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German Pages [456] Year 2013
LIBRI VITAE Gebetsgedenken in der Gesellschaft des Frühen Mittelalters
Herausgegeben von Dieter Geuenich und Uwe Ludwig
2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, und der Universität Duisburg-Essen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Pagina 6 aus dem älteren St Galler Liber vitae (© Stiftsarchiv St. Gallen)
© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20943-8
Inhalt Vorwort ........................................................................................................ Einleitung . . ...................................................................................................
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I. M EMORIA, MEMORIALQUELLEN UND IHRE ERFORSCHUNG
Memorialquellen in den Monumenta Germaniae Historica von Rudolf Schieffer . . ..................................................................................... 17 Formen und Inhalte mittelalterlicher memoria von Joachim Wollasch .................................................................................... 33 II. D IE ORDNUNG DES GEDENKENS IN FRÜHMITTELALTERLICHEN LIBRI VITAE
Nomina scripta sunt in coelo von Meta Niederkorn-Bruck . . ........................................................................ 59 Der Liber Memorialis von Remiremont von Franz-Josef Jakobi ................................................................................... 87 Das Reichenauer Verbrüderungsbuch von Dieter Geuenich . . .................................................................................... 123 Die beiden St. Galler Libri vitae aus dem 9. Jahrhundert von Uwe Ludwig ........................................................................................... 147 Otmars Gefährten. Studien zum St. Galler Gelübdebuch und zu den ältesten St. Galler Mönchslisten von Alfons Zettler .......................................................................................... 175 Überlegungen zur Sakramentarhandschrift D 1 als Liber vitae der Essener Frauenkommunität von Thomas Schilp . . ....................................................................................... 203
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Inhalt
III. P ERSONEN UND PERSONENGRUPPEN IN DER FRÜHMITTELALTERLICHEN GEDENKÜBERLIEFERUNG
Mönchs- und Nonnenkonvente aus dem Regnum Italiae in den Libri vitae von Nicolangelo D’Acunto ............................................................................. 223 Großgruppeneinträge in den Libri memoriales. Anmerkungen zu Bischöfen der späten Karolingerzeit im Kontext großer Gruppen von Jens Lieven .............................................................................................. 239 FARBTAFELN ............................................................................................ 273
Herrschergedenken als Spiegel von Konsens und Kooperation. Zur politischen Einordnung von Herrschereinträgen in den frühmittelalterlichen Libri memoriales von Eva-Maria Butz ..................................................................................... 305 Könige und Herzöge im Salzburger Verbrüderungsbuch um 800 von Maximilian Diesenberger ....................................................................... 329 Die Libri vitae von Salzburg und Cividale und das Bayerische Ostland (799 – 907) von Herwig Wolfram ..................................................................................... 343 Angelsächsische Könige in der kontinentalen Memorialüberlieferung von Andreas Bihrer ........................................................................................ 379 IV. S PRACHWISSENSCHAFTLICHE FORSCHUNGEN ZU FRÜHMITTELALTERLICHEN LIBRI VITAE
Romanische und bairische Personennamen im Salzburger Verbrüderungsbuch von Wolfgang Haubrichs ................................................................................ 405 The Old English and Scandinavian Personal Names of the Durham Liber Vitae to 1200 by John Insley .. ............................................................................................... 441 REGISTER ................................................................................................... 453
Vorwort Die im vorliegenden Band veröffentlichten Beiträge gehen auf die Vorträge einer Internationalen Tagung zurück, die unter dem Titel „Gesellschaft im Gebetsgedenken. Ergebnisse und Perspektiven der Erforschung frühmittelalterlicher Libri vitae“ vom 8. bis 10. Dezember 2011 in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim an der Ruhr stattfand. Eingeladen hatte zu dieser Tagung das Historische Institut der Universität Duisburg-Essen. In der angenehmen und dem intensiven wissenschaftlichen Austausch besonders zuträglichen Atmosphäre der „Wolfsburg“ kamen Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien zusammen, um ihre Forschungen auf dem Gebiet der frühmittel alterlichen Memoria und Gedenküberlieferung vorzustellen und zu diskutieren. Ergänzt wurde das Programm durch zwei Abendvorträge grundsätzlichen Charakters: Rudolf Schieffer sprach über „Memorialquellen in den Monumenta Germaniae Historica“, Joachim Wollasch über „Formen und Inhalte mittelalterlicher Memoria“. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG ), die Gerda Henkel Stiftung und die Duisburger Universitätsgesellschaft (DUG) haben die Ausrichtung der Tagung durch die Gewährung von namhaften Zuschüssen erst möglich gemacht. Die Veranstalter sind ihnen für die generöse finanzielle Förderung sehr zu Dank verpflichtet. Die Herausgeber danken allen Autoren, die ihre Vorträge für die Publikation bearbeitet und zur Verfügung gestellt haben. Zwei Kolloquiumsvorträge konnten aus unterschiedlichen Gründen nicht in dem vorliegenden Tagungsband zum Druck gebracht werden. Dafür wurde ein Beitrag von John Insley über die altenglischen und altskandinavischen Namen im Liber vitae von Durham zusätzlich aufgenommen. Der Gerda Henkel Stiftung möchten die Herausgeber ihren Dank dafür aussprechen, dass sie die Veröffentlichung dieses Buches durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss unterstützt hat. Essen, im Oktober 2014
Die Herausgeber
Einleitung Die frühmittelalterlichen Libri vitae (Libri memoriales, Gedenkbücher, Verbrüderungsbücher) galten als Abbilder des in der Offenbarung des Johannes genannten Liber vitae, in den die eingeschrieben sind, die sich bei Gott befinden (Offb. 3,5; 13,8; 21,27). Mit der Einschreibung des Namens in den Liber vitae einer religiösen Gemeinschaft verband sich für den Gläubigen die Hoffnung, durch Gebet und Fürbitte Aufnahme in jenes Buch des Lebens zu finden, das der Herr am Jüngsten Tag öffnen würde. Wer darin nicht verzeichnet war, so heißt es in der Offenbarung, verfiel der Verdammnis: „Und ich sah einen großen, weißen Thron und den, der darauf saß … und ich sah die Toten, beide, groß und klein, stehen vor dem Thron, und Bücher wurden aufgetan. Und ein anderes Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was geschrieben steht in den Büchern, nach ihren Werken. … Und so jemand nicht gefunden ward geschrieben in dem Buch des Lebens (Et qui non inventus est in Libro vitae), der ward geworfen in den feurigen Pfuhl.“ (Offb. 20,11 – 15) Als Gebrauchshandschriften, die während des eucharistischen Mahls auf dem Altar ihren Platz hatten, sind die Libri vitae zugleich auch Abbilder der Gesellschaft, in der sie in Nutzung waren, und dies in einem zweifachen Sinn: Sie zeigen Personen in ihren sozialen Bindungen, als Angehörige von natürlichen Gemeinschaften wie Familien und Sippen oder als Mitglieder von künstlichen, „gemachten“ Gemeinschaften wie Mönchs- und Nonnenkonventen, Kanonikergemeinschaften und Domkapiteln, Priestergenossenschaften und Einungen aller Art. Daneben aber reflektieren die den Libri vitae zugrunde liegenden Strukturprinzipien, das heißt die Art und Weise, in der Personen und Personengruppen bei der schriftlichen Fixierung ihrer Namen erfasst und gegliedert wurden, gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und Deutungsmuster der gedenkbuchführenden Kommunitäten. Libri vitae leiten sich entwicklungsgeschichtlich von den altchristlichen Diptychen her: In ihnen waren die Namen der Lebenden und Verstorbenen – geist licher und weltlicher Dignitäre ebenso wie der Offerenten, die ihre Gaben bei der Mahlfeier darbrachten, – vermerkt, um sie im Rahmen der Messe beim doppelten Memento aufrufen zu können. Die Namen wurden entweder auf Pergamentblättern eingetragen und in die Diptychen eingelegt oder direkt auf die Innenseiten der Diptychen geschrieben. Die ältesten Libri vitae dürften sich in ihrer Gestalt noch sehr eng an die Diptychen angelehnt haben. Im Hinblick auf das früheste erhalten gebliebene
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kontinentale Verbrüderungsbuch, den Liber vitae von St. Peter in Salzburg, hat Adalbert Ebner daher von einem „erweiterten Diptychon“ gesprochen. Die Anlage des Gedenkbuches unterscheidet klar zwischen Lebenden und Verstorbenen und gliedert die in das Gebet aufgenommenen Personen streng nach Ordines: Bischöfe und Äbte von Salzburg, Mönche, Könige mit Angehörigen, Herzöge mit Angehörigen, Kleriker, Nonnen, Laien (Wohltäter). Auch in der Anlage des Reichenauer Verbrüderungsbuches von 824/25 ist das Vorbild der DiptychenMemoria im Bereich des Wohltätergedenkens mit seiner Trennung von Lebenden und Verstorbenen sowie der Einteilung in Ordines noch deutlich erkennbar. In den frühmittelalterlichen Libri vitae sind die Namen von Lebenden und von Verstorbenen zu Tausenden und Abertausenden festgehalten. Das Reichenauer Verbrüderungsbuch, von dem lediglich einige wenige Seiten verlorengegangen sind, verzeichnet mehr als 38.000 Namen, während in den beiden St. Galler Gedenkbüchern, die heute nur noch ungefähr die Hälfte ihres ursprünglichen Bestandes umfassen, über 14.000 Namen eingetragen sind. Bereits hieraus ergibt sich, dass die Libri vitae nicht für den Aufruf einzelner Namen in der Liturgie geeignet waren, sondern nur eine pauschale Kommemoration aller in dem Buche erwähnten Personen ermöglichten. Dafür spricht zudem die Beobachtung, dass in manchen Gedenkbüchern Namen in das Pergament eingeritzt worden sind. Da das Auge diese Einritzungen aber kaum wahrnehmen kann, waren sie für die Verlesung der Namen im Gottesdienst ungeeignet: Es kam also offenbar auf die Präsenz des Namens auf dem Altar an, denn diese gestattete es, seinen Träger in das summarische Gedenken einzubeziehen. So wird in einer im Salzburger Verbrüderungsbuch, im Liber memorialis von Remiremont und im Gedenkbuch von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia überlieferten Oration, deren zentrale Bedeutung für die Gebetsverbrüderung der Karolingerzeit Arnold Angenendt hervorgehoben hat, die Bitte an den Herrn gerichtet, all jene, quorum… nomina scribta sunt in libro vitae et supra sanctum altare sunt posita, … in libro viventium, also in das himmlische Buch der Lebenden, aufzunehmen. Ein individuelles Gebetsgedächtnis ermöglichen die Nekrologien, die Totenbücher, welche die Namen der Verstorbenen zu ihren jeweiligen Todestagen vermerken. Sie haben ihren Ursprung in nekrologischen Eintragungen, die in Martyrologien vorgenommen wurden. Die Nekrologien haben, weil sie ein persönliches und qualifiziertes Gebetsgedenken gestatteten, im Laufe der Jahrhunderte den Libri vitae als Überlieferungsträger der liturgischen Memoria den Rang abgelaufen. Zwar gibt es vereinzelt auch noch im hohen Mittelalter Neuanlagen von Libri vitae, im westfälischen Corvey etwa und vor allem in Italien: Aber es ist die nekrologische Form der Memorialaufzeichnung, die seit dem 10. Jahrhundert dominant hervortritt.
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Freilich ist auch die Anzahl der aus der Karolingerzeit stammenden Verbrüderungsbücher überschaubar. Sieht man einmal von dem insularen Liber vitae von Lindisfarne-Durham ab, so haben sich auf dem Kontinent gerade einmal sieben Libri vitae erhalten, nämlich je einer aus St. Peter in Salzburg, aus dem Frauenkloster Remiremont in Lothringen, aus der Abtei Reichenau, aus dem Kloster Pfäfers in Churrätien, aus dem Nonnenkonvent San Salvatore / Santa Giulia in Brescia sowie zwei aus dem Kloster Sankt Gallen. Wenn die Zahl der auf uns gekommenen Libri vitae so gering ist, liegt es nahe, von erheblichen Verlusten auszugehen. In vielen Fällen sind Libri vitae ganz offensichtlich nicht länger aufbewahrt worden, wenn sie die ihnen zugedachte Funktion eingebüßt hatten. So besaß etwa das Kloster Weißenburg im Speyergau nach Auskunft seiner eigenen Traditionsurkunden einen Liber vitae. Allerdings muss dahingestellt bleiben, ob es sich dabei um ein gebundenes Buch oder um ungebundene Pergamentlagen bzw. Pergamenthefte gehandelt hat. Es ist sehr wahrscheinlich, dass lose Pergamentblätter mit Namenaufzeichnungen zum Zwecke der Memoria in andere liturgische Bücher eingelegt wurden, die im Gottesdienst Verwendung fanden, in Sakramentare beispielsweise. Durch die Einschreibung von Namen in ein Sakramentar oder in ein Evangeliar konnte dieses die Funktion eines Liber vitae erhalten: In diesem Sinne wurden das Werden-Essener Sakramentar (das sich heute als Handschrift D 1 in der Landesbibliothek Düsseldorf befindet) und das jetzt in Cividale in Friaul aufbewahrte Evangeliar aus Aquileja, in die – vor allem in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts und im frühen 10. Jahrhundert – jeweils mehrere Hundert Personen eingetragen wurden, als Libri vitae benutzt. Adalbert Ebner hat für diese Art des Gedenkbuches den Terminus „unregelmäßiger Liber vitae“ eingeführt, da er nicht von Anfang an als solcher konzipiert, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Funktion Verwendung fand. Auf der anderen Seite begegnen Libri vitae, die auch biblische und liturgische Texte enthalten. So sind die rund 4600 Namen, die zum Zwecke der Memoria in den Liber Viventium Fabariensis eingetragen wurden, von Auszügen aus den vier Evangelien umgeben. Das Gedenkbuch der königlichen Frauenabtei San Salvatore / Santa Giulia in Brescia wird von einem Teilsakramentar begleitet, welches deutlich auf die liturgische Funktion der Nameneintragungen verweist. Keines der überlieferten Verbrüderungsbücher gleicht also dem anderen: Ein jedes weist schon aufgrund seiner spezifischen Anlagekonzeption Besonderheiten auf, die es von den anderen unterscheiden. Als Quelle personen- und sozialgeschichtlicher Forschungen sind die frühmittelalterlichen Libri vitae seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in Freiburg im Breisgau von Gerd Tellenbach und seinen Schülern, der sog.
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Freiburger Schule, in den Blick genommen worden. Die wesentlichen theoretischen Grundlagen und das methodische Instrumentarium für die Erschließung der Libri vitae sind Karl Schmid zu verdanken, der auch maßgeblichen Anteil an der Entwicklung eines modernen Editionsstandards hatte, der die Gedenkbücher der Forschung erst zugänglich machte. Gemeinsam mit Joachim Wollasch, der sich der Untersuchung und Auswertung der Nekrologien als Basis einer Sozialgeschichte des mittelalterlichen Mönchtums widmete, hat Schmid 1975 die programmatische Schrift „Societas et fraternitas“ veröffentlicht, die ein umfassendes Editions- und Forschungsvorhaben auf dem Gebiet der frühmittelalterlichen Memorialquellen skizzierte. Ausgangspunkt dieses auf die Erarbeitung eines „kommentierten Quellenwerks“ abzielenden Projekts war die Feststellung, dass die Gedenküberlieferung Grundlage einer Darstellung der sozialen Gruppen in der mittelalterlichen Gesellschaft sein könne. Standen anfangs adelsgeschichtliche Fragestellungen und damit die Auswertung von Familien- und Sippeneinträgen im Mittelpunkt des Interesses, so gesellten sich bald Untersuchungen zu den in den Verbrüderungsbüchern durch Namenlisten vertretenen religiösen Kommunitäten, zu Mönchskonventen und Kanonikergemeinschaften, hinzu. Damit wurden bis dahin weitgehend unbeachtet gebliebene Zeugnisse, die Adel und Mönchtum / Klerus als tragende Säulen der mittelalterlichen Gesellschaft in ihren konkreten Erscheinungsformen als soziale Gruppen mit wechselseitigen personellen Verflechtungen und Verschränkungen zeigten, zum Gegenstand intensiver Forschung. In jüngerer Zeit gerieten auch jene großen, häufig mehrere Dutzend Namen umfassenden Einträge in den Blick, in denen neben Laien mitunter auch Kleriker und Mönche genannt werden und die Personen aus verschiedenen Familien- und Verwandtschaftsverbänden und häufig auch aus unterschiedlichen Regionen zusammenführen. Diese „großen Personengruppen“, die in den Libri vitae seit den letzten Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts verstärkt in Erscheinung treten, hat Gerd Althoff unter dem Stichwort „Amicitiae“ als Zeugnisse einer das gesamte Ostfränkische Reich unter König Heinrich I. erfassenden Einungsbewegung im Zeichen der Ungarnabwehr interpretiert. Die sogenannte Memorialforschung hat, indem sie die „Memorialüberlieferung“, vornehmlich Libri vitae und Nekrologien, durch Editionen und Untersuchungen erschlossen hat, in den zurückliegenden Jahrzehnten einen entscheidenden Beitrag zum vertieften Verständnis der mittelalterlichen Gesellschaft und der sie konstituierenden sozialen Gruppen geleistet. In dem Maße, in dem Memoria als „totales“ soziales Phänomen begriffen wurde, das sich auf alle Bereiche mensch lichen Lebens erstreckt und alle Felder der Kultur durchdringt, weitete sich der um Gedächtnis und Erinnerung zentrierte Problem- und Forschungshorizont
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zu einem, wie es Jan Assmann ausgedrückt hat, neuen Paradigma der Kulturwissenschaften aus. Die Vielfalt der Forschungen und Veröffentlichungen zum Themenkomplex „Memoria“ in den verschiedensten Disziplinen und unter Heranziehung der unterschiedlichsten Quellenbestände, die weit über die Memorialüberlieferung im engeren Sinne hinausgreifen, ist heute kaum noch zu überblicken. Nicht allein, aber auch in Anbetracht eines Positivismus-Vorwurfs, welcher der traditionellen, angeblich nur auf die Betrachtung des Einzelnen, nicht jedoch auf die Erkenntnis der größeren Zusammenhänge ausgerichteten Memorialforschung die problemorientierte Memoriaforschung entgegensetzt, und angesichts einer mitunter überspitzten Kritik an der Methode der Interpretation von Memorialquellen sollen die in diesem Band versammelten Beiträge über den gegenwärtigen Stand der Erforschung der Libri vitae Auskunft geben, stand diese doch anerkanntermaßen am Beginn der Beschäftigung mit dem vielschichtigen Phänomen „Memoria“ im deutschsprachigen Raum. Die Beiträge gehen auf Vorträge zurück, die auf der Internationalen Tagung „Gesellschaft im Gebetsgedenken. Ergebnisse und Perspektiven der Erforschung frühmittelalterlicher Libri vitae“ vom 8. bis 10. Dezember 2011 vom Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen an der Katholischen Akademie “Die Wolfsburg“ in Mülheim / Ruhr veranstaltet wurde. In vier Sektionen (Die Ordnung des Gedenkens: Libri vitae und ihre Gliederungskonzepte; Religiöse Gemeinschaften: Mönche und Nonnen; Herrschermemoria: Könige und Fürsten; Amici und benefactores) und zwei Abendvorträgen beschäftigten sich Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien unter personen- und sozialgeschichtlichen, politikund diplomatiegeschichtlichen, kirchen- und mentalitätsgeschichtlichen sowie sprachwissenschaftlich-namenkundlichen Fragestellungen mit dem reichhaltigen Quellenmaterial, welches die frühmittelalterlichen Libri vitae bereithalten. Der vorliegende Band gibt damit, indem er neue Frageansätze und Zugänge zur Memorialüberlieferung (im traditionellen Sinne des Wortes) eröffnet und eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte anspricht, auch einen breitgefächerten Überblick über alle erhalten gebliebenen Libri vitae der Karolingerzeit. Der Beitrag von John Insley über die altenglischen und altskandinavischen Personennamen im Liber vitae von Durham wurde zusätzlich in den Band aufgenommen. Die Herausgeber hoffen, der Erforschung der Libri vitae des Mittelalters als einer in ihrer vielfältigen Aussagekraft längst noch nicht ausgeschöpften Quellengruppe mit der Publikation dieses Bandes neue Impulse geben zu können. Dieter Geuenich / Uwe Ludwig
Memorialquellen in den Monumenta Germaniae Historica* von Rudolf Schieffer Als 1819 auf Initiative des Freiherrn vom Stein die „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“ mit dem Ziel gegründet wurde, die Schriftquellen des deutschen Mittelalters zu sammeln und in kritischer Bearbeitung herauszugeben,1 richtete sich das Interesse der Beteiligten vornehmlich auf die Geschichtsschreiber, die vom politisch-militärischen Handeln der Könige und Kaiser kündeten, auf deren Urkunden, die die Praxis ihrer Herrschaft bezeugten, auf politisch relevante Briefe wie auch auf Volksrechte und Gesetze, die allesamt dazu angetan waren, die gemeinsame nationale Vergangenheit der Deutschen (bis weit zurück in die fränkisch-germanische Frühzeit) in hellem Licht erstrahlen zu lassen. Was wir heute als Memorialquellen bezeichnen (ein damals noch nicht erfundener Begriff), erschien dagegen weniger geeignet, beim gebildeten Publikum „den Geschmack an deutscher Geschichte zu beleben“, um eine Formulierung Steins aus dem Jahre 1818 zu gebrauchen.2 Immerhin zeigt sich eine erste Ahnung von solchem Material in dem vom jungen Georg Heinrich Pertz entworfenen sog. Cappenberger Plan, den sich die Zentraldirektion der Gesellschaft 1824 als Leitlinie der künftigen Arbeit zueigen machte. Darin war neben den Scriptores, den Leges, den Diplomata und den Epistolae eine fünfte Abteilung für alles Übrige mit dem Verlegenheitstitel Antiquitates vorgesehen. Ausdrücklich darunter subsumiert
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* Abendvortrag am 8. Dezember 2011. Die Redeform ist beibehalten. Vgl. Harry Bresslau, Geschichte der Monumenta Germaniae historica, Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 42 (1921) S. 34 – 142; zuletzt Gerhard Schmitz, Zur Entstehungsgeschichte der Monumenta Germaniae Historica, in: Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, hg. von Heinrich Beck u. a. (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 34, 2004) S. 503 – 522; Rudolf Schieffer, Stein und die Anfänge der Monumenta, in: Stein. Die späten Jahre des preußischen Reformers 1815 – 1831, hg. von Heinz Duchhardt (2007) S. 1 – 14. 2 Stein an Franz Egon von Fürstenberg, Bischof von Hildesheim und Paderborn, am 19.8.1818, in: Freiherr vom Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd. 5, bearb. von M anfred Botzenhart (1964) S. 810 f. Nr. 715.
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Rudolf Schieffer
wurden „Inschriften, Todtenbücher, Bemerkungen“ (in Kalendarien und Martyrologien), „Güter-Einkünfte- und andere Verzeichnisse, Gedichte, einzelne Sprachdenkmäler“.3 Inwieweit die Aufzählung auf konkreten Vorstellungen oder gar Absichten zur Bearbeitung fußte, ist durchaus zweifelhaft; jedenfalls hatte die Gesellschaft in den folgenden Jahrzehnten vollauf damit zu tun, in großen Folianten, die seit 1826 unter dem Reihentitel Monumenta Germaniae Historica erschienen sind, mit Scriptores, Leges und einem ersten Band Diplomata die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt zu finden. Erst bei der Reorganisation des Unternehmens nach dem Ende der Ära Pertz, die mit dem Übergang vom Folio- zum Quartformat verbunden war, nahm sich die neue Zentraldirektion 1875 das alte Konzept der fünf Abteilungen wieder vor und bestimmte Ernst Dümmler, damals Professor in Halle, zum verantwortlichen Leiter der Antiquitates, deren Arbeitsfeld gleich im Folgejahr auf „Nekrologien und Verbrüderungsbücher, Bibliothekskataloge, lateinische Gedichte des Mittelalters“ reduziert wurde.4 Dümmler behielt sich selbst die Poetae der Karolingerzeit vor, deren erste beiden Bände er 1881 und 1884 vorlegte, ließ die Bibliothekskataloge links liegen und machte sich auf die Suche nach einem bereitwilligen Bearbeiter der Necrologien. Nach verschiedenen Absagen wurde er mit dem 33jährigen Franz Ludwig Baumann einig, der als Bibliothekar und Archivar des Fürsten zu Fürstenberg in Donaueschingen lebte.5 Baumann fertigte zur Probe eine Edition des Necrologs von Zwiefalten an und erhielt daraufhin 1880 den Auftrag zur Bearbeitung der Totenbücher aus den Bistümern Augsburg, Konstanz, Chur und Straßburg, wovon er Straßburg bald schon beiseite ließ. Vereinbart wurde eine nach Diözesen gegliederte, gewissermaßen flächendeckende Publikation aller Necrologien samt Verbrüderungsbüchern aus der Zeit vor 1300, bei jüngeren
3 Plan des Unternehmens der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 5 (1824) S. 788 – 806, Zitat S. 791; vgl. Bresslau, Geschichte (wie Anm. 1) S. 137 – 140; Gerhard Schmitz, Stein und die Monumenta Germaniae Historica in den 1820er Jahren, in: Stein (wie Anm. 1) S. 15 – 37. 4 Vgl. Bresslau, Geschichte (wie Anm. 1) S. 604 f.; zu Dümmler, der von 1888 bis 1902 die Monumenta leitete, zuletzt Andreas Ranft, Mediävistik in Halle um 1900: Die Historiker Ernst Dümmler und Theodor Lindner, in: Halle und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, hg. von Werner Freitag (Studien zur Landesgeschichte 5, 2004) S. 158 – 171. 5 Vgl. Michael Tangl, Nachruf Franz Ludwig von Baumann, Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 41 (1919) S. 320 f.; Bernhard Zittel, Franz Ludwig von Baumann, in: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben, hg. von Götz Frhr. von Pölnitz, Bd. 6 (1958) S. 468 – 494.
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Denkmälern nur in summarischer Form.6 Bevor Baumann mit seinem Vorhaben ans Ziel gelangte, erwuchs ihm unerwartete Konkurrenz in Gestalt des Altonaer Oberlehrers Paul Piper,7 der ohne Absprache mit den in Berlin ansässigen Monumenta eine Ausgabe der Verbrüderungsbücher von St. Gallen, Reichenau und Pfäfers mit reichem Kommentar erarbeitet hatte und das fertige Manuskript 1880 der Preußischen Akademie der Wissenschaften einreichte. Mit der Begutachtung wurde Georg Waitz betraut, der damalige Leiter der Monumenta, dessen Urteil so günstig ausfiel, dass er zum Unwillen von Dümmler und Baumann auf der Sitzung der Zentraldirektion von 1881 die Drucklegung im Rahmen der MGH, wenn auch mit stark zusammengestrichenem Kommentar, durchsetzte.8 So kam es, dass dort als erste Publikation von Memorialquellen der (nach damaligen Maßstäben) aufwendig gestaltete, weil das Erscheinungsbild der Codices im Druck nachahmende Band von Piper erschien, der seines Inhalts wegen nicht in die angekündigte Reihe der Necrologia Germaniae passte und daher seit 1884 als Einzelband innerhalb der Antiquitates geführt wird.9 1886 und 1888 folgte dann in zwei Teilen Baumanns erster Band in der genannten Reihe, der auf die berühmten Verbrüderungsbücher des Bodenseeraumes verzichten musste, dafür aber auf 678 Textseiten in schematisiertem Druckbild 85 Toten- und Jahrzeit bücher aus drei alemannischen Bistümern, eben Augsburg, Konstanz und Chur, mit einem ausgiebigen Index nominum von 114 Seiten präsentierte.10 Währenddessen war bereits die Arbeit am zweiten Necrologia-Band im Gang, worin Sigmund Herzberg-Fränkel,11 ein Schüler Theodor Sickels in Wien, die Necrologien und Anniversarien des Erzbistums Salzburg (diesmal mit Einschluss des Verbrüderungsbuchs von St. Peter) sowie der Bistümer Gurk, Seckau, Chiemsee und Lavant zum Druck bringen sollte. Der erste Halbband konnte 1889 erscheinen,
6 Vgl. Bresslau, Geschichte (wie Anm. 1) S. 608. 7 Paul (Hermann Eduard) Piper (1844 – 1924) hat sich vornehmlich durch Forschungen zu Otfrid von Weißenburg einen Namen gemacht. Eine gedruckte Gesamtwürdigung war nicht zu ermitteln; vgl. jedoch Bresslau, Geschichte (wie Anm. 1) S. 609 Anm. 2. 8 Vgl. Bresslau, Geschichte (wie Anm. 1) S. 609. 9 Libri confraternitatum Sancti Galli Augiensis Fabariensis, ed. Paulus Piper (Monumenta Germaniae Historica, Libri confraternitatum, 1884). 10 Necrologia Germaniae, Tomus 1: Dioeceses Augustensis, Constantiensis, Curiensis, ed. Franciscus Ludovicus Baumann (Monumenta Germaniae Historica, Necrologia Germaniae 1, 1888). 11 Vgl. Michael Tangl, Nachruf Siegmund Herzberg-Fränkel, Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 39 (1914) S. 535 f., Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 – 1950, 2 (1959) S. 296.
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und auch der zweite lag bereits 1891 ausgedruckt vor, doch wirkte sich nun erstmals das retardierende Moment aus, das in der Anfertigung anspruchsvoller Indices liegt. Sie waren bei Herzberg-Fränkels Editionsweise besonders vonnöten, weil er die Namenslisten fast ohne jeden Kommentar geboten hatte. Erst 13 Jahre später, als der Bearbeiter längst Professor im galizischen Czernowitz geworden war, kam der komplette Band auf den Markt; er umfasste nicht bloß 336 Seiten Register zu 468 Seiten Edition, sondern als zukunftweisende Neuerung auch zwei beigegebene Tafeln mit Faksimiles aus dem Seckauer Necrolog sowie dem Salzburger Verbrüderungsbuch.12 Der dritte Band, noch einmal bearbeitet von Franz Ludwig Baumann, der inzwischen Reichsarchivar in München war, schloss sich 1905 an und umfasste die Totenbücher der Diözesen Brixen, Freising und Regensburg, ausgestattet mit zwei Tafeln und einem wieder deutlich bescheideneren Register.13 Die Bestände aus dem tief nach Österreich hineinragenden mittelalterlichen Bistum Passau erwiesen sich als derart umfänglich, dass 1908 eine Aufteilung zwischen dem erzbischöflichen Bibliothekar Maximilian Fastlinger in München 14 und dem Göttweiger Benediktiner und späteren Abt Adalbert Franz Fuchs 15 verabredet werden musste. Fuchs brachte seinen Anteil, Nieder österreich betreffend, bereits 1913 als fünften Necrologia-Band 16 heraus, während sich bei Fastlingers viertem Band mit den bayerischen und oberösterreichischen Teilen des Passauer Sprengels der Druck infolge des Ersten Weltkriegs so sehr verzögerte, dass er erst 1920 nach dem Tode des Bearbeiters vorlag, vollendet von dem späteren Archivar Josef Sturm in München, der das Register anfertigte.17 12 Necrologia Germaniae, Tomus 2: Dioecesis Salisburgensis, ed. Sigismundus HerzbergFränkel (Monumenta Germaniae Historica, Necrologie Germaniae 2, 1904). 13 Necrologia Germaniae, Tomus 3: Dioeceses Brixinensis Frisingensis Ratisbonensis, ed. Franciscus Ludovicus Baumann (Monumenta Germaniae Historica, Necrologia Germaniae 3, 1905). 14 Vgl. Sigmund Riezler, Nachruf Max Fastlinger, Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 41 (1919) S. 760 – 762. 15 Vgl. (anonym) Abt Dr. Adalbert Fuchs von Göttweig †, Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 48, Neue Folge 17 (1930) S. 28* – 30*; Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 – 1950, 1 (1957) S. 377. 16 Necrologia Germaniae, Tomus 5: Dioecesis Pataviensis, Pars altera: Austria inferior, ed. Adalbertus Franciscus Fuchs (Monumenta Germaniae Historica, Necrologia Germaniae 5, 1913). 17 Necrologia Germaniae, Tomus 4: Dioecesis Pataviensis, Pars prior: Dioecesis Pataviensis Regio Bavariaca, Dioecesis Pataviensis Regio Austriaca nunc Lentiensis, ed. Maximilianus Fastlinger, post obitum eius complevit Josefus Sturm (Monumenta Germaniae Historica, Necrologia Germaniae 4, 1920).
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Dass damit die ganze Reihe erloschen ist und die MGH Necrologia dauerhaft auf den Süden des deutschen Sprachraums beschränkt blieben, war keineswegs von vornherein beabsichtigt. Vielmehr geben die Jahresberichte von Paul Kehr im Neuen Archiv zunächst noch zu erkennen, dass Karl Strecker, der Abteilungsleiter der Antiquitates, bemüht war, für die einschlägigen Quellen aus der Kölner Provinz, aus dem Erzbistum Mainz oder auch aus Magdeburg Bearbeiter zu gewinnen, wobei Forscher genannt werden, die sich in der Folgezeit auf anderen Feldern durchaus einen Namen machten,18 doch gelangte man offenbar nirgends über erste Anläufe hinaus, so dass die Zentraldirektion 1923 wohl auch unter dem Eindruck ihrer finanziellen Probleme durch die Inflation beschloss, die Reihe „zunächst ganz zurückzustellen“. Kehr gab dafür die offizielle Begründung: „Die meisten Totenbücher wurzeln so sehr in der Lokalgeschichte, dass sie auch besser in den lokalgeschichtlichen Publikationen ihren Platz finden“.19 Im erhaltenen Sitzungsprotokoll findet sich keine weitergehende Auskunft, doch wird man kaum fehlgehen mit der Annahme, dass es nicht allein um eine Abgrenzung von Zuständigkeiten ging. Schließlich musste man sich sagen, dass der immense Aufwand, mit dem die (einschließlich Piper) vorliegenden sechs Bände in 40 Jahren zustande gebracht worden waren, in keinem günstigen Verhältnis zu der erkennbaren wissenschaftlichen Resonanz stand, da man sich bei der gewählten Anlage der Bände auf identifizierbare isolierte Personenbelege konzentrierte und mit der Überfülle an sonstigen Namen nichts weiter anzufangen wusste. So schien es kein Wunder zu sein, dass es durchweg regional verwurzelte akademische Außenseiter gewesen waren, die den in Harry Bresslaus „Geschichte der Monumenta“ Mal um Mal gerühmten „entsagungsvollen Fleiß“ für eine solche Sisyphusarbeit aufgebracht hatten. Der Verzicht der MGH auf eine fortgesetzte nationale Sammlung kritisch edierter Totenbücher stand im Gegensatz zur gleichzeitigen Entwicklung in
18 Vgl. Paul Kehr, Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae historica 1919, Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 43 (1922) S. XV – XXX, hier S. XXVIII; ders., Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae historica 1920, Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 44 (1922) S. 1 – 10, hier S. 9; ders., Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae historica 1921, Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 45 (1924) S. 1 – 13, hier S. 11 f. 19 Paul Kehr, Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae historica 1922 – 1923, Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 45 (1924) S. 211 – 222, Zitat S. 221.
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Frankreich.20 Dort hatte Auguste Molinier 1890 den Startschuss mit seinem Werk „Les obituaires français au Moyen Age“ gegeben, worin er unter ausdrücklichem Hinweis auf die kurz zuvor begonnenen MGH Necrologia zu einem ähnlichen Editionsunternehmen aufrief.21 Unter der Ägide der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres sind dann von 1902 bis 1933 mit derselben Gliederung nach Diözesen vier große Bände mit Totenbüchern aus der Kirchenprovinz Sens sowie die Hälfte eines fünften über die Provinz Lyon erschienen, denen nach dem Zweiten Weltkrieg 1951 die zweite Hälfte des fünften und 1965 ein sechster, gleichfalls über Lyon, gefolgt sind.22 Nach der großen Kraftanstrengung, die Jean-Loup Lemaitre 1980 mit dem seither noch mehrfach ergänzten Répertoire des documents nécrologiques français vollbracht hat,23 dem auf deutscher Seite nichts Vergleichbares gegenübersteht, begann man 1984 die neue Oktavreihe mit einzelnen Obituaires ohne Diözesangliederung, die es bis 2011 auf stolze zehn Bände gebracht hat.24 In Deutschland ist der Neubeginn im Rahmen der MGH und auf einem höheren Niveau des methodischen Bewusstseins bekanntlich Gerd Tellenbach und seinem Freiburger Schülerkreis aus den frühen 50er Jahren des vorigen
20 Vgl. Jean-Loup Lemaitre, De Léopold Delisle à Joachim Wollasch. 150 ans de travaux et de recherches sur les nécrologues et les obituaires, in: Wege der Erinnerung im und an das Mittelalter. Festschrift für Joachim Wollasch zum 80. Geburtstag, hg. von Andreas Sohn (2011) S. 3 – 17. 21 Auguste Molinier, Les obituaires français au Moyen Age (1890), Hinweis auf Monumenta Germaniae Historica, S. 155. 22 Recueil des historiens de la France. Obituaires de la province de Sens, Bd. 1: Diocèses de Sens et de Paris (1902); Bd. 2: Diocèse de Chartres (1906); Bd. 3: Diocèses d’Orléans, d’Auxerre et de Nevers (1909) ; Bd. 4: Diocèses de Meaux et de Troyes (1923) ; Obituaires de la province de Lyon, Bd. 1: Diocèse de Lyon, première partie (1933 – 1951) ; Bd. 2: Diocèse de Lyon, deuxième partie, Diocèses de Mâcon et de Chalon-sur-Saône (1965). 23 Jean-Loup Lemaitre, Répertoire des documents nécrologiques français (Recueil des historiens de la France. Obituaires, Bd. 7, 1980); Supplément (1987); Deuxième Supplément (1992); Troisième Supplément (2008). 24 Recueil des historiens de la France. Obituaires, série in-8°, Bd. 1: Les documents nécrologiques de l’abbaye Saint-Pierre de Solignac (1984); Bd. 2: L’obituaire du chapitre collégial Saint-Honoré de Paris (1987); Bd. 3: Les obituaires du chapitre cathedral de Rodez (1995); Bd. 4: Le livre du chapitre des Céléstins de Marcoussis (1999); Bd. 5: L’obituaire de Saint-Michel-sur-Orge (2002); Bd. 6: Le livre du chapitre de Saint-Guilhem-le-Désert (2004); Bd. 7: Les obituaires du chapitre cathédral d’Albi (2007); Bd. 8: Le nécrologue de l’abbaye de La Sauve-Majeure (2009); Bd. 9: Les obituaires du chapitre cathédral SaintSauveur et de l’église Sainte-Marie de la Seds d’Aix-en-Provence (2010); L’obituaire de l’hôpital des Quinze-Vingts de Paris (2011).
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Jahrhunderts zu verdanken.25 Richtungweisend wurde ein Schreiben Tellenbachs an den damaligen Monumenta-Präsidenten Friedrich Baethgen vom 3. September 1956, das unmittelbar veranlasst war durch die Zusendung einer 1854 von Ludwig Bethmann für die Monumenta angefertigten Abschrift des in Rom liegenden Liber memorialis von Remiremont. Ich zitiere den Wortlaut des Briefes an Baethgen: „Die freundliche Übersendung der nun doch wieder aufgetauchten Abschrift des Totenbuches von Remiremont durch Herrn Dr. Opitz veranlasst mich, Ihnen Pläne vorzutragen, von denen ich Ihnen sowieso dieser Tage schreiben sollte. Noch vor einem Jahr stand ich dem Problem, wie man den kostbaren Quellenbestand der Verbrüderungsbücher heben könne, ziemlich ratlos gegenüber. Dies ist jetzt anders geworden. In meinem hiesigen Arbeitskreis haben wir uns sehr viel mit den Verbrüderungsbüchern beschäftigen müssen. Dabei ist es, glaube ich, gelungen, eigene kritische Methoden zu entwickeln, die den gewaltigen Stoff zugänglich zu machen versprechen. Herrn Dr. Schmid ist es gelungen, durch vergleichende Betrachtung aller Einträge des Konvents der Abtei Schienen nicht nur Kontrollmöglichkeiten zu finden, sondern auch eine gewisse Sicherheit der Datierung. Ein wichtiger spezieller Fall, in dem das Verbrüderungsbuch von Pfäfers eine Rolle spielte, zeigte mir, dass man in der Handschrift durchaus nicht nur die Hände, sondern die Einträge sehr gut unterscheiden kann. Diese Erfahrung wurde in letzter Zeit in mehreren anderen Fällen bestätigt. Dadurch wird man, worauf sehr viel ankommt, Eintragungsgruppen ermitteln können. Ermutigend ist mir ferner, dass zwei meiner Mitarbeiter, Herr Dr. Schmid und Herr Dr. Hlawitschka, in den letzten Monaten eine Abschrift des Totenbuches von Remiremont angefertigt haben. Diese Arbeit war wieder methodisch überaus fruchtbar. Pipers Edition der schwäbischen Verbrüderungsbücher ist meines Erachtens nur als Hilfsmittel zu gebrauchen. Wir haben uns hier schon angewöhnt, historische Folgerungen nur auf Grund der Handschrift oder des Mikrofilms zu ziehen. Alle diese Erfahrungen lassen es mich heute wagen, Ihnen den Vorschlag zu machen, meinen Mitarbeitern und mir die Neuedition der libri confraternitatum, des von Valentini herausgegebenen Kodex von Santa Giulia in Brescia und der von Bethmann im Neuen Archiv II ziemlich hilflos edierten Notizen aus dem Evangeliar von Cividale, ferner die Erstedition des Kodex von Remiremont zu
25 Vgl. Hagen Keller, Das Werk Gerd Tellenbachs in der Geschichtswissenschaft unseres Jahrhunderts, Frühmittelalterliche Studien 28 (1994) S. 374 – 397, hier S. 390 – 392; Rudolf Schieffer, Gerd Tellenbach, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 56 (2000) S. 409 – 411.
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übertragen. Ich darf annehmen, daß ein druckfertiges Manuskript der Handschrift von Remiremont in längstens zwei Jahren vorgelegt werden kann. Es ist möglich, daß später noch eine Sammlung von Nekrolog- und Memorialnotizen hinzukommt, wie sie etwa das Sakramentar der Essener Münsterkirche aus dem neunten Jahrhundert enthält. Die Neuedition der alemannischen Verbrüderungsbücher wird einige Jahre länger dauern, aber Herr Dr. Schmid ist mit großer Fähigkeit und ebenso großer Leidenschaft an der Arbeit. Herr Dr. Hlawitschka, der durch seine Dissertation ausgezeichnet in die italienische Personengeschichte des neunten und zehnten Jahrhunderts eingearbeitet ist, wäre dann meines Erachtens der geeignete Mann für jene italienischen Handschriften. Ich weiß natürlich gar nicht, ob ältere Pläne bestehen. Ich wäre Ihnen daher dankbar, wenn Sie mir ebenso freimütig antworteten, wie ich gefragt habe, denn von Ihrer Antwort hängt viel für die Art unserer Weiterarbeit ab.“ 26 Soweit Gerd Tellenbach vor 55 Jahren. Rückblickend sticht als der entscheidende Fortschritt ins Auge, dass die Freiburger Forscher konsequent den handschrift lichen Befund in den Mittelpunkt rückten, dass sie Schreiberhände und Anlageschichten zu unterscheiden suchten und Gruppeneinträgen nachspürten, die der Personenforschung neue Horizonte öffnen sollten. Kennzeichnend für ihr Vorhaben war von vornherein, dass der Editionsauftrag von Tellenbach nicht für sich allein, sondern für seine ganze Arbeitsgruppe erbeten wurde. Dahinter stand nicht bloß die kurzfristige Erwartung zeitlicher Zusatzbelastungen durch das bevorstehende zweite Freiburger Rektorat, das Tellenbach in demselben Schreiben Baethgen ankündigte, sondern gewiss die grundsätzliche Einsicht, dass komplexe Überlieferungsanalysen mit dem Ziel, Tausende, später Zehntausende von Namen in den verschiedensten Konfigurationen durchschaubar zu machen, im Alleingang gar nicht mehr zu bewältigen waren. Im Einzelnen hatten die dreieinhalb Editionsprojekte, die Tellenbach 1956 offerierte, ein unterschiedliches Schicksal. In den zustimmenden Beschluss, den die Zentraldirektion der MGH unter Baethgens Vorsitz vier Wochen später – zugleich mit Tellenbachs Wahl zum ordentlichen Mitglied – fasste,27 nicht einbezogen war die von ihm für „später“ in Aussicht gestellte „Sammlung von Nekrolog- und Memorialnotizen“ in einem „Sakramentar der Essener Münsterkirche“. Es handelt sich um die aus Essen stammende heutige Handschrift D 1 der Düsseldorfer
26 München, MGH-Archiv, O 224. Später datierten Tellenbach u. a. den Vorgang ins Jahr 1955. 27 München, MGH-Archiv, O 201 – 203; vgl. Friedrich Baethgen, Monumenta Germaniae Historica. Bericht über das Jahr 1955/56, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 14 (1958) S. 1 – 15, hier S. 12 f.
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Universitätsbibliothek, die Volkhard Huth, ein Schüler von Karl Schmid, 1986 in einem längeren Aufsatz der Frühmittelalterlichen Studien nach allen Regeln der Kunst als Memorialquelle präsentiert hat.28 Ins Arbeits- und Publikationsprogramm der Monumenta aufgenommen wurden dagegen gemäß Tellenbachs Angebot „die Neuedition der libri confraternitatum“, also ein Ersatz für Pipers Band von 1884 sowie die Ausgabe des Salzburger Verbrüderungsbuches in MGH Necrologia 2, der Memorialcodex aus Brescia samt den Notizen im Evangeliar von Cividale sowie „die Erstedition des Kodex von Remiremont“. Auf dem letztgenannten Liber memorialis Romaricensis, dessen Druckreife wegen der bereits geleisteten Vorarbeiten binnen zwei Jahren erreichbar schien, lag zunächst aller Nachdruck. Karl Schmid und Eduard Hlawitschka konnten 1957 und nochmals 1959 bei mehrwöchigen Aufenthalten in Rom, wo der Codex in der Biblioteca Angelica aufbewahrt wird, zeitweise unter persönlicher Beteiligung Tellenbachs die handschriftenkundlichen und paläographischen Einzelheiten registrieren, die über die bloße Transkription hinaus Voraussetzung für die subtile Analyse des Anlageprozesses, also die historische Zuordnung der Einträge sein mussten. Auf dieser Grundlage wurde es möglich, 1961 ein druckreifes Editionsmanuskript vorzulegen, dem nach einem 1958 getroffenen Beschluss (erstmals bei den MGH) eine vollständige „photographische Reproduktion“ der Quelle in einem Tafelband beigegeben werden sollte. Das neuartige Unterfangen zog allerhand technische Schwierigkeiten und finanzielle Misshelligkeiten mit dem Weidmann-Verlag nach sich. Als der Tafelband schließlich 1965 in Druck gehen konnte, erwies sich die Anfertigung des noch fehlenden Personen- und des Ortsregisters als eine anfangs unterschätzte, aufwendige Schlussetappe, die zu weiterer Verzögerung auch bei der Druckgestaltung führte.29 Vom 1. April 1968
28 Volkhard Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift D 1 als Memorialzeugnis. Mit einer Wiedergabe der Namen und Namengruppen, Frühmittelalterliche Studien 20 (1986) S. 213 – 298; vgl. seither Thomas Schilp, Liturgisches Gedenken zur Bewältigung einer Krisensituation: Überlegungen zu den Namenlisten in einer Essener Sakramentarhandschrift des 9. Jahrhunderts, in: Mittelalter an Rhein und Maas. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins, Dieter Geuenich zum 60. Geburtstag, hg. von Uwe Ludwig / Thomas Schilp (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 8, 2004) S. 57 – 68; Meta Niederkorn-Bruck, Verschriftlichung von Erinnerung im Kontext der Liturgie. Überlegungen zum ältesten Essener Sakramentar D 1, in: Pro remedio et salute anime peragemus. Totengedenken am Frauenstift Essen im Mittelalter, hg. von Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift 6, 2008) S. 163 – 190. 29 Vgl. die Berichte von Friedrich Baethgen und Herbert Grundmann, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 15 (1959) S. 12, 355; ebenda 16 (1960) S. 12; ebenda 17 (1961)
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datiert das von Tellenbach, der längst als Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom amtierte, unterzeichnete Vorwort, 1969 erschien im Deutschen Archiv sein grundsätzlicher, das Projekt und dessen Ertrag vorstellender Aufsatz,30 und 1970 konnten dann tatsächlich beide Teilbände als gemeinsames Werk von Hlawitschka, Schmid und Tellenbach ausgeliefert werden.31 Die Edition des Liber memorialis von Remiremont, die weit über 2000 Gedenkeinträge und Traditionsnotizen von rund 160 verschiedenen Schreiberhänden zum Vorschein brachte und eine neue Reihe MGH Libri memoriales eröffnete, war eine Pioniertat, ohne deren Gelingen kaum die Energie zu weiteren und noch größeren Unternehmungen in der nämlichen Richtung aufgebracht worden wäre. Allerdings kam es nicht zu einer gleichsam linearen Fortsetzung, denn die Zielvorstellungen der Tellenbach-Schüler Karl Schmid und Joachim Wollasch, die in den frühen 70er Jahren von Freiburg und Münster aus mit Rückhalt am Sonderforschungsbereich „Mittelalterforschung“ die zeitgemäße Erschließung weiterer Memorialquellen vorantrieben, waren auf ein kommentiertes Quellenwerk „Societas et Fraternitas“ ausgerichtet, das in bewusst unterschiedlichen Publikationsformen der Vielfalt des Gedenkaspekts in der mittelalterlichen Überlieferung besser gerecht zu werden suchte.32 Nicht weniges davon, wie zumal das 1978 nach jahrelanger Vorbereitung erschienene fünfbändige Sammelwerk „Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter“, das auf einer Edition der komplexen fuldischen Gedenküberlieferung fußte,33 war vom Zuschnitt her mit den Gepflogenheiten der Monumenta inkommensurabel. In dieser Situation nutzte Horst Fuhrmann, MGH-Präsident seit 1971, die Gelegenheit eines Glückwunschbriefes an Karl Schmid zu dessen 50. Geburtstag am 24. September 1973,
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S. 7; ebenda 18 (1962) S. 8: „das Textmanuscript druckfertig abgeschlossen“; ebenda 21 (1965) S. IX: „Tafelband … im Druck“; ebenda 24 (1968) S. IX: „Herstellung der Indices … abgeschlossen“. Gerd Tellenbach, Der Liber Memorialis von Remiremont. Zur kritischen Erforschung und zum Quellenwert liturgischer Gedenkbücher, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 25 (1969) S. 64 – 110. Liber Memorialis von Remiremont, bearb. von Eduard Hlawitschka / Karl Schmid / Gerd Tellenbach, 1. Teil: Textband, 2. Teil: Tafelband (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales 1, 1970). Vgl. Karl Schmid / Joachim Wollasch, Societas et Fraternitas. Begründung eines kommentierten Quellenwerkes zur Erforschung der Personen und Personengruppen des Mittelalters, Frühmittelalterliche Studien 9 (1975) S. 1 – 48. Vgl. Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter, hg. von Karl Schmid, Bd. 1, 2/1 – 3, 3 (Münstersche Mittelalter-Schriften 8, 1978).
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um neben dem Dank für die Mitwirkung am Liber memorialis von Remiremont das fortbestehende Interesse der Monumenta an der Edition von Gedenkbüchern zum Ausdruck zu bringen.34 Schmid antwortete drei Wochen später eher zurückhaltend mit der Mitteilung, angesichts der angekündigten Faksimileausgaben des Salzburger Verbrüderungsbuchs sowie des Liber Viventium von Pfäfers von dritter Seite habe der Münsteraner Sonderforschungsbereich sich dafür entschieden, zunächst das Reichenauer Verbrüderungsbuch als kommentiertes Faksimile in einer vom Remiremont-Band unterschiedenen Weise herauszubringen, um insoweit die alte MGH-Edition von Piper zu ersetzen.35 Als Schmid ihn ein gutes Jahr später mit neuen Sonderdrucken über das Reichenauer Verbrüderungsbuch wie auch das Brescianer Gedenkbuch beehrte, schaltete Fuhrmann Tellenbach, inzwischen als Emeritus wieder in Freiburg, als Vermittler ein und bemerkte in einem Brief an ihn vom 10. Januar 1975, „daß es doch eigentlich sehr schade ist, wenn eventuelle editorische Bemühungen von Herrn Schmid außerhalb der MGH liefen, und ich habe ihm geschrieben. Meine Bitte ist nun die: ob Sie nicht so freundlich sein könnten, die Fäden weiter und enger zu knüpfen. Schließlich sind wir den widerlichen Weidmann los, und so etwas wie beim Liber memorialis von Remiremont sollte nicht noch einmal passieren.“ 36 Was sich in den folgenden Tagen abgespielt hat, ist aus den Akten des MGH-Archivs nicht unmittelbar zu ersehen; jedenfalls aber beginnt Fuhrmanns nächster Brief an Tellenbach zwei Wochen später mit den Sätzen: „In Münster hatte ich ein ungewöhnlich positives Gespräch besonders mit Herrn Schmid und Herrn Wollasch, aber auch mit Herrn Hauck und Herrn Ohly. Unter anderem spielte an zentraler Stelle die Frage der Liber (!) memoriales eine Rolle, und ich denke, daß Herr Schmid über diesen Punkt mit Ihnen nach seiner Rückkehr nach Freiburg bereits gesprochen hat. Es geht darum, daß wir in Fortsetzung des Liber memorialis von Remiremont weitere Editionen in einer von Herrn Schmid und Herrn Wollasch konzipierten Form herausbringen, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich im Sinne eines Betreuers des Projekts der Sache annehmen könnten.“ 37 Gleich im März nahm die Zentraldirektion im Beisein Tellenbachs zustimmend zur Kenntnis, dass „Prof. K. Schmid (Freiburg) und Prof. J. Wollasch (Münster) … aus ihrem Projektbereich ‚Personen und Gemeinschaften‘ Gedenk- und Totenbücher, soweit sie allgemeineres Interesse beanspruchen, innerhalb der MGH erscheinen
34 München, MGH-Archiv, O 274 (24.9.1973). 35 Ebenda (16.10.1973). 36 München, MGH-Archiv, O 224 (10.1.1975). 37 Ebenda (24.1.1975).
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lassen.“ 38 Am 15. Juli 1975 wurde dann bei einer Besprechung zwischen Fuhrmann, Tellenbach, Schmid und Wollasch in München Einvernehmen über eine künftige Nova Series der MGH Libri memoriales et necrologia erzielt.39 Anders als noch im Falle Remiremont sollten die Bände neben einem Voll-Faksimile keine abgedruckte Transkription, dafür aber mit EDV-Hilfe erstellte lemmatisierte Indices, Kommentare und eine ausführliche, auch kodikologisch-paläographische Belange berücksichtigende Einleitung aufweisen. Als erster Band nach dieser Manier erschien 1979 das Reichenauer Verbrüderungsbuch von 824, das mit 38232 Personennamen (einschließlich aller Nachträge) das Gedenkbuch von Remiremont quantitativ weit in den Schatten stellt, als Freiburger Gemeinschaftswerk von Johanne Autenrieth, Dieter Geuenich und Karl Schmid, wozu Tellenbach auf Wunsch Fuhrmanns und der Beteiligten noch ein Geleitwort beisteuerte.40 Über dessen Formulierung gab es im Laufe des Jahres 1978 nicht unerhebliche Turbulenzen, weil sich Tellenbach zunächst dazu herausgefordert sah, auf kritische Bemerkungen zu replizieren, die Schmid in seiner Einleitung über das Konzept der Remiremont-Edition gemacht hatte, bis schließlich beide auf jede Erwähnung dieses Themas verzichteten.41 Auch sonst verlief nicht alles reibungslos, denn Kostensteigerungen infolge diverser EDV-Pannen trübten zeitweise das Klima. Als Supplement zu dem Verbrüderungsbuch folgte 1983 die Publikation der 1976 entdeckten, mit Nameneinträgen versehenen Altarplatte von Reichenau-Niederzell durch Dieter Geuenich, Renate Neumüllers-Klauser und Karl Schmid.42 Die Reihe selbst wurde fortgesetzt mit zwei Editionen von Münsteraner Provenienz, die nicht in Tellenbachs einstigem Programm enthalten gewesen waren: 1983 den Totenbüchern von Merseburg, Magdeburg und Lüneburg, 38 München, MGH-Archiv, O 201 – 203; vgl. Horst Fuhrmann, Monumenta Germaniae Historica. Bericht über das Jahr 1974/75, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 31 (1975) S. I-IX, hier S. III f. 39 München, MGH-Archiv, O 201 – 203 (Protokoll 1976); vgl. Horst Fuhrmann, Monumenta Germaniae Historica. Bericht über das Jahr 1975/76, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 32 (1976) S. I-X, hier S. VIII. 40 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Einleitung, Register, Faksimile), hg. von Johanne Autenrieth / Dieter Geuenich / Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et necrologia, Nova Series 1, 1979) S. V-VII „Zur Einführung“ von Gerd Tellenbach. 41 München, MGH-Archiv, O 224 (Korrespondenz Tellenbach), enthält mehrere Entwürfe aus dem Jahr 1978. 42 Die Altarplatte von Reichenau-Niederzell, hg. von Dieter Geuenich / Renate NeumüllersKlauser / Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et necrologia, Nova Series 1, Supplementum, 1983).
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herausgegeben von Gerd Althoff und Joachim Wollasch,43 wozu Althoff in seiner 1984 separat erschienenen Habilitationsschrift Entscheidendes an Kommentierung nachlieferte,44 sowie 1986 dem Martyrolog-Necrolog von St. Emmeram in Regensburg, herausgegeben von Eckhard Freise, Dieter Geuenich und Joachim Wollasch,45 womit die frühere Edition Baumanns in MGH N ecrologia 3 außer Kraft gesetzt und der originale Zusammenhang zwischen dem Necrolog und dem (auch in Transkription wiedergegebenen) kalendarischen Martyrolog erstmals sichtbar gemacht wurde. Eine ausgesprochen mühsame Entstehungsgeschichte durchlief der vierte Band, dessen Inhalt, der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore/Santa Giulia in Brescia, eines der beiden 1956 von Tellenbach in Aussicht gestellten italienischen Projekte darstellt. Schon in den 80er Jahren schien der Band auf gutem Wege zu sein, wurde gar für 1990 angekündigt, doch traten gravierende Hemmnisse wegen der Überlagerung durch das (anfangs für die MGH-Reihe „Hilfsmittel“ vorgesehene) Vorhaben einer „Zusammenstellung aller Nameneinträge in den Gedenkbüchern des früheren Mittelalters“, ferner infolge von Krankheit und Tod von Karl Schmid ein, der bis 1993 die maßgebliche Rolle spielte. Nur dank dem geduldigen Bemühen von Dieter Geuenich und Uwe Ludwig konnte der Band im Jahre 2000 schließlich doch noch das Licht der gelehrten Welt erblicken. Er enthält einleitende Beiträge auch von Karl Schmid, Jean Vezin, Arnold Angenendt und Gisela Muschiol und kehrt zur gedruckten Transkription nicht nur der liturgischen Texte, sondern auch der Nameneinträge zurück, selbstverständlich neben dem Voll-Faksimile und dem lemmatisierten Personenregister.46 Die jüngere Entwicklung der Nova Series, schon in meiner Amtszeit, ist durch die Aufnahme von anspruchsvollen, durchweg in langjähriger Mühe erarbeiteten Dissertationen sowie eine gewisse Öffnung zum Spätmittelalter gekennzeichnet. Es begann 1998 mit den Necrologien, Anniversarien- und Obödienzenverzeichnissen
43 Die Totenbücher von Merseburg, Magdeburg und Lüneburg, hg. von Gerd Althoff / Joachim Wollasch (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et necrologia, Nova Series 2, 1983). 44 Vgl. Gerd Althoff, Adels- und Königsfamilien im Spiegel ihrer Memorialüberlieferung. Studien zum Totengedenken der Billunger und Ottonen (Münstersche MittelalterSchriften 47, 1984). 45 Das Martyrolog-Necrolog von St. Emmeram zu Regensburg, hg. von Eckhard Freise / Dieter Geuenich / Joachim Wollasch (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et necrologia, Nova Series 3, 1986). 46 Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia, hg. von Dieter Geuenich / Uwe Ludwig (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et necrologia, Nova Series 4, 2000).
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des Mindener Domkapitels aus dem 13. Jahrhundert, die Ulrich Rasche, ein Schüler von Hartmut Hoffmann in Göttingen, vorlegte.47 Hier fällt mindestens gleichgewichtig mit der liturgischen Gedenkpraxis das Interesse an der Besitzund Verwaltungsgeschichte einer begüterten geistlichen Institution ins Gewicht, was zur Berücksichtigung verschiedener, lediglich inhaltlich untereinander verbundener Quellenformen führte und dem gedruckten Editionstext das Übergewicht gegenüber den bloß exemplarisch beigefügten Abbildungen verschaffte. Eine einzige prominente Handschrift, das Necrolog des Klosters Michelsberg in Bamberg, war dagegen das Objekt der Bemühungen von Johannes Nospickel, der den sechsten Band 2004 auf der Basis seiner Münsteraner Dissertation bei Joachim Wollasch herausbrachte.48 Charakteristisch für das Erkenntnisziel dieser Ausgabe ist die Verknüpfung der Transkription mit einem Provenienzregister von 200 Seiten, das die Herkunft der vom Michelsberger Konvent kommemorierten Mönche, Weltkleriker und Laien, soweit es geht, aufschlüsselt. Der siebte Band, 2009 in zwei Teilen und erstmals mit farbigem Faksimile erschienen, beruht auf der von Michael Borgolte angeregten Berliner Doktorarbeit von Uwe Braumann und betrifft die Jahrzeitbücher des Konstanzer Domkapitels, die in sechs einander ablösenden Fassungen vom mittleren 13. bis zum frühen 16. Jahrhundert erhalten sind.49 In einem differenzierten Druckbild galt es, die Entwicklung des Gedenkens, das heißt Zusätze und Weglassungen, auf den einzelnen Stufen der Überlieferung transparent zu machen und den Quellenwert der zahlreich eingestreuten „Traditionsnotizen“ für die Geschichte der Konstanzer Domliturgie und Stadttopographie im Spätmittelalter hervorzukehren. Schmal und doch nicht unbeachtlich präsentiert sich daneben der achte Band, worin Francesco Roberg, gestützt auf seine Bonner Dissertation bei Theo Kölzer, 2008 das nach Manchester geratene vermeintlich älteste Necrolog des Klosters St. Maximin vor Trier als ein Machwerk darbietet und kommentiert, das zur Absicherung umfangreicher Urkundenfälschungen in der Zeit Kaiser Heinrichs V. fingiert worden ist.50
47 Necrologien, Anniversarien- und Obödienzenverzeichnisse des Mindener Domkapitels aus dem 13. Jahrhundert, hg. von Ulrich Rasche (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et necrologia, Nova Series 5, 1998). 48 Das Necrolog des Klosters Michelsberg in Bamberg, hg. von Johannes Nospickel (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et necrologia, Nova Series 6, 2004). 49 Die Jahrzeitbücher des Konstanzer Domkapitels, hg. von Uwe Braumann (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et necrologia, Nova Series 7, 2009). 50 Das älteste „Necrolog“ des Klosters St. Maximin vor Trier, hg. von Francesco Roberg (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et necrologia, Nova Series 8, 2008).
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Beileibe keine Dissertation, sondern die Realisierung eines zentralen Bestandteils von Tellenbachs MGH-Programm aus dem Jahre 1956 wird der bevorstehende neunte Band sein, der unsere Tagung veranlasst hat. Gestützt auf die wegweisenden Vorarbeiten von Karl Schmid 51, wird er die beiden Verbrüderungsbücher des Klosters St. Gallen aus dem 9. Jahrhundert im Voll-Faksimile darbieten und erschließen 52 und damit die alte Ausgabe von Paul Piper ein wesentliches weiteres Stück weit entbehrlich machen. Vollends obsolet wird sie allerdings erst dann werden, wenn es anschließend auch noch gelingt, dem seit 1973 vorliegenden Faksimile-Band mit dem Liber Viventium von Pfäfers 53 einen fundierten personen- und namenkundlichen Kommentar zur Seite zu stellen. Ob auch beim Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg, dessen Faksimile 1974 erschien,54 eine ähnliche Bemühung sinnvoll ist, die dann ein kritisches Fazit der seit langem rege betriebenen Spezialforschung zu ziehen hätte, bedarf näherer Überlegung. Was Italien angeht, so steht von Tellenbachs einstigen Ankündigungen nach dem Erscheinen des Brescianer Gedenkbuchs immer noch eine kommentierte Faksimileausgabe der Memorialeinträge im Evangeliar von Cividale aus,55 wozu
51 Vgl. Karl Schmid / Dieter Geuenich, Die Verbrüderungsbücher, in: Subsidia Sangallensia I. Materialien und Untersuchungen zu den Verbrüderungsbüchern und zu den älteren Urkunden des Stiftsarchivs St. Gallen, hg. von Michael Borgolte / Dieter Geuenich / Karl Schmid (St. Galler Kultur und Geschichte 16, 1986) S. 13 – 283. 52 Die St. Galler Verbrüderungsbücher, hg. von Dieter Geuenich / Uwe Ludwig (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et necrologia, Nova Series 9, im Druck). 53 Liber Viventium Fabariensis (Stiftsarchiv St. Gallen, Fonds Pfäfers, Codex 1), Bd. 1: Faksimile-Edition, hg. von Albert Bruckner / Hans Rudolf Sennhauser / Franz Perret (1973); vgl. zuletzt Dieter Geuenich, Der Liber Viventium Fabariensis als Zeugnis pragmatischer Schriftlichkeit im frühmittelalterlichen Churrätien, in: Schrift, Schriftgebrauch und Textsorten im frühmittelalterlichen Churrätien, hg. von Heidi Eisenhut / Karin Fuchs / Martin Hannes Graf / Hannes Steiner (2008) S. 65 – 77. 54 Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg. Vollständige Faksimileausgabe im Originalformat der Handschrift A 1 aus dem Archiv von St. Peter in Salzburg, mit einer Einführung von Karl Forstner (Codices Selecti 51, 1974); vgl. zuletzt Rosamond McKitterick, Geschichte und Gedächtnis im frühmittelalterlichen Bayern: Virgil, Arn und der Liber Vitae von St. Peter in Salzburg, in: Erzbischof Arn von Salzburg, hg. von Meta Niederkorn-Bruck / Anton Scharer (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 40, 2004) S. 68 – 80. 55 Vgl. Uwe Ludwig, Transalpine Beziehungen der Karolingerzeit im Spiegel der Memorialüberlieferung. Prosopographische und sozialgeschichtliche Studien unter besonderer Berücksichtigung des Liber vitae von San Salvatore in Brescia und des Evangeliars von Cividale (Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte 25, 1999).
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sich eine enge Zusammenarbeit mit dortzulande ansässigen Fachleuten empfehlen dürfte. Danach spätestens wäre auch der Boden bereitet für das schon vor 20 Jahren im Deutschen Archiv zur Sprache gebrachte, auf ein Konzept von Karl Schmid zurückgehende „Verzeichnis der Nameneinträge in den frühmittelalter lichen Gedenkbüchern“ 56, das in gewissem Sinne eine Synthese der vielen Einzelkommentare bieten könnte. Ich schließe vor lauter Experten mit dem wohlfeilen Hinweis, dass sich lohnende editorische Aufgaben noch weit über Tellenbachs Programm hinaus stellen. Generell unterbelichtet ist Norddeutschland, von wo wir lediglich die Ausgaben der Totenbücher von Merseburg, Magdeburg und Lüneburg sowie des Mindener Domnecrologs besitzen. Nachdem kürzlich Dietrich Poeck in Münster seine jahrelangen Bemühungen um die Osnabrücker und Bremer Totenbücher unvollendet hat aufgeben müssen, sitzt derzeit in Absprache mit den MGH allein Elmar Hochholzer in Sommerach an den beiden Hersfelder Necrologien, die überlieferungsgeschichtlich einen extremen Sonderfall bilden. Dringend geboten wären aber auch zeitgemäße Bearbeitungen der Totenbücher des Hildesheimer, des Paderborner oder des Münsteraner Domes. Nicht besser steht es im Westen, wo die necrologischen Quellen der Erzbischofssitze von Köln, Trier und Mainz nur in unzulänglicher Form zugänglich sind. Und auch im Süden, wo seit kurzem die Jahrzeitbücher des Konstanzer Domes zur Verfügung stehen, mag man staunen, dass die Totenbücher von St. Gallen und der Reichenau bislang niemanden gefunden haben, der mit ihnen editorisch besser umgegangen wäre als vordem der viel kritisierte Franz Ludwig Baumann. Vor uns liegt ein weites, allenfalls oberflächlich bestelltes Feld, aber wo sind die, die es beherzt beackern werden?
56 Vgl. Horst Fuhrmann, Monumenta Germaniae Historica. Bericht über das Jahr 1989/90, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 46 (1990) S. I – XXI, hier S. XVI.
Formen und Inhalte mittelalterlicher memoria von Joachim Wollasch Erinnerung bleibt ohne feste Formen nicht überlebensfähig. Als individuelle Erinnerung stirbt sie dann mit dem Individuum. Als Kollektiverinnerung ohne feste Formen zerbröselt sie dann in der Folge der Generationen. In unserer kurzatmigen Zeit moderner Medien sehen wir, dass die Wörter Erinnerung und Kultur großgeschrieben werden und dass der aus beiden Wörtern gebildete Begriff Erinnerungskultur geradezu inflationär gebraucht wird. Die Titel der mir zum 80. Geburtstag gewidmeten Aufsatzsammlung und Festschrift stellen keine Ausnahme dar.1 In unserem gegenwärtigen Erleben erweist sich Erinnerungskultur jedoch als eine im Literarischen verharrende Größe. Dass unserer Zeit feste, dauerhafte Formen der Erinnerung offensichtlich abhanden gekommen sind, zeigt schon der Erinnerungsschwund im Blick auf die Todesopfer des zweiten Weltkrieges. Mühsam muss um Finanzmittel für die Erhaltung von Erinnerungsorten und Gedenkstätten wie Auschwitz gerungen werden. Anderen Interessen wird Vorrang eingeräumt. Über den Hekatomben des Mamajew-Kurgan-Hügels im Zentrum Stalingrads, inzwischen Wolgograds, begehen Hochzeitspaare ihre Feiertage. Und auch in den japanischen Nachkriegsgenerationen ließ sich die Erinnerungstradition an Hiroshima und Nagasaki nicht bewahren. In meiner Geburtsstadt wurden in den Jahrzehnten nach dem Bombenangriff vom 27.XI.1944, der in zwanzig Minuten fast 3.000 Tote forderte, auf dem Sammelgrab über den eingemeißelten Namen der Opfer und in den leeren Fensterhöhlen der in Ruinen liegenden Altstadt an den Jahrestagen des Angriffes unzählige Lichter aufgestellt. Jetzt gibt es keine leeren Fensterhöhlen und auch keine Lichter mehr. Auf dem Sammelgrab standen am letzten 27. November keine zehn Kerzen mehr. Nur eine immer kleiner werdende Gruppe steht noch jeweils am 10. Mai auf dem 1
Joachim Wollasch, Wege zur Erforschung der Erinnerungskultur. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Mechthild Sandmann / Angelus Häußling O. S. B. / Mechthild Black-Veldtrup mit einer Einführung von Rudolf Schieffer. Bestandteil des Quellenwerkes Societas et Fraternitas (Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinertums 47, 2011);Wege der Erinnerung im und an das Mittelalter. Festschrift für Joachim Wollasch zum 80. Geburtstag, hg. v. Andreas Sohn (2011).
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Spielplatz an der Kreuzstraße, auf den am 10. Mai 1940 Bomben dreier desorien tierter deutscher Maschinen fielen und unter über fünfzig Opfern viele Kinder dahinrafften. Diese Ereignisse sind inzwischen in der Literatur nach genauesten Forschungen festgehalten.2 Aber es sieht nicht so aus, als würden diese Arbeiten irgendeinen Einfluss auf die Öffentlichkeit bewirken. Dies erklärt sich natürlich aus der demographischen Entwicklung, zeigt aber auch, dass dieser keine auf kollektives Gedächtnis ausgerichtete Institution gegensteuerte. Im Mittelalter gab es in aller Vielfalt des Gedenkens an Lebende und Verstorbene feste Formen, von denen die Dauerhaftigkeit der Gedenkinhalte gewährleistet wurde. Werden die literarischen, bildkünstlerischen und vor allem die epigraphischen und heraldischen Memorialzeugnisse in ihren vielfältigen Formen bis hin zu Votivtafeln mit ihren Inschriften berücksichtigt, so sind sie nahezu unzählig. Daher können heute in der zur Verfügung stehenden Zeit nur zwei Hauptstränge der Überlieferung, die der memoria gewidmet ist, angesprochen werden. Davon soll nun die Rede sein. Längst sind in der Literatur die variablen Bedeutungen des Wortes memoria zwischen den Polen Gedächtnis und Erinnerung beschrieben und vor allem auf der Grundlage der Confessiones des A ugustinus in ihrer Ausweitung zum Bewusstsein überhaupt erörtert worden. Dabei konnte klar werden, dass memoria mehr als das Schlüsselwort mittelalterlichen Gedenkwesens ist. Noch heute beschließt in der Messfeier der Priester die Wandlungsworte mit der Aufforderung “Tut dies zu meinem Gedächtnis”, lateinisch Haec quotiescumque feceritis, in mei memoriam facietis. Damit nimmt er auf, was im ältest erhaltenen Abendmahlsbericht im 1. Korintherbrief des Paulus als Worte Jesu wiedergegeben wird: τοῦτο ποιεῖτε … εϊς τήν εμήν ανάμνησιν.3
2 Zum 10. Mai 1940 Gerd R. Ueberschär / Wolfram Wette, Bomben und Legenden. Die schrittweise Aufklärung des Luftangriffs auf Freiburg am 10. Mai 1940. Ein dokumentarischer Bericht (1981); Gerd R. Ueberschär, Freiburg im Luftkrieg 1939 – 1945. Mit einer Photodokumentation zur Zerstörung der Altstadt am 27. November 1944 von Hans Schadek (1990) S.87 – 91. – Zum 27. November 1944 Ueberschär ebenda, passim. – Vgl. auch: Die Zerstörung Freiburgs am 27. November 1944. Augenzeugen berichten, hg. von der Stadt Freiburg i. Br. (1994); Memento. Chronik eines Gedenkens 27.11.1994, hg. von der Stadt Freiburg im Breisgau (1995). Weitere Augenzeugenberichte in: Badische Zeitung Nr. 48, 27. Februar 1995; ebenda Nr. 31, 27. November 1998; ebenda 27. November 1999 Magazin; ebenda 20. November 2004; ebenda 23. November 2004; ebenda 26. November 2004 (Ueberschär); ebenda 27. November 2004 (Hupka); ebenda 27. November 2004 mit Todesanzeige von Schülern der ehemaligen Rotteck-Oberrealschule für ihre als Luftwaffenhelfer gefallenen Kameraden. 3 1. Kor. 11,24.
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Deshalb bezeichnet die memoria eine Handlungsanweisung an die Christen, die in jeder Feier des Abendmahls Christi Kreuzesopfer erinnernd vergegenwärtigen, erneuern sollten. Diese an die Gemeinschaft der Christen gerichtete Aufforderung bildete in ihrer Verwirklichung also Inhalt und Form zugleich. Als Jesus mit seinen Jüngern das jüdische Paschafest mit dem Paschamahl feierte, wurde in der Erinnerung der befreiende Auszug der Israeliten aus Ägypten vergegenwärtigt.4 Die Einheit von Inhalt und Form, in der Jesus beim letzten Abendmahl die christliche Abendmahlsfeier grundlegte, als er sie der Gemeinschaft seiner Gläubigen als ανάμνησις, memoria seines Todes für die Zukunft auftrug, erfuhr eine Erweiterung, als Leiber von Blutzeugen für Christus, Märtyrerleiber, zur Ehre der Altäre erhoben wurden, d. h. in den frühesten Anfängen der Märtyrerverehrung ihr Grab, memoria genannt, oft in einer Translation, unter der Altarmensa erhielten.5 Auch hier kamen Inhalt und Form zusammen und erhielten ihren Platz in der Gemeinschaft. Doch schon im spätantiken Christentum wurden vorchristliche Formen der memoria weiter verwendet, selbst da, wo vorchristliche Inhalte noch weiterlebten. Sie betrafen die in der Literatur als soziale Dimension der memoria bezeichnete Sphäre.6 Seit der römischen Kaiserzeit wurde das Fest der cara cognatio, das Fest der lieben, teuren Verwandtschaft begangen.7 Es trafen sich die Familienmitglieder und feierten im Mausoleum zusammen mit ihren Angehörigen, die durch Speiseröhren in die Sarkophage am Totengedächtnis der Familie beteiligt wurden. Noch im 4. Jahrhundert wurde diese Praxis Gegenstand schärfster Kritik, vertreten durch Ambrosius von Mailand und Augustinus. Denn diese Totenmähler boten Anlass, zu Gelagen zu verkommen, und das eucharistische Liebesmahl zum Gedenken der Toten, wie es in den Kirchen gefeiert wurde, konnte im Bewusstsein entwertet werden. Einfache, unwissende Menschen könnten glauben, diese Saufgelage und luxuriösen Mähler auf Friedhöfen ehrten die Märtyrer und trösteten die Toten. Dem gefüllten Korb irdischer Genüsse wurde das Herz 4 Anton Hänggi, Das Gedächtnis in der Liturgie – Neue Ansätze im Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet, hg. von Karl Schmid (1985) S. 108 – 124, hier S. 109 f. 5 Bernhard Kötting, Die Tradition der Grabkirche, in: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hg. von Karl Schmid / Joachim Wollasch (Münstersche Mittelalter-Schriften 48, 1984) S. 69 – 78, hier besonders S. 72 ff. 6 Otto Gerhard Oexle, Die Gegenwart der Lebenden und der Toten. Gedanken über Memoria, in: Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet (wie Anm. 4) S. 74 – 107, hier S. 75. 7 Zum Folgenden Joachim Wollasch, Toten- und Armensorge, in: Wollasch, Wege (wie Anm. 1) S. 348 – 375, hier S. 354 f.
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gegenüber gestellt, das mit reineren Wünschen zur Märtyrer-memoria und zur Kommunion gebracht werde, und den Armen zu geben, was es könnte. Opfergaben und Geld zugunsten der Seelen der Entschlafenen sollten nicht aufwendig sein. Den bedürftigen Bittstellern sollte ohne Stolz, freundlich-heiter geschenkt, nicht verkauft werden. Vergleichbare Kritik und Anordnungen finden sich in Syrien, in den Apostolischen Konstitutionen. Dass die Gebete für die Verstorbenen am 3., 9. und 40. Tag nach dem Todestag und an deren Jahrtag feierlich vorgenommen werden sollten, weist in den angegebenen Fristen ebenfalls auf vorchristliche Traditionen hin. Auf spätantike, vorchristliche Praxis gingen die Diptychen zurück,8 deren Verwendung zunächst hohen Amtsträgern, vorab Kaisern, galt, im 4./5. Jahrhundert meist den Consuln der einzelnen Jahre, bevor sie der Aufnahme von Namenreihen der zur Messfeier Opfergaben bringenden Christen dienten, die vom Diakon zur Oblation vorgelesen wurden.9 Wer in den oft mit Elfenbeindeckeln reich geschmückten Diptychen namentlich in die Wachsschicht eingeritzt war, gehörte zur kirchlichen Gemeinschaft. Wie ernst dies genommen wurde, zeigen die Fälle, in denen etwa Namen hochgestellter Persönlichkeiten aus dem Wachs abgeschabt wurden. Die erasio nominis bezeichnete eine damnatio memoriae, den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Insofern der formale Eintrag der o fferentes inhaltlich auf die Eucharistiefeier als memoria des Todes Christi bezogen war, durften die eingeschriebenen Namenträger hoffen, auch ins himmlische Buch des Lebens aufgenommen worden zu sein. Es blieb nicht beim Eintrag der offerentes in die Diptychen. Die Namen der verstorbenen Christen gingen in das schriftliche Gedenken im Messformular ein. Die Texte für spezielle Messen für die Verstorbenen mehrten sich.10 Wieder erwies sich die Messfeier als Einheit von Form und Inhalt der memoria. Auf das Äußerste beansprucht wurde diese Einheit, wenn Alcuin dem Patriarchen Paulinus von Aquileja schrieb, er solle den Namen seines Freundes, gemeint war sein eigener, nicht vergessen, vielmehr in aliquo memoriae g azofilacio in einem kostbaren Schrein des Gedenkens, bergen und tempore opportuno, näm lich während der Messfeier, bei der Wandlung aussprechen.11 Welche Form des 8 Rainer Warland, Diptychen, in: Lexikon für Theologie und Kirche 3 (3. Aufl. 1995) Sp. 256 f. 9 Johannes H. Emminghaus, Diptychon, in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986) Sp. 1101 f. 10 Arnold Angenendt, Missa specialis. Zugleich ein Beitrag zur Entstehung der Privatmessen, Frühmittelalterliche Studien 17 (1983) S. 153 – 221. 11 Monumenta Germaniae Historica. Epistolae 4. Epistolae Karolini aevi 2, hg. von Ernst Dümmler (1895) Nr. 28 S. 70.
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memoriae gazofilacium gemeint war, bleibt ungewiss, die inhaltliche memoria an das Herzstück der Messfeier jedoch eindeutig. Auf das Äußerste beansprucht wurde die Einheit von Form und Inhalt in der Messfeier auch, wenn Bischof Thietmar von Merseburg, vielleicht sogar eigenhändig, auf der TE IGITUR Seite des Messkanons in dem von ihm benutzten Sakramentar der T-Initiale die Bitte einfügte: Sacerdos dei, reminiscere Thietmari confratris tui, peccatoris et indigni. „Priester Gottes, erinnere Dich Deines Mitbruders Thietmar, des Sünders und Unwürdigen“.12 Die Messfeier zum Gedenken an die Toten erhielt durch Gregor den Großen den stärksten Impuls und setzte sich von da an in der ganzen Kirche und bis über das Ende des Mittelalters hinaus durch. Der Papst hatte im 4. Buch seiner Dialoge von einem Mönch geschrieben, diesem seien, nachdem er das Armutsgelübde verletzt hatte, von seiner Gemeinschaft ausgestoßen und auf dem Misthaufen verscharrt worden war, durch die Feier der Messe, die der Papst dem Konvent für 30 aufeinander folgende Tage aufgetragen hatte, Erleichterung von seinen Qualen der Läuterung, dem später so genannten Fegfeuer, zuteil geworden.13 Auch Gregor der Große hatte mit seiner Bestimmung des Dreißigtagegedenkens an vorchristliche antike Formen angeschlossen, die der Toten-memoria an bestimmten Tagen, vor allem dem 30. nach seinem Todesfall, galten. Der tricenarius wurde von da an zur Hauptform mittelalterlicher memoria, aber eben auf die Einheit von Form und Inhalt in der Messfeier konzentriert. Der tricenarius schloss aber mit der Liturgie sozialcaritative Leistungen ein. Denn wenn für einen Verstorbenen stellvertretend den Armen gegeben wurde, dann trat ein, was Beda Venerabilis aussprach: “Vielen helfen aber, damit sie auch vor dem Tag des Gerichts befreit werden, die Gebete der Lebenden, die Almosen und Fasten und am meisten die Messfeier.”14 Auch dieser Gedanke erhielt später, etwa durch Alcuin,15 durch den Abt Smaragdus,16 durch die adelige Frau und
12 Faksimile in: Totenbücher von Merseburg, Magdeburg und Lüneburg hg. v. Gerd Althoff / Joachim Wollasch (Monumenta Germaniae Historica. Libri Memoriales et Necrologia, Nova Series 2, 1983) S. 26. 13 Wollasch, Toten- und Armensorge (wie Anm. 7) S. 353 und 357. 14 Bede’s Ecclesiastical History of the English People V, 12, hg. von Bertram Colgrave – Robert Aubrey Baskerville Mynors (1991) S. 494. 15 Monumenta Germaniae Historica. Epistolae 4. Epistolae Karolini aevi 2, hg. von Ernst Dümmler (1895) Nr. 131 S. 194 ff. und Nr. 167 S. 275. 16 Smaragdi abbatis expositio in Regulam S. Benedicti, hg. von Alfred Spannagel / Pius Engelbert (Corpus Consuetudinum Monasticarum 8, 1974) S. 987 f.
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Mutter Dhuoda 17 oder durch Petrus Damiani 18 immer wieder neue Bestätigung. Bischof Bertram von Le Mans erklärte 616 seine Bischofskirche – kirchenrecht lich problematisch – und die von ihm gegründete Grabkirche zu seinen Erben.19 Die dort tätigen geistlichen Gemeinschaften sollten dafür in der Liturgie sein Totengedenken halten, die Armen große Schenkungen aus den Einkünften von Landgütern zum Gedenken an ihn erhalten, damit sie vor Gott um Sühne für seine Sünden eintraten. Sein Name aber sollte in das Buch des Lebens eingetragen werden, an Festtagen aufgerufen werden, während am Jahrtag seines Todes für ihn namentlich zu opfern wäre. 824 – so die Visio Wettini in deren Wiedergabe durch Walahfrid – bat Wetti in Briefen an 10 Brüder 10 Mal um 100 Messen und Psalter, dann wäre sein Heil gewiss erlangt.20 Abt Bern von der Reichenau trug seinem Konvent auf, wegen des um die Klostergemeinschaft verdienten Mönchs Heinrich 30 Tage hindurch Messe und Totenvigil zu feiern, den Psalter zu beten, am 1. Tag 100 Arme, am 3. 200, am 7. 300, am 30. 400 Arme zu speisen, damit durch diese 1.000 Armenspeisungen dem verstorbenen Mönch für seine Sünden Vergebung zuteilwürde. Auch die in abhängigen Zellen der Reichenau lebenden Brüder sollten die Vorbereitungen für die 1.000 Armenmähler treffen. Zwei namentlich zur Beaufsichtigung und Hilfe bei diesem Aufwand bezeichnete Mönche geben von der Ernsthaftigkeit dieser Memoria-Planung Zeugnis.21 Wurde die Messfeier als Einheit von Form und Inhalt der memoria bezeichnet, so kann im Blick auf die Entwicklung der mittelalterlichen memoria die Einheit von Toten- und Armensorge als weitere und weithin anerkannte Einheit von Form und Inhalt der memoria angesehen werden – die Liturgie als Form und 17 Dhuoda, Manuel pour mon fils IV, 9, hg. von Pierre Riché (Sources chrétiennes 225, 1975) S. 256 und 258. 18 Die Briefe des Petrus Damiani, Teil 3, hg. von Kurt Reindel (Monumenta Germaniae Historica. Die Briefe der Deutschen Kaiserzeit 4, 1989) Nr. 110 an Bischof Mainard von Urbino (Sommer 1064) S. 226. 19 Dazu Michael Borgolte, Felix est homo ille, qui amicos bonos relinquit. Zur sozialen Gestaltungskraft letztwilliger Verfügungen am Beispiel Bischof Bertrams von Le Mans (616), in: Festschrift für Berent Schwineköper, hg. von Helmut Maurer / Hans Patze (1982) S. 5 – 18. 20 Karl Schmid, Bemerkungen zur Anlage des Reichenauer Verbrüderungsbuches, in: Landesgeschichte und Geistesgeschichte. Festschrift für Otto Herding (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Forschungen 92, 1977) S. 24 – 41. 21 Die Briefe des Abtes Bern von der Reichenau, hg. v. Franz-Josef Schmale (Veröffent lichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe A, Quellen 6, 1961) Nr. 8 S. 34.
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Inhalt zugleich, die Armensorge als Inhalt in unterschiedlichen Formen, doch stets angeschlossen an die Totensorge, die einen Ausdruck in den zunehmenden Votivmessen für die Verstorbenen fand, also ohne Unterbrechung auf die eucharistische Messfeier hin geordnet. Ein Dreißig-Tage-Gedächtnis, die damit verbundenen sozial-caritativen Leistungen eingeschlossen, vermochten nur Gemeinschaften zu erfüllen. Der Bischof von Le Mans konnte es problemlos von seinen geistlichen Gemeinschaften verlangen. Der Abt auf der Reichenau konnte seinen Konvent damit beauftragen, zumal, da es um einen verdienten Mitbruder ging. Der Reichenauer Mönch Wetti, auch er ein angesehenes Mitglied seines Konvents, erbat sich in zehn Briefen an zehn Brüder, also die Bitte schriftlich dokumentiert, 1.000 Messen und Psalter, demnach pro Priestermönch Messe und Psalter an hundert Tagen zu Wettis Seelenheil. Weil seine Bitte einen tricesimus bei weitem überstieg, verteilte er sie an zehn Brüder und ließ offen, in welchem Zeitraum sie die Bitte erfüllen würden. Ihm ging es um die hohe Summe der Memorialleistungen nach seinem Tod.22 Hatte aber ein Bittsteller keinen festen Platz in einer Gemeinschaft, oder ging es ihm darum, seine memoria in einer besonders angesehenen Gemeinschaft zu gewährleisten, so musste er sich mit dieser verbrüdern. Deshalb richtete Bonifatius an Abt Optatus und dessen Konvent von Monte Cassino die schriftliche Bitte, mit seinen Gefährten in der Mission in unitate fraternae dilectionis et societatis spiritalis eingeschlossen zu werden.23 Die peregrinatio der Mönchsmissionare, das Fremdsein in der Welt um Christi Willen, rief nach stützender memoria in der von ihnen verlassenen Heimat.24 Der auf Dauer angelegten Verbindung diente der Austausch von Namenlisten der Verstorbenen, die Bonifatius mit Monte Cassino vereinbarte. Totenrotuli gaben dieser memoria ihre schriftliche Form. Sie sind schon aus der Zeit vor dem Concilium Germanicum im Corpus der Bonifatiusbriefe und in Luls von Mainz Briefen bezeugt.25 Verbrüderung zwischen Personen und Gemeinschaften und zwischen Gemeinschaften und Gemeinschaften mit dem Ziel dauerhaften Totengedenkens entwickelte sich seitdem zu der Form, die als wesentlichen Inhalt alle, quantitativ oft bis zum Äußersten gehenden Bitten um memoria, überwiegend um den tricenarius, einschloss. Auch den 22 Wie Anm. 20. 23 Joachim Wollasch, Die mittelalterliche Lebensform der Verbrüderung, in: Wollasch, Wege (wie Anm. 1), S. 307 – 328, hier S. 308. 24 Ebd., S. 311. 25 Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus, hg. von Michael Tangl (Monumenta Germaniae Historica. Epistolae Selectae 1, 2. Aufl. 1955) Nr. 55 S. 97 f., Nr. 121 S. 257 und Nr. 150 S. 289.
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Verbrüderungen des Mittelalters standen vorchristliche Bräuche, etwa der a micitia und der Schwurbrüderschaft im germanischen Raum, bereit.26 Je mehr sich aber die Verbrüderung als raum- und zeitübergreifende Lebensform durchsetzte, desto schwieriger gestaltete sich die Gewährleistung dauerhafter memoria der Verbrüderten in der Messliturgie und -oblation. Dieses widersprüch liche Ergebnis im Blick auf den Inhalt der Verbrüderung wird von deren schrift licher Überlieferung offen gelegt. Der Totenbund von Attigny bald nach dem Tod des Bonifatius und der Totenbund von Dingolfing ein Jahrzehnt später warfen das angesprochene Problem noch nicht auf, da die Teilhaber der Verbrüderung von begrenzter Zahl waren und die ihnen versprochenen Memorialleistungen genau festgelegt wurden.27 Schon die frühest erhaltenen Libri memoriales von Klöstern lassen das Problem aber erkennen. Das 784 unter Abtbischof Virgil angelegte ältere Gedenkbuch von Salzburg 28 und jenes von Durham 29 veranschaulichen durch die hierarchische Anordnung ihrer Namenfülle Lebender und Verstorbener, dass sie die gesamte Christenheit abbilden wollten. Doch schon diese frühe, wenn auch einer Anlageordnung unterworfene Massierung von Nameneinträgen wurde in dem Bewusstsein vorgenommen, dass es unmöglich war, dem zelebrierenden Priester aus dem auf dem Altar liegenden Gedenkbuch aus der Masse der Namen diejenigen zuzuflüstern, deren Träger er an einem bestimmten Tag gedenken sollte. Und in diesem Bewusstsein war auch die Wahrscheinlichkeit eingeschlossen, dass es Namenträger gab, deren Nameneinträge bei der Anlage und Führung des Liber memorialis vergessen worden waren. Im älteren Salzburger Liber memorialis ist nämlich auch der Text einer Oration enthalten, in der Gott die Seelen derer, die mit ihren Namen nicht in 26 Otto Gerhard Oexle, Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit, in: Das Handwerk in Mittel- und Nordeuropa in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Teil 1, hg. von Herbert Jankuhn (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 122, 1981) S. 284 – 354. 27 Monumenta Germaniae Historica. Concilia 2, 1, hg. von Albert Werminghoff (1906) Nr. 13 S. 72 f.; dazu Karl Schmid / Otto Gerhard Oexle, Voraussetzungen und Wirkung des Gebetsbundes von Attigny, Francia 2 (1974) S. 71 – 122; Monumenta Germaniae Historica. Concilia 2, 1, Nr. 31 S. 233; dazu Joachim Wollasch, Geschichtliche Hintergründe der Dortmunder Versammlung des Jahres 1005, in: Wollasch, Wege (wie Anm. 1) S. 200 – 225, hier S. 210. 28 Meta Niederkorn-Bruck, Nomina scripta sunt in coelo, in diesem Band S. 59 – 85, und Wollasch, Die mittelalterliche Lebensform der Verbrüderung (wie Anm. 23) S. 312 und Ders, Toten- und Armensorge (wie Anm. 7) S. 359. 29 Jan Gerchow, Die Gedenküberlieferung der Angelsachsen. Mit einem Katalog der libri vitae und Necrologien (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 20, 1988) S. 109 – 154.
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das Gedenkbuch gekommen sind, anempfohlen werden.30 Die Libri memoriales von Salzburg, Durham, von der Reichenau und aus St. Gallen, von Pfäfers oder Remiremont, von Brescia, das Evangeliar von Cividale und die Totenannalen von Fulda und Prüm konnten den Wunsch der Zeitgenossen nicht erfüllen, eine auf Dauer gesicherte individuelle memoria zu erhalten. Nicht unterdrücken ließ sich gleichzeitig der Wille der Zeitgenossen zu ihrem individuellen, ihren Tod überdauernden Gedenken. Hoch und dauerhaft blieb jedoch das Ansehen der Gedenkbücher. Sonst wären nicht im 11. Jahrhundert in Salzburg ein neues 31 und im 12. Jahrhundert in Seckau 32 und Corvey 33 jeweils ein Verbrüderungsbuch angelegt worden. Wessen Name in einen der Libri vitae eingegangen war, der konnte darauf vertrauen, auch im himmlischen Buch des Lebens, das von Gott geführt wurde, einen Platz gefunden zu haben. Der Mitte der eucharistischen memoria näher durften sich beispielsweise die Träger der Namen wähnen, die in der Mitte auf der Altarmensa von Reichenau-Niederzell eingeritzt worden sind 34, oder Heinrich II., dessen Name auf dem Kelch und der Patene eingraviert war, die er an Cluny geschenkt hatte,35 das ihm Verbrüderung und ein besonders herausragendes Gedenken zugesichert hat. Nach H einrichs III. Tod wurde Heinrich II. mit Kaiserin Kunigunde, Papst Clemens II., den verstorbenen
30 Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Handschrift A 1 aus dem Archiv von St. Peter in Salzburg, hg. von Karl Forstner (Codices selecti phototypice impressi 51, 1974) S. 29 – 39 und Tafel. 31 Wie Anm. 30. 32 Monumenta Germaniae Historica. Necrologia 2, hg. von Sigismund Herzberg-Fränkel (1904) S. 357 – 402. 33 Der Liber Vitae der Abtei Corvey, 2 Bände, hg. von Karl Schmid / Joachim Wollasch, Bestandteil des Quellenwerkes Societas et Fraternitas (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 40. Westfälische Gedenkbücher und Necrologien, 1983/ 1989). 34 Die Altarplatte von Reichenau-Niederzell, hg. von Dieter Geuenich / Renate NeumüllersKlauser / Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica. Libri Memoriales et Necrologia, Nova Series 1, Supplementum, 1983); Roland Rappmann / Alfons Zettler, Die Reichenauer Mönchsgemeinschaft und ihr Totengedenken im frühen Mittelalter (Archäologie und Geschichte, Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland 5, 1998) S. 217 ff. mit weiteren Literaturangaben. 35 Liber tramitis aevi Odilonis abbatis II, 31, hg. von Peter Dinter (Corpus Consuetudinum Monasticarum 10, 1980) S. 259; vgl. Joachim Wollasch, Kelche und Patene als herrscher liche Gaben für das Gedenken, in: Mediterraneo, Mezzogiorno, Europa. Studi in onore di Cosimo Damiano Fonseca 2, hg. von Giancarlo Andenna / Hubert Houben (2004) S. 1143 – 1160.
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Bischöfen und Domherren von Bamberg ins Missale namentlich an den Rand zum Text des Memento defunctorum des Messkanons gestellt.36 Abgesehen von solchen besonderen Zeugnissen der Verbrüderung füllten sich die Libri vitae bis zum 12. Jahrhundert immer mehr. Dies war nicht nur den lebenden und verstorbenen Mitgliedern der buchführenden Gemeinschaft geschuldet, sondern gleichzeitig fand der Austausch zwischen mehreren buchführenden Gemeinschaften und Personen und Personengruppen, etwa Klerikergemeinschaften, Pilgergruppen und Gilden statt, und immer wieder öffnete sich weltlichen und geistlichen Großen, die zu Besuch ins Kloster kamen, dessen Buch des Lebens. Als schließlich im 12. Jahrhundert die klösterliche Verbrüderung und ihre Dokumentation erschöpft schienen und Europa von einer Klöster- zu einer Städtelandschaft wurde, übernahmen städtische Bruderschaften die monastischen Formen der Verbrüderung und deren Buchführung.37 Die Form der Verbrüderung diente auch dem Zusammenwachsen klösterlicher Gemeinschaften zu monastischer Reformbewegung, zum Beispiel zwischen Cluny, S. Benoît-sur-Loire und S. Martial de Limoges unter Abt Odo von Cluny,38 und der Versöhnung konkurrierender Konvente, zum Beispiel Monte Cassinos und Fleurys zur Beilegung des Streites um den Besitz der Benediktsreliquien.39 Sie spiegelte auch politische Konstellationen, zum Beispiel die Integrationsbemühungen der Karolingerherrschaft 40 oder der normannischen Herzöge.41 Das Prinzip kalendarischer Buchführung löste in Form der Necrologien seit dem 11./12. Jahrhundert mehr und mehr das summarische Gedenken der Libri vitae ab. Dabei ging es indes nicht einfach um eine praktikablere Verschrift lichung der memoria für Verstorbene. Nicht nur, dass das kalendarische Prinzip des Necrologs, das von Jahr zu Jahr den Namen eines Verstorbenen zu seinem
36 Faksimile und Übertragung der Nameneinträge bei Anton Chroust, Monumenta Palaeographica, Series 1, Lieferung 22 (1906) Tafel 10b; vgl. Friedrich Leitschuh / Hans Fischer, Katalog der Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Bamberg 1, 1 (1895 – 1906) S. 135 ff. 37 Wollasch, Die mittelalterliche Lebensform der Verbrüderung (wie Anm. 23) besonders S. 323 und 325 ff. 38 Joachim Wollasch, Cluny. Licht der Welt. Aufstieg und Niedergang der klösterlichen Gemeinschaft (4. Aufl. 2007) S. 47 f. 39 Recueil des chartes de l’abbaye de S. Benoît-sur-Loire 1, hg. von Maurice Prou / Alexandre Vidier (1900) Nr. 93 S. 243 ff.; vgl. dazu Joachim Wollasch, Das Projekt ‚Societas et Fraternitas‘, in: Wollasch, Wege (wie Anm. 1) S. 522 – 542, hier S. 540. 40 Wollasch, Die mittelalterliche Lebensform der Verbrüderung (wie Anm. 23) S. S. 313. 41 Wollasch, Wege (wie Anm. 1) S. 90 ff.
