Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik: Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie im Erzählwerk Friedrich Heinrich Jacobis 9783839468586

Als Theoretiker machte sich Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) einen Namen in der klassischen deutschen Philosophie -

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German Pages 458 [489] Year 2023

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Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik: Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie im Erzählwerk Friedrich Heinrich Jacobis
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Felix Knode Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Lettre

Felix Knode, geb. 1992, ist Lehrkraft in der Prignitz. Nach seinem Studium an der Universität Potsdam arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im interdisziplinären Forschungsprojekt »Nachhaltigkeit als Argument: Suffizienz, Effizienz und Resilienz als Parameter anthropogenen Handelns in der Geschichte« an der Georg-AugustUniversität Göttingen.

Felix Knode

Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie im Erzählwerk Friedrich Heinrich Jacobis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.

© 2024 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839468586 Print-ISBN: 978-3-8376-6858-2 PDF-ISBN: 978-3-8394-6858-6 Buchreihen-ISSN: 2703-013X Buchreihen-eISSN: 2703-0148 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. […] »Es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein«, schrieb Nietzsche bereits in der Fröhlichen Wissenschaft. Dem müßte man heute hinzufügen: es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein. Darin zeigt sich etwas an von dem schwierigen Verhältnis, in dem der Einzelne zu seinem Eigentum sich befindet, solange er überhaupt noch etwas besitzt. Die Kunst bestünde darin, in Evidenz zu halten und auszudrücken, daß das Privateigentum einem nicht mehr gehört, in dem Sinn, daß die Fülle der Konsumgüter potentiell so groß geworden ist, daß kein Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klammern; daß man aber dennoch Eigentum haben muß, wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not geraten will, die dem blinden Fortbestand des Besitzverhältnisses zugute kommt. Aber die Thesis dieser Paradoxie führt zur Destruktion, einer lieblosen Nichtachtung für die Dinge, die notwendig auch gegen die Menschen sich kehrt, und die Antithesis ist schon in dem Augenblick, in dem man sie ausspricht, eine Ideologie für die, welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.1

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Theodor Wiesengrund Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M. 1951, S. 55 und 58f. [Anmerkung zur Zitierweise in dieser Studie: Es wird immer nur der erstgenannte Verlagsort aufgeführt, wobei der Verlagsname nicht angegeben wird.]

Inhalt

Vorbemerkung .................................................................................9 1 1.1 1.2 1.3 1.4

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen ........................................ 15 Suche nach Ausdrucksformen des Inneren ................................................ 23 Romantheorie und Erzählformen .......................................................... 35 Freundschaft und Liebe.................................................................... 41 Natur..................................................................................... 55

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

Das Empfindsam- Idyllische ..............................................................79 Natürliches Dasein als suffiziente Lebensart .............................................. 90 Geschichte als Depravationsgeschehen ................................................... 110 Subjektivierung........................................................................... 117 Naivität als natürliche Umgangsform und Ethik ............................................126 Idyllische Anthropologie ..................................................................139 Das Empfindsam- Idyllische als Ausdrucksform des Inneren................................146

3 Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis ...........149 3.1 Jacobis religionsphilosophische Position im Spinozastreit ................................. 157 3.1.1 Das Unerklärliche I – Selbsttätigkeit ................................................166 3.1.2 Das Unerklärliche II – Zeit .......................................................... 175 3.2 Das goldene Weltalter als Idee einer in sich ausgeglichenen Natur ......................... 187 3.3 Jacobis Eduard Allwills Briefsammlung von 1792........................................... 203 3.3.1 Briefroman und empfindsame Herausgeberfiktion.................................. 204 3.3.2 Zu den Bedingungen der Möglichkeit unmittelbarer Ausdrucksformen des Inneren ... 215 3.3.3 Cläres erkenntnistheoretischer Realismus ......................................... 240 3.3.4 Kritik der moralischen Instrumentalisierung der Natur ............................. 252 3.4 Jacobis Woldemar von 1796 .............................................................. 265 3.4.1 Konträre Zustandsformen: Biderthals Familienglück und Woldemars Aufbegehren im Inneren ........................................... 272

3.4.2 Natur als Entfaltungsraum des Inneren: familiäre Kollektivbildung – Sentimentalitätserlebnis und Bilder von solipsistischem Glück ...................... 283 3.4.3 Woldemars tiefgehende und schmerzhafte Selbsterkenntnis........................ 323 3.5 Philosophische Ausblicke: die kritizistischen Rezeptionen von Hegel und Fichte .................................................................... 338 4 Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis .......... 349 4.1 Jacobis Eduard Allwills Papiere von 1776 ................................................. 349 4.1.1 Tendenzen der Rousseaurezeption Jacobis......................................... 354 4.1.2 Divergierende Deutungen und konvergierende Rezeptionslinien..................... 359 4.1.3 Die Allwill- Spät- und Frühfassungen im Vergleich ................................... 364 4.2 Jacobis Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte von 1779 ..................... 384 4.2.1 Ich- Lust .......................................................................... 387 4.2.2 Schwärmerei und Freundschaft .................................................... 392 4.2.3 Die Woldemar- Spät- und Frühfassung im Vergleich ................................. 402 5 Fazit ..................................................................................... 417 5.1 Das Innere des Menschen vom unveränderlichen Ich zum psychisch variablen Selbst .......................................................... 426 5.2 Natur und Innerlichkeit .................................................................. 436 Literaturverzeichnis ........................................................................ 445

Vorbemerkung

Diese Studie ist im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts Nachhaltigkeit als Argument: Suffizienz, Effizienz und Resilienz als Parameter anthropogenen Handelns in der Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen entstanden. Im Fokus dieses disziplinübergreifenden Projekts stand die Frage nach historischen Signaturen eines gegenwärtigen Nachhaltigkeitsbegriffs, wie ihn der sogenannte Brundtland-Bericht entwirft.1 Im Verständnis dieses Forschungsprojekts beschreiben Signaturen dynamische Aushandlungsprozesse und Praktiken, die in ihrer kulturellen Gebundenheit zugleich rückblickend wie zukunftsbezogen sind.2 Das interdisziplinäre Projekt sieht den gemeinsamen semantischen Nenner von Nachhaltigkeitsbegriffen des 20. und 21. Jahrhunderts darin, dass damit grundsätzlich ein handlungs-und verhaltensorientiertes Prinzip thematisiert wird, das eine Veränderung eines bestehenden Zustands zur Folge hat.3 Diese Nachhaltigkeitsvorstellungen bewegen sich innerhalb von sozialen, ökonomischen und ökologischen Diskussionszusammenhängen.4 Es ist entscheidend für Nachhaltigkeitsverständnisse des 20. und 21. Jahrhunderts, dass je nach Kontext einer dieser Diskussionszusammenhänge ins Zentrum gestellt wird. In der tagesaktuellen Debatte steht mit einer nachhaltigen Entwicklung vor allem der ökonomische Diskussionszusammenhang im Vordergrund. Der Begriff der Nachhaltigkeit darf daher nicht mit einem gesteigerten ökologischen Bewusstsein oder gar mit einem ökologisch orientierten Aktivismus verwechselt werden. Dennoch zielt ein nachhaltiges Agieren 1

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Vgl. World Commission on Environment and Development (Hg.): Our Common Future. S. 41–59 (Kapitel 2). Onlinezugriff: https://www.un-documents.net/our-common-future.pdf (Letzter Zugriff: 26.02.2022). Im Folgenden abgekürzt mit »Our common Future«. Vgl. die Projektbeschreibung auf der folgenden Website: https://www.uni-goettingen.de/de/528 465.html (Letzter Zugriff: 26.02.2022). Im Brundtland-Bericht wird die folgende Kurzdefinition von nachhaltiger Entwicklung (sustainable development) vorgestellt: »In essence, sustainable development is a process of change in which the exploitation of resources, the direction of investments, the orientation of technological development; and institutional change are all in harmony and enhance both current and future potential to meet human needs and aspirration.« Our common Future, S. 44. Vgl. für eine solche Abstraktion auch: Silke Kleinhückelkotten: Suffizienz und Lebensstile. Ansätze für eine milieuorientierte Nachhaltigkeitskommunikation. Berlin 2005, S. 28–34. Vgl. Our common Future, S. 41–44.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

unabhängig vom konkreten Kontext darauf ab, alle drei Komplexe in ihrer wesentlichen Beschaffenheit und ihren ressourcenabhängigen Möglichkeiten generationsübergreifend funktionsfähig zu halten.5 Das Projekt Nachhaltigkeit als Argument konzentrierte sich auf kulturhistorische Signaturen eines solchen Nachhaltigkeitsverständnisses und erfüllt auf diese Weise als geschichtlich interdisziplinäre Forschung eine zivilisationsreflexive Funktion in einer vor allem wirtschaftlich, technisch und seit der Coronapandemie auch medizinisch pointierten Gesellschaftsdebatte. Vor dem Hintergrund dieses interdisziplinären Forschungsprojekts versteht sich das vorliegende literatur-und philosophiehistorische Teilprojekt als kulturgeschichtliche Ergründung der Denkfigur eines suffizienten Lebens.6 Diese Denkfigur ist eine kulturhistorische Signatur eines Handlungs-und Verhaltensprinzips. Mit ihr gehen soziale Praktiken der Imagination eines ›guten Lebens‹ einher.7 Diese Imaginationen finden Ausdrucksformen in literarischer Idyllik. Aus diesem Grund ist als Untersuchungszeitraum bewusst die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgesucht worden, da in dieser Zeit durch den Schweizer Salomon Gessner die literarische Gattung der Idylle in die deutschsprachige Literatur eingeführt wurde und die literarische Idyllik ebenso in gattungsübergreifenden Formen florierte. Diese Idyllik umfasst verschiedene Darstellungsformen von Suffizienzvorstellungen. Die Betrachtung der Denkfigur einer suffizienten Lebensart als Signatur eines Nachhaltigkeitsdenkens des 20. und 21. Jahrhunderts setzt den Begriff der Suffizienz ins Zentrum. Der aus der Soziologie stammende Begriff der Suffizienz beschreibt eine ideale Lebensart, die eine vollkommene Balance zwischen den drei Diskussionszusammenhängen der Ökonomie, der Gesellschaft und der Ökologie beschreibt.8 Der Begriff der Suffizienz charakterisiert Harmonieverhältnisse, bei denen sich divergierende Diskussionszusammenhänge in 5

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Nach Ulrich Grober »ist Nachhaltigkeit der Gegenbegriff zu »Kollaps«. Mit diesem Begriff werde »bezeichnet, was standhält, was tragfähig […], was auf Dauer angelegt […], was resilient […]« sei. Das bedeute, Nachhaltigkeit müsse »im menschlichen Grundbedürfnis nach Sicherheit« verortet werden und richte sich »gegen den ökologischen ökonomischen und sozialen Zusammenbruch«. Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. München 2013, S. 14. [Anmerkung zur formalen Gestaltung dieser Untersuchung: Hervorhebungen in Zitaten werden, insofern nicht anders angegeben, auf die Art und Weise wiedergegeben, wie sie im Originaltext vorliegen. Im zitierten Text gibt es in diesem Fall zwei Arten der Hervorhebungen im Original, die doppelten französischen Anführungszeichen und die Kursivsetzung. F. K.] Die literaturwissenschaftliche Perspektive ist ein Novum, das auch in bestehenden historischen Untersuchungen zum Begriff und der Vorstellung von Suffizienz nicht berücksichtigt wurde. Vgl. den Sammelband: Matthew Ingleby/Samuel Randalls (Hg.): Just enough. The History, Culture and Politics of Sufficiency. London 2019. [Anmerkung zur formalen Gestaltung dieser Untersuchung: Einfache Anführungszeichen markieren einen hervorgehobenen Begriff oder Ausdruck, während doppelte Anführungszeichen Zitate abseits von Blockzitaten markieren. Kursivsetzungen sind Titelnennungen und besonders hervorgehobenen Begriffen vorbehalten. Davon ausgenommen sind Hervorhebungen innerhalb eines Zitats. Siehe dafür die Anmerkung bei der sechsten Fußnote. F.K.] Laura Spengler stellt die Begriffsgeschichte und die terminologische Verwendung in der Soziologie von Suffizienz ausführlich dar: Laura Spengler: Sufficiency as Policy. Necessity, Possiblities and Limitations. Baden-Baden. 2019, S. 127–159. Vgl. auch: Silke Kleinhückelkotten: Suffizienz und Lebensstile. Ansätze für eine milieuorientierte Nachhaltigkeitskommunikation. Berlin 2005, S. 55–63.

Vorbemerkung

Einklang miteinander befinden. Im soziologischen Verständnis ist wichtig, dass eine suffiziente Lebensart auf der Ebene des einzelnen Menschen aus sich selbst heraus entsteht. Sie wird nicht durch politische Maßnahmen erzwungen, sondern sie beschreibt das Ideal einer Lebensart, die zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Interessen ein gerechtes Gleichgewicht findet. Dieser Zustand fällt in der Idealvorstellung von Suffizienz mit der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zusammen, sodass keine Spannungen und Uneinigkeiten im mental Inneren der Person entstehen. Diese soziologische Verwendung des Suffizienzbegriffs ermöglicht es, eine suffiziente Art zu leben, als einen Vollkommenheitszustand zu verstehen. Dieser Zustand zeichnet sich durch umfassende Konfliktfreiheit aus. Es gibt im äußeren Lebensweltbereich keine Konflikte. Das heißt, ökonomische, sozial-gesellschaftliche sowie ökologische Diskussionszusammenhänge befinden sich in einem Ausgeglichenheitszustand. Außerdem gibt es im mental inneren Daseinsbereich keine Konflikte. Das heißt, dass der Mensch sich als eigentümliche Person entfalten kann. Daraus resultiert, dass Suffizienz auch ein Harmonieverhältnis von äußerem und innerem Daseinsbereich beschreibt. Zu berücksichtigen ist, dass eine vollkommen suffiziente Lebensart in der Soziologie ein orientierungsbildendes Idealkonstrukt ist. Daraus folgt, dass ein suffizienter Daseinszustand als Lebensform des Menschen eine utopische Idee ist. Diese kann als eine Denkfigur aus literarischen Texten herauskristallisiert werden, insofern man Denkfiguren »als nachträgliche Konstruktionen« versteht, die »eine Heuristik, einen Idealtypus oder eine Taxonomie von Denkbewegungen bezeichnen«.9 Mit der Denkfigur der Suffizienz werden Imaginationspraktiken thematisiert, die ein umfassend harmonisches Dasein des Menschen entwerfen. Dieser Harmoniezustand besteht aus drei wesentlichen Elementen. Der erste Bestandteil ist eine realistische Erfassung und Akzeptanz der eigenen Person. Daneben gehört ein respekt-und würdevoller zwischenmenschlicher Umgang dazu, und drittens zeichnet sich dieser Zustand durch eine Wertschätzung der Natur aus, die diese nicht als materielles Gut erscheinen lässt. In vielen Texten des 18. Jahrhunderts erscheinen idyllische Naturbeschreibungen als literarische Darstellungen eines suffizienten Daseinszustands. Dies gilt im Besonderen für empfindsam geprägte Texte, denn in empfindsamen Naturschilderungen tritt in Abgrenzung zu galant barocker Dichtung die Problematisierung einer Dichotomie von Kultur und Natur hervor. Dabei enthält der empfindsame Naturkult mehr als eine enthusiastische Hinwendung zu einer ästhetischen Wahrnehmung. In Auseinandersetzungen mit differenten Vorstellungen von Natur werden ›neue‹ Weltanschauungen und Menschenbilder entworfen. Neben der literarischen Idyllik der Empfindsamkeit floriert in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch die philosophische Auseinandersetzung mit Naturvorstellungen. Eine der wesentlichsten Kontroversen dieser Zeit ist der Pantheismusstreit. Angestoßen wurde diese Debatte durch Friedrich Heinrich Jacobi, der

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Vgl. Alexander Friedrich: Bericht zur Tagung »Was sind Denkfiguren? Figurationen unbegrifflichen Denkens in Metaphern, Diagrammen und Kritzeleien« (25. und 26.02.2011) Onlinezugriff: Bericht zur Tagung »Was sind Denkfiguren? Figurationen unbegrifflichen Denkens in Metaphern, Diagrammen und Kritzeleien« — The Review Journal (uni-giessen.de), https://journals.ub.uni-giess en.de/kult-online/article/view/592 (Letzter Zugriff: 27.02.2022).

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von 1743 bis 1819 lebte. Die philosophischen Schriften Jacobis sind inzwischen intensiv erforscht, und er gilt als ›graue Eminenz‹ der klassischen deutschen Philosophie.10 Jacobi habe mit seinen Schriften Impulse gegeben, die auf die »Epoche« anhaltend und folgenreich wirkten.11 Er hat neben seinen philosophischen Schriften die zwei Erzählwerke Woldemar und Allwill verfasst, die in verschiedenen Fassungen vorliegen. In diesen Erzählwerken nehmen idyllische Szenen besondere Funktionen ein, die je nach Fassung variieren. Diese Idyllik brachte ihm den Vorwurf der Nachahmung von Goethe und Rousseau ein. Dies wird damit bekräftigt, dass diese literarische Idyllik nicht zu Jacobis philosophischer Betrachtung der Natur passe. Im Pantheismusstreit nimmt Jacobi die Position ein, dass »Naturvergötterung in Wahrheit ein Ungedanke« sei.12 Für Jacobi ist die Natur nicht Gott, denn »wer von der Natur ausgeht, mit ihr anfängt, findet keinen Gott, er ist der Erste, oder er ist gar nicht«.13 In Jacobis Erzählwerken finden sich jedoch idyllische Szenen, die das Naturerleben als eine pantheistische Gotteserfahrung inszenieren. Bisher ist daher von einer Dissonanz im Werk Jacobis ausgegangen worden, bei der seine philosophischen Schriften den literarischen Schriften gegenübergestellt werden. Dabei werden die philosophischen Schriften aufgewertet, während seine Erzählwerke abgewertet werden.14 Diese Studie entfaltet unter besonderer Berücksichtigung einer spezifischen Form des Idyllischen, die als das Empfindsam-Idyllische bezeichnet wird, und der Denkfigur der Suffizienz eine ›neue‹ Lesart der Erzählwerke Jacobis, die in den Spätfassungen ein korrespondierendes Verhältnis von Literatur und Philosophie aufzeigt. Die vermeintliche Dissonanz wird in den Spätfassungen aufgelöst, denn die Idyllik steht dort unter einem empfindsamkeitskritischen Vorzeichen. Die idyllischen Erlebnisse ordnen sich bestimmten Entwicklungsphasen zu. Sie stellen Phasen dar, in denen die Figuren sich durch eine destruktive Ich-Zentrierung auszeichnen. Folglich können idyllische Szenen nicht mehr als Ausdruck eines verwirklichten Gleichgewichtszustands des Menschen verstanden werden, sondern verweisen genau auf das Gegenteil. Aus diesem Grund sind die empfindsamkeitskritischen Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis für die literarische Darstellung eines suffizienten Daseinszustands aufschlussreich. Ein suffizienter Daseinszustand beweist sich im Leben durch andere Menschen, sodass jegliche selbstzugeschriebenen Harmonieerlebnisse sich als Selbsttäuschungen des erlebenden Subjekts offenbaren. Ein suffizienter Daseinszustand kann nicht von einem einzelnen Subjekt erlebt oder empfunden werden, sondern demonstriert sich im Leben in Wechselverhältnissen mit sozialen und naturalen Umfeldern. Für das Thema

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Vgl. Birgit Sandkaulen: Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit. Hamburg 2019, S. 9. Vgl. Ebd. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke. Band 1,1: Schriften zum Spinozastreit. Hg. von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske. Hamburg/Stuttgart 1998, S. 348. Im Folgenden werden Jacobis Werke nach dieser historischkritischen Gesamtausgabe zitiert, die unter Angabe der Bandnummer mit JWA abgekürzt wird. Vgl. Ebd. [Anmerkung zur formalen Gestaltung dieser Untersuchung: In der zitierten Gesamtausgabe der Werke Jacobis sind Hervorhebungen oft mit Sperrungen markiert. Diese Sperrungen werden in dieser Studie als Kursivierung wiedergegeben. F. K.] Vgl. dafür ausführlich die Darstellung der Forschungslage zu Jacobis Erzählwerken im Kapitel 1 dieser Untersuchung.

Vorbemerkung

der Suffizienz haben die Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis daher eine bemerkenswerte kulturgeschichtliche Bedeutung, die es zu erschließen gilt. Friedrich Heinrich Jacobi steht als Literat und Philosoph im Fokus dieser Arbeit, da seine Werke um die Frage nach einem suffizienten Daseinszustand kreisen. Außerdem ermöglichen es seine Erzählwerke über die Disziplingrenzen hinüberzuschauen, da seine Schriften ein verwobenes Verhältnis von Literatur und Philosophie aufweisen, das in den Spätfassungen seiner Erzählwerke einen Kulminationspunkt findet. Diese Perspektive auf die Spätfassungen der Erzählwerke ist bisher unberücksichtigt geblieben. Außerdem wird dort die Frage nach einem ausgeglichenen Leben facettenreich thematisiert. In der Spätfassung des Woldemar fällt ausdrücklich der Ausdruck »Mittel-Zustand«.15 Auf den ersten Blick wird dieser ideale Zustand mit empfindsamidyllischen Szenen dargestellt, bei der eine erlebende Figur in Briefform selbst über ihre Naturerfahrungen berichtet. Diese Naturerlebnisse entlarven sich im empfindsamen Sinne als Chiffre eines Selbstgenusses. Ein bei sich selbst hängengebliebenes Erleben kann nicht ein tatsächlich bestehendes Harmonieverhältnis verschiedener Diskussionszusammenhänge beschreiben. Dies sensibilisiert dafür, dass der anvisierte Daseinszustand gerade nicht in den empfindsam-idyllischen Szenen verwirklicht ist. Sie sind Täuschungen eines Gleichgewichts, das auf einem enormen Ungleichgewicht basiert. Die Spätfassungen der Erzählwerke bedienen sich bekannter empfindsamer Themen und Darstellungsformen, weisen aber eine distanzierte Reflexionsebene auf, die eine kritische Distanz zur empfindsamen Tendenz eröffnet. Der ideale »MittelZustand« als Denkfigur eines suffizienten Daseinszustands beschreibt eine Ausgeglichenheit des einzelnen Menschen in sich selbst, mit seinen Mitmenschen und den ihn umgebenden Ressourcen.16 Dieser Zustand setzt die Überwindung eines Ich-Genusses voraus. Daher kommt den spezifischen idyllischen Szenen in den Spätfassungen die besondere Funktion zu, aufzuzeigen, dass die subjektive Überhöhung sinnlicher Wahrnehmungen keine Harmonieverhältnisse erzwingen kann. Vielmehr wird deutlich, dass diese empfindsam-idyllischen Szenen diese Daseinszustände als Bewusstseinskonstruktionen hervortreten lassen. Ein bloß selbst empfundener suffizienter Daseinszustand enthüllt sich als Konstrukt. Daraus folgt, dass ein suffizienter Daseinszustand nicht durch eine Selbstzuschreibung gesetzt werden kann, sondern er bewahrheitet sich im Leben. Der Bewährungsmaßstab ist die Moral. Das Ideal eines ausgeglichenen Lebens ist keine Askese, sondern die Realisierung von Tugend. Suffizient zu leben, bedeutet, ein tugendhafter Mensch zu sein. An dieser Stelle zeigt sich die Aktualität dieser Thematik, denn auch heute werden ein nachhaltiges Agieren und eine bewusste Lebensart moralisch aufgeladen. Diese Studie lädt dazu ein, diese Denkfiguren historisch im 18. Jahrhundert aufzuspüren. Suffizienz ist in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts politisch heikel. Sie lässt sich nicht ohne Weiteres wie Effizienz und Resilienz für ökonomische Zusammenhänge instrumentalisieren.17 Vielmehr legt sie den Fokus auf das Verantwor-

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Vgl. JWA 7,1, S. 358. Vgl. JWA 7,1, S. 358. Laura Spengler weist daraufhin, dass aus einer marktwirtschaftlichen Perspektive ›systemfunktionierende Suffizienz‹ ausschließlich auf der Seite der Nachfrage und somit bei dem individuellen

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tungsbewusstsein des einzelnen Menschen. Politisch geregelte Suffizienz wird in der Gesellschaft eines liberal-demokratischen Staats in der Regel als Konsumeinschränkung und staatliche Bevormundung aufgefasst.18 Selbst Beschränkungen zur Eindämmung des grassierenden Coronavirus wurden und werden als Eingriffe in die eigene ›Freiheit‹ aufgefasst und rufen Gegenbewegungen hervor. Suffizienz ist ein Thema, das gesellschaftspolitisch tagesrelevant ist, denn sie baut auf dem verantwortungsvollen Handeln und Verhalten des Einzelnen auf. Sie ist keine asketische Selbstbeschränkung, sondern die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse auf ein situativ angemessenes Maß zu reduzieren. Suffizienz ist in der Nachhaltigkeitsforschung ein wunder Punkt, da sie kaum mit den gesellschaftsordnenden Mechanismen des globalen Kapitalismus vereinbar ist. Eine suffiziente Lebensart hat sogar das Potenzial, diese Mechanismen teilweise stillzulegen und so das ganze System zu schwächen. Radikal betrachtet ist Suffizienz systemdestabilisierend und damit im Sinne einer wirtschaftsorientierten nachhaltigen Entwicklung, die anstrebt, ein zumindest geringes Wirtschaftswachstum beständig zu erhalten, gesellschaftspolitisch ungewollt. Da außerdem die Coronapandemie gezeigt hat, dass die heutige Gesellschaft Deutschlands als Einheit betrachtet in Fragen einer suffizienten Lebensart keine Antworten zu haben scheint, verstärkt sich zudem die Bedeutsamkeit dieser Studie. In der deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts werden suffiziente Lebensarten entworfen, die ihre Bedeutung als moralische Richtschnur einzig dadurch erhalten, dass sie in einer vergangenen Zeit für realisiert gehalten wurden, wie beim Topos vom goldenen Weltalter, oder aber man hält einen spezifischen Entwurf einer suffizienten Lebensart für zukunftsfähig und dadurch verwirklichbar, wie bei Jacobis Woldemar.19 In Jacobis spezifischem Verhältnis von Literatur und Philosophie spiegelt sich so auch das Verhältnis von Literatur und Leben wider. Die Vorstellung eines suffizienten Lebens ist kulturhistorisch durchaus für möglich gehalten worden. Mehr noch als das: Es erscheint als Telos des menschlichen Daseins, da der Mensch dann seine Möglichkeiten vollkommen ausschöpft. Die kulturgeschichtliche Ergründung von Suffizienzvorstellungen im ausgehenden 18. Jahrhundert dient heute als Rückbesinnung auf das Verantwortungsbewusstsein und die Mündigkeit des einzelnen Menschen. Diese tagesaktuelle Relevanz von Suffizienz entkräftet den Vorwurf der ›Elfenbeinturmgelehrsamkeit‹, die oftmals an die Literaturgeschichte gerichtet wird. Daher freut es mich sehr, dass die gesellschaftspolitische Relevanz dieser Untersuchung von der Stiftung Bildung und Wissenschaft des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft durch die Gewährung eines Promotionsabschlussstipendiums bekräftigt wurde. Ich widme diese Arbeit meinem Vater Reinhard Knode, der sie förderte, solange wie es ihm möglich war.

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Konsumverhalten platziert werden kann. Vgl. Laura Spengler: Sufficiency as Policy. Necessity, Possiblities and Limitations. Baden-Baden. 2019, S. 127–159, besonders S. 141f. Vgl. Felix Ekardt: Suffizienz, Politik und die schwierige Rolle des guten Lebens. In: Maximilian Becker/Mathilda Reinicke (Hg.): Anders wachsen! Von der Krise der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft und Ansätzen einer Transformation. München 2018, S. 223–240. Vgl. die Kapitel 3.3.2 und 3.3.3 dieser Untersuchung.

1 Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

Friedrich Heinrich Jacobi ist in der philosophiegeschichtlichen Forschung als ›graue Eminenz‹ der klassischen deutschen Philosophie mit Vertretern wie Fichte, Schelling und Hegel eine feste Größe.1 Jacobis Schaffen umfasst neben seinen philosophischen Schriften auch literarische Werke. In verschiedenen Fassungen erschienen die Erzählwerke Allwill (1775, 1776, 1781, 1792 sowie 1812) und Woldemar (1777, 1779, 1781, 1794, 1796 sowie posthum 1820). Diese Werke Jacobis lassen sich in eine Früh-(1775 bis 1781) und in eine Spätphase (1792 und 1796) unterteilen. Die Fassungen der von Jacobi selbst initialisierten Werkausgabe seiner Schriften von 1812 (Allwill) und 1820 (Woldemar) folgen wesentlich den Spätfassungen von 1792 (Allwill) und 1796 (Woldemar). Für beide Schaffensphasen betonen bisherige Forschungsbeiträge eine starke Vorbildfunktion von Goethes Werther und Rousseaus Julie. Diese Epigonalität wird besonders für die Naturschilderungen in den Erzählwerken Jacobis postuliert.2 Die Darstellungen von idyllischen Szenen in den Erzählwerken Jacobis wiesen pantheistische Züge3 auf und 1

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Eine vollständige biografische Darstellung Jacobis existiert bisher nicht. Über Jacobis erste Lebenshälfte informieren vor allem Heinz Nicolai und Kurt Christ ausführlich: Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965; Kurt Christ: Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits. Würzburg 1988; Kurt Christ: F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg 1998. Die zweite Lebenshälfte Jacobis ist biografisch deutlich weniger ausführlich betrachtet worden. Michael Brüggen informiert über diese, konzentriert sich diesbezüglich jedoch besonders auf Jacobis persönliche Beziehungen zu Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Michael Brüggen: Jacobi, Schelling und Hegel. In: Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16. – 19.10.1969) aus Anlaß seines 150. Todestages und Berichte. Frankfurt a.M. 1971, S. 209–236. Vgl. Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965; Kurt Christ: F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg 1998; Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008; Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010. Vgl. Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, S. 51–82.

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seien im Sinne einer ›rousseauistischen unio mystica‹ gestaltet.4 Die bisherigen Forschungsbeiträge zu Jacobis Erzählwerken zeigen auf, dass Jacobi als Literat bisher nur marginal beachtet wurde. Außerdem werden die Spätfassungen der Erzählwerke oftmals nicht als literarische, sondern als philosophische Schriften untersucht. Dies wird damit begründet, dass nur die Frühfassungen als literaturgeschichtliche Quellen zu verstehen seien.5 Dagegen zeigt diese Studie auf, dass Jacobi in seinen Erzählwerken auf eine literaturhistorische Form des Idyllischen zurückgreift, die als ein spezifisches Erzählverfahren fungiert, das in den Früh-und Spätfassungen unterschiedliche Funktionen erfüllt. Die Differenzierung der Erzählwerke Jacobis in eine frühe und eine späte Schaffensphase ist eine wesentliche Grundlegung für die weitere Untersuchung. Diese Unterscheidung ist in der Forschung bereits herausgestellt worden. Carmen Götz weist daraufhin, dass zwischen den Früh-und Spätfassungen eine mehrjährige Zeitspanne liegt und daher diese unterschiedlichen Fassungen »sowohl zeithistorisch als auch personell ihre eigenen Entstehungskontexte und auch Rezeptionshorizonte« haben.6 Der Forschung ist bisher jedoch entgangen, dass auch die idyllischen Passagen, die in den Früh-und Spätfassungen kaum Veränderungen erfahren, innerhalb dieser Fassungen distinkte Funktionen einnehmen. Für die Frühfassungen sind zwei wesentliche Entstehungs-und Rezeptionsfaktoren für die Erzählwerke Jacobis zu nennen. Der von Jacobi und Christoph Martin Wieland als Gemeinschaftsprojekt eines Kulturjournals7 initialisierte Teutsche Merkur ist für die Frühfassungen der Erzählwerke neben dem persönlichen und brieflichen Kontakt zu Goethe als wichtiger Entstehungsfaktor aufzuführen.8 So erscheinen beide Frühfassungen der Erzählwerke periodisch im Teutschen Merkur. Nur Woldemar wird in der Frühfassung in Buchform veröffentlicht und erscheint im Jahr 1779, wobei die Ausgabe des Teutschen Merkurs und die Buchausgabe des Woldemar als verschiedene

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Vgl. Kurt Christ: F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg 1998, S. 301–316. Vgl. Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, S. 83–149. Vgl. auch die Nachworte von Nicolai in den von ihm herausgegebenen Faksimileausgaben: Heinz Nicolai: Nachwort. In: Friedrich Heinrich Jacobi: Eduard Allwills Papiere. Faksimiledruck der erweiterten Fassung von 1776 aus Chr. M. Wielands »Teutschen Merkur«. Hg. von Heinz Nicolai. Stuttgart 1962, S. 113–130; Heinz Nicolai: Nachwort. In: Friedrich Heinrich Jacobi: Woldemar. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1779. Hg. von Heinz Nicolai. Stuttgart 1969, S. 1–19. Diese Betrachtungsweise findet sich für die Spätfassung des Allwill auch in aktuelleren Beiträgen. Vgl. Werner Euler: Friedrich Heinrich Jacobis philosophische Briefsammlung. In: Gideon Stiening/ Robert Vellusig (Hg.): Poetik des Briefromans. Wissens-und mediengeschichtliche Studien. Berlin 2012, S. 181–218. JWA 6, 2, S. 258. Vgl. den Sammelband: Andrea Heinz (Hrsg): »Der Teutsche Merkur« – die erste Kulturzeitschrift? Heidelberg 2003. Vgl. für die Freundschaft zwischen Jacobi und Wieland: Kurt Christ: F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg 1998, S. 182–245. Vgl. für eine ausführliche Darstellung und Interpretation der Freundschaft zwischen Jacobi und Goethe: Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

Fassungen der frühen Schaffensphase differenziert werden müssen. Nach dem Entstehen der Frühfassungen wird sich Jacobi zunächst philosophischen Schriften widmen. Nach Lessings Tod im Jahr 1781 beginnt Jacobi vermittelt über Elise Reimarus einen Briefwechsel mit Moses Mendelssohn, in dem anfänglich das von Jacobi behauptete Bekenntnis Lessings zum Spinozismus diskutiert wird.9 Im Jahr 1780 besuchte Jacobi Lessing in Wolfenbüttel, dort soll Lessing sich Jacobi gegenüber zur Philosophie des Spinozas bekannt haben. Jacobi wird das Gespräch mit Lessing und den Briefwechsel mit Moses Mendelsohn im Jahr 1785 unter dem Titel Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn veröffentlichen. Eine stark erweiterte Auflage dieses Werks erscheint 1789 und führt die philosophische Position Jacobis ausführlicher aus. Neben diesem Werk veröffentlicht Jacobi im Jahr 1787 die Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Dieses Werk enthält eine Beilage mit dem Titel Über den transzendentalen Idealismus, darin setzt sich Jacobi intensiv mit Kants Kritik der reinen Vernunft auseinander. Nach diesen philosophischen Schriften folgt eine zweite literarische Schaffensphase, bei der die Erzählwerke in ihrer Konzeption verändert und erweitert werden. Diese Betrachtungsweise der Spätfassungen der Erzählwerke gibt Jacobi selbst vor. In der Vorrede zu Eduard Allwills Briefsammlung heißt es, dass der fiktive Herausgeber der Briefsammlung »zu alt geworden [ist], um an eine Vollendung nach dem ersten Plane zu denken«.10 In der Woldemar-Fassung von 1794 ist in der vorangestellten Widmung an Goethe sogar zu lesen, dass die letzten Blätter der Frühfassung beim Lesen »einen solchen unerträglichen Nachgeschmack« hinterlassen haben, dass die Sprechinstanz gern »mit einem Zauberschlage das kleine Ungeheuer vernichtet hätte«.11 Jacobi wendet sich von seinen Frühfassungen der Erzählwerke ab, die eindeutig euphorisch empfindsame Tendenzen aufweisen und nimmt zu diesen Tendenzen eine distanzierte und reflektierte Haltung ein. Anschließend an diese Beobachtung wird die These entfaltet, dass die Spätfassungen als eine im höchsten Maß reflektierte Empfindsamkeitskritik zu verstehen sind. Jacobi stellt beiden Spätfassungen die Programmatik voran, »Menschheit, wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen zu stellen«.12 Diese Programmatik verortet die Erzählwerke in philosophischen Diskussionszusammenhängen, mit denen sich Jacobi besonders im Zuge des Spinozastreits auseinandergesetzt

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Vgl. die folgende Auswahl an Forschungsbeiträgen: Jόzef Piόrczyński: Der Pantheismusstreit. Spinozas Weg zur deutschen Philosophie und Kultur. Würzburg 2019, besonders S. 21–81; Michael Murrmann-Kahl: Der Pantheismusstreit. In: Georg Essen/Christian Danz (Hg.): Philosophischtheologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit. Darmstadt 2012, S. 93–134; Kurt Christ: Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits. Würzburg 1988, S. 151–179; Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Band 1: Die Spinozarenaissance. Frankfurt a.M. 1974, S. 136-225. Vgl. für die Funktion von inszenatorischen Praktiken in dieser Kontroverse: Claudia Stockinger: Die Ermordung Mendelssohns. Die »Morgue berlinoise« in der Debatte um Lessings Spinozismus. In: Christoph Jürgensen/ Gerhard Kaiser (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Heidelberg 2011, S. 141–173. Vgl. JWA 6,1, S. 90f. Vgl. JWA 7,1, hier S. 207. Vgl. JWA 6,1, S. 89 und JWA 7,1, S. 206f.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

hat.13 Diese Programmatik lässt ein besonderes Verhältnis von Literatur und Philosophie entstehen, das für die Spätfassungen der Erzählwerke prägend ist. Im Zuge dieser Kontroverse bespricht Jacobi das Verhältnis von Philosophie und Leben.14 Eine konsequent rational durchdachte Philosophie – eine Systemphilosophie, die alles Dasein erklärt – kann nach Jacobi innerhalb ihrer rationalen Logik nicht widerlegt werden.15 Allerdings können Widersprüche zwischen den systemphilosophischen Postulaten und der Erfahrung des tatsächlichen Lebens erfasst werden.16 Damit ist ein wesentlicher philosophiekritischer Punkt Jacobis angeführt, der deutlich in den Spinozabriefen und der Vorrede der Spätfassung des Allwill ausgeführt ist.17 Gemeint ist die Entfremdung der rationalen Systemphilosophie – wie Jacobi sie in Spinozas Ethik erblickt18 – von der ›wahren Wirklichkeit des menschlichen Daseins‹.19 Die vorangestellte Programmatik unterstreicht die Zentralisierung einer ›Lebenswirklichkeit des Menschen‹, die für die Erzählwerke Drehund Angelpunkt der Darstellung ist. In der Vorrede zu Eduard Allwills Briefsammlung heißt es daher, dass die Herausgeberinstanz, um ihre »Ueberzeugungen andern mittheilen« zu können, »darstellend zu Werke« geht.20 Vor dem Hintergrund von Jacobis Programmatik nehmen auch die idyllischen Szenen der Erzählwerke eine erkenntnis-und empfindsamkeitskritische Funktion ein. Jacobi nimmt die religionsphilosophische Position ein, dass die Natur nicht vergöttlicht werden dürfe. Die bisherigen Forschungsbeiträge behaupten, dass eine Diskrepanz zwischen Jacobis philosophischen Naturauffassungen und den idyllischen Naturschilderungen in seinen Erzählwerken mit der Nachahmung von Goethe und Rousseau begründet werden könne. Dagegen wird hier ein anderer Deutungsansatz entwickelt und vorgestellt. Die idyllischen Szenen in den Erzählwerken Jacobis lassen sich im Diskussionszusammenhang der literaturgeschichtlichen Tendenz der Empfindsamkeit verorten, sodass Ähnlichkeiten zu Goethes Werther und Rousseaus Julie anzunehmen sind und mit 13 14

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Vgl. das Kapitel 3 dieser Untersuchung. Vgl. Gerhard Höhn: Die Geburt des Nihilismus und die Wiedergeburt des Logos. F. H. Jacobi und Hegel als Kritiker der Philosophie. In: Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16. – 19.10.1969) aus Anlaß seines 150. Todestages und Berichte. Frankfurt a.M. 1971, S. 281–300. Vgl. auch: Otto Friedrich Bollnow: Die Lebensphilosophie F. H. Jacobis. Stuttgart 1966. Vgl. auch in der aktuelleren Forschung die Feststellung, dass »Jacobis Hellsichtigkeit in Fragen der Reichweite bestimmter philosophischer Grundannahmen und ihrer Konsequenzen für das Leben als Einheit von Denken und Handeln […] ihn zu einem der schärfsten Kritiker der Transzendentalphilosophie gemacht [hat]«: Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 415. Vgl. JWA 1,1, S. 28–30, 128, 290. Vgl. auch: Birgit Sandkaulen: Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit. Hamburg 2019, S. 15–31. In diesem Zusammenhang spielt die Erfahrung eine hervorgehobene Rolle in der Philosophie Jacobis. Vgl. dazu die Beilage VII der erweiterten Fassung der Spinozabriefe aus dem Jahr 1789: JWA 1,1, S. 247–265. Vgl. auch hier: Birgit Sandkaulen: Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit. Hamburg 2019, S. 15–31. Vgl. JWA 1,1, S. 29f und JWA 6,1, S. 89f. Vgl. auch den Einleitungstext des dritten Oberkapitels dieser Untersuchung. Vgl. JWA 1,1, S. 27–29. Vgl. Daniel Althof: System und Systemkritik. Hegels Metaphysik absoluter Negativität und Jacobis Sprung. Berlin 2017, S. 11–43. Vgl. JWA 6,1, S. 89.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

dem Begriff der Nachahmung umsichtiger umgegangen werden muss. Das Besondere bei Jacobis verschiedenen Fassungen seiner Erzählwerke ist die Art und Weise der Funktionalisierungen dieser idyllischen Szenen. In seinen Erzählwerken gibt es idyllische Szenen, die aus dem Erleben der Natur eine Nähe zu Gott ableiten und der Natur durchaus selbst göttliche Züge zuweisen. Genau an dieser Stelle setzt diese Studie an, denn gerade bei den Spätfassungen weisen diese Szenen eine Funktion auf, die für die vorangestellte Programmatik wichtig ist. Im Gesamtzusammenhang der Werke erscheinen pantheistisch geprägte Naturerlebnisse als szenische Visualisierungen einer subjektiven Befangenheit der erlebenden Figuren. In diesem Kontext sind die Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis für die Thematik einer suffizienten Lebensart besonders bedeutsam, da sich in der dortigen Empfindsamkeitskritik das Bild der Idylle als suffizienter Daseinszustand als ich-zentrierte Illusion auflöst. Die empfindsame Idyllik stellt seit den Idyllen Gessners von 1756 eine spezifische Art und Weise des menschlichen Daseins dar, das sich mit einem Harmonieverhältnis zur Natur und zu den Mitmenschen auszeichnet. Literarische Darstellungen eines solchen Harmonieverhältnisses sind nicht auf die Gattung der Idylle beschränkt, sondern treten gattungsübergreifend auf. Aus diesem Grund ist eine terminologische Klarheit grundlegend. In dieser Studie ist im literaturwissenschaftlichen Verständnis der Begriff der Idylle der literarischen Gattung vorbehalten. Daneben gibt es idyllische Szenen sowie Passagen in erzählenden und dramatischen Texten. Diese werden mit dem Begriff des Idyllischen beschrieben. Der Begriff Idyllik fasst Idylle und Idyllisches zusammen. Die empfindsame Idyllik bezeichnet demnach die empfindsame Idylle und das Idyllische, das im Kontext der Empfindsamkeit steht. Der Begriff des Idyllischen ist als Analyseinstrument aufgrund seiner semantischen Ungenauigkeit problematisch.21 Aus diesem Grund wird das Idyllische in einen literaturgeschichtlichen Gattungsbezug gesetzt. Die Idyllen Salomon Gessners von 1756 bieten für den literaturhistorischen Kontext der Empfindsamkeit den einschlägigen Gattungsbezug. Methodisch wird so verfahren, dass aus dieser Idyllensammlung Merkmale abgeleitet werden, die als gattungsübergreifender Merkmalskomplex das Empfindsam-Idyllische bilden. Somit ist das EmpfindsamIdyllische eine bestimmte Form des Idyllischen. Diese Form des Idyllischen ist durch eine Raum-Zustandskonstellation gekennzeichnet, bei der ein locus amoenus mit einer Glücksempfindung verbunden wird. Es ist ein konstitutives Merkmal der empfindsamen Idylle und des Empfindsam-Idyllischen, dass diese Glücksempfindung als harmonisches Gleichgewicht mit den Mitmenschen und der Natur beschrieben wird. In den Idyllen Gessners erscheint diese Raum-Zustandskonstellation als präzivilisierte Daseinsform des Menschen, während das Empfindsam-Idyllische zeitlich beschränkte Daseinszustände der Introspektion darstellt. In Anlehnung an die erzählerische Gestaltung von Gessners Idyllen ist ein weiteres konstitutives Merkmal einer empfindsamidyllischen Szene die Differenzierung verschiedener Erzählebenen. Die Schilderung einer empfindsam-idyllischen Szene geschieht ausschließlich auf einer Erzählebene, in der das erlebende zugleich auch das erzählende Subjekt ist.22 21 22

Vgl. Günter Häntzschel: Idylle. In: Harald Fricke/Georg Braungart (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 2: H-O. Berlin 2000, S. 122–125. Vgl. ausführlich das Kapitel 2 dieser Studie.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Mit dem Empfindsam-Idyllischen werden die Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis ›neu‹ gelesen, sodass es im Kontext von erzählenden Texten im Vordergrund steht. Im Fassungsvergleich der Früh-und Spätfassungen zeigt sich, dass das EmpfindsamIdyllische die entscheidenden Veränderungen des Verhältnisses zur literatur-und kulturhistorischen Tendenz der Empfindsamkeit anzeigt. Zur Einführung in die Erzählwerke Jacobis werden die wesentlichen empfindsamen Diskussionszusammenhänge erörtert, die in den bisherigen Forschungsbeiträgen zu Jacobis Erzählwerken thematisiert werden, um diese Studie in die Jacobi-Forschung einzuordnen. Die eröffneten Diskussionszusammenhänge besprechen Themenkomplexe, die eng miteinander verwoben sind. Die thematische Trennung ist ein methodisches Vorgehen, um jeweils einzelne Gesichtspunkte in den Fokus zu rücken. Gemeinsam ist diesen Elementen ihr Bezug zur literatur-und mentalitätsgeschichtlichen Tendenz der Empfindsamkeit, welche allgemein wie folgt definiert wird: Mit dem Begriffsnamen Empfindsamkeit ist ein (1) gesteigertes, (2) bewußtgemachtes, (3) positiv bewertetes und (4) genossenes Fühlen (›Gefühlskult‹), bezeichnet, das sich in deutschsprachigen literarischen Texten etwa ab 1740 (in Frankreich und England früher) gattungsübergreifend – in besonderer Weise auch in nicht-fiktiven Gattungen wie Tagebuch und Brief Geltung verschafft.23 Vierings Annäherung bestimmt die Tendenz der Empfindsamkeit als eine besondere Form des Fühlens, das zur Darstellung gebracht wird. Mit der Kontemplation des Fühlens liegt die Konzentration auf dem Inneren des Menschen. Das Innere des Menschen ist in diesem Kontext als »Relationsbegriff« zu verstehen.24 Albrecht Koschorke fasst dieses Innere des Menschen unter dem Begriff der Seele, die in diesem abstrakten Zusammenhang nicht als »ontologische Entität« zu verstehen sei, sondern eine Relation von Geist und Körper ausdrücke.25 Sie [die Seele; F. K.] läßt das, was die Sinne als bloß dingliches Faktum antreffen, ausdruckshaft werden. Sie figuriert als Fluchtpunkt eines semantischen Feldes, das die Vorhandenheit entkräftet, um im Maß ihres Verblassens Bedeutung zu generieren. Wenn die galante Vorschrift gelautet hatte, nichts zu sagen, was nicht erotisch anzüglich ist, das Reden in Richtung auf die sinnlichen Reize hin überschreitet und diese zu seinem Austragungsort macht, so lassen sich die Regeln der Empfindsamkeit als präzise Umkehrung davon formulieren. Sie verlangen, alles zu unterlassen, was nicht auf die Mortifikation des Körpers hin durchsichtig wird und einen Transzendenzzug in Richtung auf das Seelische öffnet. ›Seele‹ ist der Name einer Struktur der Durchstreichung und Absenzproduktion.26

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Jürgen Viering: Empfindsamkeit. In: Harald Fricke/Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 1: A-G. Berlin 1997, S. 438–441, hier S. 438. Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 156. Vgl. Ebd., S. 156f. Ebd.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

Koschorke grenzt galante von empfindsamer Literatur mit ihrer distinkten Beziehung zum Körperlichen ab. In galanter Literatur stehe das Körperliche im Fokus, während die empfindsame Literatur sich vehement vom Körperlichen abwende und dadurch das Seelische als Gegenposition konstituiere. Die wesentlichen sozialen Praktiken, die nach Koschorke das diskursive Phänomen des Seelischen im Zusammenhang mit der kultur-und literaturgeschichtlichen Tendenz der Empfindsamkeit erzeugen, sind das Schreiben und Lesen. Koschorke erörtert seine Verwendungsweise des Begriffs des Diskurses wie folgt: Wenn man Foucault darin folgt, daß Diskurse – in dem analytischen Sinn dieses Begriffs, der durch seinen inflationären Gebrauch häufig verwischt wird – das in ihnen verhandelte Wissen nicht vorfinden, sondern erzeugen, dann sind sie adäquat nur als soziale Praktiken zu verstehen.27 Die Aufwertung des Mediums der Schrift ließe sich nicht nur durch die umgreifende Alphabetisierung von Bevölkerungsteilen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erklären. Die Schrift werde als bedeutungstragendes Medium selbst zur Botschaft und trete ins Zentrum sozialer Praktiken. Alle Schlüsselbegriffe der empfindsamen Periode – Tugend, Seelenfülle, Sympathie, Zärtlichkeit, Freundschaft –, die sich im Rahmen der neuen bürgerlichen Sozialität entwickeln, werden vorzugsweise in schriftlichen Verkehrsformen, sei es in gedruckter Literatur, sei es mit den Mitteln von Briefwechsel und schriftlicher Introspektion, symbolisch erprobt. Die Schrift ist dabei keineswegs nur Träger von Inhalten und als Medium neutral; sie unterhält eine enge Komplizenschaft mit der Ideologie von Tugend/ Entkörperung/Seele, für die sie das Forum bietet. Allgemeiner ausgedrückt: Schriftlichkeit ist ein kommunikationstechnisches Korrelat des diskursiven Phänomens ›Seele‹.28 Koschorke untersucht daher die Schrift für das 18. Jahrhundert mediologisch und stellt die grundsätzliche Beobachtung für die Jahrhundertmitte heraus, dass »literale Kommunikation […] sich zu immer weiteren Bereichen der mündlichen Interaktion nicht mehr nur subsidiär, sondern substitutiv [verhält].«29 Diese Substitution von mündlicher Interaktion durch schriftliche Interaktion sei mit der Aufwertung der Einsamkeit verbunden. In einer oralen, selbst in einer schriftgestützten rhetorischen Kultur ist der Satz »Ich bin einsam« streng genommen nicht sagbar, weil er die Gegenwart eines Adressaten, die er leugnet, zugleich voraussetzen muss. Innerlichkeit hat hier keinen diskursiven Ort, weil es eben für die Abgewandtheit des Individuums von den Interaktionen, die sein Leben bestimmen, kein Medium gibt. Erst Schriftlichkeit in ihrer reinen Form gestattet es, Inkommunikabilität zu kommunizieren, und als solche ist sie daran beteiligt, den Boden für fundamentale Paradoxien der Sprachproduktion seit der Mitte des 18, Jahrhunderts zu legen […].30 27 28 29 30

Ebd., S. 10. Ebd., S. 196. Vgl. Ebd., S. 171. Ebd., S. 184.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Mit dem Medium der Schrift sei es möglich, Einsamkeit, Introspektion und Innerlichkeit als Themen einer Kommunikation zu schaffen. Mündliche Interaktion negiere diese Phänomene durch den Prozess der Kommunikation selbst in gewisser Weise, aber die Schrift ermögliche es, im Prozess des Kommunizierens wie beim Briefschreiben einsam, introspektiv in sich gekehrt und auf das eigene Innere fokussiert zu sein. Schrift birgt somit die Möglichkeit, Inkommunikabilität zwischenmenschlich zu artikulieren. Im 18. Jahrhundert werde die Schrift als Ausdrucksmedium entdeckt, das »die Körper darauf festlegt, absent zu sein. Sie aktiviert die Aufteilung des Menschen zwischen Geist und Körper, […] indem sie den Körper aus dem Spiel nimmt und den Geist verkehren lässt.«31 Unter diesem Vorzeichen müsse die Thematisierung von Schriftlichkeit in der Erzählliteratur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betrachtet werden. Mit dem Briefroman und der Einbettung von Briefen in Erzählwerke rücke die Eigenart des schriftlichen Kommunizierens in den Fokus, die darin liege, Innerlichkeit als »diskursiven Ort« zu konstituieren.32 Aus diesem Grund widmet sich der erste Diskussionszusammenhang dem empfindsamen Themenkomplex ›Suche nach Ausdrucksformen des Inneren‹.33 Cornelia Ortlieb und Lothar Müller sehen wie Koschorke eine starke Verbindung zwischen der Schrift als Medium und der Empfindsamkeit als literatur-und mentalitätsgeschichtlicher Tendenz. So affirmiert Ortlieb in ihrer Untersuchung die Überlegung von Müller, »dass ›Empfindsamkeit‹ in erster Linie eine ›diskursive Explosion im Prozeß der Versprachlichung und Verschriftlichung der Seele‹ bedeutet, deren ›Hauptschauplatz‹ der Briefroman« sei.34 Die Überlegungen zur Empfindsamkeit von Albrecht Koschorke, Lothar Müller und Cornelia Ortlieb treffen sich bei der Schrift als medialer Ausdrucksform für das Innere des Menschen. Müller schlägt unter diesem Vorzeichen direkt die Brücke zur Romantheorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der Briefroman thematisiere als literarische Gattung die Schrift als Kommunikationsmedium reflexiv.35 Doch neben dem Briefroman kursiert mit Christian Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman aus dem Jahr 1774 eine Romantheorie, die sich vom Briefroman abwendet, und dass obwohl auch für Blanckenburg bei dem Roman ausschließlich die »innre Geschichte« im Vordergrund steht.36 Blanckenburg führt Wielands Geschichte des Agathon in der Fassung von 1766/1767 als Muster eines Romans an und setzt ihn als wichtigen Bezugspunkt für seine romantheoretischen Ausführungen.37 Bisher marginalisiert ist die Tatsache, dass Wielands Geschichte des Agathon in

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Vgl. Ebd., S. 191. Vgl. Ebd., S. 196. Vgl. das Kapitel 1.1 dieser Studie. Vgl. Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 112f. Vgl. auch: Lothar Müller: Herzblut und Maskenspiel. Über die empfindsame Seele, den Briefroman und das Papier. In: Gerd Jüttemann/Michael Sonntag und Christoph Wulf (Hg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Weinheim 1991, S. 267–290, hier S. 267. Vgl. Lothar Müller: Herzblut und Maskenspiel. Über die empfindsame Seele, den Briefroman und das Papier. In: Gerd Jüttemann/Michael Sonntag und Christoph Wulf (Hg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Weinheim 1991, S. 267–290, hier S. 275–281. Vgl. Christian Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Leipzig und Liegnitz 1774, S. 384. Vgl. Ebd., S. 9.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

der Frühfassung auch für Jacobi Ausgangspunkt für romantheoretische Überlegungen darstellt. Wieland bezieht Jacobi neben der Suche nach Subskribenten für die zweite Fassung des Agathon auch aktiv in die Überarbeitung des Textes mit ein. Infolgedessen kommt es im Briefwechsel zwischen Jacobi und Wieland vom August bis November 1772 zu einem Austausch über den Agathon, der romantheoretische Überlegungen Jacobis enthält. Ein Diskussionszusammenhang beschäftigt sich daher mit ›Erzählformen und Romantheorie‹ und wird Jacobis Position und Verhältnis zur spätaufklärerischen Romantheorie beleuchten.38 Der dritte Diskussionszusammenhang setzt sich mit den Themenkomplexen Freundschaft und Liebe auseinander.39 Da die Themenkomplexe der Freundschaft, der Liebe und ihr Verhältnis zueinander in beiden Erzählwerken Jacobis zentral sind und sich die Auffassungen und Darstellungen von Freundschaft und Liebe zwischen den verschiedenen Fassungen unterscheiden, ist es keine Überraschung, dass dieser Diskussionszusammenhang bisher am intensivsten ausgeleuchtet wurde. Die methodischen Vorgehensweisen sind dabei vielseitig. Das Thema der Freundschaft wird bei Jacobi unter anderem moralphilosophisch kontextualisiert (Vollhardt), als Gottesbeweis ausgewertet (Heinz), als Begebenheit eines Säkularisierungsgeschehens betrachtet (Götz), als uneinlösbare Geschwisterbeziehung gedeutet (Gerlach) und als Dekonstruktion interpretiert (Sandkaulen). Bisher verweist vor allem Carmen Götz auf die Verbindung des Freundschaftsund Naturkults als verschiedene Phänomene eines Säkularisierungsprozesses. Doch damit ist die Verbindung von Freundschafts-und Naturkult im Erzählwerk Jacobis nicht erschöpft, vielmehr tritt an dieser Stelle ein Forschungsdesiderat zutage. Dies führt zum vierten und letzten Diskussionszusammenhang, der zur Kontextualisierung von Jacobis Erzählwerken eröffnet wird. Der Themenkomplex der ›Natur‹ ist bei Jacobi in den bestehenden Beiträgen als ambivalent ausgewiesen.40 Jacobi vertritt im Spinozastreit die Position, dass Gott und Natur nicht zusammengedacht werden können. Die Natur ist für Jacobi das Endliche und Bedingte, aus dem das Unendliche und Unbedingte ausdrücklich nicht rational erschlossen oder empirisch erfahren werden könne. Im Bezug zu den Erzählwerken wird das dort beschriebene Naturerleben oftmals in die Nähe einer Gotteserfahrung gerückt; sei es als pantheistisches Naturgefühl in Anlehnung an Goethe (Nicolai) oder sei es durch Merkmale des Erhabenen, das über die Sinnlichkeit hinausführe (Götz). Dies führt dazu, dass ein philosophischer Naturbegriff mit den literarischen Naturdarstellungen kontrastiert wird. Die hier vertretene These möchte vor allem im Hinblick auf die Spätfassungen zeigen, dass diese Dissonanz aufgelöst werden kann.

1.1 Suche nach Ausdrucksformen des Inneren Das Innere des Menschen ist die Summe seiner Bewusstseinsinhalte. Es umfasst alle Geisteskräfte des Menschen. Das Innere ist all das, was im Bewusstsein eines einzelnen

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Vgl. das Kapitel 1.2 dieser Untersuchung. Vgl. das Kapitel 1.3 dieser Untersuchung. Vgl. das Kapitel 1.4 dieser Studie.

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Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

der Frühfassung auch für Jacobi Ausgangspunkt für romantheoretische Überlegungen darstellt. Wieland bezieht Jacobi neben der Suche nach Subskribenten für die zweite Fassung des Agathon auch aktiv in die Überarbeitung des Textes mit ein. Infolgedessen kommt es im Briefwechsel zwischen Jacobi und Wieland vom August bis November 1772 zu einem Austausch über den Agathon, der romantheoretische Überlegungen Jacobis enthält. Ein Diskussionszusammenhang beschäftigt sich daher mit ›Erzählformen und Romantheorie‹ und wird Jacobis Position und Verhältnis zur spätaufklärerischen Romantheorie beleuchten.38 Der dritte Diskussionszusammenhang setzt sich mit den Themenkomplexen Freundschaft und Liebe auseinander.39 Da die Themenkomplexe der Freundschaft, der Liebe und ihr Verhältnis zueinander in beiden Erzählwerken Jacobis zentral sind und sich die Auffassungen und Darstellungen von Freundschaft und Liebe zwischen den verschiedenen Fassungen unterscheiden, ist es keine Überraschung, dass dieser Diskussionszusammenhang bisher am intensivsten ausgeleuchtet wurde. Die methodischen Vorgehensweisen sind dabei vielseitig. Das Thema der Freundschaft wird bei Jacobi unter anderem moralphilosophisch kontextualisiert (Vollhardt), als Gottesbeweis ausgewertet (Heinz), als Begebenheit eines Säkularisierungsgeschehens betrachtet (Götz), als uneinlösbare Geschwisterbeziehung gedeutet (Gerlach) und als Dekonstruktion interpretiert (Sandkaulen). Bisher verweist vor allem Carmen Götz auf die Verbindung des Freundschaftsund Naturkults als verschiedene Phänomene eines Säkularisierungsprozesses. Doch damit ist die Verbindung von Freundschafts-und Naturkult im Erzählwerk Jacobis nicht erschöpft, vielmehr tritt an dieser Stelle ein Forschungsdesiderat zutage. Dies führt zum vierten und letzten Diskussionszusammenhang, der zur Kontextualisierung von Jacobis Erzählwerken eröffnet wird. Der Themenkomplex der ›Natur‹ ist bei Jacobi in den bestehenden Beiträgen als ambivalent ausgewiesen.40 Jacobi vertritt im Spinozastreit die Position, dass Gott und Natur nicht zusammengedacht werden können. Die Natur ist für Jacobi das Endliche und Bedingte, aus dem das Unendliche und Unbedingte ausdrücklich nicht rational erschlossen oder empirisch erfahren werden könne. Im Bezug zu den Erzählwerken wird das dort beschriebene Naturerleben oftmals in die Nähe einer Gotteserfahrung gerückt; sei es als pantheistisches Naturgefühl in Anlehnung an Goethe (Nicolai) oder sei es durch Merkmale des Erhabenen, das über die Sinnlichkeit hinausführe (Götz). Dies führt dazu, dass ein philosophischer Naturbegriff mit den literarischen Naturdarstellungen kontrastiert wird. Die hier vertretene These möchte vor allem im Hinblick auf die Spätfassungen zeigen, dass diese Dissonanz aufgelöst werden kann.

1.1 Suche nach Ausdrucksformen des Inneren Das Innere des Menschen ist die Summe seiner Bewusstseinsinhalte. Es umfasst alle Geisteskräfte des Menschen. Das Innere ist all das, was im Bewusstsein eines einzelnen

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Vgl. das Kapitel 1.2 dieser Untersuchung. Vgl. das Kapitel 1.3 dieser Untersuchung. Vgl. das Kapitel 1.4 dieser Studie.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Menschen vorgeht. Die sinnliche Wahrnehmung gehört nur insofern zum Inneren, indem die Sinne Eindrücke in das Bewusstsein führen. Das Innere ist ein Sammelbegriff für alle Geschehen, die im Bewusstsein eines Menschen enthalten sind. Das Bewusstsein ist ›die Leinwand‹ für das mentale Dasein des Menschen. Ein innerlicher Daseinszustand beschreibt die Bewusstseinsinhalte für einen bestimmten Zeitraum. Die literaturhistorische Tendenz der Empfindsamkeit wendet sich diesem Inneren des Menschen zu. Mit dieser thematischen Zentralisierung rückt die Frage nach medialen und literarischen Ausdrucksmöglichkeiten des Inneren in den Mittelpunkt. Die Erzählwerke Jacobis wurden in der bisherigen Forschung auch als Suche nach Ausdruckformen des Inneren gelesen. Heinz Nicolai untersucht in seinem Artikel Jacobis Romane die Erzählwerke Jacobis »aus ihren eigenen historischen Bedingungen, den individuell-biographischen wie den allgemein-geistesgeschichtlichen«.41 Seine These lautet, dass Jacobi seine Erzählwerke zur Selbstaussprache nutze. Seine Erzählwerke brächten ein ›biografisches Inneres‹ zum Ausdruck. Nicolai bewegt sich mit seiner Fokussierung des Biografischen im Forschungstrend der 1960-und 1970er-Jahre und postuliert mit Blick auf Jacobis Briefwechsel mit Goethe, dass Jacobi sich durch den Kontakt zu Goethe emphatisch mit dem Geniekult auseinandergesetzt habe und einer »der typischsten Repräsentanten« der Empfindsamkeit sei.42 Aus diesem Grund nehme Goethe auch eine erhebliche Rolle für den Entstehungsprozess der Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis ein. Goethe habe Jacobi dazu ermuntert, selbst schöpferisch aktiv zu werden. So gelangt Nicolai zu der Behauptung, dass »[d]er subjektivistische Geist der Geniezeit […] sich in diesem Enstehungsprozeß [zeige]«.43 »[D]ie Bewegung des Innern, der Drang zu künstlerischer Selbstbefreiung genüg[e] als Legitimation des Schaffens«.44 Die Erzählwerke Jacobis seien Bekenntnisse seiner selbst.45 In einem Brief vom 16.06.1783 an Johann Georg Hamann gesteht Jacobi, dass der Allwill in seiner ersten Fassung von 1775 »aus bloßer Herzensangst [und] Ergießung der Seele« geschrieben worden sei.46 Nicolai hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass Jacobi dadurch die Allgegenwärtigkeit von ›Wahrhaftigkeit‹ in seinen Erzählwerken betone.47 ›Wahrhaftigkeit‹ ist Nicolai zufolge »hier nicht [als] ästhetische Kategorie, sondern [als] Ausdruck für die Unmittelbarkeit der persön-

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Vgl. Heinz Nicolai : Jacobis Romane. In: Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16. – 19.10.1969) aus Anlaß seines 150. Todestages und Berichte. Frankfurt a.M. 1971, S. 347–360, hier S. 347. Vgl. Ebd., S. 347f. Vgl. Ebd., S. 349. Ebd., S. 349. Vgl. Ebd., S. 349ff und 358ff. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel. Gesamtausgabe. Hg. von Michael Brüggen und Siegfried Sudhof. Reihe I, Band 1: Briefwechsel 1762–1775. Stuttgart 1981, S. 161–164, hier S. 163. Jacobis Briefe werden im Folgenden nach dieser historisch-kritischen Gesamtausgabe mit dem Kürzel JBW und Angabe der Reihen-und Bandnummer zitiert. Vgl. Heinz Nicolai : Jacobis Romane. In: Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16. – 19.10.1969) aus Anlaß seines 150. Todestages und Berichte. Frankfurt a.M. 1971, S. 347–360, hier S. 349. Nicolai bezieht sich hier auf Jacobis Brief an Hamann vom 16.06.1783. Vgl. JBW I,1, S. 161–164, hier S. 163.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

lichen Konfession« zu verstehen.48 Daher bediene sich Jacobi auch »der Form des Briefromans«, der »das geeignete Medium für solche bekenntnishafte Absicht« sei.49 Nicolai hebt die Frühfassungen der Erzählwerke als wichtige Auseinandersetzungen mit dem Geniekult hervor, die daher wichtige Quellen der Sturm und Drang-Bewegung seien:50 Biographisch gesehen, stellt »Allwill« eine verhüllte Auseinandersetzung mit Goethe dar, »Woldemar« eine solche Jacobis mit sich selbst. Beide Werke, vor allem freilich »Allwill«, stellen die erste große und begründete Kritik am Geiste der Geniebewegung dar, eine Kritik, der an Ernst und Tiefenschau nichts aus den literarischen Tageskämpfen der Epoche zur Seite zu stellen ist.51 Hinsichtlich der Spätfassungen der Erzählwerke gelangt Nicolai zu dem Fazit, dass »[m]an […] Jacobis Romane in ihrer Endgestalt als philosophische Texte zu lesen haben [wird]«.52 Die späteren Fassungen sind für Nicolai »Zwitter von psychologischer Erzählung und philosophischem Traktat«.53 Bei diesen Fassungen sei »[d]ie Romanfiktion […] nicht durchgehalten [und somit] die ästhetische Illusion immer wieder durchbrochen«.54 Aus literarischen Gesichtspunkten hebt Nicolai daher die Frühfassungen hervor, die als Selbstaussprache Jacobis zugleich wichtige geistesgeschichtliche Quellen seien. Auch Friedrich Vollhardt untersucht die Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis. Inzwischen haben sich die Rahmenbedingungen geisteswissenschaftlicher Forschung verändert und in den 1990er-Jahren ist der Blick über politische Grenzen hinaus besonders gern gesehen. In dem Beitrag Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau untersucht Vollhardt die Erzählwerke Jacobis vor dem Hintergrund

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Vgl. Heinz Nicolai : Jacobis Romane. In: Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16. – 19.10.1969) aus Anlaß seines 150. Todestages und Berichte. Frankfurt a.M. 1971, S. 347–360, hier S. 349. Vgl. Ebd., S. 349. Vgl die Nachworte von Nicolai in den von ihm herausgegebenen Faksimileausgaben: Heinz Nicolai: Nachwort. In: Friedrich Heinrich Jacobi: Eduard Allwills Papiere. Faksimiledruck der erweiterten Fassung von 1776 aus Chr. M. Wielands »Teutschen Merkur«. Hg. von Heinz Nicolai. Stuttgart 1962, S. 113–130, besonders S. 129f; Heinz Nicolai: Nachwort. In: Friedrich Heinrich Jacobi: Woldemar. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1779. Hg. von Heinz Nicolai. Stuttgart 1969, S. 1–19, besonders S. 19. Heinz Nicolai: Jacobis Romane. In: Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16. – 19.10.1969) aus Anlaß seines 150. Todestages und Berichte. Frankfurt a.M. 1971, S. 347–360, hier S. 354. Vgl. Ebd., S. 359. Jacobis Spätfassungen der Erzählwerke werden auch in der aktuelleren Forschung als philosophische Texte betrachtet. Vgl. dazu: Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010. Und: Werner Euler: Friedrich Heinrich Jacobis philosophische Briefsammlung. In: Gideon Stiening/Robert Vellusig (Hg.): Poetik des Briefromans. Wissens-und mediengeschichtliche Studien. Berlin 2012, S. 181–218. Vgl. Heinz Nicolai: Jacobis Romane. In: Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16. – 19.10.1969) aus Anlaß seines 150. Todestages und Berichte. Frankfurt a.M. 1971, S. 347–360, hier S. 358f. Vgl. Ebd., S. 359.

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seiner Rousseaurezeption. Nach Vollhardt stellt Rousseaus Julie für »die beiden Briefromane Jacobis […] den Problemhintergrund« bereit.55 Bei der Frühfassung des Allwill stellt er heraus, dass Jacobi sich in der sprachtheoretischen Gestaltung seines Werkes an Rousseaus zweiter Vorrede der Julie mit dem Titel Préface de Julie ou Entretien sur les romans orientiere. Jacobi übersetzt eine ganze Passage aus dieser Vorrede ins Deutsche und entwickelt seine sprachtheoretische Position, die poetologisch um die Frage nach der Möglichkeit einer sprachlichen Natürlichkeit eines polyfonen Briefromans kreist.56 Jacobis Thematisierung der zweiten Vorrede der Julie befindet sich in einer »Note«, die einem auf »den 18ten März« datierten familiären Gemeinschaftsbrief an Sylli von den Figuren Clärchen, Clerdon und Lenore als Anmerkung des Herausgebers hinzugefügt ist.57 Diese »Note«, die ein direkter kommentierender Einschub der fiktiven Herausgeberinstanz darstellt, ist in die Spätfassung von 1792 nicht mit aufgenommen worden.58 Vollhardt hebt vor allem die gezielte Verwendung eines von Jacobi übersetzten Satzes aus der zweiten Vorrede der Julie hervor, durch den »die Form und die soziale Funktion des empfindsamen Sprachgebrauchs charakterisiert« werden.59 In diesem Satz wird thematisiert, dass sich Menschen, die viel Umgang miteinander haben und zusammenleben, in ihrer Art des Denkens, des Empfindens und ihres Ausdrucks aneinander annähern.60 Der von Vollhardt hervorgehobene Satz stammt aus der zweiten Vorrede von Rousseaus Julie und befindet sich in einem Gesprächsbeitrag von der Figur des fiktiven Verlegers. Der Satz lautet im Original: »J’observe que dans une société très intime les styles se rapprochent ainsi que les caractères et que les amis, confondant leurs âmes, confondent aussi leurs manières de penser, de sentir et de dire.«61 Jacobis Übersetzung dieses Satzes weicht stilistisch und syntaktisch deutlich von der historisch bedeutsamen deutschen Julie-Übersetzung von Johann Gottfried Gellius von 1761 ab. Bei Jacobi heißt es:

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Vgl. Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin 1995, S. 79–100, hier S. 81. Jacobis Woldemar wird in der vorliegenden Studie nicht als Briefroman, sondern in der Frühfassung als Romanfragment und in den Spätfassungen als Bildungsroman betrachtet. Vgl. dazu das Kapitel 3.3 dieser Untersuchung. Vgl. Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin 1995, S. 79–100, hier S. 86ff. Vgl. JWA 6,1, S. 43. Dies deutet an, dass die Herausgeberfiktion bei den jeweiligen Allwill-Fassungen unterschiedlich gestaltet ist. Vgl. für dafür die Kapitel 3.2.1 und 4.1.1 dieser Untersuchung. Vgl. Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin 1995, S. 79–100, hier S. 85. Vgl. Ebd. Julie ou La Nouvelle Heloïse. Lettres de deux amants habitans d’une petite ville au pied des Alps. Rec. Et publ. Par Jean-Jacques Rousseaus. Introd., chronologie, bibliogr., notes et choix de variantes par René Pomeau. Paris 1960, 737–757, hier S. 755.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

Ich beobachte, daß in einer sehr innigen Gesellschaft, die Schreibarten sich einander so nähern, wie die Charaktere, und daß wie die Seelen der Freunde sich vermischen, eben so auch ihre Arten zu denken, zu empfinden, und sich auszudrücken, in einander fließen.62 Bei Gellius heißt es dagegen: Ich habe die Beobachtung gemacht, daß in einer sehr vertrauten Gesellschaft die Stile einander so nahekommen als die Charaktere und daß Freunde, wenn sie ihre Seelen vermengen, auch ihre Arten zu denken, zu empfinden und zu sprechen vermengen.63 Jacobis Übersetzung zeigt im Vergleich zu Gellius die Bemühung, möglichst nah am Original zu bleiben, während bei Gellius eine sinngemäße Übersetzung vorliegt. Dies zeigt sich bereits in der Übersetzung von »J’observe«. Jacobi behält das Präsens des Originals bei, während Gellius in die grammatische Zeitform des Perfekts wechselt. Neben diesem grammatischen Unterschied gibt es auch eine bedeutungstragende sprachliche Differenz zwischen diesen beiden Übersetzungen. Bei Gellius heißt es, »daß Freunde, wenn sie ihre Seelen vermengen, auch ihre Arten zu denken, zu empfinden und zu sprechen vermengen«. Die Subjunktion »wenn« verkompliziert das Verständnis dieser Übersetzung, da die Subjunktion in temporaler oder konditionaler Verwendung ausgelegt werden kann. In der temporalen Verwendung vermischen Freunde einer »société très intime« grundsätzlich ihre Seelen und die Subjunktion betont die Gleichzeitigkeit der Vermischung der Seelen mit der Annäherung des Denkens, des Empfindens und des Sprechens. In der konditionalen Verwendung ist die Vermischung der Seelen von Freunden einer »société très intime« ein optionales Geschehen. Die konditionale Deutung entfernt sich vom Original, daher ist Jacobis Übersetzung an dieser Stelle sprachlich präziser. Bei ihm heißt es, »daß wie die Seelen der Freunde sich vermischen, eben so auch ihre Arten zu denken, zu empfinden, und sich auszudrücken, in einander fließen«. Jacobi verwendet in seiner Übersetzung »wie« als Subjunktion und lässt hier dadurch nur eine temporale Lesart zu. In dem Moment, in dem sich die Seelen der Freunde vermischen, nähern sie sich in der Art des Denkens, des Empfindens und des Sprechens an. Diese Seelenvermischung ist ein Geschehen, das durch ein großes Maß an zwischenmenschlicher Intimität unweigerlich geschieht. Die bei Jacobi herausgestellte Natürlichkeit der gegenseitigen Annäherung einer »sehr innigen Gesellschaft« im Denken, Empfinden und im sprachlichen Ausdruck steht hier in der Funktion eines poetologischen, sprachtheoretischen Räsonnements über den polyfonen Briefroman und über gemeinschaftlich verfasste Briefe eines familiären Kreises. Wenn die einzelnen Briefe der beteiligten Figuren bewusst in der Artikulationsform sowie Wortwahl, Grad der Vertraulichkeit und den Redewendungen variieren und sich zu different gestalten, dann ist dies nicht mehr natürlich, sondern entlarvt sich als 62 63

JWA 6,1, S. 43. Vgl. für Gellius’ Übersetzung: Jean-Jacques Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. In der ersten deutschen Übertragung von Johann Gottfried Gellius nach der Edition von Rey, Amsterdam 1761. Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Reinhold Wolff. München 1988, S. 8–27, hier S. 26.

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künstlich geschaffen. Gleiches gilt für den im familiären Kreis gemeinschaftlich verfassten Brief: Die Ähnlichkeit der Ausdrucksweise ist kein ästhetischer Mangel, sondern sprachtheoretische Position. In der Frühfassung des Allwill entwirft Jacobi so in der Auseinandersetzung mit Rousseau eine empfindsame Sprachtheorie für den polyfonen Briefroman und den gemeinschaftlich verfassten Brief. In dieser Rousseaurezeption treten hinsichtlich der Frage nach Ausdrucksformen des Inneren wesentliche Aspekte der Empfindsamkeit zutage. Briefe erscheinen hier ausschließlich in einem familiären freundschaftlichen Verhältnis, sodass der kommunikative Rahmen für die Mitteilung vom Inneren gegeben ist. Diese Thematisierung des Inneren muss ›natürlich‹ sein. Das bedeutet, dass sie auf eine Art und Weise geschieht, in der sich die literarischen Briefe nicht als Fiktion darstellen, sondern auch tatsächliche Briefe sein könnten. Diese ›Natürlichkeit‹ visiert die hinzugefügte »Note« in der Frühfassung des Allwill an und baut zugleich die Herausgeberfiktion aus, wodurch abermals betont wird, dass diese Briefe nicht primär zur Veröffentlichung geschrieben wurden.64 Es zeigt sich hier, dass Jacobi sich in der Gestaltung der Herausgeberfiktion der Frühfassung des Allwill von 1776 direkt auf Rousseaus Julie bezieht. Vollhardt akzentuiert daher für die Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis zurecht, dass der Einfluss von Rousseaus Julie auf Jacobi kaum zu überschätzen sei.65 Diesem Impuls wird im Folgenden mit einem Einblick in den Briefwechsel Jacobis mit Goethe nachgegangen. Im Briefwechsel Jacobis zeigt sich gerade in einem Brief an Goethe vom 21.10.1774, dass er Rousseaus Julie sogar vor Goethes Werther priorisierte.66 In dem erwähnten Brief Jacobis an Goethe wird ein Gespräch zwischen Jacobi und Wilhelm Heinse beschrieben. Das Gespräch thematisiert Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers, der gerade Jacobis Haus erreicht hat und dort zum Lesen herumgereicht wird. Goethes Werther wird als Skandalroman aufgefasst, da dem suizidalen Protagonisten eine Amoralität zugeschrieben wird. Daher werden von Jacobi und den anderen mitlesenden Personen diffamierende Rezensionen erwartet. Für Jacobi werden diffamierende Rezensionen aber keineswegs negativ bewertet, denn den Rezensionsorganen sei zu misstrauen, da sie gerade im Bezug zur literarischen Darstellung des Inneren des Menschen unverständliche Meinungen vertreten würden. Menschlich Gefühl. Scham? Hat sich was! Erinnern Sie Sich nur der Berliner Literatur Briefe über Rousseaus Julie, und das war doch auch ein Buch, ein Buch, wahrhaftig wovon ich nicht weiß, wenn ich mir das Hirn ein wenig zurecht schüttle, ob ich es für Göthens Roman hingäbe.67

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Vgl. dazu ausführlich die Kapitel 3.2.1 und 3.2.2 dieser Untersuchung. Vgl. Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin 1995, S. 79–100, hier S. 84. Vgl. Ebd., hier S. 91f. Vgl. JBW 1,1, S. 263–266, besonders S. 264f. JBW I,1, S. 263–266, hier S. 264f. Jacobi bezieht sich hier auf die Rezension der Julie von Moses Mendelssohn vom 11.06.1761. Vgl. dazu: Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin 1995, S. 79–100, hier S. 85f.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

Am Ende des Briefes versichert Jacobi gegenüber Goethe: »Ich habe Werthers Leiden und habe sie dreimal gelesen.«68 Dennoch erscheint dieser Brief Jacobis eher als freundschaftliche Distanzierung von Goethes Werther. Jacobis zurückhaltende Haltung gegenüber Goethe ist in dem Briefwechsel der beiden eine Besonderheit. Der Briefwechsel der beiden ist gerade in dem Jahr 1774 dadurch geprägt, dass Jacobi durch eine persönliche Offenheit seine Freundschaft mit Goethe etablieren möchte.69 In diesem Brief Jacobis vom 21.10.1774 an Goethe tritt Jacobi selbst jedoch zurück und berichtet über Wilhelm Heinses begeisterte Reaktion auf Goethes Werther. Gleich bey den ersten Seiten ward ihm wunderlich. Sinn, Geist, Phantasie, Schreibart, alles war anders, als er geträumt hatte. Er äußerte Bewunderung, Freude; sehnte sich daß wir in die eigentliche Geschichte kämen, welches dann flugs geschah. […]Der arme Rost [Heinse; F. K.] ward übermannt, gerieth außer sich, sein Angesicht glühte, seine Augen thaueten, seine Brust hob sich empor; Bewunderung, Entzücken erfüllte seine Seele […]. Es ward 9 Uhr bis wir mit dem Buche fertig wurden. Der arme Rost schwankte umher, wie ein Rohr, in einer so wahrhaften Entäußerung seiner selbst, das es einen jammerte.70 Jacobi liest Heinse den Werther vor, da dieser sonst nur »ungeduldig darin hin und her rasseln und alles überpoltern würde«.71 Heinse verkörpert für Jacobi den emphatisch bis exzentrisch mitempfindenden Leser des Werther, der in rauschhafte Zustände des Mitempfindens verfällt. Jacobi benennt diese intensive Mitempfindung Heinses als »Entäußerung seiner selbst«, die zu bejammern sei. In diesem Brief fällt eine besondere Rezeptionsweise des Werther bei Jacobi auf, die der Forschung bisher entgangen ist. Diese besondere Rezeptionsweise ist es, die für seine eigenen Erzählwerke Relevanz hat. Für Jacobi scheint das Hauptaugenmerk nicht auf der unerfüllten Liebe Werthers zu liegen, sondern vielmehr scheint die Wertherfigur für einen bestimmten Menschen zu stehen, der Gott gleich Natur setzt und letztlich die Konsequenzen seiner eigenen Weltanschauung nicht erträgt. So folgt auf die Darstellung der Reaktion Heinses auf den Werther eine Schilderung eines innerlichen Erlebnisses, das wie eine pietistische Erweckungserfahrung anmutet. Gleich bey’m Erwachen heute früh fuhr mir über’s Angesicht der Schauer, von dem du weißt, wie er hinabzittert, eindringt, zum auflösenden Leben wird im Busen, und den ganzen Erdensohn tödtet. – Tod, schöner, himmlischer Jüngling! Der endliche Geist wird immer bedürfen, immer streben, erringen, sammeln und verzehren: aber wenn er nun einen Augenblick den diesseitigen Grenzen entrissen wird, von den jenseitigen noch keinen Drang fühlen kann, und im seeligen Genuß allein sein Dasein hat: o der

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JBW I,1, S. 263–266, hier S. 266. So zeugt Jacobis Brief an Goethe vom 28.06.1774 für eine persönliche Offenheit gegenüber Goethe, die über die rhetorischen Freundschaftsbekundungen der Empfindsamkeit weit hinausgeht. Vgl. JBW I,1, S. 247–250. Vgl. ausführlich für die Empfindsamkeit als rhetorisches Phänomen: Antje Arnold: Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2012. JBW I,1, S. 263–266, hier S. 264. Vgl. Ebd., hier S. 263.

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unnennbaren Wonne! Wie er da so herrlich schwebt der Liebende, ein Theil des Allgenugsamen, alles selbstständig, alles ewig mit ihm, und er ewig in allem.72 Es ist markant, dass Jacobi in dem ersten Brief an Goethe nach dem Erhalt des Werther über den »endliche[n] Geist« schreibt. Jacobi hebt in dieser Briefpassage den Geist des Menschen hervor, der in konträrer Relation zum Körper und dem damit verbundenen Sinnlichen gesetzt wird. Dieser Geist offenbart sich in einer innerlichen Erweckung, die als körperliche Todeserfahrung geschildert wird. So stirbt in Jacobis Brief der »Erdensohn«, nicht aber ›der ganze Mensch‹. Der Tod erscheint dabei als »schöner, himmlischer Jüngling« und rekurriert auf Lessings Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet. Nach Lessing werde der Tod bei Homer als Zwillingsbruder des Schlafes beschrieben, der jung und schön sei und eine erloschene umgedrehte Fackel halte.73 Der Tod wird nach Lessing in der griechischen Antike ikonografisch nicht als Gerippe oder Skelett dargestellt. Jacobi greift diese Darstellung vom Tod auf und gibt ihr eine religionsphilosophische Funktion. Neben der Darstellung des Todes als Jüngling fällt auf, dass das innerliche Erweckungserlebnis mit dem »Erwachen heute früh« zusammenfällt. Die Verbindung von Schlaf und Tod greift Jacobi auf. So wie beim Schlaf der Körper ruht und der Geist aktiv bleibt, so bleibt der Geist vital, wenn der Körper stirbt. Der Geist rückt mit der Abwesenheit des Körpers in den alleinigen Fokus des menschlichen Daseins und führt zu einer rein geistigen Empfindung von »unnennbare[r] Wonne«. Das bedeutet, dass der Körper des Menschen während des Gefühls der innerlichen Erweckung ›verlassen‹ wird, denn wenn der »endliche Geist […] den diesseitigen Grenzen entrissen wird«, hört er für »einen Augenblick« auf zu streben, zu erringen, zu sammeln und zu verzehren. Das heißt, dass jegliche Handlungstriebe, die das endliche Dasein des Menschen bestimmen, für den Moment getilgt sind. In diesem in sich selbst ruhenden Zustand offenbart sich die Überwindung des Körpers als intensiv empfundenes Dasein. Dies wertet die Bedeutung des Körpers für das eigentümliche Dasein des einzelnen Menschen ab. Aus diesem Grund ist der körperliche Tod nicht beängstigend und erscheint als »schöner, himmlischer Jüngling«, denn die innerliche Erweckung, die als ein körperliches Todeserlebnis erscheint, ist Verheißung eines von der Endlichkeit des Sinnlichen befreiten Daseins. Deswegen ist die körperliche Todeserfahrung sogar ein angenehmes Erlebnis von inkommensurabler Qualität, denn es führt zu einer Schwebe zwischen »den diesseitigen Grenzen« und den »jenseitigen«. Es ist ein Augenblick, der »im seeligen Genuß allein sein Daseyn hat« und damit ein ausschließlich geistiges Daseinserlebnis darstellt, dem in der Besonderheit dieser Erfahrung ein existenzieller Wert zugeschrieben wird. Nur im Geiste ist »alles selbstständig, alles ewig mit ihm, und er ewig in allem«. Aus dieser Briefpassage ist ersichtlich, dass Jacobis Rezeption des Werther facettenreich ist, denn als literarisches Kunstwerk begeistert der Briefroman Jacobi, doch die darin enthaltenen Anschauungen teilt er nicht. Dies baut Jacobi mit einer Schilderung von Heinse aus. Aufgrund seiner mitempfindenden und aufgewühlten Werther-Rezeption identifiziert Jacobi Heinse mit

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JBW I,1, S. 263–266, hier S. 265. Vgl. dafür bereits das Titelbild von Lessings Abhandlung: Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1767–1769. Hg. von Klaus Bohnen. Frankfurt a.M. 1985, S. 715–778, hier S. 715.

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der Wertherfigur und veranschaulicht die für ihn mit dem Werther drastisch aufgeworfene Frage nach dem, was vom einzelnen Menschen in seiner Eigentümlichkeit bleibt, wenn das sinnlich Erfahrbare ›den ganzen Menschen‹ ausmacht. Diese Fragestellung stellt sich bei Heinse und Goethes Protagonisten Werther für Jacobi wie folgt dar: Lieber, der arme Rost [Heinse; F.K.] hat kein Herz; seine Seele ist in seinem Blute; sein Feuer ist blosse Glut der Sinne. Darum hat seine Laidion mir nie recht behagen wollen; ergötzt hat sie mich ausnehmend; aber nicht gerührt, nicht erweckt, mir nicht wohl gethan.74 Diese Stelle befindet sich direkt im Anschluss an die Darstellung des Gesprächs Jacobis und Heinses über Werther. Die Aussage über Heinse und seinen Roman Laidion, der ebenfalls im Jahr 1774 erschienen ist, lässt sich als versteckte Mitteilung von Jacobis eigentlicher Position gegenüber Goethes Werther lesen. Heinse steht für die Figur des Werther. Auch Werther krankt für Jacobi daran, dass »seine Seele […] in seinem Bluthe [ist]«. Erst ist Werther von einer pantheistischen Naturauffassung mit einem innerlichen Glückszustand erfüllt, der von angenehmen sinnlichen Wahrnehmungen hervorgerufen wird. Dies wird mit idyllischen Szenen dargestellt, bei denen die Zeit still zu stehen scheint.75 Doch dann erfährt er die Kehrseite der Vorstellung von deus sive natura: Es ist die Zeit und die Frage nach dem, was im Verlauf der Zeit von der Eigentümlichkeit des einzelnen Menschen übrig bleibt. Daher ist es auch kein Zufall, dass Jacobi später in seinen philosophischen Schriften postulieren wird, dass die Philosophie Spinozas die Zeit, die eine Tatsache der menschlichen Lebenswirklichkeit ist, nicht erklären könne.76 Der prominente Satz von Werther – »Ich sehe nichts, als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.« – bringt dies auf den Punkt.77 Die Seele im Blut zu haben, ist ein Anklang an die frühneuzeitliche Spirituslehre78 und steht bei Jacobi für eine anthropologische Vorstellung, die den Körper und den Geist des Menschen als Einheit betrachtet. Mit einer solchen Vorstellung von der menschlichen Seele kann Jacobi sich nicht anfreunden. So heißt es in der Vorrede zum Allwill in der Fassung von 1792:

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JBW I,1, S. 263–266, hier S. 265. Vgl. Werthers Briefe vom 10. und 12. 05. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Studienausgabe. Paralleldruck der Fassungen von 1774 und 1787. Hg. von Matthias Luserke. Stuttgart 1999, S. 10, 12 und 14 (Fassung von 1774). Goethes Werke werden nach der historisch-kritischen Frankfurter Werkausgabe zitiert, wobei der Werther bewusst nicht nach dieser Werkausgabe zitiert wird, sondern nach der hier zitierten Studienausgabe von Matthias Luserke. Diese Ausgabe bietet einen Paralleldruck der beiden Werther-Fassungen und ermöglicht so einen gezielten Blick für die Besonderheiten der Erstfassung, die für die Werther-Rezeption Friedrich Heinrich Jacobis als Textgrundlage zugrunde gelegt werden muss. Vgl. dafür pointiert die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1,1 S. 247–265. Vgl. auch: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 133–169. Und das Kapitel 3.1 dieser Untersuchung. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Studienausgabe. Paralleldruck der Fassungen von 1774 und 1787. Hg. von Matthias Luserke. Stuttgart 1999, S. 108. Vgl. für die frühneuzeitliche Spirituslehre: Michael Sonntag: »Gefährte der Seele, Träger des Lebens«. Die medizinischen Spiritus im 16. Jahrhundert. In: Gerd Jüttemann/Ders. und Christoph Wulf (Hrsg): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Göttingen 2001, S. 165–179.

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Ich schlage demnach so fort dem Leser vor, sich unter dem Herausgeber einen Mann vorzustellen, dem es von seiner zartesten Jugend an, und schon in seiner Kindheit ein Anliegen war, daß seine Seele nicht in seinem Blute, oder ein blosser Athem seyn möchte, der dahin fährt.79 Jacobis Brief an Goethe vom 21.10.1774 entwickelt in seiner spezifischen Werther-Rezeption religionsphilosophische Betrachtungen. Das von Jacobi geschilderte innerliche Erweckungserlebnis wird fast wörtlich in einem Brief an Wieland vom 13.11.1774 wiederholt80 und findet in leicht abgewandelter Form Eingang in alle drei Allwill-Fassungen (1775, 1776 und 1792). Es befindet sich im Brief Clerdons an Sylli, der in allen drei Fassungen auf den 8. März datiert ist.81 Im Anschluss an Goethes Werther stellt sich für Jacobi die Frage, wie ein Mensch wie Werther aus seiner zwanghaften und in vielerlei Hinsicht gefährlichen Ich-Zentrierung herausgeholt werden kann. Die Frühfassungen deuten Antworten darauf lediglich an. Erst in den Spätfassungen werden klare Entwicklungen des Inneren beschrieben. Es deutet sich in Jacobis Werther-Rezeption im Jahr 1774 bereits an, dass sich Jacobi in besonderer Weise für das Verhältnis vom Inneren des Menschen zu einer außerhalb des Bewusstseins liegenden Wirklichkeit interessiert. Mit diesem Blick in den Briefwechsel Jacobis wurde gezeigt, dass seine Werther-Rezeption von religionsphilosophischer Bedeutung ist und er ein besonderes innerliches Erlebnis schildert, das als Werther-Kritik erscheint. Jacobis Erzählwerke ahmen den Werther und auch Rousseaus Julie nicht nach, sondern greifen Diskussions-und Problemzusammenhänge auf. Diese Perspektive von Textaneignung und Anknüpfung führt Cornelia Ortlieb ausführlich aus. Sie bearbeitet mit ihrer Habilitationsschrift Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart, die im Jahr 2010 veröffentlicht wurde und so in einer Zeit entstanden ist, in der disziplinübergreifendes Forschen besonders gefördert wurde, die interdisziplinäre Schnittstelle von Literatur und Philosophie, die sich gerade bei Jacobi als Forschungsgebiet nahezu aufdrängt. Ihre Studie konzentriert sich auf die Untersuchung von Schreibprozessen und Verfahrensweisen des Schreibens bei Jacobi, die nach Ortlieb »eine neuartige Form philologischer Gewissheit« implizieren.82 Ihre Untersuchung visiert an, zu zeigen, »das Schreiben eine Bewegung ist, die sich je individuell und zugleich mit einer Art Eigengesetzlichkeit vollzieht«.83 Diese Perspektive führt Ortlieb dazu, im eigentlichen Sinne des Wortes ›neben‹ die Texte Jacobis zu schauen, denn »Anstreichen, Anmerken, Überschreiben, Notieren und Revidieren [seien] Tätigkeit[en] der Hand[, die] nicht darauf angelegt [seien], Denkvorgänge, die andernorts vorausgegangen sind, abzubilden und aufzuzeichnen«.84 Vielmehr sei durch diese Aktionen »darstellbar geworden«, was »im Moment der Dar-

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JWA 6,1, S. 88. Vgl. JBW I,1, S. 269f. Vgl. JWA 6,1, für die Frühfassungen S. 17–22, hier S. 17f und für die Spätfassung S. 108–113, hier S. 108f. Vgl. Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 7–28, hier S. 27. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

stellung hervorgebracht« werde.85 Das Schreiben wird daher bei Ortlieb als Denkprozess untersucht. Durch diese methodische Vorgehensweise sei »Jacobis Verfahren« des Philosophierens »zunächst einmal Schreibart, also die idiosynkratische Bündelung von Schriften«.86 In Anlehnung an Klaus Hammacher versteht Ortlieb Jacobis Philosophie daher im Medium der Schrift »als eine Philosophie des Dialogs und des Dialogischen«.87 Durch ihre Darstellung der Textaneignung Jacobis zeigt Ortlieb, dass die Einschätzung, Jacobi »habe es durchweg nicht nur an Verständnis des anderen, sondern zudem an Originalität des eigenen Denkens fehlen lassen«, revidiert werden muss.88 Vielmehr konstituiere und affirmiere Jacobi seine eigene Position im Abgleich mit anderen Schriften, wobei die intensive Aneignung des ›fremden‹ Textes ein wesentlicher Denkschritt sei, der sich in der schriftlichen Bearbeitung dieser Texte zeige.89 Aus diesem Grund sei die Lektüre von Figuren ein häufiges Thema in den Erzählwerken, die Ortlieb als »[e]ine Art säkulare Heilsgeschichte« versteht.90 In den Erzählwerken würden sich die »wichtigsten Argumente gegen die Transzendentalphilosophie [und] die spätere FichteKritik Jean Pauls« antizipieren.91 Das gewichtigste Argument sei die »Vernachlässigung des Anderen«.92 Dies sei die Setzung »des Ichs als selbstermächtigender und selbstherrlicher Akt«.93 Nach Ortlieb stellen die Erzählwerke Jacobis eine Gegenposition zu der Annahme dar, dass das Ich sich selbst setzen könne und »nicht erst im Anderen erfahren und durch diesen konstituier[t]« werde.94 Eine solche Verabsolutierung des menschlichen Ichs führe zu der Frage nach dem Zusammenhang von Gott als einer transzendenten Instanz und dem menschlichen Ich. Wenn das Ich sich selbst setzt und solipsistisch geprägt ist, welche Funktion und Relation hat dann Gott zu diesem sich selbst setzenden Ich?95 Laut Ortlieb zeigen die Erzählwerke, dass sich das Ich des Menschen nicht selbst setzen könne, sondern ausdrücklich ein Gegenüber zur eigenen Konstitution bedarf: Die Entfaltung der selben Denkfigur lässt sich wiederum unschwer in den Anordnungen der Kreise und Paare in den beiden Romanen erkennen. Auch hier scheint sich gerade die problematische Persönlichkeit eines Allwill und Woldemar, ebenso allerdings die ›schöne Seele‹ des tugendhaften Mädchens, der engelhaften erwählten Schwester oder Braut, erst im Anderen zu bilden und zu erkennen. Als umgekehrte Entwick85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 7–28, hier S. 8f. Vgl. auch. Klaus Hammacher: Kritik und Leben II. Die Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis. München 1969. Vgl. Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 7–28, hier S. 7. Vgl. für eine Detailanalyse dieses Aspekts: Ebd., S. 309–414. Vgl. Ebd., S. 7–28, hier S. 9. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. dazu ausführlich auch unter Berücksichtigung von Jacobis Fichte-Kritik: Christian Danz: Der Atheismusstreit um Fichte. In: Georg Essen/Christian Danz: Philosophisch-theologische Streitsachen: Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit. Darmstadt 2012, S. 135–214.

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lungsromane zeigen sowohl der Briefroman Allwill als auch sein unförmiger Zwilling Woldemar wie nicht das Ich die bekannten Stationen durchlaufen muss, um sich in der Welt selbst zu finden, sondern wie der selbstgewählte Mikrokosmos der häuslichen und freundschaftlichen Geselligkeit von diesem Ich einverleibt werden muss, damit es sich selbst zu bilden vermag. Im nie ermüdenden Gespräch und in dessen Derivat, dem Brief, der allerdings möglichst persönlich überbracht und in jedem Fall den Freunden und Verwandten vorgelesen werden muss, knüpfen sich hier Beziehungen, die ihren einzigen Zweck im Knüpfen von Beziehungen zu haben scheinen, ständig gefährdet von Momenten der Täuschung und Selbsttäuschung, des Irrtums und Verrats.96 Im Fokus stehe die Integration der Protagonisten in die zwischenmenschliche Gemeinschaft der Familie, denn diese nehmen die ›Störenfriede wider Willen‹ Allwill und Woldemar auf. Im Spiegel der Familie würden diese ihr ›wahres Ich‹ erkennen und zu einer tieferen Selbsterkenntnis gelangen.97 Für diesen Erkenntnisprozess erfülle das Medium der Schrift eine erhebliche Funktion. Jacobis Allwill reflektiere durch die Gattung des Briefromans bereits die Schrift als Kommunikationsmedium. Die Vorrede der Spätfassung des Allwill von 1792 entwerfe zudem im Kontext »einer Strategie der Beglaubigung, die längst die Vorzeichen gewechselt hat«, eine Herausgeberfiktion, die zu einer Inszenierung von Autorschaft geworden sei.98 Die Briefe betrachtet Ortlieb gerade nicht als Ausdrucksform von natürlicher Innerlichkeit, sondern verdeutlicht, dass beim Schreiben über innerliche Regungen immer schon eine Reflexion von diesen mitschwingt. Beim Allwill werde dies bei den Briefen von Sylli besonders deutlich, denn ihre »Briefe dürfen […] nicht als Dokument einer eben sich formierenden Innerlichkeit gelesen werden, sondern entlarven eine solche Illusion der möglichen Dokumentation innerer Regungen als Effekt von Zitat und Lektüre«.99 Im Anschluss an die Überlegungen von Lothar Müller zeigt Jacobis Allwill für Ortlieb, dass »›Empfindsamkeit‹ in erster Linie eine »diskursive Explosion im Prozeß der Versprachlichung und Verschriftlichung der Seele« bedeutet, deren »Hauptschauplatz« der Briefroman ist«.100 Das bedeute, dass in dem empfindsamen Briefroman Allwill der verborgene Schwerpunkt Verfahrensweisen des Schreibens über das Innere des Menschen sei. Letztlich lassen sich Ortliebs Überlegungen zum Allwill abstrakt als Suche nach einer medialen Ausdrucksform für das In-

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Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 7–28, hier S. 9. 97 Ortliebs Formulierung »umgekehrte Entwicklungsromane« beschreibt einen spezifischen Selbsterfassungsprozess. Diese Perspektive auf das Entwicklungsgeschehen der Protagonisten der Erzählwerke wird geteilt, aber aus zu entfaltenden Gründen anders benannt. Beide Erzählwerke – Woldemar aber eindeutiger – stellen gerade in Spätfassungen eine Vorstellung von Bildung vor. Vgl. dazu das Kapitel 3.2.3 und 3.3.3 dieser Untersuchung. 98 Vgl. Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 95–131, hier S. 99. Vgl. für die ausführliche Besprechung dieser Vorrede das Kapitel 3.2.1 dieser Studie. 99 Vgl. Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 133–155, hier S. 150. 100 Vgl. Ebd., S. 95–131, hier S. 113. Vgl. auch: Lothar Müller: Herzblut und Maskenspiel. Über die empfindsame Seele, den Briefroman und das Papier. In: Gerd Jüttemann/Michael Sonntag und Christoph Wulf (Hg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Weinheim 1991, S. 267–290, hier S. 267.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

nere zusammenfassen. Da der Brief als Kommunikationsmedium wiederum an das Zeichenmedium der Schrift geknüpft sei, spiele das Erzählwerk verschiedene ›Schreibarten‹ durch. Vor diesem Hintergrund untersucht Ortlieb Jacobis Woldemar im Hinblick auf Zeichen des Vertrauens. Im Gegensatz zum Allwill thematisiere der Woldemar auch physisch-körperliche Zeichen. Physisch-körperliche Zeichen müssen aber genauso wie Schriftzeichen ausgelegt werden, um den anderen zu verstehen, denn von »ein[em] gelingende[n] Zeichengebrauch« hänge eine »tiefe[], innere[] und unmittelbare[] Einsicht« in den Anderen ab.101 Ortlieb liest Jacobis Woldemar als Darstellung gelingender Zeichenverwendung, die aber aufgrund von Veränderungen im Wissensverhältnis zwischen den Figuren Woldemar und Henriette zu einem misslingenden Zeichengebrauch wird. Dies zeige, dass die Deutung von körperlichen Zeichen an verschiedene Wissenszustände der Figuren gebunden sei. Woldemar beginne Henriette anders zu betrachten, als er von ihrem Gelübde gegenüber ihrem Vater erfährt, dass sie nie seine Frau werde. Das ihr entgegen gebrachte Vertrauen sei gebrochen. Woldemar stelle fest, dass er für Henriette nicht das sei, was er glaubte für sie zu sein. Auf diese Weise werde die Frage aufgeworfen, wie sich ein Mensch grundsätzlich der Gefühle anderer versichern könne, wie die Liebe oder die Freundschaft des Anderen wirklich erfasst werden könne. Mit dem Wissen des Gelübdes ändere sich Woldemars Betrachtung von Henriette, weil sich seine Einschätzung ihrer Gefühle ihm gegenüber als Täuschung entlarve.102 Woldemar deutet Henriettes Körpersprache und Mimik, ja selbst ihre gesprochenen Worte von diesem Zeitpunkt an, so als wären sie gegen ihn gerichtet. Erst wenn am Ende (bezogen auf die Spätfassungen) mit Woldemars Briefversuchen an seine Ehefrau Allwina die Schrift als Zeichen-und Kommunikationsmedium zwischen Henriette und Woldemar eingeführt werde, führe dies zum Verständnis des Anderen und zur Wiedervereinigung.103 Im Anschluss an Ortliebs Überlegungen lässt sich feststellen, dass Jacobis Erzählwerke im Kommunikationsmedium des Briefes und dem Zeichensystem der Schrift Ausdrucksformen des Inneren ergründen.

1.2 Romantheorie und Erzählformen Die Suche nach Ausdrucksformen des Inneren zeigt sich auch in romantheoretischen Ansätzen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bestimmte Formen des Erzählens eignen sich im Besonderen für die Darstellung des Inneren. Helmut Schanze untersucht die Frühfassung des Allwill aus dem Jahr 1776.104 Schanze stellt in diesem Beitrag aus

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Vgl. Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 95–131, hier S. 125. 102 Vgl. Ebd., hier S. 126–131. 103 Vgl. Ebd. 104 Vgl. Helmut Schanze: Jacobis Roman »Eduard Allwills Papiere«. Eine formgeschichtliche Analyse. In: Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16. – 19.10.1969) aus Anlaß seines 150. Todestages und Berichte. Frankfurt a.M. 1971, S. 323–335.

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nere zusammenfassen. Da der Brief als Kommunikationsmedium wiederum an das Zeichenmedium der Schrift geknüpft sei, spiele das Erzählwerk verschiedene ›Schreibarten‹ durch. Vor diesem Hintergrund untersucht Ortlieb Jacobis Woldemar im Hinblick auf Zeichen des Vertrauens. Im Gegensatz zum Allwill thematisiere der Woldemar auch physisch-körperliche Zeichen. Physisch-körperliche Zeichen müssen aber genauso wie Schriftzeichen ausgelegt werden, um den anderen zu verstehen, denn von »ein[em] gelingende[n] Zeichengebrauch« hänge eine »tiefe[], innere[] und unmittelbare[] Einsicht« in den Anderen ab.101 Ortlieb liest Jacobis Woldemar als Darstellung gelingender Zeichenverwendung, die aber aufgrund von Veränderungen im Wissensverhältnis zwischen den Figuren Woldemar und Henriette zu einem misslingenden Zeichengebrauch wird. Dies zeige, dass die Deutung von körperlichen Zeichen an verschiedene Wissenszustände der Figuren gebunden sei. Woldemar beginne Henriette anders zu betrachten, als er von ihrem Gelübde gegenüber ihrem Vater erfährt, dass sie nie seine Frau werde. Das ihr entgegen gebrachte Vertrauen sei gebrochen. Woldemar stelle fest, dass er für Henriette nicht das sei, was er glaubte für sie zu sein. Auf diese Weise werde die Frage aufgeworfen, wie sich ein Mensch grundsätzlich der Gefühle anderer versichern könne, wie die Liebe oder die Freundschaft des Anderen wirklich erfasst werden könne. Mit dem Wissen des Gelübdes ändere sich Woldemars Betrachtung von Henriette, weil sich seine Einschätzung ihrer Gefühle ihm gegenüber als Täuschung entlarve.102 Woldemar deutet Henriettes Körpersprache und Mimik, ja selbst ihre gesprochenen Worte von diesem Zeitpunkt an, so als wären sie gegen ihn gerichtet. Erst wenn am Ende (bezogen auf die Spätfassungen) mit Woldemars Briefversuchen an seine Ehefrau Allwina die Schrift als Zeichen-und Kommunikationsmedium zwischen Henriette und Woldemar eingeführt werde, führe dies zum Verständnis des Anderen und zur Wiedervereinigung.103 Im Anschluss an Ortliebs Überlegungen lässt sich feststellen, dass Jacobis Erzählwerke im Kommunikationsmedium des Briefes und dem Zeichensystem der Schrift Ausdrucksformen des Inneren ergründen.

1.2 Romantheorie und Erzählformen Die Suche nach Ausdrucksformen des Inneren zeigt sich auch in romantheoretischen Ansätzen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bestimmte Formen des Erzählens eignen sich im Besonderen für die Darstellung des Inneren. Helmut Schanze untersucht die Frühfassung des Allwill aus dem Jahr 1776.104 Schanze stellt in diesem Beitrag aus

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Vgl. Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 95–131, hier S. 125. 102 Vgl. Ebd., hier S. 126–131. 103 Vgl. Ebd. 104 Vgl. Helmut Schanze: Jacobis Roman »Eduard Allwills Papiere«. Eine formgeschichtliche Analyse. In: Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16. – 19.10.1969) aus Anlaß seines 150. Todestages und Berichte. Frankfurt a.M. 1971, S. 323–335.

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dem Jahr 1971 seine These vor, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts »[d]ie Zeitschriftenform […] die neue Romanform [inauguriert]«.105 Schanzes Beitrag entsteht unter Forschungsbedingungen, die ein Augenmerk auf die eigene nationale Geschichte legen. Mit dem Aufkommen von Zeitschriftenformen, wie dem des Teutsche[n] Merkur[s], sieht Schanze die Herausbildung einer »neuen Form des Erzählens«, die mit einer ›neuen‹ Form des Romans einhergehe, die »sich absetzt vom Handlungsroman«.106 Der thematische Fokus dieser Forminnovationen müsse im Kontext von Christian Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman verstanden werden und lege den Schwerpunkt auf das Innere des Menschen.107 Schanzes Untersuchungsschwerpunkt liegt auf der Herausgeberfiktion der Allwill-Fassung von 1776. Es sei bedeutend für die Herausgeberfiktion dieses Erzählwerks, im Teutschen Merkur veröffentlicht worden zu sein. Wieland fügt dort dem Allwill auf dem Titelblatt eine Anmerkung hinzu. Laut Schanze hat diese Anmerkung Wielands eine erhebliche Bedeutung für die Gestaltung der Herausgeberfiktion, die dadurch ein »Fiktionsgeflecht« aufweise.108 Dieses »Fiktionsgeflecht« unterstreiche die »Beglaubigung von Realität«, die im Sinne der Authentifikationsprogrammatik der Herausgeberfiktion mit den folgenden Briefen abgebildet werde.109 Die Herausgeberfiktion des Allwill von 1776 sei besonders, da neben dem fiktiven Herausgeber Wieland als der ›reale‹ Herausgeber des Teutsche[n] Merkur[s] auftrete und die Briefe als ›wirkliche‹ Briefe beglaubige. Diese duplizierte Beglaubigungsfiktion sei an das Publikationsmedium der Zeitschrift gebunden. Hier zeigt sich, dass die ältere Forschung innerhalb der nationalsprachlichen Grenzen bleibt und für das Thema einer literaturästhetischen Hinwendung zu einer Natürlichkeit des Lebens hier Wieland hervorhebt und die Bedeutung der Rousseaurezeption unberücksichtigt bleibt. Für Schanze zeigt Jacobis Allwill in der Fassung von 1776, die im Teutschen Merkur veröffentlicht wurde, vielschichtige Erzählformen einer Herausgeberfiktion als Beglaubigungsstrategie. Beglaubigt wird, dass die folgenden Briefe des Erzählwerks tatsächlich aus dem Leben genommen sind und damit menschliche Lebenswirklichkeit abbilden. An dieser Lebenswirklichkeit interessiert vor allem das Innere der beteiligten Personen. Diese Beglaubigungsstrategie ist eine entscheidende Erzählform für empfindsame Texte, da mit ihr ein ›Wahrheitsanspruch‹ einhergeht. Dieser Anspruch ermöglicht es, dass das Dargestellte intensiv mitempfunden und miterlebt wird. Diese empfindsame Briefsammlung Jacobis vermittelt innerliche Zustände der Figuren, die durch die Empfindungen beim Lesen selbst erfahren und erlebt werden sollen. Die Beglaubigungsstrategie, die Briefe als gesammelte wirkliche Briefe zu deklarieren, ermöglicht dieses Erleben. Es ist der Gedanke, dass das Dargestellte wirklich jemandem passiert ist und das innerlich Erlebte tatsächlich jemand durchlebt hat, der letztlich auch Goethes Briefroman Werther so erfolgreich machte. Der Anspruch auf Beglaubigung ist ein Topos empfindsamer Texte, der eine enorme Bedeutung trägt und auf eine literaturgeschichtlich markante Veränderung in der Betrachtung von Literatur hinweist.

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Vgl. Ebd., S. 324. Vgl. Ebd., S. 326f. Vgl. Ebd., S. 326f. Vgl. Ebd., S. 324. Vgl. Ebd.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

Auch Klaus Hammacher, der durch die Erforschung von Jacobis philosophischen Schriften ein ausgewiesener Jacobi-Forscher ist, setzt sich mit seinem Beitrag Jacobis Romantheorie mit den Erzählwerken auseinander und beschäftigt sich mit der romantheoretischen Hinwendung zum Inneren. Hammacher fasst mit diesem Beitrag ins Auge, eine Romantheorie Jacobis zu rekonstruieren. Diesbezüglich geht er methodisch so vor, »daß die Konzeption gezeigt werden soll, die man in Jacobis ausgeführten Romanen Allwill und Woldemar erkennen kann«.110 In Jacobis Programmatik »Daseyn zu enthüllen« und »Menschheit, wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich auf das gewissenhafteste vor Augen zu legen« sieht Hammacher einen Bezug zu Christian Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman von 1774.111 Nach Hammacher sei der anthropologische Fokus eine wesentliche Gemeinsamkeit. Blanckenburgs »entblößte Menschheit« gehe konform mit Jacobis »Menschheit, wie sie ist«.112 Der grundlegende Bezugspunkt des Menschseins sei ein zu entdeckendes Inneres. Jacobi bewegt sich laut Hammacher mit seiner Programmatik im Trend des spätaufklärerischen romantheoretischen Diskussionszusammenhangs, denn der Roman sei ein Versuchsfeld für die Darstellung des Inneren des Menschen in all seinen Dynamiken, um »den Charakter der verschiedenen Menschen [zu] fassen«.113 Eine wichtige Differenz zwischen Blanckenburgs Romantheorie und Jacobis Programmatik sei jedoch, dass die Darstellung des ›wahrhaftigen‹ Menschseins bei Jacobi unweigerlich zugleich zu seinen Erkenntnisgrenzen führe. Hammacher sieht bei Blanckenburg dagegen »eine quasi kausal-psychologische Erklärung« des Inneren, während bei Jacobi der Mensch »in der Selbstbetrachtung der pietistisch geschulten Introspektion« im Fokus stehe.114 Hammacher sieht diese Schwerpunktsetzung im Falle des Allwill bei Jacobi in Form des Briefromans bestätigt, von dem sich Blanckenburg distanziere.115 Eine wichtige Differenz zu Blanckenburg werde im Titel der ersten Buchfassung des Woldemar eröffnet. Das Innere des Menschen sei gerade in den 1770er Jahren für Jacobi noch mit dem Begriff der Natur verbunden.116 Dies erschließe Jacobis Verständnis vom »Forscher« der »Naturgeschichte des Menschen«117 und somit auch den Titel der ersten Buchfassung des Woldemar, der [e]ine Seltenheit aus der Naturgeschichte ankündigt.118 Hammacher stellt heraus, dass Jacobi in einem Brief an Johann Albert Heinrich Reimarus vom 23.10.1781 sich von dem Roman »als Darstellung exemplarischer Situationen für moralische Belehrung« distanziere.119

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Vgl. Klaus Hammacher: Jacobis Romantheorie. In: Walter Jaeschke/Helmut Holzhey (Hg.): Früher Idealismus und Frühromantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805). Hamburg 1990, S. 174–189, hier S. 174. Dieses methodische Vorgehen von Hammacher ist fragwürdig. Vgl. Ebd., S. 176. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 177. Vgl. Ebd., S. 179. Vgl. Ebd., S. 177. Vgl. Jacobis Brief an Hamann vom 16.06.1783: JBW I,3, S. 161–164, hier S. 163. Vgl. Klaus Hammacher: Jacobis Romantheorie. In: Walter Jaeschke/Helmut Holzhey (Hg.): Früher Idealismus und Frühromantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805). Hamburg 1990, S. 174–189, hier S. 177f. Vgl. Ebd.

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Mit Blick auf die Schriften Jacobis sei auffällig, dass die Programmatik der Zuwendung zur Natur im Sinne von ›wahrhaftigem‹ Menschsein für die Früh-und Spätfassungen Gültigkeit habe.120 Doch erst mit der der Spätfassung des Woldemar läge der Fokus darauf, einen »dramatischen Roman« zu entwerfen, bei dem die inneren Bewegungen der Figuren nachgezeichnet würden.121 Ein Beitrag, der sich dezidiert mit Erzählformen der Erzählwerke Jacobis auseinandersetzt und auch zwischen den Fassungen wesentliche Veränderungen der Konzeption und der Erzählformen herausstellt, stammt von Jutta Heinz mit ihrer Dissertationsschrift Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Heinz verfolgt das Forschungsziel, eine besondere Gattung des spätaufklärerischen Romans zu beschreiben. Diese Romangattung bediene sich bestimmter narrativer Vermittlungstechniken sowie Handlungsschemata, um mit dem Roman literarische Anthropologie zu betreiben.122 Zur Einführung in ihr Kapitel zu Jacobis Woldemar diskutiert Heinz die beiden Rezensionen Friedrich Schlegels (1796) und Wilhelm von Humboldts (1794). Schlegel kritisiere die erzählerische Darstellungsart vehement, während Humboldt gerade die prominent gesetzten Gespräche als gelungenes Erzählverfahren hervorhebe.123 Diesem konträren Befund in der Rezeption der Spätfassungen des Woldemar geht Heinz weiter nach. In ihrer auf die Anthropologie fokussierten Betrachtungsweise versteht sie Jacobis Früh-und Spätfassungen des Woldemar als Werke der Empfindsamkeitskritik. Im Vordergrund stehen ihre beiden Thesen, dass in der Frühfassung die Freundschaft von Woldemar und Henriette als metaphysischer und in der Spätfassung als anthropologischer Gottesbeweis erscheine.124 Heinz führt zu der Frühfassung aus, dass im ersten Brief Woldemars »Werthersche Naturerlebnisse« aufzufinden seien und Woldemar durch diesen Brief »die Szenerie des Romans ganz im Gestus des Sturm und Drang-Genies« betrete.125 Der Enthusiast Woldemar werde mit der schönen Seele Henriette konfrontiert und ihre Freundschaft als Seelenverwandtschaft stilisiert. Diese seelische Freundschaft erfülle für Woldemar die Funktion, seine metaphysischen Überzeugungen im Leben zu bestätigen. Woldemars Schwärmerei besteht demnach weder in seinen enthusiastischen Grundansichten über die moralischen Kompetenzen des Menschen – solange sie an konsens120 Vgl. Ebd., S. 178f. 121 Hammacher visiert an, seine Beobachtungen und Thesen mit der romantheoretischen Methodik von Franz Karl Stanzel zu untermauern. Er sieht in Jacobis Woldemar eine personale Erzählsituation nach Stanzel. In dieser Untersuchung wird die Erzähltheorie Gerard Genettes zur Analyse verwendet. Kritisch angemerkt sei an dieser Stelle jedoch, dass eine erzähltheoretische Analyse zu dem Resultat gelangen muss, dass Jacobis Woldemar in den Früh-und Spätfassungen in Stanzels Erzählmodell der auktorialen Erzählsituation zugeordnet werden müsste. Dies wird damit belegt, dass die Erzählinstanz der extradiegetischen Ebene im Woldemar nicht figurengebunden ist und einen Überblick mit verschiedenen Einsichten in das Innere unterschiedlicher Figuren aufweist. Vgl. für die Erzählanalyse des Woldemar das Kapitel 3.3 plus dieser Untersuchung. 122 Vgl. Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin 1995, S. 123–164. 123 Vgl. Ebd., S. 187–191, besonders S. 189. 124 Vgl. Ebd., S. 187–213. 125 Vgl. Ebd., S. 193.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

fähigen ethischen Zielen orientiert bleiben und nicht der Erhebung des Subjekts dienen – noch in seiner emphatischen Freundschaftsbeziehung zu Henriette – solange er diese nicht zur metaphysischen Beweisfigur funktionalisiert. Schwärmerei ist vielmehr – ganz übereinstimmend mit den dargestellten Befunden der spätaufklärerischen Schwärmerdebatte[] – Woldemars Versuch, seine metaphysischen Grundsätze überhaupt empirisch beweisen zu wollen; mehr noch, durch diesen Beweis die omnipräsente Vergänglichkeitsbedrohung zu transzendieren.126 Woldemar sei durch sein Begehren, in der Empirie des Lebens metaphysische Überzeugungen beweisen zu wollen, als Schwärmer zu betrachten. Das Handlungsschema der Frühfassung des Woldemar gestalte sich daher ganz im Sinne der spätaufklärerischen Schwärmerkur.127 Dabei hebt Heinz hervor, dass diese Kur ein innerliches Geschehen sei, das daher narrativ besonders vermittelt werde: Der Erzähler betont immer wieder die prinzipielle Unmöglichkeit, Szenen von hoher Gefühlsintensität zu »malen« – ein Problem, mit dem bekanntermaßen alle empfindsamen Romane zu kämpfen haben. Anschaulichere Möglichkeiten der Darstellung von Innerem bietet hier traditionell das Mittel des eingeschobenen Briefes. So nehmen auch im ›Woldemar‹ neben den berichtenden und summierenden Erzähler-Passagen direkte Äußerungen der Figuren, vor allem Woldemars, einen breiten Raum ein: Vier Briefe Woldemars werden einbezogen, die oben zitierte Antwort Biederthals sowie Woldemars tagebuchähnliche Aufzeichnungen aus Pappelwiesen, die er die »Schatten seiner abgeschiedenen Stunden« […] zu nennen pflegt. Gegenüber diesen konventionellen Formen der Selbstaussprache grenzt die Wiedergabe seiner Selbstgespräche im Verlauf seiner Krise teilweise sogar an moderne Formen der erlebten Rede.128 Für die Frühfassung bemerkt Heinz, dass sowohl die Art und Weise des Erzählens als auch das Verstummen bedeutungstragend sind: Das »anhaltende Gespräch« […], das am Schluss so entscheidend zur Entspannung und Versöhnung von Henriette und Woldemar führt, wird dem Leser nicht mitgeteilt – und aus gutem Grund, wie zu vermuten ist: Hätte es doch die diskursive Auflösung des Widerspruchs zwischen Woldemars Verlangen nach spiegelbildlicher Identität in der absoluten Freundschaft und der Anerkennung des anderen in einer realen Beziehung unter Menschen, die vermittelnde Formel zwischen moralischen Enthusiasmus und leidenschaftsloser Ausgeglichenheit, enthalten müssen.129 Die Ausklammerung dieses Gesprächs lasse am Ende der Fassungen von 1777 und 1779 den handlungstragenden Konflikt ungelöst. Dies sei der Ausgangspunkt für die Spätfassungen, was aus der Widmung der Spätfassung von 1794 an Goethe hervorgehe. Dort

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Ebd., S. 198. Vgl. dazu das Kapitel 4.2.1 dieser Untersuchung. Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin 1995, S. 192–201, hier S. 200. Ebd.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

schreibt Jacobi, dass ihn beim Lesen seines eigenen Werkes die letzten Blätter schockierten und ihn zur grundsätzlichen Überarbeitung des Werkes motivierten.130 Heinz sieht in den Spätfassungen des Woldemar »ein verändertes Romankonzept«, welches sich bereits zu Beginn des Werks zeige, indem die vielen Mottosprüche der Erstfassung durch die »für den anthropologischen Roman der Spätaufklärung typische Vorrede [mit] legitimatorische[m] Charakter« ersetzt wurden.131 Bei der Spätfassung von 1796 beobachtet sie im Vergleich zu der Frühfassung von 1779, dass Woldemars »Individualität von vornherein stärker als problematisch denn als vorbildlich« dargestellt werde.132 Dies korrespondiere mit Erzählverfahren, die nicht mehr im empfindsamen Sinne den Fokus auf subjektiven Erzählen legten, sondern auf die Aushandlung verschiedener Positionen. Der Roman wird jedoch in den Spätfassungen um eine poetologische Ebene erweitert, die gleich umfänglich neben der bisher geschilderten psychologischen Ebene von Charakterführung und Konfliktentwicklung – die der Erstfassung vergleichbar ist – steht; sie ergänzt den »subjektivistischen« Diskurs der Figuren über die Moral in umfangreichen Gesprächen durch eine Vielzahl an objektivierenden Kontexten, die vor allem auf das in den Spätfassungen neu auftauchende Problem der Vermittlung von moralischer Autonomie des einzelnen und der normativen Verfassung einer Gemeinschaft von Menschen rekurrieren.133 In der Gestaltung von mehrstimmigen Gesprächsrunden sieht Heinz die Aushandlung verschiedener Positionen und den Wandel von einem subjektiven zu einem ›Gespräch anbietenden‹ Erzählen. Das heißt, dass verschiedene moralische Positionen in den Gesprächen eröffnet und gegeneinander abgewogen werden. Heinz sieht in diesem Erzählverfahren eine Besonderheit, denn »wer sich […] auf das Romangespräch einläßt, kann kritischen Abstand nicht nur zu Woldemar, sondern auch zur gesamten aufklärerischen Debatte um die Empfindsamkeit gewinnen«.134 Aufgrund dieser Analyse von Erzählverfahren nimmt Heinz mit ihrem Beitrag eine besondere Stellung in der Erforschung der Erzählwerke Jacobis ein, da sie den »Zusammenhang von anthropologischer Thematik und polyperspektivischen, dialogischen Gestaltungsmitteln« als konstitutive Merkmale des anthropologischen Romans setzt.135 Im Fazit ihrer umfangreichen Studie hebt Heinz mit Blick auf die verschiedenen Woldemar-Fassungen die Errungenschaft des Gattungsmodells des anthropologischen Romans im historischen Diskussionszusammenhang hervor: Die besondere Leistung des anthropologischen Romans – und sein Fortschritt gegenüber einer Anthropologie, die zwischen rein deskriptiver Beschreibung von Phänomenen und deren moralischer Bewertung häufig schwankte – würde ich dabei in seiner Ausformung innovativer dialogischer Erzählformen sehen. Dazu zählen nicht nur die

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Vgl. Ebd., S. 200f. Vgl. Ebd., S. 201. Vgl. Ebd., S. 203. Ebd., S. 207. Vgl. Ebd., S. 213. Vgl. Ebd. S. 340.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

oben beschriebenen Formen personaler Äußerung – im direkten Gespräch im Roman oder in den an einen Adressaten gerichteten Brief-, sondern auch Großformen narrativer Organisationsmuster. So gehen häufig Werke eines Autors [Heinz verweist in einer Fußnote auf Jacobis Woldemar, F. K.] einen direkten Dialog miteinander ein, indem sie beispielsweise positive und negative Beispiele einander gegenüberstellen oder ein Problem auf einer anderen Abstraktionsebene noch einmal neu aufnehmen.136 Aus diesem Grund scheinen sich erst die Spätfassungen von Jacobis Woldemar in das von Heinz entworfene Gattungsmodell des anthropologischen Romans einzufügen. Der Beitrag von Heinz ist für die Erforschung der Erzählwerke Jacobis wesentlich, da sie die darstellerische Form der Spätfassungen nicht als Zwittergestalt zwischen erzählter Handlung und philosophischer Abhandlung betrachtet. Stattdessen präsentiert sie mit dem anthropologischen Roman ein Gattungsmodell, das diese Vermischung als konstitutiv setzt und Jacobis Erzählwerke mit ihren spezifischen Erzählformen in den spätaufklärerischen Diskussionszusammenhang der Anthropologie einordnet.

1.3 Freundschaft und Liebe Die erste Fassung des Woldemar von 1777 trägt den Titel Freundschaft und Liebe. Eine wahre Geschichte von dem Herausgeber von Eduard Allwills Papieren. Die Thematik der Freundschaft und Liebe ist auch in Jacobis Allwill zentral. Diese Themen sind ›Herzstücke‹ der Erzählwerke. Zur kontextreichen Einführung in diese wichtige Thematik dient die kritische Besprechung des Beitrags »Kopf und Herz« in Jacobis »Woldemar«. Zur moralphilosophischen Vorgeschichte und Aktualität einer literarischen Formel des 18. Jahrhunderts von Ingeborg Straetmans-Benl. Dieser Beitrag ist im Jahr 1977 in dem Jean-Paul-Jahrbuch veröffentlicht worden. Dieser Beitrag stammt aus einer Zeit, in der das sogenannte Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit endete und der globale Kapitalismus mit den sogenannten Ölpreiskrisen schwerwiegende und konsequenzenreiche Einschnitte erlebte. In einer solchen Zeit musste sich die geisteswissenschaftliche Forschung legitimieren, indem sie eine gesellschaftspolitische Relevanz behauptet.137 Straetmans-Benl versucht diese Relevanz mit einem problemgeschichtlichen Ansatz deutlich zu machen. Zur philosophiehistorischen Kontextualisierung der Kopf-Herz-Problemkonstellation, die für die Freundschafts-und Liebesvorstellungen in Jacobis Erzählwerken zentral sei, stellt Straetmans-Benl die moralphilosophische Vorgeschichte dieser Konstellation dar. Jacobis Erzählwerk Woldemar wird hier sehr kritisch beäugt und als Konglomerat verschiedenster philosophischer Richtungen betrachtet, die Jacobi aus ihrem Kontext reiße und im Sinne seiner eigenen philosophischen Denkweise instrumentalisiere. Nach Straetmans-Benl ist es für die philosophiehistorische Betrachtung der moralphilosophischen Kopf-Herz-Problemkonstellation wichtig, die Veränderungen, die die Stoa diesbezüglich mit sich bringe, herauszustellen:

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Ebd., S. 341. Dieser Legitimationsdruck bleibt der geisteswissenschaftlichen Forschung fortan erhalten.

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oben beschriebenen Formen personaler Äußerung – im direkten Gespräch im Roman oder in den an einen Adressaten gerichteten Brief-, sondern auch Großformen narrativer Organisationsmuster. So gehen häufig Werke eines Autors [Heinz verweist in einer Fußnote auf Jacobis Woldemar, F. K.] einen direkten Dialog miteinander ein, indem sie beispielsweise positive und negative Beispiele einander gegenüberstellen oder ein Problem auf einer anderen Abstraktionsebene noch einmal neu aufnehmen.136 Aus diesem Grund scheinen sich erst die Spätfassungen von Jacobis Woldemar in das von Heinz entworfene Gattungsmodell des anthropologischen Romans einzufügen. Der Beitrag von Heinz ist für die Erforschung der Erzählwerke Jacobis wesentlich, da sie die darstellerische Form der Spätfassungen nicht als Zwittergestalt zwischen erzählter Handlung und philosophischer Abhandlung betrachtet. Stattdessen präsentiert sie mit dem anthropologischen Roman ein Gattungsmodell, das diese Vermischung als konstitutiv setzt und Jacobis Erzählwerke mit ihren spezifischen Erzählformen in den spätaufklärerischen Diskussionszusammenhang der Anthropologie einordnet.

1.3 Freundschaft und Liebe Die erste Fassung des Woldemar von 1777 trägt den Titel Freundschaft und Liebe. Eine wahre Geschichte von dem Herausgeber von Eduard Allwills Papieren. Die Thematik der Freundschaft und Liebe ist auch in Jacobis Allwill zentral. Diese Themen sind ›Herzstücke‹ der Erzählwerke. Zur kontextreichen Einführung in diese wichtige Thematik dient die kritische Besprechung des Beitrags »Kopf und Herz« in Jacobis »Woldemar«. Zur moralphilosophischen Vorgeschichte und Aktualität einer literarischen Formel des 18. Jahrhunderts von Ingeborg Straetmans-Benl. Dieser Beitrag ist im Jahr 1977 in dem Jean-Paul-Jahrbuch veröffentlicht worden. Dieser Beitrag stammt aus einer Zeit, in der das sogenannte Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit endete und der globale Kapitalismus mit den sogenannten Ölpreiskrisen schwerwiegende und konsequenzenreiche Einschnitte erlebte. In einer solchen Zeit musste sich die geisteswissenschaftliche Forschung legitimieren, indem sie eine gesellschaftspolitische Relevanz behauptet.137 Straetmans-Benl versucht diese Relevanz mit einem problemgeschichtlichen Ansatz deutlich zu machen. Zur philosophiehistorischen Kontextualisierung der Kopf-Herz-Problemkonstellation, die für die Freundschafts-und Liebesvorstellungen in Jacobis Erzählwerken zentral sei, stellt Straetmans-Benl die moralphilosophische Vorgeschichte dieser Konstellation dar. Jacobis Erzählwerk Woldemar wird hier sehr kritisch beäugt und als Konglomerat verschiedenster philosophischer Richtungen betrachtet, die Jacobi aus ihrem Kontext reiße und im Sinne seiner eigenen philosophischen Denkweise instrumentalisiere. Nach Straetmans-Benl ist es für die philosophiehistorische Betrachtung der moralphilosophischen Kopf-Herz-Problemkonstellation wichtig, die Veränderungen, die die Stoa diesbezüglich mit sich bringe, herauszustellen:

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Ebd., S. 341. Dieser Legitimationsdruck bleibt der geisteswissenschaftlichen Forschung fortan erhalten.

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Noch folgenreicher allerdings sollte die stoische Gleichsetzung von Natur und Vernunft werden. Da auch die Vernunft im Herzen wohnt, mit ihr aber [auch] die sinnvolle Ordnung der Natur, nimmt die Rede vom Herzen als der Stimme der Natur ebenfalls von der Stoa ihren Ausgang. Je nach Belieben kann das Herz nun für das gute Prinzip – die Natur – oder für das böse Prinzip – die Leidenschaften – stehen, und die Bewertung des Kopfes, dem der Verstand wieder zugeschlagen wird, hängt dann von der jeweiligen Wahl des Herzens ab.138 Straetmans-Benl hebt hervor, dass Kopf und Herz in der Stoa eine ambivalente Rolle zugeschrieben bekommen. Wenn das Herz als Stimme der Natur hervorgehoben werde, durch deren Befolgung der Mensch im Sinne eines »teleologische[n] Naturbegriffs« an der »kosmische[n] Ordnung […] eines göttlichen Weltgesetztes« teilhaben könne, dann sei der Kopf moralischer Gegenspieler des Herzens.139 Das Herz als Stimme der Natur stehe dem Kopf als bloß menschlicher Verstand gegenüber. Wenn aber das Herz als Ausdruck für »[d]ie unvernünftigen Triebe und Leidenschaften« herangezogen wird, dann erscheint der Kopf als diejenige moralische Instanz, die diese Triebe und Leidenschaften eindämmt.140 In diesem Zuge komme es zu der Formierung der wirkmächtigen Parallelisierung von »Vernunft und Natur [sowie] Unvernunft und Unnatur«, wobei beides im Menschen selbst verankert sei.141 Diese Dichotomie werde erst von René Descartes angezweifelt.142 Die »relevante Neuinterpretation« Descartes’ liege darin, dass die Leidenschaften der res extensa und nicht der res cogitans zugeordnet werde. Mit dieser Zuordnung seien die Leidenschaften bei Descartes der Natur zuzuordnen und »[d]a ihr Entstehen und Vergehen ein Naturablauf [sei], [könne] der Wille auf sie keinen Einfluss nehmen«.143 Leidenschaften müssten daher der Lehre Descartes zufolge »erleidet« werden.144 Das heißt, man kann sich ihnen nicht bewusst verwehren. Sie überwältigen den

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Ingeborg Straetmans-Benl: »Kopf und Herz« in Jacobis »Woldemar«. Zur moralphilosophischen Vorgeschichte und Aktualität einer literarischen Formel des 18. Jahrhunderts. In: Kurt Wölfel (Hg.): Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft. München 1977, S. 137–174, hier S. 140. 139 Vgl. Ebd., S. 140f. 140 Vgl. Ebd., S. 139f. 141 Vgl. Ebd. 142 Vgl. Ebd., S. 140. 143 Vgl. Ebd., hier S. 141. Panajotis Kondylis untermauert diese Betrachtung der Leidenschaften als Phänomene der Natur bei Descartes. Auch er setzt Descartes’ Moralphilosophie direkt in Bezug zu Stoa: »Biologische und psychische Sinnlichkeit werden von Descartes nicht entfernt als Wirkungsbereiche des Teufels behandelt, und von den Leidenschaften sagt er sogar, sie seien »toutes bonnes de leur nature«. Gegen die den Weltfreuden entsagenden Stoiker, die er »cruels« findet, betont er die Notwendigkeit stoischer Beherrschung und epikuräischen Dranges nach Glück.« Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981, S. 170–190, hier S. 190. Kondylis zitiert nach der folgenden Werkausgabe der Schriften Descartes: Oeuvres de Descartes. Publiées par Charles Adam/Paul Tannery. XII Tomes. Paris 1897–1910. Siehe für den genauen Zitatnachweis die angegebene Stelle bei Kondylis. 144 Vgl. Ingeborg Straetmans-Benl: »Kopf und Herz« in Jacobis »Woldemar«. Zur moralphilosophischen Vorgeschichte und Aktualität einer literarischen Formel des 18. Jahrhunderts. In: Kurt Wölfel (Hg.): Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft. München 1977, S. 137–174, hier S. 141. Vgl. auch: Klaus Hammacher: Einleitung. In. René Descartes: Die Leidenschaften der Seele. Hg. und übers. von Klaus Hammacher. Hamburg 1984, S. X-LXXXVIII, besonders S. IL-LIX.

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Menschen. Die Verbindung von Natur und Leiden verweist auf eine wesentliche Veränderung der Betrachtungsweise der Natur. Diese werde bei Descartes als Bestandteil des menschlichen Daseins abgewertet, denn es sei die res extensa als die materielle Natur, die zu Leidenschaften und daher zum Leiden des Menschen führe. Die res cogitans dagegen erscheine als Kern des menschlichen Daseins, dies kulminiere bei Descartes in der Sentenz cogito ergo sum.145 Mit der Betonung der res cogitans und der Abwertung der res extensa bei Descartes zeichnet sich nach Straetmans-Benl die philosophiehistorische Tendenz des 17. Jahrhunderts ab, dass der moralische Idealzustand des Menschen sich uneinlösbar dem bestehenden Zustand konträr gegenüberstellt: Die Konjunktion »Kopf und Herz« umfaßt somit auf der Seite des Kopfs lediglich das theoretische Vernunftvermögen, dem sich einerseits Geometrie und Naturwissenschaften verdanken und das andererseits Mittel zu beliebig vorgegebenen Zwecken erfinden, bereitstellen und beurteilen kann. Auf der Seite des Herzens stehen die Leidenschaften, die den Menschen überwältigen; Erzeugnisse derselben Natur, die mit dem Bedürfnis nach Leben und Glück auch das Fundament der Ethik bildet. Im Kampf theoretische Vernunft oder Kopf contra naturmächtige Leidenschaften oder Herz soll der Kopf siegen. In seiner Definition als instrumenteller Verstand wird er das aber nicht können. Die Versicherung, dass Tugend möglich sei, bleibt unbewiesen. Tatsächlich sind in der Theorie des 17. Jahrhunderts Sein und Sollen heillos auseinander gebrochen.146 Straetmans-Benl sieht in der Philosophie des 18. Jahrhunderts verschiedene Ansätze, diese Kluft zwischen »Sein und Sollen«, die analog zum Dualismus von Körper und Geist verstanden wird, zu überwinden.147 Unter dem Vorzeichen dieser Problemkonstellation betrachtet Straetmans-Benl Shaftesburys moral-sense-Philosophie.148 Straetmans-Benl führt aus, dass moral als Adjektiv zum englischen Substantiv mind verstanden werden müsse, sodass moral sense als »rationales Gefühl« und »vernünftiger Sinn« ins Deutsche übersetzt werden könne.149 In diese Richtung verweist ebenso Jürgen Sprute, der verdeutlicht, dass Shaftesbury mit den Ausdrücken moral sense und sense of right or wrong »nicht nur das emotionale Reaktionsvermögen« benennt, »sondern die Gesamtheit der Anlagen, die im Zusammenspiel den Menschen das moralisch Richtige und Falsche erfassen lassen«.150 Aufgrund der Vermischung von Gefühl und Vernunft bezeichnet Straetmans-Benl den moral sense als »eine contradictio in adjecto«, die die Aporie der

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Vgl. für die Aufwertung der res cogitans und die die Abwertung der res extensa bei Descartes gerade mit Blick auf menschliche Leidenschaften und Affekte: Klaus Hammacher: Einleitung. In. René Descartes: Die Leidenschaften der Seele. Hg. und übers. von Klaus Hammacher. Hamburg 1984, S. X-LXXXVIII. Ingeborg Straetmans-Benl: »Kopf und Herz« in Jacobis »Woldemar«. Zur moralphilosophischen Vorgeschichte und Aktualität einer literarischen Formel des 18. Jahrhunderts. In: Kurt Wölfel (Hg.): Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft. München 1977, S. 137–174, hier S. 142f. Vgl. Ebd., S. 143. Vgl. Ebd., S. 144f. Vgl. Ebd., S. 145. Vgl. Jürgen Sprute: Der Begriff des Moral Sense bei Shaftesbury und Hutcheson. In. Kant-Studien. Heft 71. Berlin 1980, S. 221–237, hier S. 228f.

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Kopf-Herz-Gegenüberstellung zusammenfasse.151 Als »ein unglückliches Zwittergeschöpf« müsse der moral sense »die Aufgaben der Vernunft [und] die Leistungen des Gefühls« übernehmen.152 Die moral-sense-Philosophie stellt die Bemühung dar, die moralphilosophische Kopf-Herz-Problemkonstellation anthropologisch aufzulösen.153 Als anthropologische Antwort auf diese moralphilosophische Kopf-Herz-Problemkonstellation sieht Straetmans-Benl auch die Hervorhebung des Gewissens bei Rousseau.154 Mit dem Gewissen werde bei Rousseau das »jedem Menschen angeborene[] Prinzip der Wahrheit und Gerechtigkeit« bezeichnet.155 Das Gewissen des Menschen erscheine als ein moralisches Bewusstsein und sei unabhängig von »Zeitgeist oder Erziehung« und deshalb immer die Stimme einer »erste[n] Natur«.156 Im Gegensatz zur Thematisierung der moral-sense-Philosophie sind StraetmansBenls Ausführungen zum Gewissen bei Rousseau sehr kurz gehalten. Im Hinblick auf Jacobis Woldemar ist dies verwunderlich, da gerade im zweiten Teil der Spätfassung des Woldemar von 1796 der Begriff des Gewissens sehr präsent ist und auch im Kontext von Rousseaus zivilisationskritischer Philosophie von den Figuren besprochen wird. Aus diesem Grund ist ein näherer Blick auf Rousseaus Auffassung des Gewissens für Jacobis Spätfassungen der Erzählwerke als moralphilosophischer Kontext an dieser Stelle hinzuzufügen. In Rousseaus literarischen sowie philosophischen Schriften sind die Worte conscience und remord(s) häufig anzutreffen. Susan-Judith Hoffmann sieht in Rousseaus conscience nicht nur die Auflösung der Kopf-Herz-Aporie, sondern einen weitreichenden Erklärungsansatz für das menschliche Handeln. Dabei betont sie in ihrer Betrachtungsweise von conscience bei Rousseau, dass dies nicht bloß eine Kombination von Gefühl und Vernunft sei, sondern auch eine innere Kraft des Handelns beschreibe, die sie in ihrem englischsprachigen Beitrag mit dem Begriff desire zu fassen versucht. Mit diesem Begriff bezeichnet sie das Verlangen des Menschen, entsprechend seiner individuellen Eigentümlichkeit und zwischenmenschlichen Neigungen zu leben: Most agree that conscience is a combination of feeling and reason. […] I shall argue that conscience is both feeling and reason, but, more fundamentally, that conscience is desire. Conscience is desire of natural goodness in nature, of the self, and of unity with another. It begins as a latent capacity and is expressed as a love of nature and self, then develops, once individuals first leave the state of nature by staking claims to

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Vgl. Ingeborg Straetmans-Benl: »Kopf und Herz« in Jacobis »Woldemar«. Zur moralphilosophischen Vorgeschichte und Aktualität einer literarischen Formel des 18. Jahrhunderts. In: Kurt Wölfel (Hg.): Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft. München 1977, S. 137–174, hier S. 145. Vgl. Ebd. Dieser Aspekt prägt nach Jan Engbers die deutschsprachige Rezeption der moral-sense-Philosophie: Jan Engbers: Der »Moral-Sense« bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland. Heidelberg 2001. Vgl. Ingeborg Straetmans-Benl: »Kopf und Herz« in Jacobis »Woldemar«. Zur moralphilosophischen Vorgeschichte und Aktualität einer literarischen Formel des 18. Jahrhunderts. In: Kurt Wölfel (Hg.): Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft. München 1977, S. 137–174, hier S. 149. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 150.

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property, into an appreciation for the order in nature and a desire for the perfectibility of the self which includes a romantic union with another self.157 Die Auffassung von conscience, die Rousseau in seinen Schriften aufweise, gehe über die bloße Bewertung des eigenen Handelns hinaus. Vielmehr zeige sich im conscience die Motivation des eigenen Handelns. Im Unterschied zum moral sense liegt der Fokus nicht auf der Bewertung des Handelns, sondern auf der Motivation des Handelns. Dabei revidiert Hoffmann mit Blick auf Rousseaus pädagogische Schrift Emile die Ansicht, dass conscience bei Rousseau eine bloße unveränderliche Stimme der Natur sei. Conscience unterliege in seiner Ausprägung sehr wohl den Daseinsbedingungen des Menschen. Mit Blick auf Rousseaus Julie wird deutlich, dass dieser These Hoffmanns beizustimmen ist, denn die Protagonisten St. Preux und Julie weisen im Gewissen verankerte Wertempfindungen wie ihren Standesunterschied auf, die eindeutig nicht als Stimme einer ›ersten Natur‹ erklärt werden können. In Julies und St. Preux’ conscience kommt gerade im Zusammenfallen von ›natürlichen‹ und zivilisatorischen Wert-und Tugendvorstellungen der handlungstragende Konflikt zum Vorschein, der durch die zivilisatorische Prägung vom conscience von Beginn an einen inneren Konflikt, als einen Antagonismus von Natur und Zivilisation im Menschen, darstellt. Reinhard Wolf schreibt in seiner Ausgabe der GelliusÜbersetzung von Rousseaus Julie: Außen verkehrt sich freilich, je weiter der Roman fortschreitet, zunehmend in Innen: immer wieder wird deutlich, daß die äußeren Hemmnisse der Beziehung nicht unüberwindlich wären, kämen ihnen die internalisierten Hemmungen der Protagonisten nicht entgegen und überträfen sie noch in ihrer einschränkenden Wirkung. Immer wieder werden die gesellschaftlichen Konventionen zum austauschbaren Vorwand für Ängste, die sich, in Verleugnung und Pervertierung ihres ursprünglichen Charakters, als Seelengröße und »Tugend« idealisieren lassen und dabei um so phantastischere Dimensionen annehmen, je weniger die reale Situation sie rechtfertigt.158 Zugespitzt ist die Konfliktsituation der Julie ein innerliches Unbehagen zwischen der ›natürlichen Liebe‹ der beiden Protagonisten und der gefühlten Unmöglichkeit diese intensive Neigung innerhalb der Wert-und Tugendauffassungen der feudalen Gesellschaftsordnung realisieren zu können. Der Zwiespalt zwischen dem, was die beiden ›natürlicher Weise‹ wollen, und dem, was sie ordnungsgemäß sollen, ist in beiden so unüberwindbar verinnerlicht, dass es zu dem ständigen Wechsel von Nähe und Distanz komme, die den Roman präge. Daraus folgt, dass es nicht die konkreten äußeren Umstände sind, die die Verwirklichung natürlicher Neigungen unterdrücken. Es ist die innere Assimilation der Figuren an diese Umstände. Die Figuren Julie und St. Preux

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Susan-Judith Hoffmann: The Development of Conscience in Rousseau. In: Simon Bunke/Katerina Mihaylova (Hg.): Gewissen. Würzburg 2015, S. 253–266, hier S. 253. Reinhold Wolf: Nachwort. In. Jean-Jacques Rousseau. Julie oder Die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. In der ersten deutschen Übertragung von Johann Gottfried Gellius. Vollständig überarbeitet und ergänzt nach der Edition Rey, Amsterdam 1761, sowie mit einer Zeittafel von Dietrich Leube. Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Reinhold Wolf. München 1988, S. 799–827, hier S. 816f.

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erleben innere Oszillationen, die für das Hin-und Herschwanken zwischen Distanz und Nähe verantwortlich sind. Der Briefroman Julie entwirft eine Liebesgeschichte, bei der die innere Anpassung an äußere Umstände das ›natürlich Innere‹ überlagert. Die Liebe zwischen den beiden bleibt eine unerfüllte Liebe, wobei sie gerade diese Unerfülltheit moralisch idealisieren und als Tugend ausdeuten. Dieser innere Konflikt der Protagonisten zeigt, dass ihr Inneres heterogen ist. Die Vielschichtigkeit ihres Inneren macht die Geschehnisse dieses Erzählwerks aus und beschreibt die Leidensgeschichte der beiden unerfüllt Liebenden. Hans Robert Jauß hat in ähnlicher Weise darauf hingewiesen, dass Rousseaus Julie eine moralphilosophische Frage aufgeworfen habe, die in der deutschsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark rezipiert werde.159 Die moralphilosophische Problemkonstellation sei die Frage nach einer »dialektische[n] Lösung des Widerspruchs von Gefühl und Vernunft, Natur und Zivilisation« und »zwischen natürlicher und gesellschaftlicher Existenz«.160 Im Hinblick auf diese moralphilosophische Problemkonstellation haben Nikolaus Wegmann und Friedrich Vollhardt angedeutet, dass Jacobis Erzählwerke im Gegensatz zu Goethes Werther eine Tendenz der Lösung anbiete. Unter Berufung auf Jauß sieht Vollhardt bei Rousseaus Julie die Eröffnung der moralphilosophischen Diskrepanz von Natürlichkeit und gesellschaftlicher Zivilisation im Dasein des Menschen. Erst die klassische deutsche Philosophie biete einen vermittelnden »›dritten Weg‹, der auf eine Moralisierung des Menschen hinführt, »bei der sich erweisen muß, daß Moralität eine Sache der Kunst, nicht der Natur ist, und vollkommene Kunst wieder zur Natur werden kann«.161 Aus dieser Perspektive sieht Vollhardt die Erzählwerke Jacobis über Goethes Werther hinausgehen: »Im Ausgang von der durch Rousseau bezeichneten Problemstellung kommt Jacobi dieser Lösung näher als der Autor des Werther.«162 Ähnlich stellt auch Nikolaus Wegmann in seiner Untersuchung der Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis die titelgebenden Protagonisten Allwill und Woldemar nebeneinander und vergleicht sie mit der Wertherfigur.163 Wegmann legt den Schwerpunkt auf das Verhältnis von radikaler Subjektkonstitution und zwischenmenschlicher Gemeinschaftsbildung, der zentral für die »Radikalempfindsamen« sei.164

159 Vgl. Hans Robert Jauß: Ästhetische und literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1984, S. 614–653. 160 Vgl. Ebd., S. 602–613, hier S. 612f. 161 Vgl. Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin 1995, S. 79–100, hier S. 92f. [Das Zitat im Zitat ist hier mit doppelten französischen Anführungszeichen angezeigt. F.K.] Vgl. für Vollhardts Bezug auf Jauß: Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1984, S. 613. 162 Vgl. Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis. Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin 1995, S. 79–100, hier S. 93. 163 Vgl. Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 105–116. 164 Vgl. Ebd., S. 107f.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

Wie man weiß, nimmt Werthers Geschichte kein glückliches Ende. Aber auch Woldermars und Allwills Suche nach erfüllter Sozialität endet unter negativem Vorzeichen. Daß diese Biographien scheitern, muß dabei zunächst eher überraschen, da die jeweilige soziale (und materielle) Situation ein ganz der empfindsamen Geselligkeit gewidmetes Leben ermöglicht. Zum Problem wird offensichtlich das erreichte Anspruchsniveau selbst. Die Empfindsamkeit hat hier eine Radikalität erreicht, die – auch wenn man keine festen anthropologischen Grenzen anerkennen will – ihre Verwirklichung fraglich werden läßt. Werther und Woldemar […] reduzieren schon von Beginn an ihre Suche nach gesteigerter Geselligkeit auf nur eine einzige, (dafür aber) im höchsten Maße verdichtete (Intim-)Beziehung: mehr als eine Verbindung solcher Qualität scheint mit dem hier erreichten Grad an Individualisierung nicht mehr möglich. Der empfindsame Umgang drängt zwangsläufig auf immer höhere Exklusivität. Allenfalls noch mit einer Person versucht das zunehmend sich als einzigartig begreifende Individuum noch die grenzenlose Annäherung, die vollkommene Transparenz.165 Die Radikalisierung empfindsamer Tendenzen führe so zu der Frage, wie ein sich rigoros behauptender Individualismus vor Asozialität bewahrt werden könne. In dem Scheitern der Protagonisten zeige sich, dass »[d]ie Radikalisierung […] eine Überdehnung des empfindsamen Selbstbezugs [provoziere]«.166 Im Gegensatz zu Goethes Werther sieht Wegmann in den Erzählwerken Jacobis die Antizipation einer Lösung dieser Radikalisierungsproblematik. Diese kündige sich darin an, dass der Protagonist »zur Einsicht« gelange, dass zu ihm »eine notwendigerweise (auch) gesellschaftlich fixierte Natur« gehöre.167 Diesem Gedanken wird im Bezug zu den Spätfassungen nachgegangen und aufgezeigt, dass die Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis im Gegensatz zu den Frühfassungen einen Lösungsansatz dieser moralphilosophischen Problemkonstellation ausführlich konturieren.168 Dieser mit Vollhardt und Wegmann thematisierte entscheidende Punkt entgeht Straetmans-Benl in ihrer moralphilosophischen Kontextualisierung zur Untersuchung von Jacobis Woldemar. Von Rousseau geht StraetmansBenl zu Kant über, bei der sie eine Lösung der Kopf-Herz-Problematik durch die Wiedereinführung der praktischen Vernunft sieht. Die praktische Vernunft löse bei Kant die Aporie von Kopf als Vernunftvermögen und Herz als Gefühlskraft. Rousseau sei mit seiner Auffassung vom Gewissen als Stimme einer ›ersten Natur‹ »nicht ohne die Berufung auf eine teleologisch verstandene Natur […] aus[gekommen]«.169 StraetmansBenl sieht ›das Gewissen‹ bei Rousseau hinsichtlich der Kopf-Herz-Problemkonstellation als Herz an. Die vorherige Thematisierung von Rousseaus Semantisierung von conscience sensibilisiert dafür, dass diese Einordnung von Rousseaus conscience als Herz nicht zutrifft. Ihre Argumentation erscheint gerade an dieser Stelle daraufhin ausgelegt zu sein, Kant als entscheidenden Moralphilosophen zu heroisieren. So sei es Kant, der

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Ebd., S. 110f. Vgl. Ebd., S. 113. Vgl. Ebd. Vgl. die Kapitel 3.2 und 3.3 dieser Untersuchung. Vgl. Ingeborg Straetmans-Benl: »Kopf und Herz« in Jacobis »Woldemar«. Zur moralphilosophischen Vorgeschichte und Aktualität einer literarischen Formel des 18. Jahrhunderts. In: Kurt Wölfel (Hg.): Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft. München 1977, S. 137–174, hier S. 150.

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die Kopf-Herz-Gegenüberstellung durch die praktische Vernunft auflöse, da das Herz als moralische Instanz obsolet würde: Kant dagegen kann auf alle Hilfskonstruktionen neuzeitlicher Moralphilosophie verzichten, auf Gott, die Natur, die Stimme des Herzens usw. Wenn die Autonomie des Willens, d.h. die Selbstbestimmung des Menschen durch das in seiner Vernunft heimische Sittengesetz, Freiheit und Moralität ist, wenn dagegen die Willensbestimmung durch Gefühle, Leidenschaften und Affekte bloß »pathologisch« ist, ohne je ein Weg zur Tugend werden zu können; und wenn schließlich die Beurteilung von Handlungen und Absichten nicht durch ein moralisches Gefühl oder durch das Gewissen geschieht, sondern durch das formale Vernunftprinzip des kategorischen Imperativs, dann haben alle modernen Bedeutungsvarianten von »Herz« ihre Rolle für eine Begründung der Ethik ausgespielt. Der von Kant formal bestimmte Widerspruch zwischen Neigung und Pflicht läßt sich mit dem traditionell material verstandenen Gegensatz von Herz und Kopf nicht identifizieren.170 Die Lösung der Kopf-Herz-Problemkonstellation besteht nach Staetmans-Benl bei Kant darin, dass das Herz getilgt werde und Moral zu einer vollständigen Verstandesangelegenheit werde. »[D]as formale Vernunftprinzip des kategorischen Imperativs« ist ein Resultat des menschlichen Verstandes und damit ein Produkt des Kopfes, das allein die Moral definiert. Staetmans-Benl sieht in dieser Tilgung des Herzens eine »Lösung« der Kopf-Herz-Problematik, verweist aber darauf, dass Friedrich Heinrich Jacobi »[zu denen gehöre], die nicht gewillt waren, sich dem Diktat des »Dogmatikers« aus Königsberg zu beugen«.171 Durch den ausführlichen moralphilosophischen Abriss über die Kopf-Herz-Problemstellung ordnet Straetmans-Benl Jacobi in den spätaufklärerischen Kontext ein und stellt ihn moralphilosophisch als einen Antipoden Kants dar. Eine Moralphilosophie, die auf einem »apodiktischen Gesetz« aufbaut, bürgt für Jacobi nicht für die Freiheit des Menschen.172 Jacobi sträube sich seit seiner adoleszenten Bildungszeit in Genf gegen die These von der egoistischen und triebhaften Natur des Menschen, gegen eine Tugendlehre, die ohne Annahme eines göttlichen Funkens in der Brust auskommt; aber er akzentuiert den Empirismus und Sensualismus und raubt sich dadurch die Möglichkeit auf elegante, d.h. dogmatische Weise, Gott und erhabene Menschennatur zu »beweisen«. Die Begegnung mit dem französischen Materialismus macht Jacobi für immer zum Aufklärer, aber zu einem unglücklichen.173 In dieser bewertenden Betrachtungsweise wird deutlich, dass Straetmans-Benl die Philosophie Kants Jacobi gegenüber als überlegen ansieht. Jacobis »lebenslange[s] Problem« 170 Vgl. Ebd., S. 150f. 171 Vgl. Ebd., S. 151. 172 Vgl. dazu die Vorrede zur erweiterten Fassung der Spinozabriefe von 1789 mit dem Titel Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1,1 S. 158–170, hier S. 161f. 173 Ingeborg Straetmans-Benl: »Kopf und Herz« in Jacobis »Woldemar«. Zur moralphilosophischen Vorgeschichte und Aktualität einer literarischen Formel des 18. Jahrhunderts. In: Kurt Wölfel (Hg.): Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft. München 1977, S. 137–174, hier S. 152.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

sei es, »wie selbstlose Tugend möglich sei«.174 Jacobis Schaffensphase in den 1770er Jahren weise Bezüge zu der englischen moral-sense-Philosophie auf, die »in strikten Gegensatz zu den in Deutschland herrschenden rationalistischen Aufklärungsphasen« stehe.175 In der Frühfassung des Allwill räsoniere der Protagonist »über das Unzuverlässige und Vergängliche äußerer Vorschriften, über das Abstumpfende des blinden Gehorsams«.176 Allwill kämpfe »für das Recht des gemalten sittlichen Instinkts eines heroischen Individuums […], das sich rücksichtslos gegen Konventionen und Gesetz durchsetzen darf«.177 Straetmans-Benl entgeht, dass die Figur Allwill gerade genau die gegenteilige Verlagerung im Vergleich zu Kants kategorischem Imperativ darstellt. Die Figur Allwill lässt als moralische Richtschnur einzig das Herz zu und tilgt den Kopf. Genau dies bringt ihm aber am Ende die Kritik einer subjektiven Befangenheit ein, die letztlich im Versuch, tugendhaft zu sein, genau das Gegenteil erreicht.178 Bei Jacobis Erzählwerk Woldemar sieht Straetmans-Benl die Kritik an einer subjektiv geprägten Moralvorstellung, daher thematisiere Jacobis Woldemar, dass die Vernunft dem Gefühl vorzuziehen sei.179 Die Quintessenz dieses Erzählwerks sei das »Erkennen der Wirklichkeit statt [dem] Schwelgen in der Imagination«.180 Abschließend schließt Straetmans-Benl sich der Rezension Friedrich Schlegels an und betrachtet Jacobis Woldemar als »ein theologisches Kunstwerk«, »das in die schlimmste aller Sklavereien, in die mystische Knechtschaft münde[]«.181 Diese Lesart erschließe sich daraus, dass Jacobi seine Moralphilosophie auf der »Gewißheit Gottes« aufbaue, »die [bei Jacobi] weder aus der Natur noch aus dem ihr korrespondierenden Vermögen des Verstandes« abgeleitet werden könne.182 In ihrer kantischen Perspektive gelangt Straetmans-Benl daher zu dem drastischen und despektierlich gemeinten Fazit, dass Jacobis Woldemar »weder ein poetisches noch ein philosophisches Kunstwerk heißen darf«.183 Im Jahr 1990 erscheint Friedrich Bechmanns Beitrag Jacobis ›Woldemar‹ im Spiegel der Kritik, der den Fokus auf rezeptionsrelevante Schriften bezüglich Jacobis Woldemar legt. Bechmann verfolgt die These, dass Forschungsbeiträge zu Jacobis Woldemar vor ihm wie

174 175 176 177 178 179

Vgl. Ebd., S. 152f. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 153. Vgl. das Kapitel 3.2 dieser Untersuchung. Vgl. Ingeborg Straetmans-Benl: »Kopf und Herz« in Jacobis »Woldemar«. Zur moralphilosophischen Vorgeschichte und Aktualität einer literarischen Formel des 18. Jahrhunderts. In: Kurt Wölfel (Hg.): Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft. München 1977, S. 137–174, hier S. 154. Dieser Deutungsansatz zum Woldemar wird in dieser Studie revidiert. Vgl. dazu das Kapitel 3.3. und 4.2 dieser Untersuchung. 180 Vgl. Ingeborg Straetmans-Benl: »Kopf und Herz« in Jacobis »Woldemar«. Zur moralphilosophischen Vorgeschichte und Aktualität einer literarischen Formel des 18. Jahrhunderts. In: Kurt Wölfel (Hg.): Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft. München 1977, S. 137–174, hier S. 154. 181 Vgl. Ebd., hier S. 172. 182 Vgl. Ingeborg Straetmans-Benl: »Kopf und Herz« in Jacobis »Woldemar«. Zur moralphilosophischen Vorgeschichte und Aktualität einer literarischen Formel des 18. Jahrhunderts. In: Kurt Wölfel (Hg.): Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft. München 1977, S. 137–174, hier S. 171ff. 183 Vgl. Ebd., hier S. 172ff.

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Straetmans-Benl durch die literaturkritische Fehlinterpretation der Rezension Friedrich Schlegels geprägt seien. Neben Bechmann haben auch Reinhard Lauth, Willy Michel und Andreas Arndt darauf hingewiesen, dass Friedrich Schlegel die Rezension von Jacobis Woldemar als eine Erprobungsmöglichkeit frühromantischer Literaturkritik missbraucht. Michel pointiert dies und stellt fest, dass es in der Rezension »eigentlich schon lange nicht mehr um Jacobis Roman geht«.184 Bechmann nimmt die zeitgenössische Rezeption der Erzählwerke Jacobis in den Blick und untersucht in diesem Zusammenhang Goethes Woldemar-Parodie, die sich auf die Frühfassung von 1779 bezieht, die WoldemarRezension von Wilhelm von Humboldt, der als Textgrundlage die Spätfassung von 1794 zugrunde liegt, sowie die Woldemar-Rezension von Friedrich Schlegel, die die Spätfassung von 1796 bespricht. Bechmann hebt ausführlich die Vorbildhaftigkeit der Julie für Jacobis Woldemar hervor und grenzt sich so von den Beiträgen ab, die Jacobis Erzählwerke vor allem epigonal zu Goethes Werther sehen. Der direkte Einfluss Goethes auf Jacobis Woldemar sei erst in den Spätfassungen durch seine Parodie der ersten Buchfassung von 1779 zu finden. Goethe bezog sich in dieser Schrift vor allem auf die letzten Seiten des Woldemar von 1779. In Jacobis Widmung an Goethe, die der Spätfassung von 1794 vorangestellt ist, sieht Bechmann die Übereinkunft Jacobis mit Goethes Kritik. Jacobis grundsätzliche Umarbeitung des Woldemar sei daher stark durch Goethes Auseinandersetzung mit der Frühfassung geprägt. Der Beitrag Bechmanns sensibilisiert für die Art und Weise des Einflusses Goethes auf die Erzählwerke Jacobis und stellt eine Übersicht rezeptionsästhetischer Schriften zu Jacobis Woldemar dar.185 Friedrich Vollhardts Beitrag aus dem Jahr 1991 mit dem Titel Freundschaft und Pflicht. Naturrechtliches Denken und literarisches Freundschaftsideal im 18. Jahrhundert beschäftigt sich nur marginal mit den Erzählwerken Jacobis. Trotz der marginalen Thematisierung ist dieser Beitrag Vollhardts zu besprechen, da dieser Jacobis Erzählwerke im Diskussionszusammenhang von Sittenlehre und Morallehre des 17. und 18. Jahrhunderts kontextuell einordnet und erschließt.186 Vollhardt geht von einer Ambivalenz der Freundschaftskonzeptionen des 17. und 18. Jahrhunderts aus. Freundschaft sei in diesem weit gefassten zeitlichen Rahmen »eine erstrebenswerte und ideale Form des menschlichen Umgangs«, aber sie habe für »interpersonales Handeln« keine »normative

184 Vgl. Willy Michel: Ästhetische Hermeneutik und frühromantische Kritik. Friedrich Schlegels fragmentarische Entwürfe, Rezensionen, Charakteristiken und Kritiken (1795–1801). Göttingen 1982, S. 136–171, hier S. 142. Vgl. auch: Reinhard Lauth: Fichtes Verhältnis zu Jacobi unter besonderer Berücksichtigung der Rolle Friedrich Schlegels in dieser Sache. In: Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16. – 19.10.1969) aus Anlaß seines 150. Todestages und Berichte. Frankfurt a.M. 1971, S. 165–208. Und: Andreas Arndt: Mystizismus, Spinozismus und Grenzen der Philosophie. Jacobi im Spannungsfeld von F. Schlegel und Schleiermacher. In: Walter Jaeschke/Birgit Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004, S. 126–141. 185 Vgl. Friedrich Bechmann: Jacobis ›Woldemar‹ im Spiegel der Kritik. Eine rezeptionsästhetische Untersuchung. Frankfurt a.M. 1990. 186 In dem erwähnten Beitrag geht Vollhardt im Gegensatz zu seiner später erschienenen Habilitationsschrift dezidiert auf Jacobis Erzählwerke ein. Vgl. Friedrich Vollhardt. Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. Jahrhundert und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001.

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Funktion«.187 Vollhardt untersucht bei Christian Thomasius, Sophie La Roche und Friedrich Heinrich Jacobi Freundschaftskonzeptionen unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Selbstliebe und Geselligkeit. Er geht von der Prämisse aus, dass »[d]as Selbstgefühl […] als Grundlage des Mitgefühls« fungiere.188 Der Schwerpunkt Vollhardts liegt bei den Schriften von Christian Thomasius, der eine empfindsame Vorstellung von Freundschaft antizipiere.189 Vollhardt beginnt allerdings nicht mit Thomasius, sondern mit Samuel Pufendorf, da dieser als Bezugspunkt für Thomasius wesentlich sei.190 Pufendorf sei es, der als »einflußreichste[r] Theoretiker des modernen Naturrechts in Deutschland […] die Verpflichtung des Menschen zur Sozialität« akzentuiert habe.191 In Thomasius’ SittenLehre (1692/1696) sieht Vollhardt eine Radikalisierung der Lehre Pufendorfs, denn Thomasius entwickle dort die Freundschaftskonzeption »einer in der Natur gründenden Neigungsliebe des Menschen«.192 Diese Neigungsliebe werde »in der Freundschaft zur höchsten Tugend«.193 Vollhardt stellt heraus, dass die SittenLehre eine wirkungsmächtige Rezeptionsgeschichte aufweise, die in den »zahlreichen Auflagen« deutlich werde, »die das anhaltende Interesse eines bürgerlichen Lesepublikums dokumentieren«.194 Daher werde das Spätwerk von Thomasius durch die Rezeptionsgeschichte der SittenLehre überlagert.195 Vollhardt führt die Schriften Fundamenta juris naturae et gentium (1705) sowie Primae mineae de jureconsultorum prudentia consultatoria an. Die beiden Schriften erscheinen im Jahr 1707 in deutscher Sprache unter dem Titel Kurttzer Entwurff der Politischen Klugheit. Bei dieser Schrift von Thomasius sieht Vollhardt im Vergleich zur SittenLehre eine wesentliche Verschiebung der Anschauung des Menschen und damit zusammenhängend auch der Bedeutung von Freundschaft: Die anthropologischen Voraussetzungen haben sich geändert. In der SittenLehre hat Thomasius durch den Leitbegriff der ›vernünftigen Liebe‹ das Prinzip der socialitas optimistisch ausgedeutet, als Menschenliebe und in seiner höchsten Erfüllung […] als Freundschaft. In der Fundamenta ist an die Stelle der Liebesethik eine Wert-und Normordnung getreten, die nicht mit der Kommunikationsfähigkeit der homo socialis, sondern mit der Affektabhängigkeit eines triebgebundenen, um seine eigene 187

188 189 190 191

192

193 194 195

Vgl. Friedrich Vollhardt: Freundschaft und Pflicht. Naturrechtliches Denken und literarisches Freundschaftsideal im 18. Jahrhundert. In: Wolfram Mauser/Barbara Becker-Cantarino (Hg.): Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Tübingen 1991, S. 293–309, hier S. 294. Vgl. Ebd., S. 295. Vgl. Ebd., S. 295f. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. für Vollhardts detaillierte Ausführungen zum Naturrecht Pufendorfs: Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. Jahrhundert und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001, S. 67–94. Vgl. Friedrich Vollhardt: Freundschaft und Pflicht. Naturrechtliches Denken und literarisches Freundschaftsideal im 18. Jahrhundert. In: Wolfram Mauser/Barbara Becker-Cantarino (Hg.): Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Tübingen 1991, S. 293–309, hier S. 296. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 296f. Vgl. Ebd., S. 297.

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Erhaltung besorgten Einzelwesens rechnet, das durch Rat und gesetzlichen Zwang gelenkt werden muß. Die menschliche Natur wird damit nicht einfach aus einem anderen Extrem heraus gedeutet, vielmehr wird ein Ausgleich zwischen den nun realistischer eingeschätzten und mit einer gewissen Resignation betrachteten Motiven des humanen Handelns gesucht, deren Eckwerte Thomasius mit den Begriffen ›Selbstliebe‹ und ›Freundschaft‹ bezeichnet.196 Vollhardt zeigt, dass in Thomasius’ Fundamenta-Schrift Selbstliebe und Freundschaft in der Natur des Menschen zusammenfallen. Die Selbstsorge um das eigene Dasein und die notwendige soziale Bindung, die jeder Mensch seiner Natur nach eingehen möchte, beschreibe Selbstliebe und Freundschaft als anthropologische Konstanten. Doch weil diese beiden Konstanten im Menschen selbst zusammenfallen, ist die Möglichkeit ihrer Vermischung nicht ausgeschlossen. Sie vermischen sich dort, wo Freundschaft nur als eine erweiterte Selbstliebe erscheint, wie dies bei empfindsamen Freundschaftskonzeptionen häufig der Fall sei. Aus diesem Grund ist es die Fundamenta-Schrift von Thomasius, die für Vollhardt in ihrer aufgeworfenen Problemkonstellation den Bezug zur Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spannt. In dieser Zeit werde »die Affektenlehre allmählich durch das Interesse an empirischer Psychologie abgelöst«, aber die moralanthropologische Frage nach dem Verhältnis von Selbstliebe und Freundschaft, die auf Thomasius zurückweise, werde zu einer der prominentesten Thematiken.197 Er deutet die Relation von Selbstliebe und Freundschaft in Sophie La Roches Rosalin-Briefen und in der Geschichte des Fräuleins von Sternheim als Erhebung der »vernünftige[n] Selbstliebe […] zur Richtlinie des humanen Handelns«.198 Bei La Roche werde die Selbstliebe zur notwendigen Bedingung für Freundschaft, die jedoch in vernunftgeleitete Bahnen gelenkt werden müsse.199 In der Spätfassung von Jacobis Woldemar interpretiert Vollhardt das Verhältnis von Selbstliebe und Freundschaft als selbstreflexiv.200 Das Erzählwerk Jacobis artikuliere Zweifel daran, »daß der Mensch in einer Weise über seine Affekte verfügen kann, welche die […] Verwirklichung idealer Freundschaft erlaubt«.201 Die Reflexion des Selbstliebe-Freundschafts-Verhältnisses bestehe im Woldemar darin, dass der gleichnamige Protagonist gerade aufgrund seiner exaltierten Idee von Freundschaft zu einem Menschen werde, »der sich weiter von Tugend entfernt, als ein Mensch, der seine Freundschaftsverhältnisse in der gebotenen Ordnung aller übrigen Pflichten modelliert […].«202 Auch bei Jacobi biete daher ausschließlich eine vernünftige Selbstliebe die Möglichkeit die »Eckwerte« der Selbstliebe und Freundschaft zu verbinden.203 Eine vernünftige Selbstliebe sei demnach der Schlüssel zu einer funktionierenden und tugendhaften Freundschaft.

196 197 198 199 200 201 202 203

Ebd., S. 303f. Vgl. Ebd., S. 304f. Vgl. Ebd., S. 307. Vgl. Ebd., S. 307f. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 308. Vgl. Ebd., S. 309. Vgl. Ebd.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

Jutta Heinz betrachtet die aufgeworfene Problemkonstellation einer empfindsamen Seelenfreundschaft im historischen Zusammenhang der Schwärmerei. In der Frühfassung sei der Versuch einer verwirklichten, rein geistigen Freundschaft das Streben nach einem metaphysischen Gottesbeweis. Dies sei Schwärmerei, da Woldemar versuche, etwas in der Erfahrung des Lebens zu beweisen, was eben hinter dieser diesseitigen Lebenserfahrung läge.204 In den Spätfassungen fungiere die Freundschaft dagegen als anthropologischer Gottesbeweis.205 Die Möglichkeit, eine empfindsame Seelenfreundschaft zu realisieren, beweise etwas Göttliches im Menschen. An diese Betrachtung knüpft Carmen Götz an. Wenn Göttliches in den Menschen selbst verlagert werde und diese Göttlichkeit im diesseitigen Leben verwirklicht werde, dann ziehe das religiöse Versprechen von Heil in das Diesseits ein und sakralisiere das Leben.206 Götz hebt beim Diskussionszusammenhang der Freundschaft zwei sakralisierende Aspekte hervor: Einerseits sei Freundschaft Entgrenzung aus der eigenen endlichen Subjektivität und andererseits enthalte Freundschaft »Momente der Selbst-wie auch der Weltschöpfung«.207 Die Freundschaft von Woldemar und Henriette sei als ein Element eines Säkularisierungsgeschehens zu verstehen, in dem religiöse Heilsversprechen bereits im Diesseits realisiert würden.208 In diesem Zusammenhang sieht Götz die Thematik der Freundschaft als Element eines umfassenden Säkularisierungsprozesses. Im Woldemar ist die Thematik der Freundschaft eng an den Begriff des Bruders gebunden. Woldemar nennt Henriette sogar »Bruder Heinrich«.209 Die Bedeutung der Genderkonstellation dieser Freundschaft unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs des Bruders untersuchen Birgit Sandkaulen und Franziska Frei Gerlach. Sandkaulen gelangt zu dem Fazit, dass »in der Gestalt des Bruders die vermeintlich vollkommene Freundschaft dekonstruier[t]« werde.210 Der Freund sei »kein Subjekt«, sondern stehe für »die Anonymität des Anderen überhaupt«.211 In Bezug auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik erscheine die Freundschaft zwischen Woldemar und Henriette als ein Echo. Sandkaulen differenziert ausdrücklich zwischen Spiegel und Echo. Die Freundschaft sei in der Spätfassung kein Spiegel »des Subjekts im Anderen« mehr, sondern vielmehr ein Echo, in dem auch Töne einer »gebrochenen Metaphysik« widerhallen würden.212 Für Sandkaulen steht in der Spätfassung des Woldemar die Überwindung der Subjektivität im Vordergrund der Freundschaftsthematik. Freundschaft sei eine Möglichkeit, sich aus der eigenen Subjektivität zu entgrenzen. Daher schreibt Sandkaulen ihr eine erkenntnistheoretische Bedeutung zu. Franziska Frei Gerlach untersucht die Freundschaft von

204 Vgl. Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin 1995, S. 192–201. 205 Vgl. Ebd., S. 201–213. 206 Vgl. Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 158–173. 207 Vgl. Ebd., S. 161f. 208 Vgl. Ebd., S. 164–173. 209 Vgl. JWA 7,1, S. 34 (Frühfassung) und S. 325 (Spätfassung). 210 Vgl. Birgit Sandkaulen: Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit. Hamburg 2019, S. 119–134, hier S. 133. 211 Vgl. Ebd. 212 Vgl. Ebd., S. 134.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Woldemar und Henriette unter dem Blickwinkel der Geschwisterbeziehung. Henriette bezeichnet sich selbst als Schwester Woldemars, wohingegen Woldemar sie zum Bruder ernennt und ihren Vornamen sogar ›vermännlicht‹. Das Besondere an der Freundschaft von Woldemar und Henriette sei die Berufung auf eine Geschwisterbeziehung als affirmierender Intimitätsausdruck. Allerdings werde die Freundschaft von Woldemar und Henriette als eine Geschwisterbeziehung mit »Exklusivitätsanspruch« entworfen. Doch ein Exklusivitätsanspruch ist mit der Geschwisterschaft grundsätzlich unvereinbar, eröffnet das Geschwister doch eine Reihe, auf die das ego selbst keinen Einfluss hat. Denn anders als bei der Freundschaft, deren Agenten, Anzahl und Dauer das ego bestimmen oder zumindest beeinflussen kann, sind Geschwister in all diesen Hinsichten existenziell gegeben. Lässt sich wahre Freundschaft über die Wahlfreiheit und in der Beschränkung auf die Einzahl definieren, […] so verbietet sich dies für die Geschwisterschaft: Ein Exklusivitätsanspruch auf ein Geschwister ist stets von der Möglichkeit der Erweiterung der Reihe und der Vertrautheit mit Agenten desselben Status bedroht. Aus dieser Unvereinbarkeit von Geschwisterschaft mit Exklusivität erwächst im Woldemar der Konflikt, der die Seelengeschwisterschaft zum Zusammenbruch führt, der nur – zumal in der ersten Fassung – bedingt gekittet werden kann.213 Die Seelenfreundschaft als exklusive Geschwisterschaft zu verstehen, führe »mit der Logik der Identifikation und dem Exklusivitätsanspruch Aporien in das Geschwistermodell« ein.214 Gerlach gelangt zu dem Fazit, dass Woldemar im Gegensatz zu Henriette nicht die »Standhaftigkeit der psychischen Disposition habe«, um eine Seelenfreundschaft zu verwirklichen.215 Woldemar versuche die Freundschaftsbeziehung durch das Aufrufen der Geschwisterbeziehung zu stabilisieren. In Wirklichkeit sei aber dadurch genau das Gegenteil der Fall, da er der Geschwisterbeziehung ihre eigentümliche »Kontinuität und Stabilität entziehe«.216 Gerlach zeigt so, dass die Stabilisierungstechnik der Parallelisierung von Freundschaft und Geschwisterschaft im Woldemar zu einer Destabilisierung der Freundschaft führt, da Woldemar auf seinen Exklusivitätsanspruch an Henriette nicht verzichten kann. Die Frage, warum Woldemar nicht auf diesen Exklusivitätsanspruch verzichten kann, bleibt bei Gerlach jedoch offen. Außerdem bleibt in der bisherigen Erforschung der Erzählwerke Jacobis weitgehend unberücksichtigt, dass Jacobi in seinem Allwill mit der Beziehung der Figuren Sylli und Clerdon eine zwischengeschlechtliche Seelenfreundschaft entwirft, die nicht problematisiert wird, sondern die sich als ›wahre‹ Freundschaft beweist.217 In den Erzählwerken Jacobis steht daher weniger die Frage im Vordergrund, ob eine geistige Freundschaft möglich ist, sondern welche innerlichen Voraussetzungen für eine solche zwischenmenschliche Beziehung gegeben

213

Franziska Frei Gerlach: Geschwister. Ein Dispositiv bei Jean Paul und um 1800. Berlin 2012, S. 207–233, hier S. 221f. 214 Vgl. Ebd., S. 223. 215 Vgl. Ebd. 216 Vgl. Ebd. 217 Vgl. dazu die Kapitel 3.2 dieser Untersuchung.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

sein müssen. Im Woldemar scheint das Verhältnis des Protagonisten zu seinem eigenen Inneren der heimliche Schwerpunkt zu sein.218

1.4 Natur Die Frage nach der Beschaffenheit des Inneren einzelner Figuren führt zum vierten Diskussionszusammenhang: Natur. Empfindsame Naturschilderungen sind oftmals als Spiegel der Seele der beschreibenden Figuren verstanden worden. Demzufolge lässt sich aus empfindsamen Naturdarstellungen auf das Innere des erzählenden Ichs schließen. In der Besprechung dieses Diskussionszusammenhangs wird im Detail beleuchtet, wie sich die Ich-Spiegelung des empfindsamen Ichs in der Natur konkret in Jacobis Briefen gestaltet und es wird veranschaulicht, was sich hinter diesem Phänomen der IchSpiegelung und Ich-Projektion bei Jacobi konkret verbirgt. Jan Ulbe Terpstras Beitrag Friedrich Heinrich Jacobis ›Allwill‹ aus dem Jahr 1957 stellt neben biografischen Angaben zu Jacobi eine kommentierte, historisch-kritische Ausgabe des Allwill zur Verfügung. Diese Ausgabe baut auf der Fassung von 1812 auf, die in der von Jacobi selbst herausgegebenen Werkausgabe veröffentlicht wurde. Terpstras Beitrag ist in dem forschungsgeschichtlichen Kontext zu betrachten, Jacobis Allwill überhaupt in historisch-kritischer Edition zur Verfügung zu stellen. In dem historischen Kontext der Nachkriegszeit ist Terpstras Beitrag als forschungsorientierte Revitalisierung der Schriften Jacobis zu verstehen, die in kritischer Auseinandersetzung mit der Jacobi-Forschung vor 1945 konstituiert wird. Aus diesem Grund liefert Terpstras Beitrag eine Zusammenfassung von Forschungsbeiträgen vor 1945. Terpstra differenziert in Abgrenzung zu älteren Forschungsbeiträgen rigoros zwischen den Früh-und Spätfassungen, sodass eine fassungsvergleichende historisch-kritische Ausgabe des Allwill überhaupt notwendig erscheint. Terpstra behauptet, dass beiden Fassungen des Allwill eine unterschiedliche Handlungskonzeption zugrunde liege. Er konstatiert, dass »[d]as Kernproblem der ersteren […] die Frage der Berechtigung einer individualistischen ›kraftgenialischen‹ Ethik [sei], wie Allwill sie ver[fechte]« und in der späteren Fassung mit der Familie um Clerdon und Amalia Sozialität im Zentrum stehe.219 Im Bezug zu vorherigen Forschungsbeiträgen diskutiert Terpstra den Begriff des moralischen Genies, der zur Beschreibung der Genialität der Figur Allwills dient.220 Terpstra erläutert, dass dieser Begriff von Georg Gottfried Gervinus eingeführt worden und von Adolf Holtzmann in seinem Beitrag als Hauptthematik übernommen worden sei.221 Dagegen behandelt Terpstra diese Genialität nur nebensächlich und stellt mit Verweis auf den Beitrag Julius Kühns heraus, dass das

218 219

Vgl. dazu das Kapitel 3.3 dieser Untersuchung. Vgl. Jan Ulbe Terpstra: Friedrich Heinrich Jacobis ›Allwill‹. Textkritische Ausgabe. Hg., eingeleitet und kommentiert. Groningen 1957, S. 62. 220 Vgl. Ebd., S. 62. 221 Vgl. Ebd., S. 30. Vgl. auch: Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung. Band IV. Leipzig 1853, S. 518ff. Sowie: Adolf Holtzmann: Über Eduard Allwills Briefsammlung. Jena 1878, S. 59–80.

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sein müssen. Im Woldemar scheint das Verhältnis des Protagonisten zu seinem eigenen Inneren der heimliche Schwerpunkt zu sein.218

1.4 Natur Die Frage nach der Beschaffenheit des Inneren einzelner Figuren führt zum vierten Diskussionszusammenhang: Natur. Empfindsame Naturschilderungen sind oftmals als Spiegel der Seele der beschreibenden Figuren verstanden worden. Demzufolge lässt sich aus empfindsamen Naturdarstellungen auf das Innere des erzählenden Ichs schließen. In der Besprechung dieses Diskussionszusammenhangs wird im Detail beleuchtet, wie sich die Ich-Spiegelung des empfindsamen Ichs in der Natur konkret in Jacobis Briefen gestaltet und es wird veranschaulicht, was sich hinter diesem Phänomen der IchSpiegelung und Ich-Projektion bei Jacobi konkret verbirgt. Jan Ulbe Terpstras Beitrag Friedrich Heinrich Jacobis ›Allwill‹ aus dem Jahr 1957 stellt neben biografischen Angaben zu Jacobi eine kommentierte, historisch-kritische Ausgabe des Allwill zur Verfügung. Diese Ausgabe baut auf der Fassung von 1812 auf, die in der von Jacobi selbst herausgegebenen Werkausgabe veröffentlicht wurde. Terpstras Beitrag ist in dem forschungsgeschichtlichen Kontext zu betrachten, Jacobis Allwill überhaupt in historisch-kritischer Edition zur Verfügung zu stellen. In dem historischen Kontext der Nachkriegszeit ist Terpstras Beitrag als forschungsorientierte Revitalisierung der Schriften Jacobis zu verstehen, die in kritischer Auseinandersetzung mit der Jacobi-Forschung vor 1945 konstituiert wird. Aus diesem Grund liefert Terpstras Beitrag eine Zusammenfassung von Forschungsbeiträgen vor 1945. Terpstra differenziert in Abgrenzung zu älteren Forschungsbeiträgen rigoros zwischen den Früh-und Spätfassungen, sodass eine fassungsvergleichende historisch-kritische Ausgabe des Allwill überhaupt notwendig erscheint. Terpstra behauptet, dass beiden Fassungen des Allwill eine unterschiedliche Handlungskonzeption zugrunde liege. Er konstatiert, dass »[d]as Kernproblem der ersteren […] die Frage der Berechtigung einer individualistischen ›kraftgenialischen‹ Ethik [sei], wie Allwill sie ver[fechte]« und in der späteren Fassung mit der Familie um Clerdon und Amalia Sozialität im Zentrum stehe.219 Im Bezug zu vorherigen Forschungsbeiträgen diskutiert Terpstra den Begriff des moralischen Genies, der zur Beschreibung der Genialität der Figur Allwills dient.220 Terpstra erläutert, dass dieser Begriff von Georg Gottfried Gervinus eingeführt worden und von Adolf Holtzmann in seinem Beitrag als Hauptthematik übernommen worden sei.221 Dagegen behandelt Terpstra diese Genialität nur nebensächlich und stellt mit Verweis auf den Beitrag Julius Kühns heraus, dass das

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Vgl. dazu das Kapitel 3.3 dieser Untersuchung. Vgl. Jan Ulbe Terpstra: Friedrich Heinrich Jacobis ›Allwill‹. Textkritische Ausgabe. Hg., eingeleitet und kommentiert. Groningen 1957, S. 62. 220 Vgl. Ebd., S. 62. 221 Vgl. Ebd., S. 30. Vgl. auch: Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung. Band IV. Leipzig 1853, S. 518ff. Sowie: Adolf Holtzmann: Über Eduard Allwills Briefsammlung. Jena 1878, S. 59–80.

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Erzählwerk Allwill verschiedene Ich-Du-Verhältnisse beleuchte.222 Die Schilderung von Naturerlebnissen beschreibe ein spezifisches Ich-Du-Verhältnis. Im Allwill erscheine dieses eigentümliche Verhältnis als »eine religiöse Andacht zu den Dingen mit einem gesteigerten Wirklichkeitsgefühl im realisierten Ich-Du-Erleben«.223 Diese Ich-DuVerhältnisse werden als Einheit von Ich und Du interpretiert, und so gelangt Terpstra zu dem Fazit, dass »J[acobis] Standpunkt auch hier als ein vorwiegend pantheistischer« zu verstehen sei.224 Terpstra weist so die methodisch fragwürdige Vorgehensweise auf, die Protagonisten der Erzählwerke mit Jacobi zu identifizieren. Neben diesem pantheistischen Zug bei den Naturschilderungen wirke »ohne Zweifel die ›Nouvelle Héloïse‹«.225 Die Naturschilderungen in den Erzählwerken Jacobis werden auf »die wichtigsten literarischen Einflüsse, die Goethes und Rousseaus« zurückgeführt.226 Jacobis Frühfassung des Allwill sei aufgrund dieser literarischen Vorbilder »eine direkte Auseinandersetzung mit dem Sturm und Drang«.227 Das Naturerleben in »Allwills Papieren« gibt für das Verhältnis zu dieser Bewegung einen guten Probierstein ab. Die Natur ist manchmal eine Gartennatur, oder eine empfindsame Natur. Oft aber beobachtet man Übergänge zum Sturm-und Drang, ja zur Romantik, wie in den Sonnenaufgängen, die Syllis und Clerdons zarte, aber auch leidenschaftliche Stimmungen auslösen und begleiten […]. Clerdons Frühlingsbrief jubelt in der »Lust und Macht zu leben« […]. Sylli wird eins mit der Blume […]; Clärchen beschreibt die Erhabenheit des Sonnenuntergangs am Flusse […], Sylli die einer stürmischen Regenlandschaft bei schwindender Sonne, Allwill, hymnisch die geheimnisvolle Kraft grüner, lichtdurchspielter, leisewehender Lindenkronen.228 Terpstra stellt die Vielseitigkeit der Naturdarstellungen heraus, doch vermischt er an dieser Stelle die Frühfassung Eduard Allwills Papiere von 1776 mit der Spätfassung Eduard Allwills Briefsammlung von 1792, denn die beiden zuletzt genannten Elemente der »stürmischen Regenlandschaft« und das Naturerlebnis, das Allwill schildert, sind in der Frühfassung nicht enthalten.229 Bei den Spätfassungen stellt Terpstra eine Veränderung 222 Vgl. Jan Ulbe Terpstra: Friedrich Heinrich Jacobis ›Allwill‹. Textkritische Ausgabe. Hg., eingeleitet und kommentiert. Groningen 1957, S. 62–72, hier S. 66 sowie S. 74 (Anmerkung 18). Vgl. auch: Julius Kühn: Der junge Goethe im Spiegel der Schriften seiner Zeit. Heidelberg 1912, S. 98–108. 223 Dies zeige sich vor allem bei der Figur Sylli. Terpstra verweist auf den Brief Syllis an Clerdon datiert auf den 08. März, indem sie von der Empfindung einer Gegenliebe von einer Hyacinthe berichtet, die sie kontemplativ zu betrachten pflegt. Vgl. Jan Ulbe Terpstra: Friedrich Heinrich Jacobis ›Allwill‹. Textkritische Ausgabe. Hg., eingeleitet und kommentiert. Groningen 1957, S. 66. Vgl. für den erwähnten Brief in der Frühfassung von 1776: JWA 6, 1, S. 12–16, hier S. 12 und für die Spätfassung von 1792 JWA 6, 1, S. 104–108, hier S. 104. 224 Vgl. Jan Ulbe Terpstra: Friedrich Heinrich Jacobis ›Allwill‹. Textkritische Ausgabe. Hg., eingeleitet und kommentiert. Groningen 1957, S. 77 (Anmerkung18). 225 Vgl. Ebd., S. 105. 226 Vgl. Ebd. 227 Vgl. Ebd., S. 104. 228 Vgl. Ebd., S. 104f. 229 Die Beschreibung des Wetters von Sylli befindet sich in dem Brief vom 19. und 20.03. an Amalia, der erst in der Fassung von 1792 enthalten ist. Vgl. JWA 6,1, S. 179–182, hier S. 181f. Das von Allwill geschilderte Naturerlebnis ist in Allwills Brief vom 30.03. an Cläre enthalten. Dieser Brief ist

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der Naturdarstellungen fest. Es sei »[e]ine Distanzierung von der Natur […] gegenüber der ersten Fassung unverkennbar«.230 Die Natur erscheine dort als »ein geheimnisvolles Buch, das auf ein Höheres hinweis[e]«.231 Terpstra sieht in den Naturschilderungen der Spätfassungen weiterhin die Ansicht vertreten, dass das Sinnliche »die Grundlage des (höheren) Geistigen« sei, aber »der Jacobische Dualismus von ›Natur‹ und ›Geist‹ [trete] jetzt deutlicher hervor«.232 Die pantheistische Verschwommenheit der ersten Fassung macht Versuchen zu metaphysischen Formulierungen Platz, aber diese gedeihen nicht zur Klarheit. Wichtig vor allem ist die Wandlung des Vernunftbegriffes, der vom erkenntnistheoretischen ins psychologisch-metaphysische Feld verlagert wird. Jetzt stehen zwei Bedeutungen des Wortes ›Vernunft‹ neben einander: ›Vernunft‹ im Sinne der Jacobischen Aufklärungskritik, mit negativer Betonung – und ›Vernunft‹ als gleichbedeutend mit und gesteigert zum ›Instinkt‹, zum höheren ›Trieb‹ im Menschen, mit positiven Akzent. Dies wirkt einigermaßen verwirrend!233 Terpstras Beitrag ist mit der Bereitstellung einer historisch-kritischen Allwill-Ausgabe Grundlagenforschung. Mit der Feststellung zwischen der Früh-und Spätfassung sei ein Wandel der Naturauffassung erkennbar, der sich in den Naturdarstellungen zeige, sieht Terpstra eine veränderte Naturbetrachtung, die sich von einem erkenntnistheoretischen zu einem anthropologischen Diskussionszusammenhang verlagere. Terpstra postuliert, dass Jacobis Allwill »[a]ls Kunstwerk […] weniger bedeutend« sei, da »[d]ie Bedeutung des Romans in seiner Funktion als Zeitbild des 18. Jahrhunderts« liege.234 Im Sinne dieses Zeitbilds bettet er die Schilderungen von dem Naturerleben in der Frühfassung des Allwill in den Diskussionszusammenhang des Pantheismus ein, während die Spätfassungen eine differenziertere Haltung gegenüber der Natur einnähmen, indem die Trennung von Natur und Geist hervortrete. Ein weiterer Beitrag, der den Diskussionszusammenhang des Pantheismus starkmacht, erscheint im Jahr 1965. Es handelt sich um die Monografie Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft von Heinz Nicolai. Das Forschungsanliegen des Beitrags von Nicolai ist es, anhand von brieflichen Quellen die Freundschaft zwischen Goethe und Jacobi näher zu beleuchten. Nicolai thematisiert die Freundschaft zwischen Goethe und Jacobi unter besonderer Berücksichtigung ihrer Debatte um die Philosophie Spinozas. Das Besondere der Rolle dieser Philosophie für die Freundschaft der beiden sei, dass diese ein verbindendes und trennendes Element zugleich sei.235 Erst fördere das gemeinsame Interesse für die Philosophie Spino-

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ebenfalls erst in der Fassung von 1792 vorzufinden. Vgl. JWA 6,1, S. 171–176, die Beschreibung des Naturerlebnisses auf S. 176. Vgl. Jan Ulbe Terpstra: Friedrich Heinrich Jacobis ›Allwill‹. Textkritische Ausgabe. Hg., eingeleitet und kommentiert. Groningen 1957, S. 69. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd. Vgl. Ebd., S. 106. Vgl. Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, S. 37–50.

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zas das Entstehen ihrer Freundschaft.236 Ihre jeweilige Beschäftigung führe jedoch in unterschiedliche Richtungen. Nicolai stellt »Goethes gegenständlich gerichtete[], an der sinnlichen Fülle der gesamten Erlebniswelt genährte[] Erfahrung« in Kontrast »zu Jacobis grüblerischer Innenschau und abstrakter Spekulation«.237 Trotz dieser Differenz sieht Nicolai die Naturdarstellungen in den Erzählwerken Jacobis unter dem Einfluss Goethes stehend, da Jacobi im Bann von Goethes Genie gestanden habe und von seinen Schriften, besonders vom Werther, stark ergriffen gewesen sei.238 Nicolai sieht in den Naturdarstellungen des Briefwechsels Jacobis mit Goethe in den Jahren 1774 und 1775 sowie auch in den Frühfassungen der Erzählwerke das »pantheistische Naturgefühl« Goethes dupliziert.239 Die Darstellungen von idyllischen Szenen verwiesen darauf, dass »sich im Gefühl des Einsseins mit der Natur [seelische Spannungen]« lösen würden.240 Dies führe »zu einem Augenblick entfesselten Selbstgefühls, in dem das Ich sich als unendlich erlebt«.241 Nicolai konstatiert mit Blick auf Jacobis Brief an Goethe vom 26.08.1774 die Konstitution einer rousseauistisch geprägten »Lebensform«: Hier ist nicht mehr die gerührte Distanz, in der die Seele sich selbst genießt, hier drängt der Mensch unbewußt zu neuer Einheit mit der Natur, zu einem inneren Besitzergreifen in neuen Formen der Hingabe. Darin aber kündigt sich das neue Naturerleben der Sturm und Drang-Zeit an. Rousseauistische Stimmungen, die dem Jahrhundert geläufige sentimentalische Sehnsucht des Kulturmenschen nach der naturhaften Freiheit und patriarchalischen Einfachheit des Urzustandes schwingt in diesem Versuch der Einkehr in eine idyllische Lebensform.242

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Vgl. Ebd., S. 37. Vgl. Ebd., S. 43. Vgl. Ebd., S. 66f. Vgl. Ebd., S. 70. Nicolai bezieht sich hier konkret auf die in dieser Studie zuvor thematisierte Stelle aus Jacobis Brief an Goethe vom 21.10.1774. Dass Nicolai die Rolle Goethes für Jacobi überschätzt, ist in der Jacobi-Forschung bereits mehrfach festgestellt worden. An dieser Stelle sei noch das gewichtige Argument hinzugefügt, dass Jacobi in diesem Brief an Goethe von einem personalen Schöpfergott ausgeht. Im Brief heißt es: »Ich war hinausgegangen anzubeten; habe angebetet, gepriesen mit süßen wonnevollen Thränen den der da schuf dich, deine Welt, und für eben diese Welt den glühenden kräftigen Sinn in mir.« Die Formulierung »den der da schuf« verweist darauf, dass Jacobi sich an einen personalen Schöpfergott richtet. Aus der weiteren Passage geht mit der Betonung des Geistigen einher, dass dieser Gott ein Geist ist, so wie Jacobi es später philosophisch ausformulieren wird. Dies zeigt, dass der Brief eindeutig nicht als pantheistisch ausgelegt werden kann, da Pantheismus einen personalen Schöpfergott Jacobi zufolge ausschließt. Vgl. JBW I,1, S. 263–266, hier S. 265. 240 Vgl. Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, S. 51–82, hier S. 66. 241 Nicolai macht dies konkret an einer Stelle aus Jacobis Brief an Goethe vom 12.08.1775 fest. Die Deutung einer Unendlichkeitserfahrung relativiert Nicolai direkt wieder. Das geschilderte Naturerlebnis male den »Ausbruch prometheischen Daseinstrotzes« aus, in dem aber »die Jacobi eigenen gebrochenen Töne beigemischt« seien. Vgl. Ebd., S. 66f. Vgl. auch: JBW I,2, S. 24f, hier S. 25. 242 Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, S. 64. Vgl. für den Brief Jacobis an Goethe: JBW 1,1, S. 247–250.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

Nach Nicolai sei das Besondere an dieser Szene, dass die »empfindsame Selbstbespiegelung« durch »Töne rauschhafter Lebenslust« ersetzt werde. Die Natur erfülle nicht mehr die Funktion einer Projektionsfläche, sondern sei ein Raum, der in besonderer Weise Vitalität und Lebendigkeit artikuliert.243 Nicolai beobachtet eine Ausdifferenzierung von Naturdarstellungen im Briefwechsel Jacobis. Zusammen mit der enthusiastischen Hinwendung zum Geniekult, die im Zuge der beginnenden Freundschaft mit Goethe zu beobachten sei, fiele eine Veränderung der Darstellung idyllischer Szenen in dem Briefwechsel Jacobis auf.244 Diese Ausdifferenzierung von verschiedenen Naturerlebnissen in Jacobis Briefen der Jahre 1771 bis 1775 wird an dieser Stelle mit einem Blick in ausgewählte Briefe nachgezeichnet, da diese Überlegung bei Nicolai abstrakt bleibt und in der bisherigen Forschung nicht weiter ausgeführt wurde. In Anlehnung an Nicolai werden Jacobis Briefe an J. R. Graf Chotek vom 16.06.1771 und an Goethe vom 26.08.1774 betrachtet. Im erst genannten Brief schildert Jacobi seine Reise mit seinem Bruder Johann Georg Jacobi zu Sophie La Roche nach Ehrenbreitstein. Dort trafen sie Wieland. Dieses Treffen der beiden Jacobi-Brüder mit Sophie La Roche und Wieland wird als »empfindsamer Kongreß« bezeichnet.245 Die Reise führt sie »an den Ufern des Rheins« entlang und wird von F. H. Jacobi als euphorische Beschwörung der Bruderbeziehung zelebriert.246 Die Natur ist hier im empfindsamen Verständnis ein Spiegel der beiden Brüder: »Einer den andern umarmend, priesen wir die holde Natur; welche liebreich auf den Danck zweener der zärtlichsten Seelen zu achten, und, indem sie noch freündlicher Uns zulächelte, ihn zu belohnen schien.«247 Die Natur ist Projektionsfläche des Inneren und unterstreicht die innere Einswerdung der beiden Brüder, die eine Identifikation des Ichs mit dem Bruder darstellt. In diesem Zusammenhang deutet Nicolai die Natur in diesem Brief Jacobis als anthropomorphisiert. Sie werde »auf den Menschen bezogen« und erscheine selbst in personifizierter Gestalt.248 Jacobi schildere »[m]it der Schönheit der Natur« vor allem »die Rührung«, die sie auslöse.249 Mit der Beschreibung der Naturschönheit

243 Der Brief Jacobis vom 26.08.1774 an Goethe weist idyllische Passagen auf, die in abgewandelter Form Eingang in die Erzählwerke gefunden haben. Diese Passagen befinden sich im Woldemar in der Frühfassung nach der Mitteilung von Woldemars erstem Brief an Biderthal. In den Spätfassungen befindet sich diese Stelle vor der Mitteilung dieses ersten Briefes. Vgl. JBW I,1, S. 247–260. Vgl. auch: JWA 7,1, S. 22 (Frühfassung) und S. 218 (Spätfassung). 244 Vgl. Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, S. 63–71. 245 Vgl. Ebd., S. 63. Vgl. zu diesem Treffen auch: Kurt Christ: F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg 1998, S. 186–198. Vgl. auch Carmen Götz, die in diesem Brief ein »nachdrücklich[es] Zeugnis« von Jacobis »empfindsamen Naturverhältnis« sieht: Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 332. 246 Vgl. JBW I,1, S. 109–114, S. 111. 247 Ebd., S. 111f. Nicolai sieht in solchen schriftlichen Zeugnissen Jacobis »vor der Berührung mit Goethe […] konventionelle, empfindsame Züge«. Vgl. Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, S. 63. 248 Vgl. Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, S. 63f. 249 Vgl. Ebd.

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werde zugleich »[d]as Bewußtsein der eigenen zartsinnigen Empfänglichkeit« genossen.250 Dadurch werde »de[r] Natureindruck [überhöht]«.251 Durch diese Funktionalisierung der Natur als spiegelnde Projektionsfläche eignet sich das Ich neben dem brüderlichen Freund auch die Natur an.252 Diese Ich-Du-Verhältnisse werden durch den Prozess einer radikalen Ich-Entfaltung als Ich-Ich-Verhältnisse aufgelöst.253 Dies zeigt sich besonders in der Spiegelung der gegenseitigen Liebesbezeugung der beiden Brüder, bei der auch die Natur mit einbezogen wird: […] und nunmehr unsere Reise so nahe vollendet war, ergriff ich die Hand meines Bruders, um ihm durch einen sanften Druck derselben, meinen Dank für die vielen Freüden zu bezeügen, die ich unter seiner Begleitung genoßen hatte; er nahm die meinige, und blickte voll zärtlicher Rührung mich an; die selige Thräne der ruhigen Empfindung stieg in Unser beyder Augen, und wir segneten die Gegend mit dem heiligen Kuße der Freündschaft.«254 Die Natur fungiert wie der Bruder und Freund als Spiegel, in dem sich Ich und Du treffen und zugunsten des Ichs miteinander verschmelzen. Carmen Götz hat auf diese Analogie zwischen empfindsamer Freundschaft und empfindsamer Naturbetrachtung hingewiesen, die sie mit dem Phänomen der »Aneignung des Anderen« beschreibt.255 Mit dieser Aneignung wird die in der Forschung häufig genannte Ich-Spiegelung empfindsamer Texte bei Götz benannt. Dahinter verbirgt sich die Beobachtung und Deutung, dass in empfindsamen Texten, wie hier im Brief Jacobis, die Natur nicht ›als Natur‹ interessiert. Vielmehr erscheint die Natur selbst ›leer‹. Aufgrund dieser zugeschriebenen Leere wird sie als Möglichkeit der Selbstbespiegelung des eigenen Gemüts entdeckt. Die Natur wird so als ›Anderes‹ aufgelöst, indem das empfindsame Ich die Natur nicht als ›Anderes‹ wahrnimmt, sondern das eigene Innere hineinprojiziert. In Jacobis Brief beschreibt der Blick des erzählenden Ichs so einen Einblick in das eigene Innere und eine Vergewisserung und Bekräftigung der eigenen Gemütsverfassung. Die Natur ist in diesem Sinne angeeignet, da sie als Ich-Erweiterung erscheint, indem sie das Innere des Ichs spiegelt. Das ›eigentlich Andere‹ der Natur spielt in diesem Brief Jacobis noch keine Rolle. Dieses Verfahren der Ich-Spiegelung in der Natur unterstreicht in diesem Brief Jacobis die Tilgung der Natur als ›Anderes‹. Jacobi stellt eine idyllische Szene dar, die den Moment einer realisierten Seelenfreundschaft beschreibt. Freundschaftskult und Naturkult verschmelzen miteinander, denn erst zusammen mit dem Freund kann »die Gegend mit

250 Vgl. Ebd. 251 Vgl. Ebd. 252 Vgl. Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 365f. 253 Terpstra weist auf das Verschwimmen von Ich-Du-Verhältnissen zu Ich-Ich-Relationen bei der Schilderung von Naturerlebnissen in Jacobis Allwill hin. Vgl. Jan Ulbe Terpstra: Friedrich Heinrich Jacobis ›Allwill‹. Textkritische Ausgabe. Hg., eingeleitet und kommentiert. Groningen 1957, S. 66, 74 und 77. 254 JBW I,1, S. 109–114, hier S. 112. 255 Vgl. Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, hier S. 366.

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dem heiligen Kuße der Freündschaft« gesegnet werden. Dabei ist die Richtung der Segnung zu beachten: Die Freunde segnen die Natur. Erst das gemeinsame Erleben sakralisiert die Natur. Die Betonung des Kusses als Kulminationspunkt des Naturerlebens und als Artikulation intensiver zwischenmenschlicher Verbundenheit formiert eine Indifferenz zwischen den freundschaftlich verbundenen Brüdern und der Natur. Diese Formierung von Indifferenz wird »mit dem heiligen Kuße der Freündschaft« als Verschmelzungsprozess veranschaulicht. Der Kuss der Freundschaft erscheint als etwas Heiliges, weil er gerade nicht die Lust zwischenmenschlicher Sinnlichkeit aufruft. Stattdessen ist der Kuss der Freundschaft heilig, weil er sinnbildlich für die Einswerdung zweier Menschen im Inneren steht. Der Kuss als Berührung der Münder der beiden Brüder stellt als partieller direkter Körperkontakt als pars pro toto-Synekdoche die identifikatorische Homogenität der beiden dar. Seelenfreundschaft, verstanden als eine Seele in zwei verschiedenen Körpern, findet in dem Kuss eine temporäre Vereinigung der sie trennenden Körper. Die Handlung des Kusses segnet daher im selben Augenblick »die Gegend«, denn sie wird zur Kulisse einer Seelenvereinigung. Die naturale Umgebung, die durchfahren wird, erfüllt die Funktion eines Erlebnisraums, der die Gemütsverfassung des erlebenden Ichs verstärkt. Die Natur erscheint hier bei Jacobi als ein Raum des inneren Erlebens. Die biologische Bruderbeziehung erscheint hier als Möglichkeit einer wahren Seelenfreundschaft. Ein Motiv, das in Jacobis Woldemar direkt aufgegriffen wird, wenn es heißt: »Wahrhaftig! […] es ist doch keine rechte Freundschaft, als nur unter zween solchen Brüdern!«256 Während das Naturerlebnis in Jacobis Brief vom 16.06.1771 an den Grafen Chotek ganz im Sinne subjektiv-empfindsamen und rhetorisch aufgeladenen Erzählens steht, rückt mit dem Brief an Goethe vom 26.08.1774 neben dem von Nicolai postulierten »Versuch der Einkehr in eine idyllische Lebensform« auch eine veränderte narrative Darstellungsart in den Fokus.257 Bei diesem Brief werden naturale Räume zu Örtlichkeiten des Schreibens. So ist der Brief überschrieben mit der Ortsbenennung: »Auf einem waldichten Hügel, in rauschendem Schatten«.258 Der Ort des Schreibens ändert sich im Verlauf des Briefes und zeichnet die Orte der Wanderung Jacobis mit Wilhelm Heinse an diesem Tag nach. In der Mitte gibt es eine Passage, die mit der folgenden Überschrift betitelt ist: »Nachmittags, in der Garten-Laube eines Eremiten.«259 Die naturale Umgebung verbindet sich in diesem Brief Jacobis mit der Tätigkeit des Schreibens und so erscheint

256 Vgl. JWA 7,1, S. 16 (Frühfassung von 1779) und S. 217 (Spätfassung von 1796). Vgl. für die Besprechung dieser brüderlichen Freundschaftskonzeption in Jacobis Woldemar aus der Perspektive der Gender Studies: Franziska Frei Gerlach: Geschwister. Ein Dispositiv bei Jean Paul um 1800. Berlin 2012, S. 209–222. Vgl. für eine dekonstruktivistische Deutung der Bruder-Freundschaft in Jacobis Woldemar: Birgit Sandkaulen: Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit. Hamburg 2019, S. 119–134. Vgl. für empfindsame Seelenfreundschaftsvorstellungen als signifikante Elemente des spätaufklärerischen Säkularisierungsprozesses: Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 158–174. 257 Vgl. Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, hier S. 64. 258 Vgl. JBW I,1, S. 247–250, hier S. 247. 259 Vgl. Ebd., S. 249.

