehen — Emily Dickinson, zaghaft ihrem Erleben von Unsterblichkeit in Versen Gestalt zu verleihen. Sich von allen Konventionen befreiend, lädt Whitman in freien Versen den Leser ein, an seinem Erleben teilzuhaben, sich mit ihm als Teil des Kosmos der Unsterblichkeit zu vergewissern. I n fast unbeholfener Weise bedient Emily Dickinson sich der einfachsten dichterischen Form des ihr vertrauten protestantischen Kirchenliedes oder der Ballade, um sich des Erlebens, das ihr eine Ahnung der Unsterblichkeit schenkte, zu vergewissern und es sprachlich zu gestalten. Während Whitman mit prophetischer Pose seinen Leser überzeugen will, begnügt die Dichterin Neuenglands sich damit, die nächsten Freunde an dem teilhaben zu lassen, was sie durch die dichterische Gestaltung ihres persönlichen Erlebens gewonnen hatte. Es dauerte lange, bis die Herausforderung eines Walt Whitman als Teil einer Tradition amerikanischen Dichtens und Denkens Anerkennung fand. Es dauerte noch länger, bis das Werk Emily Dickinsons überhaupt seinen Weg an die Öffentlichkeit fand. Heute zählen beide — in all ihrer Verschiedenheit — zu den bedeutenden Dichtern der Neuen Welt. I m Einzelnen durchaus aus der besonderen Geschichte dieser Neuen Welt zu verstehen, dokumentiert Emily Dickinsons Werk eher deren Vielgestaltigkeit als deren auf charakteristische Merkmale zu reduzierende Eigenheit. Elf Jahre nach Walt Whitman geboren, nur drei Jahre nach ihm zu dichten beginnend, kann Emily Dickinson nicht ohne weiteres als Repräsentantin einer nächsten Stufe in der Entwicklung amerikanischer Verskunst nach Walt Whitman, dessen Werk sie kaum kannte, betrachtet werden, sondern eher als eine Alternative, als andere Möglichkeit der Weiterentfaltung übernommenen Geistesgutes. I n überzeugender Weise haben u. a. George F. Whicher, Thomas H . Johnson und Allen Tate 1 die Bedingtheit des Schaffens von Emily Dickinson ι George F. Whicher, This Was a Poet. A Critical Biography. New York 1938, Thomas H . Johnson, Emily Dickinson. An Interpretative Biography. Cambridge, Mass. 1963, und Allen Tate , „New England Culture and Emily Dickinson", 9 Literaturwissensdiaftlidies Jahrbuch, 17. Bd.