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Todestag wiederfand, das summarische Gedenken, das in den Libri vitae niedergelegt war, überholte; vielmehr begegnet es in den unterschiedlichen Formen schon gleichzeitig mit den frühesten Libri memoriales. Während auf der Reichenau und in St. Gallen die Verbrüderungsbücher zu ihrer für das ganze Mittelalter repräsentativen Gestalt heranwuchsen, wurde neben ihnen die individuelle memoria für Verstorbene lebendig. Dies veranschaulichen die frühesten Martyrologien-Necrologien und Kapiteloffiziumsbücher der beiden Bodenseeklöster aus dem 9. Jahrhundert, die noch hundert Jahre später als Vorlage dienten. 42 Ging die allgemeine Entwicklung des liturgischen Gedenkens im Sinn von Entwicklungsstufen von den Gedenkbüchern zu den Totenbüchern, so treten beide Überlieferungsformen in den Bodenseeklöstern zur Zeit der Karolinger gleichzeitig und gemeinsam auf. Die Notzeit im fränkischen Reich vor dem Tod des Reichenauer Mönchs Wetti im Jahr 824 führte, von diesem angetrieben, zu einer Reaktivierung der bis dahin vom Reichenauer Konvent eingegangenen Verbrüderungen. Die capitula des Reichenauer Verbrüderungsbuches mit den Namen der verbrüderten Gemeinschaften, an erster Stelle St. Gallen, das sich im Jahr 800 zur Verbrüderung mit der Reichenau zusammengeschlossen hatte, bezeugen es ebenso wie die in das Reichenauer Buch seit 762 eingegangenen Verbrüderungen des Totenbundes von Attigny. Auch die Namen verbrüderter Einzelpersonen, nach Lebenden und Toten unterteilt, erscheinen wie die Karolinger sippe als Gruppen. Den Kern des Verbrüderungsbuches bildet die Gruppe der Mönchsnamen des Inselklosters, wiederum nach Lebenden und Toten unterteilt. Im Vergleich des Reichenauer Verbrüderungsbuches mit den erhaltenen Reichenauer Necrologien 43 zeigt sich, dass die Totenliste der Reichenauer Mönche in deren Verbrüderungsbuch der überprüfbaren Reihenfolge nach der tatsäch lichen Sterbefolge der eingetragenen verstorbenen Mönche entsprach. Da von der ersten Hälfte der Totenliste nur 12% in den Necrologeinträgen wiederkehren, dagegen 100% der zweiten Hälfte der Totenliste, ergibt sich, dass die necrologische Überlieferung des Reichenauer Konvents, wie sie bei der Anlage des Verbrüderungsbuches 823 und der Necrologien seit 856 vorlag, in den Achtzigerjahren des 8. Jahrhunderts als dauerhafte Buchführung eingesetzt hat. Für die Todesfälle Reichenauer Mönche vor 780 waren nur noch sporadische Erinnerungen wach. Seit den 780er Jahre gaben sich die Reichenauer Mönche also nicht mehr mit
42 Joachim Wollasch, Zu den Anfängen liturgischen Gedenkens an Personen und Personengruppen in den Bodenseeklöstern, in: Wollasch, Wege (wie Anm. 1) S. 226 – 248. 43 Zum folgenden Rappmann / Zettler, Die Reichenauer Mönchsgemeinschaft (wie Anm. 34) passim.
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einem Eintrag in das herkömmliche Abbild des Buches des Lebens zufrieden. Im ältest erhaltenen Reichenauer Necrolog des Cod. Vindob. 1815 mit seinen nur 362 Namen gehören 64% den Mönchen der Reichenau. Ein Viertel der Necrologeinträge betrifft Mönche von Klöstern, die den Reichenauern besonders eng verbunden waren – beispielsweise St. Gallen, Ellwangen, Fulda. 11% der Einträge sind Amts- und Würdenträgern vorbehalten. Außer 11 Reichenauer Äbten und einer Äbtissin finden sich ein Erzbischof von Mainz und 12 mit der Reichenau eng verbundene Bischöfe, zum Beispiel Ratold und Egino von Verona. Bleibt noch ein Dutzend weltlicher Großer. Wir treffen auf Karl den Großen, Ludwig den Frommen und Judith, Markgraf Gerold und Graf Udalrich. So gesehen erweisen sich die Necrologeinträge gegenüber denen im Liber memorialis als Zeichen bevorzugten Gedenkens auf der Reichenau. Darauf deutet schon die Integration des Necrologs in einem Kalendar mit Heiligenfesten, das dem Sacramentarium Gregorianum des Cod. Vindob. 1815 vorangeht, als einem Gebrauchstext der Liturgie für einen hochstehenden Liturgen. Diese Feststellungen fügen sich in den größeren Zusammenhang der Kapiteloffiziumsbücher ein.44 Seit dem 8. Jahrhundert ist in Mönchs- und Kanoniker gemeinschaften das im Zusammenhang mit der Prim begangene officium capituli als feste Einrichtung bekannt. Seit Ende des 8. Jahrhunderts wird im Kapiteloffiziumsbuch aus dem Martyrolog gelesen, bevor die Lesung von Regula und einer Homilie beginnt. Dass zur Martyrolog-Lesung am Anfang des Kapiteloffiziums auch die Namennennung der Verstorbenen nicht erst seit dem 10. Jahrhundert gehört haben dürfte, ergibt sich aus den ältesten Martyrologien der Kathedrale Metz 45 und aus St. Gallen. In die Zeit des Usuard-Martyrologs 46 reicht neben den Necrologien von der Reichenau, aus St. Gallen und Remiremont das große Necrolog von S. Germain-des-Prés.47
44 Dazu Jean-Loup Lemaître, Liber Capituli. Le Livre du chapitre, des origines au XVI e siècle. L‘exemple français, in: Memoria (wie Anm. 5) S. 625 – 648 ; Jean Vezin, Problèmes de datation et de localisation des livres de l’Office de Prime, ebd., S. 613 – 624. 45 Jean-Loup Lemaître, Répertoire des documents nécrologiques français (Recueil des historiens de la France, Obituaires 7, 1980) Nr. 1502. Johanne Autenrieth, Der Codex Sangallensis 915. Ein Beitrag zur Erforschung der Kapiteloffiziumsbücher, in: Landesgeschichte (wie Anm. 20) S. 42 – 55 und 66 f. 46 Jacques Dubois, Le martyrologe d’Usuard. Texte et commentaire (Subsidia hagiographica 40, 1965); Ders., Les martyrologes du moyen âge occidental 26 (1978). 47 Grundlegend Otto Gerhard Oexle, Forschungen zu monastischen und geistlichen Gemeinschaften im westfränkischen Bereich (Münstersche Mittelalter-Schriften 31, 1978) besonders S. 96 – 111; Lemaître, Liber Capituli (wie Anm. 44) S. 631 f.
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Es war mehr als eine Äußerlichkeit der kalendarischen Form, wenn der Name und der Todestag eines Verstorbenen in das Martyrolog eingetragen wurden. Im ältesten Metzer Martyrolog stehen die Toteneinträge am Rand des Martyrologs, an dieses, seine jeweils letzten Tageseinträge, meist durch ein Verweiszeichen angebunden; dabei wird die Sprache der Toteneinträge ganz jener des Martyrologs angeglichen, so, wenn da steht: Et transmigratio Walamundi sacerdotis ex ergastulo sui corporis; hinc flagitamus, ut memores illius sitis.48 Das et schließt den Toteneintrag unmittelbar an den Eintrag des Tagesheiligen an. Anstelle eines obitus- oder feierlicheren depositio-Vermerks tritt transmigratio, den Übergang des Verstorbenen in die Gemeinschaft der Heiligen anzeigend, und schließlich die Gebetsbitte, des Verstorbenen zu gedenken. Damit werden die in das Martyrolog eingetragenen Namen Verstorbener unmittelbar mit denen der eingetragenen Heiligennamen zusammengerückt. Das entspricht dem immer wieder begegnenden Wunsch der frühen Christen, mit ihren Gräbern, unbeschadet der skeptisch zurückhaltenden Äußerungen des Augustinus dazu, apud sanctos zusammenzuliegen. Nahm also die gedenkende Gemeinschaft Martyrolog-Einträge, jene der Verstorbenen eingeschlossen, von Tag zu Tag in namentlichem Aufruf in die liturgische Praxis hinein, erhielt das Gedenken für Verstorbene die Qualität einer den Einzelnen und eine Generation überdauernden memoria, die von Jahrtag zu Jahrtag erneuert wurde. Die Anschauung, die Toten zu den schon erhöhten Heiligen zu stellen, wurde dann in Cluny nochmals in das allgemeine Bewusstsein gehoben, als dort im Anschluss an das Fest Allerheiligen am 1. November die commemoratio omnium defunctorum, der Allerseelentag, am 2. November eingeführt wurde.49 Das vor den frühesten Kapiteloffiziumsbüchern entstandene Walderdorffsche Kalendarfragment aus Regensburg weist schon die Zusammenstellung von Toteneinträgen, hier von den hervorgehobenen Angehörigen des Agilulfingergeschlechts, mit den Festeinträgen für die Heiligen auf.50 Es konnte nicht bei dieser Konstellation bleiben. Zu stark wuchs die Zahl der in den geistlichen Gemeinschaften Verstorbenen an, als dass deren Namen noch 48 Bern, Burgerbibliothek cod. 289, fol. 57v; Ernst Dümmler, Handschriftliches 1. Ein Metzer Todtenbuch (aus Jaffés Nachlaß), Forschungen zur deutschen Geschichte 13, (1873) S. 596 – 602, hier S. 597. 49 Wollasch, Cluny (wie Anm. 38) S. 119 – 122. 50 Faksimile-Abbildungen in: Monumenta Germaniae Historica. Necrologia Germaniae 3, hg. von Franz Ludwig Baumann (1905) Tafeln 1 und 2; vgl. Klaus Gamber, Liturgie bücher der Regensburger Kirche aus der Agilolfinger- und Karolingerzeit (Scriptorium 30, 1976) S. 3 – 25, besonders S. 5 f. und 25; Ders., Das Regensburger Fragment eines Bonifatiussakramentars, Revue Bénédictine 85 (1975) S. 266 – 302.
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im Martyrolog Platz gefunden hätten. Mehr und mehr trat neben den martyrologischen der necrologische Kalender, freilich auch er meistens als Bestandteil des Kapiteloffiziumsbuches. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, in denen Damen aus der Königsfamilie ein Totenbuch führten,51 setzte sich diese Entwicklung mit der Jahrtausendwende durch. Als durchschnittliche Form des Totengedenkens für einen verstorbenen Mönch galten Messfeier und Totenoffizium am Todestag des Verstorbenen, dann dreißig Tage hindurch – der tricenarius – und an jedem Jahrgedächtnistag. Dazu wurde von der gedenkenden Gemeinschaft am Todestag des Mönchs, die dreißig Tage danach und am Jahrtag die durch den Todesfall freigewordene praebenda, die tägliche Ration an Essen und Trinken, einem Armen gegeben, der dafür für das Seelenheil des Verstorbenen beten sollte.52 Dies meinte der Vermerk iustitia detur, der in den Necrologien oft den eingetragenen Namen zugefügt wurde.53 Weil der mit der Toten-memoria verbundene Aufwand der Armensorge die Möglichkeiten kleinerer Gemeinschaften bald überstieg, finden sich in manchen Necrologien Kennzeichnungen der Eingetragenen als Priestermönche oder Laienbrüder, bei Verbrüderten die Unterscheidung von fratres und pleni fratres und damit Abstufungen der Leistungen für Arme.54 In unterschiedlicher Formgebung stellen sich die Necrologien dar, Einträge für Angehörige der eigenen Gemeinschaft und solche für Verbrüderte in jeweiliger Zeilenfolge 55 oder auf je zwei Blättern 56 oder unter eigene Arkaden gestellt.57 Damit gehörten nun zur Form des Necrologs nicht nur der Inhalt der 51 Zum Beispiel der Königin Mathilde und der Kaiserin Adelheid nach dem Zeugnis Thietmars von Merseburg vgl. Gerd Althoff, Adels- und Königsfamilien im Spiegel ihrer Memorialüberlieferung. Studien zum Totengedenken der Billunger und Ottonen. Bestandteil des Quellenwerkes Societas et Fraternitas (Münstersche Mittelalter-Schriften 47, 1984) besonders S. 166 ff. 52 Wollasch, Toten- und Armensorge (wie Anm. 7) S. 364. 53 Ebd., S. 366. 54 Ebd., S. 366. 55 Zum Beispiel St. Blasien: Hubert Houben, Das Fragment des Necrologs von St. Blasien (Hs. Wien, ÖNB Cod. lat. 9, fol. I-IV) Facsimile, Einleitung und Register, Frühmittelalter liche Studien 14 (1980) S. 274 – 298 und Tafeln V-XII, besonders S. 276. 56 Zum Beispiel S. Bénigne de Dijon: vgl. Barbara Schamper, S. Bénigne de Dijon, Untersuchungen zum Necrolog der Handschrift Bibl. mun. de Dijon, ms. 634. Bestandteil des Quellenwerkes Societas et Fraternitas (Münstersche Mittelalter-Schriften 63, 1989) besonders S. 14. 57 Zum Beispiel Michelsberg/Bamberg, siehe das Faksimile in: Das Necrolog des Klosters Michelsberg in Bamberg, hg. von Johannes Nospickel (Monumenta Germaniae Historica. Libri Memoriales et Necrologia, Nova Series 6, 2004).
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von den Verstorbenen erwarteten Messfeiern in gewährleisteter Dauer, sondern zunehmend die das Seelenheil befördernden Armenspeisungen. Die mit einer geistlichen Gemeinschaft Verbundenen und Verbrüderten, deren Namen in das Necrolog eingingen, nahmen sich ja zum Maßstab das Gedenken, das die Gemeinschaft ihren Angehörigen sicherte. Und dazu gehörten eben auch die sozial-caritativen Leistungen. Dabei wuchsen diese bis ins 12. Jahrhundert geradezu ins Unermessliche. Schon die früheren Totenbünde trieben diese nach oben, so wenn die Synodalen von Dingolfing in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts jedem der verbrüderten Äbte und Bischöfe außer 100 Messen und Psalmen 20 Silberschillinge als elemosyna für das Seelenheil versprachen.58 Noch umfangreicher war die elemosyna, die auf der Synode in Regensburg 932 von einem verbrüderten Bischof beim Tod eines seiner Amtsbrüder erwartet wurde.59 Bekannt sind die hohen liturgischen und sozial-caritativen Leistungen, die beim Totenbund von Dortmund 1005 vereinbart wurden.60 Es verwundert demnach nicht, wenn in vielen Necrologien durch Verweiszeichen zu einzelnen Toteneinträgen in Marginalien rubriziert wurde, welche besonderen Elemente der liturgischen und sozial-caritativen memoria zu beachten waren. Die zunehmende Differenzierung der Leistungen für die eingetragenen Verstorbenen schlug sich mehr und mehr auf den Rändern der Necrologien bis zu deren Ablösung durch Anniversarbücher nieder. Im Widerspruch zu dieser Entwicklung könnte man die aus cluniacensischen Klöstern teilweise und ganz erhaltenen Necrologien mit ihren bis über 30.000 Einträgen sehen, während bekannt ist, dass die sozial-caritativen Leistungen, die das Totengedenken mit sich brachte, bei den Cluniacensern eine jegliche bekannte Praxis übersteigende Intensität und Qualität erreichten:61 18.250 Armenspeisungen jährlich seit der von Abt Petrus Venerabilis verfügten Reduktion, und nicht mitgerechnet die überaus zahlreichen Leistungen nach dem Tod eines Abtes, nach dem Tod besonderer Wohltäter Clunys, am Aschermittwoch, am Gründonnerstag 58 59 60 61
Wollasch, Geschichtliche Hintergründe (wie Anm. 27) S. 210. Ebd., S. 211. Ebd., S. 209. Zum folgenden Wollasch, Cluny (wie Anm. 38) S. 130 f., 161 ff., 165, 235 ff.; Franz Neiske / Carlos Manuel Reglero de la Fuente, Das neu entdeckte Necrolog von San Zoilo de Carrión de los Condes. Ein Beitrag zum Totengedenken der Abtei Cluny, Frühmittelalterliche Studien 41 (2007) S. 141 – 184 mit Tafeln XIV-XV, besonders S. 141 f.; Giles Constable, The Abbey of Cluny. A Collection of Essays to Mark the Eleven-Hundredth Anniversary of its Foundation (Vita Regularis. Ordnungen und Deutungen religiösen Lebens im Mittelalter. Abhandlungen 43, 2010) S. 121 – 130 und 313 – 333.
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zusammen mit dem mandatum novum, der Fußwaschung, am Montag nach der Pfingstoktav für alle auf den Friedhöfen der Cluniacenser Ruhenden neben dem Totenoffizium die Speisung der zwölf ortsansässigen Armen und Mahlzeiten für alle des Weges daherkommenden Armen, schließlich am Fest Allerseelen mit den gleichen Leistungen wie am Gründonnerstag. Alle diese sozial-caritativen Leistungen sind nicht in den cluniacensischen Necrologien vermerkt. Doch wurden die Namenmassen in den Necrologien der cluniacensischen Klöster, die uns erhalten sind, in wenigen Gliederungsmodellen, die heute noch erkennbar sind, geordnet: pro Seite in zwei Kolumnen nostrae congregationis monachi, familiares, amici oder die Mönche der eigenen Gemeinschaft auf der verso-, jene der verbrüderten Mönche auf der recto-Seite, bisweilen auch so, dass die jeweiligen Tageseinträge in ihrer Reihenfolge die Angehörigen unterschiedlicher Gruppen: eigene Mönche, verbrüderte Mönche, familiares, Frauen, zusammenfassten.62 Die Namen der Nonnen cluniacensischer Frauenklöster erscheinen denen der cluniacensischen Mönche gleichgestellt.63 Selten lassen sich Versehen in den Redaktionen cluniacensischer Totenbücher feststellen. Weil es in der Zeit bis zum Abbatiat des Petrus Venerabilis von Cluny mehr als fünfzig Einträge pro Tag waren, die in die Praxis ebenso vieler Dreißig-Tage-Gedächtnisse und Armenspeisungen korrekt umzusetzen waren – denn es standen ja spirituelle und rechtliche Ansprüche an -, haben die Cluniacenser, nach ihren seit dem 11. Jahrhundert aufgezeichneten Consuetudines zu urteilen, eine klar geregelte Organisation eingeführt. Die pueri lasen die täglichen Heiligenfeste und die täglichen Toteneinträge vor.64 Sie hatten dem Eleemosynar die Anzahl der auszugebenden Armenspeisungen zu melden,65 während der Armarius anhand von Zetteln die Namen der Mönche festlegte, die die Liturgie der tricenarii durchzuführen hatten und einander dabei in regelmäßigen Abständen ablösten.66 Der Armarius hatte auch dem Cellerar die Unterlagen für die dem Konvent und den Armen zur Verfügung zu stellenden Lebensmittelra tionen zu übergeben und – ganz wichtig – die schedulae mit den Namen der jüngst Verstorbenen für die zu Cluny gehörenden und mit Cluny verbrüderten Klöster anzufertigen und dem Verteiler entsprechend an diese abzusenden.67 62 Vgl. Neiske / Reglero de la Fuente (wie Anm. 61) besonders S. 163 – 171. 63 Joachim Wollasch, Ein cluniacensisches Totenbuch aus der Zeit Abt Hugos von Cluny, in: Wollasch, Wege (wie Anm. 1) S. 43 – 92, besonders S. 79 f. 64 Vgl. Ordo Cluniacensis per Bernardum, cap. XXVII, in: Marquardus Herrgott, Vetus Disciplina Monastica (1726), Nachdruck hg. von Pius Engelbert (1999) S. 208. 65 Ordo Cluniacensis (wie Anm. 64) S. 208. 66 Ordo Cluniacensis (wie Anm. 64) S. 127. 67 Ordo Cluniacensis (wie Anm. 64) S. 127 und 163.
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Darüber hinaus wurden in den Consuetudines, zum Teil auch in Urkunden und Dekreten, die besonders herausragenden liturgischen und sozial-caritativen Leistungen bis ins Einzelne geregelt, die den größten Wohltätern und Wohltäterinnen Clunys – erinnert sei nur an den mit Cluny verbrüderten Kaiser Heinrich II. und die überaus großzügigen Könige von der iberischen Halbinsel – auf Dauer zustanden;68 desgleichen die umfassenden Leistungen am Gründonnerstag 69 und an Allerseelen 70 und, seit Abt Hugo von Cluny, an der Pfingstoktav zugunsten aller auf den Friedhöfen der Cluniacenser liegenden Toten.71 Dieses ganze an das Totengedenken gebundene Memorialsystem musste aus zwingenden wirtschaftlichen Notwendigkeiten nach seiner steten Aufwärtsentwicklung bis ins 12. Jahrhundert stark reduziert werden und wurde von den Cisterciensern zugunsten eines summarischen Gedenkens aufgegeben.72 Aber nicht verloren ging das im täglichen Kapitelsoffizium gebrauchte Kapiteloffiziumsbuch mit dem Text der Regel, dem Martyrolog, dem Necrolog und Homilien und Orationen. Öfters wurde das Necrolog Martyrolog oder liber vitae genannt,73 eindeutiges Zeichen für die überdauernde Hoffnung, auf diesem Weg in das himmlische Buch des Lebens eingetragen zu werden. Sie blieb auch erhalten, als die Form des Necrologs durch jene des Anniversarbuches abgelöst wurde, in dem Wohltaten für eine Kirche und liturgische und sozial-caritative Leistungen der geistlichen Gemeinschaft für die Wohltäter auf den Jahrgedächtnistag eines eingetragenen Todesfalles konzentriert wurden. Das Anniversarbuch setzte sich durch, nachdem in immer mehr Necrologien die oft ausführlichen Notizen über Anniversarstiftungen überhandzunehmen begonnen hatten.74 Zwei wesentliche Aussagen halten die Anniversarbücher dem heutigen Betrachter bereit: erstens die gegenüber den Necrologeinträgen herausragende Form,
68 Liber tramitis (wie Anm. 35) S. 199 und 285; Ordo Cluniacensis (wie Anm. 64) S. 158; vgl. noch Willehelmi Abbatis Constitutiones Hirsaugienses, hg. von Pius Engelbert (Corpus Constuetudinum Monasticarum XV,2, 2010) S. 107. 69 Ordo Cluniacensis (wie Anm. 64) S. 310 ff. 70 Liber tramitis (wie Anm. 35) S. 199. 71 Ordo Cluniacensis (wie Anm. 64) S. 334. 72 Joachim Wollasch, Neue Quellen zur Geschichte der Cistercienser, in: Wollasch, Wege (wie Anm. 1) S. 93 – 141, besonders S. 138 ff. 73 Wollasch, Zu den Anfängen liturgischen Gedenkens (wie Anm. 42) S. 237 und Ders, Toten- und Armensorge (wie Anm. 7) S. 359. 74 Vgl. Jean-Loup Lemaître, De Léopold Delisle à Joachim Wollasch. 150 ans de travaux et de recherches sur les nécrologes et les obituaires, in: Wege der Erinnerung (wie Anm. 1) S. 3 – 17, die S. 17, Anm. 54, 59 und 66 angegebenen Quellen-Editionen.
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in der inhaltlich hohe liturgische und sozial-caritative Gedenkverpflichtungen gegenüber den Stiftern als Dank für deren Stiftungen festgehalten wurden, und zweitens im Gedenken an die Stifter der Hinweis auf deren von ihnen selbst dargestellte Großzügigkeit. Die Stifter wollten sich auf diese Weise ihre Selbstdarstellung über die Generationen hinweg sichern. Bei redaktionellen Reduktionen des schriftlichen Totengedenkens und bei neu angelegten Necrologien wurden die Anniversargedächtnisse zumeist in den neuen Bestand übernommen. Eine Jahrtagsstiftung für Kaiser Friedrich I. Barbarossa,75 der dem Allerheiligenkloster in Schaffhausen dessen Zelle Hiltensweiler bestätigt und die Zelle in seinen besonderen Schutz genommen hatte, über das aus Hiltensweiler entstandene Paulinerkloster Langnau ging nach dessen Aufhebung mit den materiellen Substraten und dessen Gedenkverpflichtungen an die neugegründete Schwarzwaldpfarrei Buchenbach im Wagensteigtal über, wo nach Ausweis des neuzeit lichen Anniversarbuches, der Korrespondenz des Pfarrers mit der katholischen Kirchensektion des großherzoglichen Ministeriums des Inneren und der schrift lichen Zeugenaussage Dr. Herder-Dorneichs vom 8. März 1979 stets am 6. Januar die Memorie für Barbarossa in der Buchenbacher Kirche angekündigt wurde. Ein ganz anderes Beispiel für eine Anniversarstiftung, die mit dem Willen des Stifters, das Andenken an sich für immer zu bewahren, bis ins 20. Jahrhundert wirksam blieb, findet sich im berühmten Hôtel-Dieu in Beaune, der Stiftung des burgundischen Kanzlers Herzog Philipps des Guten, Nicolas Rolin.76 Bei aller Einzigartigkeit, die seinem alle bisherigen Maße sprengendem Stiftungswerk eignet, vermag es insgesamt neue, für das Spätmittelalter charakteristische Formen und Inhalte der memoria zu veranschaulichen. Nicht mehr nur finanzielle Zuwendungen, Güterschenkungen oder dem zentralen Teil der Messfeier geltende Gaben wie Kelch und Patene wurden für die memoria eingesetzt, sondern wie die erwartete memoria auf Dauer angelegte, vertraglich und finanziell zum Beispiel durch Amortisationen gesicherte Stiftungen.77 Je stärker der Stifter persönlich die Stiftung gestaltete, desto nachhaltigeren Einfluss konnte er auf den Träger der von ihm gewünschten Memorialleistungen nehmen. Als der Kanzler an der unmittelbar seinem Haus benachbarten Kirche Notre Dame in Autun ein Priesterkolleg gründete, gab er diesem eine bis in kleinste Einzelheiten 75 Joachim Wollasch, Vom Überleben einer Jahrtagsstiftung für Kaiser Friedrich I. Barbarossa, in: Wollasch, Wege (wie Anm. 1) S. 270 – 288. 76 Zum Folgenden Hermann Kamp, Memoria und Selbstdarstellung. Die Stiftungen des burgundischen Kanzlers Rolin (Beihefte der Francia 30, 1993). 77 Vgl. Hermann Kamp, Amortisation und Herrschergedenken im Burgund des 15. Jahrhunderts, in: Memoria als Kultur, hg. v. Otto Gerhard Oexle (1995) S. 253 – 284.
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reichende Hausordnung, in der Präbendenvergabe, Residenzpflicht im Chor und gottesdienstliche Memorialfunktionen, die auch auf Prozessionen zum Grab und Gebet der sieben Bußpsalmen über dem Grab führten, geregelt waren.78 Für die rechtliche Autonomie des Trägers der memoria gegenüber dem Ortsbischof und gegenüber dem Herzog, also für die Exemtion des Chorherrenstifts, hatte Rolin päpstliche Privilegien erwirkt.79 Er selbst als Patron konnte den Propst der Chorherren einsetzen. Den enormen Bemühungen Rolins zur dauerhaften Selbständigkeit des Kollegiatstifts als Gewähr für die erwartete dauerhafte, über den eigenen Tod hinaus reichende memoria in Messfeier, Stundengebet und Armenfürsorge entsprach eine enorme Ausweitung der liturgischen memoria, die nicht nur am Jahrgedächtnistag, sondern täglich nach der Frühmesse stattfinden sollte.80 Zugleich war auch für die tägliche liturgische memoria für seinen Vater in der Pfarrkirche Notre Dame d’Autun gesorgt.81 Mit den stark besuchten drei großen Messen war die Öffentlichkeit ebenso wie bei Prozession und Gedenken an der Grabstätte in die memoria des Stifters und seiner Familie mit hineingekommen. Dass der Stifter, der ja außer in Autun und Beaune noch weitere Stiftungen vorgenommen hatte, mit diesem gewaltigen Aufwand um sein Seelenheil besorgt war und sich als Sühne leistenden Büßer verstand, kann nicht bezweifelt werden. Aber als solcher präsentierte er sich zugleich der zeitgenössischen Öffentlichkeit und schuf eine seinen Tod überlebende irdische memoria, die alle Züge einer Selbstdarstellung aufwies. Das war gegenüber den davorliegenden mittelalter lichen Jahrhunderten neu. In dieser Hinsicht stellt die Hospitalgründung des Kanzlers in Beaune ein unerreichtes Spitzenbeispiel dar. Wie für das Kollegiatstift Notre Dame d’Autun hat auch hier der stiftende Kanzler über die Baulichkeiten von der übergroßen Spitalkapelle über die Apotheke, Bibliothek, Betten- und Zimmerwahl,82 über die Bestellung der Schwestern und die für sie von der monastischen Regel in Valenciennes zur Funktion der Kranken- und Armenpflege umgewandelte Regel persönlich 78 Beschluss des Kapitels von Saint-Lazare in Autun, der einen Vertrag zwischen dem Kanzler Rolin und dem Kapitel über die Ausführung eines Anniversars zum Inhalt hat. Der Text vom 4.I.1431 (neuen Stils) reproduziert die Bestimmungen eines Vertrages von 1427: Kamp, Memoria (wie Anm. 76) Anhang Nr. 2 S. 324 ff.; Die Statuten des Kanzlers Rolin für das von ihm an der Autuner Kirche Notre-Dame gestiftete Priesterkollegium vom 20. April 1450: Ebd., Anhang Nr. 6b S. 338 – 344. 79 Kamp, Memoria (wie Anm. 76) besonders S. 111 f. 80 Kamp, Memoria (wie Anm. 76) S. 277; Statuten (wie Anm. 78) Artikel 10 ff. S. 340 ff. 81 Statuten (wie Anm. 78) Artikel 10 und 12 S. 340 f. 82 Kamp, Memoria (wie Anm. 76) S. 128 ff.
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bestimmt.83 Priester, Schwestern und die Kranken und Armen sollten für Rolin beten.84 Die rechtliche und wirtschaftliche Basis für die Selbständigkeit des Hôtel-Dieu hat er mit der Meisterschaft seiner juristischen Erfahrung gelegt.85 Opera misericordiae, subsidia caritatis wurden zum Inhalt der Stiftung erklärt.86 Auch im Hôtel-Dieu in Beaune wurde im Rahmen der Messfeier täglich die memoria für Rolin erneuert,87 täglich den Armen vor dem Eingang zum Spital ausgeteilt, in der Fastenzeit das Doppelte,88 während im Spital arme und begüterte Kranke – diese in Zimmern, die Armen im Bettensaal – untergebracht waren und von den ohne soziale Unterschiede ausgewählten Schwestern versorgt wurden.89 Aber nun wieder zurück zu den für das Spätmittelalter charakteristischen, neuen Formen und Inhalten der memoria. Den grandiosen Altar mit Rogiers van der Weyden Weltgericht hatte der Stifter, der seinem herzoglichen Herrn im Anspruch nahe sein wollte, als tägliche Erinnerung für die Spitalgemeinschaft an das bevorstehende Ende des irdischen Lebens verstanden.90 Aber auch in dieses Meisterwerk ging nun irdische Berechnung des Auftraggebers ein. Da ihm Philipp der Gute die Stiftung des Hôtel-Dieu durch Verzicht auf Amortisationsgebühren in gewaltiger Höhe und durch persönliche Unterstützung wesentlich erleichtert hatte, ließ Rolin Rogier van der Weyden dem mit der Königskrone versehenen Heiligen, Ludwig IX., die Gesichtszüge Herzog Philipps des Guten malen, der für den unwissenden Betrachter somit zu königlicher Würde aufstieg.91 Und Nicolas Rolin war es nicht genug, durch sein 83 84 85 86
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Kamp, Memoria (wie Anm. 76) S. 91 ff. Kamp, Memoria (wie Anm. 76) S. 287. Kamp, Memoria (wie Anm. 76) S. 102 ff. Gründungsurkunde des Hôtel-Dieu in : Petit Cartulaire de l’Hostel-Dieu de Beaune. Inventaires, bulles pontificales, lettres patentes des ducs de Bourgogne et des rois de France, hg. von Jean-Baptiste Boudrot (1880) 49 f. ; vgl. Kamp, Memoria (wie Anm. 76) S. 181 f. Kamp, Memoria (wie Anm. 76) S. 288. Petit Cartulaire (wie Anm. 86) S. 50. Kamp, Memoria (wie Anm. 76) S. 138, 183, 308 und 100. Kamp, Memoria (wie Anm. 76) S. 179 ff., 280 f., 288; vgl. auch bei Odile Delenda, Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk (1997) die Farbtafeln 24 f. und die Schwarz-WeissAbbildung des Saales des hl. Ludwig im Hôtel-Dieu S. 94. Die Autorin zitiert nicht die grundlegenden Erörterungen Kamps zur Weltgerichtsdarstellung im Hôtel-Dieu. Vgl. die Farbtafeln in Stephan Kamperdick, Rogier van der Weyden 1399/1400 – 1464 (2007) S. 66 – 71, der weder Kamp noch Delenda zitiert. Kamp, Memoria (wie Anm. 76) S. 49, 173 und besonders 175 mit überzeugenden Argumenten. Anders, herkömmlichen Beschreibungen folgend, Marie-Thérèse Berthier / John-Thomas Sweeney, Le chancellier Rolin 1376 – 1462: ambition, pouvoir et fortune
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Wappen mit den drei Schlüsseln und dasjenige seiner dritten Gemahlin, mit dem Turm, überall im Hôtel-Dieu seine Gegenwart zu bezeichnen.92 Es genügte ihm auch nicht, in die Teppiche die Initialen seines und seiner Gattin Vornamens – N und G (Guigonne de Salins) – miteinander verschlungen weben zu lassen, dazu seine Devise “Seulle”, offensichtlich auf Guigonne de Salins bezogen.93 Vielmehr ließ er sich mit ihr an mehreren Orten – zum Beispiel Glasfenstern –, vor allem aber am Altar des Hôtel-Dieu, auch, wenn dessen Weltgericht zugedeckt und die Rückseite mit der Verkündigung an Maria zu sehen war, allen sichtbar neben seinem Patron, dem hl. Sebastian, und die Darstellung der Guigonne de Salins neben ihrem Patron, Antonius, als bußfertige Beter verewigen.94 Nach lebhafter kunsthistorischer Diskussion darf die Rolin-Madonna Jan van Eycks als Selbstdarstellung des Kanzlers, der vor der Madonna und dem Kind in palastähn lichem Raum vor der flandrischen Landschaft am Betschemel über einem Buch kniet, in seiner prächtigen, standesgemäßen Tracht wahrgenommen werden, die bezeichnend genug, ursprünglich in der Kirche des Chorherrenstifts Notre Dame d’Autun angebracht war.95 Die Selbstdarstellung Rolins an seinen Stiftungsorten hatte seine Vergegenwärtigung in der memoria zum Anliegen. Aber dies darf als eine Reflexion vom Überirdischen zum Irdischen gesehen werden. Zur Hoffnung auf überirdische Heilsgewissheit trat der Wille, sein Andenken über den Tod hinaus gegenwärtig zu halten, wohl auch in Anlehnung an seinen herzoglichen Herrn, klar hervor. Zwar gab es seit der Antike Stiftungen, Stifterbildnisse und -figuren.96 Allbekannt sind die Mosaikdarstellungen von Päpsten in den von ihnen gegründeten stadtrömischen Klöstern,97 und berühmt ist der Stifterfigurenzyklus des 13. Jahrhunderts im Naumburger Dom.98 Aber abgesehen von der für eine Stiftung
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en Bourgogne (1998) S. 272 f. ohne Argumentation, obwohl den Verfassern laut ihrer Bibliographie das Buch Hermann Kamps bekannt war. Kamp, Memoria (wie Anm. 76) S. 230. Kamp, Memoria (wie Anm. 76) S. 231, 255. Kamp, Memoria (wie Anm. 76) S. 65, 148 (Patron Sebastian), 149 f. (Patron Antonius). Grundlegend Kamp, Memoria (wie Anm. 76) S. 154 – 165, Farbtafel nach S. 208. Vgl. Götz Lahusen, Römische Bildnisse. Auftraggeber – Funktionen – Standorte (2010) S. 97 ff. Vgl. Joachim Poeschke, Mosaiken in Italien 300 – 1300 (2009) Abbildungen 9, 10 (dazu aber Hugo Brandenburg, Die frühchristlichen Kirchen Roms vom 4. bis zum 7. Jahrhundert. Der Beginn der abendländischen Kirchenbaukunst [2004] S. 245 mit Abbildungen 151 f.) 14, 18, 19, 70, 71, 76 f. Vgl. die Diskussion bei Willibald Sauerländer / Joachim Wollasch, Stiftergedenken und Stifterfiguren in Naumburg, in: Memoria (wie Anm. 5) S. 354 – 383.
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notwendigen materiellen Grundlage, über die nur ein jeweils überschaubarer Personenkreis verfügte, bahnte sich seit der Zeit der Valois-Herzöge von Burgund, zweifellos von der Renaissance bewegt, die memoria im Bild naturgetreuindividuell dargestellter Personen ihren Weg zur Dominanz der Memorialüberlieferung.99 Und mehr und mehr wurden die Bildnisse, in denen Personen, derer man gedenken sollte, zu Lebzeiten schon für dauernde Vergegenwärtigung dargestellt wurden, gegenüber schon Verstorbenen, die in Anniversarbüchern, auf Epitaphien und Grabmälern oder Glasfenstern von Kirchen wiedergegeben wurden.100 Berühmt wurden die Porträtbildnisse herausragender Persönlichkeiten der Reformation, nicht nur aus der Wittenberger Cranach-Werkstatt.101 Doch unbeschadet der Diskussion, die von Kunsthistorikern über die Begriffe, Memorial-, Votiv- oder Devotionsbild geführt wird,102 ist allen Bildformen gemeinsam, dass sie lebende Personen in einer Art Momentaufnahme festhalten. Sie sind auf das je gegenwärtige Leben der Dargestellten ausgerichtet. Das gilt unabhängig vom Motiv des Seelenheils einzelner Auftraggeber. Der statische Charakter bildlicher Gestaltung in Malerei und Skulptur bleibt erhalten, gleich, ob die Dargestellten in Skulpturen, auf Grabmälern und Epitaphien oder auf Glasfenstern erscheinen. Für die Betrachter, besonders solche späterer Zeiten, kann außer dem Gewöhnungseffekt wegen der je zeitgebundenen Gestaltung Entfremdung gegenüber dem Abgebildeten eintreten. Auch, wenn sich bildliche Darstellungen im Kirchenraum befinden, sind sie, wenn sie nicht bei Jahrgedächtnissen besucht werden, nicht in die liturgische Handlung der Messfeier aufgenommen. Sie sind, selbst auf Familienbildern, auf lebende Personen in ihrer jeweiligen Eigenart festgelegt. Ganz anders in der schriftlichen Memorialüberlieferung, die neben dem Siegeszug der Bilder bis weit in die Neuzeit hineinreicht. Davon zeugt nicht nur das erwähnte Jahrtagsgedächtnis für Barbarossa.103 Als nämlich Europa von einer Klösterlandschaft zu einer Städtelandschaft wurde, sind Formen und Inhalte der im Mönchtum geschaffenen memoria von städtischen Bruderschaften aufgegriffen worden.104 Priester und Priestergemeinschaften wurden beauftragt, in 99 Otto Gerhard Oexle, Memoria und Memorialbild, in: Memoria (wie Anm. 5) S. 385 – 440, besonders zur Begrifflichkeit des „Memorialbildes“. 100 Oexle, Memoria und Memorialbild (wie Anm. 99) S. 410 ff. 101 Oexle, Memoria und Memorialbild (wie Anm. 99) besonders S. 428 ff. 102 Wie Anm. 99. 103 Wie Anm. 75. 104 André Vauchez, Les confréries au moyen-âge: esquisse d‘un bilan historiographique, R evue Historique 275 (1986) S. 467 – 477, besonders S. 471.
Formen und Inhalte mittelalterlicher memoria
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der Messliturgie der in Necrologien und Anniversarverzeichnissen genannten Verstorbenen zu gedenken.105 Lagen Mitgliederlisten von Bruderschaften und Zünften zugrunde, so wurde für summarisches Gedenken der Eingetragenen gesorgt, die mit der Totenliturgie verbundenen sozial-caritativen Leistungen inbegriffen. Dabei wurden für diese Leistungen mittlerweile so geringe Kosten erhoben, dass nicht einmal so selten hunderte, sogar tausende von Totenmessen bestellt wurden.106 Die jährliche Erneuerung des liturgischen Totengedenkens ließ die, derer man gedachte, ohne ihr leibliches Aussehen zu kennen, in der liturgischen Handlung der Messfeier lebendig bleiben und zwar als Glieder der gedenkenden Gemeinschaft. Form und Inhalt der memoria wurden so wieder, wie am Anfang des Mittelalters, eins. Wie vertraut den Menschen dieses Gedenkwesen geworden war, lässt sich auch an zeitgenössischen Gestaltungen des Aberglaubens, etwa dem Totbeten für unliebsame Zeitgenossen durch Totenmessen zu deren Lebzeiten, ablesen.107 Formen und Inhalte mittelalterlicher memoria gingen im Lauf der Neuzeit dort verloren, wo die das Gedenken tragenden Gemeinschaften abgestorben sind.
105 Robert Boutruche, Aux origines d‘une crise nobiliaire: Donations pieuses et pratiques successorales en Bordelais du XIII e au XV e siècle, Annales d‘Histoire Sociale 1 (1939) S. 257 – 273; Otto Gerhard Oexle, Die mittelalterlichen Gilden, ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Strukturen, in: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters (Miscellanea Mediaevalia 12,1, 1979) S. 203 – 226; Jacques Chiffoleau, La comptabilité de l’au-delà. Les hommes, la mort et la religion dans la région d’Avignon à la fin du moyen âge (vers 1320 – vers 1480) (Collection de l‘Ecole Française de Rome 47, 1980); Joachim Wollasch, Hoffnungen der Menschen in der Zeit der Pest, Historisches Jahrbuch 110 (1990) S. 23 – 51. 106 Wollasch, Hoffnungen (wie Anm. 105) S. 38 ff. 107 Klaus Schreiner, Tod- und Mordbeten: Totenmessen für Lebende, in: Das Andere Wahrnehmen. Beiträge zur europäischen Geschichte. August Nitschke zum 65. Geburtstag gewidmet, hg. von Martin Kintzinger / Wolfgang Stürner / Johannes Zahlten (1991) S. 335 – 355; vgl. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter (4. Auflage 2009) S. 382, 403.
Nomina scripta sunt in coelo von Meta Niederkorn-Bruck Erinnerung beruht auf dem Bedürfnis der Menschen, Spuren im Gedächtnis der Nachwelt zu hinterlassen. Je nachdem, in welches kulturelle Umfeld, in welche religiöse Lebensform jemand eingebunden ist, richten sich auch die Intentionen. Dabei ist eine Intention allerdings religions- und epochenübergreifend durchaus von höchster Bedeutung; nämlich die Absicht, dass gute Taten – Handlungen, wodurch sich jemand verdient gemacht hat – in Erinnerung bleiben.1 Für viele Religionen gibt es das Leben nach dem Tod; und hier steht die Bedeutung der Handlungen im Diesseits für das Jenseits im Mittelpunkt. Das Christentum übernahm auch in dieser Hinsicht naturgemäß viele Ideen aus dem Jüdischen, aber auch aus den hellenistisch-römischen Kulten. Die besondere Buchform der Libri memoriales (Verbrüderungsbücher, Libri vitae) wird immer wieder mit dem frühmittelalterlichen Mönchtum verknüpft; sie würde dessen Verständnis von Memoria belegen. Die Libri vitae sind aber, wie Jan Gerchow 2 nochmals ausdrücklich festhielt, keineswegs eine absolute Neuerung, sondern Verschriftlichung einer im Christentum schon lange verankerten Gepflogenheit. In der Verdiensttheologie wird das thematisiert.3 Dabei ist in jedem Fall in Rechnung zu stellen, dass nicht Tertullian und auch nicht Cyprian als Urheber dessen, was in der Forschung als Verdiensttheologie angesehen wird, zu benennen sind; bei beiden ist der Lohn eine Antwort Gottes auf das Wohlverhalten des Menschen; damit aber ist der Grundgedanke, der dem Liber vitae zugrunde liegt, durchaus bereits gegeben.4 Tatsächlich spielt Memoria bereits im Judentum eine wesentliche Rolle; sie wird in der Apokalypse nochmals deutlich: Hier wird der Liber vitae, der beim Jüngsten Gericht verwendet wird, expressis 1
Insgesamt dazu Friedrich Ohly, Bemerkungen eines Philologen zur Memoria, in: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hg. von Karl Schmid / Joachim Wollasch (Münstersche Mittelalterschriften 48, 1984) S. 9 – 68, bes. S. 9 – 11. 2 Jan Gerchow, Die Gedenküberlieferung der Angelsachsen. Mit einem Katalog der Libri vitae (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung, 20, 1988) bes. S. 9 – 11. 3 Rolf Noormann, Ad salutem consulere. Die Paränese Cyprians im Kontext antiken und frühchristlichen Denkens (Göttingen 2009) bes. S. 279 und S. 282: merere und mereri. 4 Noormann, Ad salutem consulere (wie Anm. 3) S. 286 f.
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verbis angesprochen. Insbesondere im Kontext der Salzburger Handschrift wird deren Position im Begriffsfeld, das sich zwischen dem einen Liber vitae und den Libri vitae ergibt (wobei diese jeweils irdische Repräsentanten des himmlischen Liber vitae sind) zu behandeln sein. Denn der Zwiespalt zwischen dem himm lischen Liber vitae, in dem ja alles schon steht – für immer –, und dem irdischen Liber vitae, in den eingetragen wird, liegt den verschiedensten Dimensionen von „Memoria“ zugrunde.5 Das Buch repräsentiert, wo in der Zeit man sich positioniert und welche Hoffnung damit auf die Schnittstelle zwischen Zeit und Ewigkeit gesetzt wird, um nicht eine secunda mors zu erleben, sondern dem ewigen Leben anheimgestellt zu werden.6 Dieses grundlegende Bedürfnis bestätigt u. a. ein Text, der im Jahr 1491 gedruckt wurde: „Tenor fraternitatis de memoria mortis“.7 Hier wird zunächst der Vorteil einer societas, eines Zusammenschlusses zugunsten der Seele, unter Berufung auf das Recht, für weltliche Vorteile Bündnisse zu schließen, angesprochen.8 Dieses Bündnis soll eben alle Mitglieder darin bestärken, sich des Todes im Leben bewusst zu sein und sich durch die gegenseitige Gebetsleistung zu unterstützen: Ad profectum et salutem animarum ipsorum ac omnium aliorum fidelium utriusque sexus necnon omnium successorum eorum tam vivorum quam etiam mortuorum quandam fraternitatem de memoria mortis nuncupatam instituere et per eandem quottidianis orationibus sibi mutuo fraternaliter communicandis malam mortem et precipue subitaneam evadere. Die hier angeführten verschiedenen Bezeichnungen für das Buch, in dem verzeichnet wird, scheinen zunächst verwirrend; von der Anlage der Bücher, die aus dem frühen Mittelalter erhalten sind, und unter die auch der Gegenstand der vorliegenden Studie, der Salzburger Liber vitae, einzureihen ist, ist es allerdings nötig, diese Memorialzeugnisse tatsächlich unterschiedlich zu benennen. Die aus
5 Jes. 49, 16 „Ecce in manibus meis descripsi te“ im Kontrast zu „et vidi mortuos magnos et pusillos / stantes in conspectu throni / et libri aperti sunt / et alius liber apertus est qui est vitae / et iudicati sunt mortui ex his quae scripta erant in libris / secundum opera ipsorum“ (Apk. 20,12). – In diesem Spannungsfeld bewegt sich insbesondere für die Menschen im (frühen) Mittelalter das irdische Leben, zwischen der in die Hand eingezeichneten Vorbestimmung einerseits und der Verantwortung durch das eigene Handeln andererseits. 6 Augustinus, De civitate Dei XIII, 2; siehe auch Jan Bauke-Ruegg, Die Allmacht Gottes: Theologische Erwägungen zwischen Metaphysik, Postmoderne und Poesie (Theologische Bibliothek Töpelmann 96, 1998) S. 422. 7 München, BSB 4 Inc. c. a.860, fol. 2v. 8 München, BSB 4 Inc. c. a.860, fol. 4v.
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der Liturgie in dieser Handschrift als Klammer verwendeten Texte 9 umschließen die Aufzeichnungen im älteren Teil des Buches (pag. 5 bis pag. 28) durch die Wortfelder mereri und Memoria. Insbesondere in diesem Kontext ist es wichtig, das sog. Salzburger „Verbrüderungsbuch“ eher als Liber vitae zu bezeichnen, auch wenn sich in der Literatur – maßgeblich durch den Titel der Faksimileausgabe Forstners 10 beeinflusst – immer wieder die Bezeichnung „Verbrüderungsbuch von St. Peter“ findet. Die neueste Forschung verwendet die Bezeichnung Liber vitae,11 wie dies auch der Intention des Buchs entspricht. Wenn nun ein Buch in seinem Konzept sich in die Weltordnung und damit in den Verlauf des Wirkens Gottes in der Welt schlechthin stellt,12 also in die Abfolge der Stammväter Israels einerseits, die als die Vertreter des Alten Testa mentes genannt werden, in die Reihe der Apostel, der heiligen Märtyrer und Bekenner, beginnend mit Johannes dem Täufer und gefolgt von Maria [!], andererseits, dann lässt es keinen Zweifel an der Intention des Auftraggebers resp. Herstellers. Folgt diesen Listen eine Passage aus dem Formular des Memento, des Lebendengedächtnisses, so ist die Intention noch deutlicher: Es soll an der Schnittstelle zwischen Zeit und Ewigkeit, beim Jüngsten Gericht, die Träger der hier verzeichneten Namen der Fürsprache der genannten Heiligen versichern; genau dies sagt auch der aus der Liturgie gewählte Text: Memorare digneris, Domine, famulos et famulas, quique se nobis sacris orationibus vel confessionibus commendi sunt et qui elymosinis suis se commendaverunt venerabile loca sanctorum, quorum nomina sunt scripta in libro vitae et supra sancto altario sunt posita famulorum famularumque tuarum.13 Diese Passage ist unbedingt im Zusammenhang mit der aus der Totenliturgie stammenden Passage auf pag. 28 zu sehen. Diese ist rein äußer lich mit dem Text auf der Seite 5 zu verbinden: Sie wurde vom selben Schreiber geschrieben und auf dieselbe Höhe im Schriftraum gesetzt: Dignare, Domine, in
9 Meta Niederkorn, Das Sanctorale Salzburgs um 800 (Habilitationsschrift Wien 2000) S. 164 – 182 sowie S. 195 – 210. 10 Karl Forstner, Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg. Vollständige FaksimileAusgabe im Originalformat (Codices selecti 51, 1974). 11 Niederkorn-Bruck, Sanctorale (wie Anm. 9) S. 164; Rosamond McKitterick, History and Memory in the Carolingian World (2004) bes. S. 162 – 164. – Zuletzt auch Markus Gneiß, Kirchenorganisation und Herrschaft im frühmittelalterlichen Bayern des 7. und der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts (Diplomarbeit Wien 2011). 12 Siehe dazu zuletzt zusammenfassend Astrid Krüger, Litanei-Handschriften der Karolingerzeit (Monumenta Germaniae Historica, Hilfsmittel 24, 2007) S. 397. 13 Der Salzburger Liber vitae, pag. 5, ed. Sigismund Herzberg-Fränkel, Monumenta Germaniae Historica, Necrologia Germaniae 2 (1904) S. 6.
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memoriam sempiternam commemorare et refrigerare animabus, quas de hoc saeculo pacifica adsumptione migrare iussisti omnium Christianorum catholicorum, quique confessi defuncti sunt, quorumque nomina scribta sunt in libro Vitae et supra sancto altario sunt posita adscribi iubeas in libro viventium, ut a te, Domine, veniam peccatorum consequi mereantur.14 Salzburg stellt sich ganz sicher mit den Namen einerseits in den Kontext der Liturgie, die ja letztlich nichts anderes bedeutet, als die perpetuierende Erinnerung an den Einsetzungsakt durch Christus, und in die Geschichte andererseits. Sie sind ja auch nicht voneinander zu trennen. Die Namen jedenfalls, die im Liber vitae Salzburgs verzeichnet sind, finden sich auch in theologischem Schrifttum, sobald es um die Beweisführung der „Abfolge der Geschlechter“ geht. Deutlicher als Augustinus es in „De Civitate Dei“ macht, kann es kaum geschehen, wenn er hier zunächst in Buch XI, 16 schreibt: De gradibus et differentiis creaturarum, quas aliter pendit usus utilitatis, aliter ordo rationis. In Buch XI , 22 heißt es: De his, quibus in uniuersitate rerum a bono creatore bene conditarum quaedam displicent, et putant nonnullam malam esse naturam. („Alles in der Welt ist an seinem Platz“). In Buch XV, 10 wird schließlich die Abfolge der Geschlechter beginnend mit Adam, Seth, Henoch (Enos), Methusalem, Lamech und Noah behandelt; es folgen in Buch XV, 12, 15 nach Noah Abraham, Isaak, Jacob, Iuda, und in Buch XVI, 28 Abraham, Isaak, Iacob, Joseph, Moses, Josua, Saul, David, Salomo. Das Modell ist ja allgemein bekannt; es ist chronologisches Gerüst in „Eusebios / Hieronymus“. Eine Orientierung der Salzburger Liste an Hieronymus’ Text im sog. Hieronymus / Pseudo-Isidor „De ortu et obitu“ 15 lässt sich insbesondere aus der Position des Johannes baptista vor Maria ablesen. In Salzburg folgt man natürlich von der Intention her der Litanei. Die Ordnung, wie sie für das Alte Testament, insbesondere aber für die Schnittstelle vom Alten Testament zum Neuen Testament im Ordo Apostolorum Sanctorumque Martyrum et Confessorum eingehalten wird, die Abfolge Johannis baptistae et virginis Mariae, wirkt vielleicht ungewöhnlich, sie findet sich aber, wie oben angeführt, zwar im Pseudo-Isidor, aber auch – und dies ist hier wohl noch ausschlaggebender – in anderen Litaneien, wie der im Gebetbuch für St. Denis.16 Die Reihung aus dem Alten Testament findet sich auch nahezu identisch – und das ist ebenso wenig
14 Der Salzburger Liber vitae, pag. 28, ed. Herzberg-Fränkel (wie Anm. 13) S. 42. 15 Hieronymus, – „Pseudo Isidorus“, De ortu et obitu patriarcharum. Das Werk wurde als das eines „Anonymus“ ediert von José Carracedo Fraga (Corpus Christianorum, Series Latina 108 E, 1996). 16 Krüger, Litanei-Handschriften (wie Anm. 12) S. 97 und Edition S. 127.
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überraschend – in St. Amand.17 Zwar folgt auch hier in der Litanei nach den Propheten direkt Johannes baptista, allerdings wird Maria an dieser Stelle nicht genannt. Sie steht, wie etwa auch in Lorsch und anderswo, direkt nach Christus (ter) zu Beginn der Litanei. In Salzburg folgt man, wie oben gesagt, von der Intention her der Litanei; die Ordnung aus dem Salzburger Liber vitae wird zur Verdeutlichung St. Amand gegenübergestellt: Salzburg
St. Amand Kyrie el (ter) Christe el (ter) Christe, audi nos (ter) Sancta Maria ora pro nobis Sancta Maria Dei genetrix ora Sancta et perpetua Virgo succurre in angustiis constituto Sanctae Michahel Sancte Gabrihel Omnes sancti Angeli orate Omnes sancti Archangeli Sanctae Virtutes Sanctae Potestates Sancti Principatus Sanctae Dominationes Sancti Throni Sancta Cherubim Sancta Seraphim Omnes Patriarchae Omnes sancti Prophetae Omnes sancti Apostoli Omnes sancti Martyres Omnes sancti Confessores Omnes sancti Monachi Omnes sancti Heremite Omnes sancti Anachorite Omnes sanctae Virgines Omnes sanctae Viduae
17 Stockholm, Königliche Bibliothek A 136, fol. 197r-199v; siehe zur Handschrift die Angaben bei Krüger, Litanei-Handschriften (wie Anm. 11) S. 376 f. – Die Litanei ist ediert ebd. S. 632 – 638.
64 Salzburg Abel Seth Enoch Noe Melchisedech Abraham Isaac Iacob Ioseph Iob Moyses
Iesus Samuhel David Helias Heliseus Esaias Hieremias Ezechiel David Esdras Oseae Iohel 18 Amos Abdias Ionas Micheas Naum Abacuc Suffonias Aggeus Zacharias
Meta Niederkorn-Bruck St. Amand Omnes sanctae Continentes Sancte Abel Sancte Seth Sancte Enoch Sancte Noe Sancte Melchisedech Sancte Abraham Sancte Isaac Sancte Iacob Sancte Ioseph ------ (erst nach Samson!) Sancte Moyses Sancte Aaron Sancte Iosue Sancte Gedeon Sancte Samson Sancte Iob Sancte Tobias Omnes sancti Patriarchae -----Sancte Samuhel Sancte David Sancte Helias Sancte Helisee Sancte Esaias Sancte Hieremias Sancte Hiezechihel Sancte Danihel ----------Sancte Osee Sancte Iohel 19 Sancte Amos Sancte Abdias Sancte Ionas Sancte Micheas Sancte Naum Sancte Abbacuc [!] Sancte Sophonias Sancte Aggee Sancte Zacharias
Nomina scripta sunt in coelo Salzburg Malachias Ananias Zacharias Misahel Machaborum Johannes bapt. Et virginis Mariae Petri Pauli
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St. Amand Sancte Malachias --------------------Omnes sancti Prophetae Sancte Iohannes bapt. -----Sancte Petre Sancte Paule
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Auffällig ist, dass in Salzburg weder zu den Angerufenen des Alten noch zu jenen des Neuen Testaments Epitheta wie Sancti resp. Sancte gesetzt wurden, wie es einer Litanei entsprechen würde. Noch auffälliger ist, dass die Namen aus dem Neuen Testament im Genitiv, nicht im Vokativ, verzeichnet sind, eine nachfolgende Bitte um Gebet sich also damit nicht verbinden lässt, wenngleich der Kontext zweifellos besteht. Dieser Namenbestand verrät aber die Kenntnis insularer Liturgie, insbesondere des Martyrologs von Tallaght,20 wie auch andererseits 21 aus der Reihung der Namen an der Schnittstelle zwischen dem Alten und dem Neuen Testament die Beeinflussung durch die Kenntnis der griechischen Litaneien sichtbar wird. Diese sind allgemein in den liturgischen Handschriften überliefert. Die Letania graeca, wie sie etwa aus derselben Zeit in St. Gallen überliefert ist,22 reiht Maria, Michael, Gabriel, Raphael, Iohannes, Petre, … . Immerhin aber wurde hier Maria doch an erster Stelle genannt. Der Lorscher Rotulus ordnet Christe, audi nos, gefolgt von Michael, Gabriel, Raphael, Maria, Johannes.23 Eine Litanei aus dem beginnenden
18 Ioel wurde im beginnenden 9. Jahrhundert durch ein h, das schräg über das o gesetzt wurde, zu Iohel korrigiert 19 Vgl. Anm. 18. 20 Siehe dazu auch Niederkorn, Das Sanctorale (wie Anm. 9) S. 64 – 67. – Padraig Ó Riain, The Martyrology of Óengus: The Transmission of the Text, Studia Hibernica 31 (2000/2001) S. 221 – 242. 21 Siehe dazu auch Krüger, Litanei-Handschriften (wie Anm. 12) S. 122 mit Hinweis auf Borst. 22 St. Gallen, Stiftsbibliothek Cod. Sang. 17/1, pag. 336. 23 Zitiert nach Faksimile: Der Lorscher Rotulus. Vollständige Faksimile-Ausgabe der Handschrift Ms. Barth. 179 der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Codices Selecti 99, 2004).
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9. Jahrhundert aus St. Gallen 24 reiht hierarchisch, ohne chronologische Ordnung: Kyrie, eleison, Christe eleison. Christe, audi nos, Christe, miserere nobis. Presta mihi primum, tu te bene rogem. Deinde ut me dignum facias exaudiri. Deinde, ut exaudias. Sancta Maria ora pro nobis. Sancta Maria intercede pro me peccatore. Sancta Maria adiuva me in die exitus mei. Sancte Michael, ora; Sancte Gabriel, ora …; sancte Raphael, ora …; omnes sancti Angeli orate pro nobis; … Archangeli …; Patriarche …; Prophete …; Iohannes. Der ordo wird hier also allein durch die himmlische Hierarchie, nicht durch die Zeit bestimmt. Überdies vermittelt diese Litanei die Einbettung in die Liturgie durch die Einfügung der Texte in die Namenreihe besonders markant. Die oben angesprochene identische Reihe aus St. Denis ist jünger als jene in Salzburg; dennoch müssen wir in Rechnung stellen, dass hier nicht Salzburgs Wirkung auf St. Denis allein, die durch Erzbischof Arn gegeben ist, den Ausschlag gibt, sondern dass die Textverwandtschaft aus grundsätz licher Einhaltung einer Ordnung in der Abfolge der Namen in Litaneien in dem gemeinsamen Ursprung bzw. Verwendungszweck der Texte begründet liegt. Das Stowe Missale, dessen Entstehung in der Zeit zwischen 792 und 812 durch George F. Warner bereits überzeugend eingegrenzt werden konnte,25 spiegelt die Liturgie, in der die Litanei in Verbindung mit Messformularen den Priester auf die Messe vorbereiten soll. Es geht um die Intention, die das Folgende bestimmt. Der Salzburger Liber vitae steht zweifellos in diesem „Umfeld“; Tallaght als Zentrum der Reformbewegung Céli Dé (Oengus Culdeer) sollte in seiner Wirksamkeit auf Salzburg durchaus in Rechnung gestellt werden und dies umso mehr, als hier die Verbindung zum irischen Raum ja mehrfach offenkundig ist, so auch durch die Reihe der irischen Äbte auf pag. 20. In der Litanei des Liber Precum 26 finden sich davon Fursee, Patrici, Columbe, Congalle, Admonane und Cherane.27
24 München, Bayerische Staatsbibliothek, Fragment: clm 29315(3/1. 25 George F. Warren, The Stowe Missal. MS. D.II 3 in the Library of the Royal Irish Academy Dublin 1: Facsimile (Henry Bradshaw Society 31, 1906). Siehe auch: The Stowe St. John (Henry Bradshaw Society 32, 1915). – Westley Follett, Céli Dé in Ireland: Monastic Writing and Identity in the Early Middle Ages (2006) S. 129 f. 26 Orléans, Ms. 184. – Chartae Latinae Antiquiores VI Nr. 803; Bernhard Bischoff, Die südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken in der Karolingerzeit 2: Die vorwiegend österreichischen Diözesen (Wiesbaden 1980) S. 36. 27 Maurice Coens, Les litanies bavaroises du „libellus precum“ dit de Fleury (Orléans, ms. 184), Analecta Bollandiana 77 (1959) S. 373 – 392, hier S. 380. Vgl. auch Rosamond McKitterick, History and Memory in Early Medieval Bavaria, in: dies., History and Memory (wie Anm. 10) S. 174 – 185, hier S. 174 – 178; zur Liste vgl. bes. S. 177 f.
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Kennmarken der Salzburger Liturgie bestätigen insgesamt die ausdrück liche Nähe der Liturgie zum insularen Raum;28 der Textbestand aus dem Félire Oengusso 29 bestimmt das älteste Salzburger Historische Martyrolog, das der ältesten Textform des Martyrologs des Beda venerabilis nahezu entspricht.30 Der im Vergleich mit gleichzeitig an anderen Orten entstandenen martyrologischen Texten markante Namenbereich der Propheten und Patriarchen im Salzburger Historischen Martyrolog bestätigt dieses Bild der Salzburger Liturgie, insbesondere das Sanctorale im Vergleich zum Martyrologium Hieronymianum aus Echternach. Dies gilt sowohl für das Salzburger Historische Martyrolog aus der späten Arn-Zeit wie auch für das Martyrologium abbreviatum Salisburgense I, das sog. ältere Historische Martyrolog Salzburgs. Beide verzeichnen eine Gruppe, die in der Überlieferung des Martyrologium Hieronymianum in Echternach 31 beinahe vollständig ausfällt. Es handelt sich um die Propheten Simeon (5.1.), Abdias (31.3.), Ezechiel (10.4.), Helisaei (14.6.), Esaias (16.6.), Aaron presb. (1.7.), Esaias (6.7.)32, Samuhel (19.8.), Heliseus (29.8.), Johannes bapt. (29.8., decollatio) und Zacharias (6.9.); unter dem Titel Patriarch werden keine Namen vergeben. Lediglich Abacuc zum 15.1. und Zacharias zum 10.6. wurden auch im Martyrologium Hieronymianum der Echternacher Überlieferung 33 verzeichnet. Zwischen dem älteren und dem jüngeren Salzburger Historischen Martyrolog besteht nur in der Verzeichnung des Ieremias ein Unterschied, dieser wurde im älteren Corpus nicht genannt. Aus dem Neuen Testament werden zunächst Johannes der Täufer und die Gottesmutter Maria, anschließend die Apostel Petrus, Paulus, Andreas, Iacobus, 28 Niederkorn, Das Sanctorale (wie Anm. 9) S. 260 – 270. 29 Niederkorn, Das Sanctorale (wie Anm. 9) S. 172 f. 30 Meta Niederkorn-Bruck, Das Salzburger historische Martyrolog aus der Arn-Zeit und seine Bedeutung für die Textgeschichte des „Martyrologium Bedae“, in: Erzbischof Arn von Salzburg, hg. von Meta Niederkorn-Bruck / Anton Scharer (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 40, 2004) S. 155 – 171. 31 Paris, Bibliothèque Nationale, MS. Fonds lat. 10837. – Vergleich anhand des Manuskriptes durchgeführt. – Edition: Martyrologium Hieronymianum, hg. von Giovanni Battista de Rossi / Louis Duchesne, in: Acta Sanctorum, November 2, 1 (1894); Hippolyte Delehaye, Commentarius perpetuus in Martyrologium Hieronymianum, in: Acta Sanctorum, November 2, 2 (1931). 32 In den beiden Überlieferungen des älteren Salzburger Historischen Martyrologs (Martyrologium abbreviatum Salisburgense 1: Wien, Österreichische Nationalbibliothek Cvp 387; Martyrologium abbreviatum Salisburgense 2: München, Bayerische Staatsbibliothek Clm 10) wurde er nicht verzeichnet. 33 Paris, Bibliothèque Nationale, MS. Fonds lat. 10837.
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Iohannes, Thomas, Iacobus, Philippus, Bartholomaeus, Mathaeus, Simon, athaeus, Marcus, Lucas und daran anschließend Stephanus, Sixtus, Silvester, T Clemens, Laurentius, Hippolyt, Eulus (wohl verschrieben für Euplus), Ignatius (20.12.) ,34 Policarpus, Quadratus, Iustinus, Genesius, Cyprianus, Vincentius, Fructuosus, Eogorius, Egbotus, Emitaera, Celetetonus und Gregorius verzeichnet. Eulis, Egbotus, Celetetonus und Emitaera sind in ihrer Herkunft noch zu klären; und dies umso vordringlicher, als sie an einer so prominenten Stelle genannt werden, wo ein Schreiber sicherlich keine zufällig ihm bekannten Namen ohne nähere Beziehung zu diesen eingetragen hätte. Eine Verschreibung von Eogorius für Eugarius wäre denkbar; ebenso jene von Emitaera und Celetetonus anstelle von „Haemitaera et Celetonius“.35 Vielleicht auch von Euplus zu Eulus? Die Varianten Euplus/Eulus sind zwar auch im Salzburger Sanctorale – etwa im Capitulare evangeliorum – durchaus, sogar als Kennmarke hinsichtlich der Einordnung des Textes, belegt, allerdings fällt hier die Vorstellung einer Verschreibung infolge eines Hör- oder Lesefehlers schwerer als bei den zuvor genannten Beispielen. Der Irrtum in der Schreibweise Eulis, wie wir sie auf pag. 5 finden, erklärt sich eher daraus, dass der Schreiber das in der Vorlage stehende Eulus (für Euplus) mit einem nexus litterarum zwischen u und s vor sich liegen hatte und in der Eile diesen nexus, bei dem das s gleichzeitig den rechten Bogen des u bildete, missverstand. Mit dem hinter dem Namen stehenden Heiligen verband er aber offenbar gar nichts. Der unmittelbar nach dem Namen des Gregorius eingetragene Ruodauus wurde von einer anderen Hand sehr viel später in diese Reihe gestellt, in welche er nicht wirklich hineinpasst. Schon seit den Studien Dom Henri Quentins ist der Salzburger Text als ein sehr wichtiger und auch sehr früher Vertreter der Ableitungen des Martyrologium Bedae bekannt. Beda ist weitaus umfangreicher, und zwar nicht nur in den narrativen Passagen, sondern auch vom Namenbestand insgesamt her gesehen. Das Martyrolog Bedas ist in seiner frühesten Überlieferung auch in zwei sehr wichtigen Textfragmenten erhalten 36 und damit keineswegs so stark fragmentiert, wie man lange aufgrund der Untersuchungen Quentins über die historischen Martyrologien in der Forschung meinte: Danach wäre dieses nämlich nur für den Zeitraum vom 1. Jänner bis zum 28. Juli in einer Niederschrift, die im Codex
34 Whitley Stokes, Félire Oengusso céli dé: The Martyrology of Oengus the Culdee (HBS 29, 2009), S. CLXXVI. 35 Im Martyrologium Hieronymianum zum 3.3. eingetragen. 36 Dom Henri Quentin, Les Martyrologes historiques du Moyen Âge (1908) S. 48 – 53.
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Sangallensis 451 vorliegt, überliefert.37 Ein zweites Fragment, das für den Salzburger Text freilich nicht von so hoher Bedeutung ist wie jenes aus St. Gallen, liegt aus dem fränkischen Raum vor. Im Zusammenhang mit der Textüberlieferung sind allerdings einige Fragen zu stellen, die einer Klärung zugeführt werden sollten, bevor man sich auf eine Chronologie zwischen dem Beda-Text aus St. Gallen, dem Beda-Text aus Paris 38 und dem historischen Martyrolog aus Salzburg einlässt. Der Text des Martyrologs Bedas wurde in der „Edition“ von Jacques Dubois und Geneviève Renaud geboten, allerdings ohne Quellenvergleich. Arno Borst hält daher, die bisherigen Forschungsergebnisse zusammenfassend, fest, dass eine kritische Edition des Martyrologs Bedas nach wie vor fehlt.39 Die Verknüpfung von Namenreihen in der Liturgie mit der Identität ist nicht zu diskutieren, dies geschieht umfangreich in vielen Kontexten.40 Die Personen aus dem Alten Bund sind jene, die man, ob man nun die Chronik des Eusebios / Hieronymus oder Augustinus’ „De civitate Dei“ liest, für die korrekte Ableitung der Geschlechter als Eckpunkte kennt. Die Salzburger Reihe nennt etwa nach Moses Iesus,41 der auch bei Eusebios / Hieronymus an dieser Stelle genannt wird: Iesus successor Moysi terram Palaestinorum Iudee genti forte distribuit.42 Hier tritt die Kenntnis aus der Historiographie neben die Liturgie; es geht darum, aus dem Wissen vom Wirken Gottes in der Welt und der Abfolge der Geschlechter den Ordo zu kennen und in dieser Abfolge letztlich die eigene Geschichte zu verankern. In diesem Kontext ist besonders darauf hinzuweisen, dass in Litaneien üblicherweise Iesus (filius Sirach) nicht genannt wird. Dennoch ist auch die Verbindung dieses hier genannten Ordo zu Litaneien in jeder Hinsicht, ausgehend von der Intention des Buches, durchaus berechtigt und sinnvoll. Der Vergleich mit Sakramentaren, insbesondere mit den Formularen zum Officium der Visitatio Infirmorum und der Agenda mortuorum, stellt die Verbindung
37 Zum Codex vgl. die Angaben bei Albert Bruckner, Schreibschulen der Diözese Konstanz: St. Gallen 2 (Scriptoria medii aevi Helvetica III/2, 1938) S. 105. Das Martyrolog findet sich auf den Seiten 5 – 50. 38 Biblioteca Apostolica Vaticana, Ottobon. lat. 313, fol. 1r-3v. 39 Vgl. Jacques Dubois / Geneviève Renaud, Édition pratique des martyrologes de Bède, de l›anonyme lyonnais et de Florus (1976) S. 1 – 228. – Vgl. Arno Borst, Die karolingische Kalenderreform (1998) S. 206 f. Anm. 45. 40 Jean Chelini, Le calendrier chrétien: cadre de notre identité culturelle (Paris 2007). 41 Ecclesiasticus – Liber Iesu filii Sirach. Biblia Sacra Vulgata (31983) S. 1029 – 1095. – Janet Nelson, Literacy in Carolingian Government, in: The Uses of Literacy in Early Medieval Europe, hg. von Rosamond McKitterick (1996) S. 258 – 296, bes. S. 294 – 296. 42 Eusebios / Hieronymus, Chronicon [Druck Venedig 1483] fol. 30v.
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jedenfalls völlig außer Frage. Der Vergleich mit den Martyrologien, in welchen Liturgie und Geschichte aus sich heraus verknüpft sind, macht noch deutlicher, in welchem Kontext das Buch zu sehen ist, und zwar nicht nur hinsichtlich der ersten Seite, sondern im Gesamtkonzept der ersten Anlage. Das Buch stellt sich hier mit der Reihe der Propheten und Patriarchen in die „Tradition“ des historischen Textes in ebenso hohem Maße und damit an die Schnittstelle zwischen Zeit und Ewigkeit. Beim Jüngsten Gericht soll es ja in letzter Konsequenz seinen Sinn erfüllen – indem die darin verzeichneten Namen für die Seelen zum Tragen kommen. Das Buch ordnet sich einerseits der Ordnung schlechthin unter; es spiegelt andererseits in sich die Ordnung der Welt. Dies trifft für das Buch als Ganzes zu; die Kriterien blieben, solange man das Buch führte, verwendete, nützte, grundsätzlich gleich. Besonders deutlich ist die Ordnung in jenen Abschnitten, die jeweils anlässlich der „Anlage“ – also Teil I im Grundstock (heute) pag. 5 – 28; Teil II (heute) pag. 29- 35; Teil III (Erweiterung von Teil II) pag. 36 – 38 – die neue Konzeption zeigen und dennoch die Tradition beibehalten. Das Gebetsgedächtnis steht im Kontext der liturgischen Memoria, die sinnvollerweise in Texte aus der Totenliturgie eingebettet wird, die in dieser Zeit ihren Ort in den Sakramentaren erst findet. Die Salzburger Texte stehen dem Gregorianum näher als dem Gelasianum, was der Ausrichtung auf die römische Liturgie auch in anderen liturgischen Texten hier entspricht. So wie auf der S ynode von Dingolfing – die nach Ay 43 eher in die Jahre 769/770, nach Joachim Jahn 44 in die Zeit 776/777 zu setzen ist – die bayerischen Bischöfe und Äbte in Anlehnung an die Usancen im Gebetsbund von Attigny ein Totengedächtnis füreinander vereinbarten,45 nahm man im Verbrüderungsbuch primär die Aufgabe wahr, durch die Verzeichnung der Namen aller, die in die Gebetsverbrüderung aufgenommen wurden, auch für deren Memoria zu sorgen. Die Seiten 6 – 27 des Salzburger Liber vitae weisen eine in sich geschlossene Form auf und ordnen die Männer und Frauen dem ihnen jeweils zustehenden „Ort“ zu, wobei allerdings die Intention des Anlageschreibers nicht immer 43 Karl Ludwig Ay, Dokumente Altbayerns I/1 (1974) Nr. 63. 44 Vgl. zur neueren Datierung der Synode Joachim Jahn, Ducatus Baiuariorum. Das bairische Herzogtum der Agilolfinger (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 35, 1991) S. 512 . 45 Vgl. Karl Schmid/Joachim Wollasch, Die Gemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen in Zeugnissen des Mittelalters, Frühmittelalterliche Studien 1 (1967) S. 365 – 405, hier S. 371 f. ; Friedrich Herrmann, Confraternitas Sanpetrensis. Die Geschichte der Gebetsverbrüderungen in St. Peter zu Salzburg, Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 79 (1968) S. 26 – 52, hier bes. S. 29.
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beibehalten wird. Im Grunde aber sind auch die Nachträge den hier skizzierten Grundordnungseinheiten zugeordnet. Diese kodikologischen Grundordnungseinheiten lassen in ihrer „Form“ und in ihrem inhaltlichen Aufbau die Gesellschaftsordnung zunächst klar erkennen, die dem Verzeichnis zugrunde gelegt ist – wie dies auch zu erwarten ist. Sowohl Herzberg-Fränkel 46 als auch Friedrich Herrmann 47 und schließlich Forstner 48 haben diese Struktur behandelt. Allerdings ist zu beobachten, dass diese vorgegebene Struktur, so klar sie jeweils in der Anlage, also im Verbrüderungsbuch des ausgehenden 8. Jahrhunderts und dem des beginnenden 11. Jahrhunderts, gemeint ist, aus verschiedenen Gründen jeweils sehr rasch nach der Anlage „aufgebrochen“ wird. Um dies zu verdeutlichen, sollen hier zunächst die beiden Anlage-Strukturen nochmals kurz genannt und mit dem ihnen in der Handschrift zugewiesenen „Ort“ verknüpft werden. Daraus wird die klare Grundordnung schließlich noch evidenter. Die „Gesellschaft“ wird in Klassen eingeteilt; und darin nehmen die Heiligen aus dem Alten und dem Neuen Testament naturgemäß die erste Position ein. Aus dem Ort, an dem diese Namen eingetragen sind,49 ist ihre Funktion ersichtlich. Sie gehen dem Gebet voraus, das man ebenfalls auf dieser Seite, im unteren Drittel, eingetragen hat; das Gebet ist an sie gerichtet. So nimmt man dies heute wahr. Allerdings sind hier doch zumindest hinsichtlich der Zeit der Niederschrift verschiedene Überlegungen festzuhalten. Die Seite 5 weist viele Gebrauchsspuren auf, sie war ja auch zunächst Seite 1 des Konvolutes bzw. Diptychons. Diese Seite wurde zusätzlich mit zahlreichen Nachträgen mit Tinte, aber auch mit Nameneinritzungen geradezu übersät. Ganz offensichtlich war dabei der unbedingte Wunsch ausschlaggebend, auch wenn das Buch nur auf dem Altar lag, im Blickfeld des Messe lesenden Geistlichen zu sein, da dies der Intention des Buches (quorum nomina sunt scripta in libro vitae et supra altario sunt posita)50 entspricht. Dass man trotzdem Namen immer wieder nicht nur memorierend (still) liest, sondern sogar im Rahmen der Liturgie laut ausspricht, drückt keineswegs Misstrauen dem Grundgedanken gegenüber aus, dass die Anwesenheit des Buches am Altar bereits die Namen vergegenwärtigt, sondern ist vielmehr Ausdruck der
46 Sigismund Herzberg-Fränkel, Über das älteste Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg, Neues Archiv 12 (1887) S. 55 – 107, hier bes. S. 58 – 72. 47 Hermann, Confraternitas (wie Anm. 45). 48 Forstner, Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 10) S. 30. 49 Der Salzburger Liber vitae, pag. 5. 50 Der Salzburger Liber vitae, pag. 5.
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tatsächlich mit einem bestimmten Tag verbundenen Memoria.51 Diese Nachträge, die zu verschiedenen Zeiten, überdies von höchst unterschiedlich geübten Händen ohne Rücksicht auf das ursprüngliche Layout, frei über die Seite verteilt, eingetragen wurden, stören die Ordnung natürlich empfindlich. Schon diese Namen des ersten Ordo zeigen die klare Abbildung der zugrunde liegenden Struktur, die ihrerseits aber doch, vor allem eingedenk der strukturellen Überlegungen, die der Anlage der Handschrift wohl vorausgegangen sind, in verschiedenen Details überrascht. Den Namen der Heiligen sind von den Überschriften, die in Maiuskel und mit roter Tinte geschrieben sind, jeweils drei der vorbereiteten sechs Spalten der Seite zugeordnet. Schon bei der Niederschrift der Namen der Patriarchen und Propheten ist die klare Struktur durchbrochen: Es wurden in der ersten Spalte 16 Namen, in der zweiten Spalte 17 Namen und in der dritten Spalte 4 Namen eingetragen. Überdies hat der Schreiber beim Namen des Iohel zunächst das h ausgelassen. Wurden die Namen vielleicht sogar diktiert? Die Frage, ob nach Diktat oder nach Vorlage abgeschrieben wurde, ist allerdings hier nicht so wichtig wie die Tatsache, dass man für eine erste Seite einer Handschrift, die so klar strukturiert wurde, schon bei dieser Reihe, die aus einem abgeschlossenen Kanon von Namen besteht – denn immerhin handelt es sich um Personen aus dem Alten Testament – offenbar nicht plante. Dasselbe Bild drängt sich auch auf, wenn man sich den drei Spalten zuwendet, die für den Ordo apostolorum sanctorumque Martyrum et Confessorum vorgesehen sind. Ganz abgesehen davon, dass das Stilbewußtsein des Schreibers, der die Namen Iohannes baptista et virginis Mariae ohne Leerzeile nach der Überschrift einträgt, nicht sehr groß ist, stört er dadurch auch die Ruhe des Schriftblockes. Denn immerhin steht der Name des Johannes damit eine Zeile über dem jeweiligen Beginn der drei Spalten mit den Namen aus dem Alten Testament. Zusätzlich fällt ganz besonders ins Auge, dass man auch hier, obwohl man den Schriftraum keineswegs auch nur annähernd ausfüllte, dennoch bei der Eintragung der Namen eine einheitliche Spaltenlänge nicht anstrebte. Die erste Spalte umfasst hier einschließlich der Eintragung der Namen des Johannes und der Jungfrau Maria, die über beide Spalten geschrieben sind, 20 Zeilen, die zweite Spalte, ebenfalls einschließlich des Johannes und der Maria, zunächst 18 Zeilen. Der letzte Name der Spalte, Ruodavus, wurde später eingetragen. Markanter kann
51 Nicht zuletzt deshalb werden im jüngeren Teil des Liber vitae manchen Traditionsnotizen Tagesdaten hinzugefügt: Der Salzburger Liber vitae, pag.43. – Das kalendarisch geordnete Nekrolog löst schließlich die Libri memoriales sehr oft ab, um die Verortung des Gedächtnisses im Jahreskreis zu sichern.
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man das Aufbrechen der ursprünglichen Pläne kaum zeigen als in der Tatsache, dass an die Heiligen der Name Ruodavus nahtlos angefügt wurde. Insgesamt wirkt dieser erste Ordo in sich zwar schlüssig und in seiner Position innerhalb des Codex auch sinnvoll niedergeschrieben, er scheint aber nicht von Anfang an hier geplant gewesen zu sein, da man in diesem Fall das Layout der Seite wohl doch genauer überlegt hätte. Hat man diese Namen vielleicht sogar als Reaktion auf eine der Salzburger Synoden aufgeschrieben, auf welchen man die Litaneien insbesondere im Kontext der Laudes Regiae thematisierte?52 Welcher Stellenwert der Memoria und daraus resultierend der Damnatio Memoriae zukommt, kann man am Psalter von Montpellier beobachten, der ursprünglich aus Mondsee stammt und heute in Frankreich verwahrt wird.53 Diese Handschrift ist in enger Verbindung mit den Agilolfingern und deren Sturz zu sehen, was durch die Verstümmelung, die man nach Tassilos Sturz und wohl anlässlich des Transportes der Handschrift ins Zentralfränkische vorgenommen hat, zusätz lich zu belegen ist. Damals, nach 788, wurden alle jene Teile der Handschrift, die an Tassilo oder seine Familie erinnerten, im Sinne der Damnatio Memoriae getilgt. Ersetzt wurden diese fehlenden Teile höchstwahrscheinlich in Soissons 54 schließlich durch Cantica, Laudes und eine Litanei. Diese Litanei, aber auch die Laudes stellen die Handschrift nunmehr in Königsnähe. Es werden Karl, P ippin, 55 Karl und Ludwig sowie die Königin Fastrada (†794) genannt, wodurch die Einordnung der Erweiterung, die nach Bischoff 56 in St. Amand, zumindest aber im St. Amand-Stil vorgenommen worden ist, in die Zeit vor 794 möglich wird. Im Liber Vitae sind anschließend an die Litanei fünf Zeilen freigelassen; erst dann wurde ein Formular aus der Totenliturgie eingetragen. Diese Passage befindet sich auf derselben Höhe im Schriftraum der Seite wie die ebenfalls aus dem Formular der Totenliturgie stammende Passage von Blatt 28, die überdies von derselben Hand geschrieben wurde. Insbesondere die Einheitlichkeit der Schrift dieser zwei Passagen aus der Liturgie verdeutlicht, dass die Namen der Patriarchen und der Heiligen zumindest mit zeitlichem Abstand dazu eingetragen wurden. Die 52 Krüger, Litanei-Handschriften (wie Anm. 12) S. 20 – 22.; Nelson, Literacy (wie Anm. 41) S. 294. 53 Montpellier, Bibliothèque Interuniversitaire de Montpellier, section Médicine, MS 409. – Zur Handschrift vgl. zusammenfassend Katharina Bierbrauer, Psalter, in: 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit: Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn (1999) Nr. XI.18, S. 805 – 808. 54 Bierbrauer, Psalter (wie Anm. 53) S. 807. 55 Coens, Les litanies bavaroises (wie Anm. 27) S. 387. 56 Bischoff, Die südostdeutschen Schreibschulen 2 (wie Anm. 26) S. 18.
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Schrift der Namen ist eindeutig zierlicher, gleichzeitig aber weniger regelmäßig. Nun könnte man gerade hinsichtlich der größeren Sorgfalt für den liturgischen Text ins Treffen führen, dass man sich dafür immer mehr anzustrengen versuchte; allerdings ist der zeitlich konnotierte Neuansatz insgesamt doch zu deutlich. Vor allem um die Liturgie, die sich – unterstützt durch die Fürbitte der Heiligen – an Gott richtet, sind, wie oben schon angedeutet, verschiedene Namen, die zu unterschiedlichen Zeiten in völlig ungeordneter Form um den Text herum angeordnet sind, eingetragen. Vom Konzept des Teils I her ist hier umzublättern; ein neuer Ordo – eine neue Welt – beginnt: Man schreitet vom Himmlischen – mit dem Himmel verbindende Texte haben ihren für sie zunächst im Konzept reservierten Platz – ins Irdische. Auf der folgenden Seite, der linken Seite des Doppelblattes, beginnt der Irdische Teil auf Seite 2 innerhalb der Lage, einer Verso-Seite, mit dem Ordo der Lebenden, angeführt vom Ordo episcoporum vel abbatum vivorum in der ersten Spalte und dem Ordo Monachorum vivorum in Spalte zwei bis fünf. Dass der Schriftraum ursprünglich für fünf bzw. sechs Spalten eingerichtet wurde, ist auf mehreren Seiten aufgrund der Überschriften und der Eintragungen der ersten Namen durch die offenbar zu Beginn arbeitenden ersten Hände nachvollziehbar. Besonders gut ist aus der Handschrift das Konzept der Ordines, die Ordnung der Gesellschaft und damit der Welt nachvollziehbar; die anschließende Skizze zeigt, an welcher Stelle jeder Ordo seinen Platz fand und wie viel Schriftraum jedem Ordo zuerkannt wurde, wodurch der Rang eines jeden Ordo einerseits, aber auch die Exklusivität andererseits auf einen Blick sichtbar wird. Reges vivi (Pag. 10, Spalte 1 – 2, obere Hälfte) und Duces vivi (Pag. 10, Spalte 3 – 4, obere Hälfte), aber auch Reges defuncti (Pag. 20, Spalte 1 – 2, obere Hälfte), Duces defuncti (Pag. 20, Spalte 1 – 2, untere Hälfte) sind jeweils auf ausnehmend kleinem Raum untergebracht. Karl der Große hatte ohne Zweifel lebhaftes Interesse daran, im Rahmen der Liturgie genannt zu werden; Verzeichnung bestätigt den Kontakt, kennzeichnet aber auch Abhängigkeiten.57 813 legte man auf der Synode von Arles fest, dass für den König und seine Familie in den Kirchen Litaneien gesungen werden sollten.58
57 Nelson, Literacy (wie Anm. 41) bes. S. 295 f. „The ruler wanted name-lists, signifying his power over those named …“. 58 Monumenta Germaniae Historica, Concilia 2,1, hg. von Albert Werminghoff (1906) S. 250. – Siehe auch Krüger, Litanei-Handschriften (wie Anm. 12) S. 21.
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Pag. 5 ORDO PATRIARCHUM SEU PROPHETARUM Testamenti Veteris / Ordo apostolorum sanctorumque martyrum et confessorum / Memorare … Pag.6 ORDO EPISCOPORUM VEL
Pag. 7 ITEM UNDE SUPRA
/ ORDO MONACHORUM VIVORUM // ABBATUM VIVORUM Pag. 8 Item ubi supra
Pag. 9 Item de eodem /
Item ORDO PULSANTIUM VIVORUM Pag. 10 ORDO REGUM VIVORUM CUM CONIUGIBUS ET LIBERIS
Pag. 11 ORDO SANCTIMONIALIUM VIVARUM /
/ ORDO DUCUM CUM CONIUGIBUS ET LIBERIS /
ORDO COMMUNIS VIRORUM VIVORUM RELIGIOSORUM
ORDO SACERDOTUM VIVORUM VEL DIACONORUM SEU CLERICORUM /// Pag. 12 Item unde supra /
Pag. 13 item unde supra
Pag. 14 ORDO EPISCOPORUM VEL ABBATUM DEFUNCTORUM /
Pag. 15 ORDO MONACHORUM DEFUNCTORUM /
ITEM UNDE SUPRA Pag. 16 Reliquien /
Pag. 17 Reliquien
Pag. 18 ITEM UNDE SUPRA /
Pag. 19 ORDO PULSANTIUM DEFUNCTORUM SEU RELIGIOSORUM VIRORUM
Pag. 20 ORDO REGUM DEFUNCTORUM CUM
Pag. 21 ORDO SACERDOTUM VEL DIACONUM DEFUNCTORUM
CONIUGIBUS ET LIBERIS /
SEU CLERICORUM / ORDO SANCTIMONIALIUM DEFUNCTORUM
ORDO DUCUM DEFUNCTORUM CUM CONIUGIBUS ET LIBERIS
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/ ORDO COMMUNIS EPISCOPORUM VEL ABBATUM DEFUNCTORUM // Pag. 22 ORDO COMMUNIS VIRORUM DEFUNCTORUM //
Pag. 23 ITEM UBI SUPRA
Pag. 24 ITEM DE EODEM /
Pag. 25 ITEM UNDE SUPRA
Pag. 26 ORDO COMMUNIS FEMINARUM DEFUNCTARUM /
Pag. 27 Item unde supra
Pag. 28 HIC NOMNINA FRATRUM EX MONASTERIO SANCTI PETRI IN CENOBIO TRICASIUM HIC VIVORUM HIC NOMINA FRATRUM IN CONGREGATIONIS S. PETRI LOCO NUNCUPATO TRICASINO Dignare Domine in memoriam …
Man legt den Schriftraum für die Himmlische Hierarchie fest; dann folgt der Ordo der Geistlichen: Die episcopi, presbyteri und die Mönche; dafür sind, abgesehen von der Titelseite des Ordo (pag. 6) insgesamt zunächst drei weitere Seiten vorgesehen. Eine Nachtragshand vermerkt auf dem dritten der für diese erste Gruppe vorgesehenen Blatt Canonicorum ordo. Der Ordo Salzburg-St. Peter wird durch den Ordo der Pulsantes (Pag. 9, Spalte 3 – 5) abgeschlossen. Auf Seite 10 folgt der Ordo der Laien: die reges, die duces jeweils mit Frauen und Kindern; von den Bayernherzögen sind hier von der Anlagehand Tassilo und Deoto eingetragen. Diese beiden Ordines beginnen nebeneinanderstehend jeweils in Zeile 1. Für die reges und duces sind jeweils 17 Zeilen vorgesehen. Darunter setzte die Anlagehand ab Zeile 18 den Ordo der Bischöfe (unter den Königen) und der Äbte (unter den Herzögen). Die rechte Seitenhälfte wird bereits dem Ordo der sacerdotes, Diakone und anderer Kleriker, die nicht zur ersten Gruppe, dem Umfeld Bistum Salzburg / Kloster St. Peter, gehören, zugeordnet. Daran anschließend auf der rechten Seite des Doppelblattes 10/11 wird der Ordo sanctimonialium vivarum und anderer geistlicher Frauen verzeichnet. Angesichts des großzügigen Beschriftungsraums, der dem Bistum / Kloster zuerkannt wurde, ist doch überraschend, dass man für Nonnen und offenbar Kanonikerinnen nur
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drei Spalten vorsah; Spalte vier bis sechs auf diesem Blatt ist bereits für den Ordo communis der nichtgeistlichen Männer vorgesehen. Dieser Rubrik wurden die folgenden zwei Seiten, das folgende Doppelblatt zugeordnet. Man wusste – oder hoffte zumindest –, dass man für die Wohltäter Platz benötigen würde. Es wird daher auch nicht überraschen, dass in diesem Ordo bereits Traditionsnotizen eingetragen sind. Dass man hier, vor Beginn der Traditionsnotizen, spätestens im Jahr 840 zwei Reliquienlisten eintrug, mag damit zusammenhängen, dass schließlich die Wohltäter nicht nur für den Patron des Klosters, sondern für alle Heiligen ihre „Wohltaten“ gaben und geben. Das darauffolgende Doppelblatt wurde von der ersten Anlage her für die verstorbenen Bischöfe und Äbte (Spalte 1) und für den Ordo der verstorbenen Mönche vorgesehen. Diesem Ordo waren die anschließenden vier Seiten, einschließlich der Seite 18, zugedacht. Allerdings wurden hier auf den Seiten 16 und 17 die Verse Alkuins 59 zu Ehren der Altäre in der Ecclesia sancti Petri und Traditionsnotizen eingetragen. Am linken Rand der Seite 16 wurden auch einige Namen niedergeschrieben, die Struktur des Buches also durchaus im Sinne der Anlage genützt. Seite 18, die rechte Seite des Doppelblattes 17/18, wurde von der Anlagehand für den Ordo der verstorbenen Pulsantes seu Religiosorum Virorum vorgesehen. Auf dem darauffolgenden Doppelblatt folgt nun wiederum die „Welt“, der Ordo der Regum defunctorum sowie der Ducum defunctorum. Im Gegensatz zum Ordo der lebenden reges und duces (Seite 10), wo die reges und die duces neben einander stehend jeweils in der ersten Zeile beginnen, ist hier zunächst der Raum für die reges mit Frauen und Kindern, wofür 23 Zeilen einer Doppelspalte vorgesehen sind, von der Anlagehand eingetragen. Daran anschließend folgt ab Zeile 24 der Ordo Ducum defunctorum cum coniugibus et liberis; dafür sind 13 Zeilen vorgesehen. Die Eintragungen umfassen Theoto, Theotperht, Crimolt, Theotolt, Tassilo, Hucperht und Otilo. Auf Seite 21 sah man die linke Seitenhälfte für den Ordo sacerdotum vel diaconorum defunctorum, die rechte Seitenhälfte für den Ordo Sanctimonialium defunctarum vor. Die Seiten 22 bis 27 waren für den Ordo communis Virorum defunctorum vorgesehen. Auch hier bestätigt das Konzept, worauf man ganz besonderen Wert legte und für welchen Ordo man viel Schriftraum benötigte: Man rechnete mit 59 Diese Verse, die auch nicht aus der Anlagezeit stammen, wurden überdies um 1700 auch durch einen „Bearbeiter“ der Handschrift – aller Wahrscheinlichkeit nach war es Marcus Hansiz – Alkuin zugeschrieben: Haec carmina habet beatus Alcuinus in suis poematis (pag. 16): Monumenta Germaniae Historica, Poetae Latini, ed. Ernst Dümmler (1881) S. 335 – 340.
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vielen Personen, die hier zu verzeichnen sein würden. Die erste (pag. 22) und die zweite Seite (pag. 23) dieses Ordo wurde von der Anlagehand mit Namen gefüllt: Auf der ersten Seite wurden sieben Spalten völlig gleichmäßig von einer ruhigen Hand des Salzburger Stils I beschrieben, auf der zweiten setzte diese Hand ihre Arbeit noch bis in das obere Drittel der vierten Spalte fort. Die von der Anlage ebenfalls noch diesem Ordo zugeordneten Seiten 24 und 25 wurden durch Nachträge gefüllt, wobei man das Ordnungssystem der Spalten stark vernachlässigte. Die Seiten 26 und 27 schließlich sah man von der Anlage her für den Ordo communis Feminarum defunctarum vor. Die erste Gruppe umfasst hier Namen von viereinhalb Spalten (134 Namen; wobei die nachträglichen interlinearen oder seitlichen Ergänzungen nicht mitgezählt wurden). Für die Frauen plante man also von Vorneherein nur halb so viel Schriftraum ein. Die letzte Seite, auf der sich – wie auf Seite 1 (heute Seite 5) – abermals ein Formular aus der Totenliturgie findet, war offensichtlich zunächst überhaupt leergeblieben – sieht man einmal von diesem liturgischen Text ab. Allerdings hat man sehr bald den Ordo der Lebenden und Toten des Monasterium S. Petri in Tricasino in Spalte sechs und sieben eingetragen. Mit dem Ordo der Bischöfe und Äbte ist untrennbar die Frage verbunden, ob und wie man aus den Eintragungen die Datierung der ersten Anlage ableiten kann. Die Beschäftigung mit der Bischofsliste geschah wiederholte Male, immer unter dem Aspekt, dass man hier historiographisch aus der Selbstwahrnehmung der Abtei die Trennung zwischen Abtei und Erzbistum aufzeigen wollte. Die Liste der wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Thema ist lang; sie findet in den Arbeiten Herwig Wolframs 60 eine besondere Konzentration. Joachim Jahn 61 setzt hier, bescheiden, aber deutlich, leise Kontrapunkte. Ebenso oft werden Listen und Gruppen bei Freund 62 behandelt. Insgesamt zeigt sich im Liber Vitae die Einbettung des Klosters in den soziokulturellen Raum; die Verbindung zu den „Eliten Salzburgs“, Bischof, Nonnberg, Kanoniker, und in die Netzwerke aller im Sinne des sicheren Bestandes wichtigen
60 Stellvertretend sei hier genannt: Herwig Wolfram, Salzburg-Bayern-Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit (1995). 61 Joachim Jahn, Ducatus Baiuariorum. Das bairische Herzogtum der Agilolfinger (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 35, 1991). 62 Stephan Freund, Von den Agilolfingern zu den Karolingern. Bayerns Bischöfe zwischen Kirchenorganisation und karolingischer Reform (700 – 847) (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, 2004).