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die Abgeschiedenheit eines ländlichen Gebiets als Inspirationsraum für das Brief-sowie das Romanschreiben. Außerdem wird mit dem Schreiben an naturalen Orten die Unmittelbarkeit des Erlebens unterstrichen, denn das Erlebte soll mit dem Schreiben im Brief sprachlich fixiert werden. Jacobi arbeitet bereits an seinem Allwill, während er noch »mit größter Sehnsucht den Leiden Werthers entgegen« sieht, die noch nicht erschienen sind.260 Die Verbindung naturaler Orte mit dem Prozess des Schreibens zeigt eine Veränderung in der Auffassung des Briefes. Der thematisierte Brief Jacobis an den Grafen Chotek stand noch ganz im Sinne der von Gellert beschriebenen Betrachtungsweise des Briefes als schriftliches Gespräch.261 In Jacobis Brief an Goethe vom 26.08.1774 rückt mit der Konzentration auf spezifische Orte des Schreibens auch der Vorgang des Schreibens selbst in den Fokus. Dabei fällt auf, dass die Erwähnung des Schreibvorgangs mit einem Tempuswechsel markiert ist. So heißt es: »Da schmiegten die Mädchen sich an mich, hier am Fuße des Berges, auf dessen Gipfel ich schreibe, in einer (anderthalb Stunden weit von Düsseldorf entfernten) herrlichen Gegend […]«.262 Durch den Wechsel von der Vergangenheitsform des Präteritums in die Gegenwartsform des Präsens wird der Schreibvorgang als gegenwärtiger Erzählprozess hervorgehoben, der zeitlich in der Erzählung aufgeholt wird. Die Gegenwärtigkeit des Schreibens als Vergeistigungsprozess des Lebens tritt wiederholt hervor. So formuliert Jacobi am Ende der »Nachmittags«Passage in der dritten Person über sich selbst: »Fritz schreibt an seinem Roman. – Will seinen Brief an Göthe vollenden.«263 Mit der Einnahme der grammatisch dritten Person beschreibt Jacobi seinen Aufenthalt »in der Garten-Laube eines Eremiten« aus einer Außenperspektive, als schaute er als erzählendes Ich selbst auf das Geschehen des Schreibens und auf das schreibende Ich als ein Anderes.264 Die Selbstbeschreibung in der dritten Person drückt eine Distanz zu sich selbst aus und lässt sich als Zersplitterung des Ichs deuten und stellt einen deutlichen Kontrast zum vorherigen besprochenen Brief dar. Diese Auflösung eines einheitlich verstandenen Ichs zeigt auf, dass mit der Beschreibung von außen, die mit dem Wissen des Vorhabens den »Brief an Goethe vollenden zu wollen« auch einen Einblick in das Innere von Fritz gibt, die Einheit von erlebendem und erzählendem Subjekt aufgebrochen wird.265 Diese Heterogenität des Ichs zeigt sich in der Reflexion des Schreibprozesses. Dieser Prozess wird innerhalb des Briefes als gegenwärtige Tätigkeit und als zukünftiges Geschehen beschrieben. Das Schrei260 261 262 263

Vgl. Ebd., S. 250. Vgl. Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien 2000, S. 83–107. Vgl. JBW I,1, S. 247–250, hier S. 248. Vgl. Ebd., S. 249. Carmen Götz bemerkt in ihrem Anhang zur historisch-kritischen Ausgabe der verschiedenen Allwill-Fassungen, dass diese Sätze »auch von dem während der Niederschrift anwesenden Heinse in J[acobis]s Brief eingefügt sein« könnten. Sie verweist darauf, dass Adolf Holtzmann diese Annahme vertritt. Folgt man dieser Annahme, dann handelt es sich um eine entstehungsbedingte Heterogenität des schreibenden Ichs dieses Briefes, da es aus mehreren Personen besteht. Vgl. JWA 6,2, S. 264. Vgl auch: Adolf Holtzmann: Über Eduard Allwills Briefsammlung. Jena 1878, S. 23. 264 Vgl. JBW I,1, S. 247–250, hier S. 248. Monika Nenon sieht »[i]n dieser anregenden äußeren Situation« die Absonderung des Individuums, das »zum Schöpfer, zum Autor eines literarischen Werkes« werde. Vgl. Monika Nenon: Aus der Fülle der Herzen. Geselligkeit, Briefkultur und Literatur um Sophie von La Roche und Friedrich Heinrich Jacobi. Würzburg 2005, S. 86. 265 Vgl. JBW I,1, S. 247–250, hier S. 248.

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ben ist ein Prozess, der das Erleben beständig begleitet. Gleichzeitig ist das Schreiben ein Tätigkeitsprozess, der etwas entstehen lässt und somit als ein Schöpfungsakt erscheint. Monika Nenon betont bei diesem Brief Jacobis den Zusammenhang von naturaler Umgebung und literarischer Produktivität: In der bewegten Natur entstehen im Menschen Empfindungen, die ihm ein gesteigertes Lebensgefühl vermitteln. Die Natur bietet auch Raum für Lebensgenuss und Lebensfreude im vertrauten geselligen Familien-und Freundeskreis. In dieser Umgebung kann das Individuum produktiv werden, wie Jacobi beschreibt, es wird zum Schöpfer seiner eigenen Welt, die sich in eigenen literarischen Phantasien produktiv äußert.266 Diese Doppelstruktur von Naturerleben und Schreiben zeichnet diesen Brief Jacobis aus. Die doppelstrukturelle Gestaltung des Briefes perpetuiert die Heterogenität des Ichs. Das Auseinandertreten von erlebendem und schriftlich erzählendem Ich tritt mit der Bewusstmachung des Briefes als geschrieben hervor. Diese Beobachtung lässt sich mit der historischen Schreibforschung untermauern. Martin Stingelin differenziert zwischen einer »Schreibszene« und einer »Schreib-Szene«. Unter der »Schreibszene« versteht Stingelin »die historisch und individuell von Autorin und Autor zu Autorin und Autor verschiedene Konstellation des Schreibens, die sich innerhalb des von der Sprache (Semantik des Schreibens), der Instrumentalität (Technologie des Schreibens) und der Geste (Körperlichkeit des Schreibens) gemeinsam gebildeten Rahmen abspielt, ohne dass sich diese Faktoren selbst als Gegen-oder Widerstand problematisch würden […]«.267 Davon ist nach Stingelin die »Schreib-Szene« abzugrenzen, denn »wo sich dieses Ensemble in seiner Heterogenität und Nicht-Stabilität an sich selbst aufzuhalten beginnt, thematisiert, problematisiert und reflektiert, sprechen wir von SchreibSzene.«268 Jacobi schildert in seinem Brief an Goethe »Schreib-Szenen«, die nicht nur den Prozess des Schreibens als Erzählen und Kommunikationsgeschehen mit dem adressierten Freund Goethe reflektieren, sondern auch die Materialität des Schreibens in den Blick nehmen. Der allmählich in die Laube eindringende Regen droht das Geschriebene zu zerstören und hat einen erneuten Ortswechsel zur Folge: »Der Regen ward endlich doch so dicht und so schnell, daß die Laube ihm nicht mehr überall zu wehren vermochte. Wir mußten fort […]«.269 Beim Kommunikationsmedium des Briefes ist der Vorgang des Schreibens der Akt des Kommunizierens mit dem Adressaten. Jacobi thematisiert neben dem geschilderten Naturerleben in diesem Brief Goethes

266 Monika Nenon: Aus der Fülle der Herzen. Geselligkeit, Briefkultur und Literatur um Sophie von La Roche und Friedrich Heinrich Jacobi. Würzburg 2005, S. 86. 267 Vgl. Martin Stingelin: ›Schreiben‹. In: Ders. (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004, S. 7–21, hier S. 15. Vgl. auch: Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 23. 268 Vgl. Martin Stingelin: ›Schreiben‹. In: Ders. (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004, S. 7–21, hier S. 15. Vgl. auch: Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 23. 269 Vgl. JBW I,1, S. 247–250, hier S. 249. Vgl. zur weiteren Analyse und Interpretation dieses Briefes von Jacobi: Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 341f.

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vor allem das Schreiben als unabgeschlossenen und andauernden Prozess. Durch die Aufrechterhaltung des Schreibprozesses wird der Kommunikationsakt aktiv gehalten. Die Erlebnisse des Tages, die Jacobi im Brief abschnittsweise schildert, verlaufen so ›im‹ Akt des schriftlichen Kommunizierens mit dem Adressaten Goethe. Die Progression des Schreibens ist in diesem Fall eine an den Brief gebundene kommunikationslogische Strategie, den Adressaten mit in die Erlebnisse einzubeziehen. Mit dieser erschriebenen Nähe korrespondiert die Integration des angeschriebenen Goethe in das Geschriebene. In direkter Ansprache an den Adressat Goethe heißt es: »Und nun sieh, Lieber! da hängt sie neben mir an der grünen schlanken Buche, die Jägertasche, drunter mein Stab, und drüber mein Schwert!«270 Jacobi schildert eine Pausensituation beim Wandern mitten im Wald. Die Natur wird als »Nahes und Fernes unsäglicher Schönheit« beschrieben und ist Sinnbild seiner Freundschaft mit Goethe.271 Die Briefpassage der Pausensituation ist im Präsens verfasst. Damit wird die Gleichzeitigkeit der Pause und des Schreibens suggeriert. Der im Brief adressierte Goethe wird auf diese Art und Weise als anwesend vergegenwärtigt. Dieses Unmittelbarkeitsphantasma führt Jacobi weiter aus: Höre neben mir das Wehen im dichten schützenden Gebüsche; über mir das Rauschen der Wipfel! Und dann wende dich nach dem Baume dort auf der Anhöhe, den mein Blick dir deutet! Halten soll er deine Jägertasche, dein Schwert und deinen Stab. Du wirst, du mußt hier mit mir seyn!272. Die empfindsame Identifikation weicht einer Betonung der Differenz der beiden Freunde allein durch die Distanz zwischen ihnen. Die Imagination der Nähe zum Freund beim Schreiben des Briefes wird im Prozess des Schreibens desillusioniert, da diese Tätigkeit die Abwesenheit des Adressaten voraussetzt. Daher unterscheidet dieser Brief strikt zwischen erlebenden und schreibenden Subjekten. Das erlebende Subjekt simuliert Nähe zum Freund, während das schreibende Subjekt darauf festgelegt ist, vom Freund getrennt zu sein. Dieses Unmittelbarkeitsphantasma der erschriebenen Nähe zum Freund zeigt die unüberwindliche Aporie, mit dem Schreiben eines Briefes eine zwischenmenschliche Nähe simulieren zu wollen. Denn sowohl die Schrift als Zeichenmedium sowie der Brief als Kommunikationsmedium legen die adressierte Person als abwesend fest.273 Nachdem die Imagination des gemeinsamen Erlebens von Jacobi weiter ausgeführt wird, bricht er mitten im Satz mit einem Spiegelstrich die ganze Passage ab.274 Dieser plötzliche Abbruch erscheint in diesem Brief wie ein Kollaps dieses Unmittelbarkeitsphantasmas, indem sich das schreibende Ich der Unerfüllbarkeit dieser aporetischen Sprachproduktion bewusst wird. Abschließend zeigt Nicolais Beitrag, dass im Briefwechsel zwischen Jacobi und Goethe Darstellungsformen von Naturerlebnissen als Selbst-und Freundschaftsinszenierungen genutzt werden.

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Vgl. JBW I,1, S. 247–250, hier S. 248. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. 274 Vgl. JBW I,1, S. 247–250, hier S. 248.

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Valerio Verra untersucht dagegen mit seinem Beitrag Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung bei F.H. Jacobi verschiedene Bedeutungen des Naturbegriffs bei Jacobi.275 Dieser Beitrag erscheint in dem ersten Jacobi-Sammelband, der im Jahr 1971 von Klaus Hammacher herausgegeben wurde und »die orientierende Kraft seines [Jacobis; F.K.] Denkens« herausstellt.276 Mit diesem Sammelband wird das Ziel verfolgt, Jacobis Schriften als philosophie-und literaturgeschichtlich bedeutsam herauszustellen und den Weg für weitere Forschungen zu ebnen. Verra hebt die Komplexität und Vielfalt der Naturbegriffe in Jacobis Schriften hervor. Sein Ansatz ist es innerhalb von drei Schritten die weitausufernde Thematik der Natur bei Jacobi zu skizzieren: erstens, das Fortschreiten Jacobis von einem ziemlich unbestimmten Natur-und Lebensgefühl zu einem genaueren Weltbild zu verfolgen; in welchem dem strengen wissenschaftlichen Naturbegriff eine moralisch-religiös begründete Naturauslegung scharf entgegengesetzt wird; zweitens, den Umfang und die Tragweite des streng wissenschaftlichen Naturbegriffs zu bestimmen, insofern dieser Begriff sogar auf die Natur des Menschen bezogen werden kann; drittens, einen weiteren Sinn des Wortes Natur zu erörtern, der aus allen Schriften Jacobis herauszufinden ist, und der weder mit dem Begriff der Natur als Außenwelt noch mit dem streng wissenschaftlichen Begriff der Natur als Mechanismus zusammenfällt.277 Bei dem Erlebnis von Natur stehe in Jacobis Briefen der 1770er Jahre und auch in den Frühfassungen seiner Erzählwerke »lebendige[] und belebende[] Teilnahme des Menschen an dem Leben der Natur, und der Natur an dem Leben des Menschen« im Vordergrund.278 Das Besondere der Naturauffassung und ihrer Darstellung Jacobis sei die Lebendigkeit, die den Menschen und die Natur verbinde.279 Trotzdem erscheine die Natur in Jacobis literarischen Naturdarstellungen selbst nicht als Akteur, sondern als ein ästhetisch hervorgehobener Raum: Tatsächlich hat Jacobi in den Romanen meistens die Natur als eine mit Rokokomerkmalen (Anmut, Zärtlichkeit usw.) bezeichnete Landschaft geschildert, die nur als eine Art Szenerie für menschliches Handeln und Geschehen wichtig ist, als die Bühne, worauf ein menschliches Drama oder vielmehr Melodrama aufgeführt wird. Das Naturgefühl wird nämlich immer auf das seelische Leben des Menschen, man könnte sagen, 275 Vgl. Valerio Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung bei F.H. Jacobi. In: Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16. – 19.10.1969) aus Anlaß seines 150. Todestages und Berichte. Frankfurt a.M. 1971, S. 259–280. 276 Vgl. Klaus Hammacher: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16. – 19.10.1969) aus Anlaß seines 150. Todestages und Berichte. Frankfurt a.M. 1971, S. VII. Es wurden inzwischen zwei weitere Sammelbände zu Jacobi von Birgit Sandkaulen und Walter Jaeschke veröffentlicht, die jedoch rein philosophische Fragestellungen ins Zentrum stellen: Walter Jaeschke/Birgit Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004; Walter Jaeschke/Birgit Sandkaulen (Hg.): Jacobi und Kant. Hamburg 2021. 277 Ebd., S. 260. 278 Vgl. Ebd. 279 Vgl. Ebd.

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auf seine Stimmung oder Verstimmung bezogen, aber nie als ein spezifisches Organ angesehen, um die Natur erkenntnistheoretisch zu erschließen, geschweige denn eine spekulative Naturphilosophie zu begründen.280 Laut Verra ist die Beschreibung von naturalen Erfahrungen in den Erzählwerken Jacobis darauf beschränkt, dass die Natur in Form von naturalen Elementen eine Kulisse formiert. Für Jacobi stehe nicht die wissenschaftliche Erschließung der Natur oder einzelner naturaler Elemente im Vordergrund, sondern die Natur spiegle »das seelische Leben des Menschen« wider.281 Dieses Potenzial hat für Verra in empfindsamer Prägung vor allem »eine religiöse Färbung«.282 Das soll aber nicht heißen, daß Gott nach Jacobi, wie nach Goethe in herbis et lapidibus gesucht werden kann, oder daß das mannigfaltige Erscheinen und sich Verwandeln der Naturgestalten als ein sich Offenbaren Gottes zu bewundern ist. Im Gegenteil meint Jacobi, daß Gott nur auf einem ganz anderen Weg zu finden ist, d.h., über die Natur hinaus, durch die Vernichtung und die Auflösung der Endlichkeit und der Sinnlichkeit des Naturwesens; deshalb scheint es sehr bemerkenswert, daß gerade da, wo das Naturgefühl am stärksten religiös geprägt ist, es auch am engsten mit dem Todesgedanken verbunden ist […].283 Darin liegt für Verra der Unterschied von Jacobis Naturauslegung zu physikotheologisch geprägten Naturauffassungen. Verra erläutert, dass die Physikotheologie naturwissenschaftliche Methoden der Analyse naturaler Elemente anwende, um so »die fortdauernde schöpferische Wirkung Gottes in der Natur« belegt zu sehen.284 Bei Jacobi habe sich jedoch mehr und mehr die Annahme verfestigt, »daß die wissenschaftliche Erforschung der Natur auf ein rein mechanistisches Weltbild hinauslaufen müßte, demzufolge nur eine durchaus entleerte und verwüstete Welt sich denken läßt«.285 Auf diese Weise verdeutlicht Verra, dass für Jacobi die sezierende Naturwissenschaft und eine strikt rationale Wissenschaft lediglich die Welt entzaubert. Dieses Vorgehen führe Jacobi zufolge »den Menschen auch nicht um ein Haar breit näher [zu] der Erkenntnis des Wahren«.286 Dieses Wahre ist bei Jacobi, Verra zufolge, mit der Frage nach der inneren Beschaffenheit von Lebendigkeit verbunden. Die Frage nach der inneren Bestimmung von Leben sei eine beständige Thematik der Naturauffassung Jacobis. Verra verweist darauf, dass Jacobi in mehreren seiner philosophischen Schriften den menschlichen Geist als ontologische Entität des menschlichen Daseins betrachtet.287 Somit sei der menschliche Körper nur eine materielle Hülle und dieses »Naturwesen« müsse für eine Annäherung an das Göttliche im Menschen überwunden werden.288 Die genuine Lebendigkeit des Menschen sei sein 280 281 282 283 284 285 286 287 288

Ebd., S. 261. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 262. Ebd. Vgl. Ebd., S. 263. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 264–268 und 276ff. Vgl. Ebd., S. 262.

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Geist. Diese Spezifizierung der menschlichen Lebendigkeit in ontologischer Perspektive führe unweigerlich zu der Frage, was die Natur und alle naturalen Elemente für eine inhärente Lebendigkeit aufweisen. Der Mensch könne in der sezierenden Untersuchung naturaler Elemente Mechanismen und rational erschließbare Gesetzmäßigkeiten entdecken, aber das sei nach Jacobi bloß ein Resultat seiner Erkenntnismöglichkeiten und erschließe nicht die in der Natur verborgene Lebendigkeit Gottes.289 Hervorzuheben ist daher, dass Naturerfahrung für Jacobi keine Gotteserfahrung sein kann, denn das Göttliche erlebe der Mensch nur in einer Überwindung seines »Naturwesen[s]«.290 Das bedeute nicht die Zerstörung des naturalen Daseins des Menschen, sondern die Hinwendung zum Geist. Ausgehend von diesen Betrachtungen schlussfolgert Verra, dass die Naturschilderungen in Jacobis Erzählwerken nicht als pantheistisch wie bei Goethes Werther zu deuten seien. Die Erfahrung der Natur durch sinnliche Eindrücke führe den Menschen zu der Gewissheit, dass er selbst im Inneren eine immaterielle Beschaffenheit habe, die Jacobi Geist nennt. Verra arbeitet mit der Natur-Geist-Dichotomie eine Denkfigur heraus, die in Form von Notwendigkeit und Freiheit ein Zentrum von Jacobis Schriften bildet. Thomas Stäcker verfolgt in seiner Dissertationsschrift Der Aufruhr der Seele. Zur Romankonzeption Friedrich Heinrich Jacobis, die im Jahr 1993 erschienen ist, einen anderen Ansatz, zentralisiert aber ebenfalls die Thematik der Natur für die Erzählwerke Jacobis. Stäcker differenziert strikt zwischen den Früh-und Spätfassungen der Erzählwerke. Sein Fokus liegt auf den Frühfassungen, da in den Spätfassungen das Ausführen philosophischer Überlegungen der Schwerpunkt sei. Bei den Spätfassungen komme es »auf das Darzustellende« an.291 Daher trete »die Darstellung, die literarische Form« in den Hintergrund.292 Dies sei bei den Frühfassungen genau umgekehrt, weswegen diese Fassungen literaturwissenschaftlich von größerem Interesse seien.293 Auf dieses Zentrum ist sein Beitrag strukturell angelegt, der zweiteilig aufgebaut ist. Zunächst visiert Stäcker zur Einführung an »[d]as Naturbild der Empfindsamkeit« vorzustellen.294 Stäcker versteht die Hinwendung zu naturalen Räumen in der literatur-und mentalitätsgeschichtlichen Tendenz der Empfindsamkeit ähnlich wie Nikolaus Wegmann als politisches Ereignis. Anhand des »Schlagwort[s] der Zärtlichkeit« untersucht Wegmann eine »Ausdifferenzierung des Empfindsamkeitsdiskurses« und betrachtet die als empfindsam her289 Vgl. Ebd., S. 270f. 290 Vgl. Ebd., S. 262f. 291 Vgl. Thomas Stäcker: Der Aufruhr der Seele. Zur Romankonzeption Friedrich Heinrich Jacobis. Hamburg 1993, S. 215–225, hier S. 218. 292 Vgl. Ebd. 293 Diese Ansicht vertritt auch Heinz Nicolai in mehreren Beiträgen: Heinz Nicolai: Jacobis Romane. In: Klaus Hammacher (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit. Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16. – 19.10.1969) aus Anlaß seines 150. Todestages und Berichte. Frankfurt a.M. 1971, S. 347–360, hier S. 358f; Heinz Nicolai: Nachwort. In: Friedrich Heinrich Jacobi: Eduard Allwills Papiere. Faksimiledruck der erweiterten Fassung von 1776 aus Chr. M. Wielands »Teutschen Merkur«. Hg. von Heinz Nicolai. Stuttgart 1962, S. 113–130, hier S. 129f; Heinz Nicolai: Nachwort. In: Friedrich Heinrich Jacobi: Woldemar. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1779. Hg. von Heinz Nicolai. Stuttgart 1969, S. 1–19, hier S. 19. 294 Vgl. Thomas Stäcker: Der Aufruhr der Seele. Zur Romankonzeption Friedrich Heinrich Jacobis. Hamburg 1993, S. 5–55.

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ausgestellten Tendenzen und Elemente als Formen einer expliziten und impliziten politischen Haltung gegenüber der höfisch-feudalen Ordnung und den damit einhergehenden sozialen Umgangsformen.295 Für Wegmann ist das entscheidende Spezifikum der literatur-und mentalitätsgeschichtlichen Tendenz der Empfindsamkeit im Wandel von sozialen Umgangsformen zu finden. Dieser Wandel sei ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.296 Dieser gesamtgesellschaftliche Aspekt entgeht Stäcker, da er diese Tendenz nahezu ausschließlich als bürgerliche Emanzipationsbestrebung deutet. Stäcker zieht für ›das‹ Naturbild der Empfindsamkeit das folgende Resümee: In der Natur fanden die Protagonisten der Empfindsamkeit die (Handlungs-)Freiheit, die der herrschende Adel ihnen gesellschaftlich sonst überall vorenthielt. […] Stattdessen erfolgte eine Reduzierung des Naturbegriffs auf einzelne schöne und harmonische Erscheinungsformen, denen, weil sie mit den subjektiven Empfindungen perfekt harmonierten, stillschweigend unterstellt wurde, daß sie die ›wahre Natur‹ in ihrer Totalität ausmachten.297 Stäcker wird in seinem Beitrag die im ersten Kapitel aufgestellte These dieses Naturbildes auf die Frühfassungen der Erzählwerke anwenden. Dabei bleibt er seiner Annahme treu, dass die empfindsame Naturauffassung vor allem als Ausdruck einer bürgerlichen Emanzipationsbewegung zu verstehen sei. Stäcker deutet bei Jacobis Allwill in der Frühfassung von 1776 die Einführung der Figur Sylli mit einer betont spezifischen Gemütsverfassung als Reaktion einer sich im Wandel befindlichen Gesellschaft.298 Er konzentriert sich bei der Untersuchung von Naturschilderungen in dem Werk Eduard Allwills Papiere auf den zweiten Brief, in dem Sylli eine idyllische Szene schildert.299 Der »begrenzte Naturausschnitt«, der von Sylli betrachtet würde, stehe als Personifikation der Natur in ihrer Totalität und fungiere als Gegenbild gesellschaftlicher Verhältnisse.300 Stäcker beschreibt dies als »typisch empfindsame Naturauffassung«.301 Die Natur sei ein Leitbild eines zukünftigen Daseins, das die feudale Ordnung ablöse.302 Unter diesem Vorzeichen betrachtet Stäcker auch Jacobis Woldemar. Er sieht auch hier ein »typisch empfindsames [] Naturbild«, das in Kontrast zu Woldemars »melancholisch-resignative[r]

295 Vgl. Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 40–70. 296 Die Diskussion, ob die Empfindsamkeit eine bürgerliche oder antibürgerliche Bewegung oder gar Ideologie sei, wird für Wegmann daher obsolet. Vgl. für eine Diskussion der Forschungsbeiträge von Empfindsamkeit und Bürgerlichkeit: Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Band I: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. XI-XX. Vgl. dazu ausführlich: Lothar Pikulik: Leistungsethik contra Gefühlskult. Über das Verhältnis von Bürgerlichkeit und Empfindsamkeit in Deutschland. Göttingen. 1984. 297 Thomas Stäcker: Der Aufruhr der Seele. Zur Romankonzeption Friedrich Heinrich Jacobis. Hamburg 1993, S. 50–55, hier S. 53. 298 Vgl. Ebd., S. 61–65. 299 Vgl. für diesen Brief: JWA 6,1, S. 10f. 300 Vgl. Thomas Stäcker: Der Aufruhr der Seele. Zur Romankonzeption Friedrich Heinrich Jacobis. Hamburg 1993, S. 69. 301 Vgl. Ebd. 302 Vgl. Ebd., S. 61f, in seiner Zusammenfassung unterstreicht er dies noch einmal S. 275f.

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Grundstimmung« gesetzt werde.303 Für Stäcker drücken die Erzählwerke Jacobis eine gesellschaftskritische Tendenz aus und er gelangt mit Blick auf Jacobis Woldemar zu dem folgenden Fazit: Die freie Natur ist das Refugium des bürgerlichen Individuums, das sich aus Lebenszusammenhängen fortsehnt, die nicht für es gemacht sind, die nicht seinen Streben nach Entfaltungs-und Entwicklungsmöglichkeit Raum geben, sondern seine Subalternität festschreiben und ihm damit beständig Gewalt antun. Demgegenüber wird die Natur in ihrer Gesamtheit als schöne Landschaft idealisiert und so zu einem trostspendenden Gegenpol.304 Folglich erkennt Stäcker in den Erzählwerken Jacobis ›das‹ Naturbild der Empfindsamkeit wieder, das er in dem ersten Teil seiner Dissertation formiert. Diese Deutung der Naturdarstellungen wird für die Spätfassungen beibehalten. Stäcker stellt dar, dass nach den Frühfassungen der Erzählwerke eine entscheidende philosophische Schaffensphase folgt.305 Die Spätfassungen seien Fortschreibungen von Jacobis philosophischen Schriften, was sich auch in den philosophischen Erweiterungen dieser Fassungen zeige. Hinsichtlich der Naturschilderungen sei lediglich bei den Spätfassungen die besondere Hervorhebung der Einsamkeit im Gegensatz zu den Frühfassungen eine Veränderung. Diese Betonung der Einsamkeit affirmiere die gesellschaftskritische Tendenz.306 Zusammenfassend ist für Stäcker der Aufruhr der Seele, der in Jacobis Erzählwerken geschildert werde, als bürgerliches Aufbegehren gegen die feudalabsolutistische Ordnung zu verstehen. Anders hingegen untersucht Kurt Christ in seinem 1998 erschienenen Beitrag F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis das Erzählwerk Woldemar auf Beeinflussungen und Tendenzen, die Jacobi durch seine Rousseaurezeption entwickelt habe. Der Beitrag stellt zunächst eine umfangreich recherchierte Biographie von Jacobis erster Lebenshälfte dar. Biografisch hebt Christ Jacobis Genfer Jahre hervor, in denen er sich intensiv mit der französischen Aufklärungsphilosophie beschäftigte. Aus Genf nach Düsseldorf zurückgekehrt, wird Jacobi vermittelt durch seinen Bruder Johann Georg Jacobi unter anderem mit Christoph Martin Wieland und Sophie La Roche bekannt. Christ verdeutlicht, dass Jacobi sich durch seinen Bruder persönlich und brieflich in Kreisen bewegte, die in literaturästhetischen Fragen eine Gegenposition zu Goethe und dessen Umfeld einnahmen.307 Die Vorbildhaftigkeit Goethes für das literarische Schaffen Jacobis sei daher kritisch zu hinterfragen. Dies zeige sich deutlich in ihren unterschiedlichen Formen der Rousseaurezeption. Christ stellt dar, dass »[d]ie Dimensionen der Rousseau-Rezeption bei Goethe und Jacobi […]

303 304 305 306 307

Vgl. Ebd., S. 165f. Ebd., S. 166. Vgl. Ebd., S. 213f. Vgl. Ebd.,, S. 225–242 hier S. 227f. Vgl. dazu auch: Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965, S. 7–36.

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durchaus unterschiedlicher Intensität und von unterschiedlicher Intention [seien]«.308 Für Christ ist das Verständnis von Natur bei Jacobi durch Rousseau geprägt. Dies zeige sich in den Beschreibungen von Naturerlebnissen im Woldemar: […] neben tränenselig überreizten Situationen, die hart an der Grenze selbstverliebter Sentimentalität verlaufen, erscheinen brillante Naturschilderungen, die den assoziativ sich aufdrängenden Rousseauschen Naturbeschreibungen etwa aus der Nouvelle Héloïse in ihrem unio mystica-Charakter kaum nachstehen.309 Christ verweist auf die Verbindung von Natur-und Gotteserfahrung. Im Sinne seines Forschungsinteresses liegt sein Schwerpunkt bezüglich der Naturdarstellungen im Woldemar darauf, mögliche Beeinflussungen durch Rousseaus Julie kenntlich zu machen. In diesem Kontext sieht er in Jacobis Woldemar »eine stimmungsvoll-magische Naturschilderung«, die der Julie entlehnt sein könnte und »in die Romantik überleitet«.310 Christ sieht in der Besprechung der Gartentheorie zwischen Woldemar und Dorenburg eine Schlüsselszene.311 Dieses Gespräch erfülle zwischen den beiden Figuren die Funktion, »die Fehlinterpretation des Naturbegriffs Rousseaus, seine Losung retour à la nature zu erhellen«.312 Die Diskussion um die Gartentheorie habe im Woldemar »Züge eines ästhetischen Diskurses«.313 Diese ästhetische Debatte führe vor, dass der Mensch heterogene Qualitäten in seinem Dasein aufweise und seine schöpferischen Möglichkeiten nicht überschätzen dürfe: Woldemar führt den Freunden die Selbstvermessenheit ihres Ansinnens vor Augen. In dem Maße, wie sie verbissen versuchen, als Menschen aus Leib und Seele, als Wesen von animalisch-leidenschaftlicher und ideal-supranaturaler Qualität sich in die gottesgleiche Sphäre alleiniger Tugendverwaltung emporzuarbeiten, so anmaßend verhalten sie sich in den Augen Woldemars, wenn sie versuchen, Gottes prinzipiell unnachahmliche Schöpfung selbst hervorzubringen.314 Nach Christ verstehe Dorenburg den Spruch Rousseaus retour à la nature als ästhetische Hinwendung zur Natur, wobei die Natur ›als Natur‹ nachgeahmt werden solle. Kunst wäre demnach vom Menschen geschaffene Natur. Daher müsse auch ein Garten Nachahmung der Natur sein. Woldemar hält dies für ein Missverständnis von Rousseau. Für ihn beschreibt die Rückbesinnung auf die Natur vielmehr eine Selbsterkenntnis, die in 308 Vgl. Kurt Christ: F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg 1998, S. 246–250, hier S. 247. 309 Ebd. 310 Vgl. Ebd., S. 301f. 311 Vgl. Ebd. 312 Vgl. Ebd. 313 Vgl. Ebd., S. 302. Die Gartentheorie avancierte in dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts zu einem intensiv geführten, ästhetischen Diskussionszusammenhang. Dafür bürgt exemplarisch die fünf Bände umfassende Theorie der Gartenkunst von Christian Cay Lorenz Hirschfeld, die 1779 bis 1785 veröffentlicht wurde. 314 Kurt Christ : F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg 1998, S. 301f.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

»seiner [der menschlichen; F.K.] Doppelstruktur aus Trieb und Geist« läge.315 Natürlichkeit zeige sich für Woldemar in einer Lebensart, die den heterogenen Qualitäten des menschlichen Daseins gerecht werde. Daher verstehe Woldemar den Garten als Kunst und Kunst sei niemals Natur. Ein Garten müsse künstlerisch verfeinerte Natur zeigen, denn der Mensch »kann […] die Wunderwerke einer ihm letztlich unbegreiflichen Schöpfung qualitativ und quantitativ nicht nachahmen, allenfalls auf sie veredelnd-künstlerisch einwirken«.316 Eine ähnliche Debatte wird Woldemar mit seinen Familienmitgliedern auch hinsichtlich der individuellen Lebensgestaltung führen.317 Für diese Kontroverse hebt Christ hervor, dass die Klarstellung eines anthropologisch gewendeten Naturbegriffs zu einer Umdeutung der Rückbesinnung auf die Natur führe.318 Christs Beitrag zeigt deutlich auf, dass die Diskussion der Gartentheorie in der Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kunst kulminiert. Diese Verhältnisbestimmung führt jedoch – dies führt Christ klar auf – zu der Frage ›Was ist der Mensch?‹. Alle ästhetischen Fragestellungen lassen sich erst im Anschluss daran beantworten. Ein umfangreicher Beitrag zu Jacobis Briefwechsel, der an einigen Stellen auch Einblicke in die Erzählwerke vornimmt, stammt von Carmen Götz aus dem Jahr 2008 und trägt den Titel Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. In ihrer interdisziplinären Dissertationsschrift konzentriert sich Götz auf die Thematisierung des »Andere[n] der Vernunft« im Briefwechsel Jacobis.319 Mit Bezug auf Hartmut und Gernot Böhme beschreibt sie das »Andere der Vernunft« mit den fünf Begriffen »Gefühl, Begehren, Leib, Natur und Phantasie«.320 In diesen Diskussionszusammenhängen trete »ein gemeinsamer Moment« hervor: Die durch den Fokus des Briefwechsels freigelegte Ansicht des Zeitgeschehens – wie auch des Lebens und Werkes von Jacobi – läßt sich in allen Einzelaspekten begreifen als Ausdruck eines Säkularisierungsprozesses. Säkularisierung ereignet sich in zwei grundlegenden und miteinander verbundenen Dimensionen: einerseits als Absage an und Entfernung vom Christlichen/Religiösen als einer außerweltlichen Transzendenz, andererseits als Eingehen des Christlichen/Religiösen ins Weltliche, d.h. als Sakralisierung des Diesseits.321

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Vgl. Ebd., S. 303. Ebd. Vgl. für diese Debatte in der Woldemar-Fassung von 1796: JWA 7,1, S. 287–321. Kurt Christ : F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg 1998, S. 303–308. 319 Vgl. Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 1f. 320 Vgl. Ebd. Vgl. für den Bezugspunkt von Götz: Hartmut Böhme/Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a.M. 1983; Hartmut Böhme/Gernot Böhme: Currente Vernunft. Zum Projekt einer anderen Aufklärung. In: Ästhetik und Kommunikation. Heft 57/58. Berlin 1985, S. 225–232. 321 Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 1f.

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Mit der »Sakralisierung des Diesseits« gehe eine »innerweltliche Einlösung der religiösen Heilsversprechen« einher.322 Dies »manifestier[e] sich nicht zuletzt in jenen kulturellen Konstrukten von Aufklärung und Empfindsamkeit […] wie [dem] Freundschafts-und Naturkult«.323 Die Untersuchung von brieflichen und literarischen Naturdarstellungen steht bei Götz unter dem Vorzeichen dieser Säkularisierungsthese. Bei den Darstellungen von Naturerfahrungen in Jacobis Briefwechsel und in seinen Erzählwerken hebt Götz die Subjektivierung hervor, die sie »als de[n] höchste[n] Ausdruck einer restlosen Aneignung der Natur« versteht.324 Das Erlebnis von naturaler Räumlichkeit werde zur Selbstthematisierung perpetuiert.325 Bezüglich der deutschsprachigen literarischen Idyllik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellt Götz die These auf, dass das idyllische Erleben als ein erlösender Säkularisierungsprozess zu betrachten sei. In diesem Zusammenhang deutet Götz die Rolle der Natur in Jacobis Briefwechsel und »in seinen Romanen« als »intramundane[n] Erlösungsraum«,326 wodurch sie sakralisiert werde: Die Identifikation der Natur mit Unendlichkeit – und zwar des Raumes wie der Zeit[] – prädestiniert sie als Ort einer phantasmatischen Erfüllung des basalen menschlichen Begehrens nach Überwindung der Endlichkeit.327 Die Betrachtung der idyllischen Naturdarstellungen in Jacobis Erzählwerken zeige die Eingebundenheit Jacobis in die »Diskurse[], Konstrukte[] und Moden der Zeit«.328 An der Idyllik des 18. Jahrhunderts trete neben dem »Ideal vollkommener Harmonie mit Natur und Mitmensch als Zustand höchster Glückseligkeit« die innerweltliche Transzendierung der Endlichkeit hervor.329 Das bedeute, dass die Natur als Elysium heraufbeschworen würde. Im Sinne ihrer Säkularisierungsthese hebt Götz hervor, dass das Elysium »seiner mythischen Bedeutung nach als Ort für die Unsterblichkeit selber« stehe.330 Götz zieht, obwohl sie in markanter Weise den Begriff Elysium in den Vordergrund stellt, an dieser Stelle keinen Bezug zu Schillers Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung von 1795. Schiller fordert in dieser Schrift, dass die Idylle den Weg von Arkadien nach Elysium dichterisch vorzeichnen müsse. Das heißt, dass der zivilisierte Mensch nicht

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Vgl. Ebd., S. 2. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 367. Vgl. Ebd., S. 365f. Vgl. S. 403. Ebd., S. 328. Götz stützt sich bei dieser pointierten These auf die folgenden kulturgeschichtlichen Studien: Ruth Groh/Dieter Groh: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt a.M. 1991; Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1987; Marjorie Hope Nicolson: Mountain Gloom und Mountain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite. Ithaca 1959. An dieser Stelle muss kritisch angemerkt werden, dass Jacobis Vorstellung von Natur als eine Endlichkeitsidentifikation betrachtet werden muss. Dadurch erscheinen idyllische Naturschilderungen bei Jacobi als ein reflektiertes Phantasma. 328 Vgl. Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 404. 329 Vgl. Ebd., S. 329. 330 Vgl. Ebd.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

mehr zurück zur Natur kann und sich die Dichotomie Natur und Zivilisation formiert habe. Der Weg, den die Idylle zu beschreiten habe, sei die Versöhnung von Natur und Zivilisation, in dem Sinne, dass die Dichotomie selbst aufgelöst wird.331 Für Schiller ist die Vollendung der Idylle »der Begriff eines völlig aufgelösten Kampfes« in individueller und gesellschaftlicher Hinsicht.332 Dies begreift er »als das Ideal der Schönheit auf das wirkliche Leben angewendet«.333 Die »Hirtenunschuld«, die für die arkadische Idylle konstitutiv ist, soll die ›moderne‹ Idylle334 auf den zivilisatorischen Menschen übertragen.335 Das Elysium sei erreicht, wenn [die] Subjekte[] der Kultur unter allen Bedingungen des rüstigsten feurigsten Lebens, des ausgebreitesten Denkens, der raffiniertesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung [jene Hirtenunschuld leben].336 Der Begriff des Elysiums ist daher für die Säkularisierungsthese, die Götz stark macht und auf die gesamte Idyllik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bezieht, etwas irritierend, da dieser Begriff literaturgeschichtlich im Gebiet der Idyllentheorie mit Schiller verbunden und spezifisch semantisiert ist. Mit dem schillerschen Verständnis des Begriffs Elysium wird die Frage aufgeworfen, inwieweit das »ausgebreiteste[] Denken« überhaupt mit moralischer »Hirtenunschuld« vereinbar ist.337 Schiller schreibt in einem Brief an Wilhelm vom Humboldt vom 30.11.1795, dass er seine Elegie Das Reich der Schatten, die 1795 im neunten Stück der Horen erschienen ist, mit einer Idylle in einem gewissen Sinne fortführen möchte: Ich habe ernstlich im Sinn, da fortzufahren, wo das Reich der Schatten aufhört, aber darstellend und nicht lehrend. Herkules ist in den Olymp eingetreten, hier endigt letzteres Gedicht. Die Vermählung des Herkules mit der Hebe würde der Inhalt meiner Idylle seyn. Ueber diesen Stoff hinaus giebt es keinen mehr für den Poeten, denn dieser darf die menschliche Natur nicht verlassen, und eben von diesem Uebertritt des 331

Vgl. Helmut J. Schneider: Einleitung: Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie. In: Ders. (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 7–74, hier S. 58–62. 332 Vgl. Friedrich Schiller: Idylle. Aus: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795). In: Helmut J. Schneider (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 185–192, hier S. 191f. 333 Vgl. Ebd. 334 Helmut J. Schneider weist darauf hin, dass bei Schillers Idyllentheorie »das Modernitätsbewußtsein der Moderne – und das heißt ihre Neuzeitlichkeit selbst – […] sich am Bild der verlorenen antiken Natürlichkeit [formt].« Die Idylle sei bei Schiller diejenige Dichtungsart, welche »die essentielle Bildlosigkeit der modernen Dichtung, die das Ideal nur negativ darstellen« könne breche. Vgl. Helmut J. Schneider: Einleitung: Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie. In: Ders. (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 7–74, hier S. 60f. Vgl. auch die bei Schneider angeführte Literatur. 335 Vgl. Friedrich Schiller: Idylle. Aus: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795). In: Helmut J. Schneider (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 185–192, hier S. 191f. 336 Ebd. 337 Vgl. Ebd.

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Menschen in den Gott würde diese Idylle handeln. Die Hauptfiguren wären zwar schon Götter, aber durch Herkules kann ich sie noch an die Menschheit anknüpfen und eine Bewegung in das Gemälde bringen. Gelänge mir dieses Unternehmen, so hoffte ich dadurch mit der sentimentalischen Poesie über die naive selbst triumphirt zu haben.338 In diesem Brief zeigt sich, wie auch schon in Schillers 1795 veröffentlichter Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung, dass die Idylle bei Schiller im Grenzgebiet zwischen Menschlichkeit und Göttlichkeit platziert ist. Schiller versteht die Bildung einer Idylle in seinem Verständnis als »[d]as Ideal der Schönheit objektiv […] individualisier[t]«.339 Ein solch entworfenes Individuum ist ein vergöttlichter Mensch.340 Dies erklärt, warum seine Idylle im Feld der Götter verortet ist und mit Herkules lediglich noch ein Anknüpfungspunkt zu der Menschheit gegeben ist. So bekräftigt Schiller im Brief an Humboldt die vollkommene Entgrenzung in der geplanten Idylle: Denken Sie Sich aber den Genuß, lieber Freund, in einer poetischen Darstellung alles Sterbliche ausgelöscht, lauter Licht, lauter Freyheit, lauter Vermögen – keinen Schatten, keine Schranke, nichts von dem allem mehr zu sehen.341 Schiller hat die Ausführung dieser Idylle nicht in die Tat umgesetzt; von ihr bleibt nur die Idee. Diese Idee zeigt aber, dass die Auflösung der kulturgeschichtlich im 18. Jahrhundert so wirksamen Dichotomie von Natur und Zivilisation, von Hirtenunschuld und ausgebildeter Geisteskräfte ein Zustand ist, der so unüberwindbar scheint, dass die Überschreitung den Menschen vergöttlichen würde.342 Die Möglichkeiten des Menschen grenzen an das Erreichen dieses Zustands nur an. Allerdings kann ein pädagogisches Konzept, das dem Ideal der Schönheit verpflichtet ist, wie es in den ebenfalls 1795 publizierten Schriften Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen entworfen

338 Brief Friedrich Schillers an Wilhelm von Humboldt vom 30.11.1795. Schillers Werke Nationalausgabe. Band 28: Schillers Briefwechsel 01.07.1795 – 31.10.1796. Hg. von Norbert Oellers. Weimar 1969, S. 115–122, hier S. 119. 339 Ebd. 340 Klaus Garber sieht bei Schiller die Anvisierung des »Endzustand[s] der Menschheit«. Vgl. Klaus Garber: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit. Gesammelte Studien. München 2009, 521f. 341 Brief Friedrich Schillers an Wilhelm von Humboldt vom 30.11.1795. Schillers Werke Nationalausgabe. Band 28: Schillers Briefwechsel 01.07.1795 – 31.10.1796. Hg. von Norbert Oellers. Weimar 1969, S. 115–122, hier S. 120. 342 In diesem Kontext sieht Lothar Pikulik bei Schillers Auffassung des Sentimentalischen die ästhetische Möglichkeit »das Gefühl zur Idee und […] Empfindsamkeit zum Idealismus« zu erheben, insofern es auf diese Grenzüberschreitung gerichtet wird. Dann erhielte »der Begriff des Sentimentalischen einen erweiterten Sinn«: »Er bedeutet jetzt nicht mehr nur eine Empfindungsweise, sondern ein geistiges Interesse, den Zwiespalt sowohl zwischen Ich und Welt wie zwischen Sein und Bewußtsein zu überwinden und den Mangel an Ganzheit zu kompensieren.« Vgl. Lothar Pikulik: Schiller und die Empfindsamkeit. Zu den Briefen bis 1793 und der Schrift »Über naive und sentimentalische Dichtung«. In: Klaus Garber/Ute Széll (Hg.): Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. München 2005, S. 215–233, hier S. 232.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

wird, den Menschen dazu führen, seine Möglichkeiten auf diesen Zustand hin zu entfalten.343 Dies zeigt auf, dass die deutschsprachige Idyllik des 18. Jahrhunderts nicht ohne Weiteres auf den von Schiller prominent gesetzten und spezifisch semantisierten Begriff des Elysiums bezogen werden kann. Der Ansatz von Götz, den Begriff des Elysiums für ein Transzendierungsbegehren zu verwenden, das mit der Hinwendung zur Natur als Unendlichkeitschiffre Erlösung findet, scheint unnötig begrifflich zu verwirren, da der schillersche Begriff des Elysiums auf einen menschlichen Vollkommenheitszustand verweist, der sich auf die innere Beschaffenheit des Menschen bezieht. Götz sieht das Elysium in der Hinwendung zu einer Vorstellung von Natur als Unendlichkeit von Zeit und Raum, während Schiller das Elysium als erlangte innere Zustandsform ansieht, die von einer Vorstellung von Natur, die sich auf Zeit und Raum bezieht, abstrahiert. Götz muss ihre eigene These bereits im Hinblick auf Jacobis Schriften relativieren, denn sie bemerkt, dass Jacobis Vorstellung von Natur ebenfalls nicht mit einer Identifikation von Unendlichkeit von Zeit und Raum vereinbar ist. Mit Blick auf die Erzählwerke Jacobis stellt Götz zunächst fest, dass hier »einer falsch verstandenen »Natur« eine ›echte‹ entgegengesetzt« werde.344 Die Erfahrung von Natur könne bei Jacobi auch in der »wissenschaftliche[n] Naturbetrachtung zu keiner Enthüllung des Göttlichen führen.«.345 Das heißt, dass Gott in der Natur nicht rational erkannt werden kann. Laut Götz ist dies die wesentliche Differenz von Jacobis Naturauffassung »zur Physikotheologie, aber auch zu den nachfolgenden Pantheisten«.346 Götz baut thematisch den Beitrag von Verra wie folgt weiter aus: Der von der Physikotheologie postulierte Verweisungscharakter des Endlichen auf das Unendliche, der Natur auf Gott, kann sich Jacobi zufolge nur über den Menschen, nur über das Subjekt, herstellen, insofern letzteres das Göttliche in sich enthält. Das Endliche verweist auf seine Quelle: Gott als den Urheber, d.h. als das vollkommen freie, selbsttätige Wesen. Aber dieser Verweis kann nur vom Menschen entschlüsselt werden, insofern er selbst – und zwar als das einzige endliche Wesen – sich als selbsttätig erfährt, d.h. (absolute) Freiheit als Möglichkeit denken kann.[] In der ästhetisch vermittelten Sakralisierung der Natur wie im Rahmen der Auseinandersetzung mit der »unheiligen« Natur und den Diskussionen um eine pantheistische Position zeigt sich gleichermaßen jene Wende zum Subjekt, die den Säkularisierungsprozeß der Spätauf-

343 Vgl. Carsten Behle: »Heil dem Bürger des kleinen Städtchens«. Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2002, S. 300–330. Vgl. auch: Thomas Ulrich: Anthropologie und Ästhetik in Schillers Staat. Schiller im politischen Dialog mit Wilhelm von Humboldt und Carl Theodor von Dalberg. Frankfurt a.M. 2011, S. 334–369. 344 Vgl. Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 404. 345 Vgl. Ebd., S. 405. Vgl. auch: Valerio Verra: Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung bei F. H. Jacobi. In: Klaus Hammacher (Hg.): Philosoph und Literat der Goethezeit Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16. – 19.10.1969) aus Anlaß seines 150. Todestages und Berichte. Frankfurt a.M. 1971, S. 259–280, hier S. 263. 346 Vgl. Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 405.

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klärung kennzeichnet: Die Natur ist bei Jacobi nur göttlich als und im Medium des Subjekts.347 Bei Jacobis Naturerfahrung sei nicht die Natur ›als Natur‹ ausschlaggebend für ein innerweltliches Transzendenzerlebnis, sondern die Natur führe den Menschen zu einer Situation der Introspektion, in dem der Mensch in sich selbst Transzendenz gewahr werde. Götz sieht darin Evidenz für ihre Säkularisierungsthese, denn Jacobi entferne sich von einer ausschließlich außerweltlich vorgestellten Transzendenz. Mit dem Inneren des Subjekts, das als göttlicher Funke verstanden werde, gehe das Transzendente in das Diesseits ein. Das Transzendente sei im Diesseits bei Jacobi jedoch ausschließlich im Geist des Menschen lokalisiert. Götz schlussfolgert daraus, dass die Natur »nur göttlich als und im Medium des Subjekts« sei. Als »Medium des Subjekts« fungiere sie als Projektionsfläche des Inneren des Menschen. Die ästhetischen Reize der Natur führten jedoch auch im Inneren des Subjekts zum Göttlichkeitserlebnis der eigenen sensitiven Empfänglichkeit, sodass die Natur »im Medium des Subjekts« göttlich wirke. Für Götz zeigt sich daher gerade im Naturerleben, die Formation eines spezifischen Menschenbildes. Das spätaufklärerische Säkularisierungsgeschehen ziele darauf ab, religiöse Heilsversprechen innerweltlich zu erfüllen und so den Menschen als »wesensmäßig« verstandenes »Mangelwesen« zur Vollkommenheit zu führen.348 Das Erlebnis der Natur ist nach Götz wie die Realisierung empfindsamer Seelenfreundschaft eine innerweltliche Erfüllungsform der religiösen Heilsversprechen und aus diesem Grund seien dies signifikante Elemente, an denen sich ein spätaufklärerischer Säkularisierungsprozess abbilden ließe.349 Zusammenfassend werden in der bisherigen Forschung zu Jacobis Erzählwerken hinsichtlich idyllischer Szenen zwei wesentliche Aussagen getroffen. Erstens wird darauf hingewiesen, dass Jacobi Goethes Werther und Rousseaus Julie nachahme und zweitens, dass es eine nicht zu versöhnende Diskrepanz bei Jacobi zwischen pantheistisch getönten literarischen Naturdarstellungen und seiner philosophischen Naturauffassung gebe.350 An dieser Stelle setzt diese Studie an, die nicht die ästhetische Gestaltung der idyllischen Szenen in den Erzählwerken Jacobis als besonders hervorhebt, sondern die Funktionen dieser Szenen dezidiert und fassungsvergleichend in den Blick nimmt. Diese Szenen verweisen auf den Begriff des Idyllischen, der im literaturhistorischen Kontext der Empfindsamkeit spezifiziert wird. Diese Form des Idyllischen wird als das Empfindsam-Idyllische bezeichnet, das als gattungsübergreifender Merkmalskomplex konstituiert wird. Mit dem Empfindsam-Idyllischen wird gezeigt, dass sich diese Szenen im literaturästhetischen Trend der literaturgeschichtlichen Tendenz der Empfindsamkeit befinden, sodass Ähnlichkeiten zwischen Goethes Werther und Rousseaus 347 348 349 350

Ebd. Vgl. Ebd., S. 1f. Vgl. Ebd. Vgl. Heinz Nicolai: Goethe und Jacobi. Studien zur Geschichte ihrer Freundschaft. Stuttgart 1965; Kurt Christ: F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg 1998; Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008; Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010.

Friedrich Heinrich Jacobis Erzählwerke in empfindsamen Diskussionszusammenhängen

Julie keine Überraschungen oder Besonderheiten sind. Das Besondere ist die Art und Weise der Funktionalisierung der empfindsam-idyllischen Szenen in den Erzählwerken Jacobis.

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2 Das Empfindsam- Idyllische

Der Begriff des Idyllischen ist aufgrund seiner assoziativen Unschärfe problematisch, da seine konkrete Bedeutung unklar ist. Ulrike Tanzer sieht den Begriff des Idyllischen als gattungsübergreifende »Kategorie«, die vom »Begriff der Idylle« nur »schwer abzugrenzen« sei.1 Uwe Häntzschel dagegen differenziert die Begriffe der Idylle und des Idyllischen. Häntzschel verwendet den Begriff der Idylle als Gattungsbegriff und definiert ihn wie folgt: »Gattung meist kurzer epischer oder lyrischer Texte mit Schilderung einfachfriedlicher, meist ländlicher Lebensformen als Korrektiv zur Wirklichkeit.«2 Das gattungsübergreifende Idyllische wird dagegen als ein »aus der Gattung der Idylle abgeleiteter Komplex aus Motiv-und Strukturelementen« verstanden, der im literaturhistorischen Zusammenhang in Relation zur Gattung der Idylle stehe.3 Die Unterscheidung von Idylle als Gattung und dem Idyllischen als damit verbundenem gattungsübergreifendem Phänomenbereich ist grundlegend. Der Begriff Idyllik wird in dieser Untersuchung als Oberbegriff gesetzt und umfasst die Gattung Idylle und das gattungsübergreifende Idyllische. Anders als die Idylle als literarische Gattung ist der Begriff des Idyllischen allerdings in seiner Bestimmung semantisch unterspezifiziert. Laut Häntzschel »empfiehlt es sich für die deutschsprachige Literatur den Gattungsbegriff der Idylle für die mit Salomon Gessner 1756 einsetzende Produktion zu reservieren«.4 Davon abzugrenzen ist, […] die im einzelnen unspezifische und deshalb grundsätzlich problematische Kategorie des ›Idyllischen‹ als ein aus der Gattung der Idylle abgeleiteter Komplex aus Motiv-

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Vgl. Ulrike Tanzer: Fortuna, Idylle, Augenblick. Aspekte des Glücks in der Literatur. Würzburg 2011, S. 177. Vgl. Günter Häntzschel: Idylle. In: Harald Fricke/Georg Braungart (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 2: H-O. Berlin 2000, S. 122–125, hier S. 122f. York-Gothart Mix definiert die Idylle als ein »korrektive[s] Ideal einer unentfremdeten humanen Existenz«. Vgl. YorkGothart Mix: Idylle. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 393–402, hier S. 393. Vgl. Günter Häntzschel: Idylle. In: Harald Fricke/Georg Braungart (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 2: H-O. Berlin 2000, S. 122–125, hier S. 123f. Vgl. Ebd.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

und Strukturelementen, der sich nicht mehr auf die Gattung der Idylle beschränkt, sondern auch in andere Gattungen eingeht (Romane, Erzählungen, selbst Dramen) oder im idyllischen Epos als Mischform auftritt.5 Das Idyllische definiert sich nach Häntzschel dadurch, dass es gattungsübergreifend ist. Bei dem Idyllischen bestehe eine Korrelation zur Gattung der Idylle, da das Idyllische Motiv-und Strukturmerkmale der Gattung aufweise. Daran anknüpfend wird davon ausgegangen, dass diese Korrelation literatur-und kulturgeschichtlichen Dynamiken unterliegt und das Idyllische vor dem Hintergrund eines bestimmten literaturhistorischen Kontexts zu spezifizieren ist. Helmut J. Schneider weist darauf hin, dass diese Spezifizierung des Idyllischen durch einen konkreten Gattungsbezug in der Literaturwissenschaft ein Forschungsdesiderat ist: Neben der I.[dylle] als historischem Gattungsbegriff verwendet die Literaturwissenschaft die Kategorie des ›Idyllischen‹ zur Kennzeichnung verwandter Phänomene in anderen Gattungen, wobei aber die Beziehung zur eigentlichen Gattungstradition häufig ungeklärt bleibt.6 Die Spezifizierung des Idyllischen im Kontext der Empfindsamkeit ermöglicht es mit Blick auf die Erzählwerke Jacobis die vermeintliche Dissonanz von Jacobis Darstellungen von idyllischen Naturerlebnissen und philosophischer Auffassung von Natur aufzulösen. Das Empfindsam-Idyllische beschreibt als gattungsübergreifender Merkmalskomplex eine spezifische Form des Idyllischen. Für diese Spezifizierung des Idyllischen wird methodisch so verfahren, dass ein literaturgeschichtlich einschlägiger Gattungsbezug hergestellt wird. Es wird die Methodik entworfen, aus der literarischen Gattung der Idylle Merkmale abzuleiten, die zusammen einen gattungsübergreifenden Merkmalskomplex bilden. Der erstellte Komplex beschreibt eine spezifische literaturhistorische Erscheinungsform des Idyllischen und löst das Problem der semantischen Unschärfe. Dieser konkrete Gattungsbezug wird im kulturhistorischen Kontext der Empfindsamkeit spezifiziert, da Jacobis Erzählwerke in den Früh-und Spätfassungen im Zusammenhang und in Auseinandersetzung mit der mentalitäts-und literaturhistorischen Tendenz der Empfindsamkeit stehen.7 In der deutschsprachigen Literaturgeschichte gelten die Idyllen Salomon Gessners von 1756 als prominentes und hervorzuhebendes Werk der literarischen Gattung der empfindsamen Idylle. Diesbezüglich sei verwiesen auf Renate Böschenstein-Schäfer, Klaus Garber und Helmut J. Schneider, die mit Gessners Idyllen von 1756 eine Veränderung in der pastoralen Dichtungsart feststellen.8 Böschenstein-Schäfer hebt hervor, dass Gessners Schrift von 1756 »aus den Trümmern

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Ebd. Helmut J. Schneider: Idylle. In. Horst Brunner/Rainer Moritz (Hg.): Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik. Berlin 2006, S. 173f. Vgl. dafür das gesamte Kapitel 1 dieser Untersuchung. Auch Gerhard Kaiser sieht in Gessners Idyllen von 1756 einen »Neubeginn der Gattung«. Vgl. Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977, S. 11–37 hier S. 13.

Das Empfindsam- Idyllische

der fragwürdig gewordenen bukolischen Dichtart eine neue Gattung« geschaffen habe.9 Klaus Garber betrachtet die Idyllen Gessners von 1756 »als Repräsentant der aufgeklärtempfindsamen Arkadiendichtung um die Mitte des 18. Jahrhunderts«.10 Mit Gessner und »überall im Umkreis empfindsamer Landleben-und Naturdichtung um die Mitte des 18. Jahrhunderts« setze der »radikale[] Umbruch« ein, der ein »kritisches Unbehagen« gegen die bestehenden feudalen Verhältnisse ausdrücke.11 Vor allem die von Gessner entworfene Poetologie der Idylle, habe »in der Tat Epoche gemacht«, denn er sei zugleich »Schöpfer und Vollender der empfindsamen Idylle«.12 Helmut J. Schneider sieht in den Idyllen Gessners von 1756 eine »sinnliche[] Eleganz der irrealen, erotisierendmythologischen Bukolik des Rokoko, die sich an französischen Vorbildern geschult hatte«.13 Die Idyllen Gessners von 1756 seien daher als Kulminationspunkt von »bisherigen Strömungen« zu verstehen.14 Diese Schrift führe »in eine Tugendwelt [ein], die Züge der gemeineuropäischen Bewegung der Empfindsamkeit aufweist und außerdem durch eine neuklassizistische Verehrung der Antike charakterisiert ist«.15 Für die Herstellung eines einschlägigen Gattungsbezugs für die Spezifizierung des Idyllischen im literaturhistorischen Kontext der Empfindsamkeit sind folglich Salomon Gessners Idyllen von 1756 heranzuziehen. Zur Einführung in die Thematik der Idylle sei auf die grundlegende Definition von Hans-Peter Ecker hingewiesen. Dieser bestimmt die Idylle wie folgt: Im weitesten Sinne versteht man unter der I[dylle] eine Veranschaulichung der Idee des guten Lebens und der heilen Welt im begrenzten Ausschnitt kleiner, friedlicher und harmonischer Szenen; besonders akzentuiert ist dabei der vertraute Umgang einfacher, genügsamer und unschuldiger Menschen sowohl untereinander als auch mit einer freundlichen, Geborgenheit und Nahrung spendenden Natur, eine (im Unterschied zur Utopie) nur wenig ausdifferenzierte Sozialstruktur sowie die Dominanz der räumlichen Dimension bei statischer oder zyklischer Gestaltung der Zeitabläufe und relativer Handlungsarmut.16 9 10 11 12

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Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart 1977, S. 74. Vgl. Klaus Garber: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. München 2009, S. 79–86, hier S. 83f. Vgl. Ebd., hier S. 84f. Vgl. Ebd., hier S 82. Und: Klaus Garber: Idylle und Revolution. Zum Abschluß einer zweitausendjährigen Gattungstradition im 18. Jahrhundert. In: Ortrud Gutjahr/Wilhelm Kühlmann/Wolf Wucherpfenning (Hg.): Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Würzburg 1993, S. 57–82, hier S. 59. Vgl. zur Poetologie der Idylle Gessners: Felix Knode: Natur als Ressource für Subjektivität. Salomon Gessners Vorrede der Idyllen von 1756 als Poetologie von Innerlichkeit. In: Ansgar Schanbacher (Hg.): Ressourcen in historischer Perspektive. Landschaft, Literatur und Nachhaltigkeit. Göttingen 2020, S. 231–251. Vgl. Helmut J. Schneider: Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder. In: Ders. (Hg.): Idyllen der Deutschen. Frankfurt a.M. 1978, S. 353–423, hier S. 367. Ebd. Ebd. Gerhard Kaiser gelangt zu einer ähnlichen Feststellung: »Bei Geßner ist das tugendhafte Gefühlsleben der Hirten zum vollen Ton der Empfindsamkeit gestimmt.« Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977, S. 11–37 hier S. 18. Hans-Peter Ecker: Idylle. In: Gert Ueding (Hg.): Rhetorisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 4: Hu-K. Tübingen 1998, S. 183–202, hier S. 183.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Die literarische Idylle ist nach Ecker eine Veranschaulichungsform »der Idee des guten Lebens«. Zugleich ist sie auch »eine Veranschaulichung […] der heilen Welt im begrenzten Ausschnitt kleiner, friedlicher und harmonischer Szenen«. In der Idylle werde ein Harmonieverhältnis zwischen den Menschen und »einer freundlichen, Geborgenheit und Nahrung spendenden Natur« dargestellt. Nach Ecker definiert sich die Idylle durch diese beiden Leitvorstellungen. Einerseits stellt sie die Erfüllung und Zufriedenheit des einzelnen Subjekts in »der Idee des guten Lebens dar«. Andererseits bettet sie das erfüllte und zufriedene Subjekt in eine »heile[] Welt« ein. Die Idylle veranschaulicht aufgrund ihrer Betonung des Räumlich-Zuständlichen diese Vorstellungen in Bildform.17 Sie ist ein literarisches Bild einer glücklichen Daseinsform des Menschen, wobei sie von dieser Daseinsform nur einen Ausschnitt darstellt.18 Das Besondere an diesem Glücksbild ist die Konzentration auf eine Raum-Zustandskonstellation.19 In der empfindsamen Idylle des 18. Jahrhunderts ist das Erlebnis dieser Konstellation der Fokus, sodass die Zeit ins Abseits rückt, da die Verbindung eines innerlichen Zustands mit einem spezifischen Raum im Vordergrund steht. Gerhard Kaiser stellt fest, dass »erst die Idyllenfiguren Geßners […] das Erlebnis der Schönheit der Natur zum eigenständigen Thema [erheben]«.20 Dies unterscheide Gessner von Vergils Bucolica und Theokrits Idyllen, da die dortigen Hirten »mit sich und ihren Lebensumständen« beschäftigt seien.21 Kaiser bezeichnet die Hirten der Idyllen Gessners als »Dichter ihrer eigenen Existenzweise«.22 Die »Existenzform« der 17

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Vgl. Nina Birkner und York-Gothart Mix: Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Einleitung. In: Dies. (Hg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos. Berlin 2015, S. 1–13, hier S. 4. Vgl. Günter Häntzschel: Idylle. In: Harald Fricke/ Georg Braungart (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 2: H-O. Berlin 2000, S. 122–125, hier S. 123. Renate Böschenstein-Schäfer stellt richtig, dass das Wort Idylle etymologisch nicht kleines Bild bedeutet. Dies sei ein »tradierte[r] Irrtum«, aber »völlig unhaltbar«. Stattdessen ginge die Idylle etymologisch auf die Semantik »kleines, selbstständiges Gedicht« zurück. Böschenstein-Schäfer zieht als Evidenz für diese These antike Idyllen heran, die »keinen besonders bildhaften Charakter« aufwiesen. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart 1977, S. 2f. Vgl. zum Bildcharakter der literarischen Idylle bei Salomon Gessner: Lothar van Laak: Gattungsfragen als medientheoretisches Problem. Salomon Geßners Kunsttheorie und Idyllenproduktion. In: Nina Birkner/York-Gothart Mix (Hg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos. Berlin 2015, S. 120–129. Vgl. auch: Ruth Florack: Lob der Genügsamkeit. Zur Idylle in der Literatur. In: Arnd Reitemeier/Ansgar Schanbacher und Tanja Susanne Scheer (Hg.): Nachhaltigkeit in der Geschichte. Argumente – Ressourcen – Zwänge. Göttingen 2019, S. 177–193, hier S. 180; Günter Häntzschel: Idylle. In: Harald Fricke/Georg Braungart (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 2: H-O. Berlin 2000, S. 122–125, hier S. 122f; Ulrike Tanzer: Fortuna, Idylle, Augenblick. Aspekte des Glücks in der Literatur. Würzburg 2011, S. 176f. Böschenstein-Schäfer sieht für das antike Modell der Idylle bei Theokrit und Vergil »Trauer, Leidenschaft, Tod und vielleicht selbst de[n] tragische[n] Untergang nicht aus der Idylle ausgeschlossen«. Insofern ist die antike Gattung der Idylle nicht mit Glück verbunden. Die Verbindung von der literarischen Gattung der Idylle mit Glück scheint vielmehr im 18. Jahrhundert evident zu werden. Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart 1977, S. 7–13, hier S. 9ff. Laut Böschenstein-Schäfer ist »der wichtigste Wesenszug der Gattung […] die Vorherrschaft des Räumlich-Zuständlichen«. Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart 1977, S. 7–13, hier S. 8. Vgl. Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977, S. 11–37 hier S. 21 Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische

Hirten sei »eine der Betrachtung und Empfindung«. Folglich stellen die Idyllen Gessners Erlebnisschilderungen der Hirten dar, wobei nicht die sinnlichen Wahrnehmungen im Vordergrund stehen, sondern der Genuss, die Schönheit der Natur empfinden zu können.23 Das latente Erlebnis ist der Genuss der eigenen Empfindungsfähigkeit. Die Idyllen konservieren den Moment dieses Selbstempfindungserlebnisses.24 Ecker sieht bei der Idylle grundsätzlich »die Dominanz der räumlichen Dimension bei statischer oder zyklischer Gestaltung der Zeitabläufe und relativer Handlungsarmut«.25 Bei der Schilderung von Figuren in der Idylle liege ein hervorgehobener Schwerpunkt auf zwischenmenschlichen und naturalen Umgangsformen »einfacher, genügsamer und unschuldiger Menschen«.26 Daraus folgt, dass die Idylle ein besonderes Menschenbild darstellt, das je nach dem Verständnis eines »guten Lebens« entworfen wird.27 Im Sinne der Beschränkung der Idylle auf die »heile[] Welt im begrenzten Ausschnitt [von] Szenen« beschreibe sie eine »nur wenig ausdifferenzierte Sozialstruktur«.28 Dies trifft sich mit Überlegungen von Helmut J. Schneider zur deutschsprachigen Idylle der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Schneider sieht in der Gattung der Idylle die szenische Schilderung von »menschlicher Glücksmöglichkeit«, aber nicht in der »Totalität« eines vollkommenen Lebens und sozialen Gefüges.29 Für Schneider ist die Reduzierung auf bestimmte Ausschnitte des menschlichen Daseins der Kern der Idylle des 18. Jahrhunderts: Die Idylle ist partikular, einseitig und beschränkt. Sie insistiert auf den eng gezogenen Grenzen ihres Weltausschnitts. Utopie ist ein gewichtiges Wort für ihre literarische Übereinkunft, polemisch auf der ›Kleinigkeit‹ zu beharren. Andererseits stellte sie gerade in solcher aufdringlichen Bescheidenheit normativen und kritischen Anspruch. Die Idylle der Aufklärung sah bewußt vom Großen und Ganzen ab, um sich punktuell, in formaler Geschlossenheit und stofflicher Ausschließlichkeit, menschlicher Glücksmöglichkeit zu versichern. Ihre ›private‹ Welt enthielt keinen Entzug, sondern sie muß in den Kontext eines Rechtstitels auf individuelles Glück eingelagert werden, der seinen politischen Charakter durch die Aufnahme in den Menschenrechtskatalog der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 zu erkennen gab: »the pursuit of happiness«. Die Wahrheit der Idylle war die Beschränktheit eines Privaten, das sich nicht an die Stelle eines Ganzen, auch keines zukünftigen, setzte, sondern das

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Vgl. Ebd. Zum Themenkomplex von Idylle und Zeit heißt es bei Böschenstein-Schäfer: »Mit der Autonomie des Räumlich-Zuständlichen ist zugleich das künstlerische Grundproblem der Idylle gegeben: die Gefahr der Ermüdung aus Mangel an Bewegung. Abgesehen von der beschreibenden Poesie des 18. J[ahr]h[undert]s[], zu der sie in enger Beziehung steht, ist die Idylle der einzige Entwurf einer rein statischen Dichtung. Der dahinter sich verbergende Versuch, die Zeit aus der menschlichen Existenz auszuschließen, ist einer der interessanten Gesichtspunkte, unter dem die Idylle betrachtet werden kann.« Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart 1977, S. 7–15, hier S. 9. Vgl. Hans-Peter Ecker: Idylle. In: Gert Ueding (Hg.): Rhetorisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 4: Hu-K. Tübingen 1998, S. 183–202, hier S. 183. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Helmut J. Schneider: Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder. In: Ders. (Hg.): Idyllen der Deutschen. Frankfurt a.M. 1978, S. 353–423, hier S. 364f.

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sich selbst als gesellschaftsüberschreitende Instanz, als Ausgangspunkt einer möglichen und offenen Zukunft begriff. Ihre Wahrheit war ihre Partikularität. Mit der Aufblähung zur Totalität verfiel sie dem Schein.30 Schneider gibt seiner Abhandlung den aussagekräftigen Titel Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder. Die deutschsprachige Idyllik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ließe sich als eine Darstellungsform von Glücksmomenten beschreiben, die sich gezielt vom Ganzen abwende. Das Besondere an der Gattung der Idylle sei ihre literarisch-bildhafte Veranschaulichung von glücklichen Zustandsformen des Menschen. Dieses Glück werde allerdings an eine »›private‹ Welt« gebunden, die »sich nicht an die Stelle eines Ganzen, auch keines zukünftigen, setze[n]« lasse. Das geschilderte Glück erschiene als etwas »Privates, in dem das Privative noch nicht mitgedacht ist«.31 Das Wort privat stammt etymologisch von dem lateinischen Wort »privare« ab und bedeutet »befreien« und »berauben«.32 Die Idylle stellt ›befreite‹ Szenen dar, da der gesellschaftlich öffentliche Bereich und höfisch ständische Begebenheiten des Lebens bewusst ausgeklammert werden. Stattdessen wird der Schwerpunkt auf einen Bereich gelegt, der den Menschen als ein Subjekt abseits jeglicher äußeren Zuschreibung entdeckt. Das Private beschreibt im Fall der Idylle des 18. Jahrhunderts die Hinwendung auf das Innere des Menschen. Dieses Innere des Menschen wird als Subjektsphäre etabliert und in Kontrast zu einer als defizitär erfahrenen äußeren Sphäre gesetzt. Bei den Idyllen Gessners von 1756 wird diese Differenzierung von Subjektsphären in der Vorrede An den Leser dezidiert benannt. Es sind die Momente »von stiller Ruhe und sanftem ungestöhrtem Glük« und ausdrücklich nicht die »wiedrigen Eindrücke[] […] aus der Stadt«, die dargestellt werden.33 Dies wird bei Gessners Idyllen räumlich markiert. Die Natur wird zum Ort einer zu entfaltenden Innerlichkeit, während die Stadt als zivilisatorischer und gesellschaftlicher Ort repräsentativ für einen gesellschaftlich öffentlichen Lebensbereich des Menschen steht, der bewusst verlassen wird. Daher betont Schneider, dass die empfindsame Idylle »als Gegenbild zum Bestehenden« entworfen werde, die »in der literarischen Tradition des goldenen Weltalters [eine natürliche Welt]« darstelle.34 Diese Gegenbildlichkeit sei jedoch nicht als »Gegengesellschaft«, sondern vielmehr als Entdeckung »eines privaten Innenraums« zu verstehen.35 Diese Akzentuierung von Inner30 31 32 33

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Ebd. Vgl. Ebd., S. 372. Vgl. den Eintrag »privat« beim Duden online: https://www.duden.de/node/156879/revision/15691 5 (Letzter Zugriff am 01.08.2021). Vgl. Salomon Gessner: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. [und mit einem Nachwort versehen] von E. Theodor Voss. Stuttgart 1988. S. 15. Im Folgenden werden die Idyllen Gessners nach dieser historisch-kritischen Ausgabe mit der Abkürzung GKA zitiert. Vgl. Helmut J. Schneider: Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder. In: Ders. (Hg.): Idyllen der Deutschen. Frankfurt a.M. 1978, S. 353–423, hier S. 370. Vgl. Ebd., hier S. 371f. Nina Birkner sieht bei Gessner »[ä]hnlich wie [bei] Gottsched« die Distanzierung »von dem Anspruch einer mimetischen Darstellung der sozialen Realität«. »[D]ie Idylle [werde] als ›idealisches Muster‹ einer nicht entfremdeten humanen Existenz, als vermeintlich natürliches Gegenbild und Korrektiv der Zivilisation« verstanden. Vgl. Nina Birkner: Herr und Knecht in der (Anti-)Idyllik von Johann Heinrich Voß und Fritz Reuter. In: Dies./York-Gothart Mix (Hg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos.

Das Empfindsam- Idyllische

lichkeit ist die von Schneider ins Zentrum gestellte Partikularität der Idylle des 18. Jahrhunderts. Oliver Zybok sieht in der literarischen Idylle einen »konstruierte[n] Raum mit einer Anzahl von Versatzstücken aus der Natur«36 und verbindet die Betonung des Erlebens mit der Etablierung von einer innerlichen Subjektsphäre: Die Natur in ihrer Schönheit, losgelöst von theologischer Interpretation, wäre niemals gesehen worden, wenn nicht das so brüsk vom Natur-Objekt getrennte Erlebnis-Subjekt auf seine Innerlichkeit zurückgeworfen worden wäre. Dadurch entdeckt es eben dieselbe als ein Organ, um das nie Gesehene zu sehen, um die verlorene Einheit von Gott, Welt und Seele wiederzugewinnen. Hier ist folgerichtig die Geburtsstunde der neuzeitlichen, modernen Idylle. Sie vergegenwärtigt die ursprüngliche Einheit nicht mehr theologisch, sondern ästhetisch. Das Erlebnis der idyllisch-schönen Naturgestalten wird ein Welterlebnis in der Innerlichkeit des Subjekts. Die Innerlichkeit des Subjekts wiederum beginnt sich in der idyllisch-schönen Natur wiederzufinden. Die Idylle wird somit zur Chiffre für Innerlichkeit.37 Die Idylle des 18. Jahrhunderts konzentriere sich auf die Darstellung von subjektivem Erleben. Dieses Erleben führe zu einer Ästhetisierung der Vorstellung einer »ursprüngliche[n] Einheit«. Im Unterschied zur physikotheologisch geprägten Naturbetrachtung stehe nicht mehr die theologische Perspektive im Vordergrund, sondern die Empfindungswirkung der Wahrnehmung. Das »Natur-Objekt« sei dem »Erlebnis-Subjekt« nur noch durch die Empfindung zugänglich. Die Empfindung ist nach O. Neumann im 18. Jahrhundert aber »nicht [als] ein Auffassungsvorgang« zu verstehen, sondern selbst »ein Inhalt«: E[mpfindung] ist ein Inhalt, nicht ein Auffassungsvorgang; dieser Inhalt ist das Resultat einer unmittelbaren Affektation der Seele. Es fehlt jedoch noch eine theoretische Integration der beiden Bestimmungsstücke. So bleibt es bis zur zweiten Hälfte des 18. J[ahr]h[underts] in der vorherrschenden psychologischen Terminologie teils bei einer Gleichsetzung der E[mpfindung] mit sinnlicher Wahrnehmung schlechthin […], teils werden, im Anschluss an Descartes und Malebranche, ›E[mpfindung]‹ und ›Emotion‹ zusammengefaßt, indem man jeder E[mpfindung] eine Lust-Unlust-Komponente zuschreibt […]. Gegenüber der psychologischen tritt dabei eine ästhetische Auffassung

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Berlin 2015, S. 223–241, hier S. 224. Die Bestimmung der »Idylle als ›idealisches Muster‹« stammt aus der Mitte des 18. Jahrhunderts und ist entlehnt aus der Abhandlung Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie (1751/1759) von Johann Adolf Schlegel. Vgl. dazu: Johann Adolf Schlegel: Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie. In: Helmut J. Schneider: Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 111–144, hier S. 128. Gotthardt Frühsorge sieht dagegen in den Idyllen Gessners einen gesellschaftlichen Gegenentwurf: »Für das Gesellschaftsmodell […] wird die Sozialform der Familie in Anspruch genommen und zwar in einer gewissermaßen vorhistorischen Grundstruktur patriarchalischer Ordnung.« Vgl. Gotthardt Frühsorge: »Nachgenuß der Schöpfung«. Über die Wahrheit des Gesellschaftsentwurfs Gessnerscher Idyllendichtung. In: Maler und Dichter der Idylle. Salomon Gessner 1730–1788. Ausstellungskatalog. Braunschweig 1980, S. 74–80, hier S. 77. Vgl. Oliver Zybok: Zur Aktualität des Idyllischen. In: Kunstforum. Band 178. Köln 2006, S. 38–79, hier S. 40. Ebd., S. 38–79, hier S. 43f.

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des Begriffs in den Vordergrund. Die Differenzierung zwischen ›E[mpfindung]‹ und ›Wahrnehmung‹ präzisiert sich erst wieder gegen Ende des 18. J[ahr]h[underts] im Gefolge einer theoretischen Entwicklung der Wahrnehmungspsychologie, die auf Descartes zurückweist.38 Durch die Empfindung werde das erlebende Subjekt auf seine Innerlichkeit zurückgeworfen, denn die Empfindung ist bereits »das Resultat einer unmittelbaren Affektation der Seele«. Das Erleben werde durch die Empfindung ästhetisiert, da es eine »LustUnlust-Komponente« zugeschrieben bekomme. Diese Komponente wird in der deutschsprachigen Idyllik des 18. Jahrhunderts auf die innere und äußere Subjektsphäre übertragen. Das Erleben der inneren Sphäre wird zur Lusterfahrung, während die äußere Sphäre mit Unlust assoziiert wird. Die Idylle als literarische Gattung bildet eine Subjektspaltung ab und konzentriert sich auf die innere Subjektsphäre, da diese mit einem Lusterlebnis verbunden wird. Dieses Erlebnis wird in der Darstellungsform der jeweils einzelnen Szene geschildert, die für die Idylle mit ihrem Bildcharakter konstitutiv ist. Im Vordergrund stehen Subjekte, die eine als besonders empfundene Raum-Zustandskonstellation erleben. Die Idylle ist keine Utopie einer anderen sozialen Ordnung. Vielmehr erfüllt die Idylle einerseits die Funktion, eine innerliche Sphäre des Subjekts zu etablieren und andererseits in ihr zugleich eine Erfüllung zu finden, die nicht auf die äußere Sphäre bezogen ist. Die sanfte Utopie der Idylle, um Schneiders Formulierung aufzugreifen, ist die Entfaltungsmöglichkeit von Innerlichkeit als ein eigenständiger Lebensbereich. Vor diesem Hintergrund muss auch die ästhetische Hinwendung zur Natur verstanden werden. Die Idylle ist »Chiffre für Innerlichkeit«, weil die beschriebene Natur eine Projektionsfläche für das innere der Figuren ist.39 Mit der Natur wird mental und räumlich eine Abwendung von der Zivilisation thematisiert. Die Zivilisation des 18. Jahrhunderts ist feudal geprägt und weist feste Umgangsformen auf. Der Mensch wird durch den Stand, in den er hineingeboren wird, bestimmt. Die empfindsame Idyllik Gessners entdeckt nach E. Theodor Voss mit der Natur die Option einer kritischen Distanz zu dieser Zivilisation. ›Natur‹ als die Möglichkeit, die äußere Beschaffenheit der Welt anders als in der nach bestimmten gesellschaftlichen Interessen zugerichteten ›Realität‹ zu erfahren und die Reichweite der eigenen Kräfte anders als im engbemessenen Kreis des gesellschaftlich Gewollten zu erleben, ist der großartige Versuch des 18. Jahrhunderts, Außenpositionen und damit kritische Hebelpunkte zu gewinnen gegenüber festgefügten, durch äußere Macht und mentale Zurichtung der ihr Unterworfenen sich behauptenden Strukturen.40 38 39 40

O. Neumann: Empfindung II. In. Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2: D-F. Darmstadt 1972, Sp. 464–474, hier Sp. 466. Vgl. Oliver Zybok: Zur Aktualität des Idyllischen. In: Kunstforum. Band 178. Köln 2006, S. 38–79, hier S. 43. E. Theodor Voss: Nachwort. In: Salomon Gessner: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. von E. Theodor Voss. Stuttgart 1988, S. 323–364, hier S. 349. Die systemkritischen Ausführungen von Voss zur Idylle sind mit dem Veröffentlichungsjahr 1988 unter den Forschungsbedingungen des sogenannten Kalten Krieges zu betrachten. In den 1980er Jahren ist die geisteswissenschaftliche Forschung durch ideologie-und systemkritische Ansätze geprägt.

Das Empfindsam- Idyllische

Die Natur ermögliche es danach zu fragen, warum die erlebte Wirklichkeit so sei, wie sie täglich erfahren werde. Mit der Gattung der Idylle werde bei Gessner die Möglichkeit entdeckt »die mörderische Tautologie der im System Befangenen zu unterbrechen«.41 Die Gattung der Idylle sei in der Empfindsamkeit ein stilles Aufbegehren, das mit der Frage nach ›dem Wieso‹ der Beschaffenheit der Realität ein innovatives Verständnis vom Leben entwerfe, indem neben dem desillusionierenden und als starr und verstellt erlebten, gesellschaftlich öffentlichen Lebensbereich eine Sphäre etabliert werde, die sich der »äußere[n] Macht« entziehe.42 Eine Spezifizierung des Idyllischen im Kontext der literatur-und mentalitätsgeschichtlichen Tendenz der Empfindsamkeit muss dieses kritisch-utopische Verständnis der Idylle berücksichtigen. Dies ist zu beachten, denn gerade der Begriff des Idyllischen erfährt laut Nina Birkner und York-Gothart Mix vom 18. zum 19. Jahrhundert eine substanzielle Umakzentuierung: »Mit dem Begriff ›idyllisch‹ wird dann im 19. Jahrhundert ein Sammelsurium von Merkmalen assoziiert, die wenig mit dem aufklärerischen Impetus früherer Gattungsdiskussionen gemein haben […]«.43 Bei der literaturgeschichtlichen Thematisierung von deutschsprachiger Idyllik des 18. Jahrhunderts darf das Aufkommen der »realistische[n] Idylle« nicht den Eindruck erwecken, dass die empfindsame Idyllik damit ›überholt‹ wäre.44 Mit der Thematisierung des Empfindsam-Idyllischen als gattungsübergreifenden Merkmalskomplex wird gezeigt, dass die empfindsame Idyllik bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts gattungsübergreifend präsent ist. Mix weist ebenfalls daraufhin, dass die empfindsame Idyllik für die europäische Literatur bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts ein wichtiges Phänomen sei.45 So stehe Herders Gessner-Kritik in seiner Schrift Theokrit und Gessner »nicht nur im Gegensatz zu den Urteilen von« deutschsprachigen Zeitgenossen, »sondern auch zur Einschätzung zahlreicher Leser jenseits der

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Vgl. Ebd., S. 362. Vgl. Ebd., S. 349. Nina Birkner und York-Gothart Mix: Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Einleitung. In: Dies. (Hg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos. Berlin 2015, S. 1–13, hier S. 3f. Mix erläutert die Modifikation näher, die die Idylle und das Idyllische zum Übergang in das 19. Jahrhundert erfährt: »Um 1800 entwickelt sich die Idylle jedoch von einem den antiken Mustern verpflichteten Genre zu einem ›Denkbild‹. Die Negation der Regelpoetik seitens des Sturm und Drang, die konsequente Annäherung des Genres an die Lebenswirklichkeit der Ständegesellschaft, die geschichtsphilosophische Kritik von Immanuel Kant, Friedrich Schiller und Karl Philipp Moritz sowie Friedrich Schlegels ironische Transformation relativieren die Gattungskonventionen so nachhaltig, dass ein zukunftsweisendes, den Stand der Diskussion reflektierendes Paradigma zunächst nicht mehr möglich scheint.« Vgl. York-Gothart Mix: Idyllik, Anti-Idyllik, Aufklärung und Selbstaufklärung. Zur ästhetischen und philosophischen Kritik des Arkadien-Topos. In: Nina Birkner/Ders. (Hg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos. Berlin 2015, S. 206–222, hier S. 207. Neben Voß zählt Böschenstein-Schäfer die Idyllen von Mahler Müller und Hebel zur realistischen Idylle. Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart 1977, S. 94–106. Bei Kaiser heißt es dagegen noch: »Es ist ein Gemeinplatz der Literaturgeschichte, der Sturm und Drang bringe eine Wendung von der Idealität der Geßnerschen Idylle zur Realität.« Vgl. Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977, S. 11–107, hier S. 22.

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Grenzen des deutschen Sprachraums.«46 Dieses Fortbestehen empfindsamer Idyllik abseits der Gattung der Idylle bliebe bisher Forschungsperspektive.47 Der Begriff des Idyllischen fällt meist nur im Zusammenhang mit der Literatur des 19. Jahrhunderts. Bei Böschenstein-Schäfer werden »Fortwirkungen der Idylle in der erzählenden Literatur« erst dezidiert für das 19. Jahrhundert herausgestellt.48 Schneider beschreibt den Begriff des Idyllischen als »Assoziationskomplex«, der »das biedermeierliche Gattungsverständnis [der Idylle]« widerspiegele.49 So wird der Begriff des Idyllischen hier näher spezifiziert, bleibt jedoch für die Literatur des 19. Jahrhunderts reserviert. Daraus ergibt sich das Forschungsdesiderat von einem gattungsübergreifenden Idyllischen im 18. Jahrhundert auszugehen, das dem »aufklärerischen Impetus« der Gattung Idylle gerecht wird.50 E. Theodor Voss weist darauf hin, dass »[d]ie Reduktion der Idylle bzw. des Idyllischen auf die Elemente Glück im Winkel, Flucht aus der Realität, Behaglichkeit und Zufriedenheit um den Preis der Nichtteilhabe am historischen Prozess usw.« eine Restriktion sei, die der empfindsamen Idyllik nicht gerecht werde.51 Klaus Garber hat auf dieses Forschungsdesiderat hingewiesen: »Es walten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nochmals merkwürdige und auszuhorchende Konsonanzen zwischen der epischen und der idyllischen Welt […]«.52 Ebenso verwies Friedrich Sengle auf Leerstellen bei der literaturhistorischen Betrachtung des Idyllischen: So läßt sich vermuten, daß der bekannten Blütezeit der Tragödie von ›Lessing bis Hebbel‹ […] eine wenig erforschte, doch für die deutsche Kulturgeschichte ebenso bezeichnende Entfaltung des Idyllischen parallel läuft, die, […] als bewußte, womöglich restaurative Konstruktion des Naiven dialektisch mit der Problematik des Sentimentalischen, Tragischen, Nihilistischen verbunden ist, und zwar bis zuletzt.53 Diese Lücke füllt die Spezifizierung des Idyllischen im Diskussionszusammenhang der Empfindsamkeit. Aus den Idyllen Gessners von 1756 werden Merkmale – hier in dieser

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Vgl. York-Gothart Mix: Idyllik in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Carsten Zelle (Hg.): Das Achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts. Jahrgang 15, Heft 1, Wolfenbüttel 1991, S. 62–85, hier S. 64f. Vgl. Ebd., hier S. 64f. Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart., 1977, S. 126–130. Vgl. Helmut J. Schneider: Einleitung. Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie. In: Ders.: Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 7–74, hier S. 63. Vgl. Nina Birkner und York-Gothart Mix: Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Einleitung. In: Dies. (Hg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos. Berlin 2015, S. 1–13, hier S. 3f. Vgl. E. Theodor Voss: Nachwort. In: Salomon Gessner: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. von E. Theodor Voss. Stuttgart 1988, S. 323–364, hier S. 326. Vgl. Klaus Garber: Verkehrte Welt in Arkadien? Paradoxe Diskurse im schäferlichen Gewande. In: Nina Birkner/York-Gothart Mix. (Hg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos. Berlin 2015, S. 49–77, hier S. 71. Vgl. Friedrich Sengle: Arbeiten zur deutschen Literatur 1750–1800. Stuttgart 1965, S. 212–232, hier S. 226.

Das Empfindsam- Idyllische

Arbeit – abgeleitet, die zusammen das Empfindsam-Idyllische bilden. Diese Merkmale beziehen sich auf die Beschreibung einer Raum-Zustandskonstellation und auf die Art und Weise ihrer Darstellung. Nach Ernst Robert Curtius gebe es zwei grundsätzliche, literaturwissenschaftliche Verwendungsweisen des Topos-Begriffs, die jeweils auf unterschiedliche Untersuchungsschwerpunkte bezogen seien. Mit der literaturwissenschaftlichen Toposforschung werde (1.) das Studium formaler T[opoi], die im äußeren Kommunikationssystem zwischen Dichter und Publikum operieren und sich auf technische Gesichtspunkte der Textvermittlung beziehen, wie z.B. stereotype Eingangs-, Überleitungs-und Schlußformeln wie die Anrede der Zuhörer [oder Leser], die Indikation des Wechsels in einen anderen Handlungsstrang einer Erzählung [bezeichnet] und (2.) das Studium inhaltlicher T[opoi], die im Innenraum der Erzählung verbleiben […].54 Der Begriff des Topos wird in diesem Kontext als bedeutungstragende Einheit für den »Innenraum der Erzählung« verstanden und sei »wirklichkeitsherstellend«.55 Margot Brink sieht die Art und Weise der Darstellung eines Topos nicht von seinem bedeutungstragenden Gehalt abtrennbar. Bei dem aus literaturwissenschaftlicher Perspektive konzipiertem Konzept des Topos als »Vorstellungsmodell« handelt es sich »um eine Weise des Denkens und Formens von Sein und Welt, die sich zu einer feststehenden sprachlichen Form kristallisieren kann, jedoch nicht notwendigerweise muss, und literarisch wirksam wird«. Topos in diesem Sinne ist mehr als ein Begriff, ein Denkschema oder gar ein Klischee ohne eignen Aussagecharakter und philosophische Bindung. Es wird vielmehr als intentional verwendetes Modell von Welt und »Weltbewältigung« begriffen, das in festen oder variablen sprachlichen Mustern thematisiert, tradiert und modifiziert werden kann. Seine Bedeutung ergibt sich nicht nur aus dem Inhalt und den intertextuellen Bezügen, sondern v[or] a[llem] auch aus der Art und Weise, wie der Topos künstlerisch eingesetzt wird und welche konkrete Funktion er in einem Text erfüllt.56 Die Semantik eines literarischen Topos ergebe sich erst aus seiner spezifischen Darstellungsweise und der »konkrete[n] Funktion«, die »er in einem Text erfüllt«. Nach Margot Brink ist der »Topos als sprachliche Bewältigung von Welt im Sinne einer sozial und kulturell verankerten Wissenserzeugung und Wissensanordnung« zu verstehen.57 Bezogen 54 55

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Klaus Ostheeren: Topos. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 9: St-Z. Darmstadt 2009, S. 690–697, hier S. 690. Vgl. Gerhard Neumann: »ut apes geometriam«. Zu Lichtenbergs Schöpfungstheorie und zur Geschichte des Topos-Begriffs. In: Ortrud Gutjahr/Wilhelm Kühlmann/Wolf Wucherpfenning (Hg.): Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Würzburg 1993, S. 187–209, hier S. 201. Margot Brink: Topoi der Entsagung. Liebes-und Eheverweigerung in der romanischen Literatur der Frühen Neuzeit. Würzburg 2015, hier S. 40–45, hier S. 42. Vgl. auch Brinks Bezugspunkt: August Obermayer: Zum Toposbegriff der modernen Literaturwissenschaft. In: Peter Jehn (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation. Frankfurt a.M. 1972, S. 155–159, hier S. 155f. Margot Brink: Topoi der Entsagung. Liebes-und Eheverweigerung in der romanischen Literatur der Frühen Neuzeit. Würzburg, 2015, hier S. 40–45, hier S. 42. Bei Wilhelm Schmidt-Biggemann und Anja Hallacker wird der Topos definiert als Wissensformation. Topoi sind Anordnungen von Wis-

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auf die literarische Gattung der Idylle steht nicht im Vordergrund, dass der Topos des locus amoenus, der schöne und angenehme Ort, aufgerufen wird, sondern wie er darstellerisch erzeugt und funktionalisiert wird. Bei der empfindsamen Idyllik liegt die Schwerpunktsetzung auf der räumlich-zuständlichen Ebene. Aus diesem Grund ist hinsichtlich des Toposbegriffs auf Dirk Werle hinzuweisen, der Topoi als »räumlich verstandene Handlungselemente« versteht.58 Das Empfindsam-Idyllische ist ein gattungsübergreifender Merkmalskomplex, der sich aus einem Bündel von Topoi zusammensetzt. Diese umfassen fünf wesentliche Themenkomplexe: eine humane, nicht entfremdete Daseinsform des Menschen, die Rolle der Geschichte, Subjektivierung, Naivität und Anthropologie.

2.1 Natürliches Dasein als suffiziente Lebensart Salomon Gessner ruft in der Vorrede seiner Idyllen von 1756 die beiden antiken Idyllendichter Theokrit und Vergil auf.59 Die Sprechinstanz der Vorrede setzt Theokrit als das »Muster« der folgenden Idyllen.60 Diese Zuordnung zu Theokrit und nicht zu Vergil ist ein Bruch mit der bisherigen Gattungskonvention. Diese Innovation ist eng mit dem Verständnis der Idylle als Dichtungsart verbunden. Dieses Verständnis drückt sich in verschiedenen Haltungen gegenüber den antiken Vorbildern Theokrit und Vergil aus. Die empfindsame Idylle versteht sich als Darstellung einer ›natürlichen Daseinsform‹ des Menschen, die in dem fern vergangenen goldenen Weltalter einmal existierte. Dieses Weltalter war aber auch schon zu den Zeiten Homers, Theokrits und Vergils lange vorbei.61 Es ist daher nicht mehr die Antike, die nachgeahmt und übertroffen werden soll. Mit der empfindsamen Idylle rückt die Imagination des menschlichen Daseins im goldenen Weltalter ins Zentrum. Diese Veränderung wird im Folgenden literaturhistorisch hergeleitet, um den Bruch der empfindsamen Idylle mit den Gattungskonventionen der Idylle aufzuzeigen. Die Imagination einer ›natürlichen Daseinsform‹ des Menschen ist durch signifikante Gleichheitszustände geprägt, die mit dem Begriff der Suffizienz beschrieben werden. Dabei wird mit dem Begriff der Suffizienz erläutert, was die ›natürliche Daseinsform‹ des goldenen Weltalters so besonders macht. Helmut J. Schneider hebt hervor, dass mit einem Geschichtsbewusstsein eine veränderte Perspektive auf die

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sensformationen. Dies fassen sie im Oberbegriff der Topik zusammen: »Topik beschreibt sowohl die komplexen Elemente eines Wissenszusammenhangs als auch deren Arrangement. […] Deshalb hat der Begriff ›Topik‹ die […] zwei Dimensionen: Er zielt auf die in sich komplexen Einzelelemente und auf die Ordnungsstrukturen ihres Arrangements.« Vgl. auch: Wilhelm Schmidt-Biggemann und Anja Hallacker: Topik: Tradition und Erneuerung. In: Thomas Frank/Ursula Kocher und Ulrike Tarnow (Hg.): Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts. Göttingen 2007, S. 15–27, hier S. 23. Vgl. Dirk Werle: Für eine Literaturgeschichte semantischer Einheiten. In: Matthias Buschmeier/ Walter Erhart und Kai Kauffmann (Hg.): Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. Berlin 2014, S. 63–85, hier S. 73. Vgl. GKA, S. 15–18. Vgl. Ebd., S. 17. Vgl. Ebd., S. 15–18.

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auf die literarische Gattung der Idylle steht nicht im Vordergrund, dass der Topos des locus amoenus, der schöne und angenehme Ort, aufgerufen wird, sondern wie er darstellerisch erzeugt und funktionalisiert wird. Bei der empfindsamen Idyllik liegt die Schwerpunktsetzung auf der räumlich-zuständlichen Ebene. Aus diesem Grund ist hinsichtlich des Toposbegriffs auf Dirk Werle hinzuweisen, der Topoi als »räumlich verstandene Handlungselemente« versteht.58 Das Empfindsam-Idyllische ist ein gattungsübergreifender Merkmalskomplex, der sich aus einem Bündel von Topoi zusammensetzt. Diese umfassen fünf wesentliche Themenkomplexe: eine humane, nicht entfremdete Daseinsform des Menschen, die Rolle der Geschichte, Subjektivierung, Naivität und Anthropologie.

2.1 Natürliches Dasein als suffiziente Lebensart Salomon Gessner ruft in der Vorrede seiner Idyllen von 1756 die beiden antiken Idyllendichter Theokrit und Vergil auf.59 Die Sprechinstanz der Vorrede setzt Theokrit als das »Muster« der folgenden Idyllen.60 Diese Zuordnung zu Theokrit und nicht zu Vergil ist ein Bruch mit der bisherigen Gattungskonvention. Diese Innovation ist eng mit dem Verständnis der Idylle als Dichtungsart verbunden. Dieses Verständnis drückt sich in verschiedenen Haltungen gegenüber den antiken Vorbildern Theokrit und Vergil aus. Die empfindsame Idylle versteht sich als Darstellung einer ›natürlichen Daseinsform‹ des Menschen, die in dem fern vergangenen goldenen Weltalter einmal existierte. Dieses Weltalter war aber auch schon zu den Zeiten Homers, Theokrits und Vergils lange vorbei.61 Es ist daher nicht mehr die Antike, die nachgeahmt und übertroffen werden soll. Mit der empfindsamen Idylle rückt die Imagination des menschlichen Daseins im goldenen Weltalter ins Zentrum. Diese Veränderung wird im Folgenden literaturhistorisch hergeleitet, um den Bruch der empfindsamen Idylle mit den Gattungskonventionen der Idylle aufzuzeigen. Die Imagination einer ›natürlichen Daseinsform‹ des Menschen ist durch signifikante Gleichheitszustände geprägt, die mit dem Begriff der Suffizienz beschrieben werden. Dabei wird mit dem Begriff der Suffizienz erläutert, was die ›natürliche Daseinsform‹ des goldenen Weltalters so besonders macht. Helmut J. Schneider hebt hervor, dass mit einem Geschichtsbewusstsein eine veränderte Perspektive auf die

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sensformationen. Dies fassen sie im Oberbegriff der Topik zusammen: »Topik beschreibt sowohl die komplexen Elemente eines Wissenszusammenhangs als auch deren Arrangement. […] Deshalb hat der Begriff ›Topik‹ die […] zwei Dimensionen: Er zielt auf die in sich komplexen Einzelelemente und auf die Ordnungsstrukturen ihres Arrangements.« Vgl. auch: Wilhelm Schmidt-Biggemann und Anja Hallacker: Topik: Tradition und Erneuerung. In: Thomas Frank/Ursula Kocher und Ulrike Tarnow (Hg.): Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts. Göttingen 2007, S. 15–27, hier S. 23. Vgl. Dirk Werle: Für eine Literaturgeschichte semantischer Einheiten. In: Matthias Buschmeier/ Walter Erhart und Kai Kauffmann (Hg.): Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. Berlin 2014, S. 63–85, hier S. 73. Vgl. GKA, S. 15–18. Vgl. Ebd., S. 17. Vgl. Ebd., S. 15–18.

Das Empfindsam- Idyllische

Idyllendichtung fällt. Die idyllische Dichtung sei in der humanistischen Tradition eine »Textnatur« und durchlaufe dann eine Veränderung zu einer »naturrechtlichen Utopie«, wie dies dann bei Gessner der Fall sei.62 Diese Entwicklung verlaufe in intensiver Diskussion mit der Antike und werde durch eine idyllentheoretische Wende auf das goldene Weltalter entscheidend eingeleitet: Die Gleichsetzung von Text (vergilischer Bukolik) und Antike mußte zerbrechen, wo ein historisches Bewußtsein entstand, das die Dichtung auf die Wirklichkeit ihrer Entstehungszeit bezog und sie als deren Ausdruck begriff. Zwar war sich auch der Humanismus eines historischen Abstands zur verlorenen Antike bewußt, der ja die Voraussetzung seiner Wiedergewinnungsanstrengung war. Diese aber richtete sich auf das in den klassischen Schriften gleichsam inkarnierte Altertum, das es, im kenntnisreichen Umgang mit ihnen, zu pflegen galt. Für die historische Perspektive des 18. Jahrhunderts dagegen rückte die Antike in eine unüberbrückbare Distanz zur Gegenwart, die durch keine solche imitatorische Teilhabe an der antiken Dichtung überbrückt werden konnte. Die »geistige Landschaft« Arkadien (Bruno Snell), die die vergangene klassische Kultur als den Raum ihrer überdauernden Texte, im Wortsinn als eine Textnatur entworfen hatte, konnte nicht mehr, jedenfalls nicht mehr problemlos betreten werden.63 Bruno Snell hat die These aufgestellt, dass Vergil in seiner Bucolica Arkadien als einen selbstreflexiven, dichterischen Kommunikationsraum etabliere.64 Arkadien werde zu einer geistigen Landschaft, die dazu diene als dichtende Person durch Dichtung über Dichtung zu reflektieren. Schneider vertritt die Ansicht, dass diese These Snells für die humanistische Tradition idyllischer Dichtung konstitutiv sei. Dies unterstreicht auch Garber und hebt Vergils Bedeutung für die frühneuzeitliche Bukolik hervor: Bei Theokrit ist der locus amoenus ein in seinen mannigfachen Reizen alle Sinne beglückender Naturausschnitt. Bei Vergil ist er ein idealer Wunschraum, in dem die Hoffnung auf ein Reich des Friedens und der Eintracht symbolisiert wird. Die Reduktion des reichhaltigen Theokritischen locus amoenus bei Vergil ist ein Zeichen seiner Vergeistigung. So wie Vergil die Theokritischen Hirten verfeinert und in ihnen versöhntes Dasein in einer nicht länger von Zwietracht beherrschten Welt verkörpert, so erhöht er die pastorale Natur zu einer Chiffre für dieses Dasein. Diese Chiffre bleibt seit Vergil mit der Bukolik verknüpft und heißt »Arkadien« […]. Als idealer Raum ist Arkadien ausgestattet mit den Zügen des idealen Naturtyps, des locus amoenus. Und als idealer Raum ist es in der Regel arm an spezifischem, einmaligem Wirklichkeitsgehalt. Das zeigen die Eklogen Vergils. In ihnen erfährt der locus amoenus in der Übereinstimmung mit

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Vgl. Helmut J. Schneider: Einleitung: Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie. In: Ders. (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 7–74, hier S. 26 und 42. Ebd., S. 25f. Vgl. Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. Göttingen 2009, S. 257–274.

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dem schäferlichen Leben und in der Meisterschaft der Zeichnung seine vollkommene dichterische Verwirklichung.65 Arkadien werde als ein »idealer Raum« entworfen, der als »Chiffre« eines ruhigen und zufriedenen Lebens betrachtet wird. Bei Hans-Joachim Mähl wird die These von Snell bekräftigt, doch sieht er bei Vergils Bucolica auch eine Politisierung der idyllischen Dichtung: Denn in diese an sich zeit-und geschichtslose Traumwelt Arkadien dringen bei Vergil mehr und mehr die aktuellen Geschehnisse der römischen Geschichte ein, so daß die Hirtenlandschaft gleichsam transparent wird für die dahinterliegende Welt realpolitischer Ereignisse und Schicksale, die den Dichter und seine Zeit bedrängen.66 Mähl sieht Vergils Bucolica als dichterischen Ausdruck einer »entrückten Welt […] aus deren Not und Verwüstung sich das Bild einer Zeitwende« erhebe.67 Schneider betont diesen bei Mähl hervorgehobenen Aspekt, denn Vergil benutze »die Kunstwelt des Vorgängers [gemeint ist Theokrit; F.K.] zur Darstellung eines autonomen Reichs der Dichtung, das er in einen ausdrücklichen Kontrast zur Wirklichkeit und besonders den aktuellen politischen Verhältnissen seiner Zeit« setze.68 Vergil sei es, der mit seiner Bucolica, die »so entscheidende Bedeutung einer Gegenwelt« antizipiere, die für die Bukolik und Idyllik prägend werde.69 Mähl weist eine ganz ähnliche Betrachtungsweise von Vergils Bucolica auf. Man müsse sich »die Bürgerkriege nach Cäsars Tod, gewaltsame Umstürze, Auflösung der überkommenen Ordnungen, Zerrissenheit und Rechtlosigkeit [und] das Elend der Landenteignungen« vor Augen halten.70 Vor diesem Hintergrund bekäme die Zuwendung zu einem »reineren und unversehrten Dasein« der Hirten eine besondere Funktion.71 Arkadien sei keine »geographisch festumrissene Landschaft« mehr, sondern werde bei Vergil »als Traumland fern der geschichtlichen Gegenwart verklärt«.72 Arkadien stehe seit Vergil für ein »musisches Wunschland«, das zur Flucht aus der »verwüsteten Wirklichkeit« bereitsteht.73 Mit Vergils Bucolica werde »zuerst im Bereich der abendländischen Dichtung […] das Traumreich der Poesie zum Sinnbild des goldenen Zeitalters, das, der realen Gegenwart für immer entzogen« sei.74 Nur durch und in der Dichtung 65 66

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Klaus Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer-und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln 1974, S. 96. Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Vorrausetzen. Tübingen 1994, S. 58–69, hier S. 68. Vgl. Ebd. Vgl. Helmut J. Schneider: Einleitung: Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie. In: Ders. (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 7–74, hier S. 20. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische

könne der Mensch dieses »Land[] der Musen« betreten.75 Arkadien wird zur »Welt des Dichters« und – das ist entscheidend – ausschließlich des Dichters.76 Schneider sieht »diese vergilische ›Utopie‹ unmittelbar auf Dichtung und nur mittelbar auf die zeitgenössische Realität« bezogen. Mit Verweis auf Snell führt Schneider aus, dass Vergil sich mit seiner Bucolica mit den Idyllen Theokrits auseinandersetze: Gerade in der wettstreitenden Aneignung des verehrten Vorgängers, in seiner poetischen Übersetzung und der Erfüllung von ihm gesetzten Gattungsnorm schuf Vergil seine Dichtungswelt, in der sich Literatur und Kultur zum erstenmal [sic!] in der europäischen Geschichte als ein eigengesetzlicher, von der pragmatischen Wirklichkeit abgesetzter und ihr entgegengesetzter Bereich begreifen konnten.77 Die humanistische Bukolik stelle sich in die vergilische Tradition, da sie in mimetischem Verhältnis zu Vergils Bucolica stehe. »Die humanistisch-höfische Hirtendichtung« habe den Schäfer und den zeitgenössisch lebenswirklichen Landmann gar nicht im Blick, »noch nicht einmal als etwas, das es auszugrenzen oder abzublenden galt«.78 Sie hat das antike Vorbild von Vergils Bucolica im Blick und bezieht sich im Sinne der imitatio darauf. Diese Bukolik weist daher eine Textbezüglichkeit auf, die zu einer dichterischen Fiktion führt, die »von einer prinzipiell anderen Natur [sei] als jene, die draußen vor den Toren der Stadt in den Fenstern der Salons liegen mochte«.79 Die vergilische Bukolik werde in der humanistisch-höfischen Dichtung als Gattung verstanden, die von der Wirklichkeit der Gegenwart absieht. Vor diesem Hintergrund verdeutlicht sich der vehemente und signifikante Bruch in der deutschsprachigen Idyllendichtung, der in Gottscheds Critischer Dichtkunst zum Ausdruck kommt. Gottsched nimmt Abstand von dem Bezug auf Vergils Bucolica und rückt eine besondere »Lebensart« des Menschen in den Vordergrund: Die ersten Einwohner der Welt nehrten sich bloß von der Viehzucht. Der Ackerbau, die Jagt, der Fischfang und das Weinpflanzen sind viel später erfunden und in Schwung gebracht worden. […] Da nun die Erfindung der Poesie mit den ersten Menschen gleich alt ist; so sind die ersten Poeten oder Lieder=Dichter, Schäfer oder Hirten gewesen. Ohne Zweifel haben sie ihre Gesänge nach ihrem Charakter und ihrer Lebensart eingerichtet: Folglich sind ihre Gedichte Schäfer=Gedichte gewesen.80 Schäferdichtung ist bei Gottsched primär nicht Dichtung über Schäfer, sondern als historische Erscheinung Dichtung von Schäfern. Schäfer seien »die ersten Einwohner der Welt« und »Ackerbau, die Jagt, der Fischfang und das Weinpflanzen« verwiesen bereits 75 76 77 78 79 80

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 61. Ebd., S. 21. Vgl. Ebd., S. 25 Vgl. Ebd. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen: Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Uberall aber gezeigt wird Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe; Anstatt einer Einleitung ist Horatii Dichtkunst in deutsche Verse übersetzt und mit Anmerckungen erläutert. Leipzig 1730, S. 381–410, hier S. 381.

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auf Kultivierungsstufen des Menschen, die mit dieser ersten Zeit des Menschen auf »der Welt« nicht gleichzusetzen sei. Die Schäfer als »erste[] Menschen« waren es aber bereits, denen »die Erfindung der Poesie« zuzuschreiben sei. Daher sind »die ersten Poeten oder Lieder=Dichter Schäfer oder Hirten gewesen«. Die Erscheinung des Menschen auf der Welt ist gleichzusetzen mit der Entstehung von Poesie. Diese historisierende Betrachtung der Schäferdichtung lässt diese Dichtungsart in einem anderen Licht erscheinen. Ihre Bezüglichkeit ändert die Vorzeichen. Sie nimmt nun nicht mehr Bezug auf den antiken Text Vergils, sondern auf einen historischen Zustand des Menschen. Bereits die unkultiviertesten Menschen waren schon dazu in der Lage, Lieder zu dichten und auf diese Weise Poetisches hervorzubringen. Dies macht deutlich, dass mit der engen Verbindung von Schäferpoesie und Lebensart die Frage nach einer anthropologischen Bestimmung des Menschen antizipiert wird. Die Tätigkeit des Dichtens ist über die Zeit hinaus diejenige, die den präzivilisierten und den zivilisierten Menschen verbindet. Die »ersten Menschen« richteten ihre Dichtung »nach ihrem Charakter und ihrer Lebensart« ein und so schildert Schäferdichtung einen menschlichen Charakter und eine Lebensart, die als Nullpunkt jeglichen Kultivierungszustands gedacht wird. Wenn ein Mensch eines weiter fortgeschrittenen Kultivierungszustands sich der Schäferdichtung widmet, liegt die besondere Dichtungskunst darin, den menschlichen Charakter und die Lebensart der Schäfer zu erfassen und zu ›poetisieren‹, was bei Gottsched bedeutet, nach regelpoetischen Regeln darzubieten. Gottsched hebt am Beginn seines Idyllenkapitels Theokrit als Vorbild der Idylle hervor. Allerdings versteht er Theokrits Idyllen als eine Kunst, die von der historischen Schäferpoesie zu differenzieren ist. Die Voranstellung von Theokrit vor Vergil markiert in der Besprechung der antiken Texte die Veränderung in der Idyllentheorie. Theokrits Idyllen sind älter und damit zeitlich näher am fern vergangenen, goldenen Weltalter. Gottsched geht davon aus, dass die einstigen Schäfer ihren Gesang und ihre Erzählungen nicht aufschrieben und dass daher die Schäferpoesie in ihrer historischen Erscheinung, als für die singenden Schäfer »[d]ie Natur allein […] ihre Lehrmeisterin [war]«, nicht wiederherstellbar verloren ist.81 Wenn es keinerlei historische Quelle für die Schäferpoesie als historisches Phänomen gibt, stellt sich die Frage, warum man überhaupt von ihr ausgehen sollte und wie wahrscheinlich es ist, sie als historisch verbürgt anzunehmen. An dieser Stelle verweist Gottsched auf Fontenelle: »[Für] [d]ie Wahrscheinlichkeit in Schäfergedichten, darf man nur Fontenelles Discours […] besehen.«82 Gottsched bezieht sich an dieser Stelle auf Fontenelles Abhandlung Discours sur la nature de l’églogue aus dem Jahr 1688,83 die »die Einleitung zu Fontenelles eigenen Schäferdichtungen bildete«.84 Schneider postuliert über diese Abhandlung: 81 82 83

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Vgl. Ebd., S. 382. Vgl. Ebd., S. 164–186, hier S. 184. Eine Übersetzung dieser Abhandlung Fontenelles wurde von Gottsched erstmals 1730 publiziert und ist enthalten in der Schrift: Herrn Bernhards von Fontenelle Gespräche von Mehr als einer Welt zwischen einem Frauenzimmer und einem Gelehrten/Nach der neuesten Frantzösischen Auflage übersetzt, auch mit Figuren und Anmerckungen erläutert von Joh. Chr. Gottscheden, Prof. und Collegiat zu Leipzig und der Königl. Preuß. Soc. der Wissensch. Mitgliede. Andre Auflage. Mit einer neuen Zugabe vermehret. Leipzig 1730. Bernard le Bovier de Fontenelle: Abandlung über die Natur der Schäfergedichte. In: Helmut J. Schneider (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 75–93, hier S. 75.

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Im eigenständigen Räsonnieren [sic!] statt der Befolgung der klassischen Autorität; im Versuch einer rationalen Erklärung der Schäferfiktion und des Gefallens an ihr statt der Imitatio Theokrits und Vergils liegt die zentrale Bedeutung der Abhandlung, die zur einflußreichsten der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde. Dagegen wurden die Eklogen schon bald überwiegend abgelehnt.85 Die Idyllentheorie Fontenelles ist für die einsetzende Idealisierung der Schäferpoesie von zentraler Bedeutung. In Fontenelles Discours heißt es : La Poésie pastorale est apparemment la plus ancienne de toutes les Poésies, parce que la condition de Berger est la plus ancienne de toutes les conditions. Il est assez vraisemblable que ces premiers Pasteurs n’avisèrent, dans la tranquillité et l’oisiveté dont ils jouissoient, de chanter leurs plaisirs et leurs amours; et il étoit naturel qu’ils fissent souvent entrer dans leurs chansons leurs troupeaux, les bois, les fontaines et tous les objets qui leur étoient les plus familiers. Ils vivoient à leur manière dans une grande opulence, ils n’avoient personne au-dessus de leur tête, ils étoient pour ainsi-dire les rois de leurs troupeaux; et je ne doute pas qu’une certaine joie qui suit l’abondance et la liberté, ne les portât encore au chant et à la Poésie.86 Bei Fontenelle haben die Schäfer »la plus ancienne de toutes les conditions«. Die Schäferpoesie ist deshalb die älteste Dichtungsart und fällt in ihrer Entstehung mit den Schäfern des goldenen Weltalters zusammen, über deren Lebensumstände diese Poesie berichtet. Bereits Fontenelle geht davon aus, dass das Auftreten des Menschen zugleich die Poesie hervorbrachte. Diese ist aus diesem Grund ›natürlicher‹ Ausdruck des Menschen. Bei den Schäfern ist besonders, dass ihre Dichtung in besonderer Weise mit ihrer Lebensart verbunden ist. Ihre spezifische Lebensart bot ihnen die häufige Möglichkeit singend zu dichten, sodass das Schäferleben neben harter körperlicher Arbeit speziell durch die musische Tätigkeit des Dichtens geprägt war. Die Schäferpoesie des goldenen Weltalters erscheint auf diese Weise als ein ›natürlicher‹ Ausdruck einer spezifischen Lebensart. Das Hirtengedicht der zeitgenössischen Gegenwart Fontenelles muss diese fern in der Vergangenheit der Menschheitsgeschichte liegende Art zu leben imaginativ zu erreichen suchen. Auch Fontenelle betrachtet Theokrits Idyllen bereits als Kunst und die dort auftretenden Schäfer dürfen nicht mit den ›wahrhaften Schäfern‹, die die ersten Menschen waren, gleichgesetzt werden: »Aussi est-il bien sûr que de vrais bergers ne sont point entièrement faits comme ceux de Théokrite.«87 In der Besprechung der antiken Vorbilder Theokrit und Vergil fallen in Fontenelles Discours deutliche Unterschiede im Vergleich zu den später erschienenen, deutschsprachigen Schriften Gottscheds und Gessners auf. Für Fontenelle sind die Hirten in den Idyllen Theokrits dann vorbildhaft, wenn sie eben nicht bloß als präzivilisierte Schäfer erscheinen: »Mais je ne sais pourquio Théokrite, ayant quelquefois élevé ses bergers d’une manière si agréable au-dessus de leur génie naturel, les y a laissé retomber très-

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Ebd. Bernard le Bovier de Fontenelle : Discours sur la nature de l’églogue. In : Fontenelle : Œuvres complètes éditées par G.-B. Depping. Tome III. Genève 1968, S. 51–69, hier S. 52. Ebd., S. 53.

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souvent.«88 Für Fontenelle darf das Hirtengedicht seiner Zeit nicht ausschließlich die historisch getreue Nachahmung des urzeitlichen Schäferdaseins darstellen. Das Leben der Schäfer wies sicherlich viel Grobes und ebenso Unangenehmes auf. Theokrits Fehler sei es, dass er diese Grobheiten des Schäferlebens mit in seine Idyllen aufgenommen habe. Auch wären die Geisteskräfte des Menschen im Schäferdasein nicht so weit entwickelt gewesen, weshalb die Schäferpoesie thematisch eintönig sei. Fontenelle versteht die Idylle als idealisierte und kultivierte Imagination des urzeitlich angenommenen Schäferdaseins. Für ihn ist die Idylle die Darstellung der Idee eines ruhigen und zufriedenen Lebens, denn das sei es, was dem zivilisatorischen Menschen an dem urzeitlichen Schäferdasein gefalle: Je conçois donc que la poésie pastorale n’a pas de grands charmes, si elle est aussi grossière que le naturel, ou si elle ne roule précisément que sur les choses de la campagne. Entendre parler de brebis et de chèvres, des soins qu’il faut prendre de ces animaux, cela n’a rien par soi-même qui puisse plaire : ce qui plaît, c’est l’idée de tranquillité attachée à la vie de ceux qui prennent soin de brebis et de chèvres.89 Diese Idee eines ruhigen Lebens von Menschen, die keine Sorgen außer ihren Herden haben, sei es, was das Schäfergedicht auch für den zivilisierten Menschen interessant gestalte. Für Fontenelle steht diese Idee allein im Fokus und daher treten in seinen Idyllen dann auch Schäfer auf, die so kultiviert, gebildet und affektiert sprechen wie Hofleute.90 Das Schäferliche ist bei Fontenelle Kulisse für eine Idee eines in sich ruhenden Lebens. Die auftretenden Schäfer sind bei ihm kultiviert wie Hofleute und drücken sich dementsprechend aus. Er bezeichnet dies als »demi-vrai« : Il faut du vrai pour plaire à l’imagination; mais elle n’est pas difficile à contenter; il ne lui faut souvent qu’un demi-vrai. Ne lui montrez que la moitié d’une chose, mais montrez-la lui vivement, elle ne s’avisera pas que vous lui en cachiez l’autre, et vous la mènerez aussi loin que vous voudrez su le pied que cette seule moitié qu’elle voit est la chose tout entière.91 Bei Fontenelle stellt die Idylle nur eine halbe Wahrheit des historischen Schäferzustands der Menschheit dar.92 Die Idylle spiele so vor, dass dies die ganze Wahrheit wäre. Fon-

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Ebd. Ebd., S. 56. Heller hat diesbezüglich die reflexive Artifizialität von Fontenelles Naivitätskonzept herausgestellt: Jakob Christoph Heller: Masken der Natur. Zur Transformation des Hirtengedichts im 18. Jahrhundert. München 2016, S. 87–96. Bernard le Bovier de Fontenelle : Discours sur la nature de l’églogue. In : Fontenelle : Œuvres complètes éditées par G.-B. Depping. Tome III. Genève 1968, S. 51–69, hier S. 57f. Vgl. zur halben Wahrheit in der Idyllentheorie Fontenelles: Jakob Christoph Heller: Masken der Natur. Zur Transformation des Hirtengedichts im 18. Jahrhundert. München 2016, S. 78–96. Vgl. auch Schneider, für den mit Fontenelles idyllentheoretischer Konzeption der halben Wahrheit »erstmals in der Geschichte der pastoralen Theorie der wirkliche Bauer als Referenzpunkt ins Visier« rücke, nur um dann entschieden aus der Idylle ausgeklammert zu werden: Helmut J. Schneider: Einleitung: Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllen-

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tenelle klammert alle Rustikalitäten und Grobheiten aus, die dieses Schäferdasein sicherlich gehabt hätte. Wenn es in Gessners Vorrede An den Leser heißt, dass eine »Menge von Leuten […] ihre Bestimmung in einer falsch-ekeln Galanterie finden« und dass es diese Menschen sind, »[d]enen […] vor dem Ländlichen [ekelt]« und »ihnen […] nur Hirten [gefallen], die so geziert denken wie ein witziger Dichter, und die aus ihren Empfindungen eine schlaue Kunst zu machen wissen«, dann grenzt sich Gessners idyllentheoretischer Entwurf seiner Vorrede von Fontenelles Discours ab.93 Mit der Idealisierung der Gattung der Idylle bereitet Fontenelles Discours die Betrachtung der Menschheitsgeschichte als moralisch degressiven Prozess vor: La société se perfectionna, ou peut-être se corrompit : mais enfin les hommes passèrent à des occupations qui leur parurent plus importantes; de plus grands intérêts les agitèrent, on bâtit des villes de tous cȏtés, et avec le temps il se forma de grands états. Alors les habitans de la campagne furent les esclaves de ceux des villes; et la vie pastorale étant devenue le partage des plus malheureux d’entre les hommes, n’inspira plus rien d’agréable.94 Fontenelles Betrachtungsweise der Geschichte ist ambivalent. Einerseits sieht er die Zivilisierung als Vervollkommnungsprozess an. Andererseits ist diese Kultivierung zugleich auch Verderben. Für Fontenelle ist die Zivilisierung für diejenigen Menschen eine Entfremdung, die sich der Zivilisierung von der Geisteskraft her nicht anschließen können. Les agrémens demandent des esprits qui soient en état de s’elever au-dessus des besoins pressans de la vie, et qui se soient polis par un long usage de la sociéte; il a toujours manqué aux bergers l’une ou l’autre de ces deux conditions.95 Gottsched übersetzt »[l]es agrémens« mit »Anmut«.96 Der Kontext gibt hier die Semantik vor, dass mit diesem Begriff eine Annehmlichkeit, ein Charme beschrieben wird, der als Verhaltenscode der Zivilisation eigen ist. Eine ähnliche Semantik ergibt sich auch für »polis«, das Gottsched mit »artiger« übersetzt und die Kompetenz eines höflichen Ge-

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theorie. In: Ders. (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 7–74, hier S. 30f. Vgl. GKA, S. 18. Bernard le Bovier de Fontenelle : Discours sur la nature de l’églogue. In : Fontenelle : Œuvres complètes éditées par G.-B. Depping. Tome III. Genève 1968, S. 51–69, hier S. 52. Ebd. Bernard le Bovier de Fontenelle: Abhandlung über die Natur der Schäfergedichte. [Nach der Übersetzung von Gottsched]. In: Helmut J. Schneider: Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 76–93, hier S. 76. Vgl. auch: Herrn Bernhards von Fontenelle Gespräche von Mehr als einer Welt zwischen einem Frauenzimmer und einem Gelehrten/Nach der neuesten Frantzösischen Auflage übersetzt, auch mit Figuren und Anmerckungen erläutert von Joh. Chr. Gottscheden, Prof. und Collegiat zu Leipzig und der Königl. Preuß. Soc. der Wissensch. Mitglieder. Leipzig, Breitkopf, 1730, S. 217–256, hier 220f.

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sellschaftsumgangs beschreibt.97 Auch hier erscheint ein Element eines Verhaltenscodes als zivilisatorische Errungenschaft. Diesen Verhaltenscode zu beherrschen ist für Fontenelle Kultivierung und Zivilisation. Das heißt, galant zu sein, bedeutet für Fontenelle kultiviert und zivilisiert zu sein.98 In Fontenelles Idyllentheorie deutet sich die Perspektive an, dass wenn der Mensch diese Fähigkeiten und Kompetenzen ausbilden könne, die Zivilisierung als Vervollkommnung des Menschen erscheine. Vermag er dies jedoch nicht, dann werde er hierarchisch abgestuft. Fontenelles Discours enthält so eine Erklärung über die Ungleichheit der Menschen in der Zivilisation. Das Geschehen, dass »les habitans de la campagne furent les esclaves de ceux des villes«, spiegelt genau das wider.99 Die Stadtbewohner sind diejenigen Menschen, denen es möglich war sich in ihren Geisteskräften zu vervollkommnen und sie streben in ihrem Leben ›Höheres‹ an als ein Schäferdasein. Vor diesem idyllentheoretischen Hintergrund konturiert sich Gessners Vorrede An den Leser als eine Auseinandersetzung mit den bei Fontenelle aufgeworfenen Frageund Problemkonstellationen der Gattung der Idylle. In der Vorrede Gessners ändert sich im Vergleich zu Fontenelle die Betrachtungsweise der Zivilisation, denn die weiter fortgeschrittene Kultivierungsstufe der »Menge von Leuten, die ihre Bestimmung in einer falsch-ekeln Galanterie finden« sind diejenigen Menschen, die als moralisch depraviert erscheinen.100 In dem Text An die Leser sind es gerade diese Leute, denen eine spezifische Fähigkeit fehlt und zwar die Empfindungsfähigkeit »für das wahre Schöne«.101 Der Übergang von der höfisch-galanten Idyllentheorie Fontenelles zu dem sentimental-empfindsamen idyllentheoretischen Entwurf Gessners zeichnet sich durch eine Beständigkeit der Themen aus, aber die Perspektive auf die thematischen Aspekte ändert ihre Vorzeichen. Jakob Christoph Heller hat gezeigt, dass es bei Fontenelles Idyllentheorie im Zusammenhang mit der Naivität um eine Natürlichkeit geht, die sich dem lesenden Publikum in der Reflexion als künstliches Konstrukt von Natürlichkeit und

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Bernard le Bovier de Fontenelle: Abhandlung über die Natur der Schäfergedichte. [Nach der Übersetzung von Gottsched]. In: Helmut J. Schneider: Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 76–93, hier S. 76. Vgl. auch: Herrn Bernhards von Fontenelle Gespräche von Mehr als einer Welt zwischen einem Frauenzimmer und einem Gelehrten/Nach der neuesten Frantzösischen Auflage übersetzt, auch mit Figuren und Anmerckungen erläutert von Joh. Chr. Gottscheden, Prof. und Collegiat zu Leipzig und der Königl. Preuß. Soc. der Wissensch. Mitglieder. Leipzig, Breitkopf, 1730, S. 217–256, hier 220f. 98 Vgl. zum Thema Galanterie und Fontenelle: Jörn Steigerwald: Galante Gespräche: Bernard de Fontenelles »Dialogies des Morts«. In: Gabriele Vickermann-Ribémont/Dietmar Rieger (Hg.): Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung. Tübingen 2003, S. 13–30. Vgl. zur Galanterie als verhaltensorientierte Kultivierung des Menschen: Isabelle Stauffer: Verführung zur Galanterie. Benehmen, Körperlichkeit und Gefühlsinszenierungen im literarischen Kulturtransfer 1664–1772. Wiesbaden 2018; Ruth Florack/Rüdiger Singer (Hg.): Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit. Berlin 2012; Jörn Steigerwald: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650–1710). Heidelberg 2011. 99 Bernard le Bovier de Fontenelle: Discours sur la nature de l’églogue. In : Fontenelle : Œuvres complètes éditées par G.-B. Depping. Tome III. Genève 1968, S. 51–69, hier S. 52. 100 Vgl. GKA, S. 18. 101 Vgl. Ebd.

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eben darin gerade als Kunst offenbart.102 Die Sprechinstanz der Vorrede Gessners führt eine Naivitätsvorstellung ein, die eine solch künstliche Natürlichkeit verurteilt, denn über die Naivität der Hirten soll das lesende Publikum nicht räsonieren, stattdessen muss sie empfunden werden.103 Dieser idyllentheoretische Wandel von Fontenelle zu Gessner findet in Gottscheds Critischer Dichtkunst eine Zwischenposition und seine dort vorgestellte Definition der Idylle radikalisiert die idealisierende Betrachtung der Idylle: Will man nun wissen, worinn das rechte Wesen eines guten Schäfer-Gedichtes besteht: So kann ich kürtzlich sagen; in der Nachahmung des unschuldigen ruhigen, und ungekünstelten Schäferlebens, welches vorzeiten in der Welt geführet worden. Poetisch würde ich sagen, es sei eine Abschilderung des güldenen Welt-Alters; auf Christliche Art zu reden, eine Vorstellung des Standes der Unschuld, oder doch wenigstens der Patriarchalischen Zeiten vor und nach der Sündfluth. Aus dieser Beschreibung kann ein jeder leicht wahrnehmen, was ein herrliches Feld zu schönen Beschreibungen eines tugendhafften und glüklichen Lebens sich hier einem Poeten zeiget.104 Gottsched versteht die Idylle poetisch als »eine Abschilderung des güldenen Welt-Alters«, denn im goldenen Weltalter lebten die Menschen ein »unschuldige[s] ruhige[s], und ungekünstelte[s] Schäferleben[]«. Idyllentheoretisch übernimmt er die idealisierende Perspektive auf die Gattung der Idylle, grenzt sich jedoch auch deutlich von Fontenelle ab, denn er sieht in der Idylle allein die dichterische »Nachahmung« eines historischen Zustands. Gottsched hebt diese Nachahmung zugleich als Imaginationsmöglichkeit für »ein[] tugendhaffte[s] und glückliche[s] Leben[]« hervor. In der Idyllentheorie Gottscheds wird sichtbar, dass mit der Dichtungsart der Idylle die Frage nach individuellem oder zu mindestens doch subjektivem Glück in den Vordergrund rückt. Die Idylle bietet »einem Poeten« nämlich »ein herrliches Feld« für die Darstellung von Glück. Ein Glück wie es auf der Welt um »auf Christliche Art zu reden« nur in »eine[r] Vorstellung des Standes der Unschuld, oder doch wenigstens der Patriarchalischen Zeiten vor und nach der Sündfluth« gab.105 Die dichterische Nachahmung des goldenen Weltalters wird als Ausmalung eines einfachen, genügsamen und harmoniegeprägten Lebens verstanden, deren Existenz in einer urzeitlichen Vergangenheit als real angenommen wird.106

102 Vgl. Jakob Christoph Heller: Masken der Natur. Zur Transformation des Hirtengedichts im 18. Jahrhundert. München 2016, S. 87–96. 103 Vgl. Salomon Gessner: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. von E. Theodor Voss. Stuttgart, Reclam, 1988, S. 15–18. Vgl. ausführlich zur Auffassung der Naivität bei Gessners Idyllen von 1756 das Kapitel 2.4 dieser Untersuchung. 104 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen: Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Uberall aber gezeigt wird Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe; Anstatt einer Einleitung ist Horatii Dichtkunst in deutsche Verse übersetzt und mit Anmerckungen erläutert. Leipzig 1730, S. 381–410, hier S. 382. 105 Vgl. für eine Deutung der zeitlichen Unbestimmtheit dieses Unschuldsstands bei Gottsched: Florian Schneider: Im Brennpunkt der Schrift. Die Topographie der deutschen Idylle in Texten des 18. Jahrhunderts. Würzburg 2004, S. 65–75. 106 Vgl. Helmut J. Schneider: Einleitung: Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie. In: Ders. (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tü-

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Gottscheds Idyllendefinition bleibt auf der darstellerischen Ebene der Regelpoetik treu, aber thematisch wird die Gattung der Idylle im Zuge ihrer Historisierung mit der Möglichkeit von Glück verbunden. Es ist von Böschenstein-Schäfer bemerkt worden, dass Gottsched »[d]as patriarchalische Schäferleben […] mit spürbarer Liebe« ausmale.107 Bevor er dies in seiner Dichtungstheorie ausführt, stellt er jedoch klar, dass das imaginierte goldene Weltalter ein anderes rurales Leben darstellt als das der zeitgenössischen Landbevölkerung. Denn die Wahrheit zu sagen, der heutige Schäferstand ist derjenige nicht, den man in Schäfer-Gedichten abschildern muß. Er hat viel zu wenig Annehmlichkeiten, als daß er uns recht gefallen könnte. Unsre Landleute sind mehrentheils armselige, gedrückte und geplagte Leute. Sie sind selten die Besitzer ihrer Heerden, und wenn sie es gleich sind, werden ihnen doch so viel Steuern und Abgaben auferlegt, daß sie bey all ihrer sauren Arbeit kaum ihr Brod haben. Zudem herrschen unter ihnen schon so viele Laster, daß man sie nicht mehr als Muster der Tugend aufführen kan.108 Die Gegenwart bietet nach Gottsched keine Möglichkeit der Schilderung eines idyllischen Glücks, daher fordert er zur Vorstellung der »Welt in ihrer ersten Unschuld« auf, denn es müssen »ganz andere Schäfer seyn, die ein Poet abschildern, und deren Lebensart er in seinen Gedichten nachahmen soll«.109 Gottsched konkretisiert diese zu imaginierende »Lebensart«: Ein freyes Volck, welches von keinen Königen und Fürsten weiß, wohnet in einem fetten Lande, welches an allem einen Überfluß hat, und nicht nur Gras, Kräuter und Bäume, sondern auch die schönsten Früchte von sich selbst hervorbringen. Von schwerer Arbeit weiß man daselbst eben so wenig als von Drangsalen und Kriegen. Ein jeder Hausvater ist sein eigener König und Herr; seine Kinder und Knechte sind seine Unterthanen, seine Nachbaren seine Bundesgenossenen und Freunde; Seine Heerden sein Reichthum und seine Feinde sonst niemand als die wilden Thiere, die seinem Volke zuweilen Schaden thun wollen. Eine hölzerne Hütte oder wohl gar ein Strohdach ist sein Pallast, ein

bingen 1988, S. 7–74, besonders S. 42–53. Auch Heller, der sich von Schneiders und BöschensteinSchäfers Ausführungen zu Idyllentheorie Gottscheds distanziert, muss Schneiders Feststellung zustimmen, dass für Gottsched »das Goldene Zeitalter außerhalb der Texte« zu lokalisieren sei. Allerdings behauptet Heller, dass es Gottsched dennoch um »die (Re-)Konstruktion eines imaginierten Idealzustands« ginge. In dieser Studie wird die Nachahmung des goldenen Weltalters bei Gottsched als Imagination eines historischen Zustands verstanden, der als real angenommen wird. Die Imagination hat die Funktion die wahrscheinliche Natur zu erreichen, die zu einer anderen Zeit auf der Welt gegeben war. Vgl. zur Hellers Ausführungen zu Gottsched: Jakob Christoph Heller: Masken der Natur. Zur Transformation des Hirtengedichts im 18. Jahrhundert. München 2016, S. 96–118. 107 Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart 1977, S. 68. 108 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen: Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Uberall aber gezeigt wird Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe; Anstatt einer Einleitung ist Horatii Dichtkunst in deutsche Verse übersetzt und mit Anmerckungen erläutert. Leipzig 1730, S. 381–410, hier S. 382. 109 Ebd.

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grüner Lustwald sein Garten, eine kühle Höle sein Keller, eine Lauberhütte sein Sommerhaus. Flachs und Wolle und ein Strohhut ist seine Kleidung; Milch und Käse sind seine Nahrung; die Feld= und Garten=früchte seine Leckerbissen; ein hölzerner Becher, eine Flasche, ein Schäferstab und seine Hirtentasche sein ganzer Hausrath. Sein Hund ist sein Wächter, eine Blume sein Schmuck und seine Erquickung und die Musik sein bester Zeitvertreib.110 Bei Gottsched nimmt die Idylle als dichterische Nachahmung des goldenen Weltalters eine gegenbildliche Tendenz zur Gegenwart ein. Das Hirtendasein ist bei Gottsched in besonderer Weise patriarchalisch geprägt und die Einfachheit und Genügsamkeit der Hirten ist zugleich auch ihr Glück. Im Zuge der Idealisierung der Gattung der Idylle wird bei Gottsched das goldene Weltalter zur Chiffre einer naturrechtlichen Utopie. Daran wird die deutschsprachige Idyllik des 18. Jahrhunderts anschließen, da die Idylle auf diese Weise als dichterische Möglichkeit einer gegenbildlichen Dichtungsart hervortritt. Es ist aber nicht nur die patriarchalische, einfache und genügsame Lebensform, die das Glück bei Gottsched ausmacht, sondern bemerkenswert ist, dass er sich die Hirten des goldenen Weltalters in einem Zustand des richtigen Maßes denkt. »Im Absehen auf den Verstand sind diese glückseelige[n] Schäfer zwar einfältig, aber nicht dumm.«111 Sie sind auch dazu in der Lage, »nach ihrer Art mancherley Künste« zu bestreiten, wie die Handwerkskunst des Fechtens und Schnitzens.112 Sogar eine gewisse Bildung wird ihnen von Gottsched zugesprochen: Gelehrt sind sie zwar nicht; doch wissen sie aus den Erzehlungen ihrer Vorfahren von den alten Geschichten, und von dem Unterrichte der Klügsten unter ihnen von den Geheimnissen der Natur, dem Laufe der Gestirne u.d.m. doch alle Zeit mit einer gewissen Einfalt zu reden.113 Die Hirten des goldenen Weltalters werden als präzivilisiert entworfen, aber sie tragen die Fähigkeiten zur Zivilisation bereits in sich. Gottsched bezeichnet die Bildung der Hirten als einen »natürlichen Witz« und betont damit, dass die Geistesfähigkeiten der Hirten sich in einem ursprünglichen Verhältnis befinden.114 Gottsched konzentriert sich darauf die Hirten »als Menschen« zu konturieren.115 Die Hirten des goldenen Weltalters haben Gottsched zufolge »Vernunftschlüsse« gezogen, aber nur solche, die für ihre Lebensart relevant waren. Daher »wissen sie nichts [von Metaphysischen Abstractionen]«.116 Ihr Vernunftgebrauch ist auf lebenspraktische Anwendungen ihres Daseins konzentriert und ihr Verhalten orientiert sich an ihrer Empfindung: »Sie halten sich allezeit an dem was sie empfinden, und ihre Unterredungen handeln von dem was ge-

110 111 112 113 114 115 116

Ebd., S. 382f. Ebd., S. 383 Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

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schieht, was sie gesehen oder gehöret haben.«117 Die Empfindung ist eine Affektation des Inneren. Die von Gottsched genannte Orientierung der Hirten sensibilisiert dafür, dass die Lebensart der Hirten entscheidend durch ihre Harmonie in ihrem Inneren geprägt ist. »Als Menschen« haben sie Affekte, »aber keine unordentliche und ausschweifende Begierde«.118 Sie sind Menschen, aber ihr Inneres befindet sich in einem Zustand, der keine radikale Emotionalität aufweist. Ihr Inneres ist dadurch geprägt, dass es sich in einem ausgewogen ruhigen Zustand befindet.119 Ihre Lebensart zeichnet sich durch diese innere Ruhe aus: Sie sind offenherzig, aber bescheiden, freygebig, aber nicht verschwenderisch, sparsam aber nicht karg; ehrliebend aber nicht stolz: endlich auch mäßig und nüchtern, und mit einem Worte ganz tugendhafft und allezeit vergnügt.120 Noch deutlicher zeigt sich die ausgewogene innere Beschaffenheit, die Gottsched den Hirten des goldenen Weltalters »als Menschen« zuweist,121 in ihrer Art zu lieben: Dieser Affect [die Liebe; F.K.] herrschet am meisten unter ihnen, aber auf eine unschuldige Weise. Er ist die einzige Quelle ihres größten Vergnügens, aber auch ihrer größten Unruhe. Ihre Muße läßt ihnen genug zu verliebten Gedancken und Unterredungen, aber ihre Einfalt verbietet ihnen alle gar zu künstliche Mittel zu ihrem Zwecke zu gelangen. Ihre gute [sic!] Eigenschaften machen sie liebenswürdig, und ihre LiesbesErklärungen geschehen mehr durch schamhaffte Blicke, als durch viel zärtliche Worte. Ihre Geschenke besthen aus Blumen und Früchten, jungen Lämmern und schönen Hunden, künstlichen Hüten, Bechern und Stüben. Sie putzen sich, aber nach ihrer Einfalt, die von Seide, Gold und Silber nichts weiß. Sie sind eifersüchtig und empfindlich; aber auch leicht zu besänftigen. Sie beklagen sich über die Unempfindlichkeit ihrer Schönen; hencken sich aber deswegen nicht auf. Sie sind sehr treu in ihrer Liebe, und man weiß bey ihnen von keinen grössern Laster als von der Unbeständigkeit. Ihre Nebenbuhler suchen sie durch neue Gefälligkeiten, nicht aber durch Rachgier und Gewalt zu überwinden; Kurz; die unschuldige Schäferliebe muß von allen Lastern frey seyn, die sich durch die Bosheit der Menschen allmählich eingeschlichen.122 Gottsched führt mit diesen Überlegungen eines in sich ruhenden Inneren aus, was er mit der »Welt in ihrer ersten Unschuld« meint und wie er sich eine »Abschilderung des güldenen Welt-Alters« denkt.123 Bei Gottsched zeigt sich die naturrechtliche Utopie des goldenen Weltalters als Zusammenfall von Natürlichkeit und Ursprünglichkeit, der für das ganze 18. Jahrhundert zentral ist. Die Hirten haben ein ausbalanciertes Inneres und sind dadurch in der Lage »von allen Lastern frey« zu lieben und diese »unschuldige Schäferliebe« als wichtigsten Inhalt ihres Lebens zu verwirklichen. Diese Liebe ist als erfüllte 117 118 119 120 121 122 123

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 383f. Ebd., S. 384. Vgl. Ebd., S. 383. Ebd., S. 384f. Vgl. Ebd., S. 382.

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»die einzige Quelle ihres größten Vergnügens« und als unerfüllte »auch ihrer größten Unruhe«. Die Liebe der Hirten ist adäquat zu ihrem ausgeglichenen Inneren, kein Aufruhr in ihrem Inneren, sondern erscheint als eine Neigung. So weisen die Hirten des goldenen Weltalters selbst bei einer der intensivsten inneren Regungen des Menschen eine hervorzuhebende Ausgewogenheit auf. Mit Gottscheds Idyllentheorie rückt damit eine Zustandsform der Hirten in den Vordergrund, die eine Besonnenheit des Inneren aufweist, die die Reinheit und die Unschuld des präzivilisierten Hirtenlebens in signifikanter Weise prägt und die für die deutschsprachige Idyllik im 18. Jahrhundert signifikant wird und in den Idyllen Gessners eine prominente, literaturhistorische Erscheinung findet.124 Diese Zustandsform ist die kulturgeschichtliche Denkfigur eines suffizienten Daseins. Beschrieben wird damit eine Ausgeglichenheit des einzelnen Menschen mit sich selbst, seinen Mitmenschen und den ihn umgebenden Ressourcen. Der Suffizienzbegriff entstammt der Soziologie und beschreibt dort den Idealpunkt einer Art zu leben, die in besonderer Weise den drei Diskussionszusammenhängen der Ökologie, der Ökonomie und der Gesellschaft gerecht wird.125 Soziologisch betrachtet ist eine suffiziente Lebensart ein Idealpunkt zwischen diesen drei Diskussionszusammenhängen, der nicht erreicht werden kann, sondern im Sinne einer ›regulativen Idee‹ erscheint. Silke Kleinhückelkotten entwickelt ihre Vorstellung von Suffizienz als »idealtypische[m] nachhaltige[m] Lebensstil[]«.126 Ein Mensch lebt suffizient, wenn sein Lebensstil umweltbezogenen, wirtschaftlichen sowie sozialen Faktoren in dem Maße gerecht wird, dass diese Faktoren generationsübergreifend erhalten, stabil und funktionsfähig bleiben. Suffizienz bezieht sich auch für Felix Ekardt auf »Lebensstile«. Er definiert diesen Begriff als »Verhaltensänderungen mit dem Ziel eines genügsameren Konsums, mag dieser freiwillig oder auf andere Weise auftreten«.127 Allerdings ist für Ekard genügsamer Konsum und für Kleinhückelkotten Suffizienz allgemein mit dem markwirtschaftlichen System und globalen Kapitalismus nicht vereinbar. Deshalb beschränke sich die politische Nachhaltigkeitsdebatte auf Konsistenz-und Effizienzaspekte, diese seien durch Schaffung innovativer und neuer Produkte in das System und die ökonomische Ordnung integrierbar. Ekard bringt dies pointiert wie folgt auf dem Punkt:

124 Damit sei ausdrücklich nicht gesagt, dass Gessner die Dichtungstheorie Gottscheds befolge, sondern dass spezifische literaturgeschichtliche Erscheinungen und Tendenzen als Gemeinsamkeiten hervortreten. 125 Vgl. allgemein zum soziologischen Begriff der Suffizienz: Silke Kleinhückelkotten: Suffizienz und Lebensstile. Ansätze für eine milieuorientierte Nachhaltigkeitskommunikation. Berlin 2005, hier S. 55–63. Sowie für eine ausführliche und umfangreiche, umweltsoziologische Perspektive auf den Begriff der Suffizienz: Laura Spengler: Sufficiency as Policy. Necessity, Possibilities and Limitations. Baden-Baden 2018, S. 127–159. 126 Vgl. Silke Kleinhückelkotten: Suffizienz und Lebensstile. Ansätze für eine milieuorientierte Nachhaltigkeitskommunikation. Berlin 2005, S. 118–130, hier S. 118. 127 Vgl. Felix Ekardt: Suffizienz, Politik und die schwierige Rolle des guten Lebens. In: Maximilian Becker/Mathilda Reinicke (Hg.): Anders wachsen! Von der Krise der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft und Ansätzen einer Transformation. München 2018, S. 223–239, hier S. 225.

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In der Summe würde echte Suffizienz aber eben, wenn sie ihre ökologischen Ziele erreicht und nicht durch Rebound-Effekte oder Problemverlagerungen in andere Länder, andere Sektoren oder hin zu anderen Umweltproblemen aufgehoben wird, mit hoher Wahrscheinlichkeit gerade darin bestehen, dass wir alle, zugespitzt gesagt, weniger kaufen.128 Damit würde Suffizienz aber zum politischen marktwirtschaftlichen Problem, da das wirtschaftliche System davon abhängig ist, dass konsumiert wird, um zu wachsen. Suffizienz ist daher politisch komplex, da einerseits Maßregelungen in der Konsumfreiheit als Maßregelung der persönlichen Freiheit gedeutet werden können, andererseits Suffizienz auch der grundlegenden ökonomischen Ordnung entgegensteht. Eine Verwirklichung von einer annäherungsweisen suffizienten Lebensart würde so auch die Frage eines Systemwandels oder doch einer Transformation als Konsequenz mit sich bringen.129 Suffizienz ist als ideale Lebensart ein Orientierungspunkt zwischen den drei Diskussionszusammenhängen Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft, wobei er jedoch den ersten im Grunde zuwiderläuft. Dieses Zuwiderlaufen kann mit Kleinhückelkotten damit begründet werden, dass der Diskussionszusammenhang der Ökonomie derjenige ist, der gegen Einschränkungen am wenigsten resilient ist. Er ist deswegen derjenige, der für die meisten gesellschaftlichen Milieus die Art zu leben am signifikantesten prägt. Eine Lebensart, die allen drei Diskussionszusammenhängen gerecht werden will, kann dies im Ersteren nur in einem relativierten Sinne. Suffizienz ist nur als Relativierung der für viele Gesellschaftsmilieus geltenden Totalsetzung der Ökonomie zu begreifen.130 Suffizienz ist als ein Ideal von Ausgewogenheit eine Denkfigur. Eine Denkfigur wird in Anlehnung an Alexander Friedrich als ein zwei Komponenten umfassendes Abstraktum bestimmt. Eine Denkfigur mache »etwas Unbegriffliches intelligibel und etwas Begriffliches anschaulich«.131 Im 18. Jahrhundert gab es den Begriff der Suffizienz nicht. Seine soziologische und gesellschaftspolitische Bedeutung als Idealpunkt einer nachhaltigen Lebensart formierte sich erst am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus. Kathryn Allan hat darauf hingewiesen, dass Zustandsformen eines ›genügsamen

128

Felix Ekardt: Suffizienz, Politik und die schwierige Rolle des guten Lebens. In: Maximilian Becker/ Mathilda Reinicke (Hg.): Anders wachsen! Von der Krise der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft und Ansätzen einer Transformation. München 2018, S. 223–239, hier S. 226. 129 Vgl. dazu: Samuel Alexander: What Would a Sufficiency Economy Look Like? In: Matthew Ingleby/ Samuel Randalls (Hg.): Just enough. The History, Culture and Politics of Sufficiency. London 2019, S. 117–134. 130 Vgl. dazu die empirische Auswertung von Kleinhückelkottens Studie: Silke Kleinhückelkotten: Suffizienz und Lebensstile. Ansätze für eine milieuorientierte Nachhaltigkeitskommunikation. Berlin 2005, S. 131–160. 131 Vgl Alexander Friedrich: Bericht zur Tagung »Was sind Denkfiguren? Figurationen unbegrifflichen Denkens in Metaphern, Diagrammen und Kritzeleien. Workshop, veranstaltet vom Graduiertenkolleg »Schriftbildlichkeit« in Kooperation mit dem International Graduate Centre for the Study of Culture, Freie Universität Berlin, 25.-26. Februar 2011. Online verfügbar unter: http://kult-onlin e.uni-giessen.de/archiv/veranstaltungsberichte/bericht-zur-tagung-was-sind-denkfiguren-figu rationen-unbegrifflichen-denkens-in-metaphern-diagrammen-und-kritzeleien (Letzter Zugriff am 19.06.2020.)

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Genughabens‹ historische Erscheinungsformen des Begriffs der Suffizienz seien.132 Für die Beschreibung der deutschsprachigen literarischen Idyllik des 18. Jahrhunderts erscheint Suffizienz als Denkfigur besonders geeignet, da hier die Lebensart des Menschen in den Vordergrund rückt und die Idylle als Dichtungsart entdeckt wird, die die Imaginationsmöglichkeit bietet, eine ›natürliche Daseinsform‹ des Menschen zu entwerfen. Diese Daseinsform fällt mit dem Ursprung des Menschen auf der Welt zusammen. Diese ursprüngliche Zeit wird mit dem Ausdruck des goldenen Weltalters benannt. Das Besondere dieser ursprünglichen, präzivilisierten Menschen ist ihr ausgeglichenes Innere. Diese Beschaffenheit des Inneren ist Ausgangspunkt für naturale und zwischenmenschliche Harmonieverhältnisse. Diese ›natürliche Daseinsform‹ des Menschen zeigt die Denkfigur einer suffizienten Lebensart, da die Hirten im goldenen Weltalter verschiedenen Diskussionszusammenhängen, die ihr Leben prägen, in besonderer Weise gerecht werden. Das goldene Weltalter ist Sinnbild einer ›natürlichen Daseinsform‹ des Menschen, in der er suffizient lebte. Schon bei Gottsched erscheint eine suffiziente Lebensart als ein im Prozess der Zivilisierung verloren gegangenes Element einer ›natürlichen Daseinsform‹. Die Hirten weisen bei Gottsched einen inneren Mittelzustand auf, der ihnen von ihm auch in ihrem äußeren Verhalten zugesprochen wird. Bei den Idyllen Gessners von 1756 rückt die Art zu leben, die die Hirten des goldenen Weltalters an den Tag legen, explizit in den Vordergrund. Die imaginierte »Lebens-Art« der Hirten in der Präzivilisation zeichnet sich durch eine Idealität aus.133 Das natürliche Dasein der Hirten wird in der Vorrede An den Leser folgendermaßen beschrieben: Die Ekloge hat ihre Scenen in eben diesen so beliebten Gegenden, sie bevölkert dieselben mit würdigen Bewohnern, und giebt uns Züge aus dem Leben glüklicher Leute, wie sie sich bey der natürlichsten Einfalt der Sitten, der Lebens-Art und ihrer Neigungen, bey allen Begegnissen, in Glük und Unglük betragen. Sie sind frey von allen den Sclavischen Verhältnissen, und von allen den Bedürfnissen, die nur die unglükliche Entfernung von der Natur nothwendig machet, sie empfangen bey unverdorbenem Herzen und Verstand ihr Glük gerade aus der Hand dieser milden Mutter, und wohnen, in Gegenden, wo sie nur wenig Hülfe fordert, um ihnen die unschuldigen Bedürfnisse und Bequemlichkeiten reichlich darzubieten.134 Der Begriff der Neigung wird hier als eine Form der Lustregung verstanden. So ist das Musizieren und Singen als Neigung der Hirten zu verstehen, der sie nachgehen, wenn es die Situation erlaubt. Gleichzeitig verbindet sich mit der Natürlichkeit der Neigung aber auch eine gegenbildliche Besonderheit der Hirten, die mit der Natur als für sie allumfassende Daseinsinstanz verbunden ist. Die Hirten sind ›Kinder der Natur‹, da sie ihre »Mutter« ist. Dies verweist darauf, dass die Hirten eine Art Kultur haben, die von der Natur selbst kommt.135 Wenn das Singen und Musizieren die »natürlichste Einfalt […]

132 133 134 135

Kathryn Allan: Enough. A Lexikal-Semantik Approach. In: In: Matthew Ingleby/Samuel Randalls (Hg.): Just enough. The History, Culture and Politics of Sufficiency. London 2019, S. 3–12. Vgl. GKA, S. 15. Ebd. Vgl. Ebd.

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ihrer Neigungen« ist, dann ist diese Kulturform der Hirten von der Natur eingegeben.136 Die konträre Gegenüberstellung von Mensch und Kultur mit der Natur wird aufgehoben, indem dem ursprünglichen Menschen eine Kultur zugewiesen wird, die natürlich ist. Dies wird in den Idyllen durch die Parallelisierung der Hirten mit naturalen Phänomen und Elementen immer wieder aufgegriffen und bekräftigt. Die Hirten stellen ihr Dasein nicht der Natur gegenüber, sondern sehen es als in den Kreislauf der Natur eingebunden an. Sie benötigen zwar naturale Ressourcen zum Leben, doch diese werden ausschließlich subsistent verwendet. Dies wird durch Gegenfiguren in den Idyllen verdeutlicht. In der Idylle Menalkas und Äschines, der Jäger fungiert der Jäger als Gegenbild.137 Er kommt aus dem zivilisatorischen Ort der Stadt und entfernt aus dem eigentlichen Kreislauf der Natur Lebewesen, die er als Jäger tötet. Die Gegenbildlichkeit von dem präzivilisierten Hirten Menalkas und dem Stadtbewohner Äschines wird von Beginn an stark polarisierend dargestellt: Der junge Hirt Menalkas weidete auf dem hohen Gebürge, und er gieng tief ins Gebürg, im wilden Hain ein Schaf zu suchen, und im wilden Hain fand er einen Mann, der abgemattet im Busch lag; Ach junger Hirt, so rief der Mann, ich kam gestern auf diß wilde Gebürge die Rehe und die wilden Schweine zu verfolgen, und ich habe mich verirrt, und bis izt, keine Hütte und keine Quelle für meinen Durst, und keine Speise für meinen Hunger gefunden.138 Dieser Anfang der Idylle Menalkas und Äschines, der Jäger ruft zugleich den Kontrast von präzivilisiertem Hirten und zivilisiertem Stadtbewohner auf. Der Jäger Äschines gehört nicht in den Raum des »hohen Gebürge« und »verirrt« sich dort. Er benötigt Hilfe und ist körperlich »abgemattet«, da er aus der rauen Gegend des Gebirges keinen Ausweg findet. Als Repräsentant der Zivilisation ist er nicht mehr an die Bedingungen eines naturalen Lebens angepasst. Er ist Sinnbild einer Zivilisation, die sich von der Natur entfremdet hat. Dies wird mit einem Blick auf die Motivation der beiden Figuren der Idylle deutlich, das Gebirge überhaupt aufzusuchen. Der Hirt Menalkas ist dort »um ein Schaf zu suchen«. Seine Motivation ist also seine Herde zusammen zu halten. Dies ist ein Ziel, für das er nicht vor »dem hohen Gebürge« und dem »wilden Hain« zurückschreckt. Anders dagegen Äschines, der aus der Stadt kam, um »die Rehe und die Schweine zu verfolgen«. Seine Absicht war es, die naturale Gegend aufzusuchen, um sich an ihr zu bereichern. In der grundlegenden Konstellation scheint Menalkas in einem ausgeglichenen Verhältnis mit der Natur zu leben, während Äschines der Jäger dies nicht vermag. Er steht für einen Menschen, der für die Natur als Natur keinen wahren Sinn mehr hat und daher folgerichtig auch keine Ausgeglichenheit mit der Natur aufweist. Dies zeigt sich darin, dass der Hirte vor »dem hohen Gebürge« Respekt hat und er es nur dann aufsucht, wenn es die Situation erfordert. Äschines hingegen scheint keinen Respekt vor diesem Gebirge zu haben, da er es ohne Not aufsucht, um zu jagen. Der weitere Verlauf der Idylle baut diese Dichotomie der beiden Figuren weiter aus:

136 137 138

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., 47f. Ebd., S. 47.

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Der junge Menalkas gab ihm izt Brod aus seiner Tasche, und frischen Käs, und nahm seine Flasche von der Seite, erfrische dich, so sprach er, hier ist frische Milch, und dann folge mir, daß ich dich aus dem Gebürge führe; und der Mann erfrischte sich und der Hirt führte ihn aus dem Gebürg.139 In der Natur ist der Hirte reich an Nahrung, da er sie ›direkt von der Natur empfängt‹, während Äschines nicht dazu in der Lage war, im naturalen Raum Essen zu finden. Seine Intention des Jagens scheiterte. Doch die Bezeichnung des Jägers für Äschines ist doppeldeutig, denn als Dank für seine Hilfe, möchte Äschines den Hirten reich belohnen und in die Stadt führen. Wie bei einigen Idyllen Gessners von 1756 folgt nach einem erzählenden Einstieg eine dialogische Form. In dieser Idylle besteht diese dialogische Form nicht aus einem für die Idylle traditionell üblichen Wettgesang von Hirten, sondern von Angeboten des Jägers Äschines, die Menalkas alle ablehnt. Dieser Dialog der beiden entwirft zwei Lebensarten, bei der das Hirtendasein eine suffiziente Lebensart schildert und das zivilisierte Dasein eine von der Natur entfremdete, verschwenderische und somit insuffiziente Lebensart ausmalt. Äschines, der Jäger, sprach izt: du schöner Hirt, du hast mein Leben gerettet, wie soll ich dich belohnen, komm mit mir in die Stadt, dort wohnt man nicht in ströhernen Hütten; Palläste von Marmor steigen dort hoch an die Wolken, und hohe Säulen stehen um sie her, du solt [sic!] bey mir wohnen, und aus Gold trinken, und die köstlichen Speisen aus silbernen Platten essen. Menalkas sprach: Was soll ich in der Stadt? Ich wohne sicher in meiner niedern Hütte, sie schützt mich vor Regen und rauhen Winden, und stehn nicht Säulen umher, so stehn doch fruchtbare Bäume und Reben umher, dann hol ich aus der nahen Quelle klares Wasser im irdenen Krug, auch hab ich süssen Most, und dann eß ich was mir die Bäume und meine Herde geben, und hab ich nicht Silber und Gold, so streu ich wohlriechende Blumen auf den Tisch.140 Menalkas konterkariert die von Äschines als angenehm und besonders angepriesenen Errungenschaften der Zivilisation. Die niedere Hütte bietet ihm einen genügenden Schutzraum vor zerstörerischen und unangenehmen Kräften der Natur. Die Marmorsäulen der Paläste sind für Menalkas nicht so angenehm wie »fruchtbare Bäume und Reben«. Die Besonderheit »aus Gold [zu] trinken« und von »silbernen Platten [zu] essen« ist für Menalkas nicht so entzückend, wie »aus der nahen Quelle klares Wasser im irdenen Krug« trinken zu können und »süssen Most«. Er isst was »die Bäume und meine Herde [ihm] geben«. Für ihn sind »wohlriechende Blumen« genug Schmuck. Die Naturnähe des Hirtendaseins erscheint als ein Wert, der durch materielles Gut nicht zu ersetzen ist. Diese Gegenüberstellung vom naturnahen Hirtendasein und dem entfremdeten Zivilisationsdasein wird ästhetisch akzentuiert: Äschines. Komm mit mir Hirt, dort hat man auch Bäume und Blumen, dort hat sie die Kunst in gerade Gänge gepflanzet, und in schön geordnete Beeten gesammlet; dort

139 Ebd. 140 Ebd., S. 47f.

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hat man auch Quellen, Männer und Nymphen von Marmor giessen sie in grosse Beken. Menalkas. Schöner ist der ungekünstelte schattichte Hain mit seinen gekrümmten Gängen, schöner sind die Wiesen mit tausendfältigen Blumen geschmükt; ich hab auch Blumen um die Hütte gepflanzet, Majoran und Lilien und Rosen; und o wie schön sind die Quellen wenn sie aus Klippen sprudeln, oder aus dem Gebüsche von Hügeln fallen, und dann durch blumichte Wiesen sich schlängeln! Nein, ich geh nicht in die Stadt.141 Äschines beschreibt eine Kultivierung der Natur. Diese ordnende Verfeinerung der Natur wird als Kunst verstanden. Für Menalkas ist die »ungekünstelte« Natur jedoch »[s]chöner« in ihrer natürlichen Unordnung und den »gekrümmten Gängen« des »schattichte[n] Hain[s]«. Diese natürliche Unordnung der Natur erlebt Menalkas als Schönheit, die ihn mehr begeistert als ein ordnender Eingriff in die Natur. Daher hat die Zivilisation mit ihrer Kunst dem Hirten nichts ästhetisch Ansprechenderes zu bieten als die Natur selbst. Ästhetisch gesehen gibt es für Menalkas keinen Grund, mit in die Stadt zu gehen. Dies artikuliert er mit dem Ausruf am Ende deutlich. Die Betrachtung der Natur als ästhetisch nicht zu überbietende Entzückungsinstanz wird in der nächsten Dialogsequenz weiter ausgebaut. Die enorme Begeisterung von Menalkas für die Schönheit der Natur wird in der Differenz der Beitragslänge der beiden Figuren ersichtlich: Äschines. Dort wirst du Mädchen sehen im seidenen Gewand, von der Sonne unbeschädigt, weiß wie Milch, mit Gold und köstlichen Perlen geschmükt, und die schönen Gesänge künstlicher Saitenspieler entzüken dein Ohr. Menalkas. Mein braunes Mädchen ist schön, du solltest sie sehen, wenn sie mit frischen Rosen und einem bunten Kranz sich schmükt; und o wie froh sind wir, wenn wir bey einer rauschenden Quelle im schattichten Busch sizen! sie singt dann, o wie schön singt sie! und ich begleite ihren Gesang mit der Flöte; unser Gesang tönt dann weit umher, und die Echo singet uns nach; oder wir behorchen den schönen Gesang der Vögel, die von den Wipfeln der Bäume und aus den Gebüschen singen. Oder singen eure Saitenspieler besser als die Nachtigal oder die liebliche Grasmüke? Nein, nein ich geh nicht mit dir in die Stadt.142 Die Geräusche der Natur wie der »Gesang der Vögel« und der Gesang der »Nachtigal oder d[er] liebliche[n] Grasmücke« wird von Menalkas dem »schönen Gesang künstlicher Saitenspieler« vorgezogen. Auch die Beschreibung der Stadtfrauen reizt ihn nicht, da er mit seinem »braune[n] Mädchen« zufrieden ist. In den Beiträgen werden immer wieder verschiede Wertvorstellungen miteinander kontrastiert. So führt Äschines immer wieder materielle Besonderheiten als besonderen Wert an. Er betont goldene Becher, silberne Tafeln und Mädchen »im seidenen Gewand« und »mit Gold und köstlichen Perlen geschmükt«. Menalkas dagegen betont gerade in Bezug auf sei »braune[s] Mädchen« innere Werte. Äschines sieht in dem präzivilisierten Hirtendasein eine ›mindere‹ Lebensart und versteht nicht, dass Menalkas zufrieden ist. Es ist diese Genügsamkeit mit dem, was

141 Ebd., S. 48. 142 Ebd.

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er hat, die sein Hirtendasein glücklich macht: »O wie froh sind wir […]«.143 Er hilft Äschines nicht um belohnt zu werden, sondern aufgrund seiner Tugend. Äschines hat nichts, was für den Hirten Menalkas von Wert ist. Äschines. Was soll ich dir denn geben, Hirt? Hier nimm die Hand voll Gold, und diß goldene Hüfthorn. Menalkas. Was soll mir das Gold? Ich habe Überfluß; soll ich mit dem Golde die Früchte von den Bäumen erkaufen, oder die Blumen von den Wiesen, oder soll ich von meiner Herde die Milch erkaufen?144 Gold ist eigentlich ein universales Wertäquivalent, doch selbst dies hat für Menalkas keinen Wert, da er nichts zu tauschen hat. Er braucht kein Wertäquivalent, weil seine Art zu leben so eingerichtet ist, dass er alles hat, was er braucht. Seine Lebensart schließt einen notwendigen Tausch von ›Wertsachen‹ zur Lebensgestaltung aus. Die empfindsame Idylle zeigt ein präzivilisiertes Hirtendasein, das gerade in der Negation von Wertzirkulationen eine genügsam glückliche Lebensart entwirft. Daraus folgt, dass es gerade der Ausschluss eines ökonomischen Diskussionszusammenhangs ist, der eine suffiziente Art zu leben ermöglicht.145 In der Vorstellung des goldenen Weltalters der Idyllen Gessners von 1756 war eine Wertzirkulation nicht notwendig und Wertäquivalente wie Gold als Vorläufer von Geld hatten keine Funktion und waren damit wertlos. Menalkas hat eine Lebensart, bei der er alles was er zum Leben benötigt, direkt von der Natur erhält. Er hat »Früchte von den Bäumen« und »Blumen von den Wiesen« und Milch von seiner Herde. Menalkas nimmt seine materiell karge Lebensart nicht als Beschränkung wahr. Die abschließende Dialogsequenz der Idylle untermauert dies: Äschines. Was soll ich dir denn geben, glüklicher Hirt, womit soll ich deine Gutthat belohnen? Menalk[as]. Gieb mir die Kürbis-Flasche, die an deiner Seite hängt, mir deucht, der junge Bacchus ist darauf gegraben, und die Liebes-Götter, wie sie Trauben in Körben sammeln. Und der Jäger gab ihm freundlich lächelnd die Flasche, und der junge Hirt hüpfte vor Freuden, wie ein junges Lamm hüpft.146 Es ist die einfache Kunst einer geschnitzten »Kürbis-Flasche« mit Bildern von Bacchus und den Liebesgöttern, die Menalkas anspricht und über die er sich im Gegensatz zu den anderen Angeboten des Äschines freut. Mit dieser Idylle wird eine konkrete Gegenüberstellung von zwei Daseinsformen des Menschen entworfen, die auf zwei verschie143 Ebd. 144 Ebd. 145 Es ist markant, dass die Abwesenheit von Ökonomie als suffiziente Lebensart in einer Zeit vorgestellt wird, in der sich der Mensch durch religiöse Richtungen zunehmend durch das Maß und die Intensität seiner Arbeitskraft definierte. Vgl. konkret bezogen auf Gessner und den Calvinismus: E. Theodor Voss: Nachwort. Zur 3. Auflage 1988. In: Salomon Gessner: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. von E. Theodor Voss. Stuttgart, Reclam, 1988, S. 323–364, besonders S. 350–358. Vgl. allgemein dazu auch die These Max Webers zum Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus: Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus – die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus. Schriften 1904–1920. Hg. von Wolfgang Schluchter. Tübingen 2016. 146 GKA, S. 49.

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dene Lebensarten hinweisen. Die Lebensart des Hirten Menalkas erscheint im harmonischen Einklang mit der Natur. Er weist eine gegen materielle Verführungen starke Widerstandsfähigkeit auf, die auf seinem empfundenen Glück basiert. Menalkas Lebensart kann als suffizient bezeichnet werden, da er sich bewusst auf das beschränkt, was er zum Erhalt seines glücklichen Lebens benötigt. Anders dagegen Äschines, der als von der Natur entfremdet vorgestellt wird. Sein Besuch in der ländlichen Gegend ist in seinem Vorhaben zu jagen begründet. Seine Dankesangebote, die Menalkas in die Stadt locken, zeigen auf, dass die dort geführte Lebensart nach materiellem Wohlstand strebt, die Ausdruck in den Gütern findet, deren Besonderheit in ihrem Wertäquivalentcharakter liegt. Diese Güter haben aber keine existenzielle Bedeutung für das Dasein des Menschen. Das Streben nach diesen Gütern artikuliert Entfremdung von der Natur, da es nicht um die Befriedigung grundsätzlicher Bedürfnisse geht, sondern den Weg zur Akkumulation von Wertäquivalenzen ebnet, die wiederum zu Ungleichheitsverhältnissen in sozialen Gefügen führt. Diese Lebensart ist insuffizient. Dadurch wird deutlich, dass bei Gessners Idyllen das natürliche Dasein der Hirten des goldenen Weltalters mit einer suffizienten Lebensart verbunden wird. In dieser Idylle gibt es eine Gleichzeitigkeit von Präzivilisation und Zivilisation. In der Vorrede An den Leser wurde hingegen eine geschichtliche Perspektive eröffnet.

2.2 Geschichte als Depravationsgeschehen Das Thema der Geschichte ist in der Vorrede mit dem Motiv des goldenen Weltalters und der Vorbildhaftigkeit des antiken Idyllendichters Theokrit das Zentrum. Für die Sprechinstanz der Vorrede ist klar, dass in der Antike das goldene Weltalter ebenfalls bereits vorüber war. Schneider hat darauf hingewiesen, dass die pastorale Gattung der Idylle im 18. Jahrhundert dazu genutzt wurde, die generelle und literarische Vorbildhaftigkeit der Antike zur Diskussion zu stellen.147 Hinsichtlich Gessners Idyllen fällt im Bezug zu der Vorbildhaftigkeit der Antike auf, dass der idyllentheoretische Entwurf der Vorrede sich von der mimesis antiker Vorbilder löst. Es werden einzelne Tendenzen und Themen der Idyllen Theokrits hervorgehoben. Die Antike wird auf diese Weise zu einem relativierten Vorbild. Der Zeitraum, in der die natürliche Daseinsform der Hirten des goldenen Weltalters wahrscheinlich ist, liegt weiter in der Vergangenheit zurück als die Antike. Allerdings ist die Antike historisch betrachtet näher am goldenen Weltalter als die Gegenwart der Sprechinstanz der Vorrede. Aus diesem Grund sind Theokrits Idyllen schriftliche Zeugnisse, die noch für Rudimente einer ursprünglichen Natürlichkeit des Menschen bürgen. Dies verzerrt jedoch nicht den Blick dafür, dass auch Theokrits Idyllen »schwere Kunst« seien, aber die Umstände seiner Zeit erleichterten ihm, die einstige Natürlichkeit des Menschen zu imaginieren und schriftlich zu fixieren.148 In der Vorrede werden Theokrits Idyllen wie folgt betrachtet:

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Vgl. Helmut J. Schneider: Einleitung. Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie. In: Ders.: Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen, Narr, 1988, S. 7–74, hier S. 13f. 148 Vgl. GKA, S. 17f.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

dene Lebensarten hinweisen. Die Lebensart des Hirten Menalkas erscheint im harmonischen Einklang mit der Natur. Er weist eine gegen materielle Verführungen starke Widerstandsfähigkeit auf, die auf seinem empfundenen Glück basiert. Menalkas Lebensart kann als suffizient bezeichnet werden, da er sich bewusst auf das beschränkt, was er zum Erhalt seines glücklichen Lebens benötigt. Anders dagegen Äschines, der als von der Natur entfremdet vorgestellt wird. Sein Besuch in der ländlichen Gegend ist in seinem Vorhaben zu jagen begründet. Seine Dankesangebote, die Menalkas in die Stadt locken, zeigen auf, dass die dort geführte Lebensart nach materiellem Wohlstand strebt, die Ausdruck in den Gütern findet, deren Besonderheit in ihrem Wertäquivalentcharakter liegt. Diese Güter haben aber keine existenzielle Bedeutung für das Dasein des Menschen. Das Streben nach diesen Gütern artikuliert Entfremdung von der Natur, da es nicht um die Befriedigung grundsätzlicher Bedürfnisse geht, sondern den Weg zur Akkumulation von Wertäquivalenzen ebnet, die wiederum zu Ungleichheitsverhältnissen in sozialen Gefügen führt. Diese Lebensart ist insuffizient. Dadurch wird deutlich, dass bei Gessners Idyllen das natürliche Dasein der Hirten des goldenen Weltalters mit einer suffizienten Lebensart verbunden wird. In dieser Idylle gibt es eine Gleichzeitigkeit von Präzivilisation und Zivilisation. In der Vorrede An den Leser wurde hingegen eine geschichtliche Perspektive eröffnet.

2.2 Geschichte als Depravationsgeschehen Das Thema der Geschichte ist in der Vorrede mit dem Motiv des goldenen Weltalters und der Vorbildhaftigkeit des antiken Idyllendichters Theokrit das Zentrum. Für die Sprechinstanz der Vorrede ist klar, dass in der Antike das goldene Weltalter ebenfalls bereits vorüber war. Schneider hat darauf hingewiesen, dass die pastorale Gattung der Idylle im 18. Jahrhundert dazu genutzt wurde, die generelle und literarische Vorbildhaftigkeit der Antike zur Diskussion zu stellen.147 Hinsichtlich Gessners Idyllen fällt im Bezug zu der Vorbildhaftigkeit der Antike auf, dass der idyllentheoretische Entwurf der Vorrede sich von der mimesis antiker Vorbilder löst. Es werden einzelne Tendenzen und Themen der Idyllen Theokrits hervorgehoben. Die Antike wird auf diese Weise zu einem relativierten Vorbild. Der Zeitraum, in der die natürliche Daseinsform der Hirten des goldenen Weltalters wahrscheinlich ist, liegt weiter in der Vergangenheit zurück als die Antike. Allerdings ist die Antike historisch betrachtet näher am goldenen Weltalter als die Gegenwart der Sprechinstanz der Vorrede. Aus diesem Grund sind Theokrits Idyllen schriftliche Zeugnisse, die noch für Rudimente einer ursprünglichen Natürlichkeit des Menschen bürgen. Dies verzerrt jedoch nicht den Blick dafür, dass auch Theokrits Idyllen »schwere Kunst« seien, aber die Umstände seiner Zeit erleichterten ihm, die einstige Natürlichkeit des Menschen zu imaginieren und schriftlich zu fixieren.148 In der Vorrede werden Theokrits Idyllen wie folgt betrachtet:

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Vgl. Helmut J. Schneider: Einleitung. Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie. In: Ders.: Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen, Narr, 1988, S. 7–74, hier S. 13f. 148 Vgl. GKA, S. 17f.

Das Empfindsam- Idyllische

Ich habe den Theokrit immer für das beste Muster in dieser Art Gedichte gehalten. Bey ihm findet man die Einfalt der Sitten und der Empfindungen am besten ausgedrückt, und das Ländliche und die schönste Einfalt der Natur; er ist mit dieser bis auf die kleinsten Umstände bekannt gewesen; wir sehen in seinen Idyllen mehr als Rosen und Lilien; Seine Gemählde kommen nicht aus einer Einbildungs-Kraft, die nur die bekanntesten und auch dem Unachtsamen in die Augen fallenden Gegenstände häuft; sie haben die angenehme Einfalt der Natur, nach der sie allemal gezeichnet zu seyn scheinen. […] Sie sind weit von dem Epigrammatischen Witz entfernt und von der schulgerechten Ordnung der Sätze, er hat die schwere Kunst gewußt, die angenehme Nachlässigkeit in ihre Gesänge zu bringen, welche die Poesie in ihrer ersten Kindheit muß gehabt haben; er wußte ihren Liedern die sanfte Mine der Unschuld zu geben, die sie haben müssen, wenn die einfältigen Empfindungen eines unverdorbenen Herzens eine Phantasie befeuern, die nur mit den angenehmsten Bildern aus der Natur angefüllt ist. Zwar ist gewiß, daß die noch weniger verdorbene Einfalt der Sitten zu seiner Zeit, und die Achtung die man damals noch für den Feldbau hatte, die Kunst ihm erleichtert hat. Der zugespitzte Witz war noch nicht Mode, sie hatten mehr Verstand und Empfindung für das wahre Schöne, als Witz.149 Diese Passage der Vorrede beschreibt, dass Theokrits Idyllen eine darstellerische Naturnähe zugewiesen bekommen, die darauf hinweise, dass seine Naturschilderungen nicht bloß seiner »Einbildungs-Kraft« entspringen würden, sondern er mit der »schönste[n] Einfalt der Natur« tatsächlich »bis auf die kleinsten Umstände bekannt gewesen« wäre. Seine Idyllen werden von der Sprechinstanz als poetisierte Fixierung eigener Erlebnisse verstanden und nicht als bloße dichterische Erfindungen der Imagination. Die Bedeutung des eigenen Erlebens für die Idyllendichtung wird aus dem Vorbild Theokrit abgeleitet.150 Bei der Idyllendichtung sei es Thema »die Poesie in ihrer ersten Kindheit« zu erfassen und daher müsse eine »angenehme Nachlässigkeit« in der poetischen Gestaltung erreicht werden. Die Besprechung des antiken Vorbilds Theokrits wird mit der Abwendung vom Witz kombiniert, denn er ist »weit von dem Epigrammatischen Witz entfernt« und »[d]er zugespitzte Witz war nicht Mode«. Der Witz erscheint als Gegenposition zu dem »wahre[n] Schöne[n]«. Diese Abwendung vom Witz konstituiert eine Idyllenpoetik der Empfindung, die sich von einer humanistischen sowie höfischen Gelehrtenkultur abgrenzt. Die literarische Idylle solle keine Hirten zeigen, die so denken, sprechen und singen »wie ein witziger Dichter«.151 Das »wahre Schöne« liegt außerhalb des Witzes und richtet sich daher auf die Natur und die Imagination eines Lebens, das ausschließlich dieser Natur verpflichtet ist. Dabei scheint es paradox zu sein, dass in der Vorrede diese Neuorientierung der Idyllentheorie gerade in Bezug zu einem antiken Text geschieht. Es wird an Theokrit gelobt, dass er sich vom »Epigrammatischen Witz entfernt und von der schulgerechten Ordnung der Sätze«. Es sei nicht das poetische Ordnen von Sprache, das die theokritische Idylle prägt. Für die Sprechinstanz der Vorrede steht die Evokation von Empfindungen im Vordergrund. So sei bei Theokrit die »Einfalt der Sitten und der Empfindungen am besten ausgedrückt«. Er schildere »die einfältigen Empfindungen eines

149 Ebd. S. 18. 150 Vgl. ausführlich dazu das Kapitel 2.3 dieser Untersuchung. 151 Vgl. Ebd.

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unverdorbenen Herzens«. Für die Sprechinstanz der Vorrede ist das Besondere an den Idyllen Theokrits die Mitempfindung einer fern vergangenen Natürlichkeit des inneren Erlebens. Dieses innere Leben ist »unverdorben[]« und steht im Kontrast zum entfremdeten Witz.152 In diesem Zusammenhang wird eine historisierende Perspektive eröffnet, denn zur Zeit Theokrits sei »[d]er zugespizte Witz […] noch nicht Mode« gewesen.153 Der Witz ist ein Phänomen, das mit zunehmender zeitlicher Entfernung vom goldenen Zeitalter stärker hervortritt und vom »wahre[n] Schöne[n]« ablenke. Renate Böschenstein-Schäfer und Klaus Garber haben darauf hingewiesen, dass Theokrits Idyllen als eine hochartifizielle Kunst angesehen werden müssen, die auf sprachlicher Ebene mit der Hexameterform nachgewiesen werden kann.154 Bei der Besprechung von Theokrit in der Vorrede der Idyllen Gessners wird das antike Vorbild in den Dienst eines idyllentheoretischen Entwurfs gestellt, für den der antike Text eigentlich keine Evidenz liefert. Vielmehr erfüllt die Besprechung der Idyllen Theokrits die Funktion, ein Geschichtsbild zu entwerfen. Die Geschichte des Menschen erscheint als ein Verfallsprozess der Empfindungsfähigkeit »für das wahre Schöne«. Das mentalitätshistorische Postulat, dass die Sitten zu den Zeiten Theokrits »noch weniger verdorben« waren, und dass die Menschen »Achtung […] für den Feldbau« hatten, ist keine Schmälerung der Leistung Theokrits. Das entworfene Geschichtsverständnis stellt hier einen ästhetischen Depravationsprozess dar. Es wird ein Verderben des Menschen angedeutet, das seit dem goldenen Weltalter über die Antike bis zur Gegenwart der Sprechsituation stattfindet. Frank Baudach sieht in der Thematisierung des goldenen Weltalters grundsätzlich den Verweis auf eine Geschichte des Verfalls: Auch hier handelt es sich um ein positives Bild des Naturzustandes, das als Gegenbild zur Erfahrungswelt ausgemalt wurde, und auch hier wird der Übergang vom idealen Einst zum defizienten Jetzt als Depravationsvorgang aufgefaßt und […] gegenwartskritisch ausgewertet.155

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155

Vgl. GKA, S. 17f. Vgl. Ebd., S. 18. Vgl. Klaus Garber: Verkehrte Welt in Arkadien? Paradoxe Diskurse im schäferlichen Gewande. In: Nina Birkner/York-Gothart Mix. (Hg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos. Berlin 2015, S. 49–77. Und: Vgl. Renate BöschensteinSchäfer: Idylle. Stuttgart 1977, S. 7–15. Frank Baudach: Planeten der Unschuld – Kinder der Natur. Die Naturstandsutopie in der deutschen und westeuropäischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1993, S. 52–55, hier S. 52f. Mähl verweist hinsichtlich Gessners Idyllen mit Bezug auf Rousseau auf eine »regressive Geschichtsbetrachtung«. Vgl. Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Vorrausetzungen. Tübingen 1994, S. 145–166, hier S. 165. Walter Veit konstatiert im Hinblick auf Gessners Vorrede An den Leser: »[…] so gewiß es ein Goldenes Zeitalter nach dem Zeugnis der Geschichte der Patriarchen gab, so wenig ist davon heute zu spüren, und eigentlich passen diese Scenen nicht in unsere Zeiten, denn da ist alles ins Negative verkehrt.« Vgl. Walter Veit: Studien zur Geschichte des Topos der Goldenen Zeit von der Antike bis zum 18. Jahrhundert. Köln 1961, S. 146–173, hier S. 152f.

Das Empfindsam- Idyllische

In der Vorrede Gessners An den Leser wird eine geschichtliche Entwicklung der Menschheit thematisiert, die vom goldenen Weltalter über die Antike mit Homer, Theokrit und Vergil bis zur Gegenwart des 18. Jahrhunderts reicht.156 Die Verkehrtheit dieser geschichtlichen Entwicklung der Menschheit liegt in der Entfremdung des Menschen von seiner ›natürlichen Daseinsform‹, die die artifizielle Daseinsform der Zivilisation sukzessiv substituiert. Der Mensch kann in der zivilisatorischen Daseinsform seine ihm gegebenen Möglichkeiten für eine möglichst ideale – das heißt suffiziente – Lebensart nicht mehr realisieren, weil er sich an die bestehenden Umstände anpassen muss. Diese Assimilation entfremdet den Menschen von seinen eigentlichen Möglichkeiten und von seiner ursprünglichen Natur. Die Vorrede An den Leser konzipiert ein Verlustgefühl, das eine vehemente Kritik am Menschen der religiös geprägten und feudalen Zivilisation ausdrückt. Die Idyllen erscheinen dagegen als gegenbildliche szenische Momentaufnahmen der eigentlich möglichen ›natürlichen Daseinsform‹, die aus der im Inneren der Sprechinstanz der Vorrede verborgenen »unverdorbenen Natur« als Kunst entworfen wurden.157 Beim kompensatorischen und einsamen Erleben der Natur imaginiert die Sprechinstanz Bilder eines unentfremdeten menschlichen Daseins. Für die Authentizität eines solchen Daseins während des goldenen Weltalters, »das gewiß einmal da gewesen ist«, bürgt Homer, denn »die Einfalt der Sitten, die uns Homer schildert, scheint auch in den kriegerischen Zeiten noch ein Überbleibsel desselben zu seyn.«158 Dieser Verweis auf Homer ist für das skizzierte Geschichtsmodell aufschlussreich, weil Homers heroische Geschichten erst dann auftreten, wenn das goldene Weltalter vorbei ist. Die Einfalt der Sitten scheint »noch ein Überbleibsel« zu sein, aber mit dem Aufkommen von Dichtung, die nicht mehr auf die Unmittelbarkeit einer Situation und damit auf den Moment des Singens und Erzählens beschränkt ist, muss das goldene Weltalter vorbei sein.159 Auf Homer folgt historisch Theokrit, der die »schwere Kunst gewußt« hat, die Daseinsbilder des goldenen Weltalters in authentischer Sprachgestaltung schriftlich zu fixieren.160 Zeitlich nach Theokrit wird Vergil als »Nachahmer« Theokrits beschrieben und steht den Sitten der Zivilisation schon näher als Theokrit.161 Dies verdeutlicht, dass neben dem goldenen Weltalter auch die Antike als gegenbildliche Projektionsfläche fungiert. Es liegt eine historische Dreiteilung von goldenem Weltalter, Antike und Gegenwart der Sprechsituation in dem Geschichtsmodell der Vorrede An den Leser vor. Die Antike wird inhärent noch einmal dreigeteilt. Homer als Frühester steht dem goldenen Weltalter zeitlich und somit auch in der Daseinsform noch am nächstem, während zur Zeit Theokrits schon keine konkreten »Überbleibsel« des goldenen Weltalters mehr vorhanden sind.162 Bemerkenswert ist, dass die Vorrede damit endet, dass »Virgil, der Nachahmer des Theokrit« auch schon »einige wenige Ausdrüke und Bilder im Theokrit« abgeändert, die »bey so sehr abgeänderten Sitten uns verächtlich geworden

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Vgl. GKA, S. 15–18. Vgl. Ebd., S. 15. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 17. Vgl. Ebd., S. 18. Vgl. Ebd.

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sind«.163 Die Sprechinstanz hat theokritische Formulierungen »auszuweichen«.164 Die Sprechinstanz bemerkt jedoch, dass diese Formulierungen bereits Vergil »selbst schon weggelassen« hat.165 Dieses Ende der Vorrede scheint in der Erforschung der Idyllen Gessners häufig überlesen worden zu sein, denn Theokrit wird zwar als »das beste Muster« für die Idylle ausführlich besprochen, doch mit den letzten Sätzen der Vorrede wird Vergil als literarisches Vorbild hervorgehoben, weil er den »so sehr abgeänderten Sitten« näher steht.166 Trotz der Ausführlichkeit in der Theokrit besprochen wird, ist festzustellen, dass die Sprechinstanz am Ende die Idyllen in eine Nähe zu Vergil rückt. Die Vorbildhaftigkeit Theokrits wird am Ende der Vorrede mit Blick auf Vergil für die sprachliche Gestaltung relativiert. Baudach betont, dass »die Antiken einen stufenweisen, allmählichen Verlauf des Übergangs von der glücklichen Urzeit zum Zustand der Gegenwart annehmen.«167 Die Nennung und Besprechung von antiken Dichtern entwirft ein Geschichtsbild, das diesen »allmählichen Verlauf des Übergangs« abbildet und in der Gegenwart der Sprechsituation endet. Die menschliche Entwicklung hin zur feudalen Zivilisation wird als Prozess des Fortschritts ›dekonstruiert‹. Durch dieses Geschichtsmodell erscheint der vermeintliche zivilisatorische Entwicklungsprozess als Verlust ursprünglicher Möglichkeiten und als Entfremdung in artifizielle Daseinsformen. Die Menschheitsgeschichte wird als ein Depravationsgeschehen der moralischen Grundbeschaffenheit des Menschen konstruiert. Die durch Homer, Theokrit, Vergil und der Sprechinstanz dargestellten Verfallsstufen der Menschheitsgeschichte können dem Urstandsmythos des goldenen Weltalters zugeordnet werden. Baudach zeigt auf, dass das goldene Weltalter als »wichtige Form von Urstandsvorstellung[…] in einer deutlichen strukturellen Analogie zur biblischen Paradieserzählung [steht].«168 Allerdings hebt er auch hervor, dass »gravierende Unterschiede zwischen beiden Urzeitmythen« bestehen.169 Nach Baudach gibt es zwei wesentliche Differenzen: Erstens »ist die Goldene Zeit im Gegensatz zum Paradiesleben Adams und Evas als gesellschaftlicher Zustand gedacht«.170 Zweitens: Die entscheidende anthropologische Veränderung vom unschuldigen zum entarteten Menschen vollzieht sich nach dem Konzept des Sündenfalls schlagartig, während die antiken Geschichtsmodelle einen stufenweisen, allmählichen Verlauf des Übergangs von der glücklichen Urzeit zum Zustand der Gegenwart annehmen.171

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Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Frank Baudach: Planeten der Unschuld – Kinder der Natur. Die Naturstandsutopie in der deutschen und westeuropäischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1993, S. 52–55, hier S. 54f. 168 Vgl. Ebd., S. 52. 169 Vgl. Ebd., S. 53. 170 Ebd., S. 53f. 171 Vgl. Ebd., S. 54f.

Das Empfindsam- Idyllische

Die Verwendung der Urzustandsvorstellung des goldenen Weltalters verweist mit dem stufenweise voranschreitenden Depravationsprozess auf eine Diesseitsbetonung, denn nicht eine jenseitige Instanz entscheidet über den Verlauf der Menschheitsgeschichte, sondern allein der Mensch ist für seine Geschichte verantwortlich. Dies zeigt sich darin, dass es in der mit dem goldenen Weltalter verbundenen Geschichtsvorstellung nach Baudach keinen Einschnitt gibt, sondern der Mensch nach und nach von sich aus einem Depravationsprozess unterliegt, während die biblische Geschichte mit »dem Konzept des Sündenfalls« einen plötzlichen Entartungsprozess des Menschen beschreibt, der nicht allein auf den Menschen zurückzuführen ist, sondern auf eine transzendente Instanz Bezug nimmt.172 Die Berufung auf das goldene Weltalter wird bei Gessner mit einem Entwurf eines Geschichtsmodells verbunden, das deutlich macht, warum JeanJacques Rousseau ein begeisterter Leser von Gessners Idyllen war. Wolfgang Adam stellt dar, dass Rousseau die Übersetzung der Idyllen Gessners Idylles et poèmes champêtres von Michael Huber las und das schon im Jahr 1761, also schon vor dem öffentlichen Erscheinen im Jahr 1762.173 Rousseau weise verschiedene »Lesephasen« dieses Textes auf und lege eine »nicht abebbende Begeisterung für Gessner an den Tag.174 Helmut J. Schneider stellt die These auf, dass Rousseau seine geschichtsphilosophischen Überlegungen bei Gessner dichterisch ausgeschmückt wiederfand: Die Geschichte kann, weil sie eine Fehlgeschichte ist, nur Korruption überliefern. Wie sollten Menschen, die in der Unmittelbarkeit von Glück lebten, auf den abwegigen Gedanken kommen, schriftliche Zeugnisse zu hinterlassen? Die Wahrheit kann nur im »Herzen« erfühlt werden, in unseren Klagen nämlich, »die in dem, was wir sind, alles sagen, was wir nicht mehr sind.«175 Die Vorrede An den Leser der Idyllen Gessners weist in ihrem Entwurf einer verkehrten Geschichte des Menschen eine Politisierung der Idylle auf, die für ihre Rezeption in Frankreich prägend war.176 Politisch ist die Vorrede, indem sie die Geschichte als verkehrt darstellt und durch die folgenden Idyllen in der Imagination zu ihrem Nullpunkt zurückführt. Die Idyllen stellen eine Rückbesinnung auf den Ursprung der Menschheitsgeschichte dar, die den Menschen in der Entfaltung seiner ursprünglichen Möglichkeiten zeigt. Dies zeigt sich in der Vorrede Gessners in dem entworfenen Geschichtsmodell. Schneider verweist darauf, dass die Dichotomie von goldenem Weltalter und defizitärer Gegenwart auch ein mediales Phänomen sei. Die Präzivilisation des goldenen Weltalters ist durch die Unmittelbarkeit einer performativen Situation geprägt, wie bei dem traditionellen Hirtenwettgesang. In der Vorrede der Idyllen werden »[d]iese

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Vgl. Ebd. Vgl. Wolfgang Adam: Gessner-Lektüren. In: Maurizio Pirro (Hg.): Salomon Gessner als europäisches Phänomen. Spielarten des Idyllischen. Heidelberg 2012, S. 9–38, hier S. 28f. Vgl. Ebd. Helmut J. Schneider: Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder. In: Ders. (Hg.): Idyllen der Deutschen. Frankfurt a.M. 1978, S. 353–423, hier S. 372. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte der Idyllen Gessners in Frankreich: Wiebke Röben de Alencar Xavier: Salomon Gessner im Umkreis der Encyclopédie. Deutsch-französischer Kulturtransfer und europäische Aufklärung. Genève 2006, S. 165–185.

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Idyllen« jedoch als geschriebene Texte reflektiert, die »die Früchte einiger meiner vergnügtesten Stunden« seien.177 Die geschriebene Idyllen verweisen als Ausdrucksformen des Inneren darauf, dass die Sprechinstanz als zivilisierter Mensch im Inneren noch eine »unverdorbene[] Natur« hat, die ein Relikt des goldenen Weltalters ist.178 Die Idylle des 18. Jahrhunderts entwarf keine Gegengesellschaft, auch keine regressive. Sie ging vom Individuum aus, von der »frohen Stille« eines privaten Innenraums […]. Der Ort ihrer Wahrheit ist das Innere, das »stille Gemüt«, das in der Natureinsamkeit Gesellschaft und Geschichte gerade löscht. Das goldene Zeitalter bedeutet den Horizont solcher Negation, den idealhistorischen Fixpunkt aufgehobener Geschichte. Wenn Geßner so nachdrücklich auf ihm besteht, so deshalb, weil das moralische Subjekt in seinen »seligsten Stunden« der Gesellschaftsvergessenheit kein beliebiges Träumen, sondern den verbindlichen Kontrapost zur höfisch-absolutistischen Zivilisation erblickt. Geschichte mußte, gegen ihre Verderbnis, im Innern neu gesetzt werden.179 Die Idylle ist Chiffre für Innerlichkeit und sie setzt die Geschichte des Menschen aus diesem Inneren heraus auf null. Das Innere des Menschen erscheint als ein Zugang zum goldenen Weltalter, der sich durch die Geschichte erhalten hat. Das Innere ist anthropologisches Rudiment der ›natürlichen Daseinsform‹ des Menschen. Die Geschichte »gegen ihre Verderbnis« neuzusetzen, kann daher nur durch die Besinnung auf das Innere gelingen. Ernst Theodor Voss versteht die Eröffnung einer solchen Dichotomie als einen genuin aufklärerischen Aspekt der Idyllen Gessners: Von hier aus wird deutlich, inwiefern die sogenannte ›Realität‹ (bei der es sich ja stets um eine so gewollte und so geschaffene, also auch anders mögliche handelt) sich nicht mehr auf ihr ewiges ›Das ist nun einmal so‹ hinausreden kann, wenn sie einmal dem ›von weither‹ ihr gegengehaltenen ›Gegen-Bild‹ ausgesetzt ist.180 Die Vorrede der Idyllen Gessners weist nach Voss ein Geschichtsverständnis auf, das die Realität als bewusst geschaffenes Resultat menschlicher Handlungen versteht. Vor diesem Hintergrund ist das Depravationsgeschehen der Geschichte allein durch den Menschen begründet. Es ist der Mensch selbst und die zunehmende Komplexität seiner Lebenswirklichkeit, die die Entfremdung und somit auch die Depravation vorantreibt. Innerhalb dieser Vorstellung von Geschichte bekommt die literarische Gattung der Idylle eine sehr wichtige Rolle zugeschrieben, denn sie ist eine intervenierende Rückbesinnung auf eine längst verlorene Natürlichkeit des Daseins. Die Idylle schildert als »DichtungsArt« Szenen eines goldenen Weltalters, aber sie »bekömmt […] einen besondern Vortheil, wenn man die Scenen in ein entferntes Weltalter sezt […].«181 Denn nur in der fernen

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Vgl. GKA, S. 15. Vgl. Ebd. Vgl. Helmut J. Schneider: Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder. In: Ders. (Hg.): Idyllen der Deutschen. Frankfurt a.M. 1978, S. 353–423, hier S. 371f. 180 Vgl. Ebd., S. 350. 181 Vgl. Ebd., S. 15f.

Das Empfindsam- Idyllische

Vergangenheit erhalten sie »einen höhern Grad der Wahrscheinlichkeit«, denn für die Sprechinstanz ist gewiss, dass »sie für unsre Zeiten nicht passen«.182 Auch die Idylle, die in der zivilisatorischen Gegenwart geschrieben wird, muss ihre Figuren ins goldene Weltalter setzen. Ein Brückenschlag zwischen der ›natürlichen Daseinsform‹ des Menschen und der Zivilisation wird auf den Bereich der Kunst – wie mit den Idyllen, die auf die Vorrede folgen – reduziert.

2.3 Subjektivierung Die einzig mögliche Verbindung für den zivilisierten Menschen zum goldenen Weltalter liegt im Inneren und in der Lektüre von Idyllen. Renate Böschenstein-Schäfer stellt heraus, dass Gessners Idyllen gattungspoetisch eine signifikante Umakzentuierung der Idylle darstellen und so »für den Charakter der Idylle ein neues Kriterium fand[en]: nicht mehr der poetologische Kanon des »Schäfermäßigen« ist es, an dem er sich orientiert, sondern das Empfinden«.183 Mit der Empfindung wird das Innerliche betont, denn die Empfindung ist nicht bloß ein »Auffassungsvorgang«, sondern selbst bereits »Inhalt«.184 Bei Gessners Idyllen von 1756 steht nicht das Schäfermäßige im Zentrum, sondern die Empfindung als ästhetisches Erleben und die in den Idyllen auftretenden Subjekte berichten über Empfindungen. Mit dieser Hinwendung zur Empfindung korrespondiert die Prosa-Form der Idyllen, die als Distanzierung von dem »poetologische[n] Kanon« des Schäfergedichts erscheint. Die Akzentuierung des Empfindens ist nach BöschensteinSchäfer das entscheidende Element, welches die deutschsprachige Bukolik von der Idyllik abgrenzt.185 Auch Gerhard Kaiser sieht bei den Idyllen Gessners eine Betonung des Innerlichen: […] wenn Geßners Hirten die Natur lieben, wird sie zum Instrument ihrer zärtlichen Seelen, zum Gefäß der Intimität, Gewissenhaftigkeit und Herzlichkeit ihrer sozialen Beziehungen; seine Idyllen geben Bilder, neben denen das bürgerliche Sozial-und Erwerbsleben der Zeit eng und einseitig, das aristokratische Hofleben kalt, amoralisch und formell wirkt.186 Kaiser betont auch, dass bei Gessners Idyllen das Erleben »der Schönheit der Natur zum eigenständigen Thema« wird.187 Die Vorrede An den Leser weist bereits diese Konzentration des Erlebens auf, denn die Idyllen sind »die Früchte« von Empfindungen, die die Sprechinstanz der Vorrede selbst erfahren hat. In der Vorrede wird die eigene Erfahrung der Sprechinstanz betont und Böschenstein-Schäfer weist darauf hin, dass »sich

182 Vgl. Ebd., S. 16. 183 Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart, Metzler, 1977, S. 73–79, hier S. 74. 184 Vgl. O. Neumann: Empfindung II. In. Joachim Ritter (Hg.) Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2: D-F. Darmstadt 1972, Sp.- 464–474, hier Sp. 466. 185 Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart, Metzler, 1977, S. 73–79, hier S. 74. 186 Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977, S. 11–107, hier S. 19. 187 Vgl. Ebd., S. 21.

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Das Empfindsam- Idyllische

Vergangenheit erhalten sie »einen höhern Grad der Wahrscheinlichkeit«, denn für die Sprechinstanz ist gewiss, dass »sie für unsre Zeiten nicht passen«.182 Auch die Idylle, die in der zivilisatorischen Gegenwart geschrieben wird, muss ihre Figuren ins goldene Weltalter setzen. Ein Brückenschlag zwischen der ›natürlichen Daseinsform‹ des Menschen und der Zivilisation wird auf den Bereich der Kunst – wie mit den Idyllen, die auf die Vorrede folgen – reduziert.

2.3 Subjektivierung Die einzig mögliche Verbindung für den zivilisierten Menschen zum goldenen Weltalter liegt im Inneren und in der Lektüre von Idyllen. Renate Böschenstein-Schäfer stellt heraus, dass Gessners Idyllen gattungspoetisch eine signifikante Umakzentuierung der Idylle darstellen und so »für den Charakter der Idylle ein neues Kriterium fand[en]: nicht mehr der poetologische Kanon des »Schäfermäßigen« ist es, an dem er sich orientiert, sondern das Empfinden«.183 Mit der Empfindung wird das Innerliche betont, denn die Empfindung ist nicht bloß ein »Auffassungsvorgang«, sondern selbst bereits »Inhalt«.184 Bei Gessners Idyllen von 1756 steht nicht das Schäfermäßige im Zentrum, sondern die Empfindung als ästhetisches Erleben und die in den Idyllen auftretenden Subjekte berichten über Empfindungen. Mit dieser Hinwendung zur Empfindung korrespondiert die Prosa-Form der Idyllen, die als Distanzierung von dem »poetologische[n] Kanon« des Schäfergedichts erscheint. Die Akzentuierung des Empfindens ist nach BöschensteinSchäfer das entscheidende Element, welches die deutschsprachige Bukolik von der Idyllik abgrenzt.185 Auch Gerhard Kaiser sieht bei den Idyllen Gessners eine Betonung des Innerlichen: […] wenn Geßners Hirten die Natur lieben, wird sie zum Instrument ihrer zärtlichen Seelen, zum Gefäß der Intimität, Gewissenhaftigkeit und Herzlichkeit ihrer sozialen Beziehungen; seine Idyllen geben Bilder, neben denen das bürgerliche Sozial-und Erwerbsleben der Zeit eng und einseitig, das aristokratische Hofleben kalt, amoralisch und formell wirkt.186 Kaiser betont auch, dass bei Gessners Idyllen das Erleben »der Schönheit der Natur zum eigenständigen Thema« wird.187 Die Vorrede An den Leser weist bereits diese Konzentration des Erlebens auf, denn die Idyllen sind »die Früchte« von Empfindungen, die die Sprechinstanz der Vorrede selbst erfahren hat. In der Vorrede wird die eigene Erfahrung der Sprechinstanz betont und Böschenstein-Schäfer weist darauf hin, dass »sich

182 Vgl. Ebd., S. 16. 183 Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart, Metzler, 1977, S. 73–79, hier S. 74. 184 Vgl. O. Neumann: Empfindung II. In. Joachim Ritter (Hg.) Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2: D-F. Darmstadt 1972, Sp.- 464–474, hier Sp. 466. 185 Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart, Metzler, 1977, S. 73–79, hier S. 74. 186 Gerhard Kaiser: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977, S. 11–107, hier S. 19. 187 Vgl. Ebd., S. 21.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

in der Vorrede« bereits andeutet, dass bei Gessners Idyllen von 1756 eine »Verlagerung des Wahrheitskriteriums in Subjektive« zu beobachten sei.188 In der Vorrede der Idyllen wird das eigene Erleben der Sprechinstanz betont: Oft reiß ich mich aus der Stadt los, und fliehe in einsame Gegenden, dann entreißt die Schönheit der Natur mein Gemüth allem dem Ekel und allen den wiedrigen Eindrüken, die mich aus der Stadt verfolgt haben; ganz entzükt, ganz Empfindung über ihre Schönheit, bin ich dann glüklich wie ein Hirt im goldnen Weltalter und reicher als ein König.189 Die naturale Umgebung der »einsame[n] Gegenden« wird zu einem locus amoenus im Kontrast zum Ort der Stadt als locus terribilis. Die Empfindung wird hier mit einer »Lust-Unlust-Komponente« verbunden.190 Alle Empfindungen, die im Zusammenhang der Stadt stehen, repräsentieren Unlust, während die Empfindungen der »einsame[n] Gegenden« mit Lust assoziiert sind. Die Empfindung wird als ästhetisches Phänomen eingeführt, denn die Sprechinstanz der Vorrede ist »ganz entzükt und ganz Empfindung über ihre Schönheit«. Am Anfang der Vorrede steht das ästhetische Erleben der Natur durch die Empfindung als inspirierender Initialpunkt der Idyllendichtung. Diese Empfindungen werden durch die Differenz zum Erlebten in der Stadt zu spezifischen Ereignissen. Die Natureindrücke sind Empfindungen, die eine besondere Wirkung auf das Innere haben. Die Sprechinstanz fixiert diesen inneren Daseinszustand mit der »Einbildungs-Kraft«, da es »eine der angenehmsten Verfassungen« ist, die die Idyllen dichterisch schildern. Die Sprechinstanz berichtet über ein Empfindungserlebnis, das es selbst erfahren hat. Dieses subjektive Erleben erscheint als Ausgangspunkt der empfindsamen Idyllenpoetik. Das erlebende und erzählende Subjekt eines ästhetisch empfundenen Naturerlebnisses fallen zusammen. Es ist homogen. In der Terminologie der Erzähltheorie Gérard Genettes handelt es sich bei der Einstiegspassage der Vorrede mit dem Titel An den Leser um eine autodiegetische Erzählung mit interner Fokalisierung. In dieser Erzählkonstellation kann die Sprechinstanz über das besondere, selbst erfahrene Empfindungserlebnis authentisch berichten. Diese Gleichsetzung von erlebendem und erzählendem Subjekt erzeugt eine Unmittelbarkeit zum Empfindungserlebnis der Natureindrücke. Dies subjektiv Erlebte wird mit der empfindsamen Idylle dichterisch ausgeschmückt und mitgeteilt, wobei das Erlebnis vor allem ein spezifischer innerer Daseinszustands ist. Die ersten Sätze der Vorrede lauten: Diese Idyllen sind die Früchte einiger meiner vergnügtesten Stunden; denn es ist eine der angenehmsten Verfassungen, in die uns die Einbildungs-Kraft und ein stilles Gemüth setzen können, wenn wir uns mittelst derselben aus unsern Sitten weg, in ein goldnes Weltalter setzen. Alle Gemählde von stiller Ruhe und sanftem ungestöhrtem Glük, müssen Leuten von edler Denkart gefallen; und um so viel mehr gefallen uns 188 Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart, Metzler, 1977, S. 73–79, hier S. 74. 189 GKA, S. 15. 190 Vgl. für Empfindung als ästhetisches Phänomen im 18. Jahrhundert: O. Neumann: Empfindung II. In. Joachim Ritter (Hg.) Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2: D-F. Darmstadt 1972, Sp.- 464–474, hier Sp. 466.