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durch die puritanische Tradition des Connecticut Valleys nachgewiesen und hat Conrad Aiken ihre Dichtung als Vorwegnahme von Vorstellungsweisen, die erst in unserem Jahrhundert Anerkennung fanden, dargestellt 2. Fraglich bleiben solche Einordnungen, wenn ein von dem Dickinsonschen so verschiedenes Werk wie dasjenige Whitmans in die gleiche Tradition eingereiht wird 3 , oder aber der künstlerische Wert ihres eigenen Werkes — bei aller Bedeutung für die geschichtliche Entwicklung — in Frage gestellt wird 4 . Seit dem Erscheinen der kritischen Ausgabe der Gedichte und der Briefe Emily Dickinsons5 hat sich die Forschung um alle erdenklichen Aspekte ihres Schaffens bemüht0. Die Bestimmung des künstlerischen Wertes der Gedichte und die diesen berücksichtigende Einordnung in die Entwicklung amerikanischer Verskunst bleiben jedoch noch so lange offen, als die Kriterien zu einer solchen Bestimmung und zu einer solchen Einordnung der Befragung offen bleiben. Während Poe, Emerson oder Whitman sich selbst mit der Tradition auseinandersetzten und sich von ihr abgrenzten, fehlen uns derartige Stellungnahmen von Emily Dickinson. Ihr Bezug zur Tradition kann — mit Ausnahme von gelegentlichen Äußerungen in ihren Briefen — nur indirekt durch ihr eigenes Schaffen erschlossen werden. Um so eher liegt es nahe, die Eigenart ihres Schaffens nicht aus ihrem Bezug zur Tradition, sondern durch die aus der Analyse des Werkes gewonnene Darstellung ihrer künstlerischen Leistung zu ermitteln. Ohne auf die durch die bisherige Forschung gewonnene Erkenntnis zu verzichten, soll unsere Einsicht in die Eigenart der Symposium I I I , 1932, S. 206 - 226. Ein ausführlicher Bericht über die Emily Dickinson-Forsdiung liegt vor in Klaus Lubbers , Emily Dickinson: The Critical Revolution. Ann Arbor 1968. 2 Conrad Aiken, „Emily Dickinson", Outlook 140, 1925, S. 211 -213. 3 Siehe hierzu Roy H . Pearce , The Continuity of American Poetry. Princeton 1961, und Hyatt H . Waggoner, American Poets. From the Puritans to the Present. Boston 1968. 4 In einschränkender Weise bei Richard Chase, Emily Dickinson. New York 1951, vor allem aber durch Yvor Winters, Maule's Curse. Norfolk, Conn. 1938, S. 149 bis 165. 5 The Poems of Emily Dickinson. Hrsg. Thomas H . Johnson, 3 Bde. Cambridge, Mass. 1955; The Letters of Emily Dickinson. Hrsg. Thomas H . Johnson and Theodora Ward, 3 Bde. Cambridge, Mass. 1958. Datierung, Numerierung (L für Letters) und Text im Folgenden nach diesen Ausgaben. 6 Von den zahlreichen Bemühungen seien genannt die textkritischen Studien Edith Wylders, The Last Face. Emily Dickinson's Manuscripts. Albuquerque 1971, und die die Anordnung der Manuskripte betreffende Arbeit von Ruth Miller, The Poetry of Emily Dickinson. Middletown, Conn. 1968; die linguistische Studie von Brita Lindberg-Seyersted, The Voice of the Poet: Aspects of Style in the Poetry of Emily Dickinson. Cambridge, Mass. 1968; die Quellenstudie von Jack L. Capps, Emily Dickinson's Reading 1836- 1886. Cambridge, Mass. 1966; die psychoanalytische Studie von John Cody , After Great Pain: The Inner Life of Emily Dickinson. Cambridge, Mass. 1971, und die interpretatorisdie Studie Charles R. Andersons, Emily Dickinson's Poetry. Stairway of Surprise. New York 1960.

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Dickinsonschen Dichtung in diesem Sinne aus einer Analyse einer repräsentativen Auswahl von Gedichten gewonnen werden. G r u η d e 1 e m eη t e ihres

Dichtens

Keinem Leser kann die Analyse des 1 774 Gedichte umfassenden Gesamtwerkes zugumutet werden. Da sie aber selbst bei einer glaubhaften Begründung für die Auswahl einer begrenzten Anzahl von Gedichten erforderlich wäre, bleibt dem Interpreten nichts anderes übrig, als dem Leser zu versichern, daß er diese Voraussetzung — mit Hilfe der bisherigen Forschung — für sich erfüllt hat. Problematischer als die Auswahl der Gedichte ist ihre Gruppierung bzw. ihre Anordnung in einer Reihenfolge, durch die das Verständnis des Werkes sich schrittweise erweitern und vertiefen läßt. Die folgende Analyse begeht den für die Dickinson-Forschung bereits konventionell gewordenen Weg, wenn sie sich an markanten Themenkreisen orientiert und vorwegnehmend einige Grundelemente der sprachlichen Gestaltung zu erhellen versucht; sie ist sich jedoch in der Durchführung der Problematik solchen Vorgehens bewußt und erwartet vom Leser, daß er bereit ist, die thematischen und formalen Querbezüge in den einzelnen Abschnitten nicht als Abschweifungen zu verstehen7. Zur Darstellung einiger Grundelemente von Emily Dickinsons Schaffen sei ein Gedicht gewählt, das zwar bereits einige wichtige Fragen zum Verständnis der Aussage aufwirft, dessen thematischer Anspruch jedoch nicht so weit ausgreift, daß es nicht erlaubt wäre, das Augenmerk auf seine formale Gestaltung zu konzentrieren. Es handelt sich um das wahrscheinlich 1862 — also auf dem Höhepunkt ihres Schaffens — entstandene Gedicht ,/ like to see it lap the Miles —' (585). I like to

h ear t

it lap the Miles — r see And lick the Valleys up — And stop to feed itself at Tanks — And then — prodigious step Around a Pile of Mountains — And supercilious peer In Shanties — by the sides of Roads — And then a Quarry pare To fit its sides And crawl between Complaining all the while In horrid — hooting stanza — Then chase itself down Hill — 7 Robert sagt mit Redit, daß „any one Dickinson poem plays among several of these topics." Emily Dickinson's Poetry. London 1975, S. X I I .