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Eliten, Äbte und Bischöfe außerhalb Salzburgs, die eben dem Verständnis der Gesellschaftsordnung folgend,63 jeweils ihren Platz im Buch fanden. Natürlich drängt sich die Diskussion der Todesdaten in Verbindung mit der Frage, ob jemand im Ordo viventium oder im Ordo defunctorum seinen Platz hat, auf. Herzberg-Fränkel hat dies bereits in ersten Ansätzen diskutiert, nach ihm ausführlicher Herrmann und schließlich Forstner in der Einleitung zum Faksimile.64 Die Argumente sind zum Teil bestechend; das steht außer Frage. Aus verschiedenen Überlegungen heraus hat Forstner die Entstehung des Codex in einem Zeitraum von wenigen Monaten, zum Teil auf Tagesdaten hin orientiert, im Jahr 784 angenommen: Die Eintragung Arbeos (Arpio ep.)65 ist in der Reihe der aufgeführten Bischöfe nicht der ersten Hand zuzuordnen; hier ist in jedem Fall eine Zeitdifferenz im Niederschreiben festzustellen, wenn nicht überhaupt tatsächlich eine andere Hand. Die Liste der Bischöfe ist von Emmeram bis K illach sehr einheitlich in der Tintenfarbe, in der Federführung, in der Organisation der Schäfte, der Abstriche und Anstriche und in der Verbindung der Zunge des e zum nachfolgenden p in der Kürzung von episcopus. Das Köpfchen des e ist bei allen Formen in der genannten Reihe, auch wenn es geringfügig über das Mittelband hinausgeht, immer relativ flach. Dagegen ist bei der Eintragung Willibalds (Uuillipald ep.) ganz eindeutig zu erkennen, dass hier der Schreiber aus einem e, dessen Köpfchen viel runder ist und auch höher über das Mittelband hinausreicht, die Zunge zum nachfolgenden p in ihrer Ligatur viel markanter ausgeführt hat; dies ist auch beim nachfolgenden Arbeo (Arpio ep.) zu beobachten. Aus dieser Eintragung ist also nicht unbedingt das Jahr 784 als Zeit der Niederschrift der ersten Anlage abzuleiten; sie bestätigt vielmehr, dass man hier bereits einen Neuansatz, eben eine Eintragung aus aktuellem Anlass, feststellen kann. Ein ebenfalls wichtiger Aspekt im Hinblick auf die Entstehung ist die Verzeichnung Arns. Der Schriftraum, in dem Arn eps. als erster Name in der Reihe
63 Rosamond McKitterick, History and Memory in the Carolingian World (Cambridge 2004) S. 162 – 164. – Warren Brown, Unjust Seizure. Conflict. Interest and Authority in Early Medieval Society (2001). 64 Forstner, Das Verbrüderungsbuch (wie Anm. 10) S. 17 – 19: „Auf Grund dieses höchstwahrscheinlichen Sachverhaltes kann eine Umgrenzung der Abfassungszeit des Verbrüderungsbuches gegeben werden. Da Arbeo am 4.5.784 starb, kann er erst nach diesem Zeitpunkt eingetragen worden sein, was wiederum bedeutet, dass alle späteren Namen nach dem 4.5. eingetragen wurden“. (S. 19). 65 Der Salzburger Liber vitae, pag. 20, Spalte 3, Zeile 16. Vgl. dazu Farbtaf. 1.
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der viventes steht,66 weist deutliche Spuren von älteren Buchstabenbestandteilen und Rasuren, eventuell sogar einer nachträglichen (die Flecken ließen auf Reagenzien schließen) „Wieder-Sichtbarmachung“ auf. Man hat den Namen dessen, den man hier zunächst eingetragen hatte, wohl zu tilgen beabsichtigt, sobald man ihn dann in den Ordo der Toten übertragen hatte. Standen hier eben doch vielleicht davor Virgil und andere, deren Namen man dann in die Reihe der Toten übertrug? Der noch sichtbare Buchstabenbestand lässt bislang keine eindeutige Klärung zu. Im Ordo der Toten weist die Bischofsreihe mit dem Namen Virgils paläographisch und optisch eindeutig einen Bruch auf. Ein klassischer Anlass für die Anlage des Liber vitae zu Lebzeiten Virgils hätte unter anderem die feierliche Erhebung Ruperts und seiner Begleiter Kisilhard und Chuniald im Jahr 774 sein können; prinzipiell ist die Konzeption und auch die Anlage des Buches sicher mit Virgil selbst in Verbindung zu bringen. Die Erhebung 774 dafür ins Treffen zu führen,67 wird durch die Tatsache gestützt, dass unter den Verstorbenen die Namen Hrodperhtus episcopus et abbas, Anzo gulus abbas, Vitalis episcopus et abbas, Savolus abbas, Izzio abbas, Flobrigis episcopus et abbas, Iohannis episcopus et abbas im Ordo episcoporum vel abbatum defunctorum, sowie Kyslarious presbyter et monachus und Kunialdus presbyter et monachus im Ordo monachorum defunctorum noch ganz sicher in diesem „Schreibkontext“ zusammen eingetragen wurden (Farbtaf. 3). Überdies sind die beiden Begleiter Ruperts als erste vermerkt. Ihre Namenszüge unterscheiden sich in der Tinte von dem darauf folgenden Gavinus durchaus deutlich. Man hatte offenbar einen triftigen Grund, diese beiden Namen zu einem ganz bestimmten Anlass einzutragen; deshalb sind sie auch in einem Zug geschrieben. Ich möchte allerdings mit der ausführlichen Behandlung dieser Details das Buch – sub specie aeternitatis – weniger auf die Datierungen von Todestagen hin trimmen, sondern seinen Platz in der Memorial-Liturgie der Gemeinschaft des Klosters St. Peter respektive der mit dieser Gemeinschaft in Gebetsverbrüderung verbundenen Gemeinschaften – Bistum Salzburg, andere Bistümer, Klöster, Könige, Herzöge und Grafen –, sowie insgesamt aller dem Kloster aufgrund der „Wohltat“ verbundenen Geistlichen und Laien nach dem Verständnis des Mittelalters deutlicher herausstreichen. Sollte die Memorialpraxis des späten Mittelalters so ganz anders ausgesehen haben, als die des frühen Mittelalters? Nur ein Beispiel sei in diesem Kontext diskutiert, das von den Entfernungen und der tatsächlichen fraternitas her gesehen als absolut gleichwertig anzusehen ist.
66 Der Salzburger Liber vitae, pag. 6. Vgl. Farbtaf. 2. 67 Niederkorn, Das Sanctorale (wie Anm. 9) S. 223.
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Im Reichenauer Verbrüderungsbuch 68 sind auf den Blättern 9 – 13 sog. Totenbriefe, die im 14. und 15. Jahrhundert an das Kloster auf der Reichenau gesandt wurden, eingeklebt. Hier werden wir durch mannigfache Schreiben aus verschiedenen Klöstern unterrichtet, wer wann verstorben ist. Besonders interessant ist hier, dass man offenbar immer wieder auch „Sammelmitteilungen“, vor allem aus Fulda, geschickt hat: Dies ist höchst plausibel, da man nicht einfach herumwanderte, es auch nicht sollte, sondern einen Anlass hatte, wenn man das eigene Kloster verließ und ein anderes aufsuchte. Dies galt natürlich auch für den Rotelboten, der ja den Auftrag eo ipso hatte. Offenbar, und dies ist im Kontext der Beispiele aus Admont interessant, hat man in diesen Fällen nicht den Rotulus auf die Reichenau geschickt,69 sondern zwei „Briefe“ respektive eigentlich nur recht formlose „Zettel“. Immerhin trägt ein Brief die Jahresangabe 1442. Man vermerkt, welcher Mönch, welcher Konverse oder welche Schwester an welchem Tag verstorben ist. Diese unterschiedlichen Formen der Namenübermittlung stehen im Dienst der kollektiven Erinnerung, die hier gleichzeitig, wie es der allgemeinen Tendenz entsprach, dem Individuum im Namen und Tagesdatum des Todes Rechnung trägt.70 Der Ordo Viventium des Salzburger Liber vitae zeigt deutliche „Spuren“ der Memorialpraxis, wie es für das gesamte Mittelalter zu erwarten ist. Sobald die Eintragungen der Namen nicht mehr der allerersten Anlage angehören, ist dies
68 Reichenauer Verbrüderungsbuch, Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Rh. Hist., pag. 9 – 14. – Handschrift auch berücksichtigt in Monumenta Germaniae Historica. Libri Confraternitatum Sancti Galli, Augiensis, Fabariensis, ed. Paul Piper (1884) S. 147 – 150. – Zur Handschrift jetzt: Johanne Autenrieth, Beschreibung des Codex, in: Johanne Autenrieth / Dieter Geuenich / Karl Schmid, Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Einleitung, Register, Faksimile) (Monumenta Germaniae Historica, Libri Memoriales, Nova Series 1, 1979) S. XV – XLI; bes. S. XV. 69 Fritz Bünger, Admonter Totenroteln (1442 – 1496) (1935); Johannes Tomaschek, Lator presencium fuit nobiscum in nostro monasterio“. Admonter Rotelboten in Attel und Rott am Inn 1442 – 1495, Heimat am Inn 10 (1990) S. 129 – 156; Gabriela Signori, Totenrotel und andere Medien klösterlicher memoria im Austausch zwischen spätmittelalterlichen Frauenklöstern und -stiften, in: Nonnen, Kanonissen und Mystikerinnen, Religiöse Frauengemeinschaften in Süddeutschland. Beiträge zur interdisziplinären Tagung vom 21. bis 23. September 2005 in Frauenchiemsee, hg. von Eva Schlotheuber / Helmut Flachenecker / Ingrid Gardill (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 235 = Studien zur Germania Sacra 31, 2008) S. 281 – 296. 70 Vgl. hierzu Clemens Wischermann, Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung (Studien zur Geschichte des Alltags 28, 2003)
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überdies deutlicher nachzuvollziehen, weil sich aus der Beobachtung von Kontinuum und Brüchen der Schrift die „Zeitfenster“ der Eintragungen ergeben. In den allermeisten Fällen wurden die Namen in Gruppen verzeichnet: Entweder, weil tatsächlich, wie es auch etwa Karl Schmid für die Reichenau beobachtet hat,71 die Namen in Listen kommuniziert wurden; oder aber, weil Personen aus dem Umfeld einer Person aufgenommen wurden, die für den Konvent wichtig war. Die Gründe sind vielfältig. Der Anlass der Eintragung ist durch den liturgischen Text expressis verbis bezeichnet, kann zusätzlich aber sehr unterschiedlich motiviert sein. Er reicht ganz sicher von der tatsächlichen „Besitzübertragung“ in großen und kleinen Dimensionen, je nachdem, aus welcher Schicht der Wohltäter stammt. Damit korreliert auch seine mögliche Bedeutung hinsichtlich des Schutzes für das Kloster. Diese Position eines donator hat wiederum nicht selten zur tatsächlichen Verlesung seines Namens im Rahmen der Messfeier geführt, wenn dieser anwesend war. Die Gemeinschaft des Klosters erfährt durch die „Gedächtnis-Gemeinschaft“ 72 jene Potenzierung, die das Gebet in nahezu unermessliche Dimension steigern kann, da ja jeder für jeden, jede Gemeinschaft für jede nach genauem Maß betet – und dies auf unbegrenzte Zeit hin, letztlich bis zum Jüngsten Gericht, sofern die Gemeinschaft besteht. Die Verpflichtung zum Gebet, die man übernommen hat, erlischt ja nicht. Natürlich ist in diesem Zusammenhang generell auf die Frage nach der Zeit, zu der und in der dieses Buch angelegt wurde, einzugehen. Anlage und Niederschrift des Textes sind hier sicherlich als zwei voneinander abzugrenzende Bereiche zu behandeln, wenngleich selbstverständlich außer Frage steht, dass die Eintragung der Namen die Anlage voraussetzt. Das Buch selbst bietet in seinem Teil I, dem sog. Älteren, und in Teil III, dem sog. Jüngeren Verbrüderungsbuch vom Inhalt und von der Schrift her klare Kriterien, die das Konzept und den Vorgang der Entstehung jeweils nachvollziehbar machen. Verbrüderungsbücher sind in der Regel in mehrfacher Hinsicht Spiegel der Zeit, der Gesellschaft sowie der Praxis von Kommunikation respektive Wissens transfer, denn auch das Wissen über die Personen muss vermittelt werden. Dafür nützt man die üblichen Wege zwischen den Institutionen, sowohl den geistlichen 71 Karl Schmid, Wege zur Erschließung des Verbrüderungsbuches, in: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 66) S. LX – CI; bes. S. LX (zum verlorenen Pergamentblatt mit der Verzeichnung der Salzburger Namen) und auch (vor allem zum Problem der Einträge) S. LXXX – LXXXIIII. 72 Gedächtnis das Gemeinschaft stiftet, hg. von Karl Schmid (1985).
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wie auch den weltlichen, nicht selten sogar gemeinsam, weil es oft ein und dieselbe Person ist, die Informationen im Vertrauen in mündlicher oder in schrift licher Form „weiter trägt“.73 Diese Bücher belegen nicht nur die Eintragung von Gruppen, die dadurch erkennbar sind, dass sie auch als Gruppe in dem Buch eines anderen Klosters verzeichnet wurden, sondern auch die Eintragung von Namensgruppen, die wiederum bereits eingetragenen Laien zugeordnet werden können, ist festzustellen, wie dies vor allem für St. Gallen und Pfäfers 74 sehr gut nachgewiesen werden kann. Daneben gibt es zahlreiche, beinahe ist man versucht zu sagen, eine Menge von Personen, die für Menschen nicht mehr überschaubar ist. Die Verzeichnung von Namen verliert in der Regel trotz aller vorgegebenen Strukturen sehr rasch ihre Ordnung.75 Dies führt in der Regel zu anderen Verzeichnungsformen, etwa die mit dem Tag verknüpfte Eintragung in Martyrologien/Nekrologien, oder aber Kalendar-Martyrologien. Diese haben überdies den Vorteil, dass sie ein weiteres Ordnungsprinzip ermöglichen, nämlich das Gedächtnis zum Jahrestag des Sterbens. Dass man im Kloster St. Peter in Salzburg tatsächlich eine Neuanlage nach mehr als 200 Jahren in derselben Form vornimmt, zeigt die Verankerung des Buches in der Praxis der Memoria und der verbundenen Memorialliturgie des Klosters, der Gemeinschaft, und aller jener, die dazugehören. Dies geschieht schon allein deshalb, weil man sich insbesondere zu dieser Zeit (im beginnenden 11. Jahrhundert) gegen die Position des Erzbischofs und seines Kapitels stellt; man trägt im Kloster die ursprüngliche, ältere Tradition weiter. Auch aus diesem Grund erfolgt eine Neuanlage, die durch Texte erweitert wird, die Tradition in der Zeit mit der Ewigkeit verknüpft. Die Reliquienlisten stellen hier ein wesentliches Element der Verknüpfung dar, vertreten sie doch die Heiligen, deren Fürbitte man generell und beim Jüngsten Gericht ganz besonders erhofft. Diese Verbrüderungsbücher bilden auch die Netzwerke ab, die zwischen einem Kloster und verschiedenen Gruppen bestehen, die nicht im eigentlichen
73 Franz Neiske, Die Ordnung der Memoria: Formen necrologischer Tradition und mittelalter licher Klosterverband, in: Institution und Charisma. Festschrift für Gert Melville zum 65. Geburtstag, hg. von Franz J. Felten / Annette Kehnel / Stefan Weinfurter (2009) S. 127 – 138. 74 Anton von Euw, Liber Viventium Fabariensis. Das karolingische Memorialbuch von Pfäfers in seiner liturgie- und kunstgeschichtlichen Bedeutung (Studia Fabariensia. Beiträge zur Pfäferser Klostergeschichte 1, 1989). – Max Gottschald, Deutsche Namenkunde. Unsere Familiennamen (51982). 75 Neiske, Die Ordnung der Memoria (wie Anm.73) .
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Umfeld des Klosters zu finden sind, und in der Praxis nur ein Ergebnis des um 770 beschlossenen Gebetsbundes darstellen. Immer wieder wird das System der Interaktion zwischen Gemeinschaft – Memoria – und Identität thematisiert. Es wird sicherlich für den Liber vitae hinsichtlich der zwei wesentlichen Kernebenen, die die Konzeption für das 8. und 11. Jahrhundert bestimmen, zu diskutieren sein, ob und inwiefern auch für das 11. Jahrhundert und darüber hinaus die Verzeichnung Gemeinschaft stiftet 76, die durch den Liber vitae räumlich eine enorme Dimensionserweiterung erfährt und in zeitlicher Hinsicht, von der Idee des Liber vitae ausgehend, keine Begrenzung hat. Nachträge finden sich im Salzburger Liber vitae bis ins 13., in seltenen Fällen bis ins 15. Jahrhundert. Sehr genau wird man sich allerdings damit auseinandersetzen, warum man die Ordnung im beginnenden 11. Jahrhundert erneuert hat. Vordergründig ist klar, dass man aus Platzgründen die neue Lage herstellt und vorbereitet für die Zukunft, denn auch hier ist das Konzept der vorausschauenden Planung so deut lich wie für das 8. Jahrhundert. Dennoch wird zu überlegen sein, warum manche Namen aus dem Altbestand in den neuen übernommen wurden. Das alte „Buch“ existierte ja; und von der Konzeption der Handschrift her hat man die beiden auch im Verband, also nicht getrennt, verwendet. Wenn etwas dem „(himmlischen) Gott“ in Erinnerung gebracht wurde, also sozusagen die doppelte Sicherung durch die Verzeichnung im irdischen Liber vitae vorgenommen wurde, ist sicherlich zu überlegen, warum man also gewissermaßen eine dritte „Erinnerungsebene“ durch eine nochmalige Verzeichnung herstellte. Andererseits wird man für das beginnende 11. Jahrhundert sehr viel deutlicher in Betracht ziehen müssen, dass nunmehr nicht allein die Erinnerung bei Gott im Vordergrund steht, sondern – wie es sicher davor auch war – die Verfügbarkeit der Namen für die „Ableistung der Gebetsverpflichtung, der Memoria“ in einem besseren, jedenfalls neueren System. Gleichzeitig wird man auch durchaus die Memoria in zeitlicher Dimension sehen müssen: Memoria, die Historia wird, eine Historia, welche als magistra vitae docet.77 76 Dieter Geuenich, „Dem himmlischen Gott in Erinnerung sein …” – Gebetsgedenken und Gebetshilfe im frühen Mittelalter, in: Erinnerungskultur im Bestattungsritual. Archäologisch-historisches Forum, hg. von Jörg Jarnut, Matthias Wemhoff (Mittelalter-Studien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens Paderborn 3, 2003) S. 27 – 40. 77 Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hg. von Karl Schmid / Joachim Wollasch (Münstersche Mittelalter-Schriften 48, 1984); Uwe Ludwig, Die Gedenklisten des Klosters Novalese – Möglichkeiten einer Kritik des
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Verzeichnung und Historia führt auch für die Salzburger Gemeinschaft zur Überlegung, ab wann man dieses Buch tatsächlich auch im Sinne der Historia verwendete, es sozusagen als Quelle benützte. In diesem Zusammenhang wird man den im 13. und mitunter auch im 15. Jahrhundert vorgenommen „Adaptionen“ von Ortsnamen Aufmerksamkeit schenken; denn auch dies geschah nicht ohne Zusammenhang zur Gemeinschaft, deren Identität und auch deren Memoria. Denn es ist eindeutig, dass hier durchaus wirtschaftliche Motive im Hintergrund standen – Besitz sichert im realen Sinne Memoria. Wer stiftet in welchem Ausmaß; hier spricht im Namenmaterial die Realität zu uns; da sich darin die Ordines, und in ihnen wiederum die jeweiligen sozialen Gruppen spiegeln. Insbesondere für den jüngeren Teil des Verbrüderungsbuches ergeben sich, im Gegensatz zu den prominenten Seiten aus dem älteren Teil der Handschrift,78 noch viele offene Fragen. Die Handschrift ist gleichzeitig ein hervorragendes Spiegelbild von Zeitwahrnehmung und Zeitbewusstsein. Dies gilt für den älteren wie auch für den jüngeren Teil. Der Funktion des Codex entsprechen die darin vorhandenen Texte, die das Buch in die Heilsgeschichte einordnen, gleichzeitig aber auch den himmlischen Liber Vitae abbilden.79 Die Liste der aus dem Alten und Neuen Testament eingetragenen Namen von Heiligen und Bekennern hat den Charakter einer Litanei; die fürbittende Funktion der Vertreter des Alten und Neues Testaments, die einander gegenüberstehen, kennen wir auch aus Darstellungen des Jüngsten Gerichtes. Sie stehen an der Spitze derer, die dem Richter vorgeführt werden.80 Chronicon Novaliciense, in: Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, hg. von Dieter Geuenich / Otto Gerhard Oexle (1994) S. 32 – 55; Patrick Geary, Living with the Dead in the Middle Ages (1991). 78 Jahn, Ducatus Baiuariorum. (wie Anm. 44); Adelheid Krah, Migration nach Südosten: Die Viehbach-Eppensteiner in Bayern und Kärnten, in: Hochmittelalterliche Adelsfamilien in Altbayern, Franken und Schwaben, hg. von Ferdinand Kramer / Wilhelm Störmer (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 20, 2005) S. 41 – 64; Nathalie Kruppa, Kloster, Adel und Memoria an der Oberweser, in: Stupor Saxoniae inferioris. Ernst Schubert zum 60. Geburtstag, hg. von Wiard Hinrichs / Siegfried Schütz / Jürgen Wilke (Göttinger Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur des Mittelalters 6, 2001) S. 33 – 50. 79 Franz Neiske, Funktion und Praxis der Schriftlichkeit im klösterlichen Totengedenken, in: Viva vox und ratio scripta. Mündliche und schriftliche Kommunikationsformen im Mönchtum des Mittelalters, hg. von Clemens M. Kasper / Klaus Schreiner (Vita regularis 5, 1997) S. 97 – 118. 80 Franz Neiske, Rotuli und andere Quellen zum Totengedenken bis 800, in: Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag, hg. von Uwe Ludwig /
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Dies vermittelt nicht allein Zeitverständnis, mehr noch, dadurch wird das Buch mit den darin verzeichneten Namen zur Scheide zwischen Zeit und Ewigkeit geleitet.
Thomas Schilp (Ergänzungsbände zum Reallexikon für Germanische Altertumskunde 62, 2008) S. 203 – 220, bes. S. 210.
Der Liber Memorialis von Remiremont von Franz-Josef Jakobi
Vorbemerkung Nur zögerlich bin ich der Einladung gefolgt, die Ergebnisse meiner Studien zum Liber Memorialis von Remiremont auf der Tagung „Gesellschaft im Gebetsgedenken“ vorzustellen und sie in diesem Band zu publizieren. Der Grund dafür ist, dass ich bereits Mitte der 1980er Jahre aus den in Münster und Freiburg unter der Leitung von Karl Schmid und Joachim Wollasch unternommenen Bemühungen um die Erforschung, Auswertung und Edition der reichhaltigen und vielgestaltigen klösterlichen Memorialüberlieferung ausgeschieden bin, an denen ich seit den 1960er Jahren beteiligt war. Ich bin damals beruflich andere Wege gegangen und habe mich als Leiter des Stadtarchivs Münster seither mit Fragen und Problemen der Stadtgeschichte in allen Epochen beschäftigt. Das Vorhaben, meine 1983 vorgelegte Habilitationsschrift 1 zu überarbeiten und zum Druck zu befördern, habe ich angesichts der neuen Aufgaben, die mich sofort voll in Anspruch genommen haben, aufgeben müssen,2 und den Fortgang des kommentierten Quellenwerks ‚Societas et fraternitas‘ sowie die Forschungsdiskussion über die Memorialüberlieferung insgesamt nur noch sporadisch verfolgen können. Die mir von den Planern der Tagung vermittelte Einschätzung, dass meine damaligen Untersuchungsergebnisse nicht überholt und auch für die
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Franz-Josef Jakobi, Der Liber Memorialis und die Klostergeschichte von Remiremont. Neue Wege der Erschließung und Auswertung der frühmittelalterlichen Gedenk-Aufzeichnungen einer geistlichen Frauengemeinschaft. Teil A: Untersuchungen; Teil B: Erschließung des personenbezogenen Überlieferungsgutes. 2 Teilergebnisse konnte ich noch in Form meiner Studie: Diptychen als frühe Form der Gedenk-Aufzeichnungen. Zum Herrscherdiptychon im Liber Memorialis von Remiremont, Frühmittelalterliche Studien 20 (1986) S. 186 – 212 veröffentlichen; die neuen Ergebnisse sind in einen zusammen mit Michel Parisse verfassten Überblicksartikel zur Frühphase der Klostergeschichte einbezogen: Franz-Josef Jakobi / Michel Parisse, Du Saint-Mont à Remiremont. Une abbaye royale (VII – Xe), in: Remiremont. Histoire de la Ville et de son Abbaye (1985) S. 11 – 23. – Die Benutzung eines bei mir verbliebenen Handexemplars der Habilitationsschrift kann jederzeit vereinbart werden.
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gegenwärtige Diskussion noch von Belang seien, hat mich ermutigt, sie in komprimierter Form vorzustellen; eine detaillierte Auseinandersetzung mit späteren Beiträgen zur Erforschung und Auswertung des Liber Memorialis sowie mit der umfangreichen Forschungsdiskussion zur Memorialüberlieferung wie sie in diesem Band dokumentiert ist, war mir allerdings nicht möglich.3
Einleitung Es gibt einige bemerkenswerte Besonderheiten, durch die dem Liber Memorialis von Remiremont eine gewisse Ausnahmestellung im Kontext der anderen karolingerzeitlichen Gedenk-Bücher zukommt: –– Es handelt sich beim heutigen Manuscript 10 der Biblioteca Angelica in Rom um einen Codex mit sehr unterschiedlichen Teilen,4 der seine heutige Gestalt – wie schon das Lagenschema der insgesamt 71 Blätter 5 deutlich werden lässt – einem überaus komplizierten Werdegang verdankt. –– In ihm sind enthalten: liturgische Texte verbunden mit Beschlüssen zur Regelung des Gebetsgedenkens, Namenlisten verstorbener und lebender Mitglieder geistlicher Gemeinschaften – in erster Linie und an prominenter Stelle die des eigenen Konvents –, sodann drei Necrolog-Anlagen, die über einen langen Zeitraum mit Nameneinträgen Verstorbener gefüllt wurden, eine Vielzahl von größeren und kleineren Gruppeneinträgen, die zumeist nur aus Namen bestehen, und schließlich über 700 Traditionsnotizen.6 3 Lediglich auf die weiterführenden Überlegungen im späten Aufsatz von Karl Schmid, Auf dem Weg zur Erschließung des Gedenkbuchs von Remiremont, in: Festschrift für Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag, hg. von Karl Rudolf Schnith / Roland Pauler (Münchener historische Studien, Abteilung Mittelalterliche Geschichte 5, 1993) S. 59 – 96, und die von allen bisherigen Untersuchungsergebnissen abweichende Einschätzung der Entstehung des Liber Memorialis durch Michèle Gaillard, D’une réforme à l’autre (816 – 934): Les communautés religieuses en Lorraine à l’époque carolingienne (2006), werde ich näher eingehen. 4 Der Codex und seine inhaltliche Struktur sind ausführlich beschrieben in der Einleitung zur Monumenta Germaniae Historica-Edition (künftig LMR): Der Liber Memorialis von Remiremont, bearbeitet von Eduard Hlawitschka / Karl Schmid / Gerd Tellenbach (Monumenta Germaniae Historiaca. Libri Memoriales I, 1. Teil: Textband, 2. Teil: Tafelband, 1970, Nachdruck 1981) S. XVI – XXII. 5 Siehe das als Abbildung 1 wiedergegebene Lagenschema ebenda S. XIII. 6 LMR , Einleitung, 3. Die Entstehung des Buches und die Datierung seiner Teile, S. XVI – XXII.
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–– Der Codex ist in seiner heutigen Gestalt in der Mitte des 9. Jahrhunderts,
genauer 862/63, angelegt und dann noch über drei Jahrhunderte weiter benutzt worden; in ihn wurden bereits bestehende ältere Bestandteile aufgenommen, die mit ihren Vorstufen bis in die Entstehung des Romarich-Klosters im ersten Viertel des siebten Jahrhunderts zurückreichen.7 In ihm sind also fünf Jahrhunderte Klostergeschichte 8 dokumentiert. –– An den Gedenkeintragungen über diesen erstaunlich langen Zeitraum war eine Vielzahl von Händen beteiligt, von denen mehrere Dutzend jeweils an den verschiedensten Stellen des Codex offenbar spontan den freien Platz auf den einzelnen Seiten benutzten.9
Die MGH-Edition von 1970 und ihre Vorarbeiten Eine Ausnahmestellung kommt dem Codex über diese seine Besonderheiten hinaus noch in anderer Hinsicht zu: Wie am Erscheinungsjahr 1970 der MonumentaGermaniae-Historica-Edition und ihrer Einordnung als Band I der geplanten neuen Serie ‚Libri Memoriales’ sowie durch die gemeinsame Herausgeberschaft von Gerd Tellenbach, Karl Schmid und Eduard Hlawitschka deutlich wird, stand die Beschäftigung mit diesem Codex am Beginn der neueren von Freiburg und dem Arbeitskreis um Gerd Tellenbach ausgehenden Gedenkbuch-Forschung.10 Dort war man schon Mitte der 1950er Jahre auf den Remiremont-Codex aufmerksam geworden, und Gerd Tellenbach hatte 1955 erreicht, dass seine Edition in das Arbeitsprogramm der MGH aufgenommen wurde. Er selbst, Karl Schmid und Eduard Hlawitschka widmeten ihm in den folgenden Jahren – unter anderem bei ausgedehnten Forschungsaufenthalten in Rom – intensive codicologische, paläographische und historisch-inhaltliche Studien und werteten in zahlreichen Begleituntersuchungen besonders auffallende und aussagekräftige Einträge aus.11 7 LMR, S. XVII. 8 Einen informativen Überblick über den Gesamtzeitraum bietet: Eduard Hlawitschka, Studien zur Äbtissinnenreihe von Remiremont (7.-13. Jh.) (Veröffentlichungen des Instituts für Landeskunde, Band 9, 1963); vgl. auch ders., Remiremont. Drei Hauptabschnitte seiner Frühgeschichte, Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 13 (1963) S. 201 – 213; vgl. auch die in Anm.12 genannten Beiträge. 9 Einen Eindruck vermitteln die Abbildungen 2 und 3 mit fol. 43r und 53v (nach der SchwarzWeiß-Wiedergabe im Tafelband der Monumenta Germaniae Historica-Edition). 10 LMR, Vorwort, S. VII f. 11 LMR, Einführung, S. XXII – XXXI.
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Immer deutlicher trat dabei die Bedeutung des Liber Memorialis als exzellente Quelle nicht nur für die Klostergeschichte, sondern insbesondere auch für die Geschichte des späten 9. und frühen 10. Jahrhunderts im ehemaligen Teilreich Lothars I. zutage.12 Gerd Tellenbach – inzwischen Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom – hat sich denn auch am Ende dieser Forschungsphase im Frühjahr 1968 nicht gescheut, den Codex an prominenter Stelle, nämlich in einem Vortrag vor der Società Romana di Storia Patria als „eines der eigenartigsten Bücher der Welt “ und als „eine der kostbarsten Handschriften, die sich in den Archiven dieser Stadt befinden“ zu bezeichnen.13 Der lange Zeitraum von mehr als 10 Jahren für die Vorbereitung der Edition erklärt sich dadurch, dass sich bei der Entwicklung und Anwendung der Editionsprinzipien ungeahnte Schwierigkeiten aufgetan hatten. Die Bearbeiter hatten sich nämlich das ehrgeizige Ziel gesetzt, das gesamte Überlieferungsgut in Form von codicologisch, paläographisch und inhaltlich definierten Editionseinheiten zu erschließen und so für die historische, genealogische und philologische Forschung benutzbar zu machen. 14 Dazu war es erforderlich,
12 Siehe zusätzlich zu den in Anm. 8 genannten Beiträgen von Eduard Hlawitschka: Ders., Herzog Giselbert von Lothringen und das Kloster Remiremont, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 108, Neue Folge 69 (1960) S. 422 – 465; Ders., Zur Lebensgeschichte Erzbischof Odelrichs von Reims, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 109, Neue Folge 70 (1961) S. 1 – 20; Ders., Lothringen und das Reich an der Schwelle der deutschen Geschichte (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 21, 1968); Ders., Die Anfänge des Hauses Habsburg-Lothringen. Genalogische Untersuchungen zur lothringischen Geschichte im 9., 10. und 11. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Volksforschung 4, 1969); Karl Schmid, Gebetsverbrüderungen als Quelle für die Geschichte des Klosters Schienen, Hegau 1 (1956) S. 31 – 42; Ders,, Neue Quellen zum Verständnis des Adels im 10. Jahrhundert, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 108, Neue Folge 69 (1960) S.185 -232; Ders., Bemerkungen zu einer Prosopographie des frühen Mittelalters, Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 23 (1964) S. 215 – 227; Ders. Ein karolingischer Königseintrag im Gedenkbuch von Remiremont, Frühmittelalterliche Studien 2 (1968) S. 173 – 200; Gerd Tellenbach, Der Liber Memorialis von Remiremont. Zur kritischen Erforschung und zum Quellenwert liturgischer Gedenkbücher, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 25 (1969) S. 64 – 100; Ders. Servitus und libertas nach den Traditionen der Abtei Remiremont, Saeculum 21 (1970) S. 228 – 234. 13 Gerd Tellenbach, Uno dei più singolari libri del mondo: il manoscritto 10 della Biblioteca Angelica in Roma (Liber Memorialis di Remiremont), Archivio della Società Romana di Storia Patria 91 (1968) S. 29 – 43, hier S. 35. 14 LMR, Einführung, S, XXIV ff.
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die einzelnen Einträge in dem teilweise unentwirrbar scheinenden Durcheinander der Namen voneinander abzugrenzen, sie den im Codex nachzuweisenden Schreiberhänden zuzuordnen und sie in ihrer zeitlichen Abfolge zu bestimmen. Es konnten schließlich in einem aufwändigen Verfahren 58 Hände identifiziert werden, die mehr als fünfmal vorkommen und von denen jeweils gut 20 dem 9. und dem 10. Jahrhundert zugeordnet sind, der Rest dem 11. und 12.; hinzu kommen weitere rund hundert, die seltener tätig waren, viele davon nur einmal.15 Die Analyseergebnisse zwangen die Editoren – wie sie in der Einleitung mitteilen – zu einem „kühnen Entschluß“, nämlich „im Druck das Bild, das die Handschrift unmittelbar bietet, vollkommen aufzulösen.“ 16 Statt die Namenfolge auf den Seiten zu reproduzieren, wurden für jede Seite die erkannten Einträge in ihrer zeitlichen Abfolge und mit Angabe der schreibenden Hand wiedergegeben, und zwar zunächst mit arabischen Ziffern die Gedenkeinträge und dann mit römischen Ziffern die Traditionsnotizen.17 Erläutert wird diese Anordnung in einem ausführlichen paläographischchronologischen Kommentar, der aus drei Teilen besteht, nämlich erstens der „Analyse der häufiger vorkommenden Hände“ nebst Datierung, zweitens dem „Nachweis der Eintragungsfolge“ einschließlich der Offenlegung der dabei zu lösenden Probleme und drittens einer „Chronologischen Übersicht über die mehr als einmal nachweisbaren Schreiberhände“.18 Um den jederzeitigen Rückbezug zum Originalbefund zu gewährleisten, wurde der Edition eine fotographische Reproduktion der Handschrift beigegeben;19 zusätzlich wurden dabei die Seiten in je acht Planquadrate aufgeteilt, um die Auffindung der Einträge auf den Seiten zu erleichtern. Trotz dieser aufwändigen Erschließung und trotz der vielbeachteten Begleitstudien im Vorfeld ist der Liber memorialis in der Folgezeit in der mediävistischen Forschung überraschenderweise und entgegen den in der Einleitung zur
15 LMR, S. XXV. 16 LMR, S. XXVIII. 17 Vgl. die als Abbildungen 4/5 und 6/7 vorgestellte Druckwiedergabe (LMR, S. 93 f. und 121 f.) von fol. 43r und 53v (siehe Abbildungen 2 und 3). 18 LMR, S. 157 – 212. 19 Wie Anm. 4; nicht reproduziert sind die Blätter 27 – 31, 44, 51, 52, 65 – 69, 70 (70r ist vorhanden!) und 71 sowie von den Einlageblättern Br-v, Cv, Dv, Er und Fr, die ausschließlich Traditionsnotizen enthalten.
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Edition formulierten Erwartungen 20 kaum mehr beachtet worden.21 Als symptomatisch kann wohl gelten, dass man auf einer im Frühjahr 1980 im Rahmen der ‚Journées d’études vosgiennes‘ in Remiremont veranstalteten Tagung mit dem Thema „Remiremont. L‘abbaye et la ville“ auf den Liber memorialis und die Möglichkeiten seiner Nutzung als Quelle überhaupt nicht eingegangen ist.22 Die Ursache dafür kann kaum in irgendeinem Zweifel am Aussagewert des durch die Edition bereitgestellten Quellenmaterials liegen. Man muss sie wohl in einer grundsätzlichen methodischen Unsicherheit suchen, die durch die Edition nicht beseitigt werden konnte. Obwohl das schwierige Problem der Wiedergabe eines so komplizierten Ensembles von Texten und Eintragungen auf eine neuartige, zuverlässige und übersichtliche Art und Weise gelöst ist, die zudem an der fotographischen Reproduktion jederzeit überprüft werden kann, und obwohl im paläographisch-chronologischen Kommentar ausführliche Erläuterungen und eine Fülle weiterführender Informationen gegeben werden, ist das Überlieferungsgut offenbar doch nicht so aufbereitet, dass einem nichtspezialisierten Benutzer ein methodisch sicherer und unkomplizierter Zugriff auf von ihm benötigtes Quellenmaterial ermöglicht wird.23
20 Er wird dort als Quelle bezeichnet, die „reiche Rückschlußmöglichkeiten für die Geschichte des Klosters, ja Lotharingiens und darüber hinaus des Reiches bietet“ (LMR, S. XI). 21 Bis in die 1980er Jahre sind sie in den Anm. 50 – 53 zur Einleitung meiner RemiremontStudie (wie Anm. 2) S. 274 f. nachgewiesen; es waren das vor allem die ausführlichen Würdigungen durch Giles Constable, The Liber Memorialis of Remiremont, Speculum 47 (1972) S. 261 – 277, und Michel Parisse, La Lorraine du IXe aux XIe siècles. Les Travaux de M. Hlawitschka, Annales de l’Est 23 (1971) S. 95 – 115, passim, sowie von namenkund licher Seite durch Elmar Neuß, Zum Erscheinen der Edition des ‚Liber Memorialis von Remiremont‘, Beiträge zur Namenforschung, Neue Folge 7 (1972) S. 1 – 7, und insbesondere auch die Auswertung von Einträgen und Eintragskomplexen in der damals noch unveröffentlichten Studie von Karl Schmid, Unerforschte Quellen aus quellenarmer Zeit. Zur amicitia zwischen Heinrich I. und dem westfränkischen König Robert im Jahre 922, Francia 12 (1985) S. 119 – 147, sowie in Dieter Geuenich, Frühmittelalterliche Listen geistlicher Gemeinschaften. Versuch eine prosopographischen, sozialgeschichtlichen und sprachhistorischen Einordnung (Habilitationsschrift Freiburg 1980). 22 Vgl. den von Michel Parisse publizierten Tagungsband: Remiremont. L’abbaye et la ville. Actes des journées d’études vosgiennes, Remiremont 17 – 20 avril 1980 (1980). 23 Vgl. das Fazit, das der Mitherausgeber Karl Schmid in seinem Sektionsvortrag auf dem Mannheimer Historikertag 1976 zog: „Die Grenzen dieser Edition sind aus historischer Sicht notgedrungen eng gesteckt, weil sie der Interdependenz der Einträge nicht gerecht zu werden vermag“: Karl Schmid, Gedenk- und Totenbücher als Quellen (Mittelalterliche
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Dafür gibt es zunächst Gründe formaler Art, das heißt solche, die in der editorischen Aufbereitung und Präsentation des Überlieferungsgutes selbst liegen: –– Auch bei der vollständigen Auflösung des Originalbefunds blieb doch die Seitenfolge des Codex als Grundgerüst für die Ordnung des Gesamtmaterials erhalten, Das hat zur Folge, dass nun zwar für jede Seite eine relative chronologische Reihung vorliegt, die absolute Chronologie, das heißt die Zuordnung der Einträge zu Zeitschichten, jedoch von Fall zu Fall mühsam über den dreigeteilten paläographisch-chronologischen Kommentar festgestellt werden muss. Es bleiben bei diesem Wiedergabeprinzip die historischen Zusammenhänge durch das zufällige Nebeneinander zeitlich ganz disparater Einträge verdeckt; die Zusammenschau aller ein und derselben Zeitschicht entstammenden Überlieferungen ist so erheblich erschwert. –– Der erste Teil des beigegebenen Registers – er wird ‚Personenregister‘ genannt, ist aber in Wirklichkeit ein ‚Personennamenregister‘ – wird mit seiner in vielen Fällen problematischen Zuordnung aller im Codex vorkommenden germanischen Personennamen zu den sogenannten Förstemann-Stämmen seiner Aufgabe, ein rasches und problemloses Auffinden gesuchter Belege zu ermög lichen, nicht gerecht.24 –– Die jeweils eine bestimmte historische Person bezeichnenden Namenbelege als die eigentlichen Grundeinheiten der Überlieferung – sie sollen ja durch das Register erschlossen werden – sind innerhalb der Einträge nicht durchnummeriert. Bei umfangreichen Einträgen, in denen oft mehrfach derselbe Name auftaucht, erschwert das die Suche.
Textüberlieferung und ihre kritische Aufarbeitung. Beiträge der Monumenta Germaniae Historica zum 31. Historikertag, Mannheim 1976, 1976) S. 81. 24 Auch das hat Karl Schmid bereits kurz nach dem Erscheinen der Edition vor allem im Hinblick auf den grundlegenden Unterschied zwischen ‚Personenregister‘ und ‚Personennamenregister‘ festgestellt: Karl Schmid, Personenforschung und Namenforschung am Beispiel der Klostergemeinschaft von Fulda, Frühmittelalterliche Studien 5 (1971) S. 235 – 267, hier S. 237 ff; weniger grundsätzlich, vielmehr von der Belegsuche ausgehend Constable, The Liber Memorialis (wie Anm. 21), S. 271 f.
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II. Der neue Ansatz zur Erschließung des Überlieferungsgutes Zur Überwindung dieser eher formal-organisatorischen Probleme war also zunächst eine neue Form der Aufbereitung der Namenüberlieferung erforder lich. Grundlegend dafür war die Anwendung der damals für das Quellenwerk ‚Societas et fraternitas‘ erreichten Standards, vor allem die ‚Lemmatisierung‘ der Belege und die Parallelisierung der zeitgleichen Überlieferungen; letzteres hatte die chronologische Schichtung der Einträge auf der Basis der zeitlichen Reihung der Hände zur Voraussetzung. Der mit Hilfe der EDV erzeugte Teil B der Remiremont-Studien 25 besteht dementsprechend aus einer „Graphischen Darstellung der Eintragsstruktur“ und dem durch einen „Alphabetischen Namenindex“ erschlossenen „Gesamtregister der Namen-Überlieferung“.26 Die eigentlichen Ursachen für die methodischen Schwierigkeiten, die der historischen Auswertung des im Liber Memorialis enthaltenen Überlieferungsmaterials entgegenstehen, waren damit jedoch nicht behoben. Um weiterzukommen, bedurfte es eines erneuten grundlegenden Ansatzes zu ihrer Auswertung. Er war auf die Klärung der Entstehung, Zweckbestimmung und Funktion des Remiremonter Gedenkbuchs gerichtet, auf die Erhellung der historischen Umstände und Bedingungen, unter denen er generationenlang als liber vitae einer geistlichen Gemeinschaft in Gebrauch gewesen ist.27 Es galt, damit an der Stelle neu einzusetzen, bis zu der die Lösung der damit zusammenhängenden Fragen und Probleme bereits in der Forschungsphase vor 1970 vorangetrieben worden waren. Das Ziel der damaligen Bemühungen der Bearbeiter – das ist noch einmal ausdrücklich zu betonen – war es, die Voraussetzungen für eine Edition zu schaffen, durch die das im Liber Memorialis vorliegende reichhaltige Überlieferungsgut für die mediävistische Forschung benutzbar gemacht wird. Dementsprechend war das Hauptaugenmerk der Bearbeiter auf die paläographische und chronolo gische Abgrenzung und Bestimmung der Einträge und Eintragsschichten gerichtet. Wichtige Fragen der Entstehung des Codex und seiner Benutzung im Laufe der 25 Wie Anm. 1. 26 Zu den Einzelheiten siehe unten nach Anm. 31. 27 Ein zentrales Zeugnis dafür ist das Herrscherdiptychon fol. 3v (siehe Abbildung 11), das im Mittelpunkt der Analysen des in Anm. 2 zitierten Aufsatzes steht; Karl Schmid hat auf der Basis meiner Gesamtergebnisse die Überlegungen dazu weitergeführt (siehe unten nach Anm. 51).
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Karolinger- und Ottonenzeit konnten dagegen nicht abschließend beantwortet werden. Es bestand zwar durchaus Klarheit darüber, dass eine Lösung dieses Problems nur durch die Analyse und Auswertung der die Klostergemeinschaft von Remiremont selbst betreffenden Eintragungen zu erreichen sein würde, doch fehlten zunächst die zeitlichen und methodischen Möglichkeiten, die erforder lichen umfassenden Vergleichsoperationen durchzuführen. Es ergab sich also im Hinblick auf den Gang und damals erreichten Stand der Forschungsdiskussion ein auffallendes Defizit: War einerseits durchaus festzustellen, dass wichtige Phasen und Aspekte der Geschichte des Romarich-Klosters auf der Grundlage aufschlussreicher Einträge mehr oder weniger intensiv untersucht und über die mittelalterlichen Äbtissinnen und die Abfolge ihrer Amtsperioden sogar eine monographische Darstellung möglich gewesen war,28 so musste andererseits ein Komplex, der sich für die Beurteilung der Überlieferungssituation wie insbesondere auch der Klostergeschichte insgesamt als Kernbereich darstellt, ausgespart bleiben: die Frage nach denjenigen, die Generation für Generation das Kloster mit Leben füllten und die als geistliche Frauengemeinschaft im Zentrum eines vielschichtigen personalen und institutionellen Beziehungsgeflechts standen. Dabei ist gerade in diesem Fall ein solcher methodischer Ansatz besonders vielversprechend. Im Liber Memorialis hat nämlich die Gemeinschaft, die ihn geführt hat, ein in mehrfacher Hinsicht aufschlussreiches Zeugnis ihrer geschicht lichen Existenz hinterlassen: in den die eigenen sorores betreffenden Eintragungen, die darin breiten Raum einnehmen. Darin liegt für einen großen Zeitraum eine detaillierte Dokumentation der personalen Zusammensetzung des Konvents vor. Wichtige Ereignisse und Vorgänge der internen Klostergeschichte finden in bestimmten Eintragungen ihren Niederschlag, und schließlich spiegelt sich in der inhaltlichen wie der formalen Gestaltung der Gedenk-Aufzeichnungen insgesamt sowie in der Konfiguration der darin erfassten Personenkreise in sehr konkreter Weise, welchen Platz die Konventualen von Remiremont und ihr Kloster in den kirchlich-politischen und den sozialen Strukturen des 9. und 10. Jahrhunderts einnahmen und wie sie sich selbst darin sahen. Das ist bei der gerade für diesen Zeitraum ansonsten, was Remiremont betrifft, sehr ungünstigen Überlieferungssituation von besonderer Relevanz.29 Darüber hinaus ist Remiremont als Frauenkloster ein besonders interessanter Beispielfall, weil es sich um eine geistliche Institution handelt, bei der die Stellung im kirchlich-politischen und sozialen Umfeld sowie das Selbstverständnis der
28 Vgl. die in den Anm. 8, 12 und 13 aufgeführten Arbeiten. 29 Vgl. dazu den in Anm. 2 genannten Überblicksartikel.
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sie tragenden Kommunität naturgemäß von anderen Voraussetzungen bestimmt wurden als bei einem Männerkloster. Schon die Unmöglichkeit, die priesterlichen Aufgaben in Seelsorge und Liturgie erfüllen zu können, macht das deutlich. Aber auch Probleme wie Schutz und Vogtei, das Verhältnis zur weltlichen und kirch lichen Amtsgewalt sowie die Verwaltung der Grundherrschaft stellen sich hier in spezifischer Ausprägung. Ganz grundsätzlich war schließlich zu fragen, wie in einem Frauenkloster wie Remiremont überhaupt klösterliches Gemeinschafts leben im Sinn monastischer Consuetudines realisiert werden konnte, wenn zum Beispiel die familiären Bindungen der einzelnen Konventsmitglieder und damit die Beziehungen zur adeligen Laienwelt in sehr viel intensiverer Weise als bei einer Mönchsgemeinschaft fortbestanden. Die Bemühungen um die Klärung dieser Probleme mussten sich also auf zwei verschiedenen Ebenen gleichzeitig bewegen: Einerseits galt es, die Geschichte Remiremonts und seiner Sanctimonialen zu erhellen, um den historischen Kontext deutlich werden zu lassen, von dem der Entstehungsprozess des Liber Memorials bestimmt war. Nur vor diesem Hintergrund ließ sich der komplizierte Werdegang von seiner ersten Anlage über die Neuansätze und Ergänzungen bis hin zur völlig veränderten Form der Eintragungen im endenden 10. Jahrhundert verstehen. Auf der anderen Seite war gerade dafür durch die Aufbereitung der im Liber Memorialis vorliegenden Überlieferung die Quellenbasis zu sichern. Der Gang der Untersuchungen war damit vorgegeben: Der Teil A ist in drei aufeinander aufbauende Kapitel gegliedert, in denen jeweils die Benutzung des Gedenkbuchs, das heißt die Entstehung der Anlagen und der verschiedenartigen Einträge aus der Perspektive der das Gedenken praktizierenden Gemeinschaft, Gegenstand der Analyasen ist, und zugleich die historischen Geschicke dieser Gemeinschaft selbst untersucht werden, soweit sie in den Aufzeichnungen ihren Niederschlag gefunden haben. Zunächst geht es also um die Anlage-Problematik und die Analyse der Konvents-Überlieferung, die den Schwerpunkt der bis 862/63 vorgenommenen Eintragungen bildet. Die Präsenz der Konventsmitglieder in der Fülle der Gedenk-Einträge, die den Liber Memorialis bis in die ersten Jahrzehnte des 10. Jahrhunderts in einem stetig anschwellenden Strom überfluten, ist Untersuchungsgegenstand des zweiten Kapitels. Dieser Überlieferungsbefund wird dabei von einem sich wandelnden Selbstverständnis und veränderten Beziehungen der Sanctimonialen zur Außenwelt her erklärbar. In einem zweiten Ansatz sind darin auch das Abebben der Gedenk-Einträge in der Mitte des 10. Jahrhunderts und das Einsetzen der Traditionsnotizen einbezogen, die in einem erneuten kontinuierlichen Strom die früheren Eintragsschichten überlagern. Ein Stück weit lässt sich dadurch
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aus der Innenperspektive die Stellung Remiremonts in der in radikalen Umwälzungen begriffenen kirchlichen und laikalen Welt Lothringens im endenden 9. und beginnenden 10.Jahhundert erhellen. Im dritten Kapitel schließlich werden die erzielten Ergebnisse zusammen mit weiteren Befunden, die der Liber Memorialis bietet, unter der übergeordneten Fragestellung ausgewertet, wie sich am Beispiel Remiremonts und seiner Gedenk-Aufzeichnungen die spezifischen Probleme einer geistlichen Frauengemeinschaft in einem Königskloster des Frühen Mittelalters darstellen.30 Möglich waren diese Untersuchungen – das ist noch einmal ausdrücklich zu betonen – nur durch die Monumenta-Germaniae-Historica-Edition. Durch sie ist das gesamte Überlieferungsgut einschließlich der nur noch bruchstückhaft beziehungsweise nur mit technischen Hilfsmitteln zu entziffernden Bestandteile von Texten und Eintragungen in zuverlässigen Lesungen wiedergegeben. Genau so deutlich ist aber auch hervorzuheben, dass die weiterführenden Studien mit der Edition allein und den ihr beigegebenen Registern und Kommentaren nicht hätten durchgeführt werden können. Dazu bedurfte es vielmehr einer weiteren Aufbereitung und systematischen Erschließung des Beleg-Materials. Erforder lich waren zum einen aufwändige Vergleichs- und Suchoperationen, die auf die in den Gedenk-Aufzeichnungen genannten Personen und Personengruppen gerichtet waren, zum anderen mussten Möglichkeiten entwickelt werden, den Gesamtbefund der über 15.000 Personennamen-Belege in seiner zeitlichen und codicologisch-paläographischen Schichtung gleichsam wie einen archäologischen Befund studierbar zu machen. Die dafür erforderlichen Arbeitsschritte wären mit herkömmlichen Hilfsmitteln in einem vertretbaren Zeit- und Arbeitsaufwand nicht realisierbar gewesen, sie erforderten vielmehr den Einsatz der Elektronischen Datenverarbeitung. Im damaligen Teilprojekt ‚Personen und Gemeinschaften‘ des Sonderforschungsbereichs 7 ‚Mittelalterforschung‘ in Münster und durch die Kooperation mit dem Rechenzentrum der Westfälischen Wilhelms-Universität, durch das die auf dem damaligen Entwicklungsstand besten Instrumentarien zur
30 Vgl. die Kapitelüberschriften bei Jakobi, Der Liber Memorialis (wie Anm. 1): I. Die Konventsüberlieferung als Kern der frühen Gedenk-Aufzeichnungen (S. 27 – 140); II. Der Konvent von Remiremont und der Wandel in den Gedenk-Aufzeichnungen nach 862/63 (S. 141 – 182); III. Probleme der frühmittelalterlichen Geschichte Remiremonts im Lichte der Gedenkaufzeichnungen (S. 183 – 254); 1. Mönche und Priester in Remiremont und ihre Funktion in der Klostergemeinschaft; 2. Zur Durchführung und zum Nachwirken der Reform-Maßnahmen von 817/18 und in den 930er Jahren; 3. Die Bedeutung der Beziehungen zum Königtum.
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Verfügung gestellt wurden, war es möglich, in mehreren Arbeitsschritten und Verfahren die neuen Formen der Materialaufbereitung zu erzeugen 31. Im Einzelnen bedeutete das: Zunächst musste die Namenüberlieferung auf der Basis der Edition so aufbereitet und Beleg für Beleg abgespeichert werden, dass die insgesamt vorhandenen Informationen für jeden Beleg in beliebiger Kombination abgerufen werden konnten, wobei zu den durch die Edition bereitgestellten noch die Nummerierung der Namen innerhalb der Einträge und die Zuordnung zu einer Zeitschicht hinzugefügt wurden. Folgende fünf Zeitschichten wurden anhand der in der Edition bereits vorgegebenen Grobdatierung aller Einträge und Hände festgelegt: –– Schicht 1: die Einträge der Hände 1 – 5 in den älteren Anlage-Bestandteilen und die sonstigen vor der Erneuerung der Gedenkbuch-Anlage (862) entstandenen Einträge. –– Schicht 2: die Einträge der Hände 6 – 24 und die sonstigen von 862 bis ca. 900 entstandenen Einträge. –– Schicht 3: die Einträge der Hände 25 – 39 und die sonstigen von ca. 900 bis ca. 950 entstandenen Einträge. –– Schicht 4: die Einträge der Hände 40 – 49 und die sonstigen von ca. 950 bis 1000 entstandenen Einträge. –– Schicht 5: die Einträge der Hände 50 – 58 und die sonstigen nach 1000 entstandenen Einträge. –– Schicht 0: die keiner Hand zugewiesenen und nicht zeitlich einzuordnenden Belege. Mit Hilfe dieser Grunddaten ließ sich als erstes Arbeitsinstrumentarium eine „Graphische Darstellung der Eintragsstruktur“ in Form eines Plotter-Ausdrucks erzeugen, in der sich die Tätigkeit der verschiedenen Hände in den verschiedenen Teilen des Codex und in ihrer zeitlichen Erstreckung sowie spezifiziert nach Gedenk-Einträgen, Necrolog-Einträgen und Traditionsnotizen in einem Zuge ablesen lässt.32 Um die für die Untersuchungen erforderlichen Vergleichsoperationen vornehmen zu können, musste noch ein weiteres Strukturierungselement hinzukommen, das nicht den Originalbefunden zu entnehmen war: die philologische 31 Die methodischen Grundlagen und die einzelnen Arbeitsschritte sind dargelegt im Abschnitt 3 der Einleitung: Zur Erschließung des personenbezogenen Überlieferungsgutes mit Hilfe der Elektronischen Datenverarbeitung (EDV). 32 Einen Eindruck der großformatigen Graphik bietet der als Abbildung 8 wiedergegebene Ausschnitt, der die Stellung der Anlage von 862/63 im Ganzen des Codex sichtbar macht.
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‚Lemmatisierung‘ der Personennamen, das heißt die Zuordnung der zahlreichen Schreibvarianten ein und desselben Namens zu einer namenphilologisch bestimmten Grundform.33 Erst dadurch ist die formale Vergleichbarkeit der potentiell einer Person zuzuordnenden Namenbelege möglich. Die ‚Lemmatisierung‘, für die im Projekt ‚Personen und Gemeinschaften‘ Dieter Geuenich verantwortlich war, wurde ebenfalls durch dafür entwickelte Spezialprogramme im Rechenzentrum der Westfälischen Wilhelms-Universität durchgeführt. Damit war es nun möglich, das zweite Arbeitsinstrumentarium 34 zu erzeugen: das „Gesamtregister der Namen-Überlieferung“ .35 Zusammen mit einem vorgeschalteten „Alphabetischen Gesamtindex“ und der ‚Graphischen Darstellung der Eintragsstruktur‘ bildet es den Teil B der Arbeit.36 In den Argumentationsgang im Teil A eingearbeitet sind weitere gezielte Aufbereitungen in Registerform und einzelne tabellarische Auflistungen, die das Ergebnis automatisierter Suchoperationen darstellen, bei denen nach Namengruppen gesucht wird, die in zwei oder mehreren Einzeleinträgen wiederkehren und die auf identische Personengruppen hindeuten.37
33 Dazu grundlegend: Dieter Geuenich, Die Lemmatisierung und philologische Bearbeitung des Personennamenmaterials, in: Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter, unter Mitwirkung von Gerd Althoff / Eckhard Freise / Dieter Geuenich / Franz-Josef Jakobi / Hermann Kamp / Otto Gerhard Oexle / Mechthild Sandmann / Joachim Wollasch / Siegfried Zörkendörfer, hg, von Karl Schmid (1978) Band 1, S. 37 – 84. 34 Die methodischen Prinzipien und der strukturelle Aufbau eines ‚Parallelregisters‘ wurden ebenfalls für das ‚Fulda-Werk‘ entwickelt; siehe die Einleitung zum „Kommentierten Parallelregister“, in: Die Klostergemeinschaft (wie Anm. 33) Band 2.1, S. 7 – 36. 35 Siehe den als Abbildung 9 wiedergegeben Ausschnitt mit dem Lemma Th 50 Theud/ Hildi. 36 Wie Anm. 1; die Realisierung wäre nicht möglich gewesen ohne die fachliche Unterstützung von Hermann Kamp (Programme) und Siegfried Zörkendörfer (Graphische Darstellung) vom Rechenzentrum der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; zu den Einzelheiten siehe die dem Teil B vorangestellten „Erläuterungen“ (S. 2 – 6). 37 Siehe die als Abbildung 10 wiedergegebenen Gruppeneinträge mit Konventsmitgliedern und Verwandten der Waldrada, der Konkubine König Lothars II.; ermöglicht wurde das durch ein in Zusammenarbeit mit dem Rechenzentrum entwickeltes ‚Gruppensuchprogramm‘, durch das das gesamte Beleggut systematisch durchsucht werden konnte.
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III. Die neuen Erkenntnisse zur Entstehung und Benutzung des Liber Memorialis und zur Klostergeschichte von Remiremont Die erste neu zu beantwortende Frage war die nach den Anlagen des Liber Memorialis und deren zeitlicher Abfolge sowie der Relation der Bestandteile des heutigen Codex zueinander. Die Bearbeiter der Monumenta Germaniae Historica-Edition sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es drei kurzfristig aufeinander folgende Initiativen dazu gegeben hat: eine erste Ende 820/Anfang 821 aus Anlass der – wie Eduard Hlawitschka nachgewiesen hat 38 – zwischen 817 und 819 erfolgten Annahme der Benedikts-Regel und der Verlegung der für das Gemeinschaftsleben eines Nonnenkonvents ungeeigneten alten Anlage auf dem Mons Habendum ins Moseltal; eine zweite in den 840er Jahren und eine dritte 862/63, bei der die Anlage von 820/21 erneuert wurde.39 Plausible Erklärungen aus dem Verlauf der Klostergeschichte oder aus besonderen Ereignissen als Anlass für diesen zweimaligen Neuansatz nach jeweils 20 Jahren waren beim damaligen Stand der Forschung nicht möglich.40 Die detaillierte Analyse der gesamtem Konventsüberlieferung des 9. Jahrhunderts, für die das ‚Gesamtregister der Namenüberlieferung‘ die Voraussetzungen schuf, führte zu einer Neubewertung der Entstehung der Gedenkbuch-Anlagen und ihrer Benutzung im Laufe des 9. Jahrhunderts: Wichtigstes Ergebnis war, dass es nur zwei Initiativen zur Neuordnung der für das Gebetsgedenken erforder lichen Aufzeichnungen gegeben haben kann, nämlich 820/21 und 862/63, wobei letztere lediglich als eine eng auf das Original bezogene Erneuerung der ersten anzusehen ist. Die erste Anlage von 820/21 war durch intensive Eintragstätigkeit für die alltägliche Gedenkpraxis und für deren Fortführung unbrauchbar geworden. Eine zweite in den 840er Jahren hat es nicht gegeben; die Neuanlage einer Konventsliste, die dafür zu sprechen scheint, erklärt sich aus dem intensiven Konventsgedenken mit der liturgisch erforderlichen Trennung der memoria 38 Eduard Hlawitschka, Zur Klosterverlegung und zur Annahme der Benediktsregel in Remiremont, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 109, Neue Folge 70 (1961) S.249 – 269. 39 LMR, S. XVI ff. 40 Siehe den entsprechenden Hinweis in der Einleitung zum LMR (S. XX, Anm. 21), wo auf eine Untersuchung dazu hingewiesen wird, die „Karl Schmid … in Zusammenarbeit mit einem seiner Schüler … demnächst vorlegen“ werde; die Frage nach der Beurteilung der drei Ansätze ist dort offener formuliert als in den frühen Studien Hlawitschkas.
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mortuorum von der memoria viventium, das heißt der Tilgung der Verstorbenen aus der sicher auch 820/21 angelegten aktuellen Konventsliste und ihrer Übertragung ins Necrolog sowie der Verzeichnung der neu Eingetretenen durch Nachträge; nach 20 Jahren war diese Buchführung unübersichtlich geworden und erforderte eine neue aktuelle Konventsliste.41 Die zweite Frage war die nach den Gründen für diesen Befund.42 Den Schlüssel für die Erklärung sowohl der ursprünglichen Anlage, als auch für ihre Erneuerung liefert die Person der Äbtissin Theuthild und der Verlauf der Klostergeschichte während ihres über vier Jahrzehnte währenden Abbatiats. Sie war in jungen Jahren als dem Hof Ludwigs des Frommen nahestehende Verwandte der Kaiserin Judith für die Durchsetzung der Reformbeschlüsse der Aachener Synoden nach Remiremont geschickt worden und hatte hier für einen grundlegenden Neubeginn monastischen Gemeinschaftslebens gesorgt. Teil ihrer Initiativen war nach der Klosterverlegung und der Annahme der Benediktsregel vor allem auch die völlige Neuordnung der liturgischen Memoria mit der dazu erforderlichen Anlage eines entsprechenden Liber Memorialis. Eingeleitet wurde dieser durch den diesbezüglichen Konventsbeschluss. Es folgten die Gebetstexte für die täglich zu feiernde Votivmesse für alle, die darin aufgeführt sind, eine Herrscherliste in Diptychon-Form und schließlich die Verzeichnisse der bis 817 verstorbenen und der lebenden Konventsmitglieder. Weitere Bestandteile bildeten die Kalendare für zwei Necrolog-Anlagen, eine für die Konventsmitglieder und eine für die Freunde und Wohltäter bestimmt. Komplettiert wurde die Anlage durch Blätter, die für die Aufnahme von Mitgliederlisten verbrüderter Konvente vorgesehen waren. Die darin manifest werdende Programmatik liegt ganz auf der Linie der kirch lichen Reformbeschlüsse der Aachener Synoden von 816 bis 819. Bei den Bemühungen um die forma unitatis, um die Durchsetzung einheitlicher c onsuetudines in allen geistlichen Gemeinschaften des Frankenreiches, ging es den Reformern um Benedikt von Aniane unter anderem auch um eine Vereinheitlichung des gesamten liturgischen Lebens. Verbindliche Vorschriften über die Praxis des Gebets-Gedenkens für Lebende und Verstorbene waren Bestandteil dieser 41 Der ausführlichen Beweisführung unter Berücksichtigung aller im Codex verfügbaren Überlieferungselemente sind die insgesamt über fast 100 Seiten umfassenden Kapitel I.1. Die Anlage-Bestandteile des heutigen Codex und die ursprüngliche Anlage des Gedenkbuchs und I.2 Analyse der Konventsüberlieferung mit Hilfe des „Kommentierten Parallelregisters“ der Remiremont-Studie (wie Anm. 1) S. 27 – 130 gewidmet. 42 Siehe dazu Jakobi, Der Liber Memorialis (wie Anm. 1) Kapitel I.3 Die Spannung zwischen der Anlage-Programmatik und den frühen Gedenkaufzeichnungen in Remiremont (S. 131 – 140).
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Bemühungen. Besonderer Wert wurde dabei auf die Memoria für den Herrscher und sein Geschlecht gelegt. Weitere Bestimmungen betrafen die Durchführung der Toten-Memoria in Form des Anniversargedenkens. Die Konzentration auf den eigenen Konvent – zum Ausdruck gebracht unter anderem durch die gegenseitige Gebetshilfe der Konventualen füreinander zu Lebzeiten und besonders nach dem Tode – gehörte zu den Hauptanliegen, die in der Umgebung Benedikts von Aniane praktiziert und propagiert wurden. Dazu zählten auch Gebetsver pflichtungen zwischen verbrüderten geistlichen Gemeinschaften. Remiremont – so muss man schlussfolgern – scheint von den monastischen Reformern als eine Art exemplarischer Fall für die Durchführung der neuen Vorschriften in Frauen klöstern ausersehen worden zu sein. In diesem Zusammenhang wird eine dritte Frage interessant. Sie ergibt sich dadurch, dass in dem einleitenden Konventsbeschluss außer der Äbtissin Theuthild ein pater noster dominus Theotricus genannt ist, über dessen Person und Funktion keinerlei weitere Nachrichten vorliegen. Die Belege im Liber Memorialis 43 lassen eine eindeutige Identifizierung dieser für die Klostergeschichte offenbar nicht unwichtigen Persönlichkeit zu:44 Es handelt sich erstens um die Nennung eines dominus Teudericus an der Spitze eines aus den 850er Jahren stammenden Eintrags mit der Überschrift Nomina sacerdotum loci praesentis; sodann zweitens um den Eintrag einer Gruppe von Verstorbenen mit ihrem jeweiligen Todestag aus den 860er Jahren, an deren Spitze ebenfalls ein Teodricus presbiter aufgeführt ist; drittens gibt es den entsprechenden in die frühen 860er Jahre zu datierenden Necrolog-Eintrag; und viertens erscheint er in Gruppeneinträgen mit Konventsmitgliedern. Diese Beleg-Situation lässt den Schluss zwingend erscheinen, dass ein junger dem lotharingischen Umfeld Remiremonts entstammender Priester zusammen mit der jungen Äbtissin als Leiter der für die liturgischen und sakramentalen Dienste erforderlichen Priestergruppe nach Remiremont geschickt wurde und dort zusammen mit ihr bis in die 860er Jahre als Propst amtierte. Offenbar hatte er eine Reihe von Verwandten im Konvent. Solange die Äbtissin und mit ihr der Propst Theotricus im Amt waren, blieb – nach dem Ausweis der bis in die 840er Jahre im Wesentlichen auf den internen Kreis von Konvent, kaiserlicher Familie und wenigen ausgewählten Freunden und Wohltätern beschränkten Gedenk-Aufzeichnungen im Liber Memorialis – der 43 Siehe die Belegkonstellation und die Identifizierungsmöglichkeiten, die das Lemma 59 Theud-rk ausweist (Gesamtregister der Namenüberlieferung, S. 423). 44 Die Überlieferungsanalyse und die Interpretation der Befunde finden sich im Kapitel III.1 Mönche und Priester in Remiremont und ihre Funktion in der Klostergemeinschaft: Jakobi, Der Liber Memorialis (wie Anm. 1) S. 183 – 208.
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Reform-Impuls der 820er Jahre wirksam. Gegen Ende ihres Abbatiats gab es in der wohl auf sie selbst zurückgehenden Erneuerung der Anlage von 820 noch einmal Bestrebungen, die Reform-Programmatik wieder aufleben zu lassen.45 Keineswegs aber kann man in dieser Erneuerung ein Zeichen dafür sehen, dass Reform-Gesinnung und Reform-Bereitschaft auch in den 860er Jahren noch ungebrochen gewesen wären oder gar einen neuen Höhepunkt erreicht hätten. Unmittelbar danach setzten nämlich bereits die später die Seiten überwuchernden Gedenk-Einträge ein, auch die, in denen Konventsmitglieder im Kreis ihrer Verwandten und Freunde erscheinen, während die eigentliche Konventsüberlieferung in Form der Listen- und Necrolog-Führung immer unregelmäßiger wird und schließlich ganz versiegt.46 Man muss demnach die Erneuerung der GedenkbuchAnlage, durch die dieser Prozess keineswegs aufgehalten wurde, als vergeblichen Versuch der greisen Äbtissin werten, am Ende ihres Wirkens in Remiremont den Vorstellungen, mit denen sie ihr Amt angetreten hatte, gegen die bereits in Gang befindlichen gegenläufigen Entwicklungen noch einmal Geltung zu verschaffen. Als symptomatisch dafür kann die Einbeziehung Remiremonts in die WaldradaKrise angesehen werden, den verzweifelten Versuch König Lothars II., durch die Trennung seiner kinderlosen Ehe mit Theutberga und die Anerkennung seiner Verbindung mit seiner Friedelfrau Waldrada sowie der gemeinsamen Kinder, seiner Nachkommenschaft die Teilherrschaft in ‚Lotharingien‘ zu sichern.47 Die Bedeutung Remiremonts in dieser spannungs- und konfliktreichen Phase der karolingischen Teilreiche wird durch ein dort stattfindendes, gegen Karl den Kahlen gerichtetes Koalitions-Treffen Lothars II. mit König Ludwig dem Deutschen und seinen Söhnen Ludwig und Karl und dem durch Karl den Kahlen bedrohten Karl von der Provence an Weihnachten 861 verdeutlicht, das seinen Niederschlag in einem feierlichen Gedenkbucheintrag fand, in den Waldrada mit ihrer Gefolgschaft einbezogen war. Karl Schmid hat dem Eintrag eine seiner frühen Studien gewidmet.48 Sozusagen für die Gegenposition – die offensichtliche Parteinahme der Äbtissin Theuthild für Karl den Kahlen und für Königin Ermentrud, ihreVerwandte, – wird die Neu-Gestaltung des Herrscherdiptychons in der Neu-Anlage des Liber 45 Siehe dazu unten nach Anmm. 59 und 70. 46 Siehe dazu Jakobi, Der Liber Memorialis (wie Anm. 1) S. 141 – 173: Kapitel II Der Konvent von Remiremont und der Wandel in den Gedenkaufzeichnungen nach 862/63. 47 Diese Problematik ist im Rahmen des Kapitels III. 3 Die Bedeutung der Beziehungen zum Königtum, erörtert: Jakobi, Der Liber Memorialis (wie Anm. 1) S. 224 -254, hier S. 236 f . 48 Schmid, Ein karolingischer Königseintrag (wie Anm. 12).
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Memorialis von 862/63 mit den Schlusspositionen: Dagobert, Balthildis – Karl, Ermentrud zum wichtigen Zeugnis 49. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die persönlichen Beziehungen Theuthilds zum Hofe Ludwigs des Frommen nach dem Ausweis ihrer Briefe in besondere Weise die Kaiserin Judith, die Mutter Karls des Kahlen, und ihren Verwandten, den ‚Seneschall‘ Adalhard, betrafen. Adalhard aber spielte in der fraglichen Zeit eine bedeutende Rolle im Reich Karls des Kahlen. In noch eindeutigerer Weise ist Theuthilds Affinität zum westfränkischen Hof jedoch dadurch zu belegen, dass Adalhard und damit auch sie Verwandte der Königin Ermentrud, einer Tochter des Grafen Odo von Orleans, waren. Die in der Tradition der geistlichen Erneuerung unter Ludwig dem Frommen stehende Äbtissin von Remiremont gehörte zu denen im Reich Lothars II., die gegen ihren König und seine Politik der Legitimierung seiner Verbindung mit Waldrada Front machten, auf Karl den Kahlen setzten und schließlich dafür sorgten, dass er unmittelbar nach dem Tode seines Neffen im Jahr 869 in Metz zum König und Nachfolger erhoben werden konnte. Dagobert und Balthildis waren im Reich Karls des Kahlen hochgeschätzte Angehörige des ersten fränkischen Herrschergeschlechts. Balthildis, die Gründerin von Chelles, wurde schon bald nach ihrem Tod als Heilige verehrt und erhielt eine Vita. Für ihre besondere Wertschätzung in der Karolingerzeit spricht die Tatsache, dass ihr Kult auf Veranlassung Ludwigs des Frommen durch die Translation ihrer Reliquien in eine größere Kirche neu belebt wurde. Die Königin Ermentrud aber stand in besonderer Beziehung zu Chelles: für das Jahr 855 ist sie als Äbtissin des Stifts bezeugt. Mit Dagobert dürfte nach der Analyse der Merowinger-Namen auf der linken Diptychon-Seite König Dagobert I., der Sohn Chlothars II. aufgeführt sein. Auch er stand als Förderer des Königsklosters St. Denis in der Karolingerzeit in hohem Ansehen: in den 830er Jahren wurden wahrscheinlich dort zu seiner Verherrlichung die Gesta Dagoberti verfasst, die unter anderem seine Verdienste um kirchliche Einrichtungen gebührend hervorheben. Zu St. Denis wiederum hatte Karl der Kahle enge Beziehungen. Sie zeigen sich am deutlichsten darin, dass er die Abtswürde des Klosters für sich beanspruchte, als Abt Ludwig, sein Verwandter und Protonotar, verstorben war. Eine Gesamtinterpretation des Diptychons und die Rekonstruktion seiner Vorlage in der Anlage von 820/21 kann hier nicht erfolgen.50 Hingewiesen sei lediglich 49 Siehe die Wiedergabe des Herrscher-Diptychons (LMR, fol. 3v) als Abbildung 11. 50 Sie ist in der Studie „Diptychen als frühe Form der Gedenkaufzeichnungen“ (wie Anm. 2) durchgeführt; wahrscheinlich gemacht werden konnte darin, dass es in Remiremont von der Gründung an diptychonförmige Aufzeichnungen für das Konvents- und Herrschergedenken gegeben hat.
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auf das Fehlen Lothars II., des Herrschers in dem Teilreich, in dem Remiremont lag. Er galt den für die Gestaltung Verantwortlichen durch die Waldrada-Affäre offensichtlich als diskreditiert. Ein den christlichen Herrscheraufgaben gerecht werdendes Herrscherpaar wurde vielmehr in Karl und Ermentrud gesehen. Karl Schmid hat in seinem den damaligen Stand der Forschungen zum Liber Memorialis zusammenfassenden Aufsatz mit der programmatischen Titelaussage „Auf dem Wege zur Erschließung des Gedenkbuchs von Remiremont“ 51 eigene frühere Studien wieder aufgegriffen und mit weiterführenden Überlegungen daran angeknüpft. Sie richteten sich unter anderem zunächst – in Auseinandersetzung mit Thesen Christian Wilsdorfs – auf die frühen Beziehungen zwischen Remiremont und Murbach, die im Liber Memorialis ihren besonderen Niederschlag gefunden haben,52 oder – in Auseinandersetzung mit der These von Rosamond McKitterick, in Remiremont habe es ein Scriptorium der Sanctimonialen gegeben, in dem der Liber Memorialis angefertigt worden sein könnte, – mit der Frage nach den in den Anlagebestandteilen zu identifizierenden Händen und den Scriptorien beziehungsweise Persönlichkeiten, auf die sie zu beziehen sind 53. Den Kern der Erörterungen bilden sodann die Probleme der Anlagen des Liber Memorialis und des Gedenkens für die Angehörigen der Remiremonter Klostergemeinschaft, wobei er meine Ergebnisse im Wesentlichen bestätigt.54 Weiterführende Überlegungen richtete er sodann unter Einbeziehung und Würdigung meiner eigenen auf das „Gedenkwesen in der benediktinischen Frauenabtei Remiremont“ ganz generell und dessen Stellung in den benediktinischen Reformen des Frühmittelalters;55 Funktion und Bedeutung des dominus und praepositus Theotricus und der Remiremonter Priestergruppe und das darin manifest werdende Problem der Unterschiede zwischen geistlichen Männer- und Frauengemeinschaften bilden dabei den Schwerpunkt.56 Entgegen diesen den damaligen Stand der Erforschung des Liber Memorialis zusammenfassenden und in wichtigen Aspekten weiterführenden Ausführungen hat Michèle Gaillard im Rahmen ihrer großen Studie über die klösterlichen Gemeinschaften der Karolingerzeit in Lothringen die gesamte Bewertung der Anlagebestandteile und ihrer chronologischen Abfolge infrage gestellt und eine 51 52 53 54 55 56
Schmid, Auf dem Weg (wie Anm. 3). Schmid, Auf dem Weg (wie Anm. 3) S. 63 ff. Ebd., S. 68 f. und S. 90 ff. Ebd., S. 76 ff., besonders das Resümee S. 81 ff. Ebd., S. 83 ff. Ebd., S. 91 ff., wobei er vor allem für diesen Gesamtzusammenhang noch einmal den besonderen Aussagewert des Liber Memorialis herausstellt („einzigartiges Zeugnis“, S. 93).
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neue Gesamtdeutung versucht.57 Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es nicht bereits 819/20 eine erste Anlage des Liber Memorialis gegeben hat. Vielmehr sei diese erst 861/2 hergestellt worden. Gegen die Rekonstruktion dreier Anlagen, einer Erstanlage 820/21, eines Neuansatzes in den 840er Jahren und einer Neuanlage 862/63 durch die Editoren, die alle noch dazu innerhalb der damit überlangen, nämlich über vierzigjährigen Amtszeit sowohl der der Äbtissin Theuthild als auch des Propstes Theotricus erfolgt sein müssten, gebe es – unter anderem in Schriftzeugnissen Remiremonter Provenienz aus dem Hoch- und Spätmittelalter – gewichtige Gegenargumente und eine überzeugendere Alternative. Sie verwirft deshalb die von Eduard Hlawitschka erschlossenen Daten der Annahme der Benediktsregel und der Klosterverlegung und damit die Amtszeiten der darauf folgenden Äbtissinnen, für die es in der Tat keine überlieferten Daten gibt, lässt die einschneidenden Ereignisse erst „nach 833“ stattfinden und damit ebenfalls den Beginn der Amtszeiten Theuthilds und Theotrichs.58 In den 840er Jahren seien dann die älteren Lagen als erstes Gedenkbuch angelegt worden und schließlich die Erstanlage des heutigen Codex gegen deren Ende 861/62, in den die älteren Lagen eingefügt worden seien. Diesem gegenüber dem verworfenen nicht weniger komplizierten Modell der Entstehung des Liber Memorialis und der Remiremonter Klostergeschichte des 9. Jahrhunderts stehen nicht nur die oben vorgestellten Analyseergebnisse der gesamten Konventsüberlieferung entgegen, sondern auch die Gestaltung des Herrscherdiptychons. Vor allem aber musste M. Gaillard die gleichlautenden Überschriften ANNO SEPTIMO IMPERII GLORIOSI PRINCIPIS HLUDOUUICI zu den Grundsatzbeschlüssen zur Organisation des Gedenkens und der Anlage entsprechender Bücher, die zweien der von der Anlegerhand (6) eingetragenen Messformulare vorangestellt sind – der Messe für alle Lebenden und Verstorbenen, deren Namen im Liber Memorialis verzeichnet sind,59 und der täglich auf dem Friedhof abzuhaltenden für
57 Gaillard, D’une réforme à l’autre (wie Anm. 3) S. 41 ff. und S. 172 ff. mit den graphischen Darstellungen der Ergebnisse S. 55 und S. 174. Leider hat M. Gaillard meine Arbeit nicht zur Kenntnis genommen, obwohl ich ihr – wie aus einem entsprechenden Briefwechsel, der mir noch vorliegt, hervorgeht – bei einem Besuch in Münster zugesagt hatte, ihr mein Handexemplar, das damals gerade ausgeliehen war, zur Verfügung zu stellen. Vereinbart war, dass sie es bei mir abholen (lassen) könne, sobald es zurück sei. Unverständlicherweise behauptet sie in einer Anmerkung ihres Buches, „l’auteur (sc. Jakobi), après avoir d’abord acceptée de le faire, ne me l’a finalement pas communiqué“ (S. 50 Anm. 40). 58 Gaillard, D’une réforme à l’autre (wie Anm. 3) S. 53 f. und 172 ff. 59 MISSA SPECIALITER DICENDA TAM PRO UIVIS QVAM PRO DEFVNCTIS VTRIVSQUE SEXUS, QUORUM COMMEMORATIO (HIC) CONTINETUR UEL QUORUM
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die verstorbenen sorores 60 – auf Kaiser Ludwig II. statt auf Ludwig den Frommen beziehen, was angesichts der Neubeurteilung der Bedeutung sowohl der Äbtissin Theuthildis als insbesondere des Propstes Theotricus und ihrer Zuordnung zur anianischen Reformbewegung nicht nachvollziehbar erscheint. Wie sehr sich die Situation 862/63 gegenüber der der Jahre 817 – 820 verändert hatte, zeigt sich daran, dass die Vorstellungen Theuthilds und ihres Helfers Theotricus nicht mehr unwidersprochen zur Geltung gebracht werden konnten: Waldrada hatte offenbar einen so starken Rückhalt in einer im Konvent einflussreichen Gruppe von Konventualen,61 dass sie im Romarich-Kloster nach dem Tod Lothars II. Zuflucht finden konnte und ein ehrendes Gedenken im Kreis ihrer Verwandten und natürlich nach ihren Tod auch im Necrolog erhielt.62 Auch Lothar erhielt zumindest nach seinem Tode den ihm gebührenden Platz durch seine Eintragung an prominenter Stelle und in herausgehobener Form: VI. Id. Aug. migravit de hac luce Hlotharius rex lautet der entsprechende Eintrag unmittelbar neben dem Diptychon 63 und quasi als dessen Fortsetzung. Nach der Mitte des 9. Jahrhunderts, während des im Mittelreich Lothars II. besonders früh einsetzenden Verfalls der Karolingerherrschaft, entwickelte sich also in Remiremont nach dem Ausweis der Gedenk-Aufzeichnungen eine erneute Veränderung der Existenzbedingungen und Lebensumstände der Sanctimonialen.64 Diesmal ergab sie sich nicht durch einen massiven punktuellen Eingriff, sondern durch einen allmählichen Wandel der Verhältnisse und Einstellungen, in deren Folge die strengen monastischen Vorschriften der anianischen Reform nach und nach ihre Geltung verloren. Dabei spielte sicher die Grundhaltung der Konventsmitglieder, die offensichtlich mehr in Richtung stiftisches Leben tendierten, als nach Erfüllung der Vorschriften der Benediktsregel zu trachten, eine wichtige Rolle. Ausschlaggebend aber dürften die politisch-sozialen Umwälzungen im Umfeld des Klosters gewesen sein, die in dieses hineinwirkten und das Leben der Gemeinschaft beeinflussten. Sie boten dem Adel durch die Schwäche des Königtums entscheidende Entfaltungsmöglichkeiten. Mit der Hinwendung zur stiftischen Lebensform, mit der Favorisierung der äußeren Bindungen, der NOMINA S(UBTER) SCRIPTA UIDENTUR (fol 1v; LMR, S. 1). 60 MISSA IN CYMETERIIS COTIDIE CELEBRANDA PRO DEFUNCTIS SORORIBUS (fol 19v; LRM, S. 41).
61 Siehe die als Abbildung 10 wiedergegebenen entsprechenden Einträge. 62 Eintrag im Necrolog der Freunde und Wohltäter zum 9. April: V Id + MIGRAVIT DOMINA VUALDRADA (fol 13r ; LMR, S. 24). 63 LMR, S. 4; siehe Abbildung 11. 64 Siehe oben nach Anm. 45.
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Bindungen an die Welt der sozialen Herkunft der Konventsmitglieder, korrespondierte das Interesse der Adelsfamilien an dem mit Grundbesitz, Einkünften und Herrschaftsrechten reich ausgestatteten Kloster. Im Gedenkbuch werden die regelkonformen, dem liturgischen Vollzug der Memoria dienenden Aufzeichnungen in Form der Listenführung der lebenden und verstorbenen Mitglieder der eigenen Gemeinschaft und befreundeter Konvente sowie der Eintragung ins Necrolog immer mehr vernachlässigt; stattdessen werden die Seiten des Memoriale überwuchert von ‚ad hoc-Einträgen‘ von Personengruppen,65 von denen einen großen Teil solche von Sanctimonialen mit ihren Verwandten ausmachen. Den Tiefpunkt dieser Entwicklung, die offenbar zu Beginn des 10. Jahrhunderts zur Aufgabe des klösterlichen Lebens nach der Benediktsregel und zu Besitzentfremdungen größeren Umfangs, und schließlich sogar zur Aufgabe der Klosteranlage und zur Rückkehr des Konvents auf den Saint-Mont während der Ungarngefahr im Jahr 917 führte, stellt wohl die Errichtung einer Art Eigenklosterherrschaft der Bosoniden unter Herzog Richard iustitiarius und seinem Sohn Graf Boso dar. Einen weiteren Neuanfang markiert dann wiederum ein Eingriff von außen: Durch Herzog Giselbert, den Statthalter des ostfränkisch-liudolfingischen Königtums in Lothringen, wurde Remiremont in die monastische Reformbewegung im Maas-Mosel-Raum einbezogen.66 Der neuerliche Eingriff der weltlichen Zentralgewalt bedeutete nach dem Ausweis der Gedenk-Aufzeichnungen im Liber Memorialis nicht nur die wiederhergestellte Verpflichtung der Frauengemeinschaft auf die Benediktsregel und die Restitution der entfremdeten Besitzungen. Eingeleitet war damit auch das Ende der dominierenden Stellung des überregional und zwischen den karolingischen Teilreichen und ihren Nachfolgestaaten agierenden Adels als der maßgeblichen Bezugsgröße des Konvents. Im Liber Memorialis überwiegen alsbald die Traditions-Notizen, in denen die Reduzierung der Außenbeziehungen auf die mit der eigenen Grundherrschaft verbundenen Personenkreise zum Ausdruck kommt.67
65 Vgl. die Abbildungen 2 und 3. 66 Die Einzelheiten sind bei Jakobi, Der Liber Memorialis (wie Anm. 1) S. 208 – 223, hier S. 219 ff. dargestellt: Kapitel II.3 Zur Durchführung und zum Nachwirken der Reformmaßnahmen von 817 und in den 930er Jahren; vgl. auch Hlawitschka, Herzog Giselbert von Lothringen (wie Anm. 12) und Ders., Zur Lebensgeschichte Erzbischof Odelrich von Reims (wie Anm. 12). 67 Die Argumente dafür sind dargelegt bei Jakobi, Der Liber Memorialis (wie Anm. 1) S. 174 – 182: Kapitel II.2 Zur Kontinuität der Gedenkaufzeichnungen nach der Mitte des 10. Jahrhunderts – Die Traditionsnotizen und die Frage der Neuanlage eines Necrologs.
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Schluss Der Liber memorialis ist aufs Ganze gesehen ein charakteristisches Produkt der besonderen Existenzbedingungen eines frühmittelalterlichen Frauenklosters, einer geistlichen Frauengemeinschaft, die nicht in sich gefestigt und autonom auf ihr klösterliches Gemeinschaftsleben konzentriert sein konnte, sondern in allen wichtigen Lebensbereichen der Unterstützung und des Schutzes von außen bedurfte. So wie sie sich immer wieder nach außen hin orientierte, war sie auch ständigen äußeren Einflüssen ausgesetzt. Gleichzeitig ist der Liber Memorialis – und das macht die besonderen Schwierigkeiten für seine Auswertung, aber auch den besonderen Reiz als Geschichtsquelle aus – das beinahe einzige Zeugnis für die Geschichte eines bedeutenden lothringischen Königsklosters im 9. und 10. Jahrhundert, dessen Geschicke darin in einzigartiger Weise ihren Niederschlag gefunden haben. Es war deswegen eine methodische Notwendigkeit, den Weg zu seiner weiteren Erschließung mit der Frage nach der Relation zwischen der Klostergeschichte und der Entstehung und Benutzung des Gedenkbuchs und mit der Analyse der Konventsüberlieferung zu beginnen 68 und so in bewusster Beschränkung auf die „Innenperspektive“ bessere Grundlagen für die systematische Auswertung der Vielzahl der in Form von punktuellen Gedenk-Einträgen dokumentierten Außenbeziehungen nachzugehen. Das ist seit den 1980er Jahren in zahlreichen Beiträgen erfolgt, auf die hier – wie einleitend bemerkt – nicht mehr eingegangen werden kann; ein großer Teil ist in Karl Schmids bilanzierendem und weiterführendem Aufsatz 69 nachgewiesen. In jüngster Zeit sind Fragen der Klostergeschichte Remiremonts und der Besonderheiten einer geistlichen Frauengemeinschaft auf der Grundlage des Liber Memorialis von Eva Maria Butz wieder aufgegriffen worden.70 Unter
68 So schon die Editoren in der Einleitung (LMR, S. XX mit Anm. 21); vgl. Schmid, Auf dem Weg (wie Anm. 3) S. 61. 69 Schmid, Auf dem Weg (wie Anm. 3). 70 Eva-Maria Butz, Die Sorge um das rechte Gebetsgedenken. Liturgische Memoria und Schriftlichkeit im Nonnenkloster Remiremont im frühen Mittelalter, in: Glaube und Geschlecht. Fromme Frauen – Spirituelle Erfahrungen – Religiöse Traditionen (Literatur – Kultur – Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte. Große Reihe Band 43) hg. von Ruth Albrecht / Annette Bühler-Dietrich / Florentine Strzelczyk (2008) S. 153 – 173; Dies., Adel und liturgische Memoria am Ende des karolingischen Frankenreichs, in: Adlige – Stifter – Mönche. Zum Verhältnis zwischen Klöstern und mittelalter lichem Adel, hg. von Nathalie Kruppa (Studien zur Germania Sacra 30. Veröffentlichungen des Max-Planck-Institut für Geschichte 227, 2007) S. 9 – 30; Dies., Der liber memorialis
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anderem vertritt sie die These, bei dem dominus und praepositus Theotricus könne es sich um einen der von der Herrschaft ausgeschlossenen illegitimen Söhne Karls des Großen handeln, der – ähnlich wie seine Halbbrüder Drogo (nach Luxeuil) und Hugo (nach Charroux) – in ein Kloster eingewiesen wurde. Sie hält es für wahrscheinlich, dass es sich um ein solches in Lothringen (Saint Èvre in Toul, Murbach?) handelte und dass er von dort zur Durchführung der Reformen nach Remiremont beordert wurde.71 Dem stehen allerdings die Belege für seine lothringische Verwandtschaft, zu der auch Sanctimonialen von Remiremont gehört haben, entgegen.72
von Remiremont, in: Bücher des Lebens – lebendige Bücher, hg. von Peter Erhart / Jacob Kuratli Hüeblin, 2010, S. 96 – 108. 71 Zuletzt Butz, Der liber memorialis (wie Anm. 70) S. 105 f. 72 Siehe oben nach Anm. 44.
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Abb. 1: Liber Memorialis von Remiremont, S. XIII: Lagenschema
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Abb. 2: Liber Memorialis von Remiremont, Tafelband, fol. 43r.
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Abb. 3: Liber Memorialis von Remiremont, Tafelband, fol. 53v.
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Abb. 4/5: Liber Memorialis von Remiremont, S. 93f.
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Abb. 6/7: Liber Memorialis von Remiremont, S. 121f.
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Abb. 8: Ausschnitt der ‚Graphischen Darstellung der Eintragsstruktur‘, der die Stellung der Anlage von 862/63 im Ganzen des Codex wiedergibt.
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Abb. 9: ‚Gesamtregister der Namen-Überlieferung‘, Ausschnitt mit dem Lemma Th 50 Theud/Hildi (wie Anm. 1, S. 420).
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Abb. 10: Gruppeneinträge mit Konventsmitgliedern und Verwandten der Waldrada (wie Anm. 1, S. 148).
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Abb. 11: Liber Memorialis von Remiremont, Tafelband, fol. 3v: Herrscher-Diptychon
Das Reichenauer Verbrüderungsbuch von Dieter Geuenich Das Reichenauer Verbrüderungsbuch, das nach einem vorübergehenden Aufenthalt im Kloster Rheinau 1 (am Hochrhein) heute in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt wird, zählt, wie Alfons Zettler unlängst feststellte, „zu den am besten und vollständigsten erhaltenen Dokumenten seiner Art“.2 Es nimmt, wie Karl Schmid hervorgehoben hat, „unter den ‚Libri memoriales‘ der Karolingerzeit … unbestritten den ersten Rang ein“;3 denn es ist das umfangreichste der frühmittelalterlichen Gedenkbücher und vom Inhalt her eines der bedeutendsten, wenn nicht gar, wie Schmid urteilte, das bedeutendste frühmittelalterliche Gedenkbuch. Dies ist schon daran erkennbar, dass das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau – wohl nicht zuletzt wegen seiner herausragenden Bedeutung und seines exemplarischen Charakters – zweimal in den Monumenta Germaniae Historica ediert wurde: vor 128 Jahren durch Paul Piper und erneut vor 33 Jahren
1 Deshalb trägt die Handschrift die Signatur: Ms. Rh(inaugensis) hist. – Siehe Abbildung 1. 2 Alfons Zettler, ‚Visio Wettini‘ und Reichenauer Verbrüderungsbuch, in: Bücher des Lebens – Lebendige Bücher, hg. von Peter Erhart / Jakob Kuratli Hüeblin (2010) S. 59 – 69, hier S. 67. 3 Karl Schmid, Bemerkungen zur Anlage des Reichenauer Verbrüderungsbuches. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des ‚Visio Wettini‘, in: Landesgeschichte und Geistesgeschichte. Festschrift für Otto Herding zum 65. Geburtstag, hg. von Kaspar Elm / Eberhard Gönner / Eugen Hillenbrand (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Forschungen 92, 1977) S. 24 – 41, hier S. 24; wiederabgedruckt in: Karl Schmid, Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge. Festgabe zu seinem sechzigsten Geburtstag (1983) S. 514 – 531, hier S. 514. Vgl. dazu Karl Schmid, Probleme einer Neuedition des Reichenauer Verbrüderungsbuches, in: Die Abtei Reichenau. Neue Beiträge zur Geschichte und Kultur des Inselklosters, hg. von Helmut Maurer (1974) S. 35 – 67, hier S. 36: „… das größte Denkmal dieser Art überhaupt“ – mit Hinweis auf Konrad Beyerle, Das Reichenauer Verbrüderungsbuch als Quelle der Klostergeschichte, in: Die Kultur der Abtei Reichenau. Erinnerungsschrift zur zwölfhundertsten Wiederkehr des Gründungsjahres des Inselklosters 724 – 1924, Band 2, hg. von Konrad Beyerle (1925, Nachdruck 1970) S. 1107 – 1217, besonders S. 1108:“…das größte Denkmal dieser Art im ganzen deutschen Kulturkreise“.
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auf Veranlassung von Karl Schmid als erstes Buch der neuen Reihe („Nova series“) der „Monumenta Germaniae Historica. Libri memoriales et necrologia“.4 Auf einer den Libri vitae gewidmeten Tagung im September 2010 in Bad Ragaz hat Alfons Zettler die Anlage und die Entstehungszeit der Handschrift zwischen 823 und 825 erneut eingehend beleuchtet und die Datierung von Karl Schmid im Wesentlichen bestätigt.5 Es erübrigt sich deshalb, darauf und auf den Zusammenhang mit der Vision und dem Tod des Reichenauer Mönchs Wetti am 4. November 824 nochmals einzugehen.6 Dem Reichenauer Verbrüderungsbuch kommt innerhalb der Libri vitae ein besonderer Quellenwert zu, weil in ihm alle Schichten der frühmittelalterlichen Gesellschaft vertreten sind – Mönche und Nonnen, Kanoniker, Kleriker, Kaiser und Könige, Grafen, Bischöfe, Pilgergruppen (unter anderem aus Skandinavien) sowie Wohltäter und Freunde des Inselklosters –, und zwar mit über 38.000 Personennamen in einer Fülle und zugleich in einem zeitlichen Umfang – von der Mitte des 8. Jahrhunderts bis in die Neuzeit –, wie sie in keinem anderen der erhaltenen Gedenkbücher zu finden sind. Deshalb soll das Reichenauer Verbrüderungsbuch im Folgenden vor allem im Vergleich mit der Struktur, dem Aufbau und dem Inhalt der anderen frühmittelalterlichen Libri vitae von Salzburg, Pfäfers, St. Gallen, Remiremont, Brescia, Cividale und Essen in den Blick genommen werden (Abb. 1). In einem ersten Teil der Ausführungen wird zunächst die zeitliche Dimension der Eintragungen im Reichenauer Verbrüderungsbuch veranschau licht, im zweiten Teil wird die Vielfalt des Inhalts beleuchtet, und im dritten und letzten Teil werden die möglichen Hintergründe für die Anlage des Codex und die Gemeinsamkeiten mit den anderen Libri vitae in den Blick genommen.
4 Confraternitates Augienses, in: Monumenta Germaniae Historica. Libri confraternitatum sancti Galli, Augiensis, Fabariensis, hg. von Paul Piper (1884) S. 145 – 352; Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, hg. von Johanne Autenrieth / Dieter Geuenich / Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica. Libri memoriales et necrologia, Nova Series 1, 1979). 5 Zettler, ‚Visio Wettini‘ (wie Anm. 2) S. 65: „Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde das Buch jedenfalls 823 konzipiert, während sich seine Fertigstellung bis ins Jahr 825 hinzog“. Vgl. bereits Karl Schmid, Wege zur Erschließung des Verbrüderungsbuches, in: Das Verbrüderungsbuch (wie Anm. 4) S. LX – CXIX, hier S. LXVIII: „Es bleibt … vorläufig offen, wann vor dem November 824 die ersten Namen ins Reichenauer Verbrüderungsbuch eingetragen wurden“ und dazu in der Anmerkung 66 die Vermutung, „daß der Anlageeintrag … bereits vor Juni 824 zu datieren wäre“. 6 Dazu Schmid, Bemerkungen (wie Anm. 3) S. 24 – 41 [S. 514 – 531]; und zuletzt Zettler, ‚Visio Wettini‘ (wie Anm. 2) S. 59 – 69.