Das Empfindsam- Idyllische

Scenen die der Dichter aus der unverdorbenen Natur herholt, weil sie oft mit unsern seligsten Stunden, die wir gelebt, Ähnlichkeit zu haben scheinen.191 Die Bewegung »aus der Stadt« und das Eintreten »in einsame Gegenden« zeichnet den mentalen Perspektivwechsel »aus unsern Sitten weg, in ein goldnes Weltalter« räumlich nach. Die Isolation wird als die »vergnügtesten Stunden« des Lebens empfunden. Hans-Joachim Mähl hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Aufsuchen von einsamen Gegenden durch die Verben ›reißen‹ und ›fliehen‹ als ein Kraftakt der Befreiung erscheint.192 Die Einsamkeit der aufgesuchten Gegenden ist für die Sprechinstanz ein Wert, der in der Sozialität der Stadt ein Gegenbild findet. Die städtische Sozialisation führt dem »Gemüth« der Sprechinstanz »Ekel« und »wiedrige[] Eindrüke[]« zu. Diese unangenehmen Empfindungen »verfolgen« die Sprechinstanz sogar »aus der Stadt«. In der naturalen Umgebung der Stadt erfährt die Sprechinstanz Vereinzelung, die als angenehm erlebt wird und zu einer Veränderung des Empfindens führt. Dies korrespondiert mit der Betonung der Empfindung als ästhetisches Erleben. Mit der Empfindung wird das erlebende Subjekt in den Vordergrund gestellt. Dabei steht das einzelne Subjekt der Sprechinstanz mit einem besonderen Empfindungserlebnis im Vordergrund. Die Gleichsetzung von erlebendem und erzählendem Subjekt artikuliert Vereinzelung, da der Empfindungsbereich eines einzelnen Subjekts allein im Fokus steht. Die autodiegetische Erzählsituation bestärkt dies. Die Sprechinstanz stellt sich selbst ins Zentrum und konzentriert sich auf sich selbst. Diese Konzentration wird vor allem auf das Innere gerichtet. Die idyllentheoretischen Überlegungen erscheinen dadurch zunächst als Introspektion. Die Homogenisierung von erlebendem und erzählendem Ich subjektiviert das Erzählte, da das Erlebnis aus dem Erfahrungshorizont eines Subjekts stammt. Dabei ist besonders, dass das mitzuteilende Empfindungserlebnis ein Geschehen im Inneren ist und so authentisch auch ausschließlich von einem Ich dargestellt werden kann, das dieses Erlebnis erfahren hat. Die Erzählsituation in der Vorrede mit der fixiert internen Perspektivierung erscheint zugleich als eine Authentifikationsstrategie des Empfindungserlebnisses. Mit der konstruierten Unmittelbarkeit des Erzählens zum Erlebnis wirkt das Empfindungserlebnis nicht als Erzählung, sondern als ein Geschehensbericht. Das mitgeteilte Erlebnis wird als tatsächlich erfahren konstruiert und der Bericht steht unter dem Vorzeichen, das spezifische Empfindungserlebnis medial vermittelt durch die Schrift nachempfinden zu können. Diese Nachempfindung lässt sich als Unmittelbarkeitsphantasma des Empfindungserlebnisses verstehen und ruft die Unmittelbarkeitsaporie

191 192

GKA, S. 15. Mähl stellt die These vor, dass in Gessners Vorrede der Idyllen bezüglich des Aufsuchens einsamer Gegenden und der vehementen Abwertung der Stadt als gesellschaftlichen Ort »die Ablösung der Hirten-Idylle von der schäferlichen Gesellschaftsdichtung und die Rückwendung auf ein vergangenes arkadisches Lebensideal zum Ausdruck [kommt], das nicht mehr auf die Gegenwart übertragen, sondern nur durch »Losreißung« und »Flucht« ergriffen und vorgestellt werden kann.« HansJoachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Tübingen 1994, S. 145–166, hier S. 147.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

der Schrift auf. Der Blick in die Natur wird in der Vorrede medial in der Schrift eingefangen. Die Erzählsituation und die Erzählweise der Sprechinstanz erzeugen ein empfindungsevozierendes Unmittelbarkeitsphantasma. Dieses Phantasma fängt das ursprünglich erfahrene Empfindungserlebnis ein und ermöglicht mit den Idyllen eine Mitempfindung. Bei der einsamen Naturerfahrung findet die Sprechinstanz Zugang zu einer »unverdorbenen Natur«, die in jedem Menschen verborgen ist.193 Dieses Verborgene im Menschen durch »Scenen« auszumalen und eine harmonische Zustandsform des Inneren zu skizzieren ist programmatisch für die empfindsame Idylle.194 Der Blick in die Natur und das Lesen der folgenden Idyllen werden beide zu Tätigkeiten, die jeder Mensch einzeln und für sich selbst durchführt und einen Zugang zu einer »unverdorben Natur« im Inneren ermöglicht.195 Die Szenen, »die der Dichter aus der unverdorbenen Natur herholt«, werden als »Gemählde von stiller Ruhe und sanftem ungestöhrtem Glük« beschrieben.196 Diese Gemälde »müssen Leuten von edler Denkart gefallen«, womit eine anthropologisch begründete Exklusivität erzeugt wird.197 Die Gemälde müssen Leuten mit »edler Denkart gefallen«, weil darin die »unverdorbene Natur« des Menschen hervortritt, die sonst durch unsere »Sitten« verborgen und verstellt ist.198 Das Gefallen an diesen Gemälden zeigt, welche Menschen trotz »unser[er] Sitten« noch Zugang zu einer ganz »unverdorbenen Natur« haben.199 Die Sprechinstanz exklusiviert sich selbst als »Dichter«, denn sie ist in der Lage dazu, »Scenen […] aus der unverdorbenen Natur« herzuholen«.200 Diese Exklusivität wird mit dem selbsterfahrenden Empfindungserlebnis begründet, in einem mentalen und räumlichen Interventionsgeschehen »die Schönheit der Natur« erlebt zu haben und »ganz entzükt, ganz Empfindung über ihre Schönheit zu sein«.201 Dieses Erlebnis setzt eine Empfindungsfähigkeit voraus, für diese Eindrücke der Umgebung überhaupt offen zu sein und sich davon innerlich in dieser Intensität begeistern zu lassen.202 Dieses Empfindungserlebnis bürgt für eine Eigentümlichkeit als Mensch. Das empfindsame Ich der Sprechinstanz versteht sich als Mensch einzigartig. Dies zeigt sich darin, dass dieses Empfindungserlebnis gesellschaftliche Umstände ins Abseits rückt, denn das empfundene Glück abstrahiert von jeglicher feudal ständischen Position und materiellem Besitz. »[I]n einsame[n] Gegenden« ist die Sprechinstanz »glüklich wie ein Hirt im goldnen Weltalter und reicher als ein König«.203 Diese Fokussierung auf der Empfindung als Erlebnis findet sich in den Idyllen wieder. Die Empfindung wird zum Erlebnis und die präzivilisierten Figuren reden und singen über ihre Empfindungen. Die Gleichsetzung

193 194 195 196 197 198 199 200 201 202

Vgl. GKA, S. 15. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Erich Kleinschmidt: Die Geschichte der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert. Göttingen 2004. 203 Vgl. GKA, S. 15.

Das Empfindsam- Idyllische

von erlebendem und erzählendem Ich ist ein wesentliches narratives Merkmal der empfindsamen Idylle. Dies wird vor allem in den Idyllen deutlich, die einen narrativen Modus aufweisen. Dies ist bei der Idylle Lycas und Milon der Fall. Diese Idylle beginnt mit der Unterscheidung der beiden Hirten Lycas und Milon als zwei distinkten Subjekten. Der junge Sänger Milon; denn auf seinem zarten Kinn stunden die Haare noch selten, so wie das zarte Gras im jungen Frühling aus spätgefallenem Schnee nur selten vorkeimt; und Lycas mit dem schöngelokten Haar, gelb wie die reife Saat, kamen zusamen mit der blökenden Herde, hinter dem Buchwald.204 Die Idylle beginnt mit einem Erzählbericht einer heterodiegetischen Erzählinstanz, die keine inneren Einblicke in die beiden Figuren hat. Aufgrund dieser externen Fokalisierung beschränkt sich die Beschreibung der Figuren auf das Aussehen der beiden Hirten. Dieses körperliche Aussehen wird mit Naturbeschreibungen parallelisiert. Milon ist ein junger Hirte und sein spärlicher Bart ist wie das erste grüne Gras des Frühlings, das durch die Schneedecke bricht. Die Figur Milon wird mit der Jahreszeit des Frühlings verbunden. Lycas dagegen wird mit der Farbe »gelb« beschrieben, die zugleich mit der »reife[n] Saat« in Verbindung gebracht wird. Er ruft durch diese Beschreibung die Assoziation der Jahreszeit des Herbstes hervor. Lycas wird daher älter als Milon sein. Dass es sich bei den beiden um abzugrenzende Subjekte handelt, wird am Beginn der Idylle durch einen Aushandlungsprozess vorgeführt, welcher Ort den beiden Hirten als locus amoenus dienen kann. Sey mir gegrüßt Lycas, sprach der Sänger Milon und bot ihm die Hand, sey mir gegrüßt, laß in den Buchwald uns gehn, indeß irrt unsere Herde im fetten Gras am Teich, mein wacher Hund wirds nicht zugeben daß sie sich zerstreue. Lycas. Nein Milon, wir wollen hier unter dem gewölbten stozigten Felsen uns sezen, es liegen da heruntergerissene Stüke mit sanftem Moos bedekt. Dort ists lieblich und kühl, sieh wie der klare Bach staubend ins wankende Gesträuche sich stürzt, er rieselt unter ihrem Gewebe hervor, und eilt in den Teich. Hier ists lieblich und kühl, laß auf die bemoosten Steine uns sezen, dann steht der Schatten des Buchwalds dunkel gegen uns über.205 Nach einem kleinen erzählenden Einstieg wechselt diese Idylle in einen dramatischen Modus, indem das Gespräch der beiden Hirten Milon und Lycas ohne Vermittlung durch eine Erzählinstanz dargestellt wird. Die subjektive Differenz der beiden wird in den verschiedenen Orten, die als locus amoenus vorgeschlagen werden, ausgebaut. Diese Aushandlung des locus amoenus betont das Räumlich-Zuständliche. Milon möchte in den »Buchwald« gehen, doch Lycas lehnt dies ab. Wenn die beiden Hirten in den Buchwald gehen würden, müsste der Hund Milons allein auf die Herde aufpassen. Das Gehen in den Buchwald wird als Missachtung schäferlicher Pflichten impliziert und der Ort im »Buchwald« steht mit den großen schattengebenden Bäumen für einen Kontrollverlust, der die Übersicht über die eigene Herde verwehrt. Aus diesem Grund »steht der Schatten des Buchwalds dunkel gegen uns über«, wenn die beiden Hirten den von Lycas 204 Vgl. Ebd., S. 27. 205 Vgl Ebd.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

beschriebenen locus amoenus aufsuchen. Im Kontrast zum Buchwald können die Hirten an diesem Ort sich niedersetzen und gleichzeitig ihren Pflichten als Hirten nachgehen. Besonders an diesem Platz ist, dass er durch naturale Elemente eingekreist ist. So ist der locus amoenus »unter dem gewölbten stozigten Felsen«. Ein »klare[r] Bach«, der in einen »Teich« fließt, und die umherliegenden Felsen rahmen diesen Ort ein. Lycas, der ältere Hirt, schlägt diesen Ort vor, sodass die Auswahl eines angenehmen und schönen Ortes als Erfahrungsschatz des älteren Hirten Lycas erscheint. An diesem Ort haben die Hirten die Möglichkeit bei der Behütung ihrer Herden sich der musischen Tätigkeit des Wettgesangs zu widmen. Der Wettgesang der Hirten ist keine kompetitive Aktion, sondern vielmehr eine gemeinsame spielerische und einander verbindende Aktion der Hirten. Während die räumliche Gestaltung des locus amoenus abgeschlossen ist, wird mit dem gemeinsamen Gesang ein Daseinszustand der Hirten entworfen, der angenehm für beide ist und so beweist sich der von Lycas vorgeschlagene Platz im Verlauf der Idylle tatsächlich als schöner und angenehmer Ort. Die unterschiedlichen Beiträge des Wettgesangs führen ihre subjektive Verschiedenheit weiter aus. So ist Milon inspiriert zu singen, weil er die »Gunst der Musen« habe, während Lycas zu seiner Flöte und seinem Gesangstalent durch eine Traum gelang, in dem ihm Pan erschien.206 Milon wird von der »Liebe […] zu Gesängen begeistert« und lebt eine erfüllte Liebe mit Daphne.207 Lycas dagegen sang lange Zeit nur von der Natur und seinem Schäferdasein, doch seit er »die unempfindliche Chloe« liebt, singt er nur noch »Trauerlieder«.208 Im dritten und letzten Gesangsbeitrag von Milon singt er von einem besonderen Erlebnis mit seiner Geliebten Daphne in einem »schwarze[n] Tannenwald«.209 Dort wo der schwarze Tannenwald steht, dort rieselt ein Bach aus Stauden hervor, dorthin treibt Daphne oft ihre Herde. Jüngst hab ich, als das Morgenroth kam, den ganzen Ort mit Kränzen geschmükt, flatternd hiengen sie von einer Staude zur andern, und wanden sich um ihre Stämme, da war es wie ein Heiligthum des Frühlings oder der freundlichen Venus. Ich will izt noch unsere Namen in diese Fichte schneiden, sprach ich, und dann will ich mich in jenem Busch verbergen, und ihr Lächeln sehn, und ihre Worte behorchen. So sprach ich und schnitt in die Rinde, als plözlich ein Kranz um meine Schläfe sich wand, schnell sanft erschroken sah ich zurük und Daphne stund lächelnd da, ich habe dich behorcht, sprach sie, und drükte den zärtlichsten Kuß auf meine Lippen.210 Der Ort des »schwarze[n] Tannenwald[s]« wird als naturaler Raum Zeichen der Vereinigung und erfüllten Liebe von Milon und Daphne. Der unübersichtliche und dunkle Ort des Tannenwalds wird zum locus amoenus der beiden Liebenden. Es ist die Liebe der beiden, die selbst diesen dunklen Ort erhellt. Die mit dem Adjektiv schwarz benannte Dunkelheit des Tannenwaldes erscheint hier auch als ein Ort, der die Möglichkeit bietet, nicht

206 207 208 209 210

Vgl. Ebd. S. 28. Vgl. Ebd., S. 28f. Vgl. Ebd., S. 29. Vgl. Ebd. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische

gesehen zu werden. An diesem Platz bekommen die beiden Liebenden Milon und Daphne Gewissheit über die Gefühle des anderen. Milon schmückt den Ort im Tannenwald an der Stelle ein, an der »ein Bach aus den Stauden hervor[rieselt]«, denn er weiß, dass »Daphne oft ihre Herde [dorthin treibt]«. Als Zeichen seiner Gefühle schmückt er diesen Ort mit »Kränzen«, die »flatternd […] von einer Staude zur andern« hängen. Zur Versicherung möchte er »noch unsere Namen in diese Fichte schneiden«, doch die Geliebte Daphne hat ihren Milon belauscht und sie legt ihm als Versicherung ihrer Liebe einen Kranz auf seinen Kopf. Der »schwarze Tannenwald« wird zu einem Ort, an dem die beiden Hirten sich ihre Liebe gegenseitig beweisen. Dies führt am Ende zu einer körperlichen Vereinigung der beiden, die aber unschuldig nur mit dem »zärtlichsten Kuß« beschrieben wird. Der Wald ist für Milon aufgrund dessen ein schön und angenehm konnotierter Ort. Die Anfangsszene, in der er den Buchwald als schönen und angenehmen Ort des Beisammenseins der Hirten vorschlägt, wird aus diesem Erfahrungshorizont Milons nachvollziehbar. Milon überträgt seine subjektiven Erfahrungen des »schwarze[n] Tannenwald[s]« auf den »Buchwald« und nimmt subjektiv den Wald als locus amoenus wahr.211 Dies zeigt die Subjektivierung der Raumwahrnehmung auf. Aus diesem Grund sind Aushandlungsprozesse wie am Beginn dieser Idylle überhaupt notwendig. Der »schwarze Tannenwald« erscheint durch den Hirten Milon als »Symbol der Verborgenheit […], des Ursprünglichen […] sowie der Poesie«.212 Das Verborgene in diesem Wald ist die Geliebte Daphne, die Milon bei seinem selbstgesprächartigen Monolog und beim Schmücken der Bäume »behorcht«. Milon und Daphne überraschen sich gegenseitig und vergewissern sich auf diese Art und Weise unbeabsichtigt ihrer Liebe.213 Außerdem steht der »schwarze Tannenwald« für die Poesie, denn die dort gemachte Erfahrung wird in der Situation des Wettgesangs mit Lycas in Form des Hirtengesangs poetisch verarbeitet.214 Dies korrespondiert mit seinem zweiten Beitrag des Wettgesangs, indem er die Liebe als Inspirationsquelle des Gesangs hervorhebt.215 Milon stellt fest, dass er »bessere Lieder« singt, »[s]eit Daphne ihren Freund mich nennt«.216 Die Subjektivierung der Raumdarstellung artikuliert sich deutlich in einem konträren Verhältnis der Gesänge von Milon und Lycas. Milons Gesang erzählt eine Begebenheit aus der Vergangenheit, die Szene, in der er von Daphne im »schwarze[n] Tannenwald« belauscht wurde, ist bereits vergangen.217 So muss auch die szenische Naturbeschreibung aus der Erinnerung heraus entstehen. Der Gesang des Lycas ist durch ein anderes Zeitverhältnis bestimmt, in dem er ein gegenwärtiges Bild seiner »Hütte« und ihrer Umgebung entwirft.218

211 212

Vgl. Ebd., S. 27 und 29. Vgl. Ebd., S. 29. Vgl. für die symbolische Bedeutung des Waldes im Allgemeinen: Robert Suter: Wald. In: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart 2008, S. 410f. 213 Vgl. GKA, S. 29. 214 Vgl. Ebd. 215 Vgl. Ebd., S. 28f. 216 Vgl. Ebd., S. 28f. 217 Vgl. Ebd., S. 29. 218 Vgl. Ebd., S. 29f.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Dort an dem Hügel steht meine beschattete Hütte, dort an der blumichten Quelle stehn meine Bienen-Körbe in zween Reihen; wirthschaftlich wohnen sie da im kühlen Schatten der Ölbäume. Noch kein junger Flug hat sich zuweit von meinem Anger entfernt, sie sumsen frölich umher im blumichten Anger, und sammeln mir Honig und Wachs um Überfluß; Sieh wie meine Kühe mit vollem Euter gehn, und wie die jungen Kälber muthwillig sie umhüpfen, und wie meine Ziegen und meine Schafe so zahlreich die Stauden entblättern und das Gras mähen. Diß Chloe! diß gaben mir die Götter, und sie lieben mich weil ich tugendhaft bin; wilt [sic!] du, o Chloe! Wilt [sic!] du mich nicht auch lieben wie die Götter, weil ich tugendhaft bin?219 Während bei Milon das vergangene Ereignis im Vordergrund steht, rückt Lycas in seinem Gesang den gegenwärtigen Zustand seiner Hütte und Umgebung in den Fokus. Diese Beschreibung eines jetzigen Zustands soll Chloe überzeugen, ihn zu lieben. Die gute Versorgung mit Nahrung beschreibt Lycas als Gabe der Götter. Er behauptet, »sie lieben mich[,] weil ich tugendhaft bin«. Daran anschließend fragt er Chloe, ob sie ihn nicht auch lieben möchte, weil er tugendhaft ist. Die beiden Hirten erscheinen durch diesen Kontrast von erfüllter Liebe (Milon und Daphne) und unerfüllter Liebe (Lycas und Chloe) als zu differenzierende Subjekte, da sie einen unterschiedlichen Erfahrungshorizont aufweisen. Diese Idylle schildert damit wie es in der Vorrede heißt, »Züge aus dem Leben glüklicher Leute, wie sie sich bey der natürlichsten Einfalt der Sitten, der Lebens-Art und ihrer Neigungen, bey allen Begegnissen, in Glük und Unglük betragen«.220 Bei Milon wird sein Liebesglück in der Kunst des Hirtengesangs verarbeitet, während Lycas seine »Wehmuth« über seine unerwiderte Liebe zu Chloe in der Kunst des Hirtengesangs thematisiert. Die beiden Hirtengesänge schildern so Glück und Unglück des Hirtendaseins und verschiedene Erfahrungen mit der Liebe. Bei Milon ist seine Liebe zu Daphne Quelle seines Glücks, das sein ganzes Dasein erfüllt. Lycas hingegen leidet unter der Liebe, die er einmal mit recht gutem Erfolg verdrängt hatte, doch dann sah er sie »beym blühenden Schlehenbusch« und wie die weißen Blüten von frühlingshaftem Wind über sie her gestreut wurden. Die Jahreszeit des Frühlings wird hier mit der wieder revitalisierten Liebe des Lycas zu Chloe parallelisiert. Es ist die Liebe, die das Schicksal über Glück und Unglück der Hirten zu bestimmen scheint. Die Differenz dieser verschiedenen Schicksale von Milon und Lycas in der Liebe differenziert ihre Kunst des Hirtengesangs nicht in ihrem ›Kunstgehalt‹. Dies wird durch den als Richter des Wettgesangs bestimmten Hirten Menalkas verdeutlicht. Menalkas ist befähigt, den Wettgesang zu bewerten, weil er alt ist und damit einen umfangreichen Erfahrungshorizont aufweist.221 Er ist in der Lage dazu, »die Quelle in die Wiese am Buchwald« zu leiten. Sein Urteil über die Hirtengesänge lautet wie folgt: Wem soll ich den Preis zutheilen, ihr schönen Sänger? Eure Lieder sind süß wie Honig, lieblich fliessen sie wie dieser Bach, so ermuntert der Kuß von rosenfarbigten Lippen.

219 Ebd. 220 Vgl. Ebd., S. 15. 221 Vgl. Ebd., S. 30.

Das Empfindsam- Idyllische

Nimm du Lycas das schwarzgeflekte Rind, und gieb dem Milon die Ziege mit ihrem Jungen.222 Das Ende der Idylle zeigt die spezifische Funktion des Hirtengesangs. Er ist mehr als nur musischer Zeitvertreib. Der Ausspruch von Menalkas stellt heraus, dass Lycas durch den Gesang des Milon das Glück einer gegenseitigen und erfüllten Liebe miterleben kann. Deshalb ermuntert dessen Gesang »so [wie] der Kuß von rosenfarbigten Lippen«. Durch den Gesang des Lycas kann Milon das Unglück einer unerfüllten Liebe innerlich nachvollziehen. Trotz dieses Leids ist der Gesang des Lycas fließend »wie dieser Bach«. Menalkas weist beiden Gesängen die Attribute ermunternd und fließend zu und egalisiert die Schicksale der Hirten. Dies zeigt sich darin, dass der Gesang des Lycas neben der unglücklichen Liebe über den von der Natur gegebenen Wohlstand eines gelingenden Hirtenlebens berichtet. Milon kann durch den Gesang des Lycas die Freude an diesem Wohlstand nachempfinden und weiß gleichzeitig, das Glück der erfüllten Liebe noch mehr zu schätzen. In der Idylle Lycas und Milon. werden Glück und Unglück im goldenen Weltalter dargestellt. Das heißt, dass diese empfindsame Schilderung des goldenen Weltalters auch Hirten aufweist, die unglücklich sind. Der entscheidende Punkt ist, dass Glück und Unglück im Hirtengesang aufgehoben werden. Durch den Gesang tauschen die Hirten innere Zustandsformen aus und der glückliche Hirte Milon erfährt, was es heißt Liebeskummer zu durchleben und der unglückliche Lycas partizipiert an Milons inneren Regungen einer erfüllten Liebe. Bei dieser Idylle Lycas und Milon. tritt ein wesentliches Merkmal der Idyllen Gessners von 1756 hervor: Das im Zentrum stehende Erleben in der Idylle ist eine Kunsterfahrung. Die Idylle schildert anfangs eine Naturerfahrung und dann wird mit dem Hirtengesang als eine erste Dichtung des Menschen Kunst präsentiert. Der abschließende Ausspruch des Menalkas verdeutlicht, dass diese Idylle das Erleben des Hirtengesangs als Kunst thematisiert. Die Idylle Lycas und Milon. stellt eine Szene dar, in denen sich zwei Hirten treffen und durch einen schäferlichen Wettgesang Kunst als Form der Lebensbewältigung nutzen. Diese Erlebnisse werden durch den Hirtengesang in poetischer Form mitgeteilt und das Erlebnis, dass diese Szene schildert, ist das Erleben dieser Kunst. Die idyllische Szene ist ein Kunsterlebnis und dieses Erlebnis konstituiert die Idylle. Der Hirtengesang wird als Kunst aus dem Inneren der distinkten Subjekte konstituiert, sodass der schäferliche Wettgesang eine Form der zwischenmenschlichen Kommunikation über das eigene Innere ist, ohne dabei begrifflich-analytisch, sondern darstellend-anschaulich vorzugehen. In der Idylle Lycas und Milon wird die Zeichenhaftigkeit des Waldes als Liebesort bei dem Hirten Milon durch seinen Gesang erläutert, während bei dem Hirten Lycas die angenehme Natur zum Zeichen seiner nicht erfüllten Liebe wird, die jedoch die Leerstelle dieser Liebe nicht füllen kann. Das Erlebnis von Kunst wird zu einem Mitteilungsgeschehen, das die subjektive Zeichenhaftigkeit der Natur weiteren Subjekten zugänglich macht. Die besondere zwischenmenschliche Harmonie des beschriebenen Hirtendaseins ist Resultat dieses Mitteilungsprozesses. Die subjektive Zeichenhaftigkeit der Natur erscheint als Wissen und dieses Wissen wird durch das subjektbetonende Erzählen mitgeteilt. Das bedeutet konkret, dass der naturale Ort des Waldes bei Milon für das 222 Vgl. Ebd., S. 30.

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besungene Vergewisserungsgeschehen mit seiner Geliebten Daphne steht. Der Wald bekommt für ihn die Bedeutung eines Zeichens für eine erfüllte Liebe und erscheint ihm als Ort einer solchen Liebe. Diese Zeichenhaftigkeit ist ein Resultat seines subjektiven Erlebens. Diese Zeichenhaftigkeit der Natur wird durch die Mitteilung in der poetischen Form des Hirtengesangs zu einer Wissensform, die die Einheit des Menschen mit der Natur beschreibt. Der Hirtengesang macht diese subjektive Zeichenhaftigkeit für andere Hirten verständlich. Zusammenfassend beschreibt der Themenkomplex der Subjektivierung zwei Punkte. Einerseits wird das narrative Verfahren beschrieben, dass das erlebende und erzählende Subjekt gleichgesetzt wird und so im Erzählprozess das einzelne Subjekt betont wird. Damit einher geht die Feststellung, dass der Hirtengesang als subjektaussprechende Dichtung im Fokus steht und damit die Mitteilung von der Subjektivität der Hirten Thema der Idyllen ist. Dies wird dadurch untermauert, dass die Konzentration auf das Phänomen der Empfindung als ästhetisches Erleben gelegt wird. Dabei ist es nicht die Natur, die selbst erlebt wird, sondern erlebt wird die dichterische Kunst des Hirtengesangs. Das ästhetische Erleben bezieht sich in den Idyllen auf die schäferliche Kunst, die für das Dasein der Hirten die Funktion der Etablierung einer harmonischen Zwischenmenschlichkeit erfüllt. Das Empfindungserlebnis der Kunst erscheint als eine soziale Praxis der Hirten, die ein gegenseitiges Verständnis füreinander ermöglicht, das die innere Zustandsform berücksichtigt. Die Hirten bekommen einen Einblick in das Innere des anderen. In den Idyllen ist die Bekräftigung des Subjekts kein Selbstzweck, sondern steht in der Funktion, eine eigentümliche Subjektivität in dem verinnerlichenden Medium der Empfindung mitzuteilen und andere an dieser Subjektivität partizipieren zu lassen. Andere Subjekte an der eigenen eigentümlichen Subjektivität teilhaben zu lassen, bedeutet hier nämlich eine zwischenmenschliche Harmonie zu schaffen, die auf einer vollkommenen Tugendhaftigkeit basiert.

2.4 Naivität als natürliche Umgangsform und Ethik Das Thema der Tugend ist eng mit der Naivität als natürlicher Umgangsform und Ethik verbunden. Hinsichtlich der Naivität muss, wie im Folgenden dargelegt wird, zwischen einer darstellerisch produktionsästhetischen und einer innerfiktional zwischenmenschlichen Ebene differenziert werden. Auf einer produktionsästhetischen Ebene geht die Frage nach einer angemessen dargestellten Naivität, die eine Reflexion der Art und Weise der Darstellung voraussetzt, bis in die Antike zurück.223 Helmut J. Schneider zeigt in seiner Textsammlung Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert, dass die französischen und deutschsprachigen idyllentheoretischen Texte des 18. Jahrhunderts dazu neigen, Naivität als ästhetisches Konzept zu problematisieren, da mit der Naivität eine künstlich ge-

223 Vgl. dazu: Jakob Christoph Heller: Masken der Natur. Zur Transformation des Hirtengedichts im 18. Jahrhundert. München 2016, S. 87–96 sowie S. 212–222.

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besungene Vergewisserungsgeschehen mit seiner Geliebten Daphne steht. Der Wald bekommt für ihn die Bedeutung eines Zeichens für eine erfüllte Liebe und erscheint ihm als Ort einer solchen Liebe. Diese Zeichenhaftigkeit ist ein Resultat seines subjektiven Erlebens. Diese Zeichenhaftigkeit der Natur wird durch die Mitteilung in der poetischen Form des Hirtengesangs zu einer Wissensform, die die Einheit des Menschen mit der Natur beschreibt. Der Hirtengesang macht diese subjektive Zeichenhaftigkeit für andere Hirten verständlich. Zusammenfassend beschreibt der Themenkomplex der Subjektivierung zwei Punkte. Einerseits wird das narrative Verfahren beschrieben, dass das erlebende und erzählende Subjekt gleichgesetzt wird und so im Erzählprozess das einzelne Subjekt betont wird. Damit einher geht die Feststellung, dass der Hirtengesang als subjektaussprechende Dichtung im Fokus steht und damit die Mitteilung von der Subjektivität der Hirten Thema der Idyllen ist. Dies wird dadurch untermauert, dass die Konzentration auf das Phänomen der Empfindung als ästhetisches Erleben gelegt wird. Dabei ist es nicht die Natur, die selbst erlebt wird, sondern erlebt wird die dichterische Kunst des Hirtengesangs. Das ästhetische Erleben bezieht sich in den Idyllen auf die schäferliche Kunst, die für das Dasein der Hirten die Funktion der Etablierung einer harmonischen Zwischenmenschlichkeit erfüllt. Das Empfindungserlebnis der Kunst erscheint als eine soziale Praxis der Hirten, die ein gegenseitiges Verständnis füreinander ermöglicht, das die innere Zustandsform berücksichtigt. Die Hirten bekommen einen Einblick in das Innere des anderen. In den Idyllen ist die Bekräftigung des Subjekts kein Selbstzweck, sondern steht in der Funktion, eine eigentümliche Subjektivität in dem verinnerlichenden Medium der Empfindung mitzuteilen und andere an dieser Subjektivität partizipieren zu lassen. Andere Subjekte an der eigenen eigentümlichen Subjektivität teilhaben zu lassen, bedeutet hier nämlich eine zwischenmenschliche Harmonie zu schaffen, die auf einer vollkommenen Tugendhaftigkeit basiert.

2.4 Naivität als natürliche Umgangsform und Ethik Das Thema der Tugend ist eng mit der Naivität als natürlicher Umgangsform und Ethik verbunden. Hinsichtlich der Naivität muss, wie im Folgenden dargelegt wird, zwischen einer darstellerisch produktionsästhetischen und einer innerfiktional zwischenmenschlichen Ebene differenziert werden. Auf einer produktionsästhetischen Ebene geht die Frage nach einer angemessen dargestellten Naivität, die eine Reflexion der Art und Weise der Darstellung voraussetzt, bis in die Antike zurück.223 Helmut J. Schneider zeigt in seiner Textsammlung Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert, dass die französischen und deutschsprachigen idyllentheoretischen Texte des 18. Jahrhunderts dazu neigen, Naivität als ästhetisches Konzept zu problematisieren, da mit der Naivität eine künstlich ge-

223 Vgl. dazu: Jakob Christoph Heller: Masken der Natur. Zur Transformation des Hirtengedichts im 18. Jahrhundert. München 2016, S. 87–96 sowie S. 212–222.

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schaffene Natürlichkeit gebildet werden müsse.224 Folglich wird mit der Naivität in der Idyllentheorie des 18. Jahrhunderts einerseits bestimmt, was jeweils unter Kunst und Natur verstanden wird, und andererseits in welchem Verhältnis sie zueinanderstehen. Schneider zeigt, dass eng mit der Problematisierung der Naivität die Vorbildhaftigkeit der Antike im Zuge des Diskussionszusammenhangs der Querelle des Anciens et des Modernes verhandelt wird. Das Naive erscheint als das ›Chamäleon‹ der Idyllendichtung, da es die wesentliche Variable idyllentheoretischer Überlegungen bildet. Ein kunsttheoretisches Charakteristikum der Idylle ist es, ihre ›artifizielle Geschaffenheit‹ auf den ersten Blick zu verdecken. Das heißt, die Idylle soll durch die Naivität der Schäferfiguren natürlich wirken. Hella Jäger sieht im 18. Jahrhundert das Naive als Möglichkeit soziale und kommunikative »Umgangs-und Ausdruckformen« zu erproben. Im 18. Jahrhundert entspringt die Idee des Naiven der Opposition gegen den faulenden Feudalabsolutismus, den man zunächst in seinen kulturellen Auswüchsen angreift. Seiner »Künstlichkeit« hält man die Idee der »Natürlichkeit« als kritisches Regulativ entgegen. […] Im Widerspruch zu den Stilidealen des Barock[s], die als Ausdruck höfisch-absolutistischer Kultur dem Streben des erwachenden Bürgertums nach ihm gemäßen natürlichen Umgangs-und Ausdruckformen widersprechen, wird Naivität zum Programmbegriff einer neuen Ästhetik auf der Basis der Natürlichkeit und Humanität.225 Naivität und Natürlichkeit werden eng zusammengedacht und so rückt nach Jäger die Naivität als Phänomen einer ungekünstelten Natürlichkeit des Menschen in den Fokus. Jäger stellt in den Texten des 18. Jahrhunderts eine regelrechte »Naivitätssehnsucht« fest, die sie als Signal für »das Leiden an der bestehenden Wirklichkeit« deutet.226 Damit kontrastiere die »Naivität als Kunst-und Lebensideal« mit realhistorisch bestehenden Lebenssituationen. Die Naivität sei ein »Reflex auf ein gesellschaftliches Krisenbewusstsein«.227 Mit der Naivität zeige sich im 18. Jahrhundert das Phänomen, dass in der Zeit, in der sich ein Umbruch unweigerlich abzeichne, die temporäre Stagnation der bestehenden Umstände als umso unerträglicher aufgefasst werde. In den »historischen Umbruchszeiten, wo die Morgenröte des Neuen schon den Horizont erhellt, der Zwang der bestehenden sozialen und kulturellen Verhältnisse aber umso drückender empfunden werden[…]«, erscheine die Idylle als Fluchtpunkt.228 Jakob Christoph Heller betrachtet die Naivität vor allem aus produktionsästhetischer Sicht, denn dies sei bei Bernard le Bovier de Fontenelles Digression sur les Anciens et les Modernes aus dem Jahr 1688 die vorgegebene Perspektive. Auch wenn die deutschsprachige empfindsame Idyllik sich vehement von den französischen Vorbildern der Idylle abgrenze, so bilde Fontenelles

224 Vgl. Vgl. Helmut J. Schneider: Einleitung. Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie. In: Ders.: Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 7–74. 225 Hella Jäger: Naivität. Eine kritisch-utopische Kategorie in der bürgerlichen Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Kronberg 1975, hier S. 3–12, hier S. 7. 226 Vgl. Ebd., S. 3. 227 Vgl. Ebd. 228 Vgl. Ebd.

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Bestimmung der »Naivität als Reflexionsverfahren« einen wichtigen Ausgangspunkt für das deutschsprachige 18. Jahrhundert. Heller führt aus, dass Fontenelle von einem dreistufigen Geschichtsmodell ausginge: »In der ontogenetischen Entwicklung folgt der Kindheit als Zeit der direkten Bedürfnisbefriedigung die Jugend als Zeit der Einbildungskraft und schließlich das Erwachsenenalter als Zeit der Vernunft.«229 Mit Blick auf Gessners Vorrede An den Leser wird deutlich, dass sich die Betrachtungsweise der Geschichte ins Gegenteil verkehrt. Bei Fontenelle erscheint die Gegenwart als höchste Entwicklungsstufe. Bei Gessner wird die Geschichte des Menschen in der Vorrede als Depravationsgeschehen vorgestellt und die Gegenwart wird so zwar weiterhin als höchste Entwicklungsstufe betrachtet, aber die Entwicklung erscheint zugleich als Entfremdung und vor allem als moralische Depravation des Menschen. Bei Fontenelle ist nach Heller die Naivität als Reflexionsverfahren an die höchste Entwicklungsstufe des Menschen gebunden: Naiv ist die Empfindung aufgrund ihrer spezifischen Konstruktion, welche der mittleren Entwicklungsstufe – nicht die Kindheit, nicht das Erwachsenenalter – analog ist, jedoch erreicht wird innerhalb eines Zeitalters, das diese bereits hinter sich gelassen hat. Naïvete ist ein Effekt, den der Dichter zu erreichen hat.230 Dieser Effekt ließe sich als »Rhetorik des Antirhetorischen« beschreiben.231 Fontenelle entwerfe in seinem Discours sur la nature de l’églogue eine dreigliedrige Rezeptionsstruktur des Hirtengedichts, »bestehend aus naivem Ausdruck, allgemeinen Gehalt und der reflexiven Überraschung über letzteren.«232 Die Überraschung entstehe daraus, dass mit der Naivität eine Poesie einer früheren Entwicklungsstufe des Menschen geschaffen werde und die rezipierende Person über die Ausdrucksform und den Inhalt auf den ersten Blick überrascht sei. Das Besondere bei Fontenelle ist nach Heller dann aber die Wende, dass die rezipierende Person das Schäfergedicht als Kunst reflektiere und so in der Naivität ein künstlerisches Verfahren erblicke. Fontenelles Beispiel expliziert die Implikation dieser Überraschung: Sie verweist auf die Hetero-und Autoimages des Rezipienten. Damit konfrontiert sie die Erwartungshaltung gegenüber einer Entität mit der ›Realität‹ dieser Entität. Anders ausgedrückt: Sie lenkt die Aufmerksamkeit von der Aussage und dem zugrundeliegenden Gedanken ab auf das aussagende Subjekt und sein Verhältnis zum Rezipienten; es handelt sich um Metakommunikation, ein Bewusstwerden und eine Reflexion der Kommunikationssituation.233 Nach Heller stehe mit der Naivität bei Fontenelle die Dichtung selbst als Dichtung im Fokus. Dabei wird die Dichtung verstanden als Produkt einer dichtenden Person. Die

229 Jakob Christoph Heller: Masken der Natur. Zur Transformation des Hirtengedichts im 18. Jahrhundert. München 2016, S. 88. 230 Ebd., S. 91. 231 Vgl. Ebd. 232 Vgl. Ebd., S. 95. 233 Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische

naiven Hirten des Fontenelle’schen Hirtengedichts sind Resultate einer schöpferisch dichtenden Person.234 Diese Geschaffenheit der Naivität in der Idylle erkenne die Leserschaft, sodass bei der Idylle die Dichtung als Dichtung zur Thematik werde: »Die Protagonisten [des Hirtengedichts; F. K.] lenken die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf das Talent des Verfassers, Naivität herzustellen«.235 Naivität dichterisch herstellen zu können, stellt die dichtende Person als bel esprit aus. Der Dichter hat die Geistesgabe und den ›Witz‹ diese Naivität darzustellen. Eine solch verstandene Naivität, die wie bei Fontenelle dezidiert darauf basiert, dass sie als Verfahren durchschaut wird, ist niemals das, was sie darstellt. Vielmehr ist sie als höchste Geistesübung genau das Gegenteil von dem, was sie darstellt. Vor diesem Hintergrund wird die Umakzentuierung von Salomon Gessners Idyllen von 1756 deutlich und die in der Vorrede enthaltene vehemente Abwendung vom »Witz« und den »witzige[n] Dichtern« steht in der Abwendung vom höfisch-galanten Schein. Diese Distanzierung von der »falsch-ekeln Galanterie« deutet eine generelle Infragestellung der Vorbildlichkeit der französischen Literatur an. So schreibt Gessner in einem Brief vom 23.12.1755 an Karl Wilhelm Ramler, dass er für seine Idyllen nur Theokrit und Vergil gelesen habe und sich mit den »verzärtelten Franzosen« erst gar beschäftigt habe.236 Naivität wird in Gessners Vorrede mit Blick auf die Idyllen Theokrits bestimmt, denn er verstand es, seinen Hirten »den höchsten Grad der Naivität« zu geben.237 Naivität heißt hier, dass die Hirten über ihre Empfindungen reden und singen, »so wie sie ihnen ihr unverdorbenes Herz in den Mund legt«.238 In der Vorrede Gessners rückt die Naivität daher nicht als dichterisches Reflexionsverfahren in den Vordergrund, sondern als authentische und unverstellte Selbstaussprache der Hirten. Das Phänomen der Naivität erscheint somit hier auf einer innerfiktional zwischenmenschlichen Ebene. Im Schwerpunkt der Reflexion der Entstehensbedingungen von Kunst steht bei Gessner der Gesang der Hirten. Es steht also nicht eine dichtende Person von Idyllen im Zentrum, sondern die Frage ist, was und wie die Hirten des goldenen Weltalters gesungen haben. Die Antwort darauf findet die Sprechinstanz der Vorrede in den Idyllen Theokrits. Dort thematisiere der Hirtengesang die Empfindungen der Hirten.239 Die Vorrede Gessners weist damit die für die Idylle gattungstypische, dichterische Selbstreflexivität auf, indem danach gefragt wird, was überhaupt in der Idylle dargestellt wird. Diese gattungstypische Selbstreflexivität wird hier in Verbindung mit dem antiken Vorbild Theokrit konstituiert. In der Forschungsdiskussion der antiken Texte ist in den 1970er und 1980er Jahren

234 Aus diesem Grund werden in dieser Studie in Abgrenzung zu Heller Fontenelles Überlegungen in seinem Discours sur la nature de l’églogue als produktionsästhetisch und nicht als rezeptionsästhetisch betrachtet. Die Leistung der geschaffenen Naivität liegt allein bei der dichtenden Person und soll bei gelungener Gestaltung zu einer einheitlichen Art der Rezeption führen. Daher stehen bei Fontenelle die Art und Weise des Produzierens der Idylle im Zentrum und nicht die der Rezeption. 235 Vgl. Jakob Christoph Heller: Masken der Natur. Zur Transformation des Hirtengedichts im 18. Jahrhundert. München 2016, S. 96. 236 Vgl. GKA, S. 18f. 237 Vgl. Ebd., S. 17. 238 Vgl. Ebd. 239 Vgl. Ebd.

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vor allem Vergils Bucolica als selbstreflexive Dichtung betont worden.240 In der neueren Forschung wird darauf hingewiesen, dass die Idylle als »Dichtung über Dichtung« ein Element des griechischen Hintergrunds der Gattung sei und die siebte Idylle Theokrits Thalysia (Das Erntefest) ein Vorbild für die Idylle als selbstreflexive Dichtung sei.241 Auch Regina Höschele stellt in ihrer Übersetzung der Gedichte Theokrits die besondere Stellung der siebten Idylle heraus. Sie ordnet Theokrit in das 3. Jahrhundert v. Chr. ein und erläutert die historischen Entstehungsbedingungen seiner Idyllen: Charakteristisch für die Poesie jener Epoche ist die Hinwendung zu kleinen Formen, ein hoher Grad an Selbstreflexivität, gekoppelt mit einem besonders ausgefeilten Stil und Anspielungsreichtum. Da die Dichter ihre eigene Generation als »epigonal« gegenüber Homer und anderen Autoren der archaisch-klassischen Zeit empfanden, distanzierten sie sich gezielt von traditionellen episch-heroischen Stoffen und versuchten, neue Wege der Dichtkunst zu beschreiten, indem sie verschiedene poetische Gattungen miteinander vermengten, sich mit obskuren Fakten und Lokalsagen auseinandersetzten sowie das Leben einfacher Leute und alltägliche Begebenheiten anstelle von heroischen Taten schilderten – dies alles jedoch in ständigem intertextuellen Dialog mit den Klassikern der griechischen Literatur. Theokrit selbst verleiht der neuen, großformatige Poesie ablehnende Ästhetik Ausdruck, wenn er den Ziegenhirten Lykidas in Id[ylle] 7 sagen lässt (V.45-48): »So ist mir der Baumeister überaus verhasst, der danach strebt, ein Haus zu errichten, hoch wie der Gipfel des Oromedon, so auch die Musenhähne, die sich vergeblich mühen, gegen den Sänger von Chios (=Homer) anzukrähen.242 Diese historische Kontextualisierung Theokrits zeigt, dass seine Idyllen unter dem Vorzeichen dieser »neuen, großformatige Poesie ablehnende Ästhetik« entstehen. Seine Idyllen bilden eine Antwort auf die Suche nach »neue[n] Wegen der Dichtkunst« nach Homer. Es entsteht in dieser Zeit eine Poesie, die eine von Homer abgrenzende Neubestimmung der Dichtung anstrebt. Mit der Idylle findet Theokrit eine literarische Gattung, die diese Frage in die Dichtung selbst einführt. Die Idylle – mit BöschensteinSchäfer verstanden als »kleines, selbstständiges Gedicht« – verlegt die theokritische Suche nach innovativen literarischen Themen, Motiven und Topoi, um nicht als epigonal zu Homer wahrgenommen zu werden, in die Dichtung selbst.243 Dabei scheint Theokrit mit der Idylle in Hexameterform eine exklusive literarische Gattung gefunden zu haben, doch nun ist die Frage, worüber thematisch gedichtet werden kann, wenn doch heroische Motive und Topoi den Vergleich zu Homer eröffnen. Die Selbstreferenzialität der Dichtung in der Idylle entsteht im Kontext der Neuausrichtung der antiken Dichtung zu der Zeit Theokrits. In diesem Kontext rückt das Darzustellende in den Hintergrund und die sprachliche Gestaltung von Dichtung ins Zentrum. Das Aufkommen der Idylle in der 240 Vgl. Ernst August Schmidt: Bukolische Leidenschaften oder Über antike Hirtenpoesie. Frankfurt a.M. 1987. Sowie: Ernst August Schmidt: Poetische Reflexion. Vergils Bukolik. München 1972. 241 Vgl. P. Vergilius Maro: Bucolica/Hirtengedichte. Studienausgabe. Lateinisch/Deutsch. Übersetzung, Anmerkungen, interpretierender Kommentar und Nachwort von Michael von Albrecht. Stuttgart 2015, S. 263–285, hier S. 272. 242 Theokrit: Gedichte. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Regina Höschele. Ditzungen 2016, S. 289–299, hier S. 290f. Vgl. für die zitierte Idylle Theokrits: Ebd., S. 63–75, hier S. 67. 243 Vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart 1977, S. 2f.

Das Empfindsam- Idyllische

europäischen Literaturgeschichte ist dadurch verbunden mit der Frage, was Dichtung zur Dichtung macht und findet mit der Hexameterform in der sprachlichen Verdichtung eine Antwort. Die Idylle fragt als literarische Gattung nach Bestimmungsmöglichkeiten von Poetizität. Die Idyllen Theokrits sind sprachlich komplexe Gebilde und Vergil folgt dieser von Theokrit vorgegebenen Tradition. Höschele bekräftigt die von BöschensteinSchäfer und Garber herausgestellte Beobachtung, dass Theokrits Idyllen eine sprachlich ausgefeilte und anspruchsvolle Kunst seien. In der Vorrede An den Leser erblickt die Sprechinstanz in den Idyllen Theokrits ebenfalls eine »schwere Kunst«, die jedoch ausdrücklich nicht in der sprachlichen Gestaltung gesehen wird, sondern in der »angenehme[n] Nachlässigkeit« der Hirtengesänge.244 In der empfindsamen Idyllenpoetik Gessners wird die sprachliche Künstlichkeit der theokritischen Idyllen nicht wahrgenommen. Theokrit ist in der entworfenen Geschichtsauffassung der Vorrede näher am goldenen Weltalter als die Sprechinstanz und »die noch weniger verdorbene Einfalt der Sitten [hat] die Kunst ihm erleichtert«.245 Für die Konstitution der empfindsamen Idyllenpoetik fungiert Theokrit als antikes Vorbild für »den höchsten Grad der Naivität«.246 Für die Sprechinstanz ist die Naivität der Hirten der Idyllen Theokrits ein bedeutender Anhaltspunkt für die Imagination des Hirtenlebens im goldenen Weltalter. Naivität erscheint dadurch in diesem Zusammenhang als ein prägender Faktor des Hirtenlebens im goldenen Weltalter und ist ein wichtiger Aspekt für die ›natürliche Daseinsform‹ des Menschen. Daher entsteht in der Vorrede der Idyllen Gessners idyllische Dichtung eines zivilisierten Subjekts im sentimentalen Blick auf das goldene Weltalter und stellt eine deutliche Differenz zu dem präzivilisierten Hirtengesang dar, denn die schäferliche Naivität drückt gerade aus, dass sie nicht darüber nachdenken, was sie singen, sondern ihre Empfindungen intuitiv verbalisieren. »[D]er höchste[] Grad der Naivität« der Hirten offenbart sich darin, dass » sie [über; F.K.] Empfindungen [reden], so wie sie ihnen ihr unverdorbenes Herz in den Mund legt, und aller Schmuk der Poesie ist aus ihren Geschäften und aus der ungekünstelten Natur hergenommen«.247 Es wird die Empfindung der Hirten betont und dies legt den Fokus auf das Innerliche, denn die Empfindung ist eine Affektation der Seele und »Inhalt des Bewusstseins«.248 Das bedeutet, dass das Innere des Hirten, das ist hier das »unverdorbene Herz«, ohne jegliche Reflexion mitgeteilt wird.249 Diese Innerlichkeit der Hirten ist das Unverstellte und Natürliche, das im Kontrast zum durch Witz verfeinerten, zivilisatorischen Menschen gesetzt wird.250 Witz ist als Klugheit und Geisteskraft ein Symptom der Depravation des Menschen.251 Die Vorbildhaf-

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Vgl. GKA, S. 17. Vgl. Ebd., S. 18. Vgl. Ebd., S. 17. Vgl. Ebd., S. 17 Vgl. Jakob Christoph Heller: Masken der Natur. Zur Transformation des Hirtengedichts im 18. Jahrhundert. München 2016, S. 90. 249 Vgl. GKA, S. 17. 250 Vgl. Ebd., S. 18. 251 Vgl. für die Entfaltung dieser These auch: Felix Knode: Witz als Entfremdung. Salomon Gessners empfindsame Dichtungstheorie in den Idyllen von 1756. In: Mireille Schnyder/Nina Nowakowski

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tigkeit der Idyllen Theokrits wird damit begründet, dass sie eben nicht witzig sind.252 Naivität ist ein Gegensatz zum Witz. Der Begriff des Witzes wird im Grimm’schen Wörterbuch für das 18. Jahrhundert wie folgt historisiert: Eine neue Aufgabe fällt dem Worte im 17. J[ahr]h[undert] zu, als das gesellschaftlich-literarische Ideal des bel esprit ›des aufgeweckten artigen Kopfes‹ aufkommt. Witz wird unter Einflusz des franz. Esprit und des engl. wit Bezeichnung für die Gabe der sinnreichen und klugen Einfälle, weil man auf literarischen Gebiete das Wesen der Dichtung in solchen Einfällen sieht, wird Witz in der ersten Hälfte des 18. J[ahr]h[undert]s. geradezu Bezeichnung des dichterischen Vermögens überhaupt. Das Reich des Witzes umfasst die schönen Wissenschaften und freien Künste.253 Witz ist eine Geistesgabe. Es ist ein Vermögen an künstlerischen und wissenschaftlichen Geisteskräften und damit die Voraussetzung für Gelehrsamkeit. Irmela von der Lühe stellt heraus, dass die Abwendung vom Witz in der Dichtungstheorie Johann Adolf Schlegels in der Mitte des 18. Jahrhunderts als Distanzierung von einer als verstellt aufgefassten sowie egozentrischen Gelehrsamkeit fungiert.254 Der Witz werde zur »Inkarnation von Individualität und Asozialität«.255 Von der Lühe sieht bei J. A. Schlegel eine radikale Kritik des Witzes, der mit dem Begriff des Witzes bei Gottsched vehement bricht. Für Gottsched ist der »witzige Kopf« die Inkarnation von Rationalität, von intellektuellem Einfallsreichsreichtum und einem in den Grenzen des Nachahmungsgebots sich orientierenden Erfindungsgeist. Er ist nicht originell, sondern wahrscheinlich; keineswegs Verkörperung des Individualisten, sondern Versuch, der moralpädagogischen Orientierung der Poesie auf unterhaltsame Weise zu entsprechen. Der Witz beherrscht die Regeln, verfügt gleichwohl über Begabung, sticht positiv aus der Menge ab und zwar nicht dadurch, daß er besonders sensibel, besonders empfindungsfähig wäre, sondern weil ihm intellektuelle Kräfte zu Gebote stehen, die er grundsätzlich mit dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit vertreten kann.256 Bei Gottsched ist der Witz noch im Sinne des französischen Vorbilds des bel esprit semantisiert und basiert auf einem Dichtungsverständnis, das sich in regelpoetischen Bahnen bewegt. Witz ist die Beherrschung von »Regeln«, in der »der ›witzige Kopf‹« seine »Begabung« zeigt. Bei J. A. Schlegel wird der Witz jedoch zum Eigendünkel und zum Mittel, sich selbst zu profilieren. Der Witz sei in der Dichtung der Eigendünkel eines Subjekts, welches die dichterische Fähigkeit aus rein egoistischen Gründen einsetze, um

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(Hg.): Wahn, Witz und Wirklichkeit. Poetik und Episteme des Wahns vor 1800. Paderborn 2021, S. 269–284. Vgl. Ebd., S. 17f. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Vierzehnter Band. II. Abteilung WILB – YSOP. Bearbeitet von Ludwig Sütterlin und den Arbeitsstellen des Deutschen Wörterbuchs. [Fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe aus Leipzig 1960] München 1984, S. 862. Irmela von der Lühe: Natur und Nachahmung. Untersuchungen zur Batteux-Rezeption in Deutschland. Bonn 1979, S. 226–243. Vgl. Ebd., S. 232. Ebd., S. 230.

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Ruhm zu erwerben. Witz sei eine Form der Selbstbezogenheit, die »wahre Individualität« verhindere.257 Der Witz sei eine zwischenmenschliche »Verkehrsform«, die einer »soziale[n] Harmonie« entgegenwirke, da sie eine täuschende Verstellung in »Perfektion« sei.258 Von der Lühe sieht daher im Bezug zum Witz bei J. A. Schlegel »Zweifel an der Gültigkeit herrschender sozialer Normen und Verhältnisse aufkommen«.259 Gerade in Hinblick auf die Dichtungstheorie J. A. Schlegels werde Gelehrsamkeit und Bildung nicht als Wissenserwerb kritisiert, sondern vielmehr die Gelehrtenkultur, die ihr Wissen ichzentriert einsetze. Diese Richtung nimmt auch in der Vorrede der Idyllen Gessners Konturen an, wenn die Sprechinstanz von den »neuern« und »witzige[n] Dichter[n]« Abstand nimmt.260 Dass diese Distanzierung bei Gessner im Bezug zum antiken Vorbild Theokrit geschieht und eine gewisse Bildung voraussetzt, wird in der Schwerpunktsetzung auf der Naivität gerade nicht als widersprüchlich aufgefasst. In Theokrits Idyllen trete eine historisch begründete Naivität zu Tage, da zu der Zeit Theokrits »[d]er zugespitzte Witz […] noch nicht Mode« war.261 Wenn die kultur-und literaturhistorische Tendenz der Empfindsamkeit als revolutionärer Wandel in zwischenmenschlichen Umgangsformen betrachtet wird, wie dies Nikolaus Wegmann vorschlägt, dann ordnet sich diese Kritik an der ›witzigen Gelehrtenkultur‹ diesem Wandel zu.262 Zwar war es zu der Zeit Theokrits auch schon »schwere Kunst« die Naivität der Hirtengesänge des goldenen Weltalters zu entwerfen, doch ist dies in der Gegenwart der Sprechinstanz durch die »Mode« des »zugespitzte[n] Witz[es]« noch komplexer geworden.263 York-Gothart Mix weist darauf hin, dass Gessners Idyllen als Abgrenzung »gegen die lehrhafte Landdichtung und das galante Schäfergedicht« aufgefasst werden müssen.264 Die klar wertende Begrifflichkeit der »falsch-ekeln Galanterie«, in der »eine[] Menge von Leuten […] ihre Bestimmung […] finden«, wird näher durch die Tätigkeit »geziert [zu] denken« spezifiziert.265 »[G]eziert [zu] denken« beschreibt eine artifizielle Form des Denkens und ist damit als Element der Verdorbenheit dem Menschen der zivilisierten Kultur eigen.266 Mit dem »geziert« wird ausgedrückt, dass diese »Menge von Leuten« ihre Geisteskräfte in feudal-gesellschaftlich gewollte Bahnen lenkt und sie ihr Denken an den an ihnen gestellten Erwartungshaltungen ausrichten im Sinne des

257 258 259 260 261 262 263 264

265 266

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 229f Vgl. Ebd., S. 230. Vgl. Ebd. Vgl. GKA, S. 18. Vgl. Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988. Vgl. GKA, S. 18. Vgl. York-Gothart Mix: Idylle. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 393–402, hier S. 393. Vgl. auch: Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Vorrausetzen. Tübingen 1994, S. 145–166, besonders S. 161f und 165. Vgl. zusätzlich: Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart 1977, S. 64–79. Vgl. GKA, S. 18. Vgl. Ebd.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

bel esprit.267 Helmut J. Schneider sieht die Hinwendung zur Natur und zum Ländlichen als Gegenbild zum höfischen bon goût. So ist der ›Realismus‹ der deutschen Idylle auch zunächst als ästhetischer Protest gegen die französisch-aristokratische Kultur zu verstehen. [Es werde] gegen das Verbot, das der höfische ›bon goût‹, in Geßners Worten die »falsch-ekle Galanterie«, über alles »Ländliche«, »Grobe«, Alltägliche verhängt hatte [, protestiert].268 Mit der Abwendung vom Witz wird eine Distanzierung vom bel esprit und dem bon goût deutlich, die aufzeigt, dass sich die Betrachtungsweise von Dichtung und Literatur ändert. Das in der Vorrede beschriebene gezierte Denken ist das Gegenteil von Naivität. Bei der Naivität steht die intuitive und authentische Aussprache des Menschen verbal wie auch in der Tat im Vordergrund. Bei dem gezierten Denken handelt es sich um die Verbergung des eigenen Inneren, denn aus den »Empfindungen [wird] eine schlaue Kunst« gemacht.269 Die »witzige[n] Dichter« gehören zu der »Menge von Leuten, die ihre Bestimmung in einer falsch-ekeln Galanterie finden«.270 Ihre »Empfindungen [haben] einen falschen Schwung genommen«.271 Diese Abwendung vom ›höfischen Geschmack‹ ist in eine Reflexion der Empfindungsfähigkeit eingebettet. Die Sprechinstanz stellt am Anfang der Vorrede dar, die Empfindungen ihrer »seligsten Stunden« zu poetisieren.272 Für die Sprechinstanz heißt das, »[sich] mit der Natur und den Empfindungen der Unschuld […] genauer bekannt zu machen«.273 »[D]ie meisten neuern« Dichter schrieben »in der Absicht sich allgemeinern Beyfall zu gewinnen«.274 Diese Dichter sind an den Hof gebunden, wo sie galant versuchen zu gefallen, denn darin scheint die Funktion ihrer Dichtung zu bestehen. Die Vorrede der Idyllen stellt klar heraus, dass das Gefallen nicht der Zweck empfindsamer Dichtung sei, denn mit dem Vorbild Theokrit werde ein »Muster« aufgerufen, von dem ausgegangen wird, dass es nur einen exklusiven Publikumskreis anspricht: »Mir deucht, das ist die Probe darüber, daß Theokrit in seiner Art fürtrefflich sey, weil er nur wenigen gefällt […]«.275 Die explizite Ablehnung des Galanten wird so durch das Vorbild Theokrit untermauert.276 Ruth Florack und Rüdiger Singer legen dar, dass Galanterie ebenfalls einem Natürlichkeitspostulat verpflichtet war.277 Damit zeigt die Vorrede der Idyllen Gessners, dass sich die Semantik von Natürlichkeit ändert, denn Galanterie und Natürlichkeit werden

267 Vgl. Ebd. 268 Vgl. Helmut J. Schneider: Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder. In: Ders. (Hg.): Idyllen der Deutschen. Frankfurt a.M. 1978, S. 353–423, hier S. 359. 269 Vgl. GKA. S. 18 270 Vgl. Ebd. 271 Vgl. Ebd. 272 Vgl. Ebd. 273 Vgl. Ebd. 274 Vgl. Ebd. 275 Vgl. Ebd. 276 Vgl. Ebd. 277 Vgl. für die Galanterie als Verhaltensmodell: Ruth Florack/Rüdiger Singer (Hg.): Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit. Berlin 2012.

Das Empfindsam- Idyllische

bei Gessner kontrastiert. Dieser Bedeutungswandel von Natürlichkeit wird mit dem Ausdruck der »witzige[n] Dichter« weiter ausgeführt.278 Für die Darstellung der natürlichen Daseinsform der Hirten des goldenen Weltalters wird die adjektivische Modifizierung der Dichter als »witzig« jedoch zu einem ›wertlosen Attribut‹.279 Der »witzige[] Dichter« wird zum Repräsentanten eines entfremdeten, künstlichen Menschen und seine Dichtung ist ein verstärkendes Element einer moralisch depravierten Zivilisation.280 Im Gegenbild von Naivität und Galanterie erscheint letztere als Element eines fortschreitenden Depravationsprozesses des Menschen, denn Galanterie entfremden den Menschen von seiner ihm gegebenen ›Natürlichkeit‹. Der galante Mensch soll sich nach festgesetzten Regeln verstellen und sein Inneres nicht offen mitteilen und verwirklichen. Der zivilisatorische Mensch wird auf diese Weise zur Fassade und Maske. Diese künstliche Verstellung des zivilisatorischen Menschen findet ein deutliches Gegenbild in der Naivität der Hirten des goldenen Weltalters. In dieser Distanzierung von der Galanterie und der Berufung auf die Naivität als unverstellter und damit authentischer zwischenmenschlicher Umgangsform deutet sich eine Auffassung von Dichtung und Literatur an, die Klaus Garber mit Blick auf Texte von Friedrich Gottlieb Klopstock wie folgt beschreibt, die aber in ihrer Gültigkeit ebenso auf die Idyllen Gessners zutreffen: Damit darf hinübergeleitet werden zu dem anderen, gleich wichtigen Akteur des poetischen Agierens, dem Leser. Ihm wird die unerhörte Aufgabe zuerkannt, das, was andeutend und unvollendet im Gedicht sich artikuliert, nicht nur zu erfassen, sondern zu vollenden. Und das nicht in einem Akt expliziter Auslegung und also seinerseits in einer zum Scheitern verurteilten Sprache, sondern sich hineinversetzend in die nur unvollkommen zur Realisierung gelangende Intention des Dichters, die als innerliche ihrerseits der schweigend sich vollziehenden Aufnahme zugänglich ist. Dichter und Leser kommunizieren über einen erhabenen seelischen Raum der Innerlichkeit, aus dem das poetische Gebilde sich im Fall des Gelingens wie von selbst löst, um wieder einzutreten in das empfängliche Gemüt des Rezipienten, der zu antworten nur imstande ist, sofern er sich auf dem gleichen seelischen Niveau wie der Dichter bewegt.281

278 Vgl. GKA, hier S. 18. Die Semantisierung des Witzigen im 18. Jahrhundert mit klug geht neben dem Grimm’schen Wörterbuch auch aus dem Zedler-Lexikon hervor. Dort werden »Sinnreiche Schrifften« gleichgesetzt mit »witzige[n] Schrifften« und definiert als »alle diejenigen Arten der Schriften, in welchem viele sinnreiche Gedancken und scharfsinnige Einfälle vorkommen. Besonders gehören hieher die Gedichte, Reden, zierlich geschriebene Briefe und Geschichte, wie auch Aufschriften.« Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. [Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe aus Leipzig und Halle 1743] Graz 1962, Band 37, S. 1706. Vgl. die Einträge »Sinnreich, witzig« und »Witzigen, Witzigung« im Lexikon von Zedler: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. [Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe aus Leipzig und Halle 1743] Graz 1962, Band 37, S. 1704f und Band 57, S. 1996. 279 Vgl. GKA, S. 18. 280 Vgl. Ebd., S. 18. 281 Klaus Garber: Die Geburt der ›Kunst-Religion‹. Richard Alewyns Empfindsamkeits-Projekt im Spiegel der späten Bonner Vorlesungen. In: Ders./Ute Széll (Hrsg): Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. München 2005, 67–87, hier 76.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Dichtung wird zum Raum für Innerlichkeit.282 Bei Gessners Idyllen wird dies durch die Naivität als authentische Artikulationsform des Inneren zur Programmatik eines idyllentheoretischen Ansatzes. Bei Jäger und Heller ist die Naivität als ästhetisches Phänomen betrachtet worden. Bei Gessners Idyllen rückt sie jedoch auch als Verhaltensund Handlungsmaxime in den Vordergrund. Die Naivität der Hirten der empfindsamen Idylle wird als ein Transgressionsprozess des Inneren in die äußere Erlebniswelt des Subjekts verstanden, bei dem die Intuition ins Zentrum rückt. Dies gilt sowohl für kommunikative Umgangsformen der Schäferfiguren und für ihr Verhalten gegenüber den anderen Menschen und der Natur. Naivität erscheint in den Idyllen als eine Ethik, die auf dem »unverdorbene[n] Herz[en]« basiert.283 Naivität als Ethik formt die Hirten zu den »würdigen Bewohnern« des idyllischen Raums.284 Für die Naivität als Ethik ist die Idylle Amyntas sehr aufschlussreich. Diese Idylle ist eine der wenigen, die nahezu vollständig eine heterodiegetische Erzählinstanz aufweist. Die direkten Gesprächsbeiträge des Hirten Amyntas und der naturmystischen Entität der Dryade sind in dieser Idylle im Vergleich zu anderen Idyllen kurz. Diese narrative Gestaltung akzentuiert das Handeln des Amyntas, indem es von außen beschrieben wird. Naivität steht nicht als kommunikative Umgangsform im Zentrum, sondern als Transgressionsprozess des Inneren ins Äußere, indem der Hirte Amyntas intuitiv nach seinem Inneren handelt. Naivität zeigt sich in den konkreten Taten eines Subjekts und diese werden durch die narrative Darstellung hervorgehoben. Amyntas wird als armer Hirt beschrieben, der sich im Wald »Stäbe geschnitten« hatte, um sie für sich »zu einem Zaun« zusammen zu bauen.285 Amyntas tritt »aus dem dichten Hain« heraus und sieht »einen jungen Eichbaum neben einem hinrauschenden Bach«.286 Er wird gewahr, dass »der Bach […] wild seine Wurzeln von der Erd’ entblösset« hatte: »[D]er Baum stund da traurig, und drohte zu sinken.«287 Der Hirte Amyntas hat die intuitive Empfindung, dass er den Baum nicht dem drohenden Sinken durch den Bach überlassen sollte. Die Darstellung seiner intuitiven Entscheidung präsentiert Amyntas selbst durch direkte Rede: Schade, sprach er, soltest du Baum in diß wilde Wasser stürzen; nein, dein Wipfel soll nicht zum Spiel seiner Wellen hingeworfen seyn. Izt nahm er die schweren Stäbe von der Schulter; ich kan mir andre Stäbe holen, sprach er, und hub an, einen starken Damm vor den Baum hinzubauen und grub frische Erde; Izt war der Damm gebaut, und die entblößten Wurzeln mit frischer Erde bedekt, und izt nahm er sein Beil auf die Schulter, und lächelte noch einmal zu frieden mit seiner Arbeit in den Schatten des geretteten Baumes hin, und wollte in den Hain zurük um andre Stäbe zu holen […].288

282 Vgl. für diese Überlegungen angewendet auf Gessners Idyllen: Felix Knode: Natur als Ressource für Subjektivität. Salomon Gessners Vorrede der Idyllen von 1756 als Poetologie von Innerlichkeit. In: Ansgar Schanbacher (Hg.): Ressourcen in historischer Perspektive. Landschaft, Literatur und Nachhaltigkeit. Göttingen 2020, S. 231–251. 283 Vgl. GKA, S. 17. 284 Vgl. Ebd., S. 15. 285 Vgl. Ebd., S. 31. 286 Vgl. Ebd. 287 Vgl. Ebd. 288 Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische

Amyntas trifft spontan die Entscheidung, dem Baum zu helfen und ist dafür selbstlos bereit, sein Tageswerk für den Baum aufzuopfern. Dieses Verhalten und Handeln des Amyntas ist naiv, da er sein Inneres in seine äußere Erlebniswelt überträgt. Sein Inneres erscheint hier als die intuitive Empfindung, dass er das Sinken des Baumes durch den rauschenden Bach verhindern möchte. Dem Inneren des Hirten offenbart sich in dieser Ahndung ohne jegliche verstandesmäßige Reflexion, dass es ›moralisch falsch‹ wäre, dem Baum seinem Schicksal zu überlassen. Gerade in der Ausklammerung jeglicher reflektierenden Vermittlung zwischen intuitiv aufkommender Empfindung und dem tatkräftigen Handeln liegt der Kern der empfindsamen Naivität als Ethik. Die Intuition des Amyntas wird durch das Auftreten der Dryade als ›richtig‹ bekräftigt. Amyntas behandelt den Baum als ein sakralisiertes Element, denn die Hervorhebung des »Wipfel[s]«, der nicht im Strom des Flusses dahingespült werden soll, zeigt auf, dass Amyntas durch die Intuition erfasst, dass in der Eiche eine sakrale Entität existiert.289 Diese sakrale Entität wendet sich direkt an Amyntas, nachdem er die Eiche gerettet hat: […] aber die Dryas rief ihm mit lieblicher Stimme aus der Eiche zu: solt ich unbelohnet dich weglassen? gütiger Hirt! sage mirs, was wünschest du zur Belohnung, ich weiß daß du arm bist, und nur fünf Schafe zur Weide führest.290 In einer Anmerkung wird erläutert, dass »[d]ie Dryaden […] Schuz-Göttinnen der Eichen [waren], sie entstunden und starben auch wieder mit dem Baum.«291 Dadurch sensibilisiert diese Idylle für den Gedanken, dass die Natur als äußere und sinnlich wahrnehmbare Erlebniswelt des Menschen nicht die ganze Natur umfasst. In dieser Idylle existieren in der Natur sakral anmutende Geschöpfe wie die Dryaden, die mit dem Baum als sinnlich wahrnehmbarer Entität verbunden sind, aber existenziell mit ihm nicht gleichzusetzen sind, und dass obwohl sie mit dem Baum entstehen und sterben. Sie ist eine Meta-Entität des Baumes. Mit Meta-Entität wird hier ein über die Sinnlichkeit hinausweisendes Existierendes bezeichnet, dass der Natur in dieser Idylle ein sakrales Inneres zuweist. Amyntas rettet mit der Eiche auch die in diesem Baum existierende Dryas. Dieses Geschehnis verweist mit der Eiche als naturale Entität und der Dryas als göttlich beschriebene Meta-Entität dieses naturalen Elements auf einen Daseinswert der Natur, der sich nicht auf das sinnlich Erfassbare der Natur reduzieren lässt. Amyntas ist ein Hirte des goldenen Weltalters und zeichnet sich dadurch aus, dass er spontan und intuitiv diesen Daseinswert erkennt und gegen ich-bezogene Argumente, die er gar nicht in Erwägung zieht, der Natur hilft. Naivität verwirklicht das Innere »der unverdorbenen Natur« in einer äußeren Erlebniswelt.292 Dieses Erleben ist nicht auf Erzählungen und Gesänge beschränkt, sondern wird in der Idylle Amyntas als Verhalten und Handeln vorgeführt und als eine natürliche Ethik entworfen. Diese Ethik baut auf der Empfindung auf, denn diese ist in diesem Fall neben einem ästhetischen auch ein ethisches Ereignis. Die Empfindung ist ein Gehalt des Bewusstseins, der auf äußere Reize zurückgeführt

289 290 291 292

Vgl. Ebd. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 15.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

wird. In diesem Fall führt die Empfindung zu einem Mitteilungsgeschehen, das ist die direkte Rede von Amyntas, die mit der konkreten Tat des Bauens eines Damms als Schutz für den Baum vor dem Bach begleitet wird. Amyntas’ Wahrnehmung der einstürzenden Eiche führt zu einer Affektation des Inneren, die zum Reden und Handeln führt. Amyntas weist eine besondere Haltung gegenüber dem naturalen Element der Eiche auf. Diese Haltung führt zu einer besonderen Umgangsform mit der Natur. Diese ethische Hervorhebung der intuitiven Empfindung wird in der Idylle Amyntas auch zwischenmenschlich zum Thema. »[D]er arme Amyntas« verwendet seinen Wunsch einerseits nicht für sich selbst und andererseits auch nicht für materielles Gut.293 Er antwortet der Dryade: O wenn du mir zu bitten vergönnst, Nymphe, so sprach der arme Hirt; mein Nachbar Palemon ist seit der Ernde schon krank, laß ihn gesund werden! So bat der Redliche, und Palemon ward gesund; aber Amyntas sah den mächtigen Segen in seiner Herde und bey seinen Bäumen und Früchten, und ward ein reicher Hirt, denn die Götter lassen die Redlichen nicht ungesegnet.294 Auch hier hat Amyntas durch die intuitive Empfindung direkt ohne jegliche Reflexion des Verstandes den Blick für das, was seinem »Nachbar«, also seinem Nächsten, fehlt.295 Gleichzeitig sieht er die Gesundheit als den höchsten Wert des Lebens an, die er sich für seinen Nachbarn wünscht. Amyntas stellt in seiner allgemeinen Verhaltensweise gegenüber der Natur und gegenüber seinen Mitmenschen seine eigenen Bedürfnisse vollkommen hinten an und lässt sich von seinen intuitiven Empfindungen im Verhalten leiten. Diese führen Amyntas zu einer natürlichen Ethik, die ihn zu einem selbstlos tugendhaften Menschen macht. Die Empfindung erscheint in dieser Idylle als ursprüngliche und natürliche Form der Handlungsmotivation, weil die Hirten der Präzivilisation ihren Empfindungen folgen und sie durch dieses empfindungsfokussierte Handeln die natürliche Daseinsform des goldenen Weltalters konstituieren. Die natürliche Ethik der Hirten basiert auf einer einfachen Tugend, die ohne jegliche Vernunftreflexion auskommt. Diese »Einfalt der Sitten« führt in ihrer bedingungslosen Realisierung zu einem möglichst idealen Dasein des Menschen im naturalen und zwischenmenschlichen Bereich.296 Das Hirtendasein des Amyntas veranschaulicht eine suffiziente Lebensart. Amyntas befindet sich in Harmonieverhältnissen mit der Natur und seinen Mitmenschen, da er sich beidem gegenüber tugendhaft gegenüber verhält. Es ist diese Tugend der natürlichen Ethik der Naivität, die diese Harmonieverhältnisse konstituiert. Das Ende dieser Idylle zeigt an, dass eine solche Tugend nicht unbelohnt bleibt. Außerdem zeigt sich in dieser Idylle, dass eine suffiziente Lebensart ein rein zweckgesteuertes Handeln und Verhalten ausschließt. Amyntas lebt suffizient, weil er bereit ist, der Natur zu helfen. Bei seiner Hilfe setzt er geschnittene Holzstäbe ein, die er eigentlich für sich angefertigt hatte. Für ihn ist jedoch sofort klar, dass er sich »andre Stäbe holen« kann.297 Es ist diese Selbstverständlichkeit, die die Naivität als natürliche Ethik auszeichnet. Naivität ist als 293 294 295 296 297

Vgl. Ebd., S. 31. Ebd., S. 31. Vgl. Ebd., S. 31. Vgl. Ebd., S. 17. Vgl. Ebd., S. 31.

Das Empfindsam- Idyllische

natürliche Umgangsform und Ethik eine Transgression des Inneren in eine äußere Erlebniswelt. Dies verweist darauf, dass das Innere moralisch aufgeladen wird. Im Inneren wird der Mensch in seiner Ursprünglichkeit als moralisch vollkommen betrachtet. Wenn die Sprechinstanz der Vorrede der Idyllen postuliert, dass »die Einbildungs-Kraft und ein stilles Gemüth« den Menschen immer noch »in ein goldnes Weltalter setzen« kann, dann ist das Innere immer noch ein Rudiment dieser Zeit und dieses ursprüngliche Innere ist noch nicht vollständig irreversibel verloren.

2.5 Idyllische Anthropologie Dieses Rudiment des goldenen Weltalters ist aber dem empfindsamen Ich vorbehalten, denn nur das Subjekt, das eine Empfindungsfähigkeit für die Schönheit der Natur zeigt, weist eine Beschaffenheit des Inneren auf, die noch als Rest des ursprünglichen Menschen erscheint. Diese Exklusivierung des empfindsamen Subjekts ist zugleich eine anthropologische Bestimmung des Menschen. In der feudalen Ordnung werden die Menschen aufgrund von äußeren Attributen, wie dem Stand, in ihrer Rolle und ihrem ›Wert‹ festgelegt. In empfindsamen Texten, wie den Idyllen Gessners, wird eine andere Betrachtung des Menschen entworfen. Das Innere des Menschen rückt ins Zentrum. Es ist die Beschaffenheit und das Erleben von Zustandsformen des Inneren, die in Gessners Idyllen im Zentrum stehen. Das Erlebnis der Natur ist für die Sprechinstanz eine Ursprünglichkeitserfahrung, bei der im Blick in die Natur ein Inneres entdeckt wird. Bei Helmut J. Schneider heißt es dazu: Natur ist die äußere Natur, in ihrer Schönheit und Einfachheit, und sie ist die innere Natur des Menschen, sein wahres Wesen, sein Ursprung und zugleich sein Ziel. Im Blick in die Natur begegnen wir unserem eigentlichen Selbst.298 Dies verdeutlicht sich in der Vorrede der Idyllen Gessners. In der inneren Zustandsform der Naturentzückung erlebt die Sprechinstanz in der sinnlichen Sensation einer äußeren Natur ein Wechselverhältnis zu ihrer inneren Natur. Dieses Reziprozitätsverhältnis zwischen äußerer und innerer Natur wird mit dem Ausdruck »ganz Empfindung« zu sein beschrieben.299 Dieses Empfindungserlebnis ist das Zentrum des besonderen Daseinszustands der Sprechinstanz. Das goldene Weltalter fungiert als Chiffre einer idealen Zeit, in der der Mensch eine moralisch vollkommene Innerlichkeit durch die Naivität als Umgangsform und Ethik leben konnte. Der Sprechinstanz ist dieses innere Erlebnis lediglich durch das Verlassen der Stadt zeitlich beschränkt möglich. Das, was in der Natur als Selbst erblickt wird, ist das eigene Innere. Dies ist nach Schneider in der Idyllik des 18. Jahrhunderts und auch bei Gessner »das wahre[] Wesen«, »Ursprung« und »Ziel« des Menschen. Schneider bettet die Gattung der Idylle in einen Zusammenhang der literarischen Anthropologie ein, da die zugrunde gelegte Vorstellung von Natur sein »wah-

298 Helmut J. Schneider: Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder. In: Ders. (Hg.): Idyllen der Deutschen. Frankfurt a.M. 1978, S. 353–423, hier S. 370. 299 Vgl. GKA, S. 15.

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Das Empfindsam- Idyllische

natürliche Umgangsform und Ethik eine Transgression des Inneren in eine äußere Erlebniswelt. Dies verweist darauf, dass das Innere moralisch aufgeladen wird. Im Inneren wird der Mensch in seiner Ursprünglichkeit als moralisch vollkommen betrachtet. Wenn die Sprechinstanz der Vorrede der Idyllen postuliert, dass »die Einbildungs-Kraft und ein stilles Gemüth« den Menschen immer noch »in ein goldnes Weltalter setzen« kann, dann ist das Innere immer noch ein Rudiment dieser Zeit und dieses ursprüngliche Innere ist noch nicht vollständig irreversibel verloren.

2.5 Idyllische Anthropologie Dieses Rudiment des goldenen Weltalters ist aber dem empfindsamen Ich vorbehalten, denn nur das Subjekt, das eine Empfindungsfähigkeit für die Schönheit der Natur zeigt, weist eine Beschaffenheit des Inneren auf, die noch als Rest des ursprünglichen Menschen erscheint. Diese Exklusivierung des empfindsamen Subjekts ist zugleich eine anthropologische Bestimmung des Menschen. In der feudalen Ordnung werden die Menschen aufgrund von äußeren Attributen, wie dem Stand, in ihrer Rolle und ihrem ›Wert‹ festgelegt. In empfindsamen Texten, wie den Idyllen Gessners, wird eine andere Betrachtung des Menschen entworfen. Das Innere des Menschen rückt ins Zentrum. Es ist die Beschaffenheit und das Erleben von Zustandsformen des Inneren, die in Gessners Idyllen im Zentrum stehen. Das Erlebnis der Natur ist für die Sprechinstanz eine Ursprünglichkeitserfahrung, bei der im Blick in die Natur ein Inneres entdeckt wird. Bei Helmut J. Schneider heißt es dazu: Natur ist die äußere Natur, in ihrer Schönheit und Einfachheit, und sie ist die innere Natur des Menschen, sein wahres Wesen, sein Ursprung und zugleich sein Ziel. Im Blick in die Natur begegnen wir unserem eigentlichen Selbst.298 Dies verdeutlicht sich in der Vorrede der Idyllen Gessners. In der inneren Zustandsform der Naturentzückung erlebt die Sprechinstanz in der sinnlichen Sensation einer äußeren Natur ein Wechselverhältnis zu ihrer inneren Natur. Dieses Reziprozitätsverhältnis zwischen äußerer und innerer Natur wird mit dem Ausdruck »ganz Empfindung« zu sein beschrieben.299 Dieses Empfindungserlebnis ist das Zentrum des besonderen Daseinszustands der Sprechinstanz. Das goldene Weltalter fungiert als Chiffre einer idealen Zeit, in der der Mensch eine moralisch vollkommene Innerlichkeit durch die Naivität als Umgangsform und Ethik leben konnte. Der Sprechinstanz ist dieses innere Erlebnis lediglich durch das Verlassen der Stadt zeitlich beschränkt möglich. Das, was in der Natur als Selbst erblickt wird, ist das eigene Innere. Dies ist nach Schneider in der Idyllik des 18. Jahrhunderts und auch bei Gessner »das wahre[] Wesen«, »Ursprung« und »Ziel« des Menschen. Schneider bettet die Gattung der Idylle in einen Zusammenhang der literarischen Anthropologie ein, da die zugrunde gelegte Vorstellung von Natur sein »wah-

298 Helmut J. Schneider: Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder. In: Ders. (Hg.): Idyllen der Deutschen. Frankfurt a.M. 1978, S. 353–423, hier S. 370. 299 Vgl. GKA, S. 15.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

res Wesen« sei. In der Gattung der Idylle und besonders bei Gessner tritt eine Vorstellung des ganzen Menschen zutage. Es wird eine äußere und innere Natur differenziert, aber die Empfindung wird als verbindendes Erlebnis herausgestellt. In der Betonung der Empfindung als einem Wechselverhältnis zwischen äußeren Wahrnehmungen und inneren Zustandsformen sieht Helmut Pfotenhauer die »cartesianische Zwei-SubstanzenLehre [und] die strikte kategoriale Trennung von res cogitans und res extensa« aufgehoben.300 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigt sich, dass die Hinwendung zum Inneren des Menschen mit einem mentalitäts-und philosophiegeschichtlichen Wandel einhergeht. Die strikte Trennung von Denken und Körper wird aufgebrochen.301 In der Folge dieses Bruchs rückt die Frage nach der Beziehung des Denkens und des Körpers ins Zentrum.302 Aus dieser Perspektive muss die Behauptung Gerhard Sauders, dass die Empfindsamkeit »keine Tendenz gegen die Vernunft [sei], sondern der Versuch [ist], mit Hilfe der Vernunft auch die Empfindungen aufzuklären«, reflektiert werden.303 Mit den Feststellungen Pfotenhauers und mit Blick auf die Idyllen Gessners lässt sich diese These pointieren, indem die empfindsame Tendenz als Bemühung erscheint, das menschliche Fühlen und das innere Erleben als Einheit zu verstehen, die nicht mit der Trennung des Denkens und des Körpers konform geht. Es ist die Frage nach dieser Einheit, die die literarische Anthropologie und damit auch die empfindsame Idyllik interessiert. Es rückt in Gessners Idyllen die Frage nach der generellen Beschaffenheit der Empfindung und des innerlichen Erlebens in den Mittelpunkt. Es wird danach gefragt, wie ein äußerer Reiz, der etwas Körperliches und sinnlich Erfahrbares ist, eine Wirkung auf das Innere und damit auf das Denken hat. Bezogen auf die empfindsame Idyllik des 18. Jahrhunderts ist die Frage, wie und warum der Blick in die Natur das empfindsame Ich im Inneren berührt. Die empfindsame Idyllik ist ein literarischer Phänomenbereich, in dem sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Anthropologie des ganzen Menschen andeutet. Der Mensch wird zum »leib-seelische[n] Ensemble«, zu einem »commercium mentis et corporis«.304 Damit wird »[d]ie kategoriale Strenge der rationalistischen Philosophie [und] ihre strikte Hierarchisierung der Seelenvermögen« durchbrochen.305 Der Empfindung wird die Funktion zugewiesen, ein Bindeglied zwischen den Relationen von Innerem als geistiges und emotionales Vermögen des Menschen und dem Äußeren als körperlich Bestehendes und sinnlich Erfahrbares zu sein. Somit ist die Empfindung ein Vermögen dafür, dass äußere Phänomene auf das Innere des Menschen wirken können. Die Empfindung ermöglicht es, dass das Innere des Menschen nicht für äußere Einflüsse verschlossen ist, sondern dass es auf das Äußere des Menschen Bezug nehmen kann. In der Idylle

300 Vgl. Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987, S. 2–12, hier S. 3. 301 Vgl. Ebd., S. 4. 302 Vgl. Ebd., S. 4f. 303 Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Band I: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, XI-XX, hier XV. 304 Vgl. Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987, S. 2–12, hier S. 1. 305 Vgl. Ebd., S. 1f.

Das Empfindsam- Idyllische

Daphnis der Idyllen Gessners von 1756 findet die Empfindung als Vermögen für Wechselverhältnisse zwischen einem inneren Raum und einem äußeren Raum eine sinnbildliche Veranschaulichung im Fenster einer Hütte: An einem hellen Winter-Morgen saß Daphnis in seiner Hütte; die lodernde [sic!] Flammen angebrannter dürrer Reiser streuten angenehme Wärme in der Hütte umher, indeß daß der herbe Winter sein Stroh-Dach mit tiefem Schnee bedekt hielt; er sah vergnügt durch das enge Fenster über die wintrichte Gegend hin […].306 Diese Idylle beginnt mit einem Erzählbericht, der die Erzählsituation dieser Idylle darstellt, indem eine konkrete Szene geschildert wird. Diese Szene zeigt die Figur Daphnis in seiner Hütte sitzend. Es brennt ein Feuer mit »lodernde[n] Flammen« von »angebrannte[n] dürre[n] Reiser[n]«. Es herrscht im Inneren der Hütte eine »angenehme Wärme«. Diese Gestaltung des Innenraums der Hütte kontrastiert mit der »wintrichte[n] Gegend« außerhalb. Es herrscht draußen ein »herbe[r] Winter« und seine Hütte, in der er sich befindet, ist »mit tiefem Schnee bedekt«. Diese Idylle entfernt sich mit diesem narrativen Setting von der schäferlichen Idylle. Es werden zwei Räume beschrieben, denen unterschiedliche Attribute zugewiesen werden. Der Innenraum der Idylle ist durch eine »angenehme Wärme« gekennzeichnet, die »die lodernde[n] Flammen« hervorbringen. Dieser innenliegende Raum weist mit der Wärme und dem Feuer konträre Attribute zu dem äußeren Raum auf, der mit dem Winter mit Kälte verbunden wird. Der Innenraum der Hütte versinnbildlicht in dieser Szene Geborgenheit, während die äußere Umgebung unbehaglich erscheint. Diese beiden Räume veranschaulichen die Relation von Innerem und Äußerem, die mit den zugewiesenen Eigenschaften zugunsten des Inneren bewertet wird. Zwischen diesen beiden Räumen gibt es »durch das enge Fenster« eine Verbindung. Daphnis erblickt durch das Fenster die winterliche Gegend aus seiner warmen Hütte heraus. Er erblickt auf diese Weise die winterliche Umgebung, ohne den geschützten Innenraum zu verlassen. Der Anblick der Gegend »durch das enge Fenster« bringt ihn zum Monologisieren: Du herber Winter, so sprach er, doch bist du schön! Lieblich lächelt izt die Sonne durch die dünnbenebelte Luft über die Schnee-bedekten Hügel hin; wie glänzet der Schnee! Lieblich ists, wie aus dem Weissen empor die schwarzen Stämme der Bäume zerstreut stehn, mit ihren krummgeschwungenen unbelaubten Ästen, oder eine braune Hütte mit dem Schnee-bedekten Dach, oder wenn die schwarzen Zäune von Dorn-Stauden die weisse Ebene durchkreuzen; Schön ists, wie die grüne Saat dort über das Feld hin die zarten Spizen aus dem Schnee empor hebt, und das Weiß mit sanftem Grün vermischt; Schön glänzen die nahen Sträuche, ihre dünnen Äste sind mit Duft geschmükt, und die dünnen umherflatternden Faden [sic!].307 Durch den zentralisierten Sinn des Sehens stehen visuelle Wahrnehmungen im Vordergrund. Er beschreibt die verschneite Gegend und wie der Schnee in der Sonne glänzt. Da es ein »heller Winter-Morgen« ist, sieht er durch die Sonne leicht Nebel über dem 306 GKA, S. 24. 307 Ebd.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Schnee aufgehen und schildert dies als »die dünnbenebelte Luft«.308 Die detaillierte Beschreibung von Farben und Farbakzenten koloriert die Szene des Naturerlebens aus der warmen Hütte. Das Weiß der winterlichen Umgebung wird durch »die schwarzen Stämme der Bäume« unterbrochen und hier und da steht »eine braune Hütte mit dem Schneebedekten Dach«. Diese Beschreibung der Hütten mit den verschneiten Dächern verweist darauf, dass sich die Hirten an die naturale Umgebung anpassen, da auch ihre Hütten von dem Weiß des Schnees erfasst werden. In dieser Idylle ist zwar weiterhin ausdrücklich vom »Hirt[en]« die Rede, doch ist die Jahreszeit des Winters eine markante Veränderung der Gattungskonventionen der Idylle.309 Auch »die schwarzen Zäune von Dornstauden […] durchkreuzen [die weisse Ebene]« sowie »die grüne Saat« sich mit dem Reif »vermischt«. Daphnis beschreibt diese Umgebung als »öde«, schildert in seinem selbstgesprächartigen Monolog jedoch eine Umgebung, die im detaillierten Blick einen farbenreichen Eindruck und so ein besonderes Empfindungserlebnis hinterlässt.310 Daphnis erweitert seinen Natureindruck jedoch und äußert, dass die »dünnen Äste« der »[s]chön« glänzenden »nahen Sträuche[r] […] mit Duft geschmükt« seien.311 Zusätzlich hebt er »die dünnen umherflatternden F[ä]den« an diesen Sträuchern hervor.312 Diese beschriebene synästhetische Verbindung von visueller und olfaktorischer Wahrnehmung hat verschiedene Lesarten. So ist es möglich, dass Daphnis aus seinem Erfahrungshorizont heraus weiß, dass die Äste der Sträucher jetzt duften, weil er schon einmal zu dieser Zeit ihren Geruch wahrgenommen hat. Es ist möglich, dass der visuelle Reiz von Daphnis kognitiv mit einem olfaktorischen Eindruck verbunden wird. Außerdem ist möglich, dass Daphnis den »Duft« imaginativ seinem visuellen Natureindruck hinzufügt. Die sinnliche Diversifikation gestaltet den Natureindruck vielseitig und schafft so eine Nähe zu den wahrgenommenen naturalen Entitäten. Obwohl Daphnis in seiner warmen Hütte sitzt, erfährt er die äußeren Natureindrücke in einer besonderen Intensität des inneren Erlebens. Dabei transformiert Daphnis die Natureindrücke, die er aus der warmen Hütte und der Distanz durch das Fenster wahrnehmen kann. Der Monolog von Daphnis stellt einen Erlebnisbericht seines Natureindrucks dar, den er durch den Blick »durch das enge Fenster« erfährt.313 Dieses Fenster symbolisiert die Empfindung, die als eine Verbindung zwischen dem Inneren des Subjekts und einer außerhalb des Subjekts befindlichen Erfahrungswelt erscheint. Die dargestellte Spannbreite der Natureindrücke durch dieses als »eng« beschriebene Fenster verweist auf die Subjektivität des Erlebens durch die Empfindung.314 Diese gelangen durch die Empfindung in das Innere und werden dort zu Bewusstseinsinhalten. Das Fenster als Sinnbild für die Empfindung ermöglicht ein intensives Erleben des Inneren. »[D]ie Gegend« ist zwar »öde«, aber die wenigen angenehmen Eindrücke, die die Natur bietet, wirken umso stärker im Inneren.315 Daphnis versinkt in einer Kontemplation über sein eigenes Inne308 309 310 311 312 313 314 315

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

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res. Dieses Versinken im eigenen Inneren wird durch das Sitzen in der warmen Hütte visualisiert. Nur »durch das enge Fenster« wird die äußere Welt, die als Gesamtheit aller Erscheinungen verstanden wird, die nicht im Bewusstsein verankert sind, vom Ich erfasst.316 Daphnis wird im Inneren belebt, dies verdeutlicht »die grüne Saat«, bei der schon »die zarten Spizen aus dem Schnee« hervorstechen.317 Auch wenn die Idylle vorwiegend den Winter thematisiert, so deutet sich hier doch schon der Frühling an, indem die Natur unter dem Schnee neu aufkeimt. Diese Belebung regt sich im Inneren von Daphnis und äußert sich als liebevolle Hinwendung zu Phillis: Dort wo der Rauch aus den Bäumen in die Luft empor wallt, dort wohnet meine Phillis; Vielleicht sizest du izt beym wärmenden Feuer, das schöne Gesicht auf der unterstützenden Hand, und denkest an mich, und wünschest den Frühling […].318 Die Evokation innerer Regungen durch die Natureindrücke führt zu einer inneren Vitalisierung, die zu Liebesempfindungen führt. Diese Liebesempfindung führt am Ende der Idylle zur innerlichen Überwindung der äußeren Umstände. Daphnis befindet sich im Schutzraum der Hütte, die ihm Wärme und Geborgenheit gibt. Doch am Ende fasst er den Entschluss, dass die äußeren Umstände ihn nicht davon abhalten werden, seine Gefühle auszudrücken. Die äußeren Umstände des Winters verlieren im Angesicht der inneren Regungen ihre Bedeutung und werden überwunden: O! sey immer unfreundlich Winter; meine Flöte soll doch nicht bestaubt in der Hütte hangen, ich will dannoch von meiner Phillis ein frohes Lied singen; zwar hast du alles entlaubt, zwar hast du die Blumen von den Wiesen genommen, aber du solt [sic!] es nicht hindern, daß ich nicht einen Kranz flechte; Epheu und das schlanke Ewig-Grün mit den blauen Blumen will ich durch einander flechten, und diese Meise, die ich gestern fieng, soll in ihrer Hütte singen; ja ich will dich ihr heute bringen und den Kranz, sing ihr dann dein frohes Lied, sie wird freundlich lächelnd dich anreden, und in ihrer kleinen Hand die Speise dir reichen. O wie wird sie dich pflegen, weil du von mir kömmst!319 Der »Kranz«, den Daphnis für Phillis binden möchte, besteht aus Grünpflanzen, die auch im Winter bestehen: »Epheu und das schlanke Ewig-Grün mit den blauen Blumen«. Diese Pflanzen haben einen Symbolcharakter. Efeu symbolisiert Treue, Beständigkeit und eine zuverlässige Liebe.320 Dieser Symbolcharakter des Efeus basiert auf den biologischen Beobachtungen, dass Efeu einen Partner zum Wachsen benötigt und in allen Jahreszeiten grün ist. Efeu strahlt symbolisch Beständigkeit und Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen aus, solange ein Partner zum Wachsen vorhanden ist. Bei dem »schlan316 317 318 319 320

Vgl. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 25. Vgl. zur Symbolik von Efeu: Ingo Hetzel/Armin Jagel: Hedera helix – Gewöhnlicher Efeu (Araliaceae). Arzneipflanze des Jahres 2010. In: Jahrbuch des Bochumer Botanischen Vereins. Band 2. Bochum 2011, S. 206–214, hier S. 211f. Online verfügbar: https://www.botanik-bochum.de/jahrbuc h/Pflanzenportraet_Hedera_helix.pdf (Letzter Zugriff am 20.02.2022).

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ke[n] Ewig-Grün mit den blauen Blumen« wird es sich um Bachbungen handeln, die in der Idylle Als ich Daphnen auf dem Spaziergang erwartete. explizit genannt und thematisiert werden.321 Auch hier wird das jahreszeitunabhängige Grün betont. Die blauen Blumen formieren als Elemente einer Szenenbeschreibung einen Farbkontrast zum Weiß des Schnees, dem Grün der Pflanzen und dem Blau der Blüten. Die Farbe Blau impliziert in dieser Idylle Sehnsucht. Daphnis sehnt sich nach dem Frühling und seiner Geliebten Phillis. Aus diesem Grund findet die Thematisierung der »blauen Blumen« auch in der Schilderung des Vorhabens statt, das den Winter überwinden soll und ihn zu seiner Geliebten führt.322 Diese Sehnsucht von Daphnis ist eine Konsequenz, der in ihm geweckten inneren Regungen. Die Pflanzensymbolik der Beständigkeit, Treue, Liebe und Sehnsucht verbinden sich zu einem besonderen Ausdruck innerlicher Verbundenheit. Diese Verbundenheit findet auch in der Gewissheit von Daphnis Ausdruck, dass sich Phillis begeistert um eine kleine Meise kümmern wird, die er ihr schenken möchte. Daphnis ist sich sicher, dass sie »dich pflegen [wird], weil du von mir kömmst!«323 Der Kranz und die Meise erscheinen als verkörperte Vergewisserungen dieser Liebe, bei der sich Daphnis gewiss ist, dass es sich um eine gegenseitige sowie erfüllte Liebe handelt. Dabei fällt bei dieser Idylle auf, dass sie ausschließlich innere Geschehen darstellt. Während der Idylle verlässt Daphnis seine Hütte nicht, sondern die Szene schildert Daphnis, wie er aus dem Fenster blickt. Aus diesem Blick entstehen innere Regungen, die in der Vitalisierung der Liebe zu Phillis kulminiert und ihn dazu bringt, ein Vorhaben zu planen, wie er den Winter und das Getrenntsein von Phillis überwindet. Es wird im Inneren eine Sehnsucht nach Überwindung des Winters geschürt. Die Idylle schildert die Möglichkeit der Erfüllung dieser Sehnsucht. Sehnsucht wird als starkes Aufbegehren im Inneren verstanden. Die Idylle Daphnis zeigt, dass dieses Innere der Fokus der empfindsamen Idylle ist. Dabei ist bei der Idylle Daphnis besonders, dass die Affektation des Inneren durch die Empfindung ohne konkrete Handlungskonsequenz bleibt, da Daphnis nur ein Vorhaben plant. Die Idylle Daphnis kristallisiert heraus, dass Affektationen des Inneren durch die Empfindung in einem Selbstgefühl verharren können. Selbstgefühl meint hier die Bewusstwerdung der eigenen Zustandsform des Inneren. Daphnis ist allein in seiner Hütte und wird durch die Natureindrücke, die ihm der Blick aus dem Fenster ermöglicht, seiner Sehnsucht bewusst und strebt gedanklich an, diese zu erfüllen. Aus diesen Gründen wird deutlich, dass die Idylle Daphnis Dynamiken innerer Zustandsformen thematisiert. Die Etablierung des Inneren des Menschen und die Frage und Suche nach Verwirklichungsmöglichkeiten ist das Zentrum der deutschsprachigen literarischen Idyllik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dies umfasst die in der Forschung oft differenziert betrachtete Idyllik, die ihren Fokus auf die tatsächliche Landbevölkerung des 18. Jahrhunderts legt. Johann Heinrich Voß’ Die Leibeigenschaft wendet sich der zeitgenössischen Landbevölkerung zu. Die Idyllensammlung Die Leibeigenschaft ist im Jahr 1775 im Lauenburger Musenalmanach für das Jahr 1776 erschienen und enthält zwei als Idyllen betitelte Schriften. Der Titel der ersten Idylle lautet Die Pferdeknechte und stellt mit der Leibeigenschaft einen Daseinszustand 321 Vgl. GKA, S. 63. 322 Vgl. Ebd., S. 24. 323 Ebd.

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des Menschen dar, der keine Entfaltung einer innerlichen Sphäre zulässt.324 Der Pferdeknecht Michel hat seinem Herrn alles Ersparte seiner Familie gezahlt, um sich freizukaufen und Lenore heiraten zu dürfen.325 Der Herr erlaubt die Hochzeit, lehnt aber die Freilassung Michels aus dem Frondienst ab.326 Die Bewilligung der Hochzeit hat für Michel jedoch keinen Wert, solange er sich in dem Daseinszustand der Leibeigenschaft befindet, die ihn als Eigentum des Herrn entmenscht.327 Die Ehe mit Lenore ist für Michel erst dann zu verwirklichen, wenn er aus der Leibeigenschaft befreit ist, denn sie soll »ein freyes glückliches Eheweib [und] bald die glückliche Mutter von freyen Söhnen und Töchtern« sein.328 Der Zustand der Leibeigenschaft negiert jedoch die Etablierung von Michels Innerem und seines äußeren Status. Als Leibeigener ist er für den Herrn selbst nur ein Gut seines Eigentums und damit etwas Äußerliches. Dies spricht Michel eine Sphäre seines Daseins ab, in der er sich unabhängig von seiner sozialen und feudal hierarchisierten Position entfalten und bestimmen kann. Als Leibeigener ist Michel entmenscht, weil ihm ein Bereich seines Daseins genommen ist und er deshalb kein ›ganzer Mensch‹ mehr sein kann. Diese Idylle ist daher als Anti-Idylle zu verstehen.329 Diese Darstellung eines defizitären Daseinszustands des Menschen verweist zugleich auf das Gegenbild. Die Anti-Idylle Die Pferdeknechte entwirft in ihrem deutlichen Verweis darauf, was an dem bestehenden Zustand Michels verändert werden muss, ein Bild von Glück. Dieses Bild von Glück stellt die zweite Idylle mit dem Titel Der Ährenkranz dar. Die Figur Henning ist von der Leibeigenschaft befreit und singt aus diesem Grund ein panegyrisches Lied: Wir ackern tief, und dröschen aus, Und bessern Feld und Wies’ und Haus, Kein Schweiß ist uns zu theur! Kein harter Vogt steht hinter uns! Ein Wink vom lieben Herrn; wir thun’s! Und liefen durch das Feuer!330 324 Vgl. für die folgenden Überlegungen auch: Felix Knode: Freiheit als Kern der Idylle. Daseinszustände im Vergleich in Johann Heinrich Voß’ Die Leibeigenschaft. In: Werner Nell/Marc Weiland (Hg.): Gutes Leben auf dem Land? Imagination, Projektion, Planung, Gestaltung. Bielefeld 2020, S. 255–269. 325 Vgl. Johann Heinrich Voß: Die Leibeigenschaft. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Adrian Hummel. Göttingen 1996, S. 7–16, hier S. 8. 326 Vgl. Ebd. 327 Vgl. Ebd., hier S. 8f. 328 Vgl. Ebd., hier S. 9. 329 Der Begriff der Anti-Idylle wird mit Nina Birkner wie folgt definiert: »Als Anti-Idyllen werden […] solche Texte bezeichnet, die im Paratext als ›Idylle‹ bezeichnet werden oder durch den Rekurs auf substantielle Topoi einen deutlichen Bezug zur Gattungstradition besitzen, in denen aber keine sozialutopische Gegenwelt, sondern Missstände geschildert werden. In solchen Texten wird die literarische Tradition bewusst negiert […].« Vgl. Nina Birkner: Herr und Knecht in der (Anti-)Idyllik von Johann Heinrich Voß und Fritz Reuter. In: Dies./York-Gothart Mix (Hg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos. Berlin 2015, S. 223–241, hier S. 223. 330 Johann Heinrich Voß: Die Leibeigenschaft. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Adrian Hummel. Göttingen 1996, S. 7–16, hier S. 15.

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Das Lied Hennings zeigt deutlich, dass mit der Befreiung aus der Leibeigenschaft nicht die Verbesserung der Arbeitsbedingungen anvisiert wird, sondern die Etablierung einer Subjektsphäre, in der sich der Mensch abseits einer äußeren Sphäre entfalten kann. Diese Entfaltung liegt bei dieser Idylle in der Ehe zwischen Henning und Sabine. Bei dieser Idyllensammlung von Voß ist die Etablierung des Inneren als Subjektbereich des Menschen die zu erkämpfende ›Freiheit‹. Dieser Subjektbereich bestimmt den Menschen abseits seiner sozial gesellschaftlichen Position und entdeckt das Innere des Menschen als Voraussetzung des Menschseins im Kontext einer Anthropologie des ›ganzen Menschen‹.331 Dies wird im Kontrast der Figuren von Michel als Leibeigenen und Henning als freien Landarbeiter deutlich. Henning erscheint trotz harter zu verrichtender Arbeit als Mensch, weil er die Möglichkeit einer Selbstentfaltung im Bezug zu seinem Inneren hat. Michel hat diese Selbstentfaltungsmöglichkeit nicht, denn der Zustand der Leibeigenschaft veräußerlicht ihn. Michel erscheint daher entmenscht. Seine Rachephantasien am Herrn und Fluchtimaginationen, die er dem Pferdeknecht Hans mitteilt, bezeugen ein Brodeln im Inneren Michels.332 Dies zeigt, dass die Innerlichkeit des Menschen nicht zerstört, sondern lediglich unterdrückt werden kann. Die Blockierung einer innerlichen Entfaltung des Menschen wird als ein artifizieller Zustand ausgestellt, der den Menschen verstellt. Das Innere ist die Eigentümlichkeit jedes einzelnen Menschen. Diese kann zwar unterdrückt werden, doch entfremdet dies den Menschen von sich selbst. In den betrachteten Idyllen von Gessner und Voß wird deutlich, dass die Gattung der Idylle in der deutschsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Anthropologie des ganzen Menschen entwirft.

2.6 Das Empfindsam- Idyllische als Ausdrucksform des Inneren Aus den bisher thematisierten Aspekten der empfindsamen Idyllen Gessners von 1756 lassen sich Merkmale ableiten, die zur Spezifizierung des semantisch ungenauen Idyllischen dienen. Das im Kontext der Empfindsamkeit näher definierte Idyllische wird als ein gattungsübergreifender Merkmalskomplex verstanden, der sich auch in dramatischen und narrativen Texten zeigt. Hier interessiert mit Blick auf die Erzählwerke Jacobis das Empfindsam-Idyllische vor allem als narratives Ausdrucksform. Die empfindsame Idylle Gessners stellt eine Imagination des Hirtendaseins im goldenen Weltalter

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Vgl. zur Anthropologie des ›ganzen Menschen‹ im 18. Jahrhundert den umfangreichen Sammelband von Hans-Jürgen Schings: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994. 332 Dieses innerliche Brodeln führt dazu, dass Michel aufrührerische Gedanken hegt, die vor Gewalt nicht haltmachen. ›Das Böse‹ dieser Imaginationen Michels ist in dem artifiziellen Zustand der Leibeigenschaft begründet. Michel ist nicht von sich aus ›böse‹, sondern seine Lebensverhältnisse bringen ihn dazu. So steht bei diesen Idyllen von Voß die Korrespondenz von einer inneren und äußeren Natur im Vordergrund, wobei die innere Natur hier als Innerlichkeit des Subjekts und die äußere Natur als sozial gesellschaftlicher Lebensbereich des Subjekts erscheint. Bei dieser frühen Idyllensammlung von Voß ist markant, dass die Natur als naturale Umgebung in den Hintergrund rückt. Bei dieser Idyllensammlung von Voß rückt der Mensch in seiner inneren Beschaffenheit und seinen sozialen Verhältnissen in den Mittelpunkt.

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Das Lied Hennings zeigt deutlich, dass mit der Befreiung aus der Leibeigenschaft nicht die Verbesserung der Arbeitsbedingungen anvisiert wird, sondern die Etablierung einer Subjektsphäre, in der sich der Mensch abseits einer äußeren Sphäre entfalten kann. Diese Entfaltung liegt bei dieser Idylle in der Ehe zwischen Henning und Sabine. Bei dieser Idyllensammlung von Voß ist die Etablierung des Inneren als Subjektbereich des Menschen die zu erkämpfende ›Freiheit‹. Dieser Subjektbereich bestimmt den Menschen abseits seiner sozial gesellschaftlichen Position und entdeckt das Innere des Menschen als Voraussetzung des Menschseins im Kontext einer Anthropologie des ›ganzen Menschen‹.331 Dies wird im Kontrast der Figuren von Michel als Leibeigenen und Henning als freien Landarbeiter deutlich. Henning erscheint trotz harter zu verrichtender Arbeit als Mensch, weil er die Möglichkeit einer Selbstentfaltung im Bezug zu seinem Inneren hat. Michel hat diese Selbstentfaltungsmöglichkeit nicht, denn der Zustand der Leibeigenschaft veräußerlicht ihn. Michel erscheint daher entmenscht. Seine Rachephantasien am Herrn und Fluchtimaginationen, die er dem Pferdeknecht Hans mitteilt, bezeugen ein Brodeln im Inneren Michels.332 Dies zeigt, dass die Innerlichkeit des Menschen nicht zerstört, sondern lediglich unterdrückt werden kann. Die Blockierung einer innerlichen Entfaltung des Menschen wird als ein artifizieller Zustand ausgestellt, der den Menschen verstellt. Das Innere ist die Eigentümlichkeit jedes einzelnen Menschen. Diese kann zwar unterdrückt werden, doch entfremdet dies den Menschen von sich selbst. In den betrachteten Idyllen von Gessner und Voß wird deutlich, dass die Gattung der Idylle in der deutschsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Anthropologie des ganzen Menschen entwirft.

2.6 Das Empfindsam- Idyllische als Ausdrucksform des Inneren Aus den bisher thematisierten Aspekten der empfindsamen Idyllen Gessners von 1756 lassen sich Merkmale ableiten, die zur Spezifizierung des semantisch ungenauen Idyllischen dienen. Das im Kontext der Empfindsamkeit näher definierte Idyllische wird als ein gattungsübergreifender Merkmalskomplex verstanden, der sich auch in dramatischen und narrativen Texten zeigt. Hier interessiert mit Blick auf die Erzählwerke Jacobis das Empfindsam-Idyllische vor allem als narratives Ausdrucksform. Die empfindsame Idylle Gessners stellt eine Imagination des Hirtendaseins im goldenen Weltalter

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Vgl. zur Anthropologie des ›ganzen Menschen‹ im 18. Jahrhundert den umfangreichen Sammelband von Hans-Jürgen Schings: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994. 332 Dieses innerliche Brodeln führt dazu, dass Michel aufrührerische Gedanken hegt, die vor Gewalt nicht haltmachen. ›Das Böse‹ dieser Imaginationen Michels ist in dem artifiziellen Zustand der Leibeigenschaft begründet. Michel ist nicht von sich aus ›böse‹, sondern seine Lebensverhältnisse bringen ihn dazu. So steht bei diesen Idyllen von Voß die Korrespondenz von einer inneren und äußeren Natur im Vordergrund, wobei die innere Natur hier als Innerlichkeit des Subjekts und die äußere Natur als sozial gesellschaftlicher Lebensbereich des Subjekts erscheint. Bei dieser frühen Idyllensammlung von Voß ist markant, dass die Natur als naturale Umgebung in den Hintergrund rückt. Bei dieser Idyllensammlung von Voß rückt der Mensch in seiner inneren Beschaffenheit und seinen sozialen Verhältnissen in den Mittelpunkt.

Das Empfindsam- Idyllische

dar. Diese Hirten haben eine natürliche Daseinsform, die sich darin beweist, dass sie eine suffiziente Lebensart aufweisen.333 Natürlichkeit und Suffizienz fallen zusammen, denn »nur die unglückliche Entfernung von der Natur« führt zu unnötigen »Bedürfnissen« und verursacht »Sclavische[] Verhältnisse«.334 Mit dem Ausdruck Daseinsform wird eine beständige Art des Daseins beschrieben. In der empfindsamen Idylle Gessners wird eine Imagination der menschlichen Daseinsform zu der Zeit des goldenen Weltalters dargestellt. Diese Darstellung geschieht szenisch, indem die einzelnen Idyllen ein Bild dieser Daseinsform entwerfen. Diese natürliche Daseinsform und die damit verbundene suffiziente Lebensart präsentieren die Idyllen durch die szenische Darstellung blitzlichtartig. Eine entscheidende Beobachtung des Panoramabildes, das die einzelnen Idyllen als Ganzes ergeben, ist die Beständigkeit und Widerstandsfähigkeit der Hirten in ihrer Daseinsform. Den Hirten ist ihre Form des Daseins nachhaltig gegeben und selbst in dem Unglück einer unerfüllten Liebe335 oder der Jahreszeit des Winters336 weisen sie eine Resilienz in ihrer Art zu leben auf. Die Idyllen stellen einzelne Bilder einer bestimmten Figurenkonstellation an einem bestimmten Ort dar.337 Die räumlich-zuständliche Konstellation der empfindsamen Idylle Gessners ist konstant. In Abgrenzung zur Gattung der Idylle und den dort dargestellten Daseinsformen beschreibt das Idyllische Daseinszustände. Daseinszustände sind zeitlich beschränkt und weisen in ihrem räumlich-zuständlichen Gefüge Dynamiken auf. Das Idyllische übernimmt den szenischen Charakter der Idylle, aber die Szene erscheint als ein zeitlich fixierter Punkt und damit als eine Momentaufnahme, die vorüber geht. Das Empfindsam-Idyllische zeigt natürliche Daseinszustände, die als ein Moment eines suffizienten Lebens erlebt werden. Diese zeitliche Beschränkung problematisiert den empfundenen natürlichen Daseinszustand des erlebenden Ichs, da er vergänglich ist. In der Grundkonstellation verweist dies darauf, dass verschiedene Daseinszustände miteinander konkurrieren und eine suffiziente Lebensart, wenn überhaupt nur zeitlich beschränkt verwirklicht ist. Bei den empfindsamen Idyllen Gessners wird die Menschheitsgeschichte in der Vorrede An den Leser betrachtet. Das Empfindsam-Idyllische ist als narrative Ausdrucksform an eine Figur gebunden. Diese Figur erlebt ein inneres Geschehen, das sie mit der schriftlichen Darstellung einer empfindsam-idyllischen Szene selbst veranschaulicht. Das Empfindsam-Idyllische hat als narrative Ausdrucksform des Inneren die Funktion eine Unmittelbarkeit zu dem inneren Erleben der Figur zu schaffen. Mit Blick auf Jacobis Erzählwerke fällt auf, dass vor allem Figuren empfindsam-idyllische Szenen schildern, die in ihrem bisherigen Leben großen innerlichen Qualen ausgesetzt waren. Ihr Leben zeichnet sich so durch Leiden im Inneren aus. Das innere Geschehen, welches durch das Empfindsam-Idyllische versprachlicht wird, ist besonders, da es dieses Leiden durchbricht. Diese Figurenbindung empfindsam-idyllischer Szenen zeigt sich er333 334 335 336 337

Vgl. das Kapitel 2.1 dieser Studie. Vgl. GKA, S. 15. Vgl. die Idylle Lycas und Milon, denn die Liebe des Hirten Lycas bleibt unerfüllt: Ebd., S. 27–30. Vgl. die Idylle Daphnis: GKA, S. 24f. Vgl. für die Idyllen als intermediales Phänomen zwischen Text und Bild: Lothar van Laak: Gattungsfragen als medientheoretisches Problem. Salomon Geßners Kunsttheorie und Idyllenproduktion. In: Nina Birkner/York-Gothart Mix (Hg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos. Berlin 2015, S. 120–129.

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zählerisch in der Homogenisierung von erlebendem und erzählendem Ich. Das heißt, dass eine Figur eine szenische Naturerfahrung schildert, die sie zuvor selbst erlebt hat oder das Erleben und Erzählen findet gleichzeitig statt. Das Empfindsam-Idyllische ist ein Erlebnisbericht einer einzelnen Figur. Eine Figur macht eine Naturerfahrung und berichtet darüber. Diese Feststellungen lassen sich mit Begriffen der Erzähltheorie Gérard Genettes als Bildung einer zusätzlichen Erzählebene beschreiben. Eine empfindsamidyllische Szene muss auf einer intradiegetischen Ebene verortet werden. Innerhalb der zusätzlichen Erzählebene liegt eine autodiegetische Erzählperspektive vor, da die Figur über sich selbst berichtet. Die empfindsam-idyllischen Szenen zeigen den Augenblick eines Selbstgefühls, das in Anlehnung an Manfred Frank »als Wahrnehmung des eigenen inneren Zustands« verstanden wird.338 Dieses Selbstgefühl versuchen die Figuren möglichst unmittelbar mit der Schrift dem adressierten Du des Briefes mitzuteilen. Das Empfindsam-Idyllische ist in diesem narrativen Kontext eine Ausdrucksform des Inneren, indem ein Naturerleben versprachlicht wird, das innere Geschehen veranschaulicht. Das Empfindsam-Idyllische ist ein Instrument eines Unmittelbarkeitsphantasmas mit einem veranschaulichenden Erzählen über das eigene Innere eine unmittelbare innere Nähe zum adressierten Du zu erzeugen. Bei empfindsam-idyllischen Szenen steht allein das subjektive Fühlen einer einzelnen Figur im Zentrum. Dieses subjektiv Erlebte kann mit den subjektiven Wahrnehmungen anderer Figuren kontrastieren. In der empfindsamen Idylle Gessners drücken die Hirten ihre Empfindungen unverstellt aus und handeln intuitiv nach ihren inneren Regungen.339 Das EmpfindsamIdyllische ist in Anlehnung daran eine Artikulation des Selbstgefühls einer Figur. Empfindsam-idyllische Szenen sind jedoch nur unverstellt, wenn die Figur eine ungeschönte und unverfälschte Sicht auf sich selbst hat. Wenn dies nicht gegeben ist, dann offenbaren sich die empfindsam-idyllischen Szenen als Täuschungen des erlebenden und berichtenden Ichs. Diese Figuren haben bei den besten zwischenmenschlichen Absichten dennoch eine destruktive Wirkung auf ihre soziale Umgebung. Mit dem Empfindsam-Idyllischen verkompliziert sich der Blick auf das Innere des Menschen, denn die Beschaffenheit und die Zustandsformen des eigenen Inneren erschließen sich den Figuren nicht direkt. Mit Blick auf die Erzählwerke Jacobis zentralisieren empfindsam-idyllische Szenen die erkenntnistheoretische Frage nach Zugängen und Erfassungsmöglichkeiten zum eigenen Inneren. Die empfindsame Idylle und das Empfindsam-Idyllische sind Formen literarischer Anthropologie. Die empfindsame Idylle Gessners ist Chiffre für Innerlichkeit. Die Sprechinstanz der Vorrede An den Leser entwirft die folgenden Idyllen als Ausdruck des eigenen Inneren und inszeniert sich als Verfasser. Innerhalb der Idyllen sind die Gesprächsbeiträge, Gesänge und Handlungen der Hirten ebenfalls Ausdrucksformen ihres Inneren. Die empfindsame Idyllik fokussiert und konturiert das Innere des Menschen. Als narrative Ausdrucksform des Inneren erfüllt das Empfindsam-Idyllische verschiedene Funktionen. Dies wird in den verschiedenen Fassungen der Erzählwerke Jacobis besonders evident.

338 Vgl. Manfred Frank: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung. Frankfurt a.M. 2002, S. 28. 339 Vgl. die Idylle Amyntas: GKA, S. 31.

3 Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Das Empfindsam-Idyllische erfüllt als narrative Ausdrucksform von Innerlichkeit in den Erzählwerken Jacobis verschiedene Bedeutungen. Vor allem zwischen den Frühund den Spätfassungen ist ein Funktionswandel empfindsam-idyllischer Szenen zu verzeichnen. Besonders vor dem Hintergrund von Jacobis religionsphilosophischer Position haben diese idyllischen Szenen in der Forschung die Frage nach der Vereinbarkeit von Philosophie und Literatur bei Jacobi aufgeworfen.1 Die Sakralisierung der Natur in den Erzählwerken wurde als Nachahmung von Goethe und Rousseau ausgelegt. Dagegen ist bisher offengeblieben, dass diese Szenen in den Früh-und Spätfassungen unterschiedliche Funktionalisierungen erfüllen. Für die Betrachtung des EmpfindsamIdyllischen bei Jacobi ist zunächst zu klären, welches Verhältnis von Philosophie und Literatur bei Jacobi vorliegt. Jacobis Schrift Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn ist in der ersten Fassung 1785 erschienen und wurde zeitgenössisch stark rezipiert. Vier Jahre später erscheint eine zweite, stark erweiterte Fassung dieses Werks. Jacobi läutete bereits, beginnend mit der ersten Fassung, eine Spinozarenaissance im deutschsprachigen Raum ein,2 wobei das Werk in entscheidender Weise keine Fürsprache zu der Philosophie Spinozas darstellt, sondern Auswege aus ihrer rationalistischen Erkenntnislogik sucht.3 Jacobi legt in dieser Schrift seine er-

1 2

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Vgl. dafür das Kapitel 1.4 dieser Untersuchung. Vgl. die folgende Auswahl an Forschungsbeiträgen: Jόzef Piόrczyński: Der Pantheismusstreit. Spinozas Weg zur deutschen Philosophie und Kultur. Würzburg 2019, besonders S. 21–81; Michael Murrmann-Kahl: Der Pantheismusstreit. In: Georg Essen/Christian Danz (Hg.): Philosophischtheologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit. Darmstadt 2012, S. 93–134, besonders S. 99–104; Kurt Christ: Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits. Würzburg 1988, besonders S. 151–179; Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Band 1: Die Spinozarenaissance. Frankfurt a.M. 1974, S. 136225. So äußert die als »Ich« bezeichnete Instanz in einem Gespräch mit Lessing in Wolfenbüttel: »Sie überraschen mich, und ich mag wohl roth und bleich geworden seyn, denn ich fühlte meine Verwirrung. Schrecken war es nicht. Freylich hatte ich nichts weniger vermuthet, als an Ihnen einen Spinozisten oder Pantheisten zu finden. Und sie sagtens mir so platt heraus. Ich war großen Theils

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kenntnistheoretische Position dar, die besagt, dass eine rein rationalistisch geprägte Philosophie, wie er sie bei Spinoza verwirklicht sieht, sich vom ganzen menschlichen Dasein distanziere. Die Lehre Spinozas betrachtet er als konsequent rationalistische Philosophie, die als komplexes gedankliches Theoriekonstrukt innerhalb ihrer Erkenntnislogik zwar unwiderleglich, aber im Bezug zur tatsächlich erfahrbaren Wirklichkeit nicht unwidersprechlich sei.4 Aus diesem Grund rückt bei Jacobi die Philosophie Spinozas in ein kritisches Licht. Sie kann zwar auch für Jacobi aus einer rationalistischen Perspektive nur bewundert werden, aber letztendlich zeige sie doch, dass eine solche Philosophie, die danach strebe, alles umfassend zu erklären, sich unweigerlich in ihrem Erklärungsstreben vom ganzheitlich betrachteten Dasein des Menschen abwende. Diese Trennung vom wirklichen Dasein des Menschen diagnostiziert Jacobi laut der Analyse Sandkaulens mithilfe der beiden distinkten Konzepte von Grund und Ursache.5 Der erkenntnistheoretische Begriff des Grundes eröffnet in diesem Kontext einen rationalen, kausal mechanischen und unzeitlichen Begründungszusammenhang, der eine Grund-Folge-Logik beschreibt. Der erkenntnistheoretische Begriff der Ursache führt dagegen zu einem erfahrbaren, zeitlichen und rational nicht zu fassenden Handlungszusammenhang, der ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis schildert. Der erkenntnistheoretische Unterschied zwischen einem Grund und einer Ursache ist die Zeit.6 Jacobi sieht in der Philosophie Spinozas diese Begriffe vermischt und zeigt im Bezug zu dieser Vermischung die rationalistisch logischen Konsequenzen der Philosophie Spinozas auf. In einem zweiten Schritt stellt Jacobi aufbauend auf der klaren Konturierung seiner Deutung der Philosophie Spinozas seine eigene Position vor, die nur mithilfe eines Sprungs zu erreichen sei, dem er den Namen salto mortale gibt.7 Mit dem Sprung wird die erfahr-

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gekommen, um von Ihnen Hülfe gegen den Spinoza zu erhalten.« Es ist in der bestehenden Forschung umstritten, ob die Wiedergabe Jacobis des Gesprächs mit Lessing über die Philosophie Spinozas realhistorisch fundiert ist. Belegt ist, dass das Treffen zwischen Jacobi und Lessing im Juli 1780 in Wolfenbüttel stattgefunden hat, ob sich Lessing Jacobi gegenüber tatsächlich so entschieden zum Spinozismus bekannte, bleibt dahingestellt. Diese Frage rückt für den Untersuchungsschwerpunkt in den Hintergrund, denn diese Schrift Jacobis wird vor allem als Erkenntniskritik verstanden, die in Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas eine eigene philosophische Position verdeutlicht. Vgl. für die Erstfassung der Spinozabriefe JWA 1, 1, S. 1–146, hier S. 17. Vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 30–33. Vgl. Ebd., S. 171–228. Vgl. zum Themenkomplex der Zeit an dem Jacobi jede rationalistische Betrachtungsweise von Metaphysik scheitern sieht: Ebd., besonders S. 133–169. Vgl. konträr dazu Bartuschat, der bei Spinoza eine »ewigkeitslose[] Zeit [als] Hilfsmittel unseres Vorstellungsvermögens« konzipiert sieht, das gerade für die Vermittlung von Ewigem und Endlichem eine erhebliche Funktion einnimmt: Wolfgang Bartuschat: Spinozas Philosophie. Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik. Hamburg 2017, S. 104–129, hier S. 112. Jacobi betrachtet die Philosophie Spinozas als eine äußerst konsequente, rationalistische Philosophie. Aus diesem Grund definiert er seinen »Salto mortale« als »Kopf-unter« und beschreibt sich damit als »Antipode[n] von Spinoza«. An dieser Stelle sei sensibilisierend angemerkt, dass Bartuschat aufzeigt, dass Spinoza an signifikanten Stellen auf empirische Fakten zurückgreife, die als Ausgangspunkt seiner Überlegungen und Deduktionen gesetzt würden und daher die Rationalismusbetonung, die für Jacobi wie selbstverständlich mit der Philosophie Spinozas einhergeht, kritisch zu hinterfragen ist. Vgl. das Gespräch mit Lessing: JWA 1, 1, S. 16–30, 20ff und S. 30. Vgl. die

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

bare Daseinspraxis des Menschen gegen die laut Jacobi von Spinoza angenommene rationalistische Prämisse gewendet, dass alles erklärbar sei.8 Jacobi eröffnet mit seiner Spinozakritik eine Dichotomie von Philosophie und Unphilosophie, von Spinoza und Anti-Spinoza, die im Bezug zu den Erzählwerken als Unterscheidung des Erklärlichen und des Unerklärlichen Eingang in die Vorreden der Spätfassungen beider Erzählwerke findet. Doch auch für die Frühfassungen ist dieses dichotomische Denkmodell bereits von Bedeutung, denn es zieht sich ein bestimmter thematischer Passus intertextuell durch die Schriften Jacobis. Der Ausgangspunkt ist der Briefwechsel Jacobis mit Johann Georg Hamann. In der brieflichen Korrespondenz mit Hamann gibt Jacobi einen erläuternden Rückblick auf die Frühfassungen seiner Erzählwerke. Die Thematisierung der Erzählwerke ist zuvor von Hamann initialisiert worden. Dieser schreibt in einem Brief vom 12. August 1782 an Jacobi: Ich habe den ersten Theil von Woldemar zu Rath gezogen um seinen Charakter zu ergänzen. Es ist mir aber eben so schwer geworden, ihn in seine Bestandtheile aufzulösen, als Ihnen vermuthlich, sein Ganzes zusammen zu setzen. Das Ideal seiner Selbstständigkeit ist für mein geschwächtes Nervengebäude vielleicht zu überlegen, das in einer glücklichen Abhängigkeit mehr Sicherheit und Ruhe findt. Fast scheint mir dieser Lieblingsheld zu derjenigen Claße von Wesen zu gehören, welche eine unbeschränkte Unabhängigkeit der rohen Natur gern mit den Ergötzlichkeiten des geselligen Lebens verbinden möchte […]. Eine Verbindung dieser äußersten Ende[n] komt mir freylich als die einzige Auflösung für das Problem menschlicher Glückseeligkeit vor. Ist sie aber eine Mauer? oder ist sie eine Thür? – Ist sie ein Stein? Oder eine Tinctur? ein trocknes oder ein feuchtes Menstruum?9 Hamann eröffnet Jacobi gegenüber seine Lesart der frühen Fassung des Woldemar als Thematisierung des Oszillierens zwischen »unbeschränkte[r] Unabhängigkeit« und »den Ergötzlichkeiten des geselligen Lebens«. Für Hamann steht das Verhältnis von Ich-Konstitution und Sozialität im Vordergrund. Das sich formierende Ich muss eine Dependenz mit einem Du eingehen, die Hamann als »glückliche[] Abhängigkeit« beschreibt. Er sieht in »eine[r] Verbindung dieser äußersten Ende[n]« den Weg zur »menschliche[n] Glückseligkeit«. Die von ihm an Jacobi gestellte Frage konzentriert sich auf die mögliche Bildung einer Synthese von Ich-Entfaltung und Sozialität.10 Hamann trifft mit dieser Fragestel-

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Beiträge des Themenkomplexes Ontologie und Subjektivität in: Wolfgang Bartuschat: Spinozas Philosophie. Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik. Hamburg 2017. Bemerkenswert ist, dass Jacobi mit dieser Lesart Spinozas als eine alles erklärende und Erkenntnisgrenzen enthobener Philosophie mit dem gegenwärtigen Forschungsstand in diesem einzelnen Aspekt übereinstimmt. Bartuschat sieht in der Philosophie Spinozas die Verfolgung »ein[es] Grundprinzip[s], das zweifach gegliedert ist und sich unter die beiden Sätze bringen läßt: »Alles ist intelligibel« und »Das gelingende menschliche Leben ist ein solches, das dieser Intelligibilität verpflichtet ist«. Wolfgang Bartuschat: Einleitung. In: Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Neu übersetzt, herausgegeben, mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. Lateinisch – Deutsch. Hamburg 1999, S. VII-XXIV, hier S. VIII. JBW I, 3, S. 46f. Nach Nikolaus Wegmann ist die Frage nach der Vereinbarkeit von Ich-Etablierung und Sozialität ein ausführlich diskutiertes Thema empfindsamer Literatur. Vgl. Nikolaus Wegmann: Diskurse der

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lung bezüglich der frühen Woldemar-Fassung von 1779 sowie den bereits erschienenen Fortsetzungen von 177911 und 178112 eine Stelle, die bisher beim Woldemar bis auf wenige Andeutungen im Wesentlichen offengeblieben ist, da am Ende der handlungstragende Konflikt nicht detailliert gelöst wird. Damit bleibt die Frage, wie diese Verbindung der »äußersten Ende[n]« geschehen kann, offen. Es werden zehn Monate vergehen, bis Jacobi am 16. Juni 1783 einen Antwortbrief an Hamann schreibt. In diesem hebt Jacobi hervor, dass der thematische Schwerpunkt der Erzählwerke nicht sei, Antworten auf Fragen des menschlichen Daseins zu geben, sondern stattdessen die anschauliche Darlegung des ganzen Daseins des Menschen im Vordergrund stehe: Eh ich hierauf spezieller antworte, muß ich überhaupt erinnern, oder vielmehr eröffnen, daß, sowohl bey’m Allwill, als bey dem Woldemar u[nd] dem Kunstgarten, mein Hauptgegenstand gewesen ist, Beyträge zur Naturgeschichte des Menschen zu liefern. Mir deucht unsre Philosophie ist auf einem schlimmen Abwege, da sie über dem Erklären der Dinge, die Dinge selbst zurück läßt; wodurch die Wißenschaften freylich sehr deutlich, u[nd] die Köpfe sehr hell, aber auch in demselben Maße leer u[nd] seicht werden. Nach meinem Urtheil ist das größeste Verdienst des Forschers: Daseyn zu enthüllen. Erklärung ist ihm Mittel, Weg zum Ziele, nächster niemals letzter Zweck. Sein letzter Zweck ist, was sich nicht erklären läßt; das Einfache, das Unauflösliche.13 Jacobi formuliert in dieser Briefpassage eine Annahme und eine Programmatik, die immer wieder in seinen Texten auftreten werden. Seine Annahme ist, dass das ganze menschliche Dasein nicht vollkommen erklärbar ist und es Unerklärlichkeiten gibt. Seine Programmatik ist, das Vorhandensein dieser Unerklärlichkeiten des menschlichen Daseins darstellerisch zu offenbaren, um so die Annahme durch Anschauung zu vermitteln. Diese Unerklärlichkeiten darstellerisch herauszustellen, bedeutet »Daseyn zu enthüllen«. Jacobi umreißt diese beiden Erkenntnisbereiche des Erklärlichen und des Unerklärlichen bereits im Brief an Hamann näher. Die Darlegung von dem, »was im Menschen der Geist vom Fleische unabhängiges hat«, zeigt an, dass die Sphäre des Geistigen auf der Seite des Unerklärlichen steht, während sich die Sphäre des Körperlichen

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Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 105–116. Es handelt sich hierbei um die im April 1779 im Deutschen Museum erschienene Schrift Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit. Jacobi scheint diese Schrift zwar als Fortsetzung der Frühfassung des Woldemar intendiert zu haben, schreibt dann aber an den Herausgeber des Deutschen Museum Heinrich Christian Boie in dem Brief der Manuskriptübersendung am 21.02.1779: »Einige meiner Freunde haben mir zugeredet, ich mög`t ein eigenes Ding aus dieser Episode machen; und sie führen Gründe an, die sich hören lassen. […] Eine Anmerkung wird nötig sein, die ich Ihnen in einer Note beizufügen überlasse, nemlich: daß es nicht unumgänglich notwendig sei den ersten Band von Woldemar gelesen zu haben […].« Boie stellt diesen Brief Jacobis der Schrift im Deutschen Museum als Vorrede voran. JBW I, 2, S. 90f, hier S. 90; vgl. auch JWA 7, 1, S. 118. Jacobi veröffentlichte 1781 ein Sammelwerk mit dem Titel Vermischte Schriften. Darin ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung der bereits 1779 erschienenen Schrift Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit enthalten, die nun den Titel Der Kunstgarten. Ein philosophisches Gespräch trägt. JBW I, 3, S. 161–164, hier S. 162f.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

auf der Seite des Erklärlichen befindet.14 Gleichzeitig tritt ein entscheidender Punkt des Geistigen bei Jacobi zutage. Nach seinem Verständnis ist das Geistige des menschlichen Daseins nicht gleichzusetzen mit einer instrumentellen Vernunft, die in der Philosophie seiner Zeit inzwischen so sehr akzentuiert werde, dass »unsre Philosophie […] über dem Erklären der Dinge, die Dinge selbst zurück läßt«.15 Dagegen ist es für Jacobi »das größeste Verdienst des Forschers[] Daseyn zu enthüllen«, weil mit einer Darstellung von Menschheit im Sinne einer »Naturgeschichte des Menschen« das zur Anschauung gebracht werden könne, »was sich nicht erklären läßt; das Einfache, das Unauflösliche«.16 Etwas durch Darstellung zur Anschauung zu bringen, heißt das existenzielle Dasein von dem Dargestellten zu erfassen, ohne es erklären zu wollen. So heißt es in Jacobis Spinoza-Schrift: Wer nicht erklären will was unbegreiflich ist, sondern nur die Grenze wissen wo es anfängt, und nur erkennen, daß es da ist: von dem glaube ich, daß er den mehresten Raum für ächte menschliche Wahrheit in sich ausgewinnt.17 Das Geistige im Dasein des Menschen zu enthüllen, verfolgt als darstellerisches Ziel, die Grenze zwischen dem Erklärlichen und dem Unerklärlichen sichtbar werden zu lassen. Jacobi bettet diese Form des literarischen Schaffens in einen wissenschaftlichen Zusammenhang ein, denn zu wissen, dass die Komplexität der Wirklichkeit des menschlichen Daseins in ihrer Ganzheit nicht zu erkennen ist, sei wiederum eine eigene Erkenntnis für sich.18 An dieser Stelle wird Jacobis eigene Wissenschaftsposition initialisiert, die er später als die Etablierung eines »wissende[n] Nichtwissen[s]« beschreiben wird.19 Mit diesem Ansatz stellt er sich gegen die von ihm postulierte Richtung der zeitgenössischen Wissenschaft, die danach strebe, alles zu erklären. Diese Konstruktion einer wissenschaftlichen Oppositionsbildung wird bereits in Jacobis erster Fassung der Spinozabriefe zwei Jahre nach dem Brief an Hamann deutlich herausgestellt: Nach meinem Urtheil ist das größeste Verdienst des Forschers, Daseyn zu enthüllen, und zu offenbaren…Erklärung ist ihm Mittel, Weg zum Ziel, nächster – niemals letzter Zweck. Sein letzter Zweck ist, was sich nicht erklären läßt: das Unauflösliche, Unmittelbare, Einfache. … Ungemessene Erklärungssucht läßt uns so hitzig das Gemeinschaftliche suchen, daß wir darüber des Verschiedenen nicht achten; wir wollen immer nur verknüpfen, da wir doch oft mit ungleich größerem Vortheil trennten…Es entstehet auch, indem wir nur, was erklärlich an den Dingen ist, zusammen stellen und zusammen hängen, ein gewisser Schein in der Seele, der sie mehr verblendet als erleuchtet.20

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Vgl. Ebd., S. 163. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. JWA 1 ,1, S. 29. Vgl. JBW I, 3, S. 161–164, hier S. 162f. Vgl. den Vorbericht zu der dritten Fassung der Spinozabriefe Jacobis aus dem Jahr 1819: JWA 1, 1, S. 333–353, hier S. 349. JWA 1, 1, S. 29f.

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Auffällig ist, dass der Passus um die Phrase »Daseyn zu enthüllen« aus dem Brief an Hamann nur wenig verändert in seinen Spinoza aufgenommen wurde.21 Nach Jacobi versucht die rationalistische Welterschließung, das ganze Dasein des Menschen erklärungssüchtig durch vernunftbasierte Verknüpfungen zu ergründen. Dabei folgt die instrumentelle Vernunft jedoch immer der erkenntnistheoretischen Logik des Zusammenstellens und Zusammenhängens und beschreibt daher Einsichten in abstrakte Dependenzverhältnisse. So rückt für Jacobi entscheidend die Frage in den Vordergrund, ob diese Erkenntnislogik überhaupt dazu fähig ist, das ganze menschliche Dasein zu erklären.22 Wenn angenommen wird, dass die ganze Wirklichkeit des menschlichen Daseins vollkommen mit der instrumentellen Vernunft erklärt werden kann, dann folge daraus, dass diese nur aus abstrakten Dependenzverhältnissen bestehen könne. Für Jacobi gibt es aber Phänomene und Begebenheiten in der Wirklichkeit des menschlichen Daseins, die sich dieser Erkenntnislogik entziehen. Für Jacobi ist es Forschung, diese Sphäre des menschlichen Daseins durch Darstellung zu offenbaren, um so erkenntniskritisch die Grenzen des Erklärlichen auszuloten. Jacobi nutzt die literarische Gattung des Romans im Verständnis eines Experimentierfeldes als besonderes Darstellungsmedium für die Veranschaulichung des ganzen menschlichen Daseins.23 Die Formulierung Jacobis an Hamann im Jahr 1783 ist vor dem Hintergrund der Frühfassungen seiner Erzählwerke entstanden. Der fokussierte Passus wird mit der Überarbeitung der Erzählwerke umformuliert und findet in akzentuierter Form Eingang in die Vorreden der beiden Spätfassungen. In Eduard Allwills Briefsammlung von 1792 heißt es: Ich schlage demnach so fort dem Leser vor, sich unter dem Herausgeber einen Mann vorzustellen, dem es von seiner zartesten Jugend an, und schon in seiner Kindheit ein Anliegen war, daß seine Seele nicht in seinem Blute, oder ein blosser Athem seyn möchte, der dahin fährt. […] So geschah es, daß er philosophische Absicht, Nachdenken, Beobachtung in Situationen und Augenblicke brachte, wo sie äusserst selten angetroffen werden. Was er erforscht hatte, suchte er sich selbst so einzuprägen, daß es ihm bliebe. Alle seine wichtigsten Ueberzeugungen beruhten auf unmittelbarer Anschauung; seine Beweise und Widerlegungen, auf zum Theil (wie ihn däuchte) nicht genug bemerkten, zum Theil noch nicht genug verglichenen Thatsachen. Er mußte also, wenn er seine Überzeugungen andern mittheilen wollte, darstellend zu Werke gehen. So entstand in seiner Seele der Entwurf zu einem Werke, welches mit Dichtung gleichsam nur umgeben, Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen stellen sollte.24

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Vgl. Ebd., S. 29. Vgl. für die Annahme, dies als Kernfrage der Erkenntnistheorie Jacobis zu betrachten, die folgende Forschungsauswahl: Walter Jaeschke: Eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist. Jacobis Kritik der Aufklärung. In: Ders./Birgit Sandkaulen: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004, S. 199–216. Sowie: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, besonders das Kapitel V. Entzauberung. Die Logik instrumenteller Rationalität S. 103–132. Vgl. Thomas Stäcker: Der Aufruhr der Seele. Zur Romankonzeption Friedrich Heinrich Jacobis. Hamburg 1993, S. 215–225. Vgl. auch: Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin 1995, S. 201–213. JWA 6, 1, S. 88f.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Der Ausdruck »Daseyn zu enthüllen« erscheint hier umformuliert als »Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich auf das gewissenhafteste vor Augen [zu] stellen«. Die »philosophische Absicht« ist weiterhin die ganze Wirklichkeit des menschlichen Daseins darzustellen.25 Diese Formulierungsweise benennt die eröffneten erkenntnistheoretischen Bereiche konkret. Neben dem Erklärlichen wird das Bestehen einer unerklärlichen Sphäre angenommen, die jedoch laut Jacobi in philosophischen Betrachtungen des menschlichen Daseins häufig ausgeklammert werde, da sie sich einer philosophischen Erläuterung verwehre. So heißt es in der Vorrede zum Allwill in Anlehnung an die zuvor aufgestellte Programmatik: Denn daß so viel ausgelassen wurde von den Philosophen, damit sie nur erklären können; so viel verschwiegen von den Moralisten, damit ihr allerhöchster Einfluß nicht geleugnet würde: dies eben hatte den Mann verdrossen, der nach einem Lichte, worin nur das zu sehen wäre, was nicht ist, sich wenig sehnte, und zu einer allerhöchsten Willenskraft des Menschen, ausser dem menschlichen Herzen, kein Vertrauen hatte; vielleicht aus Mangel ihrer Gabe in seinem eigenen – Kopfe.26 Die Parallele zu dem neun Jahre zuvor geschriebenen Brief an Hamann ist auch in diesem Fall bemerkenswert, denn schon dort stellte Jacobi fest, dass es ihm so vorkäme, als befinde sich die Philosophie seiner Zeit »auf einem schlimmen Abwege, da sie über dem Erklären der Dinge, die Dinge selbst zurück läßt«.27 Dieser Gedanke ist in der Vorrede radikalisiert worden, denn dort wird den Philosophen vorgeworfen, dass sie das Dasein des Menschen nur teilweise in den Blick nähmen, um ihr Anliegen des allumfassenden Erklärens durchsetzen zu können. Der Hauptvorwurf Jacobis an die Philosophie ist die Fokussetzung auf der Erklärung vor den Dingen selbst. Eine solche philosophische Herangehensweise kommt laut Jacobi in der konsequentesten Ausführung bloß zu einem System von zusammenhängenden Erklärungen, die sich gegenseitig selbst erläutern.28 Das Resultat ist eine Philosophie, die sich um sich selbst dreht und den Wirklichkeitsbezug verliert.29 Neben dieser Kritik an der methodischen Vorgehensweise der rationalistisch geprägten Philosophie gibt es eine dritte bemerkenswerte Parallele zwischen dem Brief Jacobis an Hamann vom 16. Juni 1783 und der Vorrede der Spätfassung des Allwill. In Letzterem heißt es: »Erbaulicher als die Schöpfung; moralischer als Geschichte und Erfahrung; philosophischer als der Instinkt sinnlich vernünftiger Naturen, sollte das Werk nicht sein.«30 Dieser Satz verdeutlicht das programmatische Vorhaben, mit dem folgen25 26 27 28

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Vgl. JWA 7, 1, S. 207. JWA 6, 1, S. 90. JBW I, 3, S. 162f. Eine Philosophie, die ein kreisförmig geschlossenes System von Erklärungen als Erschließung des menschlichen Daseins entwickelt, führt nach Jacobi ins ›Nichts‹. Dies postuliert er für die Philosophie Spinozas: »Spinozismus ist Atheismus« und für jede Philosophie, die den Weg der vollkommenen Erklärung des menschlichen Daseins einschlägt: »Jeder Weg der Demonstration geht in den Fatalismus aus.« Vgl. Jacobis kritische Behauptungen gegen die Philosophie Spinozas: JWA 1, 1, S. 120–125, hier S. 120 und 123. Vgl. auch: Ives Radrizzani: Vorwort. In: Friedrich Heinrich Jacobi: Brief über den Nihilismus. Stuttgart 2018, S. IX-XLII. Vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 161–167. JWA 6, 1, S. 89.

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den literarischen Werk »Menschheit wie sie ist« abzubilden und nicht »[e]rbaulicher«, »moralischer« oder »philosophischer«, wie er es den Philosophen und Moralisten vorwirft.31 Dieser Gedanke ist bereits neun Jahre zuvor mit Blick auf die Frühfassungen von Jacobi an Hamann artikuliert worden, denn er schreibt, dass »[s]ein Hauptgegenstand gewesen ist, Beyträge zur Naturgeschichte des Menschen zu liefern«.32 Eine Darstellung der Naturgeschichte des Menschen visiert an, den Menschen, so wie er ›wirklich‹ ist, darzustellen. Das ganzheitlich betrachtete Dasein des Menschen enthält »das Einfache, das Unauflösliche«33 und im Brief an Hamann betont Jacobi diesbezüglich seine Forschungsmethode des Darstellens: Hievon Ein u[nd] Andres darzustellen, ins Auge zu bringen: überhaupt, Sinn zu regen, u[nd] durch Anschauung zu überzeugen, war meine Absicht: ich wollte, was im Menschen der Geist vom Fleische unabhängiges hat, so gut ich könnte, ans Licht bringen […].34 In der ganzheitlich betrachteten Wirklichkeit des menschlichen Daseins sei »das Einfache, das Unauflösliche« existenziell vorhanden aber verborgen, daher erscheine sie dem Menschen als etwas Komplexes und Zusammengesetztes.35 Diese Komplexität wird in der späteren Ausdrucksweise mit »Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich« vorausgesetzt und gleichzeitig nähert sich die Benennung von zwei erkenntnistheoretischen Sphären deskriptiv an diese Komplexität der Wirklichkeit an.36 Die Programmatik Jacobis setzt als Prämisse, dass die Wirklichkeit eine unerklärliche Sphäre für den Menschen aufweist und er selbst als daseiende Entität nicht ausschließlich der erklärlichen Sphäre zugeschrieben werden darf. Dieses Unerklärliche kann nach Jacobi darstellerisch sichtbar gemacht werden, wenn offenbar wird, »was im Menschen der Geist vom Fleische unabhängiges hat«.37 Zwecks dieser Programmatik stehen Philosophie und Literatur bei Jacobi in einem spezifischen Verhältnis zueinander. So heißt es in der Vorrede zum Woldemar in der Fassung von 1796: Das Wesentlichste von dem, was bey diesem Buche voraus zu sagen gut seyn möchte, ist schon in der Vorrede zu Allwills Briefsammlung […] gesagt worden: ich gebe daher auf jene Stelle, als auch zu diesem Buche geschrieben, Anweisung. Jene philosophische Absicht aber: »Menschheit, wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen zu legen« – findet sich in dem gegenwärtigen Werke nicht wie dort mit Dichtung blos umgeben; sondern hier scheint vielmehr die Darstellung einer Begebenheit die Hauptsache zu seyn. »Scheint; und scheint auch nicht: das ist der Fehler!« wird man sagen.38 31 32 33 34 35 36 37 38

Vgl. Ebd. JBW I, 3, S. 162f. Vgl. Ebd. In der Spinoza-Schrift von 1785 fügt er das »Unmittelbare« noch hinzu. Vgl. dazu: JWA 1, 1, S. 29. JBW I, 3, S. 163. Vgl. Ebd. Vgl. JWA 6, 1, S. 89 und JWA 7, 1, S. 207. Vgl. JBW I, 3, S. 163. JWA 7, 1, S. 206f.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Die Programmatik »Menschheit, wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen zu legen« muss auch als grundlegend für die Philosophie Jacobis betrachtet werden, denn in dem Vorbericht der Spinoza-Schrift von 1819, seinem Todesjahr, heißt es resümierend: Auf die Unvermeidlichkeit eines solchen Uebersetzens [eines Salto mortale; F.K.] aus dem Verstandesgleise für eine Philosophie, die Gott nicht verlieren will, habe ich wiederholt hingewiesen. Weil im Menschen Vernunft erst später hervortritt, so scheint es ihm, sie entwickele sich nur allmählig aus einer an sich blinden bewußtlosen Natur, dem Entgegengesetzten einer weisen Für-und Vorsehung. Dennoch ist Naturvergötterung in Wahrheit ein Ungedanke; wer von der Natur ausgeht, mit ihr anfängt, findet keinen Gott, er ist der Erste, oder er ist gar nicht. Hat nun meine Philosophie dieses zur Sprache gebracht, hat sie den bessern Weg gewiesen, und machte sie dadurch nach den Zeugnissen mancher Männer eine bleibende Epoche, so besteht darin ihr wissenschaftlicher Werth. Eine Wissenschaft des logischen Enthusiasmus konnte sie nicht fördern wollen. »Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das Gewissenhafteste vor Augen zu stellen,«, war ihr Zweck.39

3.1 Jacobis religionsphilosophische Position im Spinozastreit Die erkenntnistheoretische Grenzziehung zwischen Erklärlichem und Unerklärlichem ist als gedankliche Trennung von Jacobis Philosophie zu verstehen, der er in seinem »wissenschaftlichen Werth« eine nachhaltige »bleibende Epoche« zuschreibt.40 Das menschliche Dasein in der Gesamtheit der Wirklichkeit zu betrachten und die Grenze zu bestimmen, an der Erklärung zur Darstellung werden muss, erscheint bei Jacobi als interdisziplinäre Aufgabe. In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, dass gerade die Erzählwerke für diese Aufgabe eine besondere Stellung einnehmen, denn sie theoretisieren nicht über die zu bestimmende Grenze des Erklärlichen und Unerklärlichen, sondern sie veranschaulichen. Für die Untersuchung von Jacobis Erzählwerken im Kontext seiner interdisziplinären Programmatik ist ein Einblick in seine philosophischen Ansichten und Überzeugungen notwendig. Der Titel des Werks Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn verrät bereits zwei Ausgangspunkte seines Denkens: die Philosophie Spinozas und den Briefwechsel mit Mendelssohn. Jacobi bespricht in diesem Werk zunächst mit Thesen die Philosophie Spinozas und untermauert diese mit Textbelegen. Im ersten Schritt strebt Jacobi, »vor allen Dingen die Hauptsache [an], die Lehre des Spinoza selbst ins klare [sic!] [zu] setzen«.41 In dem über Elise Reimarus in Hamburg vermittelten Briefkontakt zu Moses Mendelssohn in Berlin pocht Jacobi immer wieder darauf, dass es ihm in erster Linie für weitere philosophische Erwägungen wichtig erscheine, dass es »gerade in dem gegenwärtigen Zeitpunkt von großem Nutzen sey[], wenn das Lehrgebäude Spinozas, in seiner wahren Gestalt, und nach dem nothwendigen

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JWA 1, 1, S. 348. Vgl. Ebd. Vgl. JWA 1, 1, S. 92f.

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Die Programmatik »Menschheit, wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen zu legen« muss auch als grundlegend für die Philosophie Jacobis betrachtet werden, denn in dem Vorbericht der Spinoza-Schrift von 1819, seinem Todesjahr, heißt es resümierend: Auf die Unvermeidlichkeit eines solchen Uebersetzens [eines Salto mortale; F.K.] aus dem Verstandesgleise für eine Philosophie, die Gott nicht verlieren will, habe ich wiederholt hingewiesen. Weil im Menschen Vernunft erst später hervortritt, so scheint es ihm, sie entwickele sich nur allmählig aus einer an sich blinden bewußtlosen Natur, dem Entgegengesetzten einer weisen Für-und Vorsehung. Dennoch ist Naturvergötterung in Wahrheit ein Ungedanke; wer von der Natur ausgeht, mit ihr anfängt, findet keinen Gott, er ist der Erste, oder er ist gar nicht. Hat nun meine Philosophie dieses zur Sprache gebracht, hat sie den bessern Weg gewiesen, und machte sie dadurch nach den Zeugnissen mancher Männer eine bleibende Epoche, so besteht darin ihr wissenschaftlicher Werth. Eine Wissenschaft des logischen Enthusiasmus konnte sie nicht fördern wollen. »Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das Gewissenhafteste vor Augen zu stellen,«, war ihr Zweck.39

3.1 Jacobis religionsphilosophische Position im Spinozastreit Die erkenntnistheoretische Grenzziehung zwischen Erklärlichem und Unerklärlichem ist als gedankliche Trennung von Jacobis Philosophie zu verstehen, der er in seinem »wissenschaftlichen Werth« eine nachhaltige »bleibende Epoche« zuschreibt.40 Das menschliche Dasein in der Gesamtheit der Wirklichkeit zu betrachten und die Grenze zu bestimmen, an der Erklärung zur Darstellung werden muss, erscheint bei Jacobi als interdisziplinäre Aufgabe. In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, dass gerade die Erzählwerke für diese Aufgabe eine besondere Stellung einnehmen, denn sie theoretisieren nicht über die zu bestimmende Grenze des Erklärlichen und Unerklärlichen, sondern sie veranschaulichen. Für die Untersuchung von Jacobis Erzählwerken im Kontext seiner interdisziplinären Programmatik ist ein Einblick in seine philosophischen Ansichten und Überzeugungen notwendig. Der Titel des Werks Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn verrät bereits zwei Ausgangspunkte seines Denkens: die Philosophie Spinozas und den Briefwechsel mit Mendelssohn. Jacobi bespricht in diesem Werk zunächst mit Thesen die Philosophie Spinozas und untermauert diese mit Textbelegen. Im ersten Schritt strebt Jacobi, »vor allen Dingen die Hauptsache [an], die Lehre des Spinoza selbst ins klare [sic!] [zu] setzen«.41 In dem über Elise Reimarus in Hamburg vermittelten Briefkontakt zu Moses Mendelssohn in Berlin pocht Jacobi immer wieder darauf, dass es ihm in erster Linie für weitere philosophische Erwägungen wichtig erscheine, dass es »gerade in dem gegenwärtigen Zeitpunkt von großem Nutzen sey[], wenn das Lehrgebäude Spinozas, in seiner wahren Gestalt, und nach dem nothwendigen

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Zusammenhang seiner Theile, öffentlich dargestellt würde«.42 Dieses Vorhaben setzt Jacobi mit seiner ersten Auflage der Spinozabriefe im Jahr 1785 dann auch in die Tat um und er wird in der erweiterten Auflage, die im Jahr 1789 erscheint, seine eigene philosophische Position weiter ausbauen. Die interdisziplinäre Programmatik Jacobis »Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das Gewissenhafteste vor Augen zu stellen« ist eine erkenntnistheoretische Orientierung, die davon ausgeht, dass es für den Menschen Erkenntnisgrenzen gibt.43 Diese Ansicht über die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten entwickelt Jacobi in seinen Spinozabriefen direkt auf dem Fundament der Philosophie Spinozas, indem ihm diese als zu kritisierender Ausgangspunkt erscheint. Laut Bartuschat thematisiert der zweite Teil der Ethik Spinozas »eine Theorie menschlichen Erkennens«44 und diese Betrachtungsweise scheint auch Jacobi bereits zu vertreten, da er hinsichtlich der Erkenntnismöglichkeiten des Menschen ebenfalls auf den zweiten Teil der Ethik hinweist.45 Zu beachten ist, dass es sich im Folgenden ausschließlich um die Darstellung von Jacobis Interpretation der Philosophie Spinozas handelt. Für Jacobis Programmatik ist vor allem die Stelle seiner Spinozadeutung wichtig, an der seine erkenntnistheoretische Kritik einsetzt und Jacobi eine Beschränkung des menschlichen Erkennens hervorhebt. Die XXIII. These Jacobis, die er zu der Philosophie Spinozas aufstellt, lautet: »Der endliche Verstand, oder das modificatum modificatione des unendlichen absoluten Denkens, entspringt aus dem Begriffe eines würklich vorhandenen einzelnen Dinges.«46 In der Anmerkung zu dieser These erläutert Jacobi, dass in der Philosophie Spinozas der endliche Verstand als ›der Begriff‹ »eines würklich vorhandenen einzelnen Dinges« gesetzt werde.47 Der menschliche Verstand sei ein endlicher Verstand und »das würklich vorhandene[] einzelne[] Ding[]« des Menschen sei der Körper.48 Mit dem Terminus ›des Begriffs‹ bezeichnet Jacobi in diesem Fall einen Modus des Denkens der absoluten Substanz, die

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Vgl. JWA 1, 1, S. 119. Vgl. für eine Untersuchung der besonderen Bedeutung, dass es sich bei der Briefkorrespondenz zwischen Jacobi und Mendelssohn um einen durch Elise Reimarus vermittelten Briefkontakt handelt: Kurt Christ: Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits. Würzburg 1988. Vgl. den Vorbericht zur Fassung der Briefe über die Lehre des Spinoza von 1819: JWA 1, 1, S. 333–353, hier S. 348. Vgl. Wolfgang Bartuschat: Einleitung. In: Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Neu übersetzt, herausgegeben, mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. Lateinisch – Deutsch. Hamburg 1999, S. VII-XXIV, hier S. IX. Vgl. für eine Interpretation Bartuschats: Wolfgang Bartuschat: Selbstsein und Absolutes. In: Ders.: Spinozas Philosophie. Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik. Hamburg 2017, S. 53–103, besonders S. 62–72. Sowie: Wolfgang Bartuschat: Unendlicher Verstand und menschliches Erkennen bei Spinoza. In: Ders.: Spinozas Philosophie. Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik. Hamburg 2017, S. 149–177. Vgl. dafür vor allem die Thesen XXIII. bis XXXIII. Jacobis zur Philosophie des Spinoza: JWA 1, 1, S. 103–107. Vgl. die Thesen Jacobis zur Philosophie Spinozas: JWA 1, 1, S. 93–112, hier S. 103. Vgl. Ebd., hier S. 103f. Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Spinoza auch als Gott oder Natur (deus sive natura) bezeichnet.49 Das Denken wird als Attribut der singulären und absoluten Substanz verstanden. Für diese Verwendungsweise des Wortes ›Begriff‹ sind Jacobis Spinozathesen XXIVXXVIII aufschlussreich.50 Die These XXIV definiert »Ausdehnung und Denken [als] zwey ganz verschiedene Wesen […] in Einem Dinge, […] welches nur unter verschiedenen Eigenschaften angesehen wird«.51 Neben der absoluten Ausdehnung gäbe es »[d]as absolute Denken [als] das reine unmittelbare absolute Bewußtseyn in dem allgemeinen Seyn […] oder der Substanz«.52 Jacobi merkt an, dass er für das zu beschreibende Abstraktum die französische Bezeichnung »le sentiment de l’être [als] reiner und besser« einschätzt als »das Wort Bewußtseyn [, da dieses] etwas von Vorstellung und Reflexion zu involvieren [scheint]«.53 Jacobi hat die Abschrift eines Briefes an den Herrn Hemsterhuis im Haag zweisprachig in Französisch und Deutsch in seine Spinozabriefe aufgenommen.54 Beide Sprachfassungen stammen von ihm. Auffällig ist an dieser Stelle, dass Jacobi den Ausdruck »le sentiment de l’être« in der deutschen Fassung des Briefes an Hemsterhuis nicht mit Bewusstsein übersetzt, sondern mit »das Seyn das sich fühlt«.55 Folglich beschreibt das Attribut des absoluten Denkens »das reine unmittelbare absolute« Sein, das sich fühlt.56 Ausdehnung und Denken sind nach Jacobi die beiden einzigen Attribute der absoluten Substanz, welche der Mensch im Daseienden57 gewahr werden kann.58 Aus diesem Grund setzt er im Hinblick auf die Philosophie Spinozas Ausdehnung und Denken gleich. Er postuliert »alles was in der Ausdehnung vorgeht, [muss] auch im Bewußtseyn vorgehen«.59 In der auf diesem Postulat folgenden These XXVII. bestimmt Jacobi »[d]as Bewußtseyn einer Sache [als] ihren Begriff«.60 Das Bewusstsein des einzelnen Daseienden kann in dieser Spinozadeutung als das Gefühl des einzelnen Daseienden verstanden werden, zu existieren. Daraus resultiert, dass Ausdehnung und Denken als Attribute der absoluten Substanz als ›zwei Repräsentationsformen des Seins im Daseienden‹ betrachtet werden können.61 Damit wird beschrieben, dass Ausdehnung und Denken zwei verschiedene Attribute der absoluten Substanz darstellen. Neben diesen beiden Attributen enthält Gott nach Spinoza unendlich viele Attribute (Lehrsatz 11 des 49 50 51 52 53 54 55 56 57

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Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 104f. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 105. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 55–88. Vgl. die Abschrift eines Briefes an den Herrn Hemsterhuis im Haag: JWA 1, 1, S. 55–88, hier S. 79. Vgl. Ebd., S. 79f und 105. Zur Übersicht ist es wichtig zu verdeutlichen, dass die terminologische Trennung von Sein und Dasein eine strukturelle Differenzierung verschiedener Ebenen beschreibt. Mit dem Begriff des Seins wird hier und im Folgenden eine ontologische Ebene thematisiert, während mit dem Begriff des Daseins auf eine ontische Ebene rekurriert wird. Vgl. die Thesen Jacobis zur Philosophie Spinozas: JWA 1, 1, S. 93–112, hier S. 105. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Dies besagt die XXIV. Spinozathese Jacobis. Die nähere Betrachtung des Denkens als Attribut der absoluten Substanz in den darauffolgenden Thesen dient zur Verdeutlichung dieses Aspektes. Vgl. JWA 1, 1, S. 104f.

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ersten Teils der Ethik Spinozas). Die Essenz Gottes verstanden als das Sein, das jedem Dasein zugrunde liegt, kann sich demzufolge in Modifizierungen verschiedener Attribute entfalten. Daraus folgt, dass die Essenz Gottes inhärent attributiv strukturiert sein muss. In der Vorrede der Spinozabriefe von 1789 macht Jacobi darauf aufmerksam, dass die spekulative Philosophie, »wenn [sie] die Möglichkeit des Daseyns eines Weltalls auf irgend eine Art erklären will […,] drauf hinaus läuft, Bedingungen des Unbedingten zu entdecken«.62 Dies ist laut Jacobi bei Spinoza der Fall, da Gott inhärent attributiv gegliedert sein muss und dies eine Bedingung des Unbedingten ist. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass auch die Spinoza-Forschung »eine Strukturanalyse Gottes nach den Momenten Substanz, Attribut und Modus« herausstellt.63 Bei Bartuschat heißt es: [Denken und Körperlichkeit] könnten in dem, was sie sind, nicht angemessen begriffen werden, wenn Gott nicht in sich essentiell differenziert wäre, d[as] h[eißt] wenn ihm nicht gleichursprüngliche Attribute zukämen. Eth. I [der erste Teil der Ethik; F.K.] zeigt, dass diese Gleichursprünglichkeit mit dem Begriff Gottes [wie Spinoza ihn, als absolute Substanz versteht; F.K.] verträglich ist und zwar in Form einer unendlichen Vielheit von Attributen und darin nicht eingeschränkt durch den Hinblick auf den Menschen und dessen Verfassung.64 Es ist jedoch zu betonen, dass das jeweils ontologisch zugrunde liegende Sein des Ausgedehnten und Denkenden ›ein einziges‹ ist.65 Ausdehnung und Bewusstsein basiert auf ›einer einzigen Form des Seins‹, das im Dasein lediglich unterschiedlich spezifiziert ist. Diese Gleichsetzung von Geist und Körper in ihrer zugrundeliegenden Seinsform wird für Jacobi zum vehementen Punkt der Kritik. Die thematisierte XXIII. Spinozathese Jacobis besagt, dass »[d]er endliche Verstand […] aus dem Begriffe eines würklich vorhandenen einzelnen Dinges [entspringt]«.66 Durch die nähere Betrachtung des Ausdrucks Begriff bei Jacobis Spinozadeutung wird deutlich, dass die XXIII. Spinozathese betont, dass Körper und Geist bei Spinoza als eine einzige Seinsform zu verstehen sei, deren unterschiedliche Modifizierungen die eigentümliche Beschaffenheit des einzelnen Daseienden formieren. Der Körper ist das wirklich Existierende und der Geist ist als »[d]er endliche Verstand« der Begriff des Körpers.67 Körper und Geist sind nach Jacobi bei Spinoza in ihrer ›Meta-Ebene‹ als gleich zu betrachten, da das ›dahinter liegende MetaPhysikum‹ Gott als absolute Substanz sei. Es ist nach Jacobi bei Spinoza ein einziges Seiendes, das je nach der eingenommenen Perspektive als Körperliches (Ausgedehntes, Materielles) oder Geistiges (Denkendes, Empfindendes) erkannt werden könne. In der Deutung Jacobis folgt so aus der Philosophie Spinozas, dass der menschliche Verstand

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Vgl. die Vorrede zur Fassung der Spinozabriefe von 1789: JWA 1, 1, S. 151–157, hier S. 154. Vgl. Wolfgang Bartuschat: Spinozas Philosophie. Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik. Hamburg 2017, S. 149–177, hier S. 152f. Vgl. Ebd., hier S. 153. Vgl. die Thesen Jacobis zur Philosophie Spinozas: JWA 1, 1, S. 93–112, hier S. 103–108. Vgl. Ebd., hier S. 103f. Vgl. Ebd.

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eine im menschlichen Körper inhärent enthaltene Essenz ist.68 Jacobi verweist in seiner Anmerkung zur XXIII. These darauf, dass aus »der unendlichen Substanz von Spinoza« folgt, dass ihr alle Erscheinungsformen des Denkens und der Ausdehnung zugeschrieben werden müssen.69 Ausdehnung und Denken sind nur verschiedene erkenntnistheoretische Perspektiven auf die Erscheinungsformen der »einzelnen Dinge«, die als wirklich existierende Daseinsentitäten verstanden werden.70 Diese beiden verschiedenen Betrachtungsweisen beziehen sich aber auf ein und dasselbe Seiende, das sich im Daseienden verschieden zeigt.71 Bis zur XXXIV. These wird Jacobi die Philosophie Spinozas unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Ausdehnung und Denken betrachten. In der XXXIV. These fasst er dieses Verhältnis konkret und radikal zusammen und zieht die für ihn frappierende Konsequenz, dass die Seele als geistige Entität in Spinozas Erkenntnistheorie mit dem Körper letztendlich ein und dieselbe Entität bilde.72 Diese These Jacobis zur Philosophie Spinozas lautet: Da die Seele nichts anders als der unmittelbare Begriff des Leibes, und mit ihm ein und dasselbige Ding ist, so kann die Vortreflichkeit der Seele auch nie eine andre seyn, als die Vortreflichkeit ihres Leibes. Die Fähigkeiten des Verstandes sind nichts anders, als die Fähigkeiten des Körpers nach der Vorstellung oder objectivè; die Entschlüsse des Willens auf dieselbige Weise, sind nur Bestimmungen des Körpers. Auch das Wesen der Seele ist nichts anders, als das Wesen ihres Körpers objectivè.73 Diese These besagt, dass es nach Jacobis Interpretation der Philosophie Spinozas ausschließlich eine einzige Dimension des menschlichen Daseins gibt. Demnach gibt es kein geistiges Dasein des Menschen, das ohne eine materielle Basis existieren kann. Der zweite Teil der Ethik Spinozas, auf den Jacobi zur Belegung seiner Thesen häufig verweist, trägt nach der Übersetzung Bartuschats den deutschsprachigen Titel Von der Natur und dem Ursprung des Geistes. Für Jacobi ist nach Spinoza die Seele als menschlicher Geist »der unmittelbare Begriff des Leibes«.74 Der Geist des Menschen ist dieser Erkenntnislogik folgend bloß das körperliche Dasein, das sich fühlt. Körper und Geist sind demnach »ein und dasselbige Ding« und beziehen sich auf das gleiche zugrunde liegende Seiende.75 Aus dieser Gleichschaltung von Körper und Geist folgt für Jacobi, dass es lediglich eine

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Vgl. für eine Deutung der Körper-Geist-Relation bei Spinoza unter besonderer Berücksichtigung der Theorie menschlichen Erkennens: Wolfgang Bartuschat: Spinozas Philosophie. Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik. Hamburg 2017, S. 53–103, besonders S. 62–72. Vgl. für eine erkenntnistheoretische Deutung der Körper-Geist-Relation, die den Schwerpunkt auf einer ontologischen Strukturanalyse setzt: Wolfgang Bartuschat: Spinozas Philosophie. Über den Zusammenhang von Metaphysik und Ethik. Hamburg 2017, S. 149–177. Vgl. die Thesen Jacobis zur Philosophie Spinozas: JWA 1, 1, S. 93–112, hier S. 103. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., hier S. 107f. In der erweiterten Auflage von 1789 fügt Jacobi diese Perspektive auf die Erkenntnistheorie Spinozas bereits in einer Erweiterung der Anmerkung zur XXIII. These ein. Vgl. Ebd., hier S. 103f. Ebd., hier S. 107f. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

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Dimension des Daseins laut der Philosophie Spinozas geben kann und diese ist letztendlich eine ›an die Materie gebundene‹. Materie meint in diesem Fall die ausgedehnte unendliche Substanz Spinozas,76 denn »[d]ie einzelnen veränderlichen körperlichen Dinge, sind Modi der Bewegung und Ruhe in der unendlichen Ausdehnung«.77 Bei Spinoza ist laut Jacobi »mit der Ausdehnung Bewußtseyn unzertrennlich verknüpft«.78 Die ontologische Gleichsetzung von Körper, als »Modi der Bewegung und Ruhe in der unendlichen Ausdehnung«, und Geist, als »Modi [von] Wille und Verstand [des unendlichen absoluten Denkens]«, ist in der allumfassenden Potenzialität der unendlichen Substanz Spinozas begründet, die durch die inhärente attributive Gliederung Gottes erklärt wird.79 Jacobi sieht diese ›materialistische Tendenz‹ als einen hervorzuhebenden Aspekt von Spinozas Philosophie, denn laut Jacobi ist dieser »über keinen Punkt mannichfaltiger und ausführlicher, als über diesen«.80 Jacobi weist in der Anmerkung zur XXIII. These auf diese Tendenz in der Erkenntnistheorie Spinozas hin: Ich werde mich also um jene andre Eigenschaften, von denen wir gar nichts wissen, als nur daß etwas dergleichen da seyn soll, weiter nicht bekümmern, und mich blos an dem einzigen Gegenstande der menschlichen Seele, den Körper halten. Diese Sache könnte übrigens zu einer sehr wichtigen Betrachtung führen, an deren Stelle ich die bloße Anmerkung setzen will, daß Spinozens Lehre von den unendlichen Eigenschaften Gottes, verknüpft mit dem Facto, daß wir ausser unserem Körper, und was sich aus dem Begriffe desselben herleiten lässt, schlechterdings gar nichts erkennen, […] ein vortrefflicher Fingerzeig ist, den wahren Sinn seines Lehrgebäudes zu treffen.81 Diesen »wahren Sinn« der Philosophie Spinozas sieht Jacobi in der ›materialistischen Tendenz‹ und die Bedeutung dieses Deutungsansatzes führt für Jacobi über die Erkenntnistheorie hinaus zur Anthropologie. Wenn der Geist des Menschen nur eine andere Betrachtungsweise des körperlichen Daseins ist, dann »kann die Vortreflichkeit der Seele auch nie eine andre seyn, als die Vortreflichkeit ihres Leibes«.82 Am Beginn der Spi76

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Die Identifikation der unendlichen Substanz mit ›Materie‹ findet sich bereits in der XI. These Jacobis, die er zu der Philosophie Spinozas aufstellt. In dieser These betrachtet er die als Gott gesetzte Substanz Spinozas als »bloße[n] Urstoff, reine Materie, allgemeine Substanz«. Vgl. Ebd., hier S. 98–100. Vgl. Ebd., S. 101. Vgl. Ebd., S. 105. In der Fassung des Spinoza-Buches von 1789 zieht er in der erweiterten Anmerkung zur These XXIII die Schlussfolgerung, dass alle Attribute der absoluten Substanz im Einzelnen unzertrennlich miteinander vorhanden sein müssen: »Das Denken, an sich betrachtet, gehört, nach Spinoza, eben so wenig zu der Ausdehnung, als die Ausdehnung, an sich betrachtet, zum Denken gehört, sondern sie sind vereinigt einzig und allein, weil sie Eigenschaften eines und desselben untheilbaren Wesens sind. Auch ist es unmöglich, daß irgend eine Eigenschaft der Substanz allgemeiner, das ist, in der Substanz allgegenwärtiger sey, als die andre. Wenn nun Ausdehnung und Denken allein aus diesem Grunde vereinigt, und in jedem Dinge nothwendig Ein Ding sind; so muß eben dieses von allen übrigen Eigenschaften der Substanz gelten, und ihre ganze Summa in dem Begriffe eines jeden einzelnen Dinges enthalten seyn.« Vgl. Ebd., hier S. 104. Vgl. Ebd., hier S. 101. Vgl. Ebd., hier S. 107. Ebd., S. 103. Vgl. Ebd., S. 107.

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nozabriefe wird dies auch im geschilderten Gespräch mit Lessing thematisiert. In der Gleichsetzung von Körper und Geist als einer Seinsform sieht Jacobi eine existenzielle Beschränkung des Menschen. Jegliches menschliche Handeln und jegliche menschliche Tätigkeit seien demzufolge eine bloße Angelegenheit des Körpers. So schreibt Jacobi sich selbst im Gespräch mit Lessing den folgenden Beitrag zu: Wenn es lauter würkende und keine Endursachen giebt, so hat das denkende Vermögen in der ganzen Natur blos das Zusehen; sein ganzes Geschäft ist, den Mechanismus der würkenden Kräfte zu begleiten. Die Unterredung, die wir gegenwärtig miteinander haben, ist nur ein Anliegen unserer Leiber; und der ganze Inhalt dieser Unterredung, in seine Elemente aufgelöst: Ausdehnung, Bewegung, Grade der Geschwindigkeit, nebst den Begriffen davon, und den Begriffen von diesen Begriffen. Der Erfinder der Uhr erfand sie im Grunde nicht; er sah nur ihrer Entstehung aus blindlings sich entwickelnden Kräften zu. Eben so Raphael, da er die Schule von Athen entwarf; und Leßing, da er seinen Nathan dichtete.83 Jacobis Kritik an Spinozas Erkenntnistheorie setzt an dem Punkt der ontologischen Gleichsetzung von Körper und Geist an. Er postuliert, dass es eine Dimension des menschlichen Daseins geben muss, die im Kontrast zum materiellen Körper eine besondere ontologische Qualität aufweise, die den Menschen die Möglichkeit eines selbsttätigen Handelns bietet. Im Gespräch mit Lessing postuliert Jacobi: »[Ich habe] keine lebendigere Ueberzeugung, als daß ich thue was ich denke, anstatt, daß ich nur denken sollte was ich thue.«84 Jacobi nimmt damit seine antipodische Position zu Spinoza ein. Er sieht in der Philosophie Spinozas einen Erklärungsansatz des menschlichen Daseins, der dem Menschen auch in der geistigen Sphäre keine Grenzen setzt und diese daher mit der körperlichen Sphäre gleichsetzt, um sie mit derselben Argumentationsund Erkenntnislogik erklären zu können. Im Gespräch mit Lessing äußert er diesem gegenüber: Ich liebe den Spinoza, weil er, mehr als irgend ein andrer Philosoph, zu der vollkommenen Ueberzeugung mich geleitet hat, daß sich gewisse Dinge nicht entwickeln lassen: vor denen man darum die Augen nicht zudrücken muß, sondern sie nehmen, so wie man sie findet.85 Mit der Betonung des Findens von Gegebenheiten, die nicht erklärt werden können, aber im menschlichen Dasein von Jacobi angenommen werden, etabliert er eine Grenze des menschlichen Erkennens. Diese Grenze kann nicht gesetzt, sie muss gefunden werden. Er verdeutlicht, dass über Unerklärlichkeiten des menschlichen Daseins die Augen nicht verschlossen werden sollen, sondern stattdessen ganz im Gegenteil in der Fokussierung dieser Erscheinungen eine Annäherung an »ächte menschliche Wahrheit« erreicht werden könne.86 Jacobi setzt das Denken als geistige Tätigkeit vor die Tat als körperliche Ak-

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Ebd., S. 20f. Vgl. Ebd., S. 28. Ebd., S. 28. Vgl. Ebd., S. 29.

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tion.87 Wie »der Geist vor der Materie; der Gedanke vor dem Gegenstand« sein kann, ist für Jacobi die entscheidende philosophische Frage, die ins Unerklärliche führt.88 Jacobi geht von einer Betrachtung des Menschen aus, bei der innere Regungen Voraussetzung für körperliche Aktivität ist. In der Abhandlung Ueber die Freyheit des Menschen heißt es, dass »die Möglichkeit absoluter Selbstthätigkeit nicht erkannt werden [kann]«.89 Diese sei jedoch die Quelle innerer Regungen und liegt folglich auch seinem Handeln zugrunde. Dieser Ursprung des menschlichen Handelns kann nach Jacobi selbst nicht Gegenstand von Erkenntnis sein. Trotzdem muss »die Möglichkeit absoluter Selbstthätigkeit« angenommen werden, da sich »ihre Wirklichkeit […] unmittelbar im Bewußtseyn darstellt, und durch die That beweist«.90 Jacobi setzt sich mit der Betonung einer Grenze des menschlichen Erkennens gezielt von einer Erkenntnistheorie ab, die den Schwerpunkt darauf legt, das Erkenntnisvermögen des Menschen zu entgrenzen und das ganze menschliche Dasein zu erklären. Stattdessen sieht er in der Wirklichkeit des Menschen die Möglichkeit des Handelns gegeben, die auf eine Autonomie zurückzuführen sei, die unerklärlich bleiben muss, aber im menschlichen Dasein eindeutig gegeben sei: »Freylich muß ich dabey eine Quelle des Denkens und Handelns annehmen, die mir durchaus unerklärlich bleibt.«91 Mit dieser Vorstellung des Menschen rückt das Handeln als etwas autonomiegeprägtes in den Fokus. Diese im Handeln latente Selbsttätigkeit ist nach Jacobi im Dasein des Menschen präsent. Sie kann als solche aber nicht erkannt werden, sondern nur ihre Wirklichkeit kann im menschlichen Dasein erfasst werden. »[D]ie Möglichkeit absoluter Selbstthätigkeit« ist etwas Unerklärliches und gehört somit einer Sphäre an, die außerhalb des Vermögens des menschlichen Erkennens liegt.92 Dieses Unerklärliche müsse jedoch im Inneren des Menschen sein und charakterisiert die Eigentümlichkeit seines Daseins auf anthropologischer Ebene. Folglich ist der Mensch sich selbst im Inneren zum Teil unerklärlich. Birgit Sandkaulen untersucht die anthropologische Bestimmung des Menschen in Jacobis philosophischen Texten, in denen der Begriff der Person vorkommt. Mit der Frage nach einer Person werde danach gefragt, was daseiende Dinge von dem Menschen als Daseiendes unterscheidet. Es wird konkret die Frage nach dem, was der Mensch als 87

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Vgl. Ebd., S. 28. Ausführlich ausgeführt entwickelt Jacobi in der Abhandlung Ueber die Freyheit des Menschen, die der Spinoza-Fassung von 1789 als eine zweite Vorrede vorangestellt ist, diese anthropologisch begründete Erkenntnistheorie in Auseinandersetzung mit einem Moralverständnis, das aus einer praktischen Vernunft resultiere, indem er aufzeigt, dass in den »apodictische[n] Gesetze[n] der practischen Vernunft […] lauter Mechanismus und keine Freyheit« liege. Damit erscheint diese Abhandlung als Kritik an Kants Kritik der praktischen Vernunft. Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1 S. 158–169, hier S. 162. Vgl. ähnlich auch: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 229–263. Diese Frage führt Jacobi im Gespräch mit Lessing als die wesentliche philosophische Frage im Hinblick auf Metaphysik ein und kommt im Kontext einer kritischen Besprechung der Philosophie von Leibnitz auf, der »[d]iesen großen Knoten, den er hätte lösen müssen, um uns würklich aus der Noth zu helfen, […] so verstrickt gelassen [hat] als er war«. Vgl. das Gespräch mit Lessing: JWA 1, 1, S. 16–30, hier S. 26f. Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1 S. 158–169, hier S. 163f. Vgl. Ebd. Vgl. das Gespräch mit Lessing: Ebd., S. 16–30, hier S. 28. Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: Ebd., S. 158–169, hier S. 163f.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Daseiendes Besonderes in sich hat, gestellt. Jeder Mensch habe im Inneren ein ›Wer‹, das ihn von anderen unterscheidet und Einzigartigkeit im Verständnis von ›Persönlichkeit‹ verleiht. Dieses ›Wer‹ könne in sich nicht erkannt werden, sondern lediglich in seiner Existenz erfasst werden. Es beschreibt die einzigartige Kraft im Inneren des Menschen, die laut Jacobi das menschliche Dasein als ein persönliches formt. In der IV. Beilage des Spinoza-Buches in der Fassung von 1789 definiert Jacobi Persönlichkeit als »Einheit des Selbstbewusstseyns« und konstatiert, dass »jedes Wesen, welches das Bewußtseyn seiner Identität hat, […] eine Person [ist]«.93 Der diesbezügliche Ansatzpunkt Jacobis ist die Handlungsebene des konkreten menschlichen Daseins und in diesem sieht er eine dem Menschen eigentümliche Autonomie, die seine Beschaffenheit auszeichnet. Die autonome Entität, die Jacobi als »[a]bsolute Selbsttätigkeit« bezeichnet, sei ein göttlicher Funke im Menschen.94 Diese eigentümliche Entität, die den Menschen als Daseiendes ausmacht, wird als Geist verstanden und dieser wird im zweiten Teil der Schrift Ueber die Freyheit des Menschen als der »Othem Gottes in dem Gebilde von Erde« bestimmt.95 Auf diese Weise entwickelt Jacobi seine Vorstellung einer Handlungsmetaphysik. Im Verständnis seiner Konzeption von Handlungsmetaphysik besteht die Wirklichkeit des Metaphysischen im menschlichen Handeln und offenbart sich auch darin.96 Vor diesem Hintergrund wird Jacobis kritischer Ansatzpunkt deutlich, den er bereits in dem Brief an Hamann vom 16.06.1783 angeschlagen hatte. Darin verdeutlicht er Hamann gegenüber, dass es ihm mit seiner Frühfassung des Woldemar aus dem Jahr 1779 bereits darum ging, zu zeigen, »was im Menschen der Geist vom Fleische unabhängiges hat«.97 Im Zusammenhang von Jacobis Programmatik wird verständlich, warum er sich gegen eine Philosophie wendet, die das Anliegen verfolgt, das ganze menschliche Dasein erklären zu wollen. Die Wirklichkeit des menschlichen Daseins ist nach Jacobi so komplex, dass sie in ihrer Ganzheit außerhalb der menschlichen Erkenntnisfähigkeit liege. Die Erkenntnistheorie Jacobis ist in dem Sinne als kritisch zu bezeichnen, indem sie auf der Basis der Philosophie Spinozas, die alles als erklärbar postuliert, diese Annahme nicht teilt und eine unerklärliche Sphäre etabliert. Zu diesem Unerklärlichen gehört die Möglichkeit der »absolute[n] Selbsttätigkeit«, die eine dem Menschen inhärente Autonomie beschreibt.98 Diese Autonomie bürgt für eine Entität im einzelnen Menschen, die Jacobi als ›den Geist des Menschen‹ versteht.99 Auffällig ist, dass Jacobi für die nähere Darstellung der unerklärlichen Sphäre vom Philosophierenden ins Erzählende wechselt, denn

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Vgl. Birgit Sandkaulen: Daß, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen. In: Walter Jaeschke/ Dies.: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004, S. 217–237, hier S. 228. Und: die Beilage IV der erweiterten Spinozabriefe JWA 1, 1, S. 219–222, hier S. 220. Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, S. 166. Vgl. Ebd. Vgl. den zweiten Teil der Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 163–169. Vgl. auch: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 229–263. JBW I, 3, S. 161–164, hier S. 163. Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 163f. Die Differenzierung zwischen dem Geist des Menschen und ›dem Geist‹ ist entscheidend, denn letzteres ist Gott selbst. Vgl. Ebd., S. 166f.

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Jacobis Erzählwerke fungieren als Schilderungen dieses Unerklärlichen im Dasein des Menschen. Dies gilt für die Frühfassungen in der retrospektiven Betrachtung und wird den Spätfassungen als Programmatik vorangestellt.

3.1.1 Das Unerklärliche I – Selbsttätigkeit Mit der Vorstellung einer Handlungsmetaphysik rückt in der Philosophie Jacobis die Handlung als Aktion in den Vordergrund. In menschlichen Handlungen zeigt sich Jacobi zufolge eine »[a]bsolute Selbstthätigkeit«, die die Existenz einer metaphysischen Daseinssphäre im Menschen offenbart.100 Die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen wird den Briefen über die Lehre des Spinoza in der Fassung von 1789 als Vorrede vorangestellt und besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist betitelt mit Der Mensch hat keine Freyheit. Der zweite Teil trägt dagegen den Titel Der Mensch hat Freyheit und beginnt mit den folgenden beiden Abschnitten: XXIV. Daß sich das Daseyn aller endlichen Dinge auf Mitdaseyn stütze, und wir nicht im Stande sind, uns von einem schlechterdings für sich bestehenden Wesen eine Vorstellung zu machen, ist unläugbar; aber eben so unläugbar [ist], daß wir noch weniger im Stande sind, uns eine Vorstellung von einem schlechterdings abhängigen Wesen zu machen. Ein solches Wesen müßte ganz paßiv sein, und könnte doch nicht paßiv seyn; denn was nicht schon etwas ist, kann nicht zu etwas blos bestimmt werden; was an sich keine Eigenschaft hat, in dem können durch Verhältnisse keine erzeugt werden, ja es ist nicht einmal ein Verhältniß in Absicht seiner möglich. XXV. Wenn nun ein durchaus vermitteltes Daseyn oder Wesen nicht gedenkbar, sondern ein Unding ist, so muß eine blos vermittelte, das ist ganz mechanische Handlung ebenfalls ein Unding seyn: folglich ist Mechanismus an sich nur etwas zufälliges, und es muß eine reine Selbstthätigkeit ihm notwendig überall zum Grunde liegen.101 Mit der Konzentration auf menschliches Handeln rückt der Fokus auf die Beschaffenheit des Menschen als Daseiendes. Damit sind Fragen einer anthropologischen Bestimmung des Menschen und die der Erkenntnistheorie bei Jacobi untrennbar miteinander verknüpft. Jacobi geht in der Schrift Ueber die Freyheit des Menschen von zwei Tatsachen des menschlichen Daseins aus: Das Dasein beruht auf der Koexistenz von anderem Daseienden, erschöpft sich jedoch nicht in dieser Dependenz.102 Dem Einzelnen liegt ein ›persönliches etwas‹ zugrunde, das die Eigentümlichkeit seines Daseins entscheidend bildet. Sandkaulen bezeichnet dieses ›persönliche etwas‹ als Wer-Identität des Menschen, die sie von der Was-Identität signifikant abgrenzt. Sandkaulen stellt heraus, dass die WasIdentität im Gegensatz zu der Wer-Identität erkannt werden könne. Die Was-Identität sei als eine Form der »persönliche[n] Identität[, die] einer Leistung des Bewußtseins ent-

100 Vgl. Ebd., S. 163f. 101 Ebd., hier S. 163. 102 Vgl. Birgit Sandkaulen: Daß, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen. In: Walter Jaeschke/ Dies.: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004, S. 217–237, besonders S. 228f.

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Jacobis Erzählwerke fungieren als Schilderungen dieses Unerklärlichen im Dasein des Menschen. Dies gilt für die Frühfassungen in der retrospektiven Betrachtung und wird den Spätfassungen als Programmatik vorangestellt.

3.1.1 Das Unerklärliche I – Selbsttätigkeit Mit der Vorstellung einer Handlungsmetaphysik rückt in der Philosophie Jacobis die Handlung als Aktion in den Vordergrund. In menschlichen Handlungen zeigt sich Jacobi zufolge eine »[a]bsolute Selbstthätigkeit«, die die Existenz einer metaphysischen Daseinssphäre im Menschen offenbart.100 Die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen wird den Briefen über die Lehre des Spinoza in der Fassung von 1789 als Vorrede vorangestellt und besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist betitelt mit Der Mensch hat keine Freyheit. Der zweite Teil trägt dagegen den Titel Der Mensch hat Freyheit und beginnt mit den folgenden beiden Abschnitten: XXIV. Daß sich das Daseyn aller endlichen Dinge auf Mitdaseyn stütze, und wir nicht im Stande sind, uns von einem schlechterdings für sich bestehenden Wesen eine Vorstellung zu machen, ist unläugbar; aber eben so unläugbar [ist], daß wir noch weniger im Stande sind, uns eine Vorstellung von einem schlechterdings abhängigen Wesen zu machen. Ein solches Wesen müßte ganz paßiv sein, und könnte doch nicht paßiv seyn; denn was nicht schon etwas ist, kann nicht zu etwas blos bestimmt werden; was an sich keine Eigenschaft hat, in dem können durch Verhältnisse keine erzeugt werden, ja es ist nicht einmal ein Verhältniß in Absicht seiner möglich. XXV. Wenn nun ein durchaus vermitteltes Daseyn oder Wesen nicht gedenkbar, sondern ein Unding ist, so muß eine blos vermittelte, das ist ganz mechanische Handlung ebenfalls ein Unding seyn: folglich ist Mechanismus an sich nur etwas zufälliges, und es muß eine reine Selbstthätigkeit ihm notwendig überall zum Grunde liegen.101 Mit der Konzentration auf menschliches Handeln rückt der Fokus auf die Beschaffenheit des Menschen als Daseiendes. Damit sind Fragen einer anthropologischen Bestimmung des Menschen und die der Erkenntnistheorie bei Jacobi untrennbar miteinander verknüpft. Jacobi geht in der Schrift Ueber die Freyheit des Menschen von zwei Tatsachen des menschlichen Daseins aus: Das Dasein beruht auf der Koexistenz von anderem Daseienden, erschöpft sich jedoch nicht in dieser Dependenz.102 Dem Einzelnen liegt ein ›persönliches etwas‹ zugrunde, das die Eigentümlichkeit seines Daseins entscheidend bildet. Sandkaulen bezeichnet dieses ›persönliche etwas‹ als Wer-Identität des Menschen, die sie von der Was-Identität signifikant abgrenzt. Sandkaulen stellt heraus, dass die WasIdentität im Gegensatz zu der Wer-Identität erkannt werden könne. Die Was-Identität sei als eine Form der »persönliche[n] Identität[, die] einer Leistung des Bewußtseins ent-

100 Vgl. Ebd., S. 163f. 101 Ebd., hier S. 163. 102 Vgl. Birgit Sandkaulen: Daß, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen. In: Walter Jaeschke/ Dies.: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004, S. 217–237, besonders S. 228f.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

springt« zu verstehen.103 Die Was-Identität sei die »Erfahrung […] bewußter Identifikation«.104 Diese Identität kann daher auch als ›Selbstbildnis der eigenen Rolle in der Welt‹ betrachtet werden. Ein einzelner Mensch kann auf die Frage ›Was bist du?‹ eine Antwort geben, im Sinne von ›Ich bin Philosoph, Literat, Wissenschaftler‹ etc. Doch mit der WerIdentität hebt Sandkaulen Jacobis philosophische Aktualität hervor, denn die Was-Identität sei lediglich ›eine säkulare, vermittelbare Seite der Person‹. Die Frage ›Wer bist du?‹, mit der danach gefragt werde, warum der einzelne Mensch derjenige ist, der er ist und warum er genau so ist, wie er ist, und was dieses eigentümliche Dasein in seinem Inneren ausmache, könne der Mensch nicht beantworten. Sie liege außerhalb seiner Erkenntnismöglichkeiten. Aus diesem Grund neige der Mensch dazu, seine Was-Identität als alles zu verstehen, was seinem persönlichen Dasein zugrunde liege. Dabei sei es aber gerade die Wer-Identität, die das persönliche Dasein des einzelnen Menschen entscheidend formiere. Dies bietet eine bisher nicht entdeckte Perspektive auf die Erzählwerke Jacobis, indem die dortigen Geschehnisse auf die figurengebundene Erfassung einer ›WerIdentität‹ untersucht werden. Die Annahme ist, dass der Mensch sein eigenes ›Wer‹ nicht rational erkennen kann, aber im Leben kann er sein eigenes ›Wer‹ erfassen. Der Mensch erlebt sich in seinem Leben als einzigartig und eigentümlich. Die Erzählwerke Jacobis stellen dies problematisierend dar und fragen danach, wie der Mensch sich selbst als ›singuläres Wer‹ erleben kann, aber auch, ob es möglich ist, das einzigartige ›Wer‹ eines anderen annäherungsweise zu erfassen. Die Spätfassungen von Jacobis Woldemar und Allwill auf diese Fragen zu untersuchen, fällt mit der Ergründung der Programmatik »Menschheit, wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich« darzustellen, zusammen.105 Empfindsam-idyllische Szenen bieten wichtige Ausdrucksformen des eigenen Ichs. Aus diesem Grund geben diese Szenen in den Erzählwerken Jacobis wichtige Anhaltspunkte für die zentralisierten Fragestellungen.106 Das menschliche Dasein zeichnet sich nach Jacobi durch ein Reziprozitätsverhältnis von Vermittlung und dem, »was keine Vermittelung zuläßt«, aus.107 Der Mensch sei geprägt durch eine ›Hybridität‹ von Bedingtem und Unbedingtem. Folglich ist die Trennung von zwei erkenntnistheoretischen Sphären bloß ein gedankliches Konstrukt, das bezogen auf die Wirklichkeit keine real bestehende sphärische Trennung beschreibt, sondern die Grenze markiert, bis zu der der Mensch in seinem Erkennen gelangen kann. Diese Betrachtungsweise der beiden Erkenntnissphären des Erklärlichen und Unerklärlichen führt Jacobi in seinem Gespräch mit Lessing an, indem er die Methode des Setzens einer Grenze des menschlichen Erkennens durch die Vorgehensweise des Suchens ersetzt. Die Grenze des menschlichen Erkennens müsse in der Wirklichkeit seines Daseins gesucht werden. Damit geht die Grundannahme einher, dass diese Wirklichkeit ein Komplex aus Erklärlichem und Unerklärlichem ist. Die Beilage VII, in der diese Grenze näher bestimmt wird, expliziert dies näher. Dort wird herausgestellt,

103 Vgl. Ebd. 104 Vgl. Ebd. 105 Vgl. für die Programmatik in der Vorrede von Eduard Allwills Briefsammlung: JWA 6,1, S. 88f. Vgl. für die Programmatik in der Vorrede von Woldemar: JWA 7,1, S. 207. 106 Vgl. die Kapitel 3.2.2 und 3.3.3 dieser Studie. 107 Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 163.

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dass »die Natur […], das ist der Inbegriff des Bedingten, […] im Unbedingten gegeben« wird.108 Die Wirklichkeit des Menschen erscheint als ein Komplex aus Bedingtem und Unbedingtem. Daher muss die Grenze seines Erkennens, das ist die Grenze des Bedingten, erst erfasst werden. Die erklärliche und unerklärliche Sphäre beschreiben ›eine einzige Wirklichkeit‹.109 Die erklärliche Sphäre bezeichnet denjenigen Bereich dieser Wirklichkeit, die im Vermögen der Erkenntnismöglichkeiten des Menschen liegt, während die unerklärliche Sphäre, denjenigen Bereich dieser Wirklichkeit angibt, die der Mensch lediglich in seinem Vorhandensein erfassen kann.110 Dieser Unterschied zwischen Erfassen und Erkennen wird in der Beilage VII von Jacobis Spinoza mit dem Begriff der »Thatsache« beschrieben, der alle Erscheinungen der Wirklichkeit umfasst.111 Für die Beschreibung der Erkenntnisbereiche Jacobis wird in dieser Untersuchung das Begriffspaar ›erfassen und erkennen‹ hervorgehoben. Erfassen wird mit der Bedeutung spezifiziert, lediglich zu erleben, dass ›etwas wirklich da ist‹, ohne dass ›dieses etwas‹ rational bestimmt werden könnte. Der Begriff erkennen dagegen wird in diesem Kontext im Sinne einer vernunftgeprägten Durchdringung des zu Erkennenden verstanden. Im Zusammenhang dieses Begriffspaars wird deutlich, dass Jacobi die sphärische Trennung des Erklärlichen und Unerklärlichen betont, um zu verdeutlichen, dass alles, was im Dasein des Menschen ›da ist‹, von ihm erfasst, aber nicht erkannt werden kann. Mit dieser erkenntnistheoretischen Grenzziehung fokussiert er den Unterschied zwischen rationaler Erkenntnis und empirischer Erfassung. Diese Annahmen entwickelt Jacobi mit direktem Blick auf das empirisch vorkommende Handeln des Menschen, denn so wie »ein durchaus vermitteltes Daseyn oder Wesen nicht gedenkbar, sondern ein Unding ist, so muß [auch] eine blos vermittelte, das ist ganz mechanische Handlung ebenfalls ein Unding seyn«.112 Jacobi setzt die Prämisse voraus, dass der Körper des Menschen eine ›Maschine‹ ist. Er versteht unter einer Maschine

108 Vgl. das Gespräch mit Lessing: JWA 1, 1, S. 29 und die Beilage VII der Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 261. 109 Sandkaulen fasst in ihrer Studie Grund und Ursache diese Sicht auf die Wirklichkeit des menschlichen Daseins mit dem Ausdruck »der doppelbödigen Verhältnisse« zusammen. In diesem Werk wird betont, dass Jacobis kritische Erkenntnistheorie so vorgeht, »die »Grenze« der Rationalität, die Jacobi bereits im Gespräch mit Lessing markiert«, aus der Wirklichkeit des Daseins des Menschen heraus ausfindig zu machen. Das heißt aber, dass diese Grenze »als eine Grenze nämlich, die nicht etwa in einem Akt vernunftkritischer Grenzziehung allererst zu »setzen« und insofern den Ausweisungskriterien der Rationalität selber wiederum zu unterwerfen, sondern vielmehr als »schon gesetzte« zu finden ist«. Vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 63 und 191. 110 Vgl. die Beilage VII der Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 260–263. 111 Im Kontext des Werks Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn verwendet Jacobi in der Beilage VII der erweiterten Fassung dieses Werks aus dem Jahr 1789 den Begriff der »Thatsache« als Annahme vorhandener und gegenwärtiger Dinge und Begebenheiten in der Wirklichkeit des menschlichen Daseins, auch derer, die sich seinen Erkenntnismöglichkeiten entziehen. So kann das Unbedingte und »das Uebernatürliche« nicht erkannt werden, aber in seinem Vorhandensein in der Wirklichkeit des Menschen kann es erfasst werden. Tatsachen sind damit in Jacobis Verwendungsweise alle Elemente und Gegebenheiten, die als in der Wirklichkeit vorhanden angenommen werden müssen. Vgl. die Beilage VII der Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 261. 112 Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 163.

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einen Zusammenhangskomplex mechanisch ablaufender Prozesse. Aus dem angeführten Satz Jacobis folgt daher, dass eine menschliche Handlung nicht nur etwas Körperliches und damit mechanisch Ablaufendes sein kann. Das bedeutet konkret, dass sich im Handeln des Menschen seine ›Hybridität‹113 offenbart, da jedem Anfang einer Handlung eine »reine Selbstthätigkeit« zugrunde liegen muss. Diese wird als diejenige ›autonome Kraft‹ verstanden, die die Wirklichkeit der Möglichkeit beweist, eine Handlung anfangen und umsetzen zu können.114 Aufgrund dieser Möglichkeit könne der Mensch sich selbst im Handeln als Ursache erfahren.115 Diese Selbsterfahrung, Ursache von ›etwas‹ zu sein, ist die Empfindung des eigenen Personseins. Jacobi entfaltet in seiner 1787 erschienenen Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch sein erfahrungsorientiertes Verständnis von den Begriffen Ursache und Wirkung: Wir wissen nemlich von alten, und ungebildeten neuen Völkern, daß sie keine Begriffe von Ursache und Wirkung haben und gehabt haben, wie sie unter mehr gebildeten Völkern vor und nach entstehen. Jene erblicken überall lebendige Wesen, und wissen von keiner Kraft, die nicht sich selbst bestimmte. Jede Ursache ist ihnen eine solche lebendige, sich selbst offenbare, persönliche Kraft; jede Würkung That. Und ohne die lebendige Erfahrung in uns selbst von einer solchen Kraft, deren wir uns in einem fort bewusst sind; die wir auf so manche willkührliche Weise anwenden, und, ohne sie zu vermindern, auch von uns ausgehen lassen können: ohne diese Grunderfahrung würden wir nicht die geringste Vorstellung von Ursache und Würkung haben.116 Der Mensch kann sich als Handelnder und so als die Ursache einer Wirkung erfassen. Das heißt, er erlebt sich als »offenbare, persönliche Kraft«, die eine »That« evoziert. Diese Erfahrung verwehrt sich nach Jacobi jeder rationalen Erschließung, weil sie nicht bloß auf mechanische Zusammenhänge zurückzuführen sei. Jacobis Grundannahme ist, dass im Dasein des Menschen die Wirklichkeit der Möglichkeit zu handeln erfahrbar ist.117 Handeln zu können, bedeutet sich als Ursache einer Wirkung zu erfahren.118 Die Wirkung ist die Tat und die Ursache ist die ›autonome Kraft‹, die dieser Möglichkeit zu-

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Vgl. dazu auch: Birgit Sandkaulen: Daß, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen. In: Walter Jaeschke/Dies.: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004, S. 217–237. Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. S. 163. Dieser Diskussionszusammenhang bildet auch in den Spinozabriefen Jacobis einen signifikanten Schwerpunkt. Die Beilage II des erweiterten Spinozas Jacobis trägt den Titel Diokles an Diotime über den Atheismus und stammt von dem mit Jacobi befreundeten niederländischen Philosophen Franz Hemsterhuis. Dort wird betont, dass der Mensch in »jede[m] Augenblick, wo ihn seine Willenskraft zu einer Handlung bestimmt, sich als Ursache fühlet, und er daher, in allem was er sieht, sein Gleichartiges, sein Ich, das Handelnde suchet«. Vgl. die Beilage II der Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 206–215, hier S. 208. Vgl. zusätzlich den Vorbericht zur Fassung der Spinozabriefe von 1819: JWA 1, 1, S. 333–353, besonders S. 344f. JWA 2,1, S. 5–100, hier S. 54–61, hier S. 54. Vgl. die folgenden Schriften: Ueber die Freiheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 158–169, besonders S. 163f; David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus: JWA 2, 1, S. 5–100, besonders S. 52–62 und Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung: JWA 3, 1, S. 1–136, besonders S. 105–112. Vgl. die Beilage II der Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 206–215, hier S. 208.

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grunde liegen muss.119 In der Schrift Ueber die Freyheit des Menschen von 1789 wird diese Kraft als »[a]bsolute Selbtsthätigkeit« benannt und steht im Kontext ›der Freiheit des Menschen‹.120 Freiheit wird in dieser Schrift Jacobis als »die Möglichkeit absoluter Selbstthätigkeit« bestimmt, »in so fern sie sich dem Mechanismus, welcher das sinnliche Daseyn des einzelnen Wesens ausmacht, entgegen setzen und ihn überwiegen kann«.121 In der Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus von 1787 wird das menschliche Vermögen, auf dem sein Handeln basiere, als »offenbare, persönliche Kraft« bezeichnet und steht hier in dem Kontext, die Erfassung durch Erfahrung als Wissensform zu entwerfen.122 Eine Ursache sein zu können, setzt eine Kraft voraus, die nicht auf Vermittlungen und Bedingungen basiert, sondern unvermittelt und unbedingt ist.123 Sie ist nach Jacobi die eigentümliche innere Beschaffenheit des Menschen. Diese innere Eigentümlichkeit des Menschen ist in der Deutungs-und Ausdrucksweise Sandkaulens seine Wer-Identität. Sie ist das, was die Einzigartigkeit seines Daseins ausmacht.124 Diese Wer-Identität ist »das existentielle Selbstsein der Person« und bürgt für eine »singuläre, durch und durch individuelle Existenz«.125 Die Singularität jedes einzelnen Menschen aufgrund einer ›inneren Autonomie‹ ist für Jacobi eine in der Wirklichkeit gegebene Tatsache, die sich in seinem Handeln offenbart. Handeln ist unweigerlich eine zeitliche Aktion. Die Thematik der Zeit hängt bei Jacobi stark mit den Begriffen von Grund und Ursache zusammen.126 Für Jacobi scheitert jede rationalistisch geprägte Philosophie bei der Begründung von Metaphysik am ›Problem der Zeit‹. Dies liegt laut Jacobi an der Vermischung der beiden Begriffe von Grund und Ursache.127 Der erkenntnistheoretische Begriff des Grundes wird in der Beilage VII des erweiterten Werks Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn mit dem Satz bestimmt: »Alles Abhängige ist von Etwas abhängig […]«.128 All das, was eine Folge von etwas ist, basiert auf einem Grund. Die Relation von Grund und Folge ist ein abstraktes Abhängigkeitsverhältnis, das die Folge in die Dependenz vom Grund stellt, wobei

Vgl. die Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus: JWA 2, 1, S. 5–100, hier S. 53–56. 120 Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 158–169, hier S. 163f. 121 Ebd. 122 Vgl. die Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus: JWA 2, 1, S. 54. 123 Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 163f. Vgl. auch die zwei Jahre früher veröffentlichte Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus: JWA 2, 1, S. 52–57. Vgl. zusätzlich die Beilage VII der erweiterten Fassung der Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 247–265, hier S. 255–261. 124 Vgl. Birgit Sandkaulen: Daß, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen. In: Walter Jaeschke/ Dies.: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004, S. 217–237, hier S. 227–234. 125 Ebd., S. 231. 126 Vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000. Hammacher hebt die Differenzierung der beiden Begriffe von Grund und Ursache in der Philosophie Jacobis ebenfalls hervor, setzt diese Unterscheidung allerdings nicht so zentral wie Sandkaulen. Vgl. Klaus Hammacher: Die Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis. München 1969. 127 Vgl. die Beilage VII der Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 247–265, hier S. 255f. 128 Ebd., hier S. 256. 119

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

der Grund als »blos idealische[r] Begriff[]« verstanden wird.129 Ein Grund-Folge-Zusammenhang ist daher gleichzeitig, denn die Abhängigkeit der Folge vom Grund ist rein abstrakt.130 Dies kann mit einem geometrischen Beispiel verdeutlicht werden.131 »Drey Linien, die einen Raum einschließen, sind der Grund […], der in einem [Dreieck] befindlichen drey Winkel«.132 Zur Verdeutlichung kann hinzugefügt werden, dass die Summe dieser Winkel immer 180 Grad ergeben. Aus der geometrischen Figur des Dreiecks folgt die logische Abhängigkeit, drei Winkel zu haben, die zusammen 180 Grad betragen. Wenn ein Dreieck als Grund betrachtet wird, dann ist die Folge, dass die drei Winkel dieser geometrischen Figur 180 Grad ergeben, ›vom Dasein aus‹ betrachtet gleichzeitig.133 Das Dreieck und die drei Winkel sind zum selben Zeitpunkt ›da‹, einzig die Erkenntnis des Zusammenhangs von dem Dreieck und der drei Winkel mit einer gemeinsamen Summe von 180 Grad ist sukzessiv. Die analytische Herleitung dieses Grund-Folge-Verhältnisses ist eine sukzessiv erworbene Erkenntnis. Nach Jacobi ist es wichtig ›eine reale Sukzession der daseienden Dinge und Begebenheiten des menschlichen Daseins‹ von einer ›idealischen Sukzession der rationalen Erkenntnis‹ zu differenzieren: [Das Dreieck] aber ist nicht vor den drey Winkeln da, sondern beyde sind zugleich in demselben untheilbaren Augenblick vorhanden. Und so verhält es sich überall, wo wir eine Verknüpfung von Grund und Folge wahrnehmen; wir werden uns nur des Mannichfaltigen in einer Vorstellung bewußt. Weil aber dieses succeßiv geschieht, und eine gewisse Zeit darüber verfließt, so verwechseln wir dieses Werden eines Begriffes [das ist hier die rationale Erkenntnis; F.K.] mit dem Werden der Dinge selbst [bezogen auf die Wirklichkeit des menschlichen Daseins; F.K.], und glauben die würkliche Folge der Dinge eben so erklären zu können, wie sich die ideale Folge der Bestimmungen unserer Begriffe, aus ihrer nothwendigen Verknüpfung in einer Vorstellung erklären läßt.134 Eine Grund-Folge-Konstellation beschreibt einen rationalen Erkenntnisprozess, der analytisch bestehende Zusammenhänge erklärt.135 Das geometrische Beispiel zeigt, dass zwischen dem Grund und der Folge kein zeitliches Verhältnis treten kann, da sie notwendigerweise zum selben Zeitpunkt bereits zusammen vorliegen. Daher betont Jacobi bei einer rationalistisch geprägten Philosophie das Problem einer ausschließlich idealisch verstandenen Zeit für die Thematisierung von Ontologie und Metaphysik. Die

129 Ebd. 130 Vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 171–228, besonders S. 178. 131 Das Beispiel wird in der Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus von Jacobi selbst angeführt: Vgl. JWA 2, 1, S. 49–51. Vgl. für die Bedeutung dieses Beispiels für den erkenntnistheoretischen Begriff des Grundes: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 174–181, besonders S. 178. 132 David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus, JWA 2, 1, S. 50. 133 Vgl. Ebd., hier S. 49–51. Vgl. auch: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 174–181, besonders S. 178. 134 David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus, JWA 2, 1, S. 50. 135 Vgl.: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 174–181, besonders S. 178.

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Zeit ist ein Mittelpunkt des philosophischen Denkens Jacobis, weil sie seines Erachtens ausschlaggebend für die Komplexität der Wirklichkeit des menschlichen Daseins ist.136 Dabei diskutiert Jacobi in seinen Schriften verschiedene Vorstellungen von ›Zeit‹. Die Schwierigkeit der Verabsolutierung von Grund-Folge-Zusammenhängen im Kontext von Metaphysik und Ontologie ist die Formierung einer Vorstellung von Zeit, die Jacobi »eine ewige Zeit« nennt.137 Das Unbehagen Jacobis an dieser Betrachtungsweise von Zeit ist ihre Konzeptualisierung als »eine unendliche Endlichkeit«.138 Dieses Konzept von Zeit herrscht Jacobi zufolge in der Philosophie Spinozas als Grundgedanke, denn dort sei die Annahme, dass aus dem Nichts nichts entstehen kann, philosophisch im Detail entfaltet.139 Das bedeutet, dass ›Schöpfung‹ und mit ihr auch jeglicher Anfang des Daseins negiert werde, sodass Endliches immer schon ›ewig‹ existiert haben muss. ›Ewigkeit‹ kann aufgrund dieser Prämisse lediglich als eine unendliche Aneinanderreihung von Endlichem ohne Anfangs-und Endpunkt gedacht werden. Diesen Gedanken expliziert Jacobi in der Beilage VII seiner erweiterten Spinoza-Schrift: Hatte nun die Bewegung nie angefangen; so konnten auch die einzelnen Dinge keinen Anfang genommen haben. Sie waren also nicht allein dem Ursprunge nach von Ewigkeit her; sondern auch, ihrer Succesion unbeschadet, dem Vernunftbegriffe nach, alle zugleich vorhanden: denn im Vernunftbegriffe ist kein Vorher und Nachher, sondern alles nothwendig und zugleich; und eine Folge der Dependenz ist die einzige, welche sich darin gedenken läßt. Da Spinoza nun einmal die Erfahrungsbegriffe von Bewegung, Einzelnen Dingen, Generation und Succeßion, zu Vernunftbegriffen erhoben hatte; so sah er sie zugleich von allem Empirischen – gereinigt […].140 Dahinter steht eine Kritik an einer rational abstrakten Vorstellung von Zeit. Eine Zeit, die jeglichem »Empirischen« entbehrt, kann nicht erfahren werden und folglich keine Anfangs-und Endpunkte irgendwelcher Art aufweisen.141 Doch ist es für den Menschen unabweisbar, dass er in seinem Dasein das Phänomen der Zeit erlebt. Für Jacobi ist die Verbindung von Erfahrung und Zeit das Kernproblem rationalistischer Philosophien. Wenn Jacobi bei Spinoza »die Erfahrungsbegriffe von Bewegung, Einzelnen Dingen, Generation und Succeßion […] von allem Empirischen [be]reinigt« sieht, so betrachtet er sie von der Erfahrung bereinigt und so ihrer eigentümlichen Eigenart beraubt. Aufgrund dieser strikt rationalen Perspektivierung gelangt Spinoza Jacobi zufolge zu der Vorstellung »eine[r] ewige[n] Zeit«, die die Annahme »eine[r] unendliche[n] Endlichkeit« beschreibe.142 Diese »unendliche Endlichkeit« als »ewige Zeit« sei als Vorstellung zwecks der rationalen Erklärung des menschlichen Daseins von aller Empirie und Erfahrung

Vgl. die beiden Schriften David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus: JWA 2, 1, S. 5–100 und die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 247–265. 137 Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 251. 138 Vgl. Ebd. 139 Vgl. für diese Grundannahme der Spinozadeutung Jacobis das Gespräch mit Lessing: JWA 1, 1, S. 18f. Und: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 93–101. 140 Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 253. 141 Vgl. Ebd. 142 Vgl. Ebd., S. 251. 136

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abstrahiert worden.143 Für Jacobi ist die Zeit hingegen eine existenzielle Grunderfahrung des menschlichen Daseins, die in ihrem Vorhandensein durch die Sukzession des Daseienden lediglich erfasst, aber nicht erklärt werden könne.144 Aus diesem Grund sieht Jacobi gerade an dieser Stelle in der Philosophie Spinozas die Ausklammerung eines wesentlichen Elements der Wirklichkeit des menschlichen Daseins durch Abstraktion. Jacobi sieht folglich einen Widerspruch zwischen der Daseinswirklichkeit des Menschen und der Philosophie Spinozas, die diese Wirklichkeit lediglich partikular berücksichtige, damit die philosophische Herangehensweise des Erklärens ausgeführt werden könne. Die »ewige Zeit« als abstraktes Produkt dieser philosophischen Verfahrensweise ist laut Jacobi letztendlich jedoch keine ›erlebbare Zeit‹ und damit ein im Verhältnis zur Wirklichkeit widersprüchlicher Punkt in der Philosophie Spinozas.145 Sie ist ›eine Zeit ohne Zeitlichkeit‹. Das heißt, dass sie als ›ein einziger immerwährender und alles umfassender Zeitpunkt‹ zu betrachten ist. Diese Vorstellung veranschaulicht die geometrische Figur des Kreises.146 Das Innere des Kreises ist das Endliche, das vorhanden ist.147 Der Kreis selbst ist das Unendliche und somit die »ewige Zeit«.148 Innerhalb der »ewige[n] Zeit« kann es nach Jacobi keine Zeitlichkeit geben, da sie letztlich als ›ein einziger absoluter Zeitpunkt‹ betrachtet werden müsse.149 Daraus folgt, dass in dieser rationalen Vorstellung von Zeit »ein gewordenes Werden der einzelnen Dinge« nicht erfasst werden könne.150 Somit sei mit dieser Vorstellung von Zeit der Jacobi-Deutung Birgit Sandkaulens zufolge »eine reale Sukzession […] als ein zeitlich bestimmtes Nacheinander […], das als solches dann auch die Existenz der einzelnen Dinge als eine real differente Existenz auseinander hält«, nicht zu fassen.151 Das Endliche im Inneren des Kreises muss im Sinne der »ewige[n] Zeit« nämlich gleichzeitig ›da sein‹.152 Jacobi expliziert in einer Anmerkung in der erwähnten Beilage VII, dass Spinoza »ein gewordenes Werden der einzelnen Dinge [läugne], keineswegs aber ein nichtgewordenes, Anfang-und Endloses Wesen […], obgleich nur in einem ewigen, in sich selbst kreisenden Flusse.«153 Dieser Fluss geometrisch gedacht als Kreis beschreibt auf die Zeit bezogen ausschließlich einen alles umfassenden Zeitpunkt.154 Jacobi wirft die Frage auf, wie eine so gedachte Zeit, »auf den heutigen Tag kommen« könne.155 143 Vgl. Ebd. 144 Vgl. Ebd. 145 Vgl. Ebd. Vgl. auch das Gespräch mit Lessing: JWA 1, 1, S. 19f. Vgl. auch: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 157–167, besonders S. 162f. 146 Die geometrische Figur des Kreises wird von Jacobi impliziert: Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe JWA 1, 1, S. 252f. Vgl. auch: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 157–167. 147 Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, hier S. 252f. 148 Vgl. Ebd., S. 251f. 149 Vgl. Ebd. 150 Vgl. Ebd., S. 252f. 151 Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 157–167, hier S. 160. 152 Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 251f. 153 Ebd. 154 Vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 157–167. 155 Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe, JWA 1, 1, S. 252f.