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Franz H. Link And neigh like Boanerges — Then — prompter than a Star Stop — docile and omnipotent At its own stable door —

Es dürfte nicht schwer fallen, das „it " des Gedichtes als Eisenbahnzug zu erkennen. Die bildhafte Umschreibung des Gegenstandes hat nicht den verhüllenden Charakter, der das Gedicht zu einem Rätsel machen würde. Mit Recht verweist Galinsky auf die scherzhaften umgangssprachlichen Umschreibungen der Lokomotive als *the iron horse" oder als „Dampfroß" 8 , die zur Zeit der Entstehung des Gedichtes, als der Gegenstand noch etwas Ungewöhnliches und Neues darstellte, dem Leser noch vertrauter gewesen sein dürften als heute und die eine unmittelbare Identifizierung möglich machen. Die ersten Herausgeber des Gedichtes verliehen ihm zu recht den Titel „The Railway Train" 9. Zwischen den Einzelbildern und dem durch sie eingeführten Gegenstand vermittelt das Bild des Pferdes. I n der Art und Weise der metaphorischen Vermittlung liegt die besondere und charakteristische Leistung dieses Gedichtes, wie der Dichtung Emily Dickinsons überhaupt. Die Enthüllung des Gegenstandes vollzieht sich schrittweise: Zunächst erscheint das „es" als ein seltsames Tier; allmählich wird dieses als Pferd erkennbar, und erst in ihrer Gesamtheit lassen uns die wunderlichen Eigenschaften des Pferdes es als Bild für den Zug erkennen. Das gierige Verschlingen der Meilen, das Auflecken der Täler und — im minderen Maße — das Anhalten, um aus den Tanks das Wasser zu schlürfen, führt den Gegenstand in einer hyperbolisch ausgemalten Tätigkeit ein, die — gesteuert durch das Wohlgefallen, das der Sprecher des Gedichtes an ihm in der ersten Hälfte der ersten Zeile zum Ausdrude bringt — seine Sonderlichkeit in übermütigkomischer Weise aufleuchten läßt. Das Bild der ersten beiden Zeilen wird auf der visuellen wie auf der auditiven Ebene wirksam. Neben der schnellen Bewegung wird das Geräusch des Aufleckens evoziert. Sich wahrscheinlich dieser Tatsache bewußt, bietet die Dichterin in ihrem Manuskript „hear it " als Alternative zu „see it ". Zu a passen auch die Bilder in den Zeilen 11, 12 und 14. Andere Bilder yyhear it lassen sich besser dem „see it " zuordnen. Die Bedeutungsweite wird durch die Alternative bereichert. Das Mitlesen der Alternative vermittelt hier — wie anderswo in den Gedichten Emily Dickinsons — einen zusätzlichen Reiz. 8 Hans Galinsky, Wegbereiter moderner amerikanischer Lyrik. Heidelberg 1968, S. 62. * T. W. Higginson und Mabel Loomis Todd, Hrsg., Poems by Emily Dickinson. Boston 1891.