Das Reichenauer Verbrüderungsbuch
Überblick über die in diesem Band behandelten Libri vitae Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Handschrift A1 aus dem Archiv von St. Peter in Salzburg, hg. von Karl Forstner (Codices Selecti 51) Graz 1974 Stiftsarchiv St. Peter, Salzburg (Österreich): Handschrift A1 6.099 Nameneinträge 784 wurde das (ältere) Salzburger Verbrüderungsbuch angelegt und 1004 von Abt Tito zur Herstellung des jüngeren Verbrüderungsbuches übernommen. Liber Viventium Fabariensis I. Faksimile-Edition, hg. von Albert Bruckner, Hans Rudolf Sennhauser und Franz Perret, Basel 1973 Stiftsarchiv St. Gallen (Schweiz): Fonds Pfäfers Codex 1 4.639 Nameneinträge Um 815 wurde das Gedenkbuch der Abtei Pfäfers (Schweiz) als Evangelistar angelegt; der älteste Nameneintrag stammt aus der Zeit Ludwigs des Frommen (um 819/20). Die St. Galler Verbrüderungsbücher, hg. von Dieter Geuenich und Uwe Ludwig (Monumenta Germaniae Historica. Libri memoriales et necrologia. Nova series 9, im Druck) Stiftsarchiv St. Gallen (Schweiz): Class. I. Cist. C3. B 55 14.932 Nameneinträge Vor 817 wurde das ältere der beiden Verbrüderungsbücher angelegt, das jüngere um 860. Beide Verbrüderungsbücher wurden im 17. Jahrhundert mit einigen losen Blättern zu einem Codex zusammengebunden. Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, hg. von Johanne Autenrieth, Dieter Geuenich und Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica. Libri memoriales et necrologia. Nova series 1) Hannover 1978 Zentralbibliothek Zürich (Schweiz): Ms. Rh. hist. 27 38.187 Nameneinträge Das Verbrüderungsbuch wurde um 824 angelegt, enthält aber ältere Namenlisten von 762 und 770. Im 10. Jahrhundert ist ein jüngerer Quaternio (pag. 135 – 150) mit einem Konglomerat von Einzelblättern (pag. 151 – 164) hinzugefügt worden. Liber memorialis von Remiremont, hg. von Eduard Hlawitschka, Karl Schmid und Gerd Tellenbach (Monumenta Germaniae Historica. Libri memoriales 1) Dublin – Zürich 1970, Nachdruck München 1981 Biblioteca Angelica. Rom (Italien): Ms. 10 10.631 Nameneinträge 820/21, „im siebten Regierungsjahr Kaiser Ludwigs des Frommen“, erfolgte die erste Anlage, eine Erneuerung im Jahre 862/63.
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Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia, hg. von Dieter Geuenich und Uwe Ludwig (Monumenta Germaniae Historica. Libri memoriales et necrologia. Nova series 4) Hannover 2000 Biblioteca Queriniana, Brescia (Italien): Codex G VI. 7 7.002 Nameneinträge 856 wurde der aus einem Memorialteil und einem Liturgieteil bestehende Codex, möglichweise im Zusammenhang mit einem Aufenthalt Kaiser Ludwigs II., angelegt. Die Memorialeinträge im Evangeliar von Cividale, in: Uwe Ludwig, Transalpine Beziehungen der Karolingerzeit im Spiegel der Memorialüberlieferung. Prosopographische und sozialgeschichtliche Studien unter besonderer Berücksichtigung des Liber vitae von San Salvatore in Brescia und des Evangeliars von Cividale (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte 25) Hannover 1999. S. 245 – 277 ca. 1600 Nameneinträge Museo Archeologico Nazionale. Cividale (Italien): Codex XXXXVIII Im 9. und 10. Jahrhundert sind die Namen in die um 500 angelegte Evangelienhandschrift eingetragen worden. Volkhard Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift D 1 [aus Essen] als Memorialzeugnis. Mit einer Wiedergabe der Namen und Namengruppen (Frühmittelalterliche Studien 20 (1986) S. 213 – 298 und Tafeln XIV bis XXXII) Universitätsbibliothek Düsseldorf: der Codex D 1 ist eine Leihgabe der Stadt Düsseldorf, (Stadt- und Landesbibliothek) an die 1975 errichtete Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek ca. 400 Nameneinträge Seit 870/80 sind, vor allem auf fol. 10r+v, Namen Lebender und Verstorbener eingetragen worden.
Abb. 1: Überblick über die in diesem Band behandelten Libri vitae.
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1. Die zeitliche Dimension Vom Zeitpunkt der Anlage her ist der Salzburger Liber vitae zwar vier Jahrzehnte früher zu datieren als das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau;7 und auch die Anlage des älteren der beiden St. Galler Verbrüderungsbücher,8 des Pfäferser Liber
7 Das Verbrüderungs-Buch des Stiftes St. Peter zu Salzburg, hg. von Theodor Georg von Karajan (1852); Liber confraternitatis monasterii s. Petri Salisburgensis vetustior, hg. von Siegmund Herzberg-Fränkel, in: Monumenta Germaniae Historica, Necrologia 2 (1890) S. 4 – 44; Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Handschrift A1 aus dem Archiv von St. Peter in Salzburg, hg. von Karl Forstner (Codices selecti 51, 1974). Dazu Karl Schmid, Probleme der Erschließung des Salzburger Verbrüderungsbuches, in: Frühes Mönchtum in Salzburg, hg. von Eberhard Zwink (Schriftenreihe des Landespressebüros, Serie „Salzburg Diskussionen“ 4, 1983) S. 175 – 196; zuletzt Maximilian Diesenberger: Das Salzburger Verbrüderungsbuch, in: Bücher des Lebens (wie Anm. 2) S. 31 – 35; Meta Niederkorn-Bruck, Nomina scripta sunt in coelo (in diesem Band, S. 59 – 85); Herwig Wolfram, Die Libri vitae von Salzburg und Cividale und das Bayerische Ostland (799 – 907) (in diesem Band, S. 343 – 377); Maximilian Diesenberger, Könige und Herzöge im Salzburger Verbrüderungsbuch (in diesem Band, S. 329 – 341) jeweils mit der weiteren Literatur. 8 Eine Neuedition befindet sich im Druck: Die St. Galler Verbrüderungsbücher, hg. von Dieter Geuenich / Uwe Ludwig (Monumenta Germaniae Historica. Libri memoriales et necrologia, Nova Series 9, 2013). Sie ersetzt die Edition von Paul Piper in: Monumenta Germaniae Historica. Libri confraternitatum sancti Galli, Augiensis, Fabariensis (wie Anm. 4) S. 1 – 133. Vorbereitet wurde die Neuedition durch: Subsidia Sangallensia 1: Materialien und Untersuchungen zu den Verbrüderungsbüchern und zu den älteren Urkunden des Stiftsarchivs St. Gallen, hg. von Michael Borgolte / Dieter Geuenich / Karl Schmid (St. Galler Kultur und Geschichte 16, 1986) S. 13 – 283. Dazu Karl Schmid, Auf dem Weg zur Wiederentdeckung der alten Ordnung des St. Galler Verbrüderungsbuches. Über eine Straßburger Namengruppe, in: Florilegium Sangallense. Festschrift für Johannes Duft zum 65. Geburtstag, hg. von Otto P. Clavadetscher / Helmut Maurer / Stefan Sonderegger (1980) S. 213 – 241; zuletzt Uwe Ludwig, Die beiden St. Galler Libri vitae aus dem 9. Jahrhundert (in diesem Band, S. 147 – 173).
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Viventium 9 und des Liber memorialis von Remiremont 10 sind offensichtlich einige Jahre früher erfolgt als die des Reichenauer Verbrüderungsbuches. Allerdings enthält der älteste Teil des Reichenauer Codex, dessen „Inhaltsverzeichnis“ (capitula) in Farbtaf. 4 wiedergegeben ist, aus 17 Mönchsgemeinschaften umfangreiche Namenlisten, die schon mehr als ein halbes Jahrhundert im Inselkloster vorgelegen haben müssen, bevor sie in das um 824 angelegte Verbrüderungsbuch übertragen worden sind. Als Folge des Gebetsbundes von Attigny, der im Jahre 762 von 44 geistlichen Würdenträgern des Frankenreiches beschlossen wurde,11 sind nämlich, wie Karl Schmid und Otto Gerhard Oexle nachweisen konnten,12 unter den Vertragspart9 Liber Viventium Fabariensis (Stiftsarchiv St. Gallen, Fonds Pfäfers, Codex 1) Band 1: Faksimile-Edition, hg. von Albert Bruckner / Hans Rudolf Sennhauser / Franz Perret (1973). Eine Edition, die den nicht erschienenen 2. Band ersetzen soll, befindet sich in Vorbereitung. Vgl. vorerst: Dieter Geuenich, Die älteste Geschichte von Pfäfers im Spiegel der Mönchslisten des Liber Viventium Fabariensis, Frühmittelalterliche Studien 9 (1975) S. 226 – 252; Jens Lieven, Der Liber viventium von Pfäfers. Zum historischen Zeugniswert einer liturgischen Handschrift, in: Bücher des Lebens (wie Anm. 2) S. 83 – 88; Walter Kettemann, Ein Namen-Text. Die Churer Bischofsreihe und die politische Botschaft des ältesten Eintrags im Liber viventium Fabariensis, in: Bücher des Lebens (wie Anm. 2) S. 90 – 95; Walter Kettemann / Jens Lieven, Der Liber viventium Fabariensis als Quelle zur politischen und kulturellen Integration Churrätiens in das Karolingerreich. Überlegungen anhand des ältesten Eintrags, in: Kulturelle Integration und Personennamen im Mittelalter, hg. Wolfgang Haubrichs / Christa Jochum-Godglück / Andreas Schorr (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2015) im Druck. 10 Liber memorialis von Remiremont, hg. von Eduard Hlawitschka / Karl Schmid / Gerd Tellenbach (Monumenta Germaniae Historica. Libri memoriales 1, 1970). Dazu zuletzt: Karl Schmid, Auf dem Weg zur Erschließung des Gedenkbuchs von Remiremont, in: Festschrift für Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag, hg. von Karl Rudolf Schnith / Roland Pauler (Münchener historische Studien, Abteilung mittelalterliche Geschichte 5, 1993) S. 59 – 96; Franz-Josef Jakobi, Der Liber memorialis von Remiremont (in diesem Band, S. 87 – 121). 11 Concilium Attiniacense, in: Monumenta Germaniae Historica. Concilia 2, 1: Concilia aevi Karolini, hg. von Albert Werminhoff (1906) S. 72 f. 12 Karl Schmid / Otto Gerhard Oexle, Voraussetzungen und Wirkung des Gebetsbundes zu Attigny, Francia 2 (1974) S. 71 – 122. Vgl. Karl Schmid, Bemerkungen zu Synodalverbrüderungen der Karolingerzeit, in: Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag, Band 2, hg. von Karl Hauck / Karl Kroeschell / Stefan Sonderegger / Dagmar Hüpper / Gabriele von Olberg (1986) S. 693 – 710; zuletzt Jens Lieven, Großgruppeneinträge in den Libri memoriales. Anmerkungen zu Bischöfen der späten Karolingerzeit im Kontext großer Gruppen (in diesem Band, S. 239 – 272, hier S. 248f.).
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nern Namenlisten ausgetauscht worden, von denen zwölf auf der Reichenau erhalten geblieben und in das Verbrüderungsbuch des 9. Jahrhunderts übernommen worden sind, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt – um 824 – nicht mehr „aktuell“ waren. Dasselbe gilt für die Konventslisten aus fünf bayerischen Klöstern, die im Zusammenhang des Gebetsbundes von Dingolfing im Jahre 770 aufgezeichnet und ebenfalls mehr als 50 Jahre später in das Verbrüderungsbuch aufgenommen worden sind.13 Diese Mönchslisten von 762 beziehungsweise 770 enthalten insgesamt mehr als tausend Namen, die, wie gesagt, bereits über ein halbes Jahrhundert im Kloster Reichenau aufbewahrt worden sein müssen, bevor sie in das um 824 angelegte Gedenkbuch übertragen wurden (siehe Farbtaf. 5). Die Anlage des Reichenauer Codex ist also einige Jahre später erfolgt als die einiger anderer Libri vitae; aber viele der darin aufgenommenen Listen weisen ein höheres Alter auf als die Aufzeichnungen in den anderen Verbrüderungsbüchern. Diese alten ins Verbrüderungsbuch übertragenen Namenlisten beweisen, dass die Tradition der intermonastischen Gebetsverbrüderung bis in die Mitte des 8. Jahrhunderts zurückreicht. Nirgendwo lässt sich der Austausch von Konventslisten zum Zwecke des Gebetsgedenkens soweit zurückverfolgen wie im Kloster Reichenau. Insofern kann festgehalten werden, dass der Reichenauer Liber vitae nicht nur – mit mehr als 38.000 Namen – zahlenmäßig den größten Umfang aufweist, sondern auch mit seinen ältesten Verbrüderungslisten zeitlich am weitesten zurückreicht. Nach der Anlage des Gedenkbuches um 824 wurden die Nameneintragungen noch bis ins späte Mittelalter fortgeführt, und neun später vorgebundene Papierblätter zeigen, dass auch im 14., 15. und 16. Jahrhundert im Inselkloster noch Namen und Namenlisten zum Zwecke des Gebetgedenkens aufgezeichnet worden sind. Die Anlage des Reichenauer Verbrüderungsbuches, die exakt 100 Jahre nach der Gründung der Abtei durch Pirmin im Jahre 724 erfolgte,14 wird im dritten Teil nochmals Gegenstand der Ausführungen sein, wenn der Zeitpunkt oder Zeitraum der Anlage im Vergleich mit dem der anderen Libri vitae in den Blick genommen wird. 13 Notitia de pacto fraternitatis episcoporum et abbatum Bawaricorum, in: Monumenta Germaniae Historica. Concilia 2, 1: Concilia aevi Carolini, hg. von Albert Werminghoff (1906) S. 96 f.; Literatur dazu oben in Anm. 12. 14 Zur Gründung des Klosters Reichenau: Konrad Beyerle, Von der Gründung bis zum Ende des freiherrlichen Klosters (724 – 1427), in: Die Kultur der Abtei Reichenau, Band 1 (wie Anm. 3) S. 55 – 212/2, hier S. 55 ff.; Friedrich Prinz, Frühes Mönchtum in Südwestdeutschland und die Anfänge der Reichenau. Entwicklungslinien und Forschungsprobleme, in: Mönchtum, Episkopat und Adel zur Gründungszeit des Klosters Reichenau, hg. von Arno Borst (Vorträge und Forschungen 20, 1974) S. 37 – 76, hier S. 53 ff.; Michael Richter, Neues zu den Anfängen des Klosters Reichenau, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 144 (1996) S. 1 – 18.
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2. Inhalt, Aufbau und Struktur des Reichenauer Gedenkbuches Über den Inhalt des Gedenkbuches informieren die capitula auf Seite 3 des Codex (Farbtaf. 4), denen die Funktion eines Inhaltsverzeichnisses zukommt. Für Listen oder einzelne Namen, die im Laufe der Jahre nach der Anlage des Buches aus verbrüderten Klöstern auf der Reichenau eintrafen, konnte so rasch der richtige Platz zur Eintragung in den Codex gefunden werden. Die capitula erfassen aber nur die Eintragungen auf den Seiten 4 bis 87/88. Die Überschriften LIIII De monasterio s(an)c(t)i uedasti, LV De monasterio hornbach 15 und LVI De civitate mettensium haben als letzte capitula-Einträge noch Platz gefunden, sind aber, wie leicht erkennbar ist, bereits nachgetragen worden. Hinter der 57. römischen Ziffer (LVII) der capitula ist kein Klostername mehr eingetragen worden. Vergleicht man die letzten capitula-Nummern mit den entsprechenden Seiten im Verbrüderungsbuch, so findet sich auf Seite 88 noch die Ordnungsziffer LV vor den Nomina fratrum de coenobio quod uocatur Hornbach (Farbtaf. 6). Auf der gegenüberliegenden Seite 89 fehlt aber vor der Überschrift Nomina fratrum car rofensis monasterii eine solche römische Ordnungsziffer. Die darunter aufgeführte Liste aus Charroux ist also offenbar erst nach der Anlage des Codex eingetroffen 16 und – ebenso wie die weiteren noch folgenden Listen aus Saint-Denis (S. 93) und Lyon (S. 94, 95, 96) – nicht mehr auf der capitula-Seite registriert worden.17 In den Folgejahren ging die großzügig angelegte Ordnung, welche den Codex zur Anlagezeit auszeichnete, immer mehr verloren. Namenlisten und auch Einzelnamen
15 Beim Nachtrag des monasterium Hornbach wurde offenbar übersehen, dass für dieses Kloster unter der Überschrift XXXII Gamundias bereits eine capitula-Position vorgesehen war, der aber im Codex kein Listeneintrag entspricht. Zu den sonstigen Abweichungen zwischen den capitula-Überschriften und den Seiten-Überschriften siehe die Übersichtstabelle zum Verbrüderungsbuch bei Johanne Autenrieth, Beschreibung des Codex, in: Das Verbrüderungsbuch (wie Anm. 4) S. XV – XLI, zwischen S. XL und XLI. 16 Vgl. Otto Gerhard Oexle, Le monastère de Charroux au IXe siècle, Le Moyen Age 76 (1970) S. 193 – 204, hier S. 198. 17 Dem capitula-Eintrag XLVI monasterium s[an]c[t]i dionisii entspricht heute nur ein Papierblatt-Stellvertreter (S. 75). Zu den auf S. 93 eingetragenen Namen aus Saint-Denis: André Wilmart, Les frères défunts de Saint-Denis au déclin du IXe siècle, Revue Mabillon 15 (1925) S. 241 – 257, hier S. 243; Otto Gerhard Oexle, Forschungen zu monastischen und geistlichen Gemeinschaften im westfränkischen Bereich (Münstersche MittelalterSchriften 51, 1978) S. 25 f. und 112 – 119. – Zu den Listen aus Lyon ebenda, S. 55 – 63.
Abb. 2: Karte der mit Reichenau verbrüderten Gemeinschaften nach den capitula (aus: Schmid / Oexle, Voraussetzungen, wie Anm. 12, S. 91).
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Abb. 3: Die Abfolge der mit Reichenau verbrüderten Gemeinschaften nach den capitula (aus: Schmid, Wege zur Erschließung, wie Anm. 5, S. LXI).
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wurden in der Folgezeit schlichtweg dort eingetragen, wo sich noch Platz anbot. Wichtig war wohl, wie es scheint, vor allem, dass die Namen der Personen, derer gedacht werden sollte, im Liber vitae, im Buch des ewigen Lebens, „verewigt“ waren. Veranschaulicht man die 56 in den capitula aufgeführten Kommunitäten, mit denen das Bodenseekloster in der Zeit zwischen dem Vertrag von Attigny (762) und der Anlage des Verbrüderungsbuches um 824 Gebetsverbrüderungen eingegangen ist und Listen ausgetauscht hat, in einem Kartenbild (Abb. 2), so wird die gewaltige, das gesamte Frankenreich umfassende Ausdehnung der Reichenauer Verbrüderungsbeziehungen deutlich: von Jumièges, nicht weit von der Atlantikküste, erstreckt sich das Netz der verbrüderten Konvente bis zum Salzkammergut und von SaintTrond in der belgischen Provinz Limburg bis Leno, Nonantola und Monteverde im Norden Italiens – eine Weite, wie sie kein anderes Verbrüderungsbuch aufweist. Karl Schmid hat versucht, aus der Reihenfolge, in der die mit Reichenau verbrüderten Klöster in den capitula aufgeführt und entsprechend in den Codex eingetragen worden sind, eine Systematik herauszulesen, die den Schreiber bei der Anlage des Verbrüderungsbuches geleitet haben könnte. Die Ordnungszahlen in dem von ihm entworfenen Kartenbild (Abb. 3) entsprechen den römischen Ziffern, die den capitula auf Seite 3 des Verbrüderungsbuches vorangestellt sind. Demnach scheint ein geographischer Gesichtspunkt eine Rolle gespielt zu haben: Nach dem Reichenauer Nachbarkloster St. Gallen und „nach rätischen und italie nischen Klöstern folgen bayerische … Danach richtet sich die Reihenfolge der Klöster im großen und ganzen nach ihrer geographischen Lage. Nach Westen fortschreitend folgen einander eine Reihe von Klöstern im fränkischen, hessischen und alemannischen Raum… Als Schwerpunkt gibt sich dann die große Klöstergruppe zwischen der oberen Mosel und dem Schwarzwald im Vogesen- und Oberrheingebiet zu erkennen“.18 Nach einigen Unregelmäßigkeiten 19 sind vor allem „die letzten [Klöster] aus dem westfränkischen Bereich nochmals deutlich als Gruppe erkennbar. … Im Anschluß daran folgt … der Hochstiftsklerus der oberrheinischen Bistümer Konstanz, Basel und Straßburg“.20 Aus dieser geographischen Abfolge muss aber nicht mit Schmid gefolgert werden, dass es schon einen Vorgänger des erhaltenen Verbrüderungsbuches gegeben habe.21 Möglich erscheint auch, dass die (römischen) Ziffern die (geographische) Ordnung widerspiegeln,
18 Schmid, Wege zur Erschließung (wie Anm. 5) S. LX – LXII 19 Schmid, Wege zur Erschließung (wie Anm. 5) S. LX – LXII. 20 Schmid, Wege zur Erschließung (wie Anm. 5) S. LXII. Vgl. Schmid, Bemerkungen (wie Anm. 3) S. 27 f. [S. 517 f.]. 21 Schmid, Wege zur Erschließung (wie Anm. 5) S. LXIII.
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nach der die Listen im Klosterarchiv der Abtei Reichenau aufbewahrt worden sind, bevor sie um 824 in das Verbrüderungsbuch übertragen wurden.22 Von der Doppelseite 98/99 der Handschrift ab – oder unter codicologischem Aspekt: mit den Lagen VIII und VIIII 23 – bekommt das Reichenauer Verbrüderungsbuch einen völlig anderen Charakter (Farbtaf. 7/8). Die Überschrift, die sich über beide Seiten erstreckt, weist nicht mehr auf verbrüderte Klöster hin, und in den darunter aufgeführten Namenkolumnen sind auch keine Mönchsnamen mehr verzeichnet. Die Doppelseite ist vielmehr überschrieben: Nomina amicorum viventium, enthält also die Namen der lebenden Freunde des Inselklosters. Diese Überschrift und vor allem die darunter eingetragenen Namen sind aber von denselben Schreibern vorgenommen worden, die auch die capitula und die Mönchslisten auf den vorangehenden Seiten 3 – 88 eingetragen haben 24. Die Doppelseite 98/99 gehört also eindeutig – wie sich auch inhaltlich erweisen lässt – zur Anlage des Verbrüderungsbuches um 824. Unter der Überschrift Nomina amicorum viventium sind eingetragen:25 –– in der 1. Kolumne Namen der karolingischen Herrscherfamilie, sechs davon von der anlegenden Hand,26
22 Auch Schmid, Wege zur Erschließung (wie Anm. 5) S. LXIII geht davon aus, dass „eine Sammlung von Mönchslisten vorgelegen haben“ muss, folgert daraus aber, „das überlieferte Reichenauer Verbrüderungsbuch habe möglicherweise schon einen Vorgänger gehabt“. Die Ordnung der Urkunden im St. Galler Stiftsarchiv kann als Beispiel einer Aufbewahrung von Schriftzeugnissen nach Provenienz angeführt werden; vgl. Franz Perret, Diakon Waldo und die Anfänge des Stiftsarchives St. Gallen vor 1200 Jahren, in: St. Galler Kultur und Geschichte. Festgabe für Paul Staerkle zu seinem achtzigsten Geburtstag, hg. vom Staats- und Stiftsarchiv St. Gallen (1972) S. 17 – 26. 23 Diese Lagenbezeichnungen sind jeweils unten auf den Seiten 108 und 128 der Handschrift vermerkt. Vgl. dazu das Lagenschema bei Autenrieth (wie Anm. 15) S. XVIII (mit der Rekonstruktion der Lagen VIII und VIIII). 24 Vgl. Autenrieth, Beschreibung (wie Anm. 15) S. XXVII: „Die Schriften HA1 – HA4, HB1 und Ü1 – Ü7 kommen … durchweg auf Seiten mit Einträgen vor, die durch die capitula konzipiert sind … und außerdem in den Lagen VIII und VIIII als Anlagehände für die Einträge der lebenden und verstorbenen Wohltäter der Abtei Reichenau, die zwar im CapitulaVerzeichnis nicht aufgeführt sind, aber füglich zur Anlageschicht gerechnet werden dürfen.“ 25 Die Abbildung 7 und die folgenden Ausführungen über den Anlageeintrag auf den Seiten 98/99 beruhen auf Schmid, Bemerkungen (wie Anm. 3) S. 54 – 60, und Dieter Geuenich, Gebetsgedenken und anianische Reform. Beobachtungen zu den Verbrüderungsbeziehungen der Äbte im Reich Ludwigs des Frommen, in: Monastische Reformen im 9. und 10. Jahrhundert, hg. von Raymund Kottje / Helmut Maurer (Vorträge und Forschungen 38, 1989) S. 79 – 106. 26 Zwischen Iudith regina und Pertha wurden die Namen Karolus (=Karl der Kahle, geboren 823) und Kisala eingefügt, die beide wohl, da sie nicht auf der vorgesehenen Zeile stehen,
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Abb. 4: Rekonstruktion des Anlage-Eintrags auf Seite 98/99 des Reichenauer Verbrüderungsbuches.
–– in der 2. Kolumne Namen von Bischöfen mit dem Zusatz (archi-)eps., elf davon
von der anlegenden Hand,27 –– in der 3. Kolumne Namen von Äbten mit dem Zusatz abb(a), neun davon von der anlegenden Hand,28 –– in der 4. Kolumne Namen von Priestern mit dem Zusatz prb., vier davon von der anlegenden Hand, –– in der 5. Kolumne (S. 99) Namen von Grafen mit dem Zusatz com., elf davon von der anlegenden Hand. Da diese Struktur heute auf der mit Nachträgen übersäten Doppelseite kaum mehr erkennbar ist, zeigt Abb. 4 eine Rekonstruktion der Einträge, die bei der Anlage des Codex – nach ordines getrennt – vorgenommen wurden:29 Unter der Überschrift der „lebenden Freunde“ der Reichenauer Mönchsgemeinschaft
nachträglich eingetragen worden sind. So bereits Schmid, Wege zur Erschließung (wie Anm. 5) S. LXVII. 27 Hinter dem Namen Ebo ist dem Zusatz eps. nachträglich ein archi- vorangestellt worden. 28 Über die Gründe, warum Uigilius und Uualah ohne Abtstitel eingetragen sind, s. Geuenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25) S. 96 – 98. 29 Wiedergabe nach Schmid, Bemerkungen (wie Anm. 3) S. 58 f.; Geuenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25) S. 89; Zettler, ‚Visio Wettini‘ (wie Anm. 2) S. 64 f. in farbiger Wiedergabe, mit einigen nicht weiter begründeten Abweichungen gegenüber Schmid und Geuenich (s. oben Anm. 26); zuletzt: Eva- Maria Butz, Herrschergedenken als Spiegel von Konsens und Kooperation. Überlegungen zur politischen Einordnung von Herrschereinträgen in den frühmittelalterlichen Libri memoriales (in diesem Band, S. 311).
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können als Einträge der anlegenden Schreiberhand in der ersten Kolumne L udwig der Fromme mit seinen drei Söhnen Lothar, Pippin und Ludwig identifiziert werden. Lothar ist ebenso wie sein Vater als imperator bezeichnet, während seine Brüder durch den Zusatz rex hervorgehoben sind. Es folgen die Namen der zweiten Gemahlin des Kaisers, Judith, und seiner Schwester Bertha.30 Die zweite Kolumne enthält von der anlegenden Hand elf Namen, die alle durch den Zusatz eps. als Bischöfe gekennzeichnet sind. Diese episcopi standen, wie im Einzelnen nachweisbar ist, in enger Beziehung zur Abtei Reichenau und können dem Kreis der Reformer um Ludwig den Frommen zugerechnet werden. 31 Letzteres gilt in besonderer Weise für die Namen, die in der dritten Kolumne eingetragen und als abbates gekennzeichnet sind: – Hilduin (1.) war Abt von Saint Denis und stand zugleich vier weiteren Reichsabteien vor. Seit 819 erscheint er in den Urkunden als summus sacri palatii capellanus; seit 825 führte er den neu eingeführten Titel eines archicapellanus.32 – Einhard (2.), der bekannte Biograph Karls des Großen, war zeitweise Abt von sieben Reichklöstern, bevor er 828 sein Kloster Seligenstadt gründete. Bis er sich 829/30 vom Hof zurückzog, gehörte er zu den führenden Köpfen der Reform.33 – Helisachar (3.), Abt von drei Reichsabteien, kam mit Ludwig dem Frommen, dem er bis 819 als Kanzler diente, und Benedikt von Aniane 814 von Aquitanien an den Hof nach Aachen.34 – Fridugis (4.) war der Nachfolger des Helisachar als Kanzler und der Nachfolger Alkuins als Abt des Martinsklosters in Tours. Unter Karl dem Großen, dessen Testament er – gemeinsam mit dem Reichenauer Abt Heito – unterzeichnete, gehörte er bereits zum Kreis der Hofgelehrten.35
30 Nach Zettler (wie Anm. 2) S. 64 f. gehört der unter Iudith regina eingefügte Karolus zum Anlageeintrag. Er steht jedoch nicht auf der vorgegebenen Liniierung, wie auch in der von Zettler wiedergegebenen Abbildung erkennbar ist. Vgl. dazu auch Geuenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25) S. 89 mit Anmerkung 66, S. 90 mit Anmerkungen 68 und 69. 31 Vgl. Geuenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25) S. 90 mit Anmerkung 70. 32 Josef Fleckenstein, Die Hofkapelle der deutschen Könige, Teil 1: Grundlegung. Die karolingische Hofkapelle (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 16/1, 1959) S. 52 f. und 106; Geuenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25) S. 91 f. 33 Fleckenstein, Die Hofkapelle (wie Anm. 32) S. 108; Geuenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25) S. 88. Zu Einhard zuletzt: Einhard. Studien zu Leben und Werk, hg. von Hermann Schefers (1997). 34 Fleckenstein, Die Hofkapelle (wie Anm. 32) S. 81, 107 und öfter; Geuenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25) S. 87 f. 35 Fleckenstein, Die Hofkapelle (wie Anm. 32) S. 82; Geuenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25) S. 93 f.; Franz Josef Felten, Äbte und Laienäbte im Frankenreich. Studie zum
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Zu den folgenden Namen – allesamt bedeutendste Äbte aus dem Kreis der Reformer um Ludwig den Frommen – sei nur noch angemerkt, dass Apollenarius (6.) in Flavigny, Odalrich/Aldrich (9.) in Ferrières ebenso wie Fridugis in Tours ihre Abtswürde Alkuin verdankten.36 Mit Uualah (8.) ist zweifellos der von Lorenz Weinrich als „Graf, Mönch und Rebell“ charakterisierte Halbbruder Adalhards von Corbie bezeichnet, der seinem Bruder 826 als Abt nachfolgte. Dass Wala und ebenso der vor ihm eingetragene Uigilius von Flavigny (7.) noch ohne den Zusatz abbas in die Äbtereihe eingetragen wurden, mag daran liegen, dass ihre Vorgänger auf dem Abtsstuhl (Apollinaris, Abt von Flavigny, gestorben am 31. März 825, – Adalhard, Abt von Corbie, gestorben 2. Januar 826) zum Zeitpunkt des Eintrags noch lebten, sie aber möglicherweise als bereits designierte Nachfolger in der Liste der Äbte berücksichtigt worden sind.37 Alle neun 38 Äbte, die bei der Anlage des Verbrüderungsbuches um 824 in das Gebetgedenken der Reichenauer Mönchsgemeinschaft aufgenommen wurden, gehören, wie oben dargelegt wurde, zum engsten Kreis der Reformer unter Ludwig dem Frommen und zur kaiserlichen Hofkapelle. Ihnen ist auch gemeinsam, dass sie nicht – jedenfalls nicht zum selben Zeitpunkt – auf den vorderen Seiten des Verbrüderungsbuches mit ihren Mönchsgemeinschaften, denen sie als Äbte vorstanden, eingetragen worden sind, sondern dass sie persönlich als amici unter den Nomina amicorum viventium, den Namen der lebenden Freunde des Klosters, Aufnahme gefunden haben. Diesen Eindruck erwecken auch die Nachträge, durch die nach 824 die Kolumne der abbates fortgesetzt wurde.39 Es gilt, noch einen Blick auf die beiden nächsten Kolumnen der lebenden Freunde des Inselklosters zu werfen, die den presbiteri und den comites vorbehalten waren. Während die Namen von vier Priestern die kürzeste Reihe der fünf Kolumnen bilden, die in der Zeit nach der Anlage des Verbrüderungsbuches auch offensichtlich kaum fortgesetzt worden ist, weist die Reihe der Grafen – wie die Bischofsreihe – elf Namen von der anlegenden Schreiberhand auf und ist auch in der Folgezeit durch eine Fülle von Nachträgen fortgesetzt worden. Angeführt wird die Reihe der comites von den Namen der Grafen Hugo von Tours und
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Verhältnis von Staat und Kirche im früheren Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 20, 1980) S. 231 – 235 und 345 f. Geuenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25) S. 93 – 99 (mit Quellen und Literatur). Zur eingehenden Diskussion der Äbteliste und einiger Nachträge zu dieser siehe G euenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25) S. 88 – 102. Zur Identifizierung des an 5. Stelle eingetragenen Grimoldus abbas siehe Geuenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25) S. 95 f. Dazu Geuenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25) S. 99 mit Anmerkung 136.
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Matfrid von Orleans, die bis zu ihrer Absetzung auf dem Aachener Hoftag 828 zu den einflussreichsten Ratgebern und Vertrauten des Kaisers gehörten: Hugo auf Grund seiner Verwandtschaft mit dem Hof, als Schwiegervater Lothars I., Matfrid „durch die Bedeutung seiner Persönlichkeit und Stellung“.40 Es folgen weitere comites, die als Grafen in Alemannien für die Zeit nach der Neuordnung durch Ludwig den Frommen im Jahre 817 bezeugt sind.41 Die Struktur der Nameneintragungen im zweiten Teil des Reichenauer Verbrüderungsbuches (S. 98 ff.) unterscheidet sich offenbar grundlegend von den Gebetsverbrüderungen im vorangehenden Teil des Liber vitae. Von den Mitgliedern des Königshauses, von den Bischöfen, den Reformäbten der Hofkapelle und erst recht von den Grafen, die in der fünften Kolumne (S. 99) aufgeführt sind, erwarteten die Mönche des Inselklosters vermutlich keine Gebetsleistungen als Gegengabe wie von den unter den capitula aufgeführten Mönchskonventen, Kanonikergemeinschaften und Domkapiteln. Dem liturgischen Gebetsgedenken für diese amici lag kein „bilateraler“ Verbrüderungsvertrag zugrunde, wie er beispielsweise im Jahr 800 zwischen den Mönchsgemeinschaften von Reichenau und St. Gallen und später auch mit anderen Konventen abgeschlossen worden ist (Farbtaf. 9).42 Dass dieser Vertrag in St. Gallen erhalten geblieben ist, zeigt, dass er in St. Gallen ebenso Gültigkeit erlangt hat wie auf der Reichenau, wo die Gedenkliste der Nomina fratrum de monasterio sancti Galli confessoris, unterteilt nach Lebenden und Verstorbenen, als erste der mit Reichenau verbrüderten Gemeinschaften (S. 10 – 13) eingetragen ist.43 Auf die Bestimmungen dieses ältesten erhaltenen 40 Bernhard Simson, Jahrbücher des Fränkischen Reichs unter Ludwig dem Frommen (1874, Nachdruck 1969) S. 289. 41 Vgl. dazu Michael Borgolte, Die Grafen Alemanniens in merowingischer und karolingischer Zeit. Eine Prosopographie (Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland 2, 1986) S. 46 – 48: Albker, S. 105 – 109: Erchanker, S. 157 – 159: Karaman, S. 175 f.: Lantfrid, S. 244 f.: Theotricus, S. 246 f.: Tiso. 42 Vgl. Dieter Geuenich, Die Sankt Galler Gebetsverbrüderungen, in: Die Kultur der Abtei Sankt Gallen, hg. von Werner Vogler (1990) S. 29 – 38; ; Ders., Liturgisches Gebetsgedenken in St. Gallen, in: Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die kulturelle Blüte vom 8. bis zum 11. Jahrhundert, hg. von Peter Ochsenbein (1999) S. 83 – 94; Ders., Die Verbrüderungsverträge im St. Galler Kapiteloffiziumsbuch (Cod. Sang. 915), in: Bücher des Lebens (wie Anm. 2) S. 40 – 45, hier S. 40 – 42. 43 Vgl. dazu Rupert Schaab, Mönch in St. Gallen. Zur inneren Geschichte eines früh mittelalterlichen Klosters (Vorträge und Forschungen 47, 2003) S. 43 – 48. Eine dringend erforderliche neue Untersuchung ist seit langem angekündigt von Alfons Zettler; vgl. vorerst Dens., Die St. Galler Mönche des frühen Mittelalters – ein Werkstattbericht von
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Verbrüderungsvertrags aus dem Jahre 800 bezogen sich viele der später abgeschlossenen Verträge mit anderen Mönchsgemeinschaften, wie die erhaltene St. Galler Überlieferung dieser Verträge im Codex Sangallensis 915 bezeugt.44 Und so dürfen wir annehmen, dass sämtliche im ersten Teil des Reichenauer Verbrüderungsbuches berücksichtigten Kommunitäten nicht nur einseitig die Gebetshilfe der Mönche des Inselklosters in Anspruch nehmen durften, sondern dass sie diese auf Grund vertraglicher Vereinbarungen auch den Reichenauer Mönchen schuldeten. Auf die amici der Reichenauer Mönchsgemeinschaft, die zur Zeit der Anlage des Codex auf den Seiten 98 und 99 nach ordines getrennt eingetragen sind, folgen – von späteren Händen eingetragen – auf dieser und den folgenden Seiten noch über tausend Namen von „Freunden“. Im Grunde liegt hier kein „Verbrüderungsbuch“, kein Liber confraternitatum mehr vor, sondern ein Gedenkbuch, ein Liber memorialis, in dem sich personell – nach ordines getrennt – das gesamte Beziehungsnetz der Mönchsgemeinschaft und aktuell um 824 die monastische Reformbewegung unter Ludwig dem Frommen spiegelt. Die völlig andere Art des monastischen Gebetsgedenkens in diesem Teil, in dem es nicht um Verbrüderungen mit Gemeinschaften geht, wie auf den ersten 97 Seiten, wird 16 Seiten später, auf pag. 114/115, noch deutlicher (Farbtaf. 10/11). Dort sind unter der Überschrift Nomina defunctorum, qui presens coenobium sua largitate fundauerunt, die Namen der verstorbenen Gönner und Wohltäter aufgeführt, die das Kloster durch ihre Freigebigkeit (Gaben, Schenkungen) begründet, gefördert und ausgestattet haben. Auch dort ist trotz der zahlreichen Nachträge, mit denen diese Doppelseite und die darauf folgenden Seiten (bis S. 128)45 ebenfalls übersät sind, eine Ordnung nach ordines erkennbar: In der ersten Kolumne sind von der anlegenden Hand die vor 824 verstorbenen Angehörigen der Herrscherfamilie eingetragen, die von der Mönchsgemeinschaft in das liturgische Gebetsgedenken einbezogen waren. Diese Liste beginnt mit dem 741 verstorbenen Hausmeier Karl Martell (Karolus maior domus), reicht also, wie mehrere der Mönchslisten des ersten Teils, bis in die Mitte des 8. Jahrhunderts zurück und muss auf Aufzeichnungen beruhen, die vor der Anlage des Verbrüderungsbuches im Kloster vorlagen. Als zuletzt Verstorbene können hier Ludwigs des Frommen Gemahlin Irmingard (Hirminkar regina), der Auswertung der Mönchslisten. Protokoll Nr. 375 des Konstanzer Arbeitskreises für Mittelalterliche Geschichte e. V. vom 27. Februar 1999. 44 Geuenich, Die Verbrüderungsverträge (wie Anm. 42) S. 42 – 45. 45 S. 128 ist durch die Kustode VIIII unten als Ende einer Lage gekennzeichnet, die mit S. 113/114 beginnt. Vgl. das Lagenschema bei Autenrieth, Beschreibung des Codex (wie Anm. 15) S. XVIII.
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gestorben am 3. Oktober 818, und der am 17. April desselben Jahres nach seiner Blendung verstorbene König Bernhard von Italien (Bernardus rex) ausgemacht werden.46 Letzterer dürfte wohl nicht schon unmittelbar nach seinem Tod, sondern erst nach seiner Rehabilitierung im August 822 und der öffentlichen Bußleistung des Kaisers im Gedenkbuch Berücksichtigung gefunden haben. In der vierten Kolumne ist eine Reihe von comites erkennbar. Diese Kolumne der Grafen beginnt mit Karls des Großen Schwager Gerold (Cerolt comis), der als bayerischer praefectus 799 gegen die Awaren gefallen ist und auf der Reichenau wie ein Heiliger verehrt wurde.47 An zweiter Stelle folgt dessen Bruder Udalrich 48 (Odalrich comis). Während in dieser vierten Kolumne von der anlegenden Hand nur vier Namen eingetragen sind,49 beginnt in der zweiten Kolumne auf der Seite 115 eine mehr als 1150 Namen umfassende Liste, die mit den Alemannenherzögen Lantfrid, Theudebald und Liutfrid einsetzt,50 gefolgt vom Bayernherzog Odilo (Uatalo) mit seiner Gemahlin Hiltrud und deren Sohn Tassilo.51 Hier sind in 30 Kolumnen von den anlegenden Händen 52 Namenreihen eingetragen worden, die im Kloster bereits vorgelegen haben müssen und deren Abfassung bis weit ins 8. Jahrhundert zurückreicht.53 Eine eingehende Analyse dieser Eintragungen der Reichenauer amici im zweiten Teil des Verbrüderungsbuches könnte Auskunft über das Beziehungsgeflecht des Klosters in der Karolingerzeit geben, wenn systematisch untersucht würde, welche Mitglieder des karolingischen Königshauses, welche Grafen, Bischöfe und Äbte – als Verstorbene oder als Lebende – in das Gebetsgedenken der Mönchsgemeinschaft 46 47 48 49
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Schmid, Wege zur Erschließung (wie Anm. 5) S. LXVII (mit Quellen und Literatur). Zu Gerold: Borgolte, Die Grafen Alemanniens (wie Anm. 41) S. 122 – 126. Zu Udalrich: Borgolte, Die Grafen Alemanniens (wie Anm. 41) S. 248 – 254. Autenrieth, Beschreibung des Codex (wie Anm. 15) S. XXIX. Zu den ebenfalls von der anlegenden Hand eingetragenen Bertolt comis und Pirihtilo comis: Borgolte, Die Grafen Alemanniens (wie Anm. 41) S. 73 f. und 198. Zur unsicheren paläographischen Zuordnung der Eintragungen lantfridus dux und pald comis zum Schreiber HA1 oder HA2: Autenrieth, Beschreibung des Codex (wie Anm. 15) S. XXV und XXI. Zu den Herzögen: Dieter Geuenich, Lantfrid, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 18 (2001) S. 103 f.; Ders., Theudebald, ebenda 35 (2007) S. 114 – 116; Herwig Wolfram, Odilo, ebenda 21 (2002) S. 559 – 561; Maximilian Diesenberger, Tassilo III., ebenda 30 (2005) S. 290 – 293; zu Liutfrid: Dieter Geuenich, …noluerunt obtemperare ducibus Franchorum. Zur bayerisch-alemannischen Opposition gegen die karolingischen Hausmeier, in: Der Dynastiewechsel von 751. Vorgeschichte, Legitimationsstrategien und Erinnerung, hg. von Matthias Becher / Jörg Jarnut (2004) S. 129 – 143, hier S. 143. Vgl. Autenrieth, Beschreibung des Codex (wie Anm. 15) S. XXIX und XXXI f. Schmid, Probleme (wie Anm. 3) S. 60.
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einbezogen worden sind und welche nicht.54 Darauf muss hier verzichtet werden; stattdessen soll noch kurz der zeitgeschichtliche Hintergrund beleuchtet werden, der den Reichenauer Konvent um 824 veranlasste, die seit 70 Jahren im Kloster archiv gesammelten Namenlisten verbrüderter Gemeinschaften in einen Codex zu übertragen, der so großzügig angelegt wurde, dass er zumindest noch einige Jahrzehnte fortgeführt und um weitere Konventslisten ergänzt werden konnte. Da dieses Buch, wie wir gesehen haben, durch ein Inhaltsverzeichnis (S. 3: Incipiunt capitula) erschlossen ist, war es problemlos möglich, für neu eintreffende Listen – über entsprechende Ordnungsziffern – sofort die dafür vorgesehene Stelle im Codex aufzufinden, wo eine neu eingetroffene aktuelle oder aktualisierte Namenliste einer verbrüderten Kommunität gemäß der Überschrift eingetragen werden musste. Und dasselbe gilt für die Namen von Wohltätern – von Königen, Grafen, Bischöfen und Äbten – , für die unter den lebenden Freunden wie auch in der Rubrik der Verstorbenen noch etwa zehnmal so viel Platz frei gehalten worden war, wie zur Eintragung der um 824 vorliegenden Verzeichnisse bereits „verbraucht“ war.
3. Anlass und Zeitraum der Anlage des Buches Seit Konrad Beyerle 55 haben die Forscher, die sich mit der Anlage des Reichenauer Verbrüderungsbuches (das wohl zutreffender als Verbrüderungs- und Gedenkbuch zu bezeichnen wäre) beschäftigt haben, nach Gründen gesucht, die den Reichenauer Konvent in der Zeit zwischen 823 und 825 veranlasst haben könnten, einen Liber vitae zusammenzustellen, in den sie das vermutlich auf Pergamentzetteln bereits vorliegende Material aus sieben Jahrzehnten sorgfältig übertrugen. Hingewiesen wurde auf die Resignation des Reichenauer Abtbischofs Heito, der, wie Beyerle hervorhob, als „Kirchenfürst … die Glanztage Karls des Großen gesehen hat“, 56 823 allen kirchlichen und politischen Ämtern entsagte und sich 54 Piper, Confraternitates Augienses (wie Anm. 4) S. 145 – 352, hat in den Fußnoten zu seiner Edition bereits viele Hinweise zur Personenidentifizierung gegeben, die, da sie teilweise nicht mehr dem heutigen Stand der Forschung entsprechen, jedoch kritisch zu überprüfen sind. Vgl. die vorliegenden Studien von Schmid, Probleme (wie Anm. 3) S. 54 – 62; Ders., Wege zur Erschließung (wie Anm. 5) S. LXX – LXXIII; Geuenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25) S. 88 – 102 (zu den Äbten). 55 Konrad Beyerle, Das Reichenauer Verbrüderungsbuch als Quelle (wie Anm. 3) S. 1107 – 1217. 56 Konrad Beyerle, Von der Gründung (wie Anm. 14) S. 85 (Zitat) und S. 71 ff. Vgl. Schmid, Bemerkungen (wie Anm. 3) S. 32 (bzw. S. 522)
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fortan als einfacher Mönch unter seine Brüder einreihte. Sein Name steht an zweiter Stelle der Konventsliste, die von seinem Nachfolger Abt Erlebald (823 – 838) angeführt wird. Dass unmittelbar zu dem Zeitpunkt, an dem Heito schwer erkrankte 57 und alle Ämter niederlegte, um fortan als einfacher Mönch im Kloster zu leben, „mit der Anlage des ‚Liber vitae‘ begonnen worden ist, mit der Anlage eines Buches, das den Eingeschriebenen das ‚ewige Leben‘ sichern sollte, ist“, wie Karl Schmid bemerkte, „gewiß ein merkwürdiges Zusammentreffen“.58 Darüber hinaus hat Schmid auf die Vision des Reichenauer Mönchs Wetti hingewiesen,59 dessen Tod am 4. November 824 die Schnittstelle zwischen der Lebendenliste, in der er nicht mehr aufgeführt ist, und der Verstorbenenliste, in der er als einer der Ersten nachgetragen wurde,60 markiert. Das Szenario am Bett des todkranken Wetti und die Einblicke, die er seinen Mitbrüdern unmittelbar vor seinem Ableben ins Jenseits gewährt, sind ein glaubhafter Impuls für die Neuordnung des Gebetsgedenkens und der Jenseitsvorsorge im Kloster. Als Leiter der Klosterschule und Lehrer Walahfrids war Wetti zweifellos eine bedeutende Persön lichkeit im Inselkloster, und wir dürfen annehmen, dass er an der Abfassung des Verbrüderungsbuches, das vor seinem Tod begonnen worden sein muss, maßgeblich beteiligt war.61 In seiner Jenseitsvision, die vom zurückgetretenen Abt Heito niedergeschrieben und von Walahfrid in Verse gebracht worden ist, sieht Wetti unter anderen seinen früheren Abt Waldo und auch Karl den Großen als Büßende, während Graf Gerold
57 Vgl. Visio Wettini, Vers 82 – 85: „Damals, als Kaiser Ludwig im zehnten Jahre regierte – achtzehn Jahre hindurch war Heito im Amte gewesen und vollendete nun das sechzigste Jahr seines Lebens – riß eine Krankheit den würdigen Abt an den Abgrund des Todes.“ Übersetzung von Hermann Knittel, Walahfrid Strabo, Visio Wettini – die Vision Wettis. Lateinisch-Deutsch. Übersetzung, Einführung und Erläuterungen (1986) S. 49 mit Literaturangaben S. 105 – 118. 58 Schmid, Bemerkungen (wie Anm. 3) S. 32 (bzw. S. 522) und weiter S. 38 (bzw. S. 528). 59 Heitonis Visio Wettini und Visio Wettini Walahfridi liegen in kritischer Edition vor: Monumenta Germaniae Historica. Poetae Latini Aevi Carolini 2, hg. von Ernst Dümmler (1884, Nachdruck 1964) S. 301 – 331 und 267 – 275. Dazu Erich Kleinschmidt, Zur Reichenauer Überlieferung der „Visio Wettini“ im 9. Jahrhundert, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 30 (1974) S. 199 – 207; Knittel, Walahfrid Strabo, Visio Wettini (wie Anm. 57) mit Literaturangaben S. 105 – 118. 60 Dazu zuletzt eingehend und mit einer Rekonstruktion des Wetti-Eintrags: Zettler, ‚Visio Wettini‘ (wie Anm. 2) S. 62 – 65. 61 Vgl. Schmid, Bemerkungen (wie Anm. 3) S. 32 – 39 (bzw. S. 522 – 529; Knittel, Walahfrid Strabo, Visio Wettini (wie Anm. 57) S. 8; Zettler. ‚Visio Wettini‘ (wie Anm. 2) S. 64.
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den Märtyrern gleichgestellt wird.62 Vor allem Wettis dringende Bitte, ihm und allen Verstorbenen Gebetshilfe durch Messen und Psalter zu leisten, hat Schmid veranlasst, Wettis Vision und Tod als einschneidende Ereignisse im Kloster und als Motiva tionsschub für die Fertigstellung des Reichenauer Verbrüderungsbuches zu sehen.63 Jüngst hat Alfons Zettler betont, dass Wettis Vision und Tod zwar „für das Verständnis [des Verbrüderungsbuches] von nicht geringer Bedeutung“ sind, jedoch „weder den Beginn noch das Ende der Arbeiten“ am Verbrüderungsbuch markieren, sondern „mitten in den langwierigen Schaffensprozess“ fielen, der bereits 823 begonnen und sich bis 825 erstreckt hat.64 Dies entspricht der Feststellung Schmids, dass „die Visio Wettini mitten in den Vorgang der Anlage des Reichenauer Verbrüderungsbuches“ fällt und „daß die Wohltäterliste wie offenbar auch die Reichenauer Totenliste v o r Wettis Tod entstanden sind“.65 Wie schon Schmid weist Zettler auf die der Anlage des Verbrüderungsbuches vorangegangenen Ereignisse des Jahres 823 hin, das „als ausgesprochene Krisenzeit in die Annalen ein[ging]“.66 Denn am Ende des Berichts der Reichsannalen zum Jahre 823 wird von Wunderzeichen (prodigia)67 berichtet, von einem Erdbeben in der Pfalz Aachen, von der zehnmonatigen Nahrungsabstinenz eines jungen Mädchens im Dorf Commercy im Gebiet von Toul,68 von Blitzeinschlägen, die Häuser, Menschen und Tiere in ungewöhnlicher Zahl trafen und in Sachsen 23 Dörfer in Brand setzten, von Hagel- und Steinschlag. 62 Knittel, Walahfrid Strabo, Visio Wettini (wie Anm. 57) mit Anmerkungen und Erläuterungen zu Abt Waldo (S. 62 f.), zu Karl dem Großen (S. 66 f.) und zu Gerold (S. 82 – 85). Vgl. auch Schmid, Bemerkungen (wie Anm. 3) S. 34 (bzw. S. 524). 63 Schmid, Bemerkungen (wie Anm. 3) S. 38 (bzw. S. 528); Ders., Wege zur Erschließung (wie Anm. 5) S. LXV – LXVIII. 64 Zettler, ‚Visio Wettini‘ (wie Anm. 2) S. 63 und 64 f. Vgl. S. 65: „Mit grosser Wahrschein lichkeit wurde das Buch jedenfalls 823 konzipiert, während sich seine Fertigstellung bis ins Jahr 825 hinzog.“ 65 Schmid, Wege zur Erschließung (wie Anm. 5) S. LXVII (Sperrung des „v o r“ durch Schmid). 66 Zettler, ‚Visio Wettini‘ (wie Anm. 2) S. 65. Vgl. zum Folgenden: Annales regni Francorum ad a. 823, hg. von Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 6, 1895, Nachdruck 1950) S. 163 f. 67 Annales regni Francorum (wie Anm. 64) S. 163: Hoc anno prodigia quaedam extitisse narrantur. Von signa (Zettler, ‚Visio Wettini‘, wie Anm 2, S. 65) wird nicht in den Reichannalen, sondern in cap. 37 der Vita Hludowici berichtet: Astronomus, Das Leben Kaiser Ludwigs (Vita Hludowici imperatoris), hg. von Ernst Tremp (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 64, 1995) S. 420: Eo tempore quedam prodigiosa signa apparentia animum imperatoris sollicitabant… 68 Nicht „im Gebiet von Tours“ (Zettler, ‚Visio Wettini‘, wie Anm. 2, S. 65), sondern in territorio Tullense (Annales regni Francorum , wie Anm. 64, S. 163). Vgl. Schmid,
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Nach dem Bericht des Astronomus ordnete Ludwig der Fromme daraufhin „häufiges Fasten an und ermahnte die Priesterschaft, durch inständiges Beten und reiche Almosen Gott zu versöhnen; denn er bezeichnete es als ganz gewiß, daß durch diese Erscheinungen dem menschlichen Geschlecht großes künftiges Unheil angezeigt werde“.69 In der Tat folgten diesen prodigia „eine schlimme Seuche (pestilentia grassata)70 und ein Menschensterben, das überall im Frankenreich fürchterlich wütete und eine zahllose Menge Menschen jeden Alters und Geschlechts hinwegraffte“.71 Es ist naheliegend anzunehmen, dass die schwere Erkrankung Heitos, die ihn 823 zum Rücktritt von allen Ämtern einschließlich der Abtswürde veranlasste, und vielleicht auch die Erkrankung Wettis, die am 4. November 824 zu seinem Tode führte, im Zusammenhang mit der pestilentia atque hominum mortalitas … per totam Franciam zu sehen sind.72 Nicht von ungefähr fragt Wetti, wie Walahfrid in seinem Visionsbericht berichtet, den Engel angesichts seines bevorstehenden Todes, „weshalb so viele im Volke und aus der Gläubigen Schar den Tod durch die Seuche (pestis) erlitten“.73 Bekanntlich galten Pest und Erdbeben als Vorboten des Weltendes.74 Diese bedrohlichen Vorzeichen, die Erkrankung und Resignation Heitos sowie Wettis Visionen und sein Tod, den die Reichenauer Mönche hautnah miterlebten, machen die Bemühungen um die Ordnung des Gebetsgedenkens verständlich, das man den verstorbenen Brüdern der eigenen Mönchsgemeinschaft und der verbrüderten Konvente sowie den Wohltätern schuldete. Durch die Eintragung der Verstorbenen, aber auch der Lebenden, denen das liturgische Gebetsgedenken zugesichert worden war, in einen neu angelegten und aufwändig gestalteten Liber vitae, ein Buch des ewigen Lebens, hoffte man, Gott zu versöhnen und der Bestrafung zu entgehen, wie sie der Bischof Adalhelm in Wettis Vision erleiden musste.75
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Bemerkungen (wie Anm. 3) S. 32 (bzw. S. 522) und Tremp in: Astronomus (wie Anm. 67) S. 421 Anmerkung 519. Übersetzung von Tremp in: Astronomus (wie Anm. 67) S. 421 – 423. Das Zitat pestilentia grassante (Zettler, ‚Visio Wettini‘, wie Anm. 2, S. 65, – wohl nach Schmid, Bemerkungen, wie Anm. 3, S. 37 [bzw. S. 527]) – findet sich nicht in den Reichsannalen. Übersetzung nach: Die Reichsannalen, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 1, hg. von Reinhold Rau (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 5, 1968) S. 137. Vgl. das Zitat von Schmid oben mit Anm. 58. Knittel, Walahfrid Strabo, Visio Wettini (wie Anm.57) S. 82 f. Vers 785 f. Vgl. Matthäus 24, 7; Lukas 21, 11; Apokalypse 6, 8 und 6, 12. Knittel, Walahfrid Strabo, Visio Wettini (wie Anm.57) S. 64 f. Vers 400 – 409. Dazu Schmid, Bemerkungen (wie Anm. 3) S. 33 (bzw. S. 523); Zettler, ‚Visio Wettini‘ (wie Anm. 2) S. 60 und S. 65.
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Die Feststellung von Alfons Zettler, dass „im Grunde schon seit 817, als Ludwig der Fromme seine ‚Reichsordnung‘ erließ, eine Folge von Krisen das Reich und die Herrschaft des Karolingers erschütterte“,76 wirft die Frage auf, ob nicht auch die Anlage der anderen Verbrüderungsbücher in diesem Zusammenhang zu sehen sind. Denn warum sollten die politischen Krisen, die unheilvollen Vorzeichen sowie die religiösen und vor allem monastischen Reformbemühungen im Reich nur auf die Reichenauer Mönche so gewirkt haben, dass sie ihr Gebetsgedenken reformierten und die Namen der Personen und Personengruppen, denen sie Gebetsleistungen zugesagt hatten, geordnet in ein Gedenkbuch eintrugen? Das Salzburger Verbrüderungsbuch wird man allerdings kaum in diesen Zusammenhang einordnen können; denn es ist bereits unter Abtbischof Virgil (†27.11.784) angelegt und mit 1188 Namen gefüllt worden.77 Es ist aber zu beachten, dass das Buch unter Virgils Nachfolger, Abt Arn (†24.1.821), intensiv benutzt wurde; denn in diesem Zeitraum sind vier bis fünfmal so viele Namen (ca. 5.100) eingetragen worden. Die Tatsache, dass dessen Nachfolger Erzbischof Adalram (821 – 836) an prominenter Stelle des Verbrüderungsbuches gemeinsam mit ausgewählten Mitgliedern einer Reichsversammlung eingetragen wurde, ist „mit der Reichskrise in den späten 820er und frühen 830er Jahren“ in Verbindung gebracht worden und „als politisches Signal der Einheit verstanden worden“.78 Der Liber Viventium von Pfäfers „wurde mit einiger Sicherheit um oder bald nach 815 im Auftrag des Churer Bischofs Remedius († 820) angelegt“.79 Der älteste Nameneintrag in diesem Verbrüderungsbuch ist zur Zeit Ludwigs des Frommen erfolgt, der selbst an hervorragender Stelle um 819/20 eingetragen wurde.80 Das ältere der beiden St. Galler Verbrüderungsbücher, dessen wichtige erste Lage vermutlich verloren ist,81 wurde ebenfalls zur Zeit Ludwigs des Frommen,
76 Zettler, ‚Visio Wettini‘ (wie Anm. 2) S. 65. 77 Vgl. zuletzt: Diesenberger, Das Salzburger Verbrüderungsbuch (wie Anm. 7) und Ders., Könige und Herzöge (in diesem Band). 78 Diesenberger, Das Salzburger Verbrüderungsbuch (wie Anm. 7) S. 34. 79 Lieven, Der ‚Liber viventium‘(wie Anm. 9) S. 83. Vgl. auch Kettemann, Ein Namen-Text (wie Anm. 9) S. 94; Alfons Zettler, Liber Viventium Fabariensis – Versuch einer Freilegung der ältesten Namenschicht im Pfäferser Gedenkbuch, in: Grosso modo. Quellen und Funde aus Spätantike und Mittelalter. Festschrift für Gerhard Fingerlin zum 75. Geburtstag, hg. von Niklot Krohn und Ursula Koch (Forschungen zu Spätantike und Mittelalter 1, 2012) S. 203 – 214, hier S. 206 – 209. 80 Lieven, Der ‚Liber viventium‘ (wie Anm. 9) S. 84. 81 Karl Schmid, Versuch einer Rekonstruktion der St. Galler Verbrüderungsbücher des 9. Jahrhunderts, in: Subsidia Sangallensia I. Materialien und Untersuchungen zu den
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wohl um 815, angelegt.82 In den erhaltenen Fragmenten des älteren Teils finden wir wie im Reichenauer Verbrüderungsbuch die Namen von Reformern wie B enedikt von Aniane, Helisachar, Einhart und Fridugis von Tours, die als Lebende dem Gebet der St. Galler Mönche anempfohlen sind.83 Der ältere Teil des Liber memorialis von Remiremont schließlich wurde „im siebten Jahr“ Kaiser Ludwigs des Frommen 820/21 angelegt.84 Auf Grund der Aachener Beschlüsse von 816 hatten sich die Nonnen in Remiremont zum Leben nach der Benediktsregel entschieden. Auch hier wurden um 820 zahlreiche Namen und Namenlisten in ein Gedenkbuch übertragen, die, da sie weit in die Geschichte von Remiremont zurückreichen, zuvor in anderer Form im Kloster tradiert worden sein müssen.85 Zumindest in diesen drei Klöstern ist der Impuls zur Neubelebung des Gebetsgedenkens und zur Anlage eines Gedenkbuches – ebenso wie auf der Reichenau – in der Zeit nach den Aachener Synoden von 816/817 erfolgt, und es erscheint nicht abwegig, die Anlage auch dieser Gedenkbücher, ebenso wie dies für das Reichenauer Verbrüderungsbuches wahrscheinlich gemacht wurde, mit den Reformen, aber auch mit den Krisen unter Ludwig dem Frommen in Verbindung zu bringen. Wenn die genannten Gedenkbücher in absehbarer Zeit in der Reihe der Monumenta Germaniae Historica durch Register erschlossen vorliegen,86 können und sollten sie auch vergleichend in den Blick genommen werden.
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Verbrüderungsbüchern und zu den älteren Urkunden des Stiftsarchivs St. Gallen, hg. von Michael Borgolte / Dieter Geuenich / Karl Schmid (St. Galler Kultur und Geschichte 16, 1986) S. 86, 88 und 91 – 106. Uwe Ludwig, Wann ist das jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch entstanden?, in: Bücher des Lebens (wie Anm. 2) S. 51 – 58, hier S. 51. Vgl. Dieter Geuenich, Benedikt von Aniane, Helisachar und Einhard im St. Galler Verbrüderungsbuch, in; Schatzkammer Stiftsarchiv St. Gallen. Miscellanea Lorenz Hollenstein, hg. von Peter Erhart [2009] S. 27 – 29. Vgl. Schmid, Auf dem Wege (wie Anm. 10) S. 71 f.; Jakobi, Der Liber memorialis (in diesem Band) S. 100. Schmid, Auf dem Wege (wie Anm. 10) S. 81; Jakobi, Der Liber memorialis (wie Anm. 84) S. 89 mit Anmerkung 7. Die Erschließung der frühmittelalterlichen Verbrüderungsbücher durch ein sogenanntes „Nameneintragsbuch“ und ein gemeinsames Lemmatisiertes Personennamenregister wurde bereits von Karl Schmid angeregt und vorbereitet. Sie sind als Dateien gespeichert und liegen bislang nur in Form von Arbeitsexemplaren vor, die noch ständig der Korrektur unterworfen werden.
Die beiden St. Galler Libri vitae aus dem 9. Jahrhundert von Uwe Ludwig Die Überlieferungssituation der frühmittelalterlichen St. Galler Libri vitae ist günstig und ungünstig zugleich. Sie ist einerseits günstig, weil aus der südalemannischen Abtei gleich zwei Gedenkbücher erhalten blieben, die im Abstand von wenigen Jahrzehnten entstanden sind und die einmalige Mög lichkeit eines Vergleichs zwischen Vorlage und Abschrift bieten.1 Sie ist andererseits ungünstig, da beide Handschriften rund die Hälfte ihres ursprüng lichen Bestandes eingebüßt haben und uns heute leider nur in fragmentarischem Zustand vorliegen.2 Allein schon diese einleitenden Feststellungen wären ohne die Forschungen Karl Schmids, welche die Beschäftigung mit den St. Galler Verbrüderungsbüchern auf eine völlig neue Grundlage gestellt haben, undenkbar. Schmid erkannte als erster, dass die St. Galler Mönche nicht etwa ein im beginnenden 9. Jahrhundert geschaffenes Gedenkbuch parallel zur steigenden Nachfrage nach Gebetsleistungen durch Hinzufügung neuer Lagen sukzessive erweitert, sondern im Laufe des 9. Jahrhunderts zwei verschiedene, als eigenständige Handschriften konzipierte Libri vitae angelegt haben.3 Zu der Erkenntnis, dass in St. Gallen ursprünglich zwei separate, zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstandene und erst später zu e i n e m Codex vereinte Gedenkbücher existierten, gelangte Schmid aufgrund von drei
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Karl Schmid, Versuch einer Rekonstruktion der St. Galler Verbrüderungsbücher des 9. Jahrhunderts, in: Subsidia Sangallensia I. Materialien und Untersuchungen zu den Verbrüderungsbüchern und zu den älteren Urkunden des Stiftsarchivs St. Gallen, hg. von Michael Borgolte / Dieter Geuenich / Karl Schmid (St. Galler Kultur und Geschichte 16, 1986) S. 81 – 283. 2 Karl Schmid, Das ältere und das neuentdeckte jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch, in: Subsidia Sangallensia I (wie Anm. 1) S. 15 – 38. 3 Karl Schmid, Auf dem Weg zur Wiederentdeckung der alten Ordnung des St. Galler Verbrüderungsbuches. Über eine Straßburger Namengruppe, in: Florilegium Sangallense. Festschrift für Johannes Duft zum 65. Geburtstag, hg. von Otto P. Clavadetscher / Helmut Maurer / Stefan Sonderegger (1980) S. 213 – 241.
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Beobachtungen: Erstens waren mehrere Verzeichnisse monastischer Gemeinschaften, aber auch die Namen männlicher und weiblicher Laien gleich zweimal im Codex Class. I. Cist. C 3. B 55 des St. Galler Stiftsarchivs nachzuweisen – ein erstes Mal im vorderen Teil der Handschrift und ein weiteres Mal abschriftlich in den hinteren Lagen. Aus der Umstand, dass die Übertragung der Namen offenbar systematisch durchgeführt worden war, folgerte Schmid, dass die kopierten Namenreihen bei der Anlage eines jüngeren Liber vitae aus dem älteren übernommen worden waren. Diese Annahme wurde durch die zweite Beobachtung bestätigt. Der erste Teil des Codex weist eine ganz andere Ausschmückung auf als der zweite: Farbig ausgemalten, mit geometrischen, vegetabilen, menschlichen und tierischen Motiven verzierten Doppelarkaden in den vorderen Partien stehen Seiten mit flachgedeckten Säulenstellungen in roter Federstrichzeichnung bzw. Seiten ohne jede Ausstattung im rückwärtigen Teil gegenüber. Aus der Tatsache schließlich – und dies ist die dritte Beobachtung – , dass bei der späteren Beschneidung der Handschrift die Bogenstellungen und Säulenbasen des ersten Teils sehr stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren, während das Dekor der jüngeren Lagen keinen Schaden gelitten hatte, ergab sich, dass der Anfangssteil des Codex ursprünglich ein anderes Format aufgewiesen haben muss als der Schlussteil.4 Im Jahre 1986 legte Schmid seine Rekonstruktion der beiden St. Galler Gedenkbücher vor,5 die im Wesentlichen auf drei Befunden beruhte: Zum einen entsprechen sich das Säulendekor gegenüberliegender Seiten sowohl im älteren als auch im jüngeren Liber vitae in Form- und Farbgebung, da jede Doppelseite als Einheit konzipiert und gestaltet wurde. Es besteht daher die Möglichkeit, die Reihenfolge der Blätter aufgrund dieser Korrespondenzen wiederherzustellen.6 Zum anderen erleichtern es zahlreiche Tintenabklatsche, den Nachweis zu führen, welche Seiten ursprünglich aufeinanderfolgten.7 Und zum dritten sind es die Abschriften der Laiennamen im jüngeren Verbrüderungsbuch – vor allem die Nomina feminarum laicarum –,8 die Rückschlüsse auf die 4 5 6 7
Siehe dazu die in Anm. 2 und 3 genannten Titel. Wie Anm. 1. Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 84. Sie sind von Roland Rappmann, Verzeichnis der Tintenabdruckstellen im älteren und jüngeren Verbrüderungsbuch von St. Gallen, in: Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 277 – 283, zusammengestellt worden. 8 Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 77 – 81 (neuere Paginierung nach der Restaurierung der Handschrift im Jahre 2008); Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 259 – 263. Zu diesen Abschriften siehe weiter unten S. 167f.
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Abfolge der Namen in der Vorlage des Kopisten und damit auf die Reihenfolge der Blätter zulassen.9 Auf diesem Wege gelang es Schmid, die Fragmente des älteren Liber vitae wieder in ihre ursprüngliche Ordnung zu bringen. Nach seiner Rekonstruktion bestand das ältere Gedenkbuch aus drei Lagen, und zwar aus Quaternionen:10 Ein Quaternio hat sich vollständig erhalten,11 von dem zweiten fehlen Schmid zufolge drei Blätter.12 Da die erste überlieferte Lage mit einem Blatt beginnt, das die fragmentarische Überschrift De Ghanginpach aufweist (Farbtaf. 12), die zu Nomina fratrum de Ghanginpach zu ergänzen wäre,13 kann es sich nicht um den Anfang des älteren Gedenkbuches handeln. Schmid hat hieraus die Annahme abgeleitet, dass den beiden rekonstruierten Quaternionen eine weitere, später verlorengegangene Lage, wahrscheinlich ein weiterer Quaternio, vorausging.14 Schmids Rekonstruktion zufolge umfasste der ältere Liber vitae somit 24 Blätter, von denen 13 erhalten geblieben sind. Die Rekonstruktion der Lagenabfolge des jüngeren St. Galler Gedenkbuches bereitet erheblich größere Schwierigkeiten als jene des älteren Liber vitae, obgleich zwei Blätter mit den Custoden „III“ und „V“ überliefert sind. Überlegungen zur Position bestimmter Namenverzeichnisse in der Handschrift und zur Gesamtzahl der aus dem alten in das neue Gedenkbuch übertragenen Namen männlicher und weiblicher Laien veranlassen Schmid, als Anlagebestand des jüngeren Liber vitae nicht fünf, sondern sechs Lagen anzusetzen. Dabei schließt er aus weiteren Indizien, dass sämtliche Lagen aus fünf Doppelblättern bestanden, d. h. Quinionen waren. Das jüngere Gedenkbuch umfasste nach Schmid 60 Blätter, von denen 31 – also mehr als die Hälfte – verlorengegangen sind.15
9 Siehe bereits Schmid, Auf dem Weg zur Wiederentdeckung der alten Ordnung (wie Anm. 3). 10 Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 83 – 138. 11 Ebd., Lagenschema S. 83 und Rekonstruktion S. 107 – 122. 12 Ebd., Lagenschema S. 83 und Rekonstruktion S. 123 – 138. Allerdings ist die Existenz des von Schmid angesetzten äußeren Doppelblattes dieser Lage nicht gesichert. Die Tatsache, dass die Abschrift der Nomina feminarum laicarum das erschlossene erste Blatt dieser Lage überspringt (siehe ebd., S. 123), könnte durchaus als Indiz dafür zu werten sein, dass es sich bei dieser Lage um einen Ternio gehandelt hat. 13 Älteres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 1; Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 106 f. – Zu der verlorengegangenen Liste des Klosters Gengenbach siehe unten S. 159 mit Anm. 53. 14 Ebd., Rekonstruktion S. 91 – 106. 15 Ebd., S. 146 ff. mit Rekonstruktion S. 157 – 276.
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Es ist das große Verdienst Karl Schmids, das im Stiftsarchiv St. Gallen aufbewahrte Konvolut aus in Unordnung geratenen Heften und Einzelblättern in seine einzelnen Komponenten zerlegt und diese bei der Rekonstruktionsarbeit so zusammengefügt zu haben, dass die beiden St. Galler Verbrüderungsbücher des 9. Jahrhunderts in ihrer ursprünglichen Gestalt und in ihrem ursprüng lichen Umfang wieder in Umrissen erkennbar wurden.16 Damit waren aber erst die unabdingbaren Voraussetzungen für eine – bereits von Schmid geplante 17 – Faksimile-Edition der St. Galler Verbrüderungsbücher geschaffen. Die Verdienste Schmids werden auch in keiner Weise dadurch geschmälert, dass die im Zuge der Vorbereitung der Edition 18 in der Werkstatt des Restaurators und am Schreibtisch des Historikers durchgeführten Untersuchungen Korrekturen an der 1986 vorgelegten Rekonstruktion erforderlich machen. Bei der von A ndrea Giovannini im Jahre 2008 in seinem Atelier in Bellinzona vorgenommenen Öffnung der Handschrift 19 trat zu Tage, dass sich die erschlossene Lage IV des jüngeren Liber vitae 20 anders zusammensetzt als von Schmid angenommen.21 Bei der vierten Lage des jüngeren St. Galler Gedenkbuches scheint es sich um einen Sexternio, also um ein aus sechs Doppelblättern bestehendes Heft, gehandelt zu haben.22 Und auch die fünfte Lage 23 dürfte umfangreicher als in Schmids Rekonstruktion gewesen sein: In diesem Falle sind es inhaltliche 16 Johanne Autenrieth, Das St. Galler Verbrüderungsbuch. Möglichkeiten und Grenzen paläographischer Bestimmung, Frühmittelalterliche Studien 9 (1975) S. 215 – 225, hier S. 219 f., hatte in Anbetracht der gestörten Abfolge der Lagen skeptisch formuliert: „Ob die ursprüngliche Ordnung des Codex völlig rekonstruiert werden kann, bleibt fraglich.“ 17 Vgl. Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 81. 18 Sie wird von Dieter Geuenich und dem Verfasser unter dem Titel „Die St. Galler Verbrüderungsbücher“ für die Reihe „Libri memoriales et Necrologia, Nova Series“ der Monumenta Germaniae Historica vorbereitet. 19 Siehe hierzu den Restaurierungsbericht im Stiftarchiv St. Gallen. 20 Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) Lagenschema S. 146 und Rekonstruktion S. 217 – 236. 21 Siehe dazu Uwe Ludwig, Die Gebetsverbrüderung zwischen Prüm und St. Gallen. Zugleich ein Beitrag zur Frage der Datierung des jüngeren St. Galler Verbrüderungsbuches, Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 213 (2010) S. 3 – 31, hier S. 11 ff., und künftig die Beschreibung des Codex durch Peter Erhart in der Anm. 18 genannten Edition. 22 Siehe dazu künftig Uwe Ludwig, Konzeption und Datierung des jüngeren St. Galler Gedenkbuches, in der Anm. 18 genannten Edition. 23 Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) Lagenschema S. 146 und Rekon struktion S. 237 – 256.
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Gründe, nämlich der Raumbedarf für die Übertragung der Namen männlicher Laien aus dem älteren in das jüngere Gedenkbuch, die dafür sprechen, statt eines Quinio einen Sexternio oder gar einen Septernio anzusetzen.24 Ohne an dieser Stelle auf die codicologischen Einzelheiten einzugehen, sei lediglich gesagt, dass dieser Befund den Rekonstruktionsvorschlag Schmids in einem wesentlichen Punkt ins Wanken bringt: Die zugrundeliegende Prämisse, das jüngere Verbrüderungsbuch habe ausschließlich aus Quinionen bestanden, ist offensichtlich nicht haltbar. Abgesehen von diesen Korrekturen bleibt der Rekonstruktionsvorschlag Schmids allerdings in seinen Grundlinien unangetastet: Es ist frei lich davon auszugehen, dass das neuangelegte Verbrüderungsbuch mehr als die veranschlagten 120 Seiten umfasst hat. Die Datierung der St. Galler Gedenkbücher wird in erheblicher Weise durch den fragmentarischen Charakter der Handschriften erschwert. Im Falle des älteren Liber vitae wird überdies ein fundiertes Urteil über die Konzeption der Anlage dadurch beeinträchtigt, dass die gesamte erste Lage verlorengegangen zu sein scheint. In diesem von Schmid erschlossenen Teil des Gedenkbuches 25 könnte man in Analogie zu den Verhältnissen in anderen Libri vitae wie jenen von Reichenau 26 und San Salvatore / Santa Giulia in Brescia 27 die Listen der gedenkbuchführenden Kommunität selbst, also die Lebenden- und Verstorbenenverzeichnisse des St. Galler Konvents, vermuten.28 Diese Listen und ebenso jene des mit St. Gallen verbrüderten Nachbarklosters Reichenau fehlen sowohl im älteren als auch im jüngeren Gedenkbuch.29 Die St. Galler Mönche haben im Jahre 800 unter ihrem Abt Werdo vertraglich Gedenkbeziehungen zum Reichenauer
24 Siehe dazu den in Anm. 22 genannten Beitrag. 25 Siehe oben S. 149 mit Anm. 14. 26 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau. Einleitung, Register, Faksimile, hg. von Johanne Autenrieth / Dieter Geuenich / Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et Necrologia, Nova Series 1, 1979) pag. 4 – 7. 27 Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia, hg. von Dieter Geuenich / Uwe Ludwig (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et Necrologia, Nova Series 4, 2000), fol. 5r und 6r. 28 Schmid, Das ältere und das neuentdeckte jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch (wie Anm. 2) S. 21; Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 86. Vgl. ebd., S. 94 – 97 zu dem möglichen Eintragsort der St. Galler Mönchsverzeichnisse. 29 Siehe ebd., S. 158 – 160 (jüngeres Gedenkbuch) zu dem von Schmid erschlossenen Eintragsort der St. Galler Mönchslisten sowie S. 100 – 103 (älteres Gedenkbuch) und S. 173 – 176 (jüngeres Gedenkbuch) zu den mutmaßlichen Eintragsorten der Reichenauer Mönchslisten.
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Konvent unter Abt Waldo aufgenommen:30 Aus diesem Anlass wurde offenbar eine von Abt Werdo angeführte Konventsliste ins Inselkloster übermittelt.31 Ob daraus allerdings der Schluss gezogen werden darf, der erste St. Galler Liber vitae sei bereits zwischen 800 und 810 geschaffen worden, weil der Konvent das damals auf die Reichenau gesandte Verzeichnis auch dem eigenen Gedenkbuch anvertraut haben dürfte,32 scheint höchst unsicher. Die Datierung des älteren St. Galler Liber vitae hat von dem Bischofsdiptychon auf pag. 4 (Farbtaf. 13) und von dem Herrscher- und Magnateneintrag auf pag. 8 – 10 (Farbtaf. 14, Abb. 1 – 3) auszugehen. Bei den neun Bischöfen, die auf pag. 4 unter dem Rubrum Nomina episcoporum von einer ersten Hand notiert wurden (Hiltiboldus eps – Milo eps),33 handelt es sich um ein Verzeichnis von Lebenden: Aus den Amtsdaten der Prälaten ergibt sich, dass die Aufzeichnung der Namen zwischen 813, dem Amtsantritt Erzbischof Heistolfs von Mainz, und 818, dem Todesjahr Erzbischof Hiltibolds von Köln, erfolgte.34 Bestätigt wird dieser zeitliche Ansatz durch den frühesten Nachtrag zur Bischofsliste. In Uuoluuoltus
30 Edition des Vertrags in Libri confraternitatum sancti Galli, Augiensis, Fabariensis, hg. von Paul Piper (Monumenta Germaniae Historica, Necrologia Supplementum, 1884) S. 140 und 141 f. 31 Sie ist in das von Abt Gozbert (816 – 837) angeführte St. Galler Mönchsverzeichnis auf pag. 10 f. des Verbrüderungsbuchs der Abtei Reichenau (wie Anm. 26) integriert. Siehe dazu die auf den Forschungen von Alfons Zettler beruhenden Ausführungen von Schmid, Das ältere und das neuentdeckte jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch (wie Anm. 2) S. 20 f.; Karl Schmid, Die Reichenauer Fraternitas und ihre Erforschung, in: Roland Rappmann /Alfons Zettler, Die Reichenauer Mönchsgemeinschaft und ihr Totendgedenken im frühen Mittelalter (Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland 5) S. 11 – 34, hier S. 25. 32 So Karl Schmid, Zum Problem der Anlage des älteren und des jüngeren Verbrüderungsbuches (Ms.), S. 2: Die von Abt Werdo angeführte St. Galler Konventsliste „dürfte den Grundstock der ersten Lage des St. Galler Verbrüderungsbuches gebildet haben, das in der Zeit nach 800 und vor 810 entstanden sein dürfte.“ Bei diesem Text handelt es sich um einen im Jahre 1987 entstandenen, für den damals geplanten Band „Subsidia Sangallensia II “ vorgesehenen Beitrag, der jedoch Fragment und unveröffentlicht geblieben ist. 33 Zur Abgrenzung des Eintrags siehe Autenrieth, Das St. Galler Verbrüderungsbuch (wie Anm. 16) S. 220 Anm. 25. 34 Schmid, Das ältere und das neuentdeckte jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch (wie Anm. 2) S. 34 mit Anm. 85. Angaben zu den einzelnen Bischöfen bei Piper, Libri confraternitatum (wie Anm. 30) S. 35 Anm. zu col. 75, 2 ff.
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epsicopus ist offenbar Bischof Wolfold von Cremona zu erblicken,35 der seit 816 amtierte und als einer der treuesten Parteigänger König Bernhards von Italien in dessen Kampf gegen Kaiser Ludwig den Frommen bekannt ist.36 Nach der Niederschlagung des Aufstandes musste Wolfold 818 seine sedes räumen. Er starb im Jahre 821.37 Die Eintragung Bischof Wolfolds dürfte am ehesten zwischen 816 und 818 erfolgt sein, womit der terminus ante quem für die Niederschrift des Bischofsverzeichnisses präzisiert werden kann. Es verdient besondere Aufmerksamkeit, dass der St. Galler Konvent auch den Oberhirten von Cremona in seine Memoria aufnahm, hat doch Karl Schmid darauf hingewiesen, dass Bernhard der Angelpunkt des sogenannten ältesten Eintrags im St. Galler Codex ist.38 Dieser Eintrag besteht aus drei räumlich voneinander abgesetzten Namenreihen, die jeweils in der ersten Kolumne der Seiten 8, 9 und 10 des älteren Gedenkbuches beginnen, und nennt Angehörige des karolingischen Herrscherhauses, fränkische Magnaten und alemannische Grafen, darunter auch in Italien nachweisbare Adlige, die in die Rebellion Bernhards verwickelt waren.39 Die Diskussion um die Datierung des komplexen Eintrags kann hier nicht im Detail geführt werden. Mit Sicherheit kann man sagen, dass die Aufzeichnung der Namen zwischen 807 und 817 erfolgte, da mit Deodericus (11. Name des Eintrags) der 807 geborene Karlssohn Theoderich gemeint ist und Lodharius rex (7), wenn er mit Ludwigs des Frommen Sohn gleichzusetzen ist, noch nicht mit dem ihm 35 Die Identifizierung wurde bereits von Piper, Libri confraternitatum (wie Anm. 30) S. 35 Anm. zu col. 75, 11 vorgenommen. 36 Annales regni Francorum inde ab a. 741. usque ad a. 829. qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi, rec. Friedrich Kurze (Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 6, 1895) ad a. 817 S. 148. Eduard Hlawitschka, Franken, Alemannen, Bayern und Burgunder in Oberitalien (774 – 962). Zum Verständnis der fränkischen Königsherrschaft in Italien (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 8, 1960) S. 50; Karl Brunner, Oppositionelle Gruppen im Karolingerreich (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 25, 1979) S. 100 f.; Egon Boshof, Ludwig der Fromme (1996) S. 143 f. 37 Die Angaben nach Piper (wie Anm. 35). 38 Karl Schmid, Zur historischen Bestimmung des ältesten Eintrags im St. Galler Verbrüderungsbuch, in: Ders., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge. Festgabe zu seinem sechzigsten Geburtstag (1983) S. 481 – 513, hier S. 500 und 502 f. 39 Zur Abgrenzung des Eintrags siehe Autenrieth, Das St. Galler Verbrüderungsbuch (wie Anm. 16) S. 220 Anm. 24. Zur Identifizierung der in dem Eintrag erwähnten Personen siehe Schmid, Zur historischen Bestimmung des ältesten Eintrags (wie Anm. 38) S. 483 – 503. Vgl. ebd. S. 487 – 489 die Freistellung des Eintrags in der Handschrift.
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Abb. 1/2: Älteres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 8/9: Freistellung des ältesten Eintrags (aus: Schmid, Zur historischen Bestimmung, wie Anm. 38, Tafel I/II)
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Abb. 3: Älteres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 10: Freistellung des ältesten Eintrags (aus: Schmid, Zur historischen Bestimmung, wie Anm. 38, Tafel III)
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817 verliehenen Kaisertitel ausgestattet ist.40 Da Lodharius als König bezeichnet wird, könnte man sogar vermuten, dass der Eintrag zwischen 814, der Ernennung Lothars zum Unterkönig in Bayern, und seiner Krönung zum Mitkaiser anzusetzen wäre.41 Allerdings hat schon Schmid darauf hingewiesen, dass diese Deutung nicht restlos zufriedenzustellen vermag. Wenn die hier vorgeschlagenen Personenidentifizierungen richtig sein sollten, so kann in dem nach Lodharius rex aufgeführten Ludauuic (8) eigentlich nur dessen Bruder, Ludwig der Deutsche, und nicht dessen Vater, Ludwig der Fromme, zu sehen sein. In diesem Falle aber wäre Ludwig der Fromme, seit 813 Mitkaiser und seit 814 alleiniger Herrscher im Frankenreich, überhaupt nicht in dem Eintrag berücksichtigt. Außerdem scheint einem Datierungsansatz nach 814 das Fehlen des Königstitels bei Bernhard von Italien (12: Bernhart filius Pippini), den dieser seit 813 trug, zu widersprechen.42 Um diese Schwierigkeiten zu lösen, hat Johannes Fried dafür plädiert, in Lodharius und Ludauuic nicht die Söhne Ludwigs des Frommen, sondern die Kinder Karls des Großen, nämlich Ludwig den Frommen und seinen früh verstorbenen Zwillingsbruder Lothar, zu erblicken.43 Eine solche Interpretation setzt freilich voraus, dass der Schreiber der Namen den rex-Titel irrtümlich zu Lodharius statt zu Ludauuic gesetzt hat.44 Aus dieser Sicht wäre der Eintrag in die Zeit vor September 813 zu datieren: Fried spricht sich für die Jahre 811/812 aus 45 und stellt die Entstehung des St. Galler Gedenkbuches in den Zusammenhang der Bemühungen Karls des Großen um eine auf allgemeinen Konsens beruhende – sowohl die Interessen Ludwigs des Frommen als auch die Rechte B ernhards
40 Ebd., S. 485 f. und 499. 41 Ebd., S. 485 f. 42 Ebd., S. 485 f. und 499 f. – Zum Beginn der Herrschaft Bernhards in Italien siehe P hilippe Dépreux, Das Königtum Bernhards von Italien und sein Verhältnis zum Kaisertum, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 72 (1992) S. 1 – 25, hier S. 6 – 9. 43 Johannes Fried, Elite und Ideologie oder Die Nachfolgeordnung Karls des Großen vom Jahre 813, in: La royauté et les élites dans l’Europe carolingienne (début IXe siècle aux environs de 920), hg. von Régine Le Jan (1998) S. 71 – 109, hier S. 90 f. mit Anm. 71. 44 Fried vertritt ebd. diese Meinung und ist der Ansicht, der Schreiber habe bei der Niederschrift von Lothars Namen ein ursprüngliches lud zu lad korrigiert (Statt Lodharius liest Fried Ladharius: Als Druckfehler sind die ebd. anzutreffenden Schreibungen Ladbarius und Ladauuic anzusehen.), also wohl bereits an den folgenden Namen, Ludauuic, gedacht. 45 Fried, Elite (wie Anm. 43) S. 90 f. mit Anm. 71.
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berücksichtigende – Nachfolgeordnung, für die der Liber vitae im Rahmen der monastischen Gebetsverbrüderung spirituelle Unterstützung gewährt hätte.46 Unabhängig davon, ob man den älteren St. Galler Liber vitae noch der Spätphase Karls des Großen oder den ersten Regierungsjahren Ludwigs des Frommen zuordnen möchte: Den beiden frühesten überlieferten Einträgen, der Bischofsliste und dem Karolinger- und Magnatenverzeichnis, ist zu entnehmen, dass die St. Galler Kommunität ihr erstes Gedenkbuch mit großer Wahrscheinlichkeit in dem Jahrzehnt zwischen 807 und 817 geschaffen hat. Das Bischofsdiptychon erlaubt es nicht, diesen Zeitraum enger zu fassen, da der Eintrag zu einem späteren Zeitpunkt niedergeschrieben worden sein könnte als die Namen der Karolinger und der Großen aus Italien und Alemannien. Die Datierung des jüngeren St. Galler Gedenkbuches wirft noch weit größere Probleme auf, denn hier sind all jene Aufzeichnungen verlorengegangen, die eine genauere Bestimmung der Anlagezeit gestatten würden: Es haben sich weder eine bis zum Zeitpunkt der Einrichtung des Gedenkbuches geführte Herrscherliste noch aktuelle Lebenden- oder Verstorbenenverzeichnisse des St. Galler Konvents erhalten. Es ist auch diesem Umstand zuzuschreiben, wenn in der Forschung große Unsicherheit darüber besteht, welcher Zeitpunkt innerhalb der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts für die Entstehung des neuen St. Galler Liber vitae in Betracht zu ziehen ist. Die lange Zeit vorherrschende Auffassung, der jüngere Liber vitae sei unter dem Abbatiat Salomos III. im letzten Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts angefertigt worden,47 kann jedoch aufgrund neuerer Untersuchungen als widerlegt gelten. Die Ermittlung der Schnittstelle zwischen den spätesten Aufzeichnungen, die in die kopial überlieferte Anlageschicht des jüngeren Liber vitae aufgenommen wurden, und den ad hoc getätigten frühesten Nachträgen zum Grundstock des Gedenkbuchs führt zu dem Ergebnis, dass das jüngere Verbrüderungsbuch um 860, wahrscheinlich zwischen 855 und 860 angelegt worden ist – also rund 40 Jahre früher, als bisher angenommen wurde.48 46 Ebd., S. 91 f. 47 So Karl Schmid, Zum Quellenwert der Verbrüderungsbücher von St. Gallen und Reichenau, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 41 (1985) S. 345 – 389, hier S. 349, 352 und 353; Schmid, Das ältere und das neuentdeckte jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch (wie Anm. 2) S. 24 und 34; Gerd Althoff, Amicitiae und Pacta. Bündnis, Einung, Politik und Gebetsgedenken im beginnenden 10. Jahrhundert (Monumenta Germaniae Historica, Schriften 37, 1992) S. 43. 48 Dazu Uwe Ludwig, Wann ist das jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch entstanden?, in: Bücher des Lebens – Lebendige Bücher, hg. von Peter Erhart / Jakob Kuratli Hüeblin (2010) S. 51 – 58.
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Die St. Galler Mönche haben demzufolge schon etwa ein halbes Jahrhundert nach ihrem ersten ein zweites Gedenkbuch geschaffen. Welches sind hierfür die Gründe? Wenn man auf diese Frage eine Antwort zu geben versucht, so muss man sich zunächst um eine Klärung der Aufbau- und Gliederungsprinzipien des älteren Liber vitae bemühen. Der Überlieferungsbefund zwingt jedoch zu der grundsätz lichen Frage, ob und inwieweit bei diesem Buch von einer Anlagekonzeption überhaupt die Rede sein kann. Ist der sogenannte „älteste Eintrag“ mit seinen drei Bestandteilen – den Angehörigen des Herrscherhauses, den unter anderem in Italien tätigen fränkischen Großen und den in Alemannien wirkenden Grafen 49 – als Anlageschicht des Liber vitae zu betrachten? Oder gehört dieser Eintrag zu einem einst umfangreicheren Gedenkbuchgrundstock, von dem erhebliche Teile mit der ersten Lage des Liber vitae verlorengegangen sind?50 Hier schließt sich die Frage nach dem möglichen Inhalt der ersten Lage an. Karl Schmids Überlegungen zur Beschriftung des von ihm rekonstruierten Eingangsquaternios orientieren sich ganz am Modell des Reichenauer Verbrüderungsbuches: Wie dort, so könnten auch hier Lebenden- und Verstorbenenlisten der beiden seit 800 in Gebetsgemeinschaft verbundenen Partnerkonvente St. Gallen und Reichenau 51 den Auftakt der Memorialaufzeichnungen gebildet haben.52 Sollten diese Annahmen richtig sein, so wäre es naheliegend, von einer ursprüng lich umfänglicheren Gedenkbuchanlage auszugehen, zumal in der erschlossenen ersten Lage nachweislich auch eine Mönchsliste des Klosters Gengenbach in der Ortenau aus dem zweiten Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts enthalten war, die abschriftlich im jüngeren Liber vitae überliefert ist.53 Die These Schmids, der ältere Liber vitae habe auch Mönchsverzeichnisse der gedenkbuchführenden Kommunität selbst enthalten, basiert auf dem Vergleich mit den Gedenkbüchern von Salzburg, Reichenau, Remiremont und San Salvatore in Brescia,54 in denen
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Siehe oben S. 153 – 158. Siehe oben S. 149 mit Anm. 14. Zu der Gebetsvereinbarung zwischen beiden Konventen siehe oben S. 151f. mit Anm. 30. Siehe dazu oben S. 151f. Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 53: Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 203. Zu dieser aus älteren und jüngeren Bestandteilen zusammengefügten Liste siehe künftig Uwe Ludwig, Die Verbrüderung St. Gallens mit monastischen und geistlichen Gemeinschaften im Spiegel der in den Gedenkbüchern überlieferten Listen, in der in Anm. 18 genannten Edition. Zum Eintragsort der Gengenbacher Liste im älteren Liber vitae siehe oben S. 149 mit Anm. 13. 54 Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 94.
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der eigene Konvent jeweils an der Spitze der Gebetsverbrüderung erscheint.55 Doch lässt sich aus diesen Parallelfällen für St. Gallen keine Gewissheit ableiten: Die Existenz eines St. Galler Mönchsverzeichnisses im älteren Liber vitae ist in höchstem Maße unsicher,56 und dies umso mehr, als es im jüngeren Gedenkbuch keinen kopialen Niederschlag davon gibt.57 Wenn aber fraglich ist, ob es im Liber vitae St. Galler Mönchslisten gab, so steht die erschlossene erste Lage des älteren Gedenkbuches insgesamt zur Disposition. Denkbar wäre, dass die erste erhalten gebliebene Lage des Liber vitae, die nach Schmids Rekonstruktion ein Quaternio gewesen sein soll,58 ein Quinio oder Sexternio war, in dem auch die verlorengegangene, durch die Überschrift erschließbare Gengenbacher Mönchsliste ihren Platz gehabt hätte.59 Anzumerken bleibt allerdings, dass wir uns mit einem solchen Lösungsvorschlag ebenfalls auf dem Feld der Hypothesen bewegen und dass letzte Sicherheit bei der Rekonstruktion des Anfangs des alten Liber vitae nicht mehr zu gewinnen ist. Auf jeden Fall aber ist festzuhalten, dass sich dieses erste St. Galler Gedenkbuch grundlegend von seinem rund zehn Jahre später geschaffenen Reichenauer Pendant unterscheidet. Dort steht eindeutig die monastische Verbrüderung im Mittelpunkt, wie das quantitative Verhältnis zwischen Klosterverbrüderung und
55 Salzburg: Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Handschrift A 1 aus dem Archiv von St. Peter in Salzburg, hg. von Karl Forstner (Codices selecti phototypice impressi 51, 1974) pag. 6; Reichenau: wie Anm. 26; Remiremont: Liber memorialis von Remiremont, hg. von Eduard Hlawitschka / Karl Schmid / Gerd Tellenbach (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales 1, 1970) Textband S. 6, Tafelband fol. 4v/5r; San Salvatore in Brescia: wie Anm. 27. 56 Zum Nachweis einer um 800 existierenden St. Galler Totenliste, die sowohl den frühen Aufzeichnungen des St. Galler Professbuches als auch dem St. Galler Totenverzeichnis im ReichenauerVerbrüderungsbuch als Vorlage diente, siehe den Beitrag von Alfons Zettler in diesem Band, S. 175 – 201. 57 Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass alle zur Anlageschicht des jüngeren Liber vitae gehörenden Verzeichnisse klösterlicher Gemeinschaften Vorlagen im älteren Gedenkbuch haben. Eine Ausnahme bildet lediglich die Liste des Weißenburger Konvents (Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 49 – 51: Schmid, Versuch einer Rekonstruktion – wie Anm. 1 – S. 199 – 201), doch ist es zweifelhaft, ob die Weißenburger Kommunität bereits im älteren Gedenkbuch vertreten war: Siehe dazu Ludwig, Die Verbrüderung (wie Anm. 53) und unten S. 165. 58 Siehe oben S. 149 mit Anm. 11. 59 Siehe oben S. 149 mit Anm. 13.