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Er legt nahe, dass sie es eben nicht kann und die rationalistisch geprägte Philosophie somit an dieser Zeitlosigkeit in der Ontologie und Metaphysik scheitert.156 Im Kontrast dazu hebt Jacobi Zeit und Zeitlichkeit als eine Grunderfahrung des diesseitigen Daseins des Menschen hervor.157 Zeitlichkeit offenbart sich als Daseinsmerkmal des Endlichen in der Erfahrung von Sukzession. Vor dem Hintergrund der Zeit wird deutlich, was Jacobi mit seiner Handlungsmetaphysik hervorheben möchte. Eine »Metaphysik aus bloßer Logik«, wie sie Jacobi bei Spinoza repräsentativ für die rationalistisch geprägte Philosophie entfaltet sieht, entbehre genau das, woraus alle Metaphysik entspringe, und zwar Erfahrung.158 Metaphysik entspringt nach Jacobi aus dem Erlebnis von Zeitlichkeit, da sie den Menschen in Relation zur Endlichkeit setze. Wenn mit der Metaphysik nach dem ›Dahinter‹ des Daseienden gefragt wird, muss zuerst ein ›Da‹ angenommen werden und dieses ›Da‹ als die Wirklichkeit des menschlichen Daseins ist durch Sukzession gekennzeichnet. Ein sukzessives Dasein verändert sich in der Zeit beständig und ist zeitlich im konkreten diesseitigen Dasein beschränkt. Sukzession ist konkret erfahrbare Endlichkeit. Aus dem Erlebnis von Endlichkeit des Daseienden ergibt sich nach Jacobi überhaupt erst die Frage nach »ein[em] Seyn, welches nicht geworden ist« und nach dem »unveränderliche[n] Ewige[n] [in allem] Veränderlichen«.159 Die Vorstellung der »ewige[n] Zeit« muss Dependenz von der Zeit selbst ausschließen, weil Zeitlichkeit als erfahrbares Phänomen des Daseins ausgeschlossen wird.160 Sukzession als erfahrbare Endlichkeit beschreibt im Gegensatz dazu eine Abhängigkeit von der Zeit im Dasein. Ein sukzessives Dasein kann daher nicht mit der Vorstellung einer »ewige[n] Zeit« erklärt werden.161 Im Sinne von Grund-Folge-Zusammenhängen, die zeitgleich nebeneinander bestehen, rücken in der Vorstellung einer »ewige[n] Zeit« auch alle Zeitpunkte zugleich nebeneinander.162 Diese Vorstellung einer »ewige[n] Zeit« erscheint deshalb als Auflösung jeglicher verschiedener Zeitpunkte.163 Was folglich bedeutet, dass die »ewige Zeit« eine wirkliche erfahrbare Zeitlichkeit negiert und zu einer rein idealischen Vorstellung wird, die für die Erklärung des menschlichen Daseins keine Funktion erfülle.164 Ja-

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Vgl. für eine detaillierte Darlegung dieser zeitbezogenen Ontologie-und Metaphysikkritik Jacobis: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 133–169. 157 In der Schrift Ueber die Freyheit des Menschen heißt es im ersten Teil in Sentenz XII., dass »[d]as Daseyn eines jeden endlichen Wesens […] ein succeßives Daseyn [ist]«. Eine Handlung rekurriert laut Jacobis Beilage VII immer auf Zeitlichkeit, da mit ihr verschiedene erfahrbare Zeitverhältnisse einhergehen, da »eine Handlung, die nicht in der Zeit geschähe, […] ein Unding ist«. Vgl. für die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 159. Vgl. für die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 257. 158 Vgl. für Jacobis Herleitung von Metaphysik aus der Erfahrung von Endlichkeit: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 133–169, besonders S. 145f. 159 Vgl. die ersten sechs Spinoza-Thesen Jacobis, die die Kritik artikulieren, dass Spinoza postuliere, das »[v]on Ewigkeit her […] das Wandelbare bei dem Unwandelbaren, das Zeitliche bey dem Ewigen, das Endliche bey dem Unendlichen gewesen [sein soll]«: Jacobis Thesen zur Philosophie des Spinoza, JWA 1, 1, S. 93–112, hier S. 93f. 160 Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 251–254. 161 Vgl. Ebd. 162 Vgl. Ebd. 163 Vgl. Ebd. 164 Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

cobi schlussfolgert, dass Spinoza »eine wirkliche Succeßion« nicht erklären kann und da das menschliche Dasein für Jacobi ein sukzessives Dasein ist, das ist ein Dasein, dem ein ›wirkliches Werden‹ zugrunde liegt, könne Spinozas Philosophie das menschliche Dasein, so wie es wirklich ist, nicht erklären.165

3.1.2 Das Unerklärliche II – Zeit Der Themenkomplex der Zeit gehört nach Jacobi eindeutig zur unerklärlichen Sphäre, da er doch die Frage nach einer Metaphysik des sukzessiven Daseins durch die Erfahrung von Endlichkeit aufgeworfen habe.166 Das erfahrbare Phänomen der Zeit ist Merkmal des menschlichen Daseins, aber als Phänomen selbst bleibt es dem Menschen sowie seine eigene Dependenz von ihr unerklärlich. Aus diesem Grund sieht Jacobi die für ihn bei Spinoza entwickelte Begründungsmetaphysik am Problem der Zeit scheitern, da der Mensch nicht als ›sukzessiv Daseiendes‹, das bedeutet in seiner dependenten Relation zur Zeit, erfasst und erklärt werde.167 Zur Verdeutlichung sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das ›sukzessiv Daseiende‹ von der Zeit abhängt, weil es endlich ist. Endlichkeit wird als Dependenz von der Zeit betrachtet. Zeit ist für Jacobi ein Phänomen, das einen Anfangs-und Endpunkt haben muss. So wie eine Handlung irgendwann beginnen aber auch enden muss, müsse auch die Existenz des endlichen Daseins beginnen und enden. Ein endliches Daseiendes ist daher wie eine Handlung dependent von der Zeit. Gleichzeitig bleibt für Jacobi aber offen, was die Zeit selbst ist und wie sich eine Vorstellung von Schöpfung zu ihr verhält. Er grenzt sich von »einer Schöpfung in der Zeit« ebenso ab, wie von »einer Schöpfung von Ewigkeit her«.168 In diesem Zusammenhang hält er auch eine »Schöpfung […], die nie angefangen hätte«, für nicht plausibel.169 Mit seiner Auffassung einer Handlungsmetaphysik führt Jacobi dagegen eine Betrachtungsweise von Zeit an, die im Kontrast zu seiner Deutung Spinozas auf der Empirie des menschlichen Daseins aufbaut.170 Dies führt zurück zum Begriff des Handelns. Jacobi sieht bei Spinoza die Begriffe von Grund und Ursache vermischt, indem Ursachen als Gründe behandelt würden.171 Grund-Folge-Zusammenhänge sind gleichzeitig und beschreiben rein logische Schlussfolgerungen.172 Wenn zwischen den Verbindungen aber ein zeitlicher Unterschied besteht, muss von Ursachen und Wirkungen ausgegangen werden.173 Während der Satz des Grundes das »Abhängige […] von Etwas abhängig« definiert und so-

165 Vgl. JWA 1, 1, hier S. 93f. Vgl. auch die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 251. 166 Vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 133–169, besonders S. 145f. 167 Vgl. dafür im Detail: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 133–169. 168 Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 247–265, hier S. 253f. 169 Vgl. Ebd., S. 254. 170 Vgl. dafür im Detail: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 229–263. 171 Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 247–265, hier S. 255f. 172 Vgl. Ebd. 173 Vgl. Ebd.

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cobi schlussfolgert, dass Spinoza »eine wirkliche Succeßion« nicht erklären kann und da das menschliche Dasein für Jacobi ein sukzessives Dasein ist, das ist ein Dasein, dem ein ›wirkliches Werden‹ zugrunde liegt, könne Spinozas Philosophie das menschliche Dasein, so wie es wirklich ist, nicht erklären.165

3.1.2 Das Unerklärliche II – Zeit Der Themenkomplex der Zeit gehört nach Jacobi eindeutig zur unerklärlichen Sphäre, da er doch die Frage nach einer Metaphysik des sukzessiven Daseins durch die Erfahrung von Endlichkeit aufgeworfen habe.166 Das erfahrbare Phänomen der Zeit ist Merkmal des menschlichen Daseins, aber als Phänomen selbst bleibt es dem Menschen sowie seine eigene Dependenz von ihr unerklärlich. Aus diesem Grund sieht Jacobi die für ihn bei Spinoza entwickelte Begründungsmetaphysik am Problem der Zeit scheitern, da der Mensch nicht als ›sukzessiv Daseiendes‹, das bedeutet in seiner dependenten Relation zur Zeit, erfasst und erklärt werde.167 Zur Verdeutlichung sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das ›sukzessiv Daseiende‹ von der Zeit abhängt, weil es endlich ist. Endlichkeit wird als Dependenz von der Zeit betrachtet. Zeit ist für Jacobi ein Phänomen, das einen Anfangs-und Endpunkt haben muss. So wie eine Handlung irgendwann beginnen aber auch enden muss, müsse auch die Existenz des endlichen Daseins beginnen und enden. Ein endliches Daseiendes ist daher wie eine Handlung dependent von der Zeit. Gleichzeitig bleibt für Jacobi aber offen, was die Zeit selbst ist und wie sich eine Vorstellung von Schöpfung zu ihr verhält. Er grenzt sich von »einer Schöpfung in der Zeit« ebenso ab, wie von »einer Schöpfung von Ewigkeit her«.168 In diesem Zusammenhang hält er auch eine »Schöpfung […], die nie angefangen hätte«, für nicht plausibel.169 Mit seiner Auffassung einer Handlungsmetaphysik führt Jacobi dagegen eine Betrachtungsweise von Zeit an, die im Kontrast zu seiner Deutung Spinozas auf der Empirie des menschlichen Daseins aufbaut.170 Dies führt zurück zum Begriff des Handelns. Jacobi sieht bei Spinoza die Begriffe von Grund und Ursache vermischt, indem Ursachen als Gründe behandelt würden.171 Grund-Folge-Zusammenhänge sind gleichzeitig und beschreiben rein logische Schlussfolgerungen.172 Wenn zwischen den Verbindungen aber ein zeitlicher Unterschied besteht, muss von Ursachen und Wirkungen ausgegangen werden.173 Während der Satz des Grundes das »Abhängige […] von Etwas abhängig« definiert und so-

165 Vgl. JWA 1, 1, hier S. 93f. Vgl. auch die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 251. 166 Vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 133–169, besonders S. 145f. 167 Vgl. dafür im Detail: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 133–169. 168 Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 247–265, hier S. 253f. 169 Vgl. Ebd., S. 254. 170 Vgl. dafür im Detail: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 229–263. 171 Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 247–265, hier S. 255f. 172 Vgl. Ebd. 173 Vgl. Ebd.

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mit die gedanklich bestehende Dependenz betont,174 besagt »[d]er Satz der Ursache«, den Jacobi einführt, dass »alles was gethan wird, durch Etwas gethan werden [muß]«.175 Damit ändert sich die Perspektive und das spezifische »Etwas«, das »was gethan« hat, muss die Potenzialität inne haben, handeln zu können.176 Neben dieser näheren Bestimmung des »Etwas« betont Jacobi in der Beilage VII seines Spinozas von 1789, dass mit der Aktion der Handlung und somit auch mit dem »Satz der Ursache« Zeit im Sinne einer erfahrbaren Zeitlichkeit bereits vorausgesetzt werde177 : Vergißt man nicht die wesentliche Verschiedenheit beyder Begriffe [Grund und Ursache; F. K.], so sitzt man mit dem Begriffe der Ursache, durch welchen der Begriff einer Handlung nothwendig gesetzt wird, in der Zeit unbeweglich fest; denn eine Handlung, die nicht in der Zeit geschähe, ist ein Unding.178 Das Handeln im Dasein des Menschen weist nach Jacobi die Tatsache auf, dass es in der Zeit stattfindet. Daneben setzt Jacobi für die Handlungsmöglichkeit, eine »[a]bsolute Selbstthätigkeit« im Inneren des potenziellen Handelnden voraus.179 Eine Handlung als konkrete Tat verursacht Jacobi zufolge eine Sukzession. Das bedeutet, sie konstituiert ein kontinuierliches Werden. In diesem Zusammenhang definiert Jacobi die Ursache als »sich selbst offenbare, persönliche Kraft« und die Wirkung als eine »That«.180 Die Ursache einer »That« und diese »That« selbst formieren Sukzessionen in der Wirklichkeit des menschlichen Daseins, da sie verschiedene Zeitverhältnisse erfahrbar machen.181 Die Ursache ist in diesem Fall die Möglichkeit zu handeln.182 Die »That« ist die Wirklichkeit dieser Möglichkeit und da zwischen der Möglichkeit und der Wirklichkeit eine zeitliche Differenz liegen muss, wird die Zeit als Sukzession erfahrbar.183 Taten sind Wirkungen, 174 175 176 177 178 179 180 181 182

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Vgl. Ebd., S. 256. Vgl. Ebd. Vgl. Jacobis Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 158–169. Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 247–265, hier S. 256. Ebd. Vgl. dafür vor allem den zweiten Teil der Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 163–169. Vgl. Jacobis Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus: JWA 2, 1, S. 5–100, hier S. 54. Vgl. Ebd., S. 50–55. Vgl. auch Jacobis Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 163f. Jacobi betrachtet die Möglichkeit zu handeln in den beiden Schriften David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus und Ueber die Freyheit des Menschen unter verschiedenen Schwerpunktsetzungen. In der ersten Schrift steht vor allem ein erkenntnistheoretischer Fokus im Vordergrund und so wird die menschliche Möglichkeit zu handeln, das heißt, sich selbst als Ursache einer Wirkung zu erleben, als »lebendige, sich selbst offenbare, persönliche Kraft« bestimmt. In der zweiten Schrift steht ein anthropologischer Fokus im Vordergrund. Dort wird die Möglichkeit des Menschen handeln zu können, auf eine im Menschen befindliche »[a]bsolute Selbstthätigkeit« zurückgeführt, die ihn in seiner innerlichen Beschaffenheit auszeichnet. Beide Ansätze sind auf die Tatsache zurückzuführen, dass Jacobi zufolge der Mensch in der Wirklichkeit seines Daseins als Handelnder verstanden werden muss. Vgl. die Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus: JWA 2, 1, S. 54. Und die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 163f. Vgl. für die Betonung der »That« im menschlichen Dasein als die verwirklichte Möglichkeit zu handeln, einerseits die Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus: JWA 2, 1, S. 54.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

die die Wirklichkeit verändern und auf diese Weise unterschiedliche Zustandsformen des Daseins hervorrufen. In Anlehnung daran ist aber auch der innerliche Prozess von der Möglichkeit zur Verwirklichung des Handelns bereits als eine Zustandsänderung des Daseins zu verstehen. Beides führt zu einer Erfahrbarkeit von Zeit, indem die Differenz der Daseinszustände mit einem distinkten Vorher-Nachher-Szenario beschrieben werden kann.184 Die zeitliche Differenz zwischen den Zuständen, das meint in diesem Fall »das Sukzessive selbst[,] ist das Unbegreifliche«.185 Das bedeutet explizit, dass die Sukzession in der konkreten Verwirklichung der Handlungsmöglichkeit des Menschen erfahrbar ist und durch diese erfasst werden kann, aber nach Jacobi ist sie etwas Unerklärliches in der Wirklichkeit des menschlichen Daseins. In diesem Kontext ist diese Vorstellung von Sukzession nicht auf die äußerliche Erfahrung von Ursache und Wirkung beschränkt, sondern es gibt die Erfahrung von Sukzession ebenso im Inneren des Menschen. Der Mensch hat nach Jacobi ein Bewusstsein über die ihm gegebene Möglichkeit des Handelns, denn die Wirklichkeit dieser Möglichkeit »[stellt] sich [ihm] unmittelbar im Bewußtseyn dar[…]«.186 Es besteht daher in dem Verständnis Jacobis eine doppelt erfahrbare Sukzession, eine im Inneren des Menschen und eine, die sich auf das Äußere bezieht. Beide Sukzessionserfahrungen sind darin vereinigt, dass sie Zeit durch verschiedene Zustandsformen des Daseienden erlebbar werden lassen. Die Betonung der Erfahrung einer realen Sukzession im Inneren des Menschen entwickelt Jacobi in kritischer Auseinandersetzung mit Spinoza, da nach seiner Spinozadeutung das Bewusstsein des Menschen bei allen seinen Handlungen lediglich das Zusehen habe und nicht die Quelle seiner Handlungen wäre.187 Mit seiner starken Betonung der Sukzession und damit der zeitlichen Differenz zwischen der bloßen Möglichkeit und der erfassbaren Wirklichkeit von menschlichem Handeln, die innerlich und äußerlich erfahrbar ist, grenzt sich Jacobi vehement von Spinoza ab. Für Jacobi handelt der Mensch nach seinem Innerem und er reflektiert, dass dies zu der Annahme »eine[r] Quelle des Denkens und Handelns« führt, die »durchaus unerklärlich bleibt«.188 Diese Quelle wird er in der erweiterten Fassung seiner Spinozabriefe als »[a]bsolute Selbstthätigkeit« beschreiben.189 Die »[a]bsolute Selbstthätigkeit« im Menschen muss Jacobi zufolge angenommen werden, weil er aus sich selbst heraus in der Lage ist, zu denken und zu handeln.190 Der Mensch sei durch diese ›innerliche Autonomie‹ dazu fähig, im Denken und im Handeln einen realen Anfang zu setzen.

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Und die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 163f. Vgl für die erkenntnistheoretische Betonung und Deutung der »Differenz der Zeit« bei Jacobi auch: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 174–181, besonders S. 178. Vgl. die Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus: JWA 2, 1, S. 54f. Vgl. Ebd., S. 52. Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 163f. Vgl. das Gespräch mit Lessing: JWA 1, 1, S. 20f und 28; vgl. auch die Schrift Abschrift eines Briefes an den Herrn Hemsterhuis im Haag: JWA 1, 1, S. 80–84; vgl. außerdem Jacobis Spinoza-Thesen: JWA 1, 1, S. 92–112, vor allem die Thesen XXIII., XXIV und XXXIV. S. 103f und S. 107f. Vgl. das Gespräch mit Lessing: JWA 1, 1, S. 28. Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 163f. Vgl. Ebd.

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Die Handlung als Ursache beschreibt damit einen realen Anfangspunkt von ›etwas‹ und führt in Abhängigkeit von der Zeit zu einer Wirkung.191 Aus der im Dasein des Menschen gegebenen Möglichkeit des Handelns ergeben sich für Jacobi zwei wesentliche Folgerungen, die auf eine Sphäre in der Wirklichkeit des menschlichen Daseins hinweisen, die außerhalb der Erkenntnisfähigkeit des Menschen liegt. Die »[a]bsolute Selbstthätigkeit« des Menschen ist eine ›Autonomie im Inneren‹, die den Menschen in seiner Beschaffenheit als Daseinsentität entscheidend prägt, aber deren »Möglichkeit […] nicht erkannt werden [kann]«.192 Die Zeit ist ein Phänomen des menschlichen Daseins, das rational ebenfalls unerklärlich bleiben muss. Beide Phänomene können aber im Handeln des Menschen erfasst werden. Jacobi findet im menschlichen Leben die Unmöglichkeit der Erkenntnis der »Bedingung der Möglichkeit des Daseyns einer successiven Welt« und es müsse eine endliche Welt im stetigen Wandel angenommen werden.193 Das heißt, dass das endlich Daseiende in seiner konkreten Zustandsform beständig sukzessiv ist und damit innerhalb der Zeit ständigen Veränderungen unterliegt.194 Der ständige Wandel in der Zustandsform des Daseins in Abhängigkeit von der Zeit ist ein signifikantes Daseinsmerkmal des diesseitig Endlichen. Jacobi drückt dieses Daseinsmerkmal mit dem Begriff Sukzession aus.195 Sukzession ist somit die stetige Veränderung in der Zeit, die nach Jacobi alles Endliche aufweist.196 Jacobis Blickwinkel auf das menschliche Dasein richtet sich auf die Sukzession, denn diese offenbart die Wirklichkeit der Zeit im Dasein des Menschen. Die Wirklichkeit der Zeit wird in der Sukzession des Daseienden offenbar, doch die Möglichkeitsbedingungen der Zeit bleiben für den Menschen unerklärlich.197 Das heißt, wir wissen nach Jacobi nicht, was die Zeit ist und wie sie existieren kann, genauso wie wir nicht wissen, welche ›autonome Kraft‹ in uns existiert, die uns dazu befähigt, eine Handlung in der Zeit anfangen zu können. Diese Begebenheiten liegen in ihren Bedingungen außerhalb des menschlichen Erkennens und müssen ihm so als ›unbedingt‹ erscheinen.198 Die Präsenz

Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 256f. Vgl. den zweiten Teil der Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 163f. Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 258. Jacobi merkt in der Beilage VII in einer Fußnote an, dass der Mensch aufgrund der realen Sukzession des wirklichen und endlichen Daseienden »von Qualitäten [dieses Daseienden, F.K.], als solchen, keine Begriffe; sondern nur Anschauungen« habe. Die »Qualität« des sukzessiv Daseienden verändert sich, sodass eine jeweilige Zustandsform der »Qualität« des endlich Daseienden nur angeschaut, nicht aber erkannt werden kann. Dies gilt laut Jacobi auch für das eigene Dasein des einzelnen Menschen: »Selbst von unserem eigenen Daseyn haben wir nur ein Gefühl; aber keinen Begriff.« Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 258. 195 Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 247–265; vgl. auch den ersten Teil der Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 158–162, besonders Abschnitt XII. auf S. 159; vgl. zusätzlich die Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus: JWA 2, 1, S. 49–62. 196 Vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 175–181, zu dem Begriff der Sukzession bei Jacobi vor allem S. 179f. 197 Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 251–259. 198 Diese Unerklärlichkeiten des menschlichen Daseins erscheinen dem Menschen bei Jacobi als ›unbedingt‹, da der Mensch keine Bedingungen dieser unerklärlichen Gegebenheiten erkennen kann, sodass mit dem Begriffspaar bedingt/unbedingt in der Erkenntnistheorie Jacobis die Erkenntnisgrenze des Menschen sprachlich markiert wird. Alles was in seinen Bedingungen des Daseins er191 192 193 194

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dieser unbedingten Begebenheiten in der Wirklichkeit des menschlichen Daseins können jedoch erfasst werden und darin liegt zugleich ihre Faszination. Das offenbare Vorhandensein des Unbedingten im menschlichen Dasein führt Jacobi zu der Frage, warum der Mensch die in der Wirklichkeit seines Daseins bestehende Grenze zwischen dem Erklärbaren und dem Unerklärbaren mit ›seiner Vernunft‹ überschreiten möchte.199 Warum strebt ›die menschliche Vernunft‹ nach Entgrenzung und visiert die Erklärung des ganzen menschlichen Daseins an? Jacobis Antwort darauf ist, weil es in der Beschaffenheit ihrer Erkenntnislogik liege, keine Erkenntnisse zuzulassen, die nicht von ihr selbst gebildet wurden. Ein Beispiel nach diesem versuchten Streben ist für Jacobi die Philosophie Spinozas, die alles erklären kann, wenn sie die beiden Unerklärlichkeiten der »absolute[n] Selbstthätigkeit« im Inneren des Menschen und der Sukzession des menschlichen Daseins ausklammert.200 Damit ist der Bogen zu der Vorrede von Eduard Allwills Briefsammlung zurückgespannt, in der Jacobi den Philosophen seiner Zeit vorwirft, diejenigen Begebenheiten des menschlichen Daseins auszuklammern, die sich einer philosophischen Erklärung verweigern.201 Die Spätfassungen der Erzählwerke legen, programmatisch vorgegeben durch die jeweiligen Vorreden, einen besonderen Schwerpunkt auf die Darstellung der Unerklärlichkeiten im Dasein des Menschen. In diesem Zusammenhang erscheinen die Erzählwerke als ›Modell der menschlichen Daseinswirklichkeit‹, die die Herausforderung zu bewältigen haben, das Unbedingte durch anschauliche Darstellung sichtbar werden zu lassen. In der Vorrede zu Eduard Allwills Briefsammlung wird explizit betont, dass das folgende Werk ausdrücklich nicht »[e]rbaulicher als die Schöpfung; moralischer als Geschichte und Erfahrung [sowie] philosophischer als der Instinkt sinnlich vernünftiger Naturen« sein soll.202 Das Werk soll stattdessen ›wirklichkeitsabbildend‹ sein und dies setzt das Wirklichkeitsverständnis, wie es Jacobis philosophische Schriften der 1780er Jahre entwickeln, voraus. Die Wirklichkeit des Menschen kann erkenntnistheoretisch in zwei Daseinssphären aufgeteilt werden. Die erklärliche Sphäre kann vom Menschen erkannt, die unerklärliche Sphäre erfasst werden. Dieses doppelseitige Wirklichkeitsverständnis untermauert Jacobi mit einem doppelten Vernunftbegriff, der zugleich begründet, warum die menschliche Vernunft danach strebe, sich vollkommen zu entgrenzen und alles zu erklären. Aber wie kommt überhaupt die Vernunft dazu, daß sie etwas unmögliches, das ist, etwas unvernünftiges unternimmt. Ist es die Schuld der Vernunft, oder ist es nur die Schuld des Menschen? Ist die Vernunft mit sich selbst im Mißverstande, oder sind wir nur in einem Mißverstande in Absicht der Vernunft? Um diese etwas sonderbar klingende Frage entscheiden zu können, müssen wir eine andre, noch sonderbarer klingende aufwerfen; diese nehmlich: hat der Mensch Vernunft; oder hat Vernunft den Menschen? 203

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kannt werden kann, ist erklärlich. Alles was in seinen Bedingungen des Daseins nicht erkannt werden kann, erscheint als unbedingt und ist unerklärlich. Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 259–265. Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen JWA 1, 1, S. 163f. Vgl. die Vorrede zu Eduard Allwills Briefsammlung: JWA 6, 1, S. 90. Vgl. Ebd., S. 89. Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 247–265, hier S. 259.

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Das Streben nach Entgrenzung ›der Vernunft‹ bezieht Jacobi auf zwei ›Besitzverhältnisse der Vernunft‹, die er mit der Frage antizipiert, ob der Mensch Vernunft habe oder ob Vernunft den Menschen habe.204 Das Hervorzuhebende an Jacobis Verständnis von Vernunft ist, dass er dem Menschen ›eine Vernunft‹ zuschreibt, aber auch davon ausgeht, dass der Mensch ›einer Vernunft‹ angehört: Versteht man unter Vernunft die Seele des Menschen, nur in so fern sie deutliche Begriffe hat, mit denselben urtheilet, schließt, und wieder andre Begriffe oder Ideen bildet: so ist die Vernunft eine Beschaffenheit des Menschen, die er nach und nach erlangt, ein Werkzeug, dessen er sich bedient, sie gehört ihm zu. Versteht man aber unter Vernunft das Prinzip der Erkenntniß überhaupt; so ist sie der Geist, woraus die ganze lebendige Natur des Menschen gemacht ist: durch sie besteht der Mensch; er ist eine Form, die sie angenommen hat.205 Es bestehen im menschlichen Dasein zwei ›Besitzverhältnisse der Vernunft‹. Einerseits besitzt der Mensch Vernunft als »Werkzeug« seines Daseins. Andererseits gehört der Mensch auch selbst ›einer Vernunft‹ an, die seine »ganze lebendige Natur« ausmacht. Wichtig ist, dass diese Trennung von zwei Vernunftbegriffen nur eine gedankliche Differenzierung ist, die dazu dient, die Wirklichkeit des menschlichen Daseins zu beschreiben.206 Es zeigt sich gerade an dem doppelten Vernunftbegriff Jacobis, dass er nicht von einem ›wirklichen Dualismus‹ ausgeht. Die sphärischen Unterscheidungen des Erklärlichen und Unerklärlichen sowie die Konstitution der beiden Vernunftbegriffe sind nach Jacobi als Resultate der Erkenntnismöglichkeiten des Menschen zu betrachten. Die gedankliche Trennung dient zur analytischen Deskription der Wirklichkeit des menschlichen Daseins, um diese in ihrer ganzheitlichen Komplexität zu erfassen. ›Die Vernunft‹, die der Mensch ›besitzt‹, wird als instrumentelle Vernunft betrachtet. Sie ist »eine Beschaffenheit des Menschen«, die in ihren Bedingungen, Möglichkeiten und Realisierungsweisen der konkreten Anwendungspraktik von Mensch zu Mensch variiert.207 Außerdem verweist Jacobi darauf, dass ›die menschliche Vernunft‹ selbst etwas Sukzessives ist, denn sie wird »nach und nach erlangt«.208 Der einzelne Mensch bekommt seine geistigen Fähigkeiten in Form der instrumentellen Vernunft sukzessiv, das heißt von der Zeit abhängig. Der Mensch wird nicht geboren und kann die Vernunft als geistiges Instrument einsetzen, sondern er gelangt zu ihrer Einsatzfähigkeit erst im

204 Vgl. für eine sehr detaillierte Analyse ›der Besitzverhältnisse von Vernunft‹ und dem doppelten Vernunftbegriff in der Philosophie Jacobis: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 229–263. 205 Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 259f. 206 Dass den beiden Vernunftbegriffen Jacobis letztlich ›eine einzige Vernunft‹ zugrunde liegt, die unter anderen Blickwinkeln betrachtet wird, expliziert die Beilage II der Schrift Jacobi an Fichte aus dem Jahr 1799 deutlich. Dort heißt es mit Verweis auf die Beilage VII der Briefe über die Lehre des Spinoza: »Eine solche Theilung oder Trennung kann nur in Gedanken statt finden.«. Vgl. die Beilage II des Briefes an Fichte JWA 2, 1, S. 232–237, hier S. 232. Vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, 64–76 sowie S. 245–263, besonders S. 65–68 und 255f. 207 Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 259. 208 Vgl. Ebd.

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Verlauf seines Daseins.209 Die Vernunft ändert sich wie der Mensch selbst ständig in der Zeit. Mensch und Vernunft sind beide in ihren Zustandsformen sukzessiv. Daher ist die Vernunft auch eine »Beschaffenheit« des Menschen, da sie eine Dynamik in ihrer konkreten Zustandsform aufweist und diese ist wiederum ein signifikantes ›Qualitativum‹ für das Dasein des einzelnen Menschen.210 Mit der Zustandsform der instrumentellen Vernunft ändert sich auch die Daseinsbeschaffenheit des ganzen Menschen. Jacobi bezeichnet sie daher auch als adjektive Vernunft, da sie einerseits ein genuin menschliches Charakteristikum ist und andererseits, weil sie die Eigenart des einzelnen Menschen in seinem konkreten und zeitlich dynamischen Dasein bestimmt.211 Die Vernunftbegriffe Jacobis beziehen sich auf die geistige Daseinsentität des Menschen und die adjektive Vernunft versteht Jacobi als »die Seele des Menschen, nur in so fern sie deutliche Begriffe hat, mit denselben urtheilet, schließt, und wieder andre Begriffe oder Ideen bildet«.212 Sie ist die geistige Daseinsentität des Menschen unter dem Blickwinkel der ›praktikablen Anwendung‹.213 Neben der adjektiven Vernunft führt Jacobi einen Vernunftbegriff ein, der das ›Besitzverhältnis‹ umkehrt. ›Die Vernunft‹, die den Menschen besitzt, ist »das Prinzip der Erkenntniß überhaupt«.214 In der Beilage II der Schrift Jacobi an Fichte merkt Jacobi in einer Fußnote an, die einen Verweis auf die Briefe über die Lehre des Spinoza darstellt, dass unter diesem Vernunftbegriff der »Urquell der Erkenntniß überhaupt« betrachtet wird.215 Sie wird von Jacobi als substantive Vernunft bezeichnet.216 Die Substantivität bezieht Jacobi auf das Dasein, denn der geistigen Daseinsentität des Menschen liegt anders als dem Körper ›ein Sein zugrunde‹, das aus

209 Aus diesem Grund ist es gerade paradox, dass die instrumentelle Vernunft danach strebt, jegliche Zeit als Zeitlichkeit aus dem Dasein des Menschen zu streichen, denn sie unterliegt selbst dem Daseinsmerkmal des Endlichen, sukzessiv zu sein. Dass die Vernunft als menschliches Werkzeug dieses Streben an den Tag legt, sieht Jacobi in der Philosophie des Spinozas detailliert vollendet und ist nach ihm darin begründet, dass sich die Vernunft des Menschen als instrumentelle selbst als absolut und unbedingt setzt. 210 Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 259. Vgl. auch die Beilage II des Briefes an Fichte JWA 2, 1, S. 232–237. 211 In der Schrift Drei Briefe an Friedrich Köppen aus dem Jahr 1803 verteidigt Jacobi im dritten Brief seine Differenzierung der beiden Vernunftbegriffe und grenzt seine Unterscheidung von derjenigen einer subjektiven sowie objektiven Vernunft deutlich ab: »In keiner meiner philosophischen Schriften findet sich die mit meiner Vorstellungsart unverträgliche Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Vernunft, wohl aber eine, wenn man will, ähnliche zwischen adjektiver und substantiver; zwischen einer Vernunft, welche dem Menschen, und einer, welcher der Mensch angehört«. Vgl. JWA 2, 1, S. 369–372, hier S. 370. Vgl. auch: Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 64–76, besonders S. 65–68. 212 Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 259. 213 In der Beilage VII der Briefe über die Lehre des Spinoza heißt es daher über den Tätigkeitsbereich der adjektiven Vernunft: »Da unser bedingtes Daseyn auf einer Unendlichkeit von Vermittelungen beruht, so ist damit unserer Nachforschung [durch die adjektive Vernunft; F. K.] ein unabsehliches Feld eröffnet, welches wir schon um unserer physischen Erhaltung willen, zu bearbeiten genöthigt sind.« Vgl. JWA 1, 1, S. 260. 214 Vgl. Ebd. 215 Vgl. die Beilage II des Briefes an Fichte JWA 2, 1, S. 232–237, hier S. 232f. 216 Vgl. Ebd. Vgl. auch den dritten Brief der Schrift Drei Briefe an Friedrich Köppen: JWA 2, 1, S. 369–372, besonders S. 370.

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sich selbst heraus ist. So ist die substantive Vernunft »das unmittelbar sich selbst setzende, an und für sich selbst Seyende«.217 Dieser Vernunftbegriff beschreibt die geistige Daseinsentität des Menschen als den »Geist, woraus die ganze lebendige Natur des Menschen gemacht ist«.218 Der Mensch »ist eine Form, die sie [die substantive Vernunft; F. K.] angenommen hat«.219 Während die adjektive Vernunft als Begriff eine erkenntnistheoretische und anwendungsbezogene Perspektivierung der geistigen Daseinsentität des Menschen darstellt, wird mit dem Begriff der substantiven Vernunft eine ontologische Betrachtungsweise dieser Entität fokussiert. Die substantive Vernunft spezifiziert die geistige Daseinsentität des Menschen näher, indem sie als der »Geist[] selbst des Menschen« bestimmt wird.220 Sie ist der Geist des Menschen und dieser ist eine Entität seines Daseins, die existenziell nicht an die Materie des Körpers gebunden ist. Diese Entität ist ein Seiendes, das »unmittelbar sich selbst setzend[] [und] an und für sich selbst« existiert.221 Der geistigen Daseinsentität des Menschen liegt damit ein Sein zugrunde, das aus sich selbst heraus und autonom für sich selbst ist. Bei Jacobi ist die substantive Vernunft etwas an sich Seiendes, während der ganze Mensch etwas Daseiendes ist. Jacobi erläutert das ursprünglich belebende Seiende im Menschen mit dem Begriff der substantiven Vernunft. Damit zeigt sich eine konstante Linie durch die Schriften Jacobis, denn die substantive Vernunft ist auch die innere und äußere Möglichkeit zu handeln. Sie umfasst die »[a]bsolute Selbstthätigkeit« des Menschen.222 Mit der Heraushebung der besonderen ontologischen Beschaffenheit des Geistes des Menschen wird zugleich eine anthropologische Bestimmung des Menschen eröffnet. Der Geist des Menschen, das ist die substantive Vernunft, ist »ein Analogon« des Göttlichen.223 Im Zusammenhang der beiden Vernunftbegriffe Jacobis verbindet sich seine Forschungsprogrammatik mit seiner Vernunftkritik. In den jeweiligen Vernunftbegriffen spiegelt sich die erklärliche und unerklärliche Sphäre des menschlichen Daseins wider. Das Erklärliche korrespondiert mit dem adjektiven Vernunftbegriff und das Unerklärliche mit dem substantiven Vernunftbegriff. In der Beilage II der Schrift Jacobi an Fichte224 aus dem Jahr 1799 wird expliziert, dass mit den beiden Vernunftbegriffen die Paradoxie der Beschaffenheit des Menschen beschrieben wird: Die Vereinigung von Naturnothwendigkeit und Freyheit in Einem und Demselben Wesen ist ein schlechterdings unbegreifliches Factum, ein der Schöpfung gleiches Wunder und Geheimniß. Wer die Schöpfung begriffe, würde dieses Factum begreifen; wer dieses Factum, die Schöpfung und Gott selbst. So wie nun von der Einen Seite die Vernunft, die im Begreiflichen allein ihr Wesen hat, die Realität dieses Geheimnißes, die Wahrheit

217 218 219 220 221 222 223 224

Beilage II des Briefes an Fichte JWA 2, 1, S. 232–237, hier S. 232f. Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 260. Vgl. Ebd. Vgl. die Beilage II des Briefes an Fichte JWA 2, 1, S. 232f. Vgl. Ebd. Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 163f. Vgl. Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 262. Diese Schrift erscheint später in abgewandelter Form unter dem Titel Über die Unzertrennlichkeit des Begriffes der Freyheit und Vorsehung von dem Begriffe der Vernunft im Jahr 1815 im zweiten Band von Jacobis eigener Werkausgabe.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

dieses Wunders zu läugnen strebt, und, als die Repräsentantin einer Nothwendigkeit, die mit Gewalt alles schon bestimmt hat, und nichts geschehen läßt, was nicht schon geschehen ist, und im Grunde nie geschah – emsig bemüht ist jenes Wunder und Geheimniß, als eine Täuschung zeitlicher Unwißenheit aus dem Wege zu räumen, rückwärts Schritt vor Schritt Zeit und Begebenheit vertilgend: so behauptet die Realität und Wahrheit deßelben Geheimnißes und Wunders von der andern Seite der inwendige gewiße Geist, und nöthiget uns seinem Zeugniße zu glauben mit einer Gewalt des Ansehns, dem kein Vernunftschluss gewachsen ist. Er bezeuget was er behauptet mit der That, da keine, auch nicht die geringste Handlung ohne den Einfluß des freyen Vermögens, ohne Zuthun des Geistes geschehen kann.225 Diese Explikation der besonderen Beschaffenheit des Menschen untermauert, dass sich diese beiden Vernunftbegriffe auf ein gemeinsames Fundament beziehen. Dabei wird die Hybridität des Menschen als Daseiendes hervorgehoben. Einerseits ist er Teil der Natur, insofern er der »Naturnothwendigkeit« unterliegt.226 Andererseits weist der Mensch eine »Freyheit« auf, die sein Dasein eigentümlich prägt.227 »Die Vereinigung« dieser beiden Antagonismen von »Naturnothwendigkeit und Freyheit in Einem und Demselben Wesen ist« schlichtweg etwas Unerklärliches in der Wirklichkeit des menschlichen Daseins.228 In diesem Zusammenhang wird die geistige Daseinsentität, auf welche die beiden Vernunftbegriffe bezogen sind, selbst zu einem Paradoxon. Die geistige Daseinsentität des Menschen als adjektive Vernunft betrachtet, strebt danach, alles zu erklären, und neigt dazu, keine Grenzen ihres eigenen Erkennens zu akzeptieren. Deshalb tendiert die adjektive Vernunft dazu, alles Unerklärliche zu negieren, denn wenn es Unerklärlichkeiten gibt, müsste sie eine Grenze ihrer eigenen Möglichkeiten anerkennen. Diese Grenze versucht Jacobi in seinen Erweiterungen der Briefe über die Lehre des Spinoza anzudeuten, indem er einerseits in der Schrift Ueber die Freyheit des Menschen mit einer anthropologischen Bestimmung des Menschen aufzeigt, dass ihm aufgrund der inneren und äußeren Handlungsmöglichkeit eine »[a]bsolute Selbstthätigkeit« gegeben sein muss.229 Diese innere autonome Kraft des Menschen ist für Jacobi ein Faktum, eine Tatsache der Wirklichkeit des menschlichen Daseins, die lediglich erfasst, nicht aber erkannt werden kann. Jacobi markiert hier die Grenze des Erklärlichen und Unerklärlichen, indem er den Menschen in seiner inneren Beschaffenheit als unerklärlich betrachtet. Zusätzlich setzt er in der Beilage VII der Briefe über die Lehre des Spinoza vor allem den Diskussionszusammenhang der Zeit als eine Unerklärlichkeit des menschlichen Da-

225 Beilage II des Briefes an Fichte JWA 2, 1, S. 234f. 226 Der Naturnotwendigkeit zu unterliegen bedeutet, dass der Mensch mit seiner körperlichen Daseinsentität der mechanischen Gesetzmäßigkeit unterworfen ist, nach der ›in der Natur‹ jegliche Prozesshaftigkeit abläuft. Für Jacobi ist dies der Bereich, der nur »Vermittelungen« aufweist und daher als das Bedingte zu betrachten ist. Er kann durch die adjektive Vernunft vollkommen erschlossen werden und stellt die Sphäre des Erklärlichen dar. Vgl. die Beilage II des Briefes an Fichte JWA 2, 1, S. 233f. Vgl. auch die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 260f. Vgl. zusätzlich den Vorbericht der Briefe über die Lehre des Spinoza von 1819: JWA 1, 1, S. 347f. 227 Vgl. die Beilage II des Briefes an Fichte JWA 2, 1, S. 233f. 228 Vgl. Ebd., S. 234. 229 Vgl. die Schrift Ueber die Freyheit des Menschen: JWA 1, 1, S. 163f.

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seins. Der Mensch ist als körperlich erscheinende Daseinsentität in seiner Existenz endlich. Zeit ist für den Menschen somit als Endlichkeit erfahrbar. Diese Erfahrbarkeit von Zeit versteht Jacobi als Sukzession und meint damit eine beständige Abhängigkeit des endlich Daseienden von der Zeit. Der Daseinszustand des Endlichen verändert sich beständig in der Zeit. Sukzession wird als Erfahrung von Endlichkeit hervorgehoben, um daneben eine andere Erfahrung zu verdeutlichen. Die Erfahrung des ursächlichen Handelns, die auf eine innere autonome Kraft des Menschen hinweist, die ihn dazu befähigt, Handlungen anzufangen. Somit ist der Mensch durch das ursächliche Handeln in der Lage, selbst Sukzessionen zu evozieren. Er kann selbst ›Verursacher von etwas‹ sein. In der Erfahrung des ursächlichen Handelns zeigt sich nach Jacobi die über die Endlichkeit hinausweisende Kraft des Menschen, obwohl er in seiner konkreten Daseinswirklichkeit an die Körperlichkeit gebunden ist. Die Erfahrung von Zeit führe den Menschen zur unmittelbaren Empfindung von Endlichkeit in seinem konkreten, körperlich fixierten Dasein. Diese Empfindung führe ihn zu einem existenziellen Bewusstsein, das den eigenen Geist als bleibendes Seiendes in der Ahndung spürbar werden ließe. Vor dem Hintergrund des Diskussionszusammenhangs der Zeit wird deutlich, dass gerade in der Dependenz des endlich Daseienden von der Zeit eine Erkenntnisgrenze der adjektiven Vernunft angenommen werden muss. Aus diesem Grund bürgt die Sukzession des Daseienden in der Wirklichkeit des Menschen dafür, dass es neben dem Bedingten das Unbedingte, neben dem Nicht-Absoluten das Absolute geben muss. Und ferner: da alles, was ausser dem Zusammenhange des Bedingten, des natürlich vermittelten liegt, auch ausser der Sphäre unserer deutlichen Erkenntniß liegt, und durch Begriffe nicht verstanden werden kann: so kann das Uebernatürliche auf keine andre Weise von uns angenommen werden, als es uns gegeben ist; nehmlich als Thatsache – Es ist!230 Jegliche Vermittlung liegt nach Jacobi in der erklärlichen Sphäre des Menschen und so kann der Mensch lediglich das Bedingte des menschlichen Daseins erkennen. Das ihm zugrundeliegende Unbedingte bleibt unerklärlich. Allerdings ist die Erkenntnisfähigkeit selbst nicht vermittelbar. In der Erkenntnis des Vermittelten zeigt sich etwas selbst ›Unvermitteltes‹ und affirmiert erneut die Hybridität des Menschen. Diese Hybridität ist wie die sphärische Aufteilung der Wirklichkeit ein gedankliches Konstrukt, denn das Bedingte und Unbedingte bilden zusammen ›eine Wirklichkeit‹. Ich nehme den ganzen Menschen, ohne ihn zu theilen, und finde, daß sein Bewußtseyn aus zwey ursprünglichen Vorstellungen, der Vorstellung des Bedingten und des Unbedingten zusammen gesetzt ist. Beyde sind unzertrennlich mit einander verknüpft, doch so, daß die Vorstellung des Bedingten die Vorstellung des Unbedingten voraussetzt, und in dieser nur gegeben werden kann. Wir brauchen also das Unbedingte nicht erst zu suchen, sondern haben von seinem Daseyn dieselbige, ja eine noch größere Gewißheit, als wir von unserem eigenen bedingten Daseyn haben.231 230 Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 260. 231 Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Diese Passage schließt Jacobi direkt an die Differenzierung der beiden Vernunftbegriffe an, die er in der Beilage VII der Spinozabriefe herausgestellt hat. Der Mensch kann die »Vorstellung des Bedingten«, das ist seine Erkenntnissphäre, nur in der Vorstellung des Unbedingten, das ist ›die Vernunft selbst‹, erlangen.232 Das bedeutet, dass er alles Vermittelte und Bedingte seines Daseins erkennen kann, im Erkennen selbst aber bereits ein Unbedingtes annehmen muss. Aus diesem Grund führt Jacobi die Differenzierung seiner zwei Vernunftbegriffe ein: Die substantive Vernunft ist der Geist des Menschen als »das Prinzip der Erkenntnis überhaupt«, während die adjektive Vernunft ein ausbildbares Werkzeug ist, das diese prinzipielle Erkenntnismöglichkeit zur Anwendung bringt.233 Diese Annahme der Hybridität, die sich auf verschiedenen Ebenen des menschlichen Daseins offenbart, führt nach Jacobi zu der erkenntniskritischen Konsequenz, dass der Mensch sich selbst in seiner Ganzheitlichkeit unerklärlich bleiben muss. Für Jacobi resultiert daraus, dass die Metaphysik nicht als etwas zu betrachten ist, das rational und logisch durch Deduktion erklärt werden könne, sondern dass Metaphysik sich vielmehr in der Erfahrung des Lebens offenbart.234 Metaphysik müsse daher nicht im Sinne einer Begründungsmetaphysik rationalistisch begründet werden, sondern zeige sich im Handeln des Menschen.235 Jacobis Vorstellung des Metaphysischen beschreibt eine Handlungsmetaphysik.236 Im Handeln des Menschen offenbare sich seine hybride Beschaffenheit, indem seine innere autonome Kraft sowie seine Dependenz von der Zeit als endlich Daseiendes hervortrete. Dass die Wirklichkeit der Handlungsmöglichkeit dem Menschen gegeben ist, beweist sich für Jacobi im Leben als Tatsache.237 Die unerklärliche Sphäre des menschlichen Daseins erscheint auf diese Weise als Faktum. Von diesem Faktum geht für Jacobi eine besondere Faszination aus und es stellt sich die Frage, wie dieses philosophisch postulierte Faktum in Jacobis Erzählwerken zum Fiktum wird und welche besonderen Darstellungsformen mit dieser Transgression einhergehen. Nach Andreas Degen ist ein faszinierendes Erleben ein »Prozess [, der] intrinsisch motiviert« ist.238 Auch wenn der Begriff der Faszination im 18. Jahrhundert noch nicht in dem Verständnis verwendet wurde, wie er im 21. Jahrhundert als positiv konnotierte ästhetische Emotion angeführt wird, so kann mit diesem Begriff dennoch eine spezifische Erfahrung und ihre innerliche Verarbeitung sowie eine besondere andauernde Aufmerksamkeitsfokussierung beschrieben werden.239 Spezifisch an einem Faszinationserlebnis ist, dass es als ein überwältigendes, beherrschendes Gefühl […], das Interesse, Gedankentätigkeit und spirituelle Empfindungen weckt und das mit einem intensiven, oft nicht ab-

232 233 234 235 236 237 238

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 259f. Vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 255–263. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 261f. Vgl. Andreas Degen: Ästhetische Faszination. Die Geschichte einer Denkfigur vor ihrem Begriff. Berlin 2017, S. 2. 239 Vgl. Ebd.

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schließbaren Evaluationsprozess hinsichtlich des stimulierenden Objekts verbunden ist.240 Das Unerklärliche der menschlichen Wirklichkeit ist für Jacobi ein Faszinosum. Dieses Faszinosum erhält sich eine Unabschließbarkeit, weil es einen Rest von »Unbestimmbarkeit und Mehrdeutigkeit beständig« voraussetzt.241 Laut Degen »[scheint] eine stimulierte Erkenntnislust […] konstitutiv für die zeitliche Extension und damit für die ästhetischpsychologische Qualität von Faszination zu sein«.242 Dabei fesselt genau das, was sich der Erkenntnis entzieht und Jacobi fasziniert die unerklärliche Sphäre des Menschen, weil sie als Tatsache in der Wirklichkeit erfassbar ist, aber nicht weiter erkannt werden kann. Es ist die anhaltende Unbestimmbarkeit des Unerklärlichen, die an ihr fasziniert. Dies korrespondiert mit den Beobachtungen Degens, dass die »Geschichte ästhetischer Faszination als einer Denkfigur« durch eine Ambivalenz zwischen Erkenntnisinteresse und der Auslotung der Grenze des Erkennens geprägt sei.243 Hinsichtlich der Erzählwerke Jacobis liegt eine doppelte Faszinationsstruktur vor. Einerseits betont Jacobi in seinen Schriften, dass das Unerklärliche für ihn ein Faszinosum der Wirklichkeit des menschlichen Daseins ist, das er in den Erzählwerken literarisch zur Darstellung und Abbildung bringt. Andererseits taucht diese Faszination am Unerklärlichen bei den literarischen Figuren innerfiktional wieder auf und wird dort besonders im Zusammenhang des Erhabenen zur Darstellung gebracht. Fasziniert zu sein, wird in der Diegese der Erzählwerke zu einer spezifischen Modifikation des »Wirkungsmodells des Erhabenen«.244 Die Spätfassungen der Erzählwerke stehen unter der Programmatik »Menschheit, wie sie ist, erklärlich und unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen zu legen«.245 Vor dem Hintergrund der Philosophie Jacobis wird ein besonderer Schwerpunkt auf das Unerklärliche gelegt. Jacobi setzt sich gegen philosophische Positionen ein, die das ganze menschliche Dasein und auch das Existieren Gottes durch eine instrumentelle Vernunft erklären und begründen wollen. In diesem Kontext führt Jacobi eine besondere Vorstellung von Wissenschaft ein, die er später im Rückblick auf seine eigenen Werke als »wissendes Nichtwissen« bezeichnet.246 Folglich ist für Jacobi Forschung die ›unverfälschte Betrachtung des menschlichen Lebens‹. Im Kontrast zur Formierung von Vernunfterkenntnissen, die Jacobi rationalitätskritisch als eine eigene »der wirklichen ganz unähnliche[n] Bilder-Ideen-und Wort-Welt« auffasst, forciert sein Verständnis von Wissenschaft die Erfassung der ganzheitlichen Wirklichkeit des Menschen.247 Der Fokus liegt auf dem Dasein des Menschen, wie es ›wirklich‹ ist, was die Frage nach der Bestimmung von ›Wirklichkeit‹ impliziert und auf die erkenntniskritische Etablierung einer Grenzziehung zwischen erklärlicher 240 241 242 243 244 245

Ebd., S. 4. Vgl. Ebd., S. 9. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 8f. Vgl. Ebd. Vgl. für die Programmatik in der Vorrede von Eduard Allwills Briefsammlung: JWA 6,1, S. 88f. Vgl. für die Programmatik in der Vorrede von Woldemar: JWA 7,1, S. S. 207. 246 Vgl. den Vorbericht zur Fassung der Briefe über die Lehre des Spinoza von 1819: JWA 1, 1, S. 349. 247 Vgl. die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 249.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

und unerklärlicher Sphäre bezogen ist. Die Wirklichkeit des Menschen ist Jacobi zufolge etwas derartig Komplexes, dass der Mensch sie selbst nicht vollständig erkennen kann. Er kann die Wirklichkeit seines Daseins nur in ihrer Ganzheit erfassen. Jacobi hat durch seine philosophischen Schriften im Zusammenhang des Spinozastreits diese Wirklichkeitsauffassung ausgeführt und auf die erkenntnistheoretischen Schlussfolgerungen hingewiesen. Um diese Auffassung der menschlichen Daseinswirklichkeit konkret zur Anschauung zu bringen, stellt er seine Erzählwerke unter seine besondere Forschungsprogrammatik. Die Spätfassungen der Erzählwerke lassen sich unter diesem Gesichtspunkt als ›fiktionale Darstellungen der Grenze zwischen Erklärlichen und Unerklärlichem‹ lesen, die Jacobis philosophische Thesen im Verständnis ›eines Modells von menschlicher Daseinswirklichkeit‹ zur Anschauung bringen.

3.2 Das goldene Weltalter als Idee einer in sich ausgeglichenen Natur In Jacobis philosophischer Schaffensphase von 1785 bis 1790 setzt er sich außer mit Schriften von Spinoza auch mit den Schriften von Frans Hemsterhuis intensiv auseinander. Frans Hemsterhuis ist ein niederländischer Philosoph, der von 1721 bis 1790 lebte. Jacobi lernte ihn persönlich und seine Schriften durch den sogenannten Münster-Kreis um Amalie Fürstin von Gallitzin kennen.248 Im Kontext der empfindsamen Idyllik ist die Schrift Alexis ou de l’age d’or von Hemsterhuis hervorzuheben, die Jacobi ins Deutsche übersetzt. Diese Übersetzung Jacobis trägt den Titel Alexis oder von dem goldenen Weltalter und ist von Jacobi im Jahr 1787 veröffentlicht worden.249 Er sah seine Übersetzung gegenüber dem französischen Original als überlegen an, da Hemsterhuis der französischen Sprache nicht auf einem muttersprachlichen Niveau mächtig sei.250 Mit Blick auf die Erzählwerke Jacobis ist die Beschäftigung mit Hemsterhuis für die Spätfassungen relevant, da es vor allem in der Woldemar-Fassung von 1796 Reminiszenzen und Querverweise auf Hemsterhuis gibt. Mit der Berufung auf den antiken Mythos des goldenen Weltalters wird in der Schrift von Hemsterhuis nicht ein idyllisches Leben des Menschen geschildert, sondern es wird ein philosophisches Gespräch in der mäeutischen Tradition zwischen Diokles und Alexis dargestellt. Diese Schrift eröffnet mehrere Diskussionszusammenhänge, die alle in der Frage kulminieren, wie unter den konkreten situativen Umständen des menschlichen Daseins eine möglichst ausgeglichene Lebensart verwirklicht werden kann. Es wird eine Vorstellung des goldenen Weltalters präsentiert, in der sich für die damals lebenden Menschen diese Frage nicht stellte, weil die von der Natur gegebenen Daseinsumstände des Menschen ganz andere waren. Die Natur selbst und ihre Gesetzmäßigkeiten haben sich verändert, sodass die Zeit des goldenen Weltalters unwiederbringlich verloren ist. Daraus folgt, dass eine ausgeglichene Daseinsform des

248 Vgl. zum Salon der Fürstin von Gallitzin: Markus von Hänsel-Hohenhausen: Amalie Fürstin von Gallitzin. Bedeutung und Wirkung. Anmerkungen zum 200. Todestag. Frankfurt a.M. 2006. 249 Vgl für diese Übersetzung plus französischem Originaltext: JWA 5,1, S. 7–102. 250 Vgl. dazu den editorischen Bericht zu Jacobis Übersetzung von Catia Goretzki und Walter Jaeschke, der ausführlich darstellt, wie akribisch Jacobi an der Übersetzung arbeitet: JWA 5,2, S. 460–475.

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und unerklärlicher Sphäre bezogen ist. Die Wirklichkeit des Menschen ist Jacobi zufolge etwas derartig Komplexes, dass der Mensch sie selbst nicht vollständig erkennen kann. Er kann die Wirklichkeit seines Daseins nur in ihrer Ganzheit erfassen. Jacobi hat durch seine philosophischen Schriften im Zusammenhang des Spinozastreits diese Wirklichkeitsauffassung ausgeführt und auf die erkenntnistheoretischen Schlussfolgerungen hingewiesen. Um diese Auffassung der menschlichen Daseinswirklichkeit konkret zur Anschauung zu bringen, stellt er seine Erzählwerke unter seine besondere Forschungsprogrammatik. Die Spätfassungen der Erzählwerke lassen sich unter diesem Gesichtspunkt als ›fiktionale Darstellungen der Grenze zwischen Erklärlichen und Unerklärlichem‹ lesen, die Jacobis philosophische Thesen im Verständnis ›eines Modells von menschlicher Daseinswirklichkeit‹ zur Anschauung bringen.

3.2 Das goldene Weltalter als Idee einer in sich ausgeglichenen Natur In Jacobis philosophischer Schaffensphase von 1785 bis 1790 setzt er sich außer mit Schriften von Spinoza auch mit den Schriften von Frans Hemsterhuis intensiv auseinander. Frans Hemsterhuis ist ein niederländischer Philosoph, der von 1721 bis 1790 lebte. Jacobi lernte ihn persönlich und seine Schriften durch den sogenannten Münster-Kreis um Amalie Fürstin von Gallitzin kennen.248 Im Kontext der empfindsamen Idyllik ist die Schrift Alexis ou de l’age d’or von Hemsterhuis hervorzuheben, die Jacobi ins Deutsche übersetzt. Diese Übersetzung Jacobis trägt den Titel Alexis oder von dem goldenen Weltalter und ist von Jacobi im Jahr 1787 veröffentlicht worden.249 Er sah seine Übersetzung gegenüber dem französischen Original als überlegen an, da Hemsterhuis der französischen Sprache nicht auf einem muttersprachlichen Niveau mächtig sei.250 Mit Blick auf die Erzählwerke Jacobis ist die Beschäftigung mit Hemsterhuis für die Spätfassungen relevant, da es vor allem in der Woldemar-Fassung von 1796 Reminiszenzen und Querverweise auf Hemsterhuis gibt. Mit der Berufung auf den antiken Mythos des goldenen Weltalters wird in der Schrift von Hemsterhuis nicht ein idyllisches Leben des Menschen geschildert, sondern es wird ein philosophisches Gespräch in der mäeutischen Tradition zwischen Diokles und Alexis dargestellt. Diese Schrift eröffnet mehrere Diskussionszusammenhänge, die alle in der Frage kulminieren, wie unter den konkreten situativen Umständen des menschlichen Daseins eine möglichst ausgeglichene Lebensart verwirklicht werden kann. Es wird eine Vorstellung des goldenen Weltalters präsentiert, in der sich für die damals lebenden Menschen diese Frage nicht stellte, weil die von der Natur gegebenen Daseinsumstände des Menschen ganz andere waren. Die Natur selbst und ihre Gesetzmäßigkeiten haben sich verändert, sodass die Zeit des goldenen Weltalters unwiederbringlich verloren ist. Daraus folgt, dass eine ausgeglichene Daseinsform des

248 Vgl. zum Salon der Fürstin von Gallitzin: Markus von Hänsel-Hohenhausen: Amalie Fürstin von Gallitzin. Bedeutung und Wirkung. Anmerkungen zum 200. Todestag. Frankfurt a.M. 2006. 249 Vgl für diese Übersetzung plus französischem Originaltext: JWA 5,1, S. 7–102. 250 Vgl. dazu den editorischen Bericht zu Jacobis Übersetzung von Catia Goretzki und Walter Jaeschke, der ausführlich darstellt, wie akribisch Jacobi an der Übersetzung arbeitet: JWA 5,2, S. 460–475.

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Menschen nicht mehr gegeben ist, doch der einzelne Mensch kann durch Ausbalancierung von bestehenden Ungleichheiten einen suffizienten Daseinszustand erreichen. Diokles leitet Alexis im Sinne einer mäeutischen Gesprächsführung zu gedanklichen Impulsen, wie ein solcher Daseinszustand erlangt werden kann. Eingebettet ist dieser Diskussionszusammenhang in eine Kontroverse um das Verhältnis von Philosophie und Literatur. Alexis führt seine Vorbehalte gegenüber der Dichtung am Beginn des Gesprächs wie folgt aus: Ich lasse dem Hesiod und dem Homer ihre ganze Theogonie hingehen, und was sie von Göttern erzählen, die sie sich erschaffen und die ich nicht kenne. Aber dergleichen Ausschweifungen über Wesen, die ich kenne, ärgern mich. Denke nur einmal an des Hesiod Gemählde von dem goldenen Weltalter, wenn er da sagt: »Daß unter der Regierung des Saturns die Menschen lebten, wie Götter, in einem tiefen Frieden; in einer vollkommenen Ruhe, ohne Arbeit und Mühe; daß ihr Alter gemächlich war; daß sie, immer gleich gestimmt, immer in gleichem Maaße auf ihren Festen ihrer gegenseitigen Liebe genossen; daß die Erde mit wenig Aufwand alle Früchte, die sie nur verlangen konnten, überflüßig brachte; und daß diese Lieblinge der unsterblichen Götter, starben, als würden sie von einem tiefen Schlaf übermannt.« Glaubst du, mein lieber Diokles, daß die Menschen, mit denen wir leben, die sich einander hassen, verrathen, und sich um des niedrigsten Eigennutzes willen umbringen, einer solchen Glückseligkeit, als Hesiod erzählt, fähig sind?251 Dieses Gespräch greift zunächst implizit die Thematik auf, dass das goldene Weltalter zur Zeit der Antike bereits vorüber war. Dies wird durch die antikisierten Namen Alexis und Diokles deutlich. Das goldene Weltalter ist eine Daseinsform des Menschen, die der Figur Alexis nur aus der Dichtung bekannt ist. Aus diesem Grund zweifelt er den Wahrheitsgehalt der Dichtung an, die die menschliche Daseinsform im goldenen Weltalter darstellt. Es ist hier also für Alexis die Frage nach der Wahrscheinlichkeit, dass eine menschliche Daseinsform des goldenen Weltalters tatsächlich existiert haben könnte. Für Alexis ist die Historisierung dieser Daseinsform kein hinreichendes Argument für die Wahrscheinlichkeit, denn er führt ein verdorbenes Menschenbild an, das mit dem Menschen des goldenen Weltalters nichts gemein hat. Alexis’ Ausführungen erwecken den Eindruck, dass es sich um zwei verschiedene Gattungsformen des Menschen handeln müsse, wenn die menschliche Daseinsform des goldenen Weltalters wirklich einmal real gewesen sein soll. Damit rückt hier die Frage nach einem detaillierten Blick auf das, was als genuin menschlich verstanden wird. Alexis sagt, dass diese Daseinsform bei Hesiod so beschrieben werde, dass die Menschen »unter der Regierung des Saturns […] lebten«. Saturn ist der Gott, der für eine Zeit steht, in der die Menschen »wie Götter« waren. Saturn ist zeitlich gesehen der oberste Gott zu seiner Zeit und wird später von seinem Sohn Jupiter gestürzt. Zu der Weltzeit, in der Saturn der oberste Gott war, existierten möglicherweise andere Menschen, da eine völlig andere Natur-und Weltordnung herrschte. Erst wenn dies angenommen wird, kann die Dichtung des goldenen Weltalters für Alexis als wahrscheinlich betrachtet werden. Außerdem zeigen die Götternamen an, dass dieser Text die Götter der römischen Antike thematisiert, wobei die Namen Alexis und Diokles eher auf die griechische Antike verweisen. An anderer Stelle wird mit dem zeitlichen Nebeneinander von philosophischen Tendenzen wie dem Epi-

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kureismus und der Stoa abermals die griechische und römische Antike als gleichzeitig nebeneinander dargestellt.252 Diese Vereinheitlichung der Antike zeigt an, dass die Antike hier als Projektionsfläche fungiert. Aus der Perspektive des 18. Jahrhunderts ist die Antike eine fern vergangene Zeit. Mit dem Gespräch zwischen Alexis und Diokles wird ein Gespräch präsentiert, das in der antiken Zeit ein noch weiterzurückliegendes Weltalter thematisiert. Anders als in der Vorrede der Idyllen Gessners von 1756 wird hier gerade in der Vereinheitlichung der Antike die historische Distanz zum goldenen Weltalter betont. Mit Hesiod und Homer werden die ältesten Schriften der griechischen Antike benannt. Selbst in diesen alten Schriften erscheint das goldene Weltalter als Mythos einer lang vergangenen Daseinsform des Menschen. Die Figur Alexis bezieht sich auf Hesiods Tage und Werke. Dabei dient in Hesiods Schrift das goldene Weltalter bereits als Gegenbild zu seiner eigenen Zeit, die durch Verdorbenheit der Sitten gekennzeichnet sei. Das goldene Weltalter erscheint auch hier als ein Ideal für die Daseinsform des Menschen. In der von Jacobi übersetzten Schrift von Hemsterhuis expliziert die Figur des Alexis, was diese Daseinsform Hesiod zufolge auszeichne. Die Menschen lebten »in einem tiefen Frieden [und] in einer vollkommenen Ruhe, ohne Arbeit und Mühe«253 . Diese Vollkommenheit war dadurch gegeben, dass sie »immer gleich gestimmt« waren und »ihrer gegenseitigen Liebe genossen«.254 Die Natur gab diesen Menschen »mit wenig Aufwand alle Früchte, die sie nur verlangen konnten«.255 Selbst der Tod hatte für diese »Lieblinge der unsterblichen Götter« nichts Leid-und Qualvolles, denn dieser gestaltete sich so, »als würden sie von einem tiefen Schlaf übermannt«.256 Diese Daseinsform des Menschen im goldenen Weltalter ist durch völlige Leidlosigkeit und Gleichheit des äußeren und inneren Daseinszustands geprägt. Es handelt sich hier um einen Menschen, der nicht ständigen Veränderungen des inneren und äußeren Zustands ausgesetzt ist, sondern dessen Dasein durch eine von der Natur vorgegebenen Gleichheit geprägt ist. Diese besteht darin, dass es weder äußere noch innere Veränderungen von Zustandsformen gibt. Aber diese Menschen können nicht die Menschen sein, die Alexis aus seinem bisher erfahrenen Leben kennt. Denn es ist gerade dieses vollkommene Suffizienzideal einer vollkommenen Gleichheit der Daseinszustände und Ausgeglichenheit des Menschen, die Alexis an der Dichtung als unwahrscheinlich rügt. Alexis kann verstehen, wenn die Dichtung allerlei Besonderheiten erfindet, die möglich sind. So kann er es nachvollziehen, wenn Hesiod und Homer in ihrer Dichtung Götter beschreiben, »die sie sich erschaffen und die ich nicht kenne«.257 Es ist das Mögliche, das Alexis in der Dichtung mit der Ausmalung der Einbildungskraft als legitim betrachtet. Die für ihn augenscheinliche Differenz zwischen Dichtung und Wirklichkeit ist gerechtfertigt, da die Dichtung sich nicht direkt auf Gestalten bezieht, die Alexis aus seiner Erfahrungswelt kennt. Anders sieht dies jedoch mit den Menschen des goldenen Weltalters aus, denn die Gestalt des Menschen ist Alexis aus seiner täglichen Lebenserfahrung

252 253 254 255 256 257

Vgl. Ebd., S. 36f. Vgl. Ebd., S. 18. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

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bekannt und er kann es nicht für wahrscheinlich halten, dass er einmal in sich, mit anderen und mit der Natur in einem vollkommenen Ausgeglichenheitszustands gelebt haben soll. Aus diesem Grund erscheint ihm die Dichtung über das goldene Weltalter als ein imaginatives Hirngespinst, das sehr unwahrscheinlich ist und daher nach seiner dichtungstheoretischen Auffassung nicht gerechtfertigt ist. Den Menschen kennt er nämlich als »Wesen«, »die sich einander hassen, verrathen, und sich um des niedrigsten Eigennutzes willen umbringen«.258 Der Alexis bekannte Mensch ist »einer solchen Glückseeligkeit« wie der Daseinsform des goldenen Weltalters gar nicht »fähig«.259 Alexis spricht dem gegenwärtigen Menschen, den er aus seiner Lebenserfahrung kennt, die Fähigkeit ab, jemals ein solche Daseinsform verwirklicht zu haben, wie sie die Dichtung über das goldene Weltalter beschreibt. Damit wird deutlich, dass Alexis eine Dichtungstheorie vertritt, die Mögliches mit Wahrscheinlichem auseinanderhalten soll. Die Dichtung darf Alexis zufolge Götter ausmalen, weil sie durch die Einbildungskraft denkbar sind. Wenn Hesiod und Homer Götter beschreiben, dann beziehen sie sich auf Gestalten, die nicht den Anspruch erheben konkret erfahrbar zu sein. Die Möglichkeit der Erfahrbarkeit von Göttern muss jeder Mensch für sich entscheiden. Alexis kritisiert die Dichtung über das goldene Weltalter, weil hier mit den dort auftretenden Menschen Gestalten auftauchen, die Alexis aus seiner Lebenserfahrung kennt. Doch in dieser Dichtung erscheint der Mensch ganz anders. Er hat andere Fähigkeiten, verhält sich anders und setzt andere Prioritäten als der Mensch, den Alexis im Leben erlebt. Mit dem Menschen wird für Alexis ein Bezug zur Wirklichkeit eröffnet, der jedoch aus seiner Lebenserfahrung nicht passt. Daher wird hier das Mögliche auf den Menschen bezogen, indem dieser in der Dichtung über das goldene Weltalter nicht so dargestellt ist, wie er wirklich ist, sondern so, wie er idealerweise sein sollte. Alexis sieht also in der Dichtung über das goldene Weltalter keine moralische Vorbildfunktion, sondern die Beschreibung eines Idealtypus von Mensch, der in seiner Vollkommenheit so unerreichbar scheint, dass diese Dichtung für ihn dysfunktional erscheint. Die suffiziente Lebensart des Menschen im goldenen Weltalter erscheint Alexis hier also auch nicht als eine regulative Idee, sondern als eine unerreichbare Illusion. Diokles vertritt eine antipodische Meinung. Der Mensch des goldenen Weltalters sei keine bloße Erdichtung im Sinne von unwahrscheinlichem Hirngespinst. Dieser damalige Mensch unterscheide sich von heutigen Menschen durch seine Beschaffenheit und durch die ihm gegebenen äußeren Umstände. Dies führt Diokles gegenüber Alexis in einer Erzählung mit mehreren Erzählebenen näher aus. Die Schrift weist grundsätzlich eine dramatische Form auf, in dem ein Gespräch zwischen Diokles und Alexis geschildert wird. Eine vermittelnde Instanz gibt es nicht. Die Schrift besteht neben einem Mottospruch, einer Widmung und einem kurzen Vorwort ausschließlich aus dem Gespräch zwischen Alexis und Diokles. Die direkte Gesprächsebene zwischen den beiden wird mit der narrativen Terminologie Gennettes als extradiegetische Ebene identifiziert. Es handelt sich mit den Gesprächsbeiträgen der beiden um ein Erzählen. Diokles holt nun aber für seine Begründung, warum er die die Dichtung nicht für unwahrscheinlich halte, weiter aus. Er führt 258 Vgl. Ebd. 259 Vgl. Ebd.

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in einer Erzählung zunächst Pythagoras an, der wie Alexis bemerkt »einige Individua ganz vollkommen machen [wollte], damit sie die andern regierten, und so alle glücklich würden«.260 Um dieses Ziel zu erreichen, hat Pythagoras Weisheiten erlangt, die er nicht allen zugänglich machte, sondern die er »mit Hüllen und Geheimnissen zu verwahren« versuchte.261 Die historische Figur des Pythagoras wird hier als Verwahrer von »verschiedene[n] sehr wichtige[n] Kenntnisse[n] dargestellt.262 Diese sind von Pythagoras und seiner »Schule« jedoch im Sinne ihres Zweckes der Vervollkommnung weniger chiffriert worden.263 Dieses chiffrierte Wissen ist nur den »Auserwählten« zugänglich, die in der Lage sind die Chiffren dieses Wissens zu entziffern.264 Die historische Person des Pythagoras ist diesbezüglich nicht zufällig gewählt, denn gerade dieser antike Philosoph steht für die Verbindung von Religiosität und Wissenschaft.265 Doch Diokles führt als vermittelnde Instanz noch Archytas ein: Dieser Archytas nun pflegte seinen nähern Freunden zu erzählen, daß Pythagoras, als er in Phönicien auf Reisen war, sich nach Biblos begeben habe, nicht sowohl, um daselbst die alten Trümmer dieser berühmten, vom Saturn gegründeten Stadt zu betrachten; als um daselbst einen alten Priester des Adonis zu hören, der in der Wissenschaft der Gestirne sehr unterrichtet war, und den Ruf hatte, daß er mehr wisse als die andern Menschen.266 Es wird nun mit Archytas ein erzähltes Erzählen eröffnet. Diokles erzählt Alexis, dass Archytas seinen vertrauten Freunden eine Geschichte über eine Begegnung von Pythagoras und einem »Priester des Adonis« schilderte. Die Ebene, auf der Archytas als erzählende Instanz auftritt, ist nach Genette die intradiegetische Ebene. In der Erzählung des Archytas wird der Priester abermals als Erzähler auftreten, sodass innerhalb des erzählten Erzählens eine weitere narrative Instanz und damit eine weitere Erzählebene eröffnet wird. Diese Ebene ist die metadiegetische Ebene. Diese Differenzierung von Erzählebenen hat in diesem Text an dieser Stelle die Funktion, das Erzählte zu historisieren und zu mythologisieren. Mit jeder weiteren Erzählebene wird eine von Diokles und Alexis aus betrachtet weiter in der Vergangenheit liegende Zeit thematisiert. Damit erscheint die Erzählung des Diokles über die Besonderheit des Menschen des goldenen Weltalters als historisch tradierte Überlieferung und als Mythos. Die verschiedenen Erzählebenen erfüllen eine Mythologisierungsfunktion, indem das Erzählte als Überlieferung verschiedener historischer Zeiten erscheint. Dieser Mythos wird jedoch zugleich als Chiffre kenntlich gemacht, denn der Priester unterscheidet zwischen religiöser und wissenschaftlicher Wahrheit. Pythagoras und der Priester reden über Naturphänomene, die jährlich am Fest des Adonis stattfinden:

260 261 262 263 264 265 266

Vgl. Ebd., S. 46. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Leonid Zhmud: Pythagoras and the Early Pythagorean. Oxford 2012. JWA 5,1, S. 47.

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Er [Der Priester; F.K.] lehrte ihn [Pythagoras; F.K.] die Geheimnisse des großen AdonisFestes, das man jährlich in den Tagen feyert, wenn der Fluß dieses Namens, der vom Berge Libanon kommt, und nahe bey Biblos ins Meer fällt, dem Meere bis an die Küsten vom Delta eine Blutfarbe giebt, und welches die Aegypter und Assyrer mit bewundernswürdiger Pracht feyern helfen. Er sagte ihm, daß alle Jahre, an gewissen Tagen, der schöne Adonis auf dem Gebirge wieder erscheine, um sich da wie ehemals mit der Jagd zu erlustigen; daß alle Jahr ein ungeheurer wilder Eber ihn von neuem an der Hüfte verwunde, wie an dem ewig zu bejammernden Tage geschah, welcher der Göttin der Schönheit so viele Thränen gekostet hat, und dass das Blut, das jedesmal aus der neuen Wunde fliesse und mit dem Wasser des Flusses sich vermische, die Ursache jener jährlichen rothen Farbe des Meeres sey.267 Das Fest des Adonis wird laut dem Priester dann gefeiert, wenn der Fluss mit dem Namen Adonis eine rote Wasserfarbe aufweist. Dieses Fest erscheint so als eine Tradition, die aus dem jährlichen Auftreten dieses Naturphänomens hervorgegangen ist. Aus einem religiösen Weltdeutungsmuster der Antike erklärt der Priester des Adonis diese Naturerscheinung mit dem sich jährlich wiederholenden Tod des Adonis. Auffällig ist hier, dass Adonis eine mythologische Gestalt der Antike ist, die von der Göttin der Schönheit, das ist in der griechischen Antike Aphrodite und in der römischen Antike Venus, begehrt wurde. Aus Neid, da die Göttin der Schönheit Adonis als Liebhaber präferiert, tötet der Kriegsgott Ares (römisch Mars) Adonis, indem er sich in einen Eber verwandelt und Adonis einen Stoß gibt, an dem er verblutet. Dieses Ereignis wiederhole sich jährlich, sodass das Blut des Adonis das Wasser des Flusses rot färbe. Der Priester betont, dass er diese Erklärung als »Oberpriester« gibt, denn sie entspricht dem religiösen Weltdeutungsmuster, dem er als Priester verpflichtet ist. Dabei ist er kein Priester eines Gottes. Er ist Priester der mythologischen Figur des Adonis’, die symbolisch für Schönheit und Vegetation steht. Sein Status als Priester ist dadurch bereits besonders und in gewisser Hinsicht verweltlicht, denn er ist nicht Priester eines Gottes. Diese religiöse Erklärung des Naturphänomens der roten Wasserfärbung des Flusses lässt sich für den Priester mit einer Antwort, die aus einem philosophischen Weltdeutungsmuster heraus angeführt wird, verbinden. Die Philosophen aber gäben zur Ursache jener Erscheinung an, daß während sechs oder sieben Tagen im Jahr ein sehr heftiger Ostwind in den Gegenden um den Berg Libanon wehe; daß dieser Wind alsdann eine ungeheure Menge des rothen Sandes vom Gebirge in den an seinem Fuße sich herum schlägelnden Fluß jage, welcher diesen Sand hernach mit sich fortführe, bis in das Meer, das die Küsten von Phönicien und Aegypten anspült.268 Mit den »Philosophen« wird ein Weltdeutungsmuster vorgestellt, dass Vernunftschlüsse und empirisch nachvollziehbare Ereignisse miteinander kombiniert und in den Vordergrund stellt. Neben dieser Methodik der Erkenntnisgewinnung ist bei der religiösen und der philosophischen Erklärung der Untersuchungsgegenstand ein anderer. Die religiöse 267 Ebd., S. 47f. 268 Ebd., S. 49.

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Erklärung liefert eine Begründung für das Zusammenfallen von naturalen und kulturellen Ereignissen. Die Natur wird hier in anthropomorphisierter Weise betrachtet, indem Adonis symbolisch für die Vegetation steht, die mit dem Herbst vergeht. Die Rotfärbung des Flusses ist ein jährlicher Feiertag, der an den jahreszeitlichen Kreislauf der Natur erinnert und mit der Farbe rot auch auf die Vergänglichkeit des Menschen hinweist. Dieser Hinweis ergibt sich aus der mythologischen Geschichte die Farbe Rot mit dem Blut der menschlich-göttlichen Gestalt des Adonis zu verbinden. Die Natur wird in der religiösen Erklärung anthropozentriert gedeutet, indem die Naturerscheinungen auf Geschehnisse von human-mythologischen Gestalten zurückzuführen ist. Die religiöse Erklärung ist eine Versinnbildlichung der Naturphänomene, die dadurch eine kulturelle Bedeutung erhalten. Die philosophische Erklärung verfolgt ein grundlegend anderes Ziel. Es geht ihr vor allem um die rationale und empirisch belegbare Erschließung von Natur in ihrer eigenen Beschaffenheit. Die Natur wird nicht auf den Menschen hingedeutet, sondern steht hier selbst im Untersuchungsschwerpunkt. Die Philosophie fragt nach Zusammenhängen innerhalb naturaler Begebenheiten, die zu der Rotfärbung des Flusses und der Küstengebiete zu einer bestimmten Zeit im Jahr führen. Der Priester verdeutlicht, dass die religiöse und die philosophische Erklärung nicht dissonant nebeneinanderstehen, sondern dass es sich hier um verschiedene Wissensformen handelt. Diese zu trennenden Wissensformen unterscheiden sich in ihrer Diskursivität, denn die religiöse Erklärung visiert eine Zusammenhangsbegründung von naturalen und kulturellen Ereignissen an, während die philosophische Erklärung die Natur rational und empirisch ergründet. Diese Wissensformen unterscheiden sich auch in ihrer Konstruktivität, indem die religiöse Erklärung auf die Mythologie zurückgreift und sie weiter ausführt. Die philosophische Erklärung steht im Kontext einer Naturforschung, die eine klare und symbolfreie Sprache verwendet. Dies führt zu dem Punkt der Poetizität über, denn die religiöse Erklärung erscheint als mythologische Erzählung, während die philosophische als Ergebnisprotokoll einer durch Beobachtung durchgeführten Untersuchung erscheint. Diese zu differenzierenden Wissensformen weisen auch eine historische Dimension auf, so erscheint die religiöse Erklärung als die ältere, denn »in der Wissenschaft der Gestirne« – im Sinne von Philosophie – erscheint der Priester als ein Pionier.269 Das philosophische Wissen ist ein wissenschaftliches Wissen, das sich gerade in der Zeit des Pythagoras zu etablieren scheint. Die Historizität von diesen beiden Wissensformen zeigt sich im Reziprozitätsverhältnis der verschiedenen Ebenen, denn auf die religiöse Erklärung des Priesters, die er Pythagoras gibt, erwidert auf der extradiegetischen Ebene Alexis: »Sage mir beym Jupiter, glaubte denn Pythagoras solche Weibermärchen?«270 Die Erzählebenen zeigen an, dass Wissen einer historischen Tradierung ausgesetzt ist. Auf der extradiegetischen Erzählebene ist die religiöse Erklärung für Alexis eine Wissensform, die nach seinem Verständnis von Wissen die Kriterien nicht mehr erfüllt, als solches akzeptiert zu werden. Mit den Erzählebenen wird auf diese Weise auf eine Veränderung von Weltdeutungsmustern hingewiesen. Die Weltdeutungsmuster verlagern sich vom Religiösen ins Philosophische. Damit wird auf eine weitere Ebene von Wissensformen hingewiesen, und zwar der Konstitution von Wissen zugrundeliegenden Welt269 Vgl. Ebd., S. 47. 270 Vgl. Ebd., S. 48.

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deutungsmustern. Wissen weise demnach eine Ebene der Theologizität auf, insofern Theologizität als Art und Weise der Weltanschauung und Weltdeutung verstanden wird. Es unterstreicht die besondere Funktion des Priesters, dass er die religiöse und die philosophische Erklärung des Naturphänomens des roten Fluss-und Meerwassers nebeneinanderstellt. Für ihn können beide Erklärungen einen Wahrheitsanspruch erheben. Für Menschen, die ein vernunft-und erfahrungsbetontes Erkenntnisverständnis haben, ist die philosophische Erklärung der religiösen überlegen, weil sie die religiöse Erklärung nicht auszulegen wissen. Während die philosophische Antwort sprachlich klar und pointiert ist, muss bei der religiösen Antwort von einer chiffrierten Sprache ausgegangen werden. Wenn Adonis als Gott der Schönheit und der Vegetation jedes Jahr durch die Verletzung eines Ebers blutet und dadurch stirbt, dann beschreibt diese Erzählung chiffriert den Jahreskreislauf der Natur. Das Fest des Adonis ist im Herbst gefeiert worden und ist eine ritualisierte soziale Praxis der Verabschiedung der sommerlichen Vegetation.271 Der Eber erscheint in dieser Erklärung als unausweichliche Veränderung der klimatischen Verhältnisse durch die Jahreszeiten. Die »Göttin der Schönheit« beweint diesen sinnbildlich gedeuteten Tod des Adonis, weil der Frühling und der Sommer diejenigen Jahreszeiten sind, in denen die Vegetation in voller Blüte und Schönheit steht, während doch gerade der Herbst für die Vergänglichkeit der Schönheit steht.272 Das rote Wasser des Flusses und der Küstengebiete erscheinen als jährliches Signal, dass der Herbst da ist und der Winter bevorsteht. Es ist zugleich ein Symbol der Vergänglichkeit und der Unausweichlichkeit der Zeit und des Schicksals. Adonis muss jedes Jahr erneut sterben, weil jedes Jahr erneut die Vegetation vergeht, um dann im Frühling neu zu entstehen. Der Kreislauf der Natur aus Werden und Vergehen wird so mit dem Fest des Adonis ebenfalls aufgerufen. Die religiöse Erklärung ist ein Wissen, das für den Menschen die Funktion erfüllt, dem Naturphänomen eine symbolische Bedeutung für den Menschen zu geben. Die religiöse Erklärung ist eine anthropozentrierte Betrachtung des Naturphänomens. Das Naturphänomen geschieht nicht zufällig, sondern in der religiösen Betrachtung bekommt es für den Menschen eine Bedeutung. Dagegen strebt die philosophische Erklärung an, den naturalen Zusammenhängen des Phänomens des roten Wassers auf die Spur zu kommen. Hier steht die Erkenntnis von Abläufen und Gesetzmäßigkeiten im Zentrum. Die Natur wird nicht auf die Bedeutung für den Menschen hinterfragt, sondern ist für sich selbst da. Dies unterstreicht, dass beiden Wissensformen eine grundlegend verschiedene Weltanschauung zugrunde liegt. Die Figur des Priesters zeigt auf, dass Religion und Wissenschaft nicht als antagonistische Gegner verstanden werden, sondern als unterschiedliche Deutungen der Welt. Dabei zeichnet sich der Priester gerade dadurch aus, dass er religiöse und wissenschaftliche Weltdeutungen verbindet. Diese Verbindung macht ihn weiser »als die andern Menschen«.273 Durch den Deckmantel dieses antiken Gesprächs wird ein Diskussionszusammenhang verhandelt, der am Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend evident wird. Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Wissenschaft. Diese Frage

271

Vgl. Laurialan Reitzhammer : The Athenian Adonia in context. The Adonis festival as cultural practice. Madison 2016. 272 Vgl. JWA 5,1, S. 47f. 273 Vgl. Ebd., S. 47

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ist in Jacobis Schriften allgegenwärtig und macht deutlich, warum er von diesem Text von Hemsterhuis so begeistert war und ihn übersetzte und diese Übersetzung in seine Werkausgabe aufnahm. Nachdem der Priester des Adonis als jemand vorgestellt wurde, der religiöse und philosophische Weltanschauung miteinander verbindet, kommt er auf den Menschen des goldenen Weltalters zu sprechen. Als er zuletzt an den Mond kam, beschwerte Pythagoras sich bey dem Alten über die ausschweifende Eitelkeit der Arkadier, die sich für das älteste Volk der Erde ausgäben, weil sie lange vor dem Monde da gewesen wären; und der Priester sagte ihm darüber folgende merkwürdige Worte: Du Pythagoras, und überhaupt ihr Griechen, solltet Euch eigentlich über Eure Unwissenheit beschweren. Zu viel Witz hat Euer Genie irre geleitet; es hat über den reichen Phantomen Eurer glänzenden Einbildungskraft die Bahn der einfachen Wahrheit verloren.274 Die Arkadier halten »sich für das älteste Volk«, weil sie schon »lange vor dem Monde da gewesen wären«. Es gab demzufolge ein Weltalter, in der die Erde noch keinen Mond hatte. Der Priester wirft Pythagoras »Unwissenheit«, »Witz« und ein »irre geleitet[es] [Genie]« vor. Eine »glänzende[] Einbildungskraft« hat bei den »Griechen« dazu geführt, dass sie den Sinn für die »einfache[] Wahrheit« verloren hatten. Diese Wahrheit fasst religiöses und philosophisches Wissen in sich zusammen. Es ist ein ursprüngliches Konglomerat von verschiedenen Wissensformen, die erst später ausdifferenziert wurden. Der Priester klärt Pythagoras wie folgt auf: Was die Arkadier von sich rühmen, ist keine Erdichtung. Die Erde war viele Jahrhunderte bewohnt, ehe der Mond ihr sein Licht brachte. Damals war die Richtung ihrer Achse senkrecht auf der Fläche ihrer Bahn; ihre beyden Pole waren also von der Sonne gleich weit entfernt. Die Tage und Nächte waren überall gleich. Es gab gar keine Jahreszeiten. Es gab nur Himmelsstriche. Ein jeder Erdgürtel behielt immer denselbigen Grad der Wärme, ohne die geringste Veränderung. Die einfache Wirkung der Sonne machte die Ebbe und Fluth der Meere regelmäßiger und ruhiger; und die flüßigen Theile in den Körpern der Thiere und Pflanzen behielten ihre Größe und ihre Dichtigkeit. Es konnte kein anderer wind seyn als der Westwind wegen der gleichförmigen, täglichen Bewegung der Erde von Abend und Morgen. Nichts konnte die Atmosphäre verändern. Ein jedes Thier, eine jede Pflanze mußte an dem Orte hervorkommen, der ihrer Natur am gemäßesten war. Die Bäume waren immer gleich voll von Früchten, Blüthen und Laub; die Erde fand in der Abwechselung der Jahreszeiten kein Hinderniß, ihre unendliche Zeugungskraft zu entwickeln. Die beständige Gleichheit der Natur lieferte Kräuter und Früchte, die viel nahrhafter waren; und deren Arten durch die schnelle Folge der Jahreszeiten haben zerstört werden müssen.275 Dem Priester zufolge gab es eine Weltzeit, in der die Erde noch keinen Mond hatte. Dies war das goldene Weltalter. In dieser Zeit war die astrologische Beschaffenheit und Position der Erde anders, als es dann der Fall mit dem Mond sein wird. Ohne Mond befand

274 Ebd., S. 49. 275 Ebd., S. 50f.

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sich die Erde in einer »gleichförmigen, täglichen Bewegung«. Ihre »Achse« war »senkrecht auf der Fläche ihrer Bahn«, sodass beide »Pole […] von der Sonne gleich weit entfernt« waren. Die Erde befand sich ohne den Mond in einem Zustand einer astrologischen Gleichförmigkeit. Aus diesem Grund herrschten auf der Erde andere Naturumstände. Die Atmosphäre war unveränderlich; jede Pflanze wuchs genau dort, wo sie die bestmöglichen Bedingungen zum Gedeihen hatte und jedes Tier lebte genau dort, wo es die bestmöglichen Bedingungen zum Leben hatte. Anders als es mit dem thematisierten Fest des Adonis gefeiert wird, gab es im goldenen Weltalter keine Jahreszeiten und daher für die »unendliche Zeugungskraft« der Natur kein »Hinderniß«, denn »[d]ie Bäume waren immer gleich voll von Früchten, Blüthen und Laub«. Es ist diese »beständige Gleichheit der Natur«, die auch »Kräuter und Früchte« entstehen ließ, »die viel nahrhafter waren«. Das goldene Weltalter ist somit eine fern vergangene Zeit, die irreversibel verloren ist, da sie bestand, als die Erde noch keinen Mond hatte. Die Erde existierte in dieser Zeit in einer vollkommenen astrologischen Gleichförmigkeit, die zu einer vollkommenen und beständigen Natur führte. Unter diesen vollkommenen Daseinsbedingungen lebte der Mensch anders: Mensch und Thier fanden ihren Unterhalt überall um sich her, und weder der eine noch das andere konnte jemals in der traurigen Nothwendigkeit seyn, in dem Blute oder in den Eingeweiden seines Gleichen sich eine scheußliche Nahrung zu suchen. Sehr selten verließ der Mensch den Erdgürtel, worinn er gebohren war; weil er sich an keinem Orte so wohl befand, als in seiner Heimath. Da jeder Mensch sich für den glücklichsten auf Erden hielt; so war aller Ehrgeitz, und alle Eigenthums-oder Eroberungssucht unmöglich.276 Der Mensch lebt im harmonischen Einklang mit den Tieren und lebt auch an den Orten, die ihm die bestmöglichen Lebensbedingungen bieten. Jeder einzelne Mensch hält sich selbst »für den glücklichsten auf Erden«. Dieses umfassende und intensive Glücksgefühl negiert jeglichen Ehrgeiz und jegliche Eigentums-und Eroberungssucht. Dieser Mensch des goldenen Weltalters strebt nicht nach Vervollkommnung, denn er befindet sich bereits in einem Vollkommenheitszustand. Dieser Mensch des goldenen Weltalters ist ein Mensch, der das, was den Menschen der Erde mit Mond auszeichnet und zum Menschen macht, nicht hat: seinen Vervollkommnungstrieb. Somit ist der Mensch in dieser Erzählung nicht gleich Mensch, denn es gibt den Menschen des goldenen Weltalters, der sich in einem Vollkommenheitszustand ungetrübten Glücks befindet und es gibt den Menschen der Weltalter danach, der sich durch einen Trieb der Vervollkommnung auszeichnet. Dieser Trieb der Vervollkommnung ist das, was der Mensch als Rudiment des goldenen Weltalters in sich trägt. Im goldenen Weltalter war »die Glückseeligkeit des Menschen eine durch alles, was glücklich ist, multiplicirte Einheit«.277 Das menschliche Dasein war durch eine vollkommene Moral geprägt, die dadurch entstand, dass sich jeder Mensch als der glücklichste fühlte und allen anderen Menschen zu diesem Zustand führen wollte.

276 Ebd., S. 51f. 277 Vgl. Ebd., S. 45.

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Bey einer so gleichförmigen Verfassung der Dinge, mußten die Menschen sich einander ähnlich sehen, und der Mensch erblickte in jedem einzelnen Wesen seiner Art, das ihm begegnete, sich selbst; und da er sich für glücklicher hielt als jeden andern; so war das Ziel seiner Wünsche, jeden andern, in dem er sich wieder erkannte, so glücklich zu machen, als er sich selbst fühlte. Auch mußte damals die Sprache durchaus vollkommen seyn, weil sie keine andere Worte oder Zeichen hatte, als solche, welche die Organen, von starken innerlichen Empfindungen gedrungen, durch Laut und Geberde von sich gaben.278 Der einzelne Mensch erkannte sich selbst im Anderen wieder, da die Menschen aufgrund der naturgegebenen Gleichförmigkeit alle sehr ähnlich aussahen. Der Mensch des goldenen Weltalters sah alle anderen Menschen, die ihm begegneten, als Spiegelung seiner selbst an und da er »sich für glücklicher hielt«, so strebte er danach, das Glück seiner Ich-Spiegelung zu intensivieren. Zwischen den Menschen des goldenen Weltalters gab es auch keine Missverständnisse und Verwirrungen durch eine komplizierte Sprache. Ihre Sprache kam direkt von ihren »Organen«, die »von starken innerlichen Empfindungen gedrungen« waren. Diese Sprache bestand aus »Laut und Geberde«, war aber für die Menschen klarer und deutlicher, als die Sprache des Menschen späterer Zeiten. Durch die astrologische und naturale Gleichförmigkeit der Erde war das Leben auf ihr vollkommen. Dies ändert sich mit dem Erscheinen des Mondes, der die Gleichförmigkeit und Vollkommenheit der Erde zerstört: Siehe, das war der glückliche Zustand des Menschen vor der Erscheinung des Mondes. Als dieser aus entfernten Regionen in die Nachbarschaft der Sonne kam, entgieng er dem beobachtenden Auge des Menschen nicht. Er schien klein, mit einem langen Schweife von Licht hinter sich. Seine Bewegung wurde schneller und schneller, bis man ihn in den Strahlen des großen Gestirns verlor. Als er das erstemal, auf seinem Rückwege von der Sonne, wieder zum Vorschein kam, hatte er das Ansehen des Morgensterns; aber mit einer dicken Atmosphäre umgeben, und ein kurzes Haar vor sich her. Da er fast gerade gegen die Erde vorrückte, schien er wie unbeweglich an demselben Orte des Himmels: seine flammende Gestalt nahm immer zu; und so kam er von Tage zu Tage, von Stunde zu Stunde, immer näher. Es währte nicht lange, so bemerkte man in den Gewässern eine unordentliche Bewegung; schwellend traten sie aus den Ufern; ihre Oberfläche war gefurcht, mit Schaum.279 Die kosmologische Erscheinung des Mondes rückt »aus entfernten Regionen« auf die Erde zu. Dabei hat der Mond noch nicht die Gestalt, die er in den späteren Weltaltern aufweist, denn »[e]r schien klein, mit einem langen Schweife von Licht hinter sich«. Bevor der Mond sich direkt auf die Erde zubewegt hat, ist er »in den Strahlen des großen Gestirns« versunken. Das heißt, dass er sich so nah zur Sonne bewegte, dass er in ihrem Licht von der Erde aus nicht mehr beobachtbar war. Danach »hatte er das Ansehen des Morgensterns; aber mit einer dicken Atmosphäre umgeben, und ein kurzes Haar vor sich her«. Die Begegnung mit der Sonne hat eine entscheidende Wirkung auf den Mond,

278 Ebd., S. 52. 279 Ebd., S. 54.

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denn ist er danach leuchtend wie der Morgenstern und ist umgeben von einer Gashülle. Brennende Partikel geben ihm das Aussehen, als hätte er eine Frisur. Durch die Begegnung mit der Sonne scheint sich der Mond in einem explosiven Prozess des Wandels zu befinden. Dieser Wandlungsprozess erscheint beim Mond als Sterbeprozess, denn er wirkt anfangs vital und bewegt sich durch den Weltraum. Die Nähe zur Sonne scheint ihn aber in einer Weise entzündet zu haben, dass er ausbrennt, sodass er zu dem weiß und kahl werdenden Himmelkörper wird, denn die Menschen nach dem goldenen Weltalter als Mond kennen. Umso näher der Mond als »flammende Gestalt« der Erde kommt, umso mehr scheint sich ein Prozess des Wandels auch auf die Erde zu übertragen, denn »eine unordentliche Bewegung« verändert die Oberfläche der Erde. Auch die Lebewesen auf der Erde erleben durch den heranziehenden Mond Veränderungen. Es ließ sich innerlich in den Körpern aller Thiere eine ganz wunderbare Veränderung spüren, die von einer unbekannten Unordnung in ihren Säften herrührte. Ungewöhnliche Flecken verunstalteten den reinen blauen Himmel, den bis dahin nichts getrübt hatte; die ersten Wolken bildeten sich. Was man noch von Sternen sah, schien seine Stelle verändert zu haben; denn die Achse der Erde war schon nicht mehr senkrecht, und ihre schwersten Theile neigten sich, durch eine anziehende Kraft, unmerklich nach dieser neuen Masse hin. Die Erde, die niemals anders als mit dem Morgenthau war befeuchtet worden, wurde durch Gewässer überschwemmt, die oben vom Himmel herunter fielen. Da die einfache und gleichförmige Bewegung der Erde, welche bisher die verschiedenen Materien in ihrem Schooße verhindert hatte, sich zu vermischen, in Streit zu gerathen und zusammen zu gähren, aufgehoben und verändert war: so fand sich nun alles, Salpeter, Schwefel, Feuer, untereinander gemischt.280 Der heranrückende Mond führt zu »ganz wunderbare[n] Veränderungen« im Inneren der Körper »aller Thiere«. Der Mond zerstört die astrologische Gleichförmigkeit der Erde, was sich direkt auf die Lebewesen auf der Erde überträgt, denn die Veränderungen in ihrem Körperinneren wird von einer »unbekannten Unordnung in ihren Säften« verursacht. Der Himmelskörper des Mondes, der sich selbst gerade in einem Prozess des Wandels befindet, ruft Veränderungen bei den Lebewesen auf der Erde hervor, die die vollkommene Ordnung und Gleichförmigkeit destruiert. Neben dem körperlich Inneren der Lebewesen auf der Erde durchlebt auch die Natur der Erde ein Veränderungsprozess, denn es entstehen Wolken und der Kreislauf von Verdunstung und Regen, sodass »[u]ngewöhnliche Flecken den reinen blauen Himmel [verunstalteten]«. Auch die Position der Erde verändert sich, denn die Achsen der Erde sind »nicht mehr senkrecht«. Der Grund für diese Veränderungen der Erde durch den heranrückenden Mond ist die Gravitation, als die Kraft, die Massen dazu bringt, sich gegenseitig anzuziehen. Diese Kraft wird als »eine anziehende Kraft« benannt, die »unmerklich nach dieser neuen Masse hin« zieht. Das goldene Weltalter endet mit der Formation der Naturgesetze, die die nachfolgenden Menschen nicht anders kennen werden. Es sind also die Beschaffenheiten der Erde und die Naturgesetze, die das goldene Weltalter beenden. Mit der Beendigung der »einfache[n] und gleichförmige[n] Bewegung der Erde« kommen nun Substanzen miteinander in Berührung, die vorher durch die Gleichförmigkeit der Erde keinen 280 Ebd., S. 54f.

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Kontakt hatten. So bildet sich »Salpeter, Schwefel, Feuer, untereinander gemischt«. Es entstehen in dieser Veränderung der Erde neue Stoffe. Diese Stoffe zeigen an, dass die Natur auch zerstörerische Kräfte hat. Die Natur bildet mit der Veränderung der Erde ihr destruktives Potenzial aus: Es stiegen schwarze Dünste empor. Lodernde Blitze durchkreuzten zum erstenmal das dunkle und weite Gewölbe des Himmels. Das fürchterliche Getöse des Donners ließ sich hören. Nicht lange; so zerplatzte an hundert Stellen die dicke Rinde der Erde, um der Unordnung, die sie inwendig von allen Seiten ängstigte, Luft zu machen. Alle Elemente waren in Verwirrung, und ihre rohe Vereinigung brachte Materien von vermischter, ausgearteter und zweydeutiger Natur hervor. Die Luft, die sich von entgegengesetzten Seiten her gedrückt fühlte, bewegte sich und suchte brüllend Ausgänge nach verschiedenen Richtungen. Ein jeder Hauch streckte die dicksten Wälder danieder. Millionen Menschen und Thiere kamen in dieser fürchterlichen Katastrophe um. Diejenigen unter ihnen, die durch ein glückliches oder unglückliches Ohngefähr, auf dem Gewässer, das diese ganze Scene der Verzweiflung schon bedeckte, sich an Baumstämmen angehängt hatten, befanden sich in einer schrecklichen Ruhe. Sie sahen nichts als ein wüthendes Meer, einen fremden und unreinen Himmel, und das gebrochene blaugelbe Licht jenes scheußlichen Körpers, die traurige Ursache alles ihres Unglücks.281 Das Näherkommen des Mondes führt zu einer Naturkatastrophe, die apokalyptische Züge trägt. So reißt die Erde auf und es gibt ein »fürchterliche[s] Getöse des Donners«. Allmählich bedeckt sich die Erde aber auch mit Wasser. Es gibt eine Überflutung der Erde. In diesem monumentalen Ereignis sterben »Millionen Menschen und Thiere«. Die Erde und die Natur, die bisher so freundlich und vollkommen gewaltfrei zu den Menschen war, ist nun zerstörerisch, da durch die Vermischung verschiedenster Substanzen nun Verbindungen von »vermischter, ausgearteter und zweydeutiger Natur« entstehen. Beim Blick nach oben sehen die Menschen, die überleben, »einen fremden und unreinen Himmel«. Dort sehen sie auch »das gebrochene blaugelbe Licht jenes scheußlichen Körpers«, der diese ganze »fürchterliche[] Katastrophe« verursacht hat. Letztlich ist diese ganze Katastrophe auf die Kraft zurückzuführen, dass sich Massen gegenseitig anziehen und ihre Position verändern, denn dies hat die astrologische Position der Erde verändert. Durch diesen Positionswandel änderte sich auch die Beschaffenheit der Lebewesen auf der Erde und letztlich der ganzen Natur. Der Mond ist »die traurige Ursache alles ihres Unglücks«, weil es das astrophysikalische Phänomen der Gravitation gibt. Das goldene Weltalter ist in dem Moment vorbei, indem ein Gesetz der Wechselverhältnisse von astrophysikalischen Massen beobachtbar wird. Es ist dieser Augenblick, in dem das goldene Weltalter vorbei ist, denn die Natur bekommt damit eine inhärente Gesetzmäßigkeit, die nicht auf das Wohl des Menschen und anderer Lebewesen ausgerichtet ist, sondern den Gesetzen folgt, die unhintergehbar gelten. Dieser Augenblick des Wandels ändert den Menschen, sodass der Mensch des goldenen Weltalters unwiederbringlich tot ist. Der Mensch nach dem goldenen Weltalter bekommt durch diese Naturereignisse, die

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neuen chemischen Substanzen und der neuen Beschaffenheit der Erde eine grundlegende veränderte Haltung gegenüber der Natur. Der Mensch, welcher kurz vorher in jedem Stern, in jeder Blume, in jedem Bruder, unter jedem Morgenroth einen gnädigen Gott angebetet hatte, von dem ihm die Sonne das vollkommenste Bild dünkte, glaubte in diesem neuen Sterne das Bild eines siegenden Gottes zu sehen, der mächtiger war als der seinige; eines übelgesinnten Gottes der Zerstörung und der Finsterniß. Und das ist die erste Quelle der ungereimten Idee von einem guten und bösen Urwesen. Das Geschrey der Menschen und Thiere war eine neue Sprache, die man wegen der wechselseitigen starken Empfindungen, zu verstehen das Unglück hatte. Schrecken, Schauder, und ein dumpfer Sinn des Zusammenfahrens kamen an die Stelle der süßesten Ruhe. Der Mensch sah den Tod zum erstenmal unter dem neuen Gesichtspunkte eines gewaltthätigen Zustandes. Dieser Augenblick des Ueberganges; dieser wollüstige Augenblick; dieser Augenblick, der vorhin, wie eine aufgehende Blume, schön war, nicht durch die Hoffnung, die der Mensch nicht kannte, sondern durch das untrügliche und deutliche Gefühl einer aufblühenden und sichtbaren Zukunft, die noch angenehmer war als das Vergangene und das Gegenwärtige: selbst dieser Augenblick schien ihm das schrecklichste von allem. Denn die Zeiten waren noch nicht gekommen, wo er sich zu seinem traurigen Troste die widersprechende Idee einer unmöglichen Vernichtung schmiedete.282 Der Augenblick, in dem das goldene Weltalter endet, ist zugleich der Moment des Aufkommens der »ungereimten Idee von einem guten und bösen Urwesen«. Es ist erneut hervorzuheben, dass diese Geschichte auf der metadiegetischen Ebene von einem Priester des Adonis erzählt wird. Es handelt sich hier um eine mythologische Erzählung eines Priesters, der Religion und Wissenschaft als unterschiedliche Wissensform nebeneinanderstellt und als Begründung für den Mythos des goldenen Weltalters eine Veränderung der Beschaffenheit der Erde anführt. In dieser Erzählung werden philosophisch wissenschaftliche und religiös symbolische Erklärungen miteinander verbunden. Der Priester führt am Ende seiner Erzählung an, dass es dieser Verlust des goldenen Weltalters ist, der zuletzt dem Menschen überhaupt erst die Angst zu vergehen gab, denn »die widersprechende Idee einer unmöglichen Vernichtung« entsteht als »traurige[r] Trost[]«. In dem »wollüstige[n] Augenblick« der größten Erdkatastrophe des Massensterbens und der wildesten und gefährlichsten Naturphänomene gab es den Gedanken »einer aufblühenden und sichtbaren Zukunft, die noch angenehmer war als das Vergangene und das Gegenwärtige«. Doch auch dieser Gedanke erscheint dem damaligen Menschen als »das schrecklichste von allem«, denn all dieses Leid kann durch nichts gerechtfertigt, kann durch nichts relativiert oder wieder ausgeglichen werden. Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist fortan gestört und durch Überwindung geprägt, denn wenn der Mensch die Natur überwinden kann, dann kann auch das zerstörerische Potenzial der Natur dem Menschen nichts mehr anhaben. Mit diesem Ereignis entsteht ein neues Verhältnis von Menschen und Natur. Im goldenen Weltalter war alles Dasein wie eine vollkommen holistische Einheit. Innerhalb dieser Einheit befand sich alles im harmonischen Einklang

282 Ebd., S. 56f.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

miteinander. Die Zerstörung des Gleichgewichts der Erde ruiniert diese Einheit. Es treten verschiedene Naturbereiche hervor und die Lebewesen müssen um ihr Dasein kämpfen. Folglich ist das katastrophale Naturereignis die Erfahrung, dass die Natur nicht eine allesumfassende Einheit ist, denn es wirken verschiedene Kräfte in ihr und manche können sich gegen den Menschen richten. Die Natur erscheint damit erstmals als Gefahr und Bedrohung. So entsteht im Menschen die Idee eines anderen Lebens als das diesseitige. Wenn es ein Leben unabhängig vom Körper gibt, das rein geistig ist und so nicht zur Natur gehört, dann liegt die Überwindung der Natur in der Beschaffenheit des Menschen selbst. Dieser Geist kann nach dem diesseitigen Tod weiter existieren und somit ist die Idee der »unmöglichen Vernichtung« geboren. Mit dieser Idee kann nun fortan jegliches diesseitige Leid ertragen und begründet werden, wenn das Diesseits des Menschen auf ein Jenseits hin ausgerichtet wird. Der Priester des Adonis bewertet diese Idee als »widersprechend[]«. Demzufolge scheint er die Entwicklung des Menschen, die er nach dem Zerfall des goldenen Weltalters genommen hat, zu kritisieren. Auch die »Idee von einem guten und bösen Urwesen« bezeichnet er als »ungereimt[]«, sodass deutlich wird, dass er diese Vorstellung nicht teilt. Erneut tritt der Priester hier als Figur in Erscheinung, die mit seiner Erzählung eine Verbindung von Religion und Wissenschaft verkörpert. Endlich – die Erde erseufzte noch von dem, was sie gelitten hatte – fiengen die Elemente an wieder in ihr Gleis zu kommen. Der Mond säuberte sich von seiner Atmosphäre und seinem Haar; und nachdem er durch das schreckliche, von einer zu nahen Sonne geborgte Feuer, in einen Todtenkopf, in ein Wesen zu allem untüchtig und von unnützer ewiger Dauer war verwandelt worden; setzte das große Gesetz der Natur das Gleichgewicht zwischen ihm und der Erde fest, und verordnete ihn zu unserem beständigen Gefährten.283 Der Wandlungsprozess des Mondes kommt zu seinem Endpunkt. »[D]as schreckliche, von einer zu nahen Sonne geborgte Feuer« hat ihn ausgebrannt. Er »säuberte sich von seiner Atmosphäre und seinem Haar« und übrigblieb dann noch ein »Todtenkopf«. Der Mond ist also kein siegender Gott oder Ähnliches, sondern er ist ein Himmelskörper, der durch den Weltraum flog und dabei zu nah an die Sonne kam, sodass er verbrannte und nun ein ausgebrannter kahler Himmelkörper ist. In diesem Zusammenhang bekommt die Sonne eine ambivalente Rolle. Aus der Distanz der Erde ist sie schön und erscheint als lebengebende Kraft. Der Mond führt jedoch vor, dass diese Kraft, wenn ihr zu nahe gekommen wird, auch zu einer todbringenden Kraft werden kann. Der Körper des Mondes ist zwar noch da, aber er weist keinerlei Leben mehr auf. Aus dieser Perspektive gibt ihm seine weiß-graue Farbe den Anschein von Asche. Die nahe Begegnung hat ihn zu »ein[em] Wesen zu allem untüchtig und von unnützer ewiger Dauer« gemacht. Der Körper des Mondes ist zwar noch im Weltraum existent, aber ihm wohnt keine Lebendigkeit und Aktivität mehr inne. In seinem Sterbeprozess ist der Mond für die Erde todbringend. Er überträgt diesen transitorischen Übergang vom Leben in den Tod auf viele Lebewesen auf der Erde, dadurch dass seine Masse Auswirkungen auf die astrologische Position und die Beschaffenheit der Erde hat. Der tote Himmelskörper des Mondes wird

283 Ebd., S. 57.

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von dem »große[n] Gesetz der Natur« in einer bestimmten Distanz zur Erde platziert. Zwischen dem Mond und der Erde gibt es nun durch dieses »große Gesetz der Natur« ein »Gleichgewicht«. Dieses Naturgesetz ist die Anziehung von Massen, die sich Gravitation nennt. Die Geschichte vom Ende des goldenen Weltalters fällt zusammen mit der Frage, warum die Erde einen Mond hat. Diese Erzählung vom Ende des goldenen Weltalters erzählt der Priester des Adonis Pythagoras. Von Archytas hat Diokles davon erfahren und dieser gibt diese Erzählung nun an Alexis weiter. Sie ist eine vermeintlich wissenschaftliche Erläuterung über das Ende des goldenen Weltalters und zugleich eine allegorische Narration darüber, dass es kein Leben ohne den Tod geben kann. Der Verlust des goldenen Weltalters ist in dieser allegorischen Perspektive die Einsicht, dass der Tod auch gewalttätig über ein Lebewesen kommen kann. Der Mond ist als Verkörperung des Todes, als nächtliches Mahnmal, der »beständige[] Gefährte[]« der Erde. Diese Erzählung verbindet wissenschaftliche und religiöse Dimensionen miteinander und eröffnet so religionswissenschaftliche Betrachtungsweisen der Fragen nach Gut und Böse und einem Jenseits nach dem Tod. Abschließend ist zu dieser Übersetzung Jacobis mit dem Titel Alexis oder von dem goldenen Weltalter darauf hinzuweisen, dass sie im Vergleich zu anderen philosophischen Schriften Jacobis eine geringe zeitgenössische Rezeption aufweist.284 Sie spielt aber für die Spätfassungen der Erzählwerke eine Rolle, indem sie auf das Verhältnis von Philosophie und Religion verweist, das in den meisten Schriften Jacobis eine erhebliche Rolle spielt und letztlich auch in seinem doppelten Vernunftbegriff einer adjektiven und substantiven Vernunft kulminiert. Diese Schrift Jacobis zeigt auf, dass das goldene Weltalter ein Topos ist, der in den verschiedensten Kontexten thematisiert wird, um danach zu fragen, was den Menschen zu demjenigen Lebewesen macht, das er ist. Die Thematisierung des goldenen Weltalters ist ein Topos der anthropologischen Ergründung des menschlichen Selbst‹. Mit dieser Übersetzung Jacobis wird eindrucksvoll deutlich, dass das goldene Weltalter auch in einem erkenntnistheoretischen Diskussionszusammenhang erscheint. Es wird im Detail ergründet, warum das goldene Weltalter enden musste und wie und warum das sich daran anschließende Depravationsgeschehens abläuft. In diesem Kontext wird erklärt, wie sich die Dichotomie von Natur und Kultur ausgebildet hat. Die ursprüngliche Einheit von allem Daseienden, die im goldenen Weltalter gegeben war, ist jedoch in das Innere des Menschen eingeschrieben und zeigt sich darin, dass die Vorstellung eines vollkommen ausgeglichenen Lebens als moralischer Wert erscheint. Das goldene Weltalter gibt als Orientierungsmaßstab des menschlichen Handelns und Verhaltens eine Ausgeglichenheit mit sich selbst, mit seinen Mitmenschen und mit der Natur vor. Diese Ausgeglichenheit ist ein erwünschtes Ziel des menschlichen Lebens. Die Erzählwerke Jacobis greifen dieses Ziel auf und diskutieren, wie eine suffiziente Lebensart konkret erreicht werden kann.

284 Vgl. JWA 5,2, S. 472–475.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

3.3 Jacobis Eduard Allwills Briefsammlung von 1792 In der zeitlichen Folge des Erscheinens stellt Eduard Allwills Papiere das erste Erzählwerk Jacobis dar. Im editorischen Bericht der historisch-kritischen Werkausgabe Jacobis werden fünf verschiedene Druckfassungen unterschieden, die in eine Früh-und Spätphase unterteilt werden.285 Drei Druckfassungen ordnen sich der Frühphase und zwei der Spätphase zu.286 Die erste Fassung erschien unter dem Titel Eduard Allwills Papiere in der Zeitschrift Iris, die auf ein weibliches Lesepublikum zielt. Der Herausgeber dieser Zeitschrift war Jacobis Bruder Johann Georg Jacobi. Diese erste Fassung stellt eine Briefsammlung dar, die fünf Briefe umfasst. Dabei handelt es sich um die ersten drei Briefe Syllis an Clerdon, in denen sie ihren besonderen Gemütszustand beschreibt, und um einen Brief Clerdons an Sylli, dem ein Brief von Eduard Allwill beigefügt ist. Diese Briefe sind in allen weiteren Allwill-Fassungen enthalten. Die zweite Fassung erscheint 1776 in den Monatsheften von April, Juli und Dezember im Teutschen Merkur von Christoph Martin Wieland und darin werden die fünf Briefe aus der Iris »um acht weitere und eine Note ergänzt«.287 Eine dritte Fassung der Frühphase ist in Jacobis Vermischte Schriften von 1781 enthalten, die gegenüber der Fassung von 1776 die »Streichung zweier Briefe und der Note« aufweist.288 Carmen Götz erläutert in ihrem editorischen Bericht, dass die Druckfassungen von 1776 als »vollständigste Fassung der Frühzeit« für die Edition der historischkritischen Werkausgabe zugrunde gelegt wurden.289 Die Fassung von 1781 weise »keine bedeutsamen Veränderungen« auf.290 Dieser Position wird gefolgt und als Frühfassung werden die 1776 im Teutschen Merkur erschienenen Texte untersucht.291 Im Unterschied zum Woldemar erscheint keine Fassung des Allwill der Frühphase als eigenständiges Buch, sondern als Beiträge in Periodika292 und im Falle der Fassung von 1781 als ein zusammenhängender Text innerhalb einer Schriftensammlung Jacobis. Die Spätfassung von 1792 ist die einzige Fassung, die als eigenständiges Buch erscheint. Die spätere Fassung von 1812 veröffentlicht Jacobi in seiner selbst herausgegebenen Werkausgabe und dort ist die Allwill-Fassung letzter Hand erneut ein zusammenhängender Text innerhalb einer Schriftensammlung Jacobis. Gegenüber der Fassung von 1776 ist die Fassung von 1792 »um neun Briefe sowie die Zugabe. An Erhard O** erweitert«.293 Zwischen den Früh-und Spätfassungen ist ein verändertes Romankonzept erkennbar. Dies zeigt sich darin, dass Briefe der Frühphase gestrichen, erweitert und umgestellt sind. Die Fassungen der Frühphase konzentrieren sich auf die Schilderung von Syllis Gemütsverfassung und deuten moralische Ungereimtheiten in Allwills Charakter an. Die Spätphase fügt einen weiteren Diskussionszusammenhang hinzu, indem Fragen des menschlichen Wahrnehmens und Erkennens als Kontroverse zwischen Cläre und 285 286 287 288 289 290 291 292 293

Vgl. JWA 6,2, S. 257f. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 257. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. das Kapitel 4.1 dieser Untersuchung. Vgl. für narrative Spezifika dieses Veröffentlichungsformats das Kapitel 1.2 dieser Studie. Vgl. JWA 6,2, S. 257.

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Clerdon hinzugefügt werden. Die beiden vorherigen Punkte werden erweitert, doch gerade die Thematisierung der moralischen Beschaffenheit Allwills bleibt fragmentarisch. So bleibt offen, ob zwischen ihm und Cläre eine Beziehung entsteht. In den Fassungen der Spätphase steht, wie auch in denen der Frühphase, die Figur Sylli im Mittelpunkt. Es sind die inneren Geschehen und Wandlungen Syllis, die die Ereignisse der einzelnen Briefe als zusammenhängende Geschehnisse erscheinen lassen. Die Briefe sind in dieser Fassung »erstmals durchnummeriert«.294 Zudem wird der »Vorbericht« der Frühfassung von 1776 durch eine gänzlich veränderte Vorrede und eine Einleitung ersetzt. Dort werden die briefschreibenden Figuren vorab skizziert und ihre Beziehungen zueinander erläutert. Das Werk von 1792 wird als Spätfassung zugrunde gelegt, da die fünfte Druckfassung, die im Jahr 1812 erscheint, ein kaum veränderter Wiederabdruck dieser Fassung von 1792 ist. Die strikte Unterscheidung zwischen Früh-und Spätphase begründet sich in ihrer jeweiligen zu differenzierenden literatur-, philosophie-sowie kulturgeschichtlichen Kontextualität. Götz betont, dass »sowohl zeithistorisch als auch personell [die Früh-und Spätfassungen, F. K.] ihre eigenen Entstehungskontexte und auch Rezeptionshorizonte« aufweisen.295 Im Folgenden steht die Spätfassung von 1792 im Zentrum, die zunächst im Fokus steht. In bisherigen Betrachtungen von Jacobis Erzählwerken wird primär die Frühfassung betrachtet, um dann die Spätfassung mit dieser ersten Frühfassung zu vergleichen.296 Dadurch bleiben Spezifika der Spätfassung unberücksichtigt. Aus diesem Grund steht zunächst die Spätfassung im Zentrum dieser Untersuchung. Im Anschluss an die Untersuchung der Spätfassungen des Allwill und Woldemar werden die Frühfassungen betrachtet, um deutlich zu machen, welche gravierenden Unterschiede zwischen den Fassungen bestehen. Dies geschieht unter besonderer Berücksichtigung empfindsam-idyllischer Szenen, denn diese Szenen erfüllen in den Früh-und Spätfassungen distinkte Funktionen, die zugleich das veränderte Romankonzept veranschaulichen.

3.3.1 Briefroman und empfindsame Herausgeberfiktion Jacobis Eduard Allwills Briefsammlung ist ein Briefroman, der mit dem Begriff der Sammlung die Unabgeschlossenheit und den teilweise unklaren Bezug verschiedener Briefe mit dem Charakter des Zusammenstellens des Auffindbaren rechtfertigt. Um das Spezifische der Briefsammlung herauszustellen, ist zunächst im Allgemeinen die literarische Gattung des Briefromans zu betrachten. Der Briefroman wird als Folge von fiktiven Briefen eines einzelnen oder als Briefwechsel mehrerer Personen von einem fiktiven Herausgeber komponiert, der für die Authentizität der Briefe eintritt. Aus der Komposition ergeben sich die erzählerischen Möglichkeiten des Briefromans: die Präsentation von Unmittelbarkeit und Diskontinuität, die Verschränkung mehrerer Perspektiven, die Spannung zwischen Individualität und Vielstimmigkeit, die Steigerung der fiktionalen Komplexität durch das Spiel

294 Vgl. Ebd. 295 Vgl. Ebd., S. 258. 296 Vgl. dafür das erste Oberkapitel dieser Untersuchung.

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Clerdon hinzugefügt werden. Die beiden vorherigen Punkte werden erweitert, doch gerade die Thematisierung der moralischen Beschaffenheit Allwills bleibt fragmentarisch. So bleibt offen, ob zwischen ihm und Cläre eine Beziehung entsteht. In den Fassungen der Spätphase steht, wie auch in denen der Frühphase, die Figur Sylli im Mittelpunkt. Es sind die inneren Geschehen und Wandlungen Syllis, die die Ereignisse der einzelnen Briefe als zusammenhängende Geschehnisse erscheinen lassen. Die Briefe sind in dieser Fassung »erstmals durchnummeriert«.294 Zudem wird der »Vorbericht« der Frühfassung von 1776 durch eine gänzlich veränderte Vorrede und eine Einleitung ersetzt. Dort werden die briefschreibenden Figuren vorab skizziert und ihre Beziehungen zueinander erläutert. Das Werk von 1792 wird als Spätfassung zugrunde gelegt, da die fünfte Druckfassung, die im Jahr 1812 erscheint, ein kaum veränderter Wiederabdruck dieser Fassung von 1792 ist. Die strikte Unterscheidung zwischen Früh-und Spätphase begründet sich in ihrer jeweiligen zu differenzierenden literatur-, philosophie-sowie kulturgeschichtlichen Kontextualität. Götz betont, dass »sowohl zeithistorisch als auch personell [die Früh-und Spätfassungen, F. K.] ihre eigenen Entstehungskontexte und auch Rezeptionshorizonte« aufweisen.295 Im Folgenden steht die Spätfassung von 1792 im Zentrum, die zunächst im Fokus steht. In bisherigen Betrachtungen von Jacobis Erzählwerken wird primär die Frühfassung betrachtet, um dann die Spätfassung mit dieser ersten Frühfassung zu vergleichen.296 Dadurch bleiben Spezifika der Spätfassung unberücksichtigt. Aus diesem Grund steht zunächst die Spätfassung im Zentrum dieser Untersuchung. Im Anschluss an die Untersuchung der Spätfassungen des Allwill und Woldemar werden die Frühfassungen betrachtet, um deutlich zu machen, welche gravierenden Unterschiede zwischen den Fassungen bestehen. Dies geschieht unter besonderer Berücksichtigung empfindsam-idyllischer Szenen, denn diese Szenen erfüllen in den Früh-und Spätfassungen distinkte Funktionen, die zugleich das veränderte Romankonzept veranschaulichen.

3.3.1 Briefroman und empfindsame Herausgeberfiktion Jacobis Eduard Allwills Briefsammlung ist ein Briefroman, der mit dem Begriff der Sammlung die Unabgeschlossenheit und den teilweise unklaren Bezug verschiedener Briefe mit dem Charakter des Zusammenstellens des Auffindbaren rechtfertigt. Um das Spezifische der Briefsammlung herauszustellen, ist zunächst im Allgemeinen die literarische Gattung des Briefromans zu betrachten. Der Briefroman wird als Folge von fiktiven Briefen eines einzelnen oder als Briefwechsel mehrerer Personen von einem fiktiven Herausgeber komponiert, der für die Authentizität der Briefe eintritt. Aus der Komposition ergeben sich die erzählerischen Möglichkeiten des Briefromans: die Präsentation von Unmittelbarkeit und Diskontinuität, die Verschränkung mehrerer Perspektiven, die Spannung zwischen Individualität und Vielstimmigkeit, die Steigerung der fiktionalen Komplexität durch das Spiel

294 Vgl. Ebd. 295 Vgl. Ebd., S. 258. 296 Vgl. dafür das erste Oberkapitel dieser Untersuchung.

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mit der Herausgeberfiktion, die Einführung des Lesers als eines Bestandteiles des Romans. Der ›einstimmige‹ Briefroman unterscheidet sich von Ich-Roman, Autobiographie und Tagebuch durch den Adressatenbezug der Einzelbriefe, der ›mehrstimmige‹ Briefroman zusätzlich durch die Multiperspektivität des Erzählens; gegenüber einem Briefwechsel ist der Briefroman ausgezeichnet durch die Herausgeberfiktion.297 Gerhard Sauder benennt als Gattungsmerkmale des Briefromans die »Präsentation von Unmittelbarkeit und Diskontinuität«, »die Verschränkung mehrerer Perspektiven« sowie »die Spannung zwischen Individualität und Vielstimmigkeit«. Er akzentuiert für den Briefroman das Vorhandensein einer Herausgeberfiktion, denn in dieser sieht er das konstitutive Merkmal des Briefromans. Die Herausgeberfiktion ermögliche »die Steigerung der fiktionalen Komplexität«. Diese Gattungsdefinition Sauders ist jedoch problematisch, da sie den Briefroman auf die Herausgeberfiktion festlegt, Briefromane aber nicht zwingend an diese gebunden sind. Ein Beispiel dafür ist Sophie Mereau-Brentanos Amanda und Eduard aus dem Jahr 1803. Dieses Erzählwerk verzichtet auf eine Herausgeberfiktion und stellt im Wesentlichen Briefe der zwei titelgebenden Liebenden Amanda und Eduard dar. Nach Sauders Gattungsdefinition des Briefromans ist dieses Erzählwerk nicht als Briefroman zu betrachten, da es keine Herausgeberfiktion aufweist und ausschließlich Briefe schreibender Figuren präsentiert. Ein Erzählwerk, das ohne eine fiktive Herausgeberinstanz Briefe präsentiert, deckt alle von Sauder aufgeführten Merkmale des Briefromans ab bis auf »die Steigerung der fiktionalen Komplexität«. Daher ist es angebracht, auch solche Erzählwerke wie Mereau-Brentanos Amanda und Eduard als Briefroman zu verstehen, sodass Sauders konstitutives Gattungsmerkmal der Herausgeberfiktion revidiert werden muss.298 Der Briefroman ist daher nicht an das Vorhandensein einer fiktiven Herausgeberinstanz gebunden. Vielmehr ist der Briefroman an ein »schreibende[s] Ich« gebunden, das sich mit dem Brief an ein abwesendes Du richtet. Jürgen von Stackelberg sieht in dieser Zentrierung das konstitutive Merkmal des Briefromans: Der ›Briefroman‹ ist eine Unterart des Romans, die durch die Übernahme der Briefform ein anderes Aussehen bekommt als die Erzählgattung, von der sie sich abzweigt: Im Briefroman gibt es keinen auktorialen Erzähler, sondern nur das jeweils schreibende Ich, das sich an dasjenige eines anderen wendet, gleich ob dieses, wie in der ›monophonen‹ Konzeption, nur angesprochen wird und stumm bleibt, oder ob es, wie in der ›polyphonen‹ Variante, auch antwortet.299 Der Briefroman ermöglicht die Darstellung von Selbstaussprachen eines schreibenden Ichs. Diese Selbstaussprache ist an die Ausdrucksmöglichkeiten der Schrift gebunden.

297 Gerhard Sauder: Briefroman. In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band I: A –G. Berlin 1997, S. 255–257, hier S. 255. 298 Vgl. Gideon Stiening: Briefroman und Empfindsamkeit. In: Klaus Garber/Ute Széll (Hg.): Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. München 2005, S. 161–190. 299 Jürgen von Stackelberg: Briefroman. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 84–95, hier S. 84.

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Das Ich ist im Moment des Schreibens vom angeschriebenen Du entfernt, sodass mit dem Briefroman grundsätzlich eine im Medium der Schrift entkörperte Kommunikationsform geschildert wird. Dies artikuliert sich auch darin, dass der Briefroman in der Regel intim adressierte Briefe an das Licht der Öffentlichkeit bringt. Die Herausgeberfiktion, die Sauder bei seiner Gattungsdefinition so stark macht, erscheint unter dem Vorzeichen der Empfindsamkeit als notwendig, weil dadurch die Frage aufkommt, warum und wie diese Briefe den Weg zur Publikation fanden. Von Stackelberg betont, dass der Briefroman als literarische Gattung neben der erzeugten Nähe zu den Figuren vor allem eine Nähe zu dem Erleben dieser Figuren konstruiert. Dies sieht von Stackelberg darin begründet, dass das schreibende Ich in der Regel von zeitlich nahen Erlebnissen berichtet. Die zeitliche Differenz zwischen Erleben und Erzählen sei gering, sodass der Briefroman eine Anhäufung von wiedergegebenen Erlebnisberichten sei.300 Der monofone Briefroman stellt ein schreibendes Ich dar, das ein oder mehrere Adressaten anschreibt, deren Antworten aber entweder innerhalb der Diegese nicht existieren oder nicht mitgeteilt werden. Diese Differenz ist für die Deutung eines Textes bedeutungstragend und lässt sich anhand von Goethes Werther beispielhaft konkretisieren. Bei Goethes Werther stellt sich die Frage, ob der angeschriebene Freund Wilhelm tatsächlich existiert oder ob er nur Ausdruck Werthers nach sublimierter zwischenmenschlicher Beziehung ist und er ein Hirngespinst Werthers ist, das gar nicht existiert. Diese Unterscheidung ist nicht eindeutig zu ziehen und ist facettenreich in der Werther-Forschung diskutiert worden, denn für beide Annahmen lassen sich Evidenzen finden. Ein gewichtiges Argument für die Nicht-Existenz Wilhelms ist der Befund, dass die fiktive Herausgeberinstanz mit den Briefen Werthers an Wilhelm, alle Briefe präsentiert, die sie auffinden konnte. Die Herausgeberinstanz scheint keinen Wilhelm zu kennen, aber sie erweckt den Eindruck, als ob all diese Briefe auf einem Haufen aufgefunden wurden und sie nie abgesendet wurden. Demnach gibt es keinen Freund Wilhelm in der Diegese und damit auch keine Antworten des adressierten Du. Werther adressiert als schreibendes Ich mit dem adressierten Du namens Wilhelm sein eigenes narzisstisches Ich, das notorisch nach einer veredelten, das heißt entsinnlichten und damit ausschließlich innerlich verbundenen, zwischenmenschlichen Beziehung schmachtet. Damit ist der Werther der Erzählweise nach die Geschichte eines in sich selbst gefangenen Ichs. Wilhelm ist als adressiertes Du eine Imagination Werthers, die seine psychische Labilität, seinen Realitätsverlust und seine vollkommene Ich-Zentrierung veranschaulicht und auf die Spitze treibt. Ein Beispiel für einen Briefroman, in dem Briefe, die thematisiert werden, nicht mitgeteilt werden, ist Jacobis Allwill, denn dort bezieht sich Sylli ganz zu Beginn auf einen Brief Clerdons, in dem er sie bittet, ihre spezifische Gemütsverfassung näher zu beschreiben. In diesem Fall gibt es andere Briefe Clerdons, die präsentiert werden, sodass in diesem Fall der thematisierte Brief innerhalb der Diegese existiert, aber er ist nicht Bestandteil der Briefsammlung. Hier wird mit diesem Verweis auf einen Brief, der nicht mitgeteilt wird, gezeigt, dass sich Sylli und Clerdon in einem regelmäßigen Briefwechsel miteinander befinden und dass sie sich über ihre intimsten Gefühle austauschen. Während bei Goethes Werther die individuelle Vereinzelung im Zentrum steht, thematisiert 300 Vgl. Jürgen von Stackelberg: Briefroman. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 84–95, hier S. 84.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Jacobis Allwill von Beginn an durch Briefe erzeugte Sozialität. In beiden Fällen trifft Rüdiger Zymners Betrachtung des empfindsamen Briefromans zu, der »es in bis dahin unbekannter Weise [erlaube], die empfindsame Innenwelt eines Subjekts darzustellen«.301 Im empfindsamen Briefroman werde zugleich »das fühlende Herz« zum »Zentralorgan« des Menschen und »Menschlichkeit zu einem grundlegenden Wert«.302 Ein »fühlende[s] Herz« zu haben, heißt Mensch zu sein und ist somit zugleich Basis für Zwischenmenschlichkeit.303 Der Briefroman ist somit zugleich eine literarische Gattung, die in der Form und Präsentationsweise ein bewusstgemachtes Empfinden ins Zentrum stellt. Der Briefroman ist für die Empfindsamkeit von entscheidender Bedeutung, da mit der Konzentration auf den Brief und damit auf das, was eine Figur schreibt, eine Verlagerung ins Innere des Subjekts stattfindet. Der Briefroman stellt dar, was eine oder mehrere Figuren aufgeschrieben haben, und Schreiben ist vor allem ein mentaler Prozess, der sich körperlich in der Bewegung der Hand äußert. Der Fokus liegt aber auf dem, was im Inneren des Subjekts vor sich geht. Die empfindsame Tendenz wertet das Innere des Menschen auf und findet im Briefroman eine Ausdrucks-und Darstellungsmöglichkeit, die diese Aufwertung des Inneren bereits in der Anlage der Form und der Art und Weise des Erzählens untermauert. Bei polyfonen Briefromanen sind verschiedenste Konstellationen möglich, die aufzeigen, dass »die Steigerung der fiktionalen Komplexität« ebenfalls nicht an eine Herausgeberfiktion gebunden ist.304 Das Besondere bei polyfonen Briefromanen ist, dass unterschiedliche Figuren als schreibendes Ich auftreten und zwischen verschiedenen Briefen eine Kohärenz inszeniert wird. Der polyfone Briefroman kann auf diese Weise schriftliche Kommunikation abbilden, die sich direkt aufeinander bezieht. Bei vertrauten Figuren kommt es im Kommunikationsprozess oftmals zu Unterbrechungen, da das gegenseitige Schreiben erst dann notwendig ist, wenn die Figuren voneinander getrennt sind oder wie im Falle von Rousseaus Julie im Brief etwas mitgeteilt werden soll, was im Umgang miteinander nicht kommuniziert werden kann. So richtet sich St. Preux brieflich an Julie, um ihr seine Liebe zu gestehen. In der Umgangsform des Privatunterrichts, den die beiden zusammen pflegen, ist dies St. Preux nicht möglich. Der Brief ist hier ein Kommunikationsweg, der einen persönlichen Mitteilungsweg zwischen Julie und St. Preux etabliert und so zwischen einer familiär-öffentlichen und intim-persönlichen Kommunikations-und Verständigungsform unterscheidet. In Rousseaus Briefroman teilen sich neben den beiden Liebenden noch mehrere Figuren mit und beleuchten mitgeteilte innere Regungen, verschiedene Geschehnisse sowie äußere Rahmenbedingungen der Briefkommunikation aus verschiedenen Blickwinkeln. Grundsätzlich hat der polyfone Briefroman in seiner Darstellungsart von Ereignissen die Möglichkeit, über die Subjektivität eines einzigen schreibenden Ichs hinauszuschauen. Der polyfone Briefroman geht über die Selbstäußerung des schreibenden Ichs hinaus und beschreibt

301 Rüdiger Zymner: Texttypen und Schreibweisen. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Stuttgart 2007, S. 25–80, hier S. 47. 302 Vgl. Ebd. 303 Vgl. Ebd. 304 Vgl. Gerhard Sauder: Briefroman. In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band I: A –G. Berlin 1997, S. 255–257, hier S. 255.

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in der Bezugnahme der kommunizierenden Instanzen soziale Beziehungen. In der Art und Weise, wie das zunächst adressierte Du selbst zum antwortenden schreibenden Ich wird, drückt sich eine zwischenmenschliche Bezugnahme aus, die vielseitig gestaltet sein kann. Der monofone Briefroman fokussiert eine Selbstbezüglichkeit, indem die Sicht eines Ichs vor Augen gelegt wird. Der polyfone Briefroman legt den Schwerpunkt dagegen auf eine Du-Bezüglichkeit, die neben der eigenen Aussprache die Bezugnahme aufeinander ins Zentrum rückt. Eine Besonderheit des Briefromans ist seine erzählerische Selbstreflexivität. Diese Selbstreflexivität liegt in der Handlung des Erzählens. Die Briefe verweisen auf die Handlung des Schreibens, das zum Zwecke der Mitteilung geschieht. Auf der extradiegetischen Ebene ist das Sich-Mitteilen das Ereignishafte des Briefromans. Der Briefroman ist daher extradiegetisch – also von außerhalb der Diegese der Briefe betrachtet – die Zusammenstellung von Mitteilungen. Die fiktive Briefsammlung als Zusammenstellung und Veröffentlichung von kommunikativen Akten ist aber selbst ebenfalls ein Akt der Kommunikation, die oftmals mit einer Herausgeberfiktion dezidiert thematisiert wird. Im Vordergrund steht das Sich-Mitteilen, dass beim monofonen Briefroman auf ein einziges schreibendes Ich bezogen ist und beim polyfonen Briefroman mehrere schreibende Ichs aufweist. Der Briefroman stellt Mitteilungen dar, die an das Medium des Briefes gebunden sind. Der Brief hat nach Reinhard M. G. Nickisch »die Grundfunktionen der Informationsübermittlung, des Appellierens und der Selbst-Äußerung«, die er als »die genuinen und historisch quasi-invarianten kommunikativen Möglichkeiten des Briefes« versteht.305 Diese von Nickisch eröffneten Kategorien der Mitteilungsformen des Briefes sind kulturgeschichtlich in Jacobis Briefwechsel ausführlich erörtert worden. Monika Nenon untersucht, »welche Rolle Briefe in der Konstitution des literarischen Netzwerks spielen, und welche Bedeutung sie für die Selbstkonstitution der Schriftsteller erfüllen«.306 Nenon konzentriert sich auf die 1770er Jahre und den brieflichen und persönlichen Kontakt, den Friedrich Heinrich und sein Bruder Johann Georg Jacobi in dieser Zeit mit Sophie La Roche und Christoph Martin Wieland haben. Sie hebt die Bedeutung dieses Kontakts hervor und sieht darin die Etablierung eines literarischen Netzwerks, das wesentlich durch die Briefkommunikation konstituiert wird.307 Carmen Götz analysiert in ihrer umfangreichen Studie Jacobis Briefwechsel nach den Themenkomplexen Gefühl, Begehren, Leib, Natur und Phantasie, die sie als das Andere der Vernunft betrachtet. Sie hebt die Bedeutung des Briefes als kulturgeschichtlich hervorzuhebende Quelle der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hervor, weil er zwischen idealer Stilisierung und Einblick in die Alltagskultur variiere und ein besonderes Verhältnis von Realität und Imagination ausdrücke.308 Während Nenon beim Brief und der Formation von Kommunikationsnetzwerken in Anlehnung an Nickisch die Grundfunktion der Informationsübermittlung starkmacht, geht Götz über die Grundfunktionen nach Nickisch

305 Vgl. Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991, S. 13–19, hier S. 13. 306 Vgl. Monika Nenon: Aus der Fülle der Herzen. Geselligkeit, Briefkultur und Literatur um Sophie La Roche und Friedrich Heinrich Jacobi. Würzburg 2005, S. 11–15, hier S. 12. 307 Vgl. Ebd., S. 43–93. 308 Vgl. Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 71-87.

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hinaus und entfaltet die These, dass der Brief in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als wirklichkeitserzeugende Möglichkeit entdeckt und funktionalisiert wird. Demnach beschränkt sich der Brief nicht auf das Mitteilen, sondern bringt selbst etwas hervor. Das Hervorgebrachte ist eine erschriebene Wirklichkeit, die je nach Funktion und Adressat des Briefes in einem spezifischen Verhältnis zu der außerhalb des Geschriebenen stehenden Realität gesetzt wird.309 Götz sieht in dieser »wirklichkeitsschaffenden Kraft« des Briefes die Gelegenheit eine erschriebene Wirklichkeit zu bilden, die Phantasmen als wirklich inszeniert.310 Für sie zeigt daher die Korrelation von florierender Briefkultur und einer Hochphase des Erscheinens von Briefromanen, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die realitätserzeugende Kraft des geschriebenen Wortes erprobt wird. Götz kristallisiert mit dieser Betrachtungsweise des Briefes einen Gesichtspunkt heraus, der für die Erzählwerke Jacobis von besonderer Bedeutung ist. Bei Jacobis Woldemar werden eingeschobene Briefe zur Selbstaussprache und unabsichtlichen Selbstdarstellung des Protagonisten verwendet. Bei Jacobis Erzählwerk Eduard Allwills Briefsammlung erscheinen abgesehen von der Vorrede und der Einleitung Briefe verschiedener Figuren, die teils aufeinander bezogen sind, teils aber auch vehemente Diskontinuitäten und nur implizite Bezugsverhältnisse aufweisen. Dies charakterisiert den Sammlungscharakter und rahmt die retrospektive Anhäufung selbst geschriebener und erhaltener, aber auch fremder Briefe ein. Die Vorrede des Erzählwerks skizziert dies näher. Vorab ist die Struktur des Werks zu vergegenwärtigen. Nach zwei Motti folgt die Widmung An den Herrn Geheimrath Schlosser in Carlsruhe.311 Nach der Vorrede, die aus der Perspektive der Herausgeberfiktion bemerkenswert ist, da sie den Herausgeber als Autor stilisiert, folgen drei weitere Motti und eine Einleitung, bevor die Briefsammlung beginnt.312 Der letzte Brief wird durch zwei weitere Motti-Zitate beendet, die als eine implizite Quintessenz des letzten Briefes und auch der ganzen Briefsammlung erscheinen.313 Es folgt darauf die Zugabe. An Ehard O**, die wiederum mit zwei Motti eingeleitet wird.314 Die Struktur zeigt auf, dass die Briefsammlung eingerahmt ist. Die Vorrede und die Einleitung bilden die editoriale Einführung und die Zugabe bietet eine philosophische Erweiterung der Briefsammlung als Ausstieg an. Die kulturgeschichtliche Bedeutung des Briefes bei Jacobi ist beleuchtet, doch besteht ein Forschungsdesiderat bei der Untersuchung des Kommunikationsmediums des Briefes unter dem Vorzeichen von Jacobis interdisziplinärer Forschungsaufgabe »Menschheit, wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen [zu] stellen«.315 Dabei ist dies bei Jacobis Erzählwerk Eduard Allwills Briefsammlung von besonderer Bedeutung, da es das erste literarische Werk ist, das Jacobi nach seiner philosophischen Schaffensphase der 1780er Jahre überarbeitet. In der Vorrede fällt 309 310 311 312 313 314 315

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., hier S. 82. Vgl. JWA 6,1, S. 85f, hier S. 85. Vgl. die weiteren Motti: Ebd., S. 93f. Vgl. für die Einleitung: Ebd., S. 95f. Vgl. für die Briefsammlung: Ebd., 97–217. Vgl. Ebd., S. 217. Vgl. für die beiden Motti: Ebd., S. 219f. Vgl. für die »Zugabe«: Ebd., S. 221–241. Vgl. JWA 6,1, S. 87–92, hier S. 89.

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die Formulierung seiner Programmatik auf diese Weise zum ersten Mal und wird im Woldemar wiederholt. Im Vorbericht des vierten Bandes seiner selbst herausgegebenen Werkausgabe bezeichnet Jacobi mit dieser Formulierung den »Zweck« seines ganzen Schaffens.316 In diesem Vorbericht weist Jacobi daraufhin, dass »Allwills Briefsammlung […] wirklich den ächten allgemeinen Schlüssel zu meinen Werken [enthält], sowohl was den Inhalt angeht, als den Vortrag«.317 Die Vorrede des Allwill ist daher als eine Schlüsselschrift von Jacobis Schaffen zu verstehen, weil sie seine interdisziplinäre Forschungsprogrammatik erstmals konkret als solche formuliert. Anders als der Vorbericht der Frühfassung, der sich um die Diskussion des Romanhaften dreht, konzentriert sich die Vorrede der Spätfassung konträr zur Frühfassung auf das Leben.318 Die Vorrede von 1792 beginnt wie folgt: Wie es Allwilln gelingen konnte, der ganzen Sammlung dieser Briefe habhaft zu werden, und sie zu seinem Eigenthum zu machen, darüber geben die zwey ersten Bände noch kein Licht, und der Herausgeber selbst ist davon so wenig unterrichtet, muß sich mit so unsichern Muthmassungen behelfen, daß er einem ehrwürdigen, seine Neugierde nur auf ausgemachte Wahrheiten einschränkenden Publikum, unbescheiden damit zu nahe zu treten, einen rechtmäßigen Abscheu empfindet.319 Der Titel Eduard Allwills Briefsammlung führt die Figur des Allwill als sammelnde und die Briefe besitzende Instanz ein. Mit dem ersten Satz der Vorrede wird neben dem Sammler und Besitzer Allwill der Herausgeber eingeführt, der sich direkt in seiner Unwissenheit vorstellt, nicht erläutern zu können, wie es Allwill gelungen war, an die Briefe dieser Sammlung zu gelangen. Die Tätigkeit des Sammelns rückt damit in ein Feld der Unwissenheit und zeigt an, dass die herausgebende Instanz keinen Überblick hat, sondern selbst eine eingeschränkte Perspektive und einen eingegrenzten Wissensstand über die Briefsammlung aufweist. Die Differenzierung zwischen Sammler, Besitzer und Herausgeber der Briefsammlung ist für die Begründung der Veröffentlichung der Briefe entscheidend. Allwill wird als Briefschreiber und Adressat in der Briefsammlung vorkommen, sodass mit dem herausgebenden Ich eine externe Instanz eingeführt wird, die die Briefe zu kennen scheint und diesen Briefen einen Wert zuweist, der die Öffnung der eigentlichen pragmatischen Kommunikationsstruktur begründet und die Briefe von privat-intimen Korrespondenzen öffentlich macht. Dabei ist auffällig, dass anders als bei Goethes Werther die Herausgeberinstanz hier nicht die Funktion des Sammelns erfüllt, sondern allein in einer Zuschreibung von Wert.320 Diese Wertzuschreibung durch eine Instanz, die außerhalb der Briefsammlung steht, akzentuiert die Besonderheit der Briefe und das darin zum Ausdruck Gebrachte. Die Funktion der Herausgeberinstanz

316 317 318

Vgl. JWA 1,1 S. 333–353 hier S. 348. Vgl. Ebd., hier S. 335. Vgl. für eine Untersuchung des Vorberichts von Eduard Allwills Papiere das Kapitel 4.1 dieser Untersuchung. 319 JWA 6,1, S. 87. 320 Die Tatsache, dass Allwill diese Briefe besitzt, ist für eine umfangreiche Deutung dieses Erzählwerks von entscheidender Bedeutung. Vgl. dafür ausführlich das Kapitel 3.3.4 dieser Untersuchung.

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liegt in diesem Fall darin, zu begründen, warum die Briefe dieser Sammlung neben ihrer primären Funktion als Kommunikationsmedien eine sekundäre Funktion als eine veröffentlichte Briefsammlung erhalten. Diesen Funktionswechsel des Briefes hat Nickisch folgendermaßen beschrieben: Es war schon mehrfach davon die Rede, daß die Trennlinie zwischen eigentlicher und uneigentlicher Verwendung der Gebrauchstextsorte Brief dann überschritten ist, wenn ein wirklicher Brief in den Dienst nicht pragmatischer Intentionen gestellt wird, – wenn – er also seine Qualität als Träger einer aktuellen schriftlich realisierten Sprechhandlung im Rahmen einer individuellen realen Beziehung zwischen räumlich getrennten Partnern verliert. Und das geschieht ja bereits dann, wenn ein Privatbrief veröffentlicht wird: Seine eigentliche Bestimmung ist damit aufgehoben – es beginnt seine sekundäre Verwendung.321 Herausgeberfiktionen, die unter dem kulturgeschichtlichen Vorzeichen der Empfindsamkeit escheinen, inszenieren diesen Verwendungswandel für Briefe, die nicht wirklich, sondern fiktional sind, und im eigentlichen Verständnis die primäre Verwendungsweise nie erfüllten. Die Herausgeberfiktionen authentifizieren die Briefe als wirklich, indem sie ihnen diese primäre Verwendungsweise zuschreiben und den Übergang zu einer sekundären Funktion bewusst ins Zentrum setzen. Mit Blick auf Jacobis Vorbericht des Allwill wird diese erste Funktion der Briefe von Beginn an sehr betont, da sie erst gesammelt werden mussten und dieses Sammeln wird als Tätigkeit dargestellt, die zu Unklarheiten führen muss, denn wie Allwill »der ganzen Sammlung dieser Briefe habhaft […] werden« konnte, liegt außerhalb des Wissensbereichs des herausgebenden Ichs.322 Dies ist ein hervorzuhebender Unterschied zu den Herausgeberfiktionen von Goethes Werther und Rousseaus Julie, denn dort sind es die Herausgeberinstanzen, von denen die Briefe gesammelt wurden. Das Sammeln wird bei Goethe nicht ausführlich problematisiert, denn der Werther beginnt mit dem Satz: »Was ich von der Geschichte des armen Werthers nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammlet, und leg es euch hier vor, und weis, daß ihr mir’s danken werdet.«323 Der Prozess des Sammelns bleibt als Tätigkeit weitgehend unhinterfragt, obwohl die Herausgeberinstanz auf eine mögliche Unvollständigkeit hinweist, da vorgelegt wird, was aufgefunden werden konnte. Dies impliziert die Annahme, dass möglicherweise nicht alle Schriften zur Geschichte Werthers vorliegen und begründet auch die Monofonie des Briefromans. Die Instanz hat ausschließlich die Briefe Werthers gefunden und legt diese vor. Der Briefroman Julie ou La Nouvelle Heloïse von Rousseau thematisiert in zwei Vorreden vor allem die Frage nach Echtheit und Erdichtung und diskutiert die sittliche Funktion des Romans. Der Briefroman wird auch dezidiert als »recueil« – Sammlung – bezeichnet und auch im Titel heißt es, dass Rousseau diese Briefe zweier Liebenden am Fu-

321 Vgl. Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991, S. 107–113, hier S. 107. 322 Vgl. JWA 6,1, S. 87. 323 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Studienausgabe. Paralleldruck der Fassungen von 1774 und 1787. Hg. von Matthias Luserke. Stuttgart 1999, S. 6.

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ße der Alpen »recueillies et publiées« – gesammelt und publiziert – hat.324 Hier steht aber nicht die Tätigkeit des Sammelns im Vordergrund, sondern ob die Briefe gesammelt – das heißt echt – oder erdichtet sind. Diese Frage nach der Echtheit oder Erdichtung ist für die empfindsame Herausgeberfiktion von Briefromanen wesentlich, daher lohnt sich ein Einblick in die zweite Vorrede von Rousseaus Julie. Die Frage nach Wirklichkeit und Fiktion wird als Bewertungsmaßstab des ganzen Erzählwerks herausgestellt. Die zweite Vorrede trägt den Originaltitel Préface de Julie ou Entretien sur les Romans. Vor einem Gespräch zweier Figuren erläutert eine Vorbemerkung, dass es sich um ein angenommenes Gespräch mit zwei Interaktionspartnern handelt, die mit »N.« und »R.« abgekürzt werden. Die Gesprächsbeiträge von »R.« erscheinen als Alter-Ego Rousseaus in der Rolle des fiktiven Herausgebers, während »N.« auf die Rolle des Verlegers hinweist, der im Fall der Julie Marc-Michel Rey in Amsterdam war. Es handelt sich um einen »dialogue«, der mit dem Adjektiv »supposé« näher beschrieben wird und so angedeutet wird, dass es ein Gespräch ist, das auf diese Art hätte stattfinden können, infolgedessen aber als fiktional erscheint.325 Das Gespräch beginnt damit, dass »N.« als verlegendes Ich der Instanz »R.« als veröffentlichendes Ich das Manuskript zurückgibt.326 Das veröffentlichende Ich verwickelt das verlegende Ich in eine nähere Erklärung darüber, wie diese Sammlung von Briefen auf ihn gewirkt habe. N. Mon jugement dépend de la réponse que vous m’allez faire. Cette correspondance est-elle réelle, ou si C’est une fiction? R. Je ne vois point la conséquence. Pour dire si un livre est bon ou mauvais, qu’importe de savoir comment on l’a fait? N. Il importe beaucoup pour celui-ci. Un portrait a toujours son prix, pourvu qu’il ressemble, quelque étrange qué soit l’original. Mais, dans un tableau d’imagination, toute figure humaine doit avoir les traits communs à l’homme, ou le tableau ne vaut rien. Tous deux supposés bons, il reste encore cette différence, que le portrait intéresse peu de gens; le tableau seul peut plaire au public. R. Je vous suis. Si ces lettres sont des portraits, ils n’intéressent point; si ce sont des tableaux, ils imitent mal. N’est-ce pas cela? N. Précisément. R. Ainsi j’arracherai toutes vos réponses avant que vous m’ayez répondu. Au reste, comme je ne puis satisfaire à votre question, il faut vous en passer pour résoudre la mienne. Mettez la chose au pis; ma Julie… N. Oh! si elle avait existé! R. Eh bien? N. Mais sûrement ce n’est qu’une fiction. R. Supposez. N. En ce cas, je ne connais rien de si maussade. Ces lettres ne sont point des lettres; ce roman n’est point un roman; les personnages sont des gens de l’autre monde.327

324 Vgl. das »Préface« : Julie ou La Nouvelle Heloïse. Lettres de deux amants habitans d’une petite ville au pied des Alpes recueillies. et publiées par Jean-Jacques Rousseaus. Introd., chronologie, bibliogr., notes et choix de variantes par René Pomeau. Paris 1960, S. 3f, hier S. 3. 325 Vgl. Ebd., S. 737–757, hier S. 737. 326 Vgl. Ebd. 327 Vgl. Ebd., S. 737f.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Das verlegende Ich macht die Wirkung der Briefsammlung davon abhängig, ob sie real oder erfunden ist. Diese Differenzierung der Wirkung kann das veröffentlichende Ich nicht nachvollziehen. Es fragt das Gegenüber, was es für die Beurteilung, ob das Buch »bon ou mauvais« sei, für einen Unterschied mache, zu wissen, wie es entstanden sei. Die Antwort darauf lautet, dass es bei diesem Buch besonders wichtig sei. Das verlegende Ich stellt zur Erläuterung eine kunsttheoretische Differenzierung zwischen »portrait« und »tableau« vor. Der Kunstcharakter des Ersteren liegt in der Abbildung des Originals, »quelque étrange que soit l’original«. Der Wert dieser Kunstform liegt in der Darstellung des Wirklichen, egal wie dieses Wirkliche beschaffen ist. Allerdings korrespondiert der Wert dieser Kunst nicht mit gesellschaftlichem Interesse und damit einhergehender Wertschätzung, denn »le portrait intéresse peu de gens«. Anders ist dies beim »tableau«, denn »le tableau seul peut plaire au public«. Das »tableau« zentriert die Imagination : »Mais, dans un tableau d’imagination, toute figure humaine doit avoir les traits communs à l’homme […].« Bei einem »tableau«, das den Menschen zum Gegenstand hat, liegt der Wert dieser Kunstform in der Erzeugung einer wirklichkeitsnahen Einbildung. Das »portrait« bildet Wirklichkeit ab und legt sie vor Augen, während das »tableau« eine Imagination entwirft, die Ähnlichkeit mit dem Wirklichen hat. Wenn die gesammelten Briefe der Julie erdichtet sind, so entwerfen sie eine idealisierte Illusion des Menschen, die wenig mit dem wirklichen Menschen gemein hat. Als »tableau« wären sie daher wertlose Kunst, denn »les personnages sont des gens de l’autre monde«. Die Figuren der Julie wären daher als »tableau« allzu weit vom Wirklichen entfernt. Die Imagination hätte ihren Wirklichkeitsbezug verloren und das verlegende Ich macht deutlich, dass das Erzählwerk Julie dann schlicht wertlose Kunst sei, denn »je ne connais rien de si maussade«. Eine künstlerische Wertigkeit der Julie kann daher nur gegeben sein, wenn es sich um ein »portrait« handelt, dass ein eigentümliches Original abbildet. Dieser Ausschluss des »tableau« exklusiviert die Briefsammlung, denn bezüglich der Briefsammlung der Julie wird das Interessenverhältnis von »tableau« und »portrait« umgedreht. Das verlegende Ich repräsentiert einen gesellschaftlichen Geschmack, da es Schriften publiziert, die möglichst von vielen Personen gekauft und gelesen werden. Aus diesem Grund vertritt dieses Ich eine gesellschaftliche Position. In den Briefen der Julie ist etwas enthalten, dass als Imagination etwas utopisch Fernes hätte, als Ausschnitt aus der Wirklichkeit aber einen tiefen Einblick in die Möglichkeiten des Menschseins darstellt. Daher ist es in diesem einzelnen Fall so, dass das »portrait« von Interesse ist und das »tableau« nicht. Dies exklusiviert die thematisierte Briefsammlung und veranschaulicht die Bedeutung der Differenzierung von »portrait« und »tableau« als Frage nach Echtheit oder Fiktion. Diese bei Rousseau verdeutlichte Unterscheidung von Imagination oder Ausschnitt aus der Wirklichkeit ist für die Herausgeberfiktionen deutschsprachiger empfindsamer Briefromane zentral, denn die Frage nach authentischer Aussprache oder bloß erfundener Menschlichkeit verhandelt letztlich im literarischen Selbstverständnis der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Wertigkeit der sich etablierenden Gattung des Romans. Nach Nickisch wird mit den »Briefpublikationen des 18. J[a]h[rhundert]s« ein Fokus »auf den menschlichen Wert und die Schönheit der Briefe« gelegt. Diese würden die »neue[] Wertschätzung unmittelbarer Lebensäußerungen einer Persönlichkeit«

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ausdrücken.328 Der Briefroman ist daher eingebettet in einen anthropologischen Diskussionszusammenhang, in der er nach der Beschaffenheit und Eigentümlichkeit des einzelnen Menschen fragt. Die empfindsamen Herausgeberfiktionen der deutschsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigen an, dass der Briefroman in diesem anthropologischen Diskussionszusammenhang steht. Sein Wert liegt in der Darstellung des Menschseins. Jacobi stellt sich mit seiner Vorrede zu Eduard Allwills Briefsammlung eindeutig in einen anthropologischen Diskussionszusammenhang, wie die dort angeführte interdisziplinäre Forschungsprogrammatik zu verstehen gibt.329 Insofern bewegt sich die Herausgeberfiktion im Rahmen empfindsamer Tendenzen und zeigt auf, dass hier trotz des Veröffentlichungsjahres 1792 eine Auseinandersetzung mit empfindsamen Tendenzen festgemacht werden kann, die für Jacobis Erzählwerke den kulturhistorischen Kontext der Empfindsamkeit verdeutlicht. Von einer anderen Seite aus betrachtet geht Jacobis Vorrede jedoch von Beginn an über die empfindsame Herausgeberfiktion hinaus. Die Herausgeberinstanz ist in diesem Fall nicht über die Tätigkeit des Sammelns der Briefe informiert und problematisiert dies, da sie das »Publikum«, das »seine Neugierde nur auf ausgemachte Wahrheiten« richtet, nicht mit Unklarheiten konfrontieren möchte.330 Dieses aufgeklärte Publikum bringt die Herausgeberinstanz daher in »Verlegenheit«, da es eine argumentative Klarheit erwarte, der das herausgebende Ich nicht gerecht werden könne.331 Aus diesem Grund führt dieses Ich eine Hypothese als Abhilfe an: Lieber will er es geschehen lassen, daß man diese Briefe als erdichtet, und das Ganze als sein eigenes Hirngespinst ansehe. Ja er wünscht sogar, man möge diese Hypothese sich gefallen lassen, wenn man nur im Glauben dergestalt Maaß hält, daß man sie nicht als eine historische oder sonst erwiesene Wahrheit, sondern allein wegen der obwaltenden Verlegenheit freywillig annimmt, und nothdürftig gelten läßt.332 Aufgrund seines perspektivisch gebundenen Wissensstands führt das herausgebende Ich die »Hypothese« an, die ganze Briefsammlung sei von ihm »erdichtet«. Die Herausgeberinstanz inszeniert sich zum Schein als Autor, um die Unklarheiten der Briefsammlung zu verdrängen, die im Zusammenhang des Sammelns dieser Briefe aufgeworfen wurde. Diese Autorinszenierung soll auch nur »nothdürftig« angenommen werden. Die Sprechinstanz der Vorrede sieht in der Hypothese eine doppelte Struktur von Annahme und Wissen. Einerseits soll das Publikum annehmen, dass das herausgebende Ich der Autor sei, gleichzeitig weiß das Publikum aber, dass dies nicht der Fall ist. Denn was die Hypothese unwahrscheinliches hat, wird durch das: im eigentlichen Verstande nicht glauben dürfen – vergütet; und: das im eigentlichen Verstande nicht glauben – giebt sich durch das Unwahrscheinliche der Hypothese beynah von selbst.333 328 329 330 331 332 333

Vgl. Reinhard M. G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991, S. 107–113, hier S. 108f. Vgl. JWA 6,1, S. 87–92, hier S. 89. Vgl. Ebd., S. 87. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 87f.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Diese Doppelstruktur von Annahme und Wissen führt dazu, dass die »Hypothese« letztlich wieder darauf zurückweist, dass das herausgebende Ich nur aufgrund der Unklarheit darüber, wie die Briefe zu einer Sammlung zusammengekommen sind, die »Hypothese« anführt. Die Autorschaftsthese setzt das Hintergrundwissen voraus, dass die Herausgeberinstanz sich als hypothetisches Autor-Ich entwirft. Dies impliziert die Sprechinstanz mit der wiederholten und hervorgehobenen Ausdrucksweise, die angeführte These »im eigentlichen Verstande nicht glauben [zu] dürfen«. Aufgrund dieser Doppelstruktur handelt es sich weiterhin um eine Herausgeberfiktion, die textlich die nähere Beschreibung des »Herausgeber[s]« untermauert.334 Diese Doppelstruktur hat die Funktion, mit der nun folgenden näheren Thematisierung des »Herausgeber[s]« und seiner Motivation, diese Briefe zu veröffentlichen, zugleich auch den hypothetischen Autor vorzustellen.335 Die Sprechinstanz der Vorrede wird als eigentümlicher Mensch näher geschildert und stellt in diesem Zuge eine interdisziplinäre Forschungsprogrammatik vor.

3.3.2 Zu den Bedingungen der Möglichkeit unmittelbarer Ausdrucksformen des Inneren Diese angesprochene Doppelstruktur gibt eine bestimmte Lesart der Briefsammlung vor. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der Vorrede zwei wesentliche Lesarten vorgegeben werden, die sich in der Differenzierung von Autorschaft oder Herausgeberschaft des sprechenden Ichs der Vorrede unterscheiden. Uwe Wirth gab seiner umfangreichen Studie aus dem Jahr 2008 zu dem Thema Autorschaft den Titel Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmanns. Dieser Titel erweckt den Eindruck, dass dort anhand von ausgewählten Texten das literaturhistorische Verhältnis von Autorschaft und Herausgeberschaft beleuchtet wird. In seinem Kapitel Die Frage nach dem Autor als Frage nach dem Herausgeber 336 schlägt Wirth einen anderen Weg ein: »Ich werden Barthes’ These vom »Tod des Autors« dergestalt mit Foucaults »Frage nach dem Autor« ins Gespräch bringen, daß sich daraus die Frage nach dem Herausgeber ergibt.«337 Bei Wirth ergibt sich die Frage nach dem Verhältnis von Autorschaft und Herausgeberschaft also nicht aufgrund seiner ausgewählten literaturgeschichtlichen Texte, sondern als Diskussionszusammenhang verschiedener poststrukturalistischer Theorien. Damit sind Wirths Ausführungen zum Verhältnis vom Autor-und Herausgeber-Ich für diese vorliegende Studie zu den Erzählwerken Jacobis uninteressant. Wirth leistet mit seinen Ausführungen einen Diskussionsbeitrag zu poststrukturalistischen Autorschaftstheorien und eben ausdrücklich nicht konkret zu literaturhistorischen Relationen von Autor-und Herausgeberinstanzen. Bevor die Beschreibung des herausgebenden Ichs der Vorrede von Jacobis Eduard All-

334 Vgl. Ebd., S. 88. 335 Vgl. Ebd. 336 Vgl. Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmanns. Paderborn 2008, S. 19–47. 337 Ebd., S. 19.

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Diese Doppelstruktur von Annahme und Wissen führt dazu, dass die »Hypothese« letztlich wieder darauf zurückweist, dass das herausgebende Ich nur aufgrund der Unklarheit darüber, wie die Briefe zu einer Sammlung zusammengekommen sind, die »Hypothese« anführt. Die Autorschaftsthese setzt das Hintergrundwissen voraus, dass die Herausgeberinstanz sich als hypothetisches Autor-Ich entwirft. Dies impliziert die Sprechinstanz mit der wiederholten und hervorgehobenen Ausdrucksweise, die angeführte These »im eigentlichen Verstande nicht glauben [zu] dürfen«. Aufgrund dieser Doppelstruktur handelt es sich weiterhin um eine Herausgeberfiktion, die textlich die nähere Beschreibung des »Herausgeber[s]« untermauert.334 Diese Doppelstruktur hat die Funktion, mit der nun folgenden näheren Thematisierung des »Herausgeber[s]« und seiner Motivation, diese Briefe zu veröffentlichen, zugleich auch den hypothetischen Autor vorzustellen.335 Die Sprechinstanz der Vorrede wird als eigentümlicher Mensch näher geschildert und stellt in diesem Zuge eine interdisziplinäre Forschungsprogrammatik vor.

3.3.2 Zu den Bedingungen der Möglichkeit unmittelbarer Ausdrucksformen des Inneren Diese angesprochene Doppelstruktur gibt eine bestimmte Lesart der Briefsammlung vor. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der Vorrede zwei wesentliche Lesarten vorgegeben werden, die sich in der Differenzierung von Autorschaft oder Herausgeberschaft des sprechenden Ichs der Vorrede unterscheiden. Uwe Wirth gab seiner umfangreichen Studie aus dem Jahr 2008 zu dem Thema Autorschaft den Titel Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmanns. Dieser Titel erweckt den Eindruck, dass dort anhand von ausgewählten Texten das literaturhistorische Verhältnis von Autorschaft und Herausgeberschaft beleuchtet wird. In seinem Kapitel Die Frage nach dem Autor als Frage nach dem Herausgeber 336 schlägt Wirth einen anderen Weg ein: »Ich werden Barthes’ These vom »Tod des Autors« dergestalt mit Foucaults »Frage nach dem Autor« ins Gespräch bringen, daß sich daraus die Frage nach dem Herausgeber ergibt.«337 Bei Wirth ergibt sich die Frage nach dem Verhältnis von Autorschaft und Herausgeberschaft also nicht aufgrund seiner ausgewählten literaturgeschichtlichen Texte, sondern als Diskussionszusammenhang verschiedener poststrukturalistischer Theorien. Damit sind Wirths Ausführungen zum Verhältnis vom Autor-und Herausgeber-Ich für diese vorliegende Studie zu den Erzählwerken Jacobis uninteressant. Wirth leistet mit seinen Ausführungen einen Diskussionsbeitrag zu poststrukturalistischen Autorschaftstheorien und eben ausdrücklich nicht konkret zu literaturhistorischen Relationen von Autor-und Herausgeberinstanzen. Bevor die Beschreibung des herausgebenden Ichs der Vorrede von Jacobis Eduard All-

334 Vgl. Ebd., S. 88. 335 Vgl. Ebd. 336 Vgl. Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmanns. Paderborn 2008, S. 19–47. 337 Ebd., S. 19.

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wills Briefsammlung ins Zentrum rückt, ist die erwähnte Doppelstruktur näher zu erläutern, denn sie führt verschiedene Bewusstseinsebenen ein, die sich das Publikum bedienen soll. Die Formulierung, dass das Publikum die These, das herausgebende Ich habe die alleinige Autorschaft der Briefsammlung inne, »im eigentlichen Verstande nicht glauben dürfe[]«, verweist auf die Differenzierung zwischen oberflächlich annehmen und hintergründig wissen.338 Der Verstand benennt hier ein Bewusstsein, weil sich ein Ich konstituiert, das andere Phänomene und Dinge außerhalb des eigenen Denkvermögens als Nicht-Ich erfasst.339 Der Verstand ist das Vermögen der Geisteskräfte des Menschen. Die Reflexion des Verstandes ist eine Bewusstwerdung eigener Denkmöglichkeiten. Darauf spielt die Sprechinstanz der Vorrede hier an, denn das Publikum soll die »Hypothese«, dass die Herausgeberinstanz die Autorschaft inne habe, nicht als »erwiesene Wahrheit« betrachten.340 Das Publikum soll diese These lediglich in dem Bewusstsein gelten lassen, dass sie ja »eigentlich« nicht zutrifft und nur eine Illusion ist. Es geht hier also um ein Wissen darüber, dass es etwas Unerklärliches gibt. »Unwissenheit« sei im Falle dieser Briefsammlung überall.341 Die Sprechinstanz der Vorrede redet anfangs in der dritten Person über den Herausgeber. Dieser möchte »es geschehen lassen, daß man diese Briefe als erdichtet, und das Ganze als sein eigenes Hirngespinnst ansehe«.342 Am Beginn der Vorrede erweckt die Sprechinstanz den Eindruck, sie rede über den Herausgeber, der aber noch jemand anderes sei. Dies ist zu Beginn der Vorrede eine Strategie eine Fiktionskomplexität einzuführen, indem mit dem ersten Abschnitt augenscheinlich drei Instanzen, Eduard Allwill als Sammler und Besitzer, der Herausgeber sowie die Sprechinstanz der Vorrede vorgestellt werden. Diese anfängliche Strategie wird im Verlauf der Vorrede aufgegeben, denn später wird die »Hypothese« des Herausgebers als »meine[] Hypothese« bezeichnet.343 Die Sprechinstanz der Vorrede gibt sich durch das Possessivpronomen als Herausgeber zu erkennen. Diese Auflösung einer dritten Instanz erfüllt dann die Funktion, deutlich zu machen, dass die Sprechinstanz der Vorrede den gleichen Wissensstand wie der Herausgeber hat. Das in der Vorrede sprechende Herausgeber-Ich nimmt an, dass es mit dieser Briefsammlung »Leser« haben wird.344 Diese »Leser« seien »Zeitgenossen« der Herausgeberinstanz und somit »geschworne Feinde aller Dunkelheit«.345 Dieses zeitgenössische Lesepublikum finde sich mit der vorliegenden Briefsammlung »von Dunkelheiten ganz umgeben«.346 Dieses Publikum frage: Wer ist Eduard Allwill? Lebt er, oder ist er todt? Wo hat er gelebt? Wenn er noch im Leben ist, wo hält er sich auf? Wie bekam er nur seine eigenen Briefe wieder in die Hände?

338 Vgl. Ebd., S. 87. 339 Vgl. dafür Jacobis Schrift Von den göttlichen Dingen: JWA 3,1, S. 69–89, hier S. 77. Vgl. auch Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, S. 112–120, hier S. 112f. 340 Vgl. JWA 6,1, S. 87. 341 Vgl. Ebd., S. 88. 342 Vgl. Ebd., S. 87. 343 Vgl. Ebd., S. 87f. 344 Vgl. Ebd., S. 88. 345 Vgl. Ebd. 346 Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Wie brachte er die übrigen in seine Gewalt? Was will er mit ihrer Bekanntmachung? Woher seine Verbindung mit dem Herausgeber?347 Das herausgebende Ich kann sich selbst bei einigen Fragen nur mit »unsichern Muthmassungen« helfen und führt daher die Annahme ein, dass es sich diese ganze Briefsammlung ausgedacht haben könnte.348 An dieser Stelle wird mit dem Verstand auf zwei Bewusstseinsebenen hingewiesen, die Ebene der Annahme und die Ebene des Bewusstseins darüber, dass diese Annahme nicht wahr ist. Die Sprechinstanz erscheint als herausgebendes Ich, das sich aus Wissensgründen selbst die Autorschaft zuschreibt, denn wenn die Briefsammlung eine geschriebene Erdichtung ist, dann ist alles Unerklärliche an ihr getilgt. Das Lesepublikum kann dann von sich behaupten, dass es »begreift«.349 Diese Zuschreibung versucht dieses Ich im weiteren Verlauf der Vorrede »einigermassen wahrscheinlich zu machen«, denn sie sei die einzige Möglichkeit die »Hinleitung« und »Herleitung« dieser Briefsammlung begreifen zu können.350 Es deutet sich in der Konstruktion dieser Herausgeberfiktion mit Autorschaftsthese an, dass es das »auf ausgemachte Wahrheiten einschränkende[] Publikum« ist, das in der Verstandesbetonung letztlich ad absurdum geführt wird.351 Diese Annahme der Herausgeberinstanz ist eine Notlösung, damit seine »Zeitgenossen« Gefallen an dieser Publikation finden können.352 In dieser Einleitung der Vorrede wird durch die Einführung der Wissen erzeugenden Autorschaftsthese eine kritische Haltung gegenüber einer alle Unerklärlichkeiten vernichtenden Aufklärungsattitüde hervorgehoben. Dies wird dadurch deutlich, dass das Wissen, das durch diese These erlangt wird, nur die oberflächliche Verabschiedung von »Unwissenheit« ist.353 Es wird mit der hypothetischen Autorschaftsthese ein konstruiertes Wissen erdacht, das die Frage aufwirft, was Wissen überhaupt ist und ob es unterschiedliche Qualitäten von Wissen gibt. Es geht um die erkenntnistheoretische Frage, dass wenn ein lesendes Ich die Autorschaftsthese als gegeben annimmt, dieses Wissen dann von der gleichen Qualität ist, wie das Wissen eines lesenden Ichs, das die Einführung der Autorschaftsthese als eines »wissenden Nichtwissen[s]« erfasst.354 Es geht hier um die Frage nach der Beschaffenheit von Erkenntnis-und Erfassungsprozessen. Dabei wird deutlich, dass das Erkennen, das sich als Geistestätigkeit bereits selbst reflektiert, von einer anderen Beschaffenheit sein muss, als ein Erkennen, das einzig darauf abzielt »Dunkelheiten« zu vertreiben. In der Vorrede von Eduard Allwills Briefsammlung wird dies deutlich, denn das Lesepublikum, das die Autorschaftsthese als »Herleitung und Hinleitung« der Sammlung von Briefen annimmt, kann »zu sich sagen, daß e[s] begreift«.355 Dieses Begreifen beantwortet die aufgeworfenen Fragen, die sich das 347 348 349 350 351 352 353 354 355

Ebd., S. 88. Vgl. Ebd, S. 87. Vgl. Ebd., S. 88. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. für diese spätere Formulierung Jacobis den Vorbericht zur Fassung der Briefe über die Lehre des Spinoza von 1819: JWA 1, 1, S. 349. Vgl. JWA 6, 1, S. 88.

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zeitgenössische Publikum laut der Sprechinstanz stellt. Für eine Person dieses Publikums ist die Briefsammlung ein ausgedachtes Werk des herausgebenden Ichs und damit sind auch alle darin beschriebenen Phänomene der menschlichen Daseinswirklichkeit erfunden. Die »Herleitung« stellt die Frage danach, wie diese Briefsammlung entstanden ist und die Antwort darauf ist in diesem Fall eine Motivation des herausgebenden Ichs zu schreiben.356 Die »Hinleitung« beschreibt hier einen inneren Zusammenhang aller Briefe. Diese muss in diesem Fall in der »Absicht« des herausgebenden Ichs begründet sein.357 Mit der Annahme der Autorschaftsthese ist ein rational kohärentes Gefüge aus Zusammenhängen bildbar, das jegliche »Unwissenheit« über die Briefsammlung in Wissen verwandelt.358 Dieses Wissen ist ein Konstrukt. Es erscheint als eine soziale Praxis, die »Dunkelheiten« vertreibt. Die erzeugte Klarheit ist eine Illusion, die einzig dadurch entsteht, dass alles Unerklärliche als erklärlich behandelt wird. Dasjenige Lesepublikum, das mit der Autorschaftsthese »nur im Glauben […] Maaß hält«, gelangt zu einer anderen Form von Wissen.359 Dieses Wissen nimmt oberflächlich aus »Verlegenheit« die Autorschaftsthese an, um hintergründig zu wissen, dass es keinen Autor gibt.360 Das angenommene Wissen wird auf die hier vorliegenden Möglichkeitsbedingungen hinterfragt. Die konstitutive Bedingung für das Bestehen der Autorschaftsthese ist, dass es einen Autor gibt, der sich entschieden dazu bekennt. Dies ist aber nicht der Fall, denn das Herausgeber-Ich bekennt sich nur aus Wohlgefallen für das Publikum dazu, Autor zu sein. Es ist ersichtlich, dass das herausgebende Ich einzig aus Gefälligkeit für das Publikum die Autorschaftsthese entwickelt. Daraus folgt in der Reflexion der Möglichkeitsbedingungen des oberflächlich angenommenen Wissens, die Briefe der Sammlung seien alle erdichtet, dass die Bedingungen für die Erkenntnis dieses Wissens nicht gegeben sind. Dieses Lesepublikum muss daher aus epistemologischen Gründen die Briefsammlung als Sammlung von realen Briefen annehmen, die von Eduard Allwill und dem herausgebenden Ich veröffentlicht werden. Alle formalen Fragen, wie nach der Biografie Eduard Allwills und seiner Motivation dieser Veröffentlichung, bleiben offen. Dieses Lesepublikum sieht in dieser Sammlung von Briefen Ausschnitte aus der menschlichen Daseinswirklichkeit. Aus diesem Grund kommt den Briefen in dieser Lesart eine andere epistemologische Bedeutung zu. Sie stellen in dieser Betrachtungsweise Phänomene des menschlichen Lebens dar, die tatsächlich passiert sind und leisten einen Beitrag zur Erforschung des Menschen. Wenn die Autorschaftsthese anfänglich angenommen wird, um sie dann als erdachtes Konstrukt zu verwerfen, dann gelangt das Publikum zu einem anders beschaffenen Wissen als dasjenige des Publikums der ersten Lesart, die der Autorschaftsthese treu bleibt. Mit dieser Frage nach Beschaffenheiten des Wissens ist die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis verbunden. Dies macht deutlich, dass hier transzendentalphilosophische Fragen aufgegriffen werden. In Eduard Allwills Briefsammlung liegt daher bereits am Beginn der Vorrede eine Bezugnahme auf Kants Kritik der rei-

356 357 358 359 360

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

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nen Vernunft vor, indem nach den Bedingungen von Möglichkeiten des Wissens gefragt wird.361 In diesem Zusammenhang werden verschiedene Wissensformen reflektiert, die unterschiedliche epistemologische Qualitäten haben. Mit dieser Fragestellung werden erkenntnistheoretische Fragen entwickelt, die weit bis in das 19. Jahrhundert hineinreichen. So fragt Hegels Entwurf eines absoluten Wissens in der Phänomenologie des Geistes ebenfalls nach einem besonderen Wissen, das sich in der Reflexion der eigenen Geistestätigkeit selbst als ein Erzeugnis des Geistes hinterfragt und so stets die eigenen Entstehensbedingungen reflektiert.362 In der Vorrede von Eduard Allwills Briefsammlung werden

In gewisser Weise lässt sich bei Jacobis Vorrede von Eduard Allwills Briefsammlung eine erfahrungsbetonende Reaktion auf Kants Kritik der reinen Vernunft erkennen. Kant schreibt in dem Abschnitt Idee der Transzendental-Philosophie seiner Kritik der reinen Vernunft in der Fassung von 1781, dass »Erfahrung […] ohne Zweifel das erste Produkt [ist], welches unser Verstand hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet«. In dem Abschnitt Einteilung der Transzendental-Philosophie wird das erkenntnistheoretisch Spezifische der Kantischen Transzendentalphilosophie hervorgehoben, denn diese sei »eine Weltweisheit der reinen blos speculativen Vernunft«, bei der »alles Praktische, so fern es Bewegungsgründe [und] empirische[] Erkenntnisquellen« enthält, ausklammert. Die Erfahrung ist ein Verarbeitungsprodukt des Verstandes, das durch empfindungsbasierte Wahrnehmungen erzeugt wurde. Die Erfahrung ist somit eine erste Wissensform des Menschen, die ihm durch den Verstand gegeben wird. Die Kantische Transzendentalphilosophie fragt nach einer Wissensform, die dieses erfahrungsbetonende Empirische vorstrukturiert, abstrahiert und gegebenenfalls vollkommen ausklammert. Immanuel Kant: Theoretische Philosophie. Texte und Kommentar. Hg. von Georg Mohr. Band 1: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt a.M. 2004, S. 52 und 94. Vgl. für diese angeführten Spezifika der Kantischen Transzendentalphilosophie: Sabrina Maren Bauer: Der Wahrheitsbegriff in Kants Transzendentalphilosophie. Eine Untersuchung zur Kritik der reinen Vernunft. Berlin 2021, S. 42–48 und 161–169. Vgl. auch: Immanuel Kant: Theoretische Philosophie. Texte und Kommentar. Hg. von Georg Mohr. Band 3: Kants Grundlegung der kritischen Philosophie. Werkkommentar und Stellenkommentar zur Kritik der reinen Vernunft, zu den Prolegomena und zu den Fortschritten der Metaphysik. Frankfurt a.M. 2004, S. 90–92. 362 In Hegels Phänomenologie des Geistes heißt es zu Beginn des Kapitels Das absolute Wissen, dass dort »nicht das Wissen als reines Begreiffen [sic!] des Gegenstandes« im Fokus steht, »sondern diß Wissen soll nur in seinem Werden oder in seinen Momenten nach der Seite aufgezeigt werden, die dem Bewußtseyn als solchen angehört, und die Momente des eigentlichen Begriffes oder reinen Wissens in der Form von Gestaltungen des Bewußtseyns«. Das absolute Wissen erscheint als eine Wissensform, die die reflektierte Erzeugung von Wissen in den Blickpunkt nimmt. Es ist ein Wissen, um die Erzeugungsarbeit des sich selbst reflektierenden Geistes. Damit rückt nach Walter Jaeschke »die Selbstgewißheit des Geistes« zum Ausgangspunkt jeglicher Erkenntnis und substituiert jegliche »Form einer vermeintlich objektiven Erkenntnis […], die ihren Ursprung jenseits der Selbstgewißheit des Ichs habe«. Hegel setzt seine Idee eines absoluten Wissens als einen epistemologischen Bestimmungsort: »Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringen.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 9: Phänomenologie des Geistes. Hamburg 1980, S. 423 und 433f. Walter Jaeschke: Das absolute Wissen. In: Andreas Arndt/Ernst Müller (Hg.): Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ heute. Berlin 2004, S. 194–215, hier S. 212. Vgl. auch: Klaus Vieweg: Religion und absolutes Wissen. Der Übergang von der Vorstellung zum Begriff. In: Ders./Wolfgang Welsch (Hg.): Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Frankfurt a.M. 2008, S. 581–600. Sowie: Hans Friedrich Fulda: Das erscheinende absolute Wissen. In: Klaus Vieweg/Wolfgang Welsch (Hg.): Hegels

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mit der in der Herausgeberfiktion angeführten Autorschaftsthese und der Formulierung der These »im eigentlichen Verstande nicht glauben [zu] dürfen« zwei wesentliche Lesarten vorgegeben, die sich beide völlig in ihrem erkenntnistheoretischen Gehalt unterscheiden.363 In diesem Kontext ist markant, dass die Sprechinstanz die Lesart nahelegt, die das Lesepublikum letztlich in einem Zustand der »Unwissenheit« lässt, was die Entstehensbedingungen der Briefsammlung angeht.364 Die Briefsammlung soll letztlich doch als Sammlung realer Briefe verstanden werden, die nun vom Herausgeber-Ich publiziert werden. Aus diesem Grund handelt es sich bei der Vorrede auch weiterhin um eine Herausgeberfiktion. Das herausgebende Ich erweitert die Autorschaftsthese, indem es diese durch eine Selbstbeschreibung als besonders wahrscheinlich erscheinen lassen möchte: Ich schlage demnach so fort, dem Leser vor, sich unter dem Herausgeber einen Mann vorzustellen, dem es von seiner zartesten Jugend an, und schon in seiner Kindheit ein Anliegen war, daß seine Seele nicht in seinem Blute, oder ein blosser Athem seyn möchte, der dahin fährt.365 Mit dieser Selbstbeschreibung des Herausgeber-Ichs beginnt in der Vorrede ein neuer Sinnabschnitt, nachdem zunächst mit der Frage der Herausgeber-oder Autorschaft das Erzählwerk unter ein erkenntnistheoretisches Vorzeichen gesetzt wurde. In der Art und Weise des Erzählens fällt auf, dass die Sprechinstanz nun wieder in der dritten Person über das herausgebende Ich spricht. Dadurch wird kaschiert, dass die Sprechinstanz der Vorrede autobiografisch über sich selbst berichtet. Die Erzählweise erweckt hier jedoch wieder den Eindruck, als ob die Sprechinstanz und das Herausgeber-Ich unterschiedliche Instanzen seien. Diese autobiografische Beschreibung der Sprechinstanz, die zugleich der Herausgeber dieser Briefsammlung ist, erfüllt die Funktion, die Autorschaftsthese »wahrscheinlich zu machen«.366 Es ist diesem Ich ein »Anliegen«, dass die »Seele« des Menschen weder an die Körperlichkeit seines Daseins – »nicht in seinem Blute« – noch in einer anderen materiell vorgestellten Weise existiert, wie es mit dem »blosse[n] Athem« verdeutlicht wird.367 Die »Seele« des Menschen muss nach dem »Anliegen« dieses Ichs eine Daseinsentität des Menschen sein, die an keinerlei Form von Materialität gebunden ist.368 Sie ist für das herausgebende Ich etwas Inneres, das autonom vom Äußeren des menschlichen Daseins ist. Für dieses Ich ist sie eine geistige Daseinsentität. Das Erste, was das sprechende Herausgeber-Ich über sich selbst berichtet, ist sein »Anliegen« im erfahrbaren Leben eine Vergewisserung zu erhalten, dass die »Seele« eine geistige Daseinsentität des Menschen ist, die autonom von seinem körperlichen Dasein besteht.369 Dieses »Anliegen« sei keineswegs mit dem »Gedanke[n]« verträglich,

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Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Frankfurt a.M. 2008, S. 601–624. Vgl. JWA 6, 1, S. 87. Vgl. Ebd., S. 88. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

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»sein gegenwärtiges Leben ewig fortzusetzen«, sondern zielt auf die Vorstellung eines ganz verschiedenen, jenseitigen Existierens ab.370 Daher wird die »Seele« als vom Äußeren autonomes Inneres des Menschen dem »blossen gemeinen Lebenstrieb« gegenübergestellt.371 Dieses innerlich Autonome erscheint für das diesseitige Dasein als der entscheidende Lebenswert: » Er liebte zu leben wegen einer andern Liebe, und – noch mal! – ohne diese Liebe schien es ihm unerträglich zu leben, auch nur Einen [sic!] Tag.«372 Liebe erscheint hier als eine intensive Form der Wertschätzung. Das beschriebene Ich wertschätzt sein Leben aufgrund seiner Hinwendung zum Inneren, denn dort findet es eine »ander[e] Liebe« als den »blossen gemeinen Lebenstrieb«.373 Das Lebenswerte des diesseitigen Daseins ist die Zuwendung zum Seelischen, das als Existenzform unabhängig vom körperlichen Dasein betrachtet wird. Das »Anliegen« der Herausgeberinstanz ist eine erfahrbare Vergewisserung dieser geistigen Daseinsentität im Leben.374 Also schon als Knabe war der Mann ein Schwärmer, ein Fantast, ein Mystiker – oder welches ist der rechte Name unter so vielen, die ich, mit ihren sorgfältigen Definitionen, in so mancherley neueren Schriften gefunden und nicht behalten habe? Diese Liebe zu rechtfertigen; darauf gieng alles sein Dichten und Trachten: und so war es auch allein der Wunsch, mehr Licht über ihren Gegenstand zu erhalten, was ihn zu Wissenschaft und Kunst mit einem Eifer trieb, der von [sic!] keinem Hinderniß ermattete.375 Das sprechende Ich drückt hier eine abwertende Haltung gegenüber den »neueren Schriften« aus. Diese enthielten »sorgfältige[] Definitionen« von Begriffen wie »Schwärmer, […] Fantast [und] Mystiker«, die dem sprechenden Ich aber als bedeutungslos erscheinen. Die rhetorische Frage evoziert in der direkten Ansprache des lesenden Publikums Teilnahme an der Ansicht der Herausgeberinstanz. In erkenntnistheoretischer Prägung zeigt sich hier die Rousseausche Trennung von tableau und portrait, denn als tableau ist diese Briefsammlung letztlich ohne erkenntnistheoretischen Wert, da sie dem Drang des »Anliegen[s]« des sprechenden Ichs entspringt.376 Die Briefsammlung gestaltet sich als tableau im Sinne des lesenden Publikums, da jegliche auf sie bezogene Unklarheit vertrieben ist. Als tableau bedient die Briefsammlung das Streben des zeitgenössischen Publikums, jegliche »Dunkelheit« zu vertreiben.377 Dabei ist die Briefsammlung als tableau ohne Funktion für die Vergewisserungssehnsucht des herausgebenden Ichs, denn als Erdichtung weist die Briefsammlung keinen empirischen Wert auf. Das Unerklärliche in Form der Seele des Menschen, die eine vom Materiellen autonome, geistige Daseinsentität ist, bleibt unerfasst. Wenn die Briefsammlung im rousseauschen Sinne ein tableau ist, gefällt sie dem Publikum aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive. Doch ist sie dann für das sprechende Ich epistemologisch

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Vgl. Ebd., S. 88f. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 89. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 88f. Ebd., S. 89. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 88.

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bedeutungslos, da die Briefsammlung als Erdichtung nicht die geistige Daseinsentität aus dem Leben des Menschen herauskristallisiert, wie es eigentlich das »Anliegen« des herausgebenden Ichs ist.378 Für dieses Ich hat die Briefsammlung nur erkenntnistheoretische Bedeutung, wenn sie im rousseauschen Verständnis ein portrait ist. In diesem Fall ist das sprechende Ich innerhalb der Diegese der Herausgeber echter Briefe und sieht darin seine gesuchte Vergewisserung, dass der Mensch eine geistige Daseinsentität hat. An dieser Stelle zeigt sich die Funktion der Verkomplizierung der Herausgeberfiktion mit dem Autorschaftspostulat. Es ist das gegenseitige Ausspielen von Publikumsinteresse und dem Interesse des sprechenden Ichs. Das sprechende Ich lässt durch seine Handlungsmotivation durchblicken, dass es sich bei der Briefsammlung um ein portrait im Verständnis von Wirklichkeitsabbildung handeln muss, denn nur als solches hat die Briefsammlung erkenntnistheoretische Bedeutung. Diese Abbildung umfasst auch Situationen des menschlichen Lebens, die in der Regel nicht beobachtet werden. So geschah es, daß er philosophische Absicht, Nachdenken, Beobachtung in Situationen und Augenblicke brachte, wo sie äusserst selten angetroffen werden. Was er erforscht hatte, suchte er sich selbst so einzuprägen, daß es ihm bliebe. Alle seine wichtigsten Ueberzeugungen beruhten auf unmittelbarer Anschauung; seine Beweise und Widerlegungen, auf zum Theil (wie ihn däuchte) nicht genug bemerkten, zum Theil noch nicht genug verglichenen Thatsachen. Er mußte also, wenn er seine Ueberzeugungen andern mittheilen wollte, darstellend zu Werke gehen.379 Es geht dem sprechenden Ich mit der vorliegenden Schrift um die Darstellung von Wirklichkeit, die sich auf Situationen des Lebens fokussiert, die »äusserst selten« betrachtet werden. Dabei wird der portrait-Charakter der Briefsammlung angedeutet, denn dieses Darstellungsbestreben wird im Folgenden zu einer interdisziplinären Forschungsprogrammatik ausgebaut. So entstand in seiner Seele der Entwurf zu einem Werke, welches mit Dichtung gleichsam nur umgeben, Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen stellen sollte. Erbaulicher als die Schöpfung; moralischer als Geschichte und Erfahrung; philosophischer als der Instinkt sinnlich vernünftiger Naturen, sollte das Werk nicht seyn []. Mit dieser Programmatik geht eine Konzentrationslenkung auf das menschliche Leben einher, das in allen seinen Facetten dargestellt werden soll, denn erst wenn das ganze menschliche Dasein in den Blick rückt, offenbare sich die autonome geistige Daseinsentität des Menschen. Die Betonung der Darstellungsmethode steht folglich in einem signifikanten Widerspruch zu der Autorschaftsthese. So wird die Möglichkeit offen gehalten, dass die Sprechinstanz – wie sie es ja selbst in der Doppelstruktur ihrer Autorschaftsthese vorgibt – »im eigentlichen Verstande« die Herausgeberfunktion erfüllt.380 Die Briefe, die Allwill gesammelt hat, werden als Konvolut veröffentlicht und bringen 378 Vgl. Ebd., S. 87–89. 379 Ebd., S. 89. 380 Vgl. Ebd., S. 87–89.

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so das Leben des Menschen in all seiner Vielschichtigkeit zur Artikulation. Die Briefe erscheinen durch die Tätigkeit des Sammelns und anschließenden Herausgebens als zunächst in eine primäre Verwendungsweise eingebettet und mit der Veröffentlichung bekommen sie eine sekundäre Funktion zugesprochen, die darin besteht, authentische Darstellung des menschlichen Lebens zu sein. Diese Gestaltungsvariante der Herausgeberfiktion ist besonders und gibt die Lesart vor, dass in den Briefen die geistige, autonome Daseinsentität hervortritt. Dabei ist es markant, dass die interdisziplinäre Forschungsprogrammatik im Zuge der Selbstbeschreibung des herausgebenden Ichs entwickelt wird.381 Diese Briefsammlung ist »mit Dichtung […] nur umgeben«, da sie das erfahrbare Leben zeige.382 Das Lebens so darzustellen, wie es wirklich ist und nicht »[e]rbaulicher[,] moralischer [oder] philosophischer« ist anthropologische Forschung.383 Diese Forschung ist laut dem sprechenden Herausgeber-Ich der Schlüssel zur Frage nach den Möglichkeiten des menschlichen Erkennens, nach ontologischen Strukturen und metaphysischen Phänomenen. Danach wird in der Vorrede eine Philosophiekritik angeführt. Die Sprechinstanz kritisiert, dass die »Philosophen« nur einen Ausschnitt des menschlichen Lebens betrachten würden, damit sie »erklären« können.384 Es wird abschließend noch einmal auf eine aufklärerische Licht-Dunkelheit-Symbolik Bezug genommen, denn das sprechende Ich macht deutlich, dass es sich »nach einem Lichte, worin nur das zu sehen wäre, was nicht ist, wenig sehnte«.385 Hier wird noch einmal die bloße Vertreibung von »Dunkelheit« angeprangert, da ein »Licht« auch täuschen kann.386 Mit dieser Aussage des sprechenden Ichs wird noch einmal deutlich, dass die Autorschaftsthese »zufolge ihrer pragmatischen Absicht« angenommen werden soll.387 Diese Intention besteht darin, dass Publikum dazu zu bewegen, sich überhaupt auf diese Briefsammlung einzulassen. Letztlich gibt das Herausgeber-Ich deutlich zu verstehen, dass das »Gewicht meiner Instanz« nicht »entkräftet« werden kann.388 Dies zeige sich auch darin, dass der Herausgeber am Ende der Sammlung einen eigenen Brief hinzugefügt habe. Außerdem erklärt er, dass die vorherigen Fassungen dieses Erzählwerks nicht darauf hinweisen, dass es erdichtet ist, sondern dass sich von den Verantwortlichen erst später entschieden wurde, weitere Briefe zu veröffentlichen. Aus diesem Grund mussten die »ehmals erschienenen Briefe« verändert werden, damit sie nicht auf Briefe Bezug nehmen, die ausgeklammert wurden.389 Die jetzt vorliegende Fassung sei die Originalfassung der Briefe, bei der die »gemachte[n] Veränderungen« der früheren Fassungen »weggeschaft[]« seien.390

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Vgl. für die Programmatik den Einleitungstext in das Kapitel 3 dieser Studie. Vgl. JWA 6,1, S. 89. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 90. Vgl. auch den Einleitungstext in das Oberkapitel 3 dieser Untersuchung. Vgl. JWA 6,1, S. 90. Vgl. Ebd., S. 88–90. Vgl. Ebd., S. 91. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

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Nach der Vorrede folgen drei weitere Motti-Sprüche und danach eine Einleitung.391 Die briefschreibenden Figuren werden hier in ihren persönlichen Charakteristika und ihren sozialen Beziehungen zueinander vorgestellt. Die Sprechinstanz stellt auf diese Weise die Figuren dar, sodass soziale Beziehungen der Figuren zueinander nicht aus den Briefen erschlossen werden müssen, sondern von vornherein geklärt erscheinen. Die Skizzierung von Persönlichkeitsmerkmalen der Figuren ist verbunden mit einer Schilderung ihrer Lebenssituation zum Zeitpunkt, an dem diese Briefe entstanden. Die Einleitung erfüllt die Beglaubigungsstrategie, eine primäre Verwendungsweise dieser Briefe vorzustellen, aus denen sie als veröffentlichte Sammlung nun herausgerissen werden. Außerdem deutet die Einleitung somit auch an, dass die Beziehungen der Figuren untereinander allein aus den Briefen nicht deutlich werden. Auch dies ist ein Element der Beglaubigungsstrategie, denn in persönlichen Briefen erläutern die briefschreibenden Personen sich gegenseitig in der Regel nicht ihre Beziehungen, da das gegenseitige Adressieren eine soziale Bindung voraussetzt, die den Briefschreibenden bekannt ist. Mit der Schilderung der persönlichen Merkmale und der Lebensumstände der Figuren zu dem Zeitpunkt, als diese Briefe geschrieben wurden, wird zugleich auch die Differenz zwischen den Gemütsverfassungen der verschiedenen Figuren erläutert. Die Einleitung beginnt mit der Vorstellung Syllis: Sylli, geborne von Wallberg, stammte aus einer alten Patrizischen Familie in C**. Als sie fünfzehn Jahre alt war, verlor sie ihre Mutter, welche mehr als das gemeine Erdenleben in sie geboren hatte, und sich so ganz in ihr fühlte, daß davon in beyder Herzen eine namenlose Liebe sproßte. Ihr Vater, von einer unglücklichen Leidenschaft bis zum Wahnsinn gefoltert, begrub sich zwey Jahre nachher in ein Carthäuserkloster, wo er, als die folgenden Briefe geschrieben wurden, noch lebte. Sylli gerieth nun mit ihrem Bruder unter Vormundschaft, und in eine so verwirrte Lage, daß ihr Herz um und um wund werden mußte.392 Syllis Mutter hatte »mehr als das gemeine Erdenleben in sie geboren«, womit auf ihre innere Eigentümlichkeit hingewiesen wird. Der frühe Tod der Mutter wird als Verlust für Sylli hervorgehoben, denn aufgrund ihrer Exklusivität als Mensch, »fühlte« sie sich »ganz« in ihrer Mutter wieder und »in beyder Herzen [sproßte] eine namenlose Liebe«. Mit dieser Liebe wird eine Parallele zu der Vorrede geschaffen, in der eine besondere Liebe als spezifische Wertschätzung des Inneren entworfen wird. Diese besondere Wertzuweisung des Inneren findet sich hier in der knapp geschilderten Beziehung zwischen Sylli und ihrer Mutter wieder. Da der Vater nach dem Tod der Mutter »von einer unglücklichen Leidenschaft bis zum Wahnsinn gefoltert« wurde, »gerieth« sie zusammen »mit ihrem Bruder unter Vormundschaft«. Diese »so verwirrte Lage« lässt »ihr Herz […] um und um wund werden«. Sylli erscheint als eine Person, die schon in der Jugendzeit ihres Lebens Schicksalsschläge erlitt. Die innerliche Verbindung mit ihrer Mutter macht den Tod dieser für sie besonders schmerzvoll, denn er verletzt sie so stark, dass sie für jegliche Liebe, die ihr entgegengebracht wird, empfänglich ist.

391 Vgl. die drei Motti-Sprüche: Ebd., S. 93f. Und für die »Einleitung: Ebd., S. 95f. 392 Ebd., S. 95.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Sie mochte ein und zwanzig Jahre alt seyn, als einer von den Gefährten ihrer Kindheit und zarten Jugend, August Clerdon, sie wiedersah, und die heftigste Liebe für sie empfand; ein feuriger Mann, von großen Geistesgaben, aber unstätem Sinne. Die Verbindung kam zu Stande, und Sylli zog nach E***, wo ihr Mann eine der ansehnlichsten Stellen bekleidete. Gleich darauf kam dessen Bruder, Heinrich Clerdon, als Regierungsrath nach C**. Beyde waren in der Schweiz geboren; aber schon als Kinder mit ihrem Vater nach Deutschland versetzt worden. Es hatte Sylli geahndet, daß August auf vielerley Weise sie unglücklich machen würde; aber das Große und Herrliche in dem jungen Manne riß sie hin. Drey Jahre nachher starb er mitten in der Verwickelung eines durch niederträchtige Treulosigkeit gegen ihn angesponnenen Rechtshandels, der ihm die völlige Zerrüttung seiner äußerlichen Glücksumstände drohte. Seine Wittwe, die wenig eigenes Vermögen hatte, und auch das noch in Gefahr sah, mußte diesen Rechtshandel, von schlechten Menschen unterstützt, gegen schlechte Menschen fortsetzen, und deswegen zu E*** bleiben; an einem Orte, den sie nie geliebt hatte, und der ihr nun desto mehr zuwider war, da ihre ganze Seele nach C** hieng, wo alles, was sie noch an die Erde fesselte, sich beysammen fand. Ein einziges Kind, das sie geboren hatte, war dem Vater nachgefolgt. Als sie die beykommenden Briefe schrieb, mochte sie acht und zwanzig Jahre alt seyn.393 Die weitere Beschreibung Syllis stellt sie als eine Person dar, die im Leben so viele prägende und verändernde Ereignisse erfahren hat, dass sie im Alter von 28 Jahren mit dem Leben nahezu abgeschlossen hat, denn »alles, was sie noch an die Erde fesselte« sind Menschen, von denen sie aufgrund ihrer äußeren Lebensverhältnisse räumlich getrennt ist. Sylli hat sich nach ihrer turbulenten Jugend auf August Clerdon eingelassen, obwohl sie »geahndet« hatte, »daß August auf vielerley Weise sie unglücklich machen würde«. Aber ihr »Herz« war schon »wund« und seine »heftigste Liebe« und »das Große und Herrliche in dem jungen Manne riß sie hin«. Diese Ehe besteht aber nur für drei Jahre, da August Clerdon, während er sich in einem »Rechtshandel« befindet, stirbt. Sylli muss sich aus äußerlich existenziellen Gründen diesem »Rechtshandel« widmen. Aus diesem Grund muss sie in E*** bleiben, einer Stadt, die »sie nie geliebt hatte« und die »ihr nun desto mehr zuwider war«. Ihr einziges Kind, das aus der dreijährigen Ehe hervorgegangen war, folgte dem Vater in den Tod. Sie ist nun allein und einsam in E*** und daher hängt »ihre ganze Seele nach C**«. Diese Einführung Syllis in dieser Ausführlichkeit führt sie als Mensch ein, der eine Exklusivität im Inneren aufweist. Schicksalsschläge haben ihr Leben geprägt und sie befindet sich zum Zeitpunkt des Schreibens in E***. Dies ist ein Ort, an dem sie eigentlich nicht sein möchte. Sie muss jedoch dort verweilen, weil sie einen »Rechtshandel« zu Ende führen muss, der aus »niederträchtige[r] Treulosigkeit gegen« ihren Mann begonnen wurde und in dessen Verlauf er verstarb. Diese Beschreibung hat als Einleitung in die Briefsammlung die Funktion, Sylli als Hauptfigur hervorzuheben. Ihre bewegende Lebensgeschichte erweckt Mitleid und Mitempfindung, denn sie ist in ihrem Leben beständig mit dem Gefühl von Verlust konfrontiert. Sie verliert früh ihre Mutter. Dann verliert sie ihren Vater, da dieser wahnsinnig wird. Dann verliebt sie sich, aber schon nach kurzer Zeit verstirbt ihr Mann und auch ihr einziges Kind stirbt. Viele Menschen, die ihr viel bedeuteten, werden ihr durch den Tod genommen. Sylli ist 393 Ebd. 95f.

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in ihrem Leben aufgrund dieser Todesfälle einem sich zunehmend intensivierenden Verlustgefühl ausgesetzt. Dieses Gefühl wird in ihrem ersten Brief aufgegriffen, denn Sylli beschreibt dort ihre »sonderbare Gemüthsstimmung«.394 Diese Beschreibung Syllis in der Einleitung evoziert Anteilnahme, die als Beglaubigungsstrategie genutzt wird, um ihre Briefe als echt zu inszenieren. Sie entwerfen in ihrem emotionalen Charakter einen unmittelbaren Ausdruck des Inneren eines Menschen, der in seinem Leben viel Leid ertragen musste und noch immer Qualen erduldet. Neben Sylli werden die weiteren briefschreibenden Figuren nur kurz genannt: Amalia, deren gleich im zweyten Briefe, ohne weiteres, gedacht wird, erscheinet selbst, in der Folge dieser Sammlung, als Heinrich Clerdons Gattinn; und Lenore und Clärchen von Wallberg – beyde, Schwestern (unter welchem Namen allein zuweilen ihrer auch Erwähnung geschieht) – waren Syllis leibliche Cusinen. Alle diese Personen hatten, in verschiedenen Perioden, viele Jahre neben und mit einander zugebracht, und liebten, und betrachteten sich, durch ihre äusseren, noch weit mehr aber durch innere Verhältnisse auf das engste verbunden, als Geschwister. Von Eduard Allwill etwas voraus zu erinnern, wäre überflüssig.395 Es wird hier ein briefliches Netzwerk zwischen Sylli in E*** und ihrer Familie in C** entworfen, das zugleich die primäre Verwendungsweise der Briefe beschreibt und nochmal die Echtheit dieser Briefe bestätigt und den portrait-Charakter betont. Diesbezüglich ist auch auf eine Eigenart der Sprechinstanz hinzuweisen, die bereits in der Vorrede vorliegt. In der Vorrede schildert die Sprechinstanz sich selbst als »Herausgeber« in der dritten Person und beschreibt sich selbst von außen, als beschriebe sie nicht sich selbst, sondern auf eine mitempfindende Art und Weise eine andere Person.396 In der Vorrede weist die Sprechinstanz einen perspektivisch gebundenen Blickwinkel und Wissensstand auf und die Perspektivierung des Geschehens ist auf dieser extradiegetischen Ebene intern an die Sprechinstanz als herausgebendes Ich gebunden. In der Einleitung erscheint diese Instanz auf der intradiegetischen Ebene der Briefsammlung mit Nullfokalisierung, die sich in einem Überblick über die briefschreibenden Figuren und einer ausführlichen Innensicht in die Figur Sylli zeigt. Die Einleitung eröffnet eine eingebettete Erzählebene, denn hier stehen die Figuren der Briefsammlung im Vordergrund und es wird damit eine innerhalb der Herausgeberfiktion liegende Diegese konturiert. Die Herausgeberfiktion ist eine extradiegetische Erzählung. Mit der Einleitung beginnt nun ein erzähltes Erzählen. Es muss daher zwischen der extradiegetischen Ebene der Vorrede und der intradiegetischen Ebene der Einleitung und der Briefsammlung unterschieden werden. Während sich das Herausgeber-Ich in der Vorrede durch einen eingeschränkten Wissensstand auszeichnet, ist dies auf der intradiegetischen Ebene der Briefsammlung anders. In der Einleitung wird zum Einstieg in die Briefe zusätzliches Wissen über die Figuren mitteilt. Das Herausgeber-Ich weist hier einen Wissenstand auf, der sogar über das Wissen, das die Briefe bereitstellen, hinausgeht. Markant ist hier, dass diese Erzählebenendifferenzierung nicht durch den Wechsel einer narrativen Instanz markiert wird, 394 Vgl. Ebd., S. 97. 395 Ebd., S. 96. 396 Vgl. Ebd., S. 87–92.