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Sprachsymbolisch wird das im Bild aufgefangene auditive Element durch die Lautung und Rhythmisierung der Zeilen realisiert. Fünfmal erscheint in den ersten beiden Zeilen /I/, dreimal in alliterierender Stellung, in zwei Paaren in syntaktisch paralleler Stellung (Jap* / „lick"; „Miles " / „Valleys"). Unterstützung findet dieses lautmalende Element durch die Kombination mit /k/ („like" / „lick") und /p/ („lap Vve seen a Dying Eye' sich auch dort von ihrem eigenen Bemühen ironisch distanzieren. Dies ist insofern denkbar, als sie es — obwohl sie es nicht aufgibt — als vergeblich betrachtet. Der zweite Abschnitt des Sterbevorgangs, der in dem anderen Gedicht durch die zeugmatische Verklammerung der letzten Zeilen übergangen wird bzw. in der ersten Phase mit enthalten ist, besteht in dem Dazwischentreten der Fliege. Alle Möglichkeiten, die Bedeutung dieser Fliege zu bestimmen, scheinen durch die bisherige Kritik ausgeschöpft zu sein: Die einen sehen in ihr einen letzten „Kuß der Welt", die die Sterbende verläßt 8 2 , die anderen eine Belanglosigkeit, die sie daran hindert, sich auf das einzustellen, was sie im Sterben erwartet 83 , wieder andere ein Bild für die bevorstehende Verwesung des Körpers, für den Zweifel 84 oder für den 81

Siehe hierzu die Interpretation von Ch. R. Anderson, a.a.O., S. 232. John Ciardi , Dickinson's ,I heard a Fly buzz when I died', Expl. X I V , 1956, Item 22, Nachdruck in Davis , a.a.O., S. 67. 83 Gerhard Friedrich, Dickinson's ,1 Heard a Fly Buzz When I Died', Expl. X I I I , 1955, Nachdruck in Davis , a.a.O., S. 66. 84 C. Griffith , a.a.O., S. 136, in Bezug auf die Verwesung, in Bezug auf den Zweifel mit einem Verweis auf ein Gedicht Elizabeth Brownings als Quelle bei J. L. Capps, a.a.O., S. 85 f. Ein Bezug zu Hawthornes ,House of the Seven Gables' wird hergestellt von Η . Η . Waggoner , a.a.O., S. 673 f. 82

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Tod 8 5 . Wie immer die Fliege verstanden werden mag, sie tritt — in Analogie zu dem Versagen des Schauens in dem anderen Gedicht — zwischen den Schauenden und das Licht, das ihm vor dem Schließen der Augen im Sterben zugänglich war. „The Windows failed ". Das vor dem Sterben wahrgenommene Licht vermag die Sprecherin nicht in den Tod hinüber zu geleiten. Sie steht damit in der gleichen Situation wie die Sprecherin in ,My Life had stood — a Loaded Gun', die fürchtet, ohne den Geliebten nicht sterben zu können, d. h. ohne Vergegenwärtigung dessen, was ihr in diesem Leben Vorahnung jenseitigen Lebens bedeutete. Die Umschreibung des dritten Abschnittes bleibt wie in ,I yve seen a Dying Eye' auf die letzte Zeile beschränkt. Wie in dem anderen Gedicht offen bleibt, ob das im Tode geschlossene Auge etwas zu sehen vermag, so bleibt in diesem offen, ob eine neue Art des Sehens das, was sich etwa auftun würde, erblicken könnte. Es heißt nicht, wovon die meisten Leser auszugehen scheinen: „and then II could not see" 8*, sondern „and then! I could not see to see". Zweifellos handelt es sich in der von der Dichterin gewählten Formulierung wieder um ein vielleicht allzu künstliches Spiel mit der Sprache. Das Spiel trifft aber zentral das sie immer wieder beschäftigende Paradoxon der Erwartung einer Welt jenseits der sinnlich greifbaren Wirklichkeit, die nur als durch die Sinne vermittelt vorstellbar ist, jenseits dessen, was Robert Weisbuch als unser „experiential being" bezeichnet87. Das Sprachspiel der letzten Zeile besagt, daß da etwas ist oder zumindest sein kann („to see"), was aber nicht auf die für uns Lebenden allein mögliche Weise wahrgenommen werden kann. Erfassen die beiden zuletzt herangezogenen Gedichte den Augenblick des Sterbens, in dem sich die Augen schließen, so versucht die Dichterin in den nächsten, die zur Betrachtung anstehen, in der Beschreibung des Begrabenwerdens einen Schritt weiter in den unbekannten Bereich jenseits des Lebens vorzudringen. I n dem ersten dieser Gedichte (280), das wahrscheinlich schon 1861 entstand, erscheint dieser Vorgang zunächst nur als Bild. I felt a Funeral, in my Brain, And Mourners to and fro Kept treading — treading — till it seemed That Sense was breaking through — 85 Der Tod als Fliege wird dem von den Anwesenden erwarteten Tod als König gegenübergestellt nach Ronald Beds, Dickinson's ,I heard a Fly buzz when I 4 died , Expl. X X V I , 1967, Item 31. Siehe ferner James T. Connelly, Dickinson's ,1 heard a Fly buzz when I died4, Expl. X X V , 1966, Item 34. 86 Z.B. C. Griffith, a.a.O., S. 136. *7 A.a.O., S. 104 u. ö.