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Wohltätergedenken 60 und die Erschließung der Mönchslisten durch die capitula zeigen.61 Dagegen spielt die zwischenklösterliche Memoria im älteren St. Galler Liber vitae zunächst nur eine untergeordnete Rolle 62 – selbst wenn man annehmen wollte, die verlorene erste Lage hätte neben den Mönchslisten aus St. Gallen und Reichenau 63 noch das eine oder andere Verzeichnis einer klösterlichen oder geistlichen Gemeinschaft enthalten.64 Wie eine Durchsicht der im 9. Jahrhundert in die St. Galler Libri vitae aufgenommenen Listen verbrüderter Kommunitäten zeigt, unterhielt der Konvent Gedenkbeziehungen in den 810er und frühen 820er Jahren nur zu Gengenbach und zu Tours.65 Zu diesem Zeitpunkt ist die Reichenau mit 52 monastischen und geistlichen Gemeinschaften verbrüdert,66 und jedes Jahr kommen neue Partnerkonvente hinzu.67 In St. Gallen hingegen 60 Die Listen monastischer und geistlicher Kommunitäten des Gedenkbuchgrundstocks erstrecken sich von pag. 4 bis 85, die Anlageschicht des Verzeichnisses der lebenden Wohltäter (Nomina amicorum viventium) nimmt die Seiten 98 – 100, das Verzeichnis der verstorbenen Wohltäter (Nomina defunctorum qui presens coenobium sua largitate fundaverunt) die Seiten 114 – 123 ein: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 26). 61 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 26) pag. 3. Siehe dazu den Beitrag von Dieter Geuenich in diesem Band, S. 123 – 146 mit Farbtaf. 4. 62 Vgl. Schmid, Das ältere und das neuentdeckte jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch (wie Anm. 2) S. 22 und 34. 63 Zu den von Schmid in Erwägung gezogenen Eintragsorten siehe oben S. 151 mit Anm. 28 und 29. 64 Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 104 f., hält es für denkbar, dass auf fol. 7v/8r der rekonstruierten ersten Lage Listen aus oberrheinischen Klöstern verzeichnet waren, möglicherweise aus Schuttern, Ettenheim oder Murbach. – Gegen die Existenz solcher Listen spricht allerdings, dass die Anlage des jüngeren Liber vitae für deren Abschrift nicht genügend Raum geboten zu haben scheint, vgl. künftig Uwe Ludwig, Konzeption und Datierung (wie Anm. 22). 65 Zum Eintragsort der Gengenbacher Mönchslisten siehe oben S. 149 mit Anm. 13 und S. 153 mit Anm. 53. Die Aufnahme der Gebetsbeziehungen zwischen St. Gallen und Gengenbach dürfte in die Jahre um 815/20 fallen, vgl. Ludwig, Die Verbrüderung (wie Anm. 53). Die Liste des Konvents von Tours unter Abt Fridugis findet sich im älteren Liber vitae auf pag. 6/7 (Schmid, Versuch einer Rekonstruktion – wie Anm. 1 – S. 112/13) und im jüngeren Liber vitae auf pag. 55/56 (Schmid, ebd. S. 209/10). 66 Die capitula im Reichenauer Verbrüderungsbuch führen neben dem eigenen Konvent 49 Klöster und drei Domkapitel auf: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 26) pag. 3. Vgl. dazu die Übersichtstabelle ebd., nach S. XL. 67 Schon in den Jahren unmittelbar nach der Anlage des Reichenauer Verbrüderungsbuches (825) sind auf pag. 86 – 97, 105 – 113 sowie 129 – 134 Verzeichnisse weiterer Kommunitäten
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ist ein nennenswerter Anstieg der Zahl der verbrüderten Mönchs-, Nonnen- und Klerikergemeinschaften erst in den 830er und 840er Jahren zu verzeichnen, als 17 neue Kommunitäten in die Gebete der Mönche einbezogen werden: Müstair, Pfäfers, Hornbach, Klingenmünster, Schönenwerd, Schienen, Kempten, Langres (Kathedrale Saint-Mammès), Molosme, Bèze, Hegaupriester, St. Stephan in Straßburg, Schänis, Ellwangen,Weißenburg, Bobbio und D isentis.68 Die Unterbringung der Namenlisten dieser Konvente an unterschiedlichen Stellen der Handschrift folgte augenscheinlich keinen festen Ordnungskriterien, sondern beruhte auf von Fall zu Fall getroffenen Entscheidungen: Darin offenbart sich ein Mangel an planvoller Konzeption, wie er den älteren Liber vitae insgesamt zu charakterisieren vermag. Zwar gibt es im älteren Gedenkbuch auch ein Bischofs- und ein Kleriker verzeichnis,69 und wenigstens im Falle der Bischöfe hat man sich über einen längeren Zeitraum an die Ordnungsvorgaben aus der Entstehungszeit gehalten. Unter der bereits erwähnten Überschrift Nomina episcoporum (Farbtaf. 13) sind im Anschluss an das erörterte Bischofsdiptychon 70 bis in die 40er und 50er Jahre hinein sporadisch Bischöfe in das Gebetsgedenken aufgenommen worden, u. a. Modoinus episcopus (Bischof Modoin von Autun, 815 – 840/43),71 Esso episcopus (Bischof Esso von Chur, bezeugt 849 – 868)72 und Amalrih episcopus vocatus eingetragen worden. 68 Zur Datierung der Verzeichnisse dieser Gemeinschaften siehe Ludwig, Die Verbrüderung (wie Anm. 53). Es ist nicht auszuschließen, dass die Listen aus Hornbach und Klingenmünster bereits in der zweiten Hälfte der 820er Jahre nach St. Gallen gelangten. Die Weißenburger Mönchsliste, die mit großer Wahrscheinlichkeit um 848/49 redigiert wurde, ist als einziges der hier erwähnten Verzeichnisse nicht im älteren Liber vitae enthalten: Ob daraus auf einen Verlust der entsprechenden Seiten zu schließen ist oder ob die Weißenburger Namenreihen nach ihrer Übersendung gleich in den jüngeren Liber vitae eingetragen wurden, ist ungeklärt, vgl. Anm. 57. Im Jahre 846 schloss St. Gallen eine Gebetsvereinbarung mit den Klöstern Bobbio, Disentis und Schienen ab: Edition des Vertragstextes in Libri confraternitatum (wie Anm. 30) S. 142. Von Bobbio und Disentis sind allerdings weder im älteren noch im jüngeren Liber vitae Listen überliefert. 69 Älteres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 12 (Item clericorum): Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 118. 70 Siehe oben S. 152f. 71 Zu ihm siehe Philippe Dépreux, Prosopographie de l’entourage de Louis le Pieux (781 – 840) (Instrumenta 1, 1997) S. 333 f. 72 Otto P. Clavadetscher / Werner Kundert, Die Bischöfe von Chur, in: Helvetia Sacra 1, 1: Schweizerische Kardinäle, Das Apostolische Gesandtschaftswesen in der Schweiz, Erzbistümer und Bistümer 1 (1972) S. 466 – 505, hier S. 471; Boris Bigott, Ludwig der Deutsche
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(Bischof Amalrich von Como, 840 – 860),73 der hier noch als Elekt bezeichnet wird. Da Amalrich von Como zugleich Abt von Bobbio war,74 steht der Eintrag möglicherweise in Zusammenhang mit dem Abschluss der Gebetsverbrüderung zwischen St. Gallen und der oberitalienischen Abtei im Jahre 846.75 Im Mittelpunkt des Gebetsgedächtnisses der St. Galler Mönche stehen jedoch von Anfang an die amici und benefactores aus dem Laienstand. Ein Blick auf jene Seiten, die dem schon erwähnten „ältesten Eintrag“ mit den Namen der Karolinger folgen (vgl. Farbtaf. 15), zeigt, wie groß die Nachfrage nach Gebetsleistungen in den 20er, 30er, 40er und 50er Jahren des 9. Jahrhunderts aus diesem Kreis war und wie rasch die Füllung des Buches vorangeschritten ist. Um die Mitte des 9. Jahrhunderts waren die Kolumnen und Seitenränder in diesem Bereich bereits so dicht beschrieben, dass akute Platznot herrschte.76 Bemerkenswert ist, dass man in dieser Situation davon absah, Seiten, die nur teilweise mit Mönchslisten
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und die Reichskirche im Ostfränkischen Reich (826 – 876) (Historische Studien 470, 2002) S. 32. Fedele Savio, Gli antichi vescovi d’Italia dalle origini al 1300, descritti per regioni 2: La Lombardia 1: Bergamo, Brescia, Como (1929) S. 304 ff.; Hlawitschka, Franken (wie Anm. 36) S. 57, 213 und 220; Donald A. Bullough, Leo, qui apud Hlotharium magni loci habebatur, et le gouvernement du Regnum Italiae à l’époque carolingienne, Le Moyen Age 67, 4e série 16 (1961) S. S. 221 – 245, hier S. 238 f. und 244 f. Siehe auch Flavio Nuvolone, L’abbazia di Bobbio dai Carolingi agli Ottoni, in: Il mona chesimo italiano dall’età longobarda all’età ottoniana (secc. VIII – X). Atti del VII Convegno di Studi Storici sull’Italia Benedettina, Nonantola (Modena) 10 – 13 settembre 2003, hg. von Giovanni Spinelli (Italia Benedettina 27, 2006) S. 321 – 335, hier S. 325. Es ist freilich höchst zweifelhaft, ob die auf Amalrich folgenden, von derselben Hand eingetragenen 13 Männer (Nandharius, Rodouuanus, Ohharius, Rodouuicus, Uuiteratus, Hucpaldus, Roadgelt, Pernheri, Einhart, Amalrih, Erchanuuola, Perahtarod, Geruuentil), denen keine Funktions- und Weihegradbezeichnungen beigegeben sind, dem Konvent von Bobbio zugeordnet werden können: Die Namenformen weisen eher in den oberdeutschen als in den langobardisch-romanischen Bereich. Zur Gebetsvereinbarung siehe oben S. 162 mit Anm. 68. Allerdings könnte die Eintragung Amalrichs in den St. Galler Liber vitae auch im Zusammenhang einer Reise des Abtes nach Lothringen erfolgt sein, als dieser nämlich im August 843 den Hof Kaiser Lothars I. in Gondreville aufsuchte, um sich die Immunität des Klosters Bobbio bestätigen zu lassen: D. Lothar I. 77 (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata Karolinorum 3. Lotharii I et Lotharii II diplomata, hg. von Theodor Schieffer, 1966) S. 194 f. Älteres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 8 – 17: Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 114 – 122 und 125. Zur chronologischen Einordnung dieser Einträge siehe künftig Ludwig, Konzeption und Datierung (wie Anm. 22) und vorläufig Ludwig, Wann ist das jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch entstanden? (wie Anm. 48) S. 56 f.
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gefüllt waren oder auch nur eine auf ein Kloster verweisende Überschrift trugen, also noch genügend freien Raum boten, für die Eintragung von Laien zu öffnen (vgl. Farbtaf. 12, 16, 21).77 Man war offensichtlich bestrebt, den Bereich der laikalen Verbrüderung von dem Bereich der monastischen räumlich zu scheiden, auch wenn dies in der Praxis nicht immer gelang und inmitten der Laien auch Priester und sogar Bischöfe zu finden sind.78 Die Aufnahmefähigkeit des alten Gedenkbuches ist aber nicht allein aufgrund der rasch steigenden Zahl der um Gebetshilfe nachsuchenden Laien an ihre Grenzen gelangt. Auch die Ausweitung der St. Galler Klosterverbrüderung verursacht in zunehmendem Maße Kapazitätsprobleme. Mit Abt Grimald steht seit 841 ein Mann an der Spitze des Klosters, der als einer der führenden Staatsmänner des Ostfränkischen Reiches über weitgespannte Beziehungen verfügt.79 Die monastische Verbrüderung, die schon in den letzten Amtsjahren des Abtes Gozbert (816 – 837)80 einen Aufschwung erlebt hatte, erhält mit dem Amtsantritt Grimalds neue Impulse: Es kommt zu einer merklichen Intensivierung des Listenaustauschs mit alten und neuen Partnerkonventen. Die überlieferten Namenverzeichnisse und Verbrüderungsvereinbarungen zeigen, dass die St. Galler
77 Zu beobachten ist dies auf pag. 1 (Überschrift de Ghanginpach – Gengenbach), pag. 2 (Müstair), pag. 3 (Pfäfers), pag. 7 (Tours), pag. 21 (Schienen) und pag. 22 (Kempten): Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 107, 108, 109, 113, 129 und 130. – Allerdings ist die ursprünglich für Kleriker vorgesehene pag. 12 – Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 118 – schon sehr bald auch für die Eintragung von Laien herangezogen worden. Dies gilt auch für pag. 16, wo die nur sieben Namen umfassende Liste der Mönche von Hornbach aufgezeichnet wurde, für pag. 17, wo die Nomina presbiterorum mehr als zwei Kolumnen füllen, pag. 18 mit der Mönchsliste aus Klingenmünster und pag. 24 mit dem Verzeichnis der Hegaupriester – Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 122, 125, 126 und 134. 78 So zum Beispiel im älteren St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 10: Rachio episcopo ; pag. 16: Uualdger presbyter – Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 116 und 122. 79 Zu Grimald: Gerold Meyer von Knonau, Grimald, in: Allgemeine Deutsche Biographie 9 (1879, Nachdruck 1968) S. 701 – 703; Josef Fleckenstein, Grimald, in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966) S. 75; Johannes Duft / Anton Gössi / Werner Vogler, St. Gallen, in: Helvetia Sacra 3, 1: Frühe Klöster, die Benediktiner und Benediktinerinnen in der Schweiz 2 (1986) S. 1180 – 1369, hier S. 1275 – 1277; Dieter Geuenich, Beobachtungen zu Grimald von St. Gallen, Erzkapellan und Oberkanzler Ludwigs des Deutschen, in: Litterae Medii Aevi. Festschrift für Johanne Autenrieth zu ihrem 65. Geburtstag, hg. von Michael Borgolte / Herrad Spilling (1988) S. 55 – 68. 80 Zu Gozbert siehe Duft / Gössi / Vogler, St. Gallen (wie Anm. 79) S. 1272 f.
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Klosterverbrüderung in den 30er und 40er Jahren ihren Höhepunkt erreicht.81 Zu den im Gebet mit dem Steinachkloster verbundenen Gemeinschaften gehören wohl seit kurz vor 850 auch die Weißenburger Mönche,82 deren Konvent Grimald seit 847 in Personalunion mit jenem St. Gallens leitet. Es ist fraglich, ob für die umfangreichen Weißenburger Mönchslisten, die im jüngeren Liber vitae mehr als zwei Seiten einnehmen (Farbtaf. 17, 18, 19), in der alten Handschrift noch genügend Platz vorhanden war.83 Ganz sicher fehlte der Raum, um die über 1000 Mönchsnamen aus der Abtei Nonantola bei Modena unterzubringen, die wohl in den 50er Jahren in St. Gallen eintrafen.84 Die Nonantolaner Mönchslisten gehören zu den seltenen Fällen, in denen sich neben der Abschrift im Gedenkbuch des Adressaten 85 auch das Original der vom Absender angefertigten Aufzeichnungen erhalten hat: Das sogenannte Nonantolaner Doppelblatt (Farbtaf. 20)86 ist zu einem späteren Zeitpunkt in den St. Galler Codex eingebunden worden.87 In den Jahren um die Mitte des 9. Jahrhunderts müssen die Mönche von St. Gallen in wachsendem Maße die Unzulänglichkeit ihres Liber vitae empfunden haben, der keine erkennbare Ordnung aufwies und weder für die Niederschrift neuer Mönchlisten noch für die Aufnahme weiterer Laien in die klösterliche Memoria ausreichend Raum bot. Das neue Gedenkbuch, das man jetzt anfertigte, übertraf den Umfang des alten um ein Mehrfaches: Es hat wohl aus sechs
81 Siehe oben S. 162 mit Anm. 68. 82 Zum Eintragungsort der Weißenburger Listen siehe oben Anm. 57. Zur Datierung der Listen siehe Uwe Ludwig, Otfrid in den Weißenburger Mönchslisten. Das Zeugnis der Verbrüderungsbücher von St. Gallen und Reichenau, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 135, Neue Folge 96 (1987) S. 65 – 86, besonders S. 73; ders., Monastische Gebetsverbrüderung und Reichsteilung. Murbach und Weißenburg in ihren Gedenkbeziehungen zu St. Gallen und Reichenau, in: L’abbaye de Saint-Gall et l’Alsace au haut moyen âge. Actes des journées de Colmar, 23 – 25 juin 1994, hg. von Jean-Luc Eichenlaub /Werner Vogler (1997) S. 97 – 114, hier S. 102. 83 Vgl. Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 123 f. und 131 f. mit Überlegungen zu möglichen Eintragungsorten der Weißenburger Verzeichnisse im älteren Liber vitae. 84 Zum Zeitpunkt des Eintreffens der Nonantolaner Mönchslisten in St. Gallen siehe Ludwig, Die Verbrüderung (wie Anm. 53). 85 Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 61 – 64: Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 225 – 228. 86 Lose Blätter, pag. 27 – 30: Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 141 – 144. 87 Dazu ebd., S. 139.
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Lagen bestanden, in denen Schmid Quinionen gesehen hat, die aber wenigstens zum Teil mehr als nur fünf Doppelblätter umfasst haben dürften.88 Offensichtlich sind bei der Einrichtung des neuen Liber vitae sämtliche Namen aus dem älteren Gedenkbuch kopiert worden, wenngleich sich in den überlieferten Fragmenten nur ein Teil der übertragenen Mönchslisten und ein Teil der abgeschriebenen Laiennamen nachweisen lässt.89 Wir müssen jedoch davon ausgehen, dass auf den verlorengegangenen Seiten des Buches auch Abschriften der Namen der im älteren Gedenkbuch aufgeführten Bischöfe und Kleriker zu finden waren.90 Anders als dem älteren Gedenkbuch liegt dem jüngeren Liber vitae eine klare Konzeption zugrunde: Der monastisch-klerikalen Verbrüderung und der Laienmemoria sind getrennte Bereiche der Handschrift zugewiesen. Für die Mönche, Kanoniker und Kleriker scheinen der anfänglichen Planung zufolge die ersten vier Lagen vorgesehen gewesen zu sein,91 für die Freunde und Wohltäter aus dem Laienstand die beiden letzten Lagen. Die Konsequenz, mit der man diese beiden genera Christianorum, wie sie Gratian im 12. Jahrhunderts bezeichnen wird,92 voneinander separiert, drückt sich auch darin aus, dass einem jeden Namen entweder der Zusatz monachus oder der Zusatz laicus beigesellt wird. Bei der Übertragung von Mönchslisten aus dem alten in das neue Verbrüderungsbuch wird zu jedem Namen der Zusatz monachus hinzugefügt, Weihegradangaben wie presbyter, diaconus und subdiaconus werden systematisch durch ein einheitliches monachus ersetzt.93 Die Namen in der Liste der Kanoniker von Schönenwerd, die 88 Siehe oben S. 150f. 89 So ist das Nonantolaner Mönchsverzeichnis auf pag. 61 – 64 nur der Schlussteil einer ursprünglich umfangreicheren Abschrift: Karl Schmid, Anselm von Nonantola. Olim dux militum – nunc dux monachorum, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 47 (1967) S. 1 – 122, hier S. 56 ff.; ders., Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 221 – 224. Von der Übertragung der Namen männlicher Laien liegt nur noch ein einziges Blatt vor, siehe dazu unten S. 167f. mit Anm. 97 und 98. 90 Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 151 mit der Vermutung, die rekonstruierte zweite Lage des jüngeren Liber vitae habe vornehmlich der Aufnahme von Klerikernamen gedient. Siehe auch ebd. S. 167 f. und 177 f. die Erwägungen zum Übertragungsort der Nomina episcoporum von pag. 4 (Schmid, ebd. S. 110) und der Nomina presbiterorum von pag. 17 (Schmid, ebd. S. 125) des älteren Gedenkbuches. 91 Dabei konzentriert sich die monastische Verbrüderung, soweit sie ihren Niederschlag im Grundstock des jüngeren Liber vitae findet, auf die dritte und vierte Lage. 92 Yves Congar, Der Laie. Entwurf einer Theologie des Laientums (2. Aufl. 1956) S. 30 ff. 93 Man vergleiche etwa die Kemptener und Ellwanger Listen im älteren und jüngeren Gedenkbuch: Älteres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag.22 und 26 – Schmid, Versuch einer
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dem Mönchsverzeichnis von Tours folgt und jenem von Ellwangen vorausgeht, bleiben ohne Zusätze.94 Obgleich auch im Falle des jüngeren Verbrüderungsbuches rund die Hälfte des ursprünglichen Bestandes fehlt,95 lässt sich die Aussage treffen, dass es sich in seinem Aufbau mindestens partiell am Reichenauer Modell orientiert. Die monastisch-geistliche Verbrüderung ist an den Anfang gerückt und nimmt etwa zwei Drittel der Handschrift ein, während die Laien in das hintere Drittel des Buches verwiesen sind.96 Allerdings begegnen unter den amici, den Gönnern und Wohltätern der Reichenau, auch die ordines der Bischöfe, Äbte und Priester, während in St. Gallen eine strikte Trennung der Laien von den Mönchen und Klerikern erfolgt. Es mag sein, dass sich in diesem Anlagekonzept die im 9. Jahrhundert auch in der Liturgie mit größerer Schärfe vorgenommene Scheidung von Laien und Geistlichen spiegelt.97 Anders als auf der Reichenau wird in St. Gallen nicht zwischen lebenden und verstorbenen Wohltätern unterschieden, sondern zwischen Laien männ lichen und weiblichen Geschlechts. Ein bei der Anlage des jüngeren St. Galler Gedenkbuches tätiger Schreiber hat alle nicht mit einem geistlichen Weihegrad versehenen Namen aus dem älteren Codex in zwei Verzeichnisse des jüngeren Buches übertragen: Die Nomina laicorum und die Nomina feminarum laicarum (Farbtaf. 23, 24, 25). Während sich die viereinhalb Seiten lange Abschrift der 591 Frauennamen in Gänze erhalten hat,98 sind von dem Verzeichnis der männlichen
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Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 120 und 136; Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 47 und 60 – Schmid, ebd. S. 197 und 216 (vgl. Farbtaf. 21 und 22). Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 57/58; Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 213 f. Siehe oben S. 149. Siehe oben S. 160f. mit Anm. 60. Siehe Otto Gerhard Oexle, Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter, Frühmittelalterliche Studien 10 (1976) S. 70 – 95, hier S. 90 f. mit Verweis auf Josef Andreas Jungmann, Missarum sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, Bd. 1 (3. Aufl. 1952) S. 107 ff.: Bd. 2 (1952) S. 208 ff.; Jean Chélini, Les laïcs dans la société ecclésiastique carolingienne, in: I laici nella „societas christiana“ dei secoli XI e XII . Atti della terza settimana internazionale di studio, Mendola 21 – 27 agosto 1965 (Pubblicazioni dell’Università Cattolica del Sacro Cuore. Contributi, serie III, Varia 5: Miscellanea del Centro di Studi medievali 5, 1968) S. 23 – 50; Yves Congar, Les laïcs et l’ecclésiologie des “ordines” chez les théologiens des XIe et XIIe siècles, ebd., S. 83 – 117, hier S. 91 ff. Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 77 – 81: Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 259 – 263
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Laien nur zwei Seiten überliefert.99 Aus dem Vergleich mit dem Namenbestand des älteren Verbrüderungsbuches ergibt sich jedoch, dass die kompilatorische Erfassung der Nomina laicorum insgesamt etwa 15 Seiten und damit annähernd 2000 Namen umfasst haben dürfte.100 Diese Größenordnungen geben klar zu erkennen, welche Bedeutung dem Gebetsgedenken für Laien – gemessen an der monastischen Verbrüderung – in St. Gallen zukam. Die strikte Trennung von Frauen und Männern, wie sie die Anlage des neuen Gedenkbuches vorgab, hat im Reichenauer Verbrüderungsbuch keinen Bezugspunkt, weder bei den verstorbenen noch bei den lebenden amici des Konvents. Auf Parallelen stößt man im Salzburger Liber vitae, wo im Grundstock von 784 sowohl bei den lebenden als auch bei den verstorbenen Wohltätern Männer und Frauen deutlich voneinander geschieden sind.101 Hinzuweisen ist auch auf das Würdenträgerdiptychon des Liber Viventium Fabariensis, den in die Jahre 819/20 zu datierenden Anlageeintrag des Gedenkbuches, der Angehörige des karolingischen Herrscherhauses mit weltlichen Würdenträgern des alemannisch-rätischen Raumes nennt (Abb. 4).102 Diese letzteren, unter ihnen auch Graf Hunfrid von Rätien, werden nicht mit ihren Amtstiteln genannt, sondern als laici bezeichnet. Zugleich erfolgt eine Scheidung von Männern und Frauen, deren Namen in zwei verschiedenen Kolumnen angeordnet sind.103
99 Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 69 f.: Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 241 f. 100 Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 233 – 247. 101 Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg (wie Anm. 55), pag. 11 (Ordo sanctimonialium vivarum seu religiosarum feminarum; Ordo communis virorum vivorum relegiosorum), pag. 19 (Ordo pulsantium defunctorum seu religiosorum virorum), pag. 22 – 23 (Ordo communis virorum defunctorum) und pag. 26 (Ordo communis feminarum defunctarum). Zur Diskussion um die Interpretation der Überschriften siehe Sigismund Herzberg-Fränkel, Über das älteste Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg, Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 12 (1887) S. 54 – 107, hier S. 59; Karl Schmid, Probleme der Erschließung des Salzburger Verbrüderungsbuches, in: Frühes Mönchtum in Salzburg, hg. von Eberhard Zwink (Salzburg Diskussionen 4, 1983) S. 175 – 196, hier S. 180 f. 102 Liber Viventium Fabariensis. Stiftsarchiv St. Gallen, Fonds Pfäfers Codex 1, Bd. 1: Faksimile-Edition, hg. von Albert Bruckner / Hans Rudolf Sennhauser / Franz Perret (1973) pag. 24 (auf pag. 25 folgen von gleicher Hand die Oberhirten von Chur). 103 Zu diesem Eintrag zuletzt: Jens Lieven, Der ‚Liber viventium‘ von Pfäfers. Zum historischen Zeugniswert einer liturgischen Handschrift, in: Bücher des Lebens (wie Anm. 48) S. 83 – 88 mit Abbildung S. 89.
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Abb. 4: Liber Viventium Fabariensis, pag. 24 (Ausschnitt).
Im neu angelegten St. Galler Verbrüderungsbuch wurden die Namen der Männer und Frauen aus dem Laienstand sogar in unterschiedlichen Lagen verzeichnet. In einer ersten Phase nach Einrichtung der Handschrift haben sich die St. Galler Mönche an die neue Systematik gehalten. An die viereinhalb Seiten umfassende Abschrift der Nomina feminarum laicarum, die aus dem alten Liber vitae übernommen wurden, schließen sich die ad hoc-Einträge an: Dabei ist zu beobachten, dass auf den ersten drei Seiten, die dem Gedenkbuchgrundstock
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folgen, ausschließlich Frauennamen notiert wurden.104 Manche Indizien s prechen dafür, dass diese drei Seiten innerhalb eines Zeitraumes von rund zehn Jahren gefüllt worden sind: Zwar ist das anschließende Blatt nicht erhalten, so dass über die Beschriftung der verlorengegangenen beiden Seiten nur Vermutungen angestellt werden können,105 doch findet sich auf der sechsten Seite nach Ende der Anlageschicht eine Personengruppe von Männern und Frauen, Klerikern und Laien um Bischof Ermenrich von Passau (866 – 874), deren Namen wohl um 870 notiert worden sind und die daher als terminus ante quem für die auf den vorhergehenden Seiten getätigten Eintragungen anzusehen ist.106 Es ist wohl auch auf die Schwierigkeiten zurückzuführen, die es bereitete, Familienverbände, Verwandtengruppen und sonstige zusammengehörige Personenkreise im Liber vitae auseinanderzureißen, wenn man schließlich wieder zu der alten Praxis zurückkehrte, gemischte Gruppen, in denen Männer- neben Frauennamen erwähnt werden, einzutragen.107 Die St. Galler Klosterverbrüderung erfährt nach der Anlage des neuen Gedenk buches noch eine Erweiterung um einige wenige Mönchs-, Nonnen- und Kano nikergemeinschaften,108 doch hat sie ihren Zenit, den sie zwischen 830 und 850 erreichte, zu diesem Zeitpunkt überschritten. Die Laien sind zwar durch die Verwirklichung eines neuen Gliederungskonzeptes an das Ende des Codex gerückt, in quantitativer Hinsicht jedoch nicht an den Rand gedrängt worden. Denn innerhalb weniger Jahrzehnte sind die beiden für die laikale Verbrüderung
104 Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 81 – 84: Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 263 – 266. Gemeint sind damit die Eintragungen in den Kolumnen der Gedenkbuchanlage und nicht die – erst zu einem späteren Zeitpunkt – zwischen den Spalten vorgenommenen Namenaufzeichnungen. 105 Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 267 f. 106 Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 85 – Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 269: Helmgoz, Liutsind, Erminrich eps, Isaac sub, Adalene, Ratpot, Uuillehelm, Engilscalc, Lantfrid, Reginhart, Thiotsind, Uuieldrud, Cotasind, Ernǒst (Eintrag 85.15 in der Namenwiedergabe der Anm. 18 genannten Edition). Siehe dazu Ludwig, Wann ist das jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch entstanden? (wie Anm. 48) S. 57. 107 Die folgenden Seiten des jüngeren Verbrüderungsbuches (pag. 86 – 90) – Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 270 – 274 – sind durch derartige gemischte Gruppen geprägt. 108 Es sind dies Nonantola (Liste), Prüm (Liste), Saint-Bertin (Liste), Cazis (Liste), Rheinau (Verbrüderungsvertrag 885, Liste), Murbach (Verbrüderungsvertrag 886), Basel (Liste), drei Priestergemeinschaften (Listen) und Essen (Liste).
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reservierten Lagen von Nameneinträgen regelrecht überflutet worden.109 Im späten 9. Jahrhundert müssen diese Partien der Handschrift schon weitgehend gefüllt gewesen sein, denn die Laieneinträge, darunter auch die von Gerd Althoff dokumentierten großen Personengruppen,110 dringen nunmehr in die ersten beiden Lagen des Gedenkbuches und damit in einen Bereich vor, der eigentlich der Verbrüderung mit Mönchen und Geistlichen vorbehalten war und wohl auch die verlorengegangenen Listen von St. Gallen und Reichenau enthalten hat.111 Das laikale Element, welches im Gebetsgedenken der Mönche von St. Gallen schon immer eine hervorragende Rolle gespielt hat, tritt damit noch dominanter in Erscheinung. Es passt hierzu gut, dass sich die Einträge mit den Königen Konrad I., Heinrich I. und Aethelstan überwiegend in diesem Teil des Liber vitae finden.112 Karl Schmid stellte, als er 1986 seine Rekonstruktion der beiden St. Galler Verbrüderungsbücher vorlegte, die Frage, ob es sich bei dem älteren Liber vitae nicht vielleicht um ein Bündel von Lagen gehandelt habe, das möglicherweise in ein Diptychon oder in ein liturgisches Buch eingefügt werden konnte.113 Mit der um 855/60 unter dem Abbatiat Grimalds erfolgten durchgreifenden Neuordnung der Memorialaufzeichnungen hatte die St. Galler Mönchsgemeinschaft nun endlich einen Liber vitae, der diesen Namen verdiente. Die Orientierung am Reichenauer Vorbild schlägt sich darin nieder, dass der monastischen Verbrüderung in dem neuen Buch angemessener Raum zur Verfügung gestellt und von
109 Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 71 und 81 – 90; Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 251 und 263 – 274. 110 Althoff, Amicitiae (wie Anm. 47) beispielsweise S. 114 ff. zu Personengruppen aus dem Umkreis Heinrichs I. 111 Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 33 – 34, 37 – 38, 39 – 43, 44 – 46; Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 163 – 164, 169 – 170, 183 – 187, 188 – 190. 112 Zum mutmaßlichen Ort der Eintragungen Konrads I. und Heinrichs I. siehe Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 191 f.; Dieter Geuenich, Die CensualesListen im Codex Traditionum und die Register des Melchior Goldast, in: Subsidia Sangallensia I (wie Anm. 1) S. 39 – 80, hier S. 62 ff. Nach der Rekonstruktion Schmids wären diese Einträge auf dem achten Blatt der zweiten Lage (fol. 18r/v) untergebracht gewesen. Der Eintrag des angelsächsischen Königs Aethelstan findet sich auf der Rückseite des ersten erhalten gebliebenen Blattes des jüngeren Liber vitae: Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 34; Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm.1) S. 164. Nach der Rekonstruktion Schmids handelt es sich dabei um das vierte Blatt der ersten Lage (fol. 4v). 113 Schmid, Das ältere und das neuentdeckte jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch (wie Anm. 2) S. 31; Ders., Zum Quellenwert der Verbrüderungsbücher (wie Anm. 47) S. 377 f.
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Anfang an eine Fortführung und Ergänzung der Namenlisten eingeplant wird.114 Der Stellenwert der Gedenkbeziehungen zu anderen religiösen Kommunitäten steigt unter Abt Grimald erheblich an,115 und dies drückt sich auch darin aus, dass Gebetsvereinbarungen mit Klöstern in anderen Teilreichen getroffen werden, z. B. mit Bobbio,116 Nonantola,117 Prüm 118 und Saint-Bertin.119 Schon aus diesem Grund wäre es verfehlt, die Entstehung des jüngeren Gedenkbuches ausschließ lich darauf zurückzuführen, dass die laikale Verbrüderung größeres Gewicht erlangte und mehr Raum beanspruchte.120 Aber es wäre genauso falsch, die Entwicklung des St. Galler Gedenkwesens, soweit es sich in den Libri vitae spiegelt, als allmählichen Übergang von einem Vorwalten der monastischen und geistlichen Verbrüderung zu einer Dominanz der Kommemoration von Laien zu verstehen. Karl Schmid geht in diesem Zusammenhang sogar von einem allgemeinen Strukturwandel im Gebetsgedenken aus, der sich im Laufe des 9. Jahrhunderts vollzogen habe: Die zwischenklösterlichen Gedenkvereinbarungen hätten mehr und mehr an Reichweite eingebüßt, und die 114 Die Anlage des jüngeren St. Galler Verbrüderungsbuches stellt für jede aus dem älteren Liber vitae übertragene Mönchs- oder Kanonikerliste ausreichend Platz zur Fortführung zur Verfügung. Erst im fortgeschrittenen 10. Jahrhundert hat man diese den Ergänzungen der Mönchsverzeichnisse vorbehaltenen Seiten für Einträge anderer Art geöffnet: Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 47/48, 51/52, 54, 58/59, 65/66, 67; Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 197/198, 201/202, 204, 214/15, 229/230, 231. 115 Siehe bereits oben S. 164f. 116 Zum Verbrüderungsvertrag mit Bobbio siehe oben S. 162 mit Anm. 68. 117 Zu den Nonantolaner Verzeichnissen siehe oben S. 165 mit Anm. 84 – 87. 118 Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 75; Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 219. Zu der zwischen 860 und 865 entstandenen Prümer Liste siehe Ludwig, Die Gebetsverbrüderung (wie Anm. 21). 119 Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 74; Schmid, Versuch einer Rekonstruktion (wie Anm. 1) S. 256. Zu dem Eintrag aus Saint-Bertin siehe Uwe Ludwig, Bischof Hunfrid von Thérouanne in St. Gallen und Pfäfers, in: Schatzkammer Stiftsarchiv St. Gallen. Miscellanea Lorenz Hollenstein, hg. von Peter Erhart (2009) S. 30 – 37; Ders., Die Gebetsverbrüderung (wie Anm. 21) S. 26 ff. 120 Vgl. Schmid, Das ältere und das neuentdeckte jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch (wie Anm. 2) S. 34 f., der zu dieser Auffassung auch durch die irrtümliche Datierung des jüngeren Liber vitae in die Zeit zwischen 885 und 900 gedrängt wird. Es ist wohl auf diese Spätdatierung zurückzuführen, wenn Schmid – entgegen dem handschriftlichen Befund – feststellt: „Mönchslisten wie im älteren Verbrüderungsbuch traten nun im jüngeren nicht mehr hinzu …“ Zur Frage der Datierung des jüngeren St. Galler Liber vitae siehe Ludwig, Wann ist das jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch entstanden? (wie Anm. 48).
Die beiden St. Galler Libri vitae aus dem 9. Jahrhundert
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Mönchskommunitäten seien schließlich ganz von der mit Macht in die Libri vitae eindringenden Laienwelt verdrängt zu werden.121 Auch wenn die B eobachtung durchaus richtig ist, dass die Zahl der Mönchslisten in den Gedenkbüchern in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts kontinuierlich abnimmt, so wäre es voreilig, verallgemeinernd von einer Ablösung der Mönchskommunitäten durch Laiengruppen in der Gedenküberlieferung zu sprechen. Dies hieße, St. Gallen – und andere gedenkbuchführende Gemeinschaften – aus dem Blickwinkel der Reichenau zu beurteilen: Das Reichenauer Verbrüderungsbuch aber mit seiner einzigartigen und nur aus spezifischen historischen Bedingungen erklärbaren Ausrichtung auf die Klosterverbrüderung 122 verzerrt die Maßstäbe. Die Dimensionen der St. Galler Klosterverbrüderung haben wohl viel eher dem „Normalfall“ entsprochen. Der Blick in die beiden Libri vitae lehrt, dass sich St. Gallen zu einem sehr späten Zeitpunkt für intensivere zwischenklösterliche Gebetskontakte öffnete und dass die monastische Verbrüderung ihre größte räumliche Ausdehnung erst unter Abt Grimald erreichte. Im Mittelpunkt der Memoria der St. Galler Mönchsgemeinschaft, wie sie in den beiden Libri vitae fassbar wird, standen jedoch schon immer die Freunde, Wohltäter und Stifter aus dem Laienstand.
121 Schmid, Das ältere und das neuentdeckte jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch (wie Anm. 2) S. 35 f.; Ders., Mönchtum und Verbrüderung, in: Monastische Reformen im 9. und 10. Jahrhundert, hg. von R. Kottje / H. Maurer (Vorträge und Forschungen 38, 1989) S. 117 – 146, hier S. 134 f. 122 Karl Schmid / Otto Gerhard Oexle, Voraussetzungen und Wirkung des Gebetsbundes von Attigny, Francia 2 (1974) S. 71 – 122.
Otmars Gefährten
Studien zum St. Galler Gelübdebuch und zu den ältesten St. Galler Mönchslisten von Alfons Zettler In memoriam Johanne Autenrieth (1923 – 1996) Gegenüber der Fülle von Mönchslisten, aber auch von Problemen der Erschließung, wie sie im Reichenauer Gedenkbuch entgegentreten,1 soll in diesem Beitrag eine vergleichsweise überschaubare Thematik angesprochen werden. Ich möchte einige Überlegungen zu den frühmittelalterlichen Mönchslisten aus der Abtei St. Gallen 2 und deren Überlieferung anstellen, oder genauer ausgedrückt, Überlegungen zu den ältesten Namenaufzeichnungen, die zum Zweck des liturgischen Gebetsgedenkens im Kloster an der Steinach angefertigt wurden.3 Um die Fragestellung zu verdeutlichen, empfiehlt sich zunächst ein Seitenblick auf die Klöster Fulda und Reichenau, deren frühmittelalterliche Gedenküberlieferung bis ins Einzelne analysiert worden ist. Bei Fulda 4 wissen wir sehr genau, wann man mit den Listenaufzeichnungen, mit einer regelrechten „Buchführung“ über das Totengedenken der Mönche begann. Die sogenannten Totenannalen, ein chronologisches Verzeichnis zunächst der verstorbenen fuldischen Mönche und
1 Vgl. den Beitrag von Dieter Geuenich in diesem Band S. 123 – 145. 2 Die Kultur der Abtei Sankt Gallen, hg. von Werner Vogler (1990, Taschenbuchausgabe 1998); Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die kulturelle Blüte vom 8. bis zum 12. Jahrhundert, hg. von Peter Ochsenbein (1999). 3 Es handelt sich dabei in der Regel um Mönchslisten bzw. monastische Namenaufzeichnungen aus den Referenzfeldern ‚Totengedenken’ und ‚Gebetsverbrüderung’: Vgl. die Artikel von Otto Gerhard Oexle, Memoria, Memorialüberlieferung in: Lexikon des Mittelalters 6 (1993) Sp. 510 – 513, und Karl Schmid, Gebetsverbrüderungen, in: Lexikon des Mittelalters 4 (1989) Sp. 1161. – Nicht wirklich ergiebig für das hier verfolgte Anliegen ist das Buch von Umberto Eco, Vertigine della lista (2009, dt. 2011) und die damit verbundene Pariser Ausstellung ‚Mille e tre’ in den Jahren 2009 / 2010. 4 Neuerdings Franz Staab, Fulda, in: Die deutschen Königspfalzen. Repertorium der Pfalzen, Königshöfe und übrigen Aufenthaltsorte der Könige im deutschen Reich des Mittelalters 1: Hessen (2001) S. 511 – 612.
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Alfons Zettler
später auch anderer Personen,5 wurden seit den Jahren um 780 aufgeschrieben.6 Sie bildeten dann im Kloster Fulda auf Jahrhunderte hinaus einen hauptsäch lichen Strang der liturgisch-memorialen Aufzeichnungen.7 Und was die Abtei Reichenau 8 betrifft, hat Roland Rappmann eine ganz ähnliche älteste Totenliste aus der umfangreichen klösterlichen Namenüberlieferung herausgefiltert.9 Die regelmäßige Führung dieses Verzeichnisses von rund 175 verstorbenen Konventualen, das im Verbrüderungsbuch 10 und im Grundstock der späteren Necrologien 11 erhalten blieb, setzt dazu noch ziemlich genau zur gleichen Zeit ein wie die fuldischen Totenannalen, nämlich um das Jahr 780.12 Die frühen liturgisch-memorialen Aufzeichnungen der Abtei St. Gallen bleiben demgegenüber eher Suchbild. Zwar ist im Reichenauer Verbrüderungsbuch gleich im Anschluss an die Reichenauer Mönche auch ein sanktgallisches 5 Vgl. Franz-Josef Jakobi, Die geistlichen und weltlichen Magnaten in den Fuldaer Toten annalen, in: Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter 2,2, hg. von Karl Schmid (Münstersche Mittelalter-Schriften 8, 1978) S. 792 – 887. 6 Otto Gerhard Oexle, Die Überlieferung der fuldischen Totenannalen, in: Die Klostergemeinschaft von Fulda (wie Anm. 5) S. 447 – 504. 7 Otto Gerhard Oexle, Memorialüberlieferung und Gebetsgedächtnis in Fulda vom 8. bis zum 11. Jahrhundert, in: Die Klostergemeinschaft von Fulda 1 (wie Anm. 5) S. 136 – 177, hier S. 136 – 140; Gerd Althoff, Die Beziehungen zwischen Fulda und Prüm im 11. Jahrhundert, in: ebd. 2,2, S. 888 – 930; Gerd Althoff / Karl Schmid, Rückblick auf die Fuldaer Klostergemeinschaft. Zugleich ein Ausblick, Frühmittelalterliche Studien 14 (1980) S. 188 – 218, bes. S. 188 – 196; jüngst Janneke Raaijmakers, The Making of the Monastic Community of Fulda, c. 744-c. 900 (2012) S. 61 – 68. 8 Neuerdings Helmut Maurer, Reichenau, in: Die deutschen Königspfalzen. Repertorium der Pfalzen, Königshöfe und übrigen Aufenthaltsorte der Könige im deutschen Reich des Mittelalters 3: Baden-Württemberg (2003) S. 493 – 571. 9 Roland Rappmann / Alfons Zettler, Die Reichenauer Mönchsgemeinschaft und ihr Totengedenken im frühen Mittelalter. Mit einem einleitenden Beitrag von Karl Schmid (Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland 5, 1998) S. 37 – 97 (Roland Rappmann); vgl. auch S. 28 – 31 (Karl Schmid). 10 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Einleitung – Register – Faksimile) hg. von Johanne Autenrieth / Dieter Geuenich / Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica, Libri Memoriales et Necrologia, Nova Series 1, 1979) pag. 6 – 7; vgl. Alfons Zettler, ‚Visio Wettini‘ und Reichenauer Verbrüderungsbuch, in: Bücher des Lebens – Lebendige Bücher, hg. von Peter Erhart / Jakob Kuratli Hüeblin (2010) S. 59 – 69. 11 Rappmann / Zettler, Die Reichenauer Mönchsgemeinschaft (wie Anm. 9) S. 281 – 288 (Roland Rappmann). 12 Vgl. die chronologische Synopse der Überlieferungen bei Rappmann / Zettler, Die Reichenauer Mönchsgemeinschaft (wie Anm. 9) (wie Anm. 9) S. 60 f. (Roland Rappmann).
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Listenensemble überliefert, ein Verzeichnis des Konvents unter Abt Gozbert und ein Verzeichnis der verstorbenen St. Galler Brüder unter der Überschrift nomina defunctorum fratrum.13 Aber diese Dokumentation wurde erst in den Jahren um 825 niedergeschrieben.14 Inwieweit sie in das 8. Jahrhundert zurückführt, ist bislang nicht schlüssig geklärt, auch wenn Joachim Wollasch bei seinen Studien zu den „Anfängen liturgischen Gedenkens an Personen und Personengruppen in den Bodenseeklöstern“ personelle Querverbindungen zum ältesten Necrolog der Abtei gefunden hat.15 Das sogenannte ‚Necrologium vetus’ aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts ist an dieser Stelle mindestens zu erwähnen,16 doch reichen die darin enthaltenen Totennotizen in der Regel wohl nicht vor das Jahr 800 zurück.17 Von größtem Interesse in unserem Zusammenhang ist demgegenüber ein Dokument, das nicht zu den Zeugnissen des Gebetsgedenkens zählt: das St. Galler Gelübdebuch.18 Auf dessen vorderen Blättern hat sich, um es in die Worte von Johannes Duft zu kleiden, eine „Liste der unter Abt Otmar abgelegten Professversprechen“ mit über fünfzig Namen erhalten 19. In der aktuellen St. Galler Geschichtsschreibung wird deshalb gern darauf verwiesen, dass diese Mönchs- oder Professliste wohl schon seit den ersten Tagen des Klosters an der
13 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 10) pag. 10 – 12. 14 Vgl. Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 10) Einleitung S. LX (Karl Schmid), XXII und XXIX (Johanne Autenrieth). 15 Joachim Wollasch, Zu den Anfängen liturgischen Gedenkens an Personen und Personengruppen in den Bodenseeklöstern, in: Kirche am Oberrhein. Festschrift für Wolfgang Müller, hg. von Remigius Bäumer / Karl Suso Frank / Hugo Ott (= Freiburger DiözesanArchiv 100, 1980) S. 59 – 78, hier S. 59, 67 – 78. 16 Ausgabe: Ernst Dümmler / Hermann Wartmann, St. Galler Todtenbuch und Verbrüderungen, Mittheilungen zur vaterländischen Geschichte, hg. vom historischen Verein des Kantons St. Gallen 9 (1869) S. 1 – 124; vgl. neuerdings Bernhard Zeller, Die frühmittelalterlichen Necrologien des Klosters St. Gallen, in: Bücher des Lebens (wie Anm. 10) S. 184 – 188. 17 Vgl. Wollasch (wie Anm. 15) S. 77 f.; Zeller (wie Anm. 16) S. 184. 18 Das Professbuch der Abtei St. Gallen. St. Gallen, Stifts-Archiv Cod. Class. I. Cist. C. 3. B. 56. Phototypische Wiedergabe mit Einführung und einem Anhang, hg. von Paul M. Krieg (Codices Liturgici 2, 1931). – Das für andere historische Perioden wichtige Werk von Rudolf Henggeler, Professbuch der fürstlichen Benediktinerabtei der heiligen Gallus und Otmar zu St. Gallen (1929), kann in vorliegendem Beitrag beiseite bleiben. 19 Johannes Duft, Geschichte des Klosters St. Gallen im Überblick vom 7. his zum 12. Jahrhundert, in: Das Kloster St. Gallen (wie Anm. 2) S. 11 – 30, Zitat S. 13; vgl. Johannes Duft / Anton Gössi / Werner Vogler, Die Abtei St. Gallen. Abriß der Geschichte – Kurzbiographien der Äbte – Das stift-sanktgallische Offizialat (1986) S. 97.
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Steinach unter dem Abt Otmar geführt worden sei. In dieses Bild fügen sich auch die Mönche, die dort unmittelbar auf Otmar folgen.20 Sie tragen romanische Namen, wie das ja in Churrätien üblich war, und nehmen im Rahmen der Disposition dieser ersten Zeilen des Buches offenbar Bezug auf die in St. Gallen vertraute Otmargeschichte, derzufolge Otmar aus Rätien an die Steinach gekommen sei. Doch sind zugleich auch Zweifel an der Verlässlichkeit dieser Namenreihe aufgekommen,21 denn einige aus anderen Quellen namentlich bekannte St. Galler Mönche oder jedenfalls der Frühzeit St. Gallens zugeordnete Personen wie Magnus 22 und Theodor 23 erscheinen nicht unter den zu Abt Otmar gestellten Namen auf dem ersten erhaltenen Blatt des Professbuchs (Farbtaf. 26).
I Das Buch der Gelübde ist nach seiner Art ein einzigartiges Schriftstück, das seit nunmehr rund zwölfhundert Jahren in St. Gallen aufbewahrt wird. „Ganz besondere Bedeutung hat diese Handschrift… für die Schreibgeschichte von St. Gallen“ ,24 aber auch im Rahmen der soeben erörterten Umstände und im Ganzen der älteren St. Galler Überlieferung nimmt sie einen zentralen Platz ein.25 20 Vgl. Max Schär, Sankt Galler Mönche unter Abt Otmar 720 – 760, Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 120 (2009) S. 9 – 32, hier S. 21 – 25. 21 Duft / Gössi / Vogler, Die Abtei St. Gallen (wie Anm. 19) S. 18. 22 Germania Benedictina 2: Die Benediktinerklöster in Bayern (1970) S. 109 – 114 (Josef Hemmerle); Dorothea Walz, Auf den Spuren der Meister. Die Vita des heiligen Magnus von Füssen (1989) bes. S. 14 – 21; jüngst Dorothea Walz, Der heilige „Ire“ Magnus von Füssen, in: Irische Mönche in Süddeutschland. Literarisches und kulturelles Wirken der Iren im Mittelalter (Lateinische Literatur im deutschen Südwesten 2, 2009) S. 143 – 156. 23 Germania Benedictina 2: Die Benediktinerklöster in Bayern (1970) S. 129 – 136 (Josef Hemmerle); Walz, Auf den Spuren der Meister (wie Anm.22); Walz, Der heilige „Ire“ (wie Anm. 22). 24 So Paul Krieg in: Das Professbuch der Abtei St. Gallen (wie Anm. 18) S. 10; vgl. Peter Erhart, Puerili pollice: maniere di insegnamento della scrittura nell’area del Lago di Costanza, in: Scrivere e leggere nell’alto medioevo. Spoleto, 28 aprile-4 maggio 2011 (Settimane di studio della Fondazione Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo 59) S. 151 – 178. 25 Vgl. Alfons Zettler, Die St. Galler Mönche des frühen Mittelalters – ein Werkstattbericht von der Auswertung der Mönchslisten (Protokoll Nr. 372 des Konstanzer Arbeitskreises für Mittelalterliche Geschichte e. V. vom 27. Februar 1999); Duft / Gössi / Vogler, Die Abtei St. Gallen (wie Anm. 19) S. 17 – 22; Duft, Geschichte (wie Anm. 19) S. 13 – 16.
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Abb. 1: Professbuch der Abtei St. Gallen, pag. 8 (Stiftsarchiv St. Gallen).
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Alfons Zettler Abb. 2: Professbuch der Abtei St. Gallen, Lagenschema (Entwurf A. Zettler, Graphik A. Timm).
Das Buch blieb im Original erhalten, so wie es im ersten Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts von dem sogenannten Archivarius maior der Abtei angelegt und wie es anschließend bis ins 10. Jahrhundert fortgeführt wurde. Leider ist den Bemühungen, diesen Archivar beim Namen zu fassen, bisher kein Erfolg beschieden gewesen. Da aber seine Hand in zahlreichen anderen Dokumenten bis zum Jahr 815 nachzuweisen ist,26 steht zu hoffen, dass dies eines Tages doch noch gelingen könnte. Das Professbuch umfasste anfänglich wohl nur eine einzige Lage in Form eines Ternio oder Quaternio,27 die später nach Bedarf erweitert wurde. Von den insgesamt vierzehn bis fünfzehn nachweisbaren Blättern, die im Laufe
26 Peter Erhart, Dem Gedächtnis auf der Spur: Das frühmittelalterliche Archiv des Klosters St. Gallen, in: Mensch und Schrift im frühen Mittelalter, hg. von Peter Erhart / Lorenz Hollenstein (2006) S. 59 – 65, hier S. 61 f.; vgl. Erhart, Puerili pollice (wie Anm. 24). 27 Paul Krieg in: Das Professbuch der Abtei St. Gallen (wie Anm. 18) S. 11 spricht von einem Ternio: Es ist aber wohl von einem Quaternio auszugehen, dessen erstes Blatt (Vorsatzblatt / Schmutzblatt) im Laufe der Zeit in Verlust geriet.
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der Nutzungsperiode des Buches zusammenkamen, sind in späterer Zeit zwei oder drei in Verlust geraten (Abb. 2).28 Nach den erhaltenen Blättern zu urteilen, trug man die einzelnen Gelübde mit den Namen ursprünglich regelmäßig Zeile für Zeile ein, in jede Zeile ein Professversprechen – wie es beispielsweise auf der hier abgebildeten Seite 8 des Buches aus dem frühen 9. Jahrhundert zu beobachten ist.29 Auf ein Kreuz folgt jeweils der Name des Professen und die Gelübde-Formel (Abb. 1): + Ego Erminolf promitto obedientia stabilitate coram Deo et sanctis eius. Später dann, nach der Mitte des 9. Jahrhunderts, beginnt sich die ursprüngliche Ordnung aufzulösen. Nun wird öfters auf Teile der Formel verzichtet, manchmal steht nur noch ein Kreuzzeichen, sei es mit oder ohne Personalpronomen, und der Name.30 Aber nicht einmal der Name wird immer ausgeschrieben. Manchmal ist er, wie zum Beispiel auf der hier abgebildeten Seite 21 gegen Ende des Buches, lediglich mithilfe des Anfangsbuchstabens angedeutet. Ob in diesen Fällen eine Ergänzung vorgesehen war, die dann aus welchen Gründen auch immer unterblieb, ist nicht ersichtlich.31 Kreuze und Namenzüge in den Professversprechen werden in der Literatur unter Berufung auf die Anforderungen der Regula Benedicti meist als Autographen angesehen.32 Wenigstens das Kreuz, so steht es in der Regel, sollte jeder Novize in der Professurkunde eigenhändig setzen, auch wenn er nicht des Schreibens mächtig war.33 Tatsächlich treten im Gelübdebuch Namen und Formeln meist als kleinere oder größere paläographische Gruppen entgegen, jedenfalls in der älteren Nutzungsperiode des Buches. Vielleicht darf daraus geschlossen werden, dass ein klösterlicher Amtsträger für die ordentliche und regelmäßige Führung des Buches verantwortlich zeichnete (Abb. 3). Die im Gelübdebuch dokumentierte Praxis entspricht jedenfalls in wesentlichen Punkten den Anforderungen der Regula Benedicti. Dort heißt es in Kapitel 58:
28 Ebd., S. 11 und 18 f. 29 Das Professbuch der Abtei St. Gallen (wie Anm. 18) Faksimile pag. 8. 30 Das Professbuch der Abtei St. Gallen (wie Anm. 18) Faksimile pag. 21 und Kommentar S. 16 f. 31 Bei zahlreichen Eintragungen im Professbuch ist jedenfalls zu beobachten, dass mehrere Schreiber in ein- und derselben Zeile tätig wurden bzw. kooperierten; siehe beispielsweise: Das Professbuch der Abtei St. Gallen (wie Anm. 18) Faksimile pag. 18 – 19. 32 Vgl. die Bemerkungen von Paul Krieg in: Das Professbuch der Abtei St. Gallen (wie Anm. 18) S. 17; ferner Rupert Schaab, Mönch in Sankt Gallen. Zur inneren Geschichte eines frühmittelalterlichen Klosters (Vorträge und Forschungen [Sonderband] 47, 2003) S. 109 – 111; Erhart, Puerili pollice (wie Anm. 24). 33 Unten Anm. 34.
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Abb. 3: Professbuch der Abtei St. Gallen, pag. 21 (Stiftsarchiv St. Gallen).
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„Vor der Aufnahme verspricht [der Aspirant] in Gegenwart aller Mönche im Oratorium Beständigkeit, klösterlichen Lebenswandel und Gehorsam vor Gott und seinen Heiligen… Über dieses Versprechen stelle er eine Urkunde auf den Namen der Heiligen aus, die dort sind, sowie auf den Namen des anwesenden Abtes. Diese Urkunde schreibe er eigenhändig, oder wenn er nicht schreiben kann, schreibe sie auf sein Ersuchen hin ein anderer, und der Novize setze sein Zeichen hinzu und lege sie eigenhändig auf den Altar“.34
II In dem runden Jahrhundert, in dem das Büchlein regelmäßig geführt wurde, vom ersten Jahrzehnt des 9.35 bis ins 10. Jahrhundert,36 fanden darin einige Hundert mehr oder minder vollständige Formeln Aufnahme, zum Ende des 34 Benedicti Regula, hg. von Rudolf Hanslik (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 75, 1960) S. 136; meine Übertragung lehnt sich an Basilius Steidle, Die Benediktusregel. Lateinisch – deutsch (21975) S. 163, an. 35 So bereits Paul Krieg in: Das Professbuch der Abtei St. Gallen (wie Anm. 18) S. 13 und 18; dies würde sich gut mit der zuverlässig ermittelten Schaffensperiode des Archivarius maior bis circa 815 vertragen (siehe oben Anm. 25). – Vgl. ferner meine Erwägungen zur Erschaffung des Reichenauer ‚Professbuchs’ um das Jahr 810: Rappmann / Zettler, Die Reichenauer Mönchsgemeinschaft (wie Anm. 9) (wie Anm. 9) S. 98 – 100. – Schaab, Mönch in St. Gallen (wie Anm. 32) S. 38 f., will die Anfertigung des Gelübdebuchs auf „zwischen 800 und 806, vielleicht 803 oder kurz zuvor“ eingrenzen, nachdem er sich zuvor angestrengt bemüht, ähnliche Versuche von Hermann Wartmann im Urkundenbuch und von Paul Piper, Libri confraternitatum s. Galli, Augiensis, Fabariensis (Monumenta Germaniae Historica, Necrologia Germaniae, Supplementum 1884) S. 111 – 135, hier S. 117 – 118, zurückzuweisen. Die Begründung für diesen Ansatz liefert ein Mano / Manno (Übersicht S. 66 Anm. 108), der zwischen 803 und ?808 Urkunden geschrieben habe: Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen 1, bearb. von Hermann Wartmann (1863) Nrn. 157, 158, 190, 191; zur Datierung dieser Chartae Michael Borgolte, Kommentar zu den Ausstellungsdaten, Actum- und Güterorten der älteren St. Galler Urkunden, in: Subsidia Sangallensia 1: Materialien und Untersuchungen zu den Verbrüderungsbüchern und zu den älteren Urkunden des Stiftsarchivs St. Gallen, hg. von Michael Borgolte / Dieter Geuenich / Karl Schmid (St. Galler Kultur und Geschichte 16, 1986) S. 323 – 475, hier S. 359 und 364 f. Wenige Zeilen später (Schaab S. 39 und öfter) wird dann das Datum „803“ vollends zur Gewissheit! 36 Das Professbuch der Abtei St. Gallen (wie Anm. 18) S. 12, 19 f.; vgl. ferner Walter Berschin, Sanktgallische Schriftkultur, in: Die Kultur der Abtei St. Gallen (wie Anm. 2) S. 69 – 80, hier S. 70 mit Abb. 19.
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Nutzungszeitraums hin zunehmend nur noch einzelne Kreuze und Namen oder Anfangsbuchstaben von solchen.37 Die Aufzeichnung geschah gewöhnlich in der Reihenfolge des Klostereintritts, wie schon Paul Krieg in seinem ausführ lich kommentierten Faksimile des Gelübdebuchs vom Jahr 1931 zeigen konnte. Deshalb kann das Professbuch zu großen Teilen auch als eine Art chronologisches ‚Urkundenregister’ der St. Galler Mönche im frühen Mittelalter angesehen und mit den gebotenen Vorbehalten als solches unter historischen Fragestellungen ausgewertet, mit einem Wort: als Quelle genutzt werden. Rupert Schaab hat neu lich die beachtlichen älteren Forschungen zum Thema zusammengetragen und die vorhandenen Ansätze zu systematisieren versucht.38 Er erweiterte diese zudem um den Versuch einer Zusammenstellung der frühmittelalterlichen St. Galler Mönche,39 angeordnet nach der Reihenfolge ihres Klostereintritts, wobei er das Professbuch als Leitüberlieferung benutzte.40 Lücken und Fehlbestände suchte Schaab möglichst zu ergänzen, so dass sein Konstrukt (er spricht von „Profeßfolge“ oder „Übersicht“) für den Zeitraum vom ausgehenden 8. Jahrhundert bis um 933 mit dem Eintritt von 511 Personen in das Kloster St. Gallen rechnet.41 Über diese Zeitlinie hinaus sah er wegen der undurchdringlichen Struktur der Eintragungen auf den letzten Blättern des Buches keine Möglichkeit, die Rekonstruktion weiterzuführen, doch deutet er an, das Buch könne möglicherweise noch bis gegen Ende des 10. oder sogar noch bis ins 11. Jahrhundert weitergeführt worden sein.42 Aber nicht nur das Ende der rekonstruierten „Professfolge“,43 sondern auch deren Anfang birgt Probleme. Denn sie beginnt ganz sicher nicht mit den Mönchen der Klostergründungszeit um 720, sondern erst mit jenen, die gegen 810 im Kloster weilten und deren Namen als solche von Professen unter Abt Werdo auf der vierten bis sechsten Seite des Professbuchs verzeichnet worden sind. Deren
37 Eine genaue Bezifferung der im Professbuch enthaltenen Gelübde bzw. Namen konnte ich in der konsultierten Literatur nicht finden. 38 Vgl. die Bemerkungen von Schaab, Mönch in St. Gallen (wie Anm. 32) S. 11 – 16. 39 Die „Übersicht über die Mönche von Sankt Gallen in der Reihenfolge ihrer Profeß 800 – 933“ (Schaab, Mönch in St. Gallen [wie Anm. 32] S. 57 – 99) lässt Schaab übrigens mit seinem Namensvetter Hruadbertus beginnen, der laut beigefügter Zeitleiste seine Gelübde bereits einige Zeit vor 761 abgelegt hätte. 40 Ebd., S. 16 und öfter. 41 Schaab, Mönch in St. Gallen (wie Anm. 32) S. 51 spricht in gewissem Widerspruch zu seiner soeben erwähnten Liste von dem Zeitraum „800 bis 933“. 42 Vgl. Schaab, Mönch in St. Gallen (wie Anm. 32) S. 41 f. und öfter. 43 Ebd., S. 54.
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Überschrift lautete ursprünglich Agino episcopus et Werdo abba,44 doch wurden Name und Bischofstitel zu unbekannter Zeit wieder ausgekratzt. Es sind die Mönche aus diesem Abschnitt unter der Rubrik „Bischof Egino und Abt Werdo“, die in Schaabs „Profeßfolge“ den Anfang machen, während die voraufgehenden Blätter des Gelübdebuchs bei der Zusammenstellung der „Übersicht“ beiseite blieben. Da die Amtsperioden der genannten Würdenträger die Zeitspanne von 782 bis 812 umfassten,45 würde Schaabs Liste auch nach der internen Logik des Gelübdebuchs nicht erst mit dem Jahr 800, wie er vermerkt, sondern bereits in den voraufgehenden beiden Jahrzehnten einsetzen (Abb. 4).46 Im Folgenden ist nun der Blick auf die in der rekonstruierten „Professfolge“ nicht berücksichtigten vorderen Blätter des Gelübdebuchs zu richten.47 Auf den ersten drei Seiten vermerkte der Schreiber rund 75 Gelübde,48 die er, wie es scheint, schematisch unter den frühen Äbten des Klosters Otmar und Johannes aufteilte.49 Dem Klostergründer und ersten Abt Otmar 50 (um 720 – 759) ordnete 44 Das Professbuch der Abtei St. Gallen (wie Anm. 18) Faksimile pag. 4; vgl. Schaab, Mönch in St. Gallen (wie Anm. 32) S. 34 Anm. 97, der allerdings „Est [sic!] Werdo abb.“ liest. 45 Vgl. unten Anm. 50 f. 46 An dieser Stelle mag ein Hinweis auf die Problematik derartiger Konstrukte und Synopsen von Personenlisten bzw. -registern und ihrer Darstellung erlaubt sein, vgl. beispielsweise Althoff / Schmid, Rückblick (wie Anm. 7) S. 188 – 196. – Vgl. außerdem Gesine Jordan, „Nichts als Nahrung und Kleidung“. Laien und Kleriker als Wohngäste bei den Mönchen von St. Gallen und Redon (8. und 9. Jahrhundert) (Europa im Mittelalter 9, 2007) S. 72 f. sowie S. 139 mit Anm. 313. 47 Zu Recht beklagt Schär, St. Galler Mönche (wie Anm. 20) S. 18 f., dass Schaab die vorderen Seiten des Büchleins im Wesentlichen außer Acht lässt, obgleich diese für das Verständnis seiner „Leitüberlieferung“ Gelübdebuch eine zentrale Rolle spielen. Schär deutet im Zuge seiner Bemerkungen S. 30 f. auch die Folgen solcher Unterlassung für die Brauchbarkeit und Glaubhaftigkeit von Schaabs (im Einzelnen ohnehin höchst widersprüch lichen) Berechnungen der Konventsstärke St. Gallens in der Frühzeit an: Schaab, Mönch in St. Gallen (wie Anm. 32) S. 139 und 151. 48 Das Professbuch der Abtei St. Gallen (wie Anm. 18) Faksimile pag. 1 – 2 mit jeweils 27 Einträgen; zur Füllung von pag. 3 siehe unten bei Anm. 57. 49 Zum schematischen Konzept des anlegenden Schreibers Zettler, Die St. Galler Mönche (wie Anm. 25); Schär, St. Galler Mönche (wie Anm. 20) S. 9 f.. 50 Vgl. den Artikel von Werner Vogler, Otmar, in: Lexikon des Mittelalters 6 (1993), Sp. 1560 f.; Duft / Gössi / Vogler, Die Abtei St. Gallen (wie Anm. 19) S. 96 – 98; Max Schär, Der junge Otmar, in: Scripturus Vitam. Festgabe für Walter Berschin zum 65. Geburtstag, hg. von Dorothea Walz (2002) S. 309 – 334; Schär, St. Galler Mönche (wie Anm. 20) bes. S. 21 – 31. – Zu Otmars Absetzung jetzt auch Martina Wiech, Das Amt des Abtes im Konflikt (Bonner Historische Forschungen 59, 1999) S. 134 – 139.
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Abb. 4: Professbuch der Abtei St. Gallen, pag. 4 (Stiftsarchiv St. Gallen).
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er zwei Seiten zu, überschrieben mit der Formel Audomarus abb. in monasterio sancti Galli confessoris, während dessen Nachfolger Abtbischof Johannes von St. Gallen-Konstanz 51 (760 – 782) nur eine Seite unter der Rubrik Johannes eps. uel abbas erhielt.52 Eine derartige Disposition scheint auch der Sache nach auf den ersten Blick durchaus plausibel zu sein und fügt sich gut zu dem bereits angesprochenen Schematismus.53 Denn Johannes leitete das Kloster St. Gallen ja nur für eine erheblich kürzere Zeit als Otmar. Auf den nachfolgenden Blättern setzte der Schreiber sein Konzept in ähnlicher Manier und im Einklang mit dem gewählten Schema fort, indem er nun, angekommen in seiner eigenen Zeit, die vierte Seite des Buches mit der zu Beginn des 9. Jahrhunderts amtierenden Klosterobrigkeit Bischof Egino von Konstanz 54 (782 – 811) und Abt Werdo von St. Gallen 55 (784 – 812) überschrieb: [Egino eps.] et Uuerdo abb. Auch die rund 80 Professformeln auf den folgenden drei Seiten stammen von seiner Hand; sie enthalten Mönche des St. Galler Konvents aus der Anlagezeit des Gelübdebuchs (= St. Galler Werdo-Liste 56). Dem Schöpfer des Buches stand offenkundig ein klares Konzept vor Augen. Er mühte sich nach Kräften, ein chronologisch nach der Abfolge der Abbatiate aufgebautes ‚Register‘ sämtlicher Professversprechen seit der Gründung des Klosters im frühen 8. Jahrhundert zusammenzustellen. Dem Klostergründer Otmar wurden dabei genau die 53 Mönchsnamen zugeteilt, welche die vom Autor gewählte schematische Einteilung des Büchleins in Abbatiate und seitenweise Kontingente zuließ. Für das Regiment des nachfolgenden Abtbischofs Johannes hatte der Autor ebenfalls eine ganze Seite mit Raum für 26 Gelübde vorgesehen, doch gab seine Vorlage offenbar nur noch 17 oder 18 Namen her. 51 Duft / Gössi / Vogler, Die Abtei St. Gallen (wie Anm. 19) S. 98 f.; Helmut Maurer, Das Bistum Konstanz 2: Die Konstanzer Bischöfe vom Ende des 6. Jahrhunderts bis 1206 (Germania Sacra, Neue Folge 42,1, 2003) S. 49 – 53. 52 Vor dieser ersten erhaltenen Seite des Gelübdebuchs ist allem Anschein nach ein Vorsatzoder Schmutzblatt zu rekonstruieren: siehe oben Anm. 27. 53 Oben Anm. 49. – Zum Konzept der Gliederung nach Abbatiaten können beispielsweise die Corveyer Gepflogenheiten verglichen werden, wo man seit dem ersten Drittel des 9. Jahrhunderts eine Mönchs- bzw. Oblatenliste nach diesem Muster führte: Klemens Honselmann, Die alten Mönchslisten und die Traditionen von Corvey 1 (Veröffent lichungen der Historischen Kommission für Westfalen 10 = Abhandlungen zur Corveyer Geschichtsschreibung 6, 1982) S. 22 und öfter. 54 Maurer, Das Bistum Konstanz (wie Anm. 51) S. 54 – 60. 55 Duft / Gössi / Vogler, Die Abtei St. Gallen (wie Anm. 19) S. 101. 56 Zettler, Die St. Galler Mönche (wie Anm. 25); Schär, St. Galler Mönche (wie Anm. 20) S. 10 und öfter.
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Diese reichten nicht aus, um den gesamten zur Verfügung stehenden Raum zu füllen; vielmehr endet die Mönchsreihe einige Zeilen vor dem unteren Ende des Schriftraums. Darauf wird später noch näher einzugehen sein.57 Auf der dritten Seite des Büchleins ist demzufolge inhaltlich wie formal ein Bruch festzustellen. Der Übergang von Abtbischof Johannes zu den seinerzeit aktuellen Autoritäten des Klosters Egino und Werdo erscheint holprig. Dies fällt umso mehr ins Auge, weil der sonstigen St. Galler Überlieferung zufolge in der Zeitspanne zwischen den Klostervorstehern Johannes und Egino / Werdo auch noch die Äbte Ratpert 58 (782) und Waldo 59 (wohl 782 – 784) regierten, die bei der Konzeption und Erstellung des Professbuchs offensichtlich keine Berücksichtigung fanden. Auf diesen Sachverhalt, der auf den ersten Blick merkwürdig erscheint, kann hier indes nicht näher eingegangen werden 60 (Abb. 6). Die Ungereimtheiten um die beiden nur recht kurze Zeit regierenden St. Galler Äbte des späteren 8. Jahrhunderts rühren jedoch nicht grundsätzlich an der schon angedeuteten Beobachtung: Konzeption und Realisierung des Büchleins suggerieren, dass in ihm die Professgelübde der sanktgallischen Mönche schon von allem Anfang an, seit der Etablierung des Klosters um das Jahr 720 eben unter dem besagten Abt Otmar, entsprechend den Vorschriften der Regula Benedicti, aufgesetzt und verzeichnet worden seien. Oder auf eine kurze Formel gebracht: Zu Beginn des 9. Jahrhunderts fabrizierte man im Kloster St. Gallen recht eigentlich das Gelübdebuch des ehrwürdigen Klostergründers und ersten Abtes Otmar. Ja, es könnte zudem, um es in der Zuspitzung vollends deutlich zu machen, sogar an die Erschaffung einer Otmarsreliquie gedacht werden – wenn nämlich in Rechnung gestellt wird, dass Otmar sich zur Zeit der Anfertigung des 57 Näheres dazu unten bei Anm. 70. 58 Ich gehe mit Duft / Gössi / Vogler, Die Abtei St. Gallen (wie Anm. 19) S. 99 davon aus, dass gemäß der überlieferten St. Galler Äbteliste zwischen den Klostervorstehern Johannes und Waldo Abt Ratpert (782) einzuschieben ist. 59 Emmanuel Munding, Abt-Bischof Waldo. Begründer des goldenen Zeitalters der Reichenau (1924); Rolf Sprandel, Das Kloster St. Gallen in der Verfassung des karolingischen Reiches (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 7, 1958) S. 37; Ursula Begrich, Reichenau, in: Helvetia Sacra 3,1,2 (1986) S. 1059 – 1100, hier S. 1069 f.; Duft / Gössi / Vogler, Die Abtei St. Gallen (wie Anm. 19) S. 100 f.; Rappmann / Zettler, Die Reichenauer Mönchsgemeinschaft (wie Anm. 9) (wie Anm. 9) S. 294 f. (Roland Rappmann); vgl. jetzt auch Wiech, Das Amt des Abtes (wie Anm. 50) S. 140 – 143. 60 Zu Waldos Fehlen in den Mönchslisten, obwohl er vor seiner Erhebung zum St. Galler Abt ohne Zweifel Mönch in St. Gallen gewesen war, siehe unten bei Anm. 93. – Auf das Problem des Abbatiats eines Ratpert (782) werde ich demnächst in anderem Zusammenhang zurückkommen.
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Abb. 5: Professbuch der Abtei St. Gallen, pag. 3 (Stiftsarchiv St. Gallen).
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Buches bereits auf dem bestem Weg befand, als zweiter heiliger Patron des Klosters verehrt zu werden.61 Darüber berichten zuerst die Erzählungen von Otmars Inventio, von seiner Elevatio und Translatio in der Vita des Heiligen aus dem mittleren 9. Jahrhundert.62 Um das Jahr 757 soll Otmar im Zug der politischen Umwälzungen in Alemannien seines Amtes in St. Gallen enthoben, deportiert und verurteilt worden sein. Wenig später verstarb er im Gewahrsam des vir potens Gozbert auf der Insel Werd im Untersee und fand dort auch sein Grab.63 Seit diesem Tag ruhten die St. Galler Mönche nicht, ihren ehemaligen Abt wieder nach St. Gallen zurückzuführen. Im Zuge der Translatio, welche eine Gruppe von Gallusmönchen auf göttlichen Wink mithilfe eines Schiffs um das Jahr 770 bewerkstelligte, soll Otmar mehrere Wunder gewirkt haben. Als erstes sichtbares Zeichen der Heiligkeit präsentiert die bald nach den Ereignissen verfasste Vita das Corpus incorruptum 64 Otmars, 61 Vgl. Duft / Gössi / Vogler, Die Abtei St. Gallen (wie Anm. 19) S. 10; Alfons Zettler, St. Gallen als Bischofs- und als Königskloster, in: Vortragsreihe anlässlich der Ausstellung ‚Die Kultur der Abtei St. Gallen‘ vom 25. März bis zum 16. Mai 1997 in Freiburg i. Br. (= Alemannisches Jahrbuch 2001/2002) S. 23 – 38, hier S. 37 f. – Grundlegend zur Vita und Verehrung Otmars ist das Buch von Johannes Duft, Sankt Otmar in Kult und Kunst (1966) S. 11 – 15 und öfter. Vgl. ferner Alfons Zettler, Die frühen Klosterbauten der Reichenau. Ausgrabungen – Schriftquellen – St. Galler Klosterplan (Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland 3, 1988) S. 76 – 79; Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter 3: Karolingische Biographie 790 – 920 n. Chr. (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 10, 1991) S. 281 – 285. 62 Die Ausgabe von Ildefons von Arx (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 2, 1829) S. 41 – 47 ist veraltet; stattdessen zitiere ich im Folgenden Johannes Duft, Sankt Otmar. Die Quellen zu seinem Leben. Lateinisch und deutsch (1959). – Vgl. ferner Ratpert, St. Galler Klostergeschichten (Casus sancti Galli), hg. von Hannes Steiner (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum 75, 2002) S. 155 – 158. 63 Vita s. Otmari abbatis, cap. (4.)-(6.), hg. von Duft (wie Anm. 62) S. 28 – 35. – Zur Otmartradition auf der Insel Werd Albert Knoepfli / Hans Rudolf Sennhauser, Zur Baugeschichte von St. Otmar auf Werd, in: Corolla Heremitana. Festschrift Linus Birchler (1964) S. 39 – 80; vgl. Vorromanische Kirchenbauten. Katalog der Denkmäler bis zum Ausgang der Ottonen, bearb. von Friedrich Oswald / Leo Schaefer / Hans Rudolf Sennhauser (1966 – 1971) S. 368. 64 Zur Sache Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart (1994) S. 149 – 166; Arnold Angenendt, Der „ganze“ und „unverweste“ Leib – eine Leitidee der Reliquienverehrung bei Gregor von Tours und Beda Venerabilis, in: Aus Archiven und Bibliotheken. Festschrift für Raymund Kottje zum 65. Geburtstag, hg. von Hubert Mordek (Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen
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wie es die Mönche im Grab vorfanden.65 Allein die Spitze eines Fußes zeigte auf Grund der Einwirkung von Wasser eine Farbe, die auf Verwesung habe schließen lassen können.66 Bei der Überführung, die heimlich und im Schutze der Dunkelheit vonstatten ging, erwies sich Otmar durch mehrere Zeichen vollends als Heiliger und als wahrer Vater seiner Mönche. Das aufziehende Unwetter vermochte den Kurs des Schiffs auf St. Gallen nicht zu stören, die Besatzung blieb mit ihrer Fracht von dem plötzlich herunterprasselnden Regen verschont, der Getränkevorrat vermehrte sich auf wunderbare Weise, und nicht einmal die Kerzen an Bord verloschen im Sturm.67 Zu späterer Zeit wurde die Episode von Otmars Heimkehr, von seiner ersten Translation ins Kloster St. Gallen, eindrucksvoll dargestellt in den Miniaturen zur Otmarlegende, geschaffen im ausgehenden Mittelalter 68 (Farbtaf. 27).
III Es deutet jedenfalls manches darauf hin, dass gerade auf den ersten Blättern des Professbuchs eine frühe oder sogar die älteste St. Galler Mönchsliste überhaupt erhalten blieb: Denn der eingangs erwähnte Archivarius maior schuf sein Werk, wie gesagt, in den Jahren zwischen 800 und 811.69 Es dürfte sich daher jedenfalls um ein Namenverzeichnis aus dem 8. Jahrhundert handeln, und deshalb gilt es nun, die angeblichen Otmar- und Johannes-Listen auf den vorderen Blättern des Gelübdebuchs näher auf Form und Inhalt zu prüfen, d. h. zu fragen nach den enthaltenen Personen und nach Aufbau und Zeitstellung. Unter formalen Aspekten fällt zunächst die dritte Seite mit Abtbischof Johannes an der Spitze besonders ins Auge. Dort geben sich Unregelmäßigkeiten zu erkennen.70 Denn überall sonst
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Geschichte 3, 1992) S. 33 – 50; Arnold Angenendt, Corpus incorruptum. Eine Leitidee der mittelalterlichen Reliquienverehrung, in: Arnold Angenendt / Hubertus Lutterbach, Die Gegenwart von Heiligen und Reliquien (2010) S. 109 – 144. Vita s. Otmari abbatis, cap. (7.), hg. von Duft (wie Anm. 62) S. 34 – 37. Ebd., cap. (7.) S. 34 f.: …sepulchrum aperientes corpus eius ab omni corruptione inlesum reperiunt, excepto quod pars extrema pedis unius, quem aqua alluebat, tantum colore mutato quasi tabida videbatur… Ebd., cap. (8.)-(9.) S. 36 – 39. Stiftsbibliothek St. Gallen, Codex 602, S. 229; abgebildet in Johannes Duft, Die Lebensgeschichten der Heiligen Gallus und Otmar (1988) Taf. 8. Oben Anm. 26. Siehe oben Anm. 57.
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hielt sich der Schreiber der ersten Blätter (Seiten 1 – 6/7) an sein Schema, welches darin bestand, jede Seite gleichmäßig mit 27 Namen und Professversprechen zu füllen. Nur bei der dritten Seite scheint es zu Problemen gekommen zu sein. Spätestens ab dem Professen Wyto in Zeile 20 sind zumindest die Namen später, zum Teil auch von anderen Händen eingetragen worden. Einige überschüssige Formeln hingegen hatte der Anlageschreiber zuvor schon ausgeführt. Aber auch bei den Formeln endete seine Tätigkeit bald; die letzten Formeln auf der Seite stammen jedenfalls von anderer Hand. Es sieht so aus, als ob an dieser Stelle die Vorlage den Schreiber im Stich gelassen hätte, mit anderen Worten: Es sind ihm offenbar in seiner Vorlage die Namen ausgegangen (Abb. 5). Damit ist das Stichwort der Vorlage bzw. der Vorlagen gefallen, an das sich eine ganze Reihe von Fragen anschließt. Denn dass der Schöpfer des Gelübdebuchs auf ältere Schriftstücke zurückgriff, ja, dass er bei seinem Vorhaben auf solche angewiesen war, ist wohl kaum zu bezweifeln.71 Allenfalls die Werdo-Liste könnte er aufgrund eigener Anschauung seines St. Galler Konvents angefertigt haben. Welcher Art war also der Stoff, dessen er sich bediente? Lagen ihm einzelne schriftliche Gelübde vor 72 oder eine Zusammenstellung von Professurkunden?73 Oder womöglich gar ein älteres Gelübdebuch? Bevor die Frage nach den mög lichen Vorlagen des Professbuchs überhaupt angeschnitten werden kann, ist nun zu prüfen, ob es sich bei den auf den ersten Blättern des Gelübdebuchs angeführten Personen tatsächlich um Mönche handelt, die, wie es das Buch suggeriert, im Zeitraum zwischen 720 und 782 unter den Äbten Otmar und Johannes ins Kloster St. Gallen eingetreten sind. Dazu verhilft einmal die erwähnte St. Galler Totenliste im Reichenauer Verbrüderungsbuch, und zudem können in diesen
71 Hinweise zum Problem der Vorlage oder Vorlagen schon bei Wollasch, Zu den Anfängen liturgischen Gedenkens (wie Anm. 15) S. 72 f.; Zettler, Die St. Galler Mönche (wie Anm. 25); Schär, St. Galler Mönche (wie Anm. 20) S. 10 f. 72 Beispielsweise von der Art des schriftlichen Gelübdes, welches als Autograph des hl. Adalbert (Vojtĕch) gilt und als Reliquie in Prag aufbewahrt wird; Pavel Spunar, Kultura českého středovĕku (1985) S. 66 f. mit Abb. 27. 73 Wie beispielsweise dokumentiert im ‚Reimser Register’, einer Sammlung von Profess- und Oblationsurkunden des 9. Jahrhunderts: Léopold Delisle, Littérature latine et histoire du Moyen Age (1890) S. 7 – 17; Mayke de Jong, Kind en klooster in de vroege middel eeuwen. Aspecten van de schenking van kinderen aan kloosters in het Frankische Rijk, 500 – 900 (Amsterdamse Historische Reeks 8, 1986) S. 90 – 94. – Vgl. ferner die Corveyer Mönchslisten: Honselmann, Die alten Mönchslisten (wie Anm. 53).
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Abb. 6: Professbuch der Abtei St. Gallen, pag. 2 (Stiftsarchiv St. Gallen).
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Fragen die älteren St. Galler Urkunden konsultiert und herangezogen werden – immerhin rund 160 Stücke aus dem 8. Jahrhundert.74 Zunächst zur Totenliste im Gedenkbuch des nahegelegenen Bodenseeklosters Reichenau (Abb. 7)! Bei der Anfertigung des Verbrüderungsbuchs in den Jahren zwischen 823 und 82575 wurden insgesamt vier Seiten für die Aufnahme von Listen des eng verbrüderten Klosters St. Gallen eingeplant, pag. 10 bis 11 für die lebenden St. Galler Konventualen und die beiden folgenden Seiten für ein Verzeichnis verstorbener Mönche: Nomina defunctorum fratrum…76 Von diesen beiden Seiten, reserviert für die Namen der Verstorbenen, blieb nur pag. 12 erhalten. Die von der Anlagehand HA2 eingetragene Liste führt insgesamt 78 Namen an, gereiht in gut zwei Kolumnen.77 Beim Vergleich der Totenliste mit der Namensequenz auf den vorderen Seiten des Professbuchs ergibt sich, dass in beiden Listen weitgehend der gleiche Bestand an Namen erscheint, auch wenn deren Reihenfolge nicht durchgängig parallel läuft.78 Die Überschneidungen betreffen 56 oder 57 von den insgesamt 75 bzw. 77 Namen, also etwa drei Viertel oder 75%. In der Synopse werden aber auch inhaltliche Bruchstellen sichtbar. So reichen die Überschneidungen mit den angeblichen Otmar-Mönchen auf der zweiten Seite des Professbuchs nur bis ins untere Drittel des Schriftraums, und andererseits fallen immer wieder kleine Lücken in der Übereinstimmung der beiden Dokumente auf. Auch die Totenliste hat einiges Sondergut gegenüber dem Professbuch. Außerdem ist im letzten Viertel dieser Liste ein Namenblock offenbar reichenauischer Herkunft irrtümlich unter die St. Galler Namen geraten;79 diese Gruppe findet im Folgenden keine Berücksichtigung (Farbtaf. 28). 74 Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen 1 (wie Anm. 35) Nrn. 1 – 159; dazu jüngst Peter Erhart, Erratische Blöcke am Alpennordrand? Die rätischen Urkunden und ihre Überlieferung, in: Die Privaturkunden der Karolingerzeit, hg. von Peter Erhart / Karl Heidecker / Bernhard Zeller (2009) S. 161 – 171; Bernhard Zeller, Urkunden und Urkundenschreiber des Klosters St. Gallen bis ca. 840, in: ebd., S. 183 – 191; Karl Heidecker, Urkunden schreiben im alemannischen Umfeld des Klosters St. Gallen, in: ebd., S. 173 – 182. 75 Vgl. Zettler, ‚Visio Wettini‘ (wie Anm. 10) S. 66 f. und den Beitrag von Dieter Geuenich in diesem Band S. 124 und 141 – 145. 76 Der zweite Teil der Überschrift auf der nachfolgenden Seite, die in Verlust geraten ist, lautete in Anlehnung an die voraufgehenden Seiten der lebenden St. Galler Konventualen wohl: ‚de monasterio sancti Galli’ oder ähnlich. 77 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 10) pag. 11, dazu S. XXIX (Johanne Autenrieth) und die ‚Übersichtstabelle zum Verbrüderungsbuch’. 78 Siehe oben Anm. 71. 79 Rappmann / Zettler, Die Reichenauer Mönchsgemeinschaft (wie Anm. 9) S. 51 – 53 (Roland Rappmann); vgl. Schär, St. Galler Mönche (wie Anm. 20) S. 20 f..
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Abb. 7: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, pag. 12 (Zentralbibliothek Zürich).
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Wichtig ist im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchungen das soeben festgehaltene Zwischenergebnis. Beide Listen enthalten zum größten Teil, zu 75% (das ist die ermittelte Überschneidungsmenge) dieselben Personen, deren Namen laut den überlieferten Dokumenten das eine Mal beim Eintritt ins Kloster und das andere Mal zum Zeitpunkt ihres Todes verzeichnet worden sein sollen.80 Denn eine der Namensequenzen gibt sich als Verzeichnis der Gelübde von St. Galler Mönchen aus der Zeit von circa 720 bis 782 aus, während die andere Reihe eine Liste verstorbener Mönche aus der Zeit vor circa 825 sein soll. Die Rechnung, welche uns die Dokumente hier vormachen, geht nicht auf! Sie könnte überhaupt nur dann aufgehen, wenn in den beiden eine jeweils unterschiedliche Anordnung der Namen entgegenträte. Aber die Reihenfolge läuft auf weite Strecken parallel. Anhand der beschriebenen Eigenschaften ist vielmehr auf eine gemeinsame Vorlage für die Totenliste und den Anfangsteil des Gelübdebuchs zu schließen – auf eine Namenreihe mit rund 60 Positionen, die während des 8. Jahrhunderts zusammengestellt und niedergeschrieben wurde. Diese Sequenz, nach welchen Kriterien sie auch immer strukturiert gewesen sein mag, verwendete man zu Beginn des 9. Jahrhunderts gleichermaßen als Grundlage für die Zusammenstellung des Professbuchs und als Liste der verstorbenen Mönche. Daraus ergibt sich nebenbei der zwingende Schluss, dass St. Gallen bis zu jener Zeit, bis zur Erschaffung des Gelübdebuchs in dem Jahrzehnt zwischen circa 800 und 810, nur über eine einzige eigene Mönchsliste verfügte – falls das zur Rede stehende Verzeichnis überhaupt als solche gelten kann.81 Sonst waren in St. Gallen damals wohl nur sporadische memoriale Namenaufzeichnungen wie beispielsweise die eingangs erwähnten Totennotizen vorhanden.82 80 Vgl. wiederum Schär, St. Galler Mönche (wie Anm. 20) S. 9 – 11, auch zum Folgenden. 81 Auf daran anschließende Fragen, was beispielsweise den Ursprung und die Zweckbestimmung der St. Galler Werdo-Liste (oben Anm. 55) und ihres Reichenauer Pendants betrifft, werde ich an anderer Stelle zurückkommen. – Die Frage nach den zu Beginn des 9. Jahrhunderts im Kloster geführten und verfügbaren Mönchslisten ist auch im Hinblick auf die St. Galler Gedenkbücher von größtem Interesse. Denn die Rekonstruktion des fragmentarisch erhaltenen älteren Verbrüderungsbuchs, das wenige Jahre nach dem Gelübdebuch entstand, geht davon aus, dass dessen verlorene erste Lage umfangreiche Mönchslisten aus St. Gallen und dem verbrüderten Nachbarkloster Reichenau enthielt: Karl Schmid, Das ältere und das neuentdeckte jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch, in: Subsidia Sangallensia 1: Materialien und Untersuchungen zu den Verbrüderungsbüchern und zu den älteren Urkunden des Stiftsarchivs St. Gallen, hg. von Michael Borgolte / Dieter Geuenich / Karl Schmid (St. Galler Kultur und Geschichte 16, 1986) S. 15 – 38, und Karl Schmid, Versuch einer Rekonstruktion der St. Galler Verbrüderungsbücher des 9. Jahrhunderts, in: ebd., S. 81 – 276. 82 Siehe oben Anm. 15 und 16.
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IV Als kniffliger Schritt erweist sich die Suche nach den knapp 60 Personen, deren Namen in beiden Verzeichnissen bezeugt sind. Beide Listen führen diese Personen zudem ausdrücklich als St. Galler Mönche auf. Max Schär hat sich neulich auf die Suche nach Otmars Mönchen gemacht und eine tabellarische Synopse der Listen vorgelegt, wobei er den Namen auch Belege in den älteren Urkunden zuzuordnen versuchte. Für die erste Professbuchseite macht Schär auf sechs von sechsundzwanzig Listenpositionen urkundliche Nennungen von entsprechenden Mönchen geltend,83 und in der gesamten Otmar-Liste mit 53 Einträgen findet er immerhin Urkundenbelege für elf Konventualen, die sich auf entsprechende Personen in den Listen beziehen könnten.84 Demnach wären rund 20% der unter Otmar gelisteten Personennamen als solche von Mönchen aus der Regierungsperiode des ersten St. Galler Abtes urkundlich nachweisbar. Doch dieses Ergebnis ist bestenfalls als ein möglicherweise erreichbares Maximum zu betrachten, denn es beruht auf einer Reihe von Vorannahmen und Voraussetzungen. Der Name Wagolf, letzter Eintrag auf der ersten Seite des Gelübdebuchs (laufende Nummer 27), bietet ein gutes Beispiel dafür, dass hier grundsätzlich mit stärker belastbareren Kriterien gearbeitet werden muss. Sonst bleiben die Ergebnisse in vielen Punkten fragwürdig oder erweisen sich sogar als unbrauchbar. Ein erstes Problem bei dem soeben zitierten Namen Wagolf ergibt sich aus der Tat sache, dass der gleiche Name wenige Listenpositionen später nochmals aufgeführt ist. Auch dieser hat ein Pendant in der Totenliste, doch folgt der dortige Beleg offenbar einem anderen Lemma oder er ist verderbt (Wargolf ). Es ist unter diesen Umständen nicht klar zu entscheiden, auf welche Namen in den Listen der Urkundenbeleg sig. Wacolfo monahi 85 zu beziehen ist. Der Mönch Wagolf, der mit seinem Zeichen die in der zitierten Urkunde protokollierte Rechtshandlung bezeugte, ist zwar eine der ganz wenigen Personen überhaupt, die in den frühen Chartae aus der Zeit der Äbte Otmar und Johannes ausdrücklich als Mönch ausgewiesen und bezeichnet wird. Und in diesem Wagolf wäre des Weiteren die einzige urkundlich als Otmar-Mönch nachweisbare Person im entsprechenden Abschnitt des Professbuchs zu sehen, wenn denn die von ihm signierte Urkunde
83 Schär, St. Galler Mönche (wie Anm. 20) S. 13 f. 84 Ebd., S. 13 – 15. 85 Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen 1 (wie Anm. 35) Nr. 29 S. 33; vgl. Chartae Latinae Antiquiores 1: Switzerland – Basle – St. Gall, hg. von Albert Bruckner / Robert Marichal 1 – 2 (1954 – 1956) Nr. 165 (künftig zitiert: CLA).
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wirklich aus der Zeit des Abtes Otmars stammte. Doch datiert die Charta erst vom Jahr 761, entstand also geraume Zeit nach dem Tod des Gründerabtes.86 Keinen einzigen unter den 53 angeblichen Otmar-Mönchen im Gelübdebuch bezeugen die Urkunden ausdrücklich als St. Galler Konventualen unter dem Abbatiat Otmars. Das kann an dieser Stelle gar nicht genügend hervorgehoben werden. Und vor diesem Hintergrund wiegt das Ergebnis einer Gegenprobe, wenn dieses Wort erlaubt ist, umso schwerer. Denn die Urkunden aus der Otmarzeit, rund zwanzig an der Zahl,87 bezeichnen in der Tat zwei Personen ausdrücklich als monachi, einmal den Schreiber Iring 88 in den Jahren um 74589 und zum andern einen Schreiber namens Theutbald um 755. Während bei Iring die Konventszugehörigkeit offen bleibt,90 schrieb Theutbald eine Urkunde auf den Namen des Abtes Otmar im Kloster (Farbtaf. 29)91. Er war also ganz sicher Mönch unter Otmar in St. Gallen, und doch findet sich sein Name nicht in Otmars Abschnitt im Professbuch, ebensowenig wie jener des Mönchs und Lektors Iring. Oder nehmen wir Waldo, den nachmaligen Abt von Reichenau und Saint-Denis!92 Der St. Galler Konventuale Waldo schrieb seit der Zeit um 770 zahlreiche Urkunden im Kloster.93 Er muss das Mönchsgelübde in den letzten Jahren Otmars oder in den frühen Jahren des Abtbischofs Johannes abgelegt haben. Gleichwohl findet sich sein Name nicht in den hier zur Rede stehenden 86 Vgl. Borgolte, Kommentar (wie Anm. 35) S. 337 Nr. 29. 87 Siehe die Auflistung von Borgolte, Kommentar (wie Anm. 35) S. 330 – 336. 88 Ego Hirinchus monacus hanc donationem rogitus scripsi et subscripsi; Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen 1 (wie Anm. 35) Nr. 7 S. 7 f.; wahrscheinlich dieselbe Person schrieb die Charta ebd., Nr. 10 S. 11 f., nennt sich aber dabei nicht Mönch, sondern lector; vgl. CLA (wie Anm. 85) Nrn. 42 und 159. 89 Vgl. zur Datierung dieser Chartae Borgolte, Kommentar (wie Anm. 35) S. 332 f. 90 Vgl. Maurer, Das Bistum Konstanz (wie Anm. 51) S. 39 – 43. – Ob allerdings der Mönch und Lektor Iring überhaupt nach St. Gallen gehört, ist ganz ungewiss. 91 Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen 1 (wie Anm. 35) Nr. 23 S. 27; CLA (wie Anm. 85) Nr. 51. – Die Urkunde wird von Borgolte, Kommentar (wie Anm. 35) S. 336 Nr. 23 datiert auf „757/758 X 27“; vgl. aber Heinrich Wagner, Anmerkungen zur Methodik einer Neudatierung der älteren St. Galler Urkunden (Protokoll Nr. 363 des Konstanzer Arbeitskreises für Mittelalterliche Geschichte e. V. vom 17. Januar 1998), der für diese Urkunde das Datum „?755 X 27“ ansetzt. 92 Siehe oben Anm. 59. 93 Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen 1 (wie Anm. 35) Nrn. 57, 61 – 63, 71, 74 – 77, 79 – 80, 83 – 84, 88 – 89, 95 – 96; vgl. Franz Perret, Diakon Waldo und die Anfänge des Stiftsarchivs St. Gallen vor 1200 Jahren, St. Galler Kultur und Geschichte 2 (1972) S. 17 – 26; Erhart, Dem Gedächtnis auf der Spur (wie Anm. 26).
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Listen. Die erzählende Überlieferung bietet ein ganz ähnliches Bild. Magnus und Theodor, die beiden ihrer Legende nach ins Allgäu abgeordneten Mönche, fehlen ebenfalls im Professbuch, wie eingangs schon erwähnt.94 Aber auch der Mönch Perahtgoz, der laut Vita Otmari dem eingekerkerten Abt Otmar zur Hilfe eilte,95 begegnet nicht in unseren Listen. Und der Name des St. Galler Konventualen Lantbert, der den Abt Otmar beim Pfalzgericht angezeigt haben soll,96 findet sich zwar in der Totenliste, nicht aber im Gelübdebuch.97 Nachdem also die Suche nach den frühen St. Galler Mönchen im Professbuch ohne wirklich zufriedenstellende Ergebnisse blieb, muss mit dem Schlimmsten gerechnet werden: Dass es sich nämlich bei der Vorlage für unsere beiden Listen möglicherweise gar nicht um ein reines Mönchsverzeichnis gehandelt hat. Dies wird vollends klar, wenn eine weitere Vergleichsoperation durchgeführt wird. Bei der Prüfung der Listen auf die Namen von Laien, die das Kloster im 8. Jahrhundert durch Zuwendungen förderten, zähle ich mindestens zwölf einschlägige Fälle – das sind mit rund 20% sogar mehr als die Zahl der Mönche, die laut Max Schär urkundlich für die Periode Abt Otmars bezeugt sein könnten. Wenigstens einige der Namen in den Otmar- und Johannesabschnitten des Gelübdebuchs dürften deshalb ursprünglich Laien und Schenkgeber aus dem Umfeld des Klosters bezeichnet haben.98
94 Oben Anm. 22 und 23. 95 Vita s. Otmari abbatis, cap. (6.), hg. von Duft (wie Anm. 62) S. 34 f.; vgl. Duft, Die Lebensgeschichten (wie Anm. 68) S. 62 – 65; Schär, St. Galler Mönche (wie Anm. 20) Tabelle S. 18 mit den urkundlichen Nachweisen. 96 Vita s. Otmari abbatis, cap. (4.)–(5.), hg. von Duft (wie Anm. 62) S. 28 – 33; vgl. Duft, Die Lebensgeschichten (wie Anm. 68) S. 61 – 63; Schär, St. Galler Mönche (wie Anm. 20) Tabelle S. 14 sowie S. 18; Eberhard Dobler, Die Sippe des Grafen Audoin/Otwin: Fränkische Aristokraten des 7. und frühen 8. Jahrhunderts in Südalemannien, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 149, Neue Folge 110 (2001) S. 1 – 60, hier S. 50; jüngst Jordan, „Nichts als Nahrung und Kleidung“ (wie Anm. 46) S. 123 – 130, wo Lantbert allerdings als „Wohngast“, nicht als Mönch betrachtet wird. 97 Diesen Fragen und insbesondere dem Problem der mutmaßlichen Bezeugung von St. Galler Mönchen in den frühen Urkunden ohne ausdrückliche Kennzeichnung kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden; vgl. Schär, St. Galler Mönche (wie Anm. 20) S. 19 – 21. 98 In der folgenden Auflistung fasse ich einschlägige Belege aus den Abbatiaten Otmars und des Johannes zusammen, ohne Vollständigkeit anzustreben. Die jeweiligen Aussteller sind möglicherweise auch in den Mönchslisten vertreten; Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen 1 (wie Anm. 35) Nrn. 1 – 2, 5, 15 – 16, 19, 34, 42, 44 – 45, 48, 51, 62, 71.