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sondern durch die Perspektivierung. Dieses Reziprozitätsverhältnis von extradiegetisch intern fokalisierter sowie intradiegetisch nullfokalisierter Erzählinstanz ist eine Besonderheit der hier entworfenen komplexen Herausgeberfiktion. Dies erfüllt in diesem Fall zwei mögliche Funktionen. Einerseits lässt sich der beim Allwill vorliegende Wechsel der Perspektivierungen auf den verschiedenen Erzählebenen als Evidenz für die Autorschaftsthese deuten. Das Herausgeber-Ich weiß innerhalb der Diegese alles, weil er sich die Erzählung ausgedacht hat. Andererseits lässt sich dieses Wechselverhältnis auch als Authentifikation der Echtheit verstehen, denn das Herausgeber-Ich ist über die Briefe und über biografische Daten der briefschreibenden Personen informiert, so wie er ja auch mit dem Besitzer der Briefsammlung bekannt ist. Aus diesem Grund liegt die Annahme nahe, dass das Herausgeber-Ich mit weiteren Personen der Sammlung bekannt ist. Die Einleitung ist in dieser Lesart eine Verwischung der Erzählebenen, die wiederum als eine Beglaubigungsstrategie erscheint, die die Briefe als echt ausstellt. Die in der Vorrede entworfene ambivalente Deutungsmöglichkeit wird in der Einleitung fortgesetzt. Diese Doppelstruktur der Herausgeberfiktion, die sich über die Vorrede und die Einleitung erstreckt, hat die Funktion nach den Bedingungen der Möglichkeit einer unmittelbaren Ausdrucksform des Inneren zu fragen, die nicht künstlich erschaffen ist, sondern authentisch. Authentisch heißt in diesem Kontext aus dem Leben gegriffen, so wie es wirklich ist und so wie es tatsächlich erfahrbar ist. Diese Herausgeberfiktion mit Autorschaftsthese ist ein transzendentaler Einstieg in die Briefsammlung. Sie ist transzendental, weil sie nach einer vor der Erfahrung geltenden Betrachtungsweise der Briefsammlung fragt. Es werden in dieser Herausgeberfiktion mit der angeführten Möglichkeit, dass das Herausgeber-Ich auch das Autor-Ich sein könnte, die Bedingungen hinterfragt, wie diese Briefsammlung wahrgenommen wird und welcher epistemologische Wert ihr zugewiesen werden kann. Es geht mit dieser Herausgeberfiktion gezielt um die Reflexion der Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnissen, die aus der Briefsammlung gezogen werden können. Der erste Brief der Sammlung ist von Sylli geschrieben und an Heinrich Clerdon adressiert sowie auf »Den 6ten März« datiert.397 Heinrich Clerdon ist der Bruder ihres verstorbenen Mannes. Ihr Brief an ihn beginnt mit der Suche nach einer sprachlichen Ausdrucksform für eine spezifische Zustandsform des Inneren. Ja, mein Freund, noch alle Tage wird es öder um mich her; und so setzt sich denn die sonderbare Gemüthsstimmung, die Du an mir tadelst, und wofür Du keinen Namen weißt, immer fester. Ich soll es Dir nennen, was weder Milzsucht, Trübsinn, Menschenhaß oder Menschenverachtung, noch sonst etwas ist, wozu sich aus Romanen oder Schauspielen eine Deutung holen ließe; was aber mein Herz zugleich so warm und so kalt macht, meine Seele so offen und so zugeschlossen. Lieber Clerdon, vielleicht ein andermal; diesmal höre, was sich gestern zutrug.398 Syllis »sonderbare Gemüthsstimmung« ist eine besondere Form der Melancholie. Sie beschreibt das Gefühl, dass es von Tag zu Tag noch »öder« um sie wird. Sie geht auf einen

397 Vgl. Ebd., S. 97. 398 Ebd., S. 97.

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früheren Brief von Clerdon ein, in dem er sie dafür tadelt, dass sie diese Verfassung ihres Innenlebens mit »keine[m] Namen« benennen kann. Dies verweist darauf, dass Heinrich Clerdon im Gegensatz zu Sylli das Verlangen hat, das Innere zu analysieren, was hier heißt, sprachlich mit Begriffen fassbar zu machen. Mit der ersten Selbstaussprache Syllis erscheint sie als Person, die eine innerliche Zustandsform erlebt, die so besonders ist, dass es keine Benennung für dieses emotionale Erleben gibt. Diesen inneren Daseinszustand bestimmt Sylli selbst lediglich im Ausschlussverfahren und benennt, was er nicht ist. Er ist »weder Milzsucht, Trübsinn, Menschenhaß oder Menschenverachtung, noch sonst etwas« dergleichen. Diese Zustandsform wird im Verlauf des Briefes in der Darstellung von inneren Haltungen gegenüber äußeren Geschehnissen näher impliziert.399 Es fällt in diesem ersten Abschnitt des ersten Briefes der Sammlung auf, dass hier noch einmal die Frage von imaginativer Erdichtung und tatsächlicher Wirklichkeitsabbildung aufgegriffen wird, denn Syllis Gemütsverfassung ist nicht »etwas«, »wozu sich aus Romanen oder Schauspielen eine Deutung holen ließe«. Es ist eine innerliche Verfassung, die exklusiv ist und die sich dem bekannten Sprachgebrauch verwehrt. Es wird hier der empfindsame Unsagbarkeitstopos aufgerufen, der vor der Versprachlichung der Komplexität des inneren Erlebens Halt macht. Syllis darstellende Implikation des eigenen Inneren scheint ihr nicht bewusst zu sein, denn für sie beginnt diese Veranschaulichung ihrer »sonderbare[n] Gemüthsstimmung« als neues Thema und sie schließt damit ab und schreibt »vielleicht ein andermal; diesmal höre, was sich gestern zutrug«. Dieses dann doch unbewusste Versprachlichen ist in der empfindsamen Literatur ebenfalls ein gängiges Geschehen. Erinnert sei an Werthers Brief vom 10. Mai, in dem er äußert, er könne jetzt nicht malen und dann sprachlich ein idyllisches Bild beschreibt, wie er im Wald an einem kleinen Bach sitzt und einen vollkommenen Moment des Naturerlebens erfährt. Es rückt bei Sylli die Tätigkeit der Beschreibung des eigenen Inneren ins Unbewusste, da die eigene innere Zustandsform nicht untersucht wird, sondern sie wird als bestehend angenommen. Sie wird als ein inneres Geschehen erfasst und bestimmt das Handeln. In diesem Zusammenhang wird mit dem Begriff des Unbewussten, der hier im Kontext des 18. Jahrhunderts zu verstehen ist, ein Agieren beschrieben, das sich nicht auf die Gesamtheit der Bewusstseinsinhalte bezieht, sondern sich auf Teilaspekte des Bewusstseins fokussiert. Das heißt, das Unbewusste sind diejenigen Bewusstseinsinhalte, die mit dem Agieren zusammenhängen, aber im Moment des Agierens nicht im Fokus des eigenen Denkens, Empfindens und Handelns stehen. Das Unbewusste sind diejenigen Bewusstseinsinhalte, die einen Einfluss auf das Agieren haben, dabei jedoch nicht als Faktoren dieses Agierens von der agierenden Person konkret erkannt werden. Dieses Verständnis des Unbewussten findet im 18. Jahrhundert seinen Bezugspunkt in Schriften von Immanuel Kant.400

399 Vgl. für die Tätigkeiten des Implizierens, Beschreibens und Benennens als Versprachlichungsformen des Inneren die Studie von Stelle Lange zu ausgewählten empfindsamen Briefromanen: Stella Lange: Gefühle schwarz auf weiß. Implizieren, Beschreiben und Benennen von Emotionen im empfindsamen Briefroman um 1800. Heidelberg 2016. 400 Vgl. dafür: Dietmar H. Heidemann: The ›I Think‹ Must Be Able To Accompany All My Representations. Unconscious Representations And Self-consciousness in Kant. In : Piero Giordanetti/Riccardo Pozzo und Marco Sgarbi (Hg.) : Kant’s Philosophy of the Unconscious. Berlin 2012, S. 37–60.

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Bei Kant erscheint der Begriff des Unbewussten vor allem in erkenntnistheoretischer Prägung, denn nach Kant erfasst der Mensch alles, was außerhalb seines Bewusstseins existiert, mit seinen Sinnen. Nach Zdravko Kobe umfasst das Unbewusste diejenigen Phänomene des Äußeren, die vom Menschen durch die Sinne nicht erfasst werden.401 Die Existenz einer komplexeren Beschaffenheit der äußeren Erscheinungswelt, als diejenige, die der Mensch durch seine Sinne wahrnimmt, offenbare ihm ein innerer Sinn. Diese unerfassbaren, jedoch angenommenen Phänomene der äußeren Welt bilden bei Kant das Unbewusste.402 Das Unbewusste ist bei Kant demnach bezogen auf die Beschaffenheit des Äußeren. Tom Rockmore zeigt, dass bei Kant dieses Unbewusste auch im Bewusstsein des Menschen auffindbar ist.403 Es ergibt sich aus der Fülle von Bewusstseinsinhalten, die nicht alle zugleich im Fokus stehen können. Das Unbewusste fasst im Bewusstsein enthaltene Inhalte zusammen, die jedoch bezogen auf ein konkretes Agieren nicht im Zentrum des Denkens, Empfindens und Tätigseins steht. Dieser Befund, dass die briefschreibende Figur Sylli mit ihrem ersten Brief eine unbewusste Beschreibung ihrer »sonderbare[n] Gemüthsstimmung« gibt, erzeugt eine unmittelbare Nähe zu ihrem Inneren.404 Sie berichtet darüber, dass sie »auf einige Stunden an das Bett einer Sterbenden« geriet und welche inneren Geschehen sie dabei erlebte.405 Dieser Einstieg betont eine unverstellte Nähe zu diesen inneren Vorgängen Syllis, da sie dieses innere Erleben als besonders intensiv wahrnimmt, aber nicht benennen kann, wieso dieses Erleben für sie so bedeutungsschwer ist. Der Einstieg in diesen Brief mit dem empfindsamen Unsagbarkeitstopos und der danach folgenden impliziten Beschreibung ihrer Gemütsverfassung weist auf das Unbewusste im zeitgenössischen Verständnis Kants hin. Diese Betonung des Unbewussten erzeugt eine Unmittelbarkeit zu dem Inneren Syllis, da dieses Innere, obwohl es von Sylli versprachlicht wird, trotzdem nicht als geordnet und analysiert erscheint, sondern unverstellt so, wie sie es selbst erlebt. Das Aufrufen des Unbewussten erscheint hier als eine Methode eine Ausdrucksform des Inneren zu entwerfen, die eine authentische Unmittelbarkeit entwirft. Sylli beendet ihren ersten Briefabschnitt damit, dass Clerdon hören solle, was sich gestern zugetragen hat. Diese Verbwahl des Hörens deutet darauf hin, dass der Brief hier in seiner Gestaltung mündliche Konversation nachahmt und die Darstellungsform eines schriftlichen Gesprächs aufweist.406 Diese Darstellungsform des schriftlichen Ge-

401 Vgl. Zdravkov Kobe: Das Problem des inneren Sinnes. Das Innere, das Äußere und die Apperzeption. In: Mladen Dolar (Hg.): Kant und das Unbewusste. Wien. 1994, S. 53–84. 402 Vgl. Patricia Kitcher : Kant’s Unsonscious »Given«. In: Piero Giordanetti/Riccardo Pozzo und Marco Sgarbi (Hg.) : Kant’s Philosophy of the Unconscious. Berlin 2012, S. 5–36. Sowie: Piero Giordanetti: The Unconscious as Root of Kant’s A Priori Sentimentalism. In: Ders./Riccardo Pozzo und Marco Sgarbi (Hg.) : Kant’s Philosophy of the Unconscious. Berlin 2012, S. 77–88. Vgl. auch: Mladen Dolar: Das Vermächtnis der Aufklärung: Foucault und Lacan. In: Ders. (Hg.) Kant und das Unbewusste. Wien. 1994, S. 7–30. 403 Vgl. Tom Rockmore: Kant on Unconscious Mental Activity. In : Piero Giordanetti/Riccardo Pozzo und Marco Sgarbi (Hg.) : Kant’s Philosophy of the Unconscious. Berlin 2012, S. 305–326. 404 Vgl. JWA 6,1, S. 97. 405 Vgl. Ebd. 406 Vgl. ausführlich für diese Darstellungsform des Briefes im 18. Jahrhundert: Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien 2000.

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sprächs verweist darauf, dass der Brief einen primären und intim adressierten Verwendungszweck erfüllte. Die Briefform des schriftlichen Gesprächs ist somit eine weitere Beglaubigungsstrategie, die Briefe als echt erscheinen zu lassen. Syllis Brief ist an Heinrich Clerdon adressiert und erfüllt die Kommunikationsfunktion, eine Nähe zu ihm als Freund zu erzeugen. Diese Nähe überwindet die räumliche Distanz der beiden und versucht durch den Brief eine kommunikative Nähe zu entwerfen, die die Intimität und Vertrautheit der beiden untermauert. Der Brief imaginiert in der Darstellungsform des schriftlichen Gesprächs, die angeschriebene Person sei im Moment des Schreibens körperlich präsent. Andersherum legt sie auch beim Lesen die Einbildung der physischen Nähe des Kommunikationspartners nahe. Diese Darstellungsform des Briefes ist daher ein an das Medium der Schrift gebundenes Unmittelbarkeitsphantasma. Dieses Unmittelbarkeitsphantasma des Briefes als schriftliches Gespräch ist eine Form, die Einsamkeit von Syllis Situation darzustellen. Einsamkeit ist als introspektives Phänomen erst mit einem Medium mitteilbar, das es ermöglicht, vom Adressaten getrennt zu sein. Es verbinden sich die Elemente der besonderen Form der Melancholie Syllis mit ihrem schriftlichen Ausdruck. Thorsten Valk stellt heraus, dass die Melancholie in empfindsamer Prägung »nicht als psychopathologischen Defekt, als Krankheit, die bekämpft werden muss« verstanden wird.407 Vielmehr sei sie »eine sentimentale Seelenstimmung, die bewusst kultiviert wird, da man in ihr die konstitutive Voraussetzung für gesteigerte Sensibilität und exklusive Gefühlsintensität erblickt«.408 Melancholie ist im empfindsamen Verständnis ein inneres Erlebnis, das allein erfahren wird. Es setzt soziale Abgeschiedenheit voraus. Sie ist daher ein Einsamkeitsgeschehen, das in der innerlichen Besinnung und in dem Rückzug ins eigene Ich »verborgene Gefühlsregungen« entdeckt. Empfindsam geprägte Erscheinungen der Melancholie seien ein »sentimentaler Kult um Tod und Jenseits«.409 Sylli hebt bei ihrer inneren Zustandsform hervor, dass diese nicht »auf Milzsucht« zurückgeht, womit sie sich in besonderer Weise in den Melancholie-Diskussionszusammenhang einschreibt, da damit die »Pathologie der schwarzen Galle«, die die melancholische Gemütsverfassung auf ein Säfte-Ungleichgewicht im Körper zurückführt, explizit ausgeschlossen wird.410 Es sei auch kein »Trübsinn«, der sie diese innerliche Zustandsform erleben lässt. Damit deutet sie an, dass ihre »sonderbare Gemüthsstimmung« auch nicht mit der Temperamentenlehre erklärt werden könne.411 Als letzte mögliche Erläuterung für ihre melancholische Stimmung, die Sylli als nicht zutreffend beschreibt, führt

407 Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie. Tübingen 2002, S. 102. 408 Vgl. Ebd. 409 Vgl. Ebd. 410 Vgl. JWA 6,1, S. 97. Vgl. zur Säftelehre: Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie. Tübingen 2002, hier S. 16–19. Vgl dazu ausführlicher: Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker und Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 59–72. 411 Vgl. JWA 6,1, S. 97. Vgl. für die Temperamentenlehre: Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie. Tübingen 2002, hier S. 28–31. Sowie: Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker und Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 41–58.

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sie die bloße Desillusionierung und Enttäuschung über den Menschen an. Es sei auch kein »Menschenhaß oder Menschenverachtung«, der für ihren inneren Daseinszustand verantwortlich sei.412 Sylli betont die Exklusivität ihrer inneren Verfassung, die sie von traditionellen Mustern der melancholischen Person differenziert. Sie expliziert, dass es auch nicht »sonst etwas« sei, dass diesen innerlichen Zustand in ihr erzeuge.413 Sylli bestätigt in den ersten Zeilen dieses Briefes die Beschreibung, die von ihr in der Einleitung vorliegt. Sie wurde als Person vorgestellt, die sich durch eine spezifische innere Lebendigkeit auszeichnet, denn »ihre Mutter« hatte »mehr als das gemeine Erdenleben in sie geboren«.414 Die ersten Zeilen führen Syllis Eigentümlichkeit aus, indem die gängigen Erläuterungen der Melancholie verworfen werden und dadurch ihre Exklusivität als Mensch hervorgehoben wird. Durch diese ausgestellte Exklusivität erscheint sie als ein besonderes Ich. Die Einleitung skizziert sie in ihrer Besonderheit als Mensch durch die Thematisierung ihrer äußeren und inneren Einsamkeit, die sie in E*** verspürt. Sylli ist die Figur, die für Kommunikation mit ihren vertrauten und geliebten Menschen schreiben muss, weil sie von diesen räumlich getrennt ist. Die Darstellung der Lebenssituation Syllis entwirft ein Kommunikationsgeschehen zwischen ihr und Heinrich Clerdon inklusive seiner Familie, bei der es um die reziproke Ausbreitung von Innerlichkeit geht. Die soziale Praxis der Briefkommunikation wird hier genutzt, um das Innere mitzuteilen. Dies ist bei Sylli der Fall, da der Brief direkt mit der Thematisierung einer sprachlich nicht konkret zu benennenden innerlichen Zustandsform beginnt und sie als die einsame Figur eingeführt wird, da »alles, was sie noch an die Erde fesselte« in C** lebt.415 Die Schrift und die Briefkommunikation ermöglichen es Sylli, sich in der Lebenssituation der Einsamkeitserfahrung direkt mitzuteilen. Das Einsamsein wird im Moment des Erlebens in der Schrift eingefangen. Das Paradoxe an dieser Mitteilungsform ist die Darstellung des Briefes als schriftliches Gespräch, denn das mündliche Gespräch kann – gerade bei vertrauten Personen – Einsamkeit nicht im Moment des Erlebens mitteilen. Der Brief ist in seiner Darstellungsform als schriftliches Gespräch seiner Form nach zu seiner Funktion widersinnig. Die Form ahmt ein Gespräch im Medium der Schrift nach, die Funktion des Briefes ist es allerdings »Inkommunikabilität zu kommunizieren« und damit eine Mitteilungsform für Innerlichkeit zu schaffen.416 Diese Trennung von Form und Funktion ist es, die die Ausdrucksmöglichkeit von Inkommunikabilität der Schrift und des Briefes ausmacht. Inkommunikabilität verstanden als Unmöglichkeit etwas mitzuteilen, da sich dieses Etwas durch den Prozess der Mitteilung auflösen würde, konkretisiert sich an dem Phänomen der Einsamkeit. Wenn Sylli in einem persönlichen Gespräch mit Heinrich Clerdon ihre Einsamkeit zum Thema machen würde, könnte sie diese nur retrospektiv betrachten, im Moment des Mitteilens wäre sie jedoch nicht einsam. Dies ist beim Brief und der schriftlichen Kommunikation grundlegend anders, da der Kommunikationspartner abwesend ist. So ist es Sylli möglich, sich über ihre Einsamkeit in

412 413 414 415 416

Vgl. JWA 6,1, S. 97. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 95. Vgl. JWA 6,1, S. 95. Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 184.

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den Momenten, in denen sie diese intensiv erlebt, mitzuteilen. Die Nachahmung der Gesprächsform im Brief erzeugt zwar eine Nähe zu dem angeschriebenen Du, aber diese Nähe ist ein Phantasma, sodass gerade diese paradoxe Darstellungsform die Differenz zum realen Gespräch bewusstmacht. Sylli macht ihre Einsamkeit in ihrem Brief nicht analytisch, sondern darstellend zum Thema: Ich gerieth auf einige Stunden lang an das Bett einer Sterbenden. Sie war eine gute Bekannte meiner Tante Moßel; mich gieng sie weiter nichts an, stand mit mir in keinem eigentlichen persönlichen Verhältnisse; ein alltägliches Geschöpf, sehr dumpfen Sinnes, aber ohne alles Arge. Ihre Leiden auf dem Sterbebette waren groß. Man hatte zu ihrer Genesung eine der schrecklichsten Operationen versucht. Das alles stand sie gelassen aus: es war die Fassung ihres Temperaments, schlichte Fortsetzung ihres Lebens bis ans Ende. Vier Stiefkinder (eigene hatte sie nie) standen um ihr Bett; näher ihr Mann, der es blos wegen Gewinn und Gewerbe geworden war. Alle weinten und schluchzten recht ernstlich; gewiß, Clerdon, ihre Trauer gieng von Herzen. Aber im Grunde, was war es? Etwa ein wenig Reue, ein wenig Erkenntlichkeit, armselige Scheu vor der Befremdung, wenn sie jetzt nicht mehr da seyn würde, Bangen vor dem Bilde des Todes. – O wie gleicht doch alles einander so widerlich! Ich saß da so kalt; körperlich gepeinigt von dem körperlichen Leiden der Kranken; konnte sonst mit niemanden sympathisiren.417 Sylli, die empfindsame Protagonistin, erschaudert bei dem Anblick dieser Sterbenden.418 Es ist nicht das Geschehen des Hinübergleitens vom Leben in den Tod, das sie zum Schaudern bringt. Es ist die Sterbende in ihrer Gesichtslosigkeit als Mensch. Im Blick auf das Leben der Sterbenden fragt Sylli nach einem Sinn des Lebens. Die Sterbende beschreibt sie als »alltägliches Geschöpf, sehr dumpfen Sinnes, aber ohne alles Arge«. Sie ertrug gelassen »eine der schrecklichsten Operationen«, die sie wieder heilen sollte. Sylli beschreibt die Haltung der Sterbenden als »die Fassung ihres Temperaments«, alles auszuhalten und zu ertragen, wie es von ihr erwartet wird. Daher erscheint es Sylli als »schlichte Fortsetzung ihres Lebens bis ans Ende«. Die Sterbende hatte keine eigenen Kinder und so stehen Stiefkinder und Ehemann um sie herum. Die Frage, die Sylli hier implizit stellt, lautet, was die Sterbende als Mensch im Leben eigentümlich ausgemacht hat. Sylli betrachtet die Sterbende als Mensch, der im Leben keine Eigentümlichkeit besaß oder sie nicht entfaltet hat und daher ein Dasein vollkommen im Rahmen des gesellschaftlich Gewollten und Erwarteten geführt hat. Jetzt im Anblick des Todes ist es aber diese Lebensführung, die sie letztlich an keinen anderen Menschen in besonderer Weise bindet. Daher sieht Sylli die Trauer der Umstehenden auch nicht als Trauer um den bevorstehenden Tod eines Menschen, der in seiner unwiederbringlichen Einzigartigkeit von der Welt verschwindet. Sie erscheint ihr nur als eine »Befremdung«, nicht aber als eine innere Betroffenheit über den Verlust eines Menschen, der in seiner spezifischen Beschaffenheit mit dem Tod vergeht. Dies führt Sylli zu der Empfindung einer inneren Leere, die sie in Verbindung mit ihrer Einsamkeit bringt. 417 JWA 6,1, S. 97. 418 Vgl. für Sylli »als Protagonistin der Empfindsamkeit«: Thomas Stäcker: Der Aufruhr der Seele. Zur Romankonzeption Friedrich Heinrich Jacobis. Hamburg 1993, S. 59–71.

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Heute nun ist der Verstorbenen wegen ein Klagen, ein Weinen, auch hier unter den Meinigen, daß einem um Trost bange wäre, wenn man nicht wüßte, daß unter allen diesen Hochbetrübten keiner ist, der nicht der Gattinn, Mutter, Freundinn, bey ihrem Leben immer ganz entbehren konnte. Und nun ich, welcher dies alles so klar vorschwebt, mitten unter diesem Haufen, ganz ohne Theilnehmung; aber, ach, im Innersten meines Wesens erschüttert, von unerträglichen Gedanken! – Du mit den vielen Namen, das die Menschen alle zu einander zerrt, durch einander schlinget; was bist du? Quell und Strom und Meer der Gesellschaft; woher? Und wohin?…419 Sylli fühlt sich inmitten von anderen Menschen aufgrund einer inneren Leere einsam. Diese innere Leere entsteht dadurch, dass sie miterlebt, wie jemand stirbt, und sich fragt, was von dem einzigartigen Dasein der Verstorbenen nun bleibt. Ein einzelnes Menschenleben vergeht und verschwindet nach einer Trauer der »Befremdung« in der Vergessenheit. Dies suggeriert die Fragen, warum der einzelne Mensch lebt und wohin er nach dem Tod geht. Darauf spielen die Fragen nach einem Woher und einem Wohin an. »Quell«, »Strom« und »Meer« sind mit fließendem und umhertreibenden Wasser assoziiert und versinnbildlichen das Leben der Verstorbenen, die in »der Gesellschaft« sich hat mittreiben lassen. Es ist aber zugleich auch Symbol des menschlichen Lebens, das von der Geburt bis zum Tod dahinfließt und die Frage bleibt, was von dem einzigartigen und einmaligen Daseins des einzelnen Menschen bleibt. Dieses symbolische Bild des menschlichen Lebens als dahinfließendes Gewässer wird durch einen Bezug zu Shakespeares Macbeth verstärkt und mit einem Zitat aus der zeitgenössischen Übersetzung Wielands unterstrichen: Erscheinen, Erscheinen, Erscheinen, Kommen wie Schatten, und verschwinden wieder.420 Das menschliche Leben wirkt durch den miterlebten Tod als eine Erscheinung, die vorübergehend währt und dann wieder verschwindet. Die Begriffe des Erscheinens deuten auf eine kurze Zeit des Existierens hin. Das ganze existenzielle Dasein bekommt den Eindruck eines »Schatten[s]« und »verschwinde[t] wieder«. Das menschliche Dasein erscheint hier als ein kurzes diesseitiges Existieren, das ohne Erlösung oder Heil auch wieder verschwindet. Es erscheint, um wieder zu verschwinden. Mit dem »Schatten« wird auf die Dunkelheit einer solchen Vorstellung des menschlichen Lebens hingewiesen, denn wenn das menschliche Leben wie ein Schatten ist, dann hat der Mensch kein eigenes Licht. Ein Schatten ist ein unbeleuchteter Abglanz eines Körpers, der sich in einer Lichtquelle befindet. Wenn das menschliche Leben eine Erscheinung, wie ein Schatten ist, dann fehlt ihm ein eigenes Licht und dies steht für eine eigene zugrunde liegende existenzielle Entität, die über das erscheinende Sinnliche hinausgeht. Dieses Dunkelheitssinnbild veranschaulicht Syllis innere Leere, die sie zu einem Einsamkeitsgefühl führt. In Syllis erstem Brief wird mit dieser Empfindung einer inneren Leere ihre Einsamkeit in ihrer Umgebung begründet. Sie fühlt sich einsam, weil ihr die Dahingetrie419 JWA 6,1, S. 98. 420 Ebd. Der Kommentarband weist nach, dass hier in leicht abgewandelter Form aus der MacbethÜbersetzung Wielands aus dem Jahr 1765 zitiert wird. Vgl. dazu: JWA 6,2, S. 401.

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benheit des menschlichen Daseins mit Blick auf die Verstorbene »so klar vorschwebt«.421 Der geschilderte Tod steht in einem konträren Verhältnis zu den vielen Schicksalsschlägen, die sie ertragen musste. Ihre Mutter war früh gestorben, ihr Vater verließ sie, ihr Mann war schnell verstorben, ihr einziges Kind ebenso: Sylli ist durch eigenes Erleben bewusst, wie es ist, das Sterben eines innig geliebten Menschen zu erfahren. Sie weiß den Verlust eines Menschen in seiner Eigentümlichkeit und Eigenartigkeit zu beklagen. Sie erlebte, wie es ist, ein irreversibles Vergehen eines singulären Ichs zu betrauern, indem der Verlust eines Menschen in seiner inneren Eigentümlichkeit betrauert wird, wie dies bei ihrem Mann August Clerdon angedeutet wird, da sie sich doch aufgrund seiner inneren Eigentümlichkeit in ihn verliebt hatte.422 Der Tod dieser Frau lässt sie aber »im Innersten« kalt, führt sie eher zu einer Erstarrung, denn zur einer Teilnahme. Die Betrachtung des menschlichen Lebens als Erscheinen und Vergehen ohne eigentliche Sinnhaftigkeit, ohne eine Bestimmung, führt bei Sylli zu der Empfindung einer Leere im Inneren, die ihre besondere Form der Melancholie auszeichnet. Aus dieser depressiv getönten Gemütsverfassung heraus folgt der nächste Brief Syllis an Clerdon, der auf »[d]en 7ten März« datiert ist.423 Dieser Brief beginnt mit einer innerlichen Wiederbelebung, die Züge eines pietistischen Erweckungserlebnisses trägt. Ich war heute lange vor Tage aus dem Bette. Ein sonderbar schönes Licht, das immer heller mich umgab, trieb mich aus meinem Cabinette in das Zimmer gegen Morgen, welches die weite Aussicht nach dem kleinen Gebirge hat. Ich fuhr zusammen über dem Anblick, und blieb unbeweglich am Eingange des Gemachs. Was mich fesselte, war die Stille bey allem Glanze, bey allem Werden am weiten Himmel: unüberschauliche, unaufhörliche Verwandlungen; und doch kein sichtbarer Wechsel, keine Bewegung. Aber jetzt trat die Sonne näher, und fuhr auf einmahl hinter den Hügeln herauf, daß ich davon mit in die Höhe fuhr. – Clerdon, es waren selige Augenblicke! Und siehe, wie dieser Sonnenaufgang, so war der ganze heutige Tag; Frühlings Anbeginn, Anbruch des Jahres, erster Lichtstrahl einer viel größern Schöpfung, als die Schöpfung eines einzelnen Tages. Ich mußte heraus aus dem Gemäuer in die offene Welt. Sophie, bei der ich angerufen hatte, begleitete mich. Welch ein Spatziergang! Der Himmel war so rein, die Luft so sanft, die ganze Erde wie ein lächelndes Angesicht voll Trost und Verheißung, Unschuld und Fülle des Herzens. Dies alles konnte ich jetzt wunderbar auffassen; meine Blicke waren milde, segnend. Und so wurde ich unvermerkt wieder das gute zuversichtliche Geschöpf, das nichts als Wonne über der Gottes-Welt Schönheit, und volle Hofnung im Herzen hatte.424 Die Anordnung der Briefe ist hier hervorzuheben, denn diese Schilderung eines innerlichen Erweckungserlebnisses kontrastiert mit dem ersten Brief, in dem das Innere Syllis leer erscheint. In dieser Briefpassage werden drei signifikante Ereignisse thematisiert, die im Detail ausgeführt werden, da es sich hier bei diesem Brief Syllis um eine

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Vgl. JWA 6,1, S. 98. Vgl. Ebd., S. 95. Vgl. Ebd., S. 99. Ebd.

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innerliche Erweckung handelt, die anders als beim Woldemar nicht aufgrund der notorischen Suche nach Transzendierung der Endlichkeit auftritt, sondern aus Sylli selbst heraus entspringt. Sie erwacht physisch an dem »7ten März« bereits »lange vor Tag« und es ist »[e]in sonderbar schönes Licht, das immer heller [sie] umgab«. Dieses Licht stellt sich dem Schatten aus dem vorangehenden Brief vom Vortag gegenüber, denn es trifft sie direkt, sodass ihr Dasein kein Schatten ist, sondern selbst im Licht steht. Getrieben von diesem Licht sucht sie das Zimmer in Richtung Osten auf. Dieser Raum hat »die weite Aussicht nach dem kleinen Gebirge«. Dieses körperliche Aufwachen ist das erste dargestellte Ereignis dieses Briefes. Einzig das Licht erscheint hier als eine sinnliche Wahrnehmung, die auf das Innere Syllis eine besondere Wirkung ausübt. Im Zimmer angekommen erblickt sie den dämmernden Horizont, die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber dies deutet sich im Farbenspiel des Himmels allmählich an. Dieser »Anblick« lässt sie zusammenfahren, es »fesselte« sie, dass am Himmel ein ständiger Wechsel stattfindet. Das Schwarz der Nacht weicht dem Blau des Tages. Der Himmel stellt für Sylli in der Morgendämmerung ein beständiges Bild der Veränderung dar. Während Sylli »unbeweglich« in ihrem Zimmer steht und aus dem Fenster schaut, stehen ihr »unüberschauliche, unaufhörliche Verwandlungen« gegenüber. Das Fesselnde für Sylli ist »die große Stille bey allem Glanze, bey allem Werden am weiten Himmel«. Diese Wandlungen am Himmel laufen aber jeweils immer so unmerklich ab, dass sie »kein[en] sichtbare[n] Wechsel [und] keine Bewegung« erkennen lassen. Die Morgendämmerung ist für Sylli das Erlebnis eines Werdens, das still und unmerklich abläuft. Sylli empfindet dieses Erlebnis der Morgendämmerung in ihrer Wohnung, in der sie aus dem Fenster schaut. Das Fenster ist Sinnbild der Empfindung, als Wechselverhältnis zwischen Äußerem und Innerem.425 Die Morgendämmerung wird im Inneren Syllis durchlebt, indem »dieser Sonnenaufgang […] Anbruch […] einer viel größern Schöpfung, als die Schöpfung eines einzelnen Tages« ist.426 Dieser Tagesanbruch ist für Sylli eine Wieder-Erweckung ihres Inneren, denn sie spürt, dass sie im Inneren ein Dasein hat, das nicht an den einzelnen Tag und damit an die Zeit als Endlichkeitsmerkmal des diesseitigen Lebens gebunden ist. Aus diesem Grund sind die Momente dieser Morgendämmerung, die dann im Aufgehen der Sonne kulminieren, »selige Augenblicke«.427 Die Seligkeit dieser Erlebnismomente liegt in dem zugrunde liegenden Menschenbild, das sich genau konträr zum vorherigen Brief gestaltet. Im Angesicht der Sterbenden, die so ganz im Sinne des gesellschaftlich Vorgegebenen lebte und nie ihrer Eigentümlichkeit Ausdruck verlieh, erschien das menschliche Leben als ein bloßes körperliches Erscheinen und Vergehen. Im ersten Brief erscheint Sylli das existenzielle Dasein des Menschen wie Schatten, die auf der Welt umherhuschen und wieder verschwinden. Syllis Erweckungserlebnis während der Morgendämmerung füllt diese innere Leere, indem sie ihr Inneres in diesen Augenblicken spürt und dadurch die Gewissheit erlangt, dass das menschliche Leben mehr ist als Erscheinen und Vergehen. Sie verleiht dieser innerlich hervorgehobenen Zustandsform im Brief an Clerdon in der veranschaulichenden Darstellung eine schriftliche Ausdrucksform und pflegt damit eine briefliche Kor425 Vgl. dafür auch das Kapitel 2.5 dieser Studie. 426 Vgl. JWA 6,1, S. 99. 427 Vgl. Ebd.

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respondenz zu Heinrich Clerdon als Freund. Freundschaft ist als zwischenmenschliche Beziehung im Kontext der feudalen Gesellschaftsordnung ohne funktionale Bedeutung und etabliert damit soziale Bindungen, die es ermöglichen, die eigenen Kräfte außerhalb des gesellschaftlich Erwarteten zu verwirklichen. Die besondere schriftliche Ausdrucksform für die Mitteilung dieses besonderen inneren Geschehens ist das EmpfindsamIdyllische. Sylli berichtet hier nicht bewusst über ihr Inneres, sondern nutzt den Empfindungsbericht eines morgendlichen Wahrnehmungserlebnisses der Morgendämmerung als Projektionsfläche für die Darstellung ihres Erweckungserlebnisses. Sylli ist hier die erlebende und zugleich die erzählende Figur. Im Moment des besonderen Erlebens ist hier ihre eigene schicksalshafte Lebensgeschichte vergessen. Sie richtet sich kontemplativ auf das Geschehen der Morgendämmerung und des Sonnenaufgangs und darauf, welche innere Wirksamkeit dieses sinnliche Wahrnehmen auf sie ausübt. Somit gibt es in diesem idyllischen Augenblick ein besonderes Verhältnis zwischen äußeren Eindrücken und innerer Wirksamkeit. Sie findet zurück zu einem für sie natürlich wirkenden Dasein und befindet sich für den Moment des Erlebens in einem harmonischen Gleichgewicht mit sich selbst, der Natur und ihren Mitmenschen. Syllis inneres Erweckungserlebnis findet im Aufgehen der Sonne einen Höhepunkt und das Hinauffahren der Sonne zieht Sylli »mit in die Höhe«.428 Dieses Bild des in den Himmelfahrens erscheint hier als Revitalisierung des Inneren. Dieses Innere wird bei der Figur Sylli als eine Daseinsentität des Menschen konturiert, die ihre Eigentümlichkeit und damit auch eine Autonomie ihres Ichs visualisiert. Das Innere ist wie ein »Lichtstrahl« eines unbedingten Lichts.429 Syllis Betrachten des Sonnenaufgangs ist das zweite Ereignis, das sie in der ersten Passage ihres auf »[d]en 7ten März« datierten Briefes mitteilt und führt sie direkt zu dem dritten Ereignis des Spaziergangs.430 Sie hat nach dieser Erweckung das Gefühl »die offene Welt« erfahren zu müssen.431 Die Richtungsweise dieser Erweckung ist sehr wichtig, da die Revitalisierung des Inneren der Naturerfahrung zeitlich vorausgeht. Die Erweckung scheint sich aus Syllis Innerem selbst zu konstituieren, indem der Leere des Vortages widersprochen wird und das metaphysisch existenzielle Gefühl ausgelöst wird, da zu sein. Aus dieser Perspektive lässt sich die Erweckung Syllis als Darstellung von Jacobis Salto mortale betrachten: Das Innere des Menschen widerspricht der Empfindung, dass der Mensch als Daseiendes lediglich erscheint, um wieder zu vergehen.432 Die Morgendämmerung und der Sonnenaufgang veranschaulichen diese Gewahrwerdung des eigenen Inneren als Bilder, die nicht erklären, sondern die Erfassung des eigenen Ichs darstellen. Diese innerliche Erweckung ist – und das ist der signifikante Punkt – ausdrücklich keine Naturerfahrung, sondern eine Erfahrung der Tiefe und des Mysteriums des eigenen inneren Daseins. Erst mit dem Spaziergang rückt eine naturale Umgebung als Erlebnisraum in den Vordergrund. Sylli wird beim Spazierengehen von Sophie begleitet, die aber nicht näher beschrieben wird. Der Gang durch die Natur bekräftigt die Fühlbarkeit des eigenen Inneren als existenzielle

428 429 430 431 432

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. für Jacobis philosophisches Konzept des Salto mortale das Kapitel 3.1 dieser Untersuchung.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Selbstvergewisserung. Sylli erscheint »[d]er Himmel […] so rein, die Luft so sanft [und] die ganze Erde wie ein lächelndes Angesicht voll Trost und Verheißung, Unschuld und Fülle des Herzens«.433 Sylli erhält durch ihr inneres Erweckungserlebnis ein neues Daseinsbewusstsein, dass wie eine Wiedergeburt ihres Inneren wirkt. Der ganze Schmerz, den sie schon in ihren 28 Jahren erlebt hat, und die emotionale Wunde in E*** getrennt von den Menschen, die sie liebt, verweilen zu müssen, sind in diesem Augenblick des Naturerlebens von ihr genommen. Sie schaut in die Natur, als hätte sie die Chance, im Leben nochmals von vorne zu beginnen. Die Reinheit des Himmels und Sanftheit der Luft artikulieren Unbedarftheit. Die naturale Umgebung wird anthropomorphisiert und »die ganze Erde« erscheint als »ein lächelndes Angesicht«, das »voll Trost und Verheißung« ist.434 Das Empfindsam-Idyllische hat hier die Funktion eine deskriptive Ausdrucksform des Inneren zu sein, indem sie innere Regungen veranschaulicht. Hervorzuheben ist hier, dass nicht die konkrete Naturerfahrung zu einem religiös anmutenden inneren Erweckungserlebnis wird. Sylli wird aus dem Schlaf gerissen und erlebt aus sich selbst heraus ein inneres Strahlen, das sich dann in der sinnlichen Wahrnehmung bekräftigt. Folglich ist das Empfindsam-Idyllische als ein Erzählverfahren von Innerlichkeit bedeutsam, das die Funktion erfüllt, das Innere beschreibend einer vertrauten Person mitzuteilen. In dieser Funktion erscheint das Empfindsam-Idyllische zugleich als ein Mitteilungsverfahren, das Intimität erzeugt, indem das Innerste mitteilbar gemacht wird. Dabei ist es wichtig, dass das Empfindsam-Idyllische hier ein Element einer Briefkommunikation ist und damit ein an das Medium der Schrift gebundenes Erzählverfahren ist. Denn die Schrift schafft nach Albrecht Koschorke einen diskursiven Ort für Innerlichkeit und das Empfindsam-Idyllische ist eine Ausdrucksform für dieses Innere. Es ermöglicht durch die deskriptive Beschreibung innerer Regungen, eigene Innerlichkeitsgeschehen zu versprachlichen, ohne sie selbst zu analysieren. Demzufolge bietet das Empfindsam-Idyllische hier die Möglichkeit einer Unmittelbarkeitsstrategie für die Mitteilung des eigenen Inneren. Syllis Brief legt deutlich vor Augen, dass es ihr nicht um das im EmpfindsamIdyllischen enthaltene Naturerleben geht, sondern um einen intimen, möglichst unmittelbaren Austausch über ihr Inneres. Nach der innerlichen Erweckung findet Sylli in den Natureindrücken »Trost« im Verständnis eines inneren Halts.435 Dieser Halt ist bei ihr direkt mit »Verheißung« verbunden, die als Erwartung eines anderen Daseins erscheint.436 Der seelische Halt in Erwartung eines anderen Daseins kombiniert sich für Sylli mit »Unschuld und Fülle des Herzens«.437 Sie entdeckt die Integrität ihres eigenen Ichs und die Mannigfaltigkeit dieses Ich im Blick in die Natur. Das Naturerlebnis affirmiert auf diese Weise ihre Revitalisierung des Inneren. Sylli ist sich dieser Veränderung im eigenen Inneren bewusst, denn sie bemerkt, dass sie diesen Blick in die Natur an dem heutigen Tag aufweist: »Dies alles

433 434 435 436 437

Vgl. JWA 6,1, S. 99. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

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konnte ich jetzt wunderbar auffassen […]«.438 Bei ihrem Erweckungserlebnis am Morgen hat sie ihr eigenes Ich als autonom erlebt. Sie hat gespürt, was innere Autonomie bedeutet. Dies lässt sich mit dem bei Jacobi philosophisch bedeutsamen Begriff der Selbsttätigkeit beschreiben. Sylli wird an diesem Tag von einer autonomen Tätigkeit in ihrem Inneren geweckt und diese Selbsttätigkeit in ihr ist eine »viel größer[e] Schöpfung, als die Schöpfung eines einzelnen Tages«.439 Es ist diese in ihrem Inneren wirksame Kraft, die sie am Ende zu den religiös, pietistisch konnotierten Begriffen wie »Trost«, »Verheißung«, »Unschuld und Fülle des Herzens« bringt.440 Die Unabhängigkeit, aus dem Inneren heraus sich selbst als Ich zu setzen, steht bei ihr in deutlicher Differenz zu den äußeren Umständen. Diese hatten in ihr eine Leere evoziert, die nach dem Bleibenden des einzelnen menschlichen Daseins fragt. Gerade dieser Zweifel an dem Inneren des Menschen führt aber dazu, dass sich ihr Inneres selbst offenbart, in dem es sich gegen diesen Zweifel wendet. Sylli beschreibt diesen Prozess als eine Form der Wiedergeburt, denn »so wurde [sie] unvermerkt wieder das gute zuversichtliche Geschöpf, das nichts als Wonne über der Gottes-Welt Schönheit, und volle Hoffnung im Herzen hatte«.441 Sie blickt wieder in die Welt, als hätte sie ihre leidvollen Lebenserfahrungen nicht gemacht und findet eine »volle Hoffnung im Herzen«.442 Sylli veranschaulicht, dass das Innere des Menschen einer ständigen Wandlungsdynamik unterliegt und daher in sich heterogen betrachtet werden muss. Daher wird deutlich, dass hier der Mensch als ein heterogenes Ich erscheint. Diese Heterogenität geht aus den beiden Briefen hervor, die den Anfang der Briefsammlung darstellen und zwei völlig unterschiedliche innerliche Zustandsformen Syllis darstellen. Während im Zweifel des vorherigen Briefes die leise Angst durchschimmert, dass der einzelne Mensch – und damit auch das eigene Dasein – letztlich mit dem Tod vollkommen von der Erde getilgt sein könnte, wird in diesem Brief die Hoffnung auf ein anderes Dasein hervorgehoben. Ja, volle Hofnung, bester Clerdon, ohne zu wissen, was ich hofte; alles Gute, alles Schöne: und diese liebe Verworrenheit, diese Dämmerung war es eben, warum mir so wohl war; warum kein Unglaube mich wach stören konnte.443 Hoffnung ist eine innere Zuversicht, die ohne Vernunftgründe für wahrgehalten – also geglaubt – wird. Für Sylli ist ihre eigene Hoffnung kein Bereich ihres Wissens, es ist eine Ausrichtung im Inneren, die auf einer »liebe[n] Verworrenheit« aufbaut. Sie ruft mit dem Begriff der »Dämmerung« das Bild vom Morgen auf und betont, dass Hoffnung eine Sache des Glaubens ist, denn »kein Unglaube« kann sie »wach stören«. Sie begibt sich lieber in die »liebe Verworrenheit« ihrer Hoffnung als vom Zweifel geplagt. Dies verdeutlicht, dass Syllis innere Erweckung als eine Veranschaulichungsform des Salto mortale Jacobis erscheint, da es hier nicht um rationale Erkenntnis geht. Sylli erlebt in ihrem Daseinsbewusstsein einer innerlichen Wiedergeburt eine temporäre Versöhnung von Ich und Welt, 438 439 440 441 442 443

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd. S. 100.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

in der sie sich im naturalen Raum auf ihr eigenes Ich besinnt. In der Introspektion denkt sie darüber nach oder vielmehr empfindet sie, wer sie war – wo sie herkommt –, wer sie jetzt ist – wo sie ist –, und wer sie sein wird oder sein könnte – wo der Weg hingeht. Dieser Tag sollte recht genossen werden. Ich wollte unter freyem Himmel die Sonne auch untergehen sehen. Wir nahmen unsern Weg über die Wälle. Ich verweilte an dem Orte, wo ich vor zwey Jahren im späten Herbste mit Dir stand, und Du von der weiten mannichfaltigen Aussicht so entzückt warest. »Säh er sie jetzt!« Ein lieber Frühlingshauch wehte mich an, und stellte Dich an meine Seite. O wie war rund um uns alles so herrlich, so schön! Aber es ließ sich nicht lange so ansehen; ich begab mich weg. Nun kam ich an die Stelle, wo man den langen, breiten Weg um die Ecke nach S** gerade vor sich sieht. – »Da kam ich her vor sechs Jahren; da kam vor zwey Jahren Clerdon her; da geht der Weg hin. – Ach wann?« Du erinnerst Dich der Lage: eine unabsehbare Fläche; nichts, das Auge zu hemmen; der Weg ganz gerad aus, und so breit, und so eben – Wie ich darüber hinrollen könnte! – Indem ließen sich nahe bey, gleich hinter der Stadtmauer, zwey Instrumente hören. Es war eine Flöte und eine Harfe, die ganz vortreflich in meine Melodie einfielen, sie begleiteten und fortführten. Da ließ ich mich denn gehen, ließ es mir so werden, daß ich die Augen recht naß hatte. Meine gute Sophie neben mir wartete alles mit Freundlichkeit ab. Auf mein Stöckchen gelehnt blieb ich lange so da stehen: endlich lief ich hurtig mit ihr nach Hause, und – Gute Nacht. Clerdon! Amalia, Schwestern, gute Nacht!444 Die Naturerfahrung bestätigt die innerliche Erweckung des Inneren Syllis, indem es beim Blick in die Natur allein um ihre Wahrnehmung und Empfindung geht. Es gibt keine vorgegebenen Muster oder Erwartungen. Aus diesem Grund ist die Naturbetrachtung Syllis im Verständnis einer empfindsamen kultur-und literaturhistorischen Tendenz zu verstehen, denn in der Empfindung der Natur begegnet sie ihrem eigenen Ich. Das Partizip »genossen« weist darauf hin, dass die Entzückung durch die Natur als ein Genuss erlebt wird, wobei das Geschehen des Genießens sich nicht auf die naturalen Elemente bezieht, sondern auf das Ich, das in den Empfindungen zunehmend hervortritt. In der Naturerschließung durch die Empfindung führt der Genuss schließlich immer zum Inneren des Menschen, da die Empfindung kein neutraler Auffassungsprozess ist. Sie ist selbst schon Gehalt des menschlichen Bewusstseins und erfüllt eine Konstitutionsfunktion für das Ich. Es überschreitet jedoch die Möglichkeit der Empfindung, die Autonomie des Inneren des Menschen zu instituieren. Daher ist allein durch die Empfindung keine Ich-Setzung des Menschen möglich. Daher geht Syllis Erweckung des Inneren der empfindungszentrierten Naturerfahrung voraus. Der besondere Genuss des Inneren des Menschen liegt in einer Selbstgenügsamkeit, die in entscheidender Weise auf die Autonomie zurückführt. Sylli möchte unter »freyem Himmel« weilen und die Sonne untergehen sehen. Der Himmel verweist hier auf die Unabhängigkeit von äußeren Dingen. Diese Unabhängigkeit fühlt Sylli nun im Inneren als Gewissheit. Der Morgen hat sie innerlich wiedergeboren. Am Tag gelangt sie zu einer Affirmation des eigenen erlebten Inneren, die auch mit dem Untergehen der Sonne bestehen bleibt. 444 Ebd.

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Am Ende des Briefes tritt die Freundschaft von Sylli und Heinrich Clerdon als besondere zwischenmenschliche Beziehung hervor. »Ein lieber Frühlingshauch« erscheint Sylli als minimaler, sanft zärtlicher Reiz, der die Anwesendheitsimagination des Freundes hervorruft. Korrespondierend zu diesem Phantasma versucht Sylli im Brief, die Naturerfahrung im Moment des Erlebens nachzuzeichnen. Sie gibt ihre Gedanken und inneren Regungen im Gedankenzitat an und versucht auf diese Weise, das Erleben der Naturentzückung nicht als schriftliches Nach-Erleben, sondern als authentisches Empfindungsereignis zu vermitteln. Mit diesen Gedankenzitaten unterbricht Sylli ihre sonstige berichtartige Erzählweise. Im ersten Brief liegt der besondere Fall vor, dass Sylli eine Perspektivierung zum Geschehen aufweist, die über das Wissen der einzelnen Figuren hinausgeht. Sie ist überzeugt davon, die Trauer der Verbliebenen als bloße »Befremdung« zu erkennen.445 Mit dem zweiten Brief ändert sich dies, da sich Sylli auf ihr Inneres besinnt. Die narrative Gestaltung drückt die Zentrierung Syllis auf sich selbst und ihr Inneres aus. Die angeführten Gedankenzitate am Ende des zweiten Briefs stellen eine Besonderheit dar, da sie Syllis Inneres direkt und unvermittelt zum Ausdruck bringen. Am Ende des Briefes im Zuge der Unmittelbarkeitsimagination zum Adressaten kristallisiert sich der »lange[], breite[] Weg um die Ecke nach S**« als Sinnbild des Lebens heraus.446 In einer Anmerkung heißt es, dass S** »[d] ie erste Poststation nach C**« ist.447 Syllis Blick auf den Weg drückt ihre Sehnsucht nach C** aus und ist zugleich eine Hinterfragung ihrer eigenen personalen Identität, denn der Blick auf den Weg ist auch zugleich ein Blick auf die eigene Vergangenheit und auf ihre Zukunft.

3.3.3 Cläres erkenntnistheoretischer Realismus Am Ende des zweiten Briefes der Sammlung hört Sylli bei ihrem sentimental geprägten Naturerlebnis »gleich hinter der Stadtmauer zwei Instrumente«.448 Diese Instrumente identifiziert sie als »eine Flöte und eine Harfe, die ganz vortreflich in meine Melodie einfielen«.449 Das Innere des Menschen erscheint als eine musikalische Tonhaftigkeit und Syllis innere Regungen formieren in dieser Szene eine »Melodie«.450 Diese Tonhaftigkeit bildet Syllis innere Regungen als Schwingungen ab, die Wirkungen hervorrufen, denn sie hat, während sie so da steht und dem weiten Weg in Richtung C** nachsieht, »die Augen recht naß«.451 Syllis innere Regungen hallen auf eine besondere Weise in ihr nach. Ihr Inneres ist so wie der Horizont am Morgen: still, aber doch voller Wandlungen. Bei ihr ist diese Bewegtheit im Inneren, in ihrer Sehnsucht begründet, wieder im Kreise ihrer geliebten Menschen zu sein. Mit dem Entlang-Schauen des Weges wird zugleich auf ihre Vergangenheit zurückgeschaut, denn sie präsentiert im Brief ihr Inneres in der narrativen Ausdrucksform des Gedankenzitats: »Da kam ich her vor sechs Jahren; da kam vor

445 446 447 448 449 450 451

Vgl. Ebd., S. 97. Vgl. Ebd., S. 100. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

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Am Ende des Briefes tritt die Freundschaft von Sylli und Heinrich Clerdon als besondere zwischenmenschliche Beziehung hervor. »Ein lieber Frühlingshauch« erscheint Sylli als minimaler, sanft zärtlicher Reiz, der die Anwesendheitsimagination des Freundes hervorruft. Korrespondierend zu diesem Phantasma versucht Sylli im Brief, die Naturerfahrung im Moment des Erlebens nachzuzeichnen. Sie gibt ihre Gedanken und inneren Regungen im Gedankenzitat an und versucht auf diese Weise, das Erleben der Naturentzückung nicht als schriftliches Nach-Erleben, sondern als authentisches Empfindungsereignis zu vermitteln. Mit diesen Gedankenzitaten unterbricht Sylli ihre sonstige berichtartige Erzählweise. Im ersten Brief liegt der besondere Fall vor, dass Sylli eine Perspektivierung zum Geschehen aufweist, die über das Wissen der einzelnen Figuren hinausgeht. Sie ist überzeugt davon, die Trauer der Verbliebenen als bloße »Befremdung« zu erkennen.445 Mit dem zweiten Brief ändert sich dies, da sich Sylli auf ihr Inneres besinnt. Die narrative Gestaltung drückt die Zentrierung Syllis auf sich selbst und ihr Inneres aus. Die angeführten Gedankenzitate am Ende des zweiten Briefs stellen eine Besonderheit dar, da sie Syllis Inneres direkt und unvermittelt zum Ausdruck bringen. Am Ende des Briefes im Zuge der Unmittelbarkeitsimagination zum Adressaten kristallisiert sich der »lange[], breite[] Weg um die Ecke nach S**« als Sinnbild des Lebens heraus.446 In einer Anmerkung heißt es, dass S** »[d] ie erste Poststation nach C**« ist.447 Syllis Blick auf den Weg drückt ihre Sehnsucht nach C** aus und ist zugleich eine Hinterfragung ihrer eigenen personalen Identität, denn der Blick auf den Weg ist auch zugleich ein Blick auf die eigene Vergangenheit und auf ihre Zukunft.

3.3.3 Cläres erkenntnistheoretischer Realismus Am Ende des zweiten Briefes der Sammlung hört Sylli bei ihrem sentimental geprägten Naturerlebnis »gleich hinter der Stadtmauer zwei Instrumente«.448 Diese Instrumente identifiziert sie als »eine Flöte und eine Harfe, die ganz vortreflich in meine Melodie einfielen«.449 Das Innere des Menschen erscheint als eine musikalische Tonhaftigkeit und Syllis innere Regungen formieren in dieser Szene eine »Melodie«.450 Diese Tonhaftigkeit bildet Syllis innere Regungen als Schwingungen ab, die Wirkungen hervorrufen, denn sie hat, während sie so da steht und dem weiten Weg in Richtung C** nachsieht, »die Augen recht naß«.451 Syllis innere Regungen hallen auf eine besondere Weise in ihr nach. Ihr Inneres ist so wie der Horizont am Morgen: still, aber doch voller Wandlungen. Bei ihr ist diese Bewegtheit im Inneren, in ihrer Sehnsucht begründet, wieder im Kreise ihrer geliebten Menschen zu sein. Mit dem Entlang-Schauen des Weges wird zugleich auf ihre Vergangenheit zurückgeschaut, denn sie präsentiert im Brief ihr Inneres in der narrativen Ausdrucksform des Gedankenzitats: »Da kam ich her vor sechs Jahren; da kam vor

445 446 447 448 449 450 451

Vgl. Ebd., S. 97. Vgl. Ebd., S. 100. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

zwey Jahren Clerdon her; da geht der Weg hin. – Ach wann?«452 Die Beschreitung dieses Weges hat sie in ihre jetzige Situation gebracht. Alle Entscheidungen und Begebenheiten haben sie zu dem gegenwärtigen Zeitpunkt geführt, an dem sie an dem Weg steht und diese besonderen inneren Regungen spürt. Der Weg ist ein ambivalentes Sinnbild. Er steht für das bereits gelebte Leben. Er ist »lang[]« und »breit[]« und verweist auf den Facettenreichtum des beschrittenen Lebensweges.453 Bei all ihren intensiven Verlusterlebnissen hat sie doch auch Glück und Liebe erfahren. Auch Heinrich Clerdon ist einmal diesen Weg entlang gekommen, doch er ist nicht wie Sylli in E*** geblieben. Sie möchte diesen Weg wieder beschreiten und E*** verlassen. Der Weg als Sinnbild des Lebens zeigt, dass sie ihr Leben im Rückblick betrachtet und sich darin selbst bestimmt. Sie erfasst ihre eigene »Melodie« im Inneren und empfindet sehr klar, wohin sie möchte. Diese Zeit in E*** hinter sich lassen und endlich weiter nach C** ziehen. Im Blick auf den Weg als Symbol ihres Lebens wird Sylli sich ihrer eigenen personalen Identität bewusst, insofern diese als Bewusstsein über das eigene Gewordensein des Ichs verstanden wird. Der Begriff des Ichs wird in diesem Kontext als eine innerliche Anlage verstanden, als Person eigentümlich und einzigartig zu sein. Es ist aber in der konkreten inneren Zustandsform beständigen Dynamiken unterworfen. Diese Dynamiken entstehen dadurch, dass das Ich ein autonomes Inneres vom Äußeren beschreibt. Diese Unabhängigkeit kann sich aber nur zeigen, wenn davon ausgegangen wird, dass es grundsätzlich Reziprozitätsverhältnisse zwischen Innerem und Äußeren gibt, die durch das Medium der Empfindung vermittelt werden. Die Autonomie des Inneren zeigt sich nach Jacobis Philosophie, wenn deutlich wird, dass der Mensch ursächlich handeln kann und er eine Selbsttätigkeit im Inneren hat, die nicht bloß auf Wechselverhältnisse zwischen Innerem und Äußerem zurückgeführt werden kann. In Eduard Allwills Briefsammlung erscheint Syllis Hören der Instrumente als Umkehrung des eigentlichen Empfindungsverhältnisses vom Äußeren ins Innere. In der Betrachtung des eigenen Lebenswegs wird nicht zuletzt die eigene persönliche Geschichte als ein Minderungsprozess verstanden, der letztlich nur in der Introspektion und Besinnung auf das eigene Innere überwunden werden kann. Das Erweckungserlebnis am Morgen gab Sylli eine naive Sicht auf die Wirklichkeit zurück. Die Identifikation des Empfindsam-Idyllischen wird durch diese beiden Merkmale der umgedrehten Empfindungsrichtung und der Geschichte als Depravationsgeschehen untermauert. Außerdem ist das erlebende und erzählende Subjekt hier gleichgesetzt, sodass die zeitliche Nähe zum Erlebten betont wird. So bricht der Brief an der Stelle ab, an der Sylli nun darüber schreiben müsste, dass sie nach der Betrachtungsszene des Weges nach Hause gegangen ist und anfing, diesen Brief an Clerdon zu schreiben. In diesem Moment müsste sich die Erzählung vom Erlebnisbericht zur Schreibreflexion verändern. Sylli bricht aber an dieser Stelle ab. Dieses Abbrechen ist zweifach begründet. Einerseits ist der Brief ein Erlebnisprotokoll des Tages und thematisiert das merkwürdige Geschehen im Inneren Syllis. Andererseits geht es ihr mit dem Brief darum, eine Verbindung zu C** herzustellen, denn im Gegensatz zu ihr kann der Brief über den zuvor von ihr so sentimental betrachteten Weg entlang fahren. Der

452 Vgl. Ebd. 453 Vgl. Ebd.

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Brief kann nun als ein Teil von ihr an ihrer Stelle den ersehnten Weg nach C** zurücklegen und verweist darauf, dass Sylli mit ihm eine Nähe zu Clerdon anvisiert. Hier liegt demnach ein metonymisches Verhältnis vor. Sie möchte ihn mit ihren Briefen an ihrem Erleben teilhaben lassen, so als wäre sie bei ihm. Der Brief als Erlebnisprotokoll unterstreicht das Unmittelbarkeitsphantasma, das mit der Darstellungsform des schriftlichen Gesprächs erzeugt wird. In der mit den Briefen entworfenen Diegese gestaltet Sylli mit ihrem Brief ein schriftliches Gespräch über das am Tag Erlebte, so als wäre Clerdon nicht abwesend, sondern präsent. Der Brief endet daher sehr abrupt: »Auf mein Stöckchen gelehnt blieb ich lange so da stehen: endlich lief ich hurtig mit ihr nach Hause, und – Gute Nacht. Clerdon! Amalia, Schwestern, gute Nacht!«454 In der Imagination der Diegese läuft Sylli nach Hause und versucht für das Erlebte Ausdrucksformen zu finden und eine darstellende Ausdrucksform für das Innere ist das Empfindsam-Idyllische. Dabei tritt mit dem Abbruch des Schreibens die Differenz zwischen dem Schreiben als Nach-Erleben und dem tatsächlichen Erleben zutage. Schließlich ist der plötzliche Abbruch des Erzählens und Schreibens auch als Fülle des Herzens zu deuten, die nicht vermittelbar ist. Mit dem Einholen des Schreibens und dem abrupten Abbruch wird deutlich, dass in diesem Brief der Prozess des sich Schriftlich-Mitteilens nicht thematisiert werden kann. Dieses Thema würde das Unmittelbarkeitsphantasma, das Erlebte unverstellt und direkt mitzuteilen und die Abwesenheit des Adressierten zu leugnen, unterlaufen. Das heißt, dass das Empfindsam-Idyllische in diesem Brief Syllis als narrative Ausdrucksform von Innerlichkeit fungiert, die eine Unmittelbarkeit zum geschilderten Erleben herstellt. Dabei ist gerade bei diesem Brief Syllis markant, dass die Natur wie eine Schaubühne für innere Bewegtheit wirkt. Dies korrespondiert damit, dass im Kontext der Beschreibung der naturalen Umgebung Gedankenzitate angeführt werden. Besonders an dieser Naturerfahrung und Syllis innerem Erleben ist die Rolle, die Clerdon zukommt, denn »ein lieber Frühlingshauch wehte mich an, und stellte dich an meine Seite«.455 Der Hauch ist ein taktiler Sinnesreiz, bei dem der Wind die Haut berührt. Diese Berührung setzt Sylli direkt in die Imagination um, dass der ersehnte Freund Heinrich Clerdon bei ihr ist. Dieser Hauch ist etwas Unsichtbares, lässt aber dennoch Berührungen spüren und erscheint so als ein Zeichen für ein Dasein, das nicht an Körperlichkeit gebunden, aber dennoch da ist. In Jacobis Allwill wird mit dem Verhältnis von Sylli und Clerdon eine verwirklichte, zwischengeschlechtliche Seelenfreundschaft entworfen. Syllis Erweckungserlebnis am 7. März und ihre sentimentalen Empfindungserlebnisse im naturalen Raum werden von Clerdon mit einem ähnlichen Erlebnis am selben Tag über die räumliche Distanz hinweg ebenfalls empfunden. Mit den ersten Briefen von Sylli steht die Frage nach einer ich-gebundenen Ausdrucksform des Inneren im Zentrum. Mit den Briefen Clerdons rückt eine zwischenmenschliche Erfassung des Ichs eines anderen Menschen in den Vordergrund. Nach einer transzendentalen Frage nach den Bedingungen der Darstellungsmöglichkeit innerer Ausdrucksformen verschiebt sich nun der Schwerpunkt zu einem wirklichkeitsreflexiven Briefwechsel. Mit den Briefen von Sylli und Clerdon wird die Frage kritisch aufgeworfen, inwieweit allein sinnliche Wahrnehmungen Abbildung von Wirklichkeit seien. In diesem Zu454 Vgl. Ebd. 455 Vgl. Ebd.

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sammenhang wird im Briefwechsel zwischen Sylli und Clerdon auf eine übersinnliche Daseinssphäre angespielt, die sich im Gefühl als existenzielles Daseinsbewusstein zwischen Sylli und Clerdon als Tatsache des Lebens beweist. Der fünfte Brief der Sammlung ist von Heinrich Clerdon an Sylli gerichtet und auf »[d]en 8ten März« datiert.456 Hier bei uns solltest Du jetzt seyn, liebste Sylli; daß wir Dich mit in unsere Reihen schlängen, den neuen Frühling zu umtanzen. Die unwiderstehliche Wonne des gestrigen Tages mußt auch Du gefühlt haben. Mich hat sie ganz durchdrungen, und sich wie gelagert in mein Gebein. Mir ist, wie einem Jünglinge, der so eben aus eines frommen Mädchens Auge sich die Seele voll Liebe und Hofnung getrunken hat; so froh, und zugleich so heimlich, im Busen. Früh mit dem Morgen gieng es an. Ich erwachte von der ersten sanftesten Dämmerung, fand mich aufgerichtet, wie von dem Arme eines Freundes, der mich zum unerwarteten Wiedersehen aus dem Schlummer küßte. Ich streckte meine Arme aus nach dem Liebenswürdigen; irrte ihm nach, und fand ihn, fand ihn – schaffend am Aufgange. – Wer an einer Musik für das Auge zweifelt, der hätte diese Morgenröthe sehen sollen. Ein solcher Engelsgesang schwebte mir nie auf Tönen in die Seele. Doch was weiß ich, mit welchen Sinnen ich empfand? Ich war ausser mir. Gleich im ersten Augenblicke, beym Erreichen der Gegenwart, überwandelte michs, durchschauderte michs; dann tiefer in der Brust ein Beben, immer tiefer und inniger; im geheimsten Busen auflösendes Beben, das den Erdenssohn tödtete. Tod, schöner, himmlischer Jüngling! Des verwesenden Theils entladen, flog ich in seine Arme, sank in seinen Schoos, war bey ihm, war in ihm, in Ihm, der da ist, und war, und seyn wird; kostete Allmacht, Schöpfung, ewiges Bleiben in Liebe. – Ach, Sylli, das ich zurückkehren, daß der Tag kommen musste.457 Auf die Parallele zum zweiten Brief der Sammlung wird mit Clerdons Annahme hingewiesen, dass auch Sylli »[d]ie unwiderstehliche Wonne des gestrigen Tages […] gefühlt haben« muss. Es ist das Gefühl – und eben nicht die Natur – die zum Medium der beiden freundschaftlich verbundenen Menschen wird. Auch Clerdon verzichtet zunächst vollkommen auf die Beschreibung naturaler Elemente. »Die unwiderstehliche Wonne« dieses Tages ist keine sinnliche Wahrnehmung, sondern ein Geschehen im Inneren des Menschen. So erwacht Clerdon wie Sylli sehr früh. Beim Aufwachen aus dem Schlaf betont Clerdon die Besonderheit eines Lichtes »von der ersten sanftesten Dämmerung«. Er hat das Gefühl, dass er »von dem Arme eines Freundes« aufgerichtet wird. Mit diesem transzendentalen Freund verbindet Clerdon ein »unerwartete[s] Wiedersehen«. Das Erwachen erscheint ihm als ein Erweckungserlebnis im Inneren, das ihn »aus dem Schlummer küßte«. Es ist ein Geschehen, das seinem Inneren entspringt, aber wie ein zärtlicher Umgang mit einem Freund erscheint. Das Gefühl ist eine innere Grundkraft des menschlichen Daseins. Clerdon schreibt bei der »Wonne des gestrigen Tages« von einem spezifischen Gefühl und expliziert, dass hier allein das Innere im Fokus steht. Das Erweckungserlebnis ist eine existenzielle Selbstvergewisserung dazusein und in diesem Dasein nicht an das Körperliche und Materielle gebunden, sondern diesem enthoben zu sein. Diese Fühlbarkeit des eigenen Geistes stellt Clerdon daher als eine Todeserfahrung

456 Vgl. Ebd., S. 108–113, hier S. 108. 457 Ebd., S. 108f.

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dar, die darin besteht, sich für eine Dauer vollkommen vom Körper zu abstrahieren und in diesem Sinne außer sich zu sein, wie es Clerdon auch benennt. Der Tod ist ein »schöner, himmlischer Jüngling«.458 Dieses Todesbild steht hier in der Funktion mit dem Ableben nicht den Verfall des Körpers zu assoziieren, sondern den Übergang zu einem geistigen Dasein, wie es Clerdon für die kurze Zeit seines Erweckungserlebnisses zu erleben scheint. Durch die Aufwertung des Geistes und die Relativierung des Körpers für das existenzielle Dasein des Menschen verliert der Tod an Schrecken, denn er erscheint als Endlichkeit des Körpers und damit als Übergang verschiedener existenzieller Daseinsformen. Geleitet von dem Licht der Morgendämmerung gelangt auch Clerdon zu einem Fenster und sieht dort den gefühlten Freund »schaffend am Aufgange«. Er schaut sich die Morgendämmerung an und – eine weitere wichtige Parallele zu Syllis Brief – beschreibt die innere Wirkung dieses Eindrucks mit »Tönen«. Er schreibt, dass »diese Morgenröthe« eine »Musik für das Auge« sei. Der visuelle Eindruck schwebe als »Engelsgesang […] in die Seele« und sei ein Eindruck, der mit auditiven »Tönen« von ihm noch nicht erlebt wurde.459 Die Sinnlichkeit dieser Szene stellt Clerdon jedoch in den Hintergrund, denn er zweifelt an, zu wissen, »mit welchen Sinnen« er diese Szene erlebt.460 Dieser Zweifel an der Sinnlichkeit betont das Gefühl Clerdons »ausser« sich zu sein.461 Dieses Austreten des Inneren aus dem Körper offenbart sich Clerdon in einem »Beben«.462 Es »durchschauderte« ihn »beym Erreichen der Gegenwart«.463 In dem Moment, in dem Clerdon völlig erwacht zu sein scheint und er ein waches Bewusstsein aufweist, kommt er im jetzigen Moment an und wird »überwandelt[]«.464 Die Gegenwart ist die Zeitspanne, in der aktiv erlebt wird und die Erlebnisse präsent sind. In der Gegenwart anzukommen bedeutet, im Hier und Jetzt des Erlebens anzukommen. In dieser Szene wird der Ausbruchcharakter des Inneren Clerdons beschrieben, denn dieses befreit sich regelrecht »tief[]« aus »der Brust«.465 Das Beben intensiviert sich und wird »immer tiefer und inniger« und dann »im geheimsten Busen auflösendes Beben, das den Erdensohn tödtete«.466 Der »Erdensohn« ist der ganze Mensch als leib-seelische Einheit, da das Seelische aber aus dem Leib ausbricht, stirbt vorübergehend der ganze Mensch als »Erdensohn«.467 Diese Todeserfahrung ist nicht mit Schmerz oder Leid verbunden, sondern ist die Ahndung eines jenseitigen Daseins. Dieses Erlebnis ist Verheißung eines geistigen Daseins und von dem, was jedem einzelnen Menschen nach seinem körperlichen Tod im Jenseits bleibt. Daher tritt der Tod auch als »schöner, himmlischer Jüngling« auf, denn er erscheint nur als eine andere Modifika-

458 Vgl. für die zeitgenössischen Bezüge dieses Bild vom Tod das Kapitel 1.1 dieser Untersuchung. Sowie JWA 6,2, S. 407f. 459 Vgl. JWA 6,1, S. 109. 460 Vgl. Ebd. 461 Vgl. Ebd. 462 Vgl. Ebd. 463 Vgl. Ebd. 464 Vgl. Ebd. 465 Vgl. Ebd. 466 Vgl. Ebd. 467 Vgl. Ebd.

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tion des Daseins, bei dem der Mensch »[d]es verwesenden Theils entladen« ist.468 Der Geist des einzelnen Menschen kehrt zu dem einem Geist zurück und so schreibt Clerdon, dass er »in seine Arme [flog]« und »in seinen Schoos [sank]«.469 Das Todeserlebnis wird zur Gotteserfahrung, indem konturiert wird, dass ein geistiges Dasein als ein Zurückkehren in Gott vorgestellt wird. Dies verdeutlicht, dass das Innere des Menschen, sein Ich und Geist, als Funke Gottes betrachtet wird und für eine endliche Zeit einen Körper belebt und dann zurückkehrt. Der leibliche Tod erscheint als Rückkehr in Gott. Die Schilderung Clerdons betont dies, denn er schreibt, dass er »bey ihm [war], war in ihm, in Ihm, der da ist«.470 Dort »kostete« er »Allmacht, Schöpfung, ewiges Bleiben in Liebe«.471 Es geht Clerdon bei seinem Erweckungserlebnis – viel deutlicher als bei Syllis Darstellung – um eine Gotteserfahrung. Für Sylli war das Aufgehen der Sonne etwas, dass ihr Lebenskraft verlieh und sie Hinauffahren ließ. Bei Clerdon ist der Tag, der mit dem Aufgehen der Sonne dann beginnt, ein Zurückkehren von Gott, eine Wiederbelebung des Erdenlebens, was ein wenig bedauert wird: »Ach, Sylli, daß ich zurückkehren, daß der Tag kommen mußte!«472 Diese direkte Ansprache Syllis verweist darauf, dass ihre Beziehung eine innerliche Verbundenheit aufweist. Sie erleben beide am selben Morgen ein innerliches Erweckungserlebnis und bezeugen auf diese Weise ihre Seelenfreundschaft miteinander. Damit wird zugleich auch angedeutet, was es heißt innerlich verbunden zu sein. Es bedeutet, in Gott verbunden zu sein. Es ist ihnen beiden nicht bewusst, dass sie sich gegenseitig fühlen, aber Sylli imaginiert Clerdon herbei und Clerdon ist sich seinerseits sicher, dass Sylli diese »Wonne« dieses Morgens auch »gefühlt haben« muss.473 Das Gefühl als existenzielle Grundkraft wird zum verbindenden Element der beiden über ihre physische Trennung hinweg. Sie erleben in einer Wiederbelebung des Inneren eine Kraft ihres Daseins, die dafür bürgt, dass ihre zwischenmenschliche Bindung seelischer Art ist. Im Gefühl veranschaulicht sich, ohne dass die Figuren darüber ein rationales Bewusstsein haben, dass das Innere des Menschen Eigentümlichkeit und Gemeinsamkeit eines jeden einzelnen Menschen ist. Die Parallelisierung des Inneren mit einer Melodie und Tönen schreibt jedem Menschen eine Tonhaftigkeit in seinem Inneren zu. Diese Tonhaftigkeit im Inneren ist eine Gemeinsamkeit jedes einzelnen Menschen, aber sie ist bei jedem Menschen anders gestaltet. Sylli und Clerdon spüren ein Gefühl der Nähe zueinander, da ihre Töne im Inneren eine Resonanz zueinander aufweisen. Diese innerliche Verbundenheit der beiden wird durch ein zum gleichen Zeitpunkt stattfindenden Erweckungserlebnis dargestellt. Auch Clerdon bekräftigt nach der Fühlbarkeit seines Geistes das damit erlangte Daseinsbewusstsein mit Naturerlebnissen. Mit dem ersten Blicke der Sonne, die meine Augen auf die umher verbreitete herrliche Gegend niederlenkte, und mich der Erde wiedergab, schoß mir lichtschnell durch die Seele ein Strafgedanke: welch ein sündliches Wesen es doch sey, diese herrliche Pracht 468 469 470 471 472 473

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 108.

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Gottes so über Wall und Graben nur zu beschielen; nur etwa am Abend ein wenig daran vorbey oder hinterher zu schleichen: da doch nichts wehre, sich hinein zu lagern in diese Herrlichkeit ganze Tag lang, sich anzukleiden über und über mit dieser Pracht Gottes, zu genießen das seinige, den weiten offenen Himmel, und die große offene Erde. Ich raffte mich zusammen, und zog hinaus in den vollen Sonnenglanz, wandelte, und nahm Besitz von Acker, Wiese, Bach, Wald und Strohm, Höhe und Tiefe, Himmel und Erde. Und als ich nun an den Hügel, mein Ziel, gelangte, hinankletterte, endlich droben stand und weit umherschaute; da hüpfte in meinem Blut, pochte in meiner Brust, trotzte in meinem Gebein, und schauderte in meinem Haar, jauchzte, klang und sang in allen meinen Nerven, Liebe, Lust und Macht zu leben.474 Diese empfindsam-idyllische Szene ist eine Ausdrucksform der durch die innere Erweckung erworbenen Lebendigkeit. Die körperliche Vitalität kontrastiert die vorherige Abstraktion vom Körper. Mit dem Wiedereintritt des Inneren in den Körper erlebt Clerdon nun ein gesteigertes Körpergefühl, das durch die Bewegung im naturalen Raum evoziert wird. Die Naturerfahrung dient dazu, Lebendigkeit zu veranschaulichen, denn das Belebende des Lebendigen wurde von Clerdon als Innerlichkeitserlebnis erfahren, dass ihn zu Gott selbst führte. Seine Motivation nun die naturale Umgebung aufzusuchen, liegt darin, dass er die »herrliche Pracht Gottes« erleben möchte. Die Natur steht bei Clerdon als Schöpfung Gottes im Vordergrund, denn sie ist ein Raum, an dem er »das seinige, den weiten offenen Himmel, und die große offene Erde« genießen kann. Die Offenheit des Himmels und der Erde steht für die Möglichkeiten des Menschen, die sich in seinem Inneren verbergen und die Clerdon an diesem Morgen gefühlt hat. Die Autonomie zu fühlen, von allen äußeren Begebenheiten des Daseins frei zu sein, führt zu einem Daseinsbewusstsein, das in der Natur eine mögliche Projektionsfläche für das eigene Innere findet. Clerdon projiziert seine Vitalität in das Naturerlebnis. Er klettert einen »Hügel« hinauf, als Zeichen seiner Entgrenzung und Ahndung im tiefsten Inneren nicht der Endlichkeit verfallen zu sein. Er steht oben auf dem »Hügel« und schaut umher und in dem Moment des Ausblicks erlebt er eine besondere innere Zustandsform: »da hüpfte in meinem Blut, pochte in meiner Brust, trotzte in meinem Gebein, und schauderte in meinem Haar, jauchzte, klang und sang in allen meinen Nerven, Liebe, Lust und Macht zu leben«.475 Eine Lebensenergie durchströmt Clerdons ganzen Körper und festigt sein spezifisches Daseinsbewusstsein. In diesem Brief Clerdons ist es anders als bei Sylli, denn es liegt ein Tag zeitliche Differenz zwischen dem tatsächlichen Erleben und dem Schreiben als Nach-Erleben. Clerdons Beschreibung des Erweckungserlebnisses wirkt reflektierter, weil die Schilderung dieses inneren Geschehens als körperliche Todeserfahrung auf ein Räsonieren über das Erlebte verweist. Die Todeserfahrung wird als bildliche Darstellungsform verwendet, ein erfahrenes Ereignis zu beschreiben, in der das eigene geistige Dasein im Gefühl offenbart wird. Bei Syllis Brief vom 7. März steht in ihren Schilderungen die Unausweichbarkeit innerer Regungen im Zentrum, die vor allem im Zusammenhang mit ihrem Blick zurück in die eigene Vergangenheit verbunden ist. Ihr Brief wirkt als Verschriftlichung des 474 Ebd., S. 109. 475 Diese Passage kommt in ähnlicher Form auch in einem Brief Jacobis an Goethe vom 21.10.1774 vor. Vgl. dazu das Kapitel 1.1 dieser Untersuchung. Vgl. den Brief Jacobis: JBW I,1, S. 263–266, hier S. 265.

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unmittelbar zuvor Erlebten und stellt nahezu präreflexiv ihr Geschehen im Inneren dar. Auch Syllis Brief kann nicht ganz auf Reflexion verzichten, da Schreiben als Kommunikationsprozess ein gewisses Maß an Verarbeitung des Mitzuteilenden voraussetzt, was dann in das schriftliche Sprachsystem übersetzt wird. Dieser Vorgang wird im Zuge des empfindsamen Unsagbarkeitstopos immer wieder problematisiert. Die Naturerfahrung Clerdons verzichtet fast nahezu auf nähere beschreibende Details bezüglich naturaler Elemente, doch lässt sie sich wie die Szene bei Sylli als empfindsam-idyllisch beschreiben, da hier alle konstitutiven Merkmale vorliegen. Dem Empfindsam-Idyllischen kommt in beiden Briefen die Aufgabe zu, die innerliche Erweckung zu affirmieren und das besondere Daseinsbewusstsein der beiden hervorzuheben. In diesen Briefen zeigt sich, dass das Empfindsam-Idyllische als Erzählverfahren von Innerlichkeit die Funktion erfüllt, das Spezifische des Erweckungserlebnisses zu veranschaulichen und es dient in beiden Briefen als eine Darstellungsform des erweckten Daseinsbewusstseins. Folglich erfüllt das Empfindsam-Idyllische eine erkenntnistheoretische und darstellerische Funktion, denn einerseits erscheint es als Erzählverfahren und schriftlicher Ausdrucksform des Inneren und daran anknüpfend erlaubt es Einblicke in die innere Beschaffenheit des Menschen. Mit der Darstellung von empfindsam-idyllischen Szenen ist es Sylli und Clerdon möglich, sich deskriptiv über ihre innerliche Zustandsform mitzuteilen, ohne diese selbst zu analysieren. Das Empfindsam-Idyllische ist damit eine Ausdrucks-und Darstellungsmöglichkeit, das eigene Innere auf eine möglichst unmittelbare Weise zu vermitteln. Diese Besonderheit des Empfindsam-Idyllischen zeigt sich im Gegensatz zu Mitteilungen des Inneren, die analytisch sind. Im weiteren Verlauf der Briefsammlung verlagert sich der Fokus. Anfangs stehen Sylli und Clerdon im Vordergrund, doch dann rückt zunehmend das Verhältnis von Cläre und Allwill ins Zentrum. Allwill erscheint als moralisch zwielichtige Figur und es bahnt sich eine Beziehung zwischen Allwill und Cläre an. Sylli wird von diesem Verhältnis der beiden brieflich unterrichtet und gibt eine Analyse ihrer Gefühle zu ihrem Mann August Clerdon wieder, um Cläre vor einer Beziehung mit Allwill zu warnen. Die Männer verdienen so wenig das Opfer unseres Daseyns, daß sie nicht einmal anzunehmen wissen, was wir ihnen geben. Das Glück ein ganzes Herz zu besitzen – wie sollten sie das schätzen können, da ihr Herz nie einen Augenblick ganz, nie ein Gefühl des Herzens bey ihnen lauter ist? Keine Wonne, nicht die höchste der Menschheit, gilt ihnen so viel, daß sie dieselbe rein bewahrten. Keine Empfindung ist ihnen in dem Grade lieb, daß sie nicht durch eckelhafte Vermischungen sie trübten, ihr Bild entweihten. Die Fülle des Köstlichen – die schmecken sie nie, haben sie nie; darum kann ihnen nie genügen; darum sind sie – ohnmächtig zur Liebe. Wir Arme merken das nicht gleich; wir glauben wohl gar eine Zeitlang stärker geliebt zu seyn, als wir selbst lieben. Aber, o wie bald offenbart sich das anders! – Da stehen wir dann dem Geliebten gegen über, und fühlen durch unser ganzes Wesen: – Dein! – fühlen durch unser ganzes Wesen: – nicht Mein! … Wenn Du das Gräßliche – die unaussprechliche Schmach des Gefühls ahnden könntest: – Ich – Dein! Du – Nicht Mein! – – Verloren zu seyn, ganz verloren an einen andern …Unser eigenes Selbst entflohen aus uns – entflohen aus Ihm … Gar kein Daseyn

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mehr! Man ist verschwunden unter den Lebendigen; getilget mit Schande aus ihrer Zahl – Elend ohne Maaß, ohne Namen!…476 Syllis Vorstellung von Liebe ist eine Anhänglichkeit mit dem ganzen eigenen Inneren zu einem anderen Menschen. Liebe ist für sie eine vollkommene Hingabe. Dieses Hingeben ist für die Dauer, in der es erwidert wird, ein »Glück«, das »höchste der Menschheit«. Aber wenn diese Liebe nicht erwidert wird und sich auf einen anderen richtet, der diese Liebe »nicht einmal anzunehmen« weiß, dann wird dies die liebende Person zu Leid führen. Liebe ist die intensivste und vehementeste Form der Wertschätzung. Wenn diese nun einer Person geschenkt wird, die ihrerseits diese Wertschätzung nicht als besonderen Wert anerkennt, nicht erfasst, was ihr gegeben wird, dann führt dies die liebende Person in eine Ich-Krise. Das eigene Ich der liebenden Person verschwindet, weil diese in der nicht erwiderten Wertschätzung sich selbst verliert. Diesen Prozess beschreibt Sylli mit ihrem hervorgehobenen Ausdruck »Ich – Dein! Du – Nicht Mein!«. Sie schreibt davon, dass eine innige und vollkommen hingebungsvolle Liebe bei einer nicht dementsprechenden Anerkennung zu dem Gefühl wird, »ganz verloren an einen andern« zu sein und sein »eigenes Selbst« verloren zu haben. Eine solche Liebe ist aufgrund ihrer Intensität ein inneres Geschehen, das zum Leiden führt. Die Qual sich einem anderen hingegeben zu haben, ihm die größtmögliche Wertschätzung entgegengebracht zu haben, aber zu fühlen, dass der andere diese Gefühle nicht erwidert, ist ein Selbstverlust. Eine unerwiderte Liebe erscheint als Verlust des eigenen Ichs, da einer Person eine Wertschätzung zuteilwird, die diese nicht zurückgibt. Das unerwidert liebende Ich erfährt keine Anerkennung der eigenen Einzigartigkeit. Das Nicht-Erwidern von Liebe im Verständnis der intensivsten Wertschätzung ist eine Zurückweisung der Ich-Exklusivität. Das unerwidert liebende Ich erfährt Vereinzelung, weil die eigene Eigentümlichkeit allein und ohne zwischenmenschliche Anerkennung bleibt. Dieses Vereinzelungserlebnis ist irreversibel. Sylli schreibt ihren Brief aus Lebenserfahrung. In der Einleitung wurde ihr verstorbener Ehemann August Clerdon als »ein feuriger Mann, von großen Geistesgaben, aber sehr unstätem Sinne« beschrieben.477 Seine Liebe für Sylli war »heftig«.478 August Clerdon erscheint charakterlich ähnlich konturiert wie Allwill und die Lebensgeschichte von Sylli wird in ihrem traurig schicksalhaften Charakter näher beschrieben, indem in ihrem Brief vom 14. März an ihre Nichten ausführlicher geschildert wird, dass es nicht nur August Clerdons frühes Ableben war, das sie betrübt, denn Sylli »hatte […] geahndet, daß August auf vielerley Weise sie unglücklich machen würde«.479 In ihrem Brief impliziert sie, dass sie sich nicht so von ihm geliebt fühlte, wie sie ihn liebte und über seinen Tod hinaus weiterhin liebt. Diese Liebe über den Tod hinaus deutet die »Hyacinthe« an,480 die Sylli in ihrem Brief von 8. März erwähnt:

476 477 478 479 480

Ebd., S. 145-149, hier S. 149. Vgl. Ebd., S, 95f, hier S. 95. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. JWA 6,2, S. 403.

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Wie oft stand ich nicht vor ihr, mit klopfendem Busen; sog an ihrem Wesen mit allem meinem Sinn, bis es meine Nerven durchbebte, und ich die Schöne, Gute in mir lebendig hatte, und – nennt es Thorheit, Unsinn und Schwärmerey – und ich Gegenliebe von ihr fühlte!481 Diese »Gegenliebe« der Hyacinthe beruht darauf, dass sie in Sylli »lebendig« ist. Dieses im Inneren Lebendig-Haben verweist auf eine Liebe als fundamentales Gefühl. Es lässt die Verstorbenen im Inneren lebendig bleiben. Syllis verstorbener Ehemann und ihr früh verstorbenes Kind sind weiterhin in ihr lebendig, sie leben in ihrer Liebe zu ihnen. Sie spürt mit der Gegenliebe der Hyacinthe, dass die Liebe zu ihren Verstorbenen nicht unbeantwortet bleibt. Sie fühlt im Inneren eine Liebe, die ihre beantwortet. Diese Liebe ist eine rationale Unerklärlichkeit des Menschen, die mit Sylli aber als eine im Leben des Menschen vorkommende Tatsache dargestellt wird. Sylli erscheint als eine besondere Figur, da sie kein Begehren nach einer Transzendierung der eigenen Endlichkeit hat. Vielmehr erscheint sie als Figur, die den Menschen und auch sich selbst beständig in seinen Einschränkungen erlebt.482 Dadurch bekommt die Akzentuierung von rational unerklärlichen Tatsachen in ihren Briefen eine hervorgehobene Stelle. Sie sucht nicht danach und doch erfasst sie Begebenheiten des menschlichen Daseins, die auf eine geistige Daseinssphäre ihrer Existenz verweist. Sylli beweist sich damit selbst als ein innerlich exklusiver Mensch, ohne es zu wollen. Betrachtet man diese Briefe vor dem Hintergrund der interdisziplinären Forschungsprogrammatik, die in der Vorrede vorgestellt wurde und anstrebt mit dieser Briefsammlung »Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich« darstellen zu wollen, dann werfen Syllis und Clerdons Briefe die Frage auf, was Wirklichkeit ist.483 Syllis und Clerdons Briefe weisen in ihren Briefen zahlreiche Phänomene auf, die als rational unerklärliche Phänomene auffallen. Diese Phänomene sind Bestandteile ihrer Wirklichkeitserfahrung und stellen den Menschen in der Gesamtheit seines phänomenalen Erlebens dar. Diese Frage nach der Beschaffenheit von Wirklichkeit wird in einem Streitgespräch zwischen Cläre und Clerdon philosophisch ausgeführt. Bei diesem Streitgespräch schlägt sich Allwill auf die Seite von Cläre. Cläre berichtet darüber ausführlich in dem XV. Brief der Sammlung, der an Sylli adressiert und auf auf »[d]en 29ten März« datiert ist. Dort kündigt sich ein Verhältnis zwischen Allwill und Cläre an. Allwill suchte, wie er beym Nachtessen neben mich zu sitzen käme. Das mißlang, und ich sah es gern mißlingen. Warum ich es gern mißlingen sah? – Aus mehreren Ursachen, liebe Sylli! Aber ich will Dir nur gleich die schlimmste offenherzig beichten, damit Du nicht glaubst, ich wollte Dir, oder gar mir selbst etwas verheimlichen. Ja, beste Sylli, ich war Allwilln an diesem Abend sehr gut geworden; ganz anders gut, als ich es bis dahin gewesen war: und das hätte mich auch weiter nicht gestört, wenn ich nicht so sonderbar erschrocken wäre, da er mir die Hand küßte. Von dem Augenblicke an war ich verlegen, und ärgerte mich, daß ich es war. Das sollte wohl vergehen, dachte ich, wenn wir nur erst vom Claviere weg, und wieder zu der übrigen Gesellschaft kämen;

481 JWA 6,1 S. 104-108, hier S. 104. 482 Vgl. dafür den I. und IV. Brief dieser Sammlung: Ebd., S. 97f und S. 104–108. 483 Vgl. Ebd., S. 89.

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und das hätte gewiß auch nicht gefehlt, wäre nicht Allwills sichtbare Begierde, bey Tische neben mir zu sitzen, dazwischen gekommen. Mir wurde bange, alle sähen es; und konnte doch nicht dawider, daß es mich freute. Also neuer Aerger, und noch mehr neue Verlegenheit.484 Allwill findet in Cläre eine Frau, die seinem bisherigen Bild nicht entspricht, da sie aus der Erfahrung ihres Lebens eigene philosophische Ansichten bildet und diese auch gegen andere verteidigt. Zunächst ist Clerdon ihr entschiedener Gegner, der seine rationalistisch geprägte Buchgelehrsamkeit ihren erfahrungsorientierten Ansichten gegenüberstellt und am Ende ist es Allwill, der ebenfalls seine Buchgelehrsamkeit gegen Cläre richtet. Es ist signifikant, dass hier geschlechtsspezifisch die Figuren Clerdon und Allwill sich philosophisch überlegen fühlen, obwohl sie ihre Überlegungen nicht aus eigenem Nachsinnen gebildet haben, sondern aus Gelesenem rekapitulieren. So ist es die Figur Cläre, der Jacobi seine bündigste Kritik am Kantischen Ding-an-sich in den Mund legt. Dieses Ding müsse ein »Nicht-Nichts« sein, denn wenn es transzendentalphilosophisch der Fall ist, dass wir nichts erkennen und empfinden können außer Modifikationen unseres eigenen Ichs, dann ist die Frage, was diese Modifikationen heraufbeschwört, wenn doch Dinge außerhalb des Ichs nicht erfasst werden können, und daher über ihren ontologischen Status letztendlich epistemologisch nichts ausgesagt werden kann.485 Es ist die Ungereimtheit annehmen zu müssen, dass der Mensch Dinge außer sich erfasst, da er Veränderungen der inneren Zustandsform durchlebt, die nicht aus seinem eigenen Inneren herrühren. Zugleich kann der Mensch diese Dinge aber nicht erfassen, da sie Ich-Affektationen seien und die Dinge-an-sich verborgen blieben. Im Brief Cläres an Sylli vom 29. März heißt es: Clerdon sollte sich entschließen, verlangte Allwill, entweder meine Beschuldigungen gelten zu lassen: daß wir, nach seiner Philosophie, mit unsern Ohren überall nur unsere eigenen Ohren hörten; mit unsern Augen überall nur unsere eigenen Augen sähen; und so hinter den Augen und Ohren, rückwärts, bis zum Mittelpunkt der Empfindung, überall nur Empfindungen empfänden; oder sich deutlich über das erklären, was wir mit unseren Augen nicht sähen, mit unseren Ohren nicht hörten, und zurück, bis zum Mittelpunkte der Empfindung, durch unsere Empfindung nicht empfänden, und welches nichts desto weniger Etwas, und zwar das eigentliche wahre Etwas wäre. Dieses wahre eigentliche Etwas, Kraft dessen und in Vergleichung mit welchem wir alles als ein Nicht-Etwas erkennen und zu erkennen allein im Stande sind, müsse er zu Tage bringen, oder wir sprächen ihm die vernünftige Möglichkeit, einen solchen Unterschied zwischen Etwas und Etwas zu machen, rein ab.486 Es wird danach gefragt, inwieweit Erkenntnis, das heißt auch sinnliche Wahrnehmung und Empfindung, Abbildung von Wirklichkeit sei. Gesetzt den Fall, dass jeder Mensch subjektiv in seinem Ich gefangen ist und alles ihm Erscheinende Ich-Modifikationen sind, dann kann Erkenntnis nicht Abbildung einer außerhalb dieses Ichs bestehenden

484 Ebd., S. 157–171, hier S. 169. 485 Vgl. Ebd., S. 166. 486 Ebd., S. 160f.

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Wirklichkeit sein. Dann hört der Mensch mit seinen Ohren, sieht mit seinen Augen nur sich selbst. Das Ich kann dann in keinerlei Weise Vermittlungen zu einem Äußeren herstellen. Es gibt also kein »Etwas«, das außerhalb des Ichs läge und erkannt werden könne. Clerdon scheint diese radikal subjektivistische Position zu vertreten. Diese Position nimmt auch Bezug auf Kants Kritik der reinen Vernunft und die transzendentalphilosophische Wende in der Erkenntnistheorie. Der Punkt von Cläre ist, dass ihrer Meinung nach wirkliche Dinge außerhalb des eigenen Ichs existieren, da sonst alles Erkennen und Erfassen des Menschen zum »Nicht-Nichts« werde. Es gibt daher »Etwas« außerhalb des Ichs. Für Cläre ist dies eine erlebbare Tatsache ihres Lebens, denn sie behauptet, Dinge außer sich selbst zu empfinden. Wenn der Mensch »überall nur Empfindungen empfände[]« wäre sein Erkennen auf Gehalte seines eigenen Bewusstseins beschränkt, die wiederum keinen Gegenstand hätten. Das Ich wird so zur einer Blase, das kein Außerhalb kennt. Diese erkenntnistheoretischen Überlegungen werden der Figur Cläre in den Mund gelegt, um zu verdeutlichen, dass diese philosophische Position das menschliche Leben, so wie es wirklich ist, im Blick hat. In diesem Kontext zeigen sich entscheidende Zusammenhänge literatur-und philosophiegeschichtlicher Diskussionszusammenhänge. In der empfindsamen Literatur, wie beispielsweise Goethes Werther, steht die Selbstbewunderung der eigenen Empfindungsfähigkeit im Vordergrund. Werther ist ein Ich, das seine eigene Ichhaftigkeit glorifizierend und selbsterhöhend bestaunt. Dieses Ich ist daher subjektiv befangen, denn die zelebrierende Kontemplation auf die eigene Eigentümlichkeit führt zur bewussten Vereinzelung. Dieser Individuationsprozess führt zu einem selbstverliebten Ich, welches sich selbst in einem so extremen Intensitätsgrad als exklusiv erlebt, dass es nur noch wenige bis gar keine sozialen Bindungen mehr anstrebt. Diese subjektivistische Perspektive findet sich in der Theorie des menschlichen Erkennens des ausgehenden 18. Jahrhunderts wieder. Cläre wirft Clerdon vor, dass nach seiner Erkenntnistheorie der Mensch nur seine »eigenen Ohren« und seine »eigenen Augen« erfasse und so letztlich immer in den Grenzen des eigenen Ichs verharre. Des Weiteren wirft Cläre Clerdon vor, dass seine erkenntnistheoretische Position im eigentlichen Sinne Empfindungen gar nicht als Empfindungen betrachte, denn der Mensch könne bei ihm »überall nur Empfindungen empf[i]nden«. De facto würde nach Clerdons Auffassung der Mensch aber nie wirklich etwas hören und nie wirklich etwas sehen, denn dafür müsste davon ausgegangen werden, dass äußere Reize auf das Innere einwirken. Dies ist genau der Wundepunkt des Kantischen Dings-an-sich, denn wie kann negiert werden, dass äußere Dinge einen affizierenden Einfluss auf das Innere haben, wenn zugleich aber eine Affektation durch ein Äußeres unterschwellig angenommen wird. Das heißt, die transzendentale Frage, ob äußere Dinge existieren und ob sie vom Menschen erfasst werden können, ist in der Annahme, dass es Beeinflussungen des Ichs durch äußere Reize gibt, beantwortet. Demnach sind es nicht die subjektiven Erscheinungen, die auf uns wirken, sondern äußere existierende Dinge. Eine Empfindung, die eine Empfindung zum Gegenstand hat, ist ein reflektierter Vermittlungsvorgang zwischen dem Inneren eines Ichs und einem Äußeren. Wenn es nun aber kein Äußeres mehr gibt, dann ist eine Empfindung ohne epistemologischen Gehalt. Sie wird dann zum Element einer Selbsterhöhung des noch vermeintlich empfindenden Ichs. Die Spätfassung des Allwill von Jacobi ist ein Erzählwerk, in dem literarische und philosophische Zusammenhän-

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ge direkt miteinander kombiniert werden und das aus verschiedenen Blickwinkeln das Thema der subjektivistischen Reflexion aufgreift.

3.3.4 Kritik der moralischen Instrumentalisierung der Natur Eng mit dem erkenntnistheoretischen Diskussionszusammenhang ist ein moralphilosophischer Diskussionszusammenhang verbunden. Die sich andeutende Beziehung zwischen Cläre und Allwill verdeutlicht dies. Die titelgebende Figur Allwill wird als moralisch ambivalente Figur in einem Brief Clerdons an Sylli eingeführt. Diese erste Beschreibung Allwills ist in dem Brief Clerdons an Sylli vom 8. März enthalten und unterbricht Clerdons Schilderung einer empfindsam-idyllischen Szene. Nach der Beschreibung des Erklimmens des Hügels folgen im Brief Clerdons eine ganze Reihe von Punkten, die »eine gewaltsame Unterbrechung« darstellen.487 Mit dieser Unterbrechung rückt nun erstmals die Titelfigur Eduard Allwill in den Fokus. Diese Punkte, liebste Sylli, bedeuten eine gewaltsame Unterbrechung; eine Pause, die ich nun dem Liede muß ein Ende machen lassen, weil ich Ton und Tact verloren habe. Ich war eben im Begriff meinen zweyten Teil anzustimmen, da Allwill im Phaeton vorgefahren kam, und mir keine Ruhe ließ, ich sollte mit Amalia vor Tische mich von ihm spatzieren führen lassen; dagegen wollte er zu Mittag unser Gast seyn. Wer nicht nachgiebt, das ist Allwill: also geschah, was er verlangte. Nun bin ich zerstreut, und darf nicht daran denken, mich wieder in die Stimmung von heute früh versetzen zu wollen. Besser, ich erzähle Dir von Allwill, nach welchem, wenn ich nicht irre, Du schon zweymal gefragt hast. Ich werfe Dir nur einige Züge von ihm hin. Meine Frau, die sich des jungen Menschen – er ist noch nicht vier und zwanzig Jahre alt – annimmt, um ihn zu beugen und zu bessern, wird Dir ausführlichen Bericht von ihm erstatten.488 Diese Einführung Allwills ist für seinen ganzen Charakter bestimmend. Er wird als eine Ruhe und Besinnung störende Person eingeführt, die in dem Hause Clerdon für ein gewisses Durcheinander sorgt. Clerdon verliert in der Schilderung eines besonderen inneren Erlebnisses »Ton und Tact«. Er schreibt von einer »gewaltsame[n] Unterbrechung«, was einen gewissen Zwang ausdrückt, der von Allwill ausgeht. Dies wird auch damit untermauert, dass Allwill als Person charakterisiert wird, die ihren Willen durchsetzt, ohne Rücksicht auf ihr soziales Umfeld zu nehmen. Er rückt damit in die Nähe einer IchZentrierung, die nur die eigenen Anliegen als wichtig erscheinen lässt und lediglich die eigene innere Erlebniswelt im Blick hat. Folglich erscheint er als Person, die eine gewisse Rücksichtslosigkeit aufweist und daher eine Gefahr für das harmonische Familienglück darstellt. Dies zeigt sich in Clerdons Verweis darauf, dass seine Frau Amalia »ausführlichen Bericht von ihm erstatten« wird. Clerdons Brief stammt von dem »8ten März« und thematisiert, dass er und die Familie längere Zeit keine Briefe von Sylli erhalten haben. Ihre Briefe vom 6. und 7. März, das sind die I. und II. Briefe der Sammlung, sind beide noch nicht in C** angekommen, als Clerdon am 8. März an sie schreibt.489 Dieses 487 Vgl. JWA 6,1, S. 109. 488 Ebd., S. 109f. 489 Vgl. Ebd., S. 108.

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ge direkt miteinander kombiniert werden und das aus verschiedenen Blickwinkeln das Thema der subjektivistischen Reflexion aufgreift.

3.3.4 Kritik der moralischen Instrumentalisierung der Natur Eng mit dem erkenntnistheoretischen Diskussionszusammenhang ist ein moralphilosophischer Diskussionszusammenhang verbunden. Die sich andeutende Beziehung zwischen Cläre und Allwill verdeutlicht dies. Die titelgebende Figur Allwill wird als moralisch ambivalente Figur in einem Brief Clerdons an Sylli eingeführt. Diese erste Beschreibung Allwills ist in dem Brief Clerdons an Sylli vom 8. März enthalten und unterbricht Clerdons Schilderung einer empfindsam-idyllischen Szene. Nach der Beschreibung des Erklimmens des Hügels folgen im Brief Clerdons eine ganze Reihe von Punkten, die »eine gewaltsame Unterbrechung« darstellen.487 Mit dieser Unterbrechung rückt nun erstmals die Titelfigur Eduard Allwill in den Fokus. Diese Punkte, liebste Sylli, bedeuten eine gewaltsame Unterbrechung; eine Pause, die ich nun dem Liede muß ein Ende machen lassen, weil ich Ton und Tact verloren habe. Ich war eben im Begriff meinen zweyten Teil anzustimmen, da Allwill im Phaeton vorgefahren kam, und mir keine Ruhe ließ, ich sollte mit Amalia vor Tische mich von ihm spatzieren führen lassen; dagegen wollte er zu Mittag unser Gast seyn. Wer nicht nachgiebt, das ist Allwill: also geschah, was er verlangte. Nun bin ich zerstreut, und darf nicht daran denken, mich wieder in die Stimmung von heute früh versetzen zu wollen. Besser, ich erzähle Dir von Allwill, nach welchem, wenn ich nicht irre, Du schon zweymal gefragt hast. Ich werfe Dir nur einige Züge von ihm hin. Meine Frau, die sich des jungen Menschen – er ist noch nicht vier und zwanzig Jahre alt – annimmt, um ihn zu beugen und zu bessern, wird Dir ausführlichen Bericht von ihm erstatten.488 Diese Einführung Allwills ist für seinen ganzen Charakter bestimmend. Er wird als eine Ruhe und Besinnung störende Person eingeführt, die in dem Hause Clerdon für ein gewisses Durcheinander sorgt. Clerdon verliert in der Schilderung eines besonderen inneren Erlebnisses »Ton und Tact«. Er schreibt von einer »gewaltsame[n] Unterbrechung«, was einen gewissen Zwang ausdrückt, der von Allwill ausgeht. Dies wird auch damit untermauert, dass Allwill als Person charakterisiert wird, die ihren Willen durchsetzt, ohne Rücksicht auf ihr soziales Umfeld zu nehmen. Er rückt damit in die Nähe einer IchZentrierung, die nur die eigenen Anliegen als wichtig erscheinen lässt und lediglich die eigene innere Erlebniswelt im Blick hat. Folglich erscheint er als Person, die eine gewisse Rücksichtslosigkeit aufweist und daher eine Gefahr für das harmonische Familienglück darstellt. Dies zeigt sich in Clerdons Verweis darauf, dass seine Frau Amalia »ausführlichen Bericht von ihm erstatten« wird. Clerdons Brief stammt von dem »8ten März« und thematisiert, dass er und die Familie längere Zeit keine Briefe von Sylli erhalten haben. Ihre Briefe vom 6. und 7. März, das sind die I. und II. Briefe der Sammlung, sind beide noch nicht in C** angekommen, als Clerdon am 8. März an sie schreibt.489 Dieses 487 Vgl. JWA 6,1, S. 109. 488 Ebd., S. 109f. 489 Vgl. Ebd., S. 108.

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Ausbleiben der Post aus E*** wird im VII. Brief, in einem Schreiben von Amalia an Sylli datiert auf »den 11ten März« erläutert.490 »Eine Überschwemmung, die bey E** die Brücke weggerissen und gewaltigen Schaden angerichtet hat, soll Schuld daran seyn.«491 Es kommt zwischen E*** und C** zu einer verzögerten Briefkommunikation, da der übliche Postweg nicht genutzt werden kann. Amalia wird erst in ihrem Brief an Sylli vom »20ten März«, das ist der XI. Brief der Sammlung, auf Clerdons Anweisung eingehen, ihr Näheres über Eduard Allwill zu erzählen.492 Clerdon hat Dich wegen Allwill auf mich verwiesen: ich würde Dir ausführlich von ihm erzählen. Das ist Nekkerey von ihm. Er weiß, daß ich nicht ganz seiner Meinung über den Helden bin, und will aus Rachsucht mich in die Verlegenheit setzen, entweder Partey wider meinen Herrn zu ergreifen, und um den Ruhm meiner gräzenlosen Unterthänigkeit zu kommen, oder ein wenig zu heucheln. Wirklich habe ich in dieser Verlegenheit Dir von Allwill nur obenhin geschrieben, und ihn blos vorkommen lassen, wo und wie er wirklich vorgekommen war. Das heißt Clerdon sich tückisch aus dem Handel ziehen. Er sagt: es sey unverantwortlich von mir, da mir die wahre große Andacht, die Allwill zu mir habe, bekannt sey, daß ich ihn so für eben viel behandelte.493 Clerdon und Amalia sind sich in ihrer Meinung über Allwill nicht einig, wodurch er als störende Person in der Familie weiter konturiert wird. Clerdon verweist darauf, dass Allwill Amalia in ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau in gewisser Weise sakralisiere und Amalia regelrecht verehre. Daher sei Amalias Abneigung gegenüber Allwill doppelt hart gegen ihn. Clerdon scheint daher Allwill gegenüber deutlich zugeneigter und verständnisvoller zu sein als Amalia. Clerdon sieht etwas in Allwill, was ihm seine Anwesenheit angenehm macht, während Amalia Allwills moralisches Handeln und damit seine Sittlichkeit anzweifelt. Im Verlauf der Briefsammlung wird sich innerhalb eines geschlechtsspezifischen Diskussionszusammenhangs zeigen, dass Amalias Einschätzung gegenüber Allwill durchaus ihre Berechtigung hat. Der XI. Brief der Sammlung ist ein undatierter Brief von Allwill an Clemens von Wahlberg, dem Bruder Syllis. Und Amalia – den möchte ich sehen, dem es nur von fern einfallen könnte, ihr etwas anders seyn zu wollen, als Gast an Clerdons Heerde. Mir ist sie gut, weil ich ihrem Clerdon anstehe, und weil mir der treuherzige Junge aus den Augen sieht. Ihre Jugend, ihre Schönheit hindern mich nicht, daß ich sie im vertraulicheren Umgange Mama heisse; ich wüßte mir auch keinen lieberen Namen für sie. Liebe Mama, Mama Meli, – wenn ich Dir sagen könnte, wie mir ist, wenn ich sie so heisse, und ich ihr dabey in das himmelhelle Angesicht schaue, das nur gut ist, und mich nur anlacht! – Ich fühle mich wie untergetaucht in Unschuld und Reinheit, und ich wüßte nichts so saures in der Welt, 490 Vgl. Ebd., S. 117–122, hier S. 117. 491 Vgl. Ebd., S. 118. In der Einleitung wird die Stadt, in der Sylli lebt, »E***« geschrieben, es folgen auf dem Buchstaben drei Sternpunkte. Die Stadt, bei der die Brücke weggerissen ist, wird »E**« mit zwei Punkten geschrieben. Dies könnte auf zwei unterschiedliche Orte hinweisen (oder eine formale Unachtsamkeit sein). Aus diesem Grund wird für Syllis Wohnort die Schreibweise der Einleitung im Text verwendet. Vgl. dazu auch die Einleitung: JWA 6,1, S. 95f, hier S. 95. 492 Vgl. Ebd., S. 139–145. 493 Ebd., S. 144.

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das ich alsdenn nicht unentgeldlich und mit Freuden thun könnte. Die Lauterkeit ihres Herzens übersteigt allen Glauben. Jedes Gute, jedes Schöne darin ist so ganz für sich selbst da, so ganz was es ist und scheint, unversetzt und unauflösbar; und kein Gefühl, kein Hang, kein Wunsch, nichts, das sich zu verhehlen, nichts, das sich zu verstellen hätte!494 Das Selbst-und Fremdbild Allwills zeigt deutliche Diskrepanzen auf, denn er ist der Meinung, dass Amalia ihm »gut« sei. Auch seine Rolle in der Familie schätzt er anders ein, als es die Briefe von anderen Figuren nahelegen. Er betrachtet sich nicht als harmoniezerstörender Störenfried in der Familie, sondern sieht in seinem Verhältnis zu Clerdon und Amalia eine sozial familiäre Etablierung. Er nennt Amalia »Mama«. Diese Rolle als Mutter, die er an ihr von der Natur vorgegeben betrachtet, ist es auch, was Allwill an Amalia sakralisiert. Ihre Art zu leben erscheint ihm natürlich und diese Natürlichkeit macht Amalias unverstellte Art aus. In Amalia und ihrer Funktion als Mutter und Ehefrau erblickt Allwill ein Natürlichkeitsideal, das ihn beeindruckt. Er stellt daher Amalia über andere und exklusiviert sie. Besonders hebt Allwill Amalias moralische Vorbildhaftigkeit hervor, die auf ihrer Lebenspraxis basiere und gedanklich ausgeklügelten Moralphilosophien vorzuziehen sei. Weg von diesen Allumfassern, hinab zu Amaliens Schemel, zu der Kurzsichtigen, zu der Armseligen, die nur ihren Mann liebt und ihre Kinder; allen übrigen Wesen nur gut ist, und in Wohltun gegen sie, aus voller Genüge, nur – überfließt, wie die Sonne von sich scheinet Licht und Wärme, nur – weil sie Licht ist und warm, und die Fülle hat. Tritt in den Umfang von Amaliens Sphäre: du stehst in Segen; das ist alles. Darum ist Amalia auch das bescheidenste Geschöpf; das demüthigste, möchte ich sagen, das man finden kann. Daß sie Gutes alles Art unermeßlich wirkt – darauf giebt sie nicht Acht; daß sie alle Pflichten erfüllt, alle Gebote hält – das weiß sie nicht; hat von den Gründen ihres durchgängigen Verhaltens nichts weniger als vollständige Begriffe, gar keine eigentliche Moral, kaum eine solche wie schon vor Jahrtausenden dem uralten Hiob eine zu Diensten stand. Wunderbar, daß Amalia zurechtkommt; denn sie ist auch nicht einmal, was man fromm heißt. Aber ich fodre eure eckelsten Mückenseiger auf, ihren Wandel nach der Strenge zu prüfen; und wenn er wird läugnen können, daß sie sündenfreyer, daß sie tadelloser sey (selbst nach so vielen Fratzenbegriffen unserer Zeit) als Eine; so will ich vor dem Mükkenseiger mich beugen und mich zu ihm bekehren.495 Allwill sieht in Amalia in der erfahrbaren Lebenspraxis eine moralische Person, die ihre Sittlichkeit aus sich selbst heraus hat, »wie die Sonne von sich scheinet«. Dieser natürlichen Moral ist sich Amalia Allwill zufolge nicht bewusst, denn im engeren Sinne hat Amalia »gar keine eigentliche Moral«. Für Allwill stellen die Moralphilosophen, die hier mit »Allumfassern« und »Mükkenseiger« benannt werden, artifizielle Kontrasthaltungen zu dieser natürlichen Moral dar.496 Dies schlägt eine Brücke zu der Vorrede, in der

494 Ebd., S. 127–136, hier S. 130. 495 Ebd., S. 133f. 496 Der Kommentar verweist darauf, dass »Mükkensieger« ein biblischer Ausdruck für die »Bezeichnung eines übelwollenden Kleinigkeitskrämers« sei. Vgl. JWA 6,2, S. 424.

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»den Moralisten« vorgeworfen wurde, dass sie »so viel verschweigen […] damit ihr allerhöchster Einfluß nicht geleugnet würde«.497 Allwill betont in diesem Brief mit Blick auf Amalia die philosophische Unbeschreibbarkeit des wirklichen ganzheitlichen menschlichen Lebens. Die Sittlichkeit Amalias hängt für Allwill mit ihrer natürlichen Mutterrolle zusammen und lässt diese als eine Moral der Natur erscheinen. Diese sittliche Natürlichkeit sei etwas im menschlichen Leben Ursprüngliches, denn es sei »kaum eine solche wie schon vor Jahrtausenden dem uralten Hiob eine zu Diensten stand«.498 Die Sittlichkeit Amalias, die sich aus ihrer Funktion als Mutter und Ehefrau ergibt, ist für Allwill eine in der Beschaffenheit des Menschen angelegte Gesinnung von Zwischenmenschlichkeit und daher eine Moral des Lebens. Diese Moral sei mit allen philosophischen Räsonnements nicht zu beschreiben und auch eine Vernunftmoral könne den Grad an Zwischenmenschlichkeit dieser aus dem Inneren des Menschen stammenden Wertvorstellungen nicht erreichen. Allwill sieht allein in der natürlichen Sittlichkeit von Amalia den Weg zur Glückseligkeit: Alle Moral – war sie doch von jeher blos philosophische Geschichte, speculative Entwickelung, Wissenschaft; und jene innere Harmonie, jene Einheit in Thun und Dichten (das Augenmerk emporstrebender Menschheit) allemal nur die Geburt irgend einer ersprießlichen Hauptneigung, welche den Menschen Beruf erteilte, und Plan! Wo Einheit der Neigungen entsteht, da macht sich die Einheit des Wandels von selbst; da bildet der Mensch seine erwählte Lage aus; formt sie je mehr, und mehr zum Ganzen: und nun je eingeschränkter von der Einen Seite; desto freyer von allen übrigen; verletzbar nur in Einem Punkte seines Wesens; in ihm selbst gewiß; muthig; begnügt; und darum unabhängig, edel, gefällig und von ganzer Seele gut. Greif es an allen Enden; Du wirst finden: gerader Sinn, dringendes Geschäfte, und darin Emsigkeit und Treue mit Lust, sind die Eckpfosten aller Glückseligkeit und Tugend.499 Diese kritischen Überlegungen zur Moral beruhen auf Allwills Anschauungen gegenüber Amalia. Ihre »Einheit der Neigungen« liegt darin, dass sie für ihren Mann und ihre Kinder da ist und darin eine vollkommene Erfüllung findet, sodass sie auch allen anderen Menschen wohl gesinnt ist. Von dieser Seite ist sie »eingeschränkt[]« und »verletzbar nur in Einem Punkte«, nämlich in ihrer Funktion als Mutter und Ehefrau. Allwill akzentuiert dies, denn Amalia »ist allen Menschen so gut […] und könnte doch, gewiß, im Falle der Noth sie alle missen, wenn ihr nur der Mann bliebe und ihre Kinder«.500 Diese Abhängigkeit von ihrem Mann und ihren Kindern gehe aber mit einer Sublimation der Seele einher, da diese Dependenz eine »Treue mit Lust« sei, auf der »Glückseligkeit und Tugend« basiere.501 Amalias Anhänglichkeit an ihrer Familie ist als »Lust« ein Gefallen an der Nähe und Fürsorge für diese Menschen, die in ihr ein Gefühl der Freude hervorrufen.502 Eine »Treue mit Lust« ist eine natürliche Hingabe, die intrinsisch und ohne Vernunftgründe

497 498 499 500 501 502

Vgl. dazu: JWA 6,1, S. 87–92, hier S. 90. Vgl. Ebd., S. 133. Vgl. auch: JWA 6,2, S. 424. JWA 6,1, S. 134. Vgl. Ebd., S. 133. Vgl. Ebd., S. 134. Vgl. Ebd.

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motiviert ist.503 Amalias Sittlichkeit ist aus diesem Grund in ihrem natürlichem Charakter gerade keine Moral, denn diese sei doch »von jeher blos philosophische Geschichte, speculative Entwickelung, Wissenschaft«.504 Für Allwill gibt es eine Kluft zwischen Wissenschaft und Leben, denn die Natürlichkeit einer Amalia ist mit einer Wissenschaft wie der Moralphilosophie nicht zu erklären. Hier tritt laut Allwill etwas Unerklärliches zu Tage, das im tiefsten Inneren des Menschen verankert sei. Außerdem findet er in Amalia ein Gegenbild zu einem zeitgenössisch romanhaften Mädchen-und Frauenbild. Der VI. Brief der Sammlung ist ein Brief von Allwill an Clerdon.505 Clerdon hatte diesen Brief als Beylage seinem auf »[d]en 8ten März« datierten Brief an Sylli beigefügt.506 Dort beschreibt Allwill zunächst, dass »[d]er Umgang des andern Geschlechts« ihn »unendlich [reizt]«, da »die artigen Geschöpfe […] so etwas sanftes, anschmiegendes [haben], was [ihm] behagt«.507 Gerade da er weiblichen Personen so verbunden sei und auch innige Beziehungen zu ihnen pflege, vertrete er die Ansicht, dass die an weiblichen Personen gestellten moralischen Erwartungshaltungen etwas Romanhaftes und damit etwas Imaginatives seien. Lieber, ich habe nichts dagegen, daß es Clarissen, Clementinen, Julien, und sogar heilige Jungfrauen von unbefleckter Empfängniß überall gebe: aber, ich bitte, nur keinen zu großen Lärm davon! Denn seht, diese erhabenen Einbildungen sind Schuld, daß so viele Menschen verächtlich von denen Weibern denken, die Gott gemacht hat; von Weibern für diese Erde; und nicht für den Mond, wohin diese Herren den Weg suchen. Sie schelten und klagen über Grausamkeiten, Treulosigkeiten, Abscheulichkeiten, Schandthaten, die sie von ihnen erfuhren, da doch die guten Geschöpfchen mehrenteils nicht einmal wissen, was das für Sachen sind. Toll, daß wir so hart gegen sie verfahren! Lassen wir sie, wie die Natur sie beliebt hat, ohne sie zu Engeln martern und versuchen zu wollen; alsdann werden sie uns sehr gerne lieben, und mit so viel Innigkeit, Vestigkeit und Großmuth, als ihre artigen lieben Seelchen nur vermögen.508 Die Namen Clarissa und Clementine verweisen auf zwei Briefromane Samuel Richardsons, die beide eine Protagonistin thematisieren, die sich dadurch auszeichnet, dass sie gegen alle Widerstände ihre Tugend bewahrt.509 Mit dem Namen Julie wird auf Rousseaus gleichnamigen Briefroman verwiesen, der ebenfalls mit der Protagonistin eine äußerst tugendhafte Frau ins Zentrum stellt.510 Allwill betont, dass es in der Wirklichkeit sicherlich äußerst tugendhafte Frauen gibt, aber dass man aus der Ausnahme nicht die Regel machen dürfe. Die Betrachtung der Frau als besonders moralisch sieht Allwill als ein männliches Konstrukt an, das wenig mit der Natur des Menschen gemein habe. Diese

503 504 505 506 507 508 509 510

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 113–117. Vgl. Ebd., S. 113. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 114. Vgl. JWA 6,2, S. 413f. Vgl. Ebd., S. 414.

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moralische Aufladung des weiblichen Geschlechts martere »sie zu Engeln« und verstelle die Perspektive auf sie, da sie doch Menschen »für diese Erde« seien. Allwill spricht sich für eine Entmoralisierung des weiblichen Geschlechts aus, da sie nur auf diese Weise als wirkliche Menschen betrachtet werden können und nicht an Figuren aus Romanen gemessen werden. Wenn dies der Fall ist, werden sie laut Allwills heteronormativer Perspektive männliche Personen »sehr gerne lieben«. Diese moralische Entlastung der Frau ist bei Allwill aber keineswegs emanzipatorisch motiviert. Dies zeigt sich in den Verniedlichungsgformen bezüglich des weiblichen Geschlechts wie »Geschöpfchen« und Seelchen«, die die Frauen in ihrer Darstellung klein erscheinen lassen.511 Diese Darstellungsart wird durch Allwills Postulat verstärkt, dass Frauen »mehrentheils nicht einmal wissen«, was moralische »Grausamkeiten, Treulosigkeiten, Abscheulichkeiten [und] Schandthaten« seien.512 Dies zeigt, dass Allwill mit seiner Forderung der sittlichen Wirklichkeitsnähe eigene Zwecke verfolgt. Der zwölfte Brief der Sammlung ist ein auf »[d]en 14ten März« datierter Brief Syllis an ihre Nichten Lenore und Clärchen, die ebenfalls in C** leben.513 Sylli nimmt hier Bezug auf den Brief Allwills, den Clerdon ihr als Beilage geschickt hat. Daß nur von Eduard keine Frage sey! An diesem Eduard in Eurer Mitte kann ich unmöglich Behagen finden; und ich sehe aus einem Briefe, den ich gestern von Clerdon erhielt, und der größtentheils von Allwill handelt, wie sehr dieser unter Euch gelitten ist. Was ich von ihm erfahre, was mir auch mein Bruder von ihm meldet, der doch gewaltig auf ihn hält, macht mich zittern für Unheil. Der unbändige Mensch mag wohl dabey ein wackerer Junge seyn, und es mit andern gewöhnlich besser meynen, als mit sich selbst: aber dadurch wird er nur gefährlicher; das giebt ihm die offene, unschuldige Miene, wogegen kein Rath ist, worauf man ihm die Hand von ferne reicht, sich ihm anschlingt, und Gemeinschaft mit ihm macht. Erst hintennach wird man gewahr, was er für unsichere Straßen wandelt, wie verwegen er im Handel ist, wie wohlfeil er seine Haut bietet, und folglich die seines Genossen mit …. Nun ein Mädchen, das seines Weges käme – diesem auszuweichen – wie wäre es möglich?514 In diesem Brief wird die zeitliche Struktur des Briefverkehrs näher beschrieben. Sylli kann sich hier aufgrund der Abfolge der Briefe ausschließlich auf Clerdons Brief vom 8. März beziehen, dort widmet er sich auch ausführlich dem Erzählen von zwei Begebenheiten aus Allwills Jugend. Sie schreibt, dass sie diesen Brief gestern, also am 13. März erhalten hat. Die Post zwischen E*** und C** braucht also in der Regel 5 Tage. Dies ist wichtig, da so klar wird, dass Sylli eine ganze Reihe mitgeteilter Briefe noch nicht erhalten hat und so ihr Wissensstand über die aktuellen Geschehnisse in C** immer nur zeitversetzt aktualisiert wird und ihre Reaktionen auf Ereignisse in C* ebenfalls die Familie lediglich zeitversetzt erreichen. Sylli sieht in Allwill eine Gefahr für die beiden Nichten, da er sie zwar nicht mit Absicht, aber letztlich doch unglücklich machen werde, wenn

511 512 513 514

Vgl. JWA 6,1, S. 114. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 145-149. Ebd., S. 147f.

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sich eine der beiden auf ihn einlassen sollte. Das Gefährliche an Allwill ist seine Unbeständigkeit, die in seiner vollkommenen Hingabe an die eigenen inneren Regungen begründet ist. Er gibt sich vollkommen seinem Herzen hin und dies lässt ihn moralisch so zwielichtig erscheinen, denn seine inneren Erregungen wandeln sich ständig und ändern immer wieder ihren Bezugspunkt. Im VI. Brief, das ist der Brief Allwills an Clerdon, der auch Sylli als Beylage vorliegt, stellt sich Allwill diese Diagnose selbst: »Aber bey allem dem, oder vielmehr eben deswegen, ist es mir ein unerträglicher Gedanke, von eben belobten Göttinnen irgend eine anzubeten: ihr in ganzem Ernste zu Füssen zu liegen.«515 Zwischengeschlechtliche Beziehungen erscheinen bei Allwill als eine Art launische Spielerei der Verliebtheit und als eine innere Regung der Zuneigung, aber er ist nicht fähig, eine tiefgehende innere Bindung einzugehen. Sylli liest dies aus Clerdons und Allwills Brief deutlich heraus und warnt ihre beiden Nichten am Ende ihres Briefes eindringlich vor einem Verhältnis mit einem solchen Menschen, wobei sie den Charakter Allwills als exemplarisch für männliche Unbeständigkeit im Lieben erachtet. Allwill ist daher eine Kontrastfigur zu Sylli. Allwill, der sich selbst eine besondere Innerlichkeit zuweist und sich spezielle Fähigkeiten im zwischenmenschlichen Umgang zuschreibt, ist allein schon durch diese selbsterhöhende Betrachtung des eigenen Ichs eine moralisch fragwürdige Figur. Allwill schreibt in dem IX. Brief der Sammlung an Clemens von Wallberg: Und gewiß, bester Wallberg, ich komme fast immer ganz unschuldig dazu; stifte auch überall viel mehr Gutes als Böses. Einen Anschlag auf irgendein weibliches Geschöpf zu machen, um es zu verführen, ist von jeher so fern von mir gewesen, daß ich einen Menschen, der dazu fähig ist, nicht ohne Haß und Eckel ansehen kann. Daß aber eine freundschaftliche Verbindung so warm und innig werde, daß sie ferner kein Maaß noch Ziel mehr wisse – wer könnte das Herz haben, sich davor zu hüten? – – – Mit Deinen Cousinen hat es keine Noth; die wandeln in einem Lichte, welches sie meiner Leuchte entübrigt.516 Im weiteren Verlauf der Briefsammlung wird jeder Satz widerlegt. Er stiftet mit seiner subjektiven Selbsterhöhung mehr Böses als Gutes, was selbst in Allwills Briefen durchschimmert, aber durch Briefe von anderen Figuren wie Sylli und vor allem durch den Brief von Luzie, das ist der letzte Brief dieser Sammlung, deutlich wird. Die aufgeworfene Problematik ist Allwills Verabsolutierung des eigenen Herzens, denn in der Konzentration auf die eigenen inneren Regungen wird er empfindungsblind gegenüber anderen. Er ist in seiner eigenen inneren Erlebniswelt versunken und nicht fähig, sich in die Erlebniswelt von anderen einzufühlen. Mit der Figur Allwill steht die Selbstverherrlichung und die moralische Instrumentalisierung der Natur im Vordergrund. Das heißt, dass er seinen inneren Regungen reflexionslos folgt und dies als natürlich betrachtet, denn das Herz als die Gesamtheit gefühlsbezogener Regungen wird von Allwill als Stimme der Natur im Menschen betrachtet. Dem Herzen zu folgen, sei daher natürlich, denn die inneren Regungen seien Eingebungen der Natur im Menschen. Es ist die Konzentration auf das Leben und nicht auf das Denken, die sich in der Anordnung der philo-

515 516

Vgl. Ebd., S. 113–117, hier S. 114. Ebd., S. 127–136, hier S. 130.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

sophischen Positionen durch die einzelnen Figuren ausdrückt. Dass Allwill Cläre gegen Clerdon beisteht, stellt zugleich die Verbindung zwischen den beiden her. Es kommt dazu, dass Allwill Klavier spielt. Dies dient als erkenntnistheoretische Evidenz, denn beim Musikhören wird nach Cläre »Etwas«, das außerhalb des Ichs liegt, wahrgenommen und durch die Empfindung verinnerlicht. Cläre wird von Allwill auf die Hand geküsst. Dies übt eine große Wirkung auf sie aus und darüber ärgert sie sich, denn sie merkt, dass ihr die Geste etwas bedeutet. Nicht zuletzt erscheint die aufkeimende Beziehung zwischen Allwill und Cläre als erkenntnistheoretische Evidenz für ihre Position, weil es außerhalb ihres Ichs etwas gibt, das sie affiziert und sie die Wirkung auf ihr Inneres nicht abwehren kann. Sie freut sich darüber, dass Allwill versucht, beim Essen einen Platz neben ihr zu bekommen. Gleichzeitig möchte sie aber nicht, dass es die anderen Personen mitbekommen. Ihr Inneres ist aufgewühlt, weil sie einerseits anfängt, für Allwill etwas zu empfinden, andererseits ist er die Person, vor der Sylli mit ihrer erfahrungsbasierten emotionalen Klarheit gewarnt hat. – Wenn Dir das Angst macht, liebe Sylli, so kann ich nicht dafür. Und ich muß Dir noch mehr entdecken: dieses nehmlich, daß ich mir unmöglich vorstellen kann, und es auch nicht will, daß es mit Allwill so arg sey, als Du es machst. Was soll denn einen Menschen gut machen, wenn nicht das, was Allwill in so reichem Maaße in sich trägt? Des Guten und Schönen in ihm ist zu viel, als daß es nicht dem Bösen Meister werden sollte. Wenn auch, wie Du versicherst, zugleich etwas ruchloses in ihm ist, so ist es ihm angethan; es ist nicht sein Eigenes; und niemand wird froher seyn; als er selbst, diesen bösen Geist los zu werden. Um anders zu denken, müßte ich nicht den armen Allwill allein; ich müßte der menschlichen Natur gram werden; und welche Freude könnte ich denn noch am Leben haben? Der bloße Gedanke schlägt mich nieder, und macht mich wehmütig – – –517 Cläre artikuliert die Möglichkeit, dass sie doch die eine sein könnte, die ihn ändert. Er erschiene ihr gar nicht so übel, wie Sylli ihn geschildert und prognostiziert habe. Das Böse in ihm ist Cläres Meinung nach von außen an ihn herangetragen worden. Das heißt, er wurde so geformt und ist so, wie er jetzt ist, weil ihm etwas »angethan« wurde. Das Ruchlose an ihm sei »nicht sein Eigenes«. Sie sieht in ihm so viel »des Guten und Schönen«, dass sie nicht glauben kann, dass er sich des Bösen in ihm nicht entledigen könnte. Sie bindet ihren Glauben an das Gute in Allwill an ihren allgemeinen Glauben an den Menschen. Mit der sich anbahnenden Beziehung zwischen Allwill und Cläre rückt die Frage nach der Aufrichtigkeit der eigenen inneren Regungen in den Vordergrund. Aufrichtige Empfindungen stellen sich im menschlichen Umgang als echt heraus und unterliegen keinerlei Schein oder Verstellung. Es ist ein Pendant zur Naivität, denn auch bei der Aufrichtigkeit geht es um eine unverstellte Offenbarung des eigenen Inneren. Im zwischenmenschlichen Bereich setzt Aufrichtigkeit im Gegensatz zur Naivität ein Bewusstsein über das eigene Innere voraus. Jemandem gegenüber aufrichtig zu sein, heißt sich dafür zu entscheiden, ehrlich und offen zu sein. Aufrichtigkeit ist ethisch betrachtet eine bewusste Naivität. Diese Aufrichtigkeit seiner Gefühle versucht Allwill mit einer empfindsam-idyllischen Szene auszudrücken. Allwills Brief an Cläre ist auf »[d]en 517

Ebd., S. 169f.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

30ten März« datiert und geht auf ihre philosophische Kontroverse ein.518 Am Ende des Briefes schreibt Allwill, dass Cläre »noch ein Selbstgespräch von« ihm erhält, das er »am zwanzigsten May des vorigen Jahrs, im Angesicht der herrlichen Linde auf meines Vaters Landhause, die Sie kennen«, geführt hat.519 Anders als bei den empfindsam-idyllischen Szenen von Sylli und Clerdon scheint bei Allwill die Frage nach der Authentizität des verschriftlichten »Selbstgespräch[s]« aufzukommen, denn er versichert, »[d]aß meine Urkunde nicht eine Erdichtung ist, werden Sie auf mein Wort, wenigstens auf einen Schwur bey jener Linde glauben«.520 Erquickendes Grün, die lieblichste Farbe im schönsten Wechsel, tanzend und spielend mit dem Lichte, – das ist es – Ja das, und weiter nichts, was deinen Blick an diese leisewehende Lindenkrone heftet; was mit sanftem Entzücken deinen Busen füllt; in dir alle Regungen der Liebe weckt, und dich begeistert! Das und weiter nichts?…Jener Leben und Liebe erweckende Schein, eine Schrift ohne Sinn und Sprache? Davon klopfte mir so das Herz, drängte mich so mein Geist, heiterte sich mein ganzes Wesen so; daß ich leere Züge ohne Bedeutung anschaute? Stille! – und näher hinzu! O rede, süßes Farbenspiel: rede und enthülle mir deine Wahrheit; denn auch in dir muß Wahrheit seyn! Du winkest mir aus deiner Herrlichkeit auf jene Blätter im Erstreben ihres höchsten Daseyns, wie sie längst den saftvollen Aesten in jugendlicher, kraftvoller Gestalt sich brüsten – Du winkest … O, höher schlägt mir das Herz, fröhlicher schwingt mein Geist seine Flügel: Ich sehe! – Die ganze Fülle, die ganze Kraft des Wesens da; das war es, was mich ergriff, mich durchdrang, sich mir darstellte, als ich erkannte und nicht wußte vor Entzücken! Wohl uns! So bringt die Natur ihren gesammten Inhalt dem Menschen ans Herz, und unterrichtet ihn auf die lieblichste Weise unmittelbar. Warum verstocken wir gegen sie unser Herz? Warum mißtrauen wir ihrer Weisheit und Liebe? Warum wollen wir ihre Offenbarungen für Trug; ihre Anweisungen für Fallstricke; ihre hohe Regierung für den Taumel eines Unsinnigen halten?521 Ein markanter Unterschied ist hier, dass Allwill mit dem Schreiben ein Naturerleben darstellt, das zeitlich nahezu ein Jahr in der Vergangenheit liegt. Dementsprechend wird eine zeitliche Distanz zwischen dem Erleben und der schriftlichen Mitteilung betont. Allwill bezeichnet die Darstellung dieser empfindsam-idyllischen Szene als »Selbstgespräch« und verweist darauf, dass er auch die Form eines schriftlichen Gesprächs aufruft.522 Im Gegensatz zu Sylli und Clerdon entwirft Allwill dieses Gespräch ausschließlich als für sich selbst geschrieben. Die Mitteilung der Naturerfahrung weist das Formprinzip der Unabsichtlichkeit auf, weil Allwill das verschriftlichte Selbstgespräch als Selbstäußerung für sich selbst im Sinne eines selbstreflexiven Vor-Augen-Legens seines eigenen Inneren arrangiert. Auf diese Weise erzeugt Allwill eine vertraute Nähe zu Cläre als Adressatin, indem er mit der Mitteilung eine Offenbarung seines Selbst erzeugt, indem er sein Inneres offen vor sie hin legt. Allwill erzeugt also, indem er diese empfindsam-idyllische Szene als für sich selbst geschrieben inszeniert, eine persönliche 518 519 520 521 522

Vgl. Ebd., S. 171–176, hier S. 171. Vgl. Ebd., S. 175. Vgl. Ebd., S. 176. Ebd. Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Nähe zu Cläre. Gleichzeitig zeigt diese empfindsam-idyllische Szene als Selbstreflexion die Ich-Zentriertheit Allwills auf, denn er impliziert diese Darstellung des Inneren als monologisch für sich selbst geschrieben. Er verschriftlicht sein Inneres für sich selbst und nicht wie Sylli und Clerdon für jemanden anderes, damit dieser an ihren Leben partizipieren kann. Mit dieser Monophonie artikuliert Allwill eine Selbstgenügsamkeit mit seinem eigenen Ich. Es wird mit der Betonung, Allwills Darstellung dieser empfindsamidyllischen Szene sei eine aufrichtige Schilderung seines Inneren, impliziert, dass es sich um eine bewusst künstliche Konstruktion von Nähe handelt. In diesem Sinne beinhaltet der Allwill Jacobis in der Spätfassung innerhalb dieses Briefes Allwills eine Reflexion der eigenen empfindsam geprägten Darstellungsmittel und ihrer Funktionen. Es wird mit der Figur Allwill thematisiert, dass das Formprinzip der Unabsichtlichkeit auch als Konstruktion von Nähe instrumentalisiert werden kann. Dementsprechend zeigt sich, dass Jacobis Allwill eine darstellerische Empfindsamkeitskritik enthält, die auch die eigenen Darstellungsmittel reflektiert. Die empfindsam-idyllische Szene steht bei Allwill in der Funktion, die Aufrichtigkeit seiner inneren Regungen gegenüber Cläre zu zeigen und sie von ihm zu überzeugen. Im Gegensatz zu den vorherigen empfindsamidyllischen Szenen bei Sylli und Clerdon erscheint das Empfindsam-Idyllische hier als Instrument eines pseudo-authentifizierenden Erzählverfahrens von Innerlichkeit für die Erreichung eines konkreten zwischenmenschlichen Ziels, und zwar die Annäherung Allwills an Cläre. Diese Zweckorientierung der inneren Aussprache Allwills findet sich in der Art und Weise der Naturbeschreibung wieder. Von Beginn an ist bei Allwills empfindsam-idyllischer Szene die Reflexionsstufe über den Prozess der Naturerfahrung sehr hoch, sodass nicht das Erleben sinnlicher Wahrnehmungen im Zentrum steht, sondern die Reflexion über dieses Erleben bildet den Fokus. Allwill reflektiert bereits in der ersten Passage der Szene, was ihn im Medium sinnlicher Reize und evozierten Empfindungen zu einer besonderen inneren Zustandsform führt. Das »erquickende[] Grün, die lieblichste Farbe im schönsten Wechsel, tanzend und spielend mit dem Lichte, – das ist es«.523 Allwill gibt sich nicht dem Erleben hin, sondern hinterfragt direkt, was ihn innerlich entzückt. Damit weist sein Naturerleben ein Erlebnisbewusstsein auf, dass das tatsächliche Erlebnis sinnlicher Berauschung naturaler Eindrücke infragestellt, denn im Moment des Erlebens konstituiert sich das Empfindsam-Idyllische eigentlich durch die Hingabe an die Empfindungen und das damit hervorgehobene Wechselverhältnis zwischen Äußerem und Innerem und Innerem und Äußerem. Bei Allwill steht aber nicht das Erleben von Empfindungen im Vordergrund, sondern die Hinterfragung von den Auslösern der Empfindungen. Dabei gibt Allwill seiner Erlebnisreflexion naturaler Eindrücke eine bestimmte Richtung, denn er fragt sich, ob die Natureindrücke »weiter nichts« als eine besondere Zustandsform in ihm hervorrufen und ob die Natur nur ein »erweckende[r] Schein, eine Schrift ohne Sinn und Sprache« sei.524 Er gibt dieser Frage Nachdruck, indem er sie noch einmal als deutlich rhetorische Frage erneut stellt: »Davon klopfte mir so das Herz, drängte mich so mein Geist, heiterte sich mein ganzes Wesen so; daß ich leere Züge ohne Bedeutung anschau-

523 Vgl. Ebd., S. 176. 524 Vgl. Ebd.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

te?«525 Es deutet sich an, dass Allwill ausdrücken möchte, dass die Natur und die von ihr ausgehenden Eindrücke auf eine Kraft zurückzuführen sind, die die Natur als etwas Sakrales erscheinen lässt. Allwill sucht in der Natur etwas Göttliches. Es geht ihm vom Beginn an nicht um die Natur als endliche Erscheinungen mit besonderem sinnlichen Wirkungspotential, sondern darum, einen Spiegel für das eigene Innere gefunden zu haben und so in dem Göttlichen in der Natur die eigene Göttlichkeit im Inneren zu erblicken. Es sind also nicht die sinnlichen Reize der Natur, die Allwills Naturerleben auszeichnen. Die Naturerfahrung Allwills ist geprägt durch seinen zweckorientiert suchenden Blick in die Natur. Er sucht das Sakrale als das Lebendige in allem Lebenden und impliziert eine pantheistische Naturauffassung. Anders als bei Sylli und Clerdon erlebt Allwill einen innerlichen Erweckungsmoment in einer Naturerfahrung und leitet aus den Natureindrücken das Unendliche ab, sodass die Natur ihm ihre »Wahrheit [enthülle]«.526 »O, höher schlägt mir das Herz, fröhlicher schwingt mein Geist seine Flügel: Ich sehe!« Allwill glaubt in der Natur, Gott zu erfassen und zu erkennen. Dieser vermeintliche Erkenntnisprozess ist eine Vitalisierung des eigenen Inneren, denn er ist von der »ganze[n] Fülle, d[er] ganze[n] Kraft des Wesens da« durchdrungen.527 Allwills Naturschilderung liest sich als Hervorhebung des eigenen Inneren, denn was er im Blick in die Natur sieht, ist das Göttliche in ihm, das die Natur als Spiegel auf ihn zurückwirft. Diese Ausdrucksform des Inneren ist eine Selbststilisierung als Mensch, der sich in seiner inhärenten Göttlichkeit erfährt. Es zeigt sich hier mit Allwill ein Ich, das sich nicht aus sich selbst heraus als geistige Daseinsentität erlebt wie Sylli und Clerdon, sondern als ein Ich, das ein Gegenüber als spiegelnde Projektionsfläche benötigt. Allwill weist daher einen Mangel an Selbstbewusstsein auf, was ihn zu einem verstellten Selbstbild führt, da er sich nur im Verhältnis zu anderen Menschen oder zur Natur selbstbestimmen kann. In diesem selbstbestimmenden Spiegelungsprozess bleibt er aber innerhalb seiner eigenen Subjektivität gefangen, denn er erfasst dadurch das Andere nicht als Anderes, sondern stets nur in Relation zu seinem eigenen Ich. Er ist dadurch subjektiv befangen. Bei dem Protagonisten Allwill ist markant, dass er seine empfindsam-idyllische Szene im Brief an Cläre auf ihre eigenen Bedingungen hinterfragt, da das EmpfindsamIdyllische als darstellendes Erzählverfahren des Inneren des Menschen fungiert und eine präreflexive Selbstaussprache durch Darstellung ermöglicht. Allwills Naturbeschreibung erscheint im Kontrast zu Sylli und Clerdon innerhalb der Diegese der Briefe der Briefsammlung jedoch als fingiertes Naturerleben. Bereits die einleitenden Worte, dass dieses verschriftlichte Selbstgespräch keine »Erdichtung« sei, gibt genau das Gegenteil vor.528 Darin zeigt sich das besondere Charakteristikum Allwills, denn es ist ihm kein Vorsatz vorzuwerfen. Sein Betrug gegenüber Cläre ist kein bewusstes Handeln, sondern impliziert die Problematik Allwills, die eigenen inneren Regungen selbst nicht einschätzen zu können und ihnen einen sublimen Wert beimessen zu wollen. Er ist eine moralisch zwielichtige Figur, weil er sich selbst betrügt, da er sein eigenes Handeln nicht

525 526 527 528

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

auf die innere Erlebniswelt anderer hinterfragt, sondern nur auf seine eigene. Mit Allwill wird vorgegeben, dass die Überwindung der eigenen Subjektivität und etwas außerhalb des Ichs auch als Nicht-Ich wahrzunehmen, gerade im zwischenmenschlich moralischen Bereich eine zu durchlaufende Entwicklung ist. Diese notwendigerweise zu durchlaufende Entwicklung wird in Briefen zwischen Allwill und Luzie, einer ehemaligen Geliebten von ihm, deutlich. Der XX. Brief ist ein undatierter Brief Allwills an Luzie. Der Brief Allwills an Cläre, der XVI. Brief der Sammlung, ist der einzige Brief Allwills, der datiert ist. Im Brief Allwills an Luzie rechtfertigt Allwill die Unbeständigkeit seiner inneren Regungen mit einer Berufung auf die Natur: Glaube mir, Holde, Liebe, das beste ist, wir bleiben eines Sinnes mit der Natur. Ihr Wesen ist Unschuld, und wenn wir annehmen, was sie uns nach Zeit und Umständen in die Ohren raunt, werden wir uns wohl befinden, als irgend jemand unter dem Monde. Wir brauchen starke Gefühle, lebhafte Bewegungen, Leidenschaften. Was man gewöhnlich mit einem vernünftigen klugen Wandel meint, ist eine erkünstelte Sache; und der Seelenzustand, den sie voraussetzt, ist zuverläßig derjenige, der am wenigsten Wahrheit in sich faßt.529 Allwill deutet seine innere Erlebniswelt im Sinne des Herzens als Stimme der Natur. Das bedeutet, dass er all seine Unbeständigkeiten mit der Natur legitimiert, da die Natur in der Befolgung ihrer Anweisungen zum Glück führe. Er sieht sich daher als Mensch, der »eines Sinnes mit der Natur« ist und seine Dynamik des Inneren, seine Hingabe, die nie lange bei etwas oder jemanden haften bleibt, ist seines Erachtens unschuldig, da die Eingaben der Natur moralisch und sittlich rein seien. Dies korrespondiert mit seiner psychischen Beschaffenheit, subjektiv befangen zu sein und neben seinem inneren Erleben kein anderes anzuerkennen, denn Allwill erfasst nicht, dass seine Moralvorstellung, die sich auf die Natur beruft, keine zwischenmenschlich gültige Tugend ermöglicht. Er verlegt Moral und Tugend vollständig ins Subjekt und entzieht sie damit ihrer eigentlichen Funktion, ein zwischenmenschliches Miteinander zu organisieren. Im Brief an Luzie unterstreicht er die Subjektivierung seiner Moralvorstellung mit der Negation von »feste[n] Grundsätzen«: Ich soll mich um feste Grundsätze bemühen, damit ich zu unwandelbarer Tugend gelange. Nun klingt es mir gerade so, wenn mir jemand vorschlägt, aus Grundsätzen tugendhaft zu werden, als wenn mir einer vorschlüge, mich aus Grundsätzen zu verlieben.530 Tugend wird bei Allwill auf die inneren Regungen im Menschen bezogen und nicht auf »feste Grundsätze«, sodass sich beständig auch das moralische und sittliche Handeln und Verhalten je nach der Situation und den Empfindungen ändert. Eine ähnliche Moralvorstellung wird auch der Protagonist Woldemar in Jacobis gleichnamigem Erzählwerk aufweisen. Hier wie auch dort – dies kann für den Woldemar vorweggenommen werden – ist eine solche Moralvorstellung an eine psychische Beschaffenheit des Protago529 Ebd., S. 193–202, hier S. 196. 530 Ebd., S. 196f.

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nisten gebunden, die damit beschrieben werden kann, dass das Ich von Allwill (und auch von Woldemar) wie in einer Blase gefangen ist und an allem Äußeren letztlich abprallt. Diese subjektive Befangenheit muss aufgebrochen werden. Beim Allwill wird dieser notwendige Aufbruch in Luzies Antwortbrief an Allwill geschildert, der als XXI. zugleich auch den letzten Brief der Sammlung darstellt. Auch er ist undatiert.531 Luzie führt Allwill seine eigene Vermessenheit vor Augen, sich im Selbstbild als besonderen Menschen, in dessen Herzen die Stimme der Natur spräche, zu verstehen: Allwill! Sie, eines Sinnes mit Natur! Sie, der immerwährend die ächtesten Bande der Natur auflöset; wahre, reine Verhältnisse zerstört, um erträumte, schimärische an die Stelle zu setzen – dann sich abarbeitet, alle Schwarzkünsteleyen zu Hülfe nimmt, um den wankenden Schatten zu befestigen; und da nichts destoweniger die Sonne ihn verrückt, dem Segens-Wandel der Sonne fluchet – Sie, Eines Sinnes mit der Natur?532 In diesem Briefwechsel zwischen Luzie und Allwill zeigt sich das grundlegende Problem einer abstrakten Berufung auf die Natur als moralische Richtschnur: die Subjektivität des Naturbegriffs. Allwill scheint unter dem Begriff der Natur etwas vollkommen anderes zu verstehen als Luzie. Sie wirft ihm vor, dass alles, was tatsächlich Natürlich sei, von ihm verworfen werde und er stattdessen »erträumte, schimärische« Dinge an ihre Stelle setze. Für Luzie ist Allwills Naturbegriff daher eine latente Sublimation subjektiver Werte im Deckmantel der Natur. Aus diesem Grund sieht Luzie bei Allwill keine Berufung auf eine ihrer Meinung nach wahrhaftige Natur, sondern nur die erkünstelte Legitimation des eigenen Handelns, das keine festen moralischen Grenzen mehr akzeptiert. Die Natur dient nach Luzie Allwill daher nur als Begründungsinstanz für die eigene moralische Entgrenzung. Luzies Brief verstärkt den Eindruck, dass dieses Erzählwerk in seiner Gesamtkomposition eine empfindsamkeitskritische Haltung einnimmt, denn Luzie spiegelt Allwill seine eigene Ich-Zentrierung wider. Sie macht ihm klar, dass all das, was er als gerechtfertigt durch die Natur betrachtet, nur eine subjektive Rechtfertigung eines sich moralisch entgrenzenden Menschen ist. Die titelgebende Figur steht in ihrer subjektiven Befangenheit sehr in der Kritik. Dabei besagt der Titel Eduard Allwills Briefsammlung, dass diese Sammlung von Briefen Eduard vorliegt und er als Besitzer dem herausgebenden Ich den Auftrag gegeben hat, diese Briefe zu veröffentlichen.533 Am Beginn der Vorrede wird direkt die Frage aufgeworfen, »[w]ie es Allwilln gelingen konnte, der ganzen Sammlung dieser Briefe habhaft zu werden, und sie zu seinem Eigenthum zu machen«.534 Gerade im Hinblick auf die Briefe zwischen Sylli und Clerdon und seiner Familie ist die Frage sehr relevant, da diese Briefe nicht immer einen direkten Bezug zu Allwill haben. Doch gerade die letzten beiden Briefe deuten die Möglichkeitsbedingungen für eine Entwicklung Allwills an. Die Briefe wurden ihm von den einzelnen briefschreibenden und adressierten Figuren wieder zurückgegeben, da sich in ihrer Gesamtheit eine Entwicklung andeutet, die Allwill dazu bringt, in einem ersten Schritt seine 531

Die Unterscheidung von datierten und undatierten Briefen in der Spätfassung von 1792 wird in Kapitel 4.1.3 näher untersucht. 532 JWA 6,1, S. 203–217, hier S. 207. 533 Vgl. dazu die Vorrede: Ebd., S. 87–92, hier S. 87. 534 Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

subjektive Befangenheit einzusehen. Mit der Handlung der Veröffentlichung, die, wie das herausgebende Ich klarstellt, von Allwill ausgeht, wird eine einsichtige Entwicklung skizziert, dass Allwill nun mit der Veröffentlichung dieser Sammlung beweist, dass er seine subjektive Befangenheit erfasst hat und die Publikation als Signal dient, durch sein Handeln aufzuzeigen, dass er seine selbstgenügsame Ich-Blase platzen lässt. Demnach zeigt sich im Reziprozitätsverhältnis zwischen den Erzählebenen der Herausgeberfiktion und der Briefe ein psychologischer Entwicklungsverlauf. Die Herausgeberfiktion ist eine extradiegetische Erzählebene und die Briefe bilden eine intradiegetische Erzählebene. Diese unterschiedlichen Erzählebenen stellen verschiedene Zeitpunkte dar, denn die Herausgeberfiktion wurde zeitlich deutlich nach den Briefen verfasst. Die Erzählebenen haben die Funktion, ein Zeitverhältnis auszudrücken. Die Geschehnisse, von denen die Briefe berichten, sind zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Sammlung längst vergangen. Auf diesen längeren zeitlichen Abstand weist das herausgebende Ich mit der Besprechung der Frühfassung hin.535 Diese Zeitspanne, die zwischen den Briefen und der Herausgeberfiktion liegt, zeigt an, dass Allwill im Verlauf dieser Zeit einen inneren Wandel durchlebt hat. Diese Abhängigkeit von der Zeit in der konkreten Zustandsform des Daseins ist in Jacobis Philosophie die Sukzession. In dem Wechselverhältnis der Erzählebenen wird die Implikation nahegelegt, dass sich Allwill im Lauf der Zeit zu einem anderen Menschen gewandelt hat und nun die Briefsammlung veröffentlichen lässt, um die damalige Beschaffenheit seines Inneren im Abgleich mit anderen Menschen darzustellen, um anderen ein Beispiel für die Befreiung aus der subjektiven Befangenheit zu sein, die Einsicht voraussetzt.

3.4 Jacobis Woldemar von 1796 Die Publikationsgeschichte der Woldemar-Schriften ist auf den ersten Blick unübersichtlich. Daher ist es wichtig, sich diesbezüglich einen Überblick zu verschaffen. Für die Darstellung der verschiedenen Woldemar-Schriften muss auf die Pionierarbeit von Frida David hingewiesen werden, die in ihrer Dissertation aus dem Jahr 1913 unterschiedliche Woldemar-Fassungen vergleichend untersucht. David strukturiert die Woldemar-Schriften zeitlich nach den Veröffentlichungsjahren und nach philosophischer oder narrativer Textsorte, was bei Jacobi allerdings verschmilzt und daher zu Unklarheiten führt. Die Entwicklungsgeschichte des »Woldemar« hat zwei Hauptphasen, von denen die erste durch die Veröffentlichungen der Jahre 1777, 1779 und 1781, die zweite durch die von 1794 und 1796 bezeichnet wird. […] Vier Veröffentlichungen gehören der ersten Phase an und zerfallen inhaltlich wieder in zwei Gruppen. Den zeitlich vorangehenden Fragmenten epischen Charakters Freundschaft und Liebe, erschienen 1777 im »Teutschen Merkur«, und »Woldemar«, der überarbeiteten Buchausgabe des genannten, 1779 in Flensburg erschienen, stehen zwei angeschlossene dialogartige Aufsätze philosophischen Charakters gegenüber, in denen die diskutierenden Personen aus dem Roman

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Vgl. Ebd., S. 91.

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subjektive Befangenheit einzusehen. Mit der Handlung der Veröffentlichung, die, wie das herausgebende Ich klarstellt, von Allwill ausgeht, wird eine einsichtige Entwicklung skizziert, dass Allwill nun mit der Veröffentlichung dieser Sammlung beweist, dass er seine subjektive Befangenheit erfasst hat und die Publikation als Signal dient, durch sein Handeln aufzuzeigen, dass er seine selbstgenügsame Ich-Blase platzen lässt. Demnach zeigt sich im Reziprozitätsverhältnis zwischen den Erzählebenen der Herausgeberfiktion und der Briefe ein psychologischer Entwicklungsverlauf. Die Herausgeberfiktion ist eine extradiegetische Erzählebene und die Briefe bilden eine intradiegetische Erzählebene. Diese unterschiedlichen Erzählebenen stellen verschiedene Zeitpunkte dar, denn die Herausgeberfiktion wurde zeitlich deutlich nach den Briefen verfasst. Die Erzählebenen haben die Funktion, ein Zeitverhältnis auszudrücken. Die Geschehnisse, von denen die Briefe berichten, sind zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Sammlung längst vergangen. Auf diesen längeren zeitlichen Abstand weist das herausgebende Ich mit der Besprechung der Frühfassung hin.535 Diese Zeitspanne, die zwischen den Briefen und der Herausgeberfiktion liegt, zeigt an, dass Allwill im Verlauf dieser Zeit einen inneren Wandel durchlebt hat. Diese Abhängigkeit von der Zeit in der konkreten Zustandsform des Daseins ist in Jacobis Philosophie die Sukzession. In dem Wechselverhältnis der Erzählebenen wird die Implikation nahegelegt, dass sich Allwill im Lauf der Zeit zu einem anderen Menschen gewandelt hat und nun die Briefsammlung veröffentlichen lässt, um die damalige Beschaffenheit seines Inneren im Abgleich mit anderen Menschen darzustellen, um anderen ein Beispiel für die Befreiung aus der subjektiven Befangenheit zu sein, die Einsicht voraussetzt.

3.4 Jacobis Woldemar von 1796 Die Publikationsgeschichte der Woldemar-Schriften ist auf den ersten Blick unübersichtlich. Daher ist es wichtig, sich diesbezüglich einen Überblick zu verschaffen. Für die Darstellung der verschiedenen Woldemar-Schriften muss auf die Pionierarbeit von Frida David hingewiesen werden, die in ihrer Dissertation aus dem Jahr 1913 unterschiedliche Woldemar-Fassungen vergleichend untersucht. David strukturiert die Woldemar-Schriften zeitlich nach den Veröffentlichungsjahren und nach philosophischer oder narrativer Textsorte, was bei Jacobi allerdings verschmilzt und daher zu Unklarheiten führt. Die Entwicklungsgeschichte des »Woldemar« hat zwei Hauptphasen, von denen die erste durch die Veröffentlichungen der Jahre 1777, 1779 und 1781, die zweite durch die von 1794 und 1796 bezeichnet wird. […] Vier Veröffentlichungen gehören der ersten Phase an und zerfallen inhaltlich wieder in zwei Gruppen. Den zeitlich vorangehenden Fragmenten epischen Charakters Freundschaft und Liebe, erschienen 1777 im »Teutschen Merkur«, und »Woldemar«, der überarbeiteten Buchausgabe des genannten, 1779 in Flensburg erschienen, stehen zwei angeschlossene dialogartige Aufsätze philosophischen Charakters gegenüber, in denen die diskutierenden Personen aus dem Roman

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Vgl. Ebd., S. 91.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

genommen sind; der erste ist, wie die Buchausgabe des Romanfragments, 1779 erschienen und zwar im »Deutschen Museum« unter dem Titel »Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit«, dessen Überarbeitung […] unter dem Titel »Der Kunstgarten« in den »Vermischten Schriften« 1781 [veröffentlicht wurde.].536 Die posthum erschienene Woldemar-Fassung der gesammelten Werkausgabe des Jahres 1820, die von Friedrich Roth herausgegeben worden ist, muss dieser Darstellung noch hinzugefügt werden. Sie übernimmt allerdings die Fassung von 1796 und in einem Anhang hat Roth die Textpassagen gesammelt, die Jacobi aus den Spätfassungen im Vergleich zu den Frühfassungen gestrichen hatte und wieder hinzufügen wollte. Jacobi publiziert die erste Woldemar-Fassung unter dem Titel Freundschaft und Liebe. Eine wahre Geschichte, von dem Herausgeber von Eduard Allwills Papieren im Teutschen Merkur, den Jacobi zusammen mit Wieland ins Leben gerufen hatte. Im Mai, Juni, Juli, September und Dezember erscheinen die fünf Abschnitte, die die erste Woldemar-Fassung darstellen.537 Schon in den frühen 1770er Jahren schrieb Jacobi ein Vorwort zu seiner französischen Übersetzung von Gedichten seines Bruders und fing auf diese Weise an, selbst zu schreiben. So war es Christoph Martin Wieland, der Jacobi prognostizierte, dass er ein großer deutscher Schriftsteller werden könnte, wenn er sich denn dazu entscheiden sollte, einer zu werden.538 Es war auch Wielands Geschichte des Agathon, die Jacobi im Jahr 1771 als Projektionsfläche eigener romantheoretischer Überlegungen diente.539 Wieland hatte Jacobi dazu aufgefordert, ihm brieflich Anmerkungen zu einem Agathon-Manuskript zuzusenden.540 Vor dem Hintergrund, dass die ersten Woldemar-Schriften im Teutschen Merkur erscheinen, sollte die Bedeutung Wielands nicht zu gering veranschlagt werden. Vielmehr scheint Jacobi mit seinen »Fragmenten epischen Charakters«, wie sie David bezeichnet, seine romantheoretischen Agathon-Überlegungen mit diesen Schriftstücken verwirklichen zu wollen. Jacobi sieht im Agathon das Handlungsschema einer sich allen Widerständen zum Trotz beweisenden Tugend. Bemerkenswert ist, dass sich in der Agathon-Korrespondenz mit Wieland Jacobis religionsphilosophische Position bereits andeutet. Wie Walter Erhart bereits bemerkte, steht für Jacobi »[n]icht die ›Vollendung‹ eines Fragments« im Fokus.541 In seinem Brief vom 20.08.1772 an Wieland thematisiert er das Gespräch zwischen Agathon und Hippias, in dem »Hippias [seinem] Schüler das Daseyn eines obersten Geistes streitig machen [will]«.542 Die oberste Priorität ist für Jacobi, dass Agathon »ein paar Einwürfe des Hippias bündiger beantworten« müsse. Ja536 Frida David: Friedrich Heinrich Jacobis »Woldemar« in seinen verschiedenen Fassungen. Leipzig 1913, S. 1–9, hier S. 7. 537 Eine Besprechung dieser Fassung im Vergleich zur ersten Buchfassung von 1779 ist in Kapitel 4.2 enthalten. 538 Vgl. Wielands Brief an Jacobi vom 11.04.1771: JBW 1,1, S. 105f, hier S. 105. 539 Eine briefliche Korrespondenz über die Geschichte des Agathon führen Wieland und Jacobi vom August bis zum November 1772. Vgl. JBW 1,1, S. 159–177. 540 Es wird sich bei diesem Agathon-Manuskript um eine von Wieland überarbeitete Version der Erstfassung von 1766/1767 handeln. Jacobi bestätigt den Erhalt dieses Manuskripts in einem Brief an Wieland vom 20.08.1772. Vgl. JBW 1,1, S. 159–162, hier S. 159. 541 Vgl. Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung: Christoph Martin Wielands »Agathon«-Projekt. Tübingen 1991, S. 245. 542 Vgl. JBW 1,1, S. 159–162, hier S. 160.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

cobi missfällt die Antwort von Agathon, da sie darauf hinauslaufe, dass für Agathon das Dasein Gottes nicht als notwendig existent erscheint, sondern auf die Sätze hinauslaufe: »ich bedarf eines obersten Geistes, er ist also«.543 Es ist bisher unbeachtet geblieben, dass Jacobi an dieser Stelle in Auseinandersetzung mit Wielands Agathon religionsphilosophische Perspektiven darlegt, die für sein weiteres Schaffen von zentraler Bedeutung sind.544 So heißt es in Jacobis Brief vom 20.08.1772 an Wieland: Aus endlichen Theilen kann kein unendliches Ganze zusammengesetzt werden; eine bestimmte Anzahl von Veränderungen kann keine Ewigkeit ausfüllen, und an und für sich bestimmen muß diese Anzahl sich lassen, weil eine aus der anderen sich entwickelt. Von meinem Tische bis an die Thür meines Cabinets ist es nicht weiter, als von der Thür an meinen Tisch; nun läugnet kein Mensch, daß ein fortschreitendes Geschöpf nie die zukünftige Ewigkeit ausleben könne: wie ist es also möglich, daß ein progressives Ding eine Ewigkeit ab ante zurückgelegt habe? Mein Verstand verwirft diesen Gedanken als die augenscheinlichste Ungereimtheit. Ich muß zuletzt etwas Stetiges annehmen; vor der ersten Bewegung eine Ursache der Bewegung, die etwas anderes als Bewegung ist. Alles, was man mir gegen diese erste Ursache einwenden möchte, z.B. warum sie nicht früher oder später den Weltbau angeordnet u.d.m., läuft nur auf Unbegreiflichkeiten hinaus, macht die Idee seines Daseyns nicht zur Ungereimtheit.545 Für Jacobi kulminieren diese »Unbegreiflichkeiten« in der Erfassung, dass ein Gott als ›oberster Geist‹ sein müsse. Jacobi pointiert dies im Brief an Wieland: Daß die erste Ursache vernünftig seyn müsse, läßt sich aus dem Factum beweisen, daß vernünftige Wesen vorhanden sind: ex nihilo nihil. […] Noch einmal, ich weiß gar nichts von der Natur dieses Wesens; ich verstehe nicht, wie ein allgenugsames Wesen den Willen haben kann, etwas hervorzubringen; aber sein Daseyn muß ich annehmen, oder alle Erkenntnißgründe der Wahrheit, alle Gesetze des Denkens aufgeben.546 Hier wird die für Jacobi so wichtige Differenzierung zwischen Erfassen und Erkennen sichtbar und die Anlegung eines doppelten Vernunftbegriffs, wobei ein Vernunftbegriff Bezug auf die Endlichkeit des Menschen nimmt. Vernunft ist eine Beschaffenheit und »ein Werkzeug« des Menschen,547 während sich der transzendente Vernunftbegriff auf die »erste Ursache« bezieht.548 Sie ist »das Prinzip der Erkenntnis« überhaupt, im Verständnis einer »Urquelle« geistiger Kraft.549 Im Gegensatz zu Erharts Postulat, dass für Jacobi »der systematische Ausbau einer im Roman wirksamen Moraltheorie« das erste

543 Vgl. Ebd. 544 Darauf hat auch Friedrich Vollhardt hingewiesen: Friedrich Vollhardt: Die Peripherie des Zirkels. Jacobi im Gespräch mit Wieland, Hemsterhuis und Herder. In: Cornelia Ortlieb/Ders. (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819). Romancier – Philosoph – Politiker. Berlin 2021, S. 45–62. 545 Ebd., hier S. 161. 546 Vgl. Ebd. 547 Vgl. dafür die Beilage VII der Spinozabriefe von 1789: JWA 1,1, S. 247–265, hier S. 259. 548 Vgl. JBW 1,1, S. S. 159–162, hier S. 161. 549 Vgl. JWA 1, 1, S. 247–265, hier S. 260. Sowie: Vgl. die Beilage II des Briefes an Fichte JWA 2, 1, S. 232–237, hier S. 232f.

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Anliegen seiner Agathon-Kritik darstelle, muss der Befund starkgemacht werden, dass es eine religionsphilosophische Positionierung ist, die für Jacobi die oberste Priorität seiner Kritik zu sein scheint.550 Die interdisziplinäre Forschungsprogrammatik, Menschheit sowohl erklärlich aber auch unerklärlich zu schildern, ist schon vor dem Entstehen seiner eigenen Erzählwerke ein romantheoretisches Anliegen Jacobis. Die Frühfassungen seiner Erzählwerke werden im Sinne dieser Überlegungen versuchen »Daseyn zu enthüllen« und zu zeigen, »was im Menschen der Geist vom Fleische unabhängiges hat«.551 Im Gegensatz zu Jacobis Allwill liegt beim Woldemar eine Nähe zu seinen romantheoretischen Überlegungen zum Agathon Wielands allein in der narrativen Anlage der Schriften vor. Beginnend mit der ersten Fassung von 1777 ist der Woldemar als Erzähltext gestaltet, der von einer heterodiegetischen Erzählinstanz vermittelt wird und grenzt sich so deutlich vom Briefroman ab. Die ersten Woldemar-Schriften erscheinen als »fragmentarische[] Fortsetzungsstücke[] im Teutschen Merkur« im Jahr 1777 und diese Fassung wird oftmals mit der ersten Buchfassung von 1779 gleichgesetzt.552 Diese Gleichsetzung dieser beiden Fassungen ist problematisch, denn die erste Buchfassung ist nicht vollkommen identisch mit den »Fortsetzungsstücken« und fügt die einzelnen Passagen nicht nur zusammen, sondern weist entscheidende Veränderungen auf.553 Jacobi merkt bei dem letzten Erzähltext der periodisch erschienen Texte von Freundschaft und Liebe in einer Fußnote an, dass die Zersplitterung in verschiedene Teile die Einfühlung in die Geschichte erschwere: Es geschieht mit dem größten Widerwillen, daß ich das gegenwärtige Stück von Freundschaft und Liebe besonders drucken lasse, zumal da schon zween Monate seit der Bekanntmachung des vorgehenden verstrichen sind. Es ist nicht genug, daß der Leser den Gang der Geschichte im Gedächtniß habe; dieser Gang, alle Wendungen desselben, müssen seiner Empfindung gegenwärtig seyn, gegenwärtig bis aufs geringste, und in einem einzigen unzerteilten Eindruck beysammen und wie ist solches in einem abgebrochenen Lesen, welches sechs Monate hindurch gedauert, nur in etwa möglich?554 Der Teutsche Merkur ist als Publikationsmedium für Erzählwerke wie dieses nach Jacobi nicht geeignet, da das periodische Erscheinen die Mitempfindung störe. Die Geschehnisse der Erzählung müssten »in einem einzigen unzerteilten Eindruck beysammen« sein und das periodische Erscheinen verhindere dies. Die Entstehung der ersten Buchfassung des Woldemar ist vor dem Anliegen zu betrachten, einen zusammenhängenden Text zu veröffentlichen, der es ermöglicht eine Mitempfindung zu evozieren, die »alle

550 Vgl. Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung: Christoph Martin Wielands »Agathon«-Projekt. Tübingen 1991, S. 245. 551 Vgl. Jacobis Brief an Hamann vom 16.06.1783: JBW 1,3, S. 161–164, hier S. 163. 552 Vgl. Kurt Christ: F.H. Jacobi Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg, Königshausen & Neumann, 1998, S. 246–250, hier S. 248. 553 Vgl. für die dezidierte Besprechung von Unterschiede zwischen den Woldemar-Fassungen von 1777 und 1779 das Kapitel 4.2 dieser Untersuchung. 554 Friedrich Heinrich Jacobi.: Freundschaft und Liebe. Eine wahre Geschichte, von dem Herausgeber von Eduard Allwills Papieren. In: Der Teutsche Merkur vom Jahr 1777. Viertes Vierteljahr. [Hg. von Christoph Martin Wieland] Weimar 1777, S. 246–267, hier S. 246f.

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Wendungen« der Geschehnisse »in einem einzigen unzerteilten Eindruck« vergegenwärtigt. Die erste Buchfassung des Woldemar ist jedoch selbst ein Fragment, denn in der Vorrede werden zwei fortsetzende Bände angekündigt, die nie erscheinen werden.555 Die Frühfassung des Woldemar von 1779 bleibt in der angedeuteten dreibändigen Konzeption ein einbändiges Fragment. Im Jahr 1779 veröffentlicht Jacobi eine Schrift im Deutschen Museum mit dem Titel Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit. Aus dem zweiten Bande von Woldemar. David differenziert diese Schrift von den früheren Woldemar-Schriften und klassifiziert sie als einen »abgeschlossene[n] dialogartige[n] [Aufsatz] philosophischen Charakters, in denen die diskutierenden Personen aus dem Roman genommen sind«.556 Christ dagegen sieht diese Woldemar-Schrift noch mit dem ersten Band der Buchfassung des Woldemar verbunden. Er sieht erst die erweiterte Überarbeitung, die im Jahr 1781 in Jacobis Schriftensammlung Vermischte Schriften erscheint, als die Verwerfung der frühen Woldemar-Konzeption.557 Nach Christ und David gibt die Schrift von 1779, die laut ihrem Titel aus dem zweiten Teil des geplanten Woldemar-Bandes stammt, keinerlei Hinweise darauf, wie die Handlung im zweiten Band des Woldemar weitergeht, da diese Schrift vielmehr als philosophische Schrift zu klassifizieren sei.558 Die erste Schaffensphase des Woldemar endet 1781 mit der Schrift des Kunstgarten und einem Romanfragment. Zur Übersicht ist es wichtig klarzustellen, dass diese beiden Texte jeweils in zwei verschiedenen Fassungen vorliegen. Die philosophische Schrift liegt einmal in der Fassung von 1779 mit dem Titel Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit. Aus dem zweiten Bande von Woldemar vor, die im Deutschen Museum erschienen ist. Die erweiterte Fassung veröffentlicht Jacobi 1781 unter dem Titel Der Kunstgarten. Ein philosophisches Gespräch in seiner Schriftensammlung Vermischte Schriften. Zusätzlich ist auch zu betonen, dass anders als in bisherigen Betrachtungen der Woldemar-Schriften in dieser Untersuchung zwischen einer Fassung von 1777 und 1779 des Erzähltexts Woldemar unterschieden wird.559 Die periodisch erschienenen Erzählpassagen im Teutschen Merkur stellen die erste Woldemar-Fassung dar und die überarbeitete und zusammenhängende Fassung von 1779 mit dem Titel Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte ist die erste Buchfassung. David hat verdeutlicht, dass die Woldemar-Schriften »verschiedene Entwicklungsstadien« haben, die sich grundlegend in die vorgestellte frühe Phase 1777–1781 und in die späte Phase 1794–1796 unterteilen lassen. Die letzte Fassung von 1820 muss im Bezug zu der späten Schaffensphase betrachtet werden, da sie die Fassung von 1796 erneut abbildet und lediglich einen Anhang von ehemaligen Streichungen früherer Woldemar-Schriften enthält. Jacobi ist zu dieser erneuten Überarbeitung des Woldemar nicht mehr gekommen und der Herausgeber Friedrich Roth erklärt, dass Jacobi die konkreten Stellen der

555 Vgl. JWA 7,1, S. 5. 556 Vgl. Frida David: Friedrich Heinrich Jacobis »Woldemar« in seinen verschiedenen Fassungen. Leipzig, Voigtländer, 1913, S. 1–9, hier S. 7. 557 Vgl. Kurt Christ: F.H. Jacobi Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg, Königshausen & Neumann, 1998, S. 246–250, hier S. 248. 558 Vgl. Ebd., S. 246–250. Und: Frida David: Friedrich Heinrich Jacobis »Woldemar« in seinen verschiedenen Fassungen. Leipzig, Voigtländer, 1913, S. 1–9, hier S. 7. 559 Vgl. für eine ausführliche Begründung das Kapitel 4.2 dieser Studie.

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Erweiterungen nicht erläutert hätte, sodass diese von Roth bloß in einem Anhang mitveröffentlicht wurden.560 David betont die Differenz zwischen den »verschiedenen Entwicklungsstadien« des Woldemar, da sie eine »genetische Betrachtung« dieser Schriften aufzeigen und analysieren möchte.561 Sie betrachtet daher die beiden wesentlichen »Entwicklungsstadien« der frühen (1777–1781) und späten (1794–1796) Phase als jeweils in sich abgeschlossen. Es ist das Hauptanliegen Davids deutlich zu machen, dass die Spätfassungen des Woldemar keine bloßen Erweiterungen der ersten Buchfassung darstellen, sondern auf der Grundlage der frühen Fassung eine neue Begebenheit erzählt wird.562 Dies geht aus Jacobis Widmung an Goethe, die er der Fassung von 1794 voranstellt, deutlich hervor. Dort heißt es: Ich suchte nach einem Woldemar; es war kein Exemplar zu finden. Sechs Wochen gingen hin; – nun lag das Büchlein vor mir, und ich fürchtete mich es anzusehen./Wohl dem Büchlein, daß ich nicht erst verzagt darin nur blätterte, sondern beherzter es von vorn anfing. Der Anfang machte mir Muth, und auch in der Folge fand ich manches gut genug, um derjenige wohl seyn zu mögen, der es geschrieben hatte. Dagegen aber widerstand mir auch Vieles darin im höchsten Grade. Vornehmlich empörten mich die letzten Blätter, und ließen mir einen solchen unerträglichen Nachgeschmack, daß ich gern mit einem Zauberschlage das kleine Ungeheuer vernichtet hätte, wenn es in meiner Macht gewesen wäre. […] Endlich hatte ich so viel Arbeit und Mühe gehabt, daß der Gedanke an eine gänzliche Umarbeitung, und an eine Vollendung des Werkes nach einem neuen Plane, der sich anfangs nicht von Weitem hätte zeigen dürfen, aufkommen und zum Entschluß werden konnte.563 Die Spätfassungen stellen damit ausdrücklich keine Erweiterung der frühen Schaffensphase dar, sondern verwirklichen einen »neuen Plan[]«. Die zweite Schaffensphase des Woldemar fällt in die 1790er Jahre und es liegen nahezu 13 Jahre zwischen diesen Phasen. In dieser Zwischenzeit der verschiedenen Schaffensphasen des Woldemar hat Jacobi eine ganze Reihe von philosophischen Schriften veröffentlicht. Darunter sind zwei Ausgaben seines wohl prominentesten Werks Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn in der ersten Auflage 1785 und in der erweiterten Auflage 1789 erschienen. Aber auch die Schrift David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus publiziert im Jahr 1787 erschien in dieser Zwischenzeit der beiden Woldemar-Schaffenspha-

560 So heißt es in der Vorrede von Friedrich Roth zu der Woldemar-Ausgabe von 1820: »Nach einem Exemplare dieser letzten Ausgabe [1796], welches der Verfasser selbst durchgesehen und an einigen Stellen verbessert hat, ist gegenwärtiger Abdruck veranstaltet worden. Daß demselben die Zueignung an Göthe wieder vorgesetzt würde, hat der Verewigte [der im Jahr 1819 verstorbene Jacobi] selbst angeordnet. Er war auch willens, einige Arbeiten der ersten Hand, die er aus der Ausgabe von 1794 und der folgenden ausgeschlossen hatte, wieder aufzunehmen. Da er aber dieses nicht selbst ausgeführt, noch darüber wie es geschehen sollte, sich erklärt hat, so glaubte ich die erwähnte Absicht nicht anders als durch Aufnahme jener Stücke in einen Anhang erfüllen zu dürfen.« Vgl. JWA 7,1, S. 206. 561 Vgl. Frida David: Friedrich Heinrich Jacobis »Woldemar« in seinen verschiedenen Fassungen. Leipzig, Voigtländer, 1913, S. 1–9, hier S. 7f. 562 Vgl. Ebd. 563 Vgl. JWA 7,1, S. 206f, hier S. 207.

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sen. Mit der interdisziplinären Forschungsprogrammatik menschliches Dasein zu enthüllen, indem es wirklichkeitsgetreu abgebildet wird, setzt Jacobi seine Spätfassungen gezielt in ein Verhältnis zu seinen philosophischen Positionen.564 Zu ergründen ist, wie sich dieses Verhältnis auf die Diegese der Spätfassungen auswirkt. Im Fassungsvergleich ist zu erörtern, warum es gerade das Ende der ersten Buchfassung ist, das für Jacobi einen »unerträglichen Nachgeschmack« hinterlässt.565 Es gibt zwischen den beiden Spätfassungen von 1794 und 1796 aber auch zwei wesentliche Differenzen. Die Widmung an Goethe ist lediglich der Fassung von 1794 vorangestellt, nicht aber der Fassung von 1796. Der textkritisch wichtigste Unterschied dieser beiden Fassungen ist allerdings, dass die Spätfassung von 1796 einen längeren Textabschnitt enthält, in dem eine moralphilosophische Diskussion einer salonkulturell geprägten Gesellschaft thematisiert wird. Zusätzlich enthält die Fassung von 1796 eine familiäre Nachbesprechung dieser hitzigen Kontroverse, da vor allem die Figuren Woldemar und Eberhard Hornich als antagonistische Gesprächspartner fungieren und die patriarchalische Autorität Hornichs durch das Widersprechen Woldemars unterlaufen wird.566 Dieser Textabschnitt ist für das gesamte Erzählwerk von entscheidender Bedeutung, da durch diese Diskussion der Protagonist Woldemar psychisch näher skizziert wird. Die Kontroverse zeigt den Protagonisten Woldemar in einer spezifischen Lebenslage, die mit einer speziellen innerlichen Beschaffenheit korrespondiert und ein bestimmtes Stadium seiner Entwicklungsgeschichte darstellt. Diese Entwicklungsgeschichte Woldemars bekommt daher in der Spätfassung von 1796 deutlichere Konturen im Vergleich zur Fassung von 1794. Die Konzeption der Spätfassungen zeigt sich in der Fassung von 1796 vollendeter als in der Fassung von 1794. Aus diesem Grund wird diese Fassung im Fokus dieser Untersuchung stehen. Die Spätfassung von 1796 steht im Vordergrund dieser Untersuchung, da in dieser Spätfassung die Entwicklungsgeschichte Woldemars in besonderer Weise ausgeführt ist. Diese Entwicklung des Protagonisten Woldemar steht unter besonderer Berücksichtigung von empfindsam-idyllischen Szenen als Erzählverfahren von Innerlichkeit im Vordergrund. Bisher ist es in der Forschung ein Desiderat geblieben, die Entwicklungsgeschichte des Protagonisten in der Spätfassung herauszuarbeiten. Es wird gezeigt, dass Jacobis Woldemar von 1796 mit einem spezifischen Entwicklungsmuster in den um 1800 vielschichtig kursierenden Diskussionszusammenhängen von Bildung und des Bildungsromans eingeordnet werden muss. Damit wird auch Jacobis Selbstbeschreibung Rechnung getragen, dass es für ihn das Ende der Frühfassung von 1779 war, das ihn empörte.

564 Vgl. Werner Ludwig Euler: Die Bestimmung des Menschen. Philosophische Aspekte in Friedrich Heinrich Jacobis Woldemar. In: Cornelia Ortlieb/Friedrich Vollhardt (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819). Romancier – Philosoph -Politiker. Berlin 2021, S. 105–170. 565 Vgl. Ebd. 566 Vgl. für diese Textpassage, die erst in der Spätfassung von 1796 enthalten ist: JWA 7,1, S. 243–273.

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3.4.1 Konträre Zustandsformen: Biderthals Familienglück und Woldemars Aufbegehren im Inneren Das Erzählwerk beginnt mit einer Art Exposition, indem die wesentlichen Figuren vorgestellt werden. Diesbezüglich ist es wichtig, dass das Erzählwerk nicht mit der Vorstellung des titelgebenden Protagonisten beginnt, sondern mit der Beschreibung einer Familie. Eberhard Hornich hat drei Töchter: Caroline, Henriette und Luise. Caroline heiratet den weltgewandten und reichen Herrn Dorenburg.567 Die Vorstellung der Figuren geschieht durch eine Erzählinstanz, die selbst nicht als Figur der Erzählung auftritt. Diese heterodiegetische Erzählinstanz ist von Beginn an dadurch gekennzeichnet, dass sie mehr weiß, als einzelne Figuren wissen können, und dass sie Einblicke in das Innere verschiedener Personen hat. So wird Dorenburg als »heiterer Mann von gesetzten Wesen, und unbestechbaren Charakter« beschrieben.568 Die Erzählinstanz weist eine Nullfokalisierung auf, weil sie weiß, dass Dorenburg »[d]ie feineren Vergnügen liebte« und sich »nie an etwas [hängte], was ihm nicht durch wohlgeprüftes eigenes Gefühl empfohlen wurde«.569 Zu Beginn des Woldemar ist auffällig, dass das Erzählverhalten anfangs allen Figuren gegenüber als neutral erscheint. Nach Hornich, dessen Töchtern und Dorenburg wird die Figur des Biderthal eingeführt. Er ist »ein junger Rechtsgelehrter« und der »vertrauteste[] Freund« Dorenburgs.570 Beide sind in B** »Fremdling[e]«.571 Zwischen Dorenburg und Biderthal entwickelt sich eine besondere Freundschaft: Die Aehnlichkeit ihrer Neigungen und Grundsätze, der Eifer, den sie gegenseitig in sich erweckten, die Hülfe, die sie einander leisteten, führte sie zu jener Gütergemeinschaft höherer Art, welche den Neid unmöglich, und das Leben so süß macht. Zwey Jahre hindurch war ihr Verstandniß mit jedem Tag vollkommener, ihre Verbindung enger geworden.572 Neben der Familie um Hornich rückt die Freundschaft von Dorenburg und Biderthal in den Fokus. Dabei wird diese Freundschaft der beiden als eine innerliche Beziehung hervorgehoben. Dies verdeutlicht sich gerade im Kontrast zur Figur Hornich, weil für ihn nur äußere Werte zählen. Dies wird an der Figur Biderthals verdeutlicht und es tritt ein enpathischer Aspekt der Erzählinstanz hervor. Luise kehrt, als sie »eben siebzehn Jahre alt [ist,] aus einer Erziehungsanstalt zurück nach Hause« und »z[ieht] Biderthalen unwiderstehlich an«.573 Er wollte seine Neigung, ehe sie Leidenschaft würde, überwinden – verbergen – mit Gewalt unterdrücken: – – Es war Liebe!

567 568 569 570 571 572 573

Vgl. Ebd., S. 211. Vgl. Ebd., S. 211. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., hier S. 211f. Vgl. Ebd.

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Daß Hornich das Mädchen ihm geben würde, daran war nicht zu denken. Der Alte hatte geschworen, keine seiner Töchter sollte einen Gelehrten heyrathen. Hiezu kam noch, daß Biderthals Vermögensumstände mittelmäßig waren.574 Die Erzählinstanz weist bei Biderthals Liebe zu Luise ein mitfühlendes Erzählverhalten auf, das durch die vielen Bindestriche sprachlich markiert wird. Das Erzählverhalten bildet in der stichpunktartigen Nennung von Phrasen bis zum Kulminationspunkt »Es war Liebe!« die Unüberwindbarkeit dieser intensiv aufkommenden inneren Regungen ab. Gleichzeitig wird dadurch gezeigt, dass die Erzählinstanz das Innere Biderthals nur annäherungsweise vermitteln kann. Die Erzählinstanz wird im Verlauf der Geschehnisse ein solches Erzählverhalten immer wieder aufweisen. Dadurch wird verdeutlicht, dass es das Innere ist, was an dieser Geschichte besonders interessiert. Dieses Interesse wird durch die heterodiegetische Erzählinstanz ausgedrückt, ihre Einfühlung gibt ein Rezeptionsverhalten vor und legt so ein spezifisches Interesse auf das Innere. Es ist markant, dass das Erzählwerk Woldemar mit einer konträren Relation vom Inneren und Äußeren beginnt, die durch verschiedene Figuren repräsentiert wird. Dorenburg und Biderthal bilden eine empfindsame Freundschaft, da sie eine Gemeinschaft »höherer Art« haben.575 Außerdem zeichnen sich Dorenburg und Biderthal dadurch aus, dass sie sich verlieben. Dorenburg verliebt sich in Caroline und Biderthal in Luise. Während Dorenburg aufgrund seiner wohlhabenden äußerlichen Situierung Caroline heiraten darf, ist dies Biderthal aufgrund seiner äußerlichen Umstände als Rechtsgelehrter mit Luise nicht vergönnt. Dorenburg und Biderthal bilden als Figuren, die das Innere betonen, ein Gegenbild zu Hornich. Aus diesem Grund verwundert es nicht, dass Hornich auf den ersten Seiten des Woldemar diejenige Figur ist, die am ausführlichsten beschrieben wird. Dorenburg, dem das Geheimniß seines Freundes nicht lange verborgen blieb, genoß keine frohe Stunde mehr. Da er bey seinem Schwiegervater, dessen Geschäfte unter seiner Anführung sich mehr als verdoppelt hatten, in großem Ansehn stand, so war er Anfangs nicht ganz ohne Hoffnung gewesen, dieser würde, ihm zu Gefallen, Einmal in seinem Leben nachgiebig seyn, und etwas, das nach Großmuth aussähe, an sich kommen lassen. Aber der alte Hornich ließ sich nicht bethören. Er war darauf geübt, der Großmuth und allen nachtheiligen Tugenden dieser Art mit einer bewundernswürdigen Gegenwart des Geistes auszuweichen. Nicht einmal von Billigkeit mochte er gerne hören; er traute ihrem schlüpfrigen Wesen nicht. Nahm man sein Gefühl in Anspruch, so schüttelte er lächelnd den Kopf, als einer der sich nicht zum Besten haben ließe. Sein Stolz war kalte Überlegung, mit dem Bewußtseyn, daß so leicht ihm niemand einen Vortheil abgewinnen würde. Sich überall in Vortheil zu setzen, und den erlangten Vortheil zu behaupten, war ihm höchster Grundsatz. Den Erwerb angehend, hielt er sich streng und ehrbar in den Schranken einer nur erlaubten, Gesetz-und Polizeymäßigen Gewinnsucht. Das Nichts der Ehre und alles Brodlose Wesen verachtete er aus dem innersten Grunde seiner Seele. Hingegen liebte er beynah uneigennützig – so sehr gefielen sie ihm! – alle Tugenden der Kargheit: er betete sie an. Nach und nach verlor er sich so weit in dieser Andacht, daß man ihn für geitzig halten konnte, welches

574 Ebd., S. 212. 575 Vgl. Ebd., S. 211f.

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er im eigentlichsten Verstande doch nicht war. Ihn beherrschte keine bestimmte Leidenschaft; seine Meynung allein beherrschte ihn: Eberhard-Hornichsche Vernunft. Irgend einen Grund wider seine Meynung gelten zu lassen, hielt er unter seiner Würde, und er genoß ein eigenes Wohlgefallen an sich, wenn er seinen Willen als etwas, das allen gewachsen sey, beweisen konnte. So war Eberhard Hornich.576 Diese Beschreibung von Hornich ist handlungsrelevant, weil sie im Verlauf der Geschehnisse aufgegriffen wird. Am Beginn des Woldemar erfüllt diese Figurenbeschreibung vor allem die Funktion, ihn als eine Person zu charakterisieren, die inneren Werten und Begebenheiten, wie der Empfindung und dem Gefühl, keinen Wert zuweist. Er wird als Mensch skizziert, der zwischenmenschlich primär nach eigenen Vorteilen strebt. Dies spiegelt auch seine Beziehung zu Dorenburg wider. Seine Erlaubnis, dass Dorenburg Caroline heiraten durfte, war neben Dorenburgs »großem Handelsgeiste« und seinem »so beträchtlichen Vermögen« darin begründet, dass dieser »Theil an seiner Handlung nahm«.577 Für Hornich war die Vermählung von Dorenburg und Caroline ein persönlicher Vorteil. Dies zeigt sich darin, dass sich seine Geschäfte durch die Mitarbeit von Dorenburg »mehr als verdoppelt hatten«.578 Sein ganzes Verhalten steht unter dem Vorzeichen von Rationalität. Er ist so rational, dass er sich nur in einem Denkspektrum von funktionalen Vor-und Nachteilen bewegt. Alles andere, was sich außerhalb dieses Spektrums befindet, erkennt er nicht an, deshalb schüttelt er »lächelnd den Kopf«, wenn man sein »Gefühl in Anspruch« nehmen möchte. Aus dieser Perspektive erscheint die Figur Hornich als eine Veranschaulichung von Jacobis Vernunftkritik, die nicht zuletzt mit der extra hervorgehobenen Vernunft auch benannt wird: »Ihn beherrschte keine bestimmte Leidenschaft, seine Meynung, allein beherrschte ihn: Eberhard-Hornichsche Vernunft.« Die adjektive Vernunft ist bei Jacobi eine Beschaffenheit des Menschen und bei Hornich gibt sie ein Denkspektrum vor, das ihm zugleich als Meinung dient. Alles außerhalb dieser Meinung wird nicht als »Grund« anerkannt. Mit Hornich wird eine Figur entworfen, die eine Vernunft repräsentiert, die keine Gründe und Werte außerhalb ihrer eigenen Erkenntnisse anerkennt. Diese Gegenüberstellung von Dorenburg und Biderthal mit Hornich ist zugleich ein zwischenmenschliches Problem. Aufgrund seiner Freundschaft zu Biderthal versucht Dorenburg Hornich zur Zustimmung zu einer Heirat von Luise und Biderthal zu bewegen. Doch im Sinne seines Denkspektrums müsste sich Hornich dann für einen bewussten persönlichen Nachteil entscheiden. Die zweifache Nennung des Großmuts bei der Beschreibung Hornichs, die bei ihm ausdrücklich negiert wird, verdeutlicht, dass er keine Gründe für einen persönlichen Nachteil zulässt. Nun findet Hornich in Dorenburg aber einen Gegenspieler, den er nicht so leicht in die Schranken weisen kann. Dorenburgen hatte diesmal die Geduld verlassen. Er erklärte seinem Schwiegervater: mit dem künftigen Jahre liefe ihr Societäts-Contract zu Ende, er wäre gesonnen alsdann auszuscheiden. Hornich gab die besten Worte, that die einnehmendsten Vor576 Ebd., S. 212f. 577 Vgl. Ebd., S. 211. 578 Vgl. Ebd., S. 212.

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schläge: der Tochtermann war nicht zu bewegen. Endlich wurden sie einig: Biderthal sollte sich der Handlung widmen, und dann das Mädchen nehmen. Voll Entzücken that Biderthal auf eine ansehnliche Bedienung worauf er die nahe Anwartschaft hatte, Verzicht, und ergriff das Gewerbe seines Freundes. Luise fühlte das im Innersten der Seele. Kein Brautpaar ist jemals glücklicher gewesen.579 Durch die Hartnäckigkeit Dorenburgs wird schließlich eine Möglichkeit entworfen, die es Biderthal gestattet, dass er Luise doch zur Frau nehmen kann. Er muss sein Gelehrtendasein aufgeben und in den Handelstand wechseln. Es ist signifikant, dass dies kein Problem darstellt, sondern eine Lösung, mit der am Ende alle beteiligten Figuren zufrieden sind. Biderthal verändert seine äußeren Umstände und Luise fühlt dies als Bestätigung seiner Liebe zu ihr und beide verwirklichen ihre Liebe in einer glücklichen und erfüllten Ehe. Dorenburg ist zufrieden, seinem Freund geholfen zu haben und Hornich hat es wieder geschafft, einen Vorteil für sich auszuhandeln, indem er Hilfe bei seinen Handelstätigkeiten bekommt und er seine Tochter nun nicht mit einem Gelehrten vermählen muss, da Biderthal fortan Handelsmann ist. Die bisherigen Geschehnisse und auch der Charakter Hornichs stellen daher keine unüberwindbaren Herausforderungen für die Erlangung von Glück dar. Was sie ehmals, süßem Geschwätz sich überlassend, von frohem Lebensgenusse unter einander gedichtet hatten, suchten sie jetzt ins Werk zu richten, und die allmähliche Ausführung ihrer Plane beschäftigte sie auf die angenehmste Weise. Ihre Wohnungen wurden die zierlichsten, bequemsten, geschmackvollsten der Stadt und weit umher. In der inneren Einrichtung derselben herrschte eine absichtliche Verschiedenheit. Eben diese absichtliche Verschiedenheit fand sich und war noch viel auffallender auf ihren Landgütern. Jeder dieser Orte hatte andre Reize, war zu andern Ergötzlichkeiten und Erholungen geschickt. Wechselseitig, was man hier vermißte, das fand sich dort beym Freunde – das hatte der Bruder.580 Freundschaft wird hier nicht als Ich-Spiegelung verstanden, sondern als »eine absichtliche Verschiedenheit«. Die Freunde ergänzen sich und finden im anderen eine Erweiterung ihrer selbst. Woldemar beginnt mit einer realisierten empfindsamen Freundschaftsbeziehung zwischen Biderthal und Dorenburg, die beide in die Familie um die Figur Hornich eingebettet sind. Auch hier findet sich bereits – vor der in der Forschung viel diskutierten Verbrüderlichung der Figur Henriette – die Gleichsetzung von Freundschaft und Bruderbeziehung. Diese Brüderlichkeit von Dorenburg und Biderthal ist neben ihrer Freundschaft auch in ihrer Familienzugehörigkeit begründet. Eine Freundschaft, in der die Heterogenität des Anderen betont und verstanden wird und in der Andersartigkeit Resonanzen mit dem eigenen Selbst gefunden werden, ist eine Erweiterung des eigenen Selbst. Der Anfang des Woldemar ist gerade bei den Spätfassungen nur marginal beachtet worden, doch durch das close reading wird deutlich, dass eine funktionierende empfindsame Freundschaftskonzeption vorgeführt wird, die sich trotz der Herausforderung der vernunftgeprägten Figur Hornich ausbilden konnte. Die ersten Seiten schil579 Ebd., S. 213. 580 Ebd.

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dern folglich eine glücklich lebende Familie. »Eine Hauptstütze« dieses Glücks ist »die noch unverheyratete mittlere Tochter, Henriette«.581 So wird sie gleich zu Beginn in einem gewissen Kontrast zu ihren Schwestern vorgestellt, denn während ihre Schwestern »neben ihren übrigen Vorzügen eine schöne Bildung haben«582 , ist es etwas anderes, das Henriette im Speziellen auszeichnet: Henriette war nicht, was man schön nennt, vielmehr hatte sie etwas, was von ihr entfernte; besonders im Gesicht jene Wachsamkeit und Klarheit, der wir so übel wollen und so gern einen bösen Namen machen; aber eben diese Züge sagten dem, der sie zu entziffern wußte, daß hier tiefes Gefühl und eigene Kraft des Geistes wohne.583 Henriette zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht im äußerlichen Verständnis schön ist, aber sie besitzt »tiefes Gefühl und eigene Kraft des Geistes«. Sie wird dadurch als Figur eingeführt, bei der in hervorgehobener Weise das Innere bei gleichzeitiger Schmälerung des Äußerlichen hervortritt. Henriette wird durch diese Darstellung von Anfang an als schöne Seele stilisiert. In diesem Zusammenhang werden Henriette die Eigenschaften »Unschuld« und »Reinheit des Charakters« zugewiesen.584 Sie wird als Figur vor allem dadurch charakterisiert, dass alle anderen Figuren, die mit ihr in einem sozialen Verhältnis stehen, in besonderer Weise von der Verbindung mit ihr profitieren, aber nicht in einem äußerlichen, sondern in einem innerlichen Verständnis. Für ihre Schwestern hält sie das Bild eines jugendlichen Lebens abseits des ehelichen Daseins am Leben: Die jungen Weiber setzten in ihr gleichsam noch ihr jungfräuliches Leben fort; sie stellte ihnen ein so süßes Bild der Vergangenheit dar, erinnerte sie an alles so lebhaft, wußte so angenehm es ihnen zu erneuern, so unvermerkt sie bey allem zu erhalten, daß sie es kaum inne wurden, es sey ihnen etwas schon vergangen. Nie war die Schwester ihnen so theuer, so unentbehrlich gewesen.585 Henriette wiederum »kostete in ihren Schwestern die Wonne der Gattinn, der Mutter, der Vorsteherinn eines glücklichen Hauswesens«.586 Die Schwestern finden auf diese Weise wechselseitig etwas, das ihnen im Leben fehlt, das sie aber durch das Mitgefühl mit der Schwester selbst erlangen, denn »Mitgefühl schwingt sich in hundert Fällen höher als eigenes«.587 Dieser innerliche und mitfühlende Verbund der Schwestern ist ein Pendant zu der exklusiven Freundschaft, die Biderthal und Dorenburg pflegen. Dabei tritt die geschlechtsspezifische Trennung der innerlichen Gemeinschaften hervor. Die Liebe, die zur Ehe führt, ist als »Leidenschaft« auch eine Form der innerlichen Verbindung, doch ist sie eine zwischenmenschliche Anziehung, die nicht rein geistiger

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Vgl. Ebd., S. 214. Vgl. Ebd. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Art ist.588 Durch diese geschlechtsspezifische Trennung innerlicher Beziehungen wird deutlich, dass die Betonung des Inneren hier mit Entkörperung verbunden ist. Dies wird durch den Ausschluss der Ehe als eine exklusive innerliche Beziehung herauskristallisiert. Die Ehe ist kein exklusives Verhältnis, da sie eine spezifische gesellschaftliche Funktion erfüllt und es wird dadurch untermauert, dass bei der Thematisierung der Ehe nicht die innerliche Verbindung der Ehepartner im Vordergrund steht, sondern konkrete Funktionen und Rollen, die erfüllt werden müssen. So müssen die Schwestern Henriettes Gattin, Mutter und Leiterinnen der Haushalte sein. Damit tritt zu Tage, dass mit den innerlichen Verbindungen der drei Schwester und Biderthals sowie Dorenburgs zwischenmenschliche Beziehungen entworfen werden, die keine gesellschaftliche Funktion erfüllen, sondern aus persönlichen Wertzuschreibungen entstehen. Henriette bekommt neben ihren Schwestern von der ganzen Familie einen besonderen Wert zugewiesen, da sie eine spezifische Wirkung auf sie ausübt. Mann, Weib und Kinder, jedes in beyden Häusern, wollte Henriettens Freude seyn; sie sollte jede Lust, nie eine Beschwerde theilen. Aber Henriette wußte sich schon hinzuzudrängen, wo es Beystand galt, und ihr Beystand war voll geheimer Kräfte. Ihre Gegenwart machte jede Arbeit zum Fest; und waren es Widerwärtigkeiten, so verschlang die Liebe und Dankbarkeit, die sie einflößte, die Hälfte des Kummers.589 Als schöne Seele ist Henriette eine innerliche Unterstützung für die gesamte Familie. Ihre besondere innerliche Wirkung wird als eine geheime Kraft benannt, die sie als Person besonders auszeichnet. Henriette ist ledig aus eigener Entscheidung, denn sie hat »verschiedene Heyrathsvorschläge abgewiesen«.590 Ihre Begründung dafür war, »bey ihrem Vater« bleiben zu wollen und sich um ihn zu kümmern.591 In der Beschreibung Henriettes schimmert im Kontrast zu ihren Schwestern so etwas wie eine weibliche Selbstbestimmungsmöglichkeit abseits der vorgegebenen Bahnen durch, die in der familiär begründeten ehelichen Entsagung liegt. Diese Möglichkeit bleibt jedoch auf funktionale Variationen innerhalb der patriarchalischen Familienstruktur beschränkt. Henriette versorgt ihren Vater und kümmert sich um seinen Haushalt und übt sogar auf ihren Vater Hornich eine eigentümliche Kraft aus. Es giebt wenige Menschen, in denen nicht durch Langmuth und Huld einiger Geschmack an liebenswürdigen Neigungen allmählich verstärkt und vermehrt werden können. Der alte Hornich erfuhr eine solche Verwandlung, ohne daß er weiter etwas davon merkte, als daß seine Henriette so gut mit ihm umzugehen wüßte, daß er nun erst des Lebens froh würde. Meine Bekannten, sagte er zuweilen, wünschen ihre Jugend zurück; mir ist mein Alter lieber. Wie sauer habe ichs nicht ehmals gehabt, und wie gut habe ich es jetzt?592

588 589 590 591 592

Vgl. Ebd., S. 212. Vgl. Ebd., S. 214f. Vgl. Ebd., S. 215. Vgl. Ebd. Ebd.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Die Figurenrede Hornichs, die ausschließlich durch ein verbum dicendi, nicht aber durch Anführungszeichen markiert ist, stellt keine spezifische, situativ gebundene Aussage dar, sondern wird mit dem Adverb »zuweilen« als eine Äußerung kenntlich gemacht, die Hornich öfter zu verwenden pflegt. Der narrative Modus und der hohe Grad an Mittelbarkeit werden weiter aufrecht gehalten. Die Beziehung von Hornich und Henriette wird ambivalent beschrieben, denn einerseits übt Henriette eine lebensfrohe Wirkung auf ihn aus. Andererseits bleibt er auch bis zu seinem Tode zu Beginn des zweiten Teils des Woldemar seinem vernunftgeprägten Denkschema treu. Demzufolge ist Henriette ihm in ihrer Eigentümlichkeit ein Rätsel. Folglich heißt dies, dass er »an ihr wie bezaubert [hing]«, aber sie auch »scheute«, denn »Leute seiner Art« seien »[w]ahrer Achtung [nicht fähig]«.593 Die Figur der Henriette wird als Person eingeführt, die auf jeden, selbst auf ihren Vater, eine besondere innerliche Kraft ausübt und dadurch als einzigartige Person erscheint. Als Freundin von Henriette wird als letzte Figur vor dem Protagonisten Woldemar noch die Freundin Henriettes mit dem Namen Allwina Clarenau vorgestellt. Über Allwina wird berichtet, dass sie sehr gut betucht und sehr hübsch ist, doch an ihren Reichtum und ihre Schönheit nicht denkt, weshalb sie »ärgerlich auf die jungen Herren [ist], weil sie mehr um sie als um Henriette geschäftig waren«.594 Mit Woldemar tritt dann ein junger Herr auf, der sich mehr um Henriette kümmert als um Allwina. Die Ausgangssituation ist ein glücklicher Familienverbund, der durch besondere innerliche Verhältnisse einzelner Figuren zueinander untermauert wird. Durch die Entstehungsgeschichte der freundschaftlich familiären Konstellation der Figuren wird die Stärke dieses Verbunds thematisiert, die sich gegen Hornich bewährt hatte. Mit dem Auftreten Woldemars als Bruder Biderthals wird die Familie vor eine neue und schwerwiegendere Herausforderung gestellt. Biderthal, ein naher Anverwandter der Clarenauischen, hatte in ihrem Hause, das einem Pallaste glich, einige Zimmer bewohnt. Nach seiner Heyrath blieben diese seinem jüngern Bruder, Woldemar, aufbewahrt welchem die Anwartschaft, die der ältere zurück gegeben hatte, war bewilligt worden. Dieser hatte seit vier Jahren, unter demselben Fürsten, eine andere Stelle zu G** bekleidet, und mußte dort bleiben, bis die Bedienung zu B** erlediget wurde. Beinah drey Jahre verstrichen darüber. Nun ereignete sich der Fall; Woldemar sollte kommen.595 Im ersten Teil des Woldemar wird mit dem Auftreten des gleichnamigen Protagonisten seine Integration in die Familie thematisiert. Die Eingliederung Woldemars in die Familie ist aufgrund von Woldemars individuellem Charakter aus verschiedenen Gesichtspunkten problematisch. Von Beginn an wird Woldemar als eine Figur eingeführt, die einen Wandel in die Familienverhältnisse bringt. Mit Blick auf die bestehenden Forschungsbeiträge ist es wichtig zu verdeutlichen, dass in den Spätfassungen Woldemar schon vor der Darstellung seines ersten Briefes charakterisiert wird. Dies wurde bisher nicht als fassungsdistinkte Unterscheidung hervorgehoben, ist aber entscheidend, da

593 Vgl. Ebd. 594 Vgl. Ebd. 595 Ebd., S. 216.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

damit eine gewisse Haltung gegenüber dem Protagonisten artikuliert wird.596 Nach der Heirat Biderthals und der Aufgabe seiner »Anwartschaft« für seine Rechtsgelehrtheit ist es ihm möglich, seinen biologischen Bruder Woldemar nach B** zu holen. Biderthal freut sich sehr darüber, seinen Bruder wieder in sein Leben integrieren zu können, doch ist seine Freude nicht ungetrübt, da Woldemar einen eigentümlichen Charakter aufweist. In der Spätfassung wird der Protagonist Woldemar noch vor seinem Brief an Biderthal durch die heterodiegetische Erzählinstanz dargestellt und dabei ist auffällig, dass er von Beginn an aufgrund seiner eigentümlichen Persönlichkeit als Gefahr für das Glück der Familie betrachtet wird. Biderthal möchte Woldemar in die Familie einfügen und ihn auch glücklich machen, doch er ahnt, dass dies möglicherweise zu einer erheblichen Herausforderung werden könnte. Biderthal, der diesen Zeitpunkt mit Ungeduld erwartet hatte, war vor Freude außer sich. Die zärtlichste Liebe und Vertraulichkeit herrschte zwischen diesen Brüdern; aber bey Biderthal kam noch eine Mischung von Sorge eigener Art hinzu, die sich auf Woldemars Charakter bezog, und etwas Leidenschaftliches in seine Freundschaft brachte. Durch eine sonderbare Vereinigung von Ungestüm und Stille, von Trotz und Nachgiebigkeit hatte sich der jüngere Bruder schon in seiner Kindheit ausgezeichnet. Heftig ergriff sein Herz alles, wovon es berührt wurde, und sog es in sich mit langen Zügen. Sobald sich Gedanken in ihm bilden konnten, wurde jede Empfindung in ihm Gedanke, und jeder Gedanke wiederum Empfindung. Was ihn anzog, dem folgte seine ganze Seele; darin verlor er jedesmal sich selbst – träumte, dichtete sich eine Sympathie, die ein Mittel der Unvergänglichkeit und der Verklärung wäre für alles Herzerhebende und Schöne – fand in sich selbst ihr Bild – ahndete und genoß; genoß und ahndete – vermehrte seine Sehnsucht; wurde suchender und forschender mit jedem Tag; wurde mit jedem Tage: Was er suchte? Was er finden wollte? inniger gewahr.597 Auch der Protagonist wird narrativ durch einen Erzählbericht dargestellt, wobei sich dieser Erzählbericht auf Sorgen bezieht, die Biderthal hinsichtlich seines Bruders hegt. Diese Sorgen werden aber durch die Erzählinstanz vermittelt und so wird weiterhin eine Distanz zu den Figuren aufrechterhalten. Die Erzählinstanz wirkt dadurch nah an den Figuren, auch wenn sie weiterhin nicht selbst in der Erzählung auftritt. Bei dieser einführenden Thematisierung des Protagonisten steht neben »Woldemars Charakter« die Beziehung von Woldemar und Biderthal im Fokus. Sein Charakter ist schon seit seiner »Kindheit« durch eine »sonderbare Vereinigung« geprägt. In Woldemars innerlicher Beschaffenheit verbindet sich eine enthemmte Entfaltung der eigenen Eigentümlichkeit, was mit »Ungestüm« beschrieben wird, mit einer ruhigen Art und Weise dies zu verwirklichen, was als »Stille« benannt wird. Diese Polarität im Inneren Woldemars wird durch 596 Jutta Heinz differenziert zwischen Früh-und Spätfassung und thematisiert, dass Woldemar in der Frühfassung durch die Mitteilung eines Briefes von ihm an seinen Bruder dargestellt würde, bei dem die Naturschilderung an Goethes Werther erinnern würde. Mit Blick auf die Spätfassung übergeht sie allerdings, dass dort die Einführung Woldemars signifikant anders gestaltet ist. Hier zeigt sich, dass es textkritisch zwingend notwendig, die Fassungen strikt zu unterscheiden. Vgl. Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin 1995, S. 187–213, hier S. 192ff. 597 JWA 7,1, S. 216.