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And when they all were seated, A Service, like a Drum — Kept beating — beating — till I thought My Mind was going numb — And then I heard them lift a Box And creak across my Soul With those same Boots of Lead, again, Then Space — began to toll, As all the Heavens were a Bell, And Being, but an Ear, And I, and Silence, some strange Race Wrecked, solitary, here — And then a Plank in Reason, broke, And I dropped down, and down — And hit a World, at every plunge, And Finished knowing — then —

John Cody interpretiert die Zeilen in überzeugender Weise als eine „topography of a psychotic breakdown"**. Im Nachzeichnen des psychotischen Zusammenbruchs im Bilde des Begrabenwerdens wird dieses Erleben selbst zur Begegnung mit der Welt, die sich nach dem Tode erschließen mag. D. h. jene andere Welt wird in der des seelischen Zusammenbruchs vorstellbar und im Wort erst darstellbar. Krankheits- und Todeserleben werden in diesem Sinne austauschbar bzw. identisch. Es sei hier darauf verzichtet, den einzelnen Phasen des Zusammenbruchs bzw. Übergangs in den Bereich einer anderen Wirklichkeit nachzugehen. Nur zwei der Stadien auf diesem Wege seien aufgegriffen. Die Bewegung, die in den ersten Strophen umschrieben wird und deren Monotonie in der Wiederholung von „treading — treading " und „beating — beating " sinnfällig gemacht wird, führt zu einem völligen Erstarren der Sinne und des Geistes. Das Ich, das sich allen eigenen Tuns entäußert, füllt sich mit dem Raum, der es umgibt. Wird damit nicht, wie in Emersons Bilde von dem »transparent eyeball" 89, individuelles Sein aufgegeben zugunsten der Vereinigung mit dem „Universal Being"} Für Emerson wäre dies letzte Erfüllung. Doch das bei Emily Dickinson von dem Auge in Emersons Gedicht auf das Ohr übertragene Bild bleibt zweideutig. Der Klang, der das Ohr erfüllt und auszumachen scheint, bleibt im Wettlauf mit der Stille, der zur nächsten Phase des Vorganges, zu dem Sturz in die Tiefe, führt. Die letzten drei Strophen erinnerten bereits Johnson an Poe. Tatsächlich liegt ein Vergleich der Glocken mit denjenigen in Poes ,The Bells' nahe. 88 J. Cody , a.a.O., S. 257. Vgl. auch D. T. Porter, aa.O., S. 245 - 254. 8 » Siehe S. 174, Anmerkung 80.

12 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 17. Bd.

a.a.O., S. 36 und C. Griffith,

Franz H. Link Dort verkünden diese den T o d 9 0 . Was das Gedicht aber vor allem mit der Vorstellungswelt Poes gemeinsam hat, ist der Sturz in eine Welt jenseits unserer Vorstellung, wie er in ,A Descent into the Maelstrom c oder ,The Pit and the Pendulum' dargestellt ist 9 1 . A m Grunde der Grube lauert bei Poe das scheinbare Nichts, in das der H e l d sich zu stürzen im Begriffe ist, als er aus seinem Kerker befreit wird. Durch seine Rückkehr in die Welt erhält er nie Gewißheit darüber, was in dem letzten Abgrund auf ihn wartete, wie die Sprecherin in Emily Dickinsons Gedicht in ihrem Sturze „mit ihrem Wissen zu Ende" ist. Auch ihr bleibt die Enthüllung versagt. Der Grund wird nie erreicht. Der Geist „reaches no bottom" , sagt Ruth Miller hierzu treffend, „for the mortal mind can go no further , reason is useless, knowing is finished fLohengrin