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V Zum Schluss seien einige Ergebnisse zusammengefasst: 1. Um die Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert verfügte St. Gallen über ein einziges liturgisch-memoriales Verzeichnis von Personen, eine Liste mit rund 60 Namen, welche die Vorlage für die vorderen Seiten des Professbuchs und ebenso für die Totenliste in Reichenau bildete. Die Namenreihe enthielt sicherlich vorwiegend St. Galler Konventualen, aber eben auch Laien aus dem klösterlichen Umfeld – in welchem Zahlenverhältnis, bleibt vorerst offen. Dazu passt, dass der erschlossene Archetyp zweifellos auch die Namen der Konstanzer Bischöfe Sidonius 99 und Johannes 100 anführte, die ja beide nicht aus dem St. Galler Konvent hervorgegangen sind.101 Johannes fungierte dann allerdings etwa seit dem Jahr 760 als Rektor und Abt des Klosters an der Steinach und wurde bei der Redaktion des Archetyps für das Gelübdebuch an die Spitze der Mönchsreihe auf pag. 3 gestellt. 2. Wann der Archetyp angelegt wurde und welche Funktion er ursprünglich erfüllte, ist nicht klar ersichtlich. Es spricht jedoch einiges dafür, dass es sich um eine Auflistung verstorbener Personen nach der Art von Totenannalen handelte, die zumindest im letzten Drittel des 8. Jahrhunderts, wohl schon in der Amtszeit des besagten Abtbischofs Johannes, kontinuierlich geführt und ergänzt wurden. Möglicherweise knüpften diese St. Galler Totenannalen an ein aus älterer Zeit tradiertes Diptychon 102 an, das tatsächlich oder vermeintlich schon in der klöster lichen Liturgie der Zeit Abt Otmars gebraucht worden war. 3. Die Kompositeure der hier untersuchten St. Galler Mönchslisten im Professbuch und im Reichenauer Verbrüderungsbuch bedienten sich einer Vorlage, die nicht als Mönchsliste anzusprechen ist – auch wenn die Liste durchaus überwiegend Konventualen enthalten haben mag. Bei der Redaktion des Archetyps für das Professbuch entfernte man beispielsweise den Namen des in St. Gallen verhassten ‚Usurpators’ Sidonius, der laut der Vita s. Otmari den Abt vertrieben 99 Maurer, Das Bistum Konstanz (wie Anm. 51) S. 44 – 48. 100 Siehe oben Anm. 51; vgl. Schär, St. Galler Mönche (wie Anm. 20) Tabelle S. 16. 101 Vgl. Maurer, Das Bistum Konstanz (wie Anm. 51) S. 44 und 49; Alfons Zettler, Herrscher, Heilige, Prälaten – Wer lag im Reichenauer Münster des 8. Jahrhunderts begraben? In: Kirchenarchäologie heute. Fragestellungen – Methoden – Ergebnisse, hg. von Niklot Krohn und dem Alemannischen Institut Freiburg i. Br. (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 76, 2010) S. 155 – 184, hier S. 182 – 184. 102 Vgl. allgemein Franz-Josef Jakobi, Diptychen als frühe Form der Gedenkaufzeichnungen. Zum ‚Herrscher-Diptychon’ im Liber memorialis von Remiremont, Frühmittelalterliche Studien 20 (1986) S. 186 – 212.
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und das Kloster in die Gewalt des Konstanzer Diözesans gebracht hatte.103 Und nicht anders erging es dem in dieser Sache ebenfalls kompromittierten Mönch Lantbert. Dieser soll ja seinen Abt beim Pfalzgericht angezeigt und so für die endgültige Entfernung Otmars aus St. Gallen gesorgt haben.104 4. Die Resultate der vorliegenden Untersuchung könnten nun unter verschiedenen Aspekten historisch näher eingeordnet und bewertet werden, beispielsweise im Hinblick auf die frühe sanktgallische Gedenküberlieferung im Ganzen oder im Hinblick auf die frühe Geschichte des Klosters und des Mönchskonvents. An dieser Stelle sei aber noch einmal das Gelübdebuch in den Vordergrund gerückt, das ja nicht in erster Linie dem liturgischen Gebetsgedenken diente, um das es bei unserem Symposion geht. Wenn bei der Anfertigung dieses Buches, das ein Urkundenregister der Professen gemäß den Vorschriften der Regula Benedicti, begonnen unter Abt Otmar, vorstellt, unter anderem eine Liste aus dem Zusammenhang des liturgischen Totengedenkens ausgeschrieben wurde, die gar nicht ausschließlich Mönche enthielt, dann wird das nach den Grundsätzen der Diplomatik sicherlich als „pia fraus“ zu beurteilen sein.105 Offenbar verwendete man in St. Gallen zu Anfang des 9. Jahrhunderts viel Mühe darauf, eine Mönchsliste und sogar ein Gelübdebuch des Gründerabtes Otmar zu fabrizieren – ein Dokument, das im Ergebnis fiktiv ist. Wechseln wir indes die Perspektive und betrachten das solchermaßen entstandene Professbuch vor dem Hintergrund des liturgischen Gebetsgedenkens und der einschlägigen Aufzeichnungen, so könnte man sagen: Für den St. Galler Konvent war das erste und das wichtigste Gedenkbuch eben dieses Gelübdebuch des verehrten Klostergründers Otmar.106
103 Vgl. Zettler, St. Gallen als Bischofs- und als Königskloster (wie Anm. 61) S. 33 – 35; Maurer, Das Bistum Konstanz (wie Anm. 51) S. 46 – 48. 104 Siehe oben Anm. 96. 105 Zur (neuzeitlichen) Verfälschung von Memorialüberlieferung vgl. Karl Schmid, Nameneinträge im Codex Foroiuliensis, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München, 16.-19. Sept. 1986 (1988) Teil 1, S. 551 – 585; ferner Francesco Roberg, Gefälschte Memoria. Diplomatisch-historische Studien zum ältesten „Necrolog“ des Klosters St. Maximin vor Trier (Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte 43, 2008). 106 Zur durchaus vergleichbaren Funktion und Bedeutung der Totenannalen für den Konvent von Fulda vgl. Raaijmakers (wie Anm. 7).
Überlegungen zur Sakramentarhandschrift D 1 als Liber vitae der Essener Frauenkommunität von Thomas Schilp
I. Prolegomena Im Folgenden soll es um die berühmte Essener Sakramentarhandschrift aus der Zeit um 870 gehen, dem heute in der Universitätsbibliothek Düsseldorf aufbewahrten Codex Ms D 1.1 Diesem Codex, erweitert zum Liber vitae der um 850 gegründeten Essener Frauenkommunität, nähern sich die Überlegungen sozusagen von außen. In einiger Hinsicht werden die beiden Listen der Essener Kommunität einbezogen, die um 950 in das St. Galler Verbrüderungsbuch eingetragen worden sind.2 Eine Bemerkung vorab ist daher hinzuzufügen, um nicht falsche Hoffnungen aufkommen zu lassen: Die noch ausstehende Analyse dieser Essener Listen im St. Galler Verbrüderungsbuch kann hier nicht erfolgen; beide Listen werden allenfalls am Rande diskutiert. Im Folgenden wird vor allem auf die Namenüberlieferung des achten Jahrzehnts des 9. Jahrhunderts in der Handschrift D 1, die das Sakramentar zum
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Die Sakramentarhandschrift D 1 ist Leihgabe der Stadt Düsseldorf, Stadt- und Landesbibliothek, an die 1975 errichtete Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek. Im Folgenden ist die Vortragsform der Tagung weitgehend beibehalten und durch die nötigsten Anmerkungen ergänzt. 2 Stiftsarchiv St. Gallen, Codex Sangallensis Class. I Cist. C 3 B55 pag. 88 f.; Druck: Monumenta Germaniae Historica. Antiquitates, Necrologia Germaniae, Supplementband: Libri confraternitatum Sancti Galli, Augiensis, Fabariensis, hg. von Paul Piper (1884) S. 97. Ich danke Dieter Geuenich und Uwe Ludwig, mir den aktuellen Stand der Arbeit für die Neu-Edition der St. Galler Verbrüderungsbücher im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica zur Verfügung gestellt zu haben. Nach deren Angaben wurden die beiden Listen auch, auf die bevorstehende Neuedition hinweisend, aufgenommen in: Essener Urkundenbuch. Regesten der Urkunden des Frauenstifts Essen im Mittelalter, Band 1: Von der Gründung um 850 bis 1350, bearbeitet von Thomas Schilp (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 80, 2010) Nr. 17*.
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Liber vitae erweitert hat, und die auswertenden Überlegungen der jüngeren Forschung eingegangen. Für die Erforschung der frühen Geschichte des Frauenstifts Essen hat die Memorialforschung als Grundlagenforschung ein Basiswissen erarbeitet, ohne das die frühe Geschichte der Essener Frauengemeinschaft heute gar nicht mehr geschrieben werden kann und darf. Dies ist vor allem das Verdienst von Volkhard Huth, der 1986 in den »Frühmittelalterlichen Studien« seinen großen Aufsatz zur Düsseldorfer Sakramentarhandschrift D 1 als Memorialzeugnis mit der Edition der Namen und Namengruppen publiziert hat.3 Die Ergebnisse seiner Forschungen haben zahlreiche Fragen beantwortet, aber auch neue Fragestellungen ermöglicht und zugleich weiterführende Forschung über die Kommunität Essen generiert. In diesen Forschungen wurde einmal mehr evident, wie wichtig die Erkenntnisse aus der Analyse der Libri vitae zur Erforschung der religiösen Gemeinschaften und ihres sozialen wie politischen Umfelds im Früh- und Hochmittelalter sind. Volkhard Huth ist bei seinen Überlegungen 1986 selbstredend von dem damaligen Forschungsstand zur Gründung und den Anfängen des Stifts ausgegangen; er hat die Thesen der älteren Forschung kritisch hinterfragt, aber natürlich auch einige ältere Grundannahmen geteilt, die heute so nicht mehr gültig sein dürften. Das aber ist ja, wenn ich Max Weber mit seinem Essay, »Wissenschaft als Beruf« anführen darf,4 das Los der Geistes- und Kulturwissenschaften: Jede neue Erkenntnis generiert neue Fragestellungen, und deswegen dürften diese wissenschaftlichen Disziplinen eigentlich auch niemals zu einem endgültigen Ergebnis und Ende, nie zur Ruhe kommen. Bei aller Differenzierung in den Ergebnissen der Auswertung im Einzelnen, die sich über die Jahre gleichsam zwangsläufig ergeben haben, bleibt es ein Verdienst von Volkhard Huth, der in seiner Studie eine bis dahin mehr oder weniger nur flüchtig überflogene Memorialquelle überhaupt erst erschlossen hat: Erst mit seiner kritischen Edition konnte dieses Memorialzeugnis zuverlässig in die Diskussion einbezogen werden.5 3 Volkhard Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift D 1 als Memorialzeugnis. Mit einer Wiedergabe der Namen und Namengruppen, Frühmittelalterliche Studien 20 (1986) S. 213 – 298 und Tafeln XIV bis XXXII. 4 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winkelmann (³1968) S. 592: Das Wesen der Geisteswissenschaften, vor allem der historischen Disziplinen, bestimmte er wie folgt: »… jede wissenschaftliche ›Erfüllung‹ […] [bedeute] neue ›Fragen‹ … Wissenschaftlich […] überholt zu werden, ist […] nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck.« 5 Die Edition von: Woldemar Harleß, Die ältesten Necrologien und Namenverzeichnisse des Stifts Essen, Archiv für die Geschichte des Niederrheins 6 (1867) S. 63 – 84, weist, wie
Überlegungen zur Sakramentarhandschrift D 1
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Die Forschungsdiskussion um Gründung und Anfänge der Essener Gemeinschaft hat dabei implizit eines deutlich gezeigt, ohne dies selbst je mit Nachdruck formuliert zu haben: Es ist ein unbedingter Vorteil des Zeugniswertes dieser memorialen Schriftquelle des frühen Mittelalters, dass die Niederschrift von Namen der toten und lebenden Konventsmitglieder in Essen sowie sonstiger Personen und Personengruppen in einen Liber vitae sozusagen in einem ideologiefreien Raum, ohne Absicht über das Ziel des Totengedenkens selbst hinaus, erfolgt ist. Die Essener Namenüberlieferung im Codex D 1 war überhaupt nicht für eine Öffentlichkeit außerhalb des Stifts bestimmt – ihr Zweck war allein der interne Gebrauch für das Totengedenken; die Essener Namenüberlieferung im Essener Sakramentar war im Gegenteil bis zur Säkularisierung im Jahre 1802 vor der Öffentlichkeit verborgen, geradezu versteckt. Sehen wir einmal davon ab, dass mit der Eintragung der Namen in die Handschrift D 1 eine liturgisch gelebte Gemeinschaft von Lebenden und Toten das Ziel des Handelns und damit selbstredend eine ganz spezifische Deutung und Interpretation von Welt unterstellt war, unterscheiden sich die zur Diskussion stehenden Aufzeichnungen des Frauenstifts Essen in mancher Hinsicht von sonstigen Schriftquellen, die mit konkreten Personen, noch lebenden oder gerade verstorbenen, verknüpft waren: Die Essener Nameneinträge genügen sich selbst, sie sind allein für den meist stillen Gebrauch in der Liturgie der Konvente bestimmt und sind als solche ein fast wertfrei formuliertes Selbstzeugnis der Gemeinschaft, sowohl für die in ihr Lebenden als auch der dort bereits Verstorbenen. Die Nameneinträge in der Essener Sakramentarhandschrift argumentieren über den Gebrauch hinaus überhaupt gar nicht, sie sind nicht angelegt, um der Konkurrenz
Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) nachgewiesen hat, zahlreiche Verlesungen und Fehldeutungen auf und hat aufgrund der Verwendung chemischer Reagenzien, um zum Teil verblasste Namen wieder sichtbar zu machen (ebd., S. 69 Anm. 1), nachhaltig auch erheblichen Schaden angerichtet; für die Nachwelt nämlich wurden die von Harleß entsprechend behandelten Schriftbefunde zumeist völlig unlesbar gemacht, wie dies auch an der Abbildung insbesondere der Liste der nomina uiuorum deutlich wird (siehe Farbtaf. 30). Die frühen Arbeiten zur personalen Zusammensetzung des Essener Frauenkonvents aus der Schule von Aloys Schulte haben erstaunlicherweise die Edition von Harleß für ihre Untersuchungen gar nicht benutzt, so vor allem nicht Otto Schmithals, Drei freiherrliche Stifter am Niederrhein (Essen, Elten, Gerresheim) (phil. Diss. Bonn 1907) S. 32 ff., der für den Zeitraum von der Gründung der Essener Gemeinschaft um 850 bis 1275 ganze neun Frauen feststellte, also die Nennung von zahlreichen Sanctimonialen der beiden Listen in der Handschrift D 1 und den St. Galler Verbrüderungsbüchern völlig außer Acht gelassen hat.
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in Welt und Kirche etwas zu beweisen, dort etwas zu erreichen, dort instrumentell politisch eingesetzt zu werden. Sie verfolgen nicht die Absicht, Herrschaft zu legitimieren oder zu bestreiten, sie ruhen sozusagen in sich selbst. Die moderne Forschung erweckt die eingetragenen Namen zum Leben, indem wir Gruppen erkennen und aufeinander beziehen, über den Anlass von Gruppeneinträgen nachdenken und so weiter. Das ist bei dem erhaltenen Essener Nekrolog des ausgehenden 13. Jahrhunderts schon anders gelagert 6 – denn hier redigierte die Essener Gemeinschaft in einer konkreten politischen Situation ja ihr Totengedenken neu, wählte Personen aus, tilgte andere, die missliebig geworden waren oder missliebig erschienen, hob besondere Personen hervor et cetera – all dies hat mit Absicht, hat mit Politik zu tun, verdankt sich auch anderen Motivationen, selbst wenn das Essener Necro log ebenfalls für den internen Gebrauch reserviert war.
II. Zur Sakramentarhandschrift Volkhard Huth hat zeigen können, dass die Sakramentarhandschrift D1 zwischen 867 und 872 entstanden ist;7 die Frage, wo sie entstand und wie sie nach Essen gelangte, ist nach wie vor nicht endgültig geklärt.8 Diese Frage braucht indes hier nicht weiter zu interessieren, da es um die Einträge von Namen aus den 70er Jahren des 9. Jahrhunderts und weitere Nameneinträge gehen soll. Der Sakramentarhandschrift sind 13 Blätter vorgebunden, ein Kalendar mit necrologischen Eintragungen ist nachgebunden. Der Codex wurde mit den beiden nachgebundenen 6 Zum Necrolog siehe die ältere Edition von Konrad Ribbeck, Ein Essener Necrologium aus dem 13. und 14. Jahrhundert, Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 20 (1900) S. 31 – 135; zuletzt Thorsten Fischer, Überlegungen zur Neuanlage der Essener Memorialüberlieferung um 1300, in: Thomas Schilp (Hg.), Pro remedio et salute anime peragemus. Totengedenken am Frauenstift Essen im Mittelalter (Essener Forschungen zum Frauenstift 6, 2008) S. 261 – 284 sowie in Zukunft die Dissertation von Thorsten Fischer mit einer Neuedition des Necrologs. 7 Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 215 ff. mit der ausführ lichen Diskussion der älteren Forschung, auf die daher hier verzichtet werden kann. Auf folio 90r der Sakramentarhandschrift D 1 befindet sich ein Gebet pro beatissimo papa nostro Adriano, auf folio 90v ein Gebet pro christianissimo imperatore nostro HLUD[OUUICO]. Gleichgültig, ob Kaiser Ludwig II. († 875) oder auch Ludwig der Deutsche gemeint ist, was ebenfalls möglich wäre, bietet Papst Hadrian II. (867 – 872) einen eindeutigen zeit lichen Rahmen. 8 Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 224 ff.
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Teilen offensichtlich für Essen aufbereitet, mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar in Essen selbst, möglicherweise im nahegelegenen Kloster Werden, aber auf jeden Fall für Essen und mit großer Essener Beteiligung.9 Im Codex sind intensive Benutzungen seit dem 9. und bis in das 11. Jahrhundert dokumentiert, Spuren, denen vor allem Katrinette Bodarwé und zuletzt Meta Niederkorn-Bruck nachgegangen sind.10 Für uns sollen heute vor allem erstens die Namenlisten und Nameneintragungen sowie zweitens das Kalendarium von Interesse sein. Zudem wird weiteren verstreuten Nameneintragungen nachgegangen.
III. Die nomina vivorum und die nomina defunctorum In der Handschrift D1 sind zwei Namenlisten auf folio 10r und 10v eingetragen, die als Listen der Lebenden sowie der Verstorbenen kenntlich gemacht und wohl noch in den 70er Jahren des 9. Jahrhunderts, spätestens um 880, entstanden sind. Volkhard Huth datiert sie auf das achte Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts,11 und der Begründung seiner Datierung ist bislang nicht ernsthaft widersprochen worden. Ich konzentriere mich im Folgenden bei den Namenlisten ganz auf die Einträge der die Listen anlegenden Hand und lasse die dortigen Nachträge unbeachtet, um die Untersuchung im Rahmen zu halten. Volkhard Huth hat alle Nameneinträge in die Essener Sakramentarhandschrift mustergültig ediert und aufgeschlüsselt, sortiert sowie eingeordnet;12 es soll hier in erster Linie auf die Einträge aus den 70er Jahren des 9. Jahrhunderts ankommen. Auf folio 10r ist eine Liste unter der Überschrift nomina vivorum (Farbtaf. 30) eingetragen, es folgt auf der Rückseite des Blattes eine Liste der nomina defunctorum (Farbtaf. 31). Beide Listen werden von Äbtissinnen angeführt, die den Namen Gersuith führen. Das bringt erste Ordnung in das Dunkel der frühen Essener Äbtissinnenfolge. Zwei Äbtissinnen gleichen Namens führten den Konvent seit 9 Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 226 ff. 10 Katrinette Bodarwé, Sanctimoniales Litteratae. Schriftlichkeit und Bildung in den otto nischen Frauenkommunitäten Gandersheim, Essen und Quedlinburg (Quellen und Studien. Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen 10, 2004) S. 389 – 392; Meta Niederkorn-Bruck, Verschriftlichung von Erinnerung im Kontext der Liturgie. Überlegungen zum ältesten Essener Sakramentar D1, in: Schilp, Pro remedio (wie Anm. 6) S. 163 – 190. 11 Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 245. 12 Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 241 – 279; siehe dort auch S.290 – 298 das Lemmatisierte Personennamenregister.
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der Gründung um 845/850 nacheinander durch die ersten rund drei Jahrzehnte der Geschichte der Kommunität.13 Von gleicher Hand steht über der ersten Kolumne der nomina vivorum, von späteren Nachträgen eingerahmt: AITULFUS, hinter dem sich wohl der Schreiber der beiden Listen verbirgt. Dieser Name ist im Unterschied zu den sonstigen Namen der Sanctimonialen der Lebendenliste und auch der Namen der Totenliste nicht sächsischen Ursprungs; vermutlich dürfte es sich um einen der frühen Essener Geistlichen handeln,14 der aber in der sonstigen Essener Überlieferung nicht bezeugt ist. Angeführt von Gersuith abbatissa folgen in der Lebendenliste 70 weitere Frauen namen, so dass nichts gegen die inzwischen oft geäußerte Ansicht sprechen dürfte,15 dass hier nach der Äbtissin Gersuith II . der Essener Frauenkonvent kurz nach dem Jahr 874 aufgelistet ist. Allein schon die hohe Zahl der Sanctimonialen lässt erstaunen. Diese findet eine nachdrückliche Bestätigung in der Liste von lebenden Essener Konventsmitgliedern unter der Führung von Äbtissin Hathuuig, die um 950 in das St. Galler Verbrüderungsbuch mit 114 Sanctimonialen eingetragen wurde. Im St. Galler Verbrüderungsbuch folgt im Übrigen eine Liste verstorbener Sanctimonialen, angeführt von Äbtissin Uuigburg,16 die urkundlich in einem Diplom Zwentibolds aus dem Jahre 89817 bezeugt ist. Die St. Galler Verstorbenenliste führt 149 Frauennamen auf, die sich zum Teil mit der Lebendenliste aus der Essener Sakramentarhandschrift überschneiden, wie schon Gerd Althoff gezeigt hat.18
13 Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 245. 14 Der Name ist eindeutig nicht sächsischen Ursprungs, wie Wolfgang Haubrichs dankenswerterweise in der Diskussion der Tagung hervorhob. Zum exponierten Eintrag siehe auch Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 243. 15 Etwa Thomas Schilp, Liturgisches Gedenken zur Bewältigung einer Krisensituation: Überlegungen zu den Namenlisten in einer Essener Sakramentarhandschrift des 9. Jahrhunderts, in: Mittelalter an Rhein und Maas. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins. Dieter Geuenich zum 60. Geburtstag, hg. von Uwe Ludwig / Thomas Schilp (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 8, 2004) S.57 – 68, hier S.63; ders., Ecclesia, in qua nobilissime domicelle existunt. Soziale Differenzierung des Essener Frauenkonvents im Spätmittelalter, in: Frauen bauen Europa. Internationale Verflechtungen des Frauenstifts Essen, hg. von Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift 9, 2011) S. 341 – 367, hier S. 349 ff. mit den Hinweisen auf die weiterführende Literatur. 16 Siehe hierzu oben Anm. 2. 17 Edition zuletzt: Essener Urkundenbuch (wie Anm. 2) Nr. 10. 18 Gerd Althoff, Adels- und Königsfamilie im Spiegel ihrer Memorialüberlieferung. Studien zum Totengedenken der Billunger und Ottonen (Münstersche Mittelalter-Schriften 47)
Überlegungen zur Sakramentarhandschrift D 1
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Doch kehren wir zurück zur Sakramentarhandschrift D1 (Farbtaf. 31): Die Liste der nomina defunctorum – zur Erinnerung: eingetragen im achten Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts – verzeichnet in der ersten Kolumne 24 Frauennamen, es folgen dann in den weiteren Kolumnen Namen von Frauen und Männern durcheinander. Es ist also mehr als wahrscheinlich, dass in der ersten Kolumne die in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung verstorbenen Essener Sancti monialen aufgeführt sind. Berücksichtigen wir, dass es eine Zeit brauchte, bis die Gebäude für die Kommunität errichtet und die Infrastruktur so weit gediehen war, dass der Konvent voll funktionsfähig leben konnte, so ist die Zahl von 24 verstorbenen Sanctimonialen in den ersten 25 – 30 Jahren der Geschichte der Kommunität durchaus als plausibel einzuschätzen. Die in der Liste folgenden und von der anlegenden Hand eingetragenen Namen von Frauen und Männern, derer gedacht werden sollte, dürfen wir wohl der Gründergruppe sowie den Wohltätern und Förderern der jungen Gemeinschaft zurechnen; auch der eine oder andere Kleriker der Frauenkommunität dürfte darunter zu suchen sein. In der Liste fallen einige Namen auf, etwa: Alfrik oder Altfrith, die auf den Kreis der Gründer weisen könnten. Mit Altfrith dürfte aber keinesfalls Bischof Altfrid von Hildesheim gemeint sein, dessen an anderer und exponierter Stelle in der Sakramentarhandschrift gedacht wird.19 Weiter möchte ich die Analyse der beiden Listen hier nicht fortsetzen, nur anfügen: Bei der Analyse der Namenüberlieferung bleiben wir rasch regelrecht stecken, die Personen hinter den Namen bleiben ohne Konturen; bislang sind so gut wie keine Identifizierungen gelungen, sehen wir einmal von den ersten beiden Äbtissinnen Gersuith (I.) und Gersuith (II.), die die Forschung stets der Gruppe um Altfrid von Hildesheim zuordnet, und einer Sanctimoniale Amalburg ab.20
München 1978 S. 136 f.; ders., Unbekannte Zeugnisse vom Totengedenken der Liudolfinger, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 32 (1976) S. 370 – 404, hier S. 400 f. 19 Siehe hierzu unten, Eintragung in das Kalendar. 20 Der Name Amalburg/Amulberg begegnet so in der Lebendenliste der Handschrift D 1 zweimal; in der dritten, kurz nach 864 entstandenen Vita Liudgers – zur Datierung siehe Die Vitae sancti Liudgeri, hg. von Wilhelm Diekamp (Geschichtsquellen des Bistums Münster IV, 1881) S. LI – LIII – , des Gründers des Klosters Werden, wird von einem jungen Mädchen Amalburg berichtet, das nach einer Wunderheilung in monasterio sanctimonialium, quod Astnithi appellatur, ein religiöses Leben führte; sie war Tochter eines gewissen Albericus (Diekamp, S. 126 f.). Der Name Amalburg/Amulberg findet in der Essener Memorialüberlieferung wiederholt Erwähnung: Besonders hervorzuheben ist der Eintrag des Namens in der Vere-Dignum-Initiale der Handschrift D 1 (folio 191r). Zu erwähnen ist auch die Eintragung in das Borghorster Nekrolog, siehe die Edition:
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Für die ersten rund 100 Jahre der Essener Kommunität sind etwa 360 – 370 Sanctimonialen in den verschiedenen Namenlisten aufgeführt. Rechnen wir die Doppelnennungen heraus, sind es immer noch rund 330 Sanctimonialen. Franz Josef Felten hat gezeigt,21 dass wir mit der sozialen Einordnung der Mitglieder frühmittelalterlicher Frauengemeinschaften viel vorsichtiger sein sollten als die ältere Forschung.22 Die vornehme Zusammensetzung des Essener Konvents im Früh- und Hochmittelalter begründete Otto Schmithals 1907 etwa allein mit den drei Äbtissinnen Mathilde, Sophia und Theophanu aus ottonischem Hause.23 Die These hat allein aus den großen Namen der Äbtissinnen der ottonischen Zeit sowie aus der gesicherten hochadligen Herkunft der Essener Kanonikerinnen in der frühen Neuzeit 24 auf einen kontinuierlichen hochadligen Damenkonvent des Stifts von der Gründung bis zur Säkularisation 1802 geschlossen. Schon das Attribut hochadelig bietet über den Zeitraum von knapp 1000 Jahren Essener Geschichte keine Konstante und ist äußerst problematisch. Inzwischen wissen wir, dass die sozialen Differenzierungsprozesse der Gemeinschaft zwar früh einsetzen, aber nur ganz allmählich im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts die soziale
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Das Necrolog von Borghorst. Edition und Untersuchung, von Gerd Althoff mit einem Beitrag von Dieter Geuenich (Westfälische Gedenkbücher und Necrologien 1, Veröffent lichungen der Historischen Kommission für Westfalen 40, 1978) S. 144, und in der Essener Verstorbenenliste des St. Galler Verbrüderungsbuchs (siehe oben Anm. 2). Eine Identifizierung einer Person mit Amalburg/Amulberg in der Vita Liudgeri muss indes unsicher bleiben. Franz Josef Felten, Wie adelig waren Kanonissenstifte (und andere weibliche Konvente) im (frühen und hohen) Mittelalter, in: Studien zum Kanonissenstift, hg. von Irene Crusius (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 167. Studien zur Germania Sacra 24, 2001) S. 39 – 128. Das Urteil geht zurück auf die Adelsforschungen von Aloys Schulte und dessen Schülerkreis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, siehe Aloys Schulte, Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter. Studien zur Sozial-, Rechts- und Kirchengeschichte (Kirchenrechtliche Abhandlungen 63 und 64, 1910). Hierbei ist grundsätzlich anzumerken, dass Schulte die religiösen Gemeinschaften nicht an sich zum Gegenstand hatte; diese dienten vielmehr als willkommenes Material für die Erforschung des Adels, wobei vor allem Indizien für die Differenzierung in hohen und niederen Adel im Vordergrund des Analyse standen. Siehe Schmithals, Drei freiherrliche Stifter (wie Anm. 5) S. 36 – 38; zur Kritik siehe ausführ lich Schilp, Ecclesia (wie Anm. 15) S. 348 ff. mit Hinweisen auf weiterführende Literatur. Siehe hierzu Schilp, Ecclesia (wie Anm. 15) S. 362 – 364, sowie eigene Arbeiten resümierend und weiterführend Ute Küppers-Braun, …que les Meres, grandes et arrieres grandes Meres doivent être Princesses ou Comtesses d’Empire. Soziale Differenzierungen in Essen und Thorn: Frühe Neuzeit, in: Frauen bauen Europa (wie Anm. 15) S. 369 – 387.
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Qualifizierung durch Ahnennachweis Voraussetzung der Aufnahme in das Stift wurde.25 Die rund 330 bekannten Sanctimonialen des ersten Jahrhunderts der Essener Kommunität können jedenfalls – schon quantitativ gesehen – unmög lich alle von gehobener aristokratischer Herkunft gewesen sein.
IV. Kalendar Das nachgebundene Kalendar der Handschrift D 1 weist von der anlegenden Hand sieben necrologische Einträge auf, auf die ich mich hier beschränken möchte. Es handelt sich um die Todestage der Hildesheimer Bischöfe Reinbert († vor 846/847) zum 12. Februar, Ebo († 851) zum 20. April, Gunthar († wohl 834) zum 5. Juli sowie Altfrid († 15. August 874) zum 15. August.26 Das Kalendar scheint bald nach dem Tode Altfrids in einem Zuge niedergeschrieben worden zu sein. Zum 5. Juli wurde zusammen mit Bischof Gunthar der Priester Wandelbert, zum 2. August Alfricus laicus, zum 1. Oktober Reinbertus presbyter und schließ lich zum 30. Dezember Gersuit ancilla Christi eingetragen. Bei letzterer handelt es sich sehr wahrscheinlich um die erste Essener Äbtissin Gersuith, die ebenso wie Alfricus laicus der Verwandten- und Gründergruppe rund um Altfrid von Hildesheim zugeordnet werden dürfte. Von gleicher Hand, aber aufgrund der Tinte wohl etwas später hinzugefügt, ist zum 6. April Thiadulf, aus dem Volkhard Huth mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Oheim Altfrids konstruiert,27 eine Annahme, für die es eigentlich keine Anhaltspunkte gibt und die immanent auch seiner eigenen Kritik an der Konstruktion der Eltern Altfrids durch die Essener Traditionen seit dem 16. / 17. Jahrhundert – und folgend durch die moderne
25 Siehe hierzu die Untersuchung von Schilp, Ecclesia (wie Anm. 15) S.360 – 365. 26 Obwohl auf dem gleichen Pergament geschrieben, handelt es sich bei dem Kalendar aus inhaltlichen Gründen um einen etwas späteren Nachtrag: Dessen Schreiber hat sieben nekrologische Einträge vorgenommen, unter denen der Todestag Bischof Altfrids von Hildesheim am 15. August 874 eindeutig belegt, dass das Kalendar erst nach dem 15. August 874 entstanden sein kann – das Kalendar entstand also frühesten zwei Jahre nach der anzunehmenden Anlage (867 – 872) des Hauptteils des Sakramentars. Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 279, nimmt mit überzeugenden Argumenten an, dass das Kalendar von einem der Essener Kleriker konzipiert und geschrieben worden ist. Zu den Nameneinträgen in das Kalendar siehe ebd. S. 274 f. mit den Tafeln XXI ff. 27 Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 275.
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Forschung – widerspricht.28 Eltern von Altfrid begegnen in der Handschrift D 1 jedenfalls nicht, auch nicht deren Namen in irgendeiner Form an einer exponierteren Stelle, geschweige denn in einem Zusammenhang, auch nicht, dass Gersuith eine Schwester Altfrids gewesen sein könnte, was Volkhard Huth in anderem Kontext ebenfalls als Grundtatsache der Essener Geschichte unterstellt.29 Alle diese Familienkonstruktionen sind höchstens vage Annahmen, die bis heute freilich immer wieder als Tatsachen behauptet werden und als von der „Moderne“ herbeigesehnte Verplausibilisierung und als willkommene Urteile kaum auszurotten sind.30 Auch können wir die Gründergruppe nicht näher zuordnen 31 – alle bisherigen Zuweisungen zu einer Gruppe oder Dynastie 32 bleiben vage und soll28 Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 249. 29 Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 245. 30 So geht zuletzt auch die konstruktive Studie von Clemens Kosch, Die romanischen Kirchen von Essen und Werden. Architektur und Liturgie im Hochmittelalter (2010) S. 13, davon aus, dass die erste Essener Äbtissin Gersuith eine Schwester des Gründers, näm lich von Bischof Altfrid von Hildesheim, gewesen sei. 31 Siehe hierzu die kurze Auflistung der wichtigsten Thesen der Forschung und deren Widerlegung bei Hedwig Röckelein, Altfrid, Gründer des Stifts Essen und international agierender Kirchenmann?, in: Frauen bauen Europa (wie Anm. 15) S. 27 – 64, hier S. 35 ff.; ich kann mich mit diesem Hinweis im Folgenden auf das Wichtigste beschränken., 32 So etwa die Zuweisung Altfrids in den Familienkreis der Liudolfinger, siehe vor allem Walther Zimmermann, Das Münster zu Essen (Die Kunstdenkmäler des Rheinlands 3, 1956) S. 40; Reinhard Wenskus, Sächsischer Stammesadel und fränkischer Reichsadel (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften Göttingen, philologisch-historische Klasse, 3. Folge Nr. 93, 1976) S. 107 f.; Hans Goetting, Die Hildesheimer Bischöfe von 815 bis 1221 (1227) (Germania Sacra, Neue Folge 20, Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz: Das Bistum Hildesheim 3, 1984) S. 85 f. Seither wird diese These immer wieder wiederholt, so auch von Ludger Körntgen, Zwischen Herrschern und Heiligen. Zum Verhältnis von Königsnähe und Eigeninteresse bei den ottonischen Frauengemeinschaften Essen und Gandersheim, in: Herrschaft, Liturgie und Raum. Studien zur mittelalterlichen Geschichte des Frauenstifts Essen, hg. von Katrinette Bodarwé / Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift 1, 2002) S. 7 – 23. Hierbei handelt es sich um Fehlannahmen, für deren Widerlegung auf Paul Derks, Gerswid und Altfrid. Zur Überlieferung der Gründung des Stiftes Essen, Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 107 (1995) S. 33 – 42, und aus Gandersheimer Sicht auf Christian Popp, Der Schatz der Kanonissen. Heilige und Reliquien im Frauenstift Gandersheim (Studien zum Frauenstift Gandersheim und seinen Eigenklöstern 3, 2010) S. 25 hinzuweisen ist. Die Vermutung einer Verwandtschaft Altfrids mit den Ekbertinern von Richard Drögereit, Von Altfrid bis Theophanu, Teil 4: Altfrid bis zur Gründung Essens, Münster am Hellweg 5 (1952) S. 162 – 167, hier S. 162, oder
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ten schlicht und einfach so lange unterlassen werden, bis stichhaltige Indizien plausiblere Annahmen formulieren lassen. Herausragend für die frühe Geschichte der Essener Kommunität ist und bleibt selbstredend der Eintrag Altfrids in das Kalendar (vgl. Farbtaf. 32). Warum aber wurden die Todestage von dessen Vorgängern im Amt des Hildesheimer Pontifikats ebenfalls im Necrolog unserer Essener Sakramentarhandschrift genannt? Auf diese Frage wird zurückzukommen sein. Der interessanteste und kurz nach dem 15. August 874 entstandene Eintrag des Kalendars ist zweifellos der Todestag Bischof Altfrids von Hildesheim, der – wie Meta Niederkorn-Bruck vor einigen Jahren noch einmal eindrucksvoll gezeigt hat – von der das Kalendar anlegenden Hand stammt.33 Damit ergibt sich aus der Auswertung der Namen in der Handschrift D 1, die im achten Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts eingetragen worden sind: eine sichere Gründergruppe um Altfrid von Hildesheim, wohl mit den beiden Klerikern sowie mit Alfricus laicus und sicher mit der ersten Äbtissin Gersuith. Ergänzen dürfen wir diese Gruppe mit der einen oder anderen Person aus dem Kreis der nomina defunctorum, die neben Essener Sanctimonialen sicher Personen aus der Gruppe der Gründer und Wohltäter enthält, ohne dies jedoch für den Einzelfall konkretisieren zu können. Auf jeden Fall dürften zu diesem Kreis Alfrik oder Altfrith, sicher auch Gersuith, die zweite Essener Äbtissin, hinzukommen. Das Epitaph der ersten Äbtissin Gersuith ist zwar nur abschriftlich überliefert, da es beim Abbruch der Essener Quintinskapelle im beginnenden 19. Jahrhundert verloren ging. Dort wurde nämlich in einer Inschrift, die wiederholt
von Wenskus, Sächsischer Stammesadel (siehe oben in dieser Anmerkung) S. 107 f. (hier wird auch eine Verwandtschaft zur Ricdag-Sippe angenommen) entbehrt jeder Grundlage. Die Vermutung von Karl Schmid, die auch Röckelein, Altfrid (wie Anm. 31) S. 36 f. oder Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 284 f. stützen, Altfrid habe möglicherweise dem Verwandtenkreis der Liudgeriden angehört, hat außer der räumlichen Nähe und der Tatsache, dass bei den Liudgeriden der Name Altfrid häufiger begegnet, eigentlich keine Plausibilität (siehe die vorsichtig formulierte Vermutung von Karl Schmid, Die „Liudgeriden“. Erscheinung und Problematik einer Adelsfamilie, in: Geschichtsschreibung und geistiges Leben im Mittelalter. Festschrift für Heinz Löwe zum 65. Geburtstag, hg. von Karl Hauck / Hubert Mordek (1978) S. 71 – 101, hier S. 86: „Das schließt nicht aus, daß Bischof Altfrid von Hildesheim auch in anderen Beziehungs- und Bewußtseinsfeldern verflochten und verankert gewesen sein wird.“). 33 Niederkorn-Bruck, Verschriftlichung von Erinnerung (wie Anm. 10) S. 186 – 188.
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abschriftlich, unter anderem von Leibniz, überliefert ist,34 Äbtissin Gersuith gerühmt als Prima monasterium fundans. Diese Formulierung hat Paul Derks zu kühnen Konstruktionen und Thesen veranlasst:35 Die Epitaph-Inschrift nahm er zum Anlass, allein Gersuith um 850 als Gründerin Essens zu behaupten. Altfrid, seit 851 Bischof von Hildesheim, könne daher gar nichts mit der Gründung zu tun haben und sei erst später in den Vorgang der Gründung und Anfänge der Kommunität hinein manipuliert worden. Allenfalls kurz vor seinem Tode habe er die Essener Gemeinschaft usurpiert und für das Bistum Hildesheim nutzbar gemacht.36 Diesen Thesen von Derks wurde rasch widersprochen,37 da er die zeitnahen Memorialzeugnisse in der Essener Sakramentarhandschrift D 1 einfach überging. Die wichtigsten Einwände gegen diese Hypothesen – und folgend die Widerlegung der Annahmen von Derks – bilden die Fragen: Wieso bestatteten die Essener Sanctimonialen den vermeintlichen Usurpator in ihrer Stiftskirche an zentralem Ort vor dem Kreuzaltar und verehrten ihn dort sogleich auch noch als Heiligen? Wieso nahmen sie Altfrid in das zum Liber vitae erweiterte Sakramentar D 1 auf und trugen seinen Todestag dort unmittelbar nach Altfrids Tod in das Kalendar und an anderen Stellen der Handschrift ein? Wie sollte es mög lich sein, dass in das Kalendar eine fremde, dem Konvent fernstehende Person ohne Essener Widerstand eingegriffen hat? Die nach der These von Derks nur gewaltsam vorgenommenen Einträge des Namens Altfrid in das Kalendarium hätten doch auch getilgt werden können!
34 Derks, Gerswid und Altfrid (wie Anm. 32) S. 17, hat die verlorene Inschrift philologisch überprüft und wie folgt rekonstruiert: Quisquis in hoc templo Christum reverenter adorat, Sit simul ipse memor Gersuuidae istic tumulatae. Haec aliis dives, pauper sibi rebus alumnis Prima monasterium fundans erexerat istud. Exemplisque regens sanctis monumenta reliquit Clara sui, rerum lucris et dogmatae morum. 35 Zur ausführlichen Kritik an den Überlegungen von Paul Derks siehe Thomas Schilp, Gründung und Anfänge der Frauengemeinschaft Essen, Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 112 (2000) S. 30 – 63; ders., Die Gründungsurkunde der Frauenkommunität Essen – eine Fälschung aus der Zeit um 1090, in: Studien zum Kanonissenstift (wie Anm. 21) S. 149 – 184, hier S. 153 f.; ders., Liturgisches Gedenken (wie Anm. 15) S. 59 ff. 36 Derks, Gerswid und Altfrid (wie Anm.32), zusammenfassend vor allem S. 157. 37 Siehe Anm. 35
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V. Verstreute Einträge: Bischofslisten Kommen wir noch einmal auf den Eintrag Altfrids in das Kalendar zurück: Allein die Eintragung des Todestages von Altfrid dort weist dem Bischof von Hildesheim im Gegenteil zu den erwähnten Thesen von Paul Derks eine herausragende Bedeutung zu – als profilierteste Persönlichkeit der Gründergruppe wird er von der Essener Gemeinschaft offenbar nach seinem Tode verehrt und bekommt einen gebührenden Platz im Totengedenken der Kommunität zugewiesen. Dafür spricht im Übrigen auch, dass Altfrid mit anderen Bischöfen über der Liste der nomina vivorum eingetragen worden ist (vgl. Farbtaf. 30). Nachdenk lich muss diese Liste stimmen, die einige Jahrzehnte später, paläographisch nur ungenau auf (um 900) zu datieren,38 hier nachgetragen wurde: Sie nennt [Ans]gerus archiepiscopus, Liudbertus episcopus, L[i?]uthar[tus?] episcopus, U[ui]llibertus archiepiscopus, S[undaro]ldus archiepiscopus, Herimannus archiepiscopus, Bernheri episcopus, Rimbertus archiepiscopus, Altfridus episcopus, S[ig]imundis episcopus, Uuigb[ertus episcopus]. Volkhard Huth hat diesen Eintrag analysiert und die Bischöfe identifiziert 39 – das kann und will ich hier nicht im Einzelnen wiederholen. Auffällig ist, dass vor allem in einer ersten Gruppe die Bischöfe genannt sind, die gleichzeitig mit Bischof Altfrid von Hildesheim amtierten, und in der um 1090 gefälschten Gründungsurkunde Bischof Altfrids als Zeugen begegnen;40 in einer zweiten Gruppe finden wir hier Zeitgenossen Bischof Wigberts von Hildesheim, der von 880 bis 908 amtierte.41 Für die erste Bischofsgruppe ist anzuführen, dass diese die These der Forschung stützt, dass es um 870 eine „echte“ Urkunde Altfrids für Essen gegeben haben dürfte,42 die die Essener Gründung sozusagen abgeschlossen hat und die bei einem Stiftsbrand 94643 vernichtet wurde.
38 Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 250 – 254. 39 Ebd.. S. 252 f. Siehe hierzu auch Bodarwé, Sanctimoniales Litteratae (wie Anm. 10), S. 45 und Schilp, Liturgisches Gedenken (wie Anm. 15) S. 61 f. 40 Edition der Urkunde zuletzt in Essener Urkundenbuch (wie Anm. 2) als Regest Nr. 6 und Volltextedition ebd. Anhang Nr. I. 41 Zum Pontifikat siehe Goetting, Die Hildesheimer Bischöfe (wie Anm. 32) S. 122 – 132. 42 Siehe die die älteren Forschungen zusammenfassende Überlegung bei Schilp, Die Gründungsurkunde (wie Anm. 35) S. 164 ff. 43 Siehe die Hinweise in den Kölner Annalen zu 946: Astnide crematur (Annales Colonienses a. 776 – 1028, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 1, hg. von Georg Heinrich Pertz (1826) S. 98; Annales Colonienses breves a. 814 – 964, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 16, hg. von Georg Heinrich Pertz (1859) S. 731. Den Stiftsbrand des Jahres 946 erwähnt auch das Diplom Ottos I. aus dem Jahre 947, mit dem Privilegien
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Die bischöflichen Zeugen der anzunehmenden, die Gründung abschließenden Urkunde wurden mit dem Eintrag in das Gebetsgedenken der Essener Gemeinschaft aufgenommen. Auffällig war zudem im Kalendar bereits, dass sich die Vorgänger Altfrids in Hildesheim, die ersten drei Bischöfe Gunthar, Reinbert und Ebo, unter den sieben Namen-Eintragungen der anlegenden Hand befinden. Daraus können wir schließen, dass im achten Jahrzehnt in Essen ganz bewusst eine Anbindung an das Bistum Hildesheim gesucht und gepflegt worden ist. Einiges spricht dafür, dass Essen noch zu Lebzeiten Altfrids an das Bistum Hildesheim übertragen worden ist – in welcher Rechtsform auch immer dies geschehen sein mag. Vielleicht, und meines Erachtens sehr wahrscheinlich, erfolgte dies ebenfalls mit der anzunehmenden echten Gründungsurkunde Altfrids im Jahre 870, um die Essener Gemeinschaft für die Zukunft abzusichern, wie dies auch das Chronicon episcoporum Hildesheimensium vermerkt.44 In den Jahrzehnten nach dem Tode Altfrids jedenfalls wurde Essen immer wieder von Hildesheimer Bischöfen gleichsam als Eigenstift außerhalb der Diözese beansprucht. Dies wissen wir aus der Hildesheimer Chronistik und auch aus Urkunden, die nur verderbt in spätmittelalterlichen Abschriften überliefert sind. König Arnulf gab Bischof Wigbert danach unter anderem auch Essen in die potestas des Bistums Hildesheim zurück.45 König Ludwig das Kind hat dieses Diplom kurz darauf bestätigt.46 Als ein weiteres Indiz dürfte eine Liste in der Essener Sakramentarhanschrift D 1 auf folio 191 zu werten sein, die die ersten vier Hildesheimer Bischöfe, also einschließlich des Bischofs Altfrid, mit ihren Todestagen, und sodann Uuandelbertus presbyter an der Spitze von zwanzig weiteren Männern erfasst, die bislang nicht näher identifiziert werden konnten.47 Nur vermuten können wir, dass sich die Männernamen auf Hildesheimer Domkanoniker beziehen und wir es hier mit einem Hildesheimer Memorialeintrag zu tun haben. Auffällig ist, dass die Hildesheimer Bezüge nach Essen mit Wigbert, der 908 starb, aufhörten, ja jäh abbrachen.48 Die zweite Bischofsgruppe über der Liste der nomina uiuorum könnte also möglicherweise
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und Güterschenkungen an das Stift bestätigt werden, Edition zuletzt Essener Urkundenbuch (wie Anm. 2) Regest Nr. 15 und Volltextedition ebd. Anhang Nr. II. Chronicon episcoporum Hildesheimensium, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 7, Chronica et gesta aevi Salici, hg. von Georg Heinrich Pertz u. a. (1846) S. 851. Essener Urkundenbuch (wie Anm. 2) Nr. 11*. Essener Urkundenbuch (wie Anm. 2) Nr. 12*. Vgl. hierzu Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 267 mit Tafel XIX. Siehe hierzu Schilp, Liturgisches Gedenken (wie Anm. 15) S. 61 f.
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auf eine Urkunde Bischof Wigberts für Essen Bezug nehmen – die Zeugen dieser Urkunde wären dann analog zur Gründungsurkunde Altfrids in das Totengedenken einbezogen und zu diesem Zweck in die Sakramentarhandschrift eingetragen worden – dies erscheint aufgrund der Platzierung über den nomina uiuorum in der Essener Sakramentarhandschrift D 1 durchaus plausibel. Wieso aber sah Altfrid sich offensichtlich gedrängt, die Übertragung Essens an das Bistum Hildesheim vorzunehmen? Die Beantwortung auch dieser Frage können wir nur hypothetisch zu erschließen versuchen: Es hat den Anschein, dass mit der Generation von Altfrid und Äbtissin Gersuith II. die Gründergruppe ausgestorben ist – die Kommunität verlor damit den wirkungsvollsten Schutz – und dies wurde sicher von den Essener Akteuren als eine Gefährdung und bevorstehende Krisensituation verstanden. Die Erweiterung des Sakramentars zum Liber vitae, die Einträge aller lebenden und verstorbenen Mitglieder der Kommunität sowie aller Förderer und Wohltäter der Gemeinschaft deuten auf die Bewältigung einer Krisensituation, die durch die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten überwunden werden sollte. Die Memoria für die Gründergruppe und die zusätzliche Fixierung der Bischöfe von Hildesheim im Gebetsgedenken stellten das Fundament der eigenen Gemeinschaft her. Die Listen dienten in diesem Sinne der Selbstvergewisserung und mentalen Sicherung des Essener Konvents, in einer Situation, die durch den Tod Altfrids und Gersuiths I. und mit der Äbtissin Gersuith II. offensichtlich mit dem Aussterben der Gründergruppe konfrontiert war – und diese Situation wurde von der Essener Kommunität als bedrohlich empfunden. Ausgehend von der Anbindung Essens an das Bistum Hildesheim, ins Werk gesetzt wohl mit der verlorenen echten Gründungsurkunde Altfrids aus dem Jahre 870, sind die mehrfachen Einträge der ersten vier Hildesheimer Bischöfe, immer endend mit Altfrid, in der Handschrift D 1 zu verstehen: Nach dem Aussterben der Gründergruppe fehlte der Essener Kommunität die weltliche Stütze. Daher suchte die Essener Gemeinschaft bei den Hildesheimer Bischöfen Schutz und Sicherheit. Deswegen trugen sie die Namen der Hildesheimer Bischöfe in den Liber vitae ein. Fast im gleichen Atemzug können wir im Übrigen feststellen, wie die Liudolfinger sich seit 876/877 bemühten, auf die Region des heutigen Ruhrgebiets auszugreifen; sowohl für das Kloster Werden als auch für die Essener Gemeinschaft können wir dies feststellen. Es handelt sich um Bemühungen, die im Falle Essens um 900 erheblich intensiviert wurden.49 Der liudolfingische Einfluss in
49 Siehe hierzu ausführlich Schilp, Liturgisches Gedenken (wie Anm. 15) S. 66 mit den Hinweisen auf die weiterführende Literatur.
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Essen ist um 900 deutlich spürbar, und dies dürfte sowohl eine Erklärung dafür bieten, warum Bischof Wigbert von Hildesheim die Hildesheimer Bemühungen bezüglich Essens intensiviert hat, als auch plausibel machen, warum seine Nachfolger diese Bemühungen gar nicht mehr unternahmen: Die Ottonen hatten sich schlicht und einfach hinsichtlich der Kommunität Essen durchgesetzt, und dagegen konnten und wollten die Hildesheimer Bischöfe nicht angehen. Damit sind wir aber eigentlich bei einem neuen Thema angelangt, das einen eigenen Aufsatz verdienen würde. Im Essener Sakramentar D 1 jedenfalls begegnen die Liudolfinger/Ottonen noch nicht. Deren Totengedenken in Essen wurde später auf andere Weise dokumentiert – aber auch das wäre ein anderes und neues Thema.
Exkurs Eine Beobachtung zum Umfeld des Kalendars der Essener Sakramentarhandschrift D 1 möchte ich in einem kurzen Exkurs anfügen: Hedwig Röckelein hat kürz lich die ältere und von der Forschung in der Regel übernommene These kritisch hinterfragt,50 Altfrid habe die Reliquien der Heiligen Cosmas und Damian aus Rom nach Essen gebracht, als er im Auftrag König Ludwigs des Deutschen während des Pontifikats von Sergius II. (844 – 847) oder von Hadrian II. (867 – 872) in Rom weilte.51 Für diesen Romaufenthalt Altfrids fehlt freilich jeglicher Hinweis in den Schriftquellen. Hedwig Röckelein hat ferner darauf hingewiesen, dass für Essen das Cosmas- und Damian-Patrozinium „zuverlässig erst mit dem Privileg König Zwentibolds vom 8. Juni 898“ 52 nachgewiesen werden könne.53 Da die Reliquien der beiden Heiligen in Hildesheim mit Sicherheit bereits 872 vorhanden gewesen seien, „nämlich zum Datum der Domweihe am 1. November“,54 nimmt Hedwig Röckelein nun an, dass die Cosmas- und Damian-Reliquien
50 Röckelein, Altfrid (wie Anm. 31) S. 50 – 63. 51 Diese These wurde von Egon Boshof / Heinz Wolter, Rechtsgeschichtlich-diplomatische Studien zu frühmittelalterlichen Papsturkunden (Studien und Vorarbeiten zur Germania Pontificia 6, 1976) S. 89 f. formuliert, ohne Quellen anführen zu können. Goetting, Die Hildesheimer Bischöfe (wie Anm. 32) S. 90 f. und S. 107 hat dies weitgehend unkritisch übernommen. 52 Röckelein, Altfrid (wie Anm. 31) S. 51. 53 Edition zuletzt: Essener Urkundenbuch (wie Anm. 2) Nr. 10. 54 Röckelein (wie Anm. 31) S. 52 unter Hinweis auf Chronicon Hildesheimense, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 7, Chronica et gesta aevi Salici, hg. von Georg Heinrich Pertz u. a. (1846) S. 943.
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zwischen 872 und 898 und eher gegen 898 nach Essen gelangt sein dürften. Sie führt auch an, dass das Fest der Heiligen Cosmas und Damian zum 27. September auch schon im Kalendar des Essener Sakramentars vermerkt sei, der Eintrag stamme „aber von der anlegenden Hand und geht damit wohl nicht auf Essener Ursprünge zurück“.55 Da das Kalendar gerade nicht von einer der drei (sic!) anlegenden Hände 56 geschrieben wurde, sondern als nachgetragen klassifiziert werden muss,57 erfordert dieses Urteil insgesamt eine kritische Überprüfung. Viermal begegnen Cosmas und Damian in der Essener Sakramentarhandschrift. Der Eintragung der beiden Heiligen im nachgebundenen Kalendar zum 27. September,58 die für die Zeit um 870 durchaus dem Usus entspricht, gehen in der Handschrift folgende Eintragungen voraus: Auf folio 122r sind drei Messtexte und auf folio 207v die Praefation zum Fest der Essener Stiftsheiligen eingetragen, ohne dass hierbei Cosmas und Damian im Text besonders betont und hervorgehoben wären. Die Messtexte entsprechen der allgemeinen Entwicklung des Sakramentars seit der Mitte des 9. Jahrhunderts in der Region.59 Dass diese Texte nicht besonders ausgezeichnet worden sind, deutet einmal mehr darauf hin, dass die Sakramentarhandschrift D 1 an anderem Ort entstand und man bei der Anlage Essen offensichtlich noch nicht konkret im Blick hatte. Völlig anders sieht es mit dem hervorgehobenen Eintrag der Praefatio in natale sanctorum Cosme et D amiani v aus, der auf der unteren Blatthälfte von folio 216 nachgetragen worden ist, und zwar unmittelbar vor dem nachgebundenen Kalendar, das ab folio 217r folgt. Hugo Dausend hat den Eintrag auf etwa die gleiche Zeit wie das Kalendar, also
55 Röckelein, Altfrid (wie Anm. 31) S. 51. 56 Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 215 ff. 57 Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) S. 234 datiert das Kalendar auf die späten 70er Jahre des 9. Jahrhunderts; Hugo Dausend, Das älteste Sakramentar der Münsterkirche zu Essen literar-historisch untersucht (Liturgische Texte und Studien I,1, 1920) S. 89 datiert auf 874/875, und Meta Niederkorn-Bruck, die eine Edition der Essener Sakramentarhandschrift D 1 vorbereitet, setzt die Niederschrift des Kalendars sehr plausibel in den Kontext unmittelbar nach der Übernahme der Handschrift in Essen an. Meta Niederkorn-Bruck ist herzlich für die offene Diskussion der folgenden Überlegungen und den gewährten Rat aus großer Sachkenntnis zu danken. Meine Überlegungen im Folgenden stützen sich weitgehend auf die Diskussion bereits am Rande der Tagung und vor allem die mit Meta Niederkorn-Bruck geführte Korrespondenz und ihre abschließende Beurteilung per E-mail vom 21. März 2012. 58 Ms D 1 fol. 221r, Abbildung bei Huth, Die Düsseldorfer Sakramentarhandschrift (wie Anm. 3) Tafel XXIX. 59 Freundlicher Hinweis von Meta Niederkorn-Bruck (wie Anm. 57).
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spätestens 874/875, datiert.60 Selbst wenn Volkhard Huth dies – ohne Angabe von Gründen im Einzelnen – korrigierte und die Niederschrift des Eintrags etwas später ansetzen zu müssen meinte, macht die hervorgehobene praefatio für den Festtag der beiden Märtyrer unmittelbar nach der Übernahme der Handschrift in der Kommunität Essen einen besonderen Sinn, nämlich in genau der Situation, als man die Handschrift zu benutzen begann und mittels Bearbeitung und Nachträgen gleichsam in Besitz nahm und sich dadurch auch aneignete. Man trug den Text der praefatio jetzt alsbald, wenn nicht sofort ein, weil die Reliquien von Cosmas und Damian in Essen präsent waren. Es dürfte keinen anderen Grund geben – demnach müssten die Reliquien in den frühen siebziger Jahren des 9. Jahrhunderts bereits in Essen gewesen sein und wahrscheinlich auch schon eine gewisse Zeit lang. Dem Celebranten war es offensichtlich bekannt und geläufig, dass die Reliquien in Essen vorhanden waren; man trug den Text der praefatio daher gut sichtbar und hervorgehoben an einer Schnittstelle unmittelbar vor dem Kalendar ein, damit man die Stelle leicht wieder auffinden konnte. Hätte Altfrid die Reliquien im Jahr 872, unmittelbar nach der Hildesheimer Domweihe, nach Essen gebracht oder bringen lassen, so hätte man dies hier wohl besonders hervorgehoben, zumindest angedeutet, und mit der Person Bischof Altfrids verknüpft. Die Frage nach der Translation der Reliquien von Cosmas und Damian scheint mir also wieder offen zu sein – äußerst wahrscheinlich dürfte sein, dass sie bereits lange vor dem Diplom Zwentibolds aus dem Jahre 898 in Essen waren und verehrt wurden. Der exakte Zeitpunkt der Translation ist damit nach wie vor freilich noch nicht geklärt.
60 Dausend, Das älteste Sakramentar (wie Anm. 57) S. 89.
Mönchs- und Nonnenkonvente aus dem Regnum Italiae in den Libri vitae *
von Nicolangelo D’Acunto Der Fokus meines Beitrags liegt nicht auf den liturgischen und Memorialquellen, sondern auf der Art und Weise, in der sie die Geschichte der Klöster des Königreichs Italien widerspiegeln. Zu der Ehre, an einer Unternehmung mit so hohem wissenschaftlichen Niveau teilzuhaben, gesellt sich das Vergnügen, die alte Freundschaft der Schule Gerd Tellenbachs und Karl Schmids mit jener Cinzio Violantes zu erneuern, zumal ich die Freude habe, letzterer anzugehören.1 Diese Zusammenarbeit ermöglichte es, in Italien die Methoden der Personenforschung zu installieren, ohne dass damals das Ergebnis absehbar gewesen wäre. Ich spiele auf die Tatsache an, dass diese Begegnung einen positiven und andauernden Einfluss auf die italienische Geschichtsforschung ausübte, soweit sie sich mit der Untersuchung der führenden Schichten des Regnum Italiae befasste,2 wohingegen gerade die Forschungen zu den liturgischen und Memorialquellen, die von Karl Schmid und seinen Schülern durchgeführt worden sind, südlich der Alpen nicht sonderlich enthusiastisch aufgenommen wurden. Cosimo Damiano Fonseca stellte 2002 sehr richtig fest, dass es fünfundzwanzig Jahre nach Ausarbeitung des Projekts Societas et fraternitas in Italien nicht an Editionen von Gedenkzeugnissen aus den unterschiedlichsten Gebieten fehlte, auch wenn es keine präzise und zielgerichtete Forschungsidee gegeben hatte.3
1
* Übersetzt aus dem Italienischen von Marie Ulrike Schmidt (Leipzig). Zu den Beziehungen zwischen den beiden Schulen vgl. Cinzio Violante, Le contraddizioni della storia. Dialogo con Cosimo Damiano Fonseca (2002) S. 54 – 55. 2 Ich beziehe mich besonders auf die Untersuchungen, die in folgenden drei, aus Pisaner Tagungen der Jahre 1983, 1993 und 1996 hervorgegangenen Bänden zusammengeführt wurden: Formazione e strutture dei ceti dominanti nel Medioevo: marchesi, conti e visconti nel Regno italico, secc. IX – XII (Istituto Storico Italiano per il Medio Evo, Nuovi studi storici 1, 1988; 39, 1996; 56, 2003). 3 Cosimo Damiano Fonseca, “Memoria” e “oblivio”: orizzonte concettuale e riflessione storiografica, in: Memoria: Erinnern und Vergessen in der Kultur des Mittelalters = Memoria: ricordare e dimenticare nella cultura del medioevo, hg. von Michael Borgolte / Cosimo Damiano Fonseca / Hubert Houben (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 15, 2005) S. 11 – 20, hier S. 13.
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Dennoch zog diese eifrige Editionstätigkeit keine sonderlich intensive und fruchtbare Nutzung solcher Quellen in den Forschungen zur Geschichte Mittel- und Norditaliens nach sich. Hingegen haben gerade die Schulen Fonsecas und – nicht zufällig – eines Deutschitalieners wie Hubert Houben diesem Gegenstand einen festen Platz in der süditalienischen Mittelalterforschung verschafft.4 Ich habe keine Erklärung für die geringe Beachtung der Memorialzeugnisse seitens der italienischen Mediävistik, die im Vergleich zu anderen Regionen des mittelalterlichen Okzidents wohl „verwöhnt“ ist von der Fülle dokumentarischer und erzählender Quellen.5 Im speziellen Fall der karolingischen libri vitae fällt sicherlich der Überlieferungsschwund südlich der Alpen ins Gewicht. Die einzige nennenswerte Ausnahme stellt hier das Gedenkbuch des Nonnenklosters S. Salvatore / S. Giulia in Brescia dar.6 In diesem Zusammenhang erweist es sich als interessant, dass im Jahr 1657 die Nonne Angelica Baitelli schrieb, dass aus dem „libro Antichissimo, conservato per anco fra le cose più Care … si sono stracciate nel principio molte carte, e sarebbe in questo tempo stracciato tutto, se io non l’havessi riposto“.7 Somit verdanken wir nur der Umsicht dieser Nonne-HistorikerinArchivarin das Überdauern des einzigen liber vitae aus karolingischer Zeit südlich der Alpen. Die Ursachen dafür, dass derartige Codices nur vereinzelt überliefert
4 La tradizione commemorativa nel Mezzogiorno medioevale: ricerche e problemi. Atti del Seminario internazionale di studio (Lecce, Monastero di S. Giovanni Evangelista, 31 marzo 1982) hg. von Cosimo Damiano Fonseca (1984); Hubert Houben, Zu den Mönchslisten des Klosters Mattsee aus der Karolingerzeit, Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 90 (1979) S. 449 – 457; ders., Das Fragment des Necrologs von St. Blasien (Hs. Wien, ÖNB Cod. lat. 9, fol. I-IV). Facsimile, Einleitung und Register, Frühmittelalterliche Studien 14 (1980) S. 274 – 298; ders., La realtà sociale medievale nello specchio delle fonti commemorative, Quaderni medievali 13 (1982) S. 82 – 97; ders., La tradizione commemorativa medioevale in Puglia e in Basilicata: bilancio storiografico e prospettive di ricerca, Annali del Dipartimento di Scienze Storiche e Sociali 1 (1983) S. 67 – 90. 5 Zu diesem Thema Paolo Cammarosano, Italia medievale. Struttura e geografia delle fonti scritte (1991). 6 Der Memorial- und Liturgiecodex von S. Salvatore / Santa Giulia in Brescia, hg. von Dieter Geuenich / Uwe Ludwig (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et Necrologia, Nova Series 4, 2000). 7 Angelica Baitelli, Annali Historici dell‘edificazione, Erettione, e Dotatione del Serenissimo Monasterio di S. Salvatore, e S. Giulia di Brescia (1657, 21978) S. 29. Zu dieser bedeutenden Persönlichkeit vgl. Gabriella Zarri, La cultura monastica femminile nel Seicento: Angelica Baitelli, in: Arte, cultura e religione in Santa Giulia, hg. von Giancarlo Andenna (2000) S. 145 – 162.
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sind, bleiben unklar, aber sicher spielt in Bezug auf ihre geringen Überlieferungschancen die Tatsache eine Rolle, dass in den zeitlich weniger weit zurückliegenden Epochen die Memorialpraxis gänzlich andere Formen annahm. Überdies hat Uwe Ludwig sehr passend beobachtet, dass es normal war, die zum Zweck des Gedenkens angefertigten Verzeichnisse in Form von Pergamentbögen oder -faszikeln zu sammeln und aufzubewahren, und dass diese losen Blattsammlungen viel leichter verloren gehen als gebundene Manuskripte.8 Diese Hefte oder Einzelblätter dienten auch der Übermittlung der Verzeichnisse von Lebenden und Toten, die in die libri vitae jener Abteien eingeschrieben wurden, deren Mönche und Nonnen in Gebetsverbrüderung verbunden waren. Die älteste dieser Übereinkünfte, deren Text auf uns gekommen ist, ist diejenige, welche 846 zwischen dem Kloster Sankt Gallen und Bobbio geschlossen wurde. Sie basierte auf der analogen conventio et unanimitas, die Sankt Gallen mit dem Inselkloster Reichenau bereits im Jahr 800 vereinbart hatte.9 Das Abkommen zwischen Sankt Gallen, damals geleitet von Abt Grimald, und Bobbio fußte auf den gemeinsamen „irisch-kolumbanischen“ Ursprüngen.10 Jedoch erhielt diese Vereinbarung eine besondere „politische“ Bedeutung in Anbetracht der Tatsache, dass Abt Amelricus von Bobbio, Cumensis urbis vocatus episcopus, zu jenem Zeitpunkt am Hof anwesend war, als Lothar I. am 22. August 843 in Gondreville die Immunität des Klosters bestätigte.11 Es verwundert daher nicht, dass Amel8 Uwe Ludwig, I “libri memoriales” e i rapporti di fratellanza tra i monasteri alemanni e i monasteri italiani nell’alto medioevo, in: Il monachesimo italiano dall’età longobarda all’età ottoniana (secc. VIII – X). Atti del VII Convegno di Studi Storici sull’Italia Bene dettina [Nonantola (Modena) 10 – 13 settembre 2003], hg. von Giovanni Spinelli (Italia Benedettina 27, 2006) S. 145 – 164, hier S. 151. 9 Libri confraternitatum Sancti Galli, Augiensis, Fabariensis, hg. von Paul Piper (Monumenta Germaniae Historica, Necrologia, Supplementum, 1884) S. 142: Post huius denique orationis gratam communionem anno ab incarnatione dominica DCCC . XL . VI . regnante Hludowico gloriosissimo rege, sub Crimaldo abbate, facta est eadem conventio superiori capitulo prenotata inter istud coenobium et alia tria, unum sancti Columbani Bobii fluminis gloriosi nomen tenens, alterum Desertinense a vicinitate Alpium vocabulum trahens, tertium Schinense claro vocabulo lucens. Ita videlicet, ut nunc ac deinceps omni tempore series precum superius ex caritate vera compositarum ratam inter haec sanctissima loca teneat conexionem, sed neque finem habeat, nisi caritatem solam. Vgl. Ludwig, I “libri memoriales” (wie Anm. 8) S. 146. 10 Flavio G. Nuvolone, L’abbazia di Bobbio dai Carolingi agli Ottoni, in: Il monachesimo italiano (wie Anm. 8) S. 321 – 335. 11 Vgl. D. Lothar I. 77 (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata Karolinorum 3. Lotharii I et Lotharii II diplomata, hg. von Theodor Schieffer, 1966) S. 194.
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ricus der Initiator dieser „internationalen“ Öffnung der Abtei von Bobbio war. Tatsächlich gehörte der Abt dem Kaiserhof an und begleitete im folgenden Jahr Ludwig II . auf seinem Weg Richtung Rom.12 Sein Name findet sich auch im Sankt Galler Liber vitae. 13 Ebenfalls noch zur Zeit Abt Grimalds, um 865, traf Sankt Gallen eine Verbrüderungsübereinkunft mit dem Kloster Nonantola (nahe Modena), aber im Unterschied zu der Verbrüderung mit Bobbio, die keine weiteren Spuren in den Quellen hinterlassen hat, ist in diesem Fall eine Liste verstorbener Mönche aus Nonantola erhalten, derer in Sankt Gallen gedacht werden sollte. Diese Auflistung ist sowohl im Original als auch als nahezu zeitgenössische Kopie überliefert, die anlässlich der Anfertigung des jüngeren Sankt Galler Liber vitae entstand.14 Das Inhaltsverzeichnis, mit dem das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau beginnt, bietet uns ein aussagekräftiges Bild dieser „Internationalen“ des Gebets, welche das Inselkloster mit Dutzenden über das ganze Abendland verteilten Klöstern verband. Dieser Zusammenschluss umfasste auch das in der Nähe von Modena gelegene monasterium Nonantula,15 das monasterium Mons Viridis (Monteverdi), das heißt S. Pietro in Palazzuolo in der Toskana,16 und das monasterium Leonis (Leno, bei Brescia 17).18 Was Nonantola betrifft, so ist die große Zahl der nicht weniger als 850 Mönche, die nach Abt Petrus (804 – 824/25) verzeichnet wurden, wahrlich beeindruckend. Sie macht aus dem Modeneser Kloster die mitgliederstärkste unter allen im
12 Vgl. Johann Friedrich Böhmer, Regesta Imperii I. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751 – 918, bearbeitet von Engelbert Mühlbacher / Johann Lechner (1908) Teil 1, Nr. 1115a. 13 Vgl. Uwe Ludwig, Die beiden St. Galler Libri vitae, in diesem Band S. 162f. 14 Libri confraternitatum (wie Anm. 9) S. 64 – 68, 85 – 88. Vgl. Ludwig, I “libri memoriales” (wie Anm. 8) S. 149. 15 Paolo Golinelli, Nonantola: i luoghi e la storia; guida spazio-temporale di un grande centro monastico e del suo territorio (2007). 16 Vita Walfredi und Kloster Monteverdi. Toskanisches Mönchtum zwischen langobardischer und fränkischer Herrschaft, hg. von Karl Schmid (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 73, 1991). 17 Gabriele Archetti, Per lodare Dio di continuo. L’abbazia di San Benedetto di Leno, in: A servizio del Vangelo. Il cammino storico dell’evangelizzazione a Brescia 1, hg. von Giancarlo Andenna (2010) S. 399 – 434. 18 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Einleitung, Register, Faksimile) hg. von Johanne Autenrieth / Dieter Geuenich / Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et necrologia, Nova Series 1, 1979) pag. 3.
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Reichenauer Liber vitae genannten Abteien.19 Diese Angabe lässt die in der Vita Anselmi abbatis Nonantulani enthaltene Notiz weniger übertrieben erscheinen, der zufolge der Gründungsabt sub suo regimine 1144 Mönche gehabt haben soll.20 Hier gilt es jedoch zu bedenken, dass die Mönche auf den gesamten, stark gegliederten Klosterverband von Nonantola verteilt waren. Auch diese Verbrüderung entstand – wie jene zwischen Bobbio und Sankt Gallen – aus der guten persön lichen Beziehung der Äbte. In der Tat gehörten sowohl Petrus von Nonantola als auch Heito von Reichenau dem engen Kreis der Vertrauten Karls des G roßen an, die dieser als Gesandte nach Konstantinopel geschickt hatte.21 Aus dieser Vertrautheit der Äbte dürften die gegenseitigen Besuche in den jeweiligen Klöstern hervorgegangen sein, die den Impuls zur Gebetsverbrüderung gaben, wahrschein lich im zweiten Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts. Das Kloster von Monteverdi war keine Abtei mit königlicher Tradition wie all die bisher angesprochenen, sondern ein Eigenkloster, das zwischen 752 und 754 von dem Pisaner Adligen Walfred gegründet wurde. Die um das Jahr 800 geschlossene Gebetsverbrüderung mit dem Kloster Reichenau war das Resultat der von Abt Waldo nach Italien unterhaltenen Beziehungen und wurde mehrfach mittels Versendung weiterer Listen erneuert (824/25 und um 830), die in den Reichenauer Liber vitae Eingang fanden.22 Eine direktere und besser belegbare Verbindung zum Reich hatte das andere in diesem Verbrüderungsbuch erwähnte toskanische Kloster: S. Antimo im Valle dello Starcia in der Diözese Chiusi.23 Wenn auch die Gründung durch Karl den Großen nicht bewiesen werden kann, so erweisen sich die Beziehungen zum Reich seit dem Diplom Ludwigs des Frommen vom 29. Dezember 81424 dennoch als stabil. Die besagte Liste wird von Abt Boso eröffnet, welcher der Empfänger
19 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 18) pag. 20 – 21. 20 Vita Anselmi abbatis Nonantulani, hg. von Georg Waitz (Monumenta Germaniae Histo rica, Scriptores rerum Langobardicarum et Italicarum saec. VI – IX , 1878) S. 567 – 570, hier S. 569. Vgl. Ludwig, I “libri memoriales” (wie Anm. 8) S. 150. 21 Ludwig, I “libri memoriales” (wie Anm. 8) S. 151. 22 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 18) pag. 79. Vgl. Uwe Ludwig, Bemerkungen zu den Mönchslisten von Monteverdi, in: Vita Walfredi und Kloster Monteverdi (wie Anm. 16) S. 122 – 145. 23 Wilhelm Kurze, Sant’Antimo in Val Starcia, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1980) Sp. 1133 – 1134. 24 Text in Jacques Paul Migne, Patrologia Latina 104, Sp. 1003. Vgl. Giovanni Spinelli, Monasteri maschili nella Toscana dell‘alto medioevo, in: Il monachesimo italiano (wie Anm. 8) S. 391 – 423, hier S. 404.
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des 992 von Johannes XV. ausgestellten Privilegs war und sehr wahrscheinlich auch der Initiator dieser späten Verbrüderung.25 Kurze Zeit nach der Anfertigung des Reichenauer Liber vitae wurde jene Liste eingefügt, welche die domina Eadburgh und die 60 ihr unterstellten Nonnen nennt. Es handelt sich hierbei um das Kloster S. Marino di Pavia, das Karl der Große eben jener Eadburgh übertragen hatte, der Witwe des angelsächsischen Königs Beortric.26 Ebenfalls in den vierziger Jahren des 9. Jahrhunderts schickte der Bischof Ioseph von Ivrea und Abt von Novalese in Piemont ein Verzeichnis von 73 Mitgliedern.27 Vervollständigt wird das Bild durch die Liste der 26 Mönche von S. Modesto in Benevent, der eine dramatische Überschrift vorangestellt ist, welche den immer gleichen Rhythmus unserer Quelle unterbricht: Venerunt sarisinos incenderunt monasterium nostrum et omnes fratres perderunt (sic!).28 Zum ursprünglichen Kern des Reichenauer Liber vitae gehört hingegen die erste Liste von Mönchen aus S. Benedetto bei Brescia, dem Kloster Leno, das mit stark cassinesischer Prägung durch den Langobardenkönig Desiderius gegründet und dann unmittelbar nach der fränkischen Eroberung in den Kreis der direkt unter königlicher Kontrolle stehenden Abteien aufgenommen worden war. Ein lebhaftes Zeugnis dieser intensiven transalpinen Beziehungen stellen drei Listen der Mönche aus Leno dar. Die erste, die 101 Namen umfasst,29 geht sogar auf die Zeit Ermoalds zurück, des von Desiderius gemeinsam mit elf weiteren 25 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 18) S. 154. Das Privileg Johannes’ XV. ist abgedruckt in: Papsturkunden 896 – 1046, hg. von Harald Zimmermann (1988 – 1989) Nr. 311, S. 603 – 605. 26 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 18) pag. 134. Vgl. Ludwig, I „libri memoriales“ (wie Anm. 8) S. 157; ders., Transalpine Beziehungen der Karolingerzeit im Spiegel der Memorialüberlieferung. Prosopograhische und sozialgeschichtliche Studien unter besonderer Berücksichtigung des Liber vitae von San Salvatore in Brescia und des Evangeliars von Cividale (Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte 25, 1999) S. 146 – 147. 27 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 18) pag. 9. Vgl. Simona G avinelli, Il vescovo Giuseppe di Ivrea nel circuito culturale carolingio, in: Paolino d‘Aquileia e il contributo italiano all‘Europa carolingia: atti del Convegno Internazionale di Studi (Cividale del Friuli-Premariacco, 10 – 13 ottobre 2002) hg. von Paolo Chiesa (2003) S. 167 – 196. 28 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 18) pag. 85. Vgl. Hubert Houben, Il saccheggio del monastero di S. Modesto in Benevento. Un ignoto episodio delle incursioni arabe nel Mediterraneo, in: ders., Medioevo monastico meridionale (Nuovo medioevo 32, 1987) S. 55 – 65. 29 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 18) pag. 18 – 19.
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Mönchen aus Montecassino zwecks Gründung des Klosters ausgewählten Abtes. Ermoald setzte 774 die politische Neuorientierung des Klosters um und bekräftigte diese durch ein Verbrüderungsabkommen mit der Reichenau. Diese Übereinkunft wurde zunächst um 810 und nochmals um 830 mit den Äbten Magus beziehunsgweise Baldulfus für insgesamt 110 Mönche erneuert.30 Hinzu kommen die Aktualisierungen des Liber vitae, die sich in der Aufnahme kleiner Gruppen von Namen niederschlagen.31 Die Diplome Karls des Großen, Ludwigs des Frommen und Lothars für Leno belegen die konstante Aufmerksamkeit der Karolinger gegenüber dem Kloster, das als Verbindung zu anderen wichtigen klösterlichen Institutionen des Brescianer Gebietes fungierte, besonders zu S. Faustino, dessen Mönche im Reichenauer Verbrüderungsbuch wenige Jahre nach seiner Gründung im Jahre 841 durch Bischof Rampertus verzeichnet sind.32 Schlüsselfigur der Beziehungen war eben dieser Bischof, der im Liber vitae der Reichenau zweimal erwähnt wird, vielleicht weil er am Bodensee seine Ausbildung erhalten hatte.33 Sein Handeln zielte darauf ab, die Formen der „vita religiosa“ in ein pastorales Programm einzufügen, dabei aber die funktionale Besonderheit des Mönchtums aufrecht zu erhalten, die weiterhin im Gebet bestand. Dazu förderte er die Integration in den politischkirchlichen Apparat des karolingischen Italien unter Mitwirkung des Erzbischofs von Mailand und Metropoliten Angilbert II. Dieser wiederum entsandte den Abt Leutgarius nach S. Faustino, zusammen mit dem Mönch Hildemar, dem ersten Kommentator der Regula Benedicti, der gemeinsam mit Lothar I. im Jahr 834 aus der Abtei Corbie nach Italien gekommen war.34 Diese Zirkulation von Männern, Ideen und politisch-kirchlichen Projekten innerhalb des Kaiserreiches findet in dem komplexen Netz der Gebetsverbrüderung, wie es in den Libri vitae festgehalten ist, ihren vollendeten Ausdruck. Diese und viele andere laikale und geistliche Protagonisten aus dem karolingischen Italien erscheinen ebenfalls im Memorial- und Liturgiebuch des Frauenklosters S. Salvatore / S. Giulia di Brescia, das während eines der Brescia-Aufenthalte 30 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 18) pag. 111. 31 Vgl. Ludwig, I “libri memoriales” (wie Anm. 8) S. 155. 32 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 18) pag. 105. Vgl. San Faustino Maggiore di Brescia, il monastero della città. Atti della giornata nazionale di studio, Brescia, Università Cattolica, 11 febbraio 2005, hg. von Gabriele Archetti / Angelo Baronio (Brixia Sacra. Memorie storiche della diocesi di Brescia, 3. Serie 11, 2006). 33 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 18) pag. 5 und 101. 34 Vgl. Nicolangelo D’Acunto, La pastorale nei secoli centrali del medioevo: vescovi e canonici, in: A servizio del Vangelo (wie Anm. 17) S. 15 – 95, hier S. 34 – 39.
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Ludwigs II. angefertigt wurde, sehr wahrscheinlich im Mai 856, als der Kaiser nämlich für S. Giulia drei Diplome ausfertigte.35 Die Hypothese scheint alles andere als unbegründet, dass der erwähnte Reichenauer Liber vitae – womög lich dank der Vermittlung des Bischofs Noting von Brescia 36 – als Muster für das Pendant von S. Salvatore und S. Giulia diente, dem monasterio quod uocatur Noua,37 aus welchem wir wiederum eine Nonnenliste im Verbrüderungsbuch der Bodenseeabtei finden. Dieses und weiteres Namenmaterial, das jedoch nicht bis in die Zeit vor 830 zurückreicht, wurde in den Codex aus Brescia übertragen, aus dem wir zunächst erfahren, dass Lothar I. DEDIT FILIAM SUAM GISLAM (848),38 alsdann, kurz darunter, dass Domnus Hludovicus imperator tradidit filiam suam Gislam (851).39 Es schließt sich eine Liste bedeutsamer Persönlichkeiten des Regnum Italiae an, die unter Beweis stellt, dass das Brescianer Kloster eines der Machtzentren kaiserlicher Präsenz südlich der Alpen war. Besonders das Kloster S. Salvatore spielte – wie Cristina La Rocca zutreffend feststellte – eine wichtige Rolle für den Einfluss der Königinnen und ihrer Töchter innerhalb des Königreiches, da sich die königliche Herrschaft der Frauen gerade durch den Besitz und die Kontrolle von Frauenklöstern äußerte 40. Dabei folgte man einem Modell, an dem sich schon König Desiderius bei der Gründung des Klosters S. Salvatore orientiert hatte, und das – nicht zufällig – auch Berengar I. kopieren wollte, als er einer seiner Töchter das Brescianer Kloster anvertraute. Nach der goldenen Periode der karolingischen Zeit verlor das Kloster S. Giulia nach und nach diesen exponierten Platz auf der europäischen Bühne, obgleich es seine Bedeutung innerhalb der Stadt bewahren konnte, wie der Liber vitae bezeugt. Seit den letzten Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts wurden die Listen der durch Gebetsverbrüderung verbundenen Mönche nicht mehr erneuert, jedoch wurden sporadisch Verzeichnisse von Gruppen lokaler Laien und Kleriker eingetragen. In diesem
35 Ludovici II. Diplomata, hg. von Karl Wanner (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata Karolinorum 4, 1994) Nr. 20 – 22, S. 104 – 107. Vgl. Uwe Ludwig, Die Anlage des „Liber vitae“, in: Der Memorial- und Liturgiecodex von S. Salvatore / Santa Giulia in Brescia (wie Anm. 6) S. 56 – 88, hier S. 59. 36 Vgl. D’Acunto, La pastorale nei secoli centrali del medioevo (wie Anm. 34) S. 39 – 40. 37 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 18) pag. 97. 38 Der Memorial- und Liturgiecodex von S. Salvatore / Santa Giulia in Brescia (wie Anm. 6) fol. 42r. 39 Der Memorial- und Liturgiecodex von S. Salvatore / Santa Giulia in Brescia (wie Anm. 6) fol. 42v. 40 Cristina La Rocca, Monachesimo femminile e poteri delle regine tra VIII e IX secolo, in: Il monachesimo italiano (wie Anm. 8) S. 119 – 143, hier S. 129.
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Sinne spiegelt die Quelle aus Brescia den Zerfall des komplexen Systems der Verbrüderung von Abteien und Bischofssitzen wider, das ein wichtiger Faktor bei der Homogenisierung des Okzidents gewesen war und nun die Auflösung der karolingischen Ordnung erlebte und gleichzeitig deren Konsequenzen deutlich sichtbar machte.41 Das Verhältnis zwischen nördlich und südlich der Alpen erhaltenen Libri vitae aus karolingischer Zeit steht dem Befund, wie er sich üblicherweise in Bezug auf die schriftlichen Quellen angesichts der bekanntlich reicheren Überlieferung des Südens darstellt, entgegen. Die Situation kehrt in ihr „normales“ Gleichgewicht zurück, wenn wir uns in die Zeit zwischen 1040 und 1100 begeben. Trotz der von Thomas Frank angemerkten „Differenzierung der Memorialpraxis“,42 also unterschiedlicher Möglichkeiten der Kommemoration, haben sich in Italien sieben Libri vitae erhalten, von denen vier aus Klöstern stammen: S. Savino di Piacenza,43 S. Maria di Albaneta,44 Subiaco 45 und Polirone.46 Mit Ausnahme des Gedenkbuchs aus Piacenza sind diese Codices nicht das Resultat von Verbrüderungen zwischen monastischen Kommunitäten, wie es bei den Libri vitae des 9. Jahrhunderts der Fall war. Im Gegenteil, in dieser zweiten Gruppe memorialer Zeugnisse ist die laikale Präsenz stets vorherrschend. Es ist eine Art Radikalisierung der Tendenz, die wir schon in den Einträgen des 10. Jahrhunderts für die Verbrüderungsbücher der karolingischen Zeit festgestellt haben.47 Das aus einem Liber vitae und einem Nekrolog bestehende Gedenkbuch von S. Savino di Piacenza führt uns in diese neue und andersartige Entwicklungsphase der Memorialquellen Mittel- und Oberitaliens.48 Man kann die Bedeutung des Klosters S. Savino im Königreich Italien ermessen, wenn man sich vor Augen führt, dass es ein internationales Netz von Verbindungen koordinierte, dessen
41 Karl Schmid, Mönchtum und Verbrüderung, in: Monastische Reformen im 9. und 10. Jahrhundert, hg. von Raymund Kottje / Helmut Maurer (Vorträge und Forschungen 38, 1989) S. 117 – 146, hier S. 134 – 137. 42 Thomas Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen des XI. und XII. Jahrhunderts (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 21, 1991) S. 8. 43 Ediert in Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 188 – 276. 44 Vgl. Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 95 – 106. 45 Vgl. Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 107 – 138. 46 Angelo Mercati, L’evangeliario donato dalla contessa Matilde al Polirone, Atti e memorie della R. Deputazione di Storia Patria per le Provincie Modenesi (e Parmensi), Serie 7, 4, 1927, S. 1 – 27 (auch in: ders., Saggi di Storia e Letteratura [1951] S. 219 – 225). 47 Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 9. 48 Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 23 – 72.
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Zentrum die Stadt Piacenza war, Hauptknotenpunkt der Kommunikation und des Handels in der Poebene. Der dem Frauenkloster 1046 abgestattete Besuch Kaiser Heinrichs III. bot Wido, dem Bischof von Piacenza und Verwandten der Kaiserin Agnes von Poitou, den Anlass zur Anfertigung der Handschrift, in die auch vorhandenes Namenmaterial einfloss.49 Das Blatt 41 des Liber vitae wird mit dem Hinweis auf einen nicht näher bestimmten dominus apostolicus eröffnet. Ziemlich sicher handelt es sich um Gregor VI., den Heinrich III. einem Bericht Bonizos von Sutri zufolge in Piacenza traf, von wo aus sie gemeinsam zur Synode von Sutri aufbrachen (Dezember 1046).50 Der Name des Kaisers wurde auf derselben Höhe eingetragen, gleich darunter finden wir den bereits erwähnten Bischof Wido. Bezeichnenderweise fügte man im Folgenden die Namen Papst Leos IX. und zahlreicher hochrangiger Vertreter der Reichskirche hinzu, wie die der Bischöfe Alinardus von Lyon, Wazo von Lüttich und Einhard von Speyer sowie großer Äbte wie Odilo von Cluny.51 Die jüngere Forschung hat den problematischen Ansatz des panclunisme neu bewertet, der jeden kloster- und kirchenreformerischen Ansatz des 11. Jahrhunderts ausschließlich im Zusammenhang mit der burgundischen Abtei gelten ließ.52 Aber gerade der Liber vitae von S. Savino di Piacenza zeigt, dass dieses Frauenkloster, obwohl es die cluniazensischen Gewohnheiten übernommen hatte, in ein wesentlich komplexeres Gewebe von Beziehungen eingeflochten war, das vor allem die piemontesische Abtei Fruttuaria und jene von S. Bénigne in Dijon mit einbezog.53 Sowohl Odilo von Cluny cum omnibus sibi commissis quorum nomina 49 Vgl. Karl Schmid, Heinrich III. und Gregor VI. im Gebetsgedächtnis von Piacenza des Jahres 1046. Bericht über einen Quellenfund, in: Verbum et signum. Friedrich Ohly zum 60. Geburtstag, II: Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Studien zu Semantik und Sinntradition im Mittelalter, hg. von Hans Fromm / Wolfgang Harms / Uwe Ruberg (1975) S. 79 – 97; Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 24. 50 Bonizonis Sutrini Liber ad amicum, hg. von Ernst Dümmler (Monumenta Germaniae Historica, Libelli de lite imperatorum et pontificum 1, 1891) S. 585: Abusivus vero ille Gregorius, qui Romanę ęcclesię cathedram regere videbatur, rogatus a rege, ut ei obviam veniret, nichil mali conscius apud se, ut res postea declaravit, usque Placentiam venit regemque ibi invenit. Qui ab eodem, ut decuit papam, honorifice susceptus est. 51 Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 24. 52 Glauco Maria Cantarella, È esistito un “modello cluniacense”?, in: Dinamiche istituzionali delle reti monastiche e canonicali nell’Italia dei secoli X – XII. Atti del XXVIII Convegno del Centro Studi Avellaniti, hg. von Nicolangelo D’Acunto (2007) S. 61 – 85. 53 Alfredo Lucioni, L’abbazia di S. Benigno, l’episcopato, il papato e la formazione della rete monastica fruttuariense nel secolo XI , in: Il monachesimo italiano del secolo XI
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Deus scit als auch – mit ziemlicher Sicherheit – Wilhelm von Volpiano (gestorben 1031)54 finden im Liber vitae Erwähnung, der auch kurze Listen oder einzelne Toteneinträge von Klerikern und Mönchen enthält, die Kirchen und Klöstern wie S. Giovanni Evangelista zu Fidenza, S. Venerio dell’Isola del Tino (La Spezia), Nonantola, S. Prospero zu Reggio Emilia, S. Pietro in ciel d’oro zu Pavia und anderen im damaligen Frankreich gelegenen Einrichtungen angehörten.55 Neben dieser überregionalen Vernetzung zeigt unsere Quelle auch die Verbindungen S. Savinos zu den kirchlichen und klösterlichen Institutionen des Piacentiner Gebietes. Über das Kloster nahmen so die Beziehungen zwischen der Poebene und Burgund Gestalt an, auch dank der Einbindung gräflicher und markgräf licher Familien wie der Arduiniden, Otbertiner, Aleramiden und Giselbertiner, die alle fest umrissene Herrschaftsbereiche in Oberitalien zu kontrollieren vermochten, bisweilen – wie im Fall der Arduiniden – mit einer starken Ausrichtung auf Burgund.56 Diese mittlere Ebene des Amtsadels stellt das Verbindungsstück zwischen den beiden im Liber vitae bezeugten Aktionsbereichen des Klosters dar: den Beziehungen zu den Spitzen der Christenheit und zur lokalen Gesellschaft. Im Unterschied zu den Verhältnissen im Karolingerreich hing das Funktionieren des Regnum Italiae nicht mehr von der Fähigkeit des Herrscherhofes ab, stabile Beziehungen zwischen seinen Exponenten herzustellen, die mit der Leitung von Klöstern oder bischöflichen Kirchen betraut waren, sondern vom Unternehmungsgeist der großen Familien des Amtsadels und der Bischöfe (die oft dieselben Familien vertraten!). Diesen neuen Protagonisten konnte das Reich lediglich eine zwar wichtige, aber nicht kontinuierliche Koordination und Legitimation ihrer hegemonialen Bestrebungen bieten.57 Wie Thomas Frank richtig feststellte, kann diese Situation aus dem Liber vitae von S. Savino mit größerer Deutlichkeit herausgelesen werden, als es für die Einbindung des Klosters in die kaiserliche und vorgregorianische Reform, für die Einflüsse Clunys und Fruttuarias oder für das Konzil von Piacenza im Jahr 1095 der Fall ist, wenngleich sich alle diese Phänomene in gewisser Weise auch in unserem Namenmaterial spiegeln.58
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nell’Italia nordoccidentale. Atti dell’VIII Convegno di studi storici sull’Italia benedettina, San B enigno Canavese (Torino) 28 settembre – 1 ottobre 2006 (2010) S. 237 – 308. Guglielmo da Volpiano. Atti della giornata di studio, San Benigno Canavese, 4 ottobre 2003, hg. von Alfredo Lucioni (2005). Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 48 – 59. Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 44, 60. Giuseppe Sergi, I confini del potere. Marche e signorie tra due regni medievali (1995). Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 72.
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Die zentrale Bedeutung dieser Beziehungen zwischen den Klöstern und dem Adel wird auch unterstrichen durch Dutzende eher zufällige Einträge in den Libri vitae der Cassineser Niederlassung S. Maria in Albaneta und durch die besser geordneten Listen des Gedenkbuchs von Subiaco.59 Eine Anmerkung des Kopisten Guitto erlaubt es, den Codex von Subiaco auf das Jahr 1075 zu datieren und damit in die Amtzeit Abt Johannes‘ V., welche nicht nur durch eine bemerkenswerte kulturelle Blüte, sondern auch durch die Konsolidierung der territorialen Herrschaft des Klosters im Anienetal charakterisiert ist, die von zahlreichen Bemühungen begleitet war, das Incastellamento voranzutreiben, wie es von Pierre Toubert untersucht wurde.60 Durch die Aufnahme zahlreicher Laien und besonders der Grafen von Marsia (die auch in der Memorialüberlieferung Monte Cassinos präsent sind) in den Liber vitae beabsichtigte Johannes V., die Bindungen zu den führenden lokalen Schichten und den Laien allgemein zu festigen, die den Großteil der Nachträge ausmachen. Bestätigt wird diese Absicht des großen Abtes durch einen Passus des Chronicon Sublacense, welcher von der von Johannes geschaffenen congregationem religiosorum hominum et nobilium multorum berichtet.61 Der Chronist sprach nicht von einer wahrhaftigen Verbrüderung – wie sie dennoch häufig angenommen wurde 62 –, sondern vom klassischen Mechanismus des Verbrüderungsgebetes, das es auch den Laien erlaubte, in den Genuss der durch die Mönche erwirkten spirituellen Vergünstigungen zu gelangen. Die Anlage aus dem Jahr 1075 hingegen enthält Konventslisten von lebenden und toten Mönchen verschiedener Provenienz: Sie stammen aus Polirone, Farfa, Fleury, Monte Cassino, Fonte Avellana und aus dem römischen Kloster SS. Cosma e Damiano in Mica Aurea. Dieser Übersicht ist zu entnehmen, dass einige dieser Klöster mit Subiaco das Glück teilten, direkt mit dem Leben des heiligen Benedikt verknüpft zu sein. Die Erwähnung des Klosters Pothière hängt hingegen mit
59 Hansmartin Schwarzmaier, Der Liber Vitae von Subiaco, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 48 (1968) S. 80 – 147. 60 Pierre Toubert, Les structures du Latium médiéval. Le Latium méridional et la Sabine du IXe siècle à la fin du XIIe siècle (1973); Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 107. 61 Chronicon Sublacense, hg. von Raffaello Morghen (Rerum Italicarum Scriptores 24, 6, a, 1927) S. 18 – 19; vgl. Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 133. 62 Raffaello Morghen, Le relazioni del monastero Sublacense col papato, la feudalità e il comune nell’alto medio evo, Archivio della Società Romana di storia patria 51 (1928) S. 181 – 262.