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die Kontraste »Trotz und Nachgiebigkeit« verstärkt. Woldemar erscheint dadurch als eine Person, die sich durch ein Inneres auszeichnet, welches in sich so heterogen ist, dass es immer wieder zur individuellen Herausforderung wird, weil »sein Herz« von allem, »wovon es berührt wurde«, mit großer Intensität ergriffen wird. Das Innere Woldemars hat eine vielschichtige Beschaffenheit, die ihn dazu bringt, mit einer erregten Intensität zu empfinden und zu fühlen. Während die bisherigen Familienmitglieder in ihrer innerlichen Entfaltung eine Quelle von Glück finden, führt dies bei Woldemar aufgrund der Art seines Inneren zum entgegengesetzten Daseinszustand. In dieser Beschreibung wird sein zu hitziger Intensitätsgrad des Inneren zu einer Belastung. So ist das Besondere an der Charakterisierung Woldemars, dass er als Figur erscheint, die durch ihr eigenes Inneres belastet wird, denn »[w]as ihn anzog, dem folgte seine ganze Seele«.598 Diese ganzheitliche Hingabe wird zum Leid, denn er verliert sich jedes Mal selbst darin. Eine Art und Weise des Empfindens und Fühlens, die so hingebungsvoll ist, dass die Person sich selbst darin verliert, ist eine spezifische Form des innerlichen Leidens. Dieses Leiden am eigenen Inneren ist als »eine Überdehnung des empfindsamen Selbstbezugs« bei Protagonisten der Empfindsamkeit wie Goethes Werther, aber auch bei Jacobis Protagonisten der Frühfassungen seiner Erzählwerke als Quintessenz der Geschehnisse diagnostiziert worden.599 Bei der Spätfassung erscheint diese charakterliche Diagnose als Einstieg und gibt daher von vornherein eine kritische Einstellung gegenüber dem Charakter Woldemars vor. So kommt dem ersten Brief Woldemars vor dem Hintergrund dieser Einführung durch die Erzählinstanz eine veranschaulichende Funktion zu. Der zuvor skizzierte Charakter Woldemars wird durch den Brief affirmiert, wobei von vornherein klar ist, dass der innerliche Selbstbezug in der erhöhten Intensität des Empfindens und Fühlens keine bewundernswürdige Eigenschaft ist, sondern eine zu bewältigende Herausforderung. Die heterodiegetische Erzählinstanz konturiert diese Aufgabe näher, indem Woldemar durch seine innerliche Beschaffenheit als Person skizziert wird, die unter einem gewissen Realitätsverlust leidet. Jedes Mal, wenn er sich seiner innerlichen Ergriffenheit vollkommen hingab, »träumte [und] dichtete [er] sich eine Sympathie«.600 Sympathie, verstanden als eine Verbundenheit mit der Person oder der Sache der Empfindung, beschreibt hier ein Phantasma, da die Übereinstimmung nur erträumt und erdichtet ist. Damit weist diese Beschreibung auf die weiteren Geschehnisse hin und begründet diese mit der innerlichen Beschaffenheit Woldemars. Die Erzählinstanz erläutert diesen Realitätsverlust durch Sympathieimaginationen als »Mittel der Unvergänglichkeit und der Verklärung […] für alles Herzerhebende und Schöne«.601 Woldemar wird auf diese Weise als Person beschrieben, die nach einer Sublimierung des eigenen Ichs strebt, indem »alles Herzerhebende und Schöne« in sein eigenes Inneres verlagert wird und er »in sich selbst ihr Bild« findet.602 Die Sympathieimagination ist eine Ich-Identifikation im Inneren,

598 Vgl. Ebd. 599 Vgl. Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 105–116, hier S. 113. 600 Vgl. JWA 7,1, S. 216. 601 Vgl. Ebd. 602 Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

die hier als ein psychisches Leiden thematisiert wird und damit Woldemar als eine Figur einführt, die in vielfacher Hinsicht innerlich leidet. Im Kontext des Leidens skizziert die erste Thematisierung Woldemars eine psychopathologische Beschreibung des Protagonisten, die als Leiden an der Singularität des eigenen Inneren entworfen wird. Dieses Leiden versucht Woldemar zu überwinden und »wurde suchender und forschender mit jedem Tage«.603 Das zu Findende ist aber selbst noch zu erfassen, denn erst im Prozess des Suchens und Forschens ist er, »[w]as er finden wollte [] inniger gewahr« geworden.604 Doch umso weiter er sich dem Gesuchten annäherte, so schien sich sein »Gegenstande« wieder genauso weit zu entfernen, wie er herangekommen war.605 Er erfasst »[d]as Geheimnis dieses Widerspruchs« in markanter Weise in zeitlicher Abhängigkeit »nach und nach«.606 Die Erfassung dieses Geheimnisses ist ein sukzessiver Prozess, der auf »seinem zarten Gefühl [und] seinem forschenden Geiste« basiert.607 Seine Suche offenbart sich als eine »Sehnsucht«.608 Mit dem Begriff der Sehnsucht wird nach dem Grimm’schen Wörterbuch eine »Krankheit des schmerzlichen Verlangens« bezeichnet.609 Dort wird der Begriff Sehnsucht näher erläutert: »ein hoher grad eines heftigen und oft schmerzlichen verlangens nach etwas, besonders wenn man keine hoffnung hat das verlangte zu erlangen, oder wenn die erlangung ungewisz, noch entfernt ist.«610 Sehnsucht sei außerdem »der leere wunsch, die zeit zwischen dem begehren und erwerben vernichten zu können«.611 Sehnsucht ist die Sucht, sich nach etwas zu sehnen. Das Sehnen selbst wird zum Objekt des Verlangens und ist bezogen auf die Figur Woldemar Ausdruck seiner Selbstbefangenheit. Die Beschreibung der psychischen Beschaffenheit Woldemars mit dem Begriff der Sehnsucht verweist auf die progressive Unabschließbarkeit seiner Entgrenzungssuche und charakterisiert sein Inneres als unruhig und unausgeglichen. Woldemar sehnt sich danach die Abhängigkeit seines Daseins von der Zeit aufzuheben. Diese innerliche Unruhe stimmt Woldemar zu einer »Schwermuth, die jede schöne Seele ihm wird nachempfinden können, wenn auch die stärkere edel sich darüber zu erheben weiß«.612 Diese Sehnsucht Woldemars ist eine entscheidende Verbindung zu religionsphilosophischen Überlegungen Jacobis. Die Schwermut Woldemars ist darin begründet, dass er nach Bestätigung seines Inneren sucht, indem er sein Ich in einem anderen Menschen wiederentdeckt. Er versucht die Singularität seines eigenen Inneren aufzuheben, um damit die beständige Verschiedenheit von anderen in einer »Sympathie« aufzuheben.613 Diese Suche nach einem Spiegel des eigenen Ich

603 604 605 606 607 608 609

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch-Online-Ausgabe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Band 16, Spalte 158. Verfügbar unter: Wörterbuchnetz, https://woerterbuchnetz.de (Letzter Zugriff am 21.02.2022) 610 Vgl. Ebd. 611 Vgl. Ebd. 612 Vgl. JWA 7,1, S. 216. 613 Vgl. Ebd.

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wird als eine psychopathologische Anlage Woldemars dargestellt, die durch sein heterogenes Inneres bestärkt wird. Gerade weil sein Inneres durch eine eigentümliche Heterogenität geprägt ist, tritt seine Singularität des Inneren deutlich hervor und stellt sich als einzigartig heraus. Diese Einzigartigkeit erfährt er als eine im Inneren bestehende Einsamkeit, die auch darin begründet ist, dass Singularität Grenzen, Beschränkungen und Differenzen markiert, die wiederum Formen von Endlichkeit darstellen. Singulär zu sein, ist damit eine Chiffre für Endlichkeit. Ein singuläres Dasein ist ein endliches Dasein. Die Vorstellung Woldemars ist in der Spätfassung eine Schlüsselstelle des ersten Teils des Woldemar, da hier eine Begründung für die folgenden Geschehnisse gegeben wird. Dabei ist markant, dass diese anfängliche psychische Zustandsform Woldemars den Beginn seiner Entwicklungsgeschichte schildert. Dies wird vor allem durch das kommentierende Verhalten der Erzählinstanz deutlich, denn sie behauptet zwar, dass die »Schwermuth« Woldemars von »jede[r] schöne[n] Seele« nachempfunden werden könne, aber »die stärkere« Seele, weiß »sich darüber zu erheben«.614 Dieser Schwermut zu verfallen, heißt damit auch, das »Geheimnis dieses Widerspruchs« der »Sehnsucht« nicht durchdrungen zu haben.615 Dabei ist diese Sehnsucht ein bewusster Zwang sich danach zu sehnen, sich aus der eigenen Vereinzelung zu entgrenzen, um so auch der eigenen Endlichkeit enthoben zu sein. Die grundlegende Frage ist, was sich hinter diesem Geheimnis verbirgt. Die Antwort ist in der Beschreibung Woldemars impliziert. Die Singularität des Menschen ist bei Woldemar ein besonderer Problemfall, weil er keine erfüllte innerliche Beziehung zu einem anderen Menschen aufweist. Zusätzlich weist er eine besondere innerliche Beschaffenheit auf, deshalb ist er innerlich allein. Singularität wird als Endlichkeit erlebt und so wird in der Sympathie mit anderen eine Identifikation des Inneren über die Grenzen des endlichen eigenen Daseins hinweg gesehen und erscheint als »ein Mittel der Unvergänglichkeit«.616 Vor dem Hintergrund dieser Vorstellung Woldemars verwundert es nicht, wenn in seinem ersten mitgeteilten Brief die Vergänglichkeit als Dependenz von der Zeit im Dasein im Vordergrund steht. Der Brief schließt mit Woldemars Perspektive, dass der Mensch »nichts Ganzes, nichts durchaus Bleibendes« sei.617 Dabei ist es bei dem spezifischen Entwicklungsverlauf, den er durchläuft, kein Zufall, dass der Brief als eine Zwischenbilanz seines Lebens erscheint.618 Der weitere Entwicklungsprozess Woldemars und Biderthals Vorhaben, Woldemar in die Familie zu integrieren, werden im Folgenden unter besonderer Berücksichtigung von Formen des Idyllischen als Bildungsgeschehnisse Woldemars untersucht. Dabei wird die These entfaltet, dass das Empfindsam-Idyllische als Erzählverfahren von Innerlichkeit eingesetzt wird, um innerliche Zustandsformen des Protagonisten zu veranschaulichen. Es handelt sich bei Woldemars Bildungsgeschichte

614 615 616 617 618

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 219–223, hier S. 223. Vgl. Jürgen Jacobs: Zwischenbilanzen des Lebens. Zu einem Grundmuster des Bildungsromans. Bielefeld 2005, hier S. 11–19.

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um eine ausschließlich innerliche Entwicklung, die daher narrativ besonders durch Veranschaulichungs-und Erzählformen von Innerlichkeit geprägt ist.

3.4.2 Natur als Entfaltungsraum des Inneren: familiäre Kollektivbildung – Sentimentalitätserlebnis und Bilder von solipsistischem Glück Familiäre Kollektivbildung Biderthal freut sich trotz seiner Sorgen bezüglich Woldemar sehr darüber, dass sein Bruder nun endlich zu ihm nach B** kommen wird, um dort zu leben.619 Durch den Charakter Woldemars deutet sich an, dass es aufgrund der innigen Beziehung zwischen den beiden Brüdern zu sozialen Dynamiken innerhalb der Familie kommen könnte, die vor allem die bisher bestehende empfindsame Freundschaft zwischen Biderthal und Dorenburg betrifft: Wahrhaftig! brach Biderthal einmal in seiner Entzückung aus: es ist doch keine rechte Freundschaft, als nur unter zwey solchen Brüdern! – Dorenburg, der gerade gegen ihm über saß, blickte lächelnd nieder. Das fühlte Biderthal; er flog auf und hing seinem Freunde am Halse. Dorenburg drückte ihn an die Brust, ergriff dann seine beyden Hände. … Lieber! sagte er, und lachte ihm offener ins Angesicht – Lieber! indem er ihn treuherzig schüttelte – gehe und erzähle weiter.620 Biderthals Betonung, dass nur unter biologischen Brüdern eine Freundschaft entstehen könne, die so innig ist wie die Beziehung zu seinem Bruder, ist für seine Freundschaft mit Dorenburg nicht schmeichelhaft. Dorenburg versteht aber, dass dies keine Schmälerung ihrer Freundschaft ist, denn Biderthal ist mit Woldemar aufgewachsen und hat dadurch viele Erlebnisse mit ihm geteilt. Biderthal erscheint als Figur, die dazu in der Lage ist, mehrere exklusive Freundschaftsbeziehungen zu führen. Er verwirklicht eine empfindsame Freundschaft mit Dorenburg und hat mit Woldemar eine brüderliche Freundschaft, die er jetzt mit Woldemars Umzug nach B** revitalisiert. Innige Beziehungen nicht auf ein einziges Verhältnis zu beschränken, sondern mehrere soziale Bindungen dieser Art zu führen, ist eine Grundvoraussetzung für gelingendes soziales Miteinander. Biderthal wird vor diesem Hintergrund mit seinem Bruder Woldemar kontrastiert, denn dieser tritt als Figur auf, die von Beginn an aufgrund ihrer problematischen Singularität auf eine exklusive Beziehung mit einem einzigen Menschen abzielt.621 Der Fokus

619 Vgl. JWA 7,1, S. 216–219. 620 Ebd., S. 217f. 621 Mit Blick auf Jacobis Woldemar stellt Nikolaus Wegmann fest: »Werther und Woldemar, die im folgenden ausführlich untersuchten Fallgeschichten, reduzieren schon von Beginn an ihre Suche nach gesteigerter Geselligkeit auf nur eine einzige, (dafür aber) im höchsten Maße verdichtete (Intim-)Beziehung: mehr als eine Verbindung solcher Qualität scheint mit dem hier erreichten Grad an Individualisierung nicht mehr möglich. Der empfindsame Umgang drängt zwangsläufig auf immer höhere Exklusivität. Allenfalls noch mit einer Person versucht das zunehmend sich als einzigartig begreifende Individuum noch die grenzenlose Annäherung die vollkommene Transparenz.« Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 105–116, hier S. 113.

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Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

um eine ausschließlich innerliche Entwicklung, die daher narrativ besonders durch Veranschaulichungs-und Erzählformen von Innerlichkeit geprägt ist.

3.4.2 Natur als Entfaltungsraum des Inneren: familiäre Kollektivbildung – Sentimentalitätserlebnis und Bilder von solipsistischem Glück Familiäre Kollektivbildung Biderthal freut sich trotz seiner Sorgen bezüglich Woldemar sehr darüber, dass sein Bruder nun endlich zu ihm nach B** kommen wird, um dort zu leben.619 Durch den Charakter Woldemars deutet sich an, dass es aufgrund der innigen Beziehung zwischen den beiden Brüdern zu sozialen Dynamiken innerhalb der Familie kommen könnte, die vor allem die bisher bestehende empfindsame Freundschaft zwischen Biderthal und Dorenburg betrifft: Wahrhaftig! brach Biderthal einmal in seiner Entzückung aus: es ist doch keine rechte Freundschaft, als nur unter zwey solchen Brüdern! – Dorenburg, der gerade gegen ihm über saß, blickte lächelnd nieder. Das fühlte Biderthal; er flog auf und hing seinem Freunde am Halse. Dorenburg drückte ihn an die Brust, ergriff dann seine beyden Hände. … Lieber! sagte er, und lachte ihm offener ins Angesicht – Lieber! indem er ihn treuherzig schüttelte – gehe und erzähle weiter.620 Biderthals Betonung, dass nur unter biologischen Brüdern eine Freundschaft entstehen könne, die so innig ist wie die Beziehung zu seinem Bruder, ist für seine Freundschaft mit Dorenburg nicht schmeichelhaft. Dorenburg versteht aber, dass dies keine Schmälerung ihrer Freundschaft ist, denn Biderthal ist mit Woldemar aufgewachsen und hat dadurch viele Erlebnisse mit ihm geteilt. Biderthal erscheint als Figur, die dazu in der Lage ist, mehrere exklusive Freundschaftsbeziehungen zu führen. Er verwirklicht eine empfindsame Freundschaft mit Dorenburg und hat mit Woldemar eine brüderliche Freundschaft, die er jetzt mit Woldemars Umzug nach B** revitalisiert. Innige Beziehungen nicht auf ein einziges Verhältnis zu beschränken, sondern mehrere soziale Bindungen dieser Art zu führen, ist eine Grundvoraussetzung für gelingendes soziales Miteinander. Biderthal wird vor diesem Hintergrund mit seinem Bruder Woldemar kontrastiert, denn dieser tritt als Figur auf, die von Beginn an aufgrund ihrer problematischen Singularität auf eine exklusive Beziehung mit einem einzigen Menschen abzielt.621 Der Fokus

619 Vgl. JWA 7,1, S. 216–219. 620 Ebd., S. 217f. 621 Mit Blick auf Jacobis Woldemar stellt Nikolaus Wegmann fest: »Werther und Woldemar, die im folgenden ausführlich untersuchten Fallgeschichten, reduzieren schon von Beginn an ihre Suche nach gesteigerter Geselligkeit auf nur eine einzige, (dafür aber) im höchsten Maße verdichtete (Intim-)Beziehung: mehr als eine Verbindung solcher Qualität scheint mit dem hier erreichten Grad an Individualisierung nicht mehr möglich. Der empfindsame Umgang drängt zwangsläufig auf immer höhere Exklusivität. Allenfalls noch mit einer Person versucht das zunehmend sich als einzigartig begreifende Individuum noch die grenzenlose Annäherung die vollkommene Transparenz.« Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 105–116, hier S. 113.

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auf einer Person, mit der eine »Sympathie« gesucht wird, die die spezifische »Schwermuth« Woldemars löst, liegt mit dem Erscheinen Woldemars in B** zunächst bei Biderthal.622 In der anstehenden Eingliederung Woldemars in seinen Familienkreis sieht und fühlt Biderthal eine »Fülle der Hofnung« und eine »unaussprechliche Seligkeit«.623 Diese freudige Gemütsstimmung möchte Biderthal mit seiner Familie teilen und sie so auf das Eintreffen Woldemars vorbereiten. Die passende Gelegenheit dazu bietet ein Brief, den Biderthal, wenige Wochen bevor Woldemar in B** ankommt, von Woldemar erhält. Biderthal fasst den Entschluss, den Brief im familiären Kreis vorzulesen, nachdem er die Familie gebührend darauf vorbereitet hat. Endlich kam die Nachricht, Woldemar sey wirklich abgereist. Sein Brief war aus R**, wo er, eines wichtigen Geschäfts wegen, einige Tage verweilen mußte. Biderthal verschwieg den Seinigen die Ankunft dieses Briefes, und bat nur seine Frau, weil das Wetter so ausserordentlich schön wäre, und er gern seine Ungeduld über Woldemars Säumen etwas zerstreuen möchte, ein kleines Fest auf seinem Landsitze für den folgenden Tag anzuordnen. Es sollte aber niemand eingeladen werden, als Dorenburg mit seiner Frau, und Henriette. – »Wir wollen, sagte er, den Antritt des Frühlings ganz in geheim unter uns feyern; denn da im Calender heute und morgen noch Februar ist, so würden uns die Leute auslachen.«624 Der »Antritt des Frühlings« geschieht zeitgleich mit der Revitalisierung der brüderlichen Freundschaft von Biderthal und Woldemar. Biderthal organisiert eine Wanderung zu seinem Landsitz und verfolgt das Ziel, die Familie in eine Gemütsverfassung zu versetzen, in der sie für die Aufnahme des Briefes von Woldemar in besonderer Weise bereit ist. Aus diesem Grund steht die familiäre Szene der Wanderung unter dem Vorzeichen eines Mitteilungsvorhabens. Seine Intention ist eine Kollektivierung, bei der alle Figuren den gemeinsamen Nenner einer innerlich angenehmen und offenen Zustandsform aufweisen. Die Wanderung zum Landsitz und die dabei erlebten Wahrnehmungen der naturalen Umgebung erscheinen im Kontext dieser Absicht. Im Zuge der Wanderung zum Landsitz wird eine idyllische Szene geschildert, die die Familienmitglieder als eine Wahrnehmungseinheit erscheinen lässt und so die Formation des Kollektivs narrativ untermauert: Früh am Morgen des folgenden Tages wanderten die fünf Glücklichen mit einander aus. Die Sonne kam so warm und doch so sanft hernieder, daß man dem innerlichen Jauchzen darüber nicht wehren konnte. Man mußte aufschauen und einmal über das andre ausrufen: O, wie lieblich! wie herrlich! wie schön! Ab von dem Thor, wo ihr Weg sie hinaus führte, schwingt eine fruchtbare Ebene sich allmählig hinunter und wieder aufwärts, weit umher bis zu den Bergen. Sie sahen da die frisch gepflügte Erde vom höchsten Braun bis zum falbesten Gelb mannichfaltig schattirt, und Felder wie Smaragd, die sie durchstreiften; ein Gemisch von Farben und Licht, so süß, so zauberisch, daß ihnen die ganze Seele im entzückten Auge schwamm. Nur wie im Traum wurden

622 Vgl. JWA 7,1, S. 216f. 623 Vgl. Ebd., S. 217. 624 Ebd., S. 218.

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sie das lustige Zwitschern der Vögel gewahr – und daß schon der Buchfinke schlug, und das Wirbeln der Lerche den blauen Himmel hinan.625 Diese idyllische Szene wird auf der extradiegetischen Erzählebene von der heterodiegetischen Erzählinstanz präsentiert. Es wird eine Darstellung der Figuren vorgestellt, die stark an die Erzählinstanz gebunden ist. Das Besondere an dieser Darstellung ist, dass sie sich nicht auf eine einzelne Figur bezieht, sondern auf alle anwesenden Familienmitglieder. Das erlebnisberichtartige Erzählen wird als erzählerische Möglichkeit eingesetzt, eine Nähe zu den Figuren zu erzeugen, die als eine Wahrnehmungseinheit im Vordergrund stehen. Dies wird von Beginn an durch das doppelt auftretende Indefinitpronomen »man« klar herausgestellt. Mit Beginn der Wanderung werden »die fünf Glücklichen« zu einer Einheit. Die geschilderten sinnlichen Sensationen der Natur beziehen sich nicht auf eine einzelne Figur, sondern immer auf alle fünf Figuren, sodass ausschließlich die Gemeinschaft im Vordergrund steht. Daher unterscheidet sich diese Form der Nähe zu den Figuren vehement von der Einschiebung eines Briefes, die im Woldemar mit einer internen Fokalisierung einhergeht und so Nähe zu einer einzigen Figur schafft. Die Erzählweise der heterodiegetischen Erzählinstanz impliziert eine Innensicht in die einzelnen Figuren, die über die Perspektive einer Figur hinausgeht und somit die Übersicht verdeutlicht. Narrativ betrachtet ist diese Stelle daher von besonderer Bedeutung. Diese Schilderung ist wichtig, um die narrative Funktion dieser idyllischen Szene im Detail zu betrachten. Bezogen auf die idyllische Szene ist das unweigerliche Aufschauen und Ausrufen der fünf Figuren »O, wie lieblich! wie herrlich! wie schön!« bei der Wanderung eine Form der erzählten Rede, die sich nicht auf eine Figur festlegt, sondern für alle an der Wanderung Beteiligten in Anspruch genommen wird.626 Die Familie wird zum Kollektiv einer Wahrnehmungseinheit und veranschaulicht, dass Biderthal sein Vorhaben realisiert. Diese Stelle ist narrativ hervorgehoben, weil durch die Kollektivperspektive die Nullfokalisierung der Erzählinstanz betont wird, da die berichtende Instanz mehr weiß als eine einzelne Figur wissen kann und eine Innensicht in mehrere Figuren zugleich hat. Die Gesamtheit der Figuren steht als Wahrnehmungskollektiv im Vordergrund, sodass die Beschreibung der idyllischen Szene als eine intersubjektive Ausdrucksform fungiert. Die Erzählinstanz nimmt die Perspektive dieses Wahrnehmungskollektivs ein und so steht die narrative Gestaltung in der Funktion trotz der starken Präsenz der Erzählinstanz eine Nähe zu den Figuren zu schaffen. Durch die erlebnisberichtartige intersubjektive Erzählweise wird eine Verschmelzung von heterodiegetischer Erzählinstanz und dem Wahrnehmungskollektiv der Figuren erwirkt: »Nur wie im Traum wurden sie das lustige Zwitschern der Vögel gewahr – und daß schon der Buchfinke schlug, und das Wirbeln der Lerche den blauen Himmel hinan.«627 Die Erzählinstanz verschmilzt selbst mit dem Wahrnehmungskollektiv und nimmt seine Sicht ein, sodass der Eindruck erweckt wird, als sei die heterodiegetische Erzählinstanz selbst bei diesen Erlebnissen dabei. Doch verdeutlicht sich in diesem temporären Blickwinkel letztlich nur die Übersichtsperspektive, die die Erzählinstanz innehat, da keine der 625 Ebd. 626 Vgl. Ebd. 627 Vgl. Ebd.

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einzelnen Figuren im Moment des Erlebens Einblicke in das Innere des anderen hat. Zu wissen, dass sich alle Beteiligten in einem Bewusstseinszustand »wie im Traum« befinden, setzt einen überblickartigen Wissensstand voraus, der auch in das Innere der Figuren hineinreicht.628 Diese Hervorhebung der Nullfokalisierung ist für die ganze Passage prägend, da die Erzählinstanz mit dem Figurenkollektiv verschmilzt. Dies ist für die Beschreibung des Erlebens der naturalen Umgebung von Bedeutung. Bei der Wanderung erscheint die naturale Umgebung als eine Quelle von angenehm erlebten sinnlichen Sensationen. Hierbei steht die sinnliche Kraft der Natur im Vordergrund, die von den fünf Figuren zugleich erfahren wird und durch die Empfindung eine Veränderung ihrer innerlichen Zustandsform bewirkt. Dieser Vorgang wird von der Erzählinstanz damit beschrieben, »daß ihnen die ganze Seele im entzückten Auge schwamm«.629 Hier wird erneut die gemeinschaftsstiftende Funktion des Naturerlebnisses betont und bekräftigt die Formation des Kollektivs. Die narrative Instanz beschränkt sich bei der Beschreibung der Naturwahrnehmungen nicht auf eine figurengebundene Perspektive, sondern gibt Wahrnehmungsspektren von möglichen sinnlichen Eindrücke an. Ab von dem Thor, wo ihr weg sie hinaus führte, schwingt eine fruchtbare Ebene sich allmählig hinunter und wieder aufwärts, weit umher bis zu den Bergen. Sie sahen da die frisch gepflügte Erde vom höchsten Braun bis zum falbesten Gelb mannichfaltig schattirt, und Felder wie Smaragd, die sie durchstreiften […].630 Die Beschreibung der »Ebene«, die sich »hinunter und wieder aufwärts [schwingt]«, gibt einen visuellen Eindruck der Figuren wieder, die diese Ebene durchlaufen. Das Verb »schwingen« zeichnet dabei die Bewegungen des Wanderns nach und unterstreicht den visuellen Eindruck mit einem körperlichen Bewegungsgefühl. Der visuelle Eindruck der hügeligen Umgebung wird mit der Bewegung des Schwingens kombiniert, die das Wandern als körperliche Tätigkeit darstellt. In dieser Form der erlebten Wahrnehmung wird neben den visuellen Eindrücken die körperliche Regung vermittelt. Die sinnliche Ergriffenheit durch diese Eindrücke wird dabei mit der Bewegungsempfindung verbunden. Diese idyllische Szene erscheint zuerst als sinnliches und körperliches Ereignis, das aber als solches eine Wirkung auf das Innere der Figuren ausübt. »[D]ie frisch gepflügte Erde« hat ein Farbspektrum »vom höchsten Braun bis zum falbesten Gelb« und ist »mannichfaltig schattirt«. Es werden »Felder«, die »wie Smaragd« aussehen durchwandert, bei dem ein »Gemisch von Farben und Licht« auf sie einwirkt, welches »so süß, so zauberisch« sei, »daß ihnen die ganze Seele im entzückten Auge schwimmt«. Die sinnliche Entzückung der naturalen Umgebung führt die Empfindenden zu einem innerlich besonders hervorgehobenen Zustand. Wobei das Schwimmen der Seele und der Vergleich mit dem Bewusstseinszustand des Traums darauf hinweisen, dass das intensive Erleben von Sinnlichkeit durch die Naturerfahrung und die körperliche Bewegung des Wanderns zu einer Hingabe an den Moment führen. Im Augenblick des Erlebens steht einzig die »zauberisch[e]« Wirkung der sinnlichen Eindrücke im

628 Vgl. Ebd. 629 Vgl. Ebd. 630 Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Vordergrund. Die Wanderung wird zu einer ekstatischen Naturerfahrung, wobei diese rauschhafte Zustandsform zu einer kollektivkonstituierenden Beschaffenheit der beteiligten Figuren wird. Das Entscheidende ist, dass diese sehr erfreute, sinnlich berauschte Gemütsverfassung bei allen partizipierenden Figuren der Wanderung eintritt. Auf diese Weise wird die Familie als ein soziales Gebilde geschildert, bei dem die einzelnen Figuren im Kollektiven verschwimmen. Die Naturerfahrung wird zu einem gemeinsamen Erlebnis der angenehmen Erheiterung. Biderthal erreicht mit der Wanderung sein Vorhaben, die Familie in eine hervorgehoben offene Stimmung zu versetzen und sie dadurch auf den Brief Woldemars vorzubereiten. In dem Brief, den Biderthal auf dem Landsitz vorlesen wird, beschreibt Woldemar gemeinsame Wanderungen mit Biderthal, die sie zusammen »[v]or sieben Jahren« erlebt haben.631 Woldemars Erzählung über diese Erlebnisse ist durch die sentimentale Perspektive der Erinnerung speziell an Woldemar als einzelne Figur geknüpft und bietet einen deutlichen Kontrast zu dieser idyllischen Szene. Diese direkte Gegenüberstellung von Formen des Idyllischen hat die Funktion, Woldemar mit seiner Einführung als besonderes Individuum auftreten zu lassen und ihn außerhalb der Familie zu setzen. Die Familie erscheint durch das gemeinsame Naturerlebnis als ein Kollektiv, während Woldemar durch die Schilderung von Naturerlebnissen seine Eigentümlichkeit betont. Diese Eigentümlichkeit wird als singuläre Individualität schon vor Woldemars erstem Brief eingeführt und wird in seinem Brief als psychopathologische Beschaffenheit weiter ausgeführt. Die idyllische Szene des Familienkollektivs erfüllt neben der Funktion einer Ausdrucksform für Intersubjektivität und Kollektivbildung auch die Aufgabe ein Kontrastbild zum folgenden Naturerlebnis Woldemars darzustellen, indem die Aufheiterung der Familie der Sentimentalität Woldemars gegenübergestellt wird. Bis zur Mitteilung eines ersten Briefes vom titelgebenden Protagonisten Woldemar liegt der Fokus der Spätfassung des Woldemar auf den Figuren Biderthal, Dorenburg, Luise, Caroline und Henriette, die eine glückliche Gemeinschaft bilden. Diese Familiengemeinschaft wird nun einerseits von Woldemars bevorstehender Ankunft in ihrem Glück bedroht, da sich in Biderthals Äußerung, dass es doch keine rechte Freundschaft gäbe als zwischen zwei biologischen Brüdern, eine mögliche Veränderung in der Beziehung zu Dorenburg andeutet. Andererseits bietet die Integration Woldemars in die Familie für Biderthal eine mögliche Vollendung eines vollkommen glücklichen Daseinszustands. Woldemar erscheint dementsprechend ambivalent: Er ist eine mögliche Gefahr für die Familiengemeinschaft, aber vor allem für Biderthal auch eine Möglichkeit eines inniger empfundenen Glücks. Darstellerisch ist auffällig, dass der Einstieg in das Erzählwerk Woldemar durch große Passagen Erzählbericht und infolgedessen durch einen narrativen Präsentationsmodus geprägt ist. Besonders ist bei dem Erzähltext Jacobis in der thematisierten idyllischen Passage, dass hier nicht die Wahrnehmung einer einzelnen Figur im Zentrum steht, sondern ein Verbund aus mehreren Figuren, die als ein Wahrnehmungskollektiv erscheinen. Bei dieser Form des Idyllischen handelt es sich um eine Darstellungsform des Naturerlebens, die dem Empfindsam-Idyllischen diametral gegenüber steht. Bei dem Empfindsam-Idyllischen steht das einzelne Subjekt im Zentrum, während bei der betrachteten idyllischen Szene der zwischenmenschliche Verbund im 631

Vgl. Ebd., S. 219–223, hier S. 220.

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Zentrum steht. Diese Betonung des Intersubjektiven wird von der heterodiegetischen Erzählinstanz unter anderem durch die zweifache Verwendung des Indefinitpronomens »man« ausgedrückt.632 Die heterodiegetische Erzählinstanz berichtet nicht nur über die Naturerfahrung des Familienkollektivs, sondern schließt sich selbst mit ein, indem das Pronomen man im Sinne von jeder verwendet wird. Damit ist die Reaktion der Figuren ausdrücklich kein exklusives Ereignis, dass die besondere Empfindungsfähigkeit der einzelnen Figuren betont, sondern es ist eine allgemeine und folgerichtig innere Reaktion von sinnlichen Wahrnehmungen. Das hier berichtete Naturerleben erscheint als eine Erfahrung, die verallgemeinbart werden kann und folglich nichts individuell Eigentümliches hat. Es ist markant, dass dieses idyllische Erleben am Beginn des Woldemar in Beziehung mit einem bestehenden Familienglück dargestellt wird.

Sentimentalitätserlebnis Nachdem Biderthal mit seiner Frau Luise, Dorenburg, Caroline und Henriette auf dem Landsitz von Biderthal angekommen sind, zieht er den Brief Woldemars hervor. Da alle die Freude Biderthals über die baldige Ankunft seines Bruders teilen, entsteht »ein lauter Jubel«.633 Biderthal führt auf den Jubel hin »seine Freunde in das Zimmer, welches Woldemarn bestimmt war, und las ihnen vor.«634 Im Folgenden wird der Brief Woldemars als intradiegetische Erzählebene eingeschoben. Mit dieser Erzählebene geht ein Wechsel der Erzählinstanz einher, indem im Brief Woldemars er selbst als Erzählinstanz erscheint. Zugleich berichtet er in seinem Brief über Geschehnisse, bei denen er selbst der Protagonist ist, sodass er eine autodiegetische Narrationsinstanz darstellt. Die Geschehnisse erzählt Woldemar aus seiner Sicht, daher weist sein Brief eine fixiert interne Fokalisierung auf. Die heterodiegetisch-extradiegetische Erzählung, die perspektivisch gerade am Beginn des ersten Teils des Woldemar durch eine dominante Nullfokalisierung geprägt ist, wird von Woldemars Brief als autodiegetisch-intradiegetische Erzählung, die perspektivisch an Woldemar gebunden ist, unterbrochen. Dieser Wechsel der Erzählsituation ist narratologisch betrachtet eine häufig vorkommende Konstellation empfindsamer Erzählwerke. Dieser Wandel von Erzählsituationen ist ein Spezifikum empfindsamer Briefromane, bei denen dieser Wechsel in Gestalt der Herausgeberfiktion und den Briefen der Figuren vorliegt. Während die Herausgeberfiktion dieser Werke die Briefe als authentische, das heißt nicht erfundene, beglaubigt, wird diese Authentifizierungsstrategie beim Woldemar umgedreht. Der Brief wird als authentische Quelle angeführt und bezeugt die Wahrheit der heterodiegetisch-extradiegetischen Erzählung. Außerdem wird er von der heterodiegetischen Erzählinstanz als unmittelbare Schilderung des Inneren Woldemars stilisiert. Diese Unmittelbarkeit wird dadurch erzeugt, dass mit dem Brief die übergeordnete Erzählebene verlassen wird und auf die Figurenebene verlagert wird. Damit wird erstmals die Dominanz der heterodiegetischen Erzählinstanz unterbrochen und es wird die Übersichtsperspektive verlassen. Der Brief Woldemars hat als Kommunikationsmedium in seiner spezifischen Einbettung zwei hervorzuhebende Dimensionen eines Formprinzips der Unabsichtlich632 Vgl. Ebd., S. 218. 633 Vgl. Ebd., hier S. 219. 634 Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

keit.635 Einerseits ist das Formprinzip der Unabsichtlichkeit auf der extradiegetischen Ebene präsent, indem der Brief als authentische Schrift einer Figur mitgeteilt wird. Der Brief entstammt als vorgestellte Schrift eigentlich einer Privatkorrespondenz und ist intentional nicht für die Öffentlichkeit geschrieben worden. Trotzdem wird er von der heterodiegetisch-extradiegetischen Narrationsinstanz als beglaubigende Quelle seiner Erzählung herangezogen und wird genutzt, um Woldemar in seiner innerlich eigentümlichen Verfassung vorzustellen. Der Brief ist auf der extradiegetischen Ebene eine Schrift, die mit dem Formprinzip der Unabsichtlichkeit beschrieben wird, da hier die narrative Instanz eine Schrift in seine Erzählung einbettet und so publik macht, die innerhalb der Diegese aus einer Privatkorrespondenz stammt. Die Narrationsinstanz der extradiegetischen Ebene erscheint auf diese Weise als eine externe Autorität, die eine Schrift veröffentlicht, die so unabsichtlich an die Öffentlichkeit gelangt. Das Formprinzip der Unabsichtlichkeit expliziert die Ausdrucksform und die Thematik des Briefes, ausschließlich für den Adressaten Biderthal geschrieben worden zu sein. Mit dem Formprinzip der Unabsichtlichkeit wird eine authentische Erzählsituation geschaffen, in der Woldemar seinem Gegenüber sein tiefstes Innerstes offenbart. Diese Mitteilung, die ganz auf die Artikulation von Innerlichkeit gerichtet ist, erfüllt an dieser Stelle die konkrete Funktion, Woldemar mit seiner ersten eigenen Aussprache als innerlich besondere Figur einzuführen. Auf der intradiegetischen Ebene wird diese unabsichtliche Vorstellung Woldemars durch diesen Brief aufgegriffen, da Biderthal den engeren Familienmitgliedern den Brief vorliest. So bekommen die Familienmitglieder einen ersten Eindruck von Woldemar. Das Vorlesen von Briefen in familiären Kreisen ist im empfindsamen Kontext kulturgeschichtlich durchaus üblich. Bei diesem Vorlesen ist besonders, dass es für die Familienmitglieder als erste unmittelbare Begegnung mit Woldemar entworfen wird. Biderthal gibt seinen engsten Vertrauten einen ersten persönlichen Eindruck von Woldemar, da er den Rezeptionskreis eines an ihn adressierten Briefes erweitert. Auf der intradiegetischen Ebene erfüllt das Formprinzip der Unabsichtlichkeit abermals die Funktion, eine authentische Darstellungssituation von Innerlichkeit zu schaffen. Die Unabsichtlichkeit der Veröffentlichung und weiterer Bekanntmachung wird zum Formprinzip, indem immer wieder der persönliche Adressat angesprochen und immer wieder exklusive Bezüge zwischen dem Briefschreibenden und dem Adressaten eröffnet werden. Durch dieses zwei Ebenen umfassendem Formprinzip der Unabsichtlichkeit wird innerhalb der Diegese eine Rezeptionshaltung des Briefes vorgegeben. Die innerliche Offenbarung Woldemars gegenüber Biderthal wird von den zuhörenden Figuren mit Empathie und mitempfindenden Leiden der Familienmitglieder, vor allem der Figur Henriette, begleitet.636 Die Unabsichtlichkeit des erweiterten Adressatenkreises spielt für Woldemars Vorstellung eine signifikante Rolle, denn er wird auf diese Weise durch das charakterisiert, was ihn als Mensch im tiefsten Innern bewegt und was er eigentlich ausschließlich seinem vertrauten Bruder mitteilt. Des Weiteren wird durch diese Darstellung von Woldemars Innerlichkeit und der intensiven Mitempfindung Henriettes noch 635 Vgl. zum Formprinzip der Unabsichtlichkeit: Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 169–185, besonders S. 182. 636 Vgl. JWA 7,1, S. 223f.

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vor ihrem ersten realphysischen Aufeinandertreffen zwischen den beiden eine innerliche Verbundenheit entworfen. Das zweidimensionale Formprinzip der Unabsichtlichkeit fungiert als Beglaubigung einer intimen Kommunikationssituation, wobei die briefliche Mitteilung aus diesem exklusiven Rahmen gerissen wird. In dem zwischenmenschlich exklusiven Kontext der brüderlichen Freundschaft zwischen Woldemar und Biderthal berichtet Ersterer über seine Abreise von G*. Woldemar erzählt seinem Bruder, dass er sich in G* »schon zum immer bleiben angehänget« hatte.637 Er »glaubte damals, es würde so seyn [und] wünschte es«.638 Der Brief beginnt mit der Schilderung, wie Woldemar in der Kutsche sitzt und um ihn herum »das Rasseln über das Pflaster« lärmt, aber er »wußte kaum was es war«.639 Er verlässt G* und spürt ein sentimentales Verlustgefühl, das erst in der Besinnung zu seinem Bruder Biderthal zu fahren, eine existenzielle Vergewisserung findet. Der Beginn des Briefes ist für die Spezifizierung der besonderen Schwermut, die Woldemar quält, sehr aufschlussreich. Die Hälfte des Weges ist zurückgelegt! – Es war mir lieb, daß die Post nach B** erst heute abging, denn ich hätte schwerlich vermocht eher an Dich zu schreiben. Ich weiß nicht wie mir geschieht, wie mir ist. Als ich von G* abreiste, war ich wie ausser mir. Ich saß in meinem Wagen und hörte das Rasseln über das Pflaster hin, und wußte kaum was es war.640 Der Moment in der Kutsche steht für ein Gefühl des Verlusts, bei dem Woldemar sein bisheriges Leben verlässt und auf dem Weg zu einem Neuanfang ist. Die Reise ist eine transitorische Zeit zwischen dem alten Leben in G* und dem Zukünftigen in B**. In der Durchquerung des Raums durchlebt Woldemar eine Reflexion des eigenen bisherigen Lebens. So steht die zurückgelegte »Hälfte des Weges« für Woldemars Leben. Der Brief ist eine Form der Zwischenbilanz und zeigt ihn am Beginn eines bestimmten Entwicklungsstadiums.641 Seine Schilderung der Abreise aus G* rückt eine innerliche Zustandsform in den Vordergrund, die als Trance erscheint, da er schreibt, dass er nicht wusste, wie ihm geschieht, und dass er außer sich war. Das »Rasseln über das Pflaster hin« zeigt die Bewegung der Kutsche an, die Woldemar aber kaum wahrnimmt, da er »kaum« wusste, was es war. Dieser Trancezustand artikuliert ein Verlustgefühl, dass eine spezielle Zeit seines Lebens unwiderruflich vorbei ist. Die Bewegung der Kutsche ist wie die Zeit, die unausweichlich voranschreitet. Woldemar ist wie betäubt und ohnmächtig darüber, dass er mit der Abreise von G* die Zeit als lineare Abfolge seines Lebens konkret erlebt. Sein Leben in G* ist gewollt vorbei, doch ruft ihm die Abreise und die damit verbundene Rückkehr zu seinem Bruder die vergangene Zeit deutlich ins Bewusstsein. Diese Thematik der Zeit und Vergehens ist in diesem Brief ein Leitmotiv. Zu Beginn des Briefes ruft Woldemar den empfindsamen Unsagbarkeitstopos von der Fülle des Herzens auf, denn »er hätte schwerlich vermocht eher« an Biderthal zu schreiben. Mit die637 638 639 640 641

Vgl. Ebd., S. 219–223, hier S. 220. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S, 219. Ebd. Vgl. für die Zwischenbilanz des Lebens als konstitutives Element des Bildungsromans: Jürgen Jacobs: Zwischenbilanzen des Lebens. Zu einem Grundmuster des Bildungsromans. Bielefeld 2005.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

sem Einstieg bezeichnet Woldemar seine innere Erlebniswelt als nicht mitteilbar, denn er weiß selbst nicht »wie mir geschieht, wie mir ist«. Wie auch schon in einem Brief von Clerdon an Sylli im Allwill wird eine besondere innere Zustandsform als ›körperliches Außer-Sich-Sein‹ beschrieben. Das eigene Innere scheint Woldemar nicht reflexiv zugänglich zu sein und daher nicht schriftlich mitteilbar. Diese schriftliche Unsagbarkeit des Inneren ist ein markanter Einstieg für empfindsam-idyllische Szenen, da sie dann mit ihrer spezifischen Funktion als präreflexives Erzählverfahren von Innerlichkeit das Innere durch Abbildung von inneren Erlebnissen doch mitteilen.642 Wir erreichten die Landstraße – Knall auf Knall des Schwagers Peitsche, und die Pferde in vollem Trabe… Ich schlug die Augen auf, sah Hecke, Baum und Land an mir vorbey schwinden – an mir vorbey zurück. Ich streckte maschienenmäßig den Kopf hinaus, dem allen nach. Die Sonne war am Aufgehen. – G* war schon fern, aber noch deutlich genug zu unterscheiden; auch erreichte noch das Geläute von seinen Thürmen mein Ohr, und zuweilen kams mit einem Windstoße schnell in hellerem Klange – und wieder weg, wie der Laut eines tiefen Seufzers. Dazwischen wirbelten oben die Lerchen, die Ketten am Pferdegeschirr klirrten; und das Treiben des Postknechts hallte durch den Wald… Unversehens mit einer Drehung ging es die Anhöhe schnell hinunter. Alles, was da war, mir auf einmal entrückt.643 Sein Blickwinkel auf G* wird bei der Kutschfahrt »entrückt«. Dies deutet die zunehmende Ferne zu G* an und den dynamischen Prozess des Wandels, den Woldemar durch seinen Umzug von G* nach B** erfährt. Woldemars Trancezustand als innere Betäubung und stiller Schmerz kontrastiert mit den Geräuschen der Kutsche und der naturalen Umgebung. »Knall auf Knall« treibt der Kutscher die Pferde mit der »Peitsche« zu »vollem Trabe« an. Dieser Lärm schüttelt Woldemar in gewisser Weise wach, denn er schlägt die Augen auf und sieht »Hecke, Baum und Land« an ihm »vorbey schwinden«. Es rauscht an ihm vorbei und liegt »zurück«. Die Symbolhaftigkeit der fahrenden Kutsche für die nie stehenbleibende Zeit bekräftigt sich hier, denn Woldemar kann sich der Fahrt der Kutsche nicht entziehen. Raum und Zeit bilden für Woldemar im Erlebnis des Vorbeigehens eine Einheit. Alles, woran er vorbeifährt, liegt räumlich und zeitlich hinter ihm. Der Moment, in dem er dort war respektive in diesem Fall mit der Kutsche vorbeifuhr, ist vorüber. Woldemar steht diesem unmittelbaren Erlebnis von Raum und Zeit ohnmächtig gegenüber, er streckt »maschienenmäßig den Kopf hinaus« und schaut »dem allen nach«. Der ins Auge springende Ausdruck »maschienenmäßig« impliziert das Hinaustrecken als unwillkürliche Handlung. Es ist ein Geschehen, das Woldemar

642 Ein prominentes Beispiel außerhalb der Erzählwerke Jacobis ist bei Goethes Werther der Brief vom 10. Mai. Dort schreibt Werther, dass seine »Kunst« unter der Fülle seines Inneren »leidet«, und dass er »jetzo nicht zeichnen« könne. Daraufhin zeichnet er metaphorisch verstanden mit Sprache ebenfalls eine empfindsam-idyllische Szene, die auch hier Aufschluss über die psychische Beschaffenheit des Briefschreibenden gibt. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Studienausgabe. Paralleldruck der Fassungen von 1774 und 1787. Hg. von Matthias Luserke. Stuttgart 199, S. 10 und 12, hier S. 12. 643 JWA 7,1, S. 219.

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nicht bewusst durchführt und unterstreicht weiterhin seinen Trancezustand. Die aufgehende Sonne steht für einen Aufbruch ins Unbekannte und für den Neuanfang in B** bei seinem Bruder. Doch dieser Neuanfang ist am Anfang des Briefes äußerst marginal präsent. Im Vordergrund steht die melancholisch geprägte Sentimentalität, die durch die Reise hervorgerufen wird. Woldemars Beschreibung der Abreise aus G* zeigt auf, dass er die Reise als eine transitorische Bewältigung und Neuorientierung benötigt. »G* war schon fern«, dennoch hört er noch »das Geläute« der Türme, die ihm im Windhauch wie »der Laut eines tiefen Seufzers« erscheinen. Das Wirbeln von Baumkronen von »Lerchen«, die klirrenden »Ketten am Pferdegeschirr« und »das Treiben des Postknechts hallte durch den Wald…«. Im Inneren ist Woldemar betäubt, da er trotz gewünschter Abreise, doch »nun volle sechs Jahre zu G* gewesen war«.644 Vor dem Hintergrund von Woldemars speziellem Charakter wird deutlich, dass die Reise ihm seine Endlichkeit vor Augen führt. So hatte er innerhalb seiner sechs Jahre in G* »unter guten Menschen viel Gutes dort genossen; manches Gute auch gethan«.645 Sein Leben gefiel ihm dort und er hatte sich schon an den Gedanken gewöhnt, dort für »immer [zu] bleiben«.646 Doch nun bleibt genau von diesem Leben, in dem er sich so wohlgefüllt hat, nichts mehr übrig, denn »[a]lles was da war, mir auf einmal entrückt«.647 Sein Leben in G* ist »entrückt« in seine Erinnerung.648 Wenn dies alles so ohne Weiteres enden konnte, dann folgt für Woldemar daraus die Frage, was überhaupt vom einzelnen menschlichen Dasein bleibt. Ich stürzte zurück in den Wagen, preßte mein Gesicht aus allen Kräften zwischen die Lehnküssen, und meinte das Herz würde mir die Brust entzwey schlagen…Weg! so immer weg – einst weg von allem! – so scholls dumpf in meinem Innern. Endlich brachen die Thränen los – und Du, Lieber! – Du standest vor meiner Seele. Ich fühlte das: Hin zu ihm, zu meinem Biderthal! – Aber ich weinte noch lange – weine noch heute… […] Ach so bin ich. Etwas vergehen zu sehen, wär’ es noch so gering; zu fühlen, es ist damit zu Ende – es ist aus: bis zur Ohnmacht kann es mich erschüttern.649 Hier kommt Woldemars besondere Schwermut deutlich zum Ausdruck, die nach dem Bleibenden des einzelnen menschlichen Daseins fragt. Der Mensch erscheint Woldemar in diesem Brief als vollständig endlich und seine Abreise aus G* und die Kutschfahrt sind für ihn Erlebnisse von Endlichkeit. Diese Erfahrung von Beschränkung führt ihn zu einem Trancezustand, den er bei seiner Schilderung der Abreise von G* hervorhebt. Es ist die Ohnmacht, die eigene Beschränkung zu fühlen, die Woldemar quält. Dieses innerliche Leiden an der eigenen erlebten Endlichkeit äußert sich auch körperlich, denn Woldemar »preßte sein Gesicht aus allen Kräften zwischen die Lehnküssen, und meinte das Herz würde [ihm] die Brust entzwey schlagen«. Woldemars Aufruhr im Inneren nimmt radikalere Züge an: »Weg! so immer weg – einst weg von allem!« Die Reise von G*

644 645 646 647 648 649

Vgl. Ebd., S. 220. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd., S. 219.

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nach B* mit dem mehrtägigen Zwischenstopp in R** ist für Woldemar durch die unmittelbare Erfahrung von Vergänglichkeit ein Analogon zum Sterben, denn wie er jetzt aus G* »weg« ist, so wird er eines Tages »weg von allem« sein. Dies verdeutlicht Woldemars Selbstbeschreibung, dass er es nicht ertragen kann, »[e]twas vergehen zu sehen«. Egal wie »gering« das Vergehende ist, die Endgültigkeit, dass »es […] damit zu Ende [ist]«, führt ihn »bis zur Ohnmacht«. Dieser Gedanke der eigenen Vergänglichkeit hallt »dumpf [im] Innern« Woldemars nach und fragt nach dem Bleibendem des eigenen Daseins. Die ausbrechenden Tränen bekräftigen die Erschütterung, die Woldemar durch dieses Erlebnis durchmacht. Der Einstieg seines Briefes führt seine besondere Schwermut als eine psychische Beschaffenheit vor, die hier als eine melancholische Gemütsverfassung erscheint, die in besonderer Weise die eigene Endlichkeit im Blick hat. Diese spezifische Form der Melancholie lässt sich als ein Leiden an der Endlichkeit beschreiben, welches ein Leiden an der Singularität beschreibt. In dieser Hinsicht erinnert Woldemar an dieser Stelle an die Figur Sylli aus Jacobis Erzählwerk Allwill. Dadurch, dass sich Woldemar als einziger erfährt, erlebt er sich ständig in der Beschränkung. So schildert die Reisedarstellung am Beginn seines Briefes ein innerliches Leiden, dass auf seiner Einzigartigkeit fußt. Die fahrende Kutsche, in der Woldemar sitzt, ist ein Bild eines in sich zugeschlossenen Ichs, das sich durch die Welt bewegt und an dem alle äußeren Eindrücke letztendlich nur abprallen, wie Woldemar dies in dieser Szene mit den sinnlichen Eindrücken der naturalen Umgebung ausmalt. Dieser Briefeinstieg Woldemars entwirft daher ein Ich, das sich in Differenz zu allem anderen wahrnimmt. Alles außerhalb des Ichs erfährt Woldemar als ein Nicht-Ich und erlebt sich so in einer permanenten Beschränkung. Das Ich erscheint aufgrund der Differenz von allem anderen als singulär. Um diese Singularität zu überwinden, sucht Woldemar nach »Sympathie« als einem »Mittel der Unvergänglichkeit«.650 Aus diesem Grund erscheint Biderthal »vor [der] Seele« Woldemars«.651 Mit diesem innerlichen Auftritt Biderthals geht das Gefühl einher, in ihm eine Stütze für dieses Leiden an der Endlichkeit zu finden: »Hin zu ihm, zu meinem Biderthal!«652 Das Gefühl ist eine existenzielle Grundkraft des Menschen und diese Kraft wird bei Woldemar durch die Imagination Biderthals evoziert. Es deutet sich an, dass Woldemar sich danach sehnt, in einer exklusiven innigen Freundschaft mit Biderthal eine Transparenz im Sinne von Ich-Identifikation zu finden, die ihn von seinem Leiden befreit und seine Singularität aufhebt. Biderthal erscheint als diejenige Person, die Woldemar als ein Freund ausersehen hat, bei der er glaubt, die gesuchte innerliche Verbindung zu finden. Eine solche Beziehung scheint Woldemar auch in G* nicht gefunden zu haben und führt dies als Grund dafür an, dass Biderthal ihn mit »veränderten Gesinnungen« wiedersehen wird.653 Grundsätzlich prognostiziert Woldemar, dass er seinem Bruder »überhaupt etwas kälter vorkommen« wird.654 Mit dieser Kälte weist Woldemar auf einen Desillusionsprozess hin, der sich auf sein Menschenbild bezieht, denn er hat

650 651 652 653 654

Vgl. Ebd., S. 216. Vgl. Ebd., S. 219. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 223. Vgl. Ebd.

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»vom Menschen im allgemeinen, von seiner Natur – theils einen viel höheren, theils einen viel geringeren Begriff«.655 In der Gesamtheit dieses Briefes deutet sich Woldemars anthropologische Vorstellung an, dass der Mensch Beschaffenheiten annimmt, die durch Veränderungen seiner innerlichen Zustandsform hervorgerufen werden. Damit deutet sich in der Vergänglichkeitsthematik an, dass der Mensch innerliche Dynamiken aufweist. Bei Woldemar zeigt sich dies in seinem veränderten Menschenbild und in der Desillusion, indem es ihm bisher unmöglich war, die eigenen Grenzen der Beschränkung zu überwinden. Woldemar führt eine Form der Vergänglichkeit vor, die sich auf die Beschaffenheit des Menschen als eigentümliches Ich bezieht, denn dieses Ich ist nicht konstant und gleichbleibend. Es unterliegt selbst Veränderungen, so weist Woldemar im Moment des Briefschreibens eine andere Beschaffenheit seines Ichs auf als beim letzten Zusammentreffen mit Biderthal. Er hat sich innerhalb der Zeit auch innerlich verändert. Er ist nicht mehr derjenige Mensch, der er einmal war. Diese Veränderung Woldemars beschreibt ein sukzessives Depravationsgeschehen, da sein Menschen-und Selbstbild dadurch herabgestuft wird. Woldemars damaliges Ich und seine damalige innerliche Zustandsform sind aber nicht verloren. Sie sind in ihm konserviert als Erinnerung. Sich zu erinnern, erscheint bei ihm als eine innerliche Wiederbelebung seines damaligen Ichs. Dieses Schwelgen in der vergangenen Zeit beginnt mit der Ankunft in R**, denn als Woldemar »die hiesige Gegend erreichte, die Stadt erblickte, wo« er zusammen mit Biderthal »in verschiedenen Zeitpunkten so manche Tage mit einander zugebracht hatten«, regt dies Reminiszenzen an die gemeinsame Zeit mit Biderthal an.656 Im Gasthaus »Krone« war »alles […] noch beym Alten« und dort wartete bereits ein Brief von Biderthal auf ihn.657 Woldemar ist von »den ersten Zeilen« des Briefes bereits »in eine so starke Bewegung« versetzt worden, dass er das Lesen abbricht, sein Zimmer verlässt und sich »unter die Eichen« setzt.658 Es ist zwar erst Februar, aber »[e]s war Wetter wie im May«.659 Unter den Eichen fängt er nicht direkt an den Brief Biderthals zu lesen, sondern er gibt seiner Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit seinem Bruder einen gedanklichen Raum. Vor sieben Jahre hatten wir eben so schöne Februar-Tage, und Du warst mit mir hier. Weißt Du, wie wir über die Höhe gingen, an der Seite, weit her, den Fluß schlängeln sahen, so schön blau zwischen den sonnigen Ufern! Wir schlugen einen Weg ein, den wir nicht kannten, der uns an einen waldigen Hügel leitete. Erinnere Dich, wie wir hinan stiegen; bey jeder sich öfnenden Aussicht weilten, aber ungeduldig; dann mit verdoppelten Schritten eilten die herrliche Gegend immer weiter vor uns auszudehnen; athemlos endlich hinauf kamen, da standen – auf der mühsam erstrebten nackten Felsen-Glätte.660

655 656 657 658 659 660

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 220. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd., S. 220f.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Durch die Schilderung seiner Erinnerung bekommt Woldemars Erzählung zwei verschiedene zeitliche Ebenen. Auf der gegenwärtigen Ebene ist er allein bei den Eichen und die Handlung findet imaginativ in seinen Gedanken statt, indem er zurückblickt. Auf der Ebene der Erinnerung und damit in der Vergangenheit wird eine idyllische Szene entworfen, die Woldemar gemeinsam mit seinem Bruder erlebt hat. Aufgrund dieser zwei zeitlichen Ebenen wird deutlich, dass die naturale Erfahrung bei dieser idyllischen Szene in den Hintergrund tritt. Der locus amoenus als Ort unter den Eichen ist für Woldemar mit der Erinnerung an das gemeinsame Erlebnis mit seinem Bruder verbunden. Der Platz unter den Eichen ist für ihn innerlich markiert und steht für ein gemeinsames Erlebnis, das die brüderliche Freundschaft zwischen ihm und Biderthal aktiviert. Die Wahrnehmung des naturalen Raums erscheint daher in besonderer Weise durch das Innere Woldemars dargestellt. Nicht der Ort als natural schöner und angenehmer Raum steht im Vordergrund, sondern das, was er mit diesem Raum aus seinem Erfahrungsspektrum heraus assoziiert. Dies verweist darauf, dass Woldemars Wahrnehmung vor allem durch sein Inneres bestimmt ist und in der Beschreibung der idyllischen Szene kehrt er im Brief an seinen Bruder sein Innerstes nach außen. Diese Empfindungsrichtung vom Inneren ins Äußere ist eine Form der Naivität. Von Beginn an wird deutlich, dass die Naturdarstellung als Projektionsfläche für Innerlichkeit genutzt wird. Die Naivität zeigt sich in dem mentalen Wiederaufleben eines vergangenen Daseinserlebnisses. Dieses wurde jedoch von Woldemar als so einschneidend und emotional erlebt, dass seine Erinnerung an dem Ort des damaligen Geschehens diese besondere Daseinserfahrung vergegenwärtigt. Die Beschreibung dieser idyllischen Szene lässt Woldemar diese Erfahrung nicht bloß Revue passieren, sondern er durchlebt sie noch einmal. Dies zeigt sich darin, dass er der Situation von damals neue Akzente abgewinnen kann und er jetzt zu der Erfassung gelangt, was die damalige Naturerfahrung zusammen mit Biderthal innerlich auszeichnete: Damals dachte ich weiter nichts dabey; jetzt, bey der Wiedererinnerung, fiel es mir auf. Wir blieben eine Weile, genossen das eroberte, merkten, voll Entzücken, nicht auf die öde Stelle, die uns den Genuß verlieh, doch räumten wir bald den Platz. Schnell hinab gings den steilen Pfad, und wir suchten über Aecker und Wiesen den Weg zum Thale unserer lieben Eichen. Wir fanden ihn. Es war am Kreuz bei Hildern. Da setzten wir uns hin und ruhten aus. Ich wüßte nicht daß ich einen Frühling erlebt, einen Frühling empfunden hätte, wie jenen damals. Von seinem lieblichen Hauch schien die Erde sichtbar sich zu öffnen, schien zu beben vor Wonne im Hervorbringen des ersten Grüns, im Entfalten der Keime. Hecken und Bäume – noch ohne Blatt; aber wie herrlich überglänzt vom Durchschein ihrer Fülle; alle Zweige mit hochgeschwellten Knospen bedeckt. – Da wünschte ich mir nur so lange zu leben, bis die Knospen aufbrächen, bis der Segen sich löste – nur bis zum nahen May. Ich sagte Dir das, und es drang in Dich. Uns wurde so wohl.661 In der retrospektiven Betrachtung dieses Erlebnisses fällt Woldemar auf, wie »öde [die] Stelle« oben auf dem Hügel eigentlich war. Woldemar realisiert in der Erinnerung durch die ästhetisch nüchterne Hinwendung zur Natur, dass es nicht um die Wahrnehmung 661 Ebd., S. 221.

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der naturalen Umgebung bei dem gemeinsamen Erlebnis mit Biderthal ging, sondern um die gemeinsame Interaktionserfahrung eines aktiven sowie vitalen Daseins. Dieses Erlebnis ist gekennzeichnet durch Bewegung. Immer wieder wird auf die Dynamik von den beiden hingewiesen. Sie »gingen« und »schlugen einen Weg ein, den [sie] nicht kannten«.662 An dem Hügel angekommen »stiegen« sie den Hügel hinauf.663 Wenn sie an einem Aussichtspunkt stehen blieben, »verdoppelten« sie ihre Schritte.664 Am Ende stehen sie »athemlos« auf der »Felsen-Glätte« des Hügels.665 Doch mit dem Erklimmen des Hügels ist die Betonung der Bewegung und des Dynamischen nicht vorüber, stattdessen heißt es, dass sie »[s]chnell hinab« stiegen und den Weg zum Tal der besagten Eichen suchten.666 Diese Schilderung der Erklimmung des Hügels und der Wanderung mit Biderthal greift verschiedene Elemente der gegenwärtigen Situation Woldemars auf und offenbart, dass die Erinnerung an dieses Erlebnis mit Biderthal eine Form der Selbstberuhigung seines Aufruhr im Inneren ist. Mit dem Einschlagen eines Weges, »den wir nicht kannten«, greift Woldemar das Motiv des Aufbruchs ins Unbekannte auf, das seine innerliche Zustandsform auf der Zeitebene der Gegenwart besonders prägt.667 Biderthal erscheint als Mensch, der Woldemar für solche Aufbrüche Sicherheit und Stabilität gibt, denn sie erreichen an dem erinnerten Tag nicht nur den Gipfel des Hügels, sondern finden auch problemlos »den Weg zum Thale unserer lieben Eichen«.668 Außerdem greift Woldemar in seiner Erinnerung das sentimentale Verlustgefühl auf, das er am Anfang des Briefes beschrieben hatte. Er besinnt sich, dass sie »bey jeder sich öfnenden Aussicht weilten, aber ungeduldig; dann mit verdoppelten Schritten eilten«.669 Woldemar berichtet von der Paradoxie eines eilenden Verweilens, das sinnbildlich für das menschliche Dasein steht. Die Bewegung ist neben dem Ausdruck der jugendlichen Lebendigkeit Woldemars und Biderthals in der Erinnerung Woldemars vor allem eine Form der Sinnkonstitution, denn sie haben ein konkretes Ziel vor Augen, das sie erreichen möchten. Dieses Ziel zu erreichen, ist ihre Motivation. Mit dem Erreichen des Gipfels des Hügels sind sie zufrieden. Doch nach einem kurzen Genussmoment wandern sie direkt weiter zu dem Thal ihrer Eichen. Dort angekommen setzen sie sich direkt ein neues Ziel, das für die weitere Bewegung zur Motivation wird. Die wandernde Bewegung sowie das Wandern grundsätzlich ist Symbol einer menschlichen Sinnkonstitution.670 Doch gerade das

662 663 664 665 666 667 668 669 670

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Gerhard Kaiser setzt den Wandrer als ein wesentliches Motiv der Phänomenologie des Idyllischen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kaiser sieht »[i]m Bild des Wandrers […] die Freiheit und Schrankenlosigkeit, aber auch die Umgetriebenheit des Genies«. Gerhard Kaiser: Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977, 148–174, hier S. 148.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Berichten über das Besteigen eines Hügels oder Berges ist in der Tradition von Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux im Jahre 1327 ein Ausdruck eines »neuzeitlich-autonomen Selbstgefühls«.671 Dieses Gefühl, in der Bewegung und in der Anstrengung sich selbst zu erfahren und so auch zu einer veränderten Wahrnehmung der naturalen Umgebung zu gelangen, formiert einen besonderen Bewusstseinszustand. Das Wandern ist eine gemeinsame Interaktion Woldemars und Biderthals, bei dem sie für diese Zeit der Bewegung das gleiche Ziel verfolgen. Bei dem Erklimmen des Hügels wird die körperliche Mühe betont, denn auf der »mühsam erstrebten nackten Felsen-Glätte« sind sie »athemlos«. Diese Anstrengung und Erschöpfung erscheint hier mit durchweg lebensfreudigen Assoziationen. Die Erklimmung des Hügels und das beständige, kaum an einem Punkt verweilende Wandern werden selbst zur Konstitution von Sinnhaftigkeit, solange Biderthal und Woldemar zusammen sind. Das stetige Weiterwandern verweist auf die Sukzession des menschlichen Daseins, die aber hier nicht problematisiert wird, da sie sich aus eigener Kraft selbst im Raum und in der Zeit bewegen. Damit ist das Wandern als eigene Bewegung in der Zeit von der Kutschfahrt zu differenzieren, denn in der Kutsche wird Woldemar unwillkürlich immer weiter vorangebracht, während das Wandern eine selbst gesteuerte Bewegung darstellt. Woldemar erinnert sich daran, dass sein Inneres von diesem gemeinsamen Erlebnis mit Biderthal so intensiv erfüllt war, dass diese empfundene Vitalität, Aktivität und Lebensfreude irreversibel verloren scheint: »Ich wüßte nicht daß ich einen Frühling erlebt, einen Frühling empfunden hätte, wie jenen damals.«672 Diese innerlich besondere Zustandsform ist für ihn nur noch Erinnerung und bildet einen deutlichen Kontrast zu seiner Beschaffenheit im Inneren auf der Zeitebene der Gegenwart. Auf der Zeitebene der Erinnerung korrespondiert die innerlich empfundene Vitalität und Lebensfreude mit dem aufkeimenden Frühling. Der Frühling, den Woldemar hier zusammen mit seinem Bruder erlebt, ist der Frühling seines Lebens, der zum Zeitpunkt des Erinnerns vorüber scheint. Das bedeutet, dass nicht der naturale Frühling in dieser Szene ausschlaggebend ist, sondern der Frühling von Woldemar begrifflich verwendet wird, um einen innerlichen Daseinszustand auszudrücken. Die naturale Umgebung wird bereits im Februar als frühlingshaft aufgefasst, weil die Empfindungsrichtung in dieser Szene das Innere in ein Äußeres projiziert. Nicht der sinnliche Eindruck der Natur wirkt auf das Innere Woldemars ein, sondern das Innere bestimmt wesentlich die Wahrnehmung des Äußerlichen. Dieses Sentimentalitätserlebnis führt diese Empfindungsrichtung deutlich vor, weil die geschilderten Erlebnisse nicht sinnlich, sondern als Erinnerung und somit im Inneren Woldemars aufgerufen und erneut durchlebt werden. Die Erinnerung Woldemars lässt ihn die damaligen Erlebnisse nochmals erneut mit einem veränderten Bewusstsein durchleben. Damals »dachte [er] weiter nichts dabey«, dass es »die öde Stelle« einer »nackten Felsenglätte« war, die oben auf dem Hügel auf die beiden wartete und »mühsam erstrebt[]« werden musste.673 Der sublime innerliche Ge-

671

Vgl. Helmut J. Schneider: Erinnerte Natur. Einleitende Bemerkungen zur poetischen Geschichte deutscher Landschaft. In: Ders. (Hg.): Deutsche Landschaften. Frankfurt a.M. 1981, S. V-XXII, hier S. IX. 672 Vgl. JWA 7,1, S. 221. 673 Vgl. Ebd.

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nuss dieses Erlebnisses liegt in einer existenziellen Selbstvergewisserung, die sich über jegliche sinnlichen Sensationen erhebt und die geistige Verbindung von Woldemar und Biderthal betont. Das erinnerte Naturerlebnis ist ein mentales Wiedererleben einer innerlichen Zustandsform, die nicht dadurch geprägt war, dass er sich allein und einsam fühlte. In der Rückschau auf diese gemeinsame Zeit mit Biderthal erlebte sich Woldemar nicht singulär und wurde noch nicht von der Gemütsverfassung der Schwermut geplagt. Erst in der Erinnerung wird ihm klar, wie glücklich er in dieser Zeit zusammen mit Biderthal war und wie viel ihm sein Bruder bedeutet. Die »mühsam erstrebte[] nackte[] Felsen-Glätte« verweist auf das Erhabene, das über das Sinnliche dieser Szene hinausführt. Dieser Ort steht sinnbildlich für die innerliche Beziehung, für die Sympathie und Ich-Identifikation, nach der sich Woldemar auf der Zeitebene der Gegenwart so vehement sehnt, und die er in der Vergangenheit mit seinem Bruder verwirklichte, dann aber verloren hat. So gesehen ist die Erinnerung Woldemars das erneute Erleben eines Daseinszustands, in dem er glücklich war. Diese jugendliche Glücksentfaltung ist nur noch in Form einer erinnerten Ich-Entgrenzung präsent, wobei die Zeitebene der Gegenwart gerade durch eine Ich-Zentrierung geprägt ist.674 Erzähltheoretisch ist Woldemar auf der zeitlichen Ebene der Gegenwart das erzählende Ich, während der jugendliche Woldemar das erinnerte und erlebende Ich ist. Die Verbindung dieser beiden Ich-Instanzen ist ein irreversibel empfundenes Verlustgefühl. Woldemars ›goldenes Lebensalter‹ ist vorbei und das zu dieser Zeit empfundene Glück ebenfalls. Unter dem Vorzeichen der Schwermut Woldemars und seiner Schilderung der Abreise aus G*, die ihn in einen ohnmächtigen Trancezustand brachte, ist die Erinnerung an die vergangene Zeit wie ein schmerzstillender Balsam für sein desillusioniertes und kalt gewordenes Inneres. Das erlebende Ich von Woldemars Erinnerung hat jedoch direkten Einfluss auf das erzählende Ich, denn letzteres versucht »[d]iese Unbefangenheit, diese heiligen Gefühle […] jetzt wieder [zu suchen]«.675 Woldemar findet diese »heiligen Gefühle […] im Eichenthal« und ist dort mit dieser Gemütsverfassung in der Lage den Brief Biderthals zu lesen. Die Darstellung des erinnerten Naturerlebnisses fungiert als Vorbereitung des Lesens und rückt in eine funktionale Nähe zu dem Naturerlebnis, das Biderthal als Vorbereitung der Familienmitglieder auf Woldemars Brief initialisiert hatte. Die beiden Vorbereitungssituationen spiegeln die grundsätzliche Dichotomie der kontrastierenden Figuren Woldemar und Biderthal wider. Woldemar führt als Figur die Herausforderung einer radikalen Individuation vor und Biderthal repräsentiert eine gesellige Empfindsamkeit. Diese Positionseinnahme ist für die weiteren Geschehnisse maß674 Carmen Götz sieht in dieser subjektivistischen Wirklichkeitsdeutung eine »Aneignung des Anderen«. Vgl. dazu: Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 365f, hier S. 366. Angemerkt sei dazu, dass Götz empfindsame Naturschilderungen mit dieser Ausführung sicherlich sehr genau beschreibt, dass aber gerade die Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis zu diesen empfindsamen Naturdarstellungen eine distanzierte Position einnehmen, indem sie durch Figuren zum Ausdruck kommen, die aufgrund ihres radikalen, selbstverherrlichenden Subjektzentrismus als sozial problematisch dargestellt werden. Die Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis führen zu der Quintessenz, dass die von Götz beschriebene empfindsame Attitüde hinterfragt und als lebensuntauglich degradiert wird. 675 Vgl. JWA 7,1, S. 221.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

gebend: Woldemar steht als Mensch, der immer wieder sein eigenes Ich vehement entfaltet, im starken Kontrast zur Biderthal, der durchaus in direkter Konfrontation mit Woldemar für eine lebenstaugliche Gemeinschaftsbildung einsteht, die Woldemar integrieren soll. Der erste Brief Woldemars erfüllt die Funktion den Protagonisten als Individuum darzustellen und diese Individualität zugleich zu problematisieren.676 Dieser Brief wird von Biderthal zugleich dazu verwendet, Woldemar vor seinem persönlichen Erscheinen bei der Familie bereits in diese zu integrieren. Woldemars erster Brief berichtet über seinen Aufbruch und seine Reise zu Biderthal, die ihn über die Stadt R** führt. Dort hat er mit Biderthal »in verschiedenen Zeitpunkten so manche Tage mit einander zugebracht«.677 R** ist für Woldemar ein Erinnerungsort, der ihn in besonderer innerlicher Intensität rührt. Mit Woldemars Schwermut und seiner desillusionierten Sicht auf sich selbst und den Menschen steht diese Szene in einem thematischen Zusammenhang zur Anthropologie, indem Woldemar in seinem Brief die Frage nach dem durch die Zeit hinweg Bleibenden des einzelnen Menschen stellt. Im Vergleich mit seiner Jugend wird im Rahmen der Frage nach realisiertem Glück, ein Kontrast von Daseinszuständen eröffnet, der ein Dasein, das sich in unreflektierter Naivität dem Moment als Empfindungserlebnis hingibt, mehr innerlichen Wert zuschreibt als seiner jetzigen gesellschaftlich etablierten Lebensart als Rechtsgelehrter. Der Verlust dieses einstigen Ichs empfindet Woldemar als schmerzlich und lässt sein Leben als eine Art Depravationsgeschehen erscheinen, weil er sich von einer glücklichen, innerlichen Zustandsform immer weiter entfernt hat. Diese Szene ist in einen Brief eingebettet, in dem Woldemar als Erzähler auftritt und von seinen eigenen Erlebnissen berichtet, sodass die erlebende und erzählende Instanz gleichgesetzt wird. Das Empfindsam-Idyllische erscheint als authentifizierendes Erzählverfahren, das ein Empfindungserlebnis mitteilt und eine Unmittelbarkeit zu der Figur herstellt, die dieses innerliche Erlebnis erfährt und darüber berichtet. Damit wird deutlich, dass diese empfindsam-idyllische Szene als ein erzählerischer Komplex genutzt wird, um eine Ausdrucksform von Innerlichkeit zu schaffen, die im Deckmantel äußerer Sensationen über das Innere berichtet. Außerdem ermöglicht das Empfindsam-Idyllische als Erzählverfahren von Innerlichkeit, psychische Beschaffenheiten sowie Gemütsverfassungen zu schildern, die lediglich erfasst, nicht aber rational durchdrungen werden. Die empfindsam-idyllische Szene bietet hier eine Ausdruckform des Inneren, die wie auch schon in Jacobis Allwill präreflexiv ist, indem sie den Fokus auf die Darstellung legt. Eine präreflexive Ausdrucksform des Inneren bezeichnet eine unverstellte und der Figur nicht bewusste Darlegung innerer Regungen. Die empfindsam-idyllische Szene zeichnet einen psychischen Zustand Woldemars und stellt daher eine signifikante Verbindung zu Jacobis interdisziplinärer Forschungsaufgabe, »Menschheit, wie sie ist, erklärlich und unerklärlich« abzubilden, dar.678 Die Eigentümlichkeit Woldemars gehört

676 Vgl. zur Problematik von Individualität in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts aus komparatistischer Perspektive: Andrejs Petrowski: Weltverschlinger, Manipulatoren und Schwärmer. Problematische Individualität in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts. Heidelberg 2002. 677 Vgl. JWA 7,1, S. 220. 678 Vgl. Ebd., S. 207.

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zu den Unerklärlichkeiten des menschlichen Daseins. Die empfindsam-idyllische Szene gibt einen Einblick in das Innere Woldemars ohne Verstellung. Dabei ist der Brief an das Medium der Schrift gebunden und die Schrift wiederum ist als Kommunikationsmedium besonders geeignet Innerlichkeit zu betonen, da sie Körperlichkeit auf ein Minimum reduziert.679 Schrift artikuliert als Medium Vergeistigung und Negation von Körperlichkeit. So bildet auch die schriftliche Kommunikation zwischen Woldemar und Biderthal ein Gegenbild zur körperlichen Präsenz der Familienmitglieder um Biderthal. Die Schrift ist als kommunikatives Medium Differenz zu dem, was sie darstellt, und setzt einen Akt der Reflexion voraus, die das Erlebte in geschriebener Form versprachlicht. Als solches ist es aber ein Unmittelbarkeits-und Authentizitätsphantasma, welches an die Schrift gebunden ist. In diesem Brief Woldemars zeigt sich die Aporie des EmpfindsamIdyllischen als ein schriftliches Erzählverfahren von Innerlichkeit in der Funktion einer Unmittelbarkeits-und Authentifikationsstrategie zu stehen. Eine unmittelbare und authentische Artikulation des Inneren setzt Abwesenheit eines rationalen Bewusstseins voraus und muss daher präreflexiv sein. Im streng genommen Verständnis lässt sich präreflexiv aber nicht schreiben. Das Empfindsam-Idyllische ist daher bezüglich des Mediums der Schrift ein aporetisches Erzählverfahren von Innerlichkeit. Dies zeigt, dass die empfindsame Suche nach Ausdrucksformen des Inneren in der Schrift zugleich Möglichkeiten und Grenzen findet. Die empfindsam-idyllische Szene aus Woldemars Brief legt paradoxerweise genau das Gegenteil von dem offen, was sie eigentlich als narrativ deskriptives Verfahren eines präreflexiven Innerlichkeitsausdrucks ermöglichen soll. Sie hat die Aufgabe, eine natürliche Ausdrucksform des Inneren zu sein, erweist sich aber als künstliches Verfahren des Schreibens. Daher thematisiert der Brief an verschiedenen Stellen den Schreibprozess. Zu Beginn des Briefes heißt es, »[i]ch hätte schwerlich vermocht eher an Dich zu schreiben«.680 Zum Ende des Briefes wird die Schrift als Medium, die das Innere des Menschen vermitteln kann, skeptisch betrachtet: »Du wirst mich verändert finden, lieber Biderthal. Zwar habe ich Dir von allem, was sich mit mir zutrug, jedesmal treue Rechenschaft gegeben: aber was ist es mit dem Schreiben?«681 Im Brief und somit auch durch die Schrift wurde Biderthal über die Geschehnisse im Leben seines Bruders informiert, aber Woldemar verweist hier deutlich auf die Differenz zwischen Leben und dem, was darüber in der Schrift mitteilbar ist. Am Ende des Briefes rückt der Brief als Kommunikationsform in den Vordergrund, wenn Woldemar schreibt: »Genug und schon zu viel! Erst konnte ich nicht anfangen zu schreiben; nun kann ich nicht aufhören.«682 Im Moment des Briefschreibens monologisiert der Schreibende. Es gibt keine Reaktion und keine Unterbrechung. Der Brief ist aus der Produktionsperspektive wie ein Monolog und dieser hat die Eigenart, dass eine Aussage nicht direkt von einer anderen Figur angezweifelt oder berichtigt werden kann. So fällt bei Woldemars Brief und seiner vorherigen Einführung auf, dass es im Punkt

679 Vgl. dazu ausführlich: Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. 680 Vgl. Ebd., S. 219. 681 Vgl. Ebd., S. 222. 682 Vgl. Ebd., S. 223.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

der zwischenmenschlichen Bindung eine erhebliche Diskrepanz gibt. In der ersten Beschreibung Woldemars wird seine Suche nach »Sympathie« hervorgehoben.683 Woldemar wird hier als eine Person beschrieben, die mit anderen eine Transparenz im Sinne einer Ich-Identifikation sucht. Die Ich-Identifikation im anderen ist für Woldemar »ein Mittel der Unvergänglichkeit und der Verklärung« und damit zweckgebunden an seine Sehnsucht nach Sublimation, die für ihn die Aufhebung seiner erlebten Singularität darstellt.684 Sein Charakter ist durch »seine Sehnsucht« nach innerlicher Erhebung geprägt, denn »alles Herzerhebende und Schöne« spiegelt er in seinem Ich und verlagert es auf diese Weise in sein Inneres.685 Was sich hier andeutet, ist eine Selbsterhöhung, die sich beständig mit dem eigenen Selbst nicht zufrieden geben kann. Die Erfassung des eigenen Selbst und eine Annäherung daran, wer er selbst eigentlich ist, ist aufgrund seines Charakters an diesem Punkt nicht möglich. Woldemar ist in seinem Brief trotzdem durchaus selbstkritisch. In der von ihm abgeschriebenen Passage aus Biderthals Brief erklärt dieser, dass er seinen Bruder in sein Familienglück integrieren möchte, um so sein eigenes Glück zu erweitern. Woldemar hingegen reflektiert, dass er in der Vergangenheit für Biderthal aber eher eine Quelle der Sorge denn des Glücks war: O Du Bester, o Ihr Theuren, Trefflichen alle – um Gottes willen! hofft doch nicht so viel von mir! Ach, ich bin der Mensch nicht, auf den man ein Glück bauen kann! Hast du das vergessen, Biderthal – alles vergessen: den Gram, den Kummer, die bitteren Sorgen, die ich so häufig Dir verursachte?686 Woldemar erinnert Biderthal daran, durch welche schweren Zeiten sie gemeinsam gegangen sind und wie sie sich gegenseitig für den Bruder aufgeopfert und sich trotz aller Beschwernisse nie voneinander »abgewendet« haben.687 Woldemar sieht in dieser innigen und erprobten Bruderbeziehung »den Bund unserer Freundschaft«.688 Er stellt die folgende Definition von Freundschaft vor: Lieben – bis zur Leidenschaft, kann man jemand in der ersten Stunde, da man ihn kennen lernt, aber eines Freund werden – das ist bey weitem eine andre Sache. Da muß Mensch mit Mensch in dringenden Angelegenheiten erst oft und lange verwickelt werden, der Eine am Andern vielfältig sich erproben, Denkungsart und Handlungsweise zu einem unauflöslichen Gewebe sich in einander schlingen, und jene Anhänglichkeit an den ganzen Menschen entstehen, die nach nichts mehr fragt, und von sich nicht weiß – weder woher noch wohin.689 Eine Freundschaft ist für Woldemar eine zwischenmenschliche Beziehung, bei der sich die Personen aneinander in verschiedenen Situation erprobt haben und man einen Ein-

683 684 685 686 687 688 689

Vgl. Ebd., S. 216. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 222. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd.

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blick in die »Denkungsart und Handlungsweise« eines »Andern« bekommt. Eine solche Beziehung fragt nicht »woher noch wohin«. Sie ist ein Wert an sich. Woldemars Freundschaftskonzeption steht in einer deutlichen Diskrepanz zu seiner Einführung. Im Reziprozitätsverhältnis der extradiegetischen und intradiegetischen Erzählebene wird deutlich, dass Woldemar sich zum Zeitpunkt seines ersten Briefes in einem Entwicklungsstadium befindet, in dem er selbst nicht die Fähigkeit hat, sein aufgestelltes Freundschaftskonzept zu realisieren. Er ist als Mensch eingeführt worden, der notorisch nach Sublimierung seines Inneren strebt. Daher entwirft er zwar ein Bild einer idealen Freundschaft, aber er hat zu diesem Zeitpunkt nicht die Selbsterkenntnis, dass ihm die Möglichkeit einer solch innigen Verbindung selbst nicht gegeben ist. Woldemar sehnt sich nach einer transparenten innerlichen Sympathie und weist daher einem Freund direkt die Funktion zu, diese Sehnsucht zu erfüllen. Demnach haben Freundschaftsbeziehungen bei ihm bei seiner derzeitigen Zustandsform des Inneren ein »woher« und ein »wohin«. Es wird deutlich, dass Woldemar sich seiner Sehnsucht nicht bewusst ist. Er begreift seine Schwermut nicht. Darauf macht Henriette aufmerksam, die durch das Hören seines Briefes Woldemars Schwermut direkt zu erfassen scheint: Diese Vorlesung hatte auf alle Zuhörer einen sichtbaren Eindruck gemacht, aber auf keinen so ausgezeichnet, wie auf Henriette. O, sagte sie, da Biderthal geendigt hatte. – O, daß ihm wohl würde unter uns, dem guten Woldemar – dem armen Betroffenen, in sich Gescheuchten! Daß ihm hier das Räthsel seiner Schwermuth schön sich löste – seine Wehmuth von ihm genommen würde! Ich meine, ich sehe ihn, wie er mit gesenktem Auge und wiegendem Tritte immer stiller, leiser, sinnender ins Leben hinein wankt! Henriette sieht Woldemars schwer-und wehmütige Zustandsform als eine Lebensphase an, die sie mit seiner Ankunft in B** verändern möchte. Woldemars Ankunft in B** wird von allen, außer Henriette, als angenehm empfunden: Es geschah was in dergleichen Fällen zu geschehen pflegt: jeder hatte den Mann sich anders vorgestellt als er war. Caroline, Luise, Dorenburg vertauschten mit Gewinn das Bild ihrer Einbildungskraft gegen die Wirklichkeit. Henriette fühlte anders. Etwas an Woldemar war ihr fremd, störte, entfernte sie.690 Woldemar, der in G* als Rechtsgelehrter für einen Fürsten arbeitete und dort einigen Umgang pflegte, weist eine »Zierde« und »feine Sitte« in seinem Verhalten auf, die Henriette abschreckt.691 Was Henriette an Woldemar stört, ist seine soziale Umgangsform, die ihr verstellt vorkommt. Woher, fragte sie, dies Aeusserliche eines abgeglätteten Weltmannes, alle diese zur größten Fertigkeit gediehenen Künste des Scheins, die man nicht ohne anhaltenden Fleiß, mühsame Aufmerksamkeit, vielen Zeitverlust, lange Anstrengung und Uebung erwirbt; zumal wenn man nicht von Kindheit an dazu gewöhnt, darinn erzogen wurde – 690 Ebd., S. 224. 691 Vgl. Ebd.

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woher dies alles an dem Hasser des Nichtigen, an dem Hochgesinnten? Wie konnte er in kleinen Dingen so groß werden? – Ist sein Herz getheilt? – Welche Theilung wäre dies? Es schauderte Henriette bey diesem Gedanken.692 Dieser Aspekt ist für die Charakterisierung und für die folgende Entwicklungsgeschichte Woldemars hervorzuheben. Woldemar ist eine Person, die sich in einem äußerlichen Lebensbereich erprobt und dort notwendige Verhaltenslehren erlernt und angewendet hat. Sein Leben in G* war für ihn zwar angenehm, aber es führte ihn zu einer innerliche Leere. Der Protagonist hat sich in dieser gesellschaftlich-öffentlichen Welt bewährt, darin aber keine persönliche Sinnkonstitution gefunden. Stattdessen bürgt sein Brief dafür, dass sich sein Selbstwertgefühl und damit verbunden sein grundsätzlicher Blick auf den Menschen mindert. Die Entwicklungsgeschichte Woldemars berichtet von Ereignissen, die sich ausschließlich auf einen innerlichen Lebensbereich beziehen. Der weitere Verlauf des ersten Teils des Woldemar führt seine Integration vor, die stückweise etwas holprig verläuft. Woldemar freundet sich aber zunehmend mit Henriette an und sie lernt ihn immer besser kennen und verändert ihren ersten Eindruck von ihm. Zusammen mit Henriettes Freundin Allwina verbringen sie viel Zeit miteinander.693 Diese Ausprägung der Freundschaft von Henriette und Woldemar wird auf eine mitempfindende Art zusammengefasst: Wenige Menschen wissen, was das für eine Stille und Stetigkeit in die Seele bringt, wenn man vor allen andern die eigentlichen Gefühle des Herzens zu schärfen und sie emporzubringen weiß; wie sehr das allein schon heitert, wenn kräftigere Regungen den Meutereyen der Eitelkeit ein Ende machen, und man nur erst anfängt, in sich einen Mittelpunkt zu finden, bey welchem Stand zu halten ist. Henriette wußte dieses schon: daher war ihr Geist so hell, so fassend, ihr Gemüth so mild, ihr Sinn so still und heiter. Woldemar, der nach und nach sie erforschte, fühlte mit Entzücken, was ihm das Schicksal in ihr darbot. Beyder Einverständniß wurde von Tage zu Tage leiser und inniger. Das schüchterne bescheidene Mädchen, welches zu seinem eigensten Daseyn bisher nicht hatte gelangen können, erwarb es nun im fortgesetzten vertraulichen Umgange mit einem erfahrnen, in sich schon bestimmten Freunde, der ihren besten Ideen und Empfindungen – den einsamsten, verschlosssenen – Freyheit, Bestätigung, unüberwindliche Gewißheit verschaffte.694 Zwischen dem von Schwermut geplagten Woldemar und Henriette, der schönen Seele, entwickelt sich eine innige Freundschaft, von der beide profitieren. Woldemar, der von einem sehnsüchtigen Verlangen nach einer Ich-entgrenzenden Identifikation im Anderen geprägt ist, hat im Gegensatz zu Henriette noch keinen ausgeglichenen Zustand seines Inneren erreicht. Henriette hat »einen Mittelpunkt« ihres Inneren bereits erreicht, durch den »ihr Geist so hell, so fassend [und] ihr Gemüth so mild, ihr Sinn so still und heiter« ist. Sie befindet sich in einem Zustand, in dem sie tiefgehende zwischenmenschliche Beziehungen eingehen kann, die keinen Zweck verfolgen, sondern allein in der ge-

692 Ebd., S. 224f. 693 Vgl. dazu: Ebd. S. 225–243. 694 Ebd., S. 239.

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genseitigen Bindung aneinander einen Wert finden, der »Freyheit, Bestätigung [sowie] unüberwindliche Gewißheit« verschafft. Die Freundschaft von Henriette und Woldemar ist vor dem Hintergrund der interdisziplinären Forschungsprogrammatik Jacobis eine Veranschaulichung einer rationalen Unerklärlichkeit. In einer Freundschaft, in der sich dem Anderem als Anderem hingegeben wird, liegt Freiheit, insofern sie als die Verwirklichung einer inneren Autonomie im Menschen betrachtet wird, die in der Lage dazu ist, sich über das Sinnliche und Materielle des Daseins zu erheben. Diese Erhebung bestätigt die Existenz der inneren Autonomie des Menschen und führt ihn zu einer »unüberwindliche[n] Gewißheit«. Eine Gewissheit ein autonomes Inneres zu haben, das einen im tiefsten Inneren auszeichnet und nicht an ein körperliches Dasein gebunden ist. Doch – und das ist der äußerst entscheidende Punkt – eine solche zwischenmenschliche Beziehung kann sich nur aus einem Mittelzustand des Inneren herausbilden. In dieser Passage steht Henriette im Vordergrund. Woldemar wird als »erfahrne[r], in sich schon bestimmte[r] Freund[]« vorgestellt, aber er hat nicht die innere Balance, die Henriette auszeichnet. Er ist jemand, der notorisch nach einer Erhöhung des eigenen Inneren sucht und daher sich eben nicht in einem ausgeglichenen – suffizienten – inneren Zustand befindet wie Henriette, sondern durch seine Suche nach Sympathie eine unausgeglichene, hin-und her getriebene – insuffiziente – innerliche Zustandsform aufweist.

Bilder von solipsistischem Glück Die Freundschaft zwischen Woldemar und Henriette ist aufgrund ihrer unterschiedlichen inneren Zustandsformen zum Scheitern verurteilt, weil Woldemar nicht in der Lage ist, seine eigene Freundschaftskonzeption zu erfüllen. Seine innere Aufgewühltheit und der damit verbundene sehnsüchtige Drang nach Bestätigung des eigenen Inneren verhindern, dass er zu dieser Affirmation gelangt. Denn durch dieses zwanghafte Verhalten Woldemars stellt er an Henriette die Erwartungshaltung der absoluten Transparenz, der Übereinstimmung von zwei innerlichen Zuständen. Woldemar stellt an Henriette den Anspruch, sein Ich in ihrem Ich identifizieren zu können. Die Freundschaft zwischen Henriette und Woldemar erscheint daher nur so lange als realisierte Seelenfreundschaft, wie Henriette diesem Anspruch gerecht wird. Dabei verweist dieser Anspruch Woldemars aber bereits auf eine Ich-Zentrierung, die anzeigt, dass er eine grundlegende Fähigkeit für geistige Freundschaft zu diesem Zeitpunkt nicht hat. Er kann eine andere Person nicht in ihrer Andersartigkeit, in ihrer Eigentümlichkeit sehen. In seiner Suche nach Sympathie sucht er nur sein eigenes Ich im Anderen. In diesem Entwicklungsstadium ist Woldemar deshalb in seiner Ichhaftigkeit befangen. Mit ihm wird in dieser Entwicklungsphase die empfindsame Attitüde einer Bemächtigung von Andersartigkeit in der eigenen Subjektivität vorgeführt. Er ist subjektiv befangen und diese Befangenheit verstellt den Weg zu einer tiefergehenden Erkenntnis seiner Sehnsucht. Diese subjektive Befangenheit wird mit empfindsam-idyllischen Szenen veranschaulicht. Henriette initialisiert zwischen Woldemar und Allwina eine Hochzeit, dieses Vorhaben plante sie schon nach dem Hören des von Biderthal vorgelesenen Briefs.695 Dieser Entschluss hatte sich bei Henriette zunehmend verfestigt und in einem Gespräch der Familie mit Woldemar hatte dieser Henriette ausdrücklich zur »Freundinn« und nicht zur »Gattinn« be695 Vgl. Ebd., S. 224.

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stimmt.696 Das Gespräch zwischen Woldemar, Biderthal, Dorenburg, Caroline und Luise führt Woldemars Unfähigkeit vor, Henriette als andere eigenständige Person zu sehen. Biderthal deutet Woldemar gegenüber an, dass mit Hornichs bevorstehendem Ableben einer Heirat von Henriette und ihm nichts mehr im Wege stehen würde.697 Woldemar versteht Biderthal erst nicht und fängt dann an zu lachen und entgegnet seinem Bruder: Bester! sagte er zu Biderthal: deute mir das nicht unrecht, daß ich deiner zärtlichen brüderlichen Aufwallung so ungereimt begegne. Du kamst mir zu unerwartet. Gleich verstand ich dich nicht; und da ich dich verstand, machten deine Ausdrücke mir den Contrast meines wirklichen Zustandes, mit diesem Zustande in deiner Einbildung so auffallend, und stellten mir die die Sache in ein so comisches Licht, daß ich mir nicht anders als mit Lachen und Aufspringen zu helfen wußte.698 Dabei ist Woldemar als Figur eingeführt worden, die unter Realitätsverlust leidet. Mit Blick auf die Reaktion Henriettes, die von ihren Schwestern über die Unterhaltung informiert wird, verdeutlicht sich, dass Biderthal den »wirklichen Zustand[]« erfasst hat und Woldemar in seiner Imagination sich eine Realität erdichtet, die seine Sehnsucht stillt, ohne ihre eigentliche Erfüllung zu sein. Woldemar erläutert seine Position, dass er Henriette als »Bruder Heinrich« betrachtet, und dass es ihm unmöglich scheint, »eine Person [s]eines eigenen Geschlechts zu heyrathen«.699 Woldemar hat ein heteronormatives Verständnis von Sexualität und nutzt die Vermännlichung Henriettes als Argument, sie als Objekt sexuell leidenschaftlicher Begierde auszuschließen. Henriette ist für Woldemar eine Freundin und dies schließt für ihn aus, dass sie auch seine Gattin sei. Henriette hatte sich in ihrer Einführung bereits im Vergleich zu ihren Schwestern durch die Realisierung einer Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens ausgezeichnet. An dieser Stelle rückt Henriette als Freundin vollkommen aus einer geschlechtsspezifischen Rolle heraus, sie rückt als Freundin neben Woldemar und damit begründet er die Ablehnung einer Heirat mit ihr. Während die Gattin im Zuge einer funktionalen Ausdifferenzierung von geschlechtsspezifischen Rollenbildern innerhalb einer patriarchalischen Struktur hierarchisch dem Gatten untergeordnet ist, erscheint die Frau in Gestalt des Freundes neben dem Mann. Eine Freundin als Gattin würde das Aufbrechen festgefügter Strukturen bedeuten. Woldemar kann Henriette aber nur als Freundin neben sich erscheinen lassen, indem er sie zum Bruder erhebt. Bezogen auf Woldemars psychische Beschaffenheit bekräftigt die Bezeichnung »Bruder Henriette« seine Unfähigkeit, sie als die Person zu sehen und anzuerkennen, die sie wirklich ist.700 Henriettes Schwestern erzählen ihr von diesem Gespräch und es verletzt sie. Ueber Biderthals Anrede erröthete sie; und daß Woldemar laut gelacht hatte, machte sie stutzig. Nie war in ihre Seele Argwohn gekommen, daß über ihre Freundschaft mit Woldemar ein unrichtiger Gedanke möglich sey; ein Gemisch von Unwillen und 696 697 698 699 700

Vgl. Ebd., S. 327. Vgl. Ebd., S. 323f. Ebd., S. 325. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

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Schmerz bewegte ihr Inwendiges. – Und Woldemar – hatte nur gelacht! … Doch fand sie dies am Ende minder ausserordentlich, und verwieß sich ihre Befremdung. Aber lebhaft fühlte sie in diesem Augenblick den Unterschied – zwischen Mädchen und Mann.701 Von Henriette aus betrachtet, wäre eine Heirat zwischen den beiden durchaus möglich gewesen, denn Woldemar macht »Eindrücke« auf sie, »wovon [sie] damals glaubte, daß Leidenschaft sie leicht zu Leidenschaft würde beleben können«.702 Woldemar hatte ihrer Beziehung aber eine andere Richtung gegeben, die auf sein zwanghaftes Streben nach Sublimation zurückführt. Diese Gespräche führen dazu, dass Henriette ihren Entschluss Woldemar und Allwina zur Heirat zu bewegen nun in die Tat umsetzt. Am Ende des ersten Teils wird in einem Brief von Woldemar an Biderthal mitgeteilt, dass Henriette mit ihrem Vorhaben erfolgreich ist. Ich glaube, Bruder, alle Nachtigallen haben sich hieher in unsere Büsche beschieden! Es ist ein Singen, daß man es kaum aushalten kann. Alle die andern Vögel dazu. Das Heer von Lerchen, die in ununterbrochenem Jubel einem über dem Kopfe schweben. Rund herum die ganze vollständige Symphonie. Und dann – höre! – die Wechsellieder der Nachtigallen durch alle den Gesang durch. Man weiß nicht, wohin man sich kehren und wenden soll. Ruht das Ohr einen Augenblick, dann fallen alle die Baumund Hecken-Blüthen über einen – alle das neu gewordene Laub… Und siehe da, die herrliche Ebene; – das vielfarbene Grün dort im Thal! – O, und jene Hügel hinauf! Seitwärts die darüber ragenden Höhen! Hier – durch die Oefnung – noch weiter! Alle Gipfel durchsichtig; alles so lüftig, so voll lebendigen Othems, sich anhauchend mit Wohlgerüchen, und ausströmend seine beste Kraft in Schönheit und Anmut…703 Grundsätzlich ist die Wahrnehmung dieser idyllischen Szene eine Reizüberflutung, bei der »die Wechsellieder der Nachtigallen« jedoch deutlich hervortreten. Der Gesang der Nachtigall symbolisiert die sich anbahnende Liebe und Ehe zwischen Woldemar und Allwina und tritt von allen sinnlichen Reizen der naturalen Umgebung am stärksten hervor. Er versinnbildlicht die leidenschaftliche Liebe zu Allwina, der sich Woldemar nicht verwehren kann. Diese leidenschaftliche Liebe basiert in der Parallelisierung mit den Natureindrücken auf Sinnlichkeit. Woldemar betont die sinnlichen Reize und schreibt im Brief an Biderthal sogar »höre!«, um der auditiven Sensation des Nachtigallengesangs Nachdruck zu verleihen. In der Sinnlichkeit der Naturerfahrung entdeckt er den »lebendigen Othem«. Dieser Atem des Lebens durchstreift »[a]lle Gipfel durchsichtig« und »alles [ist] so lüftig« und »sich anhauchend mit Wohlgerüchen, und ausströmend seine beste Kraft in Schönheit und Anmuth«. Die sinnliche Entzückung durch die Natur erlebt Woldemar als ein intensives Lebendigkeitsgefühl. Er erlebt in dieser idyllischen Szene einen erneuten Frühling seines Lebens, indem er in leidenschaftliche Liebe für Allwina verfällt. Diese zwischengeschlechtliche Leidenschaftlichkeit und die damit unweigerlich verbundene

701 Vgl. Ebd., S. 328. 702 Vgl. Ebd. 703 Ebd., S. 333.

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Akzentuierung von Körperlichkeit codiert die Naturbeschreibung. Im Drang der Sublimation des Inneren und damit auch des eigenen Verlangens, ist Sexualität mit ihrer Festlegung des Menschen auf den Körper ein Thema, über welches das empfindsame Subjekt Woldemar nicht offen und direkt schreiben kann. Er kann nicht über Sexualität schreiben, weil er sich dann eingestehen müsste, dass er ein Verlangen hat, dass eine körperliche Komponente aufweist. Wie mir wurde – auch so plötzlich! … Ich weiß, ich verstehe es nicht. Meine Begleiterinnen, die zwey Mädchen standen da vor dem Verzückten. – Gott! Ich wankte, taumelte nieder, verbarg mein Gesicht… Die Sonne neigte sich zum Untergehen. Sachte wandelten wir zurück nach Pappelwiesen. Ich, zögernd hinter den zwey Mädchen – in mich sammelnd alle die Töne, die in meiner Seele angeschlagen hatten, daß sie nicht verhallten, wenigstens nicht so geschwind verklängen. Ein vieljähriges Gemisch dunkler Empfindungen ordnete sich in Accorde, und diese Accorde wieder in Melodie. In den schwindenden Sonnenglanz traten Sirius und Venus. Vor und nach erschienen die übrigen Sterne.704 Die Ménage à trois von Woldemar, Henriette und Allwina wird mit den beiden am Horizont sichtbaren Himmelskörpern Venus und Sirius aus der Perspektive Woldemars veranschaulicht. Venus als Sinnbild leidenschaftlicher und sexueller Liebe steht für Allwina. Sirius als Sinnbild der unergründlichen Tiefe des eigenen Inneren für Henriette, da er sie für seine Seelenfreundin hält. Diese Sinnbilder treten aber erst im »schwindenden Sonnenglanze« hervor, sodass diese Szene codiert in der Naturbeschreibung ein Inneres artikuliert, dass sich seiner eigenen Beschaffenheit nicht bewusst ist. Es tritt hier etwas aus dem Inneren Woldemars hervor, das er selbst noch nicht bewusst erfasst hat. Die Unerklärlichkeit ist für Woldemar die abrupte Veränderung seiner innerlichen Zustandsform. Dieser Wandel im Inneren ist von den intensiven Empfindungen der sinnlichen Reize der Natur und Woldemars beiden Begleiterinnen verursacht worden. Die Wirkung auf ihn ist ein nahezu ohnmächtiger, bewusstloser Zustand. Er »taumelte nieder« und »verbarg sein Gesicht«.705 Das Verbergen des Gesichts unterstreicht, dass die Naturdarstellung in diesem Fall als Chiffre eines leidenschaftlichen Verlangens fungiert und zeigt eine Form von Scham an, die Woldemar mit diesem Wandel im Inneren zu verbinden scheint. Dies wird im weiteren Verlauf des Briefes untermauert, indem Henriette bei dem nächsten Ausflug in die Natur nicht dabei ist und Woldemar und Allwina allein sind. – So weit hatte ich gestern Abend geschrieben. Jetzt komme ich von einem Spaziergange im großen Englischen Garten, mit Allwina, zurück. Henriette hatte zu schreiben. Du erinnerst dich der offenen Seite, wo das Wäldchen – und alles, die ganze Gegend, schon, wie ein Paradies, vor einem liegt. Wie ein Paradies! Hatten wir öfter gesagt. Es schwebte mir auf der Zunge, heute zu sagen: – wie im Paradies! Ich konnte nicht, fühlte, daß ich erröthete. Wir wendeten uns linker Hand nach dem Wasserfall, setzten uns

704 Ebd., S. 334. 705 Ebd.

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nächst dem großen Teiche, der so hell und schön da stand, daß man sich nur gleich hätte hineinstürzen mögen.706 Die empfindungsreichen Tage Woldemars bringen ihn dazu den bestimmten Ort »der offenen Seite« zum Wald mit dem Blick über die umliegende naturale Umgebung nicht als einen Ort so angenehm und schön »[w]ie ein Paradies« zu betrachten, sondern »es schwebte [ihm] auf der Zunge, heute zu sagen: – wie im Paradies«.707 Dies bekräftigt den Eindruck, dass die Naturdarstellung dieser Szene eine Codierung leidenschaftlicher Liebe ist. Es ist ein Erlebnis, das Woldemar nur mit Allwina teilt. Das Erröten Woldemars weist abermals auf eine gewisse Schamhaftigkeit hin, die Woldemar mit seiner Zustandsform zu verbinden scheint. Diese Szene ist ebenfalls empfindsamidyllisch, da die konstitutiven Elemente vorliegen. Durch die Erzählweise des Briefes handelt es sich um eine einzige erzählende und erlebende Instanz. Dies ermöglicht eine unverstellte, das heißt naive Art der Mitteilung und der Hervorhebung eines Daseinszustands, der sich hier in den anthropologischen Diskussionszusammenhang des ganzen Menschen einordnet. Am deutlichsten tritt aber in diesem Brief hervor, dass das Empfindungserlebnis der Natur zu einem natürlichen Daseinszustand führt, der zwar zeitlich beschränkt ist, aber für eine kurze Dauer den Depravationsprozess des Menschen unterbricht. In dieser empfindsam-idyllischen Szene wird der Verfallsprozess des Menschen nicht nur unterbrochen, sondern regelrecht aufgehoben. Woldemar fühlt sich in einen Daseinszustand versetzt, in dem das eigentlich irreversibel Verloren-Gegangene wieder vermeintlich erlebt wird. Der verloren gegangene Idealzustand wird mit dem christlich konnotierten Begriff des Paradieses explizit benannt. Dieses paradiesische Empfindungserlebnis steht am Ende des ersten Teils des Woldemar im Vordergrund. Der locus amoenus erscheint hier als eine natural eingerahmte Szene. Der schöne und angenehme Ort hat eine offene Seite und ist umzäunt vom Wald und von der Gegend, die zuvor als hügelige Landschaft beschrieben wurde. Es entsteht ein Raum, der von dem Wald und der hügeligen Gegend eingerahmt wird und als geschützter Platz den locus amoenus bildet.708 Das Empfinden wird durch das Innere des Subjekts bestimmt und nicht durch äußerlich sinnliche Reize. Woldemar befindet sich in der Gemütsverfassung einer aufkeimenden Liebe zu Allwina, die ihm von Henriette als Geliebte und zukünftige Ehefrau angepriesen wurde.709 Er scheint dieser Absicht Henriettes ausgeliefert zu sein, denn »Henriette stand in sehr geheimen Verträgen mit der Natur«.710 Die Natur »schien hier ganz mit ihr dazu verschworen zu seyn, daß des guten Woldemars Herz von der Liebe beschlichen würde«.711 Der erste Teil endet mit den folgenden Sätzen, die jedoch der heterodiegetischen Narrationsinstanz und somit der extradiegetischen Erzählebene zugehören:

706 707 708 709 710 711

Ebd. Ebd. Vgl. Ebd., 334. Vgl. Ebd., 329–333. Vgl. Ebd., S. 333. Vgl. Ebd.

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…Es giebt eine Menge lieblicher Scenen, wo die verborgensten Quellen der Seele sich öfnen, und die sich auf kein Schaugerüst bringen – sich weder malen noch beschreiben lassen. Allwina ruhte an Henriettens Busen. Da empfieng sie Woldemars Gelübde, da ergab sich ihre Seele dem Edlen.712 Die Erzählinstanz ruft für diese abschließende Szene den empfindsamen Unsagbarkeitstopos vom Inneren auf. Die Szene der Verlobung von Woldemar und Allwina ist nur als Aktion zu nennen. Eine Schilderung der inneren Zustandsformen der Beteiligten bleibt im Detail aus. Der zweite Teil des Woldemar beginnt mit der Thematisierung von Hornichs Ableben. So »kam Biderthal mit einer Postschaise, um Henriette eilends abzuholen«.713 Biderthal ist weiterhin überzeugt, dass Woldemar und Henriette heiraten sollen und meint, sie würden sich ihre wahren Gefühle für einander nicht eingestehen. In der Kutsche erfährt er von Henriette, dass sein Bruder nun mit Allwina verlobt sei. Auf dem Landsitz hat Woldemar sich aus der Perspektive Biderthals in stiller Heimlichkeit mit Allwina verlobt: »So schnell und unvermuthet; so schlau; so tückisch!«714 Hier werden Biderthals Gedanken in der Form der erlebten Rede dargestellt und zeigen, dass die Verschmelzung von Erzählinstanz und Figuren auch im zweiten Teil beibehalten wird. Biderthals »Bekümmerniß [und] Sorge« wandelt sich in »böse Ahndung«.715 Er sieht im Gegensatz zu seinem Bruder klar vor Augen, dass Woldemar eine ganze Reihe von Erwartungen und Ansprüchen an Henriette stellt, und dass diese Beziehung daher in dem Moment zerbrechen wird, in dem Henriette von dem Bild, das Woldemar von ihr hat, abweichen wird. Warum nahm er [Woldemar; F.K.] sie [Henriette; F.K.] denn nicht zum Weibe? – daß sie nicht gewollt hatte: diese Thorheit war Woldemars Werk; er hatte sie ihr eingegeben, sie dazu verleitet, sie dazu verführt. Nun blieb das treffliche Mädchen, ohne eigentliche Haltung unter Menschen, auf eine eben so grillenhafte als unsichere Bestimmung eingeschränkt. – Warum? – Und wer konnte dafür stehen, daß Henriette nicht bald versucht würde, das Glück irgend eines würdigen Mannes zu machen, und sich mit ihm einen eigenen Heerd zu bauen? – Würde Woldemar dieß ertragen? Ertragen, daß Henriette einen andern näher angienge, einem andern mehr zugehörte und anhienge, als ihm; daß sie, zerstreut durch mannichfaltige Geschäfte, in mannichfaltiger Liebe, nicht mehr die Eine, die Seine heissen könnte? – Wenn dieß geschähe, glaubte Biderthal… Ja, noch viel eher! Auf den bloßen Verdacht eines dahin gehenden Wunsches in Henriettens Seele, einer Möglichkeit, daß er sich in ihr erregen ließe, würde ihm das Geheimniß seines eigenen Herzens offenbar werden; dann ihn unaussprechlich foltern; endlich ihn unter die Erde bringen.716 An dieser Stelle zeichnet sich bereits jetzt eine wesentliche Tendenz des zweiten Teils ab. Während im ersten Teil durch Diskussionen und Gespräche Figurenrede dargestellt wurde, rückt im zweiten Teil zunehmend die Präsentationsform von Figurengedanken in 712 713 714 715 716

Vgl. Ebd., S. 334f. Vgl. Ebd., S. 339. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 340.

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den Fokus. Diese Bedenken Biderthals gehen konform mit der anfänglichen Charakteristik und der Ich-Zentriertheit seines Bruders. Der notorische Wille der Transzendierung des eigenen Inneren führt zu Woldemars Realitätsverlust. Biderthal verweist an dieser Stelle sachte auf einen kritischen Aspekt, der für empfindsame Protagnisten, die ihr eigenes Ich verherrlichen, entscheidend ist: In der anderen Person nur ein Instrument der Befriedigung eines eigenen Strebens zu sehen, ist ein asoziales Verhalten und als solches schätzt Biderthal Woldemars Verhalten ein. Aus Biderthals Perspektive ist Woldemar gegenüber Henriette asozial, weil er sich in seinem innerlichen Erhebungsdrang nicht danach fragt, was mit Henriette wird, und ob es für Henriette gesellschaftlich gesehen nicht eine Benachteiligung darstellt, als »eine ledige Tante« durch ihr Leben gehen zu müssen.717 Es zeigt sich hier in der Figur Biderthal eine Empfindsamkeitskritik, die den empfindsamen Protagonisten Woldemar dafür verurteilt, dass er in seiner Ich-Zentrierung noch nicht einmal auf den Gedanken kommt, sich in den Anderen, hier Henriette, hineinzuversetzen und einen gedanklichen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Aus dem Blickwinkel Biderthals ist sein Bruder daher, wie erwartet, für die familiäre Gemeinschaft eine Herausforderung, da er durch seine Verabsolutierung des eigenen Ichs eine destruktive Wirkung auf seine Mitmenschen ausübt. Diese Wirkung ist bei denjenigen Personen am größten, die ihm am meisten bedeuten. Woldemar weist ein Verhalten auf, das seine Befangenheit in seiner Ich-Blase deutlich werden lässt. Alles außerhalb dieser Blase ist ihm nicht zugänglich und erscheint ihm lediglich in Abgrenzung von ihm als Nicht-Ich. Woldemars Solipsismus setzt ihn in Kontrast zu den anderen Figuren. Die Mitteilung von empfindsam-idyllischen Szenen verdeutlicht dies. Biderthal ist über die bevorstehende Vermählung von Woldemar und Allwina aufgebracht. Aber der sterbende Hornich verlangt von Henriette das Gelübde, nie Woldemars Frau zu werden. Dies wühlt die ganze Familie innerlich auf. Als Biderthal und Henriette in B** ankommen, verhalten sich Dorenburg, Luise und Caroline merkwürdig, was die beiden nachdenklich macht, sodass Henriette fragt: »Ihr habet etwas unter einander; was ist es?« Alle drey wurden roth – und nach und nach kam es herausgestottert: der Vater befände sich in einer Art von Höllenangst wegen Woldemar und Henriette, und würde nicht anders als voll Verzweiflung den Geist aufgeben, wenn er nicht von seine Tochter das feyerliche Gelübde erhielte, daß sie nie Woldemarn als Gattin angehören wollte. Denkt euch die Beklemmung, worin wir uns befanden, sagte Dorenburg, und was für eine Wirkung die glückliche Nachricht, die ihr mitbrachtet, auf uns machen mußte. – Aber damit ist nicht geholfen, erwiderte Henriette; denn so lange noch einige Hofnung zur Genesung bey meinem Vater ist, darf ihm Woldemars Verlobung nicht kund werden; und ihn durch die Erklärung, die er wünscht, zu beruhigen, das ist mir unmöglich. – Wie? Warum denn nicht? fragten die geängsteten Schwestern wie aus einem Munde. – Warum? antwortete Henriette, und ward feuerroth – Weil ich dem Haß, der Verachtung gegen den Besten unter den Menschen nicht die Hand bieten will; weil ich in keinen Bund treten will gegen meinen Freund! – Ein feyerliches Gelübde meinem Woldemar zur Schmach! – Ha! rief sie, die Augen gen Himmel gewendet, und verließ schnell das Zimmer.718 717 718

Vgl. Ebd., S, 331. Vgl. Ebd., S. 341.

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Die Forderung des Gelübdes ist die Entscheidungssituation, in der Henriette letztlich einen Entschluss fassen wird, den Woldemar als freundschaftliche Untreue ihm gegenüber auslegen wird. Die erste Reaktion Henriettes zeigt deutlich, dass sie sich darüber im Klaren ist, dass ein solches Gelübde Woldemar verletzen würde. Dieses Gelübde erscheint als das Ereignis, welches Henriette für Woldemar als andere Person kenntlich machen wird und damit die Seelenfreundschaft als Illusion aufdecken wird. Henriette leistet ihrem Vater aber noch eine gewisse Zeit Widerstand und versucht ihn dazu zu bringen, die Forderung des Gelübdes zurückzunehmen. Letztlich kann Henriette ihrem sterbenden Vater aber seinen letzten Willen nicht verwehren. Sie unterlag endlich. Der kommende Tod, den sie immer näher und näher sich an ihren Vater lagern sah; sein fürchterlicher Arm schon zwischen ihr und ihm, um ihn von ihr wegzureissen – das erschreckte ihren Geist bis zur Verwirrung, und betäubte ihre Sinne. Jeder angstvolle Blick, den der Sterbende auf sie warf, brach ihr das Herz; mit jedem zuckte, wie ein Blitz in der Nacht, der Gedanke ihr durch die Seele: Wenn er noch zu retten wäre? Könnte, wie so mancher, von dem Rande des Grabes zurückkehren? – wenn diese Blicke um Leben fleheten? um Leben – bey seiner Tochter! – daß sie ihm die Hand böte umzukehren: – und sie weigerte die Hand – und sie ließe ihn hinabsinken! … Sie fiel in Ohnmacht über diese Vorstellungen; und da sie wieder zu sich kam, stammelte sie bebend, blaß und blind: – ich will es thun!719 Henriette ist sich bewusst darüber, dass ihr Gelübde Woldemars Erwartungen und Ansprüche als seelische Freundin verletzten wird, aber letztlich trifft sie aus einem moralischen Grund die Entscheidung, der Forderung ihres Vaters nachzugeben. Dieser moralische Grund liegt für sie darin, dass sie die Ablehnung des letzten Willens als Hilfeverweigerung versteht, ihren Vater zurück ins Leben zu holen. Wenn sie mit ihrem Gelübde eine solche Wirkung auf ihren Vater ausüben könnte, dass er wieder gesund würde, dann muss sie seiner Forderung unbedingt nachgeben. Das Leben ihres Vaters ist doch wichtiger als die stolzen und selbstverliebten Erwartungen und Ansprüche eines Einzigen. In dieser Radikalität denkt Henriette dies nicht, aber die Gedanken Biderthals hinsichtlich des Verhaltens seines Bruders, die dieser Szene vorangehen, implizieren eine solche Sicht. Henriette trifft als schöne Seele die moralische Entscheidung für ihren Vater. Henriette und Biderthal beschließen, die Familie solle das Gelübde vor Woldemar verschweigen und Henriette kapselt sich von Woldemar und Allwina ab.720 Sie litt nicht, daß Woldemar länger als acht Tage in der Stadt verweilte, und von Allwina hatte sie zum voraus sehr ernstlich begehrt, daß sie gar nicht herein käme: – dagegen wollte sie, ehe sechs Wochen um wären, sich in Pappelwiesen [dem Landsitz der Familie; F.K.] zu ihnen gesellen. Nachricht von dort erhielt sie unterdessen mit jeder Gelegenheit; oft an demselben Tage mehr als einmal. Es waren nicht immer Briefe, sondern mehrentheils – ich weiß keinen eigentlichen Namen dafür; – und wozu brau-

719 Ebd., S. 345. 720 Vgl. Ebd., S. 346.

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chen wir Namen? Hier sind zwey dieser Stücke; denen zu mehr als einem Ende hier ein Platz einzuräumen ist.721 Diese beiden »Stücke« enthalten empfindsam-idyllische Szenen und kontrastieren Woldemars glücklichen Zustand in seiner Ich-Blase, die im deutlichen Kontrast zur Familie und gerade zu Henriette stehen. Henriette ihrerseits leidet aber gerade wegen Woldemar, denn die Art und Weise, wie sie das Gelübde abgelegt hat, beschäftigt und quält sie neben dem Tod ihres Vaters. Henriette wünscht im Nachhinein, sie hätte das Gelübde sofort abgelegt: »Nach so langem heftigem Widerstreben – wenn ich unterliegen – mich doch zuletzt ergeben sollte: Warum nicht lieber auf das erste Wort?«722 Woldemars Glück der folgenden Schriften zeigen ihn daher im Kontrast zum Leid Henriettes, wobei die Überlegungen zu ihrem Gelübde offenlegen, dass sein Verhalten ihr gegenüber die Ursache ihres Leids ist. Es ist die Freundschaft zu ihm, die sie dazu gebracht hat, das Gelübde zunächst zu verweigern. Daraus folgt, dass Woldemar eine moralisch depravierende Wirkung auf Henriette ausübt, denn ihr ist aus ihrem Inneren heraus klar, dass es moralisch ist, ihrem sterbenden Vater das geforderte Gelübde abzulegen, um ihm, auch wenn es nicht mehr zu seiner Genesung beitragen sollte, einen friedvollen und zufriedenen Tod zu ermöglichen. Dem Vater einen ruhigen Tod zu verwehren, um die eitlen und ich-zentrierten Erwartungen Woldemars weiterhin im vollen Maße zu erfüllen, ist nicht moralisch, denn sie müsste dafür ihrem eigenen Vater in den letzten Momenten seines Lebens Leid antun. Diese Einbettung gibt zu erkennen, dass mit den Schriften Woldemars seine Ich-Zentrierung ausgebaut und veranschaulicht wird. Das erste Stück ist auf den »12ten May« datiert: Wie behaglich ich zwischen dem Grün und den Blüthen – Nachtigallen-Finken und Lerchengesang daher wandelte; der weichenden Sonne nach; entgegen der Abendstille! Dünnes mit Lichtstreifen durchschossenes Gewölk über den ganzen Himmel. – Zu dieser süßen Tagesdämmerung nun allmählich die Dämmerung der Nacht – und tüschender Schauer. Aus den Dörfern umher das Maygeläute, – nicht mit dem Wehen der Lüfte, – kaum daß ihr Wallen die Blätter bewegte – es schlich von selbst an mein Ohr in immer gleichen Klang und immer eben zusammen: und eben so an mein Auge das Grün und die Blüthen; kein rascher Lichtstrahl, der mir die Gegenstände aufdrängt; ich genoß alles in Freyheit, in Ruhe, schwebte im Meere der Allmacht… Und eben so sanft und leise, wie der Alliebende, wie sein Frühling um mich her – eben so leise, sanft und liebend faßte Ihre Hand die meinige: nicht damit ich umblickte; – auch blickte ich nicht um: – aber vor mir hin auf dem schönen Pfade lächelte ich mit verdoppelten Entzücken die ganze Schöpfung an.723 Bei dieser Schrift fällt die Thematisierung der Dämmerung auf, die als Verbindung von Tag und Nacht erscheint und versinnbildlicht die kurzzeitige Beziehung von zwei sonst unüberwindbar getrennten Phänomenen. Diese Tageszeit der Dämmerung ist mit ihrem Farbenspiel am Himmel aber auch eine Zeit des stillen Wandels, was mit 721 Ebd. 722 Vgl. Ebd. 723 Ebd., S. 347.

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dem »tüschende[n] Schauer« angedeutet wird. Neben diesen visuellen Reizen erscheint »das Maygeläute« der umliegenden Dörfer als auditive Sensation für die Sinne. Dieses Geläute gelangt »nicht mit dem Wehen der Lüfte« zu Woldemars Ohr, sondern »schlich von selbst« dorthin. Dies zeigt auf, dass die Naturdarstellung dieser empfindsam-idyllischen Szenen erneut als Projektionsfläche des Inneren fungiert, da der sinnliche Reiz bereits abstrahiert wird. Das »Maygeläute« im »immer gleichen Klang« ist nicht mehr eindeutig als sinnlicher Reiz identifizierbar. Dieses Geläute könnte auch eine Imagination Woldemars sein. Er hat durch seine vermeintlich realisierte Seelenfreundschaft mit Henriette und der bevorstehenden Vermählung mit Allwina einen subjektiven Glückzustand erreicht. Dieser subjektive Glückszustand verstärkt seine Ich-Zentrierung und seine subjektive Befangenheit. Diese Schrift stellt ein Ich dar, das in der Beschreibung einer Naturdarstellung sinnliche Reize und Imagination vermischt. Dies bekundet, dass diese empfindsam-idyllische Szene ein solipsistisches Bild von Glück darstellt. Dieses Glücksbild führt vor, dass Woldemars vermeintliche Erfüllung einer Sehnsucht nach Transzendierung der eigenen Endlichkeit und der Aufhebung seiner erlebten Singularität nicht dazu führt, dass seine psychischen Probleme gelöst sind. Vielmehr offenbart diese empfindsam-idyllische Szene, dass Woldemar durch dieses Glück zu einer Hybris geführt wird, die als Spiegel für das eigene Ich Gott setzt. So ist es der »Alliebende«, der von Woldemar im Frühling in der Natur erfahren wird. Diesbezüglich ist es wichtig, dass diese Szenen den Protagonisten an einem speziellen Punkt in seiner Entwicklung zeigen. Dieser Szene ist als Glücksbild »zu mehr als einem Ende hier ein[en] Platz einzuräumen«.724 Der Kommentar der Erzählinstanz deutet an, dass das geschilderte Glück in diesen Schriften nicht das Ende der Geschehnisse darstellt. Dieser subjektive Glückszustand von Woldemar wird nicht bestehen können und erscheint am Beginn des zweiten Teils, weil er einen Ausgangspunkt darstellt. Das zweite Stück baut die Vermessenheit der Ich-Identifikation in Gott aus. Wir hatten am Abend dieses etwas schwülen Tages am Wasserfall gesessen, und den schönsten Sonnenuntergang betrachtet. Nun zogen wir, durch leuchtende Schatten, am Ufer des Flusses her, und blieben stehen an der Wendung, wo das Auge einen Theil seiner Krümmung überschauet. Ein bezaubernder Anblick: wie die schlanken flammenden Pappeln sich in ihm spiegelten. Es schien, als hätten sie zur Lust sich untergetaucht, und es durchführe sie das süße Schrecken der angenehmsten Empfindung. Wunderbar ergriff einen das Gerege umher in allen Blättern. Uns wurde als schwebten wir im Hauch der Lüfte, die zwischen den Aesten lispelten, und über den kleinen Fluß glitten, und mit der ganzen Natur sich ergötzten. Da kamen die Sterne hernieder. Der blaue Himmel schwamm zu unsern Füßen. Es hatte der Unermeßliche sich in niederes Gebüsch zu uns gelagert. Wasser der Himmel – in Wassern der Erde! … Leben – in Leben hinübergestrahlt! – … Kraft – mit Kraft sich begattend!… Hohe Ahndungen ergriffen meinen Geist. Meine Seele wähnte, dem Unbegreiflichen sich zu nähern. Sie, die einst nicht Einer Vorstellung sich bewußt war, nun so voll Empfindung und Gedanke! Eigenes, gefühltes Daseyn – aus dem Nichts! – Schöpfung!725

724 Vgl. Ebd., S. 346. 725 Ebd., S. 347f.

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Hinsichtlich des locus amoenus ist der Platz am Wasserfall als eingerahmt naturale Szene zu verstehen, die dann durch den Ort der Wendung, der sich durch eine hervorgehobene Übersichtlichkeit auszeichnet, abgelöst wird. Das besondere Empfindungserlebnis dieser Szene beschreibt Woldemar als Konstitution eines »eigene[n], gefühlte[n] Dasesn[s]«. Dieses wird durch eine ahndungsvolle Ergriffenheit verursacht. Das Naturerlebnis beschreibt eine Gotteserfahrung: »Hohe Ahndungen ergriffen meinen Geist.« Das ästhetische Potenzial der Natur wird im Sinne des Erhabenen gestaltet und weist über die Sinnlichkeit dieser Erfahrung hinaus. So nimmt Woldemar leuchtende Schatten wahr; er kann nur einen Teil der Uferkrümmung des Flusses überschauen; der Anblick des Flusses zur Zeit der Dämmerung ist »bezaubernd[]«; die Pappeln sehen so aus, als erlebten sie selbst das »süße Schrecken der angenehmsten Empfindung«, und Woldemar fühlt sich wunderbar; als würde er »im Hauch der Lüfte« schweben. Diese ästhetischen Wahrnehmungen führen Woldemar zunehmend zu einer Grenzerfahrung des Sinnlichen, indem sie ihn fühlen lassen, dass er ein Inneres, einen Geist hat, der ihn im tiefsten Innern von der Natur differenziert. Für Woldemar ist dieser Geist in Verbindung mit Gott im Erleben des Erhabenen der Natur erfahrbar. Woldemar beschreibt in diesem Zusammenhang die Empfindung, dass »[s]eine Seele [sich] dem Unbegreiflichen […] zu nähern wähnte«. Dieses Innerlichkeitserlebnis erscheint als die Gewahrwerdung des Göttlichen im Menschen. Am Ende gelangt diese Göttlichkeitserfahrung zu ihrem Kulminationspunkt, der als Erlangung eines »eigene[n], gefühlte[n] Dasesn[s]« bezeichnet wird. Dieses neue Daseinsbewusstsein beschreibt Woldemar als »Schöpfung«. Die Naturerfahrung wird für Woldemar zu einer pantheistisch geprägten Gotteserfahrung. Woldemars gesuchte und vermeintliche Bestätigung, dass sein Ich nicht endlich ist, führt ihn dazu, dieses Ich nun in Gott gespiegelt zu sehen. Diese Spiegelung führt ihn zu dem Gefühl eines einzelnen Daseins, das jetzt aber nicht mehr problematisch ist, weil diese Singularität nicht mehr auf den endlichen Menschen bezogen ist, sondern auf Gott. Jeder Mensch ist singulär, aber in Gott verbunden und eine »Schöpfung« Gottes. Henriette gesellt sich wie vorgesehen zu Woldemar und Allwina, deren Hochzeit stattfindet, aber »[e]rst im Winter […] bekannt gemacht« wird.726 Von Pappelwiesen aus schreibt Woldemar Biderthal einen längeren Brief. Es war mir gar nicht zuwider, auf diese kurze Zeit in Einsamkeit versetzt zu werden; ich habe köstliche Stunden zugebracht. Noch war ich nicht einmal zu einem solchen alleinigen, ganz stillen Anschauen meiner Glückseligkeit gekommen; hatte mich eben auch nicht darnach gesehnt; aber mir geschah unaussprechlich wohl, da ich nun von ungefähr dazu gelangte.727 Durch sein aktuelles Daseinsbewusstsein, das weiterhin glücklich und erfüllt ist, wertet Woldemar die »Einsamkeit« als Zeit der ruhigen und stillen Besinnung auf. In der einsamen Introspektion hat er »köstliche Stunden zugebracht«, indem er seine momentane »Glückseligkeit« betrachtet. In diesem Brief Woldemars wird anders als in den Schriften

726 Vgl. Ebd., S. 348. 727 Ebd., S. 351f.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

zuvor, die bewusst keine Briefe darstellen, der Schreibprozess erneut als ein Einschnitt im Leben dargestellt.728 Ich begreife nicht wie ich es ehmals anfieng, daß ich an Leute, die mir das gar nicht waren, was Du mir bist, so lange Briefe schreiben mochte. Der halben Welt bin ich Antworten schuldig. Ich werde erinnert, geplagt, zum Mitleiden gereizt – weiß mir nicht zu helfen, und werde zornig. Mir däucht, es müßte mein Feind seyn, der mir zumuthete, meine Empfindungen auf den Grad herunter zu bringen, in welchem sie sich schreiben lassen. Die edle unwiederbringliche Zeit auf diese Weise zu verlieren. Ich soll aufhören zu leben, damit ein andrer zu lesen habe! Im ganzen Ernst, wenn ich mir so einen theuren Freund gedenke, der das will, und mit zärtlich verdrießlichem Gesicht dasitzt, und zwischen den Zähnen murmelt, weil ich das nicht will – Ich kann hämisch gegen ihn werden, vom Stuhl aufspringen und ihn nicht mehr ansehn.729 Diese Reflexion des Schreibens lenkt die Aufmerksamkeit auf die Paradoxie empfindsamer Unmittelbarkeitsphantasmen. Der Brief ermöglicht es, den abwesenden Freund trotzdem rudimentär am Leben teilhaben zu lassen. Doch ist für Woldemar der Prozess des Schreibens eine Unterbrechung des eigenen Lebens. Daher ist es ihm lästig, weil es ein Nachsinnen über das Erlebte ist, aber das Erleben selbst zum Erliegen bringt. Die Empfindungen, die schriftlich fixiert werden, um sie dem Freund im Brief mitzuteilen, sind auf einen »Grad herunter« zu bringen, der es ermöglicht, sie auf diese Weise mitzuteilen. Woldemar stellt die medienkritische Überlegung an, dass Schreiben über Ereignisse ein Nach-Erleben ist. Dieses Nach-Erleben hat gegenüber dem direkt Erlebten deutlich an Intensität eingebüßt. Vor dem Hintergrund dieser Reflexion des Schreibens kommt den vorherigen »Stücke[n]« eine besondere Bedeutung zu, denn sie sind sozusagen aus reiner Herzensergießung geschrieben.730 Die »Stücke« waren keine »Briefe«, sondern Schriften, für die die Erzählinstanz »keinen eigentlichen Namen« kennt.731 Diese Schriften werden durch diese Negation der Briefform als authentische Selbstaussprache Woldemars inszeniert, bei denen das Schreiben nicht als zwischenmenschliche Kommunikation erscheint, sondern als Vor-Augen-Stellen des eigenen Inneren. So erhält Henriette zwar diese Schriften, aber eigentlich sind sie »nicht bestimmt, von jemand ausser ihm gesehen zu werden«.732 In dieser Differenzierung von Schriftstücken werden Möglichkeiten der Schrift als Ausdrucksmedium für das Innere durchgespielt. Woldemar schreibt, trotz seiner geschilderten Abneigung gegen den Brief, einen an seinen Bruder Biderthal und berichtet darin über seine Lage. Dies macht er in seiner jetzigen Lebenslage allerdings nur, weil er für »kurze Zeit in Einsamkeit versetzt« wird, da Allwina und Henriette mit zwei Tanten für einen Ausflug den Landsitz verlassen.733 In dieser wohligen Einsamkeit erlebt Woldemar naturale Eindrücke, die ihm abermals als Projektionsfläche seines Inneren fungieren.

728 729 730 731 732 733

Vgl. Ebd., S. 346. Ebd., S. 350–362, hier S. 350f. Vgl. Ebd., S. 346. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 348. Vgl. Ebd., S. 351.

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Sobald meine Reisenden weg waren, Morgens um neun Uhr, lagerte ich mich, nicht weit unter der Krümmung des Bachs, in die wilde Laube unter den hohen Nußbäumen. Der Eine Nußbaum diente mir, wie gewöhnlich, zur Lehne. Draußen gieng ein starker Wind. Man hörte sein Anfallen an das dichte Gebüsch, wie er die Aeste bog und die Blätter drängte, – dann im Laube verwehte, – drinnen zum sanftesten Lüftchen wurde – und zwischen den jungen Eschen, Morellen, Pappelweiden, Quitten, und Haseln in vieltönigem Gelispel sich verlor; – dann wieder majestätisch rauschte, höher und hinauf von Krone zu Krone, in den Zweigen der Nußbäume, – und beynah Sturm war in ihren Gipfeln. – – In den mannichfaltigen Millionen Blätter, welch unendliches Spiel! Welch ein Wallen und Wühlen der Aeste! – Unter und über das luftige Laub-Meer! – Ergriffen von seinen Wogen schwamm mein Auge hinweg in die schöne Fluth, und ließ sich von ihr verschlingen. – – Leise rieselte unterdessen der liebe Bach an meiner Seite; gaukelte kleine Wellen daher, Wirbel und Schlünde; – und die Fische hatten ihren Scherz, mit Springen, Schnalzen und Klatschen. – – Der mächtige Stamm, an den ich gestützt war, schwankte, fast unmerklich, hin und her – bald stärker bald schwächer; wiegte meinen Rücken und bewegte sanft schauerlich mein Haupt. – – – Nie war meine Seele so in allen meinen Sinnen! – Lauter Genuss mein ganzes Wesen! – Ewigkeit, mein fliehendes Daseyn!734 Am Beginn dieser Szene berichtet Woldemar über den Wind, der in die Bäume und Sträucher hineinweht. Dabei wird der Gang des Windes nachverfolgt und er beschreibt die verschiedenen Stationen. Diese Darstellung des Windes, wie er durch die Bäume und Sträucher fährt, vermittelt syntaktisch ein langer, nicht abbrechender Satz.735 Diese Syntax zeichnet sprachlich den Weg des Windes nach und bildet seinen Weg vom Äußeren in das Innere des Baumes ab. Vom Zusammenstoß mit dem »dichte[n] Gebüsch« scheint er zunächst seine Kraft verloren zu haben und wirkt »im Laube verweht[]« und wird in den Bäumen und Sträuchern als »sanftes[] Lüftchen« wahrgenommen. Schließlich erscheint er »wieder majestätisch« und »rauscht[] höher und hinauf von Krone zu Krone«. Dieser Gang des Windes erscheint »in vieltönigem Gelispel« und verbindet auditive und visuelle Reize: »Ergriffen von seinen Wogen schwamm mein Auge hinweg in die schöne Fluth, und ließ sich von ihr verschlingen.« »[D]ie schöne Fluth« besteht aus »den mannichfaltigen Millionen Blätter[n]«. Die Mannigfaltigkeit der Bäume und Sträucher zeigt sich durch den Wind als ein Ensemble von auditiven sowie visuellen Reizen, die synästhetisch miteinander verbunden sind. So wie die akustischen Reize von den Blättern jeweils immer anders sind, so ist auch ihre Bewegung, die sie durch den Wind machen, immer anders und erscheint als visueller Reiz, der mit dem »Wallen und Wühlen der Aeste« beschrieben wird. Die Mannigfaltigkeit der naturalen Objekte der Bäume und Sträucher offenbart sich für Woldemar als ein Phänomen, das sich nicht auf eine bestimmte Sinneswahrnehmung beschränkt, sondern stattdessen als Gemisch verschiedener sinnlicher Wahrnehmungen auftritt. Die Natur spricht nicht einen einzelnen Sinn des Menschen an, sondern wirkt als sinnliches Konglomerat auf ihn ein. So resümiert Woldemar beim Scheiben des Brie-

734 Ebd., S. 352. 735 Vgl. den vierten Satz des zuletzt angeführten Zitats: »Man hörte […]«.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

fes an Biderthal: »Nie war meine Seele so in allen meinen Sinnen!«736 Woldemar rekurriert auf eine Gesamtheit seiner Sinne, da bei dieser empfindsam-idyllischen Szene alle seine Sinne angesprochen werden und diese Vielseitigkeit zeichnet das Empfindungserlebnis dieser Naturerfahrung besonderes aus. Das Rauschen des Windes erscheint als eine akustische sowie visuelle Wahrnehmung. Die sinnliche Erfahrung der empfindsamidyllischen Szene ist durch weitere Perzeptionsformen geprägt und ist an dem Ort der »wilde[n] Laube« lokalisiert.737 Dort dient ihm »gewöhnlich« ein Nussbaum »zur Lehne«.738 Am Beginn des empfindsam-idyllischen Erlebnisses steht eine Berührung von Woldemars Körper und dem Baum, die als »gewöhnlich« im Sinne von vertraut vorgestellt wird.739 Woldemar erscheint dadurch als in den naturalen Ort eingebettet. Er verhält sich natürlich, indem er in einer symbiotischen Verflechtung mit der naturalen Umgebung lebt. Diese Natürlichkeit, die in diesem Fall durch körperliche Einbettung thematisiert wird, wird weiter ausgeführt, denn durch den Wind beginnt der Stamm sich leicht zu bewegen: »Der mächtige Stamm, an den ich gestützt war, schwankte, fast unmerklich, hin und her – bald stärker bald schwächer; wiegte meinen Rücken und bewegte sanft schauerlich mein Haupt.«740 Das Anlehnen an den »mächtige[n] Stamm« ist eine Berührung des Körpers Woldemars und stellt damit eine taktile Wahrnehmung dar.741 Die geschilderte empfindsam-idyllische Szene weist drei der fünf Sinne des Menschen auf.742 Das Hin-und Her-Wiegen Woldemars bettet seinen Körper vollständig und natürlich in die Natur ein. Die Natur erscheint als die hierarchisch höhere Instanz, die seinen Körper wie ein Baby wiegt. Gleichzeitig wird durch diese Einbettung in die Natur Woldemars »Haupt« »sanft schauerlich [bewegt]«.743 Diese naturale Erfahrung, körperlich in die Natur eingebettet zu sein, kontrastiert mit den Zügen des Erhabenen, die über die Sinnlichkeit hinaus auf das Innerliche führen. Dieses Innere erscheint hier allerdings pantheistisch geprägt als ein Sein, das allem Dasein zugrunde liegt und korrespondiert weiterhin mit Woldemars psychischer Beschaffenheit. Die Verschmelzung verschiedener Sinnesreize zu einer einheitlichen Wahrnehmung drückt bezogen auf die Tatsache, dass es sich hier um die Darstellung einer empfindsamidyllischen Szene in einem Brief Woldemars an seinen Bruder Biderthal handelt, ein empfindungsassoziiertes Schreiben aus. Woldemar konzentriert sich nicht darauf, die idyllische Szene zu reflektieren, stattdessen möchte er an dieser Stelle dem Adressaten Biderthal seine Empfindungsweise mitteilen. Dies korrespondiert mit Woldemars Kritik am Prozess des Schreibens, der ihm in seiner jetzigen Glückslage als Unterbrechung des Lebens erscheint. Im Bezug zur taktilen Wahrnehmung dieser Szene zeigt sich, dass hinter der Schilderung der sinnlichen Reize weiterhin Woldemars sehnsüchtiger Drang der Transzendierung des Endlichen ins Unendliche steht. Dies sensibilisiert 736 737 738 739 740 741 742

Vgl. Ebd., S. 352. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Der Geruchssinn (eine olfaktorische Wahrnehmung) und der Geschmackssinn (eine gustatorische Wahrnehmung) werden in dieser Szene nicht explizit beschrieben. 743 Vgl. JWA 7,1, S. 352.

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dafür, dass diese pantheistisch geprägte Naturerfahrung ein psychisches Leiden Woldemars beschreibt. In dieser idyllischen Szene beschreibt Woldemar mit der taktilen Wahrnehmung des Baumstammes, der sich durch den Wind langsam hin und her bewegt, eine Situation des Wiegens. Er wird von dem Baum gewiegt wie ein Säugling. Dies untermauert die Annahme, dass die Natur auf ihren transzendenten Code hinterfragt wird. Woldemar fühlt sich in der idyllischen Szene gewiegt wie ein Kind, was auf ein MenschNatur-Gott-Hierarchisierungsverhältnis hinweist. Hervorzuheben ist, dass Woldemar durch diese innerlich erlebte Anwesenheit von Transzendenz in einer einsamen Szene das gefunden hat, wonach er am Beginn des Erzählwerks gesucht hat. Seine Sehnsucht findet in dieser Szene eine vermeintliche Erfüllung. Woldemars Brief verfolgt die Intention diese subjektive Anschauung seiner eigenen Lage dem Bruder schriftlich mitzuteilen. Die Beziehung zwischen Woldemar und Biderthal ist sehr innig und offen und sie offenbaren sich beide dem anderen aus ihrem tiefsten Inneren heraus. Der besondere Fokus dieser Mitteilung liegt auf dem Empfundenen und Gefühlten. In der brieflichen Wiedergabe seiner Empfindungsweise versucht Woldemar, Biderthal verständlich zu kommunizieren, wie er sich fühlt und empfindet. Die Natur dient als Projektionsfläche, die Woldemar für diese Mitteilung nutzt. Die Erlebnisse der sinnlichen Reize sind hier – wie es konstitutiv für das Empfindsam-Idyllische – narrativ an Woldemar gebunden und geben so einen Einblick in seine innere Erlebniswelt. Woldemars Beschreibung der idyllischen Szene steht daher programmatisch unter dem Vorzeichen seiner Subjektivität. Diese geschilderte Subjektivität ist der eigentliche Fokus seiner brieflichen Mitteilung. Er versucht in dem Brief an Biderthal, seine innere Erlebniswelt in der Projektionsfläche der Natur darzustellen, indem er seine subjektive Wirklichkeitsauffassung schildert. Diese empfindsam-idyllische Szene veranschaulicht eine gefühlte Wahrnehmung, bei der das Äußerliche lediglich als Chiffre für etwas Innerliches erscheint. Somit ist diese hervorgehobene Zustandsform eine solipsistische Befangenheit im Sinne einer Ich-Blase. Dies bemerkt Biderthal in seinem Antwortbrief und weist daraufhin, dass diese Ich-Blase platzen wird, wenn Woldemar mit unbestreitbarer Wucht ein anderes Ich anerkennen muss.744 Die für das Empfindsam-Idyllische konstitutive Empfindungsrichtung vom Inneren ins Äußere wird in dieser Szene durch den Weg des Windes veranschaulicht. Der Wind prallt erst am Äußeren der Bäume und Sträucher ab, um dann im Inneren erst ein »sanftes[] Lüftchen« zu sein.745 Im Inneren kommt der Wind »in vieltönigem Gelispel« zum Stillstand.746 Ausdrücke wie »majestätisch« und »sanft schauerlich« implizieren, dass hier die Natur als Potenzial erscheint, aus dem Endlichen auf das Unendliche zu schließen.747 Dies verbildlicht die Szene, in der Woldemars Kopf von dem Stamm sacht hin und her bewegt wird. Dieses Wiegen »bewegt sanft schauerlich [Woldemars] Haupt« und macht damit klar, dass sein spezifisches Empfindungserlebnis der Natur nicht in dem Körperlichen sowie Sinnlichen liegt, sondern in der innerlichen Fühlbarkeit eines Seins, »welches nicht geworden ist«, sondern in

744 745 746 747

Vgl. Ebd., S. 362–364. Vgl. Ebd., S. 352. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

»allem Veränderlichen ein unveränderliches Ewiges« ist.748 Woldemars Wille zur Transzendierung des Endlichen führt ihn beim Blick in die Natur zunehmend in eine pantheistische Richtung. So wird die Existenz eines bleibenden Inneren des Menschen von Woldemar im Gegensatz zu dem ersten Brief des ersten Teils des Woldemar nicht mehr angezweifelt, sondern sie befindet sich in dieser Szene »in allen [s]einen Sinnen«.749 Vor diesem Hintergrund wird der Ausruf »Ewigkeit, mein fliehendes Daseyn!« verständlich, da er die wechselseitigen Gegenüberstellungen zusammenfasst.750 Die sinnlichen Wahrnehmungsreize sind Elemente eines vorbeigehenden Daseins und visualisieren dies, indem sie selbst bloß temporär stark beschränkte Erfahrungen des Daseins darstellen. Aber in diesen Erfahrungen vermeint Woldemar zu spüren, dass all diesen Erscheinungen ein ewiges, unveränderliches Sein zugrunde liegt, das sich in der Sinnlichkeit der Natur dem Menschen offenbart. Daher verbindet Woldemar sein »fliehendes Daseyn« mit »Ewigkeit«, denn es ist das Unendliche, das sich im Medium des Endlichen dem Menschen offenbart.751 Der von Woldemar beschriebene Wind, der plötzlich wieder vom drohenden Stillstand »majestätisch rauscht[]«, ist ein ähnlicher Eindruck.752 Die Bewegung des Windes visualisiert, dass es nicht der von außen einwirkende Wind ist, der das Innere und die Kronen erschüttert, sondern ein Wind aus dem Inneren selbst heraus erscheint, der eine größere Kraft zu haben scheint.753 Diese Prägung einer innerlichen Gemütsverfassung, die für die Aufnahme der sinnlichen Reize kennzeichnend ist, zeigt sich auch in der marginal wirkenden Beschreibung des Baches: »Leise rieselte unterdessen der liebe Bach an meiner Seite; gaukelte kleine Wellen daher, Wirbel und Schlünde; – und die Fische hatten ihren Scherz, mit Springen, Schnalzen und Klatschen.«754 Auch hier werden visuelle mit akustischen Reizen verbunden und erscheinen als eine Wahrnehmungseinheit. Diese Einheit hat in diesem Fall die Funktion, den vorherigen Eindruck zu unterstreichen. Gleichzeitig zeigt Woldemar dadurch aber auch, dass er nicht bloß auf die großen sowie auffälligen Reize der naturalen Umwelt achtet, sondern auch offen für die kleineren und unauffälligeren Gegebenheiten der Natur ist. Diese empfindsam-idyllische Szene endet mit dem erwähnten Ausruf: »Ewigkeit, mein fliehendes Dasein!«755 Nach diesem Ausruf schreibt Woldemar von einem Ortswechsel und markiert damit eindeutig einen Abschluss einer räumlich-zuständlichen Situation. Dabei erscheint dieser letzte Ausruf als Kulminationspunkt der geschilderten Szene und verdeutlicht den Willen die Naturwahrnehmung zu transzendieren. So kann zu dieser Szene resümiert werden, dass es Woldemar bei der Schilderung dieser Szene nicht um eine Darstellung von der naturalen Umgebung geht, sondern die idyllische Szene beschrieben wird, um Biderthal von seinem geistigen Inneren zu berichten und ihm so offen mitzuteilen, was ihn emotional bewegt und wie er sich fühlt. Hin748 749 750 751 752 753 754 755

Vgl. Ebd. Vgl. für die Beschreibung des Pantheismus: JWA 1,1, S. 93–112, hier S. 93. Vgl. JWA 7,1, S. 352. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd. Ebd.

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sichtlich dieser Mitteilung steht er vor der Herausforderung etwas Nicht-Sprachliches, sein innerlich Erlebtes, in schriftliche Sprache umwandeln zu müssen. Die empfindsamidyllische Szene erfüllt an dieser Stelle die Funktion Biderthal brieflich zu kommunizieren, wie das Innere Woldemars momentan beschaffen ist. Auch wenn es nur Schrift ist, so kann sich Biderthal beim Lesen in die dargestellte Szene imaginativ hineinversetzen und durch die subjektiv geschilderte Wahrnehmung Woldemars Perspektive einnehmen. Die empfindsam-idyllische Szene fungiert als unmittelbare Mitteilung des Inneren. Bemerkenswert ist, dass Woldemar sich darüber bewusst zu sein scheint, dass dies ein aporetisches Vorhaben ist, denn Empfindungen müssen, um sie aufschreiben zu können, einen anderen Intensitätsgrad haben als im Moment des Erlebens. Dies reflektiert er selbst am Beginn des Briefes. Empfindsam-Idyllische Szenen hingegen sind Darstellungen der Prozesshaftigkeit von Erlebnisgeschehen und geben einen Einblick in das intensiv erfahrene Empfinden. Die schriftliche Vermittelbarkeit von Unmittelbarkeit und Intensität innerer Regungen stößt aber immer wieder an ihre Grenzen. So zeichnet sich die empfindsam-idyllische Szene Woldemars durch gehäuft und mehrfach gesetzte Spiegelstriche aus. Die Spiegelstriche markieren Grenzen des Mitteilbaren und artikulieren zugleich die Erlebnisintensität, die nur als Leerstelle in das Schreiben mitaufgenommen werden kann. Aus diesem Grund ist die empfindsam-idyllische Szene in der sprachlichen Gestaltung deutlich von dem Rest des Briefes differenziert. Woldemar berichtet im Anschluss an diese Szene von einem Spaziergang und davon, dass er sich sein »Essen etwas früher unter die Laube […] bringen« lässt.756 Nach dem Essen versinkt Woldemar in eine schwärmerische träumerische Gemütsverfassung und schreibt darüber das Folgende an Biderthal: [Ich] saß stille da, und ließ mir träumen – von Dir; dachte – wie Du vielleicht eben jetzt auch an mich dächtest; – Deine Gespräche mit Luise; Dein Sehnen nach uns zurück – Dein Kommen – Dein Eilen auf dem Wege, und mein Erwarten…757 Woldemar imaginiert eine innerliche Verbindung mit Biderthal. Vielleicht denkt Biderthal auch an ihn, genau in dem Moment, an dem Woldemar an ihn denkt. Der Brief drückt als Kommunikationsmedium eine räumliche und zeitliche Differenz zum Adressaten aus. Woldemar versucht diese Differenzen aufzuheben, indem er über eine Szene berichtet, in der er über Biderthal nachdachte und dabei hoffte, dass Biderthal auch in diesem Augenblick an ihn dachte. So steht der ungeschriebene Wunsch Woldemars zwischen den Zeilen, dass Biderthal ja möglicherweise auch jetzt, während er ihm schreibt, an ihn denkt. Dieser Wunsch artikuliert die Vorstellung einer zwischenmenschlichen Nähe, die nicht auf Körperlichkeit festgelegt ist. Im Vordergrund steht hier im zwischenmenschlichen Bereich genauso wie in der Naturwahrnehmung der Wille zur Transzendierung der eigenen Beschränkungen. Raum und Zeit erscheinen Woldemar als Beschränkungen, die mit der Besinnung auf das Innere überwunden werden können. Eine geistige Freundschaft ist folglich eine zwischenmenschliche Beziehung über Zeit und Raum hinweg, in der die beiden Freunde eine innerliche 756 Vgl. Ebd., S. 353. 757 Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Verbundenheit aufweisen, als wären sie physisch beieinander. Hier zeigt sich erneut die besondere Bedeutung, die der Idee einer geistigen Freundschaft für Woldemar zugeschrieben werden muss. Die Verwirklichung einer solchen Freundschaft würde das Transzendente im empirisch erfahrbaren Leben bestätigen und wäre als existenzielle Selbstvergewisserung, selbst einen transzendenten Funken in sich zu tragen, eine Bestätigung des Metaphysischen in einer physisch erlebbaren Welt. Das Phantasma einer solchen Freundschaft wird abermals von Woldemar in einer empfindsam-idyllischen Naturschilderung veranschaulicht: Es war mir nicht eingefallen, daß wir Vollmond hatten. Ganz hinten, bey den Eichen, sah ich ihn unversehens in die Castanienbäume scheinen. Er zog heran – wie mit später Dämmerung feyerlich die Stille heranzieht; – lächelte zwischen dem dunkeln Laube; glich einem Freunde, der sich zur Ueberraschung herbeyschleicht, bebend von den Schlägen seines Herzens, das die Freude nicht halten kann… Ich regte mich nicht, mochte kaum aufschauen, als wäre es so in der That, und ich fürchtete, ihm die Freude zu verderben. Da kam er endlich über die Gipfel der Eichen und trat vor mich hin. Ich flog auf! – Lieber, es war ein Augenblick voll Himmelslust!758 Die phantasmatische Tendenz der freundschaftlich gedanklichen Nähe zu Biderthal wird in dieser Szene substituiert durch das kosmische Element des Mondes. Der Mond erscheint personifiziert als Freund. Woldemar phantasiert das allmähliche Aufgehen des Mondes als Heranschleichen eines Freundes. Vor dem Hintergrund, dass diese Szene des aufgehenden Mondes unter dem Vorzeichen des Wunsches gedanklicher Nähe mit Biderthal steht, erscheint der Mond als kosmische Repräsentation des Freundes. Woldemar kann in dem Moment des Schreibens nicht prüfen, ob Biderthal ihm gerade gedanklich wirklich nah ist. Der Mond übernimmt die Rolle des Freundes. Er ist für Woldemar eine Bestätigung, dass es so etwas wie geistige Nähe im Zwischenmenschlichen gibt. So schreibt Woldemar am Ende dieser Mondszene an Biderthal: »Lieber, es war ein Augenblick voll Himmelslust!«759 Die »Himmelslust« besteht in der Ansicht Woldemars darin, dass auch im Zwischenmenschlichen der Geist als metaphysischer Kern des Menschen erscheint.760 Diese Verbindung von persönlichem Hochgefühl und einer bestimmten Wirklichkeitssicht ist ein besonderes Charakteristikum des Protagonisten, das mit den empfindsam-idyllischen Szenen im Gesamtzusammenhang des Erzählwerks psychopathologisch verdeutlicht wird. Nach der Mondszene folgt ein Spaziergang Woldemars und ein neuer locus amoenus: Ich gieng, und wandelte auf und ab in meinen Alleen und Pomeranzenbäumen, unter den Linden, und in der mit dem Monde blitzenden Buchenhalle. Es war eine Nachtstille – ein Schweigen um mich her, wie das Schweigen unaussprechlicher Liebe. So gieng ich, bis der Mond in den Teich schien, und ich nicht weg konnte unter der Ulme am Canal. Man hörte nichts als den Gesang der Grillen, das Rieseln durch den Teich, und

758 Ebd. 759 Vgl. Ebd. 760 Vgl. Ebd.

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dann und wann die Bewegung eines Fisches. – Hell und immer heller wurde das Wasser – und ich schwebte wie in der Mitte der Schöpfung, aufgelöst, und an mich ziehend aus dem feinsten Aether eine neue Bildung.761 Der Spaziergang findet unter verschiedenen Baumarten statt. Dabei wird das »blitzende[]« Licht des Mondes hervorgehoben.762 Dieses Licht verleiht dieser Szene eindeutig erhabene Züge, indem das Mondlicht den naturalen Objekten einen schauerlichen Schimmer gibt, der blitzend wirkt. Dabei überwiegt dieser schauerliche Eindruck nicht, sondern die »Nachtstille« erscheint als »das Schweigen unaussprechlicher Liebe«.763 Der locus amoenus ist der Ort »unter der Ulme am Canal« und damit ein natural eingerahmter Raum.764 An diesem Ort wird die Stille der Nacht durchbrochen von dem »Gesang der Grillen, d[em] Rieseln durch den Teich, und dann und wann d[er] Bewegung eines Fisches«.765 Diese akustischen Wahrnehmungsreize werden mit visuellen Reizen verbunden, wenn Woldemar berichtet, dass »[das Wasser] [h]ell und immer heller wurde«.766 Die Durchbrechung der Stille der Nacht wird in Korrespondenz zu dem Verschwinden der Dunkelheit der Nacht gesetzt. Bei dem Mondlicht, das sich im Teich und im Kanal spiegelt, nimmt Woldemar ein Licht wahr, das immer heller zu werden scheint. Über die innerlichen Vorgänge, die sich in ihm regen, berichtet er an Biderthal: »[I]ch schwebte wie in der Mitte der Schöpfung, aufgelöst, und an mich ziehend aus dem feinsten Aether eine neue Bildung.«767 Die sinnlichen Reize sind in diesem Fall einem ›Unten und Oben‹ zugeordnet. Die akustischen Wahrnehmungen verweisen auf die Erde und damit auf unten, denn die Auslöser dieser akustischen Reize sind neben dem »Gesang der Grillen, das Rieseln durch den Teich« und ab und zu »die Bewegung eines Fisches«.768 Die Quellen dieser Reize liegen also unterhalb Woldemars. Der visuelle Reiz des Lichtes kommt jedoch vom Mond und damit von oben. Woldemar hat in dieser Szene das Gefühl, dass er zwischen diesen beiden Sphären »schwebt« und sich daher »in der Mitte der Schöpfung« befindet.769 In diesem Zusammenhang steht der zweite Teil des Satzes »und an mich ziehend aus dem feinsten Aether eine neue Bildung«.770 Der Begriff des »Aether[s]« verweist auf die antike Vorstellung eines hoch liegenden Luftraums mit klarerer Luft als auf der Erde. Gleichzeitig aber auch auf das von Aristoteles angenommene fünfte Element des Seienden neben Wasser, Luft, Erde und Feuer. An dieser Stelle muss die Verwendung dieses Begriff durch Woldemar im Kontext der Einbettung in den gesamten Brief so verstanden werden, dass der »feinste[] Aether« genau das ist, was sich dem Menschen im Leben sinnlich nicht offenbart. Die Wortwahl des »Aether« soll verdeutlichen, dass Woldemar das Bleibende des menschlichen Daseins unmittelbar in

761 762 763 764 765 766 767 768 769 770

Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

sich selbst und in der ganzen »Schöpfung« gefunden zu haben glaubt: die nicht-materielle und nicht sinnlich wahrnehmbare Entität des unveränderlich und ewig Seienden im Menschen.771 Der »feinste[] Aether« ist damit ein anderer Ausdruck für dieses bleibende Sein des menschlichen Daseins.772 Die Erfassung dieses Seienden führt Woldemar zu einer »neue[n] Bildung«, da es ihn zu einem vorher nicht gekannten Daseinsbewusstsein führt.773

3.4.3 Woldemars tiefgehende und schmerzhafte Selbsterkenntnis Diese Detailanalyse der empfindsam-idyllischen Szenen im Woldemar weist daraufhin, dass sie als Erzählverfahren des Inneren erscheinen. Sie versuchen einen Einblick in die innere Erlebniswelt zu geben. Im Medium der Schrift sollen diese Szenen ein Abtauchen in das Innere ermöglichen. Um dies zu verwirklichen, wird das Schreiben bei zwei empfindsam-idyllischen Szenen sogar aus dem Kontext des Briefes gezogen und die Schriften werden als »die Schatten seiner [Woldemars; F.K.] abgeschiedenen Stunden, in dem nemlichen Sinne, wie man auch die Seelen pflegt Schatten zu nennen«, bezeichnet.774 Alle weiteren empfindsam-idyllischen Szenen sind in Briefen Woldemars an Biderthal enthalten und sind Versuche, Ausdrucksformen des Inneren zu finden, die durch die Schilderungen von Empfindungserlebnissen die Prozesshaftigkeit innerer Regungen abbilden. Empfindsam-idyllische Szenen stellen als Erzählverfahren von Innerlichkeit den Versuch dar, die Dynamik innerlicher Zustandsformen nachzuzeichnen, indem die Wirkung von Natureindrücken auf das Innere thematisiert wird. Dabei ist zu bemerken, dass bei den empfindsam-idyllischen Szenen eine Veränderung beobachtbar ist, die darauf hinweist, dass der Protagonist eine Entwicklung durchläuft. Durch die empfindsam-idyllischen Szenen wird die radikale Formierung von Woldemars solipsistischer Haltung veranschaulicht, die als eine Form der radikalen Ich-Zentrierung zunehmend narzisstische Züge annimmt und daher eine destruktive Wirkung auf sein Umfeld ausübt. Diese Entwicklung Woldemars zeigt sich in einem Realitätsverlust, der durch die empfindsam-idyllischen Szenen visualisiert wird. Die erste empfindsam-idyllische Szene ist in eine Erinnerung Woldemars eingebettet und es werden äußerliche Natureindrücke auf der Ebene der Gegenwart als solche wahrgenommen. Die Entfaltung des Inneren liegt hier in der Erinnerung der damaligen Natureindrücke. Zunehmend verschmilzt die Entfaltung des Inneren und der äußeren Eindrücke zu einer untrennbaren Einheit für Woldemar. Am Beginn des zweiten Teils ist in den Schriften, die als seine innerlichen »Schatten« bezeichnet werden, die Differenzierung von äußeren und inneren Reizen aufgehoben.775 Es ist nicht mehr eindeutig bestimmbar, ob Woldemar Glockengeläute hört oder nur imaginiert.776 Dieser Realitätsverlust ist das Resultat seiner

771 772 773 774 775 776

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 348. Vgl. Ebd., S. 348. Vgl. Ebd., S. 347.

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Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

sich selbst und in der ganzen »Schöpfung« gefunden zu haben glaubt: die nicht-materielle und nicht sinnlich wahrnehmbare Entität des unveränderlich und ewig Seienden im Menschen.771 Der »feinste[] Aether« ist damit ein anderer Ausdruck für dieses bleibende Sein des menschlichen Daseins.772 Die Erfassung dieses Seienden führt Woldemar zu einer »neue[n] Bildung«, da es ihn zu einem vorher nicht gekannten Daseinsbewusstsein führt.773

3.4.3 Woldemars tiefgehende und schmerzhafte Selbsterkenntnis Diese Detailanalyse der empfindsam-idyllischen Szenen im Woldemar weist daraufhin, dass sie als Erzählverfahren des Inneren erscheinen. Sie versuchen einen Einblick in die innere Erlebniswelt zu geben. Im Medium der Schrift sollen diese Szenen ein Abtauchen in das Innere ermöglichen. Um dies zu verwirklichen, wird das Schreiben bei zwei empfindsam-idyllischen Szenen sogar aus dem Kontext des Briefes gezogen und die Schriften werden als »die Schatten seiner [Woldemars; F.K.] abgeschiedenen Stunden, in dem nemlichen Sinne, wie man auch die Seelen pflegt Schatten zu nennen«, bezeichnet.774 Alle weiteren empfindsam-idyllischen Szenen sind in Briefen Woldemars an Biderthal enthalten und sind Versuche, Ausdrucksformen des Inneren zu finden, die durch die Schilderungen von Empfindungserlebnissen die Prozesshaftigkeit innerer Regungen abbilden. Empfindsam-idyllische Szenen stellen als Erzählverfahren von Innerlichkeit den Versuch dar, die Dynamik innerlicher Zustandsformen nachzuzeichnen, indem die Wirkung von Natureindrücken auf das Innere thematisiert wird. Dabei ist zu bemerken, dass bei den empfindsam-idyllischen Szenen eine Veränderung beobachtbar ist, die darauf hinweist, dass der Protagonist eine Entwicklung durchläuft. Durch die empfindsam-idyllischen Szenen wird die radikale Formierung von Woldemars solipsistischer Haltung veranschaulicht, die als eine Form der radikalen Ich-Zentrierung zunehmend narzisstische Züge annimmt und daher eine destruktive Wirkung auf sein Umfeld ausübt. Diese Entwicklung Woldemars zeigt sich in einem Realitätsverlust, der durch die empfindsam-idyllischen Szenen visualisiert wird. Die erste empfindsam-idyllische Szene ist in eine Erinnerung Woldemars eingebettet und es werden äußerliche Natureindrücke auf der Ebene der Gegenwart als solche wahrgenommen. Die Entfaltung des Inneren liegt hier in der Erinnerung der damaligen Natureindrücke. Zunehmend verschmilzt die Entfaltung des Inneren und der äußeren Eindrücke zu einer untrennbaren Einheit für Woldemar. Am Beginn des zweiten Teils ist in den Schriften, die als seine innerlichen »Schatten« bezeichnet werden, die Differenzierung von äußeren und inneren Reizen aufgehoben.775 Es ist nicht mehr eindeutig bestimmbar, ob Woldemar Glockengeläute hört oder nur imaginiert.776 Dieser Realitätsverlust ist das Resultat seiner

771 772 773 774 775 776

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 348. Vgl. Ebd., S. 348. Vgl. Ebd., S. 347.

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vermeintlich erfüllten Sehnsucht, die Grenze des Endlichen zum Unendlichen zu überschreiten. Mit der vermeintlich realisierten Freundschaft mit Henriette glaubt Woldemar eine »Sympathie« mit einem anderen Menschen gefunden zu haben, die für ihn »ein Mittel der Unvergänglichkeit« ist.777 Dabei ist es kein Zufall, dass er sich in Henriette, der schönen Seele, gespiegelt sieht, denn bei der Eingliederung in die Familie wird deutlich, dass Woldemar sich selbst als ein Genie betrachtet. An dieser Stelle gibt die Passage, die in der Fassung von 1796 erstmalig enthalten ist, einen wichtigen Aufschluss über Woldemars Charakter und über seine Entwicklung, die er durchläuft. Diese Passage schilderte ein Treffen der Familie mit einem Gast namens Carl Sidney, den Dorenburg »während seines Aufenthalts in England« kennengelernt hatte.778 Diese außerhalb der Familie stehende Figur wird als ein »den Wissenschaften ganz ergebene[r] vortreffliche[r] junge[r] Mann[]« beschrieben.779 Dorenburg bittet Woldemar zum Empfang Sidneys zu erscheinen und hebt dessen philosophische Bildung hervor. Woldemar sagt dieser Einladung zu. Bei dem Treffen wird eine moralphilosophische Kontroverse thematisiert, die ausführlich unter Berücksichtigung verschiedener moralphilosophischer Positionen geführt wird. Dabei treten zwei grundsätzliche Positionen hervor. Hornich und ein Freund von ihm mit Namen Alkam vertreten moralisch eine Position, die auf festgeschriebenen Gesetzen basiert. Die Verwirklichung von Tugend ist die Befolgung dieser Gesetze. Woldemar vertritt zusammen mit dem Gast Sidney die Position, dass die Starrheit von »Buchstaben in Gesetzen« der Dynamik des menschlichen Lebens nicht gerecht werden kann.780 Das Leben wird den einzelnen Menschen in Situationen führen, in denen die Befolgung von Gesetzen offensichtlich zu Ungerechtigkeiten führen wird. Zur Untermauerung führt Woldemar Beispiele aus antiken Schriften an, in denen Helden auftreten, die Entscheidungen und Handlungen gegen die geltenden Gesetze ihrer Gemeinschaft getroffen und ausgeführt haben. Entscheidend ist, dass Woldemar aus gutem Grund mit seiner Gegenposition nicht überzeugen kann und dieser moralphilosophische Disput im Streit auseinanderbricht. Hornich fühlt sich von Woldemars Schmälerung der Gesetze verletzt, weil ihm diese »heilig« sind.781 Diese Betrachtungsweise Hornichs wird erst im Zuge der Forderung des Gelübdes von Henriette mitgeteilt. Hornich fordert nämlich seines Erachtens nicht aus Gehässigkeit die Versicherung, dass Henriette sich nicht an Woldemar binden solle, sondern aus ehrlicher Besorgnis, da er dem Charakter dieses Mannes nicht traut. Auf dem Sterbebett äußert er gegenüber seiner Tochter Henriette: Blos um dich ist es mir zu thun. Woldemarn gönnte ich gern alles Glück, das du ihm gewähren könntest. Aber sieh! ich habe genau auf diesen Menschen Acht gegeben; bin ihm um deinetwillen, da ich sah, daß du dich immer stärker an ihn hängtest, auf allen seinen Wegen nachgegangen; habe mich auf das sorgfältigste überall nach ihm erkundigt; und bin je mehr und mehr überzeugt worden, daß er ein Mensch von durch

777 778 779 780 781

Vgl. Ebd., S. 216. Vgl. Ebd., S. 244. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 254. Vgl. Ebd.

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und durch verkehrtem Sinn, ohne Gesetz und Gott, ein wahrer Freygeist ist. Dabey hitzig, ausschweifend, unbesonnen… Kurz, ich weiß kein Unglück, das du nicht mit ihm zu befahren hättest; du wärest verlohren für diese Welt, und wahrscheinlich auch für jene.782 Woldemars Charakter ist gefährlich, weil er ähnlich wie Allwill seine Eigentümlichkeit, das eigene Handeln und gegebene Unbeständigkeiten in seinen Auffassungen mit der Berufung auf die Natur begründet. Dabei sieht sich Woldemar in seinem Selbstbild als moralisches Genie. Aufgrund dieses Selbstbildes sieht er sich selbst in der schönen Seele Henriette gespiegelt. In der moralphilosophischen Kontroverse entwickelt Woldemar eine Moralvorstellung, die nicht auf dem geschriebenen Gesetz aufbaut, sondern auf dem moralischen Genie. Die Wissenschaft des Guten ist, wie die Wissenschaft des Schönen, der Bedingung des Geschmacks unterworfen, ohne den sie gar nicht angefangen, und über den sie nicht hinausgeführt werden kann. Der Geschmack am Guten wird, wie der Geschmack am Schönen, durch vortreffliche Muster ausgebildet; und die hohen Originale sind immer Werke des Genies. Durch das Genie giebt die Natur der Kunst die Regel; so wohl der Kunst des Guten, als des Schönen. Beyde sind freye Künste, und schmiegen sich nicht unter Zunftgesetze; lassen sich durchaus nicht zum Handwerk erniedrigen und in den Dienst des Gewerbes bringen.783 Dieser Redebeitrag Woldemars zeigt seine moralphilosophische Position einer genialischen Ethik, bei der das Genie als moralische Richtschnur fungiert. Tugend ist das Handeln des moralischen Genies. Die schöne Kunst und die Moral werden von Woldemar beide als »freye Künste« verstanden. Das bedeutet, dass für ihn in der schönen Kunst und in der Moral die innere Autonomie des Menschen besonders zur Geltung kommt. Im Kontext von Jacobis religionsphilosophischer Position ist die Entfaltung der inneren Autonomie in das konkret erfahrbare Leben als Freiheit definiert worden. Dieser Hintergrund verdeutlicht, warum Moral von Woldemar als frei verstanden wird. Woldemar zufolge offenbart moralisches Handeln eine Autonomie im Inneren, da der Mensch unabhängig von äußeren Umständen handeln könne. Im Kontext seiner antiken Beispiele, die er anführt, wird deutlich, dass er gerade dasjenige Handeln als moralisch deutet, das eine Unabhängigkeit von der äußeren Situation aufzeigt. Zur Untermauerung seiner Position führt Woldemar verschiedene antike Helden und ihr Handeln an, das er als heroisch und moralisch deutet und das im deutlichen Kontrast zu bestehenden Gesetzen steht. Dieses Vorgehen macht sichtbar, dass der Protagonist eine Textwirklichkeit mit der empirisch erlebbaren Wirklichkeit verwechselt. Er begründet seine moralphilosophische Position mit einem Bildungsgehabe, das aufzeigt, dass diese Position aus Texten abstrahiert ist. Die argumentative Entfaltung von Woldemars Moralvorstellung ist keine lebensorientierte Ethik, sondern ein Verhaltensideal, das er in antiken Texten ausgebreitet findet. Dies verweist schon darauf, dass die Berufung auf »die Natur« problematisch ist, da Wol-

782 Ebd., S. 343. 783 Ebd., S. 249.

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demar lediglich eine Textnatur im Blick hat.784 Diese Verwechslung von Naturformen ist entscheidend, da die Vorstellung vom Genie auf einem Naturbegriff fußt, der die »Natur im Subjekt« beschreibt.785 Dies wird mit Blick auf Immanuel Kants Definition des Genie-Begriffs im § 46 der Kritik der Urteilskraft deutlich. Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt. […] Denn eine jede Kunst setzt Regeln voraus, durch deren Grundlegung allererst ein Produkt, wenn es künstlich heißen soll, als möglich vorgestellt wird. […] Da nun gleichwohl ohne vorgehende Regel ein Produkt niemals Kunst heißen kann, so muß die Natur im Subjekte […] der Kunst die Regel geben, d. i. die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich.786 Es wird mit Blick auf diese Definition des Genies nach Kant deutlich, dass die beiden Protagonisten der Erzählwerke besonders in moralischer Hinsicht in der Kritik stehen, weil sie sich selbst als Genies betrachten und sie in ihrer Berufung auf die Natur eine falsche Naturform im Blick haben. Im Abgleich mit der Genie-Definition nach Kant wird deutlich, dass Woldemar seine Berufung auf die Natur verwendet, um seine Eigentümlichkeit in ihrer unergründlichen Dynamik und in diesem Zuge auch sein labiles Verhalten zu erläutern. Künstlichkeit wird als Befolgung von Regeln bestimmt. Bei der schönen Kunst liegt jedoch der Sonderfall vor, dass sie nicht durch die Anwendung von erworbenen Fähigkeiten hervorgebracht werden kann. »Genie [sei] ein Talent […], dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben lässt, hervorzubringen«.787 Diese Regellosigkeit, die Kant in der schönen Kunst vorliegen sieht, beschreibt er als »Originalität«.788 Aber Originalität allein definiert das Genie nicht, »da es auch originalen Unsinn geben kann«.789 Daher müssen nach Kant die »Produkte« des Genies »zugleich Muster, d. i. exemplarisch sein«.790 Die exemplarische Originalität darf »selbst nicht durch Nachahmung entsprungen« sein.791 Es muss als Ausdruck des Inneren, das meint hier die »Natur im Subjekt«, der Kunst die Regel geben.792 Wenn es bei Kant heißt, dass das Genie durch die »Natur [der schönen Kunst] die Regel gebe«, dann bezieht sich dieser Naturbegriff auf das Innere des Menschen.793 Woldemar bezieht sich im Weiteren aber nicht auf eine innere Natur, sondern auf eine Textnatur. Seine Moralvorstellung, die in der Vorbildhaftigkeit eines Genies ihre

784 Vgl. Ebd. 785 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Mit einer Einleitung und Bibliografie hg. von Heiner F. Klemme. Mit Sachanmerkungen von Piero Giordanetti. Hamburg 2001, S. 193f, hier S. 193. 786 Ebd. 787 Vgl. Ebd., hier S. 193f. 788 Vgl. Ebd., hier S. 194. 789 Vgl. Ebd. 790 Vgl. Ebd. 791 Vgl. Ebd. 792 Vgl. Ebd., S. 193. 793 Vgl. Ebd.

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Regeln findet, projiziert die Vorstellung des Genies von der schönen Kunst in die Moral. Woldemar verhält sich im Sinne seiner moralphilosophischen Position und sieht sich selbst als das Genie der Moral. Neben dieser Herleitung seiner moralphilosophischen Position ist sein Handeln von dem Bewusstsein geprägt, das dem Genie widerspricht, da das Genie laut Kant »selbst nicht weiß, wie sich ihm die Ideen dazu herbeifinden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken und anderen in solchen Vorschriften mitzuteilen«.794 Genauso verhält sich Woldemar aber gegenüber der Familie und entlarvt seine vermeintliche Geniehaftigkeit als gelehrtes Räsonieren. Dies führt vor allem die zweite philosophische Kontroverse über eine ausgeglichene Lebensart vor.795 Die von der Erzählinstanz vorweggenommene Quintessenz dieses philosophischen Gesprächs lautet, dass es »Ziel« des Menschen sei, eine Lebensart zu erreichen, die »Maaß« hält.796 Eine ausgeglichene Lebensart, die sowohl im materiellen Besitz, in den zwischenmenschlichen Bindungen und im persönlichen Streben eine in sich ruhende Ausgeglichenheit aufweist, sei »Ziel« des Menschen.797 Während Woldemar in seinen Ausführungen konkrete Anleitungen gibt, wie dieser Mittelzustand zu erreichen sei, reflektiert die Erzählinstanz bereits am Anfang, dass diese Balance als ein Telos zu verstehen ist, das für den Menschen ein unerreichbarer Inbegriff der Vollkommenheit sei. Fälschlich soll ihn von nun an nichts mehr weder reizen noch schrecken; er sieht eine Straße des Friedens sich vor ihm hinziehen: der will er nachwandeln – sieht die höchste irrdische [sic!] Glückseligkeit, sieht das Ziel der Weisheit – ihm so nah! Aber dieses Ziel, wer hat es je erreicht? Alles kann der Mensch eher, als Maaß halten, als in der Mitte bleiben.798 Diese Passage ist Erzählerkommentar und ist nicht an eine einzelne Figur gebunden, sondern gibt den besonderen Wissenstand der Erzählinstanz wieder. Die Erzählinstanz erscheint durch stark mitempfindende und lebenserfahrene Kommentare selbst als eigentümlicher Mensch. Die Mitempfindung mit Woldemar erzeugt den Eindruck, als hätte die Erzählinstanz ähnliche Erlebnisse und Herausforderungen selbst erfahren. Dabei schwingt aber immer wieder mit, dass Woldemar am Anfangspunkt eines Entwicklungsgeschehens steht. Die Erzählinstanz lässt die Überlegungen Woldemars als eine ideengeprägte und selbstüberschätzende Naivität erscheinen, da Woldemar die Verwirklichung einer in sich ruhenden sowie ausgeglichenen Lebensart für realisierbar hält. Woldemar geht sogar noch einen Schritt weiter und behauptet, er würde diese Lebensart leben und die Familienmitglieder sollten sich an ihm orientieren. Diese besondere Lebensart lässt sich mit dem Begriff der Suffizienz beschreiben, da es um eine Ausgeglichenheit der drei Diskussionszusammenhänge des Sozialen, des Ökologischen und des Ökönomischen geht, die in einen harmonischen Einklang miteinander gebracht werden. Dieser Zustand wird als Erlangung der »höchste[n] irrdische[n] [sic!] 794 795 796 797 798

Vgl. Ebd., S. 194. Vgl. dazu JWA 7,1, S. 273–323. Vgl. Ebd., S. 278. Vgl. Ebd. Ebd.

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Glückseligkeit« bezeichnet und zeigt an, dass die Realisierung dieses Zustands nicht der Weg zum Glück ist, sondern selbst das größte erlebbare Glück des Menschen darstellt. Hinsichtlich dieses suffizienten Zustands ist es signifikant, dass es eine Diskrepanz zwischen dem Selbst-und Fremdbild Woldemars gibt. Zuvor hatte die Erzählinstanz Henriette »einen Mittelpunkt« zugeschrieben, bei dem »kräftigere Regungen den Meutereyen der Eitelkeit ein Ende machen«.799 Dieser Mittelzustand muss erreicht werden, um das vollkommene Glück des Menschen zu finden und im Gegensatz zu Woldemar »wußte [Henriette] dieses schon«.800 Aus diesem Grund ist es auch Henriette, die diesen Mittelzustand Woldemar gegenüber anspricht und ihm vor Augen führen möchte, dass er von diesem Zustand weit entfernt ist. In Woldemars längerem Brief, datiert auf den 23. August und adressiert an Biderthal, berichtet er über dieses Gespräch mit Henriette.801 Zuvor hat Woldemar die Schriftstücke ohne Namen verfasst, um seinem innerlichen Glück Ausdruck zu verleihen. Durch die Perspektive Henriettes wird deutlich, dass Woldemars empfundenes Glück wie ein Schweben in einer Ich-Blase ist. Wir waren in Allwinens Garten, und untersuchten sehr scharf an den verschiedenen Kirschbäumen, den verhältnismäßigen Werth ihrer Früchte. Wo wir zweifelten oder verschiedner Meynung waren, da entschied Allwina; und sobald sie den Ausspruch gethan hatte, waren wird auch mit ihr Eins. – »Wer ein paar Tage Hunger und Durst gelitten hätte,« sagte unversehens Henriette, »und käme über diese Bäume!« – Himmel! rief ich, und sah ganz entzückt aus. Henriette lächelte: Wie der Mann die Stillung einer heftigen Begierde neidet, sage sie, und gleich alles Angenehme, Liebliche, Köstliche dafür hingäbe! – Oder glauben Sie, Woldemar, daß Sie, mit jenem grimmigen Hunger und Durst, den Geschmack dieser Früchte, ihre lieblichen Eigenschaften so wie jetzt empfunden hätten? Ihr Vergnügen wäre mehr die bloße Stillung eines Schmerzes gewesen, als eigentlicher Genuß, und kaum hätten Sie erkannt, was Sie hinunter geschlungen. Ich gab das zu. Also, hub sie an, wären die Freuden des Gaumens wohl im Grunde eben so wenig für den Heißhungrigen, als für den Uebersatten; und der mäßig gereizte allein genösse sie wirklich und lauter? Ich wußte nicht was sie wollte, und gestand es abermals.802 Woldemar versteht nicht, was Henriette ihm mitteilen möchte. Dabei erfasst Henriette das Problem seines empfundenen Glücks sehr klar. Woldemars anfängliche Schwermut war in einer »Sehnsucht« begründet, die ihn »suchender und forschender« machte, »Mittel der Unvergänglichkeit und der Verklärung« zu finden.803 Dabei entfernte er sich immer weiter von seinem Gegenstand, desto intensiver er überzeugt war, sich dem Gesuchten genähert zu haben. »Das Geheimniß dieses Widerspruchs« offenbart sich Woldemar selbst nicht.804 Nach dem Hören des ersten mitgeteilten Briefes Woldemars war Henriette ergriffen von seinem innerlichen Gemütszustand und war überzeugt, dass »ihm

799 800 801 802 803 804

Vgl. Ebd., S. 239. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 350–362, hier S. 357–360. Vgl. Ebd., S. 350–362, hier S. 357f. Vgl. Ebd., S. 216. Vgl. Ebd.

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hier das Rätsel seiner Schwermuth schön sich löste« und »seine Wehmuth von ihm genommen würde«.805 Woldemars in sich gekehrter Schmerz der Unerreichbarkeit seines Sehnens hat sich gelegt, da er glaubt, gefunden zu haben, was er gesucht hat. Er glaubt im Endlichen die existenzielle Vergewisserung des Unendlichen zu erleben. Dies führt ihn zu einem Ich absolut setzenden Daseinsbewusstsein, bei dem sein Ich im Spiegel der Natur Göttlichkeit erfährt. Eine empfindsam-idyllische Szene, die genau eine solche Ich-Hybris ausdrückt und letztlich in der Sakralisierung der Natur ebenso das eigene Ich vergöttlicht, geht der Wiedergabe des Gesprächs voran. Henriette diagnostiziert Woldemars noch nicht veränderte psychische Beschaffenheit. Woldemars Sehnen ist »eine[] heftige[] Begierde«, die ihn in Form der Schwermut und Desillusionierung schmerzt.806 Er leidet daran und lernt Henriette und Allwina kennen, was »die Stillung« dieses innig und schmerzlich empfundenen Verlangens bewirkt.807 Woldemar ist ein »Heißhungriger« und er ist daher nicht fähig »wirklich und lauter« zu genießen«.808 Woldemars Sehnsucht nach existenzieller, metaphysischer Selbstvergewisserung ist ein innerer »Tumult« und damit eine Aufgebrachtheit.809 Seine innerliche Zustandsform ist unausgeglichen, weil diese Begierde ihn dazu bringt, das, was ihm als Wirklichkeit erscheint, auf Gelegenheitem zur Befriedigung dieser Begierde zu untersuchen. Sehr deutlich wirft Henriette ihm das auch in ihrer Freundschaft vor. Sie versteckt diese direkte Kritik in einem Gender-Diskussionszusammenhang. Hierauf fieng sie an, und brachte, mittelst eines kurzen Ueberganges, mein System von den Mängeln des weiblichen Characters auf die Bahn. Sie zeigte, daß allen meinen Vorwürfen, in so fern sie nicht erdichtet und nicht übertrieben wären, nur Ein [sic!] Hauptvorwurf zum Grunde läge: Mangel – an sinnlicher Begierlichkeit! – Und sie bewies, daß eben dieses Mangels wegen der weibliche Sinn weit reiner, schärfer, vollkommener wäre, als der männliche; die wahren Eigenschaften der Dinge, ihren innerlichen und verhältnismäßigen Werth zuverläßiger unterschiede; daß endlich, und eben dieses Mangels wegen, in einer weiblichen Seele jede schöne Bewegung leichter hervorkäme, ungehinderter und dauerhafter wirkte.810 Henriette sieht in ihrer geschlechtsspezifischen Betrachtung des Menschen das von Woldemar hervorgehobene Defizit von biologischen Frauen darin, dass sie oftmals ohne wahre Leidenschaft seien. Sie dreht diese Betrachtungsweise um und sieht in der Abwesenheit eines begehrlichen Drangs eine charakterliche Stärke, die näher an einer Ausgeglichenheit des Inneren sei und daher dazu befähige, »die wahren Eigenschaften der Dinge [sowie] ihren innerlichen und verhältnismäßigen Werth« besser einzuschätzen. Vor diesem Hintergrund spricht Henriette die Thematik der Freundschaft an. Sie wirft biologischen Männern und hier konkret Woldemar sogar in der Freundschaft eine Selbstbezogenheit vor.

805 806 807 808 809 810

Vgl. Ebd., S. 224. Vgl. Ebd., S. 350–362, hier S. 358. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 359. Ebd.

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Daß ihr irgendwo in alleiniger Rücksicht des Edeln und Schönen handeln solltet, und euren Leidenschaften entgegen; daran ist nicht zu denken: Leidenschaft muß überall euch unterdrücken, – selbst in der Freundschaft. Wo ihr nicht eifert, da seyd ihr kalt und todt!811 Henriette kritisiert zwischenmenschliche Bindungen, die danach streben, bestimmte Begierden und Gelüste zu stillen. Es ist ausschlaggebend für das Scheitern der Freundschaft von Henriette und Woldemar, dass Woldemar Henriette nicht versteht und diese sanfte Kritik auch keineswegs auf sich bezieht. Die Alterität Henriettes prallt an Woldemars Ich-Blase ab, denn dieser reagiert auf dieses Gespräch mit Henriette mit Verklärung, denn »[d]as Mädchen war [ihm] heilig geworden in dieser Stunde«.812 In dieser Erhöhung Henriettes sakralisiert Woldemar zugleich auch sein eigenes Ich, denn sie ist seine Seelenfreundin und spiegelt sein Inneres, daher wird laut Woldemar »von Tag zu Tage […] die Entzündung einer gemeinen Liebe unter uns unmöglicher«.813 Die nähere Bekanntschaft der beiden geht für Woldemar mit einer Vergeistigung ihrer Beziehung einher. Eine direkte Beeinflussung durch Henriette hat auf Woldemar keine Wirkung, stattdessen bekräftigt sie seine verklärende Ich-Zentrierung. Erst der Kollaps der Seelenfreundschaft leitet Woldemars »langsamen äusserst schmerzhaften Weg[] […] zu einer tieferen Selbsterkenntniß« ein.814 Dieses Geschehen prophezeit Biderthal in seinem Antwortbrief an Woldemar datiert auf den »3. Sept«.815 Diesem Schreiben kommt eine besondere Bedeutung zu, da es der einzige Brief ist, der nicht vom Protagonisten stammt. Auch Biderthal hebt Woldemars eigentümliches Verlangen nach Sublimierung hervor und deutet dieses sehnsüchtige Streben zugleich als soziales Problem, da es dazu führe, dass er keine dauerhaften Beziehungen führen könne. Die Befürchtung Hornichs, dass Woldemar als Ehemann ein zu unbeständiger Charakter sei, wird im Brief Biderthals bestätigt. Biderthal geht zunächst auf Woldemars Verhältnis zu Henriette ein und spricht daran anschließend seine Sorgen aus. Du hälst nicht mehr von ihr, als sie verdient; und es ist nichts anders, als ihr wahrer wirklicher Eindruck, was Du für sie empfindest: aber in Dein Verhältniß mit ihr bringst du eine Fantasie, vor der mir bange wurde, sobald ich sie entdeckte. […] Es ist etwas in Dir, etwas – was Dich mit allem Gegenwärtigen bald entzweyen muß. Man kann nicht sagen, daß du Dich überspannst; aber wohl, daß Du überspannt bist. So wurdest du geboren, und mußt darum auch alles ausser Dir zu überspannen suchen, damit es Dir natürlich scheine und zu Dir stimme; mußt Dein Wesen hauptsächlich in der Einbildung haben, und kannst auf kein Zureden hören. So wird Dir in die Länge kein Mensch genügen; Du wirst es keinem Menschen in die Länge aushalten – Woldemar! – Keinem! […] Lieber! wenn Du das alles nur an einem Haare festhieltest – durchaus nur an einem Haare fest halten wolltest – Und das Haar zerrisse – zerrisse vielleicht durch eine Bewegung Deiner eigenen Hand? – Lieber!…O, erbarme Dich Deines Bidertals!816 811 812 813 814 815 816

Ebd. Vgl. Ebd., S. 350–362, hier S. 360. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 362–364. Vgl. Ebd., S. 363f.

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Biderthal versucht Woldemar klarzumachen, dass seine Empfindung für Henriette wahrhaftig ist, aber die Empfindung ist selbst nicht neutral. Sie ist untrennbar mit Woldemars Innerem verknüpft und auch eine Artikulationsform derselben. Die Empfindung mag daher als innere Regung wirklich sein, aber sie ist dennoch Ausdruck seiner Überspanntheit, die Biderthal als Verlagerung seines »Wesen[s]« in die »Einbildung« versteht. Biderthal registriert den Realitätsverlust Woldemars, der sich in den empfindsam-idyllischen Szenen zeigt und erweitert diesen psychischen Befund auf seine Beziehung mit Henriette. Bei den zuletzt geschilderten Naturerfahrungen Woldemars konnte nicht mehr zwischen erlebten äußeren Reizen und imaginiertem Eindrücken klar differenziert werden. Wenn dies nun auch bei Henriette der Fall ist, wenn seine Empfindungen nicht Bezug auf die äußere Wirklichkeit nehmen, sondern nur auf Woldemars innere Welt, dann darf er seinen Empfindungen bezüglich Henriette nicht trauen. Zu dieser Selbsterkenntnis gelangt Woldemar aber erst zu einem späteren Zeitpunkt. Sein Sehnen verzerrt ihm die Wirklichkeit und jetzt als er meint, gefunden zu haben, was er begehrt, steht für seinen Bruder die Frage im Raum, ob dieses Glück wirklich ist. Biderthal scheint dieses Verhalten einer erst schmerzenden Sehnsucht und dann umso begeisterten Erfüllung vom Verhaltensschema Woldemars zu kennen. Er legt es seinem Bruder vor Augen. Es ist traurig, daß Dir nie wohl seyn kann, als im Irrthum. Wo Du auch am Wahren, am Wirklichen hängst: Du machst so lange, bis ein Hirngespinnst daraus geworden ist, und dann – zu Boden damit! – Ach, Dein letzter Brief hat mich an so vieles erinnert; dies und jenes mir so klar aufgedeckt! … Die volle Wonne, die er athmet; die hohe, allerhöchste Himmelsfreude – […].817 Für Biderthal ist es ausgemacht, dass diese von Woldemar empfundene »Himmelsfreude« seiner Imagination entstammt und daher »an einem Haare« hängt.818 Darauf aufbauend rechnet Biderthal damit, dass Woldemar Gründe finden wird, die jetzt so intensiv empfundene und sakralisierte Freundschaft mit Henriette zu verwerfen. Woldemars Umwandlung des Wirklichen zu einem »Hirngespinnst« geht in der Freundschaft konform mit der Erwartung und dem Anspruch, dass Henriette vollkommen transparent seine Seele spiegle.819 Woldemar sieht in Henriette ein Ich, welches von seinen Ich »unzertrennlich« sei.820 Die vorangekündigte Katastrophe nimmt im Anschluss an die Mitteilung an Biderthal ihren Lauf. Woldemar muss geschäftlich in die Stadt, wo er Luise vorfindet. Bei einer Unterhaltung fällt das Thema auf Henriette und da Luise das Wissen über das Gelübde hat, das sie nach einigen Verweigerungen ihrem Vater dann doch gegeben hat, rutschen ihr diese Sätze heraus: »Sie können das nicht so fühlen, wie ich! – Sie wissen nicht alles!«.821 Woldemar drängt sie offenzulegen, was sie meint und Luise beginnt zu erzählen: »Während dem Anhören nahm sich Woldemar so gut zusammen, und hielt sich auch nachher so fest, daß Luise gar nicht ahndete, was für einen Stachel sie 817 818 819 820 821

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 394. Vgl. Ebd., S. 365f, hier S. 366.

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ihm ins Herz gesetzt hatte.«822 Dieses Ereignis lässt Woldemars subjektive Befangenheit an die Grenzen seiner solipsistischen Attitüde kommen. Unzufrieden mit Henriette? – Er erschrak vor dieser Vorstellung. – Und warum unzufrieden? – Durfte er wohl jemand es bekennen? – Konnte er es nur sich selbst erklären? »Es ist die erste Befremdung, sagte er zu sich; morgen werde ich ruhig seyn« – und wollte aufstehen, und sich zu Bette legen. Aber schnell kam wieder eine neue Gedankenreihe, die ihn faßte und niederhielt. »Mir entsagt – feyerlich – heimlich! – Ihr Vater, ihre Geschwister vermochten sie dahin zu bringen! – Sie hat ein Geheimniß mit ihnen gegen Woldemar! – O, ich bin ihr nicht was ich dachte! – Henriette ist nicht … Er fuhr in die Höhe – wieder zurück – wußte sich nicht zu lassen.823 Mit Woldemars Wissen von Henriettes Gelübde bricht ihre Freundschaft zusammen. Dieser Ruin der Freundschaft gestaltet sich in Form eines inneren Geschehens Woldemars, das mit den obigen Gedanken seinen Anfang nimmt. Die Geschehnisse des zweiten Teils werden daher in das Innere Woldemars verlagert. Zur Vermittlung der inneren Geschehnisse werden verschiedene narrative Möglichkeiten der Präsentation von Gedanken durchgespielt und miteinander kombiniert. So fällt auf, dass die erste Unzufriedenheit mit Henriette in erlebter Rede geschildert wird. Die Passage »Unzufrieden mit Henriette? – Er erschrak vor dieser Vorstellung. – Und warum unzufrieden? – Durfte er wohl jemand es bekennen? – Konnte er es nur sich selbst erklären?« greift auf die Präsentationsform der erlebten Rede zurück, die eine durch die Erzählinstanz vermittelte Nähe zu den Figuren erzeugt. Darauf folgt ein eindeutig als Gedankenzitat kenntlich gemachte Wiedergabe von Woldemars Gedanken. Mit dem verbum dicendi »sagte er zu sich selbst« wird klar markiert, dass Woldemars Gedanken wiedergegeben werden. Dabei handelt es sich um beruhigende und beschwichtigende Überlegungen, die die erste Entrüstung zu relativieren versuchen. Doch dann folgt eine Passage mit einem Gedankenzitat und einem inneren Monolog. Die aus dem Inneren kommende Aufwallung wird narrativ versucht darzustellen, indem jetzt ein Beitrag folgt, der in sprachlich knappen Stil die innere Verletzung Woldemars vorführt: »Mir entsagt – feyerlich – heimlich!« Diese Darstellung von Woldemars emotionalem Erleben wird neben dem sprachlich knappen Ausdruck durch die Hervorhebung, die Anführungszeichen und ein verbum dicendi markiert. Dies zeigt an, dass es sich hierbei ebenfalls um Gedanken Woldemars handelt. Am Ende dieser Passage heißt es: »Er fuhr in die Höhe – wieder zurück – wußte sich nicht zu lassen.« Dies beschreibt eine nicht zu bremsende Regungskraft aus dem Inneren. Dabei ist es auffällig, dass in dieser Passage in den verschiedenen Formen der Gedankenpräsentation eine innere Nähe zu Woldemar konstruiert wird. Von der erzählten Rede über das Gedankenzitat bis hin zu einer Form des inneren Monologs steigert sich der Grad an Unmittelbarkeit zum Protagonisten und die Präsenz der Erzählinstanz nimmt ab. Neben dem Wissen von dem Gelübde kommt eine Verhaltensänderung Henriettes gegenüber Woldemar hinzu, denn nach der Bekanntmachung der Vermählung von Woldemar und Allwina kommt es zu »Verläumdungen«, da die Leute zu B** fest damit

822 Vgl. Ebd., S. 366. 823 Vgl. Ebd., S. 366f.

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rechnen, dass Henriette die Braut ist. Diese üble Nachrede trifft Henriette am meisten, »nicht, daß man ihr vorzüglich gram gewesen wäre, sondern weil bey ihr das Wahre den guten Leuten am weitesten aus dem Wege lag«.824 Die Verleumdungen rufen bei Henriette einen »geheime[n] Schmerz« hervor, da sie »ihr Heiligstes in den Koth« getreten sah, indem »[i]hre Freundschaft mit Woldemar […] auf die schnödeste Weise gelästert [wurde]«.825 In den Lästerungen der Leute in B** wird die rein innerliche Beziehung zwischen den beiden angezweifelt und Henriettes »Unschuld mit Schmach angethan«.826 »Woldemar hatte von allen den Verläumdungen, welche zu B** herumgeflüstert wurden, wenig erfahren« und so bemerkt er ein zweites Mal nicht, dass seine vermeintliche Seelenfreundin aufgrund dieser Beziehung zu ihm leidet. Henriette bittet Woldemar aufgrund dieser Lästerungen »in unserem äusserlichen Betragen gegen einander, einige Schritte rückwärts« zu machen.827 Diese Bitte Henriettes fällt genau in die Phase, in der Woldemar ihr Betragen ihm gegenüber genau beobachtet, da das Wissen von dem Gelübde seine narzisstisch geprägte Eitelkeit kränkt. Diese Bitte um Zurückhaltung bestätigt diese erste innere Bestürzung. Woldemar fühlt sich nun auf zweierlei Weise von Henriette zurückgewiesen. Psychologisch ist bedeutsam, dass er gerade in den Situationen eine Beleidigung seiner Eitelkeit sieht, in denen Henriette ihn als Freund gebraucht hätte und er nicht für sie da war. Beide Situationen sind Herausforderungen für Henriette, für deren Bewältigung Woldemar eher ein Störfaktor als ein helfender Freund ist und deren Problematik ursächlich in der Freundschaft zu Woldemar begründet ist. Woldemars Verhalten ihr gegenüber brandmarkt ihn als ein selbstgerechtes Ich, dass nur sensibel und enorm feinfühlig ist, wenn es selbst im Fokus steht. Hier stockte Woldemar. – Er wollte fliehen vor dem Wetter, das ein ferner Blitz ihm verkündigte, – ein ferner Blitz, und dumpfes unendliches Donnergerolle hinter ihm her. Aber wer kann sich erwehren umzublicken im Fliehen; und wen ereilts nicht? Als ob! … Das war Täuschung also, daß wir Ein Herz, Eine Seele, Eins in allem uns fühlten? Ich muß aus mir hinausgehen, als aus einem Fremden, und mich in ihre Stelle versetzen! Versetzen? – Henriette ist mir ein Anderer; Henriette ist wider mich. Hin ist unsre Einmüthigkeit, unsre Eintracht: um ihr gut zu bleiben zu können, muß ich vergessen, wie ganz ich sie für meine Freundinn [sic!] hielt – wie ganz ich ihr Freund war; – – endlich das gefunden zu haben meinte, und darin ewigen Frieden mit den Menschen. Dem Aufkommen, dem Eingreifen und Bleiben dieser Gedanken widerstrebte Woldemar mit Gewalt. Alle die freyeren Bewegungen seiner Seele wirkten Henrietten zur Liebe; und diese sollten die Oberhand behalten: so war sein ernstlicher Wille.828 Die Präsentation von Woldemars Gedanken verzichtet hier auf Anführungszeichen und verba dicendi und weist einen Wechsel der Person auf, sodass hier eindeutig ein innerer

824 825 826 827 828

Vgl. Ebd., S. 368. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 381. Vgl. Ebd., S. 385f.

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Monolog vorliegt. Dieser innere Monolog stellt das Innere Woldemars und seine Beklemmung direkt dar. Woldemar erkennt, dass Henriette »ein Anderer« ist. Daraus schließt er, dass sie »wider« ihn sei. Die als erfüllt empfundene Sympathie und entgrenzende IchEntfaltung entlarvt sich, wie von Biderthal angekündigt, als Imagination. An dieser Stelle ist aber in dem Duktus und in der Perspektive von Woldemars Gedanken ersichtlich, dass er Henriette die Schuld gibt. Für ihn ist Henriette diejenige, die ihn getäuscht und betrogen hat. Aus seiner Perspektive hat sie ihm vorgegaukelt, sie wäre seine Seelenfreundin. Durch diese Gedanken Woldemars klingt die Frage an, wie sich der Mensch den Gefühlen eines anderen Menschen versichern kann. Wenn die eigenen inneren Regungen einen täuschen können, wie kann der Mensch Gewissheit über die Gefühle des Anderen erlangen? Aus diesem Grund wird Andersartigkeit bei Woldemar auch gleichgesetzt mit »wider mich«. Solange Woldemar überzeugt war mit Henriette eine seelische Einheit zu bilden, ein Ich zu sein, das in zwei Körpern existierte, stellte sich die Gewissheitsfrage nicht, da das Innere als homogen angesehen wurde. Mit der Auflösung dieser Einheit reicht die Reichweite der Gewissheit nicht mehr bis zu Henriette. Sie ist »ein Anderer« und ist im Inneren anders als er und ihre inneren Regungen sind ihm nicht mehr zugänglich. Freylich! sagte er – Das ist und wird seyn: daß Henriette zu den besten ihrer Gattung gehört. – Ich kann mich auf ihre Tugend, – auf ihre Freundschaft (wie andre – auch vortreffliche Menschen diese Worte nehmen) verlassen. – Nur ist auch sie nicht – was ich schon lange zu suchen aufgegeben hatte; – was ich endlich – gefunden zu haben meinte: – nicht die Eine, die Meine. Was fest, was unwandelbar macht; jene Treue, die keine Tugend – die Stärke, Lebhaftigkeit und Tiefe allein des Sinnes ist, gebricht ihr. Wie fern – daß ihr Herz wie das Meinige empfände! Sie weiß nichts davon, daß sie von mir abgewichen ist – fühlt nicht das Widrige, das Unerträgliche darin: Zweymal in eine Parthey gegen mich – wo nicht getreten – doch verflochten zu seyn. – Konnte es wagen, konnte es über sich bringen, bey mir in Verdacht zu kommen, um dem Verdacht nichtswürdiger Menschen zu entgehen! – Konnte gegen Freundschaft, gegen die Ruhe meines Lebens, andre Dinge auf die Wage [sic!] legen – so kalt! Wie manches ihr mehr gelten muß, als meine Liebe; – wie manches sie ärger schrecken – als dieser Liebe Tod!… Es mag seyn, daß sie dadurch, daß sie tadelhaft vor mir erscheint, vor allen andern Menschen desto untadelhafter da stehe – Es mag, oder nicht! Hier ist davon allein die Frage: was eine Seele von der meinigen unzertrennlich macht – Das hat die ihrige nicht! Die Möglichkeit, daß sie von mir abfiele, liegt am Tage. Wir haben wirklich den Fall, daß ich ihr eine Art von Widerwillen, von Ekel errege. – Sie hat mir verheelt; sich gegen mich verstellt – Ränke gebraucht – Lügen geredet – Zweifel und Mißtrauen gebrütet – hat uns entzweyt!829 Woldemar schlägt hier noch stärkere Töne gegen Henriette an, denn sobald er ihr Ich nicht mehr absorbieren kann, steht sie gegen ihn, da sie nicht mehr »die Eine, die Meine« ist. Narrativ ist diese Passage als Vermischung von Gedankenzitat und innerem Monolog zu betrachten, sodass erneut eine unmittelbare Nähe zu Woldemars Gedanken erzeugt wird. Die Vermischung von Gedankenzitat und innerem Monolog liegt hier dar-

829 Ebd., S. 393f.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

in, dass am Anfang das verbum dicendi »sagen« die Passage einleitet. Damit kann es sich hierbei auch um monologisierende Figurenrede handeln, die dementsprechend als Vermischung von direkter Rede und autonomer direkter Rede verstanden werden muss. Der Text lässt an dieser Stelle offen, ob es sich um Rede oder Gedanken handelt, der Effekt der hergestellten Distanzlosigkeit ist in beiden Fällen ähnlich. Die Nähe entsteht dadurch, dass die Perspektive beibehalten wird, sodass anfangs eindeutig eine klar zitierte Wiedergabe Woldemars vorliegt. Dadurch, dass kein verbum dicendi wiederholt und zur Strukturierung eingesetzt wird, erscheinen die Reden oder die Gedanken Woldemars zunehmend ohne Führung der Erzählinstanz. Die so erzeugte Nähe zu dem Protagonisten marginalisiert vorübergehend die Narrationsinstanz. Diese Nähe ist gerade für die Krise Woldemars von narrativer Bedeutung, da so eine mitempfindende Unmittelbarkeit zum Protagonisten geschaffen wird. Woldemar wird als Mensch zwar problematisiert und er steht in seiner Ich-Zentrierung stark in der Kritik, aber dennoch soll mit seiner Leidensgeschichte mitgefühlt werden. Auch wenn Woldemar ein problematischer Mensch ist, so leidet er sehr an dem Zusammenbruch der Freundschaft mit Henriette und auch wenn implizit vorgegeben ist, wie diese Krise Woldemars zu bewerten ist, so gibt die erzählerische Darstellung einen Einblick in dieses Leiden Woldemars und in die von ihm empfundene Unhintergehbarkeit des Gefühls und der Absolutsetzung seines eigenen Inneren. Dieser Einblick in das innere Leiden Woldemars ist entscheidend, da auf diese Weise seine Entwicklung erst skizziert werden kann. Woldemars Ausgangspunkt war seine eigentümliche Sehnsucht und seine Schwermut. Henriette bietet ihm als Seelenfreundin Antworten auf alles, wonach er sich sehnt und führt ihn in ein sich selbstverherrlichendes Glück einer in sich zentrierten Ichhaftigkeit. Dieses Stadium ist die Ich-Entfaltungsphase Woldemars, in der er glaubt, seine Ideen verwirklicht zu haben. Mit dem Kollaps der Freundschaft und der Ich-Krise wird Woldemar sukzessiv gewahr, dass seine Ideen von geistiger Freundschaft und von der Bestätigung des Unendlichen im Endlichen zu hinterfragen sind. In der Art von Woldemars Leiden wird deutlich, dass er nicht den Verlust Henriettes als Freundin beklagt, sondern eine Kränkung seiner Eigenliebe verarbeitet. In der Darstellung von Woldemars Trauer über die verlorene Freundschaft zeigt sich ein psychischer Bewältigungsmechanismus, der die narzisstische Selbstbetrachtung beibehält und das andersartige Ich gerade aufgrund dieser Andersartigkeit als problematisch verurteilt. So beschuldigt Woldemar Henriette, dass sie ihn »verheelt«, sich gegen ihn »verstellt« und sie beide »entzweit« habe.830 Diese Trennung schmerzt Woldemar, weil dadurch auch die Sakralisierung seines eigenen Ichs durch die vermeintliche Spiegelung in Henriette zurückgenommen wird. Der Freundschaftsbruch ist für Woldemar eine narzisstische Kränkung. Es deutet sich an, dass aufgrund des Zusammenbruchs der Freundschaft Woldemar sein Selbstbildnis ändern muss. Der psychische Bewältigungsmechanismus, das Scheitern der Freundschaft allein Henriette zuzuweisen, ist so eine Möglichkeit, seine narzisstische Ich-Zentrierung über das Scheitern der Freundschaft hinaus beizubehalten. Es zeichnet sich daher ab, dass für Woldemar die endgültige Abwendung von Henriette ein weiterer Schritt dieses psychischen Vorgangs ist. Er muss sich seiner eigenen Eitelkeit als Drang nach geistiger Vollkommenheit und 830 Vgl. Ebd., S. 394.

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ihrer destruktiven Wirkung auf seine Mitmenschen bewusst werden. Dieser grundsätzliche Wandlungsprozess von Woldemar setzt radikal ein, wenn sich seine vertrautesten Personen Henriette und Biderthal bei ihm entschuldigen. Im familiären Kreis kommt es in hervorgehobener Weise ohne Woldemar zu einer Besprechung von selbstloser Freundschaft, bei der antike Texte rezitiert und interpretiert werden. Henriette ist anschließend guter Dinge, die Freundschaft mit Woldemar wiederherzustellen. Sie sucht ihn eines Morgens auf, nachdem sie im familiären Kreis erfahren hat, dass Woldemar über das Gelübde Bescheid weiß.831 Bei Woldemar angekommen, liest Henriette einen an Allwina adressierten aber noch nicht abgesendeten Brief, wobei sie glaubt, er sei an sie gerichtet.832 In diesem Brief gibt er seiner totalen Desillusionierung Raum. Henriette ist über diesen Brief und Woldemars tiefsitzender Depression schockiert. Woldemar! sagte sie, ich sehe kein Ende – und gehe – wie ich nie, wie ich am wenigstens heute von Ihnen zu gehen dachte. Ich kam voll Vertrauen und mit größerer Liebe zu Ihnen im Herzen, als jemals. Ich kam, um ein drückendes Bekenntniß abzulegen, um gewisse Verzeihung zu holen – – – Ich war so voller Hoffnung – – – Bey den Worten Bekenntniß, Verzeihung, Hoffnung verwandelte sich Woldemars ganze Gestalt, als hätten so viele Zauberschläge ihn berührt. Henriette sah und fühlte die mächtige Veränderung, die in ihm vorgieng; und auch ihre ganze Gestalt wurde anders. Hoffnung … Verzeihung … Bekenntniß – stammelte Woldemar – … O, Henriette!833 Bei der Bitte Henriettes um Verzeihung wird sich Woldemar seiner »Selbstsucht« bewusst, und dass er nur deswegen »gewüthet« hatte, damit seinem »Eigenwillen […] dies Opfer gebracht würde«.834 Diese Einsicht bekommt Woldemar, als sein Bruder hinzukommt und ihn ebenfalls um Verzeihung bittet. Psychisch komplex ist, dass dieser Selbsterkenntnisprozess Woldemars von einer Depression zur anderen führt. Zuvor war seine Depression in seiner verletzten Eitelkeit begründet, die sich nicht selbst bestimmen konnte, ohne sich in einem Gegenüber zu verklären. In den Momenten, in denen die beiden ihn um Verzeihung bitten, wird er sich seiner Selbstsucht und seines »harte[n], unbiegsame[n] Stolz[es]« bewusst.835 Im Angesicht dieser Erkenntnis ergreift ihn eine »neue heftigere Beklemmung«.836 Er gelangt zu der Überzeugung, dass die beiden ihn »verachten« müssen.837 Ihm wird seine Erwartungshaltung an seine Umgebung deutlich, und dass er sich selbst als Person verstanden hat, dessen besondere Liebe einen spezifischen Wert hätte, stattdessen für diese Personen aber vielmehr eine Belastung und Bürde als ein Gewinn war. Woldemar schließt damit, dass er den beiden seine Ergebenheit schwört.

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Vgl. Ebd., S. 407. Vgl. Ebd., S. 452. Vgl. Ebd., S. 454. Vgl. Ebd., S. 463. Vgl. Ebd., S. 464. Vgl. Ebd., S. 463. Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

…«Ich will Demuth lernen,« sagte er. – Du erinnerst mich! – Was jetzt in mir so tobt wider mich selbst …Auch das ist Stolz! Immer noch derselbe harte, unbiegsame Stolz – »Ich war nicht gut, Henriette! – Ich will es werden – ich will Demuth lernen; ich will Euer seyn …O, nehmt mich an!«838 Dieses Ende zeigt die Erfassung des eigenen Selbst, so wie es wirklich ist, als einen besonderen Entwicklungsprozess der Persönlichkeit Woldemars. Er sieht sich selbst in einem anderen Licht und erkennt die Erwartungen und Ansprüche, die er aus Eigenliebe und Ich-Zentriertheit an sein Umfeld gestellt hat. Diese Erfassung des eigenen Selbst führt Woldemar zur Überwindung seiner Sehnsucht nach einer transzendierenden IchEntgrenzung, die am Ende als Ausdruck seiner narzisstisch geprägten Selbstüberschätzung erscheint. Zusammenfassend dargestellt, durchläuft Woldemar eine drei phasige Entwicklung. Die erste Phase ist die seiner Ich-Entfaltung, die sich in hervorgehobener Weise in empfindsam-idyllischen Szenen ausdrückt und so zeigt, dass Woldemar subjektiv befangen ist und er sich in einem Zustand eines in sich selbst eingeschlossenen Ichs befindet. Andere Personen sowie sein räumliches Umfeld dienen ihm als Projektionsfläche für sein Inneres. So betrachtet er Henriette als Spiegel seines eigenen Ichs und auch in der Natur erblickt er sein eigenes Inneres. Danach folgt eine Phase der IchIsolation, in der Woldemar gewahr wird, dass Henriette ein anderer Mensch ist. In der Erfassung, dass ein anderer Mensch zu sein, nicht zugleich bedeutet, gegen ihn zu sein, erfasst er seine eigene Selbstsucht und Eigenliebe. Er gelangt zu einer veränderten Auffassung von Wirklichkeit und zu einer dritten Phase, die als Versöhnung von Ich und Welt erscheint.839 Dieses dreistufige Entwicklungsgeschehen weist das Handlungsschema des Bildungsromans auf, bei dem eine ideengeprägte Figur in die Welt hinausgeht und versucht diese nach ihren Ideen zu verändern, an diesem Vorhaben jedoch scheitert und teilweise bis vollständig desillusioniert wird.840 Am Ende kommt es zu einer Versöhnung von Ich und Welt, sodass die Figur eine Entfaltungs-, eine Desillusionierungs-, und Versöhnungsphase durchläuft. Jacobis Woldemar weist in der Spätfassung von 1796 dieses Handlungsschema auf. Auffällig ist jedoch, dass die Entwicklung des Protagonisten ausschließlich in einem privaten Bereich stattfindet. Henriette ist für Woldemar die Welt. Henriette ist für ihn eine bisher nicht erlebte Möglichkeit der Selbstentfaltung. Mit der Gewahrwerdung, dass Henriette ein eigenes Ich ist, kommt es zu einer Desillusionierung und Enttäuschung Woldemars, die am Ende mit einer Versöhnung überwunden wird. Jacobis Woldemar ist ein Bildungsroman, der ausschließlich im Privaten stattfindet.

838 Ebd., S. 464. 839 Vgl. für dieses dreistufige Modell: Felix Knode: Privatheit(en) unter dem Vorzeichen der Empfindsamkeit. Modellierungen von Ich-Entfaltung und Ich-Isolation in Friedrich Heinrich Jacobis Woldemar. In: Steffen Burk/Tatiana Klepikova und Miriam Piegsa (Hg.): Privates Erzählen. Formen und Funktionen von Privatheit in der Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts. Berlin 2018, S. 23–46. 840 Vgl. Elisabeth Böhm/Katrin Dennerlein: Einleitung. In: Dies.: Der Bildungsroman im literarischen Feld. Neue Perspektiven auf eine Gattung. Berlin 2016, S. 1–12, hier S. 2; Gerhart Meyer: Der deutsche Bildungsroman. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart 1992, hier S. 19f; Jürgen Jacobs/Markus Krause: Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. München 1989, hier S. 19–21.

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3.5 Philosophische Ausblicke: die kritizistischen Rezeptionen von Hegel und Fichte Sonst aber kann man, da für Jacobi sittliche Schönheit dem Begriffe und der Objektivität zuwider ist, sich darüber allein an Gestalten halten, in denen er seine Idee der sittlichen Schönheit klar machen wollte. Der Grundton aber dieser Gestalten ist dieser bewußte Mangel an Objektivität, diese an sich selbst festhängende Subjektivität, die beständige, nicht Besonnenheit, sondern Reflexion auf seine Persönlichkeit, diese ewig auf das Subjekt zurückgehende Betrachtung, welche an die Stelle sittlicher Freiheit höchste Peinlichkeit, sehnsüchtigen Egoismus und sittliche Siechheit setzt; ein Betrachten seiner selbst, welches mit schöner Individualität eben die Verwandlung vornimmt, die mit dem Glauben vorging, nämlich durch dies Bewußtsein individueller Schönheit sich das Bewußtsein der aufgehobenen Subjektivität und des vernichteten Egoismus zu geben, aber durch dies Bewußtsein gerade die höchste Subjektivität und innern Götzendienst gesetzt und sie zugleich gerechtfertigt zu haben. Wie wir bei den Dichtern, welche erkennen, was ewig und was endlich und verdammt ist, bei den Alten, Dante, und an dem schon in seinem Leben eine Zeitlang der Hölle hingegebenen Orest bei Goethe die Verdammnis der Hölle ausgesprochen finden, nämlich als das ewige Verbundensein mit der subjektiven Tat, das Alleinsein mit seinem eigenen sich selbst Angehörigen, und die unsterbliche Betrachtung dieses Eigentums, so sehen wir an den Helden Allwill und Woldemar eben diese Qual der ewigen Beschauung ihrer selbst nicht einmal in einer Tat, sondern in der noch größern Langeweile und Kraftlosigkeit des leeren Seins, und diese Unzucht mit sich selbst, als den Grund der Katastrophe ihrer unromanhaften Begebenheiten dargestellt, aber zugleich in der Auflösung dies Prinzip nicht aufgehoben, und auch die unkatastrophierende Tugend der ganzen Umgebung von Charakteren wesentlich mit einem Mehr oder Weniger jener Hölle tingiert.841 Nach Hegel lässt sich »sittliche Schönheit« bei Jacobi weder begrifflich noch objektiv fassen. Hegel sieht die beiden Protagonisten Allwill und Woldemar als »Gestalten […] in denen er [Jacobi; FK.] seine Idee der sittlichen Schönheit klar machen wollte«. Diese Betrachtung der Protagonisten der Erzählwerke Jacobis ist vor allem mit Blick auf die Spätfassungen ein entscheidendes Missverständnis. Die beiden Hauptfiguren stellen keine moralischen Personen dar, stattdessen wird an ihnen ein Entwicklungsgeschehen exemplifiziert, das eine Erfassung des tatsächlichen eigenen Selbst beschreibt und erst zum Ausgangpunkt für »sittliche Schönheit – wie Hegel es nennt – wird. Daraus folgt, dass mit diesen Figuren erst nach Abschluss der erzählten Ereignisse eine moralische Person beschrieben wird. Hegels Ausführungen stellen als wichtige zeitgenössische Rezeption eine verbreitete Fehldeutung der Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis dar. Jacobis

841 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Kritische Schriften (III): Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie. Neu herausgegeben von Hans Brockard und Hartmut Buchner. Hamburg 1986, S. 92f. Carmen Götz führt dieses Zitat in ihrem editorischen Bericht zu Eduard Allwills Briefsammlung als wichtiges Zeugnis der Rezeptionsgeschichte der Spätfassung des Allwill an: JWA 6,2, S. 324f.

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moralphilosophische Position geht nicht konform mit den moralphilosophischen Standpunkten der beiden Hauptfiguren. Des Weiteren wird die eingenommene Distanz zu den Protagonisten in den Spätfassungen von Hegel nicht zur Kenntnis genommen, die darauf verweist, dass diese Figuren gerade aufgrund ihrer Selbsteinschätzung als besonders moralische Menschen soziale Umgangsformen aufweisen, die sich genau gegenteilig zu dieser Selbsteinschätzung verhalten. Hegels Ausführungen sind für die Rezeption der Hauptfiguren der Spätfassungen sehr aufschlussreich und zeigen zugleich an, dass Hegel diese Werke Jacobis auf die Fragestellung ›einer möglichen Objektivität von Sittlichkeit‹ untersucht. In Jacobis Spätfassungen der Erzählwerke gibt es eine Polyfonie in den moralischen Positionen, wobei am Ende deutlich wird, dass Woldemars radikal subjektive Position scheitern muss. Es ist also keineswegs so, dass in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis die titelgebenden Figuren die moralischen Helden sind. Vielmehr wird ihr radikaler Subjektivismus als moralisch problematisch dargestellt. Hegels Beschreibung der Protagonisten erfasst jedoch genau das Problem, an dem diese Figuren leiden. Diese Figuren zeigen einen »bewußte[n] Mangel an Objektivität« und veranschaulichen eine »an sich selbst festhängende Subjektivität«. »[A]n die Stelle sittlicher Freiheit« sei »höchste Peinlichkeit, sehnsüchtige[r] Egoismus und sittliche Siechheit [ge]setzt«. Die Hauptfiguren Allwill und Woldemar folgen in ihren Umgangsformen ihrem Inneren, da sie es als moralische Instanz des Menschen betrachten. Jedoch ist ihr Inneres geprägt durch egoistisches Begehren und so führt die Befolgung ihrer inneren Regungen zu ihrer Amoralität mit zerstörerischer Wirkung auf ihr Umfeld. Ihre »sittliche Siechheit« ist in ihrer Perspektive auf das Innere des Menschen begründet und die Beschaffenheit ihres Ichs ist durch »sehnsüchtigen Egoismus« geprägt, den sie selbst nicht erfasst haben. Bemerkenswerterweise spricht Hegel diesen Figuren auch eine Entwicklung zu, die für ihn jedoch nicht einen Ausstieg aus der subjektiven Befangenheit darstellt, sondern eine Intensivierung der Ich-Verabsolutierung. Demnach kann nach Hegel nur ein Pseudo-Entwicklungsprozess bei den Protagonisten vorliegen, denn im »Betrachten [ihrer] selbst, welches mit schöner Individualität eben die Verwandlung vornimmt […], durch dies Bewußtsein individueller Schönheit sich das Bewußtsein der aufgehobenen Subjektivität und des vernichteten Egoismus zu geben«. Die mehrfach selbstreflektierte Subjektivität der Protagonisten entflieht dieser nicht, sondern bleibt in ihr gefangen. Dieser von Hegel beschriebene Zustand der Protagonisten ist ihre IchEntfaltungsphase, in der sie ihr soziales Umfeld und ihren Blick in die Natur als Projektionsfläche ihres Inneren instrumentalisieren. Sie geben sich selbst und anderen den Eindruck, ihre Ich-Entfaltung hätte sie aus den Grenzen ihrer eigenen Subjektivität befreit und ihr ich-zentriertes Transzendierungsbegehren erfüllt. Jedoch ist mit der Besinnung auf die eigene Eigentümlichkeit keine Befreiung aus der Befangenheit der eigenen Subjektivität zu erreichen, stattdessen zeigt diese Besinnung vielmehr eine Steigerung dieser Gefangenschaft innerhalb der Grenzen des eigenen Ichs an. Mit der Betrachtung der eigenen Eigentümlichkeit kann erkenntnistheoretisch kein Ausbruch aus der subjektgebundenen Perspektive abgeleitet werden. Ein Ich, das dieser Täuschung anheimfällt, rutscht ins Gegenteil ab und bekommt eine Zustandsform des Inneren, die in sich selbst

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so etwas wie »Objektivität« zu sehen glaubt.842 In der Begrifflichkeit Hegels ist »dies Bewußtsein gerade die höchste Subjektivität«.843 Dies impliziert, dass die Reflexion der Subjektivität diese potenziert. Diese selbstreflexive Subjektivitätspotenzierung veranschaulichen die Protagonisten der Erzählwerke Jacobis. Ihre empfindsam-idyllischen Szenen, die sie in Briefen mitteilen, sind Ausdruckformen dieser potenzierten Subjektivität. Ihre Naturdarstellungen beschreiben eine Indifferenz von Ich und Natur, da Allwill und Woldemar keinen erfassenden Zugang zur Natur als Nicht-Ich haben. Dieses Phänomen ist in Jacobis Woldemar auch im Detail im zwischenmenschlichen Bereich ausgeführt worden. Woldemar sieht Henriette als sein eigenes Ich an, sodass sie für ihn keine andere Person ist. Das Ich potenziert sich und sieht in dieser Entfaltung nicht etwa ein Problem, sondern betrachtet es als die Erfüllung des lang ersehnten Verlangens, den eigenen Grenzen der erfahrbaren Endlichkeit zu entkommen. Dieses Geschehen bezeichnet Hegel als »innern Götzendienst«.844 Ein solches Ich befinde sich in der »Verdammnis der Hölle«, denn es bezieht alles Erfasste auf das eigene Ich.845 Es befindet sich in einem Zustand des »ewige[n] Verbundenseins mit der subjektiven Tat« und ist außerstande ein Nicht-Ich anzuerkennen, sodass alles Erfasste ein Effekt einer Tat oder einer Affektation des Ichs sein muss.846 Hegel spitzt seine Kritik der subjektiven Befangenheit der Hauptfiguren Jacobis zu, denn wir sähen »an den Helden Allwill und Woldemar eben diese Qual der ewigen Beschauung ihrer selbst nicht einmal in einer Tat«.847 Demnach thematisierten die Spätfassungen der Erzählwerke die handlungslose, sich selbst beschauende Subjektivität der Protagonisten. Nach der Deutung Hegels heißt das, dass wir diese Figuren »in der noch größern Langeweile und Kraftlosigkeit des leeren Seins« beobachten.848 Hegel sieht in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis die Reflexion der Subjektivität der Hauptfiguren im Fokus stehen und bezeichnet diese subjektive Befangenheit der Hauptfiguren, die ihre Subjektivität im Anderen potenzieren, als »Unzucht mit sich selbst«.849 Für Hegel zeigt sich in den Erzählwerken Jacobis eine selbstreflexive Subjektivität, die aber gerade in dieser Reflexion nicht zu deren Überwindung gelangt, sondern das Ich verabsolutiert.850 Daraus folgt eine Setzung eines Ichs, das nichts anderes außer sich selbst 842 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Kritische Schriften (III): Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie. Neu herausgegeben von Hans Brockard und Hartmut Buchner. Hamburg 1986, S. 92. 843 Vgl. Ebd., S. 92f. 844 Vgl. Ebd. 845 Vgl. Ebd. 846 Vgl. Ebd. 847 Vgl. Ebd. 848 Vgl. Ebd. 849 Vgl. Ebd. 850 Burkhard Nonnenmacher zeigt, dass in den späteren Schriften Hegels erfasst wird, dass Jacobi eine epistemologische Ich-Verabsolutierung kritisiert: Burkhard Nonnenmacher: Dass der Mensch in Gott ist, heißt nicht, dass der Mensch Gott ist. Zu Hegels später Auseinandersetzung mit Jacobis Gotteslehre und Epistemologie des religiösen Bewusstseins. In: Cornelia Ortlieb/Friedrich Vollhardt (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819). Romancier – Philosoph – Politiker. Berlin 2021, S. 233–258.

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als existent setzt. Folgt man dieser Perspektive, dann ist der innere Kern des Menschen sein Ich und alles vom Ich sinnlich oder verstandesmäßig Erfasste ist eine Ich-Projektion, da alles Erfasste durch die Reflexion, die stets auf das eigene Ich bezogen bleibt, zu einem »Alleinsein mit seinem eigenen sich selbst Angehörigen« führt.851 Da alles Erfasste zum Ich gehört, kann epistemologisch nichts außerhalb des Ichs als existent gesetzt werden. Aus diesem Grund stellen die Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis nach der Interpretation Hegels eine Ich-Verabsolutierung der Hauptfiguren dar. Das Ich der Hauptfiguren ist absolut, da sie nichts außerhalb ihres Ichs als existent zulassen wollen. Ihre radikale Subjektivitätsentgrenzung führt sie dazu, dass sie sich selbst an die Stelle einer transzendenten Instanz setzen. Dabei ist für Hegel markant, dass diese Figuren ihre eigene Perspektive nicht als subjektiv begreifen und daher auch nicht zu einer Erfassung der eigenen subjektiven Befangenheit gelangen. Die Protagonisten der Erzählwerke Jacobis sind für Hegel mit sich selbst allein, da sie die ihnen erscheinende Wirklichkeit nicht als Resultat ihres eigenen Geistes erfassen und damit nicht zu der Einsicht gelangen, dass alles, was ihnen erscheint, eine Tätigkeit des eigenen Ichs voraussetzt. Das bedeutet, dass sie ihre eigene Sicht nicht als ihre Geistestätigkeit – nicht als Phänomene ihres eigenen Geistes – erfassen. Diese subjektive Befangenheit wird von Hegel als Defizit ausgelegt, da die Protagonisten nicht die Reflexionsfähigkeit hätten, ihre Räsonnements und Selbstreflexionen zu dem Punkt zu bringen, an dem sie registrierten, dass das, was ihnen als innerliche und äußerliche Wirklichkeit erscheint, an die Tätigkeit ihres eigenen Geistes gebunden ist. Diese Deutung Hegels steht unter dem Vorzeichen seiner erkenntniskritischen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit eines absoluten Wissens, das der subjektiven Befangenheit enthoben sei. Diese spezifische Wissensform entsteht bei Hegel nicht durch bloße Selbstbeschauung, sondern durch die Reflexion, dass der Unterschied zwischen dem Geist und dem Äußeren des Bewusstseins durch Ersteres selbst erzeugt wird. Dieser Unterschied zwischen Geist und Äußerem wird nicht aufgehoben, sondern mit dieser Wissensform geht vielmehr die Erkenntnis einher, dass das Äußere durch den Geist erzeugt werden kann. Daraus folgt, dass der Geist des Menschen die einzige Möglichkeit des Wahrnehmens sowie Erkennens ist. Perzeption von Äußerem und Innerem – als sprachliche Bezeichnung für das, was dem Menschen außerhalb und innerhalb seines Bewusstseins erscheint – ist ausschließlich durch den Geist möglich. Er ist die Bedingung der Möglichkeit einer erscheinenden Wirklichkeit. Reflektiert dieser Geist sich nun selbst als diese notwendige Bedingung, dann gelangt er im Denken bei sich selbst an, indem er über sich selbst in seiner Tätigkeit nachsinnt. Diese Tätigkeit des Geistes bezieht sich auf sein eigenes Tun. Der Unterschied zwischen Geist und Innerem sowie Äußerem des Bewusstseins wird als Tätigkeit des Geistes deutlich und wird auf diese Weise aufgehoben. Wirklichkeit ist eine Phänomenologie des menschlichen Geistes. Wird diese Wirklichkeitsauffassung als Ausgangspunkt des menschlichen Denkens und Erlebens gesetzt, so erscheint die einzelne Perspektive als das beschränkte Wissen, während die

851

Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Kritische Schriften (III): Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie. Neu herausgegeben von Hans Brockard und Hartmut Buchner. Hamburg 1986, S. 92f.

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Reflexion dieser Beschränkung einen Weg zu dem absoluten Wissen bahnt. Zu diesem Wissen gelangt Jacobi für Hegel jedoch weder mit seinen Erzählwerken noch mit seiner Philosophie, die für ihn eine »Reflexionsphilosophie der Subjektivität« ist, die ähnlich wie die Protagonisten in den Erzählwerken bei der Selbstbeschauung von Subjektivität stehen bleibt und in ihr befangen ist.852 Eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zu Hegel weist die Deutung von Johann Gottlieb Fichte in der Perspektive auf die Thematik der Subjektivität bei den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis auf. Fichte gesteht Jacobi in einem Brief vom 30.08.1794, dass er den Woldemar – in der Spätfassung von 1794 – mehrere Male gelesen habe und er in diesem Werk die Gleichgestimmtheit ihrer beiden Denkweisen sähe. Er schickt Jacobi in mehrere Teile aufgespaltet sein Werk Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, das in der ersten Fassung in den Jahren 1794/1795 erscheint. Fichte ist sich sicher, dass er mit seinem Werk den bei Jacobi herausgestellten Geist in ein philosophisches System gebracht hat. Für Fichte führen Jacobis Erzählwerke und philosophische Schriften zu der Annahme, dass der Mensch seine Grenzen des Erkennens in seinem eigenen Ich finde. Für Fichte gibt es keine Erkenntnis, die nicht innerhalb eines gesetzten Ichs läge, wobei dieses Ich das einzige ist, was sich setzen kann. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die erste Fassung von Fichtes Wissenschaftslehre, die in den Jahren 1794/1795 erscheint, da er sie Jacobi zugesendet hat und dieser sie seiner Schrift Jacobi an Fichte, die 1799 veröffentlicht wird, zugrunde legt. In dem Vorbericht der Wissenschaftslehre bezeichnet Fichte seine erkenntniskritischen Ausführungen als »ächte[n] durchgeführte[n] Kriticismus«.853 In den Spätfassungen des Woldemar sieht Fichte in dem gleichnamigen Protagonisten eine Bestätigung seiner transzendentalen Setzung des Ichs als Anfangspunkt. Anders als Hegel bewertet Fichte die Darstellung der Subjektivität bei Jacobi jedoch als Anregung für die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des menschlichen Erkennens und nicht als Defizit. Bei dem ersten Teil mit dem Titel Grundsätze der gesammten Wissenschaftslehre stehen Bedingungsstrukturen der Erkenntnismöglichkeit im Vordergrund.854 Diese Bedingungsstrukturen werden logisch hergeleitet. Am Beginn von Fichtes Ausführungen steht nicht das sich selbst setzende und durch sich selbst seiende Ich, sondern die logische Hinleitung, warum ein solches Ich angenommen werden sollte. Den Satz A ist A (soviel als A = A, denn das ist die Bedeutung des logischen Copula] giebt Jeder zu; und zwar ohne sich im geringsten darüber zu bedenken: man anerkennt ihn für völlig gewiss und ausgemacht. Wenn aber Jemand einen Beweis desselben fordern sollte, so würde man sich auf einen solchen Beweis gar nicht einlassen, sondern behaupten, jener Satz sey schlechthin, d. i. ohne allen weiteren Grund, gewiss: und indem man dieses, ohne Zweifel mit allgemeiner Bestimmung, thut, schreibt man sich das Vermögen zu, etwas schlechthin zu setzen.855

852 Vgl. Ebd., S. 44–98. 853 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer. Leipzig bei Christian Ernst Gabler. 1794 [und 1795], S. III-XII, hier S. XII. Digitalisat verfügbar unter: https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:061:1-505245 (letzter Zugriff am 21.02.2022). 854 Vgl. Ebd., S. 4–48. 855 Ebd., S. 5.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

Mit diesem Satz wird nach der Struktur des Zusammenhangs gefragt, dass »wenn A ist, so sey A«.856 Diesen Zusammenhang bezeichnet Fichte als X und sieht darin eine Bedingungsstruktur des Erkennens. Im Fokus dieser Überlegungen steht »nicht die Frage vom Gehalte des Satzes, sondern bloß seine Form«.857 Das bedeutet, dass hier nicht die Frage nach Daseinsstrukturen gestellt wird, sondern stattdessen nach der Beschaffenheit von Gewissheits-und Wissensstrukturen. Dementsprechend handelt es sich hier um eine Transzendentalphilosophie, die es zur Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis erklärt, etwas »schlechthin, d. i. ohne allen weiteren Grund« als »gewiss« zu erklären. Es wird nicht thematisiert, »wovon man etwas weiß«, stattdessen ist die Frage, »was man weiß«.858 Fichte rückt die Frage ins Zentrum, wie mit Gewissheit gesagt werden kann, dass es einen Zusammenhang gibt, der beschreibt: Wenn A ist, so sei A. Es ist die Frage, wie dieser Zusammenhang als Bedingungsstruktur festgesetzt werden kann, wie und warum darauf geschlossen werden kann. Mithin wird durch die Behauptung, daß der obige Satz schlechthin gewiß sey, das festgesetzt, daß zwischen jenem Wenn, und diesem So ein nothwendiger Zusammenhang sey; und der nothwendige Zusammenhang zwischen beiden ist es, der schlechthin, und ohne allen Grund gesezt wird. Ich nenne diesen nothwendigen Zusammenhang vorläufig = X. […] In Rücksicht auf A selbst aber, ob es sey, oder nicht, ist dadurch noch nichts gesagt. Es entsteht also die Frage: unter welchen Bedingungen ist denn A. X wenigstens ist im Ich und durch das Ich gesezt – denn das Ich ist es, welches im obigen Satze urtheilt, und zwar nach X, als einem Gesetze urtheilt, welches mithin dem Ich gegeben, und da es schlechthin und ohne allen weiteren Grund aufgestellt wird, dem Ich durch das Ich selbst gegeben seyn muß.859 In dieser Passage wird in der Frühfassung der Wissenschaftslehre Fichtes das erste Mal das Ich eingeführt. Die Bedingungsstruktur X, dass wenn A ist, A gleich A ist, »ist im Ich und durch das Ich gesezt«. Es ist demnach etwas mit dem Ich Gesetztes. A gleich A wird von Fichte als »Grundsaz [sic!] der Logik« bezeichnet und dieser Grundsatz ist mit dem Ich notwendigerweise gesetzt.860 X ist als Grundgesetz der Logik mit dem Ich unweigerlich gegeben, sodass mit diesem X eine Bedingungsstruktur des menschlichen Erkennens gegeben ist, auf dem die ganze Wissenschaftslehre aufbaut. Diese Erkenntnismöglichkeit ist mit dem Vorhandensein des Ichs unmittelbar gegeben, sodass die Existenz des Ichs mit der Möglichkeit von Erkenntnissen dieser Logik zusammenfällt. Aus dieser Kopplung von X mit dem Ich folgt aber nichts über die Beschaffenheit des As, das zur Veranschaulichung der Bedingungsstruktur angeführt wurde. X bezieht sich auf dasjenige A, welches im obigen Satze die logische Stelle des Subjekts einnimmt, eben so, wie auf dasjenige, welches im Prädikate steht; denn beide werden durch X vereinigt. Beide also sind, insofern sie gesezt sind, im Ich gesezt; und

856 857 858 859 860

Vgl. Ebd., S. 6. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd., S. 6f. Vgl. Ebd., S. 14.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

das im Prädikate wird, unter der Bedingung, daß das im Subjekt gesezt sey, schlechthin gesezt; und der obige Saz [sic!] läßt demnach sich auch so ausdrücken: Wenn A im Ich gesezt ist, so ist es gesezt; oder ist es.861 Das Dasein von A ist an die Setzung im Ich gebunden. Das heißt, dass A nur im Ich gesetzt sein kann und daher nur durch und im Ich existent sein kann. Mit X ist die Bedingungsstruktur von A bezeichnet worden und dies kennzeichnet A als bedingt und daraus folgt, dass A nur durch das Ich gesetzt werden kann, was wiederum Aufschluss über das Ich gibt, da es sich grundlegend von A unterscheidet: »Ich bin Ich, hat eine ganz andere Bedeutung als der Satz A ist A«.862 Dieser »hat nur unter einer gewissen Bedingung einen Gehalt«.863 Diese Bedingung ist das Gesetztsein: »Wenn A gesetzt ist, so ist es freylich als A, mit dem Prädikate A gesezt.«864 Man legt mit dem A lediglich Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis von Daseiendem fest, wobei das Seiende auf das Ich reduziert wird: »Der Saz [sic!]: Ich bin Ich, aber gilt unbedingt, und schlechthin, denn er ist gleich dem Satze X; er gilt nicht nur der Form, er gilt auch seinen Gehalte nach.«865 Das Ich hat eine grundlegende andere Beschaffenheit als das A, denn seine Existenz ist an keine Bedingungen geknüpft. Es ist unbedingt. Da das Ich unbedingt ist, ist der Satz ›Ich bin Ich‹ gleich dem Satz ›Ich bin‹. Das Sein des Ichs ist bedingungslos, während das Sein von A an die Bedingung geknüpft ist, gesetzt zu werden. Das heißt die Potenzialität des Vorhandenseins des Ichs entfällt, sodass dieses Ich als Seiendes gesetzt wird. Hier zeigt sich, dass das Ich bei Fichte als Seiendes gesetzt wird. Das bedeutet, dass das Ich die ontologische Grundlage für alles Daseiende ist, während A etwas Daseiendes ist, dessen Existenz nur durch und im Ich gegeben sein kann.866 Dementsprechend ist das Ich absolut und unterliegt nicht der Frage, ob es überhaupt sei, wie dies bei dem A der Fall ist. Das Vorhandensein des Ichs wird von Fichte als »Thatsache« beschrieben. Für Fichte ist das Vorhandensein des absoluten und unbedingten Ichs eine »Thatsache«, da es die notwendige Bedingung der Möglichkeit darstellt, überhaupt etwas erfassen zu können. Dieser Saz [sic!]: Ich bin, ist bis jetzt nur auf eine Thatsache gegründet, und hat keine andere Gültigkeit, als die einer Thatsache. Soll der Saz [sic!] A = A (oder bestimmter, dasjenige was in ihm schlechthin gesezt ist = X) gewiß seyn, so muß auch der Satz: Ich bin, gewiß seyn. Nun ist es Thatsache des empririschen Bewußtseyns, daß wir genöthigt sind, X für schlechthin gewiß zu halten; mithin auch den Satz: Ich bin – auf

861 862 863 864 865 866

Ebd., S. 7. Vgl. Ebd., S. 8. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd. Aus diesem Grund bezeichnet Jacobi die Philosophie Fichtes als umgedrehten Spinozismus. Laut Jacobi ist bei Spinoza die singuläre Substanz das Seiende, durch das und in dem alles Daseiende existiert. Für Jacobis ist die Philosophie Spinozas materialistisch, insofern die singuläre Substanz als materiell verstanden wird. Bei Fichte liegt Jacobi zufolge ein umgedrehter Spinozismus vor, da Fichte das Ich als etwas Immaterielles als Seiendes und somit als Grundlage von allem Daseienden setzt. Insofern versteht er Fichtes Philosophie im Kontrast zu Spinoza als idealistisch, da hier etwas Immaterielles zum Seienden erklärt wird.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

welchen X sich gründet. Es ist demnach Erklärungsgrund aller Thatsachen des empirischen Bewußtseyns, daß vor allem Setzen im Ich vorher das Ich selbst gesezt sey. – (Aller Thatsachen, sage ich: und das hängt vom Beweise des Satzes ab, daß X die höchste Thatsache des empirischen Bewußtseyns sey, die allen zum Grunde liege, und in aller enthalten sey: welcher wohl ohne Beweiß zugegeben werden dürfte, ohnerachtet die ganze Wissenschaftslehre sich damit beschäftigt, ihn zu erweisen.)867 Für die Tatsache, dass das absolute und unbedingte Ich gegeben sei, nimmt Fichte das »empirische Bewußtseyn[]« in Anspruch. Die Gewissheit, dass die Setzung eines Ichs vor jeglichen Setzungen im Ich stattfinden muss, ist eine Frage der Erfahrung. Sie ist als empirisch erfahrbare Tatsache gegeben und ist darin begründet, dass über X nichts zu sagen wäre, wenn nicht die Möglichkeit bestehen würde, etwas zu setzen. Diese Fähigkeit etwas zu setzen, setzt etwas Gesetztes voraus und dieses immer schon Gesetzte ist das Ich als Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre Fichtes. Demnach ist das schlechthin gesezte, und auf sich selbst gegründete – Grund eines gewissen (durch die ganze Wissenschaftslehre wird sich ergeben, alles) Handelns des menschlichen Geistes, mithin sein reiner Charakter; der reine Charakter der Thätigkeit an sich: abgesehen von den besondern empirischen Bedingungen derselben. Also das Setzen des Ich durch sich selbst ist die reine Thätigkeit desselben. – Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es sezt sein Seyn, vermöge seines bloßen Seyns. – Es ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird; Handlung und That sind Eins und eben dasselbe; und daher ist das Ich bin, Ausdruck einer Thathandlung; aber auch der einzigen möglichen, wie sich aus der ganzen Wissenschaftslehre ergeben muß.868 An dieser Stelle wird deutlich, dass Fichtes Vorgabe aus dem Vorbericht, dass er mit seiner Wissenschaftslehre eine kritizistische Philosophie vorlegt, bedeutungsvoll ist. »[D]as schlechthin gesezte und auf sich selbst gegründete« findet den »Grund« in »eine[m] gewissen […] Handeln[] des menschlichen Geistes«. Das von Fichte hervorgehobene Ich ist demnach ein spezifisches Handeln des menschlichen Geistes. Dieses Ich ist »der reine Charakter der Thätigkeit« des menschlichen Geistes, das von »den besondern empirischen Bedingungen derselben« abstrahiert wird. Mit dem Ich wird somit eine Tätigkeit des menschlichen Geistes betrachtet. Mit dem Ich wird die Tätigkeit des menschlichen Geistes beschrieben, die Wirklichkeit des Menschen zu erzeugen. Das Ich ist diese Erzeugungstätigkeit des menschlichen Geistes. Daraus folgt, dass dieses Ich die Tätigkeit des menschlichen Geistes beschreibt, die dem Menschen überhaupt anzeigt, da zu sein. Das Ich ist notwendig mit dem menschlichen Geist gesetzt, denn wenn das Ich nicht von der Tätigkeit des menschlichen Geistes gesetzt wird, kann nicht auf das Sein des menschlichen Geistes geschlossen werden. Das heißt, eine Wirklichkeit zu erfahren ist eine existenzielle Grundversicherung. Mit dem Ich wird bei Fichte ein Begriff entworfen, der die innerlichen und äußerlichen Erscheinungen einer Wirklichkeit im 867 Ebd., S. 8f. 868 Ebd., S. 9f.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Ich setzt und somit ist dieses Ich selbst das einzig Wirkliche. Alles, was die Wirklichkeit prägt und gestaltet, sind Setzungen im Ich. Und dies macht es denn klar, in welchem Sinne wir hier das Wort Ich gebrauchen, und führt uns auf eine bestimmte Erklärung des Ich, als absoluten Subjekts. Dasjenige dessen Seyn (Wesen) blos darin besteht, dass es sich selbst als seyend, setzt, ist das Ich, als absolutes Subjekt. So wie es sich sezt, ist es; und so wie es ist, sezt es sich; und das Ich ist, demnach für das Ich schlechthin, und nothwendig. Was für sich selbst nicht ist, ist kein Ich.869 Mit dem Ausdruck »absolute[s] Subjekt[]« wird deutlich, dass das Ich in diesem Kontext bei Fichte als eine umgreifende Subjektivität begriffen wird, die aus der Tätigkeit des menschlichen Geistes erzeugt wird. Diese Tätigkeit ist unweigerlich notwendig, um zu sein. Das Ich setzt sich somit mit dem Sein des Geistes selbst. Mit dem Ich wird eine Wirklichkeitsauffassung beschrieben, die von einer unhintergehbaren Subjektivität ausgeht. Das Ich wird zum Anfangs-und Endpunkt jeglicher Erkenntnis und daher gibt es keine Erkenntnis, aber auch keinerlei Erfassungen, die nicht als Setzungen innerhalb des Ichs beschrieben werden könnten. Dies ist – um es klar herauszustellen – ein signifikanter Unterschied zu der Erkenntnistheorie Jacobis. Fichtes Kritizismus der ersten Fassung der Wissenschaftslehre geht so weit, dass er eine absolute und unbedingte Vorstellung des Ichs entwirft und dieses Ich als unhintergehbare Subjektivität wird zum einzig notwendigen Seienden. In diesem Seienden ist alles andere gegeben. Bei Fichte ist es das absolute Ich, welches das Seiende darstellt, das jedem Daseienden zugrunde liegt und nur darin als existenziell vorhanden gedacht wird. Erwiesen: A ist A, weil das Ich, welches A gesezt hat, gleich ist demjenigen, in welchem es gesezt ist: bestimmt; alles was ist, ist nur insofern, als es im Ich gesezt ist, und außer dem Ich ist nichts. Kein mögliches A im obigen Satze (kein Ding) kann etwas anders seyn, als ein im Ich geseztes. Abstrahiert man ferner von allen Urtheilen, als bestimmten Handeln, und sieht bloß auf die durch jene Form gegebene Handlungsart des menschlichen Geistes überhaupt, so hat man die Kategorie der Realität. Alles, worauf der Satz A = A anwendbar ist, hat, inwiefern derselbe darauf anwendbar ist, Realität. Dasjenige, was durch das bloße Setzen irgend eines Dinges (eines Ich gesezten) gesezt ist, ist in ihm Realität, ist sein Wesen.870 Fichtes Wissenschaftslehre entsteht in dem Kontext, eine Philosophie des Kritizismus zu entwerfen, die das ganze menschliche Leben – das was dem Menschen als Wirklichkeit erscheint – erklärt. Bezogen auf die Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis ist besonders, dass Fichte in der Woldemar-Fassung von 1794 den Geist des Menschen herausgehoben sieht und Fichte daran anknüpfend diesen Geist in ein philosophisches System gebracht habe. Diese Rezeptionsgeschichte der Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis ist wichtig, da mit Hegel und Fichte zwei prominente Figuren der Philosophiegeschichte auf Jacobis Erzählwerke Bezug nehmen. Diese Rezeptionsgeschichte verstellt zugleich

869 Ebd., S. 11. 870 Vgl. Ebd., S. 14.

Das Empfindsam- Idyllische in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis

auch den Blick darauf, welche philosophische Position in den Erzählwerken Jacobis hervortritt. Hegel bleibt bei der sich selbst beschauenden Subjektivität der Figuren stehen und kritisiert diese Befangenheit. Fichte dagegen macht diese subjektive Befangenheit zum philosophischen Prinzip und zu einer transzendentalen Setzung, indem das Ich als unhintergehbare Subjektivität zur Realität wird. In der vorgestellten Deutung der Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis ist allerdings gezeigt worden, dass die Spätfassungen des Woldemar und auch des Allwill ein Entwicklungsgeschehen darstellen. Dieses Entwicklungsgeschehen besteht darin, dass die Protagonisten erfassen, dass sie selbst subjektiv befangen sind, indem sie ihre Umgebung – repräsentiert durch die Natur, Freunde und Familie – nicht als Andere, sondern lediglich als Ich-Projektionen betrachten. Die Darstellung der Ich-Befangenheit nimmt in den Erzählwerken den größten Raum ein. Diese Ich-Befangenheit wird im Woldemar durch die Freundschaftskrise zwischen dem Protagonisten und Henriette thematisiert und zeigt sich im Allwill in der Differenz von Selbst-und Fremdwahrnehmung der titelgebenden Hauptfigur. Mit Naturdarstellungen wird das Stadium einer subjektiven Selbstbeschauung thematisiert. Der Blick in die Natur dient den Protagonisten als ein Forum für eine Ich-Projektion. Der empfindsame Natur-und Freundschaftskult wird philosophisch akzentuiert und bekommt eine kritische Wendung. Diese Perspektive auf die Wirklichkeit wird im zwischenmenschlichen Bereich problematisch, wenn anderen Menschen nur eine Wertschätzung zugeschrieben wird, weil sie Merkmale und Ähnlichkeiten zum eigenen Ich aufweisen, dann ist das eigene Ich das einzig Wertgeschätzte. Aus diesem Grund thematisieren die Erzählwerke Jacobis Freundschaft und Liebe als die zwei intimsten Beziehungsarten des Menschen. Der Protagonist Allwill muss erkennen, das seine Stimme des Herzens durch Begierden, Leidenschaft und Ich-Zentrierung geprägt ist und daher seine inneren Regungen ihn nicht zur einer natürlichen Moral führen, sondern ihn zu einem Menschen machen, der aufgrund seines affektgesteuerten Handelns eine destruktive Wirkung auf sein Umfeld ausübt. Ähnlich verhält es sich bei Woldemar. Dieser Protagonist muss erkennen, dass Freundschaft als selbstlose Beziehung keineswegs ein Wiederfinden des eigenen Ichs sein kann. Eine Vorstellung von Freundschaft als Ich-Spiegelung weist nur dem eigenen Ich eine besondere Wertschätzung zu und ist daher eine verdeckte Eigenliebe. So muss Woldemar erkennen, dass Freundschaft zunächst die Anerkennung des Anderen als eigenes Ich ist und im Weiteren zeigt sich in einer Freundschaftsbeziehung, dass es zwischen dem eigenen Ich und dem Ich des Freundes, dem Du, Resonanzen – Gleichklänge – gibt. Setzt man diese Betrachtungsweise der Spätfassungen Jacobis voraus, dann bleiben die Protagonisten nicht in ihrer Subjektivität befangen, wie es Hegel sieht. Es ist auch nicht so, dass das Ich als einzig Seiendes und Grund der erscheinenden Realität gesetzt wird, wie Fichte es zu lesen scheint. Bei Jacobi rückt vielmehr die Quintessenz ins Zentrum, dass jedem Menschen ein eigentümliches Ich zugesprochen werden muss. Moral als Regelung von zwischenmenschlichem Miteinander muss dies berücksichtigen. Freundschaft und Liebe sind zwei Themen, an denen besonders evident wird, dass neben dem eigenen Ich das Du erfasst und anerkannt werden muss. Versteht man Liebe und Freundschaft als Beziehungsarten, die eine besondere Wertschätzung des Anderen beschreiben, dann kann eine wahrhaftige Freundschaft und Liebe nur dann gegeben sein, wenn sich die Wertschätzung nicht auf das eigene Ich bezieht, sondern auf das Du des anderen.

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4 Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

Carmen Götz weist in ihrem Kommentarband des Allwill daraufhin, dass die Früh-und Spätfassungen sowohl »zeithistorisch als auch personell ihre eigenen Entstehungskontexte und Rezeptionshorizonte« haben.1 Dies gilt in gleicher Weise für Jacobis Woldemar und in diesen Horizonten spiegelt sich die veränderte Haltung zur Empfindsamkeit wider. Die Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis sind keine Erweiterungen der Frühfassungen. Jacobi gibt seinen Spätfassungen eine veränderte Konzeption, die sich vor allem auf den Schluss bezieht. Dies gilt in besonderer Weise für den Woldemar. Bei dem Erzählwerk Allwill ergibt sich vor allem aus dem Vorbericht eine veränderte Konzeption. In bisherigen Forschungsbeiträgen werden die Erzählwerke Jacobis in zeitlich chronologischer Reihenfolge thematisiert. Dies führt dazu, dass die Spätfassungen immer im Abgleich zu den Frühfassungen behandelt werden. Da die Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis fragmentarisch sind, entsteht der Eindruck, dass die Spätfassungen die Frühfassungen vervollständigen würden. In dieser Studie sind die Spätfassungen ins Zentrum der Arbeit gestellt worden, damit diese unabhängig von den Frühfassungen erscheinen. Aus diesem Grund werden die Frühfassungen in dieser Untersuchung erst nach den Spätfassungen thematisiert, um aufzuzeigen, wie sich die Romankonzeptionen zwischen Früh-und Spätfassung verändert haben, um auf diese Weise den Blick für die Spezifika der Spätfassungen zu schärfen.

4.1 Jacobis Eduard Allwills Papiere von 1776 Bei den Frühfassungen des Allwill liegen drei Druckfassungen vor.2 Die erste Druckfassung erscheint in der ›Frauenzeitschrift‹ Iris, die von Jacobis Bruder Johann Georg herausgegeben wird. Diese erste Fassung des Allwill umfasst fünf Briefe. Die ersten drei Briefe stammen von Sylli und sind an Clerdon adressiert und datiert auf den 6., 7. und 1 2

Vgl. JWA 6, 2, S. 257f, hier S. 258. Die Übersicht über die Druckfassungen listet der editorische Bericht im Kommentarband zum Allwill auf. Vgl. JWA 6,2, S. 257f, hier S. 257.

4 Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

Carmen Götz weist in ihrem Kommentarband des Allwill daraufhin, dass die Früh-und Spätfassungen sowohl »zeithistorisch als auch personell ihre eigenen Entstehungskontexte und Rezeptionshorizonte« haben.1 Dies gilt in gleicher Weise für Jacobis Woldemar und in diesen Horizonten spiegelt sich die veränderte Haltung zur Empfindsamkeit wider. Die Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis sind keine Erweiterungen der Frühfassungen. Jacobi gibt seinen Spätfassungen eine veränderte Konzeption, die sich vor allem auf den Schluss bezieht. Dies gilt in besonderer Weise für den Woldemar. Bei dem Erzählwerk Allwill ergibt sich vor allem aus dem Vorbericht eine veränderte Konzeption. In bisherigen Forschungsbeiträgen werden die Erzählwerke Jacobis in zeitlich chronologischer Reihenfolge thematisiert. Dies führt dazu, dass die Spätfassungen immer im Abgleich zu den Frühfassungen behandelt werden. Da die Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis fragmentarisch sind, entsteht der Eindruck, dass die Spätfassungen die Frühfassungen vervollständigen würden. In dieser Studie sind die Spätfassungen ins Zentrum der Arbeit gestellt worden, damit diese unabhängig von den Frühfassungen erscheinen. Aus diesem Grund werden die Frühfassungen in dieser Untersuchung erst nach den Spätfassungen thematisiert, um aufzuzeigen, wie sich die Romankonzeptionen zwischen Früh-und Spätfassung verändert haben, um auf diese Weise den Blick für die Spezifika der Spätfassungen zu schärfen.

4.1 Jacobis Eduard Allwills Papiere von 1776 Bei den Frühfassungen des Allwill liegen drei Druckfassungen vor.2 Die erste Druckfassung erscheint in der ›Frauenzeitschrift‹ Iris, die von Jacobis Bruder Johann Georg herausgegeben wird. Diese erste Fassung des Allwill umfasst fünf Briefe. Die ersten drei Briefe stammen von Sylli und sind an Clerdon adressiert und datiert auf den 6., 7. und 1 2

Vgl. JWA 6, 2, S. 257f, hier S. 258. Die Übersicht über die Druckfassungen listet der editorische Bericht im Kommentarband zum Allwill auf. Vgl. JWA 6,2, S. 257f, hier S. 257.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

8. März. Der vierte Brief ist von Clerdon und richtet sich an Sylli und ist auf den 8. März datiert. Der fünfte und letzte Brief dieser Fassung ist die Beilage des Briefes von Clerdon an Sylli. Diese Beilage ist ein undatierter Brief Eduard Allwills an Clerdon. Der Fokus dieser Frühfassung liegt eindeutig auf der Figur Sylli trotz des Titels Eduard Allwills Papiere. Der Beginn mit drei aufeinanderfolgenden Briefen einer literarischen Figur erinnert an den Einstieg von Rousseaus Erzählwerk Julie, das mit drei Briefen von St. Preux an Julie beginnt. Im Brief an Hamann vom 16.06.1783 schreibt Jacobi, dass »[d]ie drey ersten Briefe in Allwills Papieren […] aus bloßer Herzensangst entsprungen [sind]«.3 Außerdem sei »so […] manches Andre nichts als Ergießung der Seele«.4 Die Briefe Syllis sind in ihrer Darstellung von Dynamiken der inneren Erlebniswelt des Menschen eine »Ergießung der Seele«.5 Diese drei Briefe zeigen Sylli jeweils mit unterschiedlichen inneren Zustandsformen. Der erste Brief beschreibt eine melancholisch betrübte Gemütsverfassung, der zweite schildert eine Belebung im Inneren und der dritte Brief stellt eine Befindlichkeit des Innenlebens dar, die das eigene Schicksal als vorherbestimmt betrachtet. Der Brief Clerdons an Sylli nimmt nicht Bezug auf die vorherigen Briefe, sondern zeigt, dass diese Briefe ihren Adressaten noch nicht erreicht haben. Die Beilage hat die Funktion, den sich selbst als genialisch verstehenden Eduard Allwill als Gegenspieler der empfindsamen Figur Sylli einzuführen. Diese Fassung konzentriert sich darauf, den Brief als schriftliche Mitteilung des Inneren zu thematisieren. Die ersten drei Briefe stellen einen kontinuierlichen Zusammenhang her, indem Sylli über Geschehnisse ihres Lebens unter besonderer Berücksichtigung innerer Regungen berichtet. Zwischen Sylli und Clerdon wird durch das gemeinsame Erleben eines Erweckungsereignisses zu einem gleichen Zeitpunkt, eine Distanz überwindende innerliche Verbundenheit entworfen. Diese anfänglichen empfindsam-idyllischen Szenen sind in allen Allwill-Fassungen enthalten. Erst mit den Spätfassungen kommen die empfindsam-idyllischen Szenen hinzu, die von der Figur Allwill geschrieben werden. Der einzige Brief, der ohne Bezug zu einem anderen Brief in der ersten Allwill-Fassung erscheint, ist der als Beilage angehängte Brief von Allwill an Clerdon. Auf diese Weise wird in der strukturellen Anlage dieser Fassung die besondere Stellung Allwills angedeutet, aber der Schwerpunkt liegt eindeutig bei der Figur der Sylli. Diese Fokussetzung ist in dem Publikationsmedium des Journals der Iris begründet. Dieses Journal wird von Jacobis Bruder Johann Georg geleitet und visiert laut Monika Nenon »ein breit angelegtes Bildungsprogramm für ein weibliches Publikum [mit] literarische[m] Schwerpunkt« an.6 Nenon hebt hervor, dass der Herausgeber Johann Georg Jacobi in seinem weiblichen Publikum »keine homogene Gruppe« im Blick hat, sondern stattdessen ihre Heterogenität betont.7 In der Vorrede des Herausgebers mit dem programmatischen Titel An meine Leserinnen, die in der ersten Ausgabe 1774 erscheint, expliziert er die Vielschichtigkeit des ins Auge gefassten weiblichen Publikums. Dieses

3 4 5 6 7

Vgl. JBW I, 3, S. 161–164, hier S. 163. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Monika Nenon: Aus der Fülle der Herzen. Geselligkeit, Briefkultur und Literatur um Sophie La Roche und Friedrich Heinrich Jacobi. Würzburg 2005, S. 140ff, hier S. 142. Vgl. Ebd., S. 137–140, hier S. 137.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

Publikum umfasse das »Bürgermädchen«, »[d]ie modische Dame«, [d]ie »Gelehrte[n]«, »das phantasierende Mädchen« sowie »das fromme gutthätige Mädchen«.8 Diese Hervorhebung der Vielschichtigkeit des weiblichen Publikums hat zwei wesentliche Funktionen. Einerseits dient es wie in empfindsamen Vorreden häufig zur Relativierung von möglicher Kritik. Denn durch das unterschiedliche Publikum werden einzelne Beiträge der einen oder anderen Leserin missfallen. Andererseits rückt das weibliche Publikum als ein eigenständiger Adressatenbereich ins Zentrum und das Journal erscheint als ein Bildungsformat, das der Vielschichtigkeit dieses Adressatenkreises gerecht werden möchte. Nenon verdeutlicht, dass in der Vorrede Johann Georg Jacobis zum ersten Heft der Iris die Unterscheidung einzelner Leserinnen »nach Stand, nach individuellen rationalen und affektiven Eigenschaften, nach Kenntnissen, nach Neigungen und Interessen und nach moralischen Haltungen« getroffen wird.9 Dabei richtet sich das Frauenjournal sowohl an Mädchen als auch an »Damen« und damit betagteren Frauen.10 Vor dem Hintergrund dieser Erstpublikation muss die Fokussierung der Figur Sylli in der Erstfassung des Allwill betrachtet werden. Im Zentrum steht die lebenserfahrene Sylli, die diverse Verwandlungen in ihrer inneren Erlebniswelt durchlebt. Diese Gestaltung der Figur Sylli erscheint durch das Publikationsmedium der Iris beeinflusst, indem hier gezielt die innere Erlebniswelt einer lebenserfahrenden Frau in den Vordergrund gestellt wird. Die erste Fassung des Allwill erscheint so als Darstellung einer Selbstäußerung einer lebenserfahrenen und sogar gesellschaftlich selbstständigen Frau. Das eigentlich Besondere an der Figur Sylli ist aber ihr eigentümliches Innere, das sich in ihrer »sonderbare[n] Gemüthsstimmung« zeigt. Bemerkenswert ist, dass diese Thematisierung weiblichen Empfindens und innerlichen Erlebens in allen Allwill-Fassungen präsent bleibt und mit den jeweiligen Neuerungen verschiedener Fassungen auch erweitert wird. In dem Vorbericht der ersten Fassung von Eduard Allwills Papiere von 1775 wird – wie auch in allen späteren Fassungen – eine Herausgeberfiktion entworfen. In der Fassung von 1775 ist diesbezüglich hervorzuheben, dass der Brief als in sich abgeschlossene Erzählung im Vordergrund steht. Der Vorbericht An den Herausgeber der Iris beginnt mit den folgenden Sätzen: Endlich, mein Freund, übersende ich Ihnen einige Briefe aus der Sammlung, wovon ich Sie bey unserm letzten Zusammenseyn unterhielt, ohne Ihnen sagen zu können, was es damit eigentlich für eine Bewandtniß habe. Der Besitzer von Eduards Papieren hat mir immer nur solche einzelne Stücke daraus vorgelesen, die zu keinen Muthmassungen über das System oder die Natur des Ganzen Anlaß geben konnten. Vielleicht ist es nicht einmahl ein Ganzes. Die Stücke, die ich Ihnen heute liefere, sind aus der Mitte eines Heftes genommen, ob aus dem zehnten oder dem ersten? weiß ich wieder nicht. Wollen sie dieselben drucken lassen, so müssen sie Ihren Leserinnen nur schlichtweg sagen: Da wären einige Briefe; ob sie beliebten? Ich weiß, die mehrsten antworten:

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Vgl. Johann Georg Jacobi: An meine Leserinnen. In: Iris I, 1 [Hg. von Johann Georg Jacobi]. Düsseldorf 1774, S. 2–8, hier S. 3. Vgl. Monika Nenon: Aus der Fülle der Herzen. Geselligkeit, Briefkultur und Literatur um Sophie La Roche und Friedrich Heinrich Jacobi. Würzburg 2005, S. 137–140, hier S. 138. Vgl. Johann Georg Jacobi: An meine Leserinnen. In: Iris I, 1, Düsseldorf 1774, S. 2–8, hier S. 4.

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nein, wenigstens bey diesen ersteren, weil schon ein ziemlich hoher Grad von Empfindung, und Erfahrung ähnlicher Schicksale dazu gehört, um in den Sinn einer Sylli ganz überzugehen. Erwägen Sie das, bester Mann, und machen Sie von dem hiebeykommenden Manuscripte keinen Gebrauch, wenn es Ihnen so am besten deucht. Sollten Sie aber, aus wärmerer Liebe zu einigen wenigen, das Gegentheil beschliessen, so wäre folgendes zu erinnern wohl nicht überflüssig.11 Der Titel Eduard Allwills Papiere weist auf eine Briefsammlung hin, die Eduard Allwill gehört. Diese Briefsammlung war zwischen dem sprechenden Ich dieses Vorberichts und dem Herausgeber der Iris bereits Thema bei ihrem »letzten Zusammenseyn«. Das sprechende Ich erscheint in der Rolle und Funktion einer Herausgeberinstanz und mit dem Verweis auf ein Gespräch über diese Sammlung von Briefen erscheint dieses Ich zugleich als lesende Person dieser Briefe. Diese Kenntnis der Briefe und das Gespräch mit dem Herausgeber der Iris führen dieses Ich zu dem Anliegen, diese Briefsammlung zu veröffentlichen, ohne zu wissen, »was es damit eigentlich für eine Bewandniß habe«. Dennoch hat das sprechende Ich seine Beweggründe, diese Briefe an das Licht der Öffentlichkeit bringen zu wollen. Neben dem sprechenden Ich dieses Vorberichts und der angesprochenen Herausgeberinstanz wird noch von einem besitzenden Ich gesprochen. Diese Dreiteilung wird in der dritten Fassung wieder aufgegriffen, während sie in der zweiten Fassung gestrichen ist. Diese Einführung von drei Instanzen, die Einblicke in diese Briefe haben, wird als ein vielschichtiger Fiktionskomplex der Herausgeberfiktion entworfen. Dabei ist bei dem Vorbericht dieser ersten Fassung im Gegensatz zu den Vorberichten und Vorreden der folgenden Fassungen markant, dass hier die Frage von Fiktion und Wirklichkeit nicht direkt aufgeworfen wird und so stillschweigend das sprechende Ich diese Briefe als echt deklariert. »Der Besitzer von Eduards Papieren« habe dem sprechenden Ich »immer nur solche einzelne Stücke« aus einer Sammlung »vorgelesen«. Das sprechende Ich kennt immer nur einzelne Briefe der Sammlung, sodass die Frage nach einem »Ganzen« offenbleibt und es stellt sich ihm die Frage, ob es ein »System oder [eine] Natur des Ganzen« überhaupt gibt. Die Sprechinstanz betont diese Abwendung von einem »Ganzen«, indem die folgenden Briefe »aus der Mitte eines Heftes genommen« seien.12 Dies begründet es mit ihrem eigenen Unwissen, »ob aus dem zehnten oder dem ersten? weiß ich wieder nicht«.13 Diese Abwendung von einem »Ganzen« ist eine Authentifikationsstrategie, denn ein Briefroman fängt gewöhnlich an einem gewissen Initialpunkt einer Geschehnisreihe an und endet mit einem Abschluss dieser Ereignisse.14 Diese Betonung der Unvollständigkeit wendet sich vom Romanhaften ab.15 Die Briefsammlung wird durch diese Einleitung als Darstellung echter Briefe inszeniert, die sich aber nicht zu einem »Ganzen« formen, sondern vielmehr für sich selbst stehen.16 Diese Abwendung vom Romanhaften wird mit einer 11 12 13 14 15 16

Vgl. JWA 6,1, S. 3–7, hier S. 3. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Dies wird in dem Vorbericht der folgenden Fassung von 1776 im Teutschen Merkur dann begrifflich auch so benannt. Vgl. dazu das nächste Kapitel 4.1.1 dieser Untersuchung. Vgl. JWA 6,1, S. 3.

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ablehnenden Rezeptionshaltung verbunden, denn der Herausgeber der Iris müsse seinen Leserinnen »schlechtweg sagen: Da wären einige Briefe, ob sie beliebten?« und die Erwartung des sprechenden Ichs ist »nein«.17 Besonders die vorliegenden ersten Briefe könnten in besonderer Weise Unverständnis und Missfallen hervorrufen, »weil schon ein ziemlich hoher Grad von Empfindung, und die Erfahrung ähnlicher Schicksale dazu gehört, um in den Sinn einer Sylli ganz überzugehen«.18 Die Veröffentlichung dieser Briefe kann nur »aus wärmerer Liebe zu einigen wenigen« geschehen.19 Der Vorbericht F. H. Jacobis greift in der Exklusivierung der Mitempfindung dieser Briefe den Vorbericht seines Bruders Johann Georg zur Zeitschrift Iris auf und reflektiert die Vielschichtigkeit des weiblichen Publikums, indem nur wenige Frauen dabei sein werden, die Syllis Briefe aufgrund ähnlicher Erfahrungen nachempfinden können. Für diese wenigen Personen wird die Mitempfindung aber umso wertvoller sein, was die Ausdruckweise, »aus wärmerer Liebe« diese Briefe zu veröffentlichen, andeutet.20 Nach den zitierten einleitenden Passagen werden Sylli und ihre Familie vorgestellt. Diese Vorstellung fällt im Vergleich zu den Folgefassungen knapp aus.21 Über Sylli wird ihre traurige Liebschaft mit August Clerdon berichtet und dass sie seinetwegen nach E*** gezogen ist, obwohl sie sich dort nie wohl fühlte, und dass ihr Mann kurze Zeit nach der Heirat starb. Neben ihrem Mann starb auch ihr einziges Kind. Die folgenden Briefe stammen aus einer Lebenssituation Syllis, in der sie allein in E*** ist und ihre verbliebene Familie in ihrem Geburtsort C** weilt. Sie ist an den Ort E*** gebunden, weil sie den »Rechtshandel« über der ihr Mann verstorben ist, zu Ende führen muss, da es in diesem Prozess um ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage geht.22 In dem Vorbericht zur Fassung von 1775 kommt die Figur Eduard Allwill nicht vor, sodass die Figur Sylli im Zentrum dieser Fassung steht. Dies zeigt, dass auch bei Jacobis Allwill strikt zwischen den Fassungen unterschieden werden muss. Dies gilt auch für die beiden Frühfassungen von 1775 und 1776, denn die Frühfassung von 1776 verschiebt mit dem veränderten Vorbericht und der Erweiterung des Briefes den thematischen Fokus.23 Bei der Einführung in die Spätfassung wurde bereits thematisiert, dass als Frühfassung in Anlehnung an Carmen Götz die Fassung des Teutschen Merkur von 1776 zugrunde gelegt wird, da dort die Fassung von 1775 aus der Iris um acht Briefe und einer Anmerkung verändert erscheint und diese Fassung die ausführlichste Textgestaltung der frühen literarischen Schaffensphase darstellt. Die dritte Druckfassung der Frühfassung des Allwill erscheint 1781 in Jacobis Vermischte Schriften. Carmen Götz notiert zu dieser Fassung, dass hier »abgesehen von der Streichung zweier Briefe und der Note […] keine bedeutsamen Veränderungen gegenüber der vorausgehenden« Fassung des Teutschen Merkur vorliegen.24 Aus diesem Grund ist die Fassung von 1776 »die vollständigste Fas17 18 19 20 21 22 23 24

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi [Kürzel: »F.«]: Eduard Allwills Papiere. In: Iris. Hg. von Johann Georg Jacobi. Band 4, 3. Stück. September 1775, S. 135f. Vgl. Ebd. Vgl. auch dazu das nächste Kapitel 4.1.1 dieser Untersuchung. Vgl. JWA 6,2, S. 257.

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sung der Frühzeit« und wird in Anlehnung an die historisch-kritische Ausgabe als Frühfassung des Allwill untersucht.25 Neben der umfangreichen Erweiterung weist die Fassung von 1776 einen stark veränderten und ausgebauten Vorbericht auf, da nun im Unterschied zum vorherigen Veröffentlichungsmedium der Iris Bezug auf das Journal des Teutschen Merkur genommen wird. Die Erweiterungen seien in der Iris nicht zu veröffentlichen, da sie »kein schicklicher Beytrag mehr zu einem Journal fürs Frauenzimmer« seien.26 Der Teutsche Merkur biete eine Publikationsmöglichkeit für diesen Beitrag, da er anders als ein Frauenjournal auch sittlich zweifelhafte Beiträge veröffentlichen könne. Diese sittliche Zweifelhaftigkeit geht mit der Erweiterung der Briefsammlung mit Briefen von Eduard Allwill einher.27 Die ersten beiden Frühfassungen des Allwill nehmen auf ihr Veröffentlichungsmedium besonders Rücksicht und thematisieren dies in den Vorberichten. Anders als beim Woldemar erscheint keine Frühfassung als eigenständiges Buch, sondern alle frühen Allwill-Fassungen sind – bis auf die Druckfassung von 1781 – an das Veröffentlichungsmedium des Journals gebunden. Allerdings erscheint die IrisFassung von 1775 zusammenhängend und lediglich die Teutsche Merkur-Fassung von 1776 erscheint periodisch aufgespalten in drei Teile im April, Juli und Dezember. Dieses periodische Erscheinen stellt beim Allwill im Gegensatz zum Woldemar keine Erschwerung der Mitempfindung dar, weil die Briefe in sich abgeschlossene Erzählungen darstellen. Die Erweiterungen der Frühfassung von 1776 konturiert verschiedene Stränge von zusammenhängenden Geschehnissen, doch steht der Brief vor allem als Mitteilungsformat des menschlichen Inneren im Vordergrund. Damit rückt der einzelne Brief als darstellende Abbildung des Ichs der jeweiligen Figur in den Vordergrund. Der Brief ist eine subjektgebundene Darstellungsform von Wirklichkeit und mit der Konzentration auf den einzelnen Brief in den Frühfassungen wird das subjektive Erzählen hervorgehoben. Aufgrund dieser subjektzentrierten Betrachtungsweise des Briefromans ist das diskontinuierliche Lesen durch periodisches Erscheinen keine Störung der Mitempfindung des Erzählwerks. Dies ändert sich erst mit der Spätfassung und der veränderten Fokussetzung, die jetzt auf Zusammenhänge zielt und auch eine kohärente Reihe von Geschehnissen als Handlung entwirft.

4.1.1 Tendenzen der Rousseaurezeption Jacobis Zur Rezeption von Rousseau bei Friedrich Heinrich Jacobi liegen Vorarbeiten vor. Friedrich Vollhardt untersucht hinsichtlich des Allwill vor allem die Sprachkonzeption eines polyfonen Briefromans.28 Vollhardt konzentriert sich in seinem Beitrag im Besonderen auf die Note der fiktionalen Herausgeberinstanz, die dem familiären Gemeinschaftsbrief von Clärchen, Clerdon und Lenore in der Fassung von 1776 hinzugefügt ist. Bei Vollhardt bleiben der Vorbericht der Fassung von 1776 und die dortige Diskussion des Ro25 26 27 28

Vgl. Ebd. Vgl. JWA 6,1, S. 3–7, hier S. 4. Vgl. dazu das Kapitel 4.1.2 dieser Studie. Vgl. Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin 1995, S. 79–100, hier S. 84–88.

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sung der Frühzeit« und wird in Anlehnung an die historisch-kritische Ausgabe als Frühfassung des Allwill untersucht.25 Neben der umfangreichen Erweiterung weist die Fassung von 1776 einen stark veränderten und ausgebauten Vorbericht auf, da nun im Unterschied zum vorherigen Veröffentlichungsmedium der Iris Bezug auf das Journal des Teutschen Merkur genommen wird. Die Erweiterungen seien in der Iris nicht zu veröffentlichen, da sie »kein schicklicher Beytrag mehr zu einem Journal fürs Frauenzimmer« seien.26 Der Teutsche Merkur biete eine Publikationsmöglichkeit für diesen Beitrag, da er anders als ein Frauenjournal auch sittlich zweifelhafte Beiträge veröffentlichen könne. Diese sittliche Zweifelhaftigkeit geht mit der Erweiterung der Briefsammlung mit Briefen von Eduard Allwill einher.27 Die ersten beiden Frühfassungen des Allwill nehmen auf ihr Veröffentlichungsmedium besonders Rücksicht und thematisieren dies in den Vorberichten. Anders als beim Woldemar erscheint keine Frühfassung als eigenständiges Buch, sondern alle frühen Allwill-Fassungen sind – bis auf die Druckfassung von 1781 – an das Veröffentlichungsmedium des Journals gebunden. Allerdings erscheint die IrisFassung von 1775 zusammenhängend und lediglich die Teutsche Merkur-Fassung von 1776 erscheint periodisch aufgespalten in drei Teile im April, Juli und Dezember. Dieses periodische Erscheinen stellt beim Allwill im Gegensatz zum Woldemar keine Erschwerung der Mitempfindung dar, weil die Briefe in sich abgeschlossene Erzählungen darstellen. Die Erweiterungen der Frühfassung von 1776 konturiert verschiedene Stränge von zusammenhängenden Geschehnissen, doch steht der Brief vor allem als Mitteilungsformat des menschlichen Inneren im Vordergrund. Damit rückt der einzelne Brief als darstellende Abbildung des Ichs der jeweiligen Figur in den Vordergrund. Der Brief ist eine subjektgebundene Darstellungsform von Wirklichkeit und mit der Konzentration auf den einzelnen Brief in den Frühfassungen wird das subjektive Erzählen hervorgehoben. Aufgrund dieser subjektzentrierten Betrachtungsweise des Briefromans ist das diskontinuierliche Lesen durch periodisches Erscheinen keine Störung der Mitempfindung des Erzählwerks. Dies ändert sich erst mit der Spätfassung und der veränderten Fokussetzung, die jetzt auf Zusammenhänge zielt und auch eine kohärente Reihe von Geschehnissen als Handlung entwirft.

4.1.1 Tendenzen der Rousseaurezeption Jacobis Zur Rezeption von Rousseau bei Friedrich Heinrich Jacobi liegen Vorarbeiten vor. Friedrich Vollhardt untersucht hinsichtlich des Allwill vor allem die Sprachkonzeption eines polyfonen Briefromans.28 Vollhardt konzentriert sich in seinem Beitrag im Besonderen auf die Note der fiktionalen Herausgeberinstanz, die dem familiären Gemeinschaftsbrief von Clärchen, Clerdon und Lenore in der Fassung von 1776 hinzugefügt ist. Bei Vollhardt bleiben der Vorbericht der Fassung von 1776 und die dortige Diskussion des Ro25 26 27 28

Vgl. Ebd. Vgl. JWA 6,1, S. 3–7, hier S. 4. Vgl. dazu das Kapitel 4.1.2 dieser Studie. Vgl. Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte Friedrich Heinrich Jacobis Empfindsamkeitskritik, Sprachkonzeption und Moralreflexion in der Auseinandersetzung mit Rousseau. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin 1995, S. 79–100, hier S. 84–88.

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mans als literarische Gattung als Elemente der Rousseaurezeption Jacobis offen und als Forschungsdesiderat zurück. Dieses Desiderat lässt auch Kurt Christs Monografie über Jacobis Rousseaurezeption beim Woldemar offen.29 Hinsichtlich Jacobis Rousseaurezeption steht daher im Folgenden der Vorbericht der Allwill-Fassung von 1776 im Fokus, da hier ein Forschungsdesiderat zu erschließen ist. Kurt Christ untersucht Jacobis Woldemar »als geschlossenen Roman« und legt für seine Untersuchung als Textgrundlage die Fassung von 1820 zugrunde, da Jacobi dort laut Friedrich Roth vorhatte, »einige Arbeiten der ersten Hand, die er aus der Ausgabe von 1794 und der folgenden ausgeschlossen hatte, wieder aufzunehmen«.30 Christ begründet seine Textauswahl damit, dass die Fassung von 1820 den Roman in geschlossener Form, also nicht als Fragment, darstelle und dass die wichtigen Passagen für die Rousseaurezeption mit der Wiederaufnahme ehemals gestrichener Passagen wieder ins Zentrum rückten.31 Seine methodischen Vorbemerkungen sind sehr kritisch zu beurteilen, da einerseits zwischen den Früh-und Spätfassungen eine Veränderung der Romankonzeption einhergeht, die Jacobi selbst vorgibt.32 Andererseits übernimmt die Fassung von 1820 nahezu vollständig die Fassung von 1796, da Jacobi sein Vorhaben nicht mehr umsetzen konnte, erläutert der Herausgeber Friedrich Roth, dass er die »erwähnte Absicht nicht anders als durch Aufnahme jener Stücke in einen Anhang erfüllen« konnte.33 . An dieser Stelle wird der Untersuchungsschwerpunkt auf den Vorbericht der Fassung von 1776 gelegt. Nachdem die Sprechinstanz dieses Berichts auf die vorherige Veröffentlichung in der Iris hinweist und für die Erweiterung den Teutschen Merkur als geeigneteres Publikationsorgan für die Neuerungen hervorhebt, rückt der Roman als literarische Gattung in den Fokus: Ich habe alles angewendet, meinen Freund zu bereden, mit den ersten Briefen seiner Sammlung gegenwärtig den Anfang zu machen; aber er weigerte mir dieses gerade zu, ohne meine Gründe widerlegen, noch die seinigen angeben zu wollen. Sein Vorhaben ist gewesen, aus diesen Materialien einen Roman zu bilden; da dieses aber, leider! nicht in Erfüllung gegangen: so folgt, daß Allwills Papiere, in ihrem gegenwärtigen Zustande, kein Roman sind. Ich zweifle sogar, ob sie nur tauglichen Stoff dazu an die Hand gäben. Die vorkommende[n] Begebenheiten sind nicht merkwürdiger, als man sie alle Tage überall sehen wird, wo nur eben solche Leute in ähnlicher Verbindung angetroffen werden, um sie hervorzubringen. In der That sind hier die Menschen fast das einzig Interessante: wer sich mit diesen nicht befreunden; wer überhaupt durch das Leben, so wie es sich gewöhnlich in unsrer Werktags-Welt ergiebt, ohne herzliche Theilnehmung an allen durchschleichen kann, der muß viele Briefe dieser Sammlung äußerst schaal und langweilig finden. Und da ich nun so eben belehret worden […], daß selbst ein eigentlicher Roman nur zu den Auswüchsen der Litteratur gerechnet zu werden pflege; so muß mir mein eigen Gewissen sagen, daß dergleichen wie Allwills Papiere

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Vgl. Kurt Christ : F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg 1998. Vgl. Ebd., S. 248f. Sowie: JWA 7,1, S. 205f, hier S. 206. Vgl. Kurt Christ : F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis. Würzburg 1998, S. 248–250. Vgl. JWA 7,1, S. 206f, hier S. 207. Vgl. Ebd., S. 205f, hier S. 206.

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wohl gar nur Unkraut sey, welches kein anderer als ein Feind unter den reinen Weizen unserer Litteratur zu säen die Pflichtvergessenheit haben mag.34 Zunächst wird die Differenzierung zwischen dem Besitzer als dem erwähnten Freund und dem herausgebenden Ich ausgebaut, indem eine Meinungsdissonanz zwischen den beiden erläutert wird. Der Besitzer hatte das »Vorhaben«, aus Eduard Allwills Papieren einen Roman zu machen, was jedoch »leider! nicht in Erfüllung gegangen« ist. Dies wird damit begründet, dass das besitzende Ich nicht »mit den ersten Briefen seiner Sammlung gegenwärtig den Anfang« macht, sondern den Beginn der Sammlung unveröffentlicht lässt. Dieser Vorbericht formuliert so viele Gedanken aus, die schon im Vorbericht zur Fassung von 1775 angelegt waren. Dort ist nicht von einem Roman, sondern von einem »Ganzen« die Rede und es wird darauf hingewiesen, dass diese Briefe »aus der Mitte eines Heftes genommen sind«.35 Mit dieser besonderen Gestaltung deutet sich ein Spezifikum der Rousseaurezeption Jacobis an, die später in seine interdisziplinäre Forschungsprogrammatik führt: Es ist die betonte Hinwendung zum wirklichen Leben des Menschen. Auch in diesem Vorbericht stellt sich innerhalb der Herausgeberfiktion gar nicht die Frage nach Fiktion und Wirklichkeit, weil die Briefe unhinterfragt als echt postuliert werden. Dies wäre durchaus auch dann der Fall, wenn es dem Besitzer gelungen wäre, diese Papiere zu einem Roman zu formen, was Aufschluss über das Romanverständnis gibt. Diese Sammlung ist aber »kein Roman« geworden und die Sprechinstanz stellt infrage, ob die Briefe überhaupt »tauglichen Stoff dazu an die Hand gäben«.36 Die in den Briefen dargestellten Geschehnisse seien »nicht merkwürdiger, als man sie alle Tage überall sehen wird, wo nur eben solche Leute in ähnlicher Verbindung angetroffen werden, um sie hervorzubringen«.37 Damit wird betont, dass die Briefe nichts Besonderes schildern, sondern etwas allgemein Menschliches. Im Mittelpunkt steht der Mensch in seiner wirklichen Beschaffenheit einer »Werkstags-Welt«.38 Aus diesem Grund seien bei den folgenden Briefen »die Menschen fast das einzige Interessante«.39 In diesem Kontext nimmt die Bezugnahme zum Roman eine besondere Stellung ein. Zunächst fällt auf, dass das Romanhafte in diesem Vorbericht mit dem Wirklichen durchaus verträglich zu sein scheint, denn der Besitzer der Briefe hatte das »Vorhaben«, aus den ihm vorliegenden echten Briefen einen Roman zu formen. Der Roman ist daher als literarische Gattung in gewisser Weise dazu geeignet, Wirklichkeit abzubilden, da ein Roman aus echten Briefen formbar ist. Diese literarische Gattung wird aber selbst in ihren gelungenen Varianten als »Auswüchse[] der Litteratur [sic!]« betrachtet. Carmen Götz weist in ihrem Kommentar darauf hin, dass der Vorbericht auf die Rezension von Johann Karl August Musäus zu Christian Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den

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JWA 6,1, S. 3–7, hier S. 4. Vgl. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi [Kürzel: »F.«]: Eduard Allwills Papiere. In: Iris. Hg. von Johann Georg Jacobi. Band 4, 3. Stück. September 1775, S. 134f, hier S. 135. Oder: JWA 6,1, S. 3. Vgl. JWA 6,1, S. S. 4. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

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Roman von 1774 Bezug nimmt. Diese Rezension erscheint 1775 im 26. Band in der Allgemeinen deutschen Bibliothek von Friedrich Nicolai.40 Der Roman wird in dieser Rezension als literarische Gattung niedriggeschätzt. Daher nimmt die Besprechung des Romans als literarische Gattung in dem Vorbericht der Allwill-Fassung von 1776 die Funktion einer Exklusivierung ein, die dadurch verstärkt wird, »daß dergleichen wie Allwills Papiere wohl gar nur Unkraut sey«.41 Wenn der Roman schon nicht zur schönen Literatur gehört, dann erst recht nicht eine Schrift wie Eduard Allwills Papiere. Hier werden exklusive Personen als Lesepublikum angesprochen, die trotz dieser Schmälerung diese Schrift wertschätzen. Zugleich wird mit dieser Exklusivierung mögliche Kritik relativiert, da das Werk bereits kritisch beurteilt wird. Mit dieser exklusivierenden Betrachtungsweise des Romans stellt sich der Vorbericht der Allwill-Fassung von 1776 in die bei Rousseaus Julie entworfene Perspektive des Romans als Abbildung von Wirklichkeit.42 Zunächst einmal wird im ersten Vorwort der Julie der Blickwinkel auf den Roman eröffnet, dass die Herausgeberinstanz den Roman selbst bearbeitet hat. Dies heißt aber nicht, dass die Briefe daher erdichtet sind. Das erste Vorwort der Julie Rousseaus beginnt wie folgt : Il faut des spectacles dans le grandes villes, et des romans aux peuple corrompus. J’ai vu les mœurs de mon temps, et j’ai publié ces lettres. Que n’ai-je vécu dans un siècle où je dusse les jeter au feu! Quoique je ne porte ici que le titre d’éditeur, j’ai travaillé moi-même à ce livre, et je ne m’en cache pas. Ai-je fait le tout, et la correspondance entière est-elle une fiction? Gens du monde, que vous importe? C’est sûrement une fiction pour vous.43 Die Sprechinstanz dieser Vorrede erzählt, dass sie zwar nur »le titre d’éditeur« trage, aber doch auch selbst an diesem Buch gearbeitet habe und dazu auch offen steht. Aber diese Arbeit des herausgebenden Ichs bedeutet nicht, dass die Briefe nicht echt seien: »Ai-je fait le tout, et la correspondance entière est-elle une fiction?« Die Arbeit an diesem Buch vom herausgebenden Ich bedeutet nicht, dass diese Briefsammlung erfunden sei. Vielmehr wird impliziert, dass die Annahme, dieser Briefwechsel müsse Fiktion sei, mit der sittlichen Verkommenheit der Menschen zusammenhängt, denn für die »[g]ens du monde« müsse diese Sammlung von Briefen sicherlich als »une fiction« erscheinen. Innerhalb der Diegese dieser Herausgeberfiktion wird die Position diese Sammlung als Fiktion anzusehen mit einem moralisch depravierten Status verbunden. Das Lesepublikum, das sich nicht den Vorwurf sittlicher Depravation gefallen lassen möchte, wird zu der Annahme geleitet, diese Briefe seien echt, auch wenn die Herausgeberinstanz an diesem Buch selbst gearbeitet hat. Neben diesem Aspekt der arbeitenden Hand des herausgebenden Ichs ist ein weiterer entscheidender Bezugspunkt zu Rousseau zu ziehen. Die bei Jacobi betonte Hinwendung zum menschlichen Leben wie es wirklich ist, findet sich in der zweiten Vorrede der Julie mit dem Titel Préface de Julie ou Entretien sur les Romans. In 40 41 42 43

Vgl. JWA 6,2, S. 345. Vgl. JWA 6,1, S. 4. Vgl. dazu auch das Kapitel 1.1 und 3.3.1 dieser Studie. Julie ou La Nouvelle Heloïse. Lettres de deux amants habitans d’une petite ville au pied des Alpes recueillies. et publiées par Jean-Jacques Rousseaus. Introd., chronologie, bibliogr., notes et choix de variantes par René Pomeau. Paris 1960, S. 3f, hier S. 3.

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dieser Vorrede wird ein fiktives Gespräch zwischen dem verlegenden Ich mit der Abkürzung »N.« und dem herausgebenden Ich mit der Abkürzung »R.« dargestellt. Ein Beitrag von »R.« thematisiert, dass die Phantasterei, die mit dem Roman einhergehe, nicht in dieser literarischen Gattung an sich begründet sei, sondern in ihrer Funktionalisierung. Der Roman führe zu einem imaginativ verstellten Daseinszustand des Menschen, wenn er nur immer das darstelle, was das Lesepublikum selbst nicht sei. A quoi j’ajouterai seulement une réflexion. L’on se plaint que les romans troublent les têtes; je le crois bien : en montrant sans cesse à ceux qui les lisent les prétendus charmes d’un état qui n’est pas le leur, ils les séduisent, ils leur font prendre leur état en dédain, et en faire un échange imaginaire contre celui qu’on leur fait aimer. Voulant être ce qu’on n’est pas, on parvient à se croire autre chose que ce qu’on est, et voilà comment on devient fou. Si les romans n’offraient à leurs lecteurs que des tableux d’objets qui les environnent, que des devoirs qu’ils peuvent remplir, que des plaisirs de leur condition, les romans ne les rendraient point fous, ils les rendraient sages. Il faut que les écrits faits pour les solitaires parlent la langue des solitaires : pour les instruire, il faut qu’ils leur plaisent, qu’ils les intéressent; il faut qu’ils les attachent à leur état en le leur rendant agréable. Ils doivent combattre et détruire les maximes des grandes sociétés, ils doivent les montrer fausses et méprisables, c’est-à-dire telles qu’elles sont.44 Das sprechende Ich kritisiert, dass der zeitgenössische Roman seinem Publikum oftmals einen ihm fremden gesellschaftlichen Stand darstelle, dadurch würde es einen Eindruck von einem menschlichen Leben bekommen, der es mit seinem Stand und seinem Leben unzufrieden mache. Die Schilderung von Annehmlichkeiten eines fremden Standes führe unweigerlich dazu, dass die Imagination der lesenden Personen angestachelt werden, um nach Höherem zu streben und so Verachtung für den eigenen Stand zu empfinden. Dies führe zu einem Verwirrungszustand der lesenden Person, denn sie möchte nicht mehr sein, wer sie wirklich ist, sondern sie sehnt sich danach, jemand anderes zu sein: »Voulant être ce qu’on n’est pas, on parvient à se croire autre chose que ce qu’on est […]«. Aus diesem Grund spricht sich die Sprechinstanz dafür aus, dass der Roman nicht die Sprache einer fremden Welt der Adressaten sprechen solle. Der Roman solle die große Gesellschaft als das darstellen, was sie sei, ein verächtliches und moralisch verkommenes soziales Gefüge. Der Roman solle daher niedere Stände zum Thema haben und so den Menschen ihren eigenen Stand vor Augen führen. Wenn der Roman für den einsamen einfachen Menschen auch ein ebenso geartetes Leben darstellt, dann trägt er zur Zufriedenheit dieser Menschen bei. Zur moralischen Bewertung des Romans müsse daher die Frage beantwortet werden, was der Roman darstelle und danach könne entschieden werden, ob ein Roman moralisch oder unmoralisch sei. Wenn er das wirkliche Leben darstellt, hat er den größten Nutzen, auch wenn er sich dann nicht im Bereich des zeitgenössischen Geschmacks bewegt:

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Ebd., S. 737–757, hier S. 748.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

A tous ces titres, un roman s’il est bien fait, au moins s’il est utile, doit être sifflé, haï, décrié par les gens à la mode, comme un livre plat, extravagant, ridicule; et voilà, monsieur, comment la folie du monde est sagesse.45 Dies unterstreicht noch einmal die bei Rousseau so stark hervortretende zivilisationsund kulturkritische Tendenz, denn die Sprechinstanz betrachtet den künstlerischen zeitgenössischen Geschmack als so überspannt und von der Wirklichkeit entfremdet, dass das wirklichkeitsabbildende Werk als »plat, extravagant, ridicule« erscheinen muss. Der Roman, der nützlich ist, weil er Aufschluss über die Beschaffenheit des Menschen gibt, ist auch derjenige, der im konstruierten Bild des zeitgenössischen Geschmacks künstlerisch nicht gefallen kann. Jacobi ruft diesen Aspekt in seinem Vorbericht zum Allwill von 1776 auf, indem er in rousseauistischer Prägung den Roman als literarische Gattung diskutiert. In diesem Zusammenhang übernimmt und akzentuiert Jacobi die Hinwendung zur Wirklichkeit, die sich auch noch in der Vorrede der AllwillFassung von 1792 in der dort vorgestellten interdisziplinären Forschungsprogrammatik wiederfindet.

4.1.2 Divergierende Deutungen und konvergierende Rezeptionslinien Diese Hinwendung zum wirklichen menschlichen Leben hat bei Jacobi die spezifische Nuance keine »Helden« darstellen zu wollen, sondern Menschen einer »WerktagsWelt«.46 Bei Rousseau steht die Hinwendung zur Wirklichkeit vor allem unter dem Vorzeichen, sich vom höfisch galanten Roman abzugrenzen und den Schauplatz auf das Land und der dortigen Bevölkerung zu legen, deshalb wird in der zweiten Vorrede der Julie die ländliche Gegend als natürlicher und ursprünglicher Lebensraum des Menschen hervorgehoben. Diese topografische Grenze zwischen höfischer Stadt und ländlicher Gegend verräumlicht Rousseaus zivilisations-und kulturkritische Tendenzen. Der Hof und die Stadt sind Orte einer als verkommen deklarierten Zivilisation, die dort lebenden Menschen sind entfremdet von ihrer eigentlichen Beschaffenheit. Der in ländlichen Gegenden lebende Mensch hingegen bewahrt aufgrund seiner Lebensart eine gewisse Natürlichkeit. Jacobis Rezeption von Rousseau ist in dem Vorbericht des Allwill von 1776 vor allem romankonzeptioneller Art: Mit den philosophischen und moralischen Fähigkeiten dieser Briefe, sieht es insoferne mißlich aus, daß ihre Verfasser anstatt des ganzen Menschengeschlechts immer nur eine einzelne Person im Auge – und mehrentheils andre zu dringende Geschäfte vor der Hand haben, um nicht die Angelegenheiten des großen Alls, und wohl gar ihre eigene gegenseitige Belehrung darüber zu versäumen. O daß es Helden wären! Die (wie ich aus vielen Büchern verstanden habe) ihre Thaten blos andern zum Exempel verrichteten – uns zur Lehre nur das gewesen sind, was sie waren. Von meinen unbedeutenden Leuten, die so gar keine Helden sind, muß ich einiges vorerinnern; denn sie konnten nicht wissen, daß ein geneigter Leser sie erwarte, der ein und andre Umstän-

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Vgl. Ebd. Vgl. JWA 6,1, S. 4.

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A tous ces titres, un roman s’il est bien fait, au moins s’il est utile, doit être sifflé, haï, décrié par les gens à la mode, comme un livre plat, extravagant, ridicule; et voilà, monsieur, comment la folie du monde est sagesse.45 Dies unterstreicht noch einmal die bei Rousseau so stark hervortretende zivilisationsund kulturkritische Tendenz, denn die Sprechinstanz betrachtet den künstlerischen zeitgenössischen Geschmack als so überspannt und von der Wirklichkeit entfremdet, dass das wirklichkeitsabbildende Werk als »plat, extravagant, ridicule« erscheinen muss. Der Roman, der nützlich ist, weil er Aufschluss über die Beschaffenheit des Menschen gibt, ist auch derjenige, der im konstruierten Bild des zeitgenössischen Geschmacks künstlerisch nicht gefallen kann. Jacobi ruft diesen Aspekt in seinem Vorbericht zum Allwill von 1776 auf, indem er in rousseauistischer Prägung den Roman als literarische Gattung diskutiert. In diesem Zusammenhang übernimmt und akzentuiert Jacobi die Hinwendung zur Wirklichkeit, die sich auch noch in der Vorrede der AllwillFassung von 1792 in der dort vorgestellten interdisziplinären Forschungsprogrammatik wiederfindet.

4.1.2 Divergierende Deutungen und konvergierende Rezeptionslinien Diese Hinwendung zum wirklichen menschlichen Leben hat bei Jacobi die spezifische Nuance keine »Helden« darstellen zu wollen, sondern Menschen einer »WerktagsWelt«.46 Bei Rousseau steht die Hinwendung zur Wirklichkeit vor allem unter dem Vorzeichen, sich vom höfisch galanten Roman abzugrenzen und den Schauplatz auf das Land und der dortigen Bevölkerung zu legen, deshalb wird in der zweiten Vorrede der Julie die ländliche Gegend als natürlicher und ursprünglicher Lebensraum des Menschen hervorgehoben. Diese topografische Grenze zwischen höfischer Stadt und ländlicher Gegend verräumlicht Rousseaus zivilisations-und kulturkritische Tendenzen. Der Hof und die Stadt sind Orte einer als verkommen deklarierten Zivilisation, die dort lebenden Menschen sind entfremdet von ihrer eigentlichen Beschaffenheit. Der in ländlichen Gegenden lebende Mensch hingegen bewahrt aufgrund seiner Lebensart eine gewisse Natürlichkeit. Jacobis Rezeption von Rousseau ist in dem Vorbericht des Allwill von 1776 vor allem romankonzeptioneller Art: Mit den philosophischen und moralischen Fähigkeiten dieser Briefe, sieht es insoferne mißlich aus, daß ihre Verfasser anstatt des ganzen Menschengeschlechts immer nur eine einzelne Person im Auge – und mehrentheils andre zu dringende Geschäfte vor der Hand haben, um nicht die Angelegenheiten des großen Alls, und wohl gar ihre eigene gegenseitige Belehrung darüber zu versäumen. O daß es Helden wären! Die (wie ich aus vielen Büchern verstanden habe) ihre Thaten blos andern zum Exempel verrichteten – uns zur Lehre nur das gewesen sind, was sie waren. Von meinen unbedeutenden Leuten, die so gar keine Helden sind, muß ich einiges vorerinnern; denn sie konnten nicht wissen, daß ein geneigter Leser sie erwarte, der ein und andre Umstän-

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Vgl. Ebd. Vgl. JWA 6,1, S. 4.

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de von ihnen zu wissen bedürfen werde, sonst hätten sie, dächt ich, dieselben wohl auf eine geschickte Weise einfließen laßen.47 Diese Passage gibt entscheidenden Aufschluss darüber, welche Darstellungsmöglichkeiten die Sprechinstanz dem Briefroman zuschreibt. Der Briefroman wird als Sammlung echter Briefe konturiert, was damit unterstrichen wird, dass über die folgenden briefschreibenden Figuren eine Einführung gegeben werden muss, da wichtiges Hintergrundwissen zu diesen Figuren nicht in den Briefen mitgeteilt wird. Diese Authentifikationsstrategie kann – wie bereits mehrfach erwähnt – mit Albrecht Koschorke als Formprinzip der Unabsichtlichkeit beschrieben werden. Koschorkes Überlegungen können dahingehend erweitert werden, dass mit der empfindsamen Herausgeberfiktion – es sei kritisch daran erinnert, dass der Briefroman nicht zwangsläufig an eine Herausgeberfiktion gebunden ist – der Übergang von einer primären zu einer sekundären Verwendungsweise des Briefes explizit zum Thema gemacht wird. Die Briefe sind in der Regel an eine oder mehrere vertraute Personen geschrieben und nicht intentional für eine Öffentlichkeit. Die Sprechinstanz hebt diese Unabsichtlichkeit hervor, nachdem sie verdeutlicht hat, dass die briefschreibenden Personen keine »Helden« sind, die sich gegenseitig über »die Angelegenheiten des großen Alls« belehren und »ihre Thaten blos andern zum Exempel verrichteten«. Dabei ist es markant, dass die Sprechinstanz zuvor erläutert hatte, dass diese Briefsammlung keinen Roman darstellt. Dieses aus der eigentlichen Form Fallen verbindet sich mit einer Fokussierung von Menschen einer bodenständigen Alltagswelt. Die Sprechinstanz entwirft einen romankonzeptionellen Entwurf des Briefromans, der gerade diese literarische Gattung als Abbildung von Wirklichkeit entwirft. Innerhalb der Diegese des Vorberichts werden echte Briefe gesammelt, die vom wirklichen Leben erzählen und von tatsächlichen Menschen stammen. Diese intradiegetische Hinwendung zur Wirklichkeit erscheint auf einer extradiegetischen Ebene als Entwurf einer Briefromantheorie. Zur Verdeutlichung dieses theoretischen Ansatzes muss ein Blick in den Briefwechsel Jacobis geworfen werden. Angeregt durch einen an Jacobi gerichteten Brief von Johann Albert Heinrich Reimarus vom 10.10.1781 wird Jacobi in seinem Antwortbrief vom 23.10.1781 seinen Allwill selbst hinsichtlich der Moralität seines titelgebenden Protagonisten analysieren, denn Reimarus kritisiert, dass die sittlich fragwürdige Figur Eduard Allwill ein schlechtes Beispiel für die Jugend sein könnte: Ich habe mich gefreut, daß Sie im letzten Briefe von Allwills Papieren das Gegengift gegen die vorher angepriesene Herrschaft der Leidenschaften gegeben. Aber das Gift war doch zu stark, zu feurig zugerichtet, und ich fürchte, daß nur dieses den leichtesten Eingang in die jugendlichen Herzen, die schon darnach gestimmt sind, gewinnen möge. Mich dünkt, wir müßten bey unseren Sittenlehren hauptsächlich darauf sehen, wohin sich unser Jahrhundert neige. Unmenschlichkeit ist es nicht mehr; aber Ausschweifung der Begierden in Wollust.48

47 48

Ebd., hier S. 4f. JBW I, 2. S. 350.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

Diese Kritik deutet an, dass Jacobis vorgegebene Lesart, die Briefsammlung als Abbildung von Wirklichkeit zu verstehen, bei Johann Albert Heinrich Reimarus als Leser des Allwill nicht angenommen wurde. Es ist die Figur des Allwill, die nach Reimarus in seiner amoralischen Beschaffenheit »zu feurig zugerichtet ist«. Dieses Feuer der Leidenschaften werde auch von der späteren Kritik Luzies, die er als »Gegengift gegen die […] Leidenschaften« bezeichnet, nicht vollständig gelöscht. Bemerkenswerterweise scheint Reimarus auch die Programmatik, das genuin Menschliche für eine Moralvorstellung in den Vordergrund zu rücken, nicht zu teilen, denn »Unmenschlichkeit« sei »es nicht mehr«, die der Moral ihres Jahrhunderts fehle. »[U]nser Jahrhundert neige« stattdessen zu der »Ausschweifung der Begierden in Wollust«. Reimarus gibt in seinem Brief eine Deutung des Allwill vor, die dem Begehren des Protagonisten nach intimen Umgang mit Mädchen und Frauen durchaus eine sexuelle Komponente zuschreibt. Eine solche Sichtweise weist auch der Beziehung zwischen Allwill und Luzie eine solche Komponente zu. Die Interpretation von Reimarus erscheint durchaus plausibel, aber Jacobi wird sie in seinem Antwortbrief explizit zurückweisen. Dass Sie, gerade Sie in Allwills Papieren sehen und nicht sehen würden, was sich aus Ihrem Briefe vermuthen läßt: dieß ist eine Vorstellung, in die ich mich je länger je weniger zu finden weiß. Das Gift darin soll zu stark, zu feurig zugerichtet seyn, um dem Gegengifte zu weichen? […] Will ich nun edle Neigungen hervorbringen, so muß ich edle Gegenstände haben, die ich zeigen und womit ich sie bewürken kann; denn wir wißen doch am Ende weiter nichts als unsre Vorstellungen zu denken, u[nd] wo kein Gegenstand ist, da ist gar nichts. Habe ich die Gegenstände oder edleren Empfindungen nicht, oder weiß ich die moralischen Gläser nicht zu schleifen für denjenigen der jene Gegenstände mit bloßen Augen zu sehen nicht vermag, so ist alle andre Mühe vergebens. Aber eben so im Gegensatz auch alle Sorge eitel, daß ich am Menschen je etwas verderben werde, so lange ich seine Sinne, sein Herz, seinen Geschmack nicht von edleren Gegenständen ab auf die niedrigern lenke, oder Lüste gegen die Tugend empöre u[nd] sie herschend mache. Dieses – sollte dieses wohl von mir geschehen – jenes unterlaßen worden seyn? Selbst mein Wildfang, mein Allwill ist weit davon entfernt »der Ausschweifung der Begierden in Wollust« das Wort zu reden. So wie er ist kann er vielleicht an den Galgen oder auf das Rad kommen: schwerlich aber seinen Geist beschäfftigen, vergnügen u[nd] aufgeben wie ein Sardanapal, wie ein Wollüstling. Doch hat ihn Luzie, wie mir däucht, auch an dieser Seite wund genug gehauen.49 Im Jahr dieses Briefwechsels erscheinen Jacobis Vermischte Schriften und auch die erste Fassung von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. Jacobis Brief an Reimarus lässt sich durchaus als ein Rezeptionszeugnis dieser Schrift Kants verstehen. Jacobi wird in seiner Spätfassung des Allwill seine erkenntnistheoretische Kritik an Kant einbauen. Das heißt, es ist wichtig die Differenz zwischen der Veröffentlichung 1776 und dieser Besprechung des Werks fünf Jahre später zu berücksichtigen. Jacobi scheint selbst einen anderen Blick auf das Werk zu haben, da er jetzt erkenntnistheoretische Fragestellungen ins Zentrum stellt, wobei die Fassung von 1776 mit der konträren Figurenkonstellation Sylli und Allwill eigentlich eine moralische Problemstellung thematisiert. Vor moralischen

49

JBW I, 2, S. 355–360.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Fragen setzt Jacobi nun aber die Klärung von Möglichkeitsbedingungen des menschlichen Erkennens. Denn wenn »edle Neigungen« im Menschen evoziert werden sollen, »so muß ich edle Gegenstände haben die ich zeigen und womit ich sie bewürken kann«. Das heißt Jacobi setzt sich hier bereits mit Kants Transzendentalphilosophie der Kritik der reinen Vernunft auseinander. Jacobi akzentuiert diesen Punkt und verdeutlicht, dass der Mensch »doch am Ende weiter nichts [wisse] als [seine] Vorstellungen zu denken«. Eine Vorstellung erscheint hier bei Jacobi als ein sinnlicher und mentaler Eindruck von etwas, das durch Perzeption im Inneren entstanden ist. Die Vorstellung von Dingen ist die Erfassung von Gegenständen, die außerhalb des eigenen Inneren liegen und so als NichtIch erscheinen. Dieser Brief an Reimarus thematisiert zwar den Allwill, ist aber eine hervorzuhebende schriftliche Quelle von Jacobis früher Kantrezeption, die nachweislich vor seinen prominenten Spinozabriefen vorliegt. Diese Rezeption ist dadurch geprägt, dass die erkenntnistheoretische Grundfrage, inwieweit Erkenntnis Abbildung von Wirklichkeit ist, übernommen wird. Sie findet sich in dem Brief an Reimarus in der Hervorhebung des Begriffs der »Vorstellungen« wieder. Die Vorstellung ist in diesem Kontext ein gedachtes Konstrukt, das aus den Erkenntnismöglichkeiten des Menschen abgeleitet wird. Die rationalen Erkenntnismöglichkeiten des Menschen sind bei Jacobi die Sinne und die instrumentelle Vernunft. Daraus folgt, dass eine Vorstellung ein gedachtes Konstrukt beschreibt, dass die sinnliche Perzeption und die rationale Durchdringung des sinnlich Wahrgenommenen verbindet. Eine Vorstellung ist bei Jacobi eine Essenz des aktiven Verstandes, insofern dieser als Gesamtheit der tatkräftigen Geisteskräfte des Menschen verstanden wird und die Sinne und die instrumentelle Vernunft umfasst. Konkretisiert man nun die erwähnte erkenntnistheoretische Grundfrage auf den Begriff der Vorstellung, wie er hier als philosophischer Begriff verwendet wird, dann lautet die Frage, inwieweit der Mensch mit seinen »Vorstellungen« eine externe Welt erschließt, inwiefern sind die Vorstellungen des Menschen Abbildungen einer außerhalb seines Inneren befindlichen Wirklichkeit. Die Quintessenz, auf die Jacobi hinaus möchte, erschließt sich nur vor dem Hintergrund dieser Grundfrage und zeigt an, dass in Jacobis Denken eine erkenntnistheoretische Wende beobachtbar ist, die für die Differenzierung der Frühund Spätfassungen seiner Erzählwerke von zentraler Bedeutung ist. Jacobi übernimmt von Kant die transzendentalphilosophische Herangehensweise nach den Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens zu fragen, aber anders als bei Kant sind es bei Jacobi nicht die Dinge-an-sich, die letztlich unerkannt bleiben, sondern es ist das Ich als die Gesamtheit des Inneren des Menschen. Bei Jacobi bleibt das Ich in seiner inhärenten Selbsttätigkeit und in seiner Dependenz von der Zeit im Bezug zu seinen Beschaffenheits-und Zustandsformen unerkannt. Im Brief an Reimarus deutet sich in der Besprechung des Allwill an, dass Jacobi das Denken des Menschen an eine erfahrbare Außenwelt bindet und so in Abhängigkeit zu dieser setzt. Dies ist bei Jacobi philosophische Voraussetzung und Hinleitung zu seiner Entgegnung der AllwillDeutung von Reimarus, denn zuvor hatte er diese erkenntnistheoretische Position schlichtweg vorausgesetzt, indem er postuliert, dass »edle Neigungen« des Menschen aus »edle[n] Gegenstände[n]« entspringen könnten.50 Das Äußere hat einen signifikanten Einfluss auf das Innere. Die äußere Welt in Form der »Gegenstände« wirkt auf das 50

Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

Ich ein und führt zu einer veränderten Zustandsform.51 Wenn diese Dinge »edel« sind, dann können sie sublimierend auf das Ich einwirken.52 Setzt man dies voraus, dann wird deutlich, dass Jacobi darauf hinaus möchte, dass Eduard Allwills Charakterschilderung dazu da sei, diesen möglichen Wandel anzudeuten. Jacobi schreibt zwar, dass Luzie Allwill »wund genug gehauen« habe mit ihrem mitgeteilten Brief, doch ihr Brief an Allwill ist in der Frühfassung von 1776 der Abschluss des Erzählwerks. Inwieweit ein Wandel von Allwill wirklich innerhalb der Diegese stattfindet, bleibt daher offen. Im Brief an Reimarus führt Jacobi seine Überlegungen weiter aus und betont die Notwendigkeit, dass ein Wandel durch ein Wechselverhältnis von Äußerem und Innerem hervorgerufen werden muss, denn »[h]abe ich die Gegenstände oder edleren Empfindungen nicht, […] so ist alle andre Mühe vergebens«.53 Der Literatur kommt hier die Rolle der »moralischen Gläser« zu, indem sie diese »edleren Empfindungen«, »für denjenigen der jene Gegenstände mit bloßen Augen zu sehen nicht vermag«, sichtbar macht.54 Jacobi versteckt aber eine latente – nahezu passiv aggressive – Bezugnahme auf den Brief von Reimarus, indem er schreibt, dass wenn er »die moralischen Gläser nicht zu schleifen« weiß, er den Personen die das Edle aus eigener Kraft nicht erfassen können, nicht helfen kann.55 In der Argumentation Jacobis – daher die notwendige erkenntnistheoretische Erläuterung – ist die Erfassung des Edlen eine Voraussetzung für die moralische Sublimation des Menschen. Im Kontext dieser Betonung der moralischen Sublimation bemerkt Jacobi, dass wenn sein Schreiben nicht hilft das Edle zu erfassen, dass er dann »alle Sorge eitel« sein lassen kann, dass er »am Menschen je etwas verderbe«.56 Diese Stelle deutet eine gewisse Entrüstung an, denn »Allwill ist weit davon entfernt« eine sittliche Verdorbenheit darzustellen, die bis zur Sexualität reicht.57 Die Begründung der Ausklammerung des Sexuellen ist im Sinne der kulturhistorischen Tendenz der Empfindsamkeit darin begründet, sie als eine niedere, triebhafte Lust zu betrachten. Allwills Charakter sei verwerflich, weil er in seinen inneren Regungen so unbeständig und selbstherrlich ist, aber er ist kein »Wollüstling« und kein »Sardanapal«, der laut Aristoteles ein König Babylons war und eine Lebensart geführt und gelehrt habe, die sich auf die Grundbedürfnisse Hunger, Durst, Schlafen und Sexualtrieb beschränke.58 Jacobi zitiert einen Passus aus dem Brief von Reimarus, um seiner Erwiderung Nachdruck zu verleihen, »mein Allwill ist weit davon entfernt »der Ausschweifung der Begierden in Wollust« das Wort zu reden«.59 Damit revidiert Jacobi explizit die Deutung von Reimarus und stellt sie als Missverständnis hin, denn Allwill sei jemand, der »seinen Geist beschäfftigen« müsse.60 Er hat durch diesen starken Geist die Anlage zur Sublimation. Dieser Besprechung

51 52 53 54 55 56 57 58 59 60

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. JBW I, 2, S. 355–360. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

war im Brief eine Verdeutlichung vorangegangen, dass der Mensch sich in seiner eigenen Kraft erleben müsse und sich nicht in gewisse vorgegebene Bahnen einschränken lassen solle. Sie, mein Theurester, Sie wenigstens sind doch auch dafür, daß man – nicht den Menschen, sondern nur den Pferden Augenklappen […] anschnalle. Sie wollen nicht unseren Körper, damit er fein gerade u[nd] wohl gewachsen bleibe, von Jugend auf eingeschnürt, bewickelt – und damit er nicht verletzt werde, immerdar gegängelt haben. Der Mensch, verlangen Sie, soll sich mit seinen eigenen Gliedern rühren, soll mit seinem eigenen Kopfe denken, mit seinem eigenen Herzen wünschen, mit seiner eigenen Seele handeln.61 Der Mensch soll sich einerseits in seiner wirklichen eigentümlichen Beschaffenheit entfalten und andererseits soll er für sein eigenes Denken und Handeln verantwortlich sein. Er soll sich seiner Beschaffenheit gerecht verhalten und seine innere Autonomie entfalten und dies soll er in einem Zustand der Mündigkeit realisieren. Für diese im engeren Sinne aufklärerische Tendenz kann die Literatur in Form des Briefromans eine unterstützende Funktion einnehmen. Es ist markant, dass sich in der Besprechung des Allwill Rousseau-und Kantrezeption bei Jacobi kreuzen und etwas Spezifisches daraus formiert wird, das in der Spätfassung deutlich hervortritt. Aus anthropologischen und erkenntnistheoretischen Gründen spricht sich Jacobi für eine radikale Achsendrehung auf die Wirklichkeit und den wirklichen Menschen aus. Dann aber, was kann ihm förderlicher seyn, als den ganzen Inhalt seiner Natur, so klar, so vollständig, so unverstellt als möglich vor Augen zu haben. Lehrreiche Fabeln mögen gut seyn; aber reine Geschichte, wenn sich dieselbe gleich nicht der Moral wegen zugetragen hat, behauptet dennoch ihren höheren Wert.62

4.1.3 Die Allwill- Spät- und Frühfassungen im Vergleich Im Vergleich der Fassungen des Allwill fällt zunächst eine Entwicklung auf, die sich bei Jacobis Woldemar genau diametral gestaltet. Beim Woldemar weist die Frühfassung diverse Mottizitate auf.63 Diese werden jedoch gestrichen, sodass die Spätfassungen des Woldemar nicht wie die Frühfassungen mit zahlreichen Mottisprüchen eingeleitet werden. Dies gestaltet sich bei Jacobis Allwill genau andersherum. Den Frühfassungen des Allwill ist nur ein Zitat vorangestellt und der Spätfassung von 1792 sind zahlreiche Zitate als einleitende Mottisprüche vorangestellt. Demnach gibt es bezüglich einleitender Zitate bei den Erzählwerken Jacobis keinen werkübergreifenden Trend. Im Folgenden werden die einleitenden Mottizitate der Früh-und der Spätfassung thematisiert und vergleichend miteinander in Bezug gebracht. Den Frühfassungen ist einzig das folgende Zitat vorangestellt:

61 62 63

JBW I, 2, S. 355–360, hier S. 356. Ebd., hier S. 356f. Vgl. dazu das Kapitel 4.2 dieser Untersuchung.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

war im Brief eine Verdeutlichung vorangegangen, dass der Mensch sich in seiner eigenen Kraft erleben müsse und sich nicht in gewisse vorgegebene Bahnen einschränken lassen solle. Sie, mein Theurester, Sie wenigstens sind doch auch dafür, daß man – nicht den Menschen, sondern nur den Pferden Augenklappen […] anschnalle. Sie wollen nicht unseren Körper, damit er fein gerade u[nd] wohl gewachsen bleibe, von Jugend auf eingeschnürt, bewickelt – und damit er nicht verletzt werde, immerdar gegängelt haben. Der Mensch, verlangen Sie, soll sich mit seinen eigenen Gliedern rühren, soll mit seinem eigenen Kopfe denken, mit seinem eigenen Herzen wünschen, mit seiner eigenen Seele handeln.61 Der Mensch soll sich einerseits in seiner wirklichen eigentümlichen Beschaffenheit entfalten und andererseits soll er für sein eigenes Denken und Handeln verantwortlich sein. Er soll sich seiner Beschaffenheit gerecht verhalten und seine innere Autonomie entfalten und dies soll er in einem Zustand der Mündigkeit realisieren. Für diese im engeren Sinne aufklärerische Tendenz kann die Literatur in Form des Briefromans eine unterstützende Funktion einnehmen. Es ist markant, dass sich in der Besprechung des Allwill Rousseau-und Kantrezeption bei Jacobi kreuzen und etwas Spezifisches daraus formiert wird, das in der Spätfassung deutlich hervortritt. Aus anthropologischen und erkenntnistheoretischen Gründen spricht sich Jacobi für eine radikale Achsendrehung auf die Wirklichkeit und den wirklichen Menschen aus. Dann aber, was kann ihm förderlicher seyn, als den ganzen Inhalt seiner Natur, so klar, so vollständig, so unverstellt als möglich vor Augen zu haben. Lehrreiche Fabeln mögen gut seyn; aber reine Geschichte, wenn sich dieselbe gleich nicht der Moral wegen zugetragen hat, behauptet dennoch ihren höheren Wert.62

4.1.3 Die Allwill- Spät- und Frühfassungen im Vergleich Im Vergleich der Fassungen des Allwill fällt zunächst eine Entwicklung auf, die sich bei Jacobis Woldemar genau diametral gestaltet. Beim Woldemar weist die Frühfassung diverse Mottizitate auf.63 Diese werden jedoch gestrichen, sodass die Spätfassungen des Woldemar nicht wie die Frühfassungen mit zahlreichen Mottisprüchen eingeleitet werden. Dies gestaltet sich bei Jacobis Allwill genau andersherum. Den Frühfassungen des Allwill ist nur ein Zitat vorangestellt und der Spätfassung von 1792 sind zahlreiche Zitate als einleitende Mottisprüche vorangestellt. Demnach gibt es bezüglich einleitender Zitate bei den Erzählwerken Jacobis keinen werkübergreifenden Trend. Im Folgenden werden die einleitenden Mottizitate der Früh-und der Spätfassung thematisiert und vergleichend miteinander in Bezug gebracht. Den Frühfassungen ist einzig das folgende Zitat vorangestellt:

61 62 63

JBW I, 2, S. 355–360, hier S. 356. Ebd., hier S. 356f. Vgl. dazu das Kapitel 4.2 dieser Untersuchung.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

Wie viel Nebel sind von meinen Augen gefallen, und doch bist du nicht aus meinem Herzen, gewichen, alles belebende Liebe! die du mit der Wahrheit wohnst, ob sie gleich sagen, du seyst lichtscheu und entfliehend im Nebel.64 In den Fassungen von 1775 und 1776 ist dieses Motto mit der Unterschrift »Aus einer Handschrift« abgedruckt.65 In der Fassung von 1781 in Jacobis Vermischte Schriften ist unter dem Motto »Göthe« als Verfasser dieser Zeilen genannt. Carmen Götz hat in ihrem Anhang nachgewiesen, dass der editionsphilologische Erstdruck dieses Textes von Goethe einer Übersetzung von Heinrich Leopold Wagner beigefügt war, die den folgenden Titel trägt: Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen [LouisSébastian Mercier, Du theatre ou novel essai sur l’art dramatique 1773, 1775 von Heinrich Leopold Wagner verdeutscht]. Mit einem Anhang aus Goethes Brieftasche. Leipzig 1776.66 Mercier entwirft in dieser Schrift »eine Kritik der klassizistischen französischen Dramatik und ein Plädoyer für lebendiges Theater, das die zeitgenössische Wirklichkeit widerspiegelt«.67 Nach Friedmar Apel schärfte Goethe mithilfe dieser Schrift seine eigene Auffassung des Dramas und »seine Entgegensetzung von äußeren Regeln und innerer Form«.68 Götz weist daraufhin, dass Jacobi diesen Text Goethes im August 1775 tatsächlich als Handschrift erhalten hat und ihm diese Zeilen demnach zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Allwill-Fassung von 1775 nur als Handschrift vorgelegen haben können.69 Apel datiert in seinem Kommentar dieser Schrift in der Frankfurter Werkausgabe Goethes die Entstehung genau auf den 13.07.1775.70 An dem Tag hat Goethe das Straßburger Münster besucht.71 Die Annahme von Götz, dass Jacobi eine handschriftliche Abschrift dieses Textes brieflich erhalten hat, ist sehr wahrscheinlich. Es ist die Eigenart Jacobis, Zitate aus anderen Schriften aus ihrem Kontext zu ziehen und im Sinne seiner Programmatik als Motto zu funktionalisieren. Um dies für die Frühfassung nachzuzeichnen, ist es wichtig, diesen eher unbekannten Text Goethes, aus dem Jacobi zitiert, näher zu betrachten. Der Text beginnt damit, dass Goethe seine Sympathie mit Merciers Dramentheorie ausspricht: Es ist endlich einmal Zeit, daß man aufgehöret hat, über die Form dramatischer Stücke zu reden, über ihre Länge und Kürze, ihre Einheiten, ihren Anfang, ihr Mittel und Ende, 64 65 66 67 68 69 70

71

JWA 6,1, S. 3. Vgl. Ebd. Vgl. JWA 6,2, S. 343. Vgl. dazu auch: Johann Wolfgang Goethe: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. Von Friedmar Apel. Frankfurt a.M. 1998, S. 1125–1129, hier S. 1225. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., hier S. 1128. Apel datiert zuvor die Entstehung auf den 13.06.1775, was aber mit seinen Ausführungen zu den Reisedaten Goethes unverträglich ist. Es muss aufgrund der Reisedaten Goethes, die Apel selbst anhand eines Briefes von Jakob Michael Reinhold Lenz an Caroline Herder rekonstruiert, die Entstehung am 13.07.1775 angenommen werden, weil Goethe an diesem Tag auf dem Straßburger Münster war und Lenz traf. Vgl. Ebd.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

und wie das Zeug alle hieß. Auch geht unser Verfasser [Mercier] ziemlich stracks auf den Inhalt los, der sich sonst so von selbst zu geben scheint.72 Apel verweist in seinem Kommentar dieser Schrift darauf, dass es die Dramentheorie Merciers ist, die Goethe den Kontrast zwischen »äußeren Regeln und innerer Form« näher konturieren lässt. Goethes einleitende Sätze dieser Schrift entwickeln eine Konzeption einer inneren Form, die als ein Element einer Dramentheorie betrachtet werden muss. Deswegen gibts doch eine Form, die sich von jener unterscheidet, wie der innere Sinn vom äußern, die nicht mit Händen gegriffen, die gefühlt sein will. Unser Kopf muß übersehen, was ein andrer Kopf fassen kann, unser Herz muß empfinden, was ein andres füllen mag. […] Freilich wenn mehrere das Gefühl dieser innern Form hätten, die alle Formen in sich begreift, würden wir weniger verschobne Geburten des Geistes anekeln. Man würde sich nicht einfallen lassen, jede tragische Begebenheit zum Drama zu strecken, nicht jeden Roman zum Schauspiel zerstückeln! […] Jede Form, auch die gefühlteste, hat etwas Unwahres, allein sie ist ein für allemal das Glas, wodurch wir die heiligen Strahlen der verbreiteten Natur an das Herz der Menschen zum Feuerblick sammeln.73 In dieser Einleitungspassage von Goethes Schrift Anhang aus Goethes Brieftasche wird der Begriff der Form thematisiert. Es erscheint eine Sprechinstanz als Alter-Ego-Goethes, die dramentheoretische Überlegungen im Anschluss an Mercier vorstellt, die darauf hinauslaufen, dass die Kunst des Dramas nicht in der Befolgung und Nachahmung von dichterischen Regeln besteht, denn »ein verworrnes Stück« sei »im Grunde besser […] als ein kaltes«.74 Ein »kaltes« Stück ist jenes, das sich der dichterischen Gepflogenheit äußerer Regeln bedient und diese anwendet, dem jedoch der »innere Sinn« fehle.75 In diesen kurzen Passagen gibt die Sprechinstanz eine Theorie der Sturm-und-Drang-Dramen Goethes, bei dem die Rolle des künstlerischen Genies betont wird. Die Form eines Dramas wird sinnbildlich als »Glas« bezeichnet.76 Der Begriff der Form bezieht sich hier aber vor allem auf die beschriebene innere Form. Einem Drama eine solche Form zu geben ist anders als die Anwendung dichterischer Regeln nicht lernbar und selbst diejenigen Menschen, die diese Gabe in sich tragen, kämen allzu oft nicht dazu sie auszuführen: Aber das Glas! Wem’s nicht gegeben wird, wird’s nicht erjagen, es ist, wie der geheimnisvolle Stein der Alchimisten, Gefäß und Materie, Feuer und Kühlbad. So einfach, daß es vor allen Türen liegt, und so ein wunderbar Ding, daß just die Leute, die es besitzen, meist keinen Gebrauch davon machen können.77

72 73 74 75 76 77

Vgl. Ebd., S. 174–183, hier S. 174. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 175. Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

Nach der Einleitungspassage folgt der erste Abschnitt mit der Überschrift Nach Falkonet und über Falkonet. Apel verweist darauf, dass sich Goethe hier auf die Schrift Observations sur la statue de Marc Aurèle et sur d’autres objets relatifs aux Beaux-Arts, adressèes à Mr. Le Diderot von Etienne-Maurice Falconet bezieht, die 1771 in Amsterdam erschienen ist.78 Falconet kritisiert in dieser Schrift »die idealisierende Kunst der Griechen«.79 Es werde deutlich, dass das gemeinsame Element von Mercier und Falconet für Goethe die Kritik »der Vorbildlichkeit der antiken Kunst« sei.80 Statt der Orientierung an der Antike werde »die Natur als Gegenstand des künstlerischen Schaffens propagiert«.81 Der zweite Abschnitt trägt den Titel Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775. Die Gliederung dieses Abschnittes in die Passagen Vorbereitung, Gebet und Station entspricht nach Apel der Aufteilung sogenannter Wallfahrtsbüchlein, die Goethe im christlich religiösen Kontext kennengelernt hatte.82 Die Gliederung des Textes impliziert den religiösen Andachtscharakter dieses Abschnittes. Die beschriebene Wallfahrt zu dem Grabmal von Erwin von Steinbach, das mit dem Titel dieses Abschnitts im Straßburger Münster lokalisiert wird, richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Schöpfungskraft Steinbachs. Steinbach war im 13. und 14. Jahrhundert Baumeister und arbeitete an dem Straßburger Münster. Goethe behandelt Erwin von Steinbach ausführlicher in seiner bereits 1773 erschienenen Schrift Von deutscher Baukunst, in der er Steinbach als mittelalterlichen Baumeister und Genie hervorhebt, der mit dem Straßburger Münster eine exklusive Kunst geschaffen habe. Das Ziel der Wallfahrt ist das Straßburger Münster. Die geschilderte Andacht richtet sich aber keineswegs auf etwas Religiöses im christlichen Sinne, sondern bewundert in dem Straßburger Münster die Genialität Steinbachs. Der Baustil der Gotik bilde hier ein umfassendes Ganzes, da jedes einzelne Element sich in eine Komposition anordne, die als Ganzes betrachtet mehr als die Summe ihre einzelnen Bestandteile sei.83 Das Straßburger Münster ist für die Sprechinstanz der Wallfahrt »Denkmal des ewigen Lebens in dir über deinem Grabe, heiliger Erwin!«84 Das sprechende Ich gedenkt der Schöpfungskraft Steinbachs, die in dem Straßburger Münster etwas Ewiges geschaffen habe und so zeige, dass der Mensch im Inneren die Möglichkeit habe, selbst Schöpfer vom Bleibenden zu werden. Apel sieht diese Schrift daher als Anknüpfung an Goethes »Ästhetik des prometheischen Blicks«, die den Menschen als eigenen Schöpfer seiner Wirklichkeit versteht.85 Die Zeilen, die Jacobi in seinen Frühfassungen des Allwill als Motto voranstellt, stammen aus der Passage, die mit Vorbereitung überschrieben ist. Bei Jacobi werden diese Zeilen aus dem Kontext der Schöpfungskraft gerissen und die in diesen Zeilen angerufene »alles belebende Liebe« rekurriert auf das Innere des Menschen.86 Bei Goethe bezieht 78 79 80 81 82 83

84 85 86

Vgl. Ebd., S. 1125–1129, hier S. 1125f. Vgl. Ebd., S. 1125f. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 1126. Vgl. Ebd., S. 1128. Vgl. dazu: Goethes Schrift Von deutscher Baukunst und den Kommentar von Apel: Johann Wolfgang Goethe: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. Von Friedmar Apel. Frankfurt a.M. 1998, S. 110–118 sowie 1106–1111. Vgl. Ebd., S. 174–183, hier S. 180. Vgl. Ebd., S. 1125–1129, hier S. 1126. Vgl. JWA 6,1, S. 3.

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sich das Innere dezidiert auf die Schöpfungskraft des Genies, während es sich bei Jacobi auf ein geistiges Dasein im Menschen bezieht, das jedem gegeben ist. Im Gesamtzusammenhang der Frühfassung des Allwill von 1776 wird deutlich, dass dieses Motto vorgibt, dass weder die rationale Klarheit, die »viel Nebel« vertreibt, noch das Verbleiben im Nebel die Fassbarkeit der »alles belebende[n] Liebe« begünstigt.87 Mit diesem Motto deutet sich in den Frühfassungen eine kulturkritische Tendenz an, die dem Menschen erkenntnistheoretische Grenzen setzt. Diese Liebe ist weder durch die Vertreibung des Nebels zu erklären, noch ist sie durch den Nebel zu spüren. Sie ist etwas ganz Anderes, sie liegt zwischen Wissen und Unwissen und wird als Tatsache erfahrbar, aber kann nicht rational erläutert werden. Diese Liebe ist schlichtweg da und kann daher auch lediglich als existent erfasst werden. Sie nimmt eine besondere epistemologische Position ein, die im Zusammenhang von Jacobis Schriften mit dem Begriff des Glaubens beschrieben wird.88 Mit dem Motto wird auf den Glauben an eine Liebe angespielt, die dem Inneren des Menschen entspringt und das geistige Dasein des Menschen als Tatsache seiner Lebenswirklichkeit beweist. Es ist diese Liebe, die die Möglichkeit des Menschen beschreibt, sich aus dem eigenen Inneren heraus gegen das Sinnliche und Rationale zu stellen. Diese Liebe ist daher eine Gestalt des Geistes und autonom von jeglichen äußeren Umständen. Diese Lesart des Mottos passt im Gesamtkontext der Frühfassung vor allem zur Figur Sylli, da sie im Inneren eine Kraft zu leben und zu lieben aufweist, die sich über alle äußeren Umstände hinwegsetzt. Damit wird die Frage aufgerufen, wie ein Mensch sich aus einem Inneren heraus selbstverwirklichen kann. Bei Jacobis Allwill erscheint die Frage nach einer menschlichen Selbstverwirklichung aus dem Kunst-und Genie-Diskussionszusammenhang losgelöst und fragt danach, inwieweit der Mensch unter den Bedingungen einer Tag für Tag schmerzhaft empfundenen Lebenswirklichkeit eine Genügsamkeit im eigenen Inneren finden kann. Bezüglich der Voranstellung der thematisierten Zeilen aus der kleinen Schrift Goethes sind zwei weitere Aspekte zu besprechen. Die Einleitung der Schrift Anhang aus Goethes Brieftasche endet mit den folgenden Sätzen: Folgende Blätter streu ich ins Publikum mit der Hoffnung, daß sie die Menschen finden werden, denen sie Freude machen können. Sie enthalten Bemerkungen und Grillen des Augenblicks, meist über bildende Künste, und scheinen also hier am unrechten Platz hingeworfen. Sei’s also nur denen, die einen Sprung über die Gräben, wodurch Kunst von Kunst gesondert wird, als salto mortale nicht fürchten, und solchen, die mit freundlichen Herzen aufnehmen, was man ihnen in harmloser Zutraulichkeit hinreicht.89 Hier findet sich der Begriff des »salto mortale« im Verständnis eines Übersetzens zwischen verschiedenen Kunstformen. Bei Goethes Schrift kommt zum Ausdruck, dass der Grundsatz, »die Natur als Gegenstand des künstlerischen Schaffens« zu setzen, für al-

87 88 89

Vgl. Ebd. Vgl. dazu ausführlich Jacobis Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch aus dem Jahr 1787: JWA 2,1, S. 5–100. Johann Wolfgang Goethe: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. Von Friedmar Apel. Frankfurt a.M. 1998, S. 174–183, hier S. 175.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

le Kunstformen Gültigkeit habe.90 Die vorgestellten Überlegungen zur bildenden Kunst scheinen »hier am unrechten Platz hingeworfen«.91 Die Sprechinstanz macht allerdings klar, dass der Grundsatz der Dramentheorie von Mercier auch für andere Kunstformen wie der bildenden Kunst Gültigkeit hat. Der Kerngedanke, die Natur ins Zentrum künstlerischen Schaffens zu rücken, kann auf alle Formen von Kunst angewendet werden. Mit dem Begriff »salto mortale« wird dieser Brückenschlag über alle Kunstformen geschlagen und sich auf diese Weise in die zeitgenössische Diskussion um Gemeinsamkeiten und Differenzen verschiedener Kunstformen eingeschrieben.92 Mit der Ausdrucksweise »wodurch Kunst von Kunst gesondert wird« wird ein Verweis auf Lessings Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie aus dem Jahr 1766 eröffnet.93 Lessing konzentriert sich in dieser Schrift auf die Unterschiede zwischen bildender Kunst und Dichtung und hebt die Eigenarten der jeweiligen Kunstformen hervor. In dieser Schrift Goethes wird die Perspektive umgedreht und sich auf die Gemeinsamkeiten dieser Kunstformen konzentriert, die hier in der Zentrierung des künstlerischen Schaffens auf die Natur gesehen wird. Einerseits ist bemerkenswert, dass in diesem Text Goethes der Begriff des Salto mortale in der Semantik eines Übersetzens vorkommt, wie dies später in Jacobis Philosophie der Fall ist. Andererseits muss auch berücksichtigt werden, dass die Zeilen des Mottos aus einer kunsttheoretischen Schrift stammen, die sich von der Regelhaftigkeit der Kunst abgrenzt und die innere Sinnhaftigkeit der Kunst betont. Die literarische Form der Briefsammlung, die im Vorbericht der Frühfassung ausdrücklich als »kein Roman« bezeichnet wird, erscheint vor diesem Hintergrund als Versuch die mittlerweile etablierte und bekannte Gattung des Briefromans in seiner Form aufzubrechen.94 Mit dem Sammlungscharakter geht eine Betonung der Unvollständigkeit einher, die als eine Programmatik des Fragmentarischen erscheint, die einen literaturästhetischen Versuch darstellt, die Gattung des Briefromans aus ihrer Regelhaftigkeit einer aneinanderhängenden Reihe von Briefen zu ziehen. Bevor dieser Punkt mit der Besprechung des Vorberichts der Fassung von 1776 weiter ausgeführt wird, sei darauf hingewiesen, dass die Spätfassung des Allwill von 1792 mit einer ganzen Reihe von Zitaten eingeleitet wird. Auf dem Titelblatt findet sich das erste Mottozitat, das von Garat le jeune stammt. Es hat zum Thema, dass die Wahrheit den Menschen in dem Moment durchdringt, in dem man sie von sich stößt. Dieses Motto verweist hier auf eine sich selbst beweisende Wahrheit.95 Danach folgen ein Zitat aus Shakespeares Macbeth und eine deutsche Übersetzung dieser Zeilen. In diesen Zitaten wird ebenfalls etwas sich selbst Beweisendes thematisiert. Das Macbeth-Zitat thematisiert, dass auch wenn »all things foul would wear the brows of grace, yet grace must still look so«. Eschenburg übersetzt diese Zeilen wie folgt: Wenn auch alle bösen Dinge die Gestalt des Guten annähmen, so muß doch das Gute immer diese Gestalt behalten.96 90 91 92 93 94 95 96

Vgl. Ebd., S. 1125–1129, hier S. 1126. Vgl. Ebd., S. 174–183, hier S. 175. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 175 und 1127. Vgl. JWA 6,1, S. 3–7, hier S. 4. Vgl. zum Nachweis dieser Zeilen den Kommentar von Götz: JWA 6,2, S. 394f. Vgl. JWA 6,1, S. 84. Vgl. auch den Kommentar: JWA 6,2, S. 395.

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Dieses Zitat weist mit der sich wandelnden »Gestalt« von »bösen Dinge[n]« auf das moralische Verhalten von Allwill voraus, der glaubt mit seiner radikalen Betonung seines Herzens als Stimme der Natur eine besondere natürliche Sittlichkeit zu verwirklichen. Diese Selbsteinschätzung Allwills wird aber vor allem in der Spätfassung von anderen Figuren als affektgesteuertes Verhalten kenntlich gemacht, das moralisch verwerflich ist. Allwill ist demnach ein ungewollt böser Mensch, der den Anschein des Guten hat. Mit diesem Zitat wird auf die moralische Problematik vorausgewiesen, die mit der Titelfigur behandelt wird. Neben Mottozitaten findet sich vor der Vorrede eine Widmung An den Herrn Geheimenrath Schlosser in Carlsruhe.97 Jacobi widmet die Spätfassung des Allwill Johann Georg Schlosser, mit dessen Schriften Jacobi bestens vertraut ist.98 Schlosser hatte im Jahr 1788 seine Schrift Seuthes oder der Monarch. An Jacobi mit einer Widmung an ihn veröffentlicht. Schlosser betont in seiner Widmung, dass er mit keinem »Jugendfreunde […] die Freuden des Morgens meines Lebens so gerne getheilt, als ich mit Dir theile, jeden männlichen Gedanken meines Lebens«.99 Schlosser beschwört Jacobi als exklusiven Freund seiner Ideen, die er im weiteren Verlauf weiter ausführt. Jacobi habe »so innig gefühlt«, »daß das Recht der Menschheit, auf etwas ganz anderm ruhe als auf der Gewalt«.100 Die exklusive Freundschaft der beiden beruht laut diesem Widmungsschreiben auf gemeinsamen Überlegungen über den Menschen und sein aus seiner Beschaffenheit resultierenden Recht. Der anthropologische Diskussionszusammenhang nimmt in diesem Schreiben Schlossers konturenscharfe politische Züge an, indem »Gewalt« als Begründung für menschliche Rechte negiert wird.101 Dies ist zu berücksichtigen, wenn Jacobi im Gegenzug die Spätfassung seines Allwill von 1792 Schlosser widmet. In dieser Widmung wird das Thema des Rechts aufgegriffen: Es ist wider allen löblichen Gebrauch Jemanden [sic!] ein Buch hinter seinem Rücken zuzueignen. Da Du aber, als Freund, und fast in jeder andern Betrachtung, Dich ausser dem löblichen Gebrauche zu halten pflegst; ja dem Zeitalter hinter dem Rücken sogar Selbst geworden bist, was Du bist zu seinem Kreuze: So hättest Du allein deswegen schon die Pflicht auf Dir, meine Verwegenheit, als eine unschuldige Nachahmung hingehen zu lassen. Doch mir kommt ein besseres Recht zu Statten! Ein Recht, dem zwar ebenfalls, was nur mit laufender Sitte und ihren löblichen Gebrauch zusammenhängt, entgegen ist; das aber fest steht, als ein Götterrecht, zwischen Dir und mir.102 Betrachtet man die Widmung bereits als Bestandteil der narrativen Fiktion, dann erfüllt sie zunächst die Funktion einer Demonstration eines Freundschaftskultes, der darin liegt, die miteinander bestehende Beziehung als außerhalb der gesellschaftlichen Sozialität liegend zu beschreiben. Dies verweist darauf, dass auch der Allwill in der Spätfassung die empfindsame Tendenz einer geistigen Freundschaft aufgreift. Dabei ist beim Allwill wichtig, dass eine Vorstellung von Freundschaft, die auf geistiger Verbundenheit 97 98 99 100 101 102

Vgl. JWA 6,1, S. 85. Vgl. JWA 6,2, S. 395f. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. JWA 6,1, S. 85f, hier S. 86.

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basiert, bereits vor der Briefsammlung thematisiert wird. Dies ist ein hervorzuhebender Punkt, da so die Widmung als eine Authentifizierung einer innerlichen Freundschaft erscheint. Die Sprechinstanz der Widmung ist als narratives Alter-Ego Jacobis zu verstehen und erscheint in der Vorrede als herausgebendes Ich. Wenn es in der Vorrede heißt, dass die Briefsammlung gleichermaßen Erklärliches und Unerklärliches des menschlichen Daseins darstellen soll, dann erscheint dieses Ich bereits als eine Instanz, die beides im Leben bereits selbst erlebt hat, denn die innerliche Freundschaft zu Schlosser, die in der Widmung beschworen wird, gehört zu den Unerklärlichkeiten des Menschen. Die Widmung ist als ein authentifizierendes und Relevanz anzeigendes Element der interdisziplinären Forschungsprogrammatik zu betrachten. Daneben wird in der Widmung das angesprochene Du als exklusiver Mensch herausgestellt, denn »als Freund, und in fast jeder andern Betrachtung« liegt es »ausser dem löblichen Gebrauche«. Es liegt außerhalb seiner Zeit und da dies der Fall ist, sei es laut der Sprechinstanz bloße »Verwegenheit«, dass dieses »Buch« dem angesprochenen Du »hinter seinem Rücken« gewidmet werde. Das sprechende Ich führt aufgrund der innerlichen Freundschaft mit dem angesprochenen Du »ein besseres Recht« an, dass nur zwischen den beiden besteht und ganz außerhalb der bestehenden Sitte liegt: »Ein Recht, dem zwar ebenfalls, was nur mit laufender Sitte und ihren löblichen Gebräuchen zusammenhängt«, entgegen ist, aber fest steht als ein Götterrecht, zwischen Dir und mir.« Das sprechende Ich wendet sich hier radikal von der bestehenden Sittlichkeit ab, um eine intime Zwischenmenschlichkeit zu entwerfen, die sich von gesellschaftlich vorgegebenen Verhaltensweisen abwendet. Sittliche Gepflogenheiten haben in diesem zwischenmenschlichen Verhältnis keine Bedeutung mehr, sie sind funktionslos geworden. Vielmehr betont die Sprechinstanz ein »Götterrecht« in dieser sozialen Beziehung und führt ein Zitat der Antigone-Übersetzung von Christian Graf zu Stollberg an: Von heut und gestern ists nicht; ewig ist Sein Leben, und sein Ursprung ist verhüllt.103 Götz weist in ihrem Kommentar nach, dass diese Stelle aus Stolbergs Antigone-Übersetzung »[d]as ungeschrieb’ne, feste, Götterrecht« thematisiert, dass ein Mensch ein Bewusstsein darüber hat, was es bedeutet, Mensch zu sein.104 Dieses Bewusstsein ist eine Bedingung des Menschseins und ein Wert, der in seiner Beschaffenheit verankert ist. Setzt man diese Lesart der Antigone-Übersetzung voraus, dann erfüllt dieses Zitat hier die Funktion, die Frage nach den Bedingungen des Menschseins zu stellen, die in dieser Widmung auf die persönliche Beziehung des sprechenden Ichs und des angesprochenen Du bezogen ist. Es ist nämlich das »Götterrecht« der beiden, als exklusive Freunde in ihrem Umgang zueinander unverstellt so sein zu können, wie sie wirklich sind. Dies schließt mit ein, sich dem Anderen gegenüber innerlich zu öffnen und dem Freund zu zeigen, was man für ein ganzer Mensch ist. Die Sprechinstanz inszeniert mit der Widmung die folgende Briefsammlung als eine innerliche Öffnung gegenüber dem Freund,

103 Vgl. Ebd. 104 Vgl. JWA 6,2, S. 396.

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denn mit der Übergabe dieses Werks legt sie ihre »ganze Seele« in die »Hände« des Freundes und legt ihr »ganzes Herz in seinen »Busen«.105 Die Widmung konturiert das herausgebende Ich als lebenserfahrene Person und personalisiert zugleich die Briefsammlung als eine Selbstoffenbarung, an welcher der angesprochene Freund durch die Widmung partizipiert. Danach folgt die Vorrede, doch bevor die Briefsammlung beginnt, sind drei weitere Mottozitate angeführt. Auf einer separaten Seite steht ein vermeintliches Zitat aus Kants Kritik der Urteilskraft: Die Natur in ihren schönen Formen spricht figürlich zu uns, und die Auslegungsgabe ihrer Chiffernschrift ist uns im moralischen Gefühl verliehen. – – Schon der bloße Reiz in Farben und Tönen nimmt gleichsam eine Sprache an, die einen höhern Sinn zu enthalten scheint und die Natur näher zu uns führt.106 Es handelt sich Götz zufolge um »eine Zusammenfassung und Auslegung« der von Jacobi angegebenen Seiten.107 Nach Werner Euler ist dieses Zitat »stark verkürzt und sinnentstellend paraphrasiert«.108 Euler sieht »[d]ie entsprechenden Textanbindungen« bei »Kants Theorie des Naturschönen innerhalb der Kritik der ästhetischen Urteilskraft«.109 Die angeführten und Kant zugeschriebenen Zeilen thematisieren die Verbindung von Moral und Ästhetik. Das verstellte Kant-Zitat verweise auf die Kritik der Urteilskraft, »dort, wo ein Brückenschlag zwischen dem ästhetischen und dem moralischen Gefühl versucht wird«.110 Euler hebt hervor, dass Jacobi sich auf die Stelle in der Kritik der Urteilskraft bezieht, an der das ästhetische und das moralische Gefühl analogisiert werde.111 Dass die Sprache der Natur in dem zitierten Paragraphen fast zur Sprache der Moral wird – dieses im Übrigen stoische Motiv dürfte Jacobi mit großem Behagen aufgenommen haben. Was Kant auseinanderhalten wollte, aber in der philosophischen Durchführung vielleicht nicht konsequent genug trennte, scheint Jacobi als willkommenen Anlass zu nehmen, Moral und Ästhetik miteinander zu vermengen. Bei Jacobi finden wir nämlich nicht die Spur einer Kritik, die doch angebracht gewesen wäre angesichts der in der Kritik der Urteilskraft von Anfang an grundlegenden und auch bewiesenen Behauptung, das Geschmacksurteil als solches sei »ohne alles Interesse«. […] Obwohl im Allwill-Roman (wie in Jacobis Philosophie) gegen rationale Grundsätze von Moralität gestritten wird, ist doch Jacobis Inanspruchnahme des obenstehenden Kant-Zitates als Motto der Briefsammlung dadurch motiviert, die schöne Natur von vornherein als Vermittlerin moralischer Gefühle auszuwählen, die sich nicht in Begriffen oder Buchstaben, sondern in nur sinnbildlich wahrnehmbaren und reflektierbaren Zeichen

105 106 107 108

Vgl. JWA 6,1, S. 85f, hier S. 86. Vgl. Ebd., hier S. 93. Vgl. JWA 6,2, S. 398ff, hier S. 398. Vgl. Werner Euler: Friedrich Heinrich Jacobis philosophische Briefsammlung. In: Gideon Stiening/ Robert Vellusig (Hg.): Poetik des Briefromans. Wissens-und mediengeschichtliche Studien. Berlin 2012, S. 181–218, hier S. 198. 109 Vgl. Ebd., hier S. 199. 110 Vgl. Ebd. 111 Vgl. Ebd.

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ausdrücken lassen. Umgekehrt ist die moralische Gesinnung des Betrachters der in der erwähnten »Handschrift« geforderte »Schlüssel« zur Entzifferung der Natur.112 Euler bespricht dieses Zitat Kants aus dem Diskussionszusammenhang der Moral kommend, da er zuvor die Beziehung zwischen Allwill und Cläre thematisiert.113 Perspektiviert man dieses Zitat jedoch auf den Diskussionszusammenhang des Naturerlebens, dann muss die Denkrichtung umgekehrt werden. Das Kant-Zitat hat, wie Euler andeutet, die Funktion eine Parallele zwischen Moralität und Genuss am Naturerleben zu ziehen. In den Briefen der Sammlung werden Darstellungen von Naturerlebnissen vor allem als Ausdrucksmöglichkeit des eigenen Inneren verwendet. Naturerleben ist aus diesem Grund immer auch ein Erleben des eigenen Inneren. Die Natur ist Chiffre eines inneren Daseins, das als autonom von äußeren Bedingungen konturiert wird. Diesbezüglich ist zu verdeutlichen, dass das Erleben von naturalen Eindrücken eine Innerlichkeitserfahrung darstellt. Es ist zwingend notwendig, dass berücksichtigt wird, dass dieses Zitat einem Erzählwerk vorangestellt ist, das eine Briefsammlung darstellt. Die Thematisierung von Natur geschieht hier ausschließlich in der Form von subjektiven Beschreibungen von Naturerlebnissen. Dies ist exemplarisch am Beginn der Sammlung mit dem zweiten Brief der Fall und auch Clerdons Brief vom 8. März schildert zunächst ein Naturerleben.114 Diesen beiden Briefen ist gemeinsam, dass dem Naturerleben eine innerliche Erweckung vorausgeht und die Natur zur Projektionsfläche des im Inneren Erlebten wird. Es ist nicht die Natur allein, die zu uns »in ihren schönen Formen spricht«, sondern erst im Medium des menschlichen Subjekts erscheint die Figur in diesen »Formen«.115 Erscheint sie in »schönen Formen«, dann scheint bereits »der bloße Reiz in Farben und Tönen […] einen höhern Sinn zu enthalten«.116 Innerhalb der Briefsammlung kommen Schilderungen von Natureindrücken ausschließlich vermittelt durch das Medium des Briefes vor. Der Brief fungiert in diesem Kontext als ein subjektbetonendes Kommunikationsmedium. Das, was die Natur auszeichnet, ist nicht sinnliche Schönheit, sondern vielmehr die Innerlichkeit des Subjekts, die in Naturdarstellungen mitgeteilt wird, da sie als solche inkommunikabel ist. Chiffriert in der Darstellung von Naturerlebnissen finden die Figuren Wege die Inkommunikabilität der eigenen Innerlichkeitserfahrung ansatzweise dem vertrauten Du zu vermitteln. Der »höhere[] Sinn« der Natur ist das Innere des Menschen und nicht die Natur als kausalmechanischer Zusammenhang.117 Aus diesem Grund ist die Verbindungslinie zwischen ästhetischem und moralischem Gefühl bei Jacobi darin begründet, dass beides dem Inneren des Menschen entspringt und Ausdrucksformen dieses Innenlebens ist.

112 113 114 115 116 117

Ebd., hier S. 199f. Vgl. Ebd., hier S. 196f. Vgl. JWA 6,1, S. 99f und 108–113, hier 108f. Vgl. Ebd., S. 93. Vgl. auch: Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 398–406, hier S. 405. Vgl. JWA 6,1, S. 93. Vgl. für die Betrachtungsweise der Natur als kausalmechanischen Zusammenhang: Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 367–397.

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Anders als Euler postuliert, ist in der Briefsammlung auch eine Positionierung enthalten, inwieweit ästhetische Geschmacksurteile interessenlos seien. Bei Sylli und Clerdon wird deutlich, dass sie die Natur aufsuchen, weil sie durch ihre innerliche Erweckung eine Vitalität in sich fühlen, die sie dazu bringt, sich zu bewegen und Eindrücke zu erfahren. Die Natur bietet für dieses Bedürfnis einen Erlebnisraum, der zugleich als Projektionsfläche des Erweckten fungiert. Syllis und Clerdons Blick in die Natur ist interessenlos, da für sie nicht die Natur als physisches Dasein im Vordergrund steht, sondern ihre Wahrnehmung. Ihr Interesse richtet sich auf sich selbst und nicht auf die Natur. Das ästhetische Geschmacksurteil erscheint zunehmend unabhängig von den tatsächlich äußeren Wahrnehmungen. Dies zeigt sich bei dem zweiten Brief der Sammlung Sylli an Clerdon am 7. März deutlich. Sie erlebt den Blick den Kutschweg entlang als sentimentale Szene, obwohl »eine unabsehbare Fläche« zu erblicken ist.118 Diese Fläche rückt in ihrer sinnlichen Wahrnehmung in den Hintergrund und wird als Unendlichkeitselement Ausdruck der erfahrenen Innerlichkeit. Die selbst verspürte Unendlichkeit des eigenen Inneren wird auf die Natur übertragen, um dieses Innere zu versprachlichen. Die Töne einer »Flöte« und »Harfe«, die Sylli dann hört, stellen womöglich gar keine realen akustischen Wahrnehmungen mehr da, sondern dienen dazu, die Naturbeschreibung vollständig zur Artikulation des inneren Ichs zu nutzen, die von einer erfahrenen Sinnlichkeit abstrahiert.119 Die empfindsam-idyllischen Szenen sind ein Erzählverfahren von Innerlichkeit und stehen in der Funktion, den Freund ins Innere blicken zu lassen. Dies wird mit der empfindsam-idyllischen Szene, die Allwill an Cläre in seinem Brief von 30. März sendet, kontrastiert.120 In seiner empfindsam-idyllischen Szene wird von vornherein klar, dass dieser Brief einen Zweck verfolgt und sich die Schilderung der Natureindrücke diesem Interesse unterordnet. Dieses Interesse zeigt sich von Beginn an und ist darauf aus, bei dem angesprochenen Du, das ist die Figur Cläre, innere Regungen der Verliebtheit zu wecken. Erquickendes Grün, die lieblichste Farbe im schönsten Wechsel, tanzend und spielend mit dem Lichte, – das ist es – Ja das, und weiter nichts, was deinen Blick an diese leisewehende Lindenkrone heftet; was mit sanftem Entzücken deinen Busen füllt; in dir alle Regungen der Liebe weckt, und dich begeistert!121 Die Zweckmäßigkeit dieser empfindsam-idyllischen Szene zeigt sich in der Betonung der Sinnlichkeit des Naturerlebens, die als das Besondere dieses Erlebnisses starkgemacht wird. Bei Allwill ist die empfindsam-idyllische Szene ebenfalls ein Erzählverfahren von Innerlichkeit. Das Innere Allwills ist jedoch anders beschaffen als bei Sylli und Clerdon. Während bei Sylli und Clerdon das Innere durch Begierdenlosigkeit und Selbstgenügsamkeit geprägt ist, die nur durch die Sehnsucht beieinander zu sein gestört wird, steht bei Allwill das Verlangen im Fokus, Cläre von der Aufrichtigkeit seiner Gefühle für sie zu überzeugen. Allwill erfasst nicht, dass seine Verabsolutierung des Herzens sein

118 119 120 121

Vgl. JWA 6,1, S. 99f, hier S. 100. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 171–176, hier S. 176. Ebd.

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Verhalten affektanfällig macht. Die Hervorhebung der Sinnlichkeit dieser empfindsamidyllischen Szene steht hier für den Versuch Allwills, sich Cläre anzunähern. Mit Allwills empfindsam-idyllischer Szene wird durchaus auf einen Zusammenhang zwischen ästhetischem und moralischem Gefühl hingewiesen, denn von der ästhetischen Empfindungsfähigkeit wird hier auf die moralische Beschaffenheit des Ichs geschlossen. Das Naturerleben erscheint ihm als geeignete Möglichkeit, die vermeintliche Aufrichtigkeit seiner inneren Regungen für Cläre zu beweisen. Ästhetisches und moralisches Gefühl gehen je nach der Beschaffenheit des Ichs konform oder müssen getrennt werden. Sylli und Clerdon stellen Figuren dar, bei denen sich das ästhetische aus dem moralischen Gefühl erschließt und andersherum. Allwill hingegen stellt eine Figur dar, bei der das ästhetische von dem moralischen Gefühl deutlich zu trennen ist. Es zeichnet sich ab, dass die vielen Zitate, die als Mottosprüche dienen, erst im Gesamtzusammenhang des Werkes ihre Bedeutung offenbaren. Nach dem paraphrasierenden Kant-Zitat folgen noch zwei weitere Zitate. Aus Goethes Torquato Tasso aus dem Jahr 1790 zitiert Jacobi aus der ersten Szene des zweiten Aktes die folgenden Verse: Das Urbild jeder Tugend, jeder Schöne; Was ich nach ihm gebildet, das wird bleiben! Es sind nicht Schatten, die der Wahn erzeugte, Ich weiß es, sie sind ewig, denn sie sind.122 Mit diesem Zitat wird die Frage nach dem »Urbild jeder Tugend« gestellt, die im Erzählwerk in verschiedenen Briefen thematisiert wird. In Goethes Torquato Tasso kommen diese Zeilen in einem Gespräch zwischen der Prinzessin und Tasso vor und sind in ein Gespräch über das künstlerische Schaffen Tassos eingebettet. Jacobi gibt auch dieses Zitat nicht textgetreu wieder, da er drei Verse weglässt, die im Zitat zwischen dem zweiten und dritten Vers fehlen.123 Goethes Torquato Tasso ist ein klassisch strukturiertes fünfaktiges Drama, das mit dem gleichnamigen Protagonisten Tasso künstlerische Geniehaftigkeit problematisiert. Goethe bezieht sich mit dem Namen auf den italienischen Dichter Torquato Tasso des 16. Jahrhunderts und stellt den Protagonisten in Bezug zu dieser historischen Person, auch was den Ort des Schauplatzes, den Hof Ferrara, angeht. Mit dem Protagonisten Tasso wird unter anderem thematisiert, dass sein künstlerisches Genie für ihn selbst als Mensch nicht immer von Vorteil ist, da er auf sein Talent reduziert wird. Er wird in gewisser Weise instrumentalisiert, da er als Hofdichter und Künstler eine Funktion für den Herzog von Ferrara einnimmt, allerdings bleiben alle seine Wünsche auf der Strecke, die sich nicht auf sein Talent beziehen. Ihm wird keine innerliche Sphäre zuerkannt und er wird vom Hof nicht als ganzer Mensch anerkannt. Der Hof instrumentalisiert sein Genie für seine Zwecke. So muss Tasso im Verlauf des Dramas zunehmend einsehen, dass er am Hof keine wirklichen Freunde hat und auch keine zwischengeschlechtliche Liebe findet. Der Figur des Staatssekretärs kommt

122 123

Ebd., S. 94. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Dramen 1776–1790. Hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt a.M., S. 731–834, hier S. 764.

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in diesem Drama eine besondere Rolle zu, da er dem künstlerischen Genie Tassos skeptisch gegenübersteht. Diese Skepsis ist es, die Antonio im Kontrast zu anderen Figuren dazu bringt, Tasso als ganzen Menschen zu betrachten und nicht bloß als genialischen Dichter. Dieser Blick Antonios auf Tasso führt dazu, dass sich das Verhältnis dieser beiden Figuren intensiviert und Antonio vom Kritiker Tassos zu seinem Freund wird. In diesem Sinne ist auch das Ende zu verstehen, wenn Tasso zu dem Staatssekretär Antonio sagt, dass er der »Felsen« sei, »an dem er scheitern sollte«, der ihm jetzt aber Halt gebe.124 Die Mottozitate der Allwill-Fassung von 1792 müssen vor dem Hintergrund der interdisziplinären Forschungsprogrammatik, den Menschen ganzheitlich und wirklichkeitsgetreu darzustellen, verstanden werden. Das heißt, sie sind in einen anthropologischen Diskussionszusammenhang eingebettet. Das Tasso-Zitat ist in diesem Kontext als die Frage nach der Beschaffenheit des Menschen zu verstehen, denn das »Urbild der Tugend« muss in jedem einzelnen Menschen vorhanden sein.125 Die Frage bleibt aber, was es ist und wie es sich im wirklichen Leben des Menschen als existent beweist. In diesem anthropologischen Diskussionszusammenhang muss auch das letzte Zitat vor der Einleitung betrachtet werden. Es stammt aus einer Schrift Platons. Götz weist nach, dass Jacobi sich auf die Werkausgabe Platons von Friedrich Christian von Exter und Johann Valentin Embser stützt.126 Dem Allwill sind am Ende Übersetzungen der griechischen Passagen angehängt. Der Kommentar lässt offen, ob diese Übersetzung von Jacobi selbst stammt, die von Jacobi verwendete Werkausgabe Platons enthält allerdings lediglich »den griechischen Text« und »die lateinische Übersetzung sowie den lateinischen Kommentar«.127 Das zitierte Platon-Zitat lautet in der beigefügten deutschen Übersetzung: Was Olympos spielte, nenne ich Stücke des Marsyas; denn dieser war sein Lehrer. Daher jenes Stücke ein guter Flötenspieler oder eine schlechte Flötenspielerinn spielen mag; weil sie göttlich sind, so setzen sie für sich allein in Begeisterung und offenbaren, wem Götter und Religion Bedürfniß sind.128 Diese Platon-und Tasso-Zitate stehen auf einer Seite. Beide kreisen um die Rolle von Kunst und müssen bei Jacobi als Frage nach der Beschaffenheit des Menschen betrachtet werden. Das Zitat von Platon erweitert das vorherige Zitat um eine kritische Nuance, denn Dichtung und Kunst allgemein kann das »Urbild der Tugend« ans Licht der Wirklichkeit bringen, doch ist dieses besondere Innere nicht exklusiv an den Dichter und Künstler gebunden, sondern lediglich die Artikulationsmöglichkeit.129 Auf diese Weise wird eine Distanz zu einer exklusiven Sakralisierung des Genies geschaffen, was sich innerhalb der Erzählwerke auch wiederfindet. Allwill sieht sich selbst als Genie und als besonderen Menschen an, aber weil er sich selbst als exklusiv setzt, ist sein Verhalten moralisch fragwürdig. Psychologisch konturierter als im Allwill entwirft Jacobi diesen 124 125 126 127 128 129

Vgl. Ebd., S. 833f. Vgl. JWA 6,1, S. 94. Vgl. JWA 6, 2, S. 400. Vgl. Ebd. Vgl. JWA 6,1, S. 244. Vgl. Ebd.

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Konflikt in der Spätfassung des Woldemar. Dabei haben diese Zitate die Funktion einer Rezeptionslenkung, was mit dem Ende der Vorrede auch direkt vorgegeben wird. Dort wird, wie Götz nachweist, aus Friedrich von Logaus Sinngedichte zitiert: Leser, wie gefall ich Dir? Leser, wie gefällst Du mir?130 Diese Funktion von intertextuellen Bezügen wird auch in der Positionierung der Zitate deutlich, denn es finden sich neben dem Beginn des Erzählwerks auch diverse Zitate am Ende des Werks. Am Ende der Briefsammlung nach dem Brief Luzies an Allwill sind zwei Zitate aufgeführt, die die Rezeption dieser Briefe und vor allem das Ende mit der moralischen Kritik Luzies an Allwill lenken sollen. Es handelt sich hier um ein im Französischen stehendes Plutarch-Zitat und erneut ein griechisches Platon-Zitat, für welches die folgende Übersetzung beigefügt ist: Gott läßt sich nicht (unmittelbar) mit dem Menschen ein, sondern nur durch Vermittelung des Dämons haben Götter mit Menschen Umgang und Unterredung.131 Dieses Zitat betont erneut, dass Jacobi mit seinem Allwill und seiner interdisziplinären Forschungsprogrammatik die Frage nach der Beschaffenheit des Menschen in den Vordergrund rückt und so seine Erzählwerke als anthropologische Romane und eine besondere Form der literarischen Anthropologie erscheinen. Es gibt zwischen dem Menschen und Gott eine Vermittlung. Diese ist aber Fluch und Segen zugleich. Im Kontext der gesamten Briefsammlung wird deutlich, dass damit das Herz des Menschen als Symbol für das affektive und emotionale Zentrum des Menschen gemeint ist. Das Herz des Menschen zeichnet ihn in besonderer Weise als emotionales, fühlendes und empfindendes Wesen aus. Das individuelle Herz ist es, was den Menschen zu demjenigen macht, der er ist. Doch ist das Herz nicht allein das Besondere des Menschen, denn es benötigt einen Gegenspieler, der es in seine Schranken weist. Dies ist der Kopf als Symbol für den Verstand und sein Instrument ist die Vernunft. Der Mensch ist auf beides angewiesen, denn in dem Antagonismus zwischen Herz und Kopf liegt die Bedingung des Menschseins. Der Mensch muss Herz und Kopf in ein gegenspielerisches Verhältnis bringen, da er, um in einen Mittelzustand zu gelangen, weder zu sehr das Herz noch den Kopf verabsolutieren darf. So Beginnt die Zugabe. An Erhard O** mit einem Cicero-Zitat, was die Frage nach der Bedeutung von Rationalität für das Denken und Handeln des Menschen aufwirft. Die zahlreichen Zitate der Spätfassung des Allwill stehen in der Funktion die anthropologische Fokussierung zu verdeutlichen und mit Autoritäten zu untermauern. Diese anthropologische Fokussierung findet sich bereits in den Frühfassungen des Allwill. In der Frühfassung des Allwill betont Jacobi eine Programmatik des Unvollständigen und Fragmentarischen. Im Folgenden stehen Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei

130 Vgl. Ebd., hier S. 92. 131 Vgl. Ebd., hier S. 244.

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dem Vorbericht der Frühfassung und der Vorrede der Spätfassung im Vordergrund, daher wird hier erneut der Vorbericht der Fassung von 1775 zitiert.132 Die Stücke, die ich Ihnen heute liefere, sind aus der Mitte eines Heftes genommen, ob aus dem zehnten oder dem ersten? Weiß ich wieder nicht. Wollen sie dieselben drucken lassen, so müssen Sie Ihren Leserinnen nur schlechtweg sagen: Da wären einige Briefe; ob sie beliebten?133 Die Sprechinstanz dieses Vorberichts entwirft die Briefe als »aus der Mitte eines Heftes genommen«, das sinnbildlich für das direkte Herausgreifen dieser Briefe aus einer tatsächlichen Lebenswirklichkeit des Menschen steht. Gleichzeitig drückt sich darin eine bewusste Unvolllständigkeit aus, denn es liegen nur »einige Briefe« vor. Diese Briefe lassen »keine[] Muthmassungen über das System oder die Natur des Ganzen« zu. Sie stehen vielmehr für sich allein. Gerade die Frühfassungen konzentrieren sich programmatisch darauf, eine besondere Empfindungsfähigkeit des Menschen darzustellen. Aus diesem Grund wird das angesprochene Lesepublikum exklusiviert, denn wer mit diesen Briefen mitempfinden kann, weist ebenfalls diese besondere Empfindungsfähigkeit auf. Die Sprechinstanz macht aber deutlich, dass dies nur die wenigsten Personen können. Ich weiß, die mehrsten antworten: nein, wenigstens bey diesen ersteren, weil schon ein ziemlich hoher Grad von Empfindung, und die Erfahrung ähnlicher Schicksale dazu gehört, um in den Sinn einer Sylli ganz überzugehen.134 Diese Exklusivität ist zugleich die Begründung für die Sprechinstanz, diese Briefe dem angesprochenen Ich zur Veröffentlichung zuzusenden. In diesen Briefen von Sylli zeigt sich eine besondere Empfindungsfähigkeit, die Aufschluss über die menschliche Beschaffenheit gibt. Neben dem »hohe[n] Grad von Empfindung« wird »die Erfahrung ähnlicher Schicksale« als Voraussetzung für das Mitempfinden mit Sylli genannt.135 Damit wird programmatisch implizit vorgegeben, dass das Darzustellende der ganze Mensch Sylli ist. Ihre Innerlichkeit, die sich in ihrem spezifischen Empfinden zeigt, und ihre Erfahrungen und Erlebnisse, die sie in ihrem Leben gemacht hat, stehen im Vordergrund. Diese Briefe konturieren die Figur Sylli als ganzen Menschen. Damit liegt der Fokus ausdrücklich nicht auf der Darstellung einer aneinanderhängenden Reihe von Geschehnissen. Dies leitet direkt zur dem Vorbericht der Fassung von 1776 über. Denn diese implizite Programmatik des Unvollständigen und Fragmentarischen, die die direkte Bezugnahme auf die erfahrbare Wirklichkeit des Menschen abbildet, wird dort weiter ausgebaut. Sein [gemeint ist hier der Besitzer der Briefe; F.K.] Vorhaben ist gewesen, aus diesen Materialien einen Roman zu bilden; da dieses aber, leider! Nicht in Erfüllung gegangen; so folgt, daß Allwills Papiere, in ihrem gegenwärtigen Zustande, kein Roman sind. 132 133 134 135

Vgl. für die Thematisierung von diesem Vorbericht auch das Kapitel 4.1 dieser Studie. Ebd., S. 3. Ebd. Vgl. Ebd., S. 4.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

Ich zweifle sogar, ob sie nur tauglichen Stoff dazu an die Hand gäben. Die vorkommende[n] Begebenheiten sind nicht merkwürdiger, als man sie alle Tage überall sehen wird, wo nur eben solche Leute in ähnlicher Verbindung angetroffen werden, um sie hervorzubringen. In der That sind hier die Menschen fast das einzige Interessante: wer sich mit diesen nicht befreunden; wer überhaupt durch das Leben, so wie es sich gewöhnlich in unsrer Werktags-Welt ergiebt, ohne herzliche Theilnehmung an allem durchschleichen kann, der muß viele Briefe dieser Sammlung äußerst schaal und langweilig finden.136 Diese Papiere bilden keinen Roman, da sie kaum zusammenhängende Geschehnisse darstellen, sondern Menschen in ihrer Ganzheitlichkeit abbilden. Die literarische Gattung des Briefromans erscheint hier als prädestinierte Darstellungsform für literarische Anthropologie. Dies ist darin begründet, dass der Briefroman unter dem Vorzeichen empfindsamer Tendenzen im Kontext des Formprinzips der Unabsichtlichkeit betrachtet werden muss. Das heißt, dass die Briefe der Sammlung einst als Briefe einer intimen Privatkorrespondenz erscheinen, denen mit der Veröffentlichung neben dieser primären eine sekundäre Verwendungsweise zugeschrieben wird. Ein Briefroman stellt daher im empfindsamen Verständnis das menschliche Leben unverblümt und authentisch dar. Das heißt hier so, wie es tatsächlich ist. Im Vorbericht der Allwill-Fassung von 1776 wird dieses Verständnis des Briefromans aufgegriffen und akzentuiert. Die Sprechinstanz grenzt sich von Briefromanen ab, die augenscheinlich fingiert sind, da die dortigen Figuren »blos andern zum Exempel« dienen.137 Solche Briefromane müssen artifiziell sein, da sie Figuren aufweisen, die auf eine Art empfinden und sich auf eine Weise verhalten, wie dies in der Wirklichkeit nicht geschehen würde. Mit den philosophischen und moralischen Fähigkeiten dieser Briefe, sieht es insoferne mißlich aus, daß ihre Verfasser anstatt des ganzen Menschengeschlechts immer nur eine einzelne Person im Auge – und mehrentheils andre zu dringende Geschäfte vor der Hand haben, um nicht die Angelegenheiten des großen Alls, und wohl gar ihre eigene gegenseitige Belehrung darüber zu versäumen.138 Die Sprechinstanz des Vorberichts greift das empfindsame Verständnis des Briefromans auf und stellt die Diagnose, dass viele Briefromane sich nur den Anschein geben, wirklich aus dem Leben bestehender Menschen zu kommen. Wenn Briefe aus dem Leben echter Menschen genommen werden, dann beweisen diese Figuren in der Regel dort nicht ihre besonderen »philosophischen und moralischen Fähigkeiten«, da sie nicht das »ganze[] Menschengeschlecht« im Blick haben, sondern »immer nur eine einzelne Person«. Dies betont die Programmatik, dass echte Briefe in ihrer primären Verwendungsweise einen bestimmten Adressaten haben, auf den der Brief zugeschnitten ist. In echten Briefen wird auch von »dringende[n] Geschäften« geschrieben, sodass authentische Briefe nicht nur »die Angelegenheiten des großen Alls« thematisieren. In realen Briefen belehren sich

136 137 138

Ebd., S. 3–7, hier S. 4. Vgl. JWA 6,1, S. 3–7, hier S. 5. Ebd.

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die Briefpartner in der Regel auch nicht ständig über ihre philosophischen und moralischen Ansichten. Die Sprechinstanz radikalisiert in dieser Besprechung von Briefromanen, die offensichtlich fingiert sind, die empfindsame Tendenz der Authentifikation. Die Thematisierung von wirklichen Briefen erfüllt die Funktion, die Konzentration darauf zu legen, dass die folgenden Briefe der Sammlung nach den im Vorbericht angeführten Elementen gestaltet sind. Zugleich wird damit rechtfertigend begründet, warum wesentliche Informationen über die Figuren in den Briefen fehlen. Dies erklärt sich damit, dass es im brieflichen Kontakt mit vertrauten Menschen redundant ist, diesen die eigene Lebensgeschichte zu erzählen.139 Aus diesem Grund wird in dem Vorbericht zu den wichtigsten Figuren der Sammlung besonders aber zu Sylli eine Einführung gegeben. In der Ablehnung anderer Briefromane, die mit der Besprechung von Merkmalen tatsächlicher Briefe begründet wird, entwirft dieser Vorbericht eine radikalisierte Authentifikationsstrategie der folgenden Briefe. In dem Vorwurf, andere Briefromane seien künstlich und aufgrund der Figuren, die keine wirklichen Menschen seien können, erdichtet, lässt der Vorbericht die Briefsammlung genau im gegenteiligen Licht erscheinen. Diese Hinwendung zum wirklichen Menschen fungiert als Begründung, dass diese Sammlung von Briefen keine Handlung im Sinne von aufeinander bezogenen Geschehnissen darstellt. Diese Konzentration auf den ganzen Menschen als das Darzustellende der Briefsammlung begründet die Abwendung von der literarischen Form des Romans, die künstliches Geschaffensein impliziert. Mit dem Allwill wird mit der bewusst unvollständigen und fragmentarischen Form der Sammlung das Greifen dieser Briefe aus dem wirklichen Leben abgebildet. Auf diese Weise wird das Formprinzip der Unabsichtlichkeit mit einem weiteren darstellerischen Ansatz erweitert, der mit der Denkrichtung des bewusst Fragmentarischen beschrieben werden kann. Die Sammlung bildet mit den einzelnen Briefen Bruchstücke des menschlichen Lebens ab. Es ist aber nicht möglich, im Medium der Schrift das menschliche Leben vollständig darzustellen. Der Brief ist daher aufgrund seiner medialen Voraussetzung an die Schrift gebunden zu sein, mediologisch nur dazu in der Lage ein medial differenziertes Abbild zu schaffen. Schrift ist als Medium immer Differenz zu dem, was sie benennt und beschreibt, wenn eine Figur wie Sylli im Brief über ihre inneren Regungen berichtet, dann müssen die inneren Regungen als etwas Nicht-Sprachliches in die Sprache der Schrift übertragen werden. Schrift ist im Kontext der Aussprache des Inneren immer selbst bereits eine Differenz zu dem, was beschrieben wird. Das Medium der Schrift ist selbst nur etwas Unvollständiges und Fragmentarisches im Vergleich zu dem, was innerlich tatsächlich erlebt wurde. Der Brief ist, sowohl seinem Medium als auch seiner endlichen Form nach, ein doppeltes Fragment innerlicher Erlebnisse des Menschen und des wirklich erlebbaren Lebens. Einerseits ist Schrift in ihrem zeichenhaften Abbildungscharakter immer etwas Fragmentarisches, was eine Deutung voraussetzt. Andererseits ist der Brief an eine feste und kapazitätsmäßig begrenzte Form gebunden, sodass das erfahrene Leben nur in Ausschnitten in das Medium der Schrift projiziert wird. Diese medienreflexiven Überlegungen werden in der Spätfassung innerhalb der Figuren aufgegriffen, indem die Frage diskutiert wird, inwieweit der Adressat an dem Leben des Briefschreibers greifbar partizipiert. Mit der Form der

139

Vgl. Ebd., S. 4f.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

Briefsammlung wird ein dritter Aspekt des Unvollständigen und Fragmentarischen eröffnet. Eine Sammlung von Briefen muss nicht vollständig sein, sondern kann Lücken aufweisen. Außerdem kann sie inmitten einer Briefkorrespondenz zweier Personen einsteigen, sodass die Briefsammlung in der Mitte einer privaten Korrespondenz beginnt, wie es beim Allwill in den Früh-und Spätfassungen angedeutet wird. Das Unvollständige und Fragmentarische ist ein programmatisches Element der literarischen Anthropologie Jacobis und stellt eine Reflexion der medialen und formellen Darstellungsmöglichkeiten dar. Bei Jacobis Allwill ist das Fragmentarische ein bewusstes Darstellungsmittel, um die Unmöglichkeit der Darstellung des wirklichen Lebens auszudrücken und abzubilden. Das wirkliche Leben kann nur annäherungsweise literarisch dargestellt werden. Aus diesem Grund weist Jacobis Allwill als besondere Variante des Briefromans auf frühromantische Tendenzen voraus.140 In der Spätfassung des Allwill wird die Formprogrammatik des notwendigerweise Unvollständigen weiter ausgeführt und in den ersten Sätzen direkt aufgegriffen. Die Sprechinstanz dieser Vorrede ist nicht darüber informiert, »[w]ie es Allwilln gelingen konnte, der ganzen Sammlung dieser Briefe habhaft zu werden«.141 Grundsätzlich sieht sich die Sprechinstanz, die als herausgebendes Ich erscheint, bezüglich der Sammlung von Briefen »mit so unsichern Muthmassungen« konfrontiert, dass es direkt die Autorschaftsthese anführt. Im Zuge der Erweiterung der Sammlung durch elf weitere Briefe thematisiert das herausgebende Ich, dass die zehn bereits erschienen Briefe nun in einer verändernden Gestalt veröffentlicht werden. Wäre der angebliche Herausgeber nicht der wirkliche Verfasser dieses Buches, wie hätten die schon ehmals erschienen Briefe dieser Sammlung die veränderte Gestalt, in welcher man sie hier erblickt, erhalten, und sich, den neuen zu Gefallen, dergestalt verändern können? Hier stößt man auf einen Zusatz; dort auf eine Lücke; und überall blickt eine geschäftige Hand hervor, die nicht Scheu trägt, mit diesen Briefen, wie mit einem Eigenthume zu schalten. Hiegegen kann eingewendet werden: da man die eilf [sic!] Briefe, die hier zum erstenmal erscheinen, ehmals nicht hätte bekannt machen wollen; so wäre man gezwungen gewesen, jene zehn Briefe, die man herauszugeben sich bewegen ließ, damals so weit zu verändern, als nöthig war, damit sie nicht auf die dazwischen weggenommenen gerade zu hinweisen, und ihre Abwesenheit unmöglich machten. Diese verdrießliche Arbeit wäre geschehen, wie verdrießliche Arbeiten zu geschehen pflegen, und darüber die Abschrift durchaus fehlerhaft geworden. Demnach würde es der Wahrheit ganz zuwider seyn, und eine seichte Kritik verrathen, wenn man als gemachte Veränderungen ansehen wollte, was im Gegentheil nur weggeschafte Veränderungen wären.142 In der Vorrede der Fassung von 1792, die den programmatischen Titel Eduard Allwills Briefsammlung trägt, setzt die Sprechinstanz die Frühfassung von 1776 mit der Spätfassung von 1792 selbst ins Verhältnis und weist in der Spätfassung auf Unterschiede in Briefen

140 Die Woldemar-Rezension von Friedrich Schlegel bürgt dafür, dass Jacobi in frühromantischen Kreisen zur Kenntnis genommen wurde und seine Schriften bekannt waren. 141 Vgl. JWA 6,1, S. 87–92, hier S. 87. 142 Ebd., S. 91.

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hin, die bereits in der Frühfassung von 1776 enthalten waren. Diese Sensibilisierung für die Abweichungen nutzt die Sprechinstanz, um auf eine spezifische Unvollständigkeit der Frühfassungen hinzuweisen. Bei den Frühfassungen sei es der Fall gewesen, dass Briefe nicht veröffentlicht wurden, die jetzt erst mit der Spätfassung an das Licht der Öffentlichkeit gelangen. Bei der Frühfassung sei es daher notwendig gewesen, dass die »verdrießliche Arbeit[]« erledigt wurde, die Briefe so anzupassen, dass sie nicht auf die unveröffentlichten Briefe verwiesen. Dadurch sei eine fehlerhafte Abschrift dieser Briefe entstanden. Die Sprechinstanz führt auf diese Weise eine bemerkenswerte Relation der Fassungen an. Die Frühfassung sei im Vergleich mit der späten Fassung eine verstellte Abschrift originaler und echter Briefe. Diese Verhältnissetzung der Fassungen radikalisiert die Hinwendung zum Lebenswirklichen des Menschen, denn die Spätfassung zeige nun die vollkommen unverstellte Realität. Bei den Frühfassungen wurden die Briefe laut der Sprechinstanz der Vorrede so angepasst, dass sie nicht auf Briefe schließen lassen, die in der Frühfassung nicht mitveröffentlicht wurden. Die Briefe der Frühfassung bilden daher nicht vollkommen unverstellt die Wirklichkeit des Menschen ab, da sie angepasst wurden. Für die Spätfassung wird nun postuliert, dass diese »gemachte[n] Veränderungen […] weggeschaft[]« seien. Diese Fassung des Allwill ist »mit Dichtung gleichsam nur umgeben«, weil sie wirklichkeitsabbildend sein soll, um die »Menschheit wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen [zu] stellen«.143 Bei Jacobis Spätfassung des Allwill geht das Wirklichkeitspostulat der Briefsammlung über eine empfindsame Authentifikationsstrategie hinaus. Einerseits wird die Rolle des Autors als Gegenspieler zum Herausgeber eingeführt und andererseits ist die Hinwendung zum Lebenswirklichen philosophisch motiviert. Diese Motivation begründet, warum Jacobi am Ende des 18. Jahrhunderts mit seiner Betonung des Lebenswirklichen eine besondere literaturhistorische Position einnimmt, die sich gegenspielerisch zu der frühromantischen Tendenz der Poetisierung der Welt verhält. Im Sinne der Doppelstruktur der Vorrede hat diese Passage zwei Lesarten. Sie spielt damit, das herausgebende Ich als Autor erscheinen zu lassen, gleichzeitig aber unterschwellig klarzumachen, dass dies nur eine »Hypothese« ist, um dem Publikum als »geschworne[r] Feind[] aller Dunkelheit« mit vermeintlicher Klarheit zu begegnen.144 Die Veränderungen zwischen den Fassungen zeigen »eine geschäftige Hand« und werden oberflächlich als Evidenz für die Autorschaftsthese des herausgebenden Ichs angeführt. Doch die Unterschiede in den Briefen, die in Früh-und Spätfassungen enthalten sind, seien keine »gemachte[n] Veränderungen«, sondern »im Gegentheil nur weggeschafte Veränderungen«.145 Besonders an dieser Besprechung von Fassungsunterschieden ist, dass die Unvollständigkeit der Frühfassung betont wird und die Spätfassung manche Lücken der Sammlung schließt. Gleichzeitig verweist die Spätfassung selbst daraufhin nur bruchstückhaft zu sein, da zwei weitere Bände angekündigt werden, um die Sammlung zu vollenden.146 Das Charakteristikum des Fragmentarischen bleibt dem Allwill eigen und verweist auf die Unabschließbarkeit des interdisziplinären Forschungsvorhabens,

143 144 145 146

Vgl. Ebd., S. 89. Vgl. Ebd., S. 87f. Vgl. Ebd., S, 91. Vgl. Ebd., S. 90f.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

die Menschheit erklärlich und unerklärlich darstellen zu wollen. In diesem Sinne ist der Briefsammlung ihr Fragmentcharakter programmatisch eingeschrieben und ist ein literaturästhetisches Element. Im Fassungsvergleich der Allwill-Fassungen fällt auf, dass die Spätfassung um diverse Briefe erweitert wurde. Ein Brief Clerdons von Sylli datiert auf den 4. März wurde zwischen Syllis Brief vom 7. und 8. März eingefügt.147 Weitere eingefügte Briefe sind Allwill an Clemens von Wallberg, das ist der X. Brief der Sammlung,148 Amalia an Sylli vom 20. März (der XI. Brief),149 Cläre an Sylli vom 29.03. und 30.03. (XV. Brief)150 , Allwill an Cläre vom 30. März (der XVI. Brief),151 Sylli an Clerdon vom 18. März (XVII. Brief),152 Sylli an Amalia vom 19. und 20. März (XVII. Brief)153 und Sylli an Amalia vom 25., 26. und 27. März (XIX. Brief)154 . Außerdem wird ein Brief substituiert. In der Frühfassung gibt es einen Brief von Lenore an Sylli vom 12. März, der in der Spätfassung nicht mehr enthalten ist, stattdessen gibt es einen Brief von Lenore an Sylli vom 22. März, der den Platz des vorherigen Briefes eingenommen hat. Dies ist daran erkennbar, dass diesen Briefen jeweils ein Nachschreiben von Cläre angehängt ist. In der Spätfassung ist das Nachschreiben von Cläre um neun Zeilen erweitert, da hier ein Bezug zu dem vorangehenden Brief von Lenore gezogen wird.155 Wie in der Vorrede angekündigt finden sich bei den fassungsübergreifend erhaltenden Briefen Weglassungen und Hinzufügungen. Generell veranschaulicht der substituierte Brief Lenores sehr klar die Tendenz, die eine markante Differenz zwischen den Fassungen darstellt. Diese Tendenz lässt sich mit der vollständigen Konzentration auf das Innere des Menschen bei möglichster Ausklammerung äußerer Umstände beschreiben. Die äußeren Lebensbedingungen der Figuren spielen nur insofern eine Rolle, in dem sie einen Einfluss auf das Innere des Menschen ausüben. Im Brief Lenores vom 12. März wird in der Frühfassung das besondere moralische Handelns Clerdons hervorgehoben und wie er seinen Beruf gewissenhaft ausübt. In diesem Zuge wird auch das Ansehen Clerdons bei den Leuten thematisiert, da sie ihm aufgrund seines herausgehobenen moralischen Handelns sehr dankbar sind.156 In der Spätfassung spielen solche Betrachtungen der Figuren aus einer äußeren – gesellschaftlichen – Lebenssphäre eine sehr geringe Bedeutung. In Lenores Brief wird in der Spätfassung auf die sich anbahnende Beziehung zwischen Allwill und Cläre angespielt und darauf, dass die Frau Clerdons weiterhin Bedenken hat, was die Einführung und Integration Allwills in ihre Familie angeht. Dabei wird der Fokus auf die inneren Zustände der Figuren gelenkt, die eine Reaktion auf das Reüssieren Allwills im Kreis der Familie darstellen.157 Diese Schwerpunktsetzung auf der Beschreibung und Diskussion inner147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157

Vgl. Ebd., S. 101–103. Vgl. Ebd., S. 136–139. Vgl. Ebd., S. 139–145. Vgl. Ebd., S. 157–171. Vgl. Ebd., S. 171–176. Vgl. Ebd., S. 177f. Vgl. Ebd., S. 179–182. Vgl. Ebd., S. 183–193. Vgl. Ebd., S. 155f, hier S. 156. Vgl. Ebd., S. 33–37. Vgl. Ebd., S. 149–155.

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licher Daseinszustände lässt sich auch bei den Briefen nachweisen, die der Sammlung hinzugefügt worden sind. Diese Tendenz kulminiert in der Zugabe. An Erhard O**, denn hier wird das Innere des Menschen als göttlicher Funke thematisiert. Diese Zugabe wirkt daher wie eine philosophische Analyse der vorangehenden Briefsammlung, bei der das Innere des Menschen in seinen Repräsentationsformen der Lebenswirklichkeit geschildert wird. Dabei wird deutlich, dass das »Urbild der Tugend« nicht in »schönen Formen« der Natur zu finden ist, sondern einzig und allein im Ich des Menschen,158 insofern dieses Ich als eine geistige Daseinsentität verstanden wird, die die Eigentümlichkeit jedes einzelnen Menschen ausmacht: Schein und Schatten umgeben uns. Nicht einmal das Wesen unseres eigenen Daseyns erkennen wir. Alles prägen wir mit unserm Bilde, und dies Bild ist eine wechselnde Gestalt; jenes Ich, das wir unser Selbst nennen, eine zweydeutige Geburt aus Allem und aus Nichts: die eigene Seele nur Erscheinung… Doch eine der Wesenheit sich nähernde Erscheinung! Selbstthätigkeit und Leben offenbaren sich in ihr unmittelbar. Darum ist uns der Seele reines Gefühl, Substanz – Urbild des Seyns von Allem; ihr reines Sinnen, von allem die bildende Kraft; ihr reiner Trieb, das Herz der Natur.159

4.2 Jacobis Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte von 1779 Die Spätfassung des Woldemar von 1796 beschreibt ein Bildungsgeschehen des Protagonisten, bei dem er zu »einer tieferen Selbsterkenntnis gebracht« wird, und unterscheidet sich von den Frühfassungen von 1777 und 1779 entscheidend im Handlungsverlauf.160 Die erste Buchfassung von 1779 muss von den ersten Woldemar-Schriften aus dem Jahr 1777 als unterschiedliche Fassung differenziert werden. Unter dem Titel Freundschaft und Liebe. Eine wahre Geschichte, von dem Herausgeber von Eduard Allwills Papieren sind insgesamt fünf einzelne Schriften im Mai, Juni, Juli, September und Dezember 1777 im Teutschen Merkur erschienen. Diese Merkur-Fassung wird weit weniger rezipiert als die Frühfassung, die als Buch erscheint, und Jacobi hat bereits 1779 im Vorwort zu seiner Schrift Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit, die im Mai 1779 im Deutschen Museum veröffentlicht wurde, die Buchfassung von 1779 empfohlen: Eine Anmerkung wird nötig sein, die ich Ihnen [Heinrich Christian Boie, Herausgeber des Deutschen Museum; F.K.] in einer Note beizufügen überlasse, nemlich; das es nicht unumgämglich notwendig sei den ersten Band von Woldemar gelesen zu haben, um dies Fragment zu verstehen […]. Fügen Sie die Bitte hinzu, daß, wenn dennoch jemand den ersten Band von Woldemar zuvor lesen wollte, er ihn nicht im Merkur suchen müsse, wo nur abgerissene Stücke davon stehen, sondern in der Kortenschen Buchhandlung zu Flensburg, die ihn schon am Ende des März herausgeben wird.161

Vgl. für diese Formulierungen die Zitate zwischen der Vorrede und dem Beginn der Sammlung des Allwill von 1792: Ebd., S. 93f. 159 Vgl. Ebd., S. 219–241, hier S. 223f. 160 Vgl. JWA 7,1, S. 323. 161 Ebd., S. 118. 158

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licher Daseinszustände lässt sich auch bei den Briefen nachweisen, die der Sammlung hinzugefügt worden sind. Diese Tendenz kulminiert in der Zugabe. An Erhard O**, denn hier wird das Innere des Menschen als göttlicher Funke thematisiert. Diese Zugabe wirkt daher wie eine philosophische Analyse der vorangehenden Briefsammlung, bei der das Innere des Menschen in seinen Repräsentationsformen der Lebenswirklichkeit geschildert wird. Dabei wird deutlich, dass das »Urbild der Tugend« nicht in »schönen Formen« der Natur zu finden ist, sondern einzig und allein im Ich des Menschen,158 insofern dieses Ich als eine geistige Daseinsentität verstanden wird, die die Eigentümlichkeit jedes einzelnen Menschen ausmacht: Schein und Schatten umgeben uns. Nicht einmal das Wesen unseres eigenen Daseyns erkennen wir. Alles prägen wir mit unserm Bilde, und dies Bild ist eine wechselnde Gestalt; jenes Ich, das wir unser Selbst nennen, eine zweydeutige Geburt aus Allem und aus Nichts: die eigene Seele nur Erscheinung… Doch eine der Wesenheit sich nähernde Erscheinung! Selbstthätigkeit und Leben offenbaren sich in ihr unmittelbar. Darum ist uns der Seele reines Gefühl, Substanz – Urbild des Seyns von Allem; ihr reines Sinnen, von allem die bildende Kraft; ihr reiner Trieb, das Herz der Natur.159

4.2 Jacobis Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte von 1779 Die Spätfassung des Woldemar von 1796 beschreibt ein Bildungsgeschehen des Protagonisten, bei dem er zu »einer tieferen Selbsterkenntnis gebracht« wird, und unterscheidet sich von den Frühfassungen von 1777 und 1779 entscheidend im Handlungsverlauf.160 Die erste Buchfassung von 1779 muss von den ersten Woldemar-Schriften aus dem Jahr 1777 als unterschiedliche Fassung differenziert werden. Unter dem Titel Freundschaft und Liebe. Eine wahre Geschichte, von dem Herausgeber von Eduard Allwills Papieren sind insgesamt fünf einzelne Schriften im Mai, Juni, Juli, September und Dezember 1777 im Teutschen Merkur erschienen. Diese Merkur-Fassung wird weit weniger rezipiert als die Frühfassung, die als Buch erscheint, und Jacobi hat bereits 1779 im Vorwort zu seiner Schrift Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit, die im Mai 1779 im Deutschen Museum veröffentlicht wurde, die Buchfassung von 1779 empfohlen: Eine Anmerkung wird nötig sein, die ich Ihnen [Heinrich Christian Boie, Herausgeber des Deutschen Museum; F.K.] in einer Note beizufügen überlasse, nemlich; das es nicht unumgämglich notwendig sei den ersten Band von Woldemar gelesen zu haben, um dies Fragment zu verstehen […]. Fügen Sie die Bitte hinzu, daß, wenn dennoch jemand den ersten Band von Woldemar zuvor lesen wollte, er ihn nicht im Merkur suchen müsse, wo nur abgerissene Stücke davon stehen, sondern in der Kortenschen Buchhandlung zu Flensburg, die ihn schon am Ende des März herausgeben wird.161

Vgl. für diese Formulierungen die Zitate zwischen der Vorrede und dem Beginn der Sammlung des Allwill von 1792: Ebd., S. 93f. 159 Vgl. Ebd., S. 219–241, hier S. 223f. 160 Vgl. JWA 7,1, S. 323. 161 Ebd., S. 118. 158

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

Diese erste Buchfassung wird oft mit den periodisch erschienenen Schriften im Teutschen Merkur gleichgesetzt, doch gibt es bedeutungstragende Unterschiede. Eine vehemente Differenz dieser Fassungen kristallisiert sich bei der Figurenbeschreibung Henriettes heraus. In der periodisch erschienenen Fassung wird Henriette im Vergleich zu ihren Schwestern als körperlich nicht sehr anziehend beschrieben. Henriette war ein wenig verwachsen, und brauchte am linken Fuß einen höhern Absatz; aber die Leichtigkeit ihrer Bewegungen, die Schicklichkeit ihres Anstandes, ihr offenes Wesen, von aller Anmaßung so fern, machte, daß man diese Gebrechen übersah; doch aber – nur übersah, denn reizend fand man Henriette nicht. Ihre Haut war die weißeste, reinste, durchsichtigste, schönste, die seyn kann; nichts desto weniger gehörte ein besonderes Auge dazu, um gewisse edle Züge, welche in ihr lagen, herauszufühlen. Fast alle nannten ihr Gesicht unbedeutend und gemein.162 Diese körperliche Beschreibung Henriettes gibt der ersten Woldemar-Fassung von 1777 eine Nuance, die bereits in der Fassung von 1779 nicht mehr enthalten ist. Die körperliche Darstellung Henriettes von 1777 bekommt eine handlungsrelevante Bedeutung, da sie in dem Gespräch der Familie mit Woldemar über eine mögliche Heirat zwischen den beiden aufgegriffen wird. So führt Dorenburg als Argument für eine Heirat der beiden an, dass Woldemar die körperliche Beschaffenheit Henriettes im Gegensatz zu anderen anziehend finde: Aber, sagte Dorenburg, Sie fanden ja doch gleich von Anfang Henriette auch von Gestalt einnehmender als ihre Schwestern; sie übersahen lange ihren hohen Absatz und ihre ungleiche Seite, und nachdem sie endlich diese Fehler wahrgenommen, schien ihnen das Mädchen darum nur desto liebenswürdiger […].163 Woldemar zieht jedoch Allwina als Ehefrau vor, weil sie jünger und schöner als Henriette ist. Henriette führt diese Argumente selbst zur Überzeugung Woldemars an.164 Woldemar hat »ein besonderes Auge«, um die eigentümliche Schönheit Henriettes zu erkennen.165 Diese Eigentümlichkeit spielt darauf an, dass es nicht ihre körperliche Erscheinung ist, die ihren Reiz ausmacht. Es ist etwas Anderes, das sie anziehend wirken lässt. Die »gewisse[n] edle[n] Züge, welche in ihr lagen« können nur empfunden, nicht aber gesehen werden.166 Henriettes Schönheit offenbart sich lediglich in der Empfindung, jedoch nicht in der Sinnlichkeit ihrer körperlichen Erscheinung und stellt sie als schöne Seele dar. Zugleich zerstört diese Nuance der Beschreibung Henriettes die Unbefangenheit der Wahl Woldemars. Für ihn scheint sie aufgrund ihrer körperlichen Gestalt nicht als Gattin infrage zu kommen und prädestiniert sie als empfindsame Seelenfreundin. Die zwischengeschlechtliche Beziehung zwischen Henriette und Woldemar

162 163 164 165 166

Ebd., S. 13. Ebd. S. 34. Vgl. Ebd., S. 41f. Vgl. Ebd., S. 13. Vgl. Ebd.

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ist in der ersten Fassung von 1777 im Gegensatz zu allen weiteren Fassungen entscheidend durch die körperliche Erscheinung Henriettes geprägt. Die rein geistige Freundschaft erscheint in dieser Fassung durchaus als Beziehung, die von Oberflächlichkeiten bestimmt ist. In der Fassung von 1777 kommt Henriette aufgrund der Makel an ihrem Körper nicht als Ehefrau von Woldemar infrage und wird in die Rolle der Freundin hineingedrängt. Diese körperliche Abwertung Henriettes hat die Funktion, den Fokus auf ihr Inneres zu legen. Doch verstellt sie gleichermaßen die Beziehung zwischen den beiden, da neben dem Inneren auch der äußeren Erscheinung des Anderen eine enorme Bedeutung zugesprochen wird. Die Frage nach einer Freundschaft, die ausschließlich das Innere des anderen berücksichtigt, wird in der Fassung von 1777 nicht erreicht. Diese Lesart wird durch die Beschreibung Allwinas in dieser Fassung untermauert. Allwina erscheint als körperliches Gegenbild zu Henriette und diese hervorgehobene äußere Erscheinung lässt sie als Ehefrau für Woldemar vorherbestimmt wirken. Durch die Streichung von Henriettes spezifischer körperlicher Erscheinung für die Buchfassung von 1779 rückt der Schwerpunkt mehr auf die innerliche Beziehung zwischen Woldemar und Henriette. Die Freundschaftsbeziehung der beiden muss daher in dieser Fassung neu bewertet werden, da Henriette nicht von vornherein als Ehefrau ausgeschlossen wird. Anders als in den Spätfassungen wird in der Fassung von 1779 der Protagonist mit seiner ich-zentrierten Eigentümlichkeit eher bewundert als problematisiert. In den Spätfassungen hat die Erzählinstanz eine kritisch distanzierte, aber dennoch mitempfindende Haltung gegenüber Woldemar eingenommen. In der Frühfassung von 1779 wird Woldemars subjektive Befangenheit nicht als zu bewerkstelligende Herausforderung betrachtet, sondern die Subjektivität als Möglichkeit der Ich-Entfaltung schwärmerisch aufgefasst. Subjektivität ist im Kontrast zur Spätfassung nicht die zu überwindende Herausforderung, sondern die Begeisterung für eine durch das eigene Innere betrachteten Perspektive. Der Protagonist Woldemar durchläuft in dieser Fassung eine Entwicklung, die nicht seine grundsätzliche psychische Beschaffenheit infrage stellt, sondern die ihn von der empfundenen Intensität seiner inneren Regungen kuriert. In der Frühfassung ist seine Entwicklung nicht so ausgeprägt wie in der Spätfassung und erscheint im spätaufklärerischen Kontext als Schwärmerkur. Die empfindsam-idyllischen Szenen nehmen in dieser Fassung distinkte Funktionen im Vergleich zur Spätfassung ein. Die Betrachtungsweise von Subjektivität verändert sich, daher fungieren die empfindsam-idyllischen Szenen in den Spätfassungen als Schilderung eines Individuums, welches die sinnliche Wahrnehmung zunehmend subjektiviert, sodass letztlich unklar wird, welche Empfindungen noch auf äußere Reize zurückzuführen sind und welche nicht. Während dies bei den Spätfassungen als Realitätsverlust und Beschreibung von Woldemars krankhaftem psychischem Zustand eingesetzt wird, erscheinen diese Szenen in der Frühfassung als enthusiastische Ausdruckformen eines Protagonisten, der im Blick in die Natur seine eigene Subjektivität zelebriert. Das Empfindsam-Idyllische fungiert auch in den Frühfassungen als Erzählverfahren von Innerlichkeit und erfüllt die spezifische Funktion, ein subjektives Erzählen zu ermöglichen. Fassungsvergleichend wird deutlich, dass die Frühfassungen Subjektivität entdecken, entfalten und als Eigentümlichkeit zelebrieren. Die Spätfassungen schließen hingegen mit dieser empfindsamen Attitüde der subjektiven Selbsterhöhung ab, indem ein innerliches Geschehen dargestellt wird und die eigentliche innerliche Leistung

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

darin besteht, über die eigene subjektive Befangenheit hinauszuschauen und jemanden anderes in seiner Eigentümlichkeit zu erfassen.

4.2.1 Ich- Lust Als Frühfassung wird die erste Buchfassung von 1779 zugrunde gelegt, da Jacobi sie einerseits selbst empfiehlt und andererseits, weil diese Fassung im Gegensatz zur Fassung von 1777 einen größeren Rezeptionshorizont aufweist. Ein weiterer Punkt ist die Beobachtung, dass bei der Frühfassung von 1777 das eigentlich zentrale Thema der Möglichkeit einer reinen Seelenfreundschaft nicht erreicht wird. Es wird sich aus diesen Gründen den Herausgebern der historisch-kritischen Jacobi Werkausgabe angeschlossen und die Fassung von 1779 als Frühfassung zugrunde gelegt. Bei der Frühfassung von 1779 ist zunächst hervorzuheben, dass es sich um ein Fragment handelt, da das Werk von insgesamt drei angekündigten Bänden den ersten Band darstellt. In der Vorrede wird angesprochen, dass »noch zwey Bände abgehen[,] um das Werk zu vollenden«.167 Dieser erste Band solle vom Lesepublikum »noch nicht« bewertet werden, da dieser Band allein sich »noch nicht beurtheilen läßt«.168 Dies deutet an, dass die frühe Konzeption des Woldemar die Freundschaft zwischen Henriette und dem gleichnamigen Protagonisten nicht in den eigentlichen Vordergrund stellt, sondern als Ausgangssituation für ein weiteres »Ereigniß« mit »den schrecklichsten Folgen« setzt.169 In dieser Fassung fällt auf, dass die Freundschaft als seelisches Phänomen weniger auf ihre Bedingungsmöglichkeiten hinterfragt wird als in der späten Fassung. Dies korrespondiert mit dem Befund, dass Woldemar als Protagonist von Beginn an als eigentümlicher Mensch mehr herausgestellt als psychologisiert wird. Dies zeigt sich bereits in der ersten Einführungsszene Woldemars in die Familie. Es geschah was in dergleichen Fällen gewöhnlich zu geschehen pflegt; jeder fand ihn anders als er sich ihn vorgestellet hatte; aber, was nicht so gewöhnlich ist, alle waren nur desto mehr von seiner Gegenwart entzükt. Es war in der That fast unmöglich, Woldemarn in seinen glücklichen Augenblicken zu sehen, ohne bis zur Schwärmerey für ihn eingenommen zu werden. Seine Gesichtsbildung, seine Gestalt, seine Geberden, sein ganzes Wesen, alles an ihm würkte melodisch in einander, und stimmte zu einem außerordentlichen Eindruck zusammen. Sein Ansehn hatte etwas sehr hohes, aber hinterher auch etwas so gutes und liebliches, etwas so entgegenkommendes, daß wer vor ihm stand bald voll Sehnsucht wurde, ihn umarmen zu dürfen. Nach seinem Anstande hätte man die feinste Hofsitte von ihm erwartet; aber er that damit so schlechtweg, als wär’s die Zeit der Patriarchen. Die Eigenschaften eines liebenswürdigen Gesellschafters besaß er in einem hohen Grade.170 Woldemar übt eine besondere Wirkung auf die ganze Familie und auch auf Henriette aus. Seine Erscheinung wird als »nicht so gewöhnlich« und entzückend beschrieben.

167 168 169 170

Vgl. JWA 7,1, S. 5. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 108. Ebd., S. 23.

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Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

darin besteht, über die eigene subjektive Befangenheit hinauszuschauen und jemanden anderes in seiner Eigentümlichkeit zu erfassen.

4.2.1 Ich- Lust Als Frühfassung wird die erste Buchfassung von 1779 zugrunde gelegt, da Jacobi sie einerseits selbst empfiehlt und andererseits, weil diese Fassung im Gegensatz zur Fassung von 1777 einen größeren Rezeptionshorizont aufweist. Ein weiterer Punkt ist die Beobachtung, dass bei der Frühfassung von 1777 das eigentlich zentrale Thema der Möglichkeit einer reinen Seelenfreundschaft nicht erreicht wird. Es wird sich aus diesen Gründen den Herausgebern der historisch-kritischen Jacobi Werkausgabe angeschlossen und die Fassung von 1779 als Frühfassung zugrunde gelegt. Bei der Frühfassung von 1779 ist zunächst hervorzuheben, dass es sich um ein Fragment handelt, da das Werk von insgesamt drei angekündigten Bänden den ersten Band darstellt. In der Vorrede wird angesprochen, dass »noch zwey Bände abgehen[,] um das Werk zu vollenden«.167 Dieser erste Band solle vom Lesepublikum »noch nicht« bewertet werden, da dieser Band allein sich »noch nicht beurtheilen läßt«.168 Dies deutet an, dass die frühe Konzeption des Woldemar die Freundschaft zwischen Henriette und dem gleichnamigen Protagonisten nicht in den eigentlichen Vordergrund stellt, sondern als Ausgangssituation für ein weiteres »Ereigniß« mit »den schrecklichsten Folgen« setzt.169 In dieser Fassung fällt auf, dass die Freundschaft als seelisches Phänomen weniger auf ihre Bedingungsmöglichkeiten hinterfragt wird als in der späten Fassung. Dies korrespondiert mit dem Befund, dass Woldemar als Protagonist von Beginn an als eigentümlicher Mensch mehr herausgestellt als psychologisiert wird. Dies zeigt sich bereits in der ersten Einführungsszene Woldemars in die Familie. Es geschah was in dergleichen Fällen gewöhnlich zu geschehen pflegt; jeder fand ihn anders als er sich ihn vorgestellet hatte; aber, was nicht so gewöhnlich ist, alle waren nur desto mehr von seiner Gegenwart entzükt. Es war in der That fast unmöglich, Woldemarn in seinen glücklichen Augenblicken zu sehen, ohne bis zur Schwärmerey für ihn eingenommen zu werden. Seine Gesichtsbildung, seine Gestalt, seine Geberden, sein ganzes Wesen, alles an ihm würkte melodisch in einander, und stimmte zu einem außerordentlichen Eindruck zusammen. Sein Ansehn hatte etwas sehr hohes, aber hinterher auch etwas so gutes und liebliches, etwas so entgegenkommendes, daß wer vor ihm stand bald voll Sehnsucht wurde, ihn umarmen zu dürfen. Nach seinem Anstande hätte man die feinste Hofsitte von ihm erwartet; aber er that damit so schlechtweg, als wär’s die Zeit der Patriarchen. Die Eigenschaften eines liebenswürdigen Gesellschafters besaß er in einem hohen Grade.170 Woldemar übt eine besondere Wirkung auf die ganze Familie und auch auf Henriette aus. Seine Erscheinung wird als »nicht so gewöhnlich« und entzückend beschrieben.

167 168 169 170

Vgl. JWA 7,1, S. 5. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 108. Ebd., S. 23.

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»[I]n seinen glücklichen Augenblicken« bringt er die Menschen in seiner Umgebung unweigerlich dazu, in »Schwärmerey« für ihn zu verfallen. Sein »außerordentliche[r] Eindruck« kombiniert sich mit einem »Anstande«, wie bei der »feinste[n] Hofsitte«, doch »that [er] damit so schlechtweg, als wär‘s die Zeit der Patriarchen«. Der Protagonist zeichnet sich durch ein sittliches Verhalten aus, ist aber gleichzeitig in seinem Betragen gegenüber anderen unverstellt. Denn die »feinste Hofsitte« ist eine Erwartung, die man nach seinem schicklichen Benehmen aufstellt, die aber unterlaufen wird. Woldemar erscheint so als eine Person mit Sittlichkeit, ohne der Verstellung und dem Schein der »feine[n] Hofsitte« zu verfallen. Dieser besondere Zug seines Charakters wird weiter ausgebaut. Diesen Vorzug zu erwerben, hatte ihn in der frühesten Jugend seine Eitelkeit angespornt, und mehrmal eine gewisse ärgerliche Heftigkeit gegen allen Widerstand: Er wollte überall hin können; und da ihm seine Geburt den freyen Eintritt in die große Welt versagte, so war er bemüht, ihn durch Zaubermittel zu erhalten. Alle Thüren giengen ihm bald auf, und er brachte es so weit, daß man sich um ihn riß. Nun floh er, und nahm einen tiefen Ekel an allem Flitterwesen zur Beute mit sich davon. Von den Eigenschaften, die er damals erworben, waren ihm nur diejenigen geblieben, die sich in ganz einfache Natur hatten umsetzen lassen. Da er jetzt nie etwas zum Schein war, so würkten seine Aeußerungen desto unwiderstehlicher; sein ganzes Wesen war voll Bedeutung und überall erweckend.171 Hier wird deutlich, dass die Beschreibung Woldemars in der Früh-und Spätfassung deutlich distinkt gestaltet ist. Im Vordergrund dieser Schilderung steht Woldemars Verhalten und es wird erläutert, wie er seinen besonderen »Anstand« erworben hat, der dennoch natürlich wirkt. Woldemars geburtsmäßigen Stand verwehrt ihm »den freyen Eintritt in die große Welt«, aber seit seiner »frühesten Jugend« motivierte ihn »seine Eitelkeit [,] eine gewisse ärgerliche Heftigkeit gegen allen Widerstand« auszubilden. Sein Entgrenzungsstreben ist hier auf eine äußerliche Lebenssphäre gerichtet, »[e]r wollte überall hin können«. Woldemars »Widerstand« ist das Aufbrechen der feudal-gesellschaftlichen Schranken, die ihm aufgrund seines Standes Zugänge verwehrt haben und nicht nach den Menschen und deren Fähigkeiten fragen, sondern ihn auf Äußerlichkeiten festlegen. Diese äußerliche Festlegung artikuliert sich auch im Verhalten und die »feinste Hofsitte« ist ein Verhaltenscode, der erlernt werden kann. Woldemars »Zaubermittel« für eine gesellschaftliche Selbstbefreiung ist die Aneignung dieses Codes bei gleichzeitiger Unverstelltheit. Dies prägt sein Erscheinungsbild bei seinem ersten Auftritt bei der Familie. Die Außergewöhnlichkeit Woldemars ist die Kombination von zwei sozialen Umgangsformen: einer höfisch koketten, besonders schicklichen Umgangsform, die aber oftmals dem bloßen Schein verfällt, und einer nicht geheuchelten, aufrichtigen Umgangsform. Diese Verbindung erscheint wie ein »Zaubermittel« und öffnet Woldemar »[a]lle Thüren«. Der »Eintritt« in diese feudalgesellschaftliche Welt führt Woldemar aber nicht zu einer Zufriedenheit oder Glück, denn die Befriedigung seiner »Eitelkeit«, die Grenzen seiner eigentlich vorbestimmten

171

Ebd., S. 23f.

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gesellschaftlichen Möglichkeiten zu sprengen, führt ihn stattdessen zu »eine[m] tiefen Ekel an allem Flitterwesen«. Das Erreichen eines Bereichs, der ihm verschlossen war, löst Ekel in ihm hervor. »Er brachte es so weit, daß man sich um ihn riß.« Doch dies zeigt ihm schließlich nur den Scheincharakter dieser gesellschaftlichen Welt und mit der Erlangung des so hitzig anvisierten Ziels, der Aufbrechung seiner durch die Geburt determinierten Optionen, kommt diesem ganzen Streben keine Bedeutung mehr zu. Dieser gesellschaftliche Bereich ist durch »Flitterwesen« geprägt, das ihn abstößt.172 Der Ausdruck »Flitterwesen« beschreibt die Scheinhaftigkeit und Heuchelei, die mit einer »feine[n] Hofsitte« oftmals einhergeht, da dieser Verhaltenscode ein erlerntes Benehmen ist, welches das Innere des Menschen verstellt.173 Flitter ist glitzernder Schmuck, der von den Menschen angelegt wird, um sich ein prächtiges Äußeres zu geben, welches das Innere kaschiert. In der Frühfassung ist bemerkenswert, dass diese Kritik an der feudal-höfischen Sitte in dem Brief Biderthals an Woldemar im zweiten Teil des Erzählwerks bekräftigt wird.174 Bei der Vorstellung Woldemars wird die »feinste Hofsitte« mit einer »ganz einfache[n] Natur« kontrastiert.175 Die Kritik an feudal-höfischen Umgangsformen ist in ihrer angeblichen Unnatürlichkeit und Scheinhaftigkeit begründet. Die Figur Woldemar zeigt, dass die thematisierte Hof-und Feudalismuskritik nicht auf die Emanzipation ›des Bürgers‹ in diese Ordnung zielt, denn das hat er ja erreicht. Vielmehr steht die Art und Weise der sozialen Interaktion dieses gesellschaftlichen Systems im Fokus der Kritik, denn diese wird als erstarrt und kalt erlebt. Im Angesicht dieser Erstarrung und Kälte im zwischenmenschlichen Bereich flieht Woldemar aus dieser Welt des »Flitterwesen[s]«.176 Von diesen »Eigenschaften, die er damahls erworben [hatte], waren ihm nur diejenigen geblieben«, die sich mit einer unverstellten Natürlichkeit kombinieren lassen.177 Diese Natürlichkeit ist eine Sittlichkeit, wie in der »Zeit der Patriarchen« und spielt im Moralischen den höfischen Kultivierungsstatus eines gezierten Betragens gegen eine einfältige Ethik aus.178 Im Zuge dieser Besonderheit des äußeren Interaktionsverhaltens Woldemars wird in der weiteren Schilderung des Protagonisten auch sein Inneres als außergewöhnlich herausgestellt. So sorgfältig er war, allen falschen Erwartungen von sich vorzubeugen, so konnte er es doch nicht genug seyn. Sein Charakter war zu sehr außer der gemeinen Ordnung, die Leute mußten häufig an ihm irre werden. – »Ich habe Ihnen ja von Anfang gesagt, daß ich so bin, und daß kein Bessern an mir ist« war seine gewöhnliche Antwort auf die Vorwürfe, die man ihm machte; – »aber, erwiederte man ihm, warum sind Sie so? wie mögen Sie nur so seyn? – es läßt sich ja auf keine Weise reimen!« – – hierauf pflegte er weiter nichts als ein freundliches, Nachsichtflehendes [sic!] Achselzucken zu geben.

172 173 174 175 176 177 178

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 69–73, hier S. 69f. Vgl. Ebd., S. 24. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 23.

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Sein Hauptverbrechen war, daß er zu sehr für sich lebte, und hierinn [sic!] seinem Sinne auf eine Weise folgte, welche die Zärtlichkeit seines Herzens verdächtig machte.179 Woldemars spezielles So-Sein liegt »zu sehr außer der gemeinen Ordnung«. Seine Eigentümlichkeit macht darauf aufmerksam, »daß er zu sehr für sich lebte«. Er findet darin eine Erfüllung und Zufriedenheit, die »die Zärtlichkeit seines Herzens verdächtig machte«, indem er in sich selbst eine Genugtuung findet, in der er auf andere Menschen verzichten kann. Daher macht dieses Dasein für andere Personen die »Zärtlichkeit« seines Inneren verdächtig, indem er für ein empfundenes Glück keine anderen Menschen braucht. Verbunden mit seinem besonders sittlichen Verhalten gegenüber anderen Menschen ist dieser Zwiespalt eine Unterscheidung zwischen dem Inneren und Äußeren, dass die Leute »häufig an ihm irre werden« lässt. Der Protagonist wird als ein exklusiver Mensch beschrieben, der eine Selbstzufriedenheit aufweist, und so ein Daseinsbewusstsein an den Tag legt, das im Akt der eigenen Ich-Setzung einen Genuss findet, der auf andere Menschen verzichten kann. Woldemar erscheint als ein Mensch, der in seiner Ich-Konstitution einen Selbstgenuss findet. Vor diesem Hintergrund erscheint Henriette, die ebenfalls einen Genuss an Woldemars Ichhaftigkeit zu haben scheint. Bei einem geselligen Beisammensein der Familie lässt Woldemar sie einmal mehr auf sich warten und die Familie wird »verdrießlich« und »es entstand ein allgemeines Murren«.180 Henriette, welche nie in die Klagen über Woldemar einstimmte, sondern ihn immer vertheidigte, wurde traurig: – »Wir werden so lange machen, sagte sie (mit einer Bewegung und in einem Ton, welche man nicht an ihr gewohnt war) bis Woldemar unserer müde wird. Sein Witz, seine zauberische Laune, sein vortrefliches [sic!] Herz machen ihn uns werth, aber soll er darum allein für uns leben? Und dennoch lebt er ja fast allein für uns – Er gewiß viel mehr für uns, als wir für ihn! Oder vermag wohl einer hier, vermögen wir alle zusammen soviel für sein Glück, als er für das unsrige? Und wie liebt er uns nicht? Sagt, hat wohl einer von uns soviel wahre, ächte Freundschaft für den andern, als Woldemar für jedweden von uns beweist? Freylich hangen wir an ihm mehr, als er an uns hangen kann – aber ist dies seine Schuld? Sind wir nicht eben drum weit besser dran als er? – Wo hat er – nur seines Gleichen, nur einen andern Woldemar; geschweige jemand, der ihm wäre, was Woldemar uns ist? So gönnt ihm doch wenigstens, daß er in sich selbst, daß er im All der Schöpfung suche, was wir ihm nicht zu geben im Stand sind.«181 Nachdem Henriette geendigt hat, »trat Woldemar mit freudiger, Liebevoller [sic!] Eile ins Zimmer«.182 Mit diesem Gesprächsbeitrag legt Henriette die Ausbildung einer empfindsamen Seelenfreundschaft zwischen den beiden an. In dieser Frühfassung erscheint die Freundschaft von Beginn an in einem anderen Licht im Vergleich zur untersuchten Spätfassung. Die geistige Freundschaft der beiden bildet sich aus, da Henriette die besondere Ichhaftigkeit Woldemars erfasst hat und seinen Selbstgenuss mit seiner Einzigartigkeit

179 180 181 182

Ebd., S. 24f. Vgl. Ebd., S. 25. Ebd. Vgl. Ebd.