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dem Wunsch der Kaiserin Agnes zusammen, der Verstorbenen ihrer Familie zu gedenken. Es folgt ein Verzeichnis, das den noch lebenden Heinrich IV. sowie drei wibertinische Kardinäle mit einschließt,63 da sich Abt Johannes V. schon 1084 von Gregor VII. distanziert und der Sache des Kaisers und Clemens’ III. angeschlossen hatte.64 Dessen ungeachtet bietet der Liber vitae keine eindeutigen Hinweise auf den politischen Standpunkt der Mönche von Subiaco. In dieser Hinsicht genügt es, an die Aufnahme der Konventliste von Polirone zu erinnern, das eine wahre gregorianische Festung in Oberitalien war. Vom Liber vitae aus Farfa hat nichts überdauert, aber Gregor von Catino berichtet, dass Heinrich IV. 1082 aufgenommen wurde a cunctis senioribus ac fratribus benignissime in societatem atque firmitatem perpetue orationis devoto pacis osculo. Sein Name sowie diejenigen einiger seiner fideles wurden also in libro commemoratorio eingeschrieben.65 Unter diesen nicht weiter präzisierten fideles befand sich sicher auch Clemens III., der 1090 den Plan des Bischofs Regizo von Sabina, Abt von Farfa zu werden, unterstützte. Der Papst begründete sein Einschreiten eben damit, dass er Teil de societate ac fraternitate des Klosters war. Es ist interessant, dass Clemens auf diese Weise versuchte, dem Verbrüderungsgebet juristischen Wert zu verleihen, um so die päpstliche Einmischung in die Angelegenheiten der Abtei zu rechtfertigen. Damit brachte er den Chronisten Gregor von Catino in eine bemerkenswerte Verlegenheit, aufgrund derer es dieser sicher nicht zufällig vermied, den Pontifex in der Episode über die Einbeziehung Heinrichs IV. in den libro commemoratorio aus Farfa zu erwähnen. All dies zeigt zudem, dass die Parteinahmen zugunsten von Clemens III . beziehungsweise Gregor VII . sehr fließend waren, wie auch der Liber vitae aus Subiaco veranschaulicht.66 Noch deutlicher politisch konnotiert ist das spätestens 1099 angefertigte Gedenkbuch von Polirone, dessen letzte Einträge jedoch bis ins vierte Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts reichen, wo Urban II . und Abt Hugo von Cluny Erwähnung finden.67 Dieser Liber vitae bestätigt zum einen aufgrund der Bezie63 Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 118. 64 Thomas Frank, I rapporti tra Farfa e Subiaco nel secolo XI, in: Farfa abbazia imperiale. Atti del Convegno internazionale, Farfa-Santa Vittoria in Matenano 25 – 29 agosto 2003, hg. von Rolando Dondarini (2006) S. 215 – 232. 65 Il Chronicon Farfense di Gregorio di Catino, I, hg. von Ugo Balzani (Fonti per la Storia d’Italia 33, 1903) S. 172. 66 Nicolangelo D’Acunto, Das Wibertinische Schisma in den Quellen des Regnum Italiae, in: Gegenpäpste. Ein unerwünschtes mittelalterliches Phänomen, hg. von Harald Müller / Brigitte Hotz (Papsttum im mittelalterlichen Europa 1, 2012) S. 83 – 96. 67 Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 137 – 155.
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hungen zu Venedig sowie zu den Grafen von Treviso die hegemonialen Pläne Mathildes von Canossa in Bezug auf den adriatischen Raum.68 Darüber hinaus erlaubt er es, eine Karte der Beziehungen der Canossa zu einer großen Gruppe von Mantuanern, qui fecerunt fidelitatem, zu zeichnen, aber auch der Beziehungen zu den weltlichen fideles des Klosters, die unterteilt waren in diejenigen, die einen Treueid geleistet hatten, und diejenigen, auf die dies nicht zutraf. Während Schwarzmaier diese Treue in politischem, rechtlichem und wirtschaftlichem Sinne ausgelegt hatte,69 unterstrich Cinzio Violante in gelungenen Ausführungen den religiösen Charakter der fidelitas, obgleich sie „assumesse forme feudali e potesse comportare impegni anche feudali“ („Formen des Lehnswesens annahm und auch Lehnsverpflichtungen implizieren konnte“).70 Sieht man einmal von diesen voneinander abweichenden Interpretationen ab, so bleibt der bedeutsamste Fakt die dichte Präsenz von Laien im Liber vitae, welche dessen im Prolog angesprochene Funktion in die Tat umsetzt: Die Barmherzigkeit Gottes wurde auch den Laien – die sich dem Altar nicht wie die Priester nähern durften – zuteil, indem sie vor seinem Angesicht erscheinen konnten mithilfe der Niederschrift ihres Namens in ein heiliges Buch, das stets auf dem Altar lag.71 Dies erklärt, warum der Liber vitae bis auf sehr wenige Ausnahmen (beispielsweise Urbans II.) nur Namen von Laien aufweist. Der Vergleich mit dem analogen programmatischen Text aus dem Gedenkbuch von S. Savino di Piacenza zeigt, dass in den wenigen Jahrzehnten des Investiturstreits ein neues ekklesiologisches Gleichgewicht Gestalt angenommen hatte. Tatsächlich beharrte der Autor des Prologs zur Zeit Heinrichs III . auf der allgemeinen Zerbrechlichkeit des von Sünde befleckten Daseins der Menschen. Die daraus hervorgehende Unterteilung in Mönche und Laien war schlicht funktional: Die Mönche beteten, die Laien entschädigten sie,
68 Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 145. 69 Hansmartin Schwarzmaier, Das Kloster S. Benedetto di Polirone in seiner cluniazensischen Umwelt, in: Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, hg. von Josef Fleckenstein / Karl Schmid (1968) S. 280 – 294, hier S. 287 – 288. 70 Cinzio Violante, Per una riconsiderazione della presenza cluniacense in Lombardia, in: Cluny in Lombardia. Atti del Convegno Storico Celebrativo del IX Centenario della Fondazione del Priorato Cluniacense di Pontida, 22 – 25 aprile 1977 (1981) S. 521 – 664, hier. S. 632. Zum selben Thema äußerte sich jüngst Giuseppe Gardoni, Élites cittadine fra XI e XII secolo: il caso mantovano, in: Medioevo. Studi e documenti 2, hg. von Andrea Castagnetti / Antonio Ciaralli / Gian Maria Varanini (2007) S. 281 – 350. 71 Vgl. Violante, Per una riconsiderazione della presenza cluniacense in Lombardia (wie Anm. 70) S. 633.
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indem sie für ihren Lebensunterhalt Sorge trugen.72 Auch aus diesem Grund finden sich im Liber vitae von S. Savino di Piacenza sowohl Laien als auch Mönche (und Nonnen). Im Gegensatz dazu besteht der Prolog aus Polirone auf der ekklesiologischen Verschiedenartigkeit, die Mönche und Priester von den Laien unterscheidet. Der Hinweis darauf, dass es den saeculares unmöglich sei, sich dem Altar zu nähern, deutet eine typisch gregorianische Hierarchisierung der ordines an, der die Mönche durch die Praxis, Laien in den Liber vitae aufzunehmen, entgegenzuwirken versuchten, indem sie ein „altes“ Instrument der monastischen Tradition den neuen Zeiten anpassten. Die Laien ihrerseits waren gegenüber diesem Angebot, das Hand in Hand mit der Ausbreitung des cluniazensischen Mönchtums in Oberitalien ging, positiv eingestellt.73 Unter diesen Laien befanden sich nicht nur Personen, die während der Patariakämpfe oder im Rahmen heterodoxer Bewegungen intensive religiöse Erfahrungen gemacht hatten.74 Es war ein parteiübergreifendes Phänomen, das die Gregorianer ebenso wie die Heinricianer, die Anhänger der Pataria ebenso wie ihre Gegner betraf. Überdies gewann die Eintragung der Namen bedeutender Familienverbände in Italien eine ganz besondere Funktion. Südlich der Alpen entsprach die Gemeinschaft der Fürbitte einem stark empfundenen Bedürfnis nicht nur spiritueller, sondern auch kultureller und sozialer Natur, da sie, indem sie alle Verwandten einschloss, dazu beitrug – im Bewusstsein und in der Wirk lichkeit –, den Zusammenhalt des Geschlechts/des Hauses aufrechtzuerhalten. In der Tat entwickelten die führenden Schichten, mit denen wir uns hier beschäftigen, eine ausgeprägte Tendenz zur Bewahrung und Übermittlung von mehr oder weniger bedeutenden Kenntnissen über die eigene Vergangenheit. Bekanntlich steht dieses Phänomen in Verbindung mit dem Prozess des Übergangs von kognatischen zu agnatischen Familienstrukturen, der sich in Italien gegenüber anderen europäischen Regionen sehr frühzeitig vollzog.75 Auf unterschiedliche Weise nutzten die Eliten des Regnum Italiae die bestehenden Klöster oder gründeten 72 Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 194. 73 Recueil des Chartes de L‘Abbaye de Cluny 4, hg. von Alexandre Bruel (1888) Nr. 3312 S. 405 – 406; vgl. Violante, Per una riconsiderazione della presenza cluniacense in Lombardia (wie Anm. 70) S. 627. 74 Dieser Ansicht ist jedoch Frank, Studien zu italienischen Memorialzeugnissen (wie Anm. 42) S. 186. 75 Cinzio Violante, L’immaginario e il reale. I ‚da Besate‘. Una stirpe feudale e ‚vescovile‘ nella genealogia di Anselmo il Peripatetico e nei documenti, in: Nobiltà e chiese nel medioevo e altri saggi. Scritti in onore di Gerd G. Tellenbach, hg. von Cinzio Violante (1993) S. 97 – 157, hier S. 139.
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neue, stets mit dem Ziel der Stärkung der Dynastiebildung. Etwas Ähnliches geschieht in den Libri vitae: Sowohl die in den Gedenkbüchern karolingischen Ursprungs enthaltenen Nachträge als auch die Listen in den neuen Memorialbüchern waren überfüllt von Laien, die darauf drängten, an den Früchten des mönchischen Gebets teilzuhaben. Auf diese Weise hofften sie, ihre familiären und dynastischen Pläne für die Zukunft zu sichern, indem sie die Erinnerung an ihre individuelle Existenz in die Ewigkeit projizierten.
Großgruppeneinträge in den Libri memoriales Anmerkungen zu Bischöfen der späten Karolingerzeit im Kontext großer Gruppen von Jens Lieven Mit der systematischen Erschließung der Libri memoriales ist seit vielen Jahrzehnten die Erforschung frühmittelalterlicher Personen und Personengruppen auf das Engste verknüpft, ja man kann sogar sagen, beide Forschungszweige gehören bis heute untrennbar zusammen und ergänzen sich wechselseitig. Der lange Zeit vorherrschenden Ratlosigkeit, auf welche Weise „diese undurchding lich erscheinenden Bücher zu erschließen seien“,1 kam man erst bei, nachdem Gerd Tellenbach, Karl Schmid und Eduard Hlawitschka in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit ersten Vorarbeiten zur kritischen Edition des Liber memorialis von Remiremont begonnen hatten.2 Dabei erkannten sie, dass sich die in den Verbrüderungsbüchern zum Zweck des kollektiven Gebetsgedenkens 3 eingetragenen Namen mithilfe paläographisch-kodikologischer Befunde nicht nur in ihrer Eintragsfolge (relativ-) chronologisch abschichten, sondern auch einzelnen Einträgen zuordnen ließen, da sie in aller Regel nicht zufällig oder nach Belieben zusammengestellt worden waren,4 sondern offenbar zusammengehörende
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Gerd Tellenbach, Vorwort, in: Liber memorialis von Remiremont1: Textband, hg. von Eduard Hlawitschka / Karl Schmid / Gerd Tellenbach (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales 1, 1970, Nachdruck 1981) S. VIII. 2 Vgl. dazu Karl Schmid, Auf dem Weg zur Erschließung des Gedenkbuchs von Remiremont, in: Festschrift für Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag, hg. von Karl Rudolf Schnith / Roland Pauler (Münchener historische Studien, Abteilung mittelalterliche Geschichte 5, 1993) S. 59 – 96. Zum Liber memorialis von Remiremont vgl. auch den Beitrag von Franz-Josef Jakobi in diesem Band. 3 Vgl. hierzu den konzisen Überblick bei Otto Gerhard Oexle, Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur des Mittelalters, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von Joachim Heinzle (1999) S. 297 – 323, hier S. 307 ff. 4 Anders Hartmut Hoffmann, Anmerkungen zu den Libri Memoriales, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 53 (1997) S. 415 – 459, hier S. 437 und S. 458.
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Namen von gleicher Hand, in einem Zug und mit gleicher Tinte in den Libri memoriales Aufnahme fanden.5 Durch diese ebenso einfache wie bahnbrechende Erkenntnis wurde es mög lich, die umfangreichen Namenkolumnen strukturell zu analysieren und dabei unabhänigig von einzelnen Namen ihr Gefüge und die Regeln, nach denen sie aufgezeichnet wurden, näher in den Blick zu nehmen. Nicht selten waren dabei soziale Gruppen auszumachen, die aufgrund der mitunter vorhandenen Zusätze und Überschriften sowie durch die Feststellung von Namenüberschneidungen innerhalb verschiedener Einträge 6 als Konvente monastischer und geistlicher Gemeinschaften 7 oder als Familien- und Verwandtenkreise der adligen Führungsschicht im Reich der Karolinger und Ottonen angesprochen werden konnten.8 Die Erforschung der Libri memoriales und die daraus resultierende Einsicht, dass der mit Abstand größte Teil der frühmittelalterlichen Personenzeugnisse stärker soziale Gruppen erkennen lässt als die vergleichsweise selten eindeutig identifizierbaren Personen selbst, brachte Karl Schmid auf den Gedanken, dass Mönchtum und Adel im Frühmittelalter „in Gestalt monastischer und adeliger Gemeinschaften in Erscheinung traten und daher in ihrer geschichtlichen Eigenart und in ihrem geschichtlichen Werdegang nur dann recht zu begreifen sind, wenn man ihrer Funktion als Gemeinschaftsträger gerecht wird“.9 Dementsprechend wurden von Schmid und seinen Schülern Personen des Mittelalters 5 Vgl. Gerd Tellenbach, Einleitung, in: Liber memorialis von Remiremont (wie Anm. 1) S. XXIV sowie ausführlich auch Karl Schmid, Wege zur Erschließung des Verbrüderungsbuchs, in: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, hg. von Johanne Authenrieth / Dieter Geuenich / Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et Necrologia, Nova Series 1, 1979) S. LXXIV f. 6 Zur Methode, mithilfe von Parallelregistern Namen in ihren Überlieferungszusammenhängen und zugleich Personen in ihren Gruppen zusammenzusehen, vgl. Karl Schmid, Programmatisches zur Erforschung der mittelalterlichen Personen und Personengruppen, Frühmittelalterliche Studien 8 (1974) S. 116 – 130, hier S. 125 f. 7 Vgl. etwa Dieter Geuenich, Die ältere Geschichte von Pfäfers im Spiegel der Mönchs listen des Liber Viventium Fabariensis, Frühmittelalterliche Studien 9 (1975) S. 226 – 252. Die westfränkischen Gemeinschaften untersucht Otto Gerhard Oexle, Forschungen zu monastischen und geistlichen Gemeinschaften im westfränkischen Bereich (Münstersche Mittelalterschriften 31, 1978). 8 Vgl. Karl Schmid / Joachim Wollasch, Die Gemeinschaft der Lebenden und der Verstorbenen in Zeugnissen des Mittelalters, Frühmittelalterliche Studien 1 (1967) S. 365 – 405, hier S. 380 ff. 9 Karl Schmid, Über das Verhältnis von Person und Gemeinschaft im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 1 (1967) S. 225 – 249, hier S. 248.
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erforscht,10 indem sie Personengruppen in den Blick nahmen und sich zu diesem Zweck der Gedenküberlieferung zuwandten.11 Parallel zur Erschließung und kritischen Edition weiterer Libri vitae 12 wurden so außer den Gemeinschaften, in denen Gedenkbücher geführt wurden,13 auch die in ihnen verzeichneten Gruppen untersucht, wobei neben verbrüderten Konventen und Adelsfamilien 14 auch
10 Vgl. zum Hergang der Forschung unlängst den Überblick von Dieter Geuenich: Von der Adelsforschung zur Memoriaforschung, in: Pro remedio et salute anime peragemus. Totengedenken am Frauenstift Essen im Mittelalter, hg. von Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift 6, 2008) S. 9 – 18. 11 Vgl. hierzu ausführlich Karl Schmid / Joachim Wollasch, Societas et Fraternitas. Begründung eines kommentierten Quellenwerks zur Erforschung der Personen und Personengruppen des Mittelalters, Frühmittelalterliche Studien 9 (1975) S. 1 – 48, sowie Joachim Wollasch, Das Projekt ‚Societas et Fraternitas’, in: Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, hg. von Dieter Geuenich / Otto Gerhard Oexle (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 111, 1994) S. 11 – 31. 12 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 5); Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia, hg. von Dieter Geuenich / Uwe Ludwig (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et Necrologia, Nova Series 4, 2000); Die Totenbücher von Merseburg, Magdeburg und Lüneburg, hg. von Gerd Althoff / Joachim Wollasch (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et Necro logia, Nova Series 2, 1983); Das Martyrolog-Necrolog von St. Emmeran zu Regensburg, hg. von Eckhard Freise / Dieter Geuenich /Joachim Wollasch (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et Necrologia, Nova Series 3, 1986). 13 Vgl. etwa Die Klostergemeinschaft von Fulda im frühen Mittelalter, 3 Bde., hg. von Karl Schmid (Münstersche Mittelalterschriften 8, 1978) oder auch Roland Rappmann / Alfons Zettler, Die Reichenauer Mönchsgemeinschaft und ihr Totengedenken im frühen Mittelalter (Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland 5, 1998). 14 Dieter Geuenich, Die politischen Kräfte im Bodenseegebiet in der Zeit zwischen dem älteren und dem jüngeren alemannischen Herzogtum (746 – 917), in: Geistesleben um den Bodensee im frühen Mittelalter, hg. von Dieter Geuenich / Achim Masser / Alois Wolf (Literatur und Geschichte am Oberrhein, 1989) S. 29 – 56; Karl Schmid, Von Hunfrid zu Burkhard. Bemerkungen zur rätischen Geschichte aus Sicht von Gedenkbucheinträgen, in: Geschichte und Kultur Churrätiens. Festschrift für Pater Iso Müller OSB zu seinem 85. Geburtstag, hg. von Ursus Brunold / Lothar Deplazes (1986) S. 181 – 209; Michael Borgolte, Die Grafen Alemanniens in merowingischer Zeit. Eine Prosopographie (Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland 2, 1986).
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Gebetsbünde und Schwureinungen (coniurationes)15 sowie weitere auf Konsens und Vertrag beruhende Gemeinschaften, wie zum Beispiel die Gilden des frühen Mittelalers, in den Blick gerieten.16 Ein Sachverhalt, der überhaupt erst durch die Erforschung und Auswertung der Memorialüberlieferung aufgedeckt wurde, verbirgt sich hinter den amicitiae und pacta des frühen Mittelalters, denen man in Verbindung mit den so genannten „Großgruppen“ auf die Spur gekommen zu sein glaubte. Die Einträge großer Personengruppen zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass der aufgenommene Personenkreis erheblich umfangreicher ist als in herkömmlichen Einträgen von Familien- und Verwandtengruppen, die in der Regel nicht mehr als 20 Personen umfassen. Ähnlich wie bei diesen ist allerdings auch für die großen Gruppen kennzeichnend, dass in ihnen sowohl Männer- als auch Frauennamen begegnen und dass sich für die jeweilige Verwandtengruppe typische Namen zum Teil mehrfach wiederholen. Zugleich beschränken sich die Einträge großer Gruppen aber nicht auf einzelne Verwandtenkreise, sondern gehen deutlich darüber hinaus. Vor allem Gerd Althoff ist es zu verdanken, diese Großgruppen, die er im Rahmen seiner Forschungen zu amicitiae und pacta des frühen 10. Jahrhunderts mit einer eigens angelegten Dokumentation würdigte, als eigene Eintragsform in den Libri memoriales ausgemacht und von Einträgen geistlicher Gemeinschaften der früheren Karolingerzeit sowie von den herkömmlichen, seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts stetig zunehmenden Verwandteneinträgen unterschieden zu haben.17 Weiterhin gelang es Althoff, die Anlage eines nicht unerheblichen Teils der Großgruppeneinträge mit der Herrschaftspraxis Heinrichs I. in Verbindung zu bringen. Vor diesem Hintergrund interpretierte Althoff die Einträge großer Gruppen als Folge einer gezielten, in sich konsistenten Einungs- und Bündnis politik, die Heinrich I. betrieben habe, um den solchermaßen gesicherten Frieden unter den Großen und die dadurch erreichte Konsolidierung der Lage im Innern des ostfränkischen Reiches zur Abwehr der Ungarn zu nutzen. Alle Einträge großer Gruppen aus vorottonischer Zeit, auf deren Existenz Althoff ausdrücklich 15 Vgl. Gerd Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter (1990) S. 85 – 133. 16 Vgl. etwa Otto Gerhard Oexle, Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit, in: Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit 1, hg. von Herbert Jankuhn (1981) S. 284 – 354, oder auch Dieter Geuenich, Beobachtungen zum Austausch von Verbrüderungslisten im Ausgang der Karolingerzeit, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 131, Neue Folge 92 (1983) S. 71 – 89. 17 Gerd Althoff, Amicitiae und Pacta. Bündnis, Einung, Politik und Gebetsgedenken im beginnenden 10. Jahrhundert (Monumenta Germaniae Historica, Schriften 37, 1992).
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hinweist, bewertet er hingegen als Einzelfall. Erst im beginnenden 10. Jahrhundert seien die Eintragungen, so zahlreich, dass man „von einer Bewegung oder einer Welle von Einträgen sprechen“ könne, welche „die Gedenkquellen geradezu überschwemmte und binnen kurzer Zeit in verschiedenen Verbrüderungsbüchern den zur Verfügung stehenden Raum ausfüllte“.18 Kamen zuletzt mit Blick auf das von Althoff entworfene Modell der AmicitiaBündnisse, die ihm zufolge für die Herrschaftspraxis Heinrichs I. nachgerade konstitutiv gewesen sein sollen, vor allem hinsichtlich der Ungarnabwehr Zweifel auf,19 so lassen sich bei näherer Betrachtung der von Althoff ins Feld geführten Einträge eine Reihe von Beobachtungen machen, die es rechtfertigen, die g roßen Gruppen erneut in den Blick zu nehmen und dabei die bisher entwickelten Erklärungsmuster für diesen Eintragstyp zu überdenken. Nimmt man die prominentesten Namen der von Althoff dokumentierten Einträge – und damit in vielen Fällen wohl nicht zuletzt auch ihre Initiatoren – in den Blick, so ist zunächst festzustellen, dass eine beachtliche Anzahl der Großgruppeneinträge – direkt oder indirket – mit Bischöfen in Zusammenhang steht: So etwa mit Adeldag von Hamburg (937 – 988) (Althoff, Dokumentation V), Balderich von Utrecht († 975) (Althoff, Dokumentation VII), Wichfried von Köln (924 – 953) (Althoff, Dokumentation VIII), Dado (880 – 923) und Bernwin (928 – 939) von Verdun (Althoff, Dokumentation IX), Hatto von Mainz (891 – 913) (Althoff, Dokumentation XIII), Salomon III. von Konstanz (890 – 919/20) (Althoff, Dokumentation XX), Waldo von Freising (883 – 906) (Althoff, Dokumentation XX), Adalbero von Metz (929 – 954) (Althoff, Dokumentation XII ), Gauzlin von Toul (922 – 962) (Althoff, Dokumentation XII) und Ruodbert von Trier (883 – 915) (Althoff, Dokumentation XII). Zusammengenommen machen diese Einträge etwas mehr als ein Drittel aller von Althoff untersuchten Großgruppen aus, wobei sich ihre Zahl schon durch die kursorische Sichtung der Libri vitae mühelos erweitern lässt. Zieht man allein den von Althoff seinerzeit weitgehend unberücksichtigt gelassenen, vermutlich im Jahr 856 angelegten Memorial- und Liturgiecodex von Brescia heran,20 so sind 18 Althoff, Amicitiae und Pacta (wie Anm. 17) S. 10. 19 Vgl. Wolfgang Giese, Heinrich I. Begründer der ottonischen Herrschaft (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance, 2008) S. 147 f. 20 Vgl. hierzu Uwe Ludwig, Das Gedenkbuch von San Salvatore in Brescia. Ein Memorialzeugnis aus dem karolingischen Italien, in: Memoria. Ricordare e dimenticare nella cultura del medioevo – Memoria. Erinnern und Vergessen in der Kultur des Mittelalters, hg. von Michael Borgolte / Cosimo Damiano Fonseca / Hubert Houben (2005) S. 169 – 200, hier S. 181 ff.
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neben einem Eintrag mit Liutbert von Mainz und Liutward von Vercelli an der Spitze 21 weitere Großgruppeneinträge auszumachen, die die Bischöfe Rampert von Brescia (824 – 844), Garibald von Bergamo (867 – 888), Garardus von Lodi (876 – 889),22 Fulco von Reims 23 (882 – 900), Sibicho von Padua (912 – 924) und Ambrosius von Mantua (um 918)24 nennen. Man sieht also, dass sich mit den Großgruppen aus dem Liber vitae von Brescia die Zahl jener Einträge deutlich erhöht, deren Zustandekommen mit einiger Wahrscheinlichkeit von Bischöfen abhängt, so dass ihr Anteil am Gesamtaufkommen der Großgruppeneinträge deutlich über 30 Prozent liegen dürfte, zumal aus demselben Verbrüderungsbuch anscheinend keine weiteren Einträge großer Gruppen hinzukommen, die auschließlich Laien verzeichnen.25 Schon aufgrund der Zahlen dürfte deshalb die genauere Untersuchung der Bischofseinträge im Rahmen der Großgruppen ein lohnendes Unterfagen sein, wobei nicht zuletzt auch die für die Bischöfe vergleichsweise günstige Quellenlage und damit die Möglichkeiten zur historischen Kontextualisierung der Einträge vielversprechend erscheinen. Über die rein statistischen Ergebnisse hinaus lassen die genannten Einträge aus dem Memorial- und Liturgiecodex von Brescia schon auf den ersten Blick erkennen, dass die von Althoff entdeckten Großgruppeneinträge offensichtlich kein Phänomen ausschließlich des ostfränkischen Reiches waren – ein Befund, der auch durch Großgruppeneinträge im Liber memorialis von Remiremont bestätigt wird, wie Eva Maria Butz unlängst in Anlehnung an Karl Schmid deut lich machen konnte.26 Außerdem lässt sich zeigen, dass eine nicht unerhebliche Anzahl dieser Einträge nicht erst in das 10. Jahrhundert gehört, sondern schon in das 9. Jahrhundert datiert werden kann. Betrachtet man jene Einträge g roßer Gruppen, die wahrscheinlich auf die Initiative von Bischöfen zurückgehen oder Bischöfe zumindest miteinschließen, weiterhin unter chronologischen
Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore (wie Anm. 12) fol. 18r / 19r. Der Memorial- und Liturgiecodes von San Salvatore (wie Anm. 12) fol. 34v. Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore (wie Anm. 12) fol. 5v. Der Memorial und Liturgiecodex von San Salvatore (wie Anm. 12) fol. 36v / 37r. Vgl. etwa Hartmut Becher, Das königliche Frauenkloster San Salvatore / Santa Giulia in Brescia, Frühmittelalterliche Studien 17 (1983) S. 299 – 392, hier S. 365 ff. sowie Uwe Ludwig, Zur Chronologie der Nameneinträge, in: Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore (wie Anm. 12) S. 89 – 129. 26 Vgl. Eva Maria Butz, Adel und liturgische Memoria am Ende des karolingischen Frankenreiches, in: Adlige – Stifter – Mönche. Zum Verhältnis zwischen Klöstern und mittelalter lichem Adel, hg. von Nathalie Kruppa (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 227, 2007) S. 9 – 30.
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Gesichtspunkten und bringt sie in eine entsprechende Reihenfolge, so ist ferner festzustellen, dass sie wohl zuerst für das Regnum Italiae angesetzt werden müssen und erst später auch jenseits der Alpen begegnen. Für die laikalen Großgruppen aus vorottonischer Zeit hat mit ähnlichen Argumenten unlängst Uwe Ludwig klargestellt, dass sie in ihrer Gesamtheit sicher nicht Ausdruck einer von Heinrich I. geförderten oder gar gelenkten Einungs- und Bündnispolitik gewesen sein dürften. Vielmehr sieht er in ihnen „Zeugnisse des wachsenden Selbstbewußtseins adliger Eliten“, die während der Krise der Karolingerherrschaft begannen, ihre Machtposition und ihren Einfluss mit Unterstützung oder auch auf Kosten des Königtums auszubauen.27 Insofern deutet vieles darauf hin, dass monastische Gemeinschaften seit dem späteren 9. Jahrhundert begannen, neben dem Königtum zunehmend auch Grafen und Herzöge als Schutzherren und Wohltäter zu betrachten und sie zusammen mit ihren Verwandten, Feunden und Getreuen analog zum König und seiner Familie in das Gebetsgedenken aufzunehmen.28 Was für den weltlichen Adel bereits erörtert wurde,29 bleibt freilich mit Blick auf die Bischöfe in weiten Teilen erst noch zu untersuchen, auch wenn insbesondere mit den Studien von Geneviève Bührer-Thierry zu den Bischöfen im Umkreis der ostfränkischen Karolinger zwischen 876 und 911 erste wichtige Vorarbeiten vorliegen.30 Um jenen Einträgen großer Gruppen, die mit Bischöfen zu tun haben, weiter auf den Grund zu gehen, wäre es notwendig, das zur Verfügung stehende Material zahlenmäßig genau zu erfassen und die Gesamtheit der Einträge sodann einer Untersuchung zu unterziehen. Zu berücksichtigen wären im Rahmen einer solchen Untersuchung neben der personen- und gruppengeschichtlichen Dimension
27 Vgl. Uwe Ludwig, Krise des Karolingerreichs und Gebetsgedenken. Anmerkungen zum Problem der großen Personengruppen in den frühmittelalterlichen Libri vitae, in: Les élites au haut moyen âge. Crises et renouvellments, hg. von François Bougard / Laurent Feller / Régine Le Jan (2006) S. 439 – 456 (Zitat: S. 452). 28 Eva Maria Butz, Eternal amicitia? Social and Political Relationships in the Early Medieval libri memoriales, in: Passages from Antiquity to the Middle Ages 3. De Amicitia, hg. von Katharina Mustakallio / Christian Krötzel (Acta Instituti Romani Finlandiae 36, 2010) S. 155 – 172, hier S. 164. 29 Vgl. etwa Uwe Ludwig, Transalpine Beziehungen der Karolingerzeit im Spiegel der Memo rialüberlieferung. Prosopographische und sozialgeschichtliche Studien unter besonderer Berücksichtigung des Liber vitae von San Salvatore in Brescia und des Evangeliars von Cividale (Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte 25, 1999). 30 Geneviève Bührer-Thierry, Les évêques de Bavière et d’Alémannie dans l’entourage des derniers rois carolingiene en Germanie (876 – 911), Francia 16 (1989) S. 31 – 52.
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der Einträge vor allem Fragen, die das Verhältnis von Königtum und Episkopat berühren,31 und zwar insbesondere mit Blick auf die politischen, rechtlichen und religiösen Gesichtspunkte dieses Verhältnisses.32 Wenn im Folgenden die Großgruppeneinträge unter besonderer Berücksichtigung der Bischöfe thematisiert werden, so geschieht dies freilich nicht in der Absicht, eine Untersuchung dieses Zuschnitts vorzulegen. Vielmehr gelten die nachstehenden Ausführungen ersten Vorüberlegungen, die anhand einiger Beispiele den Rahmen aufzeigen wollen, innerhalb dessen sich die Interpretation auch der übrigen großen Bischofseinträge bewegen könnte.33 Bevor deshalb einige der großen Bischofseinträge näher in den Blick genommen werden, ist zunächst auf ein paar allgemeine Gesichtspunkte einzugehen, welche die Rolle der Bischöfe als Akteure im Kontext des Gebetsgedenkens und ihren Anteil am Zustandekommen von Gebetsverbrüderungen betreffen. Anknüpfen läßt sich dabei an Marie-Luise Laudage, die unter Hinweis auf Wilfrid I. von York, Bertram von Le Mans und Romanus von Meaux auf die zentrale Bedeutung der Bischöfe für die Gebetsverbrüderungen des 7. und 8. Jahrhunderts aufmerksam gemacht und dabei ferner die Gebetsverbrüderung Alcuins mit Bischof Higbald und dem Kloster Lindisfarne angesprochen hat;34 vertieft und mit Blick auf das 9. beziehungsweise 10. Jahrhundert fortentwickelt hat sie diesen Aspekt jedoch nicht. Sicher zu Recht macht Laudage ferner vor allem Synoden als jenen Ort aus, an dem Gebetsverbrüderungen von und mit Bischöfen vereinbart wurden; allerdings ordnet sie sie einseitig in religiöse Zusammenhänge ein, ohne die politischen Dimensionen der Synoden im Frankenreich im Blick zu haben oder auszuloten, ob daneben auch andere Anlässe für den Abschluss einer Verbrüderung in Betracht kommen könnten.35 31 Beispielsweise in Anlehnung an Karl Ferdinand Werner, Missus – Marchio – Comes. Entre l’administration centrale et l’administration locale de l’Empire carolingien, in: Histoire comparée de l’administration (IVe-XVIIIe siècles) hg. von Karl Ferdinand Werner / Werner Paravicini (Beihefte der Francia 9, 1980) S. 191 – 239, hier S. 197 ff. 32 Vgl. etwa Hans Hubert Anton, Zum politischen Konzept karolingischer Synoden und zur karolingischen Brüdergemeinschaft, Historisches Jahrbuch 99 (1979) S. 55 – 132. 33 Ein Gesamtverzeichnis der „Bischofseinträge“ in den Libri memoriales wird derzeit durch Verf. angelegt. Seine Bearbeitung erfolgt im Rahmen eines Habilitationsprojekts, das auf die systematische Aufarbeitung und Kommentierung der „Bischofseinträge“ in den Libri memoriales abzielt. Naturgemäß spielen dabei auch die Einträge großer Gruppen eine Rolle. 34 Alcvini sive Albini epistolae, hg. von Ernst Dümmler (Monumenta Germaniae Historica, Epistolae Karolini aevi 2, 1895) Nrn. 21, 24, 124 und 285. 35 Marie-Luise Laudage, Caritas und Memoria mittelalterlicher Bischöfe (Münstersche Historische Forschungen 3, 1993) S. 124 f.
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Dass seit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts mit einer maßgeblichen Rolle der Synoden für den Abschluss von Gebetsverbrüderungen zu rechnen ist, machen schon einige der frühesten Zeugenisse der Verbrüderungsbewegung im Frankrenreich deutlich. So schlossen bekanntermaßen im Rahmen der Synode von Attigny nicht weniger als 44 geistliche Würdenträger – darunter 22 Bischöfe, fünf Abtbischöfe und 17 Äbte – einen Gebetsbund. Darin verpflichteten sie sich, dass jeder der Vertragspartner im Todesfall eines anderen 100 Psalter und 100 Messen singen lassen und 30 Messen persönlich feiern werde, sofern er nicht erkrankt oder anderweitig verhindert sei. Trete ein solcher Hinderungsgrund ein, müsse ein anderer Bischof stellvertretend für die vereinbarten Gebetsleistungen sorgen. Gleiches galt auch für die Äbte, die nicht Bischof waren.36 Bereits Karl Schmid konnte darlegen, dass der Gebetsbund des Jahres 762 somit auf das persönliche Totengedächtnis der Vertragspartner abgestimmt war, unter denen die Bischöfe nicht nur zahlenmäßig dominierten, sondern auch 36 Concilia aevi Karolini, hg. von Albert Werminghoff (Monumenta Germaniae Historica, Concilia 2, 1, 1906) Nr. 13: […] quando quislibet de hoc saeculo migraverit, centum psalteria et presbiteri eius speciales misas centum cantent. Ipse autem episcopus per se XXX misas impleat, nisi infirmitate aut aliquo inpedimento prohibeatur. Tunc roget alterum episcopum pro se cantare. Abbates vero, qui non sunt episcopi, rogent episcopos, ut vice illorum ipsas XXX misas expleant, et presbiteri eorum centum misas et monachi centum psalteria psallere meminerunt. (1) Hrodegangus episcopus civitas Mettis (2) Eddo episcopus civitas Stradburgo (3) Lullo episcopus civitas Maguntiaci (4) Lupus episcopus civitas Senonis (5) Baldeberhtus episcopus civitas Baselae (6) Uulframnus episcopus civitas Meldis (7) Remedius vocatus episcopus civitas Rodoma (8) Maurinus episcopus civitas Eboracas (9) Genbaudus episcopus civitas Laudumo (10) Hildigangus episcopus civitas Suaseonis (11) Athalfridus episcopus civitas Novionis (12) Megingozus episcopus civitas Uuirziaburgo (13) Uuilliharius episcopus de monasterio sancti Maurici (14) Folcricus episcopus civitas Tungris (15) Theodulfus episcopus de monasterio Laubicis (16) Hiddo episcopus civitas Augustoduno (17) Yppolitus episcopus de monasterio Eogendi (18) Iacob episcopus de monasterio Gamundias (19) Gaucilenus episcopus civitas Celmanis (20) Iohannes episcopus civitas Constantia (21) Uuillibaldus episcopus de monasterio Achistadi (22) Madalfeus episcopus civitas Uuirdunis (23) Harifeus episcopus civitas Bisentionis (24) Leodeningus episcopus civitas Baiogas (25) Eusebius episcopus civitas Toronis (26) Tello episcopus civitas Coeradiddo (27) Mauriolus episcopus civitas Andecavis (28) Fulradus abbas de monasterio sancti Dionisio (29) Lantfridus abbas de sancto Germano (30) Iohannis abbas de sancto Flodoaldo (31) Druhtgangus abbas de Gemedico (32) Uuithlecus abbas de Funtanellas (33) Uuitmarus abbas de Centula (34) Leodharius abbas de Corbeia (35) Manase abbas de Flaviniaco (36) Asinarius abbas de Novalicio (37) Uualdo abbas de sancto Iohanne (38) Fabigaudus abbas de Busbrunno (39) Godobertus abbas de Rasbacis (40) Athalbertus abbas de Fabarias (41) Uuidradus abbas de sancta Columba (42) Ebarsindus abbas de Aldaha (43) Geraus abbas de Niviella (44) Ragingarius abbas de Utico.
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die „Richtschnur für den Vollzug des […] Gedächtnisses“ abgaben.37 Neben den Vertragspartnern selbst waren aber auch die ihnen untergeordneten Kleriker und Mönche in den Gebetsbund eingeschlossen.38 Wie das Reichenauer Verbrüderungsbuch mit den in ihm verzeichneten Konventslisten aus der Zeit der Synode von Attigny zu erkennen gibt, scheinen die am Gebetsbund des Jahres 762 beteiligten Bischöfe und Äbte – so wie dies im Zusammenhang mit der Synode von Dingolfing explizit erwähnt wird 39 – die ihnen unterstehenden Gemeinschaften angewiesen zu haben, das Gebetsgedenken auch untereinander zu praktizieren und dem Bund beizutreten. Das Kloster St. Gallen, das ebenso wie die Reichenau durch Bischof Johannes von Konstanz auf der Synode vertreten war, findet sich unter den im Reichenauer Verbrüderungsbuch verzeichneten Konventslisten jedenfalls ebenso wie die geistlichen Gemeinschaften, die den in Attigny anwesenden Oberhirten von Basel, Chur, Metz und Straßburg unterstellt waren.40 Auf der Synode von Attigny, die unter der Leitung Chrodegangs von Metz stand, wurden – soweit zu sehen ist – keine kirchenrechtlichen Beschlüsse gefasst.41 Doch zeigt allein das Zustandekommen des Gebetsbundes die nicht unbeträchtliche politische Bedeutung der Synode an, die vor allem in der Überwindung der vorhandenen Parteiungen im fränkischen Episkopat gelegen haben dürfte. Unter der Ägide Chrodegangs scheint sich somit nicht nur die Reorganisation vakanter Kirchen, sondern auch die Hinwendung älterer Bischöfe zur Reform vollzogen zu haben, so dass in Attigny „die ganze Francia bis zur Loire in die Aktion des Königs und seines archiepiscopus einbezogen“ werden
37 Karl Schmid / Otto Gerhard Oexle, Voraussetzungen und Wirkungen des Gebetsbundes von Attigny, Francia 2 (1974) S. 71 – 122, hier S. 85. 38 Vgl. hierzu und zum Folgenden Karl Schmid, Bemerkungen zu Synodalverbrüderungen der Karolingerzeit, in: Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag 2, hg. von Karl Hauck / Karl Kroeschell / Stefan Sonderegger / Dagmar Hüpper / Gabriele von Olberg (1986) S. 693 – 710, hier S. 698. 39 Concilia aevi Karolini (wie Anm. 36) Nr. 15: […] in domo sua, id est episcopale vel coenubio, C missas speciales et eodem numero psalteria cantare faciat, ipse vero de propria persona sua XXX speciales conpleat missas vel a religiosis sibimet subiectis implere omnino prenotatum faciat numerum. 40 Schmid / Oexle, Voraussetzungen und Wirkungen des Gebetsbundes von Attigny (wie Anm. 37) S. 104 ff. 41 Vgl. Wilfried Hartmann, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien (Konziliengeschichte A: Darstellungen, 1989) S. 79.
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konnte.42 Ein ähnlicher Effekt lässt sich ebenfalls mit Blick auf die Synode von Dingolfing ausmachen, auch wenn dort ausschließlich die episcopi et abbates in Baioaria einen Gebetsbund schlossen 43 und für das vereinbarte Totengedenken somit stärker regionale Züge auszumachen sind. Auf den direkten Einfluss der Synode von Dingolfing scheint zudem das 784 angelegte Salzburger Verbrüderungsbuch zurückzugehen,44 das von den Salzburger Bischöfen Virgil und Arn in Auftrag gegeben beziehungsweise vollendet wurde und das dem Gedächtnis aller dienen sollte, deren Namen sunt scripta in libro vitae et supra sancto altario sunt posita.45 Man sieht also, dass im späteren 8. Jahrhundert Bischöfe in großer Zahl Gebetsverbrüderungen in regionalen und überregionalen Zusammenhängen initiierten und die Umsetzung dieser Verbrüderungen dann auch wesentlich mittrugen, wobei das Bedürfnis nach persönlichem Gebetsgedenken eine nicht unwesent liche Rolle gespielt zu haben scheint. Für Salzburg ist ferner zu erkennen, dass mit Virgil und Arn Bischöfe zur geordneten praktischen Handhabung des Gebetsgedenkens ein Verbrüderungsbuch anlegen ließen. Gleichermaßen scheint dies auch für den Liber viventium Fabariensis zu gelten, der durch Bischof Remedius von Chur um 815 in Auftrag gegeben worden sein dürfte,46 weshalb die Anlage
42 Vgl. Eugen Ewig, Beobachtungen zur Entwicklung der fränkischen Reichskirche unter Chrodegang von Metz, Frühmittelalterliche Studien 2 (1968) S. 67 – 77, hier S. 71 f. (Zitat S. 72). 43 Concilia aevi Karolini (wie Anm. 36) Nr. 15 (B). 44 Rosamund McKitterick, Geschichte und Gedächtnis im frühmittelalterlichen Bayern: Virgil, Arn und der Liber Vitae von St. Peter zu Salzburg, in: Erzbischof Arn von Salzburg, hg. von Meta Niederkorn-Bruck / Anton Scharer (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 2004) S. 68 – 80, hier S. 75 ff. sowie unlängst Maximilian Diesenberger, Das Salzburger Verbrüderungsbuch, in: Bücher des Lebens – Lebendige Bücher, hg. von Peter Erhart / Jakob Kuratli Hüeblin (2010) S. 31 – 35. 45 Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Orginalformat der Handschrift A 1 aus dem Archiv von St. Peter in Salzburg, hg. von Karl Forstner (Codices Selecti 51, 1974) pag. 5. 46 Vgl. hierzu Jens Lieven, Der Liber viventium von Pfäfers. Zum historischen Zeugniswert einer liturgischen Handschrift, in: Bücher des Lebens (wie Anm. 44) S. 83 – 88; Walter Kettemann, Ein Namen-Text. Die Churer Bischofsreihe und die politische Botschaft des ältesten Eintrags im Liber viventium Fabariensis, in: Ebd., S. 90 – 95 sowie künftig Walter Kettemann / Jens Lieven, Der Liber viventium Fabariensis als Quelle zur politischen und kulturellen Integration Churrätiens in das Karolingerreich. Überlegungen anhand des ältesten Eintrags, in: Sammelband zur Tagung: Kulturelle Integration und Personennamen
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des Codex einen Impuls in den – stärker noch als zuvor durch den Episkopat getragenen – Reformsynoden des Jahres 813 gefunden haben könnte.47 Nimmt man vor diesem Hintergrund das ostfränkische Reich in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts in den Blick, so läßt sich bald nach der Jahrhundertmitte vielerorts eine Erneuerung der Verbrüderungsbewegung ausmachen. Zunächst ist an die Anlage des jüngeren Liber memorialis von St. Gallen zu erinneren, dessen Datierung zwischen 860 und 865 durch Dieter Geuenich 48 jüngst Uwe Ludwig modifizieren und die Zeit zwischen 855 und 860 wahrscheinlich machen konnte.49 Darüber hinaus wies er darauf hin, dass die Anlage des Codex „nicht nur auf eine Neuordnung älterer Listenbestände abzielte, sondern gerade im Bereich der klösterlichen Verbrüderung eine Belebung und Intensivierung des Gedenkens anstrebte.“ 50 Eine Intensivierung des Gebetsgedenkens ist wenig später auch im Kloster Fulda auszumachen. Dort schloss man 863 einen von der gesamten Fuldaer Mönchsgemeinschaft getragenen und auf sie bezogenen Gebetsbund (conventio), der über den in Fulda bis dahin bekannten Rahmen
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im Mittelalter, hg. von Wolfgang Haubrichs / Christa Jochum-Godglück / Andreas Schorr (Universität des Saarlandes Saarbrücken 20. bis 22. Februar 2009) [im Druck]. Annales regni Francorum a. 813, hg. von Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 6, 1895) S. 138: Concilia quoque iussu eius super statu ecclesiarum corrigendo per totam Galliam ab episcopis celebrata sunt, quorum unum Mogontiaci, alterum Remis, tertium Turonis, quartum Cabillione, quintum Arelati congregatum est; et constitutionum, quae in singulis factae sunt, collatio coram imperatore in illo conventu habita. Quas qui nosse voluerit, in supradictis quinque civitatibus invenire poterit, quamquam et in archivo palatii exemplaria illarum habeantur. Vgl. hierzu Hartmann, Die Synoden der Karolingerzeit (wie Anm. 41) S. 134 ff.; Franz Staab, Die Mainzer Kirche im Frühmittelalter, in: Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte 1, 1. Christliche Antike und Mittelalter, hg. von Friedhelm Jürgensmeier (2000) S. 87 – 194, hier S. 148 f., sowie zusammenfassend Rosamund McKitterick, Karl der Große (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance, 2008) S. 265 ff. Dieter Geuenich, Die St. Galler Gebetsverbrüderungen, in: Die Kultur der Abtei St. Gallen, hg. von Werner Vogler (1990) S. 29 – 38, hier S. 32. Vgl. Uwe Ludwig, Wann ist das jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch entstanden?, in: Bücher des Lebens – Lebendige Bücher, hg. von Peter Erhart und Jakob Kuratli Hüeblin (2010) S. 51 – 58, hier S. 57. Uwe Ludwig, Die Gebetsverbrüderung zwischen Prüm und St. Gallen. Zugleich ein Beitrag zur Frage der Datierung des jüngeren St. Galler Verbrüderungsbuches, in: Beiträge zur Geschichte des Rhein-Maasraumes. Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag, hg. von Thorsten Fischer / Jens Lieven (= Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 213, 2010) S. 3 – 32, hier S. 24.
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des Totenoffiziums hinauswies.51 Für den Kölner Raum lässt sich in dieser Zeit eine ordinatio pro defunctis nachweisen, die der bis 862 amtierende Kölner Chor bischof Hildebert zusammen mit einer namentlich nicht genannten fraterna cohors erließ.52 Ihre Inhalte und die über Köln hinausweisende Verbreitung deuten dabei auf ähnliche Beweggründe hin wie in St. Gallen und Fulda.53 Zusammengenommen machen die nahezu zeitgleich nachweisbaren Neuansätze im Totengendenken deutlich, dass um 860 nicht nur in St. Gallen oder im Bodenseegebiet,54 sondern auch in anderen Teilen des ostfränkischen Reiches (und darüber hinaus55) das Gebetsgedenken intensiviert und belebt worden ist. 51 Vgl. Otto Gerhard Oexle, Memorialüberlieferung und Gebetsgedächtnis in Fulda vom 8. bis zum 11. Jahrhundert, in: Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter 1, hg. von Karl Schmid (Münstersche Mittelalter-Schriften 8, 1, 1978) S. 136 – 177, hier S. 150 ff. (Edition ebd., S. 207 f.) 52 Das älteste Totenbuch des Stiftes Xanten, hg. von Friedrich Wilhelm Oediger (Die Stiftskirche des hl. Viktor zu Xanten 2, 3, 1958) S. 97. 53 Zur Kölner ordinatio pro defunctis vgl. unlängst Michael Oberweis, Spiritualiter providere et in temporalibus consulere. Die Gebetsverbrüderungen des Xantener Viktor-Stifts, in: Das St. Viktor-Stift Xanten. Geschichte und Kultur im Mittelalter, hg. von Dieter Geuenich / Jens Lieven (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein, Neue Folge 1, 2012) S. 133 – 151, hier S. 134 ff., der die ordinatio allerdings auf vor 855 datiert. Zur Xantener Überlieferung der ordinatio vgl. ferner Heinz Finger, Memoria im frühmittelalterlichen (Erz-)Bistum Köln, in: Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag, hg. von Uwe Ludwig / Thomas Schilp (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 62, 2008) S. 297 – 316, hier S. 304 ff. 54 Feststellbar ist eine Intensivierung des Gebetsgedenkens zum gleichen Zeitpunkt auch auf der Reichenau. Vgl. dazu beispielsweise Uwe Ludwig, Monastische Gebetsverbrüderung und Reichsteilung. Murbach und Weißenburg in ihren Gedenkbeziehungen zu St. Gallen und Reichenau, in: L’abbaye de Saint-Gall et l’Alsace au haut moyen âge, hg. von Jean-Luc Eichenlaub / Werner Vogler (1997) S. 97 – 114, hier S. 107 f. Ein vergleichbarer Befund lässt sich allem Anschein nach auch im Liber viventium von Pfäfers ausmachen. Eine Untersuchung hierzu wird durch Verf. derzeit vorbereitet. Vgl. hierzu einstweilen die oben in Anm. 46 angegebene Literatur sowie Geuenich, Die ältere Geschichte von Pfäfers (wie Anm. 7) S. 234 – 249. 55 Zur Neuanlage des Liber Memorialis von Remiremont im Jahr 862/63 vgl. Gerd Tellenbach, Der Liber Memorialis von Remiremont. Zur kritischen Erforschung und zum Quellenwert liturgischer Gedenkbücher, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 25 (1969) S. 64 – 110, hier S. 67, sowie die unveröffentlichte Habilitationsschrift von FranzJosef Jakobi, Der Liber Memorialis und die Klostergeschichte von Remiremont (1983) S. 28. Herrn Jakobi danke ich sehr herzlich für sein freundliches Entgegenkommen und die zeitweise Überlassung des Typoskripts.
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Ein konkreter Anlass für die um 860 allenthalben feststellbare Belebung und Intensivierung des Gebetsgedenkens lässt sich dabei jedoch nicht erkennen. Was allerdings auffällt, ist, dass die nach 843 mehrfach im Kreis der drei Söhne Ludwigs des Frommen geübte Praxis, sich zu Beratungen zusammenzufinden und damit dem bischöflichen Aufruf zu Brüderlichkeit (fraternitas) und Liebe (caritas) nachzukommen,56 851/54 ein Ende fand.57 Stattdessen ist seit 852 zwischen Lothar I., Ludwig dem Deutschen und Karl dem Kahlen das Aufkommen beträchtlicher Spannungen auszumachen. Diese hatten mit dem umstrittenen Herrschaftsanspruch Pippins II. auf Aquitanien und seiner Gefangensetzung durch Karl den Kahlen, nicht zuletzt aber auch mit den Teilungsplänen für das Reich Lothars I. zu tun, für die der Kaiser um Unterstützung bei Karl dem Kahlen warb, während Ludwig der Deutsche eigene Ambitionen in dieser Sache verfolgte.58 Als 853 aquitanische Gesandte Ludwig den Deutschen einluden, in ihrem Land die Herrschaft zu übernehmen, um sie – wie die Annales Fuldenses in tendenziöser Weise berichten – von der Tyrannei seines Stiefbruders zu befreien,59 nutze der ostfränkische König die Gelegenheit und kommandierte im darauffolgenden Jahr seinen gleichnamigen Sohn ab, der dort aber nichts ausrichten konnte, deshalb im Herbst 854 wieder abzog und in das Reich seines Vaters zurückkehrte. Nachdem 858 eine westfränkische Gesandtschaft unter der Leitung Abt Adalhards von St. Bertin und Graf Odos von Troyes Ludwig den Deutschen in Frankfurt aufgesucht und erneut zum Eingreifen im Reich Karls des Kahlen aufgefordert hatte, fiel der Ostfrankenkönig selbst in das Westreich ein, worauf Karl der Kahle sich ihm zunächst bei Brienne-le-Château mit einem Heer entgegenstellte, dann aber mit wenigen Getreuen floh, so dass Ludwig der Deutsche Anfang Dezember 858 in Attigny als piissimus rex in occidentali Francia urkunden konnte.60 Im Gegensatz zum Großteil des weltlichen Adels versagten die m eisten
56 Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 843 – 859, hg. von Wilfried Hartmann (Monumenta Germaniae Historica, Concilia 3, 1984) S. 29 ff. 57 Reinhard Schneider, Brüdergmeine und Schwurfreundschaft (Historische Studien 388, 1964) S. 11 ff. sowie Wilfried Hartmann, Ludwig der Deutsche (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance, 2002) S. 44 ff. 58 Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlich Eric J. Goldberg, Struggle for Empire. Kingship and Conflict under Louis the German 817 – 876 (2006) S. 233 – 265. 59 Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum orientalis a. 853, hg. von Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum 7, 1891) S. 43 f. 60 D. Ludwig der Deutsche 94 (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 1. Die Urkunden Ludwigs des Deutschen, Karlmanns und Ludwig des Jüngeren, hg. von Paul Kehr, 1937) S. 136.
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westfränkischen Bischöfe Ludwig dem Deutschen aber ihre Unterstützung, so dass er sich im Westen nicht dauerhaft durchsetzen konnte und Anfang 859 in sein Reich zurückkehrte. Die aus dem Feldzug Ludwigs des Deutschen resultierenden Verwerfungen waren nicht unerheblich, so dass erst auf Vermittlung Lothars II. im Jahr 860 ein Frieden geschlossenen werden konnte,61 indem Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche sich gemeinsam mit ihrem Neffen in Koblenz trafen und einander concordia atque amicitia beziehungsweise pax et fidelitas schworen.62 Mit dem Frieden von Koblenz war freilich nur bedingt eine Beruhigung der Lage im Frankenreich eingetreten. Konfliktträchtig wurde nun die Frage, wie künftig mit dem Erbe Lothars II. zu verfahren sei, dessen legitime Ehe mit Theutberga kinderlos geblieben war.63 Hinzu kamen des Weiteren mehrere Hungersnöte, denen man mit religiösen und karitativen Maßnahmen begegnen zu können meinte.64 In ähnlicher Weise hatte man auch auf die politischen Ereignisse der Zeit reagiert. So war beispielsweise im Jahr 859 (?) ein concilium universale in Savonnières einberufen worden, dessen Zweck ausdrücklich darin bestehen sollte, nach dem Einfall Ludwigs des Deutschen in das Westreich die concordia pacis wiederherzustellen und die in der Kirche Gottes entstandene Spaltung zu beseitigen. Bei gleicher Gelegenheit hatte man eine Synodalverbrüderung abgeschlossen, so dass es den Anschein macht, als habe man sie als geeignete Maßnahme betrachtet, den politischen Schwierigkeiten wirkungsvoll zu begegnen.65 61 Vgl. hierzu im Einzelnen Ernst Dümmler, Geschichte des ostfränkischen Reiches 1. Ludwig der Deutsche bis zum Frieden von Koblenz (1887) S. 347 ff. und 456 ff. 62 Annales Bertiniani a. 860, hg. von Georg Waitz (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 5, 1883) S. 54: Ludoicus, Karlus et Lotharius reges Kalendas Iunias apud castrum quod Confluentes vocatur conveniunt, ibique de pace inter se diu tractantes, tandem concordiam atque amicitiam ipsi per se iuramento firmant. […] Lotharius rex metuens avunculum suum Karlum, Ludoico regi Germaniae sociatur atque ob eandem societatem partem regni sui, id est Helizaciam, tradit; Annales Fuldenses a. 860 (wie Anm. 59) S. 55: Hludowicus rex et Karlus frater eius neposque eorum Hlutharius cum primatibus suis in Confluente castello convenientes pacem inter se et fidelitatem mutuam singuli iuramento firmaverunt […]. 63 Vgl. hierzu unlängst Karl Josef Heidecker, The Divorce of Lothar II. Christian marriage and political power in the Carolingian World (2010). 64 Vgl. hierzu im Einzelnen Hartmann, Ludwig der Deutsche (wie Anm. 57) S. 55 f. 65 Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 843 – 859 (wie Anm. 56) S. 462. Vgl. hierzu auch Schmid, Bemerkungen zu Synodalverbrüderungen (wie Anm. 38) S. 702 f. Eine weitere Synodalverbürderung könnte möglicherweise auch im Rahmen jener große Synode geschlossen worden sein, die einem Reskript Papst Nikolaus I. zufolge (Regesta
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Insgesamt gewinnt man somit den Eindruck, als hätten die Konflikte vor allem zwischen Ludwig dem Deutschen und Karl dem Kahlen die Erneuerung der Verbrüderungsbewegung um 860 wenn nicht angestoßen, so doch wenigstens begünstigt. In welchem Maße sie dabei von Bischöfen ausging und von ihnen getragen wurde, lässt sich nur vermuten, weil lediglich die Synode von Savonnières konkrete Hinweise in diese Richtung liefert. Für die Wirksamkeit ihrer persönlichen Verpflichtung zum Gebetsgedenken finden sich demgegenüber aber nach wie vor eine Reihe eindeutiger Belege. Die persönliche Gebets verpflichtung der Bischöfe thematisiert sehr eindringlich die schon um 825 verfasste Visio Wettini, indem sie ausführlich auf Bischof Adalhelm zu sprechen kommt, weil dieser die Bitte des Reichenauer Abtes Waldo um Gebetshilfe leichtfertig in den Wind geschlagen haben soll und deshalb ohne Gnade die ihm gebührende Strafe verbüße.66 Ebenfalls in die Richtung des persönlichen Gedenkens weist das Schlussdistichon im Gedicht ad praeclarum episcopum des Hrabanus M aurus: Sis memor ipse mei, memoret te gratia Christi, Praesul in aede dei, sis memor ipse mei.67 Dass solche Bitten aufgrund persönlicher Kontakte zustande kamen und nicht so sehr der Bischof als Amtsperson den Ausschlag gab, zeigen dabei nicht zuletzt die Verse Salomons III., mit denen er Dado von Verdun über den Tod
Pontificum Romanorum, Bd. 1, hg. von Philipp Jaffé / Wilhelm Wattenbach [1885] S. 349 Nr. 2709) Erzbischof Karl von Mainz im fraglichen Zeitraum (861 – 863) einberufen hatte. Auch wenn das päpstliche Schreiben keinen Ort nennt, an dem sie stattfand, lässt es erkennen, wer die Teilnehmer waren: Neben dem Mainzer Erzbischof die Bischöfe Altfrid von Hildesheim, Salomon I. von Konstanz, Hildegrim II. von Halberstadt, Theoderich von Minden, Gunzo von Worms, Gebhard von Speyer, Arn von Würzburg, Witgar von Augsburg und Egibert von Osnabrück, wobei der Mindener und der Osnabrücker Bischof Kölner Suffragane waren und die Synodalbeschlüsse somit also durchaus auch im Kölner Erzbistum wirksam geworden sein dürften. Nicht zuletzt nahmen aber auch die Äbte Grimald von St. Gallen, Egilbert von Lorsch, Theoto von Fulda, Amalus von Kempten und Adalgar von Corvey teil, so dass auch die Vertreter der beiden Klöster, für die bald nach 860 eine Intensivierung des Totengedenkens nachweisbar ist, auf der Synode des Mainzer Erzbischofs zugegen waren. Vgl. hierzu auch Hartmann, Synoden der Karolingerzeit (wie Anm. 41) S. 300 f. 66 Heito und Walahfrid Strabo. Visio Wettini. Einführung, lateinisch-deutsche Ausgabe und Erläuterungen mit einem Geleitwort von Walter Berschin, hg. von Hermann Knittel (Reichenauer Texte und Bilder 12, 2004) S. 90: Quippe quod admonitus functis incredulus extans /Auxilium conferre precis traderet egenti, /Atque ideo propriis fruitur sine munere p oenis. 67 Hrabani Mauri carmina, hg. von Ernst Dümmler (Monumenta Germaniae Historica, Poetae latini 2, 1884) S. 177 (Nr. 13, Vers 77 f.).
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seines Bruders Waldo († 906) unterrichtet und ihm mitteilt, wie er des Verstorbenen gedenken solle.68 Weitere Belege für das persönliche Gedenken lassen sich sodann mithilfe des Kapiteloffiziumsbuchs der Abtei St. Gallen beibringen, in dem Berichte überliefert sind, die den Abschluss von Verbrüderungsverträgen mit Konventen und Einzelpersonen betreffen: So etwa mit Ratpold von Trier, Liutward von Como, Adalbero von Augsburg, Meginbert von Säben und Keonwald von Worcester.69 Diesen Berichten zufolge kam etwa im Jahr 885 Bischof Ratpold von Trier, der – wie der Eintrag deutlich macht – aus höchstem alemannischem Adel stammte, zum Kloster an der Steinach und feierte gemeinsam mit dem Konvent das Fest des Heiligen Gallus. Bei dieser Gelgenheit nahm ihn Abt Bernhard zusammen mit den Brüdern, die ihm unterstellt waren, in seine Gebete auf, damit er – wie es wörtlich heißt – sowohl zu Lebzeiten als auch nach dem Tod mit derselben Sorge der Gnade Gottes anempfohlen werde wie einer von ihnen.70 Noch ausführ licher wird der Besuch des Bischofs Adalbero von Augsburg geschildert, den auch Ekkehard IV. in seiner Fortsetzung der Casus sancti Galli kommentiert und sich dabei offensichtlich auf den Liber officii capituli von St. Gallen stützt.71 Dem
68 Salomonis et Waldrammi carmina, hg. von Paul von Winterfeld (Monumenta Germaniae Historica, Poetae latini 4/1, 1899) S. 309 f. (Nr. 2, Vers 113 ff.). Vgl. hierzu auch Gerd Althoff, Unerforschte Quellen aus quellenarmer Zeit (III ). Necrologabschriften aus Sachsen und im Reichenauer Verbrüderungsbuch, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 131, Neue Folge 93 (1983) S. 91- 108, hier S. 106 f. 69 Vgl. hierzu allgemein Johanne Autenrieth, Der Codex Sangallensis 915. Ein Beitrag zur Erforschung der Kapiteloffiziumsbücher, in: Landesgeschichte und Geistesgeschichte. Festschrift für Otto Herding zum 65. Geburtstag, hg. von Kaspar Elm / Eberhard Gönner / Eugen Hillenbrand (1977) S. 42 – 55, sowie zuletzt vor allem mit Blick auf den Verbrüderungsvertrag zwischen St. Gallen und Reichenau Dieter Geuenich, Die Verbrüderungsverträge im St. Galler Kapiteloffiziumsbuch (Cod. Sang. 915), in: Bücher des Lebens (wie Anm. 44) S. 40 – 46. 70 St. Galler Todtenbuch und Verbrüderungen, hg. von Ernst Dümmler / Hermann Wartmann, Mittheilungen zur Vaterländischen Geschichte 11, Neue Folge 1 (1869) S. 1 – 124, hier S. 13: Anno ab incarnatione domini DCCCLXXXV, indictione IIII, venit Ratpolt nobilissimus Alemannorum, Treverensis aecclesiae pontifex, ad monasterium sancti Galli et depositionis eius festivitatem cum ipsa congegratione iocundissime celebravit, quem venerabilis tunc abba Bernhardus cum fratribus sibi subiectis in orationis suae communionem suscepit ut sive in hoc saeculo vivens sive ad Christum vadens eadem cura dei misericordiae ab illis sicut unus commendentur ex ipsis. 71 Ekkehard IV . St. Galler Klostergeschichten, cap. 7, hg. und übers. von Hans H. Haefele (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom
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Bericht im St. Galler Kapiteloffiziumsbuch zufolge begab sich der Bischof im Jahr 908 zum Grab des heiligen Gallus. Auf der rechten Seite des Altars stehend, legte er, von Mönchen umgeben, ein goldenes, mit Edelsteinen besetztes Kreuz, einen Kelch aus Onyx, der in Gold gefasst und mit kostbaren Steinen besetzt war, sowie eine Patene auf den Altar. Dazu brachte er kostbare Messgewänder und eine Menge Wachs dar. Weiterhin ließ er dem Kloster eine große, majestätisch tönende Glocke überreichen. Auch am Grab des heiligen Otmar und in der Kirche des heiligen Petrus opferte er prachtvolle Weihegeschenke. Darüber hinaus wurden sämtliche Mönche mit Geschenken bedacht. Während einer ganzen Woche, die er im Kloster blieb, ließ er ihnen täglich auf seine Kosten ein herrliches Mahl bereiten, weshalb die Brüder für ihn im Gegenzug auf ewig all die Gebete verrichteten, die sie für einen Abt zu beten verpflichtet waren.72 Mit den Stiftungen, wie sie der St. Galler Liber officii capituli dokumentiert, dürfte für die genannten Bischöfe ein Umstand verbunden gewesen sein, auf den Ekkehard IV. mit Blick auf Salomon III. von Konstanz ausführlicher zu sprechen kommt: Die Aufnahme in die Brüdergemeinde als frater conscriptus. Mög licherweise im Rückgriff auf eine heute verlorene Urkunde 73 berichtet E kkehard hierzu im dritten Kapitel der St. Galler Klostergeschichten, dass Salomon bereits als junger Mann mit Unterstützung der Klosterleitung das Recht erwarb, eingetragener Bruder (frater conscriptus) der St. Galler Mönche zu sein. In diesem Zusammenhang tradierte er aus seinen Gütern dem heiligen Gallus den Ort Goldach. Im Gegenzug erwartete er dafür den Jahresunterhalt eines Mönches und im Speisesaal einen Gästeplatz auf Lebenszeit; ferner einen Hügel jenseits der Ira mit Äckern und Wiesen. Dort sollte für ihn eine Wohnung (mansio) eingerichtet werden, damit er bei seinen häufigen Besuchen als Bruder dem Abt nicht lästig und dem Gesinde nicht beschwerlich würde.74
Stein-Gedächtnisausgabe 10, 1991) S. 30 f. Vgl. zu Ekkehard auch Mayke de Jong, Internal Cloister: The Case of Ekkehard’s Casus sancti Galli, in: Grenzen und Differenz im frühen Mittelalter, hg. von Walter Pohl / Helmut Reimitz (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 287, 2000) S. 209 – 221. 72 St. Galler Todtenbuch und Verbrüderungen (wie Anm. 70) S. 14 ff. 73 Vgl. hierzu unlängst Gesine Jordan, „Nichts als Nahrung und Kleidung“. Laien und Kleriker als Wohngäste bei den Mönchen von St. Gallen und Redon (8. und 9. Jahrhundert) (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 9, 2007) S. 161 ff. 74 Ekkehard IV. St. Galler Klostergeschichten, cap. 3 (wie Anm. 71) S. 20: Petiit tandem Salomon iam adolescens bene educatus, ut frater conscriptus nobis fieri mereretur. Quod Crimaldo iubente et Hartmoto iuvante a patribus est consecutus. Tradidit autem de praediis, quibus
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Vergleichbares ist auch für Liutward von Vercelli und seinen Bruder Chadolt, den Bischof von Novara, überliefert, der den Mönchen der Reichenau jährlich zum Krönungstag Karls III. ein Mahl stiftete.75 Für das damit verbundene plenum servitium pro anima imperatoris konnten die beiden auf der Reichenau erzogenen Brüder den Kaiser veranlassen, den Königshof Erching, den Karl III. einst an Chadolt übergeben hatte, dem Inselkloster zu tradieren, worauf die Mönche nicht nur des Herrschers gedachten, sondern auch die beiden Bischöfe in ihre Gebete aufnahmen.76 Analog zu Salomon in St. Gallen ist zudem auch für Liutward, den Erzkanzler Karls III., mit der Theganmarkapelle (cellam infra monasterium constructam in honore sancti Petri quae vocatur Thegamarscella) ein eigenes Absteigequartier auf der Reichenau belegt, die der Bischof am 9. Oktober 883 im Tausch gegen die Kapelle in Bierlingen consensu abbatis omniumque fratrum erhielt.77 Offensichtlich taten es also die Bischöfe an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert den Königen gleich, für die im Fall St. Gallens – über das übliche Herrschergedenken hinaus – die Aufnahme als fratres conscripti im Kontext von Mahlstiftungen gut belegt ist.78 Als solche erhielten sie die Rechte eines Mönchs
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abundaverat, sancto Gallo locum, qui Colda dicitur, concambium sibi faciens, ut annonam monachi et locum hospitis in refectorio haberet, dum viveret, et collem quendam, qui ultra Iram amenior sibi videbatur, cum patris sibi et agellis adiacentibus possideret, ut mansione ibi parata crebo velud frater adveniens abbati non esset onerosus neque familie incommodus. Vgl. zum Folgenden auch Alfons Zettler, Die frühen Klosterbauten der Reichenau. Ausgrabungen – Schriftquellen – St. Galler Klosterplan (Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland 3, 1988) S. 105 ff. Quellensammlung der badischen Landesgeschichte 1, hg. von Franz Joseph Mone (1848) S. 233. Vgl. hierzu auch Konrad Beyerle, Aus dem liturgischen Leben der Reichenau, in: Die Kultur der Abtei Reichenau. Erinnerungsschrift zur zwölfhundertsten Wiederkehr des Gründungsjahres des Inselklosters 724 – 1924 1, hg. von Konrad Beyerle (1925) S. 316 – 437, hier S. 406 und 419 f. D. Karl III. 92 (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 2. Die Urkunden Karls III., hg. von Paul Kehr, 1937) S. 150 f. Vgl. hierzu Karl Schmid, Brüderschaften mit Mönchen aus der Sicht des Kaiserbesuchs im Galluskloster vom Jahre 883, in: Churrätisches und st. gallisches Mittelalter. Festschrift für Otto P. Clavadetscher zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Helmut Maurer (1984) S. 173 – 194; Joachim Wollasch, Kaiser und Könige als Brüder der Mönche. Zum Herrscherbild in liturgischen Handschriften des 9. bis 11. Jahrhunderts, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 40 (1984) S. 1 – 20 sowie unlängst Felix Heinzer, Rex benedicte veni. Der Weihnachtsbesuch König Konrads I. in St. Gallen im Dezember 911, in: Adel und Königtum im mittelalterlichen Schwaben. Festschrift für Thomas Zotz zum 65. Geburtstag, hg. von Andreas Bihrer / Mathias Kälble / Heinz Krieg (Veröffentlichungen
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und hatten Anteil am Gebetsgedenken der Brüder. Umgekehrt durften Abt und Konvent sicher sein, in den fratres conscripti, die recepti manibus abbatis singuli in libro vite scribuntur,79 Fürsprecher, Helfer und Verbündete zu finden, falls dies einmal nötig sein sollte.80 Soweit anhand der St. Galler und Reichenauer Überlieferung zu sehen ist, ging dabei die Initative in aller Regel von den Bischöfen selbst aus, deren caritas in refectorio nach ihrem Dahinscheiden zum Totenmahl wurde und somit konstitutives Element ihrer Memoria war.81 Zugleich und darüber hinaus sorgten Bischöfe aber nicht nur für ihr persönliches Memento, sondern veranlassten dies auch für Dritte. Dass dabei auch mit Einträgen großer Gruppen in den Libri memoriales zu rechnen ist, macht ein Beispiel auf pagina 106 des Reichenauer Verbrüderungsbuchs deutlich. Dort findet sich am linken Rand des Blattes ein 116 Namen umfassender Eintrag, der mit der Überschrift Nomina vero quod [sic!] Liutbertus archiepiscopus nobis transmissit versehen ist (Abb. 1).82 Der Eintrag gliedert sich in drei Teile: Zunächst in ein Bischofsdiptychon, das die Bischöfe Anskar von Hamburg-Bremen, Liutbert von Münster, Badurad von Paderborn, Hardward von Minden, Hemmo von Halberstadt, Gozbald von Würzburg, Hatto von Verdun sowie einen bisher nicht zu identifizierenden Huto episcopus verzeichnet. Im zweiten Teil dominieren Namen der Hessi-Sippe und der „Udalrichinger“, während im dritten Teil Namen begegnen, die auch bei den „Hattonen“ zu finden sind. Während die Bischöfe in keiner erkennbaren direkten Beziehung zu Liutbert stehen und allenfalls vermutungsweise in den weiteren Verwandtenkreis der Hattonen eingeordnet werden können, finden sich unter den Personen des Mittelteils Verwandte des Mainzer Erzbischofs aus verschiedenen Generationen, die teils bis in das späte 8. und frühe 9. Jahrhundert zurückreichen. Die Namen des dritten Teils weisen in den sächsischen Raum, genauer in das Umfeld der Liudolfinger, mit denen der Mainzer Erzbischof über Liudgard und Ludwig den Jüngeren, dessen Erzkanzler er war, in Kontakt gestanden haben könnte.83 der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B Forschungen 175, 2009) S. 115 – 126. 79 Ekkehard IV. St. Galler Klostergeschichten, cap. 110 (wie Anm. 71) S. 218. 80 Vgl. hierzu ausführlich Karl Schmid, Von den fratres conscripti in Ekkeharts St. Galler Klostergeschichten, Frühmittelalterliche Studien 25 (1991) S. 109 – 122. 81 Vgl. Otto Gerhard Oexle, Mahl und Spende im mittelalterlichen Totenkult, Frühmit telalterliche Studien 18 (1984) S. 401 – 420, hier S. 410 f. 82 Das Reichenauer Verbrüderungsbuch (wie Anm. 12) pag. 106X-1. 83 Vgl. Gerd Althoff, Über die von Erzbischof Liutbert auf die Reichenau übermittelten Namen, Frühmittelalterliche Studien 14 (1980) S. 217 – 242.
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Abb. 1: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, pag. 106.
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Weiteren Aufschluss über die Zusammensetzung eines Personenkreises, der auf Veranlassung eines Bischofs Aufnahme in das monastische Gebetsgedenken gefunden haben dürfte, erlaubt pagina 130 des Reichenerauer Verbrüderungsbuches, wo unter der Überschrift NOMINA FRATRUM DE FRISIGINGUN 31 Namen zu finden sind (Abb. 2). Der Eintrag gliedert sich in zwei Teile, in Lebende und Verstorbene, wie der Zusatz Isti sunt defuncti an der Spitze der rechten Kolumne deutlich macht. Die linke Kolumne wird eröffnet durch den Namen Erchanbertus episcopus, der mit dem Freisinger Bischof Erchanbert (835/36 – 854) identifiziert werden kann. Die Liste der Verstorbenen führt der Vorgänger Erchanberts, Bischof Hitto von Freising (812 – 835), an. Den beiden Vorstehern der Freisinger Kirche folgen jeweils ein chorepiscopus, Herolf und Sigihart, sowie weitere Angehörige der Freisinger Kirche, ein Presbyter und mehrere Diakone. Unmittelbar im Anschluss an die Angehörigen der Freisinger Kirche wurden in der Lebendenliste von gleicher Hand sechs Männernamen mit dem Zusatz laicus verzeichnet, denen fünf Frauennamen folgen, wobei Frauennamen gleichermaßen auch in der Verstorbenenliste zu finden sind.84 Für die Charakterisierung des Eintrags, welcher der Amtszeit des Chorbischofs Herolf zufolge zwischen 850 und 854 angelegt worden sein muss,85 spielen insbesondere Reginbertus diaconus und Anthelm laicus eine Rolle. Beide scheinen mit zwei gleichnamigen Zeugen einer Urkunde aus dem Jahr 840 identisch zu sein, die eine Tradition Bischof Erchanberts für seinen verstorbenen Bruder Purcman zum Inhalt hat. Darin werden die beiden Zeugen apostrophiert als Reginbertus subdiaconus et nepos domni Erchanberti episcopi et Anthelm frater eius,86 so dass es offenar die beiden Neffen des Bischofs sind, die rund zehn Jahre später – wohl auf Betreiben ihres Onkels – in die Freisinger Liste des Reichenauer Verbrüderungsbuches aufgenommen wurden. Hinzu kommt, dass mit Cotasdiu, Gernand,
84 Das Reichenauer Verbrüderungsbuch (wie Anm. 12) pag. 130C-1. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Karl Schmid, Religiöses und sippengebundenes Gemeinschaftsbewußtsein in frühmittelalterlichen Gedenkbucheinträgen, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 21 (1965) S. 18 – 81, hier S. 42 ff. 85 Zu den auf dieser Seite offenbar bewußt plazierten (Freisinger) Nachträgen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll, vgl. Gertrud Diepolder, Freisinger Traditionen und Memorialeinträge im Salzburger Liber vitae und im Reichenauer Verbrüderungsbuch. Auswertung der Parallelüberlieferung aus der Zeit der Bischöfe Hitto und Erchanbert von Freising, Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 58 (1995), S. 147 – 189, hier S. 163 ff. 86 Die Traditionen des Hochstifts Freising 1 (744 – 926), hg. von Theodor Bitterauf (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte, Neue Folge 4, 1905) Nr. 635.
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Abb. 2: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, pag. 130.
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Heilrat, Perechta, Uuillehelm und Hitto kognatische Verwandte des Bischofs Hitto,87 mit denen Erchanbert ebenfalls verwandtschaftlich verbunden war,88 weitere Personen aus dem familiären Umfeld Erchanberts im Eintrag begegnen. Diesen Personenkreis kann aber nur der Freisinger Bischof selbst ausgewählt haben, so dass der Eintrag auf seine Initiative zurückgehen muss. Er umfasst die dem Bischof nahestehenden Personen – Personen, die entweder geistliche Mitbrüder oder Verwandte Erchanberts oder beides zugleich waren. Offensichtlich wurde dabei im Bewusstsein des Urhebers zwischen Verwandtschaft und geistlicher Gemeinschaft im Rahmen des Gebetsgedenkens nicht weiter unterschieden. Vielmehr hat es den Anschein, als sollten vorhandene Unterschiede durch das Gebetsgedenken ausgeblendet beziehungsweise überbrückt werden. Zeichnet sich in diesem Eintrag besonders deutlich der soziale Bezugsrahmen ab, den Bischöfe unter Umständen zu berücksichtigen hatten, so lassen andere Einträge eine stärker politisch ausgeprägte Komponente erkennen. Am rechten Rand von folio 18r und folio 19r des Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore und Santa Giulia in Brescia findet sich beispielsweise ein 83 Namen umfassender Eintrag (I), an dessen Spitze fünf Bischöfe verzeichnet sind: Domnus Liutbertus archiepiscopus, Domnus Liutuuardus episcopus, Rimbertus episcopus, Uuillibertus episcopus, Thiedricus episcopus (Abb. 3).89 Auf dem vorhergehenden folio 17r, wurde – offensichtlich von gleicher Hand – ein 42 Namen umfassender Eintrag (II) notiert, an dessen Spitze ebenfalls Liutpertus archiepiscopus verzeichnet wurde, gefolgt von den Namen Richarius und Liutuuardus (Abb. 4).90 Wie bereits Karl Schmid zeigen konnte,91 lässt die erneute Nennung des Liutbertus archiepiscopus auf folio 18r den Schluss zu, dass es sich dabei um den Neuanfang eines Eintrags handelt, der mit Blick auf das Namengut zwar nicht unerheblich von der vorangegangenen Kolumne auf folio 17r abweicht, zugleich aber doch auch
87 Die Traditionen des Hochstifts Freising (wie Anm. 86) Nr. 674. Vgl. hierzu weiterhin den Überblick bei Hubert Strzewitzek, Die Sippenbeziehungen der Freisinger Bischöfe im Mittelalter (Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 16, 1938) S. 249 ff. 88 Die Traditionen des Hochstifts Freising (wie Anm. 86) Nr. 522: […] nepos meus nomine Erchanbert […]. 89 Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore (wie Anm. 12) fol.18r und fol.19r. Die in diesem Beitrag verwendete Zählung der Namen weicht von jener der Edition ab. 90 Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore (wie Anm. 12) fol. 17r. 91 Karl Schmid, Liutbert von Mainz und Liutward von Vercelli im Winter 879/80 in Italien. Zur Erschließung bisher unbeachteter Gedenkbucheinträge aus S. Giulia in Brescia, in: Geschichte – Wirtschaft – Gesellschaft. Festschrift für Clemens Bauer zum 75. Geburtstag, hg. von Erich Hassinger / J. Heinz Müller / Hugo Ott (1974) S. 41 – 60, hier S. 50 f.
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Abb. 3: Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia, fol. 18r.
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Abb. 4: Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia, fol. 17r.
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eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweist: Neben einigen in beiden Einträgen wiederkehrenden Namen (Rihcharius I/7; II/2 und 4, Imma I/12 und 13; II/19, Emma I/6; II/23, Ala(h)sinda I/8; II/22) finden sich zahlreiche andere Namen, die gelegentlich mehrfach und zuweilen sogar in unmittelbarer zwei- oder dreifacher Wiederholung vor allem im Eintrag auf folio 17r erscheinen (Adallinda II/ 20 – 21; Foltgarius II/29 – 31; Engilgarius II/34 – 36; Uuinitharius II/41 – 42; Imma I/ 12 – 13; Isenbardus I/14 – 15). Auffallend sind insbesondere die mehrfach genannten Königsnamen Ludouuicus (II/10 – 12) und Karolus (II/13 – 15). An sie schließen unmittelbar zwei Frauennamen an, die sich durch den zugefügten Domna-Titel (Domna Liutgarda II/16 und Domna Engilberga II/17) als Königin Liutgard, die Gemahlin Ludwigs des Jüngeren, und als Kaiserin Angilberga, die Gemahlin Ludwigs II. von Italien († 875) zu erkennen geben. In der danach genannten Hemma könnte man ferner die gleichnamige Königin und Gemahlin Ludwigs des Deutschen († 876) vermuten, so dass sich für die dreimalige Nennung des Namens Ludwig eine plausible Erklärung anbietet: Der Bezug auf Ludwig den Jüngeren, Ludwig II. von Italien und Ludwig den Deutschen. Anders als in diesem Fall lässt sich die mehrfache Nennung des Namens Karolus nicht ohne Weiteres erklären. Allenfalls Karl III. kommt in Frage, weil auch sein engster Vertrauter und Berater, Liutward von Vercelli, genannt wird. In Betracht kommt aus zeit lichen Gründen eventuell noch Karl der Kahle († 877). Wer hingegen mit dem dritten Karolus zu identifizieren ist, ob womöglich mit Karl von der Provence oder mit Karl dem Großen, bleibt ungewiss.92 Ungeachtet der Unsicherheiten, die mit den Identifizierungen verbunden sind, wird deutlich, dass der Eintrag auf folio 17r durch die Nennung von Karolingern geprägt ist, während auf folio 18r und 19r die Bischöfe an der Spitze des Eintrags dominieren. Im Einzelnen handelt es sich dabei wohl um: Liutbert von Mainz (863 – 889), Liutward von Vercelli (880-ca. 900), Rimbert von Hamburg-Bremen (865 – 888), Willibert von Köln (870 – 889) sowie Dietrich von Minden (853 – 880). Der Eintrag ist demnach auf die Zeit nach der Bischofserhebung Liutwards von Vercelli zu datieren, die für den Februar des Jahres 880 anzusetzen sein dürfte.93 Die Bischöfe Rimbert, Willibert und Dietrich gehören zusammen mit Liutbert von Mainz dem Episkopat im Reich Ludwigs des Jüngeren an und machen – auch dies hat schon Karl Schmid gesehen – den Charakter des Eintrags aus: „Sie 92 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Hartmut Becher, Das königliche Frauenkloster (wie Anm. 25) S. 368 – 373. 93 Als Bischof wird Liutward erstmals am 21. März 880 erwähnt in D. Karl III . 21 (wie Anm. 77) S. 35: […] Liutuuardus reverendus episcopus dilectus consiliarius et archicancellarius noster […].
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bestätigen die Spitzenstellung Erzbischof Liutberts, dem somit der wesentliche Anteil am Eintrag zuzuschreiben ist.“ 94 Hält man Ausschau nach einem Anlass, zu dem die Eintragssequenz auf folio r 18 des Liber vitae von Brescia mit Liutbert von Mainz und Liutward von Vercelli an der Spitze Aufnahme in das Gedenkbuch gefunden haben könnte, so kommt vor allem die Reichsversammlung zu Ravenna Anfang 880 in Betracht, auf der Karl III. zum König des regnum Italiae erhoben wurde. Über die Reichsversammlung berichtet Notker von St. Gallen in der Fortsetzung des Breviarium Erchanberti, Liutbert von Mainz habe an ihr auf Befehl Ludwigs des Jüngeren teilgenommen.95 Darüber hinaus ist von Ludwig dem Jüngeren bekannt, dass er eigene Pläne südlich der Alpen verfolgte.96 Insofern ist durchaus mit der Mög lichkeit zu rechnen, dass Liutbert von Mainz, der nach dem Tod Ludwigs des Deutschen als Erzkapellan und Vorsteher der königlichen Kanzlei durch den gleichnamigen Sohn in seinen Ämtern bestätigt wurde und seither als engster Berater des Karolingers fungierte,97 nach Italien entsandt wurde, um in Ravenna die Interessen Ludwigs des Jüngeren zu wahren. Unter Karl III. hatte Liutward von Vercelli eine vergleichbare „Karriere“ gemacht.98 Seit 878 in der Kanzlei Karls nachweisbar, löste er bald Witgar von Augsburg als Kanzler ab, wurde 880 zum Bischof geweiht und bekleidete seit 883 das Amt des palatii archicappellanus. 94 Schmid, Liutbert von Mainz und Liutward von Vercelli (wie Anm. 91) S. 52. 95 Erchanberti Breviarium regum Francorum. Monachi Augiensis continuatio, hg. von Georg Heinrich Pertz (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 2, 1829) S. 329: Carlomannus itaque post paucum tempus retentae Italiae gravissimis et irreme diabilibus invasus morbis in Noricum regressus, cum adhuc viveret, piissimo et fide plenissimo fratri suo Carolo Italiam gubernandam concessit. At ille, grandi exercitu congregato, eam undique improvisus occupavit, et Ravennam veniens, Romanum papam nomine Ioannem ad se vocari praecepit, sed et patriarcham Furiolanum, nec non et Mediolanensem archiepiscopum, omnesque episcopos et comites seu reliquos primores ex Italia, et ibi ab eis rex constituitur, et omnes praeter apostolicae sedis episcopum iureiurando ad devotionem servitii sui constrinxit. Cui conventui etiam Liutpertus, Magonciacensis episcopus, iussu Ludovici regis interfuit. 96 Vgl. Johannes Fried, König Ludwig der Jüngere in seiner Zeit. Zum 1100. Todestag des Königs, Geschichtsblätter Kreis Bergstrasse 16 (1983) S. 5 – 26, hier S. 15 f. 97 Vgl. Josef Fleckenstein, Die Hofkapelle der deutschen Könige 1 (Monumenta Germaniae Historica, Schriften 16, 1, 1959) S. 176 ff. 98 Vgl. zu diesem Hagen Keller, Zum Sturz Karls III. Über die Rolle Liutwards von Vercelli und Liutberts von Mainz, Arnulfs von Kärnten und der ostfränkischen Großen bei der Absetzung des Kaisers, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 22 (1966) S. 333 – 384, hier S. 337 – 341; Fleckenstein, Die Hofkapelle der deutschen Könige (wie Anm. 97) S. 189 ff.
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Bereits zuvor begegnet er als intimus oder summus consiliarius des Königs, der ungewöhnlich häufig zugunsten Dritter beim Herrscher intervenierte.99 Beide Bischöfe, sowohl Liutward von Vercelli als auch Liutbert von Mainz, waren also in der engsten Umgebung der ostfränkischen Könige tätig und somit Teil der Hofgesellschaft. Sie entsprachen dem Typus des Hofbischofs, „der seine Bestimmung darin fand, an zentraler Stelle und auf höchster Ebene tätig zu sein“, der dadurch aber zugleich „nicht imstande [war], sich fortwährend der Hirtensorge in seinem Sprengel zu widmen“,100 so wie dies etwa Hinkmar von Reims 882 in seiner Schrift über den karolingischen Königshof mit mahnenden Worten forderte. Nachzuweisen sind Liutward und Liutbert ferner im Zusammenhang mit der Normannenabwehr. So hebt beispielsweise die Mainzer Fortsetzung der Annales Fuldenses zum Jahr 882 Liutwards Beteiligung bei der Belagerung der Normannen in Asselt und bei der Taufe des Normannenkönigs Gottfried hervor.101 Derselben Quelle zufolge zog Liutbert von Mainz 885 zusammen mit dem Grafen Heinrich gegen die Normannen und konnte sie in die Flucht schlagen,102 nachdem er bereits unter Ludwig dem Deutschen in den Jahren 872 und 874 Heereszüge gegen die Sorben geführt hatte.103 Sowohl Liutward von Vercelli als auch Liutbert von Mainz begegnen schließlich im Krisenjahr 887 bei der Absetzung des Kaisers an exponierter Stelle.104 Nach dem Sturz Liutwards löste ihn als Erzkanzler Karls III. der Mainzer Erzbischof ab, der in den kritischen Tagen nach der Absetzung des Kaisers in engem Kontakt mit Arnulf von Kärnten gestanden und seinen Einfluss geltend gemacht zu haben scheint, damit die Übergabe des Königtums an Arnulf friedlich und möglichst geordnet abgewickelt werden 99 Siehe hierzu die Zusammenstellung der Einzelnachweise bei Keller, Zum Sturz Karls III. (wie Anm. 98) S. 340 Anm. 20 f., sowie Fleckenstein, Die Hofkapelle der deutschen Könige (wie Anm. 97) S. 191 Anm. 184. 100 Rudolf Schieffer, Der Bischof zwischen Civitas und Königshof (4. bis 9. Jahrhundert), in: Der Erzbischof in seiner Zeit. Bischofstypus und Bischofsideal im Spiegel der Kölner Kirche. Festgabe für Joseph Kardinal Höffner, Erzbischof von Köln, hg. von Peter Berglar / Odilo Engels (1986) S. 17 – 39, hier S. 28. 101 Annales Fuldenses a. 882 (wie Anm. 59) S. 98 f. Vgl. zum negativen Liutward-Bild der entsprechenden Passage: Richard Corradini, Studien zur Annalistik der Karolingerzeit. Die Annales Fuldenses und das Chronikon Laurissense breve (2000) S. 178 ff. 102 Annales Fuldenses a. 885 (wie Anm. 59) S. 102. 103 Annales Fuldenses a. 872 / 874 (wie Anm. 59) S. 76 und 81. 104 Jens Lieven, … ein der Betrachtung würdiges Ereignis … Der Sturz Karls III. und seine Folgen, in: Die Baar als Königslandschaft, hg. von Volkarth Huth / Johanna R egnath (Ver öffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg im Breisgau 77, 2010) S. 227 – 240, hier S. 234 f.
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konnte.105 Auch scheint er dafür gesorgt zu haben, dass Karl III. die Möglichkeit erhielt, sich mit den Getreuen, die ihm verblieben waren, auf seine Güter in Alemannien zurückzuziehen.106 Wie Regino von Prüm in seinem Chronicon berichtet, kamen nach dem Tod Karls III., als sich sein Reich in Teile auflöste und die einzelnen regna nicht mehr ihren natürlichen Herrn erwarteten, große Kriegsunruhen keineswegs deshalb auf, weil den Franken Fürsten gefehlt hätten, die durch Adel, Tapferkeit und Weisheit über die Reiche hätten herrschen können. Vielmehr habe die Gleichheit der Abkunft, der Würde und der Macht unter ihnen zur Steigerung von Zwietracht geführt, und niemand sei schließlich derart überlegen gewesen, dass die übrigen bereit gewesen wären, sich der Herrschaft des jeweils anderen zu unterwerfen.107 Für die bis dahin ausschließlich den Karolingern vorbehaltene Königsherrschaft ist demnach spätestens für die Zeit nach dem Tod Karls III. von tiefgreifenden Veränderungen auszugehen. Offensichtlich wurde insbesondere ihr dynastisch begründeter Referenzrahmen nicht mehr ohne Weiteres anerkannt, so dass die Autorität des Königs an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert in den Verteilungskämpfen des Adels aufgerieben zu werden drohte. In dieser Situation kam den Bischöfen, auf deren Einsetzung der König nur begrenzten Einfluss besaß 108 und deren Autorität in ihrem Selbst- und Amtsverständnis als guter Hirte, rector und vicarius Christi gründete,109 eine besondere Bedeutung zu. Die ihnen zugesprochene Binde- und Lösegewalt hob sie über den Adel hinaus, der mit den 105 D. Arnolf 1 (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 3. Die Urkunden Arnolfs, hg. von Paul Kehr, 1940) S. 1 f. 106 Annales Fuldenses a. 887 (wie Anm. 59) S. 107. 107 Chronicon Reginonis a. 888, hg. von Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 50, 1890) S. 129: Post cuius mortem regna, que eius ditioni paruerant, veluti legitimo destituta herede, in partes a sua compage resolvuntur et iam non naturalem dominum prestolantur, sed unumquodque de suis visceribus regem sibi creari disponit. Quae causa magnos bellorum motus excitavit; non quia principes Francorum deessent, qui nobilitate, fortitudine et sapientia regnis imperare possent, sed quia inter ipsos aequalitas generositatis, dignitatis ac potentiae discordiam augebat, nemine tantum ceteros precellente, ut eius dominio reliqui se submittere dignarentur. Multos enim idoneos principes ad regni gubernacula moderanda Francia genuisset, nisi fortuna eos aemulatione virtutis in pernitiem mutuam armasset. 108 Vgl. Roman Deutinger, Königsherrschaft im ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 20, 2006) S. 118 – 124. 109 Monika Suchan, Der gute Hirte. Religion, Macht und Herrschaft in der Politik der Karolinger- und Ottonenzeit, Frühmittelalterliche Studien 43 (2009) S. 95 – 112, hier S. 99 ff.
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Karolingern rivalisierte, und versetzte sie in die Lage, der Königsherrschaft unter veränderten Rahmenbedingungen Anerkennung zu verschaffen. So tritt etwa im Jahr 888 Liutbert nochmals im Zusammenhang mit der Synode von Mainz 110 in Erscheinung, an der vielleicht auch Liutward von Vercelli teilnahm.111 Unter den Überschriften de officio regis und quid sit proprie ministerium regis führten die in Mainz versammelten Bischöfe Arnulf von Kärnten das Ideal bild eines christlichen Königs eindringlich vor Augen und beriefen sich dabei auf den Fürstenspiegel der Pariser Synode von 829, den sie auszugsweise in ihre Ausfürhungen übernahmen und dabei in Anlehnung an die Rex- und Tyrannuslehre Isidors von Sevilla Herrschertugenden wie pietas, iustitia und misericordia propagierten. Weiter führten sie aus, der König solle allen als Vorbild dienen und sich zuerst um die Lenkung seiner selbst und seines Hofes sowie schließlich um die Lenkung des ihm unterstellten Volkes nach den Geboten der pax, concordia und caritas bemühen. Aus der Übernahme des Herrscheramtes (ministerium regale) leiteten sie zudem die Verpflichtung des Königs ab, populum Dei gubernare et regere cum aequitate et justitia, et ut pacem et concordiam habeant, studere. Schließ lich erinnerten die Synodalen den König an seine Aufgaben, die den Schutz der Kirchen, die Unterstützung der Witwen, Waisen und Armen sowie die Bestrafung aller Ungerechtigkeiten umfassen würden, ehe man ihn zuletzt darauf hinwies, dass er ein nicht von Menschen, sondern von Gott übertragenes Amt ausübe und dereinst vor dem ewigen Richter über seine Amtsführung Rechenschaft ablegen müsse. Ferner machten die versammelten Bischöfe nach dem Vorbild der Synode von Paris deutlich, dass sie zusammen mit dem König den populus Dei leiteten und beriefen sich dabei auf die von Gott übertragene bischöfliche Pflicht, auch für das irdische Wohl der Christenheit zu sorgen. Des Weiteren riefen sie die Grafen zu einträchtigem Handeln und gegenseitiger Unterstützung auf und sprachen sich unter der Überschrift de pace fruenda für die Gleichwertigkeit der
110 Concilium Moguntiacense, hg. von Joannes Dominicus Mansi (Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio 18A, 1767, Nachdruck1960) Sp. 61 – 76. Vgl. hierzu auch Wilfried Hartmann, Kaiser Arnolf und die Kirche, in: Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts, hg. von Franz Fuchs / Peter Schmid (2002) S. 221 – 252, hier S. 240 – 245. 111 Mainzer Urkundenbuch 1. Die Urkunden bis zum Tode Erzbischof Adalberts I. (1137), bearb. von Manfred Stimming (1932) Nr. 167, S. 103. Anders Hartmann, Synoden der Karolingerzeit (wie Anm. 41) S. 361, der die betreffende Urkunde in Anlehnung an Klemens Honselmann, Die Urkunde Erzbischof Liutberts von Mainz für Corvey-Herford von 888, Westfälische Zeitschrift 89 (1932) S. 129 – 139, hier S. 139 mit dem Wormser Hoftag Arnulfs von Kärnten im August 888 in Verbindung bringt.
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von ihnen ausgeübten Ämter im Rahmen der Reichsstruktur aus (episcopi et comites, qui post imperiales apicis dignitatem populum Dei regunt).112 Dem entspricht es, wenn zur Zeit Arnulfs von Kärnten und Ludwigs des Kindes Bischöfen des Öfteren Markt-, Münz- und Zollrechte übertragen wurden.113 Hinzu kommt, dass sie aufgrund ihrer Herkunft nicht selten Teil der Adelsgesellschaft waren, deren Tugenden und Leitbilder wie virilis, sagax, efficax, strenuus und versutus 114 seit den Tagen Karls des Großen mit dem Bild des guten Hirten in Einklag gebracht werden konnten.115 So begegnet ähnlich wie Liutward von Vercelli und Liutbert von Mainz beinahe zeitgleich auch Gauzlin von Paris im Zusammenhang mit der Normannenabwehr und wird als presul domini et dulcissimus heros sowie als aktiver Kämpfer auf den Mauern seiner Stadt gefeiert.116 Durch die Wahrung von Frieden und Ordnung in den Diözesen konnte der Episkopat von den Zeitgenossen nicht nur mit Grafen und Herzögen, sondern unter Umständen sogar mit dem König gleichgesetzt werden,117 dem sie aufgrund 112 Concilium Moguntiacense (wie Anm. 110), Sp. 71. Vgl. hierzu auch Jörg Lehn, Die Synoden zu Mainz (888) und Tribur (895). Ihre Bedeutung für das Verhältnis Arnulfs von Kärnten zum ostfränkischen Episkopat im ausgehenden 9. Jahrhundert, Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 13 (1987) S. 41 – 62, hier S. 49 ff. 113 Vgl. hierzu zusammenfassend Rudolf Schieffer, Karolingische und ottonische Kirchenpolitik, in: Mönchtum – Kirche – Herrschaft (750 – 1000), hg. von Dieter R. Bauer / Rudolf Hiestand / Brigitte Kasten / Sönke Lorenz (1998) S. 311 – 325, hier S. 315 sowie die ausführliche Dokumentation bei Leo Santifaller, Zur Geschichte des ottonisch-salischen Reichskirchensystems (Österreichische Akademie der Wissenschaften, PhilosophischHistorische Klasse 229, 1954) S. 60 – 63. 114 Karl Bosl, Leitbilder und Wertvorstellungen des Adels von der Merowingerzeit bis zur Höhe der feudalen Gesellschaft (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch–Historische Klasse 5, 1974) S. 15. 115 Vgl. Friedrich Prinz, Fortissimus abba. Karolingischer Klerus und Krieg, in: Consuetudines monasticae. Eine Festgabe für Kassius Hallinger aus Anlass seines 70. Geburtstags, hg. von Joachim F. Angerer / Josef Lenzenweger (Studia Anselmiana 85, 1982) S. 61 – 95, hier S. 74. 116 Abbonis bella Parisiacae urbis, hg. von Paul von Winterfeld (Monumenta Germaniae Historica, Poetae latini aevi Carolini 4, 1, 1899) S. 80. Weitere Beispiele mit teils abweichender zeitgenössischer Wertung verzeichnet für das späte 9. und frühe 10. Jahrhundert Bernd Schütte, Gewalt gegen Bischöfe im frühen und hohen Mittelalter, Historisches Jahrbuch 123 (2003) S. 27 – 63, hier S. 28 ff. 117 Vgl. Steffen Patzold, Die Bischöfe im karolingischen Staat. Praktisches Wissen über die politische Ordnung im Frankenreich des 9. Jahrhunderts, in: Staat im frühen Mittelalter, hg. von Stuart Airlie / Walter Pohl / Helmut Reimitz (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 334, 2006) S. 133 – 162, hier S. 146 f.