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rechtfertigt, denn »wo hat er […] nur seines Gleichen«.183 In der Erfassung seiner innerlichen Einzigartigkeit und der damit verbundenen Genügsamkeit mit dem eigenen Ich stellt Henriette sich als eine Person heraus, die in der Lage dazu ist, diese Einzigartigkeit zu erblicken. Damit rückt sie selbst in die Nähe einer solchen Einmaligkeit. Woldemars Eigentümlichkeit ist hier keine psychische Beschaffenheit, sondern eine Einheit aus innerlichen und äußerlichen Eigenschaften, die ihn von anderen Personen differenzieren. Die Frage nach einer innerlich erlebten Singularität, die zu einem Leiden führt, stellt sich daher hier nicht. Stattdessen erfährt Woldemar seine Besonderheit als eine Freude und eine Lust am eigenen Ich. Trotz dieser eigenen Ich-Lust Woldemars beschreibt Henriette ihn als jemanden, der mehr »wahre, ächte Freundschaft« für alle Familienmitglieder aufweist, als diese erwidern können. Die Setzung und Erfassung des eigenen Ichs als Voraussetzung für »wahre, ächte Freundschaft« macht Woldemar trotz seiner Ich-Lust zu einem sozialen Menschen, denn laut Henriette lebt Woldemar »fast allein für uns«.184 Woldemars Ich-Lust kennt daher Henriette zufolge Grenzen der Sozialität. Aus diesem Grund bittet sie die Familie darum, Verständnis zu haben, denn er suche »im All der Schöpfung« das, »was wir ihm nicht zu geben im Stande sind«.185 Henriette wird durch diese Worte genau zu dem, was er sucht, nämlich zu einer Person, die Woldemars Ich erfasst und ihn deswegen in seiner Eigentümlichkeit versteht. Es kommt zur Formierung der Seelenfreundschaft der beiden, durch die Woldemar im Kontrast zu seinen Erfahrungen im gesellschaftlich-öffentlichen Lebensbereich eine neue Zuversicht in den Menschen bekommt. Woldemar fühlte sich wie neugebohren; alle Menschen waren ihm lieber, und er war es allen Menschen und sich selbst. Es konnte nicht fehlen, nachdem er einmahl in Ein [sic!] Geschöpf ein unumschränktes Vertrauen gesetzt hatte, daß die ganze Gattung dabey gewinnen mußte. Wie viel mehr seine näheren Bekannten und Freunde! Jedermann prieß die Veränderung, die man an ihm wahrnahm; daß er so merklich offener, mittheilender, duldsamer, gleichmüthiger und geselliger geworden sey; daß man itzt so viel mehr als sonst von ihm habe. – – Es war ihm eben durch und durch wohl: und der Zufriedene – wie leicht wird dem nicht jedes Opfer? – er hat soviel zu missen!186 Mit ihrer Freundschaft geht eine deutliche Veränderung Woldemars einher, die wie eine Wiedergeburt beschrieben wird. Die zwischenmenschliche Beziehung wird für Woldemar so wesentlich, dass er darauf nicht mehr verzichten kann. Dies schafft einen klaren Kontrast zu den sozialen Verhältnissen des feudal gesellschaftlichen Bereichs, die er von jetzt auf gleich aufgrund ihrer Oberflächlichkeit einfach abbrechen könnte. Die narrative Gestaltung ist in der Frühfassung ähnlich wie in der Spätfassung. Im ersten Teil ist eine heterodiegetische Erzählinstanz mit Nullfokalisierung sehr präsent, die mitempfindende Kommentare hinzufügt. Diese Kommentare weisen in der Frühfassung darauf hin, dass der Grad der Mitempfindung der Erzählinstanz nah beim Protagonisten ist. Dies zeigt sich in der Art und Weise des Kommentierens: »Es war ihm eben durch und 183 184 185 186

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 25. Vgl. Ebd. Ebd., S. 31.

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durch wohl: und der Zufriedene – wie leicht wird dem nicht jedes Opfer? – er hat soviel zu missen!« In der eingeschobenen Frage wird der Eindruck von inneren Regungen erweckt, die in der Erzählinstanz beim Erzählen aufkommen. Der Gedanke des eigentlichen Kommentars ist, dass Woldemar »der Zufriedene […] soviel zu missen [hat]«. Dieser Kommentar signalisiert, dass Woldemar mit der Entstehung und Etablierung der Freundschaft zu Henriette sie nicht mehr entbehren kann. Zuvor ist er jemand gewesen, der aufgrund seiner Ich-Lust eine in sich ruhende Harmonie mit sich selbst gefunden hatte. Das innerliche Verhältnis der Seelenfreundschaft der beiden ändert dies aber grundlegend. Die Freundschaft als Ich-Spiegelung ist eine erweiterte Ich-Lust, bei der eine Abhängigkeit vom anderen entsteht, da dieser als Projektionsfläche dringend benötigt wird. Diese freundschaftliche Ich-Lust führt Woldemar zu einer Berauschung des eigenen Inneren, die wiederum nur durch Henriette ernüchtert werden kann.

4.2.2 Schwärmerei und Freundschaft Woldemar erscheint in der Frühfassung als Protagonist, der in der Freundschaft mit Henriette eine Ekstase findet. Eine solche innerliche Zustandsform kursiert im literaturund kulturhistorischen Kontext unter den Begriffen des Enthusiasmus und der Schwärmerei. Jacobis Woldemar geht in den Frühfassungen konzeptionell zurück auf die Veröffentlichungen im Teutschen Merkur unter dem Titel Freundschaft und Liebe und zeigt eine Affinität zu Wieland. Diese Nähe zu Wieland begründet auch die Agathon-Korrespondenz der beiden.187 Im Fokus dieser Auseinandersetzung mit Wielands Agathon steht unter anderem auch die Schwärmerei dieses Protagonisten. Für die Betrachtung der inneren Berauschung des Protagonisten Woldemar von Jacobi ist ein Zusammenhang zu einem im Teutschen Merkur erschienenen Beitrag von Wieland zu den Themen Enthusiasmus und Schwärmerei darzulegen, die in diesem Veröffentlichungsmedium zwei Jahre vor Jacobis Schrift Freundschaft und Liebe publiziert wurde. Der Fokus liegt auf dem Zulaß des Herausgebers, den Wieland dem Beitrag Auszüge aus einer Vorlesung über die Schwärmerei des vierten Bandes des Teutschen Merkur 1775 hinzufügt. So schwärmt z.E. Horaz, wenn ihn Bachus[sic!], von dessen Gottheit er voll ist, in unbekannte Hayne und Felshölen fortreißt. – und Petrarca, wenn es ihm vorkommt, daß die Seufzer und Klagen seiner Laura Berge versetzen und Flüße stehen machen könnten. Dem Worte Schwärmerey, in dieser Bedeutung genommen, entspricht das Wort Fantaticismus ziemlich genau; wiewohl dies letztere durch den Gebrauch einer besondern Gattung von Schwärmerey, nehmlich der religiosen zugeeignet worden ist.188 Für Wieland ist die Schwärmerei ein Resultat der Einbildungskraft, dem keine realweltliche Entität zugrunde liegt. Das bedeutet, Dinge und Begebenheiten werden durch die Schwärmerei imaginativ verstellt oder gänzlich erdichtet. Die betroffene Person weist

187 Vgl. JBW 1,1, S. 159–177. 188 Vgl. [Christoph Martin Wieland (Hg.):] Der Teutsche Merkur vom Jahr 1775. Viertes Vierteljahr. Weimar 1775, S. 151–155, hier S. 152.

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durch wohl: und der Zufriedene – wie leicht wird dem nicht jedes Opfer? – er hat soviel zu missen!« In der eingeschobenen Frage wird der Eindruck von inneren Regungen erweckt, die in der Erzählinstanz beim Erzählen aufkommen. Der Gedanke des eigentlichen Kommentars ist, dass Woldemar »der Zufriedene […] soviel zu missen [hat]«. Dieser Kommentar signalisiert, dass Woldemar mit der Entstehung und Etablierung der Freundschaft zu Henriette sie nicht mehr entbehren kann. Zuvor ist er jemand gewesen, der aufgrund seiner Ich-Lust eine in sich ruhende Harmonie mit sich selbst gefunden hatte. Das innerliche Verhältnis der Seelenfreundschaft der beiden ändert dies aber grundlegend. Die Freundschaft als Ich-Spiegelung ist eine erweiterte Ich-Lust, bei der eine Abhängigkeit vom anderen entsteht, da dieser als Projektionsfläche dringend benötigt wird. Diese freundschaftliche Ich-Lust führt Woldemar zu einer Berauschung des eigenen Inneren, die wiederum nur durch Henriette ernüchtert werden kann.

4.2.2 Schwärmerei und Freundschaft Woldemar erscheint in der Frühfassung als Protagonist, der in der Freundschaft mit Henriette eine Ekstase findet. Eine solche innerliche Zustandsform kursiert im literaturund kulturhistorischen Kontext unter den Begriffen des Enthusiasmus und der Schwärmerei. Jacobis Woldemar geht in den Frühfassungen konzeptionell zurück auf die Veröffentlichungen im Teutschen Merkur unter dem Titel Freundschaft und Liebe und zeigt eine Affinität zu Wieland. Diese Nähe zu Wieland begründet auch die Agathon-Korrespondenz der beiden.187 Im Fokus dieser Auseinandersetzung mit Wielands Agathon steht unter anderem auch die Schwärmerei dieses Protagonisten. Für die Betrachtung der inneren Berauschung des Protagonisten Woldemar von Jacobi ist ein Zusammenhang zu einem im Teutschen Merkur erschienenen Beitrag von Wieland zu den Themen Enthusiasmus und Schwärmerei darzulegen, die in diesem Veröffentlichungsmedium zwei Jahre vor Jacobis Schrift Freundschaft und Liebe publiziert wurde. Der Fokus liegt auf dem Zulaß des Herausgebers, den Wieland dem Beitrag Auszüge aus einer Vorlesung über die Schwärmerei des vierten Bandes des Teutschen Merkur 1775 hinzufügt. So schwärmt z.E. Horaz, wenn ihn Bachus[sic!], von dessen Gottheit er voll ist, in unbekannte Hayne und Felshölen fortreißt. – und Petrarca, wenn es ihm vorkommt, daß die Seufzer und Klagen seiner Laura Berge versetzen und Flüße stehen machen könnten. Dem Worte Schwärmerey, in dieser Bedeutung genommen, entspricht das Wort Fantaticismus ziemlich genau; wiewohl dies letztere durch den Gebrauch einer besondern Gattung von Schwärmerey, nehmlich der religiosen zugeeignet worden ist.188 Für Wieland ist die Schwärmerei ein Resultat der Einbildungskraft, dem keine realweltliche Entität zugrunde liegt. Das bedeutet, Dinge und Begebenheiten werden durch die Schwärmerei imaginativ verstellt oder gänzlich erdichtet. Die betroffene Person weist

187 Vgl. JBW 1,1, S. 159–177. 188 Vgl. [Christoph Martin Wieland (Hg.):] Der Teutsche Merkur vom Jahr 1775. Viertes Vierteljahr. Weimar 1775, S. 151–155, hier S. 152.

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ihrer Schwärmerei eine enorme Bedeutung und großen Wert zu. Wieland zieht den Begriff des »Fantaticismus« zur Beschreibung heran, verweist jedoch darauf, dass mit diesem Begriff gemeinhin auf die »religiöse Schwärmerey« verwiesen wird. Versteht man Schwärmerei als einen allgemeinen Fanatismus, dann wird damit der rigorose Glaube und das uneingeschränkte Eintreten für ein Ziel begrifflich gefasst. Dieser Fanatismus trete als eine innere Zustandsform der Besessenheit von etwas auf. Dieses Objekt der Begierde des Bessenseins ist für Wieland bei der Schwärmerei gegenständlich: »Der Schwärmer ist begeistert wie der Enthusiast; nur daß diesen [den Enthusiasten] ein Gott begeistert nur jenen [den Schwärmer] ein Fetisch.«189 Durch diese Differenzierung wird deutlich, dass nicht der fanatische Zustand die »Schwärmerey« gegenüber dem »Enthusiasmus« bei Wieland abwertet, sondern es ist der Fokus dieser Begeisterung, der den Unterschied markiert.190 Während der Enthusiasmus die Begeisterung für Gott beschreibt, ist die Schwärmerei eine Begeisterung für einen Fetisch. Wieland führt literarturgeschichtliche Fallbeispiele für Schwärmerei an. Bei Horaz betrachtet er die »unbekannte[n] Hayne und Felshölen« als Fetisch für den Gott Bacchus.191 Es handelt sich hierbei nach Wieland um Schwärmerei, da die »Hayne und Felshölen« an sich realweltliche Entitäten sind, die nicht gleich dem Gott Bacchus sind.192 Bei Horaz werde das Göttliche fetischisiert, da es mit den »unbekannte[n] Hayne[n] und Felshölen« gleichgesetzt werde.193 Diese Elemente werden verklärt und damit kommt ihnen subjektiv eine Bedeutung zu, die von ihrer eigentlichen Beschaffenheit abstrahiert. Schwärmerei ist eine radikale Subjektivierung der Wirklichkeitsauffassung, die als eine krankhafte Erhöhung des eigenen Ichs verstanden wird. Das eigene Ich wird von betroffenen Personen im Selbstbild erhöht, da diese sich im schwärmerischen Streben als besonders erleben und sich eine besondere Auffassungsgabe zuschreiben und/oder für Ideale einstehen. Im Fallbeispiel des Horaz bei Wieland liegt die vermeintliche Erkenntnisfähigkeit darin, die naturalen Entitäten nicht als Zeichen des Gottes Bacchus, sondern als den Gott selbst anzusehen. Schwärmerei liegt in diesem Fall vor, da sich die Begeisterung nicht mehr auf Bacchus selbst, sondern auf den durch die Einbildungskraft konstruierten Fetisch der »Hayne und Felshölen« richtet.194 Schwärmerei ist die auf den Fetisch verschobene, leidenschaftliche Erregung. Ähnlich verhält sich auch das Beispiel Petrarcas. Die »Berge […] und Flüße«, die in der subjektiven Perspektive durch die Liebesklagen versetzt werden, intensivieren den Schmerz der unerfüllten Liebe.195 Diese Elemente werden so zum Fokus der klagenden Trauer der unerfüllten Liebe. In der Naturbeschreibung wird das innere Leid verarbeitet. Die »Berge und Flüße« werden zum Fetisch der Liebe zum bei Petrarca angesprochenen Du namens Laura. Das bedeutet, dass nicht mehr Laura selbst im Fokus der Begeisterung steht, sondern Landschaftselemente ihren Platz einnehmen. Dies verweist darauf, dass die Grenze zwischen krankhafter Schwärmerei und sublimierendem

189 190 191 192 193 194 195

Vgl. Ebd., 154. Vgl. Ebd., S. 152–154. Vgl. Ebd., S. 153f. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd.

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Enthusiasmus verschwimmt. Der Prozess der Fetischisierung wird zum Abrutschen vom Enthusiasmus zur Schwärmerei und antizipiert das Verschwimmen der Grenzen dieser beiden Begriffe bei Wieland. Ich vergesse hier gar nicht, daß die Grenzen des Enthusiasmus und der Schwärmerey in jeden Menschen schwimmen; daß der Enthusiast oft schwärmt; daß weder andere noch er selbst allemal mit Gewissheit sagen können, was, von allem was in ihm vorgeht, der einen oder der anderen Ursache zuzuschreiben ist.196 Diese Verwischung von Schwärmerei und Enthusiasmus macht nicht zuletzt die reine Hinwendung zum Göttlichen so komplex. Es ist die unklare Grenze, die erklärt, warum Wieland für eine Aufwertung des Begriffs der Schwärmerei einsteht und sie als einen genuinen menschlichen inneren Prozess herausstellt. Schwärmerei ist »eine Erhitzung der Seele von Gegenständen, die entweder gar nicht in der Natur sind, oder wenigstens das nicht sind, wofür die berauschte Seele sie ansieht.«197 Diese Berauschung kann durchaus im Enthusiasmus ihren Anfang genommen haben, jedoch zeigt sich der Unterschied im Moment des Leidens. Schwärmerei muss zu Schmerzen führen, denn »Schwärmerey ist Krankheit der Seele, eigentliches Seelenfieber […].«198 In der besessenen Entfachung des Inneren erwärmt sich die Seele so sehr, dass Wieland den Vergleich mit dem Krankheitszustand des Fiebers heranzieht. Die Betonung der Schwärmerei als krankhaft legt die Annahme nahe, sie als eine innerliche Zustandsform zu betrachten, die überwunden werden muss. Dieser Überwindungsprozess ist wie Heilung eines Fiebers und wird als »Schwärmerkur« bezeichnet.199 Trotz der Verstrickung von Schwärmerei und Enthusiasmus gibt es für das Erstere als Krankheit Diagnosekennzeichen. Ein bestimmendes Kennzeichen ist ein »unübersehbares Defizit an Weltklugheit und Welterkenntnis«.200 Die schwärmerischen Ideale können »nur gefühlsmäßig und […] nicht intersubjektiv überzeugend« mitgeteilt werden.201 Schwärmerei kann diagnostiziert werden, wenn Ideale empfunden werden, die sich nur subjektiv etablieren lassen und die betroffene Person kaum Lebenserfahrung aufweist. Bei der Schwärmerei handelt es sich oftmals um Ideale, die einen gedanklichen Daseinszustand des Menschen mit utopischen Zügen entwerfen. Diese Ideale in der Wirklichkeit für möglich zu halten, ist Schwärmerei, da nicht nach dem Vorhandensein der Bedingungsmöglichkeiten dieser Ideale gefragt wird und auch nicht, ob andere Menschen diese Ziele überhaupt 196 Ebd., S. 154. 197 Vgl. Ebd., S. 152. Vgl. auch: Manfred Engel: Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmens in Spätaufklärung und früher Goethezeit. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994, S. 469–498, hier S. 472. 198 Vgl. [Christoph Martin Wieland (Hg.):] Der Teutsche Merkur vom Jahr 1775. Viertes Vierteljahr. Weimar 1775, S. 151–155, hier S. 153. 199 Vgl. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Metzler, 1977, hier S. 197–203. 200 Vgl. Manfred Engel: Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmens in Spätaufklärung und früher Goethezeit. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994, S. 469–498, hier S. 471. 201 Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

teilen und ähnlich positiv bewerten. Demnach gibt es bei Wieland zwei distinkte Arten der Schwärmerei: die fetischierende und die subjektiv idealsetzende Schwärmerei. Beiden Arten der Schwärmerei sind radikale Subjektivierungsformen von Wirklichkeit. Die von Wieland angeführten Fallbeispiele verdeutlichen dies noch einmal: Bei Horaz erscheint ein Daseinszustand nah beim Bacchus als erstrebenswertes Ideal, da er aber »von dessen Gottheit [] voll ist«, ist diese Zielsetzung subjektiv.202 Mit der Erfülltheit des Horaz mit der »Gottheit« des Bacchus wird auf eine innere Berauschung hingewiesen, da Bacchus als Gott des Rausches bekannt ist.203 Diese Formulierung Wielands bekräftigt, dass Schwärmerei eine Besessenheit ist, denn hier ist es die »Gottheit« des Bacchus, die in Horaz eingeht und ihn zu einer aufgebrachten und aufrührerischen inneren Zustandsform bringt, die ihn »fortreißt« in »unbekannte Hayne und Felshölen«.204 Bei Petrarca wird ebenfalls die Subjektivierung der Wirklichkeitsperspektive durch die Schwärmerei betont, weil »es ihm vorkommt, daß die Seufzer und Klagen seiner Laura Berge versetzen und Flüße stehen machen könnten«.205 Petrarca wird als Sprechinstanz gedanklich erfüllt von Laura dargestellt und seine Wirklichkeitsauffassung verändert sich. Folglich begegnen ihm Berge und Flüße, die seine unerfüllte Liebe mitempfinden und Anteil an den »Seufzer[n] und Klagen« nehmen.206 Das entworfene Ideal ist hier eine erfüllte Liebe, wobei mit Blick auf Petrarcas Canzoniere die Eventualität besteht, dass es die Geliebte selbst sei, die der Erfüllung im Wege stehe. Der Enthusiasmus wird ebenfalls als eine »Erhitzung der Seele« definiert, aber in diesem Fall rekurriert die Erhitzung auf eine realweltliche Entität und beschreibt »die Würkung des unmittelbaren Anschauens des Schönen und Guten, Vollkommenen und Göttlichen in der Natur […].«207 Der Enthusiasmus schildert eine »Berührung von Gott« und dadurch auch »Einwürkung der Gottheit«.208 Der »enthusiastische Mensch« befinde sich demnach in einem Daseinszustand, in dem das Innere von Göttlichem »glüht«.209 Somit ist der Enthusiasmus »Gott in uns« und damit ist er das entsubjektivierte Ideal einer innerlichen Zustandsform des Menschen.210 Der verschwommenen Grenze zwischen Schwärmerei und Enthusiasmus haftet damit etwas Erschütterndes an, denn zwei so unterschiedliche innere Zustandsformen des Menschen liegen so nah beieinander und können sich dynamisch von dem einem ins andere wandeln. Vor dem Hintergrund dieser Nähe von Schwärmerei und Enthusiasmus muss Jacobis Vergleich von Schwärmerei und »reine[r] Vernunft« betrachtet werden.211 Jacobi schreibt am 20.08.1772 an Wieland im Zuge seiner Agathon-Anmerkungen:

202 Vgl. [Christoph Martin Wieland (Hg.):] Der Teutsche Merkur vom Jahr 1775. Viertes Vierteljahr. Weimar 1775, S. 151–155, hier S. 152. 203 Vgl. Ebd. 204 Vgl. Ebd., S. 152–154. 205 Vgl. Ebd. 206 Vgl. Ebd. 207 Vgl. Ebd., S. 152. 208 Vgl. Ebd. 209 Vgl. Ebd., S. 153. 210 Vgl. Ebd. 211 Vgl. JBW 1,1, S. 159–162, hier S. 160.

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Agathon ist, bei seiner Schwärmerei, ein Jüngling voll Geist und Scharfsinn; seine Empfindungen, Erfahrungen und Ideen hängen gut zusammen; in seiner Schwärmerei ist nichts Ungereimtes, nichts Phantastisches; sie ist natürlich, die reine Vernunft kann neben ihr bestehen; mit einem Worte, es geht ihm, um ein Weiser zu seyn, nichts anderes ab, als noch mehr Erfahrung und ausgebreitetere Kenntnisse.212 Für Jacobi weist Wielands Protagonist eine besondere Form der Schwärmerei auf, die nur ein Diagnosemerkmal erfüllt. Ihm fehle einzig Lebenserfahrung, jedoch leide er nicht unter einer zu starken Subjektivierung der Wirklichkeitsauffassung, da »in seiner Schwärmerei […] nichts Ungereimtes, nichts Phantastisches [ist]«. Eine solche Schwärmerei »ist natürlich« und bestehe neben der »reine[n] Vernunft«. Sie vertritt Ideale, die intersubjektiv vermittelbar und nachvollziehbar sind. Daher kann sie neben der »reine[n] Vernunft« bestehen. Da dieser inneren Berauschung aber »mehr Erfahrung und ausgebreitere Kenntnisse« fehlt, sind diese Ideale weiterhin nicht an die Möglichkeitsbedingungen der Wirklichkeit angepasst. Agathon weist für Jacobi aus diesem Grund eine spezielle Form der Schwärmerei auf. Legt man Wielands Definition von Schwärmerei zugrunde, dann zeigt Jacobis Auseinandersetzung mit dem Agathon, dass er verschiedene Formen von Schwärmerei unterscheidet. Agathons Schwärmerei wird von ihm nicht als krankhaft beschrieben, vielmehr erscheint sie als ein Entwicklungsstadium eines »Weise[n]«. So schildert Jacobi die Schwärmerei als eine Anlage eines eigentümlichen Menschen. Aus diesem Grund hebt er hervor, dass Agathons Schwärmerei »natürlich« sei. Bei Wieland wurde die Schwärmerei in ihrer Affinität zum Enthusiasmus aufgewertet. Jacobi erweitert die Hochschätzung der Schwärmerei zu einer natürlichen Anlage. Schwärmerei ist in der ersten Buchfassung des Woldemar von 1779 in dieser akzentuierten Weise zu betrachten. Die wielandsche Unterscheidung von Enthusiasmus und Schwärmerei ist in dieser Woldemar-Fassung explizit benannt und mit den beiden Figuren Henriette und Woldemar verbunden. Unterdessen aber hatte man auch allgemach in der Familie gelernt Woldemaren besser zu verstehen; und das war gröstentheils Henriettens Werk. Sie wußte so einnehmend zu erzählen, wie bey den Clarenaus mit Woldemar umgegangen wurde, daß dadurch unvermerkt bey den Zuhörern der Reiz der Nachahmung entstand, und die Grillen des Menschen ein Ansehen von Liebenswürdigkeit, manchmal gar von Erhabenheit bekamen. Es läßt sich nicht sagen was für einen leichten, nachläßigen und muntern Ton sie dabey hatte; den hatte sie aber vorzüglich, wenn sie auf besondre Entwicklungen von Woldemars Character kam, oder seine Vortreflichkeit darstellte; das immer nur von ohngfähr, oder doch – wie von ohngefähr geschah; man war im höchsten Enthusiasmus, und wußte es nicht; wenigstens konnte man Henrietten nicht Schuld geben, daß sie einen angesteckt habe; so frey, so unbefangen schien sie dabey, und so rein und schlecht gab sie’s hin.213 Henriette wird mit Enthusiasmus verbunden. Dies zeigt sich in einer Begeisterung, der sie sich nicht bewusst ist. Sie erzählt der Familie um Biderthal, wie bei Allwina und ihren 212 213

Ebd. JWA 7,1, S. 31f.

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Tanten mit Woldemar umgegangen wird und entfesselt »den Reiz der Nachahmung«. Doch »unvermerkt« mit diesem Reiz gaben sie auch den »Grillen des Menschen ein Ansehen von Liebenswürdigkeit, manchmal gar von Erhabenheit«. Dies ist eingebettet in Henriettes Erzählen über Woldemar, sodass an dieser Stelle ein Bezug auf seine »Grillen« genommen wird. Mit dem Ausdruck Grille wird eine schwärmerische Idee bezeichnet und sie impliziert den Kontrast zwischen Henriette in ihrer enthusiastischen und Woldemar in seiner schwärmerischen Zustandsform. Diese Kontrastierung wird weiter ausgebaut. Die Unarten ihres Freundes war sie geständig, und sie neckte ihn bey jeder Gelegenheit damit. Dies mochte sie mit dem schärfsten Witz thun, Woldemar wurde nie böse, sondern er hatte eine wahre, herzliche Freude darüber; nur zuweilen wenn sie ihn an einer Seite traf, die er selbst noch nie so recht wahrgenommen hatte, wurde er ernsthaft und brach dann auf die herbeste Weise und manchmal mit ungemeiner Hitze wider sich selber aus; aber ihre Laune wußte dieses Feuer noch geschwinder zu löschen, als sie es angefacht hatte. Auch in jedem andern Fall, wenn Woldemars Enthusiasmus in Schwärmerey ausarten wollte, war sie gleich da, um ihn beym Ermel zu zupfen. Sie konnte seinen Ideen und Empfindungen in ihrem höchsten Schwunge nach[fühlen]; und Er war nicht weniger aufgelegt, ihre feinsten Bemerkungen und scharsinnigsten Raisonnements in ihrem ganzen Umfang zu erwägen, und sie für das was sie waren, bey sich gelten zu lassen. Daher die herzlichste Gattung von Uebereinstimmung unter ihnen, jenes Gleichgewicht – jenes Zusammenfließen in Glauben – oder in Zweifel – jenes – wo man die Gegenwart des Freundes so lebhaft fühlt, und mit einer Rührung ihn umschlingt, die nichts anders so erwecken kann.214 Anders als Henriette neigt Woldemar dazu, eine Hitzigkeit im Inneren zu entwickeln, bei der sein »Enthusiasmus in Schwärmerey ausarte[t]«. Dieses Abdriften verhindert Henriette, indem sie Woldemars ungestümer Art Einhalt gebietet und »ihn beym Ermel« zupft. Henriette erscheint als Person, die einen gefestigten Enthusiasmus aufweist. Woldemar hingegen stellt jemanden dar, der die Anlage zur Schwärmerei aufweist, die nur durch die freundschaftliche Betreuung von Henriette eingedämmt wird. Sie kann »seinen Ideen und Empfindungen in ihrem höchsten Schwunge« folgen, was sie als Person herausstellt, die aufgrund der »herzlichste[n] Gattung von Uebereinstimmung« fähig ist, genau die Momente und Auffassungen zu treffen, an der sein Enthusiasmus in Schwärmerei umschlägt. In der Frühfassung wird die Seelenfreundschaft der beiden durch die Erzählinstanz beglaubigt, denn zusammen haben sie ein »Gleichgewicht«, das über die Möglichkeit des einzelnen hinausgeht. Zu Woldemars »Ideen und Empfindungen« gesellen sich Henriettes »feinste[] Bemerkungen und scharsinnigste[] Raisonnements«. Dieses »Zusammenfließen« beschreibt eine zwischenmenschliche Bindung, bei der sich die beiden gegenseitig ergänzen. Woldemar ist jemand, der eine besondere innere Regungskraft aufweist und Henriette ist ein Mensch, der sie in die angemessenen Bahnen lenken kann. Ihre Verbindung führt sie »in Glauben – oder in Zweifel« zu einer Erhöhung des eigenen Ichs, in der sie »die Gegenwart des Freundes so lebhaft fühl[en]«. Die Freundschaft wird zu einer Vergewisserung der eigenen existenziellen Grundkraft, denn 214 Ebd., S. 32.

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die Präsenz des Freundes bestätigt das Vorhandensein des eigenen Inneren als geistige Daseinsentität des Menschen. Die Seelenfreundschaft erscheint als eine im Leben empirisch erlebbare Versicherung der seelischen Existenz und damit einer existenziellen Sphäre, die der Endlichkeit der körperlich sinnlichen Erfahrungswelt enthoben ist. Doch genau an dieser Stelle zeigt sich die Verwischung von Enthusiasmus und Schwärmerei, denn Henriette geht die Freundschaft zu Woldemar ohne spezifische Erwartungshaltungen und damit verbundenen Zielen ein. Woldemar dagegen hatte sich nach einer solchen Freundschaft und nach der damit einhergehenden Vergewisserung einer seelischen Daseinsdimension gesehnt. In dem Brief datiert auf den »23ten August« schreibt Woldemar an Biderthal: Ich wurde duldsam und stille … Lieber, mir rollen die Thränen herunter, vom Andenken meiner einsamen Wehmuth! – Jede Lust machte mich betrübt, weil sie nur Staub war vom Winde aufgeregt; dahin fuhr mit dem Lichtstrahl, mit dem Schall, mit dem Wallen des Blutes. Ich wollte Raum machen in meiner Seele; erretten wenigstens für mein Theil, was an mir war: – aber, ach! dann erwachte mein Herz, und ich fühlte zehnfaches Leiden. Wie oft hab’ ich auf meinem Angesicht gelegen, vor der aufgehenden Sonne und vor der niedergehenden, unter dem Mond und den Sternen, voll Liebe und voll Verzweiflung, und habe geklagt, wie Pygmalion vor dem Bilde seiner Göttinn… – Und wie Er, – Dank und Preis sey dem Ewigen! – und wie Er, nicht vergebens!215 Im Gegensatz zu Henriette verlangt es Woldemar vehement danach, jemanden zu finden, der ihm die seelische Daseinssphäre im Leben erfahrbar macht. Er wollte das seelisch Metaphysische im Leben bewiesen wissen. Diese Haltung gegenüber dem seelisch Metaphysischen ist im spätaufklärerischen Kontext als Schwärmerei zu betrachten.216 Die Freundschaft von Henriette und Woldemar ist beides zugleich: Bei Henriette ist sie Enthusiasmus, da sie in der inneren Erfüllung eine Sublimationserfahrung durch die Freundschaft erlebt, doch bei Woldemar ist sie eine Schwärmerei, da er Henriette als Fetisch seines Drangs nach einem Beweis des metaphysisch Göttlichen im Leben setzt. Das Pygmalion-Motiv affirmiert dies. So wie Pygmalion vor seiner Statue klagt, dass sie zum Leben erwache, so klagt Woldemar, dass er im Anderen sein eigenes Ich wiederfinde. Cornelia Ortlieb hat darauf hingewiesen, dass die Thematisierung des Pygmalion-Motivs im Briefwechsel zwischen Wieland und Jacobi eine wichtige Rolle für ihre empfindsame Freundschaftsauffassung spielt.217 Sie zeigt, dass Wieland und Jacobi mit diesem Motiv auf das gleichnamige Bühnenstück von Rousseau Bezug nehmen. Die empfindsame Umdeutung des Pygmalion-Motivs artikuliere eine Verschmelzung von »Subjekt und Objekt« und drücke eine »dort evozierte leib-seelische Verschmelzung der Liebenden einerseits durch ihre Erweiterung auf drei Personen218 und andererseits durch ihre direkte

215 216 217 218

Vgl. Ebd., S. 61f. Vgl. dazu: Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin 1995, S. 192–201. Vgl. Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 84–89. Gemeint sind hier die Jacobi-Brüder und Wieland.

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Anbindung an den antiken Topos vom Freund als ›anderem Ich‹« aus.219 In der Aufrufung des Pygmalion-Motivs im Brief Woldemars zeigt sich die Erweiterung auf drei Personen in der Konstellation Woldemar – Henriette als Seelenfreundschaft und Woldemar – Biderthal als biologisch brüderliche Freundschaft. Woldemar verschmilzt als begierdevolles Subjekt mit dem gewünschten Objekt, das Henriette als die sehnsüchtig begehrte Seelenfreundin ist. In dem Sehnen wird die Andersartigkeit des Freundes nicht erfasst, sondern absorbiert, sodass der Freund als anderes Ich mit dem Ich gleichgesetzt wird. Aus seiner Sicht bildet er mit Henriette ein einziges Ich. Du hattest mir Henrietten zur Gattin ausersehen; aber das sollte nicht seyn; sie war bestimmt, meinem Schicksal eine viel merkwürdigere Wendung zu geben. Das himmlische Mädchen deutete mir meinen alten Traum von Freundschaft; half ihm zur Erfüllung; machte mir ihn war. Kaum dacht’ ich zuweilen noch an diesem Traum, und nie anders, als wie man an ein Hirngespinste denkt. Ich hatte Freunde von allen Gattungen gehabt; hatte mit anhaltender Leidenschaft den Menschen tief erforscht; hatte meiner eigenen Seele auf den Grund geschaut; und hatte gefunden: daß wir samt und sonders zu viel heftige Begierden im Busen tragen; zu gewaltsam von den Sorgen, Geschäften, Qualen und Freuden des Lebens herumgetrieben, hin und her gerissen, entzüket und gefoltert werden: als daß irgendwo in diesen Zeiten, zween Menschen so Eins werden und bleiben könnten, wie meine liebevolle Schwärmerey es mich hätte träumen lassen.220 Diese Idee einer totalen Verschmelzung mit dem anderen im Inneren sieht Woldemar als die Verwirklichung seines »alten Traum[s] von Freundschaft« an. Es ist kein Zufall, dass Woldemar diese Freundschaft mit Henriette realisiert sieht und nicht mit seinem Bruder Biderthal. Die Beziehung mit Henriette unterstreicht durch die Zwischengeschlechtlichkeit die innere Bindung, indem ihre vollkommene Übereinkunft gänzlich von Körperlichkeit abstrahiert. Eine solche Freundschaft ist erhaben und fragt ausschließlich nach dem Inneren des Menschen. Im Inneren »Eins werden« erscheint daher als eine Relativierung des Körpers, sodass Seelenfreundschaft zu einem Ich in verschiedenen Körpern wird. Wenn man als Mensch »rechten Sinn für einander haben« möchte, muss man den Körper außer Acht lassen und nach dem Inneren, nach dem jeweils eigentümlichen Ich, fragen.221 Woldemar nennt bei der Explikation seines Traums von Freundschaft selbst Ausdrücke, welche die Bedeutung seiner Einbildungskraft betonen. Er hatte diesen Freundschaftstraum schon als »ein Hirngespinste« verworfen, doch Henriette »deutete« ihm die Möglichkeit dieses Traums. Mit ihr Eins zu werden und es dann auch zu »bleiben« ist eine Sublimation des eigenen Inneren. Die Vergeistigung des eigenen Lebens erscheint als eine Erhöhung, da das Innere des Menschen seine über die sinnliche Wirklichkeit hinausweisende existenzielle Entität ist. Die Verinnerlichung des eigenen Lebens, die Woldemar durch das Finden einer Seelenfreundschaft anvisiert, ist als eine innere Berauschung anzusehen.

219 Vgl. Ebd., hier S. 89. 220 Vgl. JWA 7,1, S. 58–68, hier S. 63. 221 Vgl. Ebd., hier S. 61.

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Er ist von dem Traum berauscht im diesseitigen Dasein die Existenz eines jenseitigen Daseins beweisen zu können und auf diese Weise zu einer metaphysischen Daseinsvergewisserung zu gelangen. Henriette erscheint ihm als Person, mit der er dies umgesetzt hat, obwohl auch in dieser Fassung Woldemar weder ihr Leid über den Tod ihres Vaters mit dem Gelübde noch ihre gesellschaftliche Lästerung mitbekommt. Hier deutet sich an, was in der späteren Fassung zum Zentrum wird: Woldemar ist subjektiv befangen und erfüllt selbst nicht die Möglichkeitsbedingungen einer solchen Freundschaft. Aus seiner Sicht ist das Verhältnis zu Henriette sogar mehr als »[s]eine liebevolle Schwärmerey es [ihm] hätte träumen lassen«. Die Freundschaft zu Henriette zeichnet sich bei Woldemar als empfundene Befreiung aus den Beschränkungen der Endlichkeit ab, die in der Festlegung des Daseins auf Körperlichkeit erlebt wird. Ihre Seelenfreundschaft wird zur Überwindung dieser Beschränkung und verweist auf eine metaphysisch göttliche Dimension, in der die erfahrenen Schranken in einer allumfassenden Einheit aufgelöst werden. Die Freundschaft bekommt so eine erlösende Komponente, denn sie ist für Woldemar ein Heil, das ihn zu einem neuen Daseinsbewusstsein führt. Dieses Bewusstsein geht weiter, als seine Schwärmerei es hätte erträumen können. Träumen ist ein Erleben, das ausschließlich im Inneren des Menschen stattfindet. Im Traum sind die Erlebnisse von den eigentlichen Bedingungen des Wahrnehmens entbunden. So können Erlebnisse erfahren werden, die niemals in der Wirklichkeit gemacht werden könnten. Dieses Erleben erscheint, so lange der Traum anhält, als real. Eine Schwärmerei wird verstanden als eine Erhitzung der Seele, die das Innere aufwühlt. Ein entfesseltes Inneres kann den Zustand des Träumens als Ventil nutzen, die Begebenheiten der Unruhe zu verarbeiten und Erlebnisse im Bewusstseinsmodus des Träumens erfahrbar zu machen. Woldemar betont aber, dass die Wirklichkeit mit Henriette eine intensivere Beziehung zu einem Menschen beschreibt, als ein solcher Traumzustand hätte erlebbar machen können. Dies zeigt, dass Woldemar für Henriette eine Schwärmerei aufweist, bei der er nicht für sie als Andere und Freundin schwärmt, sondern sie als Fetisch seiner begehrten Ich-Entgrenzung aus der Endlichkeit setzt. Diese Schwärmerei kann von Henriette nicht verhindert werden, sondern wird durch ihre innige Beziehung zueinander bestärkt. Es kommt, durch das Wissen Woldemars über Henriettes Gelübde und aufgrund ihrer Bitte um Zurückhaltung im öffentlichen Umgang, zum Kollaps der Freundschaft. Am Ende schreibt Woldemar einen an Allwina adressierten Brief, der nicht versendet und von Henriette gelesen wird. In diesem Brief problematisiert Woldemar die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen als Entfremdung voneinander, die eine »Sympathie« in »Antipathie« verwandle: – – In alle Wege, je fähiger der Mensch zur Glückseeligkeit [sic!] wird; je unglücklicher wird er in der That: je vortreflicher Menschen werden, die einander gut sind; je loser, je unsteter wird ihre Verbindung. Indem der Eine, oder der Andere, oder beyde zugleich sich mehr ausbilden, jeder in dem Seinigen, – werden sie sich unähnlicher; indem sie an Kraft gewinnen, ihr Gesicht sich weiter ausbreitet; selbst ihr Herz sich erweitert, – werden sie, gegenseitig, eigener, – werden sie unabhängiger von einander; – ihre Sympathie – kriegt die Antipathie – und ihre Freundschaft hat ein Ende.222

222 Vgl. Ebd., S. 102–105, hier S. 104.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

Hier wird eine Freundschaft unter den Bedingungen der Alterität ausgeschlossen. Sobald der Freund als Anderer erlebt wird, wird er als Freund negiert. Die Ausbildung einer eigenen »Kraft« führe zu Vereinzelung des Menschen. Mit einem gesteigerten Selbstsein bilde der Mensch eine Unabhängigkeit von anderen aus, die soziale Bindungen wie die Freundschaft relativiere und diese Verhältnisse »loser« und »unsteter« macht. Freundschaft versteht Woldemar ausschließlich als Identifikation des eigenen Ichs im Anderen. Er diagnostiziert mit dieser Feststellung sein eigenes soziales Problem, doch die Frühfassung stellt dies nicht als solches aus, sondern hebt Woldemars subjektive Befangenheit als besondere Eigentümlichkeit hervor. Aus diesem Grund bleibt Woldemars Freundschaftskonzeption als Ideal in der Frühfassung unangetastet, sodass nicht das Ideal einer solchen Freundschaft, sondern die Realisierungsmöglichkeit hinterfragt wird. Am Ende der Frühfassung gibt es kein inneres Wandlungsgeschehen Woldemars. Sie kamen nach und nach zu minder heftigen Worten; geriethen endlich in ein anhaltendes Gespräch. – Henriette wußte, all die Liebe die in ihr war, und mit der sie unverrückt an Woldemarn gehangen, ihm jetzt so nah ans Herz zu bringen, daß er sie fühlen, daß er sie eingestehen mußte. Unvermerkt wurde seine Seele von süßen Empfindungen wie berauscht, – sein Gram übertäubt; und die Wonne, die er genoß, durchdrang ihn so ganz, daß es ihm genug daran dünkte, sein Leben zu beglücken. Bis auf den folgenden Tag läuterte sich sein Zustand; die fieberhaften Bewegungen hörten auf: er schwebte nicht mehr in Entzükkungen; aber Beruhigung, stille Zufriedenheit traten an die Stelle. Er fühlte, daß sein Herz in einem guten Verbande lag, so daß der Schaden daran ihn wenig beschwerte, und allmählig wohl noch heilen könnte. Henrietten war er lieber als jemahls geworden, und sie ermüdete nicht, es unaufhörlich ihn sehen zu lassen. Die holde Weise, womit sie es that, vermehrte den Eindruck: denn es wurde ihm auffallend, daß Henriette auch in der Freundschaft gewisse Vorzüge besitze, welche gegen die seinigen eben der Art, wohl in Betrachtung zu kommen verdienten, und ihnen ziemlich die Wage [sic!] halten möchten.223 Woldemar gelangt nicht zu einer veränderten Sicht auf sein eigenes Selbst und nur ansatzweise gesteht er Henriette eine Andersartigkeit als Freundin zu. Im Gefühl offenbart sich allerdings die Aufrichtigkeit von Henriettes Freundschaft zu Woldemar und er muss »sie eingestehen«. Sein krankhafter Zustand, der sich im Zuge des Freundschaftszusammenbruchs eingestellt hatte, weicht »Beruhigung« sowie »stille[r] Zufriedenheit«. Er räumt ein, dass auch Henriettes Auffassung von Freundschaft »gewisse Vorzüge« aufweist. »[S]ein Herz [lag] in einem guten Verbande«, weil sein früherer innerer Tumult im Abgleich mit Henriettes wirklicher freundschaftlicher Zuneigung zunehmend ungerechtfertigt erscheint. Vielmehr impliziert das Ende der Frühfassung, dass dieser Aufruhr im Inneren in Woldemars leidenschaftlichem und hitzigem Charakter begründet ist. Wenn Er sie an Gluth der Seele, an hohem und tiefem Sinn übertraf: so übertraf Sie dagegen ihn an wahrer Zärtlichkeit und unvermischtem Adel des Herzens; an Lauterkeit, Schönheit und durchgängiger Harmonie der Empfindungen. Seine Ergebenheit gegen

223 Ebd., S. 107.

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sie mochte noch so stark, so ungemessen erscheinen: die Ihrige gegen ihn hatte etwas, das man dennoch für uneigennütziger, sogar für fester halten konnte. Zwar widerstritt er das sehr hartnäckig; aber nicht immer mit dem besten Gewissen. Heimlich fühlte er einigen Zweifel – und lächelte innerlich dazu – ob nicht auf Henriettens schüchternes, gehaltenes Wesen doch im Grunde mehr Verlaß sey, als auf das muthvolle, heftige – und ungestüme des seinigen. Wahrscheinlich wäre alles gut geblieben und immer besser geworden, wenn nicht aus dem Vergangenen ein[] fremde[s] Ereigniß sich unversehens entwickelt hätte, welche[s] für Woldemarn und Henrietten, und alle die sie liebten, von den schrecklichsten Folgen war.224 Am Ende zeigt sich, dass Woldemars Charakter und seine Bindung zu anderen weder »uneigennützig« noch »fest« sind. Die Vorwürfe, die gegen ihn durch die Figur Hornich aufgeworfen wurden, erweisen sich als zutreffend, auch wenn er es sich selbst noch nicht offen eingesteht. Jutta Heinz sieht in diesem Ende die Heilung von Woldemars Schwärmerei, denn Henriette werde »nicht mehr zur lebenden Göttin funktionalisiert, die für die Präsenz seiner Ideale einsteht«.225 Woldemars Schwärmerei bezüglich der Freundschaft mit Henriette ist kuriert, aber an seinem Selbstbild als moralisches Genie bröckelt nur langsam die Fassade. Es wird die Einsicht angedeutet, dass im Gegensatz zu Henriettes selbstloser und beständiger Art zu lieben, es Woldemar selbst war, der die Freundschaft in die Krise führte. Damit zusammenhängend wird auch nur leicht darauf angespielt, dass die Freundschaftskonzeption einer vollkommenen Sympathie und inneren Übereinstimmung keine zwischenmenschliche, sondern eine Selbstliebe ist. Die Freundschaft der beiden wird sich weiter bewähren und verändern müssen, aber da die weiteren Bände der Frühfassung nie erschienen, bleibt die weitere Bewährungsprobe der Freundschaft aus. Bei dieser Frühfassung fehlt daher eine tiefergehende Entwicklung des Protagonisten und lässt eine narzisstisch geprägte und ich-zentrierte Person mit destruktiver Wirkung auf die Umgebung unverändert davonkommen. »Vornehmlich […] die letzten Blätter« hinterließen selbst auf Jacobi »einen solchen unerträglichen Nachgeschmack«, dass mit dem veränderten Konzept der Spätfassungen von vornherein eine kritischere Haltung gegenüber dem Protagonisten vorgegeben wird.

4.2.3 Die Woldemar- Spät- und Frühfassung im Vergleich Beim Fassungsvergleich werden die beiden untersuchten Fassungen gegenübergestellt, das sind die Buchfassung von 1779 und die überarbeitete Spätfassung von 1796. Ein wesentlicher Aspekt des Fassungsvergleichs betrifft den Protagonisten Woldemar. In der Frühfassung erscheint er als Mensch mit einer Anlage zur Schwärmerei, die ihn in seiner Eigentümlichkeit auszeichnet und als Naturgabe seinen Charakter prägt. Dadurch wird er laut Titel dieser Fassung zu einer Seltenheit aus der Naturgeschichte. Diese Subjektivitätshervorhebung weicht in der Spätfassung einer Psychologisierung der Figur Woldemar. Im Zuge dieser Psychologisierung zentriert die Spätfassung das Innere Woldemars

224 Vgl. Ebd., S. 107f. 225 Vgl. dazu: Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin 1995, S. 192–201, hier S. 199.

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sie mochte noch so stark, so ungemessen erscheinen: die Ihrige gegen ihn hatte etwas, das man dennoch für uneigennütziger, sogar für fester halten konnte. Zwar widerstritt er das sehr hartnäckig; aber nicht immer mit dem besten Gewissen. Heimlich fühlte er einigen Zweifel – und lächelte innerlich dazu – ob nicht auf Henriettens schüchternes, gehaltenes Wesen doch im Grunde mehr Verlaß sey, als auf das muthvolle, heftige – und ungestüme des seinigen. Wahrscheinlich wäre alles gut geblieben und immer besser geworden, wenn nicht aus dem Vergangenen ein[] fremde[s] Ereigniß sich unversehens entwickelt hätte, welche[s] für Woldemarn und Henrietten, und alle die sie liebten, von den schrecklichsten Folgen war.224 Am Ende zeigt sich, dass Woldemars Charakter und seine Bindung zu anderen weder »uneigennützig« noch »fest« sind. Die Vorwürfe, die gegen ihn durch die Figur Hornich aufgeworfen wurden, erweisen sich als zutreffend, auch wenn er es sich selbst noch nicht offen eingesteht. Jutta Heinz sieht in diesem Ende die Heilung von Woldemars Schwärmerei, denn Henriette werde »nicht mehr zur lebenden Göttin funktionalisiert, die für die Präsenz seiner Ideale einsteht«.225 Woldemars Schwärmerei bezüglich der Freundschaft mit Henriette ist kuriert, aber an seinem Selbstbild als moralisches Genie bröckelt nur langsam die Fassade. Es wird die Einsicht angedeutet, dass im Gegensatz zu Henriettes selbstloser und beständiger Art zu lieben, es Woldemar selbst war, der die Freundschaft in die Krise führte. Damit zusammenhängend wird auch nur leicht darauf angespielt, dass die Freundschaftskonzeption einer vollkommenen Sympathie und inneren Übereinstimmung keine zwischenmenschliche, sondern eine Selbstliebe ist. Die Freundschaft der beiden wird sich weiter bewähren und verändern müssen, aber da die weiteren Bände der Frühfassung nie erschienen, bleibt die weitere Bewährungsprobe der Freundschaft aus. Bei dieser Frühfassung fehlt daher eine tiefergehende Entwicklung des Protagonisten und lässt eine narzisstisch geprägte und ich-zentrierte Person mit destruktiver Wirkung auf die Umgebung unverändert davonkommen. »Vornehmlich […] die letzten Blätter« hinterließen selbst auf Jacobi »einen solchen unerträglichen Nachgeschmack«, dass mit dem veränderten Konzept der Spätfassungen von vornherein eine kritischere Haltung gegenüber dem Protagonisten vorgegeben wird.

4.2.3 Die Woldemar- Spät- und Frühfassung im Vergleich Beim Fassungsvergleich werden die beiden untersuchten Fassungen gegenübergestellt, das sind die Buchfassung von 1779 und die überarbeitete Spätfassung von 1796. Ein wesentlicher Aspekt des Fassungsvergleichs betrifft den Protagonisten Woldemar. In der Frühfassung erscheint er als Mensch mit einer Anlage zur Schwärmerei, die ihn in seiner Eigentümlichkeit auszeichnet und als Naturgabe seinen Charakter prägt. Dadurch wird er laut Titel dieser Fassung zu einer Seltenheit aus der Naturgeschichte. Diese Subjektivitätshervorhebung weicht in der Spätfassung einer Psychologisierung der Figur Woldemar. Im Zuge dieser Psychologisierung zentriert die Spätfassung das Innere Woldemars

224 Vgl. Ebd., S. 107f. 225 Vgl. dazu: Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin 1995, S. 192–201, hier S. 199.

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und die dort vorgehenden Wandlungsprozesse, sodass äußerliche Begebenheiten ausgeklammert werden. In der Frühfassung beschreibt die Erzählinstanz, dass Woldemar Grenzen eines öffentlichen Lebensbereichs nicht anerkennt und daher Schranken der feudal-gesellschaftlichen Ordnung sprengt. Als ihm in dieser gesellschaftlichen Welt alle Türen aufgehen, ist er von ihr angeekelt und flieht daraus.226 Diese Beschreibung Woldemars wird von der Erzählinstanz angeführt, nachdem sein Brief »aus R.« ihn als Figur eingeführt und er sich durch diesen intimen Brief an seinen Bruder mit einer Selbstaussprache seines Inneren unabsichtlich vorgestellt hat.227 Auch die kollektivbildende, idyllische Szene, die als Vorbereitung für Biderthal dient, die Familie in eine Gemütsverfassung zu bringen, in der er ihr diesen Brief Woldemars vorliest, wird erst nach diesem Brief beschrieben.228 Diese Voranstellung des Briefes Woldemars drückt die Zentrierung auf den Protagonisten aus, der in dieser Fassung als der wunderbare Mensch konstruiert wird, welcher aufgrund seiner von der Natur gegebenen Anlage des Inneren eine eigentümliche Subjektivität aufweist, die in dieser Fassung eher als Faszinosum denn als Problematik entworfen wird. Die Reihenfolge der Naturerlebnisse impliziert, dass die Frühfassung die Hervorhebung des Subjektiven und die Ich-Setzung Woldemars zum Gegenstand hat. Die Frage nach der Verbindungsmöglichkeit einer solchen radikalen Subjektkonzentration mit Sozialität deutet sich in dieser Fassung erst am Ende an und hinterfragt Woldemars Fähigkeiten. Woldemar durchläuft aber keine innere Entwicklung, sondern muss die freundschaftliche Liebe Henriettes anerkennen, obwohl er sein Ich nicht uneingeschränkt in ihr identifizieren kann. Die Schlussfolgerungen, die daraus für eine veränderte Selbstsicht zu ziehen wären, bleiben offen. In der Frühfassung erscheint das Innere des Menschen als eine Anlage, die mit der Natur beschrieben wird. Jacobi verwendet den Begriff der Natur in den 1770er Jahren auch zur Beschreibung des Inneren des Menschen. Dies heißt aber nicht, dass er damit das Innere mit dem Äußeren gleichsetzt, sondern er differenziert radikal zwischen einer äußeren und inneren Natur. Zur Verdeutlichung dieser Differenzierung wird im Zuge von Jacobis philosophischen Arbeiten der Begriff der Natur auf das Äußere eingegrenzt und schließlich als »Inbegriff des Bedingten« definiert.229 Die Betrachtungsweise des Inneren im Menschen verändert sich in diesem Zuge, indem es als eine sukzessiv-dynamische Entität verstanden wird. Es hat in der Spätfassung verschiedene Beschaffenheiten, die als sich wandelnde Zustandsformen betrachtet werden müssen. Diese Zustandsformen sind jedoch abhängig von der Zeit, das heißt, sie verändern sich stetig. Mit dieser Perspektive auf das Innere des Menschen verändert sich das Zentrum des Erzählwerks. Bei der Frühfassung steht die Darstellung von Woldemars Subjektivität im Vordergrund, die aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet wird. In der Spätfassung wird dagegen der Schwerpunkt auf Veränderungen des Inneren gelegt, da an verschiedenen Stellen prominent auf die Notwendigkeit eines Wandlungsprozesses im Inneren

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Vgl. dafür: JWA 7,1, S. 23f. Vgl. dazu: Ebd., S. 17–22, hier S. 17. Vgl. Ebd., S. 22. Vgl. Jacobis Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 16–30, hier S. 29 und die Beilage VII der erweiterten Spinozabriefe: JWA 1, 1, S. 247–265, hier S. 261.

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Woldemars hingewiesen wird. Die Entwicklung dieses Hergangs ist die in der Vorrede angekündigte »Darstellung einer Begebenheit«, die »die Hauptsache zu seyn« scheint.230 Diese Begebenheit »[s]cheint und scheint auch nicht« das Zentrum des Woldemar von 1796 zu sein. Diese Undeutlichkeit wird man der Sprechinstanz der Vorrede zufolge als »Fehler« auslegen.231 Doch die Sprechinstanz rechtfertigt diese Verworrenheit mit dem anvisierten »Zweck«: Diesen Vorwurf muß ich mir gefallen lassen. Mein Zweck konnte nur auf dem Wege, den ich eingeschlagen habe, von mir erreicht werden. Von der Wichtigkeit und Würde dieses Zwecks habe ich die innigste, deutlichste, vollkommenste Ueberzeugung; und ich bin mir auch der Mittel die ich, um ihn zu erreichen, angewendet habe, auf eine Weise bewußt, die mich beruhigt.232 Dieser »Zweck« fällt im Anschluss an die Hervorhebung der interdisziplinären Forschungsaufgabe »Menschheit, wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen zu legen«.233 Die Frühfassung des Woldemar enthüllt Woldemars Inneres durch die Beschreibung seiner Subjektivität. Die empfindsam-idyllischen Szenen fungieren in dieser Fassung als authentisches Erzählverfahren von Innerlichkeit, das eine unmittelbare subjektive Selbstaussprache Woldemars ermöglicht. Die empfindsam-idyllischen Szenen stellen in dieser Fassung eine subjektbetonte Erzählstrategie dar, mit der Woldemar sein Inneres mitteilt. Woldemars radikaler Subjektivismus wird in der Frühfassung als die Besonderheit seines Daseins bewertet. Diese Enthüllung ist ein umgreifender Einblick in seine Subjektivität. Mit der veränderten Programmatik bei den Spätfassungen entfernt sich der Fokus vom Subjekt. Der einzelne Mensch steht nicht als Subjekt im Vordergrund, sondern die »Menschheit«.234 Dieser veränderte Fokus korrespondiert mit der Konzentration auf eine Entwicklung Woldemars, die als ein ausschließlich inneres Geschehen erscheint. Der spezifische, seelische Reifeprozess ist eine Veränderung der eigenen inneren Erlebniswelt. Denn anders als in der Frühfassung erfasst Woldemar in der Spätfassung in den Momenten, in denen ihn Henriette und Biderthal um Vergebung bitten, seine eigene narzisstische Ich-Zentrierung und seinen Drang nach geistiger Vollkommenheit als Ursachen seiner Depressionsphase in der Freundschaftskrise mit Henriette. Mit dem Begriff Demut wird am Ende nicht – wie Friedrich Schlegel meint – auf die Barmherzigkeit Gottes angespielt, sondern demütig ist Woldemar am Ende vor Henriette und Biderthal in ihrer jeweiligen Ichhaftigkeit. Der Entwicklungsprozess Woldemars ist die sukzessive Einsicht das Vorhandensein einer inneren Erlebniswelt nicht nur auf sich selbst zu beziehen, sondern auch dem anderen sein eigenes Ich ebenso einzugestehen. Dies wird an dem Freund als Chiffre für

230 231 232 233 234

Vgl. JWA 7,1, S. 206–209, hier 207. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 208. Vgl. Ebd., S. 207. Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

den Anderen-an-sich vorgeführt.235 Der Freund fungiert in der Spätfassung des Woldemar als Zeichen für den Anderen schlechthin und damit als Differenz. Sich selbst in einer Differenz zu erleben, bedeutet die Erfahrung einer Beschränkung. Woldemars Verlangen nach einer Ich-Entgrenzung und einer Sympathie als vollkommene Transparenz mit einem Anderen steht in dieser Fassung als Vorstellung von Freundschaft in der Kritik. Die Freundschaftsidee einer totalen Identifikation des Ichs im Anderen erscheint bei Woldemar als Resultat seiner psychischen Beschaffenheit. Sie ist Ausdruck seines Inneren, das noch nicht stark genug ist, sich über eine Unvereinbarkeit seines Daseins zu erheben. Die Paradoxie seines Strebens und seiner Sehnsucht erschließt sich ihm nicht, er wird schwermütig und geht »mit gesenktem Auge und wiegenden Tritte immer stiller, leiser, und sinnender ins Leben«.236 Das Paradoxe von Woldemars Telos das Unendliche im Endlichen, das Metaphysische im Physischen, das Unbedingte im Bedingten zu erfassen, ist das Streben über Grenzen hinaus, die per definitionem nicht zu überwinden sind. In der Spätfassung von 1796 wird in der Einführung des Protagonisten verdeutlicht, dass er innere Veränderungen durchlaufen muss. Die Paradoxie seines ganzen Begehrens muss ihm erst bewusst werden. Dies ist allerdings, wie er selbst bemerkt, nicht aus ihm allein heraus möglich, denn »[d]er Mensch fühlt sich mehr im Andern als in sich selbst«.237 Wenn der Mensch aber das Andere nicht als solches erfasst, sondern als Ich setzt, dann ist ihm der Weg zum Selbstgefühl und zur Selbsterkenntnis verwehrt. Dies ist bei Woldemar der Fall. Er ist nicht fähig, seine eigenen Überzeugungen im Leben zu verwirklichen. Während Woldemar in der Frühfassung im Inneren stagniert, erscheinen die Geschehnisse unter verändertem Vorzeichen in der Spätfassung als Reifeprozess, der eine viergliedrige Struktur aufweist. Die erste Phase wird mit seinem Brief aus R. und der vorangehenden Beschreibung seiner psychischen Beschaffenheit als Mensch thematisiert, der eine Sehnsucht nach einer Transzendierung der eigenen Endlichkeit hat.238 Er wird als Suchender nach metaphysischer Daseinsvergewisserung vorgestellt. Dies ist eine Gemeinsamkeit der Früh-und Spätfassungen, aber in den Frühfassungen erscheint diese Suche als Schwärmerei, die als Charakteranlage konturiert wird. In der Spätfassung wird diese Suche als psychische Beschaffenheit gesetzt, die Woldemar als ein empfindsames Subjekt prägt. Empfindsame Attitüden des Protagonisten, wie die Ich-Zentrierung, die Subjektivierung der Wirklichkeitsauffassung, das exklusive Selbstverständnis als Mensch, die Suche nach Seelenfreundschaft als Transzendierung von Endlichkeit sowie die Funktionalisierung der Natur als Projektionsfläche des Inneren werden auf seine psychische Beschaffenheit zurückgeführt. Mit der Entwicklung des Protagonisten wird eine Überwindung dieser Attitüden thematisiert, die die Spätfassung als eine literarische Anthropologie präsentiert, die den ganzen Menschen nicht als in sich geschlossene Daseinsentität betrachtet, sondern die notwendige Anerkennung anderer für die eigene tiefere Selbsterkenntnis mit einschließt. In der Überwindung

235 Vgl. Birgit Sandkaulen: Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit. Hamburg 2019, S. 119–134. 236 Vgl. JWA 7,1, S. 224. 237 Vgl. Ebd., S. 234. 238 Vgl. Ebd., S. 216–223.

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der empfindsamen Tendenzen führt die Spätfassung des Woldemar eine literarische Anthropologie der Individuation vor. Im Wechselverhältnis von Ich und Du gelangt der Mensch zu der Erfassung von Resonanzen. Dieses Echo offenbart in der Erfassung des Anderen zugleich die eigene Individualität. In der Vorrede wird nahezu vollständig der Paramythos des Echos von Johann Gottfried Herder zitiert. Dort heißt es, »so verlassen und unverstanden ich seyn mag, fühle ich doch aus jedem deiner gebrochenen Töne, daß eine alles-durchdringende, allesverbindende Mutter mich erkennt«.239 Diese Mutter, die alles verbindet, bevor sie »zur gestaltlosen, allverbreiteten Echo« wird, ist »Harmonia, die Tochter der Liebe«.240 Sie ist es, die dem Menschen ein Inneres gibt. Harmonia gab »aus ihrem Herzen jedem werdenden Wesen einen Ton, einen Klang, der sein Inneres durchdringet, sein ganzes Daseyn zusammenhält und es mit allen vergeschwisterten Wesen vereinet«.241 Jeder Mensch hat einen bestimmten Ton im Inneren, der einzeln ist. Dies ist die Vereinzelung durch die »Tochter der Liebe«, aber die Tonhaftigkeit im Innern ist zugleich ein alle Menschen verbindendes Element. Tiefergehende zwischenmenschliche Beziehungen beschreiben die Erfassung des Tons im Inneren des Anderen, der zugleich den eigenen Ton konturiert. Dies wird in der Spätfassung mit der Freundschaft zwischen Henriette und Woldemar vorgeführt. Die empfindsame Freundschaftsvorstellung der Ich-Identifikation weicht einer Resonanzbeziehung, die innere Vereinzelung und Gemeinsamkeit als zwei Seiten des Inneren thematisiert. Diese Überwindung der empfindsamen Auffassung von Freundschaft als Ich-Spiegel ist mit dem Entwicklungsgeschehen Woldemars verbunden. Mit Woldemars Eintreffen in B** beginnt die zweite Phase. Anders als in der Frühfassung ist die erste Reaktion Henriettes in der Spätfassung eine Distanzierung von Woldemar, da seine Erscheinung und sein Verhalten, im Gegensatz zu dem Bild, das bei ihr durch den Brief aus R. von ihm entstanden ist, etwas Fremdes und Störendes aufweist.242 Diese erste Reaktion Henriettes drückt eine Befremdung zwischen innerer Selbstaussprache und äußerlichem Verhalten aus, denn sie fragt sich, ob »sein Herz getheilt« sei.243 Sein inneres Leiden, das er im Brief an Biderthal deutlich artikuliert, ist in seinem Verhalten verdeckt. An der vergleichbaren Stelle in der Frühfassung wurde gerühmt, dass Woldemar ein Mensch sei, der sich über feudal-gesellschaftliche Ordnungsstrukturen hinwegsetzen könne, indem er eine gewisse Verhaltensweise erlernte und anwendete.244 In der Frühfassung wird dieses äußerliche Betragen verbunden mit Woldemars eigentümlichem Inneren als »Zaubermittel« gelobt.245 Narrativ wird dies durch die heterodiegetische Erzählinstanz mit dominanter Nullfokalisierung mitgeteilt. Dadurch erscheint diese Vergangenheit Woldemars in einem Licht, das ihn als besonderen Menschen darstellt, der über gesellschaftliche Schranken erhaben ist. Diese

239 240 241 242 243 244 245

Vgl. Ebd., S. 208f, hier S. 209. Vgl. Ebd., S. 208f, hier S. 208. Vgl. Ebd., S. 208f, hier S. 208. Vgl. Ebd., S. 224f. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 23f. Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

spezifische Fähigkeit Woldemars erscheint durch die Beschreibung der Narrationsinstanz als Tatsache. Es wird narrativ als wahr inszeniert, dass für Woldemar durch »Zaubermittel« alle Türen aufgingen.246 In der Spätfassung erscheint die Stelle grundlegend verändert, denn Woldemars Vergangenheit wird in einem erörternden Gespräch zwischen Henriette und Biderthal geschildert. Henriettes registrierte Diskrepanz zwischen Innerem und Äußerem führt sie dazu, Woldemars Charakter grundsätzlich zu hinterfragen, denn das »Aeusserliche eines abgeglätteten Weltmannes« ist eine Verstellung des Inneren.247 Ihre prüfenden Überlegungen führen sie weiter, denn »alle diese zur größten Fertigkeit gediehenen Künste des Scheins« kann der Mensch »nicht ohne anhaltenden Fleiß, mühsame Aufmerksamkeit, vielen Zeitverlust, lange Anstrengung und Uebung« erlernen.248 Henriette schlussfolgert aus Woldemars weltmännischer Gewandtheit, dass er ein Mensch sein muss, dem seine äußere Wirkung auf andere und die Verstellung seines Inneren wichtig sein muss. Sie müssen ihm wichtig sein, weil er es sonst nicht hätte schaffen können, »in kleinen Dingen so groß zu werden«.249 Der Wechsel von sozialen Umgangsformen ist radikalisiert, denn das Können und der Erwerb der »gediehenen Künste des Scheins« – also höfischer Verhaltensweisen – werden als eine Abwendung von zärtlichen Umgangsformen gedeutet. Es ist »die Zierde, die feine Sitte«, die Henriette zurückschrecken lässt.250 Biderthal erbittet nach der Ankunft seines Bruders von Henriette »ein umständliches Urtheil über seinen Bruder« und sie ergreift die Gelegenheit und teilt ihm ihren »Zweifel« mit.251 Biderthal ist darüber verärgert und er ist es nun, der Woldemars gesellschaftlich-öffentliche Erfahrungen mitteilt und wie es seinem Bruder gelungen sei, feudale Ordnungsgrenzen zu überwinden. Henriettes Überlegungen werfen aber die Frage auf, warum er überhaupt diesen öffentlichen Lebensbereich so entschieden betreten wollte, da sie unausgesprochen vorauszusetzen scheint, dass dort letztlich nur Enttäuschung und Leere zu finden sei. Auf diese Richtung geht Biderthal mit seinen Ausführungen ein. Biderthals Erläuterung stellt für die Charakterisierung Woldemars ebenfalls einen signifikanten Unterschied zwischen Früh-und Spätfassung dar. In der Frühfassung war es Woldemars ungestüme Art, sich »gegen allen Widerstand« nicht einschränken zu lassen, denn »[e]r wollte überall hin können«.252 Seine gesellschaftlich öffentliche Entfaltung unterstreicht in der Frühfassung seine Exklusivität und Besonderheit. In der Spätfassung wird diese Argumentation brüchig, denn Henriette misstraut einem Menschen, der in diesem Lebensbereich viel investiert und dem dieser Bereich wichtig ist. Biderthal erläutert in der Spätfassung, dass es trifftige Beweggründe für Woldemar gab. Es sei der »Verdruß des Mannes« gewesen, dass »auf solche Dinge ein[] so ausserordentliche[r] Werth gelegt« werde.253 Aufgrund des den »gediehenen Künste[n] des Scheins«

246 247 248 249 250 251 252 253

Vgl. Ebd. 23f. Vgl. Ebd., S. 224. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., hier S. 225. Vgl. Ebd., S. 23f. Vgl. Ebd., S. 225.

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zugewiesenen Wertes habe Woldemar sich die Frage gestellt, ob »diese Künste so erhaben, so göttlich« seien, »daß man aus einem besseren Stoffe gemacht, von einem edleren Blute durchströmt seyn muß, um sie erwerben zu können«.254 Sein Reüssieren in diesem Bereich wird seinem Drang nach Sublimation zugeordnet, das aber »ohne Freude« bleibt und ihn zunehmend »erbittert«.255 Biderthal resümiert diese Zeit seines Bruders mit einer starken Abneigung gegen diese feudal gesellschaftliche Welt, denn »[m]it dem vollen Gewinn eines tiefen unvergänglichen Ekels an allem Flitterwesen, zog er sich in die einfachste stillste Lebensart zurück«.256 Henriette lässt sich von diesen Erörterungen Biderthals nicht direkt gänzlich überzeugen, denn auch wenn Biderthals Ausführungen stimmen, so ist Woldemar zwar nicht »eitel und anmaßend«, aber weist doch eine »Eroberungssucht« auf.257 Sie registriert Woldemars Drang nach Vervollkommnung und entgegnet Biderthal, dass »befriedigte Eitelkeit« keine »überwundene, oder gar vertilgte Eitelkeit« ist.258 Die Betrachtungsweise Woldemars ist in dieser Fassung gerade aufgrund seines Verlangens nach Vervollkommnung kritisch. Woldemar wird von Henriettes Beschuldigung hören und sie kränkt und schmerzt ihn.259 Henriettes Zweifel an Woldemars Charakter legt sich, umso mehr »der Mann im Ganzen zum Vorschein« kommt.260 Dies hebt allerdings die von Henriette erfasste Teilung seines Charakters nicht auf, denn im familiären Kreis ist er »so unverstellt, so offenherzig, so guthmütig«.261 »In seinen öffentlichen Verhältnissen« weist er eine »Geschicklichkeit« und einen »Fleiß« auf, dass er sich »bald ein überwiegendes unbestrittenes Ansehen« erarbeitet.262 Das Exklusive bei Woldemar ist, dass er diese Trennung in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen und seiner Art zu leben strikt zieht. Die Leute buhlen »um seine nähere Bekanntschaft«, »[a]ber von dieser Seite waren alle Versuche, alle Künste an ihm vergeblich«.263 Woldemars Rückzug in einen von öffentlichen Bekanntschaften befreiten Lebensbereich ist durch diesen Ausschluss eine Antizipation von Privatheit. Die Etablierung dieser Sphäre steht bei dem Protagonisten in der Funktion, die Vereinbarkeit von den erworbenen Fähigkeiten der gesellschaftlich angesehenen Sittlichkeit und der inneren Unverstelltheit zu konturieren. Indem die »Künste des Scheins« auf seinen öffentlichen Umgang bezogen werden, ist es möglich, Woldemar in einem anderen Lebensbereich als Menschen mit einer authentischen Aussprache des Inneren darzustellen.264 Aus diesem Grund wird die nähere Kenntnis Henriettes bezüglich Woldemars betont, die als ganzheitliches Kennenlernen explizit benannt wird.265 Diese

254 255 256 257 258 259 260 261 262 263 264 265

Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 226. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 227. Vgl. Ebd., S. 226. Vgl. Ebd., S. 227. Vgl. Ebd., S. 226. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 227. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 225. Vgl. Ebd., S. 226f.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

Sphärentrennung des Lebens erscheint nicht als Errungenschaft, sondern als eine Problematik des Charakters Woldemars, denn »sein Herz [ist] getheilt«.266 Im Fassungsvergleich ist die Beschreibung Woldemars neben der veränderten Betrachtung seiner öffentlich-gesellschaftlichen Entfaltung vor allem auch in der Veränderung der Darstellungsart zu thematisieren. In der Frühfassung berichtet die Erzählinstanz darüber mit propositionalen Sätzen. Die Darstellung von Woldemars öffentlichem Wirken erscheint durch den Erzählbericht beglaubigt, der von der Narrationsinstanz als Erzählung gegebener Ereignisse erscheint, wobei diese auch auf das Innere Woldemars bezogen sind. Die Erzählinstanz stellt diese Beschreibung Woldemars als Tatsachenbericht und damit als Wissen vor. In der Spätfassung ist dies grundlegend anders. Die Beschreibung von Woldemar wird unmittelbar an die Figuren gebunden und im Dialog miteinander erörtert und hinsichtlich der Bewertung seines sittlichen Verhaltens aus zwei grundlegend unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Henriette nimmt die kritische Perspektive ein, denn sein Betragen passt für sie nicht zu der offenen Aussprache des Inneren, die sie im Brief Biderthals vernommen hat. Biderthal hingegen nimmt als herzlich mit Woldemar verbundener Bruder eine verteidigende und rechtfertigende Betrachtungsweise ein. Henriettes erste gedankliche Reaktion und das anschließende Gespräch präsentiert Gedankenzitate und direkte Rede. Dies zeigt eine veränderte Darstellungsart der Spätfassung an. Woldemars Beschreibung wird im Gegensatz zur Frühfassung nicht als ein gegebenes Wissen durch die Erzählinstanz vorgegeben, sondern die Sicht auf Woldemar wird diskursiv verhandelt, insofern man Diskursivität hier als einen Aushandlungsprozess und eine soziale Praxis zur Erzeugung von Wissen versteht. Das Wissen, welches thematisiert wird, ist der zu erschließende Charakter Woldemars. Im Vordergrund steht die Frage, was für ein Mensch Woldemar ist und wie seine Persönlichkeit einzuschätzen ist. Die Frage ist, wie Woldemars Inneres beschaffen ist und wie er sich selbst zu diesem Inneren ins Verhältnis setzt. Die Verhältnissetzung zum Inneren ist es, was Henriette an der »Zierde« und der »feine[n] Sitte« stört, denn sie verbergen das Innere und behandeln es so als etwas zu Verdeckendes.267 Eine Person, die das Innere zu verstecken sucht, weist ihrem eigenen Inneren einen niedrigeren Stellenwert als dem Äußeren zu und aus diesem Grund ist es gerade die Figur Henriette als schöne Seele, die an solchen Umgangsformen Anstoß nimmt. Dieses Wissen, wie Woldemar zu seinem eigenen Inneren steht, wird in der ersten Reaktion Henriettes auf sein Erscheinen in B** und dem Gespräch mit Biderthal verhandelt. Das Erzählverfahren des diskursiven Verhandelns ist für die Spätfassung von 1796 prägend, denn in zwei philosophischen Erörterungen werden verschiedene Positionen mit bestimmten Figuren verbunden und auf diese Weise nebeneinander vorgestellt und abgewägt. Die Erzählinstanz tritt dabei hinter die Figuren zurück. Die Bindung verschiedener Positionen nimmt auch für die Erzählung verschiedener Geschehnisse eine besondere Funktion ein, denn die philosophischen Erörterungen sind mit dem Bericht über die Ereignisse eng verbunden. Die erste philosophische Erörterung thematisiert die Moralphilosophie.268 Woldemars Moralvorstellung eines moralischen Genies basiert auf einer anthropologischen Bestimmung 266 Vgl. Ebd., S. 225. 267 Vgl. Ebd., S. 224. 268 Vgl. Ebd., S. 244–272.

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des Menschen, die eine innere Kraft als die conditio humana entwirft. Diese innere Kraft wird als Instinkt bezeichnet. Das Spezielle des menschlichen Instinkts sei es, dass er »zu Handlungen des Wohlwollens, der Gerechtigkeit und Großmuth« antreibe.269 Woldemars moralphilosophische Position bekräftigt seine subjektive Befangenheit, denn in der Moral erkennt er keine äußeren Werte mehr an und verlegt sie radikal ins Subjektive. Woldemar expliziert seine Vorstellung des moralischen Genies wie folgt: »Gute, gerechte und große Handlungen sind diejenigen, welche so beschaffen sind, wie der gute, gerechte und große Mensch sie verrichtet. Was gut ist, muß es durch des Dinges eigene Kraft seyn. Eine nützliche Handlung macht den, der sie verrichtet, nicht gut; sondern im Gegenteil, eine nützliche Handlung wird durch die Güte des, der sie ausübt, zu einer guten: das aber ist Tugend, was den Menschen, der es hat, und alles, was er thut, gut macht.«270 Woldemar legt diese Worte Aristoteles in den Mund und untermauert seine Moralvorstellung mit der antiken Philosophie. Mit der Referenz auf Aristoteles wird auf die Nikomachische Ethik hingewiesen, die eine Tugendethik entwirft.271 Woldemar stellt sich in die Richtung dieser Tugendethik, instrumentalisiert sie aber im Sinne seiner radikalen Subjektivierung. Diese Subjektivierung der Tugendethik geht auf sein Verständnis von Tugend zurück. Tugend sei »der eigenthümliche besondre Instinkt des Menschen«.272 Dieser Instinkt beschreibe den menschlichen Trieb nach Vervollkommnung und sei ein unbewusster, innerer Impuls und wirke »vor der Erfahrung«.273 Dieser Instinkt sei der »Grundtrieb der menschlichen Natur« und führe den Menschen zu der »Bestimmung seines Daseyns«.274 Tugend ist für Woldemar der menschliche Trieb nach Vervollkommnung, der sich in »Handlungen des Wohlwollens, der Gerechtigkeit und [des] Großmuth[s]« manifestiert.275 Woldemar enthebt Tugend mit seiner Definition vollkommen jeglicher Äußerlichkeit, denn er bestimmt diejenigen Handlungen als gut, die von einem guten Mensch vollbracht werden. Dieser Mensch ist der derjenige, der durch »die Natur der Kunst die Regel« gibt, was auf die »Kunst des Guten« bezogen ist.276 Solch ein moralisches Genie ist für Woldemar derjenige Mensch, der unabhängig von jeglichen äußeren Umständen, aus einem inneren Impuls heraus, zu guten Handlungen geführt wird. Aristoteles erscheint als antike Autorität für Woldemars Moralvorstellung eines moralischen Genies und einer radikalen Subjektivierung von Tugend. Seine Moralvorstellung ist eine Tugendethik, die vollkommen das Innere des Menschen betont, denn die Tugend sei im Menschen »vor der Erfahrung« gegeben.277 269 Vgl. Ebd., S. 249. 270 Ebd. 271 Vgl. Jürgen Stolzenberg: Was ist Freiheit? Jacobis Kritik der Moralphilosophie Kants. In: Walter Jaeschke/Birgit Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004, S. 19–36. 272 Vgl. JWA 7,1, S. 249. 273 Vgl. Ebd. 274 Vgl. Ebd., S. 249f. 275 Vgl. Ebd., S. 249. 276 Vgl. Ebd. 277 Vgl. Ebd.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

Das Gute ist demnach im Menschen angelegt und es kommt ausschließlich darauf an, in welchem Maß der Mensch dazu in der Lage ist, der inneren Stimme zum Guten zu folgen. Diese Ansicht findet eine klare Gegenposition in der Pflichtethik Hornichs, der Tugend in der Befolgung von festgeschriebenen Gesetzen sieht und damit eine veräußerlichte Tugendlehre schildert. Eine solche Tugendlehre betont im Kontrast zu derjenigen Woldemars das Äußere, weil die »so theuren Buchstaben in Gesetzen« die Richtschnur für das Gute sind.278 Es fällt so auf, dass die moralphilosophischen Positionen in das Gesamtpanorama der Figuren einzuordnen sind. Dabei treten unüberwindliche Abgründe zwischen den beiden Figuren Woldemar und Hornich hervor. Hornich entgegnet Woldemars bisherigen Ausführungen auf eine sarkastische Weise: [M]an begreift genug an Einem, wie, nach ihrer Tugendlehre; Zeit und Umstände die Moral verändern, und der vortreffliche Mann keine unveränderliche Grundsätze haben darf. Er schreibt sich seine Pflichten nach eigenem Gutfinden selbst vor; heute diese, morgen eine entgegengesetzte: wenn er sich nur immer selbst gefällt, so hat er gethan was er soll.279 Hornich wirft Woldemars Tugendlehre Unbeständigkeit und Selbstgerechtigkeit des tugendhaften Menschen vor. Nicht zuletzt wirft Woldemars Moralvorstellung die Frage auf, wie überhaupt noch entschieden werden kann, was tugendhaft und gut ist, wenn allein das Innere des Subjekts darüber entscheidet. Woldemar sieht in diesen Einwänden Hornichs nicht einmal eine Kritik und baut sie weiter aus, denn der tugendhafte Mensch müsse »nicht eben seine Grundsätze, sondern wohl nur sein Verhalten nach diesen Grundsätzen, wie es Zeit und Umstände von ihm fo[r]dern«, verändern.280 Er bekräftigt Hornichs eigentliches Gegenargument und betont, dass der tugendhafte Mensch sich »seine Pflichten« selbst setzen müsse, so wie es die Situation erfordert.281 Es zeigt sich in dieser Art der Argumentationsführung Woldemars, dass seine moralphilosophische Position in Verbindung mit seiner psychischen Beschaffenheit, seiner Suche nach geistiger Vervollkommnung und seiner subjektiven Befangenheit steht. Hornich fasst den Plan, Woldemar aufzubringen und ihn in der Aufregung dazu zu bringen, dass er seine eigene Position überspitzt und sich dadurch angreifbar macht. Er hoffte, wenn er Woldemarn die Galle nur einmal erregt hätte, sie auch bald zum Ueberlaufen zu bringen Dann wollte er von einer Uebertreibung ihn zur andern führen, durch verfängliche Fragen ihn verwirren, und von seiner Verlegenheit Gebrauch machen, um über ihn zu triumphiren. Wirklich ein sehr kluger Entwurf, wenn man eine Eingebung, so nennen darf, welche frostige Seelen jedesmal im Kampfe mit begeisterten Freunden der Wahrheit empfangen.282

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Vgl. Ebd., S. 254. Vgl. Ebd., S. 253. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd., S. 254f.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Woldemar wird als »begeisterte[r] Freund der Wahrheit« betrachtet, was seine Position als Suche nach der »Wahrheit« offenlegt, aber eben nicht diese »Wahrheit« darstellt. Sein Philosophieren ist eine Suche, die mit seinem Drang nach geistiger Vervollkommnung korrespondiert und sein notorisches Verlangen nach Sublimation unterstreicht. Dies untermauert auch die sich anschließende philosophische Erläuterung, in der die Lebensart mit der Gartentheorie parallelisiert wird.283 Im Fassungsvergleich ist bei dieser philosophischen Erörterung hervorzuheben, dass die erste Fassung 1779 im Deutschen Museum mit dem Titel Ein Stück Philosophie des Lebens und der Menschheit. Aus dem zweiten Bande des Woldemar erscheint und die erweiterte Fassung 1781 trägt den Titel Der Kunstgarten. Ein philosophisches Gespräch. Dies zeigt, dass in der frühen Konzeption des Woldemar diese philosophische Erörterung außerhalb der zwei Teile des ersten Bandes geplant war. In der Spätfassung ist diese Schrift in den ersten Teil des Woldemar integriert. Für die frühe Konzeption liegt die Implikation nahe, dass dieses Gespräch die Eigentümlichkeit Woldemars näher konturieren und philosophisch begründen sollte. In der Spätfassung erfüllt sie zunächst die gleiche Funktion. Woldemars zurückgezogene Lebensart wird näher expliziert und sein Einfluss auf die Familie wird geschildert. In der Spätfassung erscheint diese philosophische Erörterung im ersten Teil und steht in enger Verbindung mit Woldemars Selbstbild als moralisches Genie. Aufgrund dieses Selbstbildes gibt er der Familie vor, wie sie ihre Lebensart am besten zu gestalten haben. Dabei ist markant, dass seine Vorschläge die Familie nicht in einen glücklicheren Zustand führen, sondern sie verwirren. Woldemars Selbstbild wird in der Spätfassung dezidiert mit seiner Bildung begründet. Dabei fällt dem Protagonisten nicht auf, dass er absurderweise seine Betonung des authentischen Inneren des Menschen selbst aus zeitgenössischen Philosophien zieht. Er setzt eine Textnatur als Leben, was seine »Philosophie des Lebens« – wie es im Titel von 1779 heißt – letztlich lebensuntauglich macht. Woldemar scheitert an der Verwechslung von Theorie und Leben. Mit der Einbettung dieses Gesprächs in die Spätfassung findet auch eine weitere idyllische Szene Eingang in den Woldemar.284 Diese Darstellung schildert eine Wanderung der Familie und kann nicht als empfindsam-idyllisch identifiziert werden.285 Stattdessen weist sie eine Affinität zu der idyllischen Szene auf, die im Zusammenhang der Vorbereitung auf Biderthals Lesung von Woldemars Brief aus R. steht. Die Spätfassung lässt in dieser Erweiterung durchblicken, dass die Faszination nicht mehr auf der Erzählung von Subjektivität liegt, sondern sich auf Erzählverfahren von Intersubjektivität richtet: Wie kann das Innere mehrerer Figuren möglichst authentisch und unmittelbar dargestellt werden? Die beiden idyllischen Szenen der Spätfassung des Woldemars, die nicht dem Empfindsam-Idyllischen zuzuordnen sind, stellen ein intersubjektives Erzählverfahren dar, weil die Schilderung der Natureindrücke die beteiligten Figuren zu einem Kollektiv verschmelzen lassen. Die Naturerfahrung dieses Kollektivs wird durch die Präsentationsform der erlebten Wahrnehmung nah an den Figuren erzählt, da die Sicht auf die Erlebniswelt der Figuren durch die Erzählinstanz wiedergegeben wird, die

283 Vgl. Ebd., S. 281–323. 284 Vgl. Ebd., S. 282f. 285 Vgl. Ebd., S. 218.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

zwar präsent ist, aber mit in die geschilderte Perspektive eintaucht. In diesen verschiedenen Formen des Idyllischen spiegelt sich die grundlegende Frage nach der Vereinbarkeit von Autonomie des einzelnen Menschen und Sozialität. Die Spätfassung fokussiert diese Frage, indem sie die Eigentümlichkeit als soziale Problematik deutlicher herausstellt als die Frühfassung und zudem die Lösung vorstellt, dass der Einzelne, der sich als einzigartig erlebt, anerkennen muss, dass er andere Menschen ebenso als einzigartig zu betrachten hat. Sozialität ist kein Identifikations-, sondern ein Resonanzphänomen. Dies unterstreichen die empfindsam-idyllischen Szenen, die zwischen Früh-und Spätfassung kaum Veränderungen erfahren. In der Frühfassung endet die empfindsam-idyllische Szene in Woldemars Brief vom »23ten August«, die in der »wilde[n] Laube unter den hohen Nußbäumen« lokalisiert ist, mit einer deutlichen Sakralisierung der Natur mit pantheistischer Nuance.286 Dort heißt es: – – Der mächtige Stamm an den ich gestützt war, schwankte, fast unmerklich, hin und her – bald stärker bald schwächer; wiegte meinen Rücken, und bewegte sanft schauerlich mein Haupt. – – – Nie war meine Seele so in allen meinen Sinnen! – Lauter Genuß mein ganzes Wesen! – Ewigkeit, mein fliehendes Dasyn! – Hülle der Gottheit um den Endlichen!287 Die Spätfassung übernimmt diese Passage samt der Anzahl der Spiegelstriche außer die letzte Phrase: »Hülle der Gottheit um den Endlichen!« In der Spätfassung ist die Streichung dieser Passage von Bedeutung, da sie in der Frühfassung sogar hervorgehoben ist. Die Natur und ihre sinnlichen Reize werden als »Hülle der Gottheit« bezeichnet. Woldemar benennt sich hier als endlich und setzt die Natur dagegen als Fassade des Unendlichen. Diese Formulierung lässt allzu deutlich eine pantheistische Lesart zu, da die Natur als unendlich erscheint und verschiedene, endliche Fassaden ausbildet. Demzufolge hat die Natur einen unendlichen Kern und Repräsentationsformen, die endlich sind. Das Innere der Natur ist das Sein, das jedem Daseienden zugrunde liegt und die äußeren Fassaden der Natur sind ihre endlichen Repräsentationsformen und damit Daseiendes. Der Ausdruck »Gottheit« legt vor allem nahe, dass es sich bei der in der Natur enthaltenen Transzendenz nicht um eine personale Entität handelt, sondern um ein Sein im Dasein. Mit dieser letzten Phrase würde daher Woldemars Naturerlebnis explizit auf ein pantheistisches Erlebnis hinauslaufen. Die Streichung dieser Phrase in der Spätfassung impliziert, dass bei den empfindsam-idyllischen Szenen keine Gotteserfahrung im Fokus steht. Das Empfindsam-Idyllische fungiert als Erzählverfahren von Innerlichkeit, um Woldemar als ganzen Menschen darzustellen. Empfindsam-Idyllische Szenen beschreiben in Jacobis Erzählwerken Empfindungserlebnisse als eine Raum-Zustandskonstellation und schildern eine spezifische innere Zustandsform des Menschen. In dieser Funktion stehen die empfindsam-idyllischen Szenen in beiden Fassungen, doch tritt in der Spätfassung deutlich hervor, dass diese Darstellungsform des Inneren mit einer subjektiven Befangenheit und einer Selbstüberschätzung korrespondiert.

286 Vgl. Ebd., S. 58–68, hier S. 58f. 287 Vgl. Ebd., S. 60.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Das Empfindsam-Idyllische ist eine Inszenierung unmittelbarer Selbstaussprache, die mit vielen Spiegelstrichen und phrasenartigen Syntaxkonstruktionen innere Regungen in ihrer Intensität nachahmen. Die sprachliche Gestaltung soll die Ergriffenheit nachzeichnen und dem Adressaten eine Mitempfindung ermöglichen. Zu schreiben setzt Reflexion und eine Minderung des Intensitätsgrad des Erlebten voraus. Dies reflektiert Woldemar in seinem Brief vom August an Biderthal selbst.288 Das EmpfindsamIdyllische ist als Erzählverfahren für die Darstellung von Innerlichkeit ein rhetorischkünstlerisches Verfahren, das sich den Anschein gibt, authentisch, unmittelbar und präreflexiv zu sein. Die empfindsam-idyllischen Szenen zeigen eine ins Medium der Schrift verlegte Rhetorik des Erlebens. Dies untermauert die Gleichsetzung der erzählenden und erlebenden Instanz, denn das schriftliche Erzählen einer empfindsam-idyllischen Szene, wie es Woldemar in seinen Briefen an Biderthal und auch in den Schriften ohne Namen verwirklicht, stellen ein Nach-Erleben des eigentlichen Eindrucks dar. Daher ist das Empfindsam-Idyllische ein Schreib-und Leseerlebnis. Diese Differenz zu einer wirklichen und sinnlichen Naturerfahrung und die Distanz zu den dabei evozierten Empfindungserlebnissen sind mit dem Medium der Schrift unüberbrückbar. Die Suche nach Ausdrucksformen des Inneren offenbart sich als ein mediales Phänomen, das die Schrift als Kommunikationsmedium für das Innere des Menschen überspannt. Die Innerlichkeit des Menschen erscheint in ihrer Unmittelbarkeit im Medium der Schrift als unvermittelbar. Bei dem Fassungsvergleich des Woldemar ist wichtig, dass die Frühfassung eine Entwicklung Woldemars andeutet, sie aber nicht als grundlegende Selbstreflexion entwirft, sondern als eine stille Gewahrwerdung im Inneren, dass der eigene Charakter und die eigene beständige Bindungsfähigkeit im Vergleich zu Henriette unzulänglicher sind. In der Spätfassung wird dies als Bildungsprozess des eigenen erfassten Selbst entworfen. Das Ende der Früh-und Spätfassungen des Woldemar ist wie die erste Beschreibung Woldemars komplett verändert. Die Frühfassung stellte zwei innerliche Zustandsformen dar, aber das Selbstverhältnis Woldemars bleibt gleich. Das Ende zeigt Woldemar als jemanden, der seiner vertrauten Freundin lieber die Gewahrwerdung seiner eigenen Unzulänglichkeit verschweigt, als sich bei ihr für sein vorheriges Verhalten zu entschuldigen. Die Spätfassung von 1796 stellt am Ende nach der Ich-Krise Woldemars im Zuge des Freundschaftszusammenbruchs einen geläuterten Protagonisten dar, der sich seiner »Selbstsucht« und Ich-Besessenheit bewusst wird.289 In dieser Bewusstwerdung gelangt er auch zu einer gewandelten Perspektive auf sich selbst. Er erfasst sein wahres Ich, sein eigentliches Selbst. Vorher hatte er – wie es sein Bruder öfters angedeutet hatte – ein imaginiert ideales Ich entfaltet, das er selbst aber gar nicht war. Die Entwicklungsgeschichte Woldemars wird als eine Bildungsgeschichte im Inneren verstanden. Dies veranschaulicht seine Freundschaft zu Henriette. Der Ausgangspunkt ist die Idee einer Freundschaft als absolute Transparenz, als Ich-Identifikation im Anderen. Diese Freundschaftskonzeption korrespondiert mit seinem psychischen Zustand, die Schranken der eigenen Endlichkeit zu transzendieren. Henriette ist die Erfüllung 288 Vgl. für die Frühfassung Ebd., S. 58–68, hier S. 58f. Und für die Spätfassung Ebd., S. 350–362, hier S. 350f. 289 Vgl. Ebd., S. 463.

Das Empfindsam- Idyllische in den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis

von Woldemars Sehnsucht. Sie erscheint ihm als Seelenfreundin, die ihm sein eigenes Ich widerspiegelt. Er ist dadurch in eine Zustandsform versetzt worden, die ihn zu einem Selbstbild eines besonders exklusiven Menschen führt. Da er so auch die Grenze der Endlichkeit hinter sich lässt, indem er in Henriette das Vorhandensein einer metaphysischen Ebene des Menschen im Leben bestätigt sieht, beginnt er in der Natur sein eigenes Ich als Nähe zum Göttlichen zu erleben. Dieser Daseinszustand Woldemars bricht in dem Moment zusammen, in dem er Henriette als anderes Ich erkennen muss. Dies führt ihn in eine existenzielle Krise, denn das vermeintlich Errungene ist ihm jetzt wieder entrissen. Erst als Henriette sich über die Gründe seiner Verstimmung klar wird – das Wissen um ihr Gelübde und die Bitte um Zurückhaltung im öffentlichen Umgang – kommt es zu einer Konfliktlösung. In den Momenten, in denen sich Henriette und Biderthal bei ihm entschuldigen und auf diese Weise seinem »Eigenwillen« nachgeben, durchdringt ihn die Ahndung, dass sein Ich »böse« ist.290 Er bezeichnet sich selbst als »ein[en] nichtswürdige[n] Mensch[en]«.291 Es verändert sich sein Selbstverhältnis, indem er sich als denjenigen erfasst, der er wirklich ist. In diesem Zusammenhang erfasst er auch seine eigenen Möglichkeiten und es durchfährt ihn jetzt der Gedanke, dass Henriette und Biderthal ihn »verachten« müssen.292 Er hat an andere Erwartungen gestellt, die er selbst nicht in der Lage war zu erfüllen. Henriette stellt sozusagen die Welt dar, an der die Freundschaftsidee einer totalen Identifikation erprobt wird und scheitert. Dabei stellt sich jedoch heraus, dass nicht die Bedingungen der Möglichkeit nicht gegeben sind, sondern dass diese Konzeption von Freundschaft letztlich keine soziale Bindung, sondern eine Selbstliebe ist. Daher ändert sich Woldemars Inneres und damit auch seine Auffassung von Freundschaft, die zum Resonanzphänomen der Tonhaftigkeit im Menschen wird. Freundschaft ist eine zwischenmenschliche Beziehung, die einen anderen Menschen in seiner inneren Eigentümlichkeit erfasst und darin zugleich Gemeinsamkeit und Differenz zu sich selbst entdeckt. Das bedeutet, dass der Entwicklungsprozess Woldemars eine Veränderung in der eigenen inneren Erlebniswelt ist, denn in der Erfassung seiner Selbstsüchtigkeit erscheinen vorher erlebte innere Regungen in einem anderen Licht. Seine ich-zentrierte Überspanntheit führte ihn zu intensiven inneren Erlebnissen, die aber alle – das erst empfundene Glück und die darauf folgende Ich-Krise – auf ihn selbst bezogen sind. Die Erlebniswelt eines anderen war ihm vollkommen verschlossen, da er Andere nur auf das eigene Ich erforschte. Die innere Erlebniswelt Woldemars öffnet sich am Ende und berücksichtigt, dass andere – hier Henriette und Biderthal – ihrerseits auch eine eigene innere Erlebniswelt haben und er sich darum nie gekümmert hatte.

290 Vgl. Ebd., S. 462. 291 Vgl. Ebd. 292 Vgl. Ebd., S. 463.

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5 Fazit

Diese Untersuchung bearbeitet zwei wesentliche Forschungsdesiderate. Die erste Forschungslücke, die diese Studie bearbeitet, ist die Untersuchung von Friedrich Heinrich Jacobis Spätfassungen der Erzählwerke, die bisher nur marginal beachtet wurden. Die zweite Forschungslücke bezieht sich auf das Empfindsam-Idyllische als gattungsübergreifenden Merkmalskomplex und beschreibt eine spezifische Form des Idyllischen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle als literaturästhetische Darstellungsform des Inneren des Menschen spielt. Hinsichtlich der Erzählwerke Jacobis vertreten einige Forschungspositionen, wie beispielsweise Heinz Nicolai, die These, dass die Frühfassungen seiner Erzählwerke literaturgeschichtlich wichtiger seien als die Spätfassungen. Im Œuvre Jacobis weist Jacobi selbst jedoch seinen Spätfassung eine besondere Stellung zu. Bezüglich der Spätfassung des Allwill schreibt Jacobi 1819 sogar, dass dieses Werk »wirklich den ächten allgemeinen Schlüssel zu meinen Werken [enthalte], sowohl was den Inhalt angeht, als den Vortrag«.1 Das bisherige Vorgehen bei Forschungsbeiträgen, die anders als Nicolai beide Fassungen berücksichtigen, stellt die Frühfassungen in den Mittelpunkt und schaut, welche Veränderungen und Erweiterungen bei den Spätfassungen beobachtbar sind. Dieses methodische Verfahren, wie es beispielsweise Thomas Stäcker und Jutta Heinz umsetzen, verstellt den Blick darauf, dass die Spätfassungen konzeptionell anders angelegt sind als die Frühfassungen. Die Frühund Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis müssen aus diesem Grund als unterschiedliche Werke betrachtet werden, die jeweils um unterschiedliche Themen kreisen. Diese These kann mit der zeitgenössischen Rezeption der Werke untermauert werden. Die Frühfassungen der Erzählwerke wurden durchaus beachtet und unterschiedlich aufgenommen, wobei festzuhalten ist, dass der Allwill durchaus positiver aufgenommen wurde als der Woldemar. Die Frühfassungen des Allwill erschienen in den Journalen der Iris und des Teutschen Merkurs, wobei die Fassung des Teutschen Merkurs im Vergleich zu der Iris-Fassung deutlich erweitert ist und die vollständige Textfassung dieses Werks darstellt. Carmen Götz hat in ihrem editorischen Bericht der historisch-kritischen Werkausgabe gezeigt, dass dieses Werk Jacobis einerseits von seinem Thema her durchaus wertgeschätzt wurde, dass aber gerade die Form der nicht abgeschlossenen Sammlung 1

Vgl. JWA 1,1, S. 333–353, hier S. 335.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

von Briefen ein Kritikpunkt war. Jacobi wurde vorgeworfen, dass er es nicht schaffe »eine Composition aus dem herrlichen Stoffe zu machen«.2 Friedrich Bechmann hat gezeigt, dass die negativen Urteile der Zeitgenossen bis in die Forschung des 20. Jahrhunderts hineingewirkt haben. Er zeigt auf, dass vor allem die Woldemar-Rezension Friedrich Schlegels, der die Fassung von 1796 rezensiert eine langanhaltende negative Betrachtungsweise von Jacobis Woldemar zur Folge hatte. Die Monografie von Frida David zeigt dies eindrucksvoll, weil sie am Ende nicht zu einem eigenen Fazit gelangt, sondern Friedrich Schlegels Rezension mehrmals als Untermauerung ihres eigenen Verrisses von Jacobis Woldemar heranzieht. Der Woldemar ist in seinen Spätfassungen sehr kritisch aufgenommen worden. Selbst die freundliche Woldemar-Rezension von Wilhelm von Humboldt ist lediglich als ein Freundschaftsdienst zu betrachten, wie Jutta Heinz gezeigt hat. Humboldt betrachtet die Woldemar-Spätfassung von 1794 als eine missglückte Werther-Nachahmung. Die Frühfassung des Woldemar wurde von Hamann und Lessing allerdings positiv aufgenommen, sodass die zeitgenössische Rezeption von Jacobis Erzählwerken zwiegespalten ist. In dieser Studie werden die Erzählwerke Jacobis vor allem unter Berücksichtigung idyllischer Naturschilderungen untersucht, da in der Jacobi-Forschung die Frage nach dem Verhältnis von einer philosophischen Degradierung der Natur als »Inbegriff der Endlichkeit« und der pantheistisch anmutenden Naturschilderungen in seinen Erzählwerken nicht hinreichend geklärt ist. Um zu zeigen, dass dies keine vermeintliche Dissonanz ist, wird ein zweites Forschungsdesiderat bearbeitet, dass im Bereich der Idyllenforschung liegt. In der Idyllenforschung liegt Konsens darüber vor, dass in der deutschsprachigen Literatur die literarische Gattung der Idylle mit Salomon Gessners Idyllen von 1756 beginnt. Es bleibt in der Forschung jedoch der unklare und unspezifische Begriff des Idyllischen zurück, dessen Verhältnis zur Gattung der Idylle ungeklärt bleibt. Es ist der Ansatz dieser Studie, das Idyllische im Kontext der Empfindsamkeit zu spezifizieren, indem aus der empfindsamen Idylle Gessners Merkmale abgeleitet werden, die einen gattungsübergreifenden Merkmalskomplex bilden. Das Empfindsam-Idyllische bietet ein Analyseinstrument, mit dem die Spezifika der Naturschilderungen in Jacobis Erzählwerken untersucht werden können. Es ermöglicht zunächst die empfindsam-idyllischen Szenen in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis zu betrachten und dann fassungsvergleichend einen Blick in die Frühfassungen zu werfen, um so die Besonderheiten der Spätfassungen klar zu konturieren. Dabei fällt auf, dass mit der veränderten Romankonzeption zwischen Früh-und Spätfassungen den empfindsam-idyllischen Szenen eine veränderte Funktion im Gesamtzusammenhang des jeweiligen Werkes zukommen. Diese Untersuchung liest die Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis unter besonderer Berücksichtigung des Empfindsam-Idyllischen neu. In der bestehenden Forschung ist eine Diskrepanz zwischen Jacobis philosophischer Betrachtung der Natur als »Inbegriff des Endlichen« und idyllischen Szenen mit erhabenen Zügen in seinen Erzählwerken festgestellt worden.3 In den Erzählwerken Jacobis sind idyllische Szenen enthalten, die Göttlichkeits-und Gotteserfahrungen ausdrücken. In der religionsphiloso2 3

Christoph Martin Wieland an Goethes Mutter Katharina Elisabeth Goethe am 31.12. 1776 hier zitiert nach: JWA 6,2, S. 280. Vgl. JWA 3, S. 103.

Fazit

phischen Kontroverse des Spinozastreits nimmt Jacobi jedoch die Position ein, dass eine sakralisierende Vergöttlichung der Natur ein »Ungedanke« sein muss, denn Gott sei »der Erste« oder er sei »gar nicht«.4 Die pantheistische Gleichsetzung von Gott und Natur – deus sive natura – ist für Jacobi nicht denkbar, da eine solche Gottes-und Göttlichkeitsvorstellung mit seiner Vorstellung von Metaphysik nicht vereinbar ist. Jacobis Auffassung von Metaphysik basiert auf dem Gedanken einer Selbsttätigkeit, die sich darin zeigt, dass ein realer Anfang von einer Person gemacht werden kann. Der Mensch hat die Möglichkeit zu handeln, indem er durch eine Tat einen Anfang setzt, der zur Ursache von Wirkungen wird. Auf eine Ursache folgt eine Wirkung. Das Entscheidende ist bei Ursachen-Wirkungsverhältnissen, dass sie sukzessiv sind. Das bedeutet, dass Wirkungen nicht zeitgleich mit der Ursache erscheinen, sondern dass Wirkungen erst in einer zeitlichen Differenz von der Ursache auftreten. Grund-Folge-Sequenzen dagegen sind gleichzeitig und sind nicht von der Zeit abhängig. Für Jacobi scheitert die Vergöttlichung der Natur an der Vermischung der erkenntnistheoretischen Begriffe von Ursache und Wirkung sowie Grund und Folge. Jacobi löst mit seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas eine Renaissance des niederländischen Philosophen aus. Doch er ist kein Spinozist, sondern erblickt in Spinozas Philosophie eine bewundernswürdige, radikal rationale Weltanschauung, die in konsequenter Anwendung der geometrischen Methode die menschliche Lebenswirklichkeit allumfassend zu erklären versucht. Jacobis Kritik der Philosophie Spinozas sowie seine eigentümliche Position im Spinozastreit haben ihren Ausgangspunkt in seiner Überzeugung, dass sich die menschliche Lebenswelt in ihrer ganzheitlichen Komplexität nicht vollkommen rational erklären lässt. Wenn dies der Fall wäre, dann könne nämlich die Lebenswirklichkeit des Menschen ausschließlich aus Grund-Folge-Relationen bestehen. In diesem Kontext bietet Jacobi die Ansicht an, dass Spinoza aus einer rationalen Perspektive nicht zu widerlegen sei, aber die Erfahrung des alltäglichen Lebens gegen die Lehre Spinozas widersprechen, kann da der Mensch beständig Zeit erfahre. Das menschliche Dasein ist für Jacobi dadurch geprägt, dass es in der Zeit passiert und daher ein sukzessives Dasein ist. In der Philosophie Jacobis erscheint der Mensch als Daseiendes von zwei verschiedenen Sphären, den Sphären der Natur und der des Geistes: Der Mensch, unstreitig dem Natur-und Thierreich angehörig, gehöret eben so unstreitig auch dem Geisterreiche an, und ist nach einem allgemein bekannten, treffenden Ausdruck, ein Bürger zweyer verschiedener, wunderbar auf einander sich beziehender, Welten: einer sichtbaren und einer unsichtbaren, einer sinnlichen und einer übersinnlichen.5 Das Transzendente im Menschen wird bei Jacobi als das Innere im Verständnis einer geistigen Daseinsentität verstanden. Diese Entität weist einerseits vermittelt durch Empfindungen Reaktionen auf die äußeren Verhältnisse des Menschen auf. Andererseits ist es aber das wesentliche Merkmal dieser Entität, selbsttätig zu sein. Das bedeutet, diese Entität existiert aus sich selbst heraus und ist autonom von äußeren

4 5

Vgl. JWA 1,1, S. 348. JWA 3, S. 102.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

Umständen. Es ist in Jacobis Schriften eine Eigenart, dass dichotomische Denkstrukturen eröffnet werden, um sie zugleich wieder zu beseitigen und als Konstruktionen des Denkens zu reflektieren. Die Relationsbegriffe des Inneren und Äußeren sind vor diesem Hintergrund auch als konstruierte Dichotomie zu betrachten. Das Innere ist als geistige Daseinsentität des Menschen sein existenzieller Kern seines Lebens. Der Geist des Menschen wird zu seinem eigentümlichen Dasein. Das Äußere beschreibt in diesem Fall alles sinnlich Wahrnehmbare und rein körperlich Wirkende. Das Äußere lässt sich einerseits als all das fassen, was an eine wie auch immer geartete materielle Existenz gebunden ist. Andererseits enthält der Begriff des Äußeren auch eine gesellschaftliche und soziale Ebene, insofern Zwischenmenschlichkeit nicht dem eigentümlichen Dasein des Menschen verschrieben ist, sondern durch Verhaltensregeln und Umgangsformen geprägt ist. Es ist also die persönliche Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen, die ein Funke Gottes ist, während die Natur als physisches und endliches Dasein Schöpfung ist. Daher ist die Natur mit ihren konkreten, naturalen Erscheinungen wie Blumen, Bäumen und Tieren Verkörperung des Endlichen, weil diese Erscheinungen nach Jacobi kein bleibendes Inneres haben. Sie sind Erscheinungen, weil sie durch die Natur als kausalmechanischer Zusammenhang zum Leben gelangen, aber dieses Leben ist vollkommen an die Zeit gebunden. Es entsteht und vergeht. Jacobis philosophische Naturbetrachtung weist, aus dieser Perspektive gesehen, signifikante Parallelen zum französischen Materialismus auf. Natur ist als kausalmechanischer Zusammenhang nichts anderes als Materie in ewiger Bewegung, wie es der Marquis de Sade seiner Figur Dolmancé in seiner Schrift La Philosophie dans le boudoir, die 1795 erschienen ist, in den Mund legt. Jacobi wendet sich aber gegen eine materialistische Betrachtungsweise der Welt als Gesamtheit aller Erscheinungen besonders im Bezug zum Menschen. Das Dasein des Menschen weist Jacobi zufolge Tatsachen auf, die dafür bürgen, dass der Mensch mehr ist als Materie in Bewegung. Der Mensch hat Jacobi zufolge ein Inneres, das für sein Dasein abseits materiell gedachter Existenzvorstellungen bürgt. Diese Tatsachen werden dann deutlich, wenn man das menschliche Dasein unverstellt, so wie es wirklich ist, abbildet. Dies formuliert er 1792 in der Vorrede der Spätfassung des Allwill als interdisziplinäre Forschungsprogrammatik, die die besondere Bedeutung der Erzählwerke in Jacobis Lebenswerk offenlegt. Das Frappante ist, dass in den Erzählwerken idyllische Szenen vorkommen, die gegen Jacobis so deutlich formuliertes religionsphilosophisches Credo verstoßen und die Natur in sakralisierter Gestalt beschreiben. Diese vermeintliche Dissonanz wird in bestehenden Forschungsbeiträgen im Wesentlichen damit begründet, dass Jacobi Rousseau und Goethe nachahme. Diese Untersuchung thematisiert, dass dies gerade bei den Spätfassungen nicht der Fall ist, sondern idyllische Szenen zur Charakterisierung von Figuren genutzt werden und die Naturschilderungen als Chiffre der inneren Zustandsformen dieser Figuren erscheinen. Daneben verstellt diese Betrachtung der Erzählwerke Jacobis von Beginn an den Blick dafür, dass er bereits mit seinen Frühfassungen der Erzählwerke eigene thematische und literaturästhetische Nuancen entwirft. Es besteht in der Forschung um Jacobis Erzählwerke die offene Frage sowie die Lücke, die literarischen Schilderungen von Naturwahrnehmungen näher zu untersuchen und auch zwischen den Früh-und Spätfassungen der Werke zu unterscheiden. Daneben besteht das Forschungsdesiderat, zu analysieren, inwieweit Jacobis literarisches

Fazit

Schaffen durch die Vorbilder Rousseau und Goethe beeinflusst ist. Seine spezifische Rezeption der beiden führt jedoch bereits bei den Frühfassungen seiner Erzählwerke zu eigenen thematischen und darstellerischen Spezifika. Diese Spezifika werden in den Spätfassungen seiner Erzählwerke ausgebaut und erweitert, sodass sie sich zunehmend von den Vorbildern Rousseau und Goethe distanzieren. Diese Spezifika Jacobis sind aus seinen Schriften heraus betrachtet worden, sodass die Stellung der Erzählwerke innerhalb seines Œuvre deutlich wird. Aus diesem Grund sind die Spätfassungen in das Zentrum dieser Untersuchung gestellt worden. Um die Spätfassungen in ihrem eigenen Werkcharakter zu erfassen, ist die Reihenfolge der Betrachtung entgegen der zeitlichen Chronologie zu setzen. In dieser Untersuchung stehen zunächst die Spätfassungen im Vordergrund und dann vergleichend die Frühfassungen. Diese Vorgehensweise wird dem Forschungsziel der Untersuchung von thematischen und darstellerischen Spezifika der Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis besser gerecht als die übliche Vorgehensweise der chronologischen Reihenfolge, bei der die Spätfassungen nur durch die vorher entworfene Konzeption der Frühfassungen betrachtet werden. Bezogen auf die vermeintliche Diskrepanz zwischen philosophischem Naturbegriff und literarischen Naturschilderungen steht in dieser Untersuchung die These im Zentrum, dass die idyllischen Szenen eine besondere Funktion für die Darstellung eines Entwicklungsprozesses haben. Dieser Prozess ist beim Allwill implizit vorhanden, während er beim Woldemar ausführlich thematisiert wird. Es wird die Annahme untersucht, dass eine spezifische Form des Idyllischen in der Funktion steht, eine Ausdrucksmöglichkeit einer wahrhaftigen Selbstaussprache zu sein. Wahrhaftig ist eine Selbstaussprache in den Erzählwerken Jacobis, wenn sie nicht versucht ein bestimmtes Bild vom eigenen Ich beim adressierten Du zu entwerfen. Eine wahrhaftige Selbstaussprache verzichtet auf Inszenierungen des eigenen Selbst und versucht das Innere in nuce zu versprachlichen und dem adressierten Du mitzuteilen. Auf diese Weise steht das Innere als etwas Nicht-Sprachliches im Vordergrund. Aufgrund der Nicht-Sprachlichkeit des Inneren entsteht die Suche nach sprachlichen Ausdrucksformen, um dem Inneren eine sprachliche Form geben zu können, damit es anderen mitgeteilt werden kann. Die Natur dient als Projektionsfläche für die Versprachlichung der eigenen inneren Regungen und Zustandsformen. Um diese Funktionalisierung von idyllischen Szenen im Detail zu analysieren und zu deuten, ist der gattungsübergreifende Merkmalskomplex des Empfindsam-Idyllischen gebildet worden. Als Textgrundlage fungieren dazu die Idyllen Gessners von 1756, die als empfindsame Idyllen einen weitreichenden literaturgeschichtlichen Rezeptionshorizont aufweisen. Mithilfe des Empfindsam-Idyllischen wird gezeigt, dass die empfindsam-idyllischen Szenen in Jacobis Erzählwerken die Funktion erfüllen, eine Darstellungsform von Innerlichkeit zu sein und eine Antwort auf die Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten des Inneren zu bieten. Es ist der bisherigen Forschung entgangen, dass mit den idyllischen Naturdarstellungen, wie sie am Anfang des Allwill bei Sylli und Clerdon vorliegen, zugleich der Fokus der Darstellung im Sinne der interdisziplinären Forschungsprogrammatik »Menschheit, wie sie ist, erklärlich und unerklärlich […] vor Augen [zu] stellen«, auf das Unerklärliche gerichtet wird.6 Mit der Frage nach Versprachlichungsmöglichkeiten von Zustandsformen des Inneren 6

Vgl. JWA 6,1, S. 89.

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Felix Knode: Literarische Anthropologie und empfindsame Idyllik

wird zugleich die Frage nach den fundamentalen Bedingungen der Möglichkeiten der zwischenmenschlichen Kommunikation des Inneren gestellt. Es wird im Allwill mit der Diskussion um Syllis »sonderbare Gemüthsstimmung« von Beginn an danach gefragt, inwieweit und mit welchen Mitteln das Innere als geistiges Ich des Menschen mitteilbar ist.7 Briefe erscheinen als eine schriftliche Kommunikation, die den Körper ausklammert und sich auf das Innere konzentriert. Schrift ist ein mediales Korrelat des Relationsphänomens des Inneren. Dieses Innere findet in schriftlicher Form nur dann einen geeigneten Ausdruck, wenn das Innere eine Übertragungsfläche seiner Regungen findet. Diese Funktion nimmt bei empfindsam-idyllischen Szenen die Natur ein, da die Erfahrung von naturalen Eindrücken eine Möglichkeit der latenten Thematisierung des eigenen Ichs bietet. In den Spätfassungen steht das Empfindsam-Idyllische auch in der Funktion die subjektive Befangenheit einer Figur zu veranschaulichen und steht in diesen Fällen für eine innerliche Zustandsform, die überwunden werden muss. Dies ist der Fall, wenn es sich bei der bestimmten Form des Idyllischen nicht um eine wahrhaftige Selbstaussprache handelt. Dabei muss die Verstellung für die schreibende Figur kein bewusstes Handeln sein, sondern es kann ein Produkt ihrer psychischen Beschaffenheit sein. Die titelgebenden Protagonisten Woldemar und Allwill sind in den Spätfassungen der Erzählwerke Figuren, die eine verzerrte Wirklichkeitswahrnehmung haben. Ihre psychische Grundherausforderung ist zu einer nüchternen und wirklichen Betrachtung der eigenen Persönlichkeit zu gelangen, ohne sich eine exklusive Einzigartigkeit zuzuweisen, die die Einzigartigkeit anderer Menschen übertreffen würde. Dies ist in Jacobis Woldemar der Fall, da der gleichnamige Protagonist eine psychische Disposition aufweist, die ihn in seiner eigenen als besonders aufgefassten Subjektivität gefangen hält. Er muss von seiner narzisstischen Veranlagung befreit werden und dazu geführt werden, andere Menschen in ihrer Andersartigkeit zu erfassen. Als anderer Mensch dient dazu der Freund als Sinnbild des Anderen schlechthin. Diese Erfassung von Andersartigkeit ist aber keineswegs gegen ihn gerichtet, sondern rückt den Fokus auf eine Arbeit am Selbst, die verrichtet werden muss, um in der Betrachtungsweise von anderen Menschen nicht subjektiv befangen zu sein. In der bestehenden Forschung ist die literarische Gattung der Idylle in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert umfangreich erforscht worden. Es bleibt aber überraschenderweise ein Desiderat, einen mit der Gattung der Idylle verbundenen, ähnlichen Phänomenbereich anzunehmen, der jedoch nicht auf diese Gattung beschränkt ist, sondern gattungsübergreifend ist. Für diesen Phänomenbereich ist der Begriff des Idyllischen angemessen, da er in der Form eines unspezifizierten Assoziationskomplexes in der Forschung um die Gattung der Idylle enthalten ist. Das Idyllische ist in der Idyllenforschung im Wesentlichen dem 19. Jahrhundert vorbehalten. Diese Untersuchung geht davon aus, dass es parallel zu Gattung der Idylle, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Literatur eine Hochphase hat, einen gattungsübergreifenden Phänomenbereich des Idyllischen gibt, der in einem bestimmten Verhältnis zur Gattung der Idylle steht. Mit Blick auf die Erzählwerke Jacobis wird für die Spezifikation des

7

Vgl. Ebd., S. 97.

Fazit

gattungsübergreifenden Idyllischen ein Gattungsbezug zur empfindsamen Idylle gezogen. Diese Studie lehnt sich diesbezüglich an die Überlegungen von Carmen Götz an und sieht in den Erzählwerken sowohl in den Früh-und Spätfassungen eine Auseinandersetzung mit empfindsamen Tendenzen und Thematiken, sodass die Werke durchaus begründet im Diskussionszusammenhang der Empfindsamkeit verstanden werden müssen, in deren Zusammenhang auch die beobachtbaren literaturästhetischen Nuancen wie die programmatische Fragmentform des Allwill entstehen. Im Kontext der Empfindsamkeit muss ein Gattungsbezug für die Spezifizierung des Idyllischen zu dem zeitgenössisch prominenten Werk der Idyllen von Salomon Gessner aus dem Jahr 1756 gezogen werden. Methodisch ist so verfahren worden, dass Merkmale der empfindsamen Idylle Gessners herausgearbeitet wurden, die als Komplex das Empfindsam-Idyllische bilden. Der Begriff des Empfindsam-Idyllischen gibt also an, dass es sich um den gattungsübergreifenden Phänomenbereich des Idyllischen unter dem Vorzeichen der Empfindsamkeit handelt und beschreibt damit eine bestimmte Form des Idyllischen, die mit Merkmalen näher definiert wird. Die konstitutiven Merkmale des Empfindsam-Idyllischen sind die Gleichsetzung von erlebendem und erzählendem Ich sowie die narrativ subjektive Konstitution eines locus amoenus oder mehrerer loci amoeni. Bezogen auf erzählende Literatur ist der gattungsübergreifende Merkmalskomplex des Empfindsam-Idyllischen eine Darstellungsform von Innerlichkeit. Es wurde gezeigt, dass die empfindsamen Idyllen Gessners von 1756 die Idylle als Ausdruck von Innerlichkeit entwerfen. Bei den Idyllen Gessners und daran anschließend auch bei dem Empfindsam-Idyllischen erscheint die Natur als Projektionsfläche innerer Regungen des Subjekts, sodass mit der Thematisierung von Naturerleben eine Selbsterfahrung im Vordergrund steht. Das Naturerleben ist ein subjektbetontes Ereignis, da die Natur im Medium des Subjekts thematisiert wird. Aus dieser Beobachtung resultieren die beiden konstitutiven Merkmale des Empfindsam-Idyllischen. Eine empfindsam-idyllische Szene wird von einer Figur erzählt, die diese Szene auch selbst erfahren hat. Damit hängt das konstitutive Merkmal des subjektiv konstituierten locus amoenus zusammen. Das Angenehme und Schöne des Ortes ist an das Subjekt gebunden und stellt die Wahrnehmung des Erlebenden dar. Ein weiteres thematisiertes Merkmal des Empfindsam-Idyllischen ist die Naivität als natürliche Umgangsform. Naivität ist beim Empfindsam-Idyllischen eine soziale Umgangsform, die einzig dem Inneren des Menschen als moralischen Garant verpflichtet ist. Daran anschließend ist sie auch eine natürliche Ethik des Menschen, die sich allein aus seiner Beschaffenheit heraus ergibt und beim Empfindsam-Idyllischen daher im Kontext von humaner Ursprünglichkeit steht, die mit dem Topos vom goldenen Weltalter aufgerufen wird. Vor dem Hintergrund einer ursprünglichen Naivität, die eine glückliche Zustandsform des Menschen evoziert, erscheinen die menschliche Geschichte und der Prozess der Kultivierung und Zivilisierung als moralische Depravationsgeschehen. Die geistigen Fertigkeiten im Sinne einer Erweiterung und Ausdifferenzierung seines Verstandes haben zur Folge, dass er sein Inneres verstellt. Die ursprüngliche Naivität ist das natürliche Dasein des Menschen und irreversibel beendet. Dieses ursprüngliche Dasein des Menschen war ein suffizientes Leben. Das heißt, es war ein Leben, das drei wesentlichen Diskussionszusammenhängen gerecht wurde: einem zwischenmenschlichen, einem naturalen und einem ich-bezüglichen Diskussionszusammenhang. Das natürliche Dasein des

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Menschen befand sich aus Subjektperspektive in einem Mittelpunkt zwischen diesen drei Diskussionszusammenhängen, sodass es allen drei gerecht wurde. Damit ist dieses Dasein ein Bild von einem Leben, das völlig kampfbefreit ist. Diese Merkmale des Empfindsam-Idyllischen, die sich aus der Analyse der Idyllen Gessners von 1756 ergeben, laufen darauf hinaus, dass sowohl die Gattung der Idylle als auch das gattungsübergreifende Idyllische unter dem Vorzeichen der Empfindsamkeit als Form literarischer Anthropologie verstanden werden müssen. Das Florieren der empfindsamen Idyllik kann mit der Zentrierung von Anthropologie begründet werden, denn hier wird das Innere des Menschen als wesentliches und entscheidendes Charakteristikum seiner Beschaffenheit hervorgehoben. Diese spezifische Form des Idyllischen tritt im empfindsamen Kontext als Hervorhebung des menschlichen Inneren auf und ordnet sich der empfindsamen Tendenz zu, das Empfindungs-und Gefühlsleben des Menschen aufzuwerten und dagegen bloße sinnliche Körperlichkeit abzuwerten. Die empfindsame Idyllik ist eine literarische Form dieser Aufwertung und Zentrierung, dem Inneren literarisch Ausdruck und Form zu geben. Bei dem Empfindsam-Idyllischen in Jacobis Erzählwerken fällt zunächst einmal auf, dass ein intimes Mitteilungsbedürfnis Ausgangspunkt für eine Suche nach sprachlichen Ausdrucksformen des Inneren ist. Demnach ist ein zwischenmenschliches Mitteilungsbedürfnis die Motivation, das eigene Innere zu versprachlichen. In diesem Zusammenhang liegt der Fokus grundlegend auf exklusiven zwischenmenschlichen Beziehungen, da ein besonderer Grad an Vertrautheit notwendig ist, um einem adressierten Du überhaupt das eigene Innere mitteilen zu wollen. Das Naturerleben ist Chiffre eines intensiven und genussorientierten Selbsterlebens und die Mitteilung dieser Ich-Begeisterung steht im Bestreben eine intensive, zwischenmenschliche Beziehung zu etablieren und zu führen. Neben der Ich-Intensität wird versucht, diesen starken Grad des Erlebens auf das Zwischenmenschliche zu erweitern. Sozialität spielt in den Erzählwerken Jacobis nicht als Mitgliedsein einer Familie und Gesellschaft eine Rolle. Im Fokus steht Zwischenmenschlichkeit als exklusives Phänomen, bei dem zwei Personen eine intensive Beziehung führen. Diese Intensität liegt darin, ein Du in eine innere Ich-Intimsphäre zu integrieren, wobei vor allem Woldemar dem Irrtum unterliegt, dass nur ein zum eigenen Ich identisches Du Eingang in diese Sphäre findet. Bei der Untersuchung empfindsam-idyllischer Szenen in den Erzählwerken Jacobis ist dieser Befund bestätigt worden. Die schreibenden Figuren chiffrieren in empfindsam-idyllischen Szenen innere Regungen und Zustandsformen und die Darstellung von naturalen Eindrücken ist eine verdeckte Thematisierung ihres Selbst. Ausgehend von diesem Befund lässt sich vor allem in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis feststellen, dass die empfindsam-idyllischen Szenen an den Stellen auftauchen, an denen eine hervorzuhebende psychische Zustandsform einer Figur geschildert wird. Im Allwill haben empfindsam-idyllische Szenen eine kontrastierende Funktion. Gegenübergestellt wird die wahrhaftige Empfindungsfähigkeit Syllis mit der selbsterhöhenden Arroganz der titelgebenden Figur Allwill. In Syllis empfindsamidyllischen Szenen zeigt sich eine Autonomie ihres Ichs. Sie findet in sich selbst eine Genügsamkeit, die sie über ihre äußeren Lebensbedingungen hinwegtröstet und ihr Hoffnung gibt. Sie benennt diese innere Regung im Zuge einer empfindsam-idylli-

Fazit

schen Szene mit »Verheißung«.8 Trotz ihrer misslichen Lebenslage verliert sie nicht den Glauben an die Menschen und jene, die ihr viel bedeuten, zeigen ihr, dass es sich zu leben lohnt. Die Naturerfahrungen sind bei ihr Veranschaulichungen und unbewusste Verarbeitungen einer innerlichen Erweckung. Die Schilderung von Wahrnehmungen naturaler Eindrücke affirmiert die innerliche Erweckung, denn bei ihrem Blick in die Natur geht es allein um ihre subjektive Wahrnehmung. Sinnesreize und naturale Elemente bekommen allein aus ihrer innerlichen Wertschätzung heraus Bedeutung. Die Darstellung von Naturerlebnissen steht bei ihr immer und einzig in der Funktion, sich dem adressierten Du aufrichtig und unverstellt zu öffnen und mitzuteilen. Das Berichten über Naturerfahrung ist bei Sylli eine unbewusste Offenbarung ihres Selbst. Dies wird mit der Figur Allwill in Kontrast gesetzt. Während bei Sylli die Subjektivierung der Naturerlebnisse im Zeichen einer Selbstoffenbarung steht, nutzt Allwill die Beschreibung von naturalen Eindrücken zur Bestätigung vermeintlich aufrichtiger Empfindungen und Gefühle. Seine empfindsam-idyllischen Szenen stellen sein Selbst nicht unverstellt dar, was damit begründet ist, dass er noch nicht zu einer tiefergehenden Selbsterkenntnis gelangt ist. Aus diesem Grund ist er noch nicht zu einer innerlichen Erweckung wie Sylli und Clerdon gelangt, bei der sie ihr eigenes Ich unabhängig von ihrem körperlichen Dasein erfasst haben. Bei seinen Naturerlebnissen betont Allwill daher immer wieder das Sinnliche, das zugleich Sinnbild seines affektgesteuerten Verhaltens ist. In der Betonung der Töne seines Herzens sieht er die Befolgung einer Stimme der Natur und reflektiert nicht, dass die Befolgung seins Herzens ihn zu einem Menschen formt, der die eigenen inneren Regungen zur Richtschnur des moralischen Handelns macht. Dies ist eine radikale Subjektivierung der Moral, die jegliche zwischenmenschliche Vermittlung moralischer Grundsätze negiert. Diese subjektivistische Moralvorstellung veranschaulicht Allwill in seinen empfindsam-idyllischen Szenen, denn mit der Darstellung von Natureindrücken versucht er ein ich-zentriertes Verlangen zu befriedigen. Dies ist deutlich bei der empfindsam-idyllischen Szene im Brief an Cläre der Fall. Anders als bei Sylli steht so bei der Figur Allwill mit dem Empfindsam-Idyllischen nicht die kommunikative Mitteilbarkeit des Inneren im Vordergrund. Stattdessen zeigen seine empfindsam-idyllischen Szenen, dass er weder sein eigenes, noch das Innere eines anderen Menschen erfassen kann. Er zeigt sich dadurch genau als das Gegenteil seines Selbstbildes. Er versteht sich selbst als besonderen Menschen, der in seiner Berufung auf die Autorität der Natur in besonderer Weise zwischenmenschlich fähig wäre. Letztlich ist aber bereits dieses Selbstbild Symptom einer Hybris, die sich zwanghaft eine exklusive Eigentümlichkeit und soziale Bindungsfähigkeiten zuschreibt. Durch diese sich selbstüberschätzenden Selbstzuschreibungen fasst er sich genialischer als andere Menschen auf. Bei der Spätfassung des Woldemar werden empfindsam-idyllische Szenen ausschließlich von dem titelgebenden Protagonisten verfasst und stellen als innerliche Zustandsform eine psychische Verfassung dar, die Woldemars notorisches Bedürfnis nach Ich-Entgrenzung als Negation der eigenen Endlichkeit veranschaulicht. Solange der Protagonist empfindsam-idyllische Szenen schreibt, befindet er sich in einer innerlichen Zustandsform, bei der sein Ich nicht in der Lage ist, andere Menschen als Du 8

Vgl. JWA 6,1, S. 99.

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zu akzeptieren. Die empfindsam-idyllischen Szenen artikulieren eine Ich-Befangenheit, die es Woldemar nicht erlaubt, andere Menschen in ihrer Alterität zu erfassen. Das heißt, dass er nicht dazu in der Lage ist, tiefgehende Beziehungen zu anderen Menschen zu führen. So scheitert die vermeintliche Seelenfreundschaft zu Henriette in dem Moment, in dem er erkennen muss, dass sie ein eigenes Ich ist, das von seinem Ich differenziert werden muss. Im Woldemar wird mit dem Protagonisten eine Figur beschrieben, die als empfindsamer Mensch entworfen wird, der sich selbst als ein Genie des menschlichen Zusammenlebens sieht. Er erfährt sich selbst und wird von anderen als besonders exklusiver Menschen erlebt. Bis er Henriette als Seelenfreundin gefunden hatte, war er durch eine zwanghafte Suche nach einer Ich-Entgrenzung geprägt. Hinter diesem Zwang verbirgt sich der Wille, aus den Grenzen der eigenen Endlichkeit auszubrechen, denn sich selbst als Ich zu setzen und von anderen als Nicht-Ich zu differenzieren, heißt die eigenen Grenzen zu bestimmen. Die Erfassung des eigenen Ichs ist eine Endlichkeitserfahrung des eigenen Daseins. Diese Endlichkeit kann aber vermeintlich aufgehoben werden, wenn man sein eigenes Ich in einem anderen Menschen gespiegelt sieht, so wie es in empfindsamen Seelenfreundschaftsvorstellungen der Fall ist. Dabei wird bereits an dieser Stelle deutlich, dass es Woldemar mit der Suche nach einer solchen Freundschaft nicht um Zwischenmenschlichkeit geht, sondern um die Erhebung des eigenen Ichs aus seiner Endlichkeit. Es geht Woldemar mit der IchSpiegelung im Anderen um die Transzendierung des eigenen Ichs, denn wenn sein Ich in einem anderem menschlichen Körper wiederzufinden ist, dann ist dies der lebenswirkliche Beweis dafür, dass sein Ich als geistige Daseinsentität vom körperlichen Dasein unabhängig ist. Es sind die Protagonisten Woldemar und Allwill der Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis, die in der Kritik stehen, weil sie sich aufgrund ihrer inneren Zustandsformen selbst als besondere Menschen betrachten. Sie entwerfen von sich selbst ein Bild, das sie als moralische Genies darstellt. Die Spätfassungen dieser Erzählwerke Jacobis bleiben empfindsamen Darstellungsformen wie dem EmpfindsamIdyllischen treu, doch wird dies nun so eingesetzt, dass deutlich wird, dass die empfindsamen Figuren eine Entwicklung durchlaufen müssen. Empfindsam zu sein, wird in den Spätfassungen mit einer Entwicklungsphase der Protagonisten in Relation gesetzt. Am Ende löst sich so die anfangs verdeutlichte vermeintliche Dissonanz auf: Mit den Protagonisten, die glauben, sie könnten Göttliches oder Gott selbst in der Natur erfassen, wird abgerechnet. Es ist Ausdruck ihrer Hybris, dass sie glauben, dass sie Gott und Göttliches in der Natur erfahren. Diese Selbstüberschätzung muss überwunden werden. Wenn die Protagonisten zu einer Erfassung ihres wirklichen Selbst gelangen, sind sie von ihrer subjektiven Befangenheit befreit.

5.1 Das Innere des Menschen vom unveränderlichen Ich zum psychisch variablen Selbst Der Begriff der Innerlichkeit ist im Kontext der Empfindsamkeit ein Relationsbegriff, der zwei wesentliche Daseinsdimensionen des Menschen unterscheidet. Es wird zwischen einer materiellen, sinnlichen und endlichen Ebene und einer geistigen, emotionalen und unendlichen Ebene des Daseins differenziert. Die Tendenz der Empfindsamkeit

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zu akzeptieren. Die empfindsam-idyllischen Szenen artikulieren eine Ich-Befangenheit, die es Woldemar nicht erlaubt, andere Menschen in ihrer Alterität zu erfassen. Das heißt, dass er nicht dazu in der Lage ist, tiefgehende Beziehungen zu anderen Menschen zu führen. So scheitert die vermeintliche Seelenfreundschaft zu Henriette in dem Moment, in dem er erkennen muss, dass sie ein eigenes Ich ist, das von seinem Ich differenziert werden muss. Im Woldemar wird mit dem Protagonisten eine Figur beschrieben, die als empfindsamer Mensch entworfen wird, der sich selbst als ein Genie des menschlichen Zusammenlebens sieht. Er erfährt sich selbst und wird von anderen als besonders exklusiver Menschen erlebt. Bis er Henriette als Seelenfreundin gefunden hatte, war er durch eine zwanghafte Suche nach einer Ich-Entgrenzung geprägt. Hinter diesem Zwang verbirgt sich der Wille, aus den Grenzen der eigenen Endlichkeit auszubrechen, denn sich selbst als Ich zu setzen und von anderen als Nicht-Ich zu differenzieren, heißt die eigenen Grenzen zu bestimmen. Die Erfassung des eigenen Ichs ist eine Endlichkeitserfahrung des eigenen Daseins. Diese Endlichkeit kann aber vermeintlich aufgehoben werden, wenn man sein eigenes Ich in einem anderen Menschen gespiegelt sieht, so wie es in empfindsamen Seelenfreundschaftsvorstellungen der Fall ist. Dabei wird bereits an dieser Stelle deutlich, dass es Woldemar mit der Suche nach einer solchen Freundschaft nicht um Zwischenmenschlichkeit geht, sondern um die Erhebung des eigenen Ichs aus seiner Endlichkeit. Es geht Woldemar mit der IchSpiegelung im Anderen um die Transzendierung des eigenen Ichs, denn wenn sein Ich in einem anderem menschlichen Körper wiederzufinden ist, dann ist dies der lebenswirkliche Beweis dafür, dass sein Ich als geistige Daseinsentität vom körperlichen Dasein unabhängig ist. Es sind die Protagonisten Woldemar und Allwill der Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis, die in der Kritik stehen, weil sie sich aufgrund ihrer inneren Zustandsformen selbst als besondere Menschen betrachten. Sie entwerfen von sich selbst ein Bild, das sie als moralische Genies darstellt. Die Spätfassungen dieser Erzählwerke Jacobis bleiben empfindsamen Darstellungsformen wie dem EmpfindsamIdyllischen treu, doch wird dies nun so eingesetzt, dass deutlich wird, dass die empfindsamen Figuren eine Entwicklung durchlaufen müssen. Empfindsam zu sein, wird in den Spätfassungen mit einer Entwicklungsphase der Protagonisten in Relation gesetzt. Am Ende löst sich so die anfangs verdeutlichte vermeintliche Dissonanz auf: Mit den Protagonisten, die glauben, sie könnten Göttliches oder Gott selbst in der Natur erfassen, wird abgerechnet. Es ist Ausdruck ihrer Hybris, dass sie glauben, dass sie Gott und Göttliches in der Natur erfahren. Diese Selbstüberschätzung muss überwunden werden. Wenn die Protagonisten zu einer Erfassung ihres wirklichen Selbst gelangen, sind sie von ihrer subjektiven Befangenheit befreit.

5.1 Das Innere des Menschen vom unveränderlichen Ich zum psychisch variablen Selbst Der Begriff der Innerlichkeit ist im Kontext der Empfindsamkeit ein Relationsbegriff, der zwei wesentliche Daseinsdimensionen des Menschen unterscheidet. Es wird zwischen einer materiellen, sinnlichen und endlichen Ebene und einer geistigen, emotionalen und unendlichen Ebene des Daseins differenziert. Die Tendenz der Empfindsamkeit

Fazit

unterscheidet sich gängigen Forschungsmeinungen zufolge von barocker und galanter Literatur dadurch, dass die emotionale und geistige Dimension erheblich aufgewertet wird und daher im Zentrum empfindsamer Texte steht. Diese Relation von Äußerem und Innerem ist eine Dichotomie, die in ihrer klaren Trennung oder ihrer nicht zu trennenden Vermischung selbst zum Thema empfindsamer Texte wird. Dabei erscheint diese Dichotomie auch in anthropologischer Gestalt unter der Problemstellung des commercium mentis et corporis, um die viele literarische sowie philosophische Texte im 18. Jahrhundert kreisen. In empfindsamen Texten findet sich die Aufwertung des Inneren des Menschen, was zugleich als eine Abwertung des Äußeren erscheint. Diese dichotomische Struktur wird selbst zum Problem, da der Mensch beide Ebenen in seinem Dasein aufweist und in seiner Lebenswirklichkeit auch auf beide Ebenen angewiesen ist. Innerlichkeit kann sich nicht ohne Körperlichkeit ausdrücken und sei es auch nur der körperliche Akt des Schreibens. Daraus folgt, dass das Innere des Menschen ausschließlich im Medium des Äußeren vermittelbar ist. Dieses Äußere lässt sich auf ein Minimum, wie beim Briefschreiben reduzieren, aber auch diese Form der Kommunikation ist materiell gebunden. Sie ist an das Papier, die Tinte und an den Körper, der die Tätigkeit des Schreibens vollzieht, gebunden. Besonders ist aber, dass zwischen der Mitteilung des schreibenden Ichs und dem Empfangen durch das adressierte Ich eine zeitliche Differenz liegt. Die briefliche Mitteilung ist nicht mehr an die menschliche Körperlichkeit gebunden, sondern diese wurde durch Papier und Tinte ersetzt. Die Schrift übernimmt die Funktion als Code des Inneren zu fungieren, die eine intime Kommunikation ermöglicht, ohne an den menschlichen Körper gebunden zu sein. Auf diese Tendenzen der Empfindsamkeit wurde umfangreich hingewiesen. An dieser Stelle sei an Jürgen Viering und Albrecht Koschorke erinnert. Es sei an Vierings Definition der Empfindsamkeit als kultur-und literaturhistorische Tendenz erinnert, die ein besonderes Fühlen beschreibt: Mit dem Begriffsnamen Empfindsamkeit ist ein (1) gesteigertes, (2) bewußtgemachtes, (3) positiv bewertetes und (4) genossenes Fühlen (›Gefühlskult‹), bezeichnet, das sich in deutschsprachigen literarischen Texten etwa ab 1740 (in Frankreich und England früher) gattungsübergreifend – in besonderer Weise auch in nicht-fiktiven Gattungen wie Tagebuch und Brief Geltung verschafft.9 Für Viering wird mit der Empfindsamkeit eine kultur-und literaturhistorische Tendenz bezeichnet, die ihren Schwerpunkt im Inneren des Menschen findet. Das Innere wird mit Variationen des fühlenden Erlebens thematisiert. Dieses Fühlen ist ein »gesteigertes« Erleben, da die Intensität über sinnliche Affektationen hinausgeht. Durch eine Bewusstmachung des Fühlens wird diese Intensivierung erreicht, indem es selbst zum Thema literarischer Texte wird. Mit dem Fühlen rückt das Innere des Menschen ins Zentrum, was zu bestimmten literarischen Darstellungsformen führt, die das Körperliche reduzieren und ausklammern und das Innere schildern. Dieses Bewusstmachen des Fühlens hängt mit der positiven Bewertung des inneren Erlebens zusammen und kann als Genuss verstanden werden. Auffällig ist bei Viering, dass er nicht den Begriff des

9

Jürgen Viering: Empfindsamkeit. In: Harald Fricke/Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 1: A-G. Berlin 1997, S. 438–441, hier S. 438.

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Empfindens verwendet, sondern den des Fühlens. Das Fühlen bezieht sich anders als das Gefühl auf Sinnesreize und Wahrnehmungen. Das Fühlen rückt damit in die Nähe der Empfindung, während das Gefühl auf eine innere Kraft des Menschen verweist. Das Fühlen erscheint ähnlich wie die Empfindung als Vermittlungsprozess zwischen Äußerem und Innerem des fühlenden Ichs. Betrachtet man die Empfindung und das Fühlen als Prozess, dann sind sie ein Austausch zwischen äußeren Reizen und innerem Zustand. Das heißt, dass vermittelt durch die Empfindung das Äußere das Innere beeinflussen kann. Im Kontext der Empfindsamkeit sind jedoch zwei Besonderheiten im Bezug zu Empfindung thematisiert worden. Die Empfindung ist als Medium nicht neutral, sondern sie ist selbst durch das Innere des Menschen affiziert und stellt damit bereits eine Verinnerlichung des Äußeren dar. Das bedeutet, dass das Äußere dem empfindenden Ich nur durch das Innere zugänglich ist. Es gibt keinen unmittelbaren Bezug zum Äußeren, sondern die Empfindung nimmt das Äußere nur durch das Innere wahr. Diese Doppeldeutigkeit des Begriffs der Empfindung ist bis heute erhalten geblieben.10 Einerseits bezeichnet die Empfindung, dass etwas sinnlich wahrgenommen wird. Andererseits bezeichnet man mit der Empfindung auch die Spürbarkeit innerlicher Regungen und Gemütsbewegungen. Gemeinsam ist diesen beiden Bedeutungen des Begriffs der Empfindung ein gewisses Maß an Bewusstsein des Erlebens. Etwas zu empfinden heißt, dass etwas bewusst wahrgenommen wird. Die Empfindung setzt verschiedene Bewusstseinsdimensionen voraus. Mit der Empfindung muss ein Bewusstsein vom Ich als dem Inneren des Subjekts und vom Äußeren als Nicht-Ich einhergehen. Die Empfindung erfordert demnach ein Körperbewusstsein. Außerdem zeigt sich ein Bewusstseinsgrad der Empfindung darin, dass sich die innere Zustandsform des empfindenden Subjekts ändern kann. Die Empfindung setzt folglich auch ein Bewusstsein über das eigene Innere, ein Bewusstsein über die Beschaffenheit des eigenen Ichs, voraus. Die Empfindung erfordert folglich auch ein Selbstbewusstsein. Daraus folgt, dass Empfinden ein bewusstes Erleben ist. Bei äußeren Reizen wird das, was als sinnliche Wirklichkeit erscheint, verarbeitet. Bei inneren Regungen wird auf die eigenen innere Beschaffenheit des Ichs Bezug genommen und so kann die Empfindung über verschiedene Zustandsformen des Inneren reflektieren. Mit dem Ausdruck Bewusstsein wird in diesem Kontext die Gewahrwerdung des erlebenden Subjekts beschrieben, dass es eine Veränderung seiner Zustandsform erfährt. An dieser Stelle tritt die Doppeldeutigkeit der Empfindung hervor. Sinnliche Reize werden vom erlebenden Subjekt durch die Sinne wahrgenommen. Wenn diese wahrgenommenen Reize zu innerlichen Regungen führen, dann werden diese äußeren Stimuli empfunden. Empfindungen sind durch diese beiden Komponenten von äußerer Aufnahme und innerlicher Wirkung besonders semantisiert, denn äußere Einwirkungen, die keinen Einfluss auf das Innere ausüben, werden nicht empfunden, sondern sind Modifikationen des körperlichen Befindens, nicht aber des ganzen Menschen. Aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive liegt der Schwerpunkt darauf zu ergründen, welche Darstellungstechniken und Darstellungsformen genutzt werden, um

10

Vgl. den Eintrag »Empfindung« beim Duden online: https://www.duden.de/rechtschreibung/Emp findung (Letzter Zugriff am 29.11.2022).

Fazit

dieses Verständnis von Empfindungen und Fühlen darzustellen und in literarischen Texten ins Zentrum zu stellen. Dies findet sich in empfindsamen Texten in der Gestalt der Subjektivierung von Wahrnehmungen und subjektgebundenen Erzählperspektiven wieder. Der Ausdruck des subjektgebundenen Erzählens beschreibt das narrative Phänomen, dass das einzelne Subjekt, welches Erlebnisse erfährt, selbst als erzählendes Ich auftritt. Dieses subjektgebundene Erzählen ist oftmals mit dem Kommunikationsmedium des Briefes verbunden. Der Briefroman oder die Einbettung von Briefen in Erzählwerke bietet die Möglichkeit, die Selbstaussprache der Figuren mit der Adressierung an vertraute Freunde und Freundinnen in einen authentischen Kontext einzubetten. Der Brief als Kommunikationsmedium und Möglichkeit der Selbstaussprache ist an das schreibende Subjekt gebunden und schildert die subjektive Perspektive dieses Ichs. Bei dem Empfindsam-Idyllischen wird dieses Phänomen als Homogenisierung von erlebendem und erzählendem Ich beschrieben. Das Empfindsam-Idyllische steht als gattungsübergreifender Merkmalskomplex im Hinblick auf die Erzählwerke Jacobis ausschließlich als Darstellungsform im Vordergrund. Die empfindsam-idyllischen Szenen in Jacobis Erzählwerke verdeutlichen, dass die Natur als Projektionsfläche des Inneren des erlebenden und erzählenden Ichs fungiert. Dies hängt mit der besonderen Empfindungsrichtung zusammen, die diese Szenen aufweisen. Dabei muss bei der Bewertung von der dargestellten Innerlichkeit entscheidend zwischen den Früh-und Spätfassungen differenziert werden. Gemeinsam ist beiden Fassungen jedoch das zugrunde gelegte Verständnis der Empfindung, das sich auch in den Spätfassungen im Sinne der empfindsamen Doppeldeutigkeit auszeichnet. In den Spätfassungen wird dieses Verständnis der Empfindung im Vergleich zu den Frühfassungen jedoch psychologisiert. Mit dem Begriff des Psychologisierens wird der Beobachtung begrifflich Rechnung getragen, dass zwischen den Früh-und Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis eine veränderte Perspektive auf das Innere des Menschen vorliegt. Die Protagonisten Woldemar und Allwill werden in den Frühfassungen als besonders exklusive Menschen beschrieben, deren eigentümliches Handeln und Verhalten mit ihrem Bestreben der Entfaltung ihres Inneren begründet wird. Das Innere hat in den Frühfassungen die Bedeutung, die Exklusivität des eigentümlichen Menschseins zu betonen. Woldemar und Allwill sind bestrebt, ihr Inneres ins Äußere zu entfalten und sich auf diese Weise eine Wirklichkeit zu schaffen, die einzig ihrer Innerlichkeit verpflichtet ist. In den Frühfassungen wird in diesen Erzählwerken thematisiert, dass eine solche Entfaltung des Inneren im zwischenmenschlichen Miteinander und gerade bei innigen Beziehungen wie Partnerschaft und Freundschaft zu dem Problem führt, dass der andere Mensch nicht als anderer wahrgenommen wird, sondern als eine Ich-Projektion betrachtet wird. Sobald die Protagonisten erfassen müssen, dass der andere Mensch ein eigenständiges, eigentümliches Ich ist, das von ihrem Ich differenziert werden muss, führt dies zu tiefgehenden Konflikten ihrer gesamten innerlichen Beschaffenheit. Bei der Frühfassung des Allwill wird dies lediglich mit dem letzten Brief von Luzie an Allwill angedeutet. Bei der Frühfassung des Woldemar wird dieser Zusammenbruch des Inneren ausführlicher thematisiert, doch bleibt am Ende eine Entwicklung des Protagonisten aus. Es wird angedeutet, dass Woldemar realisiert, dass er sich allein in seine Ich-Krise gestürzt hat, doch diesen Gedanken behält er auch der Freundin Henriette gegenüber für sich. In den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis erscheint das Innere der Protagonisten statisch. Es ist nicht in der Lage, tiefgrei-

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fende Veränderungen und Entwicklungen zu durchlaufen. Erfahrungen und Erlebnisse haben lediglich die Wirkung einer zeitlich beschränkten Modifikation der Zustandsform des Inneren. Eine grundlegende Wandlung und Entwicklung des Inneren bleibt aus. An dieser Stelle setzen die Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis ein. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Früh-und den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis ist, dass sich die Betrachtungsweise des Menschen verändert. Mit der Formulierung der Psychologisierung des Inneren wird diese abgewandelte Betrachtung beschrieben. In den Spätfassungen ist das Innere des Menschen weiterhin der eigentümliche Kern seines Daseins. Das Innere ist das Ich des Menschen, das ihn zu demjenigen Menschen macht, der er ist. Dieses Innere erscheint in den Spätfassungen im Vergleich zu den Frühfassungen jedoch komplexer. In den Frühfassungen ist das Innere durchweg in besonderem Maße moralisch aufgeladen. Die Introspektion und Rückbesinnung auf das Innere als Quelle einer natürlichen und im Menschen selbst begründeten Moral lässt das Innere durchweg als etwas Erwünschtes erscheinen, sodass die Entfaltung des Inneren als Konstitution einer natürlichen Moral begründet wird. Bereits die Frühfassungen thematisieren, dass diese vermeintliche natürliche Moral an ihre Grenzen stößt. Dieser Problemstellung gehen die Spätfassungen nach, denn in ihnen ist das Innere der Protagonisten Woldemar und Allwill in besonderer Weise durch zwanghaftes Verlangen, sehnsuchtsvolle Begierde und maßlose Leidenschaft geprägt. Mit diesen Phänomenen rückt bei den Spätfassungen eine Kehrseite des emotionalen Erlebens des Menschen in sein Inneres. Das menschliche Innere als sein geistiges Ich ist in den Spätfassungen nicht wie in den Frühfassungen etwas durchweg Erfreuliches und Angenehmes, sondern es ist etwas weitaus Komplexeres. In dieser veränderten Perspektive auf das Innere des Menschen deutet sich eine veränderte Stellung zur Tendenz der Empfindsamkeit an. Die Auseinandersetzung mit dieser Tendenz steht auch im Zentrum der Spätfassungen, aber das subjektbetonende und Eigentümlichkeit veranschaulichende Menschenbild, das im Zuge empfindsamer Texte oftmals entworfen wurde, wird sozial und moralisch hinterfragt. Radikale Subjektkonstitution führt zu der Frage, inwieweit ein solches Subjekt noch sozial kompatibel ist. Die Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis stellen eine empfindsamkeitskritische Anthropologie vor, die eine Möglichkeit darstellt, wie der Mensch sich selbst entfalten und in seiner Ganzheitlichkeit erfassen kann, aber dennoch nicht in seiner Subjektivität befangen bleibt. Mit Phänomenen wie Verlangen, Begehren und Leidenschaft rückt eine ›dunkle Seite‹ in das Innere des Menschen. Diese Beobachtung wird mit der Psychologisierung des Inneren beschrieben, weil es dadurch als etwas entworfen wird, das eine Potenzialität zur Asozialität und Amoral in sich trägt. Der Mensch und sein Inneres sind nicht mehr etwas durchweg ›Reines‹, sondern selbst in seinem Inneren findet sich nun ›Dunkles‹. Das Innere des Menschen bekommt dadurch eine inhärente Gliederung. Es ist das Zentrum der Eigentümlichkeit jedes einzelnen Menschen und damit Ausgangspunkt des Ichs. Dieses Ich des Menschen kann aber nun von Kräften bestimmt werden, die das Ich selbst nicht durchblickt. Diese Kräfte bestimmen das Verhalten und Handeln des Ichs, ohne dass darüber ein Bewusstsein vorliegt. An dieser Stelle sticht ein großer Unterschied zwischen den Spätfassungen von 1794 und 1796 hervor. In der moralphilosophischen Kontroverse zwischen Woldemar und Hornich wird der Begriff des Triebs in das Erzählwerk Woldemar eingeführt. Dabei wird dieser Begriff von Woldemar als laten-

Fazit

ter Beweggrund moralischen Handelns eingeführt: »Was gut ist, sagt dem Menschen unmittelbar und allein sein Herz; kann allein sein Herz, sein Trieb unmittelbar ihm sagen: es zu lieben ist sein Leben.«11 Für Woldemar ist der Begriff Trieb im moralischen Kontext gleichzusetzen mit dem Begriff des Herzens, denn alle Motivation des Handelns geht vom Herzen aus. Daraus resultiert nun, dass der Begriff Trieb hier als Gesamtheit von Verhalten-und Handlungsbeweggründen verwendet wird. Der Begriff des Triebes ordnet sich in diesem Zusammenhang Woldemars Tugendethik zu und seiner Vorstellung vorm moralischen Genie.12 Das moralische Genie gibt »der Kunst des Guten« ein »vortreffliche[s] Muster«, indem es immer instinktiv aus seinem Trieb heraus, situativ moralisch handelt.13 Der Trieb ist also in der Moralvorstellung Woldemars eine innere Kraft, die zum moralischen Handeln führt. Der Trieb ist für Woldemar Quelle von Moral. Diese Passage steht am Anfang des Werkes und Woldemar unterliegt später selbst seinen sehnsuchtsvollen Zwängen und seinem notorischen Transzendierungsbegehren der eigenen Endlichkeit. Woldemar zeichnet sich am Anfang des Werkes dadurch aus, dass er das Innere des Menschen in seiner Gesamtheit als bewusst betrachtet. Doch ganz am Ende des Werkes erfasst er, dass er Vorgänge in seinem Inneren nicht immer bewusst durchblickt und dass sein Transzendierungsbegehren seinen Blick auf den tatsächlichen Menschen verstellt. Am Ende bemerkt Woldemar dies an sich selbst, indem er in seinem Inneren etwas findet, das dort eigentlich gar nicht zu finden sein dürfte. Nachdem es mit Henriette und Biderthal zu einer Aussprache gekommen ist, möchte er auch seiner Frau Allwina diese zu klärenden Begebenheiten erklären, doch er bemerkt hinsichtlich des Gesprächs mit Allwina eine merkwürdige Verhaltensweise bei sich selbst. Er hatte nichts verheimlichen wollen; wußte nicht anders, als daß er sein ganzes Inneres darlegte; und doch war einiges von-dem, was in ihm vorgegangen war, und er gestern Henrietten mit einem Feuer dargestellt hatte, daß sie vor ihm zurück bebte, jetzt, vor seinem edeln Weibe, ausgeblieben – Nicht aus Ueberlegung! Nicht mit Vorbedacht! Es hatte ihn diese Zurückhaltung gleichsam überrascht. Darum erschrak er in seinem Innern; entsetzte sich vor dem sonderbaren Geheimnisse, das in ihm waltete. Er durchforschte jede Falte seines Wesens, und entdeckte bald, mit zerknirschender Beschämung, daß er auch an der Stelle, wo er sich ganz rein geachtet hatte, nicht mehr sich rein achten durfte. Ihm schauderte vor dem Abgrunde – an dem er noch stand: vor den Tiefen seines Herzens!14 Woldemar vertraut sich ganz Henriette an und hält sich aber ›unbewusst‹ gegenüber Allwina zurück, sodass hier deutlich wird, dass Woldemar durch einen unbewussten Trieb geleitet wird. Dieser Trieb ist kein moralisches Gefühl, sondern er ist in diesem Fall eine zwischenmenschliche Anziehungskraft. Woldemars zwanghaftes Transzendierungsbegehren hat aus dieser Anziehungskraft, die Henriette auf ihn ausstrahlt, eine geistige Freundschaft machen wollen. Dieses Begehren ist darin begründet, dass Woldemar seinem eigenen Menschenbild entsprechend erhaben sein möchte und das heißt, dass der 11 12 13 14

JWA 7,1, S. 267. Vgl. Ebd., S. 249f. Vgl. Ebd., S. 249. Ebd., S. 467.

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Mensch über dem Körperlichen steht. Das Körperliche wird abgewertet und das Geistige aufgewertet. Aus diesem Grund möchte Woldemar Henriette nicht zur Ehefrau, denn er möchte ihre Beziehung rein geistig gestalten, um so mit ihr eine sublime, zwischenmenschliche Beziehung zu haben und auf diese Weise mit ihr eine Exklusivität ihrer Bindung zu leben, die einzigartig ist. Das Ende des Woldemar zeigt aber nun ein psychologisiertes Inneres Woldemars. In Woldemars Ich gibt es Kräfte, deren er sich nicht erwehren kann und diese Kräfte ziehen ihn zu Henriette hin, ob er es will oder nicht. Aus diesem Grund muss er »mit zerknirschender Beschämung« erfassen, dass »auch an der Stelle, wo er sich ganz rein geachtet hatte, nicht mehr sich rein achten durfte«. Woldemars seelenfreundschaftliches Gehabe zeigt sich am Ende als Resultat einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung und durch unbewusste Kräfte »in seinem Innern« wird er am Ende gewahr, dass er Henriette als ganzen Menschen liebt. Der ganze Mensch schließt Körperlichkeit mit ein, sodass seine notorische Betonung des Geistigen daher rührte, dass er unbedingt ein besonderer Mensch sein wollte, der über die bloße Sinnlichkeit und ihre räumliche und zeitliche Abhängigkeit erhaben ist. Dieses Ende zeigt, dass Woldemar nicht Herr im Haus seines eigenen Inneren ist, da er sich selbst »vor den Tiefen seines Herzens« gruselt. Daraus folgt, dass in der Woldemar-Fassung von 1796 mit der moralphilosophischen Kontroverse und dem Ende eine Perspektive auf das Innere eröffnet wird, die davon ausgeht, dass im Inneren des Menschen Kräfte wirken, über die der Mensch selbst keine Macht und keinen Einfluss hat. Woldemar ist seinen ›wahren‹ Gefühle für Henriette am Ende unterlegen. Das Innere des Menschen erscheint am Beispiel Woldemars als heterogen und teilt sich in zwei Bereiche auf. Ein Bereich beschreibt das Bewusste. Damit werden Beweggründe des Verhaltens und Handelns beschrieben, über die sich Woldemar selbst im Klaren ist. Zu dem Bewussten gehören alle Kräfte im Inneren, über die sich das Ich im Klaren ist und die das Ich selbst aktiv gestalten und lenken kann. Der andere Bereich erscheint als das Unbewusste und umfasst alle diejenigen Kräfte im Inneren, die dem Ich nicht klar sind und auf die das Ich keinen direkten Einfluss hat.15 Das spezifische Verhalten und Handeln des Protagonisten Woldemar ergibt sich aus einem reziproken Verhältnis dieser beiden Sphären im Inneren des Menschen. 15

Kant nennt dieses Unbewusste auch »dunkle Vorstellungen« und behauptet, dass dieses »Feld […]das größte im Menschen« ausmache. Mit dem Adjektiv »dunkel« bezeichnet Kant Vorstellungen, die ein Mensch hat, die ihm jedoch nicht bewusst sind. Kant hebt hervor, dass er solche Vorstellungen nicht nur für möglich, sondern fest im Ich verankert hält. Er sieht gerade die Sinneserfahrung als Evidenz dafür, denn der Mensch habe einen so umfangreichen Fundus an sinnlichen Reizen, das davon »auf der großen Karte unseres Gemüts nur wenig Stellen illuminiert« seien. »Das Feld dunkler Vorstellungen« ist nach Kant das umfangreichste im Menschen. Dieser Bereich der dunkeln Vorstellungen ist bei Kant das Unbewusste im Menschen und zeigt an, dass im Zuge der Transzendentalphilosophie Kants eine Psychologisierung des menschlichen Inneren beobachtbar ist, insofern der Begriff der Psychologisierung als Aufteilung des menschlichen Inneren in verschiedene Bereiche, Kräfte und Bewusstseinsformen verstanden wird. Die geschilderte Psychologisierung des menschlichen Inneren in den Erzählwerken Jacobis ist damit kein Einzelphänomen, sondern zeigt, dass die Spätfassungen in dem dargestellten Menschenbild eine psychologischtranszendentalphilosophische Wende vollziehen. Diese Wende bei Jacobi findet in den Schriften Kants einen wichtigen Bezugspunkt. Die in dieser Fußnote angeführten Kant-Zitate sind zitiert nach: Rudolf Eisler: Kant Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen, und handschriftlichem Nachlaß. Hildesheim 1989, S. 549f (Eintrag unbewußt).

Fazit

Diese heterogene Differenzierung im Inneren des menschlichen Ichs wird als Psychologisierung des menschlichen Inneren verstanden. Mit dieser Psychologisierung zeichnet sich ab, dass die Projektion des Inneren auf die Welt destruktive Wirkungen auf die Umgebung des Menschen ausüben kann. Die empfindsame Ich-Projektion auf Natur und Freund ist in den Spätfassungen kein Ausdruck einer besonderen exklusiven Innerlichkeit und zwischenmenschlichen Bindungsfähigkeit, sondern ein Akt ich-zentrierter und egoistischer Zerstörung der eigenen Umgebung, die von den Protagonisten Woldemar und Allwill als ein solcher Akt jedoch nicht wahrgenommen wird. Diese mangelnde Wahrnehmungsfähigkeit ist mit einer vehementen Diskrepanz zwischen Selbst-und Fremdbild der Protagonisten begründet. Sie sehen sich selbst als besonderen und sozial äußerst fähigen Menschen an, während die Personen in ihrer Umgebung sie kritisch einschätzen. So haben Woldemar und Allwill beide destruktive Einflüsse auf die Familien, in die sie eingebettet sind. In den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis ist das Besondere an dem Inneren des Menschen neben der Erweiterung durch destruktive Elemente, dass es anders als in den Frühfassungen nicht als statische Eigentümlichkeit des Menschen geschildert wird. In den Spätfassungen der Erzählwerke wird das Innere der Protagonisten durch Erfahrungen und Erlebnisse verändert und durchläuft eine Entwicklung. Im Allwill deutet sich eine Entwicklung zur Einsicht des Protagonisten an, wenn man die Vorrede unter Bezug auf den Titel Eduard Allwills Briefsammlung so versteht, dass Allwill der Besitzer der Sammlung ist und das herausgebende Ich aufsucht, um die Sammlung von Briefen zu veröffentlichen. Dies artikuliert eine Entwicklung des Protagonisten, da aus dieser Betrachtungsweise von Allwills eigener Hand auch kritische Briefe gegen ihn veröffentlicht werden und er durch die Briefsammlung ein umfangreiches und ganzheitliches Bild von sich selbst zur Veröffentlichung gibt, das nicht auf seine subjektive Perspektive beschränkt bleibt. Folgt man diesem Deutungsansatz, dann erschließt sich nicht nur die Veröffentlichungsmotivation dieser Briefsammlung, sondern der Briefsammlung kommt in der Gesamtheit aller einzelnen Briefe auch eine Bedeutung zu, die sich nicht auf die Addition der einzelnen Briefe reduzieren lässt, sondern die auf eine Ebene verweist, die der Briefsammlung als Ganzes eine Bedeutung gibt, die sich nicht allein aus den Briefen erschließen lässt. Die Entwicklung Allwills ist ein Prozess, der auf der zeitlichen Ebene der Briefe nicht abbildbar ist. Sie muss zeitlich nach den Briefen erfolgen und sich dann erst zeigen. Diese Entwicklung ist etwas Sukzessives. Bei der Spätfassung des Woldemar wird die Entwicklung des Protagonisten dezidiert als äußerst schmerzhafte und tiefere Selbsterkenntnis bezeichnet. Diese Entwicklung beweist, dass das Innere des Menschen etwas Sukzessives ist. Das bedeutet, es verändert innerhalb der Zeit neben seinen Zustandsformen auch seine Beschaffenheit, indem es Ursachen gibt, die eine Wirkung auf das Innere haben. Bei Jacobis Spätfassungen seiner Erzählwerke zeigt sich in diesem Zusammenhang der Sukzessivität des Inneren, das ist die Abhängigkeit der konkreten Zustandsform und Beschaffenheit von der Zeit, die Veränderbarkeit des Inneren des Menschen. Das Innere ist nicht mehr eine gegebene Eigentümlichkeit des Menschseins, die starr und unveränderbar ist. In den Spätfassungen unterliegt es Veränderungen und Modifikationen. Aus diesem Grund ist in der Rezeption sowie in der bisherigen Forschung der Erzählwerke die Lücke offengeblieben, das Innere des Menschen als säkularisiert zu verstehen, insofern man Säkularisierung »einer-

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seits als Absage an und Entfernung vom Christlich/Religiösen als einer außerweltlichen Transzendenz [und] andererseits als Eingehen des Christlichen/Religiösen ins Weltliche, d[as] h[eißt] als Sakralisierung des Diesseits« betrachtet.16 Das Innere des Menschen steht auch in den Spätfassungen als göttlicher Funke außer Frage, allerdings wird dieser göttliche Funke nicht mehr als starr und unveränderlich gedacht. Der Mensch kann durch tiefgreifende Erfassung des eigenen Selbst sein eigenes Inneres verändern und zu dieser Erfassung gehört gerade im Hinblick auf Jacobis Woldemar eine sittlich anthropologische Vorstellung, die sich als Ethik der Vorfindlichkeit bezeichnen lässt. Diese Ethikvorstellung beschreibt, dass Woldemar im Zuge seiner Selbsterfassung sich darüber bewusst wird, dass Andere an ihm, an seinem Ich handeln. Daraus folgt, dass Woldemar innerhalb seines Selbsterkenntnisprozess neben der Anerkennung von anderen Ichs realisiert, dass diese Anderen – vor allem vorgeführt an Biderthal und Henriette – an ihm handeln. Das bedeutet, dass ihr gemeinsamer Umgang Handlungen auf ihn ausübt, die sein Inneres verändern. Dieser zweistufige Erkenntnisprozess ist die Entwicklung, die Woldemar durchläuft und der seine Beschaffenheit des Inneren verändert. Woldemar wird in der Spätfassung als ein Mensch eingeführt, der durch sein Begehren, sein eigenes Ich transzendieren zu wollen, geprägt ist. Dieses Begehren artikuliert sich in seinem sehnsüchtigen Verlangen, sein eigenes Ich in einem anderen Menschen wiederzufinden. Dieses Wiederfinden im Anderen bürgt in der Vorstellung Woldemars dafür, dass sein eigenes Ich nicht an eine spezifische körperliche Erscheinung gebunden ist, sondern ein Metaphysikum ist, in dem Sinne, in dem es der Kern von äußerlichen Erscheinungen ist. Durch dieses Wiederfinden betrachtet Woldemar sein eigenes Ich als einen göttlichen Funken, der sich dadurch als metaphysisches Dasein beweist, indem er nicht auf ihn allein beschränkt bleibt, sondern sich in anderen Menschen zeigt. Daraus folgt, dass Woldemar einzig sein Ich als etwas Metaphysisches ansieht und einem anderen Menschen nur dann diese metaphysische Dimension zuweist, wenn er glaubt, sein eigenes Ich wiederzuentdecken. Dies ist eine Verabsolutierung des eigenen Ichs in dem Verständnis, dass einzig das eigene Ich als dem Absoluten zugehörig betrachtet wird. Die Selbstherrlichkeit dieser Betrachtungsweise des eigenen Ichs ist dem Protagonisten zunächst nicht klar und es ist der leidvolle Weg »zu einer tieferen Selbsterkenntnis«, die ihm aufzeigen wird, dass diese Auffassung des eigenen Ichs zu einer verstellten Perspektive auf die Wirklichkeit führt und eine moralisch destruktive Wirkung auf sein Umfeld ausübt.17 Die Aspekte des Begehrens, Verlangens und der Sehnsucht bilden eine abgründige Seite des Inneren. Das Innere ist nicht per se moralisch und führt in seiner Entfaltung zu besonders moralischem Verhalten und Handeln. Der Vorstellung, dass die Entfaltung des Inneren zweifelsfrei zu moralischem Handeln führt, wird mit den beiden Protagonisten Allwill und Woldemar deutlich eine Absage erteilt. Die beiden Protagonisten erscheinen in den Spätfassungen mit der Attitüde, dass ihre inneren Regungen die Stimme der Natur seien und die Übertragung dieser inneren Regungen in die ihnen erscheinende

16 17

Vgl. für dieses Verständnis von Säkularisierung: Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 1f, hier S. 2. Vgl. JWA 7,1, S. 323.

Fazit

Wirklichkeit zu einer natürlichen Moral führe. Sie unterliegen der Illusion, dass das Innere des Menschen an sich moralisch sei und in der Übertragung ins Äußere zu einer Moral führe, die von der Natur des Menschen selbst käme und daher eine natürliche Moral sei. Die beiden Erzählwerke thematisieren, dass diese Haltung gegenüber dem Inneren ein großes Missverständnis der Beschaffenheit des Menschen ist, denn das Innere kann in seiner Beschaffenheit so geprägt sein, dass die Entfaltung im Leben zu amoralischem oder doch zu mindestens moralisch fragwürdigem Verhalten und Handeln führt. Woldemars anfängliche psychische Beschaffenheit ist dadurch geprägt, dass er unbedingt eine metaphysische Dimension im Leben erfassen möchte, um so zu einer Vergewisserung eines eigenen bleibenden Daseinskern zu gelangen. Er hat das notorische Verlangen, nicht vollkommen vergänglich zu sein. Daher begehrt er danach, eine Gewissheit zu erlangen, dass es eine metaphysische Daseinsebene gibt. Er leidet an der schmerzhaften Sehnsucht, sein eigenes Ich zu transzendieren. Im Zuge der vermeintlichen Seelenfreundschaft und Woldemars Gewahrwerdung, dass Henriette ein anderer Mensch und ein eigentümliches Ich ist, übt er einen destruktiven Einfluss auf alle Personen in seiner Umgebung aus, vor allem auf Henriette. Er muss seine innerliche Beschaffenheit des notorischen, ich-zentrierten Begehrens überwinden und in der Lage sein, einen anderen Menschen als ein anderes, eigentümliches Ich zu erfassen. Die Ich-Projektion, die eine empfindsame Freundschaftsvorstellung entscheidend definiert, wird in dem Entwicklungsgeschehen Woldemars als narzisstisch geprägter Egoismus verurteilt und ist Ausdruck einer Vorstellung vom Menschen, der in seiner Subjektivität gefangen ist. Die Früh-und Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis thematisieren unterschiedliche Vorstellungen vom Inneren des Menschen. In den Frühfassungen erscheint dieses Innere als ein unveränderliches Ich des Menschen. Dieses Ich ist der innere Kern des einzelnen Menschen, der ihn einzigartig macht. Dieser innere Kern des Menschen wird als ein göttlicher Funke im Menschen verstanden und verlegt etwas Transzendentes in das Innere des Menschen. Dieses Transzendente wird zum eigentümlich Menschlichen. Menschsein bedeutet daher, der bloßen Äußerlichkeit der erfahrbaren Welt enthoben zu sein. Die Erzählwerke Jacobis lassen sich in den Frühfassungen als die Suche nach einer Vergewisserung dieser Auffassung des Inneren des Menschen verstehen. Die Protagnisten Woldemar, Allwill und Sylli sehnen sich nach einer metaphysischen Bestätigung ihrer Eigentümlichkeit. Sie begehren danach, ihr Ich im Anderen wiederzuentdecken. Den beiden titelgebenden Figuren Woldemar und Allwill bleibt dies aufgrund ihrer Ich-Zentrierung versagt. Einzig die Figur Sylli führt eine geistige Freundschaft, die sich bestätigt, indem ihre Briefe mit Clerdon und seiner Familie dafür bürgen, dass sie mit diesem Personenkreis innerlich gleichgestimmt ist, indem ähnliche innere Regungen unabhängig voneinander empfunden werden. Dabei zeichnet sich Sylli bereits in den Frühfassung des Allwill dadurch aus, dass sie die Fähigkeit hat, sich empathisch in andere hineinversetzen zu können. Anders als die beiden Protagonisten Woldemar und Allwill verfügt sie über die Einsicht, andere Menschen in ihrer Andersartigkeit anzuerkennen. Diese Anerkennung führt dazu, dass die empfindsame Freundschaftsvorstellung der Ich-Spiegelung jedoch implizit hinterfragt wird. Sylli hat mit Clerdon und seiner Familie eine innerlich besondere Beziehung, aber dieses Verhältnis ist keine Spieglung des eigenen Ichs im Anderen, sondern die Erfassung von

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Resonanzen. Sylli wird innerliche Gleichklänge mit Clerdon und seiner Familie gewahr, die dieses besondere Verhältnis ausmachen. Diese Problematisierung der empfindsamen Freundschaftsvorstellung der IchSpieglung wird in den Spätfassungen offener und ausführlicher thematisiert und wird mit einer veränderten Auffassung vom Inneren des Menschen verbunden. Die Betrachtungsweise des Inneren des Menschen als unveränderliches, eigentümliches Ich rückt in den Spätfassungen der Erzählwerke in die Kritik. Anhand der Protagonisten Woldemar und Allwill wird deutlich, dass diese Betrachtung des Inneren der Komplexität der menschlichen Lebenswirklichkeit nicht gerecht wird. In diesem Kontext werden Freundschafts-und Moralvorstellungen hinterfragt, die auf dieser Auffassung vom Inneren des Menschen aufbauen. Die Protagonisten erweisen sich als zwischenmenschlich unfähig, weil sie eine Vorstellung vom Inneren des Menschen als starres Ich haben, das zwar der Funke Gottes ist, aber in sich unveränderlich. Das Ich erscheint als innerer Kern des Menschen, der eine invariable Eigentümlichkeit enthält. Diese Starre des Inneren des Menschen erweist sich aber als Widerspruch zu dem erfahrbaren Leben. Der Mensch wird in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis als innerlich erfahrungsgeprägt dargestellt. Das Innere des Menschen beschreibt weiterhin seine besondere Eigentümlichkeit, doch unterliegt es auch Erfahrungen und Modifizierungen vom Äußeren, das durch die Empfindung verinnerlicht werden kann. Das Innere kann die Zustandsform verändern, doch dies konnte auch das starr vorgestellte Ich des Menschen, das sich in verschiedenen Gemütsverfassungen veräußerlicht. In den Spätfassungen implizieren die Protagonisten jedoch, dass das Innere des Menschen sich in seiner Beschaffenheit verändert. Das bedeutet, dass das Innere des Menschen in sich selbst beständig Veränderungen durchläuft. Es wird nicht mehr statisch, sondern dynamisch betrachtet. Das Innere des Menschen erscheint nun vielmehr als eine Einzigartigkeit des Daseins, die sich sukzessiv, das bedeutet abhängig von der Zeit, verändert. Das Innere des Menschen ist nicht bloß ein Ich, sondern ein sich stetig wandelbares Selbst. Dieses Selbst arbeitet in sich beständig sowie der einzelne Mensch an seinem Selbst beständig arbeitet.

5.2 Natur und Innerlichkeit Die veränderte Betrachtung des Inneren des Menschen vom eigentümlich unveränderlichen Ich zum psychisch variablen Selbst spiegelt sich in verschiedenen Funktionalisierungen des Empfindsam-Idyllischen wider. In den Frühfassungen sind empfindsamidyllische Szenen auf eine Weise in das Gesamtwerk eingebettet, in der sie als Ausdruck einer exklusiven Innerlichkeit des schreibenden Ichs erscheinen. Das EmpfindsamIdyllische hat hier als Darstellungsform von Innerlichkeit die Funktion, die subjektive Eigentümlichkeit der schreibenden Figuren darzustellen. Dieses Ich ist ein sprachlicher Ausdruck für die subjektive Eigentümlichkeit des Menschen.18 Der Schwerpunkt der 18

Der Begriff des Ichs wird hier vor allem aus einem anthropologischen Blickwinkel im Bezug zu den Schriften Jacobis betrachtet. Der Begriff des Ichs ist im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert ein Schlüsselbegriff der Philosophie und vor allem ein erkenntnistheoretischer Begriff. So

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Resonanzen. Sylli wird innerliche Gleichklänge mit Clerdon und seiner Familie gewahr, die dieses besondere Verhältnis ausmachen. Diese Problematisierung der empfindsamen Freundschaftsvorstellung der IchSpieglung wird in den Spätfassungen offener und ausführlicher thematisiert und wird mit einer veränderten Auffassung vom Inneren des Menschen verbunden. Die Betrachtungsweise des Inneren des Menschen als unveränderliches, eigentümliches Ich rückt in den Spätfassungen der Erzählwerke in die Kritik. Anhand der Protagonisten Woldemar und Allwill wird deutlich, dass diese Betrachtung des Inneren der Komplexität der menschlichen Lebenswirklichkeit nicht gerecht wird. In diesem Kontext werden Freundschafts-und Moralvorstellungen hinterfragt, die auf dieser Auffassung vom Inneren des Menschen aufbauen. Die Protagonisten erweisen sich als zwischenmenschlich unfähig, weil sie eine Vorstellung vom Inneren des Menschen als starres Ich haben, das zwar der Funke Gottes ist, aber in sich unveränderlich. Das Ich erscheint als innerer Kern des Menschen, der eine invariable Eigentümlichkeit enthält. Diese Starre des Inneren des Menschen erweist sich aber als Widerspruch zu dem erfahrbaren Leben. Der Mensch wird in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis als innerlich erfahrungsgeprägt dargestellt. Das Innere des Menschen beschreibt weiterhin seine besondere Eigentümlichkeit, doch unterliegt es auch Erfahrungen und Modifizierungen vom Äußeren, das durch die Empfindung verinnerlicht werden kann. Das Innere kann die Zustandsform verändern, doch dies konnte auch das starr vorgestellte Ich des Menschen, das sich in verschiedenen Gemütsverfassungen veräußerlicht. In den Spätfassungen implizieren die Protagonisten jedoch, dass das Innere des Menschen sich in seiner Beschaffenheit verändert. Das bedeutet, dass das Innere des Menschen in sich selbst beständig Veränderungen durchläuft. Es wird nicht mehr statisch, sondern dynamisch betrachtet. Das Innere des Menschen erscheint nun vielmehr als eine Einzigartigkeit des Daseins, die sich sukzessiv, das bedeutet abhängig von der Zeit, verändert. Das Innere des Menschen ist nicht bloß ein Ich, sondern ein sich stetig wandelbares Selbst. Dieses Selbst arbeitet in sich beständig sowie der einzelne Mensch an seinem Selbst beständig arbeitet.

5.2 Natur und Innerlichkeit Die veränderte Betrachtung des Inneren des Menschen vom eigentümlich unveränderlichen Ich zum psychisch variablen Selbst spiegelt sich in verschiedenen Funktionalisierungen des Empfindsam-Idyllischen wider. In den Frühfassungen sind empfindsamidyllische Szenen auf eine Weise in das Gesamtwerk eingebettet, in der sie als Ausdruck einer exklusiven Innerlichkeit des schreibenden Ichs erscheinen. Das EmpfindsamIdyllische hat hier als Darstellungsform von Innerlichkeit die Funktion, die subjektive Eigentümlichkeit der schreibenden Figuren darzustellen. Dieses Ich ist ein sprachlicher Ausdruck für die subjektive Eigentümlichkeit des Menschen.18 Der Schwerpunkt der 18

Der Begriff des Ichs wird hier vor allem aus einem anthropologischen Blickwinkel im Bezug zu den Schriften Jacobis betrachtet. Der Begriff des Ichs ist im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert ein Schlüsselbegriff der Philosophie und vor allem ein erkenntnistheoretischer Begriff. So

Fazit

Frühfassungen liegt darauf, das Besondere des Menschseins in einer subjektbetonten Eigenheit zu entdecken. Das Innere des Menschen erscheint als Repräsentationsort des menschlichen Ichs, weil darin die Eigenart des einzelnen Menschen erblickt wird. Diese Fokussierung auf den einzelnen Menschen in seiner eigentümlichen Ichhaftigkeit zeichnet die empfindsame Literatur aus und zeigt auf, dass Jacobis Frühfassungen diese Tendenz der Empfindsamkeit enthalten. Die Thematisierung dieses Ichs ermöglicht es, ein bewusstgemachtes Fühlen ins Zentrum zu stellen, indem die Relation von Äußerem und Innerem als genuin menschliches Erleben konstituiert und etabliert wird. Mit dieser Relationssetzung werden zwei Lebenssphären eröffnet, die das Subjekt teilt. Das Subjekt selbst wird heterogen, indem es einer äußeren und einer inneren Sphäre angehört, wobei es sich selbst durch die Beschaffenheit seiner inneren Sphäre definiert.19 Dies wertet die äußere Sphäre ab und relativiert ihre Bedeutung. Diese Sphären werden in Jacobis Frühfassungen der Erzählwerke als in sich homogen verstanden. Die Entdeckung, dass der Mensch innerhalb dieser Sphären eine ihm eigentümliche Heterogenität aufweist, thematisieren die Spätfassungen. In der empfindsamen Literatur floriert die literarische Idyllik. In der Thematisierung der Natur geht es in empfindsamer Idyllik oftmals um die Projektion des eigenen Inneren. Die Natur ist Chiffre des eigenen Ichs. Im Blick auf die Natur wird die eigene Leistung des Bewusstseins zelebriert, die Natur als gesellschaftsabgewandten Erlebnisraum wahrzunehmen. Empfindsam-idyllische Naturbeschreibungen erscheinen als versteckte Selbstbegeisterung, die nicht erfasst, dass die idyllische Szene vielmehr eine Konstruktion des eigenen Bewusstseins ist, als eine auf äußere Reize gerichtete ästhetische Wahrnehmung. In den Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis wird in empfindsamidyllischen Szenen die Eigentümlichkeit der schreibenden Figuren pointiert. Diejenigen Figuren, die fähig sind, empfindsam-idyllische Szenen zu verfassen, erscheinen als exklusiv. Diese Exklusivität wird auf den ganzen Menschen übertragen. Aus der Fähigkeit der besonders anmutigen und sensiblen Wahrnehmung der naturalen Umgebung wird ein spezifischer moralischer Status der Figur abgeleitet. Dementsprechend erscheinen die Protagonisten der Frühfassungen in ihrem Verhalten in einem tugendhaften Licht. Aus dieser Perspektive weisen diese Fassungen im Erzählverhalten eine enthusiastische

19

erklärt Kant die Möglichkeit, dass das menschliche Ich zugleich Subjekt und Objekt seines Denkens und seiner Anschauung sein könne, zum »Grundsatz der Transzendentalphilosophie«. Das reine Ich sei »Vehikel aller Begriffe« und »die logische, transzendentale Einheit […] des Bewusstseins«, der »Grund des Denkens [und] die oberste Voraussetzung desselben«. Für Kant ist das reine Ich »eine einfache, für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung«. Es sei »ein bloßes Bewusstsein, das alle Begriffe begleitet«. Das Ich ist bei Kant Grundlage aller geistigen Tätigkeit. Es ist ein »weit erhabenes Vermögen« und »Grund der Möglichkeit eines Verstandes«. Die in dieser Fußnote angeführten Kant-Zitate sind zitiert nach: Rudolf Eisler: Kant Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen, und handschriftlichem Nachlaß. Hildesheim 1989, S. 245–250 (Eintrag Ich). Die Begriffe Inneres und Äußeres werden als Relationsbegriffe auch in philosophischen Schriften des ausgehenden 18. Jahrhunderts verwendet. Auch hier ist Kant wieder ein markantes Beispiel. Kant betrachtet Inneres und Äußeres als »Reflexionsbegriffe«. Die gedankliche Differenzierung von Inneres und Äußeres sei »ein Inbegriff von lauter Relationen«. Die in dieser Fußnote angeführten Kant-Zitate sind zitiert nach: Rudolf Eisler: Kant Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen, und handschriftlichem Nachlaß. Hildesheim 1989, S. 273 (Eintrag Inneres).

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Haltung gegenüber der ich-zentrierten Wirklichkeitsauffassung der Hauptfiguren auf. Ein einzigartiger Mensch zu sein, bedeutet in diesen Fassungen, sich als ein radikales Subjekt zu konstituieren. Dies heißt wiederum, sein eigenes Ich als absolut zu setzen. Ein Mensch mit einer radikal ich-zentrierten Auffassung von Subjektivität kommt in konsequent erkenntnistheoretischer Ausführung dieser Radikalität nicht umhin, ausschließlich sein eigenes Ich als existent anzuerkennen. Daraus folgt, dass jegliches Du negiert wird. Wird diese Vorstellung erkenntnistheoretisch ausgedeutet, dann ist das Ich in seinen verschiedensten Gestalten, Modifikationen und Setzungen das einzig zu Erkennende. Diese erkenntnistheoretischen Konsequenzen werden in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis gezogen, indem sie durch die Problematisierung der Positionen der Protagonisten diskutiert werden. Aus diesem Grund verändert sich in den Spätfassungen die Funktion des Empfindsam-Idyllischen. Die empfindsam-idyllischen Szenen bleiben als Darstellungsform von Innerlichkeit erhalten, doch ihr Kontext und ihre Einbettung in das gesamte Werk ändern sich. Das Empfindsam-Idyllische hat in den Spätfassungen die Funktion, innerliche Zustandsformen der Protagonisten darzustellen. Es veranschaulicht eine Ich-Zentrierung, die nun als eine subjektive Befangenheit dargestellt wird und eine Haltung der Protagonisten beschreibt, die überwunden werden muss. Mit empfindsam-idyllischen Szenen wird in den Spätfassungen eine spezifische innere Zustandsform der Protagonisten beschrieben, die ein Anfangsstadium eines zu durchlaufenden, persönlichen Entwicklungsgeschehens visualisiert. Das EmpfindsamIdyllische zeigt die Hauptfiguren Woldemar und Allwill in den Spätfassungen in ihrer Wirklichkeitsauffassung, die alles Äußere lediglich als Ich-Projektion erscheinen lässt. Im Blick in die Natur sehen sie nicht eine von ihnen getrennte Entität – ein Äußeres, das nicht Bestandteil oder Setzung des eigenen Ichs ist –, sondern sie beschauen sich in der Natur selbst. Sie fungiert ihnen als Projektionsfläche ihrer eigenen inneren Zustandsform, sodass das Naturerlebnis eine Selbsterfahrung darstellt, die eine Selbstvergewisserung über die eigene Gemütsverfassung ist. Der Blick in die Natur ist aus diesem Grund für die Hauptfiguren lediglich ein scheinbarer Blick in ein vom Ich getrenntes Äußeres. An dieser Stelle gelangt diese Untersuchung zu einer Spezifikation der Projektionsthese des Ichs bezüglich der Naturbetrachtung. Carmen Götz betrachtet die Natur als Ich-Double.20 Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Selbstbeschauung in der Natur nicht das Ich selbst dupliziert, sondern nur eine Zustandsform des Ichs veranschaulicht. Empfindsam-Idyllische Szenen stellen eine Bewusstmachung der eigenen Gemütsverfassung dar. Die Natur ist kein Ich-Double, sondern eine Projektionsfläche für eine Erlebnisreflexion der eigenen inneren Regungen. Die Natureindrücke sind Chiffren von emotional assoziierten Bewegungen, die bereits vor der Naturwahrnehmung im Ich befindlich sind. Bei dem EmpfindsamIdyllischen geht es gar nicht mehr um Natur als eine unhintergehbare Daseinsinstanz im Sinne eines Inbegriffs von Endlichkeit, sondern in der Natur wird das Konstruktionsvermögen des eigenen Bewusstseins bestaunt. Dieses Vermögen beschreibt die subjektive Ausgestaltung einer erscheinenden Wirklichkeit, die das Äußere durch das 20

Vgl. Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. Hamburg 2008, S. 365–367.

Fazit

Innere ersetzt. Die in empfindsam-idyllischen Szenen geschilderte Natur stellt eine Konstruktionsleistung des Bewusstseins dar. Empfindsam-idyllische Szenen sind in den Spätfassungen erzählerische Veranschaulichungsformen einer »an sich selbst festhängende[n] Subjektivität«, um eine Formulierung von Hegel aufzugreifen.21 Das Innere wird in das Äußere projiziert. Diese Verdrehung der Empfindungsrichtung ist eine große Gemeinsamkeit von empfindsamen Natur-und Freundschaftskult. Im Naturkult zeigt sich diese Empfindungsrichtung in der Natur als Projektionsfläche der eigenen inneren Zustandsform. Diese selbstbeschauende Transferfunktion der Naturschilderung wird dadurch unterstrichen, dass die Natur als außergesellschaftlicher Erlebnisraum thematisiert wird. Mit dem Aufsuchen von Naturräumen geht eine Gesellschaftsabgewandtheit einher, die für eine Introspektion eine geeignete Möglichkeit bietet. Das Aufsuchen der Natur beschränkt sich in den Erzählwerken Jacobis nicht auf die Funktion eines Rückzugs ins Innere. Vielmehr wird das bewusst erfahrene Innere als eine ›neue Wirklichkeit‹ gesetzt. Die Natur wird als spezifischer Raum dazu genutzt, eine andere Wirklichkeit zu entwerfen als die alltägliche Lebenswirklichkeit. Der Begriff der Lebenswirklichkeit bezieht sich hier auf die gesellschaftlich-öffentliche Sphäre einer Figur in einem empfindsamen Text. Diese Lebenswirklichkeit wird in empfindsamen Texten marginalisiert, aber wenn sie thematisiert wird, dann wird diese Lebenssphäre als stagnierend, verstellend, kommunikativ steif und desillusionierend beschrieben. Sie bietet keine Möglichkeit der Selbstverwirklichung. Die Orte, die mit dieser Lebenssphäre verbunden sind, sind Städte oder Höfe. Diese werden in den Erzählwerken verlassen und die Natur bietet eine Projektionsfläche für eine selbst geschaffene Realität. In der gesellschaftlich-öffentlichen Sphäre und Orten wie der Stadt und dem Hof fühlt das empfindsame Subjekt eine Differenz zwischen Ich und Welt, die zu einer Kluft wird. Die Natur bietet die Möglichkeit eine Realität zu konstruieren, in der das empfindsame Ich anstelle der Welt eine Ich-Projektion setzt. Der Begriff der Welt bezeichnet in diesem Kontext die Gesamtheit aller Erscheinungen und umfasst auch jene Erscheinungen, die unabdingbar vom Ich zu trennen sind. Damit geht die erkenntnistheoretische Position einher, dass es Erscheinungen und Dinge außerhalb des Ichs gibt. Daraus folgt, dass die Verabsolutierung des Ichs als Reflex verstanden werden kann, eine irreversible und unüberbrückbare Kluft zwischen Ich und Welt zu überwinden, indem die Welt durch Konstruktionen des Ichs ersetzt wird. Setzt man die Substitution einer äußeren Welt durch Ich-Konstruktionen als Tendenz der Empfindsamkeit, dann verdeutlicht sich, dass das Empfindsam-Idyllische eine Darstellungsform einer solchen Konstruktionsleistung eines Ichs ist. Aus diesem Grund ist bei einer empfindsam-idyllischen Szene das berichtende und erlebende Ich gleich. Das Erlebte wird im Schreiben noch einmal nacherlebt, sodass die Ersetzung einer äußeren Welt durch diese Ich-Konstruktion untermauert wird. Die Naturerfahrung ist eine sinnliche Sensation, doch steht die Natur als ein ästhetisches Wirkungspotential nicht

21

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Kritische Schriften (III): Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie. Neu herausgegeben von Hans Brockard und Hartmut Buchner. Hamburg 1986, S. 92.

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allein in ihrer sinnlichen Materialität im Vordergrund, sondern wird zur Projektionsfläche des Inneren des erlebenden und erzählenden Ichs. Die Natur ist ein Ort par excellence für das innere Erleben und das von Jürgen Viering betonte Fühlen, das die empfindsame Tendenz auszeichne, stellt sich oftmals in empfindsamen Texten in der Schilderung von Naturerfahrungen dar. In diesen Zusammenhang bettet sich auch das EmpfindsamIdyllische ein, denn die sinnlichen Reize der Natur sind Chiffre für ein Innerlichkeitserlebnis, das sich in der subjektbetonten Darstellungsweise der Natur zeigt. Bezogen auf narrative Texte ist das Empfindsam-Idyllische eine selbstbezügliche Darstellungsform von Innerlichkeit, wobei der Prozess des Erzählens als Selbstbeschauung der eigenen inneren Zustandsform dient. Das diskursive Phänomen des Inneren findet in der Schrift eine Form des Kommunizierens, die es ermöglicht den Körper zu negieren. Diese Abwendung vom Körperlichen und Hinwendung zum Geistigen zeigt sich auch in der Fokussetzung auf innere Regungen. Bei empfindsam-idyllischen Szenen steht ein selbstreflexives Fühlen im Vordergrund, da das zu Erlebende das eigene Ich ist. Doch wie schreibt man über das eigene Innere, ohne beständig direkt über sich selbst zu schreiben? Man projiziert das eigene Innere auf etwas Äußeres und genau das ist es, was mit der Natur in den Erzählwerken Jacobis passiert und zu empfindsam-idyllischen Szenen führt. Empfindsam-Idyllische Szenen stellen eine subjektive Selbstbezüglichkeit des erlebenden und schreibenden Ichs dar, das sich jedoch mit dem Deckmantel der Natur den Anschein gibt, als interessiere vor allem die Natur und nicht das eigene Ich. Das Empfindsam-Idyllische ist eine Darstellungsform von Innerlichkeit, das eine authentische Selbstaussprache eines Ichs gerade dadurch zu erreichen sucht, indem sich dieses Ich nicht direkt auf sich selbst bezieht, sondern die Projektionsfläche der Natur zwischenschaltet. Das Erlebnis der Natur ist eine essenzielle Chiffre für die Erfahrung des eigenen Inneren, weil sie es dem Ich ermöglicht, das eigene Innere als etwas Äußeres zu erleben. Die Natur bietet eine Visualisierungsmöglichkeit der inneren Regungen. Diese Regungen veräußerlichen sich in den geschilderten Eindrücken und verdeutlichen die Empfindungsrichtung vom Inneren ins Äußere. Die Eindrücke erscheinen in den empfindsam-idyllischen Szenen der Erzählwerke Jacobis nicht primär als sinnliche Reize, sondern als Bewegungen des Inneren, die die Wahrnehmung der Natur bestimmen. Das Äußere affiziert nicht das Innere, sondern umgekehrt. Die besondere Empfindungsrichtung nimmt eine entscheidende Funktion ein, denn eine Empfindung ist im Kontext des 18. Jahrhunderts als Vermittlung zwischen dem Inneren des Ichs und der äußeren Erscheinungswelt zu verstehen. Wenn das Innere als das eigentümlich Menschliche und als unabhängig von äußeren Einflüssen betrachtet wird, dann zeigt sich mit empfindsam-idyllischen Szenen, dass die äußere Erscheinungswelt in ihrer konkreten Ausdeutung abhängig vom Inneren des Subjekts ist. Diese veränderte Empfindungsrichtung erfüllt die Funktion, eine besondere Bewusstseinsintensität des Fühlens darzustellen.22 Es geht bei den empfindsam-idyllischen Szenen um ein eingehendes Erleben.

22

Kleinschmidt hebt hervor, dass »die Denkfigur der Intensität die perzeptive Erschließung bis dahin nicht oder nur diffus formulierter Phänomenbereiche« ermöglicht. Intensität biete als Begriff und als Denkfigur das Potenzial einer Dynamisierung und Graduation »innerhalb der ›Poiësis‹ von Welt

Fazit

Aus diesem Grund kulminiert das Erleben der empfindsam-idyllischen Szenen in der intensivsten und ursprünglichsten Erfahrung des Menschen: dem Gefühl da zu sein. Diese existenzielle Vergewisserung nimmt in der kontextuellen Einbettung der empfindsamidyllischen Szenen jeweils unterschiedliche Rollen ein, aber ihr Fundament ist gleich. In dem Erlebnis des eigenen Inneren erfährt das Subjekt, dass es ›da ist‹, dass es existiert. Im Vordergrund dieser Daseinserfahrung steht die Erfassung des eigentümlichen Daseins. Das bedeutet, dass sich ein als daseiend erfahrendes Ich als einzeln erlebt. Diese Vereinzelung heißt, sich als ein Mensch mit einer ganz eigenen Beschaffenheit und Konstellation des Inneren zu erleben. Die Daseinserfahrung wird zu einem Ereignis der Vereinzelung. Diese Vereinzelung wird innerhalb empfindsam-idyllischer Szenen durch die Ich-Identifikation im Anderen scheinbar aufgelöst. Tatsächlich wird jedoch jedes Du negiert. Die Frühfassungen der Erzählwerke Jacobis streichen dieses geschilderte Daseinserlebnis als besonders heraus und heben die Protagonisten Woldemar, Allwill und Sylli als exklusive Menschen hervor, weil sie in der Lage sind, ein solches Ereignis zu durchleben. Zwischen den Früh-und Spätfassungen Jacobis ist der entscheidende Unterschied, dass sich die Betrachtungsweise des menschlichen Inneren ändert und damit auch die anthropologische Vorstellung vom Menschen. Betrachtet man die empfindsam-idyllischen Szenen als ein gesteigertes, bewusstgemachtes, positiv bewertetes und genossenes Fühlen, so wird deutlich, dass diese Szenen in den Frühfassungen diese Tendenzen der Empfindsamkeit nach Viering abbilden. Empfindsam-idyllische Szenen stellen in den Frühfassungen Jacobis genau ein solches Fühlen dar. Es ist gesteigert und bewusstgemacht, da die Figuren im Schreiben als Nacherleben der ursprünglichen Naturbeschauung die Verfassung ihrer inneren Zustandsform verstärken. Die Figuren schreiben Briefe, in denen empfindsam-idyllische Szenen als Artikulationsmöglichkeit von Innerlichkeit eingebaut sind. Im Nachdenken über die Ereignisse werden diese im Inneren noch einmal erfahren und so gesteigert. Mit dem Schreiben geht zugleich das Vorhaben einher, eine besondere Begebenheit einem anderen Menschen mitzuteilen, und da die Naturerfahrung eine verdeckte Selbsterfahrung ist, wird das eigene Fühlen ins Zentrum gestellt. Empfindsam-idyllische Szenen stellen ein bewusstes Empfinden dar, das positiv bewertet wird, indem es von den Figuren als Exklusivität der eigenen Eigentümlichkeit wahrgenommen wird. Die schreibenden Figuren empfindsam-idyllischer Szenen inszenieren sich zugleich als Menschen mit einer besonderen Wahrnehmungsfähigkeit und Offenheit, die von vermeintlich äußeren Eindrücken in besonderer Weise affiziert werden. Diese Empfindungsfähigkeit wird positiv bewertet und als ein einzigartiges Vermögen betrachtet, das als Element einer radikalen Subjektkonstitution instrumentalisiert wird. Aus diesem Grund wird dieses Empfinden als ein spezifischer Genuss verstanden. Ein Genuss, der nur denjenigen Menschen zugänglich ist, die die scheinbare Fähigkeit haben, die Natur in all ihrer Schönheit sinnlich durch die Empfindung in sich aufzunehmen. In den Spätfassungen rückt genau dieses Fühlen als eine um sich selbst kreisende Selbstbezogenheit in die Kritik und erscheint nun als eine psychische Beschaffenheit und Sprache«. Vgl. Erich Kleinschmidt: Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert. Göttingen 2004, S. 11.

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der Figuren. Doch auch diese unterschiedlichen Begründungen finden einen gemeinsamen Nenner, denn die psychische Beschaffenheit wird mit den Prägungen ihrer Lebenserfahrungen begründet. Diese Erfahrungen sind individuell, daher ist auch die Ursache für die psychische Beschaffenheit einer subjektiven Befangenheit und isolativen Ich-Zentrierung unterschiedlich. Im Allwill ist sie mit der Figur Sylli in einer traurigen, desillusionierenden und vereinsamenden Lebensgeschichte begründet. Ihr introspektiver Rückzug ist eine Möglichkeit der Schmerzbewältigung von all dem, was sie irreversibel verloren hat. Sylli überwindet ihre subjektive Befangenheit jedoch, indem sie sich auf Clerdon und seine Familie einlässt und beschließt ihr Leben so zu gestalten, wie es sie glücklich macht, und trotz äußerer Verpflichtungen die Stadt E*** zu verlassen und zu ihren Lieben nach G** zu fahren. Die Figur Allwill wird als Antagonist zu Sylli vorgestellt. Seine subjektive Befangenheit ist genau umgekehrt als einen Mangel von Lebenserfahrungen zu verstehen sowie als eine Selbstüberschätzung der eigenen Fähigkeiten. Seine Befangenheit ist eine Faszination der eigenen Subjektivität und wird als psychisch gravierende Störung dargestellt, denn seine Entwicklung wird mit der Herausgeberfiktion in der Vorrede lediglich angedeutet, ist in den Briefen der Sammlung selbst aber nicht mehr enthalten. Die Thematisierung einer subjektiven Befangenheit findet sich auch im Woldemar, denn Woldemar weist ähnliche Charakterzüge auf wie Allwill. Während im Allwill der Fokus auf der sozialen Ebene liegt, pointiert das Erzählwerk Woldemar die Frage nach einer anthropologischen Vorstellung von einer Innerlichkeit des Menschen, die der Komplexität seiner Lebenswirklichkeit gerecht wird. Das Innere erscheint nicht mehr als ein reiner, göttlicher Funke, der ein eigentümlicher und moralischer Kern des Menschen ist. Das Innere ist kein starres Ich mehr, sondern es nimmt Bezug zu den Lebenserfahrungen. Es ist prägbar. Damit können aber Prägungen ins Innere treten, die dieses Innere nicht mehr als moralisch rein erscheinen lassen. Wenn Begierden, Leidenschaften und Sehnsüchte ins Innere Eingang finden, dann bürgt die Übertragung des Inneren ins Äußere nicht zwangsläufig für Moral. Das Innere des Menschen ist moralisch gesehen in den Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis entsakralisiert. Mit der Vorstellung, dass das Äußere nicht nur durch das Innere gegeben ist, sondern auch das Äußere einen Einfluss auf das Innere hat, nimmt Jacobi eine erkenntnistheoretische Position ein, die sich gegen Kant und Fichte richtet. Zugleich – und das ist im Bezug zu den Erzählwerken der entscheidende Punkt – entwirft er eine Auffassung des Menschen, dessen Inneres säkularisiert erscheint, denn es sind auch die Prägungen des Lebens, die die Figuren dazu bringen, ihre subjektive Befangenheit zu überwinden. Der Mensch wandelt sich im Laufe der Zeit in seiner äußeren Erscheinung, aber auch in seiner Beschaffenheit des Inneren, das daher in den Spätfassungen als Selbst bezeichnet wird und nicht mehr als Ich. Das Selbst des Menschen ist von der Zeit in seiner konkreten Beschaffenheit abhängig. Die Abhängigkeit von der Zeit in seiner Beschaffenheit ist in der Erkenntnistheorie Jacobis als Sukzession bekannt. Das Selbst des Menschen ist etwas Sukzessives und daher ist der Mensch anderen und sich selbst in seiner konkreten Wer-Identität ein Rätsel. In Jacobis Nachlass in der zweiten Kladde findet sich die folgende Notiz:

Fazit

Das Geheimniß der Zeit – Das Verhältnis des Endlichen zum Unendlich[en], ist das was wir alle so gern erforsch[en] möcht[en].23 Die Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis sind eine Empfindsamkeitskritik, weil darin das Menschen-und Weltbild der empfindsamen Tendenz überholt und eindimensional erscheint. Diese Erzählwerke sind der Versuch eine literarische Anthropologie zu entwerfen, die anhand der Figurenentwicklung dem Geheimnis der Zeit im Inneren des Menschen nachgeht. Es sind literarische Experimente nachzuzeichnen und ansatzweise zu erfassen, wie bestimmte Prägungen des Menschen im Inneren wirken, wobei die Unvorhersagbarkeit der Wandlungen des Selbst reflektiert wird. Es ist die Einzigartigkeit des Menschen, dass jeder auf bestimmte Erlebnisse anders reagiert und nicht zuletzt ist es so, dass jeder Mensch als Individuum eine ganz eigene Sammlung von Erlebnissen erfährt. Zu erfassen, wer man war, wer man ist und wer man möglicherweise sein wird, und was von dem eigenen Selbst überhaupt von der Zeit unabhängig ist oder ob überhaupt im Inneren des Menschen etwas von der Zeit unabhängig ist, sind die Fragen der Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis. Dass diese Fragen im Zusammenhang mit der Frage nach der Anerkennung eines Du einhergehen, ist kein Zufall, denn im Woldemar heißt es ja von Beginn an, dass der Mensch sich selbst nur im Anderen erkennt. Aber was erkennt er im Anderen, sein eigenes Selbst? Oder erfasst er die Resonanzen, die ihn mit dem anderen Du als anderem Selbst verbinden? Das Selbst und das Selbst des Du erfassen in der gegenseitigen Resonanz ihre Einzigartigkeit, indem sie etwas von der Zeit Unabhängige im Spiegel des Anderen in sich gewahr werden. Eine solche zwischenmenschliche Beziehung verdient die intensivste Wertschätzung, weil der Einzelne im Anderen über sich mehr erfährt als in sich selbst gekehrt. Doch eine solche Beziehung lässt sich nicht erzwingen und notorisch herbeisehnen. Sie ist nur möglich, wenn man bereit ist, sich auf einen anderen einzulassen und dabei kommt der letzte Punkt der Spätfassungen der Erzählwerke Jacobis zutage, der hier resümiert wird: die Ungewissheit des Zukünftigen. Es gibt keine Garantie, dass sich Gleichstimmigkeiten mit einem anderen Menschen im Inneren finden. Es kann sich zeigen, und dies ist in beiden Erzählwerken der Fall, dass sich in einer Beziehung zwei Menschen als ungleich im Inneren herausstellen. Innerliche Verbundenheit mit einem anderen Menschen erscheint als Kontingenzphänomen. Kontingenz verstanden als Ungewissheit und Offenheit des Zukünftigen findet sich auch in der Sukzession des Selbst. Zwischenmenschlichkeit und Selbstsein sind nun keine konträren Pole mehr, sondern sind beides Kontingenzphänomene. Es ist die Offenheit des menschlichen Lebens, die die Figuren bewerkstelligen müssen. Dabei erahnen sie immer mehr, dass es ihre Freiheit ist, an der sie leiden, die aber auch zugleich ihre Beschaffenheit als Mensch bestimmt.

23

Friedrich Heinrich Jacobi: Nachlass. Reihe I. Band 1: Die Denkbücher Friedrich Heinrich Jacobis. Hg. von Sophia Victoria Krebs. Stuttgart 2020, S. 75.

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Literaturverzeichnis

Aufgrund der methodischen Vorgehensweise dieser Studie wird nicht zwischen literarischen Texten (Primärquellen) und Forschungsliteratur (Sekundärquellen) differenziert. Dieses Literaturverzeichnis ist alphabetisch geordnet. Wenn von einer Person mehrere Veröffentlichungen aufgelistet werden, geschieht dies nach alphabetischer Reihenfolge der Publikationstitel. Namenszusätze wie von und van sind in Klammern gesetzt. Falls notwendig sind Herausgeberschaften oder Autorzuordnungen in eckige Klammern gesetzt. Die Sammelbände werden nur dann auch als Sammelband aufgeführt, wenn darauf im Fließtext der Dissertation explizit verwiesen wurde, ohne einen konkreten Beitrag anzuführen. Adam, Wolfgang: Gessner-Lektüren. In: Maurizio Pirro (Hg.): Salomon Gessner als europäisches Phänomen. Spielarten des Idyllischen. Heidelberg 2012, S. 9–38. Adorno, Theodor Wiesengrund: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M. 1951. Allan, Kathryn: Enough. A Lexikal-Semantik Approach. In: In: Matthew Ingleby/Samuel Randalls (Hg.): Just enough. The History, Culture and Politics of Sufficiency. London 2019, S. 3–12. Alexander, Samuel: What Would a Sufficiency Economy Look Like? In: Matthew Ingleby/ Samuel Randalls (Hg.): Just enough. The History, Culture and Politics of Sufficiency. London 2019, S. 117–134. Althof, Daniel: System und Systemkritik. Hegels Metaphysik absoluter Negativität und Jacobis Sprung. Berlin 2017. Arndt, Andreas: Mystizismus, Spinozismus und Grenzen der Philosophie. Jacobi im Spannungsfeld von F. Schlegel und Schleiermacher. In: Walter Jaeschke/Birgit Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004, S. 126–141. Arnold, Antje: Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2012. Bartuschat, Wolfgang: Einleitung. In: Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Neu übersetzt, herausgegeben, mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. Lateinisch – Deutsch. Hamburg 1999, S. VII-XXIV.

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