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ihres Dienstes in der Hofkapelle nicht selten ohnehin besonders nahestanden. Die solchermaßen mit ihrem Amt verbundenen Möglichkeiten ließen sich nutzen, um gegenüber dem weltlichen Adel eigene Suprematieansprüche anzumelden und durchzusetzen – wenn nötig, auch mit Gewalt. Geschehen konnte dies in enger Abstimmung mit dem König, wie etwa die Rolle Salomons III. von Konstanz bei der Niederschlagung des Aufstands zeigt, den Bernhard, der uneheliche Sohn Karls III., 890 gegen Arnulf von Kärnten angezettelt hatte.118 Als „selbsternannter Statthalter des Königs“ 119 agierte der Konstanzer Bischof dagegen im Jahr 911, als der comes et princeps Alamannorum Burchard zum Tode verurteilt und sein Bruder Adalbert auf einen Wink Salomons III. hin ermordet wurden,120 wohl um damit die führenden Magnaten in Alemannien als Konkurrenten um Macht und Einfluss auszuschalten.121 Nimmt man vor diesem Hintgrund nochmals die großen Gruppeneinträge der Libri memoriales in den Blick und schaut insbesondere auf jene Einträge, die auf bischöfliche Inititative zurückgehen dürften, so bleibt festzuhalten, dass sie im gesamten Karolingerreich seit dem späten 9. Jahrhundert in größerer Zahl begegnen. Ihren Ausgangspunkt scheinen sie in der allgmeinen Sorge der Bischöfe um ihr Seelenheil gefunden zu haben. Betrachtet man jedenfalls die Rolle der Bischöfe im Gebetsgedenken und ihren Anteil am Zustandekommen von Gebetsverbrüderungen genauer, so ist festzustellen, dass sie bereits im 8. und frühen 9. Jahrhundert an der Spitze der Verbrüderungsbewegung standen, die ungeachtet ihres oftmals synodalen Charakters immer auch eine persönliche Dimension besaß. Ob die Bischöfe in gleicher Weise für die vielfach zu beobachtende Erneuerung der Verbrüderungsbewegung um 860 verantwortlich zeichnen, kann allenfalls vermutet werden. In der Praxis spielten in jedem Fall – wie zuvor auch – einzelne auf das persönliche Totengedächtnis abgestimmte Übereinkünfte zwischen Bischöfen und Klöstern eine wichtige Rolle. Die daraus resultierenden persönlichen Kontakte scheinen die Oberhirten nicht selten genutzt zu haben, um Einträge großer Gruppen in den Libri memoriales zu veranlassen, wobei sie 118 Vgl. dazu ausführlich Lieven, … ein der Betrachtung würdiges Ereignis … (wie Anm. 104) S. 236 ff. sowie Jens Lieven, … presenti diffidens instabilitati … Zur Gründung des thurgauischen Monasteriums Aadorf aus adelsgeschichtlicher Sicht, Zeitschrift des Vereins für die Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 122 (2004) S. 3 – 22. 119 Alfons Zettler, Geschichte des Herzogtums Schwaben (2003) S. 79. 120 Annales Alamannici. Untersuchungen zur frühalemannischen Annalistik. Die Murbacher Annalen. Mit Edition, hg. von Walter Lendi (Scrinium Friburgense 1, 1971) S. 188. 121 Vgl. hierzu ausführlich Ulrich Zeller, Bischof Salomo III. von Konstanz, Abt von St. Gallen (1910) S. 82 – 89.
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sich insbesondere für ihre Amtsbrüder und den Domklerus, aber auch für Verwandte und andere Personen, denen sie nahestanden, verwendeten. Damit handelten die Bischöfe nach religiös begründeten Maximen und ihrem Amtsverständnis entsprechend. Über die religiöse Komponente hinaus lassen die großen Gruppeneinträge aber auch eine politische Dimension erkennen. Es dürfte jedenfalls kein Zufall sein, wenn die von Bischöfen veranlassten Einträge großer Gruppen vermehrt erst in den letzten Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts begegnen, zu einer Zeit also, in denen es den ostfränkischen Königen immer seltener ohne Schwierigkeiten gelang, ihr Reich zusammenzuhalten und für Frieden und Ordnung zu sorgen. In dem Maße, in dem das Königtum an Gestaltungsmacht und Autorität einbüßte, profilierte sich der Episkopat. Das Beispiel Liutberts von Mainz und Liutwards von Vercelli macht deutlich, dass gegen Ende des 9. Jahrhunderts mit einem Verhältnis von Königtum und Bischöfen gerechnet werden muss, das ähnlich wie schon zur Zeit Ludwigs des Frommen mit dem Begriff der „Reichskirche“ nicht hinreichend umrissen ist.122 Vielmehr wird man in der Krise des Karolingerreiches das auf das Königtum gerichtete Handeln der Bischöfe nicht selten als „Königspolitik“ charakterisieren müssen, die darauf abzielte, den Macht- und Autoritätsverlust des Herrschers zu kompensieren. Wie unlängst Steffen Patzold zeigen konnte, wurde das neue bischöfliche Selbstverständnis, das zur Zeit Ludwigs des Frommen entstand, im späten 9. Jahrhundert in zahlreichen hagiographischen wie historiographischen Texten rezipiert und gehörte seither zum festen Wissensbestand über Bischöfe.123 Allem Anschein nach spiegelt sich ihr darin gründendes Bemühen um Frieden und um die öffentliche Ordnung in den bischöflichen Großgruppeneinträgen wider. Denn nicht nur der König, sondern auch die Bischöfe bildeten nun das Reich. So wie der Adel zunehmend königliche Rechte für sich in Anspruch nahm, taten dies auch die Bischöfe. Darüber hinaus machten sie den Herrscher in ihrer Rolle als von Gott bestellte Sachwalter des Reiches auf seine Pflichten aufmerksam, reklamierten aber auch Leitungsfunktionen für sich oder griffen selbst in die Reichspolitk ein. Rückhalt fanden sie in dieser Hinsicht vermutlich bei jenen Personen, denen sie durch Amt und Herkunft verbunden waren, Personen also, die vielfach auch in den auf bischöfliche Initiative zurückgehenden Großgruppeneinträgen des späten 9. Jahrhunderts anzutreffen sind. 122 Monika Suchan, Kirchenpolitik des Königs oder Königspolitik der Kirche? Zum Verhältnis Ludwigs des Frommen und des Episkopats während der Herrschaftskrisen um 830, Zeitschrift für Kirchengeschichte 111 (2000) S. 1 – 27, hier S. 26. 123 Steffen Patzold, Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (2008) S. 100 ff.
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Farbtaf. 1: Der Salzburger Liber vitae (Stiftsarchiv St. Peter, Salzburg, Handschrift A1) pag. 20, Ausschnitt. (Niederkorn-Bruck, S. 79).
Farbtaf. 2: Der Salzburger Liber vitae (Stiftsarchiv St. Peter, Salzburg, Handschrift A1) pag. 6, Ausschnitt. (Niederkorn-Bruck, S. 79).
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Farbtaf. 3: Der Salzburger Liber vitae (Stiftsarchiv St. Peter, Salzburg, Handschrift A1) pag. 14, Ausschnitt. (Niederkorn-Bruck, S. 80).
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Farbtaf. 4: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Zentralbibliothek Zürich, Ms. Rh. hist. 27) pag. 3: capitula. (Geuenich, S. 128 und 130).
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Farbtaf. 5: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Zentralbibliothek Zürich, Ms. Rh. hist. 27) pag. 3 (capitula) mit Kennzeichnung der 17 Klöster, aus denen im Rahmen der Gebetsbünde von Attigny (grün unterstrichen) und Dingolfing (blau unterstrichen) Konventslisten zur Reichenau geschickt und dort eigetragen worden sind. (Gestrichelt sind die Namen der Klöster unterstrichen, deren Listen des 8. Jahrhunderts verloren sind.). (Geuenich, S. 129).
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Farbtaf. 6: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Zentralbibliothek Zürich, Ms. Rh. hist. 27) pag. 88 mit der Liste des Klosters Hornbach. (Geuenich, S. 130).
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Farbtaf. 7: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Zentralbibliothek Zürich, Ms. Rh. hist. 27) pag. 98, mit der Überschrift: Nomina amicorum…; – Fortsetzung: … viventium auf pag. 99 (Farbtaf. 8). (Geuenich, S. 133 f.).
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Farbtaf. 8: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Zentralbibliothek Zürich, Ms. Rh. hist. 27) pag. 99, mit der Fortsetzung der Überschrift: [Nomina amicorum] … viventium von pag. 98 (Farbtaf. 7). (Geuenich, S. 133 f.).
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Farbtaf. 9: Verbrüderungsvertrag zwischen Reichenau und St. Gallen (Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 915) pag.19. (Geuenich, S. 138).
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Farbtaf. 10: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Zentralbibliothek Zürich, Ms. Rh. hist. 27) pag. 114, mit der Überschrift: Nomina defunctorum, qui …; – Fortsetzung auf pag. 115 (Farbtaf. 11). (Geuenich, S. 139).
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Farbtaf. 11: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Zentralbibliothek Zürich, Ms. Rh. hist. 27) pag. 115, mit der Fortsetzung der Überschrift: [Nomina defunctorum, qui] …presens coenobium sua largitate fundauerunt von pag. 114 (Farbtaf. 10). (Geuenich, S. 139).
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Farbtaf. 12: Älteres St. Galler Verbrüderungsbuch (Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I. Cist. C3. B 55) pag. 1: de Ghanginpach. (Ludwig, S. 149 und 164).
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Farbtaf. 13: Älteres St. Galler Verbrüderungsbuch (Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I. Cist. C3. B 55) pag. 4: Nomina episcoporum. (Ludwig, S. 152 und 162).
Farbtaf. 14: Älteres St. Galler Verbrüderungsbuch (Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I. Cist. C3. B 55) pag. 8/9: Ältester Eintrag. (Ludwig, S. 152).
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Farbtaf. 15: Älteres St. Galler Verbrüderungsbuch (Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I. Cist. C3. B 55) pag. 15. (Ludwig, S. 163).
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Farbtaf. 16: Älteres St. Galler Verbrüderungsbuch (Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I. Cist. C3. B 55) pag. 3: Pfäferser Mönchsliste. (Ludwig, S. 164).
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Farbtaf. 17: Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch (Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I. Cist. C3. B 55) pag. 49: Weißenburger Mönchslisten. (Ludwig, S. 165).
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Farbtaf. 18: Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch (Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I. Cist. C3. B 55) pag. 50: Weißenburger Mönchslisten. (Ludwig, S. 165).
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Farbtaf. 19: Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch (Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I. Cist. C3. B 55) pag. 51: Weißenburger Mönchslisten. (Ludwig, S. 165).
Farbtaf. 20: Lose Blätter (Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I. Cist. C3. B 55) pag. 28/29: Nonantola-Doppelblatt. (Ludwig, S. 165).
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Farbtaf. 21: Älteres St. Galler Verbrüderungsbuch (Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I. Cist. C3. B 55) pag. 22: Kemptener Mönchsliste. (Ludwig, S. 164 und 167).
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Farbtaf. 22: Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch (Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I. Cist. C3. B 55) pag. 47: Kemptener Mönchslisten. (Ludwig, S. 167).
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Farbtaf. 23: Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch (Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I. Cist. C3. B 55) pag. 69: Abschrift der Namen männlicher Laien. (Ludwig, S. 167 f.)
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Farbtaf. 24: Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch (Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I. Cist. C3. B 55) pag. 77: Abschrift der Namen weiblicher Laien. (Ludwig, S. 167 f.)
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Farbtaf. 25: Jüngeres St. Galler Verbrüderungsbuch (Stiftsarchiv St. Gallen, Class. I. Cist. C3. B 55) pag. 78: Abschrift der Namen weiblicher Laien. (Ludwig, S. 167 f.)
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Farbtaf. 26: Professbuch der Abtei St. Gallen, pag. 1 (Stiftsarchiv St. Gallen, Cod. Class. I. Cist. C. 3. B. 56). (Zettler, S. 178).
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Farbtaf. 27: Translation Otmars um das Jahr 770 (Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 602, pag. 229). (Zettler, S. 191).
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Farbtaf. 28: Synopse der ältesten St. Galler Mönchslisten. Das gemeinsame Namengut ist farbig markiert (Entwurf A. Zettler, Graphik A. Timm). (Zettler, S. 194).
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Farbtaf. 29: Urkunde aus der Zeit Abt Otmars (Stiftsarchiv St. Gallen, Urkunde I 15). Sie führt wahrscheinlich Mönche als Zeugen an, doch können diese in den Listen nicht sicher identifiziert werden. (Zettler, S. 198).
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Farbtaf. 30: Sakramentarhandschrift der Frauengemeinschaft Essen (Ms. D 1, Leihgabe der Stadt Düsseldorf an die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf ) fol. 10r: Nomina uiuorum, 70er Jahre des 9. Jahrhunderts/vor 880. (Schilp, S. 207 f.).
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Farbtaf. 31: Sakramentarhandschrift der Frauengemeinschaft Essen (Ms. D 1, Leihgabe der Stadt Düsseldorf an die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf ) fol. 10v: Nomina defunctorum, 70er Jahre des 9. Jahrhunderts/vor 880. (Schilp, S. 207 f.).
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Farbtaf. 32: Sakramentarhandschrift der Frauengemeinschaft Essen (Ms. D 1, Leihgabe der Stadt Düsseldorf an die Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf ) fol. 220v: Eintrag des Todestags von Bischof Altfrid von Hildesheim in das Kalendar zum 15. August. (Schilp, S. 213).
Herrschergedenken als Spiegel von Konsens und Kooperation Zur politischen Einordnung von Herrschereinträgen in den frühmittelalterlichen Libri memoriales von Eva-Maria Butz Das Gebet für den Herrscher und das Reich war seit der Spätantike ein zentraler Bestandteil der christlichen Memorialkultur.1 Es stützte sich auf die grundsätzliche Vorstellung, die auch in der von Paulus vorgebrachten Mahnung an den Bischof von Ephesus deutlich wird, dass die Verrichtung von Gebeten und Fürbitten für die Könige und alle Obrigkeiten den Christen ein Leben in Frieden ermöglichen kann. Dieser Gedanke fand Eingang in den christlichen Gottesdienst. Seit dem 4. Jahrhundert wurde beispielsweise in Byzanz der Name des Kaisers neben den Namen anderer Wohltäter der Kirche am Schluss der Eucharistie aus einem Diptychon verlesen.2 In der lateinischen Kirche wurde vermutlich ein Fürbittengebet für den Kaiser bereits während der Messe gesprochen.3 Ende des 6./Anfang des 7. Jahrhunderts beeinflusste das Christentum auch die Ideen von Herrschaft und Regierung im merowingischen Frankenreich.4 Die Förderung von Klöstern durch die Merowinger und der königliche Einfluss auf die Liturgie führten nicht nur zu einem Aufschwung der liturgischen Produktion in Gallien, sondern auch zu der Praxis, für den König und das Reich zu beten.5 Zahlreiche liturgische Bücher des späten 7. Jahrhunderts enthalten das Gebet pro
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Ludwig Biehl, Das liturgische Gebet für Kaiser und Reich (1937) S. 30; vgl. auch den knappen Forschungsüberblick bei Achim Thomas Hack, Codex Carolinus. Päpstliche Epistolographie im 8. Jahrhundert (Päpste und Papsttum 35, 2006) S. 210 – 219. Biehl, Das liturgische Gebet (wie Anm. 1) S 38. Ebd. S. 41. Yitzhak Hen, «Flirtant» avec la liturgie. Rois et liturgie en Gaule franque, Cahiers de Civilisation Médiévale 50 (2007) S. 33 – 42. Yitzhak Hen, The Royal Patronage of Liturgy in Frankish Gaul to the Death of Charles the Bald (877) (2001) S. 33 – 41.
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rege oder pro regibus.6 Und auch in den merowingischen Urkunden schlug sich der Anspruch der Herrscher auf ein Gedenken in Form von sogenannten Gebetsbefehlen nieder.7 Eine neue Qualität erreichte das Herrschergedenken unter den Karolingern. Insbesondere durch das geistliche Bündnis zwischen den Päpsten und den neuen fränkischen Herrschern wurde eine differenziertere Ausgestaltung der Herrschersakralität angestoßen.8 Die karolingischen Herrscher, ihre Familie und das Reich wurden künftig auch von den Päpsten in das Gebet mit aufgenommen.9 Karl der Große verband die Liturgie verstärkt mit politischen Themen, unter anderem, um die spirituelle Kraft für die Überwindung von Krisen und in Verbindung mit Kriegszügen zu nutzen.10 In diesem Zusammenhang wurden die Gebete und Messen zu Ehren des Königs sowie für die Sicherheit des Reiches intensiviert. Die tagespolitische Dimension des Gebets für den Herrscher zeigt sich auch in der Episode im Kloster San Vicenzo al Volturno. Abt Potho und ein Teil seines Konvents unterstützten den Herzog von Benevent und weigerten sich, das tägliche Gebet für den König in der heiligen Messe zu singen.11 Das Gebet für den Herrscher während der Liturgie bewirkte nicht nur die Präsenz des abwesenden Königs, sondern es stellte auch eine Einheit her, in der jeder Einzelne durch das Gebet in die Pflicht genommen wurde und so mitverantwortlich für das Wohl des Herrschers und des Reiches war.12 In diese Verpflichtung wurden auch die Klöster konsequent einbezogen. Die Synode von Reisbach, Freising und Salzburg von 800 legte fest, dass an jedem Mittwoch und Freitag einer Woche eine Litanei und eine Messe für das Wohl des Herrschers 6 Ebd. S. 39 f. mit entsprechenden Quellenverweisen. 7 Eugen Ewig, Die Gebetsklausel für König und Reich in den merowingischen Königsurkunden, in: Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des früheren Mittelalters. Festschrift Karl Hauck, hg. von Norbert Kamp und Joachim Wollasch (1982) S. 87 – 99. 8 Franz-Reiner Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit (2006) S. 111. 9 Arnold Angenendt, Das geistliche Bündnis der Päpste mit den Karolingern (754 – 796), Historisches Jahrbuch 100 (1980) S. 1 – 94, hier S.74 f. 10 Hen, The Royal Patronage (wie Anm. 5); Michael McCormick, The Liturgy of War in the Early Middle Ages. Crisis, Litanies, and the Carolingian Monarchy, Viator 15 (1984) S. 1 – 23. 11 Codex Carolinus, ed. Wilhelm Gundlach, in: Monumenta Germaniae Historica, Epistolae 3 (1892) S. 467 – 657, hier Nr. 66, S. 593 f. 12 Zur Bedeutung der Memoria in der Eucharistiefeier vgl. Rupert Berger, Die Wendung „Offere pro“ in der Römischen Liturgie (1964) S. 228 – 240; Hen, The Royal patronage (wie Anm. 5) S. 93.
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und seiner Söhne sowie für die Stabilität des Reiches gebetet werden sollte,13 und laut den Synodalbeschlüssen von Arles von 813 hatten alle Bischöfe und Priester, Mönche und Nonnen für König Karl und seine Nachkommen zu beten.14 Aus der Notitia de servitio monasteriorum Ludwigs des Frommen wird schließlich deutlich, dass in allen Klöstern für das Heil des Kaisers, seiner Söhne und für das Wohl des Reiches gebetet werden sollte.15 Das Gedenken für den Herrscher wurde also auf die künftigen Herrscher aus der karolingischen Familie erweitert, die Dynastie im Gebet manifestiert. Wie ernst diese Anordnungen genommen wurden, zeigt ein Brief der Äbtissin Theothild von Remiremont, in dem diese der Kaiserin Judith mitteilte, dass sie und ihre Schwestern das ganze Jahr über und bis zum jetzigen Zeitpunkt tausendmal den Psalter und achthundert Messen für den Kaiser, seine Frau und seine Nachkommen gesungen hätten.16 In der Praxis wurde das Herrschergedenken also nicht nur auf den Herrscher und seine Nachfolger beschränkt, sondern auf die gesamte Herrscherfamilie ausgedehnt. Die Förderung der Liturgie seit Karl dem Großen diente auch der Verbreitung der politischen Vorstellung des Hofes von Frieden, Sieg und Solidarität im Reich und spiegelte für alle in der Messe erlebbar Konsens und Kooperation aller Kräfte.17 In diesem Rahmen ist auch das Herrschergedenken zu verstehen, das in „zahlreichen Spielarten“ praktiziert wurde und enormes politisches Potential hatte: bei der Verlesung von Offerenten, bei der Verlesung der Namen von Verstorbenen, im Gebet für Kaiser und Reich nach der Predigt, bei Votivmessen, in Stundengebeten, in laudes und Litaneien.18 In welchem Zusammenhang steht nun diese vielfältige Praxis mit der schriftlichen Fixierung der Herrschernamen in den 13 Monumenta Germaniae Historica, Concilia 2, 1, Nr. 24, c. 5, S. 208 und Monumenta Germaniae Historica, Capitularia 1, Nr. 112, c. 5, S. 227. 14 Monumenta Germaniae Historica, Concilia 2, 1, Nr. 34, c.2, S. 250. 15 Notitia de servitio monasteriorum, in: Walter Kettemann, Subsidia Anianensia: Überlieferungs- und textgeschichtliche Untersuchungen zur Geschichte Witiza-Benedikts, seines Klosters Aniane und zur sogenannten „anianischen Reform“. Mit kommentierten Editionen der ‚Vita Benedicti Anianensis‘, ‚Notitia de servitio monasteriorum‘, des ‚Chronicon Moissiacense/Anianense‘ sowie zweier Lokaltraditionen aus Aniane (2008, elektonische Publikation http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/ Derivate-19910/Kettemann_Diss.pdf ) S. 536 – 547, hier S. 537. 16 Lettres de Theuthildes, abesse de Remiremont, in: Frothaire de Toul. La correspondance d’un évêque carolingien avec les lettres de Theuthilde, abesse de Remiremont, hg. von Michel Parisse (1998) Nr. 1, S. 154. 17 Hen, The Royal Patronage (wie Anm. 5) S. 108. 18 Biehl, Das liturgische Gebet (wie Anm. 1); Ernst H. Kantorowicz, Laudes regiae, A Study in Liturgical Acclamations and Medieval Ruler Worship (1946); Astrid Krüger,
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frühmittelalterlichen Gedenkbüchern? Und inwieweit setzte die Gestaltung der Herrschereinträge in den libri memoriales dieses politisch-liturgische Konzept um?
Herrschereinträge in den mittelalterlichen libri memoriales Herrschereinträge sind ein fester Bestandteil der frühmittelalterlichen Gedenk bücher.19 Sie treten in Form von Herrscherlisten oder Diptychen, im Rahmen von Gruppeneinträgen oder in zusammenfassenden Abschriften auf.20 Die Namen von Kaisern und Königen, aber auch die ihrer Familienangehörigen, haben seit den Anfängen der Beschäftigung mit Gedenkbüchern das Interesse ihrer Erforscher auf sich gezogen. Sie sind in der Masse der Namen relativ leicht zu finden und scheinbar ohne größere Probleme bestimmten Personen zuzuordnen. Damit sind sie oft ein wichtiges Element für die Datierung einer Seite, einer Hand oder des gesamten Buches. Ebenso unterschiedlich wie die Erscheinungsform der Herrschereinträge ist auch ihre Positionierung im Konzept der Gedenkbücher und damit ihr Quellenwert hinsichtlich gesellschaftlicher, politischer und liturgischer Aspekte. Ein umfassendes Verständnis des Herrschergedenkens kann m. E. nur gelingen, wenn solche Einträge „dreidimensional“ gelesen werden, also die Verortung im Buch, die Verortung in der zeitlichen Struktur des Buches und die Verortung im gedenkbuchführenden Konvent berücksichtigt wird. Daran schließen sich eine Reihe von Fragen an: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Gestalt des Eintrags und der Anlage und Führung des Codex? Lassen sich Vorlagen erschließen, die auf die Praxis des Herrschergedenkens vor der Anlage des Codex in dem jeweiligen Kloster hinweisen? In welcher Verbindung stehen der Eintrag und die darin erinnerten Personen schließlich mit dem Kloster, den Nonnen bzw. Mönchen, die das Gedenkbuch führten und für das Gebetsgedenken verantwortlich waren? Letztlich führt das zu der übergreifenden Frage, welche Rolle das Herrschergedenken in dem jeweiligen Kloster spielte, welche Ausprägungen es dort hatte und welche Rückschlüsse dies auf die politische Lage im Reich zulässt. Litanei-Handschriften der Karolingerzeit (Monumenta Germaniae Historica, Hilfsmittel 24, 2007) bes. S. 22 – 33. 19 Vgl. künftig Eva-Maria Butz, Das frühmittelalterliche Königtum im Spiegel des liturgischen Gebetsgedenkens (in Vorbereitung). 20 Karl Schmid, Neue Quellen zum Verständnis des Adels im 10. Jahrhundert, in: Königswahl und Thronfolge in ottonisch-frühdeutscher Zeit, hg. von Eduard Hlawitschka (Wege der Forschung 178, 1971) S. 389 – 416, hier S. 397 f.
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Die Herrscherdiptychen: Charakter und Ausprägung Herrschereinträge in Form von Diptychen sind in fast allen Verbrüderungsbüchern überliefert.21 Viel mehr noch waren die Diptychen bei fast allen Büchern ein fester Bestandteil oder sogar Ausgangspunkt der Anlage. Dennoch unterscheiden sie sich in ihrer Ausführung deutlich voneinander. Im Folgenden sollen die wichtigsten Charakteristika anhand einiger ausgewählter Beispiele skizziert werden.
Das Salzburger Verbrüderungsbuch Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit den Herrscherdipytchen muss das 783/784 angefertigte Salzburger Verbrüderungsbuch sein, auf das an dieser Stelle nur kurz eingegangen werden soll.22 Den beiden Verzeichnissen der Lebenden (pag. 6 ff.) und der Toten (pag. 14 ff.) ist eine Liste der Patriarchen und Propheten des Alten Testaments sowie der Apostel, Märtyrer und Päpste (pag. 5) vorangestellt. Das Lebendenverzeichnis umfasst neben dem Salzburger Bischof bzw. Abt und den Salzburger Mönchen (pag. 6) die ordines der karolingischen Königsfamilie und der agilolfingischen Herzogsfamilie (pag. 10), von Priestern, Bischöfen und Äbten (pag. 11 – 13). Unter den Königen erscheinen mit Adelgis und Ansa der Sohn und die Ehefrau des 774 von Karl gestürzten langobardischen Königs Desiderius. Das Diptychon der verstorbenen Herrscher (pag. 14) umfasst eine kurze Liste der Karolinger seit Karl Martell, eine umfassendere Herzogsliste von Theoto bis Otilo und eine Liste von Bischöfen und Äbten. Das Gedenkbuch von St. Peter zeigt mit der Integration der biblischen und kirchenhistorisch bedeutenden Persönlichkeiten deutlich, dass das Gedenken der eingeschriebenen Personen ebenso wie die aktuellen politischen Verhältnisse im Rahmen des göttlichen Heilsplanes steht. Das Königtum der Karolinger ist dem Herzogtum der Agilolfinger übergeordnet, doch vermitteln die beiden Teile des 21 Zu Diptychen in der Gedenküberlieferung vgl. Franz-Josef Jakobi, Diptychen als frühe Form der Gedenk-Aufzeichnungen. Zum ‘Herrscher-Diptychon’ im Liber Memorialis von Remiremont, Frühmittelalterliche Studien 20 (1986) S. 186 – 212; weiterführende Literatur zu Diptychen dort S. 187 Anm. 6, sowie Johannes H. Emminghaus, Diptychon [1], in: Lexikon des Mittelalters 3, Sp. 1101 – 1102. 22 Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg: Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Handschrift A 1 aus dem Archiv von St. Peter in Salzburg, hg. von Karl Forstner (1974). Vgl. dazu die Beiträge von Meta Niederkorn-Bruck und Maximilian Diessenberger in diesem Band.
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Herrscherdiptychons in ihrer klaren Gliederung einen Konsens von karolingischer Königsherrschaft und untergeordneter agilolfingischer Herzogswürde in Bayern. Der tatsächliche politische Dissens tritt in Gestalt der langobardischen Königseinträge allerdings deutlich zu Tage. Und auch das Totenverzeichnis der Herzöge weist augenscheinlich auf die ältere Herrschaftstradition und damit auch auf die Legitimation der Agilolfinger hin. Dennoch drückt das geordnete Nebeneinander von karolingischer Königsherrschaft und agilolfingischer Herzogsherrschaft an der Seite der wichtigsten bayerischen Bischöfe und Äbte den Wunsch nach einer Stabilität im Herzogtum aus, die sich allerdings nur kurze Zeit später als äußerst brüchig erwies.
Das Reichenauer Verbrüderungsbuch Das fast 40 Jahre später entstandene Reichenauer Verbrüderungsbuch enthält ebenfalls ein Herrscherdiptychon, das Lebende von Toten scheidet und nach ordines gegliedert ist.23 Im Unterschied zum Salzburger Verbrüderungsbuch, das einen ausgesprochen bayerischen Horizont hat, versucht das Diptychon des Reichenauer Verbrüderungsbuches unter der Überschrift nomina amicorum viventium die politisch aktiven Kräfte des Reiches abzubilden.
23 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, hg. von Johanne Autenrieth / Dieter Geuenich / Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et necro logia, Nova Series 1, 1979). Zum Reichenauer Verbrüderungsbuch vgl. Alfons Zettler, und Reichenauer Verbrüderungsbuch, in: Bücher des Lebens – Lebendige Bücher, hg. von Peter Erhart / Jakob Kuratli Hüeblin (2010) S. 59 – 69, sowie den Beitrag von Dieter Geuenich in diesem Band.
Herrschergedenken als Spiegel von Konsens und Kooperation pag. 98 – A pag. 98 – B Hludouuicus impr. Ratoldus eps. Hludharius impr. Adalhelmus eps. Pippinus rex Uuolfleoz eps. Hluduuuicus rex Notingus eps. Iudith regina Uictor eps. Petrus eps. Pertha Aldabertus eps. Benedictus eps. Ebo eps.25 Berto eps. Deotbertus eps.
pag. 98 – C Hilduinus abba Einhardus abb. Elisachar abb. Fredegisus abb. Grimoldus abb. Apollenarius abb. Uigilius Uualah Odalrichus abb.
pag. 98 – D Mahtrat prb. Salamon prb. Peratker prb Oto prb.
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pag 99 – A Huc com. Mahtfridus com. Richuinus com.24 Erchanker com. Albker com. Cotafrid com. Theotricus com. Lantfrid com. Tiso com. Karaman com. Baldrich com.
Truago eps Huc Theotrich 24 25
Die Herrscherliste wird von Ludwig dem Frommen angeführt, ihm folgen seine legitimen Söhne, seine zweite Frau Judith und eine Berta, möglicherweise eine Schwester des Kaisers.26 Auf der unteren Blatthälfte, mit deutlichem Abstand zur Herrscherfamilie, sind die drei Halbbrüder Ludwigs verortet: Drogo, Hugo und Theoderich, mit denen sich Ludwig 822 ausgesöhnt hatte 27 (Abb. 1). Diese sind deutlich von der Herrscherfamilie abgerückt, aber nicht ihren aktuellen ordines zugeordnet. Ebenso fehlen die Namen der Töchter aus erster Ehe Ludwigs und seine beiden bekannten Kinder Alpais und Arnulf. Es scheint so, als ob in den engeren Kreis der Herrscherfamilie nur diejenigen aufgenommen wurden, die legitimer Herkunft waren und noch am Hof des Kaisers lebten, wie Berta.
24 Der Zusatz com. ist wegen eines Tintenflecks nicht mehr zu lesen. 25 Vor dem Zusatz eps. wurde nachträglich archi- von anderer Hand nachgetragen. Vgl. Dieter Geuenich, Gebetsgedenken und anianische Reform – Beobachtungen zu den Verbrüderungsbeziehungen der Äbte im Reich Ludwigs des Frommen, in: Monastische Reformen im 9. und 10. Jahrhundert, hg. von Raymund Kottje / Helmut Maurer (Vorträge und Forschungen 38, 1989) S. 79 – 106, hier S. 89 Anm. 67. 26 Karl Ferdinand Werner, Die Nachkommen Karls des Großen bis um das Jahr 1000 (1. – 8. Generation), in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben 4, hg. von Helmut Beumann / Wolfgang Braunfels u. a. (1967) S. 403 – 482, hier S. 444. 27 Diese drei Namen wurden bei der Abgrenzung des Anlageeintrags von Autenrieth übersehen. Sie wurden eindeutig von derselben Hand geschrieben wie das restliche Diptychon.
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Abb. 1: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, pag. 98.
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Die Äbteliste, an deren Spitze Hilduin von St. Denis steht, enthält, wie Dieter Geuenich zeigen konnte, die Namen der wichtigsten Berater des Kaisers am Hof, die weitestgehend auch Träger der anianischen Reform waren.28 Die Bischofsliste hingegen orientiert sich auffällig nach Italien und dürfte damit die politischen Bezüge des Klosters nach Süden zeigen. Lediglich von Bischof Ratold von Verona, der an der Spitze der Liste steht, ist auch ein engeres Verhältnis zum kaiserlichen Hof bekannt. An der Spitze der Grafenliste finden sich mit Hugo von Tours und Matfrid von Orléans zwei der wichtigsten weltlichen Berater des Kaisers.29 Hugo war der Herrscherfamilie zudem durch die Heirat seiner Tochter mit Lothar I. eng verbunden, was sich auch durch seine Spitzenstellung im Eintrag ausdrückt. Die Gruppe der weiteren Grafen setzt sich vornehmlich aus Amtsträgern zusammen, die in Alemannien tätig waren. Das Herrscherdiptychon nennt neben dem Kaiser und seiner Familie über alle ordines hinweg wichtige Berater und Amtsträger Ludwigs des Frommen. Dass diese Personen zentrale Funktionen am Hof eingenommen haben, zeigt auch ein Lobgedicht des Ermoldus Nigellus auf Kaiser Ludwig, das anlässlich der Taufe König Haralds von Dänemark verfasst wurde.30 In ihm wird die kaiser liche Prachtentfaltung eindrücklich geschildert. Bei dem feierlichen Einzug in die Kirche stützt sich der Kaiser mit seiner Rechten auf den Erzkanzler Hilduin, mit seiner Linken auf Helisachar. Kaiserin Judith wird von Graf Matfrid von Orléans und Hugo von Tours geleitet. Der Festzug endet mit Fridugis und seinen Schülern. Das Herrscherdiptychon ist somit eine vielschichtige Abbildung der politischen Spitze, bestehend aus der kaiserlichen Familie und den engsten Beratern des Kaisers, der Beziehungen des Klosters Reichenau nach Italien und des gräflichen Horizonts auf regionaler Ebene. Im Unterschied zum Lebendendiptychon beschränkt sich das Totenverzeichnis auf Laien. Auf pag. 114 wurden die karolingische Familie und die Namen von
28 Geuenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25). 29 Franz Xaver Vollmer, Die Etichonen. Ein Beitrag zur Frage der Kontinuität früher Adelsfamilien, in: Studien und Vorarbeiten zur Geschichte des großfränkischen und frühdeutschen Adels, hg. von Gerd Tellenbach (1957) S. 137 – 184, hier S. 163 – 166; Christian Wilsdorf, Les Étichonides aux temps carolingiens et ottoniens, Bulletin philologique et historique 89 (1967) S. 1 – 33; Philippe Dépreux, Le comte Matfrid de Orléans, Bibliothèque de l‘Ecole des Chartes 152 (1994) S. 331 – 374. 30 Geuenich, Gebetsgedenken (wie Anm. 25) S. 101; Ermoldus Nigellus, Carminum in honorem Hludowici Caesaris libri tres, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 2, S. 467 – 516, hier S. 508 f.
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vier Grafen verzeichnet.31 Auf pag. 115 beginnt eine über 1200 Namen umfassende Liste von Verstorbenen, die bis pag. 123 reicht und zahlreiche Grafen nennt. pag. 114 – A Karolus maior domus Pippinus rex Karlomannus maior domus Karolus impr. Karlomannus Karolus rex Pippinus rex Bernardus rex Ruadtrud Ruadheid Suanahil regina Bertha regina Hiltikart regina Fastrat regina Liutkart regina Ruadheid Hirminkar regina Lantfrid Hildrud Ruadhilt Adaltrud Deotdrat Hata Hemhilt
pag. 114 – B
pag. 114 – C
pag. 114 – D Cerolt comis Odalrich comis Bertolt comis Pirihtilo comis
Die Liste der verstorbenen karolingischen Familienmitglieder stellt sich im ersten Teil als Herrscherliste dar. Sie wird angeführt von Karl Martell, gefolgt von seinen beiden Söhnen König Pippin und dem Hausmeier Karlmann. Die Reihe wird mit den Söhnen Pippins, Karl dem Großen und Karlmann fortgesetzt. Anschließend folgen die verstorbenen herrschaftsfähigen Söhne Karls des Großen: Karl 31 Autenrieth weist die Einträge pag. 114 der Anlagehand HA 1 zu, während der Rest des Totenverzeichnisses wohl von Hand HA 2 geschrieben wurde. Johanne Autenrieth, Beschreibung das Codex, in: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (wie Anm. 23) pag. XXIV f.; XXVIII f. Vgl. auch die Abbildung der Anlageschicht bei Zettler, (wie Anm. 23) S. 68.
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der Jüngere (†811) und sein Bruder Pippin (Karlmann) (†810) von Italien. Die Herrscherliste wird von Bernhard, dem Sohn Pippins, beschlossen, der nach dem Aufstand und der Blendung durch seinen Onkel Ludwig im Jahr 818 den Tod fand.32 In jeder Generation steht derjenige Bruder an erster Stelle, dem eine längere Amtszeit beschieden war und der größere Erfolge zu verbuchen hatte. Dem Herrscherverzeichnis wurde eine Liste von Ehegattinnen der Karolinger angefügt. Sie folgt beinahe durchgängig der Chronologie. Ruadtrud und Swanahild hießen die Ehefrauen Karl Martells. Die an zweiter Stelle stehende Ruadheid identifiziert Hlawitschka aufgrund ihrer Position in der Totenliste mit einer weiteren, namentlich nicht bekannten Frau des Hausmeiers.33 An Position 12 steht mit Berta die Gemahlin Pippins, danach folgen drei Ehefrauen Kaiser Karls: Hildegard, F astrada und Liutgard. Noch vor Irmingard, der im Jahr 818 verstorbenen Gemahlin Kaiser Ludwigs, wird mit Ruadheid vermutlich eine Schwester Karls genannt.34 In der letzten Gruppe fällt besonders der Name Lantfrid ins Auge. Es handelt sich mit großer Sicherheit um den letzten alemannischen Herzog, dessen Tod für das Jahr 730 angenommen wird.35 Der Agilolfinger war mit den Karolingern über die Ehe seines Bruders Odilo mit Hiltrud, der Tochter Karl Martells, verwandt.36 Tatsächlich folgt der Name Hildrud auf Lantfrid im Reichenauer Totendiptychon. Die zweite Gruppe auf pag. 114, die in die vierte Kolumne eingetragen wurde, nennt vier Grafen: Cerolt comis – Odalrich comis – Bertolt comis – Pirihtilo comis. Sie werden durch ihre Positionierung auf der Herrscherseite anstatt auf der sich anschließenden Grafenseite besonders hervorgehoben. Gerold und Udalrich waren Brüder Hildegards, der alemannischen Gemahlin Karls des Großen. Sie repräsentierten gemeinsam mit Bertold als Nachkommen fränkischer Reichs aristokraten bzw. Pirchtilo als Amtswalter des karolingischen Königtums die Integration Alemanniens in das Fränkische Reich und gehörten als Träger der
32 Die Liste ist nicht streng chronologisch geordnet. So wird König Pippin vor seinem Bruder Karlmann genannt, Kaiser Karl vor seinem Bruder Karlmann. Auch Karl der Jüngere starb erst ein Jahr nach seinem Bruder Pippin von Italien, steht aber in dem Totenverzeichnis vor diesem. 33 Eduard Hlawitschka, Die Vorfahren Karls des Großen, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben 1, hg. von Helmut Beumann / Wolfgang Braunfels u. a. (1965) S. 51 – 82, hier S.79. 34 Ebd. 35 Alfons Zettler, Geschichte des Herzogtums Schwaben (2003) S. 52 – 55. 36 Hlawitschka, Die Vorfahren (wie Anm. 33) S. 81.
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Abb. 2: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, pag. 115.
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fränkischen Herrschaft der nachherzoglichen Zeit an. Insbesondere Gerold war Förderer des Inselklosters und erfuhr dort auch eine individuelle Totenmemoria.37 In die Zeit des alemannischen und bayerischen Herzogtums der Agilolfinger weist nochmals die Fortsetzung des Totendiptychons auf pag. 115 (Abb. 2). Offenbar wurden die jeweils ersten Namen der zweiten und dritten Kolumne, lantfridus dux (B1) und pald comis (C1), von einer anderen Hand geschrieben als die übrigen Namen der Anlage von pag. 115 bis pag. 123. Es scheint so, als sollten die beiden ersten Namen vorgeben, wie die nachfolgenden Kolumnen zu füllen sind. Tatsächlich folgt auf den Herzog Lantfrid eine Gruppe mit agilolfingischen Namen: Deotpold – Liutfrid – Uatalo – Hiltrud – Tessilo – Heresint. Die Nennung des Lantfrid sowohl an der Spitze der agilolfingischen Herzogsfamilie wie auch in der Liste der Karolinger noch vor der mit seinem Bruder Odilo vermählten Hiltrud zeigt, dass die fränkische Herrschaft in Alemannien auf der Verbindung der beiden Familien gründete. Aus der Sicht der Reichenau zu Beginn des 9. Jahrhunderts galt Lantfrid als Nahtstelle zwischen dem alten alemannischen Herzogtum und dem neuen fränkischen Königtum.
Ordnungsprinzipien von Herrscherdiptychen Sowohl das Reichenauer wie auch das Salzburger Verbrüderungsbuch zeigen, dass die den Herrscherdiptychen zu Grunde liegenden Ordnungsprinzipien Ergebnis einer bewussten Redaktion sind. Ziel war es, das Reich unter der Führung der karolingischen Dynastie mit allen an der Herrschaft beteiligten Kräften als eine konsensuale Einheit darzustellen. Das universell ausgerichtete Gedenken für Herrscher und Reich stellt in den Gedenkbüchern das Reich in Form der an der Herrschaft beteiligten Personen aus der Sicht der gedenkbuchführenden Gemeinschaft dar. In diesen Rahmen wurde die politische Umgebung des Klosters eingebettet und vervollständigte so das Reich auf regionaler Ebene. Die Einheit des Reiches wurde aber nicht nur auf die Gegenwart bezogen, sondern auch auf die Vergangenheit. Die alten Führungsschichten werden im Reichenauer Verbrüderungsbuch zur Basis der karolingischen Herrschaft. Im Salzburger Verbrüderungsbuch gewinnt die bayerische Herzogswürde durch die königliche Verwandtschaft mit den Langobarden eine besondere Qualität, die nicht unterschlagen wurde.
37 Roland Rappmann / Alfons Zettler, Die Reichenauer Mönchsgemeinschaft und ihr Totengedenken im frühen Mittelalter (Archäologie und Geschichte 5, 1998) S. 473 f.
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Die beiden Herrscherdiptychen des Reichenauer Verbrüderungsbuches erscheinen im zweiten Teil des Buches jeweils an der Spitze der lebenden bzw. verstorbenen amici et benefactores des Klosters. Doch sind die Herrscher tatsächlich als Wohltäter des Klosters eingeschrieben? Im Vordergrund des Reichenauer Verbrüderungsbuches stehen die Gebetsverbrüderungen mit anderen Konventen im Frankenreich. Der zweite Teil des Buches hingegen umfasst das Wohltätergedenken, also ein Gebetsgedenken, das in der Regel im Gegenzug für eine Wohltat, eine Gabe geleistet wurde. Das Gedenken für den Herrscher beruhte weder auf Verbrüderung noch auf einer Wohltat. Der Herrscher war Teil der Kirche, die er schützte und materiell ausstattete.38 Das konnte er aber nur tun, wenn seine Herrschaft stabil war. Das Königskloster war als eine Institution im Dienst des Reiches zum Herrschergedenken verpflichtet, um diese Voraussetzung zu schaffen. Im Reichenauer Verbrüderungsbuch fließen also die Namenaufzeichnungen verschiedener Formen von Memoria zusammen. Auf der monastischen Seite steht die Einheit der verbrüderten Konvente, auf der weltlichen Seite das Herrschergedenken, das der Stabilität des Reiches diente, sowie schließlich das Wohltätergedenken für diejenigen, die das Kloster materiell unterstützten. Sowohl für die Verbrüderungslisten als auch für die Wohltäterlisten standen bei der Anlage des Codex ältere Aufzeichnungen zur Verfügung. Welcher Art diejenigen für das Herrschergedenken gewesen sein könnten, ist bisher noch unklar. Möglichweise waren es Verzeichnisse von Herrschern, die ähnlich wie die Totenannalen von Fulda aufgebaut waren.39
38 Janet L. Nelson, Kingship und Empire in the Carolingian World, in: Carolingian Culture. Emulation and Innovation, hg. von Rosamond McKitterick (1994) S. 52 – 87; dies., Kingship and Royal Government, in: The New Cambridge medieval History 2, hg. von Rosamond McKitterick (1995) S. 383 – 430; Eugen Ewig, Zum christlichen Königsgedanken im Mittelalter, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen, hg. von Theodor Mayer (Vorträge und Forschungen 3, 1954) S. 7 – 73, hier S. 39 – 45. 39 Die Fuldaer Totenannalen, in: Die Klostergemeinschaft von Fulda im frühen Mittelalter (Münstersche Mittelalter-Schriften 8, 1978) S. 271 – 364. Vgl. auch Franz-Josef Jakobi, Die geistlichen und weltlichen Magnaten in den Fuldaer Totenannalen, in: ebd., S. 792 – 867.
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Der Liber Memorialis von Remiremont und die Entwicklung des Herrschergedenkens Vermutlich auf ältere Vorlagen geht das Diptychon des Gedenkbuchs von Remiremont zurück (fol. 3v),40 das sich in Gestalt und Inhalt völlig von den übrigen Herrscherdiptychen unterscheidet. Das Herrscherverzeichnis, das in seiner heute überlieferten Form von 862/863 stammt, dürfte eine ergänzte Fassung der 821 in die Anlage des Buches eingeschriebenen Liste sein.41 Gundramni Hilperici Chlotarii Childeberti Theudeberti Theuderici Sygiberti item Childeberti item Chlotarii Dacberti item Sygiberti Chlodouei Hilderici Pipini Dagoberti Balthilde
Caroli item Pipini Carlomanni item Carlomanni Grimoaldi Drogonis Grifonis item Grifonis Caroli item Pipini regis item Caroli imp. qui obiit V kal. Febr Hludouuici imp. Hlotarii Caroli Ermentrudis
40 Liber Memorialis von Remiremont, bearb. von Eduard Hlawitschka / Karl Schmid / Gerd Tellenbach (Monumenta Germaniae Historica, Libri Memoriales 1, 1970); FranzJosef Jakobi, Der Liber Memorialis und die Klostergeschichte von Remiremont. Zur Erschließung und Auswertung der frühmittelalterlichern Gedenk-Aufzeichnungen einer geistlichen Frauengemeinschaft, Habilitationsschrift (1983, Ms.); Eva-Maria Butz, Der von Remiremont, in: Bücher des Lebens – Lebendige Bücher, hg. von Peter Erhart / Jakob Kuratli Hüeblin (2010) S. 96 – 107; vgl. auch den Beitrag von Franz-Josef Jakobi in diesem Band. 41 Liber Memorialis (wie Anm. 40) fol. 3v; Jakobi, Diptychen (wie Anm. 21); Karl Schmid, Ein karolingischer Königseintrag im Gedenkbuch von Remiremont, Frühmittelalterliche Studien 2 (1968) S. 96 – 134; ders., Auf dem Weg zur Erschließung des Gedenkbuchs von Remiremont, in: Festschrift für Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag, hg. von Karl Rudolf Schnith / Roland Pauler (Münchener Historische Studien, Abt. Mittelalterliche Geschichte, 1993) S. 59 – 96.
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Diese begann mit König Guntram von Burgund und endete ursprünglich vermut lich mit Karl dem Großen.42 Das Remiremonter Diptychon gibt sich als Herrscherliste verstorbener Könige zu erkennen, die im Kaisertum gipfelt. Zwei Dinge machen dieses Diptychon einzigartig: Zum einen führt es nicht nur karolingische Herrscher, sondern auch merowingische Könige mit dem burgundischen König Guntram auf. Zum anderen scheint in Remiremont das Herrschergedenken nicht noch weitere Herrschaftsträger wie Grafen oder Bischöfe systematisch mit eingeschlossen zu haben, sollte dies nicht dem Kopiervorgang von 862 geschuldet sein. Die zeichnerische Markierung der Liste mit zwei Bögen als Diptychon legt allerdings nahe, dass dieses alleine für die Könige reserviert war. Der merowingische Teil der Liste ist eine reine Herrscherliste: Es sind nur diejenigen Merowinger aufgenommen, die tatsächlich die Herrschaft ausübten. Die Namen wurden nicht in der Reihenfolge des Todes notiert, sondern nach den beiden Familienverbänden in einen neustrischen und einen austrischen Zweig unterschieden. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass dieses Diptychon Ergebnis einer “historischen” Listenführung ist. Vielmehr dürfte es eigens anlässlich der Anlage des Gedenkbuchs erstellt worden sein. Es verkörpert zum einen das Selbstverständnis der Karolinger als Nachfolger der Merowinger, wie es auch in den merowingischen Königskatalogen zum Ausdruck kommt.43 Darüber hinaus ist es ebenfalls Zeugnis des historischen Bewusstseins in Remiremont, das sich durch das Herrschergedenken als ein altes Königskloster zu erkennen gibt.44 Und schließlich zeigt das Diptychon die Nähe des Klosters zum karolingischen Hof, die durch den eingangs zitierten Brief der Theothild an Kaiserin Judith eindrucksvoll belegt ist. Da die Annahme der Benediktsregel in Remiremont, die Verlegung des Klosters in die Nähe der karolingischen Pfalz und die Anfertigung des Gedenkbuchs als eine Folge der 816 von Ludwig dem Frommen erlassenen Reformbeschlüsse zu betrachten sind, hat Karl Schmid die Anlage des Liber Memorialis als eine kaiserliche Maßnahme charakterisiert.45
42 Jakobi geht davon aus, dass das Diptychon ursprünglich mit Kaiser Ludwig endete und den Willen einer Einzelsukzession im karolingischen Reich widerspiegelt, vgl. Jakobi, Diptychen (wie Anm. 21). 43 Eugen Ewig, Die fränkischen Königskataloge und der Aufstieg der Karolinger, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 51 (1995) S. 1 – 28, bes. S. 21 ff. 44 Eva-Maria Butz / Alfons Zettler, The Making of the libri memoriales: Exploring or Constructing the Past? In: Memory, Commemoration and Medieval Europe, hg. von Elma Brenner, Meredith Cohen und Mary Franklin-Brown (im Druck). 45 Schmid, Auf dem Weg zur Erschließung (wie Anm. 41) S. 83.
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Als Träger der Reform innerhalb des Klosters erscheinen in beiden Memorialtexten des Gedenkbuchs ein pater Theodricus und eine mater Theothilda. Theothild gehörte vermutlich einer dem Hof nicht nur nahestehenden, sondern auch mit den Karolingern verwandten Familie an. Sie war eine Verwandte des einflussreichen Seneschall Adalhard, der in den dreißiger Jahren des 9. Jahrhunderts Karriere am Hof Ludwigs des Frommen machte.46 Bei Theoderich dürfte es sich um den Halbbruder Ludwigs des Frommen handeln, der ebenso wie Drogo und Hugo von der Herrschaft ausgeschlossen wurde. Es wurde vermutet, dass Theoderich bald nach 818 verstarb.47 Der Eintrag im Reichenauer Verbrüderungsbuch beweist allerdings, dass er auch in den zwanziger Jahren noch am Leben war. Theothild und Theoderich waren sicherlich für die besondere Ausgestaltung des Herrschergedenkens in Remiremont mitverantwortlich. Wie ernst der Konvent auch in den folgenden Jahrzehnten das Herrschergedenken nahm, es aber auch an die jeweils veränderte politische Situation anzupassen verstand, lässt sich am Liber Memorialis von Remiremont eindrucksvoll nachvollziehen. Die Ergänzungen, die nach dem Diptychon auf der Seite eingeschrieben wurden, zeigen, dass das Kloster auch in den folgenden Jahrzehnten das Herrschergedenken auf aktuellem Stand durchführte. Dabei wurde in der Regel desjenigen Herrschers gedacht, in dessen Reichsteil Lothringen zum Zeitpunkt von dessen Tod gelegen hatte. Außerdem wurden diejenigen Karolinger eingeschrieben, die in Italien herrschten. Bis zum Jahr 900 fanden mit Arnulf, Ludwig dem Blinden und Zwentibold die letzten Karolinger Eingang auf dieser „Königsseite“. Die Weiterführung des Herrschergedenkens wurde nicht bis in das letzte Detail systematisch vorgenommen, aber das Bemühen, das Herrschergedenken konsequent zu dokumentieren, ist sichtbar.48 Fol. 3v war zu Beginn des 10. Jahrhunderts schließlich gefüllt. Der nächste Herrschereintrag findet sich auf fol. 5v. Unter dem ersten von vier Arkadenbögen wurde von geübter Hand Oremus pro Rodulfo rege cum Lodouuico fratre suo eingeschrieben (Abb. 3). Nachdrücklich wird zum Gebetsgedenken für König 46 Dies wird aus den Briefen der Theothild deutlich. Zu Adalhard vgl. Eduard Hlawitschka, Die Anfänge des Hauses Habsburg-Lothringen. Genealogische Untersuchungen zur Geschichte Lothringens und des Reiches im 9., 10. und 11. Jahrhundert (1969) S. 163 – 165; Werner, Die Nachkommen Karls des Großen (wie Anm. 26) S. 430 f. 47 Rudolf Schieffer, Die Karolinger (42006) S. 119. 48 Zum Folgenden vgl. Eva-Maria Butz. Adel und liturgische Memoria am Ende des karolingischen Frankenreichs, in: Adlige – Stifter – Mönche. Zum Verhältnis zwischen Klöstern und mittelalterlichem Adel, hg. von Nathalie Kruppa (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 227. Studien zur Germania Sacra 30, 2007) S. 9 – 30.
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Abb. 3: Liber Memorialis von Remiremont, fol. 5v.
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Rudolf II. von Hochburgund (912 – 937) und seinen Bruder Ludwig aufgerufen. Der Eintrag wird wohl zu Beginn der Herrschaft Rudolfs stehen. Die hochburgundische Königsfamilie wurde in das Herrschergedenken der Nonnen von Remiremont aufgenommen, das bisher den Karolingern vorbehalten war, obwohl Remiremont nicht zum Herrschaftsbereich Rudolfs gehörte. Der zweite Eintrag auf der Seite, der sich über die ersten zweieinhalb Kolumnen erstreckt und insgesamt 60 Namen umfasst, wird in der Literatur als Grafeneintrag bezeichnet:49 1) VIII kal. ian. migrauit domnus Gu[n]tramnus comes inlustrisimus de ac luce 2) Domna Iudit imperatrix migrauit 3) Migrauit domnus Ugo de ac luce 4) Ugo co. 5) Aua co. 6) Berta 7) Ruotbrect co. 8) Adelacdis 9) Irmingart 10) Adelindis 11) Regindrudis 12) Arnulfus 13) Berta 14) Frauuidis 15) Iudit 16) Stefanus 17) Arnulfus 18) Girbaldus 19) Berta 20) Uodelricus 21) Ugo co. 22) Ugo co. 23) Cuonradus co. 24) Cuonradus co. 25) Uuarnerius co. 26) Popo co. 27) Einricus co. 28) Berengarius co. 29) Ugo co. 30) Ugo co. 31) Conradus co. 32) Erimannus co. 33) Udo co. 34) Gisla co. 35) Barto co. 36) Oda co. 37) Berta co. 38) Burcardus co. 39) Uualo co. 40) Ugo co. 41) Boso co. 42) Ruodulfus co. 43) Ugo 44) Aba 45) Cuonrat co. 46) Uuelf 47) Uuelf 48) Leutfridus co. 49) Leutfridus co. 50) Eticho 51) Uuido co. 52) Uuido com. 53) Robret co. 54) Ima co. 55) Ruotrud co. 56) Arnulfus 57) Leupolt 58) Irmingart co. 59) Arnulfus co. 60) Uodelricus co.
Der Eintrag kann auf die Jahreswende 921/922 datiert werden, in eine Zeit also, als Karl der Einfältige um den Erhalt seiner Herrschaft im Westreich kämpfte. Ihm liegen Familienverbände zugrunde, die in ihren jeweiligen Gebieten zu den führenden Magnaten gehörten: die Etichonen, die Welfen, die Konradiner, die Babenberger und die Unruochinger. Sie waren im Dienst der Karolinger aufgestiegen und vielfach auch mit ihnen durch Heiratsverbindungen versippt. Könige fehlen in diesem Eintrag völlig: Weder Karl der Einfältige noch Heinrich I. oder die aus diesem Verwandtschaftsverband stammenden Gegenkönige wie Odo I., Boso oder Rudolf I. von Hochburgund sind aufgeführt. Vielmehr steht neben Hugo von Tours Kaiserin Judith als hochrangige Spitzenahnin am Beginn des Eintrags. Damit wird nicht nur die Karolingernähe des Sippenverbandes demonstriert, sondern auch die Königsfähigkeit der Familien deutlich markiert. Mit der Einbeziehung des Adels in das liturgische Herrschergedenken 49 Karl Schmid, Unerforschte Quellen aus quellenarmer Zeit. Zur amicitia zwischen Heinrich I. und dem westfränkischen König Robert im Jahre 923, Francia 12 (1985) S. 119 – 147, S. 123 f.; Gerd Althoff, Amicitiae et Pacta. Bündnis, Einung, Politik und Gebetsgedenken im beginnenden 10. Jahrhundert (Monumenta Germaniae Historica Schriften 37, 1992) S. 363.
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Abb. 4: Liber Memorialis von Remiremont, fol. 6v.
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reagierten die Nonnen von Remiremont auf die politische Instabilität in der Endphase des karolingischen Frankenreichs. Das Exklusivrecht der Karolinger auf die Königsherrschaft und auf den damit verbundenen Anspruch auf ein privilegiertes Gebetsgedenkens hatte keine absolute Gültigkeit mehr. In diesem Sinn schließt sich auch der auf fol. 6v eingeschrieben Eintrag an, der viele Ähnlichkeiten mit dem Grafeneintrag zeigt (Abb. 4): Nomina uiuorum 1) Ugo comes 2) Aua comitisa 3) Ruotbertus comes 4) Adelacdis comitisa 5) Stefanus co. 6) Irmingart 7) Iudit 8) Arnulfus co. 9) Berta 10) Uodelricus 11) Uuido 12) Arnulfus comes 13) Udelricus co. 14) Chuonredus co. 15) Uuarnerius co. 16) Udo co. 17) Erimanus co. 18) Einricus rex 19) Bernardus co. 20) Aua co. 21) Uodila 22) Adelacdis co. 23) Meingot co. 24) Guntramnus co. 25) Gebardus co. 26) Eberardus co. 27) Ruodulfus rex 28) Ludouuicus co. 29) Adelacdis co. 30) Ugo co. 31) Ruodulfus co. 32) Buoso co. 33) Eberardus eps. 34) Ruotbertus rex 35) Ugo co. 36) Chuoredus co. 37) Ugo co. 38) Ugo co. 39) Adelint co. 40) Adelint co. 41) Ugo co. 42) Ita co. 43) Irmingart co. 44) Ugo co. 45) Oto eps. 46) Chuonredus co.
Es gibt eine Reihe von Ähnlichkeiten mit dem oben besprochenen Eintrag fol. 5v. Dazu gehört die Überschneidung von 16 Namen, die teilweise in gleicher Reihenfolge wiederkehren.50 Die Liste auf fol. 6v beinhaltet jedoch auch die Namen dreier Könige, nämlich 18) Einricus rex, 27) Ruodulfus rex und 34) Ruotbertus rex. Ohne Zweifel handelt es sich dabei um König Heinrich I. und König Robert, der nach seiner am 9. Juni 922 erfolgten Krönung in der Schlacht gegen Karl den Einfältigen am 15. Juni 923 den Tod fand. Bei König Rudolf dürfte es sich um Rudolf von Hochburgund handeln. Auf der folgenden Position wird sein Bruder Ludwig genannt. Der Eintrag kann somit in die Regierungszeiten der drei Könige Heinrich I., Rudolf II. und Robert zwischen dem Sommer 922 und Juni 923 datiert werden. Auch wenn die Gründe für die Gestaltung des Eintrags und die politischen Hintergründe vorerst noch ungeklärt bleiben, so kann doch durchaus von einem Königseintrag gesprochen werden.51 Obwohl der Eintrag ausdrücklich als Lebendeneintrag gekennzeichnet ist, wird er wieder von Hugo von Tours und seinen bereits seit langer Zeit verstorbenen Verwandten eröffnet, die bereits auf fol. 5v als Ausgangspunkt des weit verzweigten Verwandtennetzes fungierten. Im Gegensatz zum Grafeneintrag von fol. 5v, der die Verwandtschaftsverhältnisse der Etichonen, Welfen und Konradiner
50 Vgl. die Zusammenstellung bei Althoff, Amicitiae (wie Anm. 49) S. 368 – 370. 51 So auch Schmid, Unerforschte Quellen (wie Anm. 49) S. 134.
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dokumentiert, konzentriert sich der Königseintrag fol. 6v in erster Linie auf die Konradiner, auf die Welfen und auf die Robertiner. Dabei ist in beiden Einträgen die Spitzenstellung Hugos von Tours besonders auffällig. Karl Schmid hat die beiden Einträge in Zusammenhang mit der Königserhebung Roberts von Franzien gesehen und den Königseintrag auf fol. 6v in Verbindung mit der amicitia zwischen Heinrich I. und Robert im Jahr 923 gebracht.52 Aus der Struktur des Königseintrags, in dem die Robertiner und die Konradiner besonders stark hervortreten, zieht Schmid den Schluss, dass den Konradinern eine besondere Rolle bei der Vermittlung des Freundschaftspaktes zwischen Heinrich und Robert zukam. Althoff geht in der Interpretation der beiden Einträge noch weiter. Er sieht in der Überschneidung des Namenguts die Initiatoren der beiden Einträge selbst, nämlich die Konradiner, die Robertiner und die Söhne des Richard Iustitiarius (Rudolf, Boso und Hugo). Diese Adelsgruppen beiderseits des Rheins hätten demnach die amicitia vorbereitet. Allerdings stellt der Eintrag kein Mitgliederverzeichnis der amicitia dar, sondern überantwortet die beiden Könige sowie eine weitere Reihe von Personen dem Gebetsgedenken der Nonnen. Der Grundstein für die Kontaktaufnahme zwischen Robert und Heinrich I. wurde, so Althoff, bei einem ersten Treffen zwischen Konradinern und Robertinern 921 gelegt. Dieses Treffen spiegele sich in dem Grafeneintrag auf fol. 5v wider. Sicherlich ist ein Zusammenhang der beiden Einträge mit den aktuellen politischen Verhältnissen nicht zu leugnen: Dennoch lässt sich auch der Königseintrag nicht alleine aus den Ereignissen von 923 erklären. Für die Aufnahme des hochburgundischen Königs Rudolf II. in das gemeinsame Gebetsgedenken für eine Adelsgruppierung, welche die amicitia zwischen Robert und Heinrich I. vermittelte, fehlt eine einleuchtende Erklärung. Trotz der deutlichen Präsenz der Konradiner innerhalb des Eintrags muss also die Frage nach den Initiatoren erneut gestellt werden. Der oder die Verantwortlichen für den Eintrag auf fol. 6v ließen die drei in den ehemaligen Teilreichen der Karolinger herrschenden Könige in das Gebetsgedenken des Klosters Remiremont aufnehmen. Heinrich I., Rudolf II . und Robert werden aber nicht als Könige im Rahmen einer Herrscherliste eingeschrieben, sondern in ihre jeweilige adlige Umgebung eingebettet, von denen die Konradiner und die Söhne des Iustitiarius eindeutig zu identifizieren sind. Es stehen also weniger die Könige im Vordergrund des Eintrags, als vielmehr deren Verwandtschaftsverbände.
52 Schmid, Unerforschte Quellen (wie Anm. 49) S. 139 ff.
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Der enge inhaltliche wie auch äußere Zusammenhang mit dem Eintrag fol. 5v lässt vermuten, dass auch dieser Eintrag von den Nonnen des Klosters selbst veranlasst wurde. In der Zwischenzeit war aber weitgehende Sicherheit hinsichtlich der Königsherrschaft eingetreten. Jeder der eingeschriebenen drei Herrscher sollte theoretisch in der Lage sein, das Kloster zu schützen. Aus diesem Grund wurden sie in das Gebet der Nonnen aufgenommen. Das Herrschergedenken war nun nicht mehr nur für die karolingische Königsfamilie bzw. die Könige in deren Nachfolge reserviert. Es erstreckte sich auch auf die führende Adelsschicht, von welcher der Schutz und die Fürsorge für die Nonnen und das Kloster erwartet wurden. Mit den beiden Einträgen auf fol. 5v und fol. 6v als Fortsetzung des eigent lichen Herrscherdiptychons von fol. 3v führt das Gedenkbuch von Remiremont eine Bewegung deutlich vor Augen, die auch in anderen Klöstern zu entdecken ist, nämlich die Erweiterung des Herrschergedenkens auf die führenden Magnaten. Die Gründe dafür lagen in den innen- wie außenpolitischen Krisen des beginnenden 10. Jahrhunderts. Am Beispiel des Klosters Remiremont wird deutlich, dass der Konvent selbst das Herrschergedenken noch pflegte und die entsprechenden Listen zusammenstellte. Waren die Nonnen es doch, die unter der politischen Instabilität im Reich litten und bei Gott für diejenigen beteten, von denen der beste Schutz in unsicheren Zeiten erwartet wurde; für diejenigen, denen die Qualifikation zur Übernahme einer Herrschaftsstellung zugestanden wurde. Doch ebenso wie in den karolingischen Herrscher diptychen begründen auch hier alte verwandtschaftliche Verbindungen zu den Karolingern die Herrschaftsfähigkeit. Ebenso wie die Herrscherdiptychen sind die Einträge des 10. Jahrhunderts von dem Versuch geprägt, die Einheit des Reiches abzubilden.
Resümee Die in den libri memoriales eingeschriebenen Herrscherdiptychen bilden die vielfältigen liturgischen Verpflichtungen zum Gedenken für Herrscher und Reich ab. Sie berücksichtigen zeitübergreifend verstorbene und lebende Karolinger und schließen in der Regel gemäß den karolingischen Verordnungen auch die Familienangehörigen der Herrscher in das Gedenken ein. Bereits die ältesten Herrscherdiptychen zeigen das Herrschergedenken als eine Beschwörung der konsensualen politischen Einheit im Reich. Aber sie tun dies nicht ohne Verbindung mit dem jeweiligen politischen Horizont des gedenkbuchführenden Klosters. Die vorkarolingischen Herrschaftsträger sind nicht vergessen, sondern werden sinnhaft mit den Karolingern als Herrscher verwoben. So zeigen sich die
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Herrscherdiptychen als Konstrukte einer konsensualen Einheit aus der Sicht des Klosters, die die Vergangenheit in dieses Konzept einschließt. Das Bemühen, in der Verschriftlichung des Herrschergedenkens die Einheit der politischen Kräfte darzustellen, wird auch in den späteren Herrschereinträgen deutlich, insbesondere vor dem Hintergrund politischer Wirren des späten 9. und frühen 10. Jahrhunderts. Aber auch die Herrscher selbst sorgten im Laufe des 9. Jahrhunderts für eine weitere Intensivierung des Herrschergedenkens. Insbesondere Karl der Kahle, aber auch sein Neffe Karl III. verpflichteten in zunehmendem Maß einzelne Klöster, das Herrschergedenken zu immer mehr Anlässen durchzuführen, wie beispielsweise an Krönungstagen oder Geburtstagen. Auch diese Entwicklung fand ihren Niederschlag in den Gedenkbüchern, allerdings jenseits der Diptychen in anderen Formen der Herrschereinträge.53
53 Eva-Maria Butz, Fundatio, Memoria, Caritas. Der Herrscher als Stifter und Wohltäter, Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 20 (2010) S. 1 – 13.
Könige und Herzöge im Salzburger Verbrüderungsbuch um 800 von Maximilian Diesenberger Die wohl bekanntesten Einträge im Salzburger Liber vitae sind jene Namen, die unter den Rubriken der Könige und Herzöge erscheinen. Auf fol. 10 findet sich in zwei Kolumnen sowohl der Ordo regum vivorum cum coniugibus et liberis als auch der Ordo ducum vivorum cum coniugibus et liberis.1 Die erste Kolumne wird von Charlus rex angeführt, gefolgt von seinen Söhnen Pippinus, Charlus, Luduih und erneut Pippinus. Offenkundig hat der Schreiber Kenntnis von der Taufe des jungen Karlmann in Rom im Jahr 781, bei der er seinen neuen Namen Pippin empfangen hatte. Sehr wahrscheinlich ist es dieser, mit dem der in der Liste zuletzt Genannte identifiziert werden kann. Doch ist die Rangfolge unter den Söhnen Karls an dieser Stelle durcheinandergeraten, denn es müsste Ludwig als jüngster an letzter Stelle aufscheinen. Die Vertauschung der Position zwischen Ludwig und Pippin/Karlmann kann aber dadurch erklärt werden, dass K arlmanns Taufe und Namensänderung im Jahr 781 vom Schreiber als ein für diesen so einschneidendes Ereignis aufgefasst wurde, dass er ihn an die letzte Stelle setzte, gleichsam als den zuletzt Getauften.2 Eine weitere Auffälligkeit stellt der Umstand dar, dass Pippin der Bucklige, der Sohn der Himiltrud, in gleichwertiger Position mit seinen Brüdern, den Söhnen der Hildegard, erscheint. Vielleicht darf man die Auswirkungen der Umbenennung seines jüngeren Halbbruders Karlmann in Pippin politisch nicht überbewerten – schließlich wollte Karl mit diesem Akt das alte Bündnis seines Vaters mit dem Papst betonen: aber manche Kreise der fränkischen Aristokratie 1
Liber confraternitatis monasterii s. Petri Salisburgensis vetustior, hg. von Sigismund Herzberg-Fränkel (Monumenta Germaniae Historica, Necrologia 2, 1890) S. 4 – 44, hier S. 12. Siehe auch Karl Forstner, Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Original-Format der Handschrift A 1 aus dem Archiv von St. Peter in Salzburg (Codices selecti 51, 1974) fol. X Aa/b. Ich danke Richard Corradini, Herwig Wolfram, Bernhard Zeller und Andreas Zajic für Kommentare zum Text. 2 Zur Taufe Karlmanns/Pippins vgl. Brigitte Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchung zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit (Monumenta Germaniae Historica, Schriften 44, 1997) S. 138 – 150.
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begannen die Position des ältesten Sohnes in der Reihe der Erbberechtigten in Zweifel zu ziehen. Ziemlich zeitgleich mit der Entstehung des Salzburger Liber vitae erwähnte Paulus Diaconus in seiner Geschichte der Bischöfe von Metz, dass Himiltrud einst nicht mit Karl dem Großen vermählt war. Das war ein klarer Angriff auf die Position Pippins in der Rangfolge der Söhne.3 Dieser Angriff verdeutlicht aber auch, dass Pippin zu diesem Zeitpunkt noch so mächtig war, dass man sich eben bemühen musste, ihn niederzumachen, und der Eintrag im Salzburger Verbrüderungsbuch macht klar, dass die Kreise, die hinter dieser Kampagne standen, noch einige Arbeit vor sich hatten. In einigem Abstand zu den genannten Namen hat die anlegende Hand aber in dieser Spalte noch einen weiteren Namen verzeichnet. Es handelt sich dabei um einen Adalgisus. Offenbar war damit der Sohn des Langobardenkönigs Desiderius gemeint, seit 759 Mitkönig, der im Jahr 774, als sein Vater vor Karl dem Großen die Waffen strecken musste, nach Konstantinopel geflohen war und von dort aus versuchte, die langobardische Krone wiederzugewinnen. Seine Versuche scheiterten endgültig 788, als der Beneventanerherzog Grimoald III. die in Kalabrien gelandeten byzantinischen Truppen schlug.4 Seine Ansprüche wurden jedenfalls von den Salzburgern im Jahr 784 als gerechtfertigt oder zumindest als erwähnenswert empfunden, sodass sein Name in die Liste der lebenden Könige und Königssöhne eingetragen wurde. In der zweiten Spalte findet sich zunächst Fastrada (Fastraat), die Stiefmutter der genannten Kinder Karls des Großen, und mit großem Abstand dazu, mittlerweile durch chemische Behandlung verblasst, ist Hrodrud, die älteste damals noch lebende Tochter Karls des Großen, zu erkennen, die als einzige seiner weiblichen Nachkommen eingetragen wurde. Offenkundig hatte sie dort Platz gefunden, da sie im Zuge des Romaufenthalts Karls des Großen im Jahr 781 auf Betreiben der byzantinischen Kaiserin Irene mit ihrem Sohn Konstantin VI. verlobt worden war. Im Jahr 784 bestand dieses Eheversprechen noch, das aber ein paar Jahre später aufgelöst werden sollte.5 3 Paulus Diaconus, Gesta episcoporum Mettensium, hg. von Georg Heinrich Pertz (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 2, 1829) S. 260 – 268, hier S. 265. Siehe dazu künftig Stuart Airlie in: The Prague Sacramentary (in Vorbereitung). 4 Janet L. Nelson, Making a Difference in Eighth Century Politics: the Daughters of Desiderius, in: After Rome’s Fall. Narrators and Sources of Early Medieval History, hg. von Alexander C. Murray (1998) S. 171 – 190, hier S. 186 f. 5 Vgl. Peter Classen, Karl der Große, das Papsttum und Byzanz, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben 1: Persönlichkeit und Geschichte, hg. von Helmut Beumann (31967) S. 537 – 608, hier S. 558 – 563.
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Wieder mit großem Abstand findet sich ebenfalls von der anlegenden Hand der Name der Langobardenkönigin Ansa eingetragen, der nach 774 inhaftierten Gemahlin des Desiderius und Mutter des erwähnten Adalgisus, die zu diesem Zeitpunkt offenbar noch lebte.6 In der nächsten Rubrik finden sich die Familienmitglieder der bayerischen Herzogsfamilie, angeführt von Tassilo III ., gefolgt von seinem Sohn Theodo (Deoto) und seinen beiden Töchtern Cotani und Hrodrud. Wahrscheinlich war der in den über die bayerischen Verhältnisse gut informierten Annales N azariani zum Jahreseintrag von 788 erwähnte zweite Sohn Tassilos, Theotbert, zu diesem Zeitpunkt (784) noch nicht geboren.7 Im Unterschied zu der Königsliste erscheinen beide Töchter des Herzogs nach der Nennung des ältesten Sohnes. Offenbar waren beide nicht im Stand einer (erwähnenswerten gleichrangigen) Verheiratung, die ihre Nennung vielleicht in der zweiten Spalte bedingt hätte. Dort findet sich nur allein die langobardische Gemahlin des Bayernherzogs und Tochter des Desiderius Liutbirc. Auf fol. 20 finden sich die Rubriken der verstorbenen Könige und Herzöge jeweils mit ihren Familienmitgliedern. Im Vergleich zu fol. 10 ist ein gravierender Unterschied in der Anordnung der Rubriken zu beobachten: Im Gegensatz zu fol. 10 findet sich die Liste der verstorbenen Herzöge und ihrer Verwandten u n t e r h a l b der Rubrik der fränkischen Könige. Das folgt durchaus einem politischen Kalkül: War Tassilo doch im Gegensatz zu seinen Vorgängern über seine Mutter Hiltrud mit den Karolingern blutsverwandt und wurde daher von den Salzburgern neben Karl dem Großen eingetragen. Dass diese Blutsverwandtschaft einiges Gewicht auch bei dem Karolinger hatte, zeigt sich darin, dass der fränkische König im Rahmen eines Diploms für Chiemsee unmittelbar nach dem Sturz seines Vetters den Agilolfinger zwar als malignus homo Tassilo, aber eben auch als propinquus noster bezeichnete.8
6 Zu Ansa vgl. Nelson, Making a Difference (wie Anm. 4) S. 172 ff. Siehe auch Rosamond McKitterick, Charlemagne. The Formation of a European Identity (2008) S. 85 – 87; Martina Hartmann, Die Königinnen im frühen Mittelalter (2009) S. 55 – 57 und 172 f. 7 Annales Nazariani a. 788, hg. von Walter Lendi, in: Untersuchungen zur frühalemannischen Annalistik. Die Murbacher Annalen – mit Edition (Scrinium Friburgense 1, 1971) S. 147 – 167, hier S. 165. Vgl. Matthias Becher, Eid und Herrschaft. Untersuchungen zum Herrscherethos Karls des Großen (Vorträge und Forschungen Sonderband 39, 1993) S. 69. 8 D Kar I 162 (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata Karolinorum 1. Die Urkunden Pippins, Karlmanns und Karls des Großen, hg. von Engelbert Mühlbacher, 1906, Nachdruck 1991). Siehe dazu Herwig Wolfram, Salzburg, Bayern, Österreich. Die Conversio
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Die Liste der verstorbenen Könige beginnt mit Karl Martell (Charlus), der eigentlich nicht König, aber für die bayerische Geschichte von einigem Belang war. Danach folgen die beiden Brüder Pippin (Pippinus) und Karlmann (Charlmannus). Auf der rechten Seite findet sich von der anlegenden Hand zunächst Swanhild (Suanahilt), die bayerische Gemahlin Karl Martells, die er 726 als Gefangene von seinem bayerischen Heereszug mit sich geführt hatte, bevor er ihren gemeinsamen Sohn Grifo zeugte.9 Danach folgt Berta, die Frau Pippins und Mutter Karls des Großen und Karlmanns, die nach dem Tod ihres Mannes Pippin 768 ihr diplomatisches Geschick entfaltet hatte.10 Unterhalb dieser Einträge findet sich die wohl bekannteste Liste des Liber vitae mit den bayerischen Herzögen und Familienmitgliedern.11 Sie fängt mit Theodo an, also jenem Herzog, der um 700 sowohl Rupert als auch Emmeram und Corbinian in Bayern mit offenen Armen empfangen hatte.12 Danach folgen seine drei Söhne Theotperht, Crimolt und Theodolt. Der erwähnte Tassilo könnte entweder ein Sohn oder Enkel Theodos gewesen sein, der nie eine politische Funktion innegehabt haben dürfte. Nach Jörg Jarnut soll er der Sohn Theodberts und Vater Swanahilds gewesen sein.13 Unklar ist auch die Identität des zwischen die Kolumnen der männlichen und weiblichen Mitglieder gerückten Crimolt. Deut licher wird die Liste mit Hucperht, dem Sohn Theodberts und Enkel Theodos. Abgeschlossen wurden die Einträge mit Odilo (Otilo), dem Vater Tassilos. Auf der rechten Seite finden sich die nur hier genannte Folchaid an der Seite Theodos, und
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Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband 31, 1995) S. 338. Siehe jüngst Andreas Fischer, Karl Martell. Der Beginn karolingischer Herrschaft (2012) S. 99 f. Janet L. Nelson, Bertrada, in: Der Dynastiewechsel von 751. Vorgeschichte, Legitimationsstrategien und Erinnerung, hg. von Matthias Becher / Jörg Jarnut (2004) S. 93 – 108, hier S. 104 f.; Rudolf Schieffer, Karolingische Töchter, in: Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Georg Jenal / Stephanie Haarländer (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 37, 1993) S. 125 – 139. Forstner, Das Verbrüderungsbuch (wie Anm. 1) fol. XX Ac/d. Zur christlichen Frühgeschichte der Bayern vgl. Joachim Jahn, Ducatus Baiuvariorum. Das bairische Herzogtum der Agilolfinger (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 35, 1991) S. 35 – 75; Wolfram, Salzburg (wie Anm. 8) S. 227 – 251. Jörg Jarnut, Untersuchungen zur Herkunft Swanahilds, der Gattin Karl Martells, Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 40 (1977) S. 245 – 249, hier S. 247.
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die Fränkin Pilitrudis (Pilidruth), die Gemahlin Grimoalds.14 Bei jener Uualtrat, die neben Theodolt aufgenommen wurde, dürfte es sich um die erste Frau des Teilherzogs gehandelt haben, denn in der Vita Corbiniani erscheint Pilitrudis als seine Witwe, die nach seinem Tod Grimoald heiratete.15 Jene Rattrud, die neben Hucbert eingetragen worden ist, ist jedenfalls nicht bekannt. An dieser Stelle fehlen einige Namen, über die andere Quellen Auskunft geben, etwa die Frau Herzog Theodberts, Regintrud, oder die Gemahlin Odilos und Mutter Tassilos III., Hiltrud. Beide erscheinen aber in der Rubrik der verstorbenen Äbtissinnen vom Nonnberg.16 Dass der vierte Sohn Theodos, Lantpert, in der Liste der Herzöge nicht aufscheint, geht auf die von ihm angeordnete Ermordung des Heiligen Emmeram zurück, über die wir aus der um 770 von Arbeo von Freising verfassten Vita Corbiniani informiert sind.17 Der Grundbestand des Liber vitae von 784 zeigt also eine agilolfingische Ausprägung, die auf Herzog Tassilo III. zugeschnitten wurde. Der Eintrag des A dalgisus in die Liste der lebenden Könige oder liberi geht aber deutlich auf langobardische Erinnerungsressourcen in Bayern zurück und wäre von den Karolingern in dieser Weise nicht akzeptiert worden. Dass Adalgisus weit unter den Karolingern aufgenommen wurde, geht sehr wahrscheinlich darauf zurück, dass hier noch Platz für weitere Einträge gelassen wurde. Es sind fünf Zeilen offen geblieben, Platz, der vielleicht für weitere Söhne Karls ausreichend gewesen wäre, vielleicht auch noch für die Enkelgeneration. Für Einträge der dritten Generation wäre der vorhandene Raum aber schon deutlich zu gering bemessen gewesen. Im Gegensatz dazu hatte die anlegende Hand in der Spalte der Agilolfinger noch 15 Zeilen freigelassen. Vergleicht man diese Zeilen mit jenen, die bei den verstorbenen Mitgliedern der Agilolfinger freigelassen worden sind, ist er unverhältnismäßig groß.
14 Vgl. Ian N. Wood, Genealogy Defined by Women: the Pippinids, in: Gender in the Early Medieval World. East and West, 300 – 900, hg. von Leslie Brubacker / Julia M. H. Smith (2004) S. 234 – 256, hier S. 247 f. 15 Arbeo von Freising, Vita Corbiniani episcopi Baiuvariorum c. 24, hg. von Bruno Krusch (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Merovingicarum 6, 1913) S. 497 – 593, hier S. 580. 16 Forstner, Das Verbrüderungsbuch (wie Anm. 1) fol. XXI Da/b. 17 Arbeo von Freising, Vita vel passio Haimhrammi episcopi et martyris Ratisbonensis c. 28, hg. von Bruno Krusch (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Merovingicarum 4, 1902) S. 452- 524, hier S. 500 f.; so schon Sigismund Herzberg-Fränkel, Über das älteste Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg, Neues Archiv 12 (1887) S. 55 – 107, hier S. 76 (Lantpert wird hier fälschlicherweise als Lantfrid bezeichnet).
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Aber wie sich zeigt, hat es in diesen Rubriken keine großen, geschweige denn systematischen Ergänzungen gegeben. Das Verbrüderungsbuch wurde zwar eifrig ergänzt, nicht aber in dem Umfang und an jenen Stellen, für die es auch gedacht war. So blieb die Liste der lebenden Könige und Herzöge mitsamt ihren Familienangehörigen leer. Selbst der zweite Sohn Tassilos, Theotbert, fand keine Aufnahme, obwohl er 788 schon auf der Welt war.18 Oder man vermutet seinen Eintrag unter jenen verblassten Schäften, die sich daneben noch ausnehmen lassen, was aber eher unwahrscheinlich ist. Nicht einmal jene Mitglieder des Königshauses, die unter den Lebenden eingetragen worden waren, bekamen (mit einer Ausnahme) nach ihrem Tod einen entsprechenden Gegeneintrag unter der Rubrik der Verstorbenen. Als erste wäre hier Königin Fastrada zu nennen, die am 10. August 794 verstarb und deren Name nun eben nicht radiert und in die Liste der Verstorbenen eingetragen wurde. Dieses plötzliche Erlahmen des Interesses, den Liber vitae zumindest in diesen Rubriken konsequent weiterzuführen, ist bemerkenswert, wurden doch zur Zeit seiner Entstehung auftretende Todesfälle unmittelbar berücksichtigt, wie schon Herzberg-Fränkel beobachtete.19 So wurde der Tod Arbeos von Freising am 4. Mai 784, zu einem Zeitpunkt also, an dem sich der Schreiber schon mitten in der Arbeit befand, sofort berücksichtigt. Offenbar hatte der Tod Virgils von Salzburg am 27. November 784 auch unmittelbar Auswirkungen auf die konsequente Weiterführung des Verbrüderungsbuches. Die sichtbarste Auswirkung zeigt sich darin, dass die anlegende Hand nicht mehr aufscheint, weder im Verbrüderungsbuch selbst noch in anderen Salzburger Handschriften.20 Das heißt aber nicht, dass es nicht doch wenige Ergänzungen in der Rubrik der Verstorbenen gegeben hat. Denn dort haben unterschiedliche Schreiber Einträge hinterlassen. Nun findet man den Namen des Langobardenkönigs Desiderius unter den toten Königen vielleicht sogar noch vor 788 nachgetragen.21 Warum er im von anlegender Hand stammenden Grundstock nicht aufgenommen worden war, muss unklar bleiben.22 18 Siehe Anm. 7. 19 Herzberg-Fränkel, Über das ältesteVerbrüderungsbuch (wie Anm. 17) S. 73 f. 20 Bernhard Bischoff, Die südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken in der Karolingerzeit 2: Die vorwiegend österreichischen Diözesen (1980) S. 83. 21 Forstner, Das Verbrüderungsbuch (wie Anm. 1) fol. XX Aa. Der Eintrag des Desiderius unterscheidet sich von der anlegenden Hand in Buchstabenformen (z. B. „e“ und „d“), Duktus (deutlich gedrängter)und der Farbe der Tinte (heller). 22 Wahrscheinlich ist dieser spätere Eintrag des Desiderius kein Hinweis darauf, dass er nach 784 verstorben ist. Wenn er zum Zeitpunkt der Anlage noch gelebt haben sollte,
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Hildegard, die am 30. April 783 verstorbene Frau Karls des Großen und Mutter Karls des Jüngeren, Pippins von Italien und Ludwigs, wurde offenbar auch, kurz nachdem die anlegende Hand ihre Tätigkeit beendet hatte, nachgetragen. Warum sie erst später ergänzt wurde, wenn ihre Nachfolgerin an der Seite Karls des Großen bereits aufgenommen worden war, muss unklar bleiben. Vielleicht wollte man die Symmetrie der Einträge in der Rubrik der verstorbenen Könige und ihrer Gemahlinnen nicht in Unordnung bringen.23 Das Interesse an der verstorbenen Königin war aber sicher durch ihre Herkunft gegeben. Sie stammte aus der Familie der Geroldinger und war über ihre Mutter Imma als Urenkelin des Alemannenherzogs Gottfried mit der Familie der Agilolfinger verbunden.24 Umso erstaunlicher ist es, dass der 799 verstorbene Bayernpräfekt Gerold selbst nicht im Verbrüderungsbuch eingetragen wurde. Später hat auch eine korrigierende Hand Suuanhilt zu Suuanahilt und Berta (Perhta) zu Bertrada (Perhtrada) verändert. Vielleicht war dies jener Schreiber, der links unterhalb des Eintrags von Karl Martell den gemeinsamen Sohn mit der Bayerin Swanahild, Crifo, positionierte. Das war jener Halbbruder Pippins und Karlmanns, der den beiden Brüdern und auch dem sehr jungen Tassilo mit seiner Mutter Hiltrud in der Vergangenheit einige Schwierigkeiten bereitet hatte.25 Dieser Eintrag verleiht der würdigen Liste karolingischer Herrschaft etwas Subversives. Ein anderer Schreiber scheint später den Tod einer Hrodrud und einer Hrodhilt nachgetragen zu haben. Wenn es sich bei der ersteren um die Tochter Karls des Großen handelte, dann muss der Eintrag nach dem 6. Juni 810, ihrem Todestag, vorgenommen worden sein. Und es spricht nichts dagegen, dass es sich dabei tatsächlich um Karls Tochter handelt, die auch nach der Auflösung ihrer Verlobung mit Konstantin VI. eine politisch bedeutsame Gestalt geblieben ist.
stellt sich nämlich die Frage, warum er nicht unter den lebenden Königen verzeichnet worden war, da dort doch sein Sohn Aufnahme gefunden hatte. 23 Hildegard könnte aber auch als Verantwortliche dafür gesehen worden sein, dass die Tochter Ansas und Schwester Liutbirgs, Gerperga, von Karl dem Großen verstoßen worden war. 24 Ingrid Heidrich, Von Plectrud zu Hildegard. Beobachtungen zum Besitzrecht adliger Frauen im Frankenreich des 7. und 8. Jahrhunderts und zur politischen Rolle der Frauen, Rheinische Vierteljahresblätter 52 (1988) S. 1 – 15, hier S. 10. 25 Stuart Airlie, Towards a Carolingian Aristocracy, in: Der Dynastiewechsel (wie Anm. 10) S. 109 – 127.
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In der sog. „Nota historica“ des Prager Sakramentars aus den frühen 790er Jahren wird sie als einzige der Töchter Karls genannt und das sogar an prominenter Stelle.26 Wer aber die mit ihr verzeichnete Hrodhilt war, ist nach wie vor nicht geklärt. Eine sehr konstruierte Verbindung ließe sich über Bertrada zur letzten bekannten Merowingerkönigin Chrodichildis herstellen (†699), die Ehefrau Theuderichs III., die Mutter Bertradas der Älteren, die wiederum die Großmutter der jüngeren, nur ein paar Zeilen darüber genannten Bertrada war. Aber diese Verbindung scheint doch recht unwahrscheinlich zu sein. Vielleicht handelte es sich eher um eine unbekannte Verwandte im weiteren Umkreis der Karolingerfamilie, vielleicht aus Hrotruds Umfeld. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass abgesehen von Desiderius, dessen Tod aber schon früher verzeichnet wurde, und Grifo, in diesen Rubriken hauptsäch lich Frauennamen aufgenommen wurden. Aus einer bayerischen Perspektive gesehen waren aber auch die beiden nachgetragenen Männer über Frauen mit den Bayern verbunden: Desiderius als Vater Liutbirgs und Grifo als Sohn der Swanahild. Es ist gut möglich, dass Grifo gleichsam als Ergänzung zu Swanahild in die Liste eingetragen wurden. Keiner der Karolinger oder Agilolfinger wurde jedenfalls nach 784 berücksichtigt. Im Gegensatz dazu findet man auf fol. 7Bb im Nachtrag zu einer kurzen, anachronistischen Liste mit dem Titel De Corbeia, die Langobardin Liutpirc mit ihren beiden Töchtern Cotani und Hroddrud aufgenommen. Offenbar verfolgte man aufmerksam den weiteren Lebensverlauf des weiblichen Teils der bayerischen Herzogsfamilie, wobei in den Quellen nur der Aufenthaltsort der beiden Töchter in Chelles und Laon bezeugt ist.27 Der Schreiber dieses Eintrags selbst gehört zum weiteren Kreis jener an nordostfranzösischen Schriften orientierten Schreiber, die von Arn um 800 zum Einsatz kamen – ein weiteres Indiz für die unmittelbare Vermittlung dieser Nachrichten aus dem nordfranzösischen Raum.28
26 Praha, Knihovna pražské kapituly, O 83, fol. 83v. 27 Fragmentum Chesnii a. 788, hg. von Georg Heinrich Pertz (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 1, 1826) S. 33 f., hier S. 33: … et filias eius, unam ex illis transmisit ad Cala, et aliam ad Laudano monasterio. Vgl. dazu Maximilian Diesenberger, Dissidente Stimmen zum Sturz Tassilos III., in: Texts and Identities in the Early Middle Ages, hg. von Richard Corradini / Rob Meens / Christina Pössel / Philip Shaw (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 12, 2006) S. 105 – 120, hier S. 113. In Chelles war einst auch schon Swanahild untergebracht worden, vgl. Rudolf Schieffer, Die Karolinger (42006) S. 51; Diesenberger, Dissidente Stimmen, S. 116. 28 Vgl. Forstner, Das Verbrüderungsbuch (wie Anm. 1) S. 25 f. (H5). Die kurze Liste ist von großem Interesse, denn neben Maurdramnus erscheint Adalhard, der seit 781 dem
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Liutbirg ist auch das einzige Mitglied der letzten Generation der Agilolfingerfamilie, deren Tod in Salzburg registriert und im Liber viate dokumentiert wurde. Ihr Name findet sich neben dem sonst unbekannten Tassilo II. in der Liste der verstorbenen Mitglieder der Agilolfingerfamilie nachgetragen.29 Der Schreiber hatte hier nicht nur Platz für seinen Eintrag gefunden, er konnte ihn passenderweise auch neben einen Tassilo setzen. Wenngleich dieser auch der historisch falsche war, konnte auf diese Weise würdig Raum für gemeinsames Gedenken des verstorbenen Herzogspaares geboten werden. Wie es diese Beispiele verdeutlichen, verfolgte man in Salzburg offenbar hauptsächlich das Schicksal der weiblichen Mitglieder der Herzogsfamilie, vor allem jenes der Liutbirg. Der Langobardin kam aber nicht nur nach 788 Bedeutung zu, sondern auch schon bei der Anlage der Handschrift. Denn schon der Eintrag von Adalgisus und Ansa in die Liste der lebenden Könige und ihrer Familienangehörigen von der anlegenden Hand verdeutlicht den Einfluss der Langobardenprinzessin, deren Familienmitglieder damit Aufnahme an dieser prominenten Position fanden, obwohl oder gerade weil sie von den Karolingern in Haft gehalten wurden und ihrer königlichen Stellung de facto verlustig gegangen waren. Liutbirg war sicher eine einflussreiche Persönlichkeit im agilolfingischen Dukat, wenngleich ihr Einfluss auf die Politik des Herzogs nicht so groß gewesen sein dürfte, wie es die Annales regni Francorum oder auch manche Freisinger Traditionen später glauben machen wollten.30 An dieser Stelle lässt sich aber die Frage nach der Rolle von Frauen im Zusammenhang mit der fürstlichen Erinnerungskultur stellen. In Salzburg betrifft das hauptsächlich den Konvent am Nonnberg. Von seinen Anfängen an hatte dieser Konvent die weitaus prestigeträchtigeren Mitglieder als der männliche Konvent. In der Liste der verstorbenen „Äbtissinnen“ des Klosters Nonnberg auf fol. XXI lassen allein sieben von den zwölf genannten
Kloster als Abt vorstand, nachdem er den Hof Karls wegen dessen Heirat mit Hildegard verlassen hatte. 29 Forstner, Das Verbrüderungsbuch (wie Anm. 1) fol. XXAd. 30 Annales regni Francorum a. 788, hg. von Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum [6], 1895) S. 80 – 84: Liutbirg wird als Deo odibilis bezeichnet; Die Traditionen des Hochstifts Freising, hg. von Theodor Bitterauf (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte, Neue Folge 4, 1, 1905) Nr. 193b S. 183.
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Personennamen auf Verschwägerung oder Versippung mit dem agilolfingischen Herzogshaus schließen.31 Angeführt wird die Liste von Arintrud abbatissa, der Nichte des Heiligen Rupert. Schon an dritter Stelle stößt man auf einen Namen aus dem Umkreis der Agilolfinger.32 Die an dritter Stelle genannte Uualtrat beispielsweise hieß genauso wie die erste Gemahlin Herzog Theodoalds. An vierter Stelle erscheint die Gemahlin Theodberts, Regintrud. Die fünfte abbatissa Imma hält Jörg Jarnut für die Tochter des Herzogs Gottfried von Alamannien und damit für eine Schwester Herzog Odilos.33 Mit Hiltrud ist die Gemahlin Odilos, Schwester Pippins und Karlmanns und Mutter Herzog Tassilos verzeichnet. Cotestiu verweist nach Wilhelm Störmer auf die genealogia der Huosi, die eng mit den Agilolfingern verbunden war.34 Zwei weitere in dieser Liste Genannte heißen Rodrud und Cotani, so wie die beiden Töchter Tassilos III. Wenngleich sich die Namen nicht auf die zwei Töchter Tassilos beziehen, weist die Namensgleichheit wahrschein lich doch auf einen verwandtschaftlichen Zusammenhang.35
31 Forstner, Das Verbrüderungsbuch (wie Anm. 1) fol. XXI Ca/b. Nicht zu unterschätzen ist die prominente Position der Liste der Äbtissinen auf dem für den Betrachter sichtbaren Seiten XX und XXI, der links mit dem Ordo regum anfängt und mit dem Ordo sanctimonialium aufhört. Die drei auf fol. XI Aa unter dem Ordo sanctimonialium vivarum vereinigten Namen: Aonilt abba et congregatio ip / Sigihaid aba et congregatio ips und Cotestiu ab et cong ipsius. Siehe dazu Maria Hasdenteufel, Das Salzburger Erintrudis-Kloster und die Agilolfinger, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 93 (1985) S. 1 – 29, hier S. 3 f. 32 Die an zweiter Stelle genannte Kerlind kann zwar nicht identifiziert werden. Von Herzog Grimoald wird aber berichtet, dass er vor seiner Ehe mit Pilitrud schon einmal verheiratet gewesen war. 33 Jörg Jarnut, Untersuchungen zur Herkunft Swanahilds, Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 40 (1977) S. 245 – 249, hier S. 103. 34 Wilhelm Störmer, Adelsgruppen im früh- und hochmittelalterlichen Bayern (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 4, 1972) S. 92; vgl. auch Karl Schmid, Religiöses und sippengebundenes Gemeinschaftsbewußtsein in frühmittelalterlichen Gedenkbucheinträgen, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 21 (1965) S. 18 – 81, hier S. 45 f. Der Name der davor genannten Teotrat ist sowohl in der langobardischen Königsfamilie als auch im Umfeld der fränkischen Hausmeier bekannt: Siehe dazu Hasdenteufel, Das Salzburger Erintrudis-Kloster (wie Anm. 31) mit Literaturangabe. 35 Zur Verbindung einer in Rottbach bei Fürstenfeldbruck beteiligten Cotania, Gemahlin eines Oazo, und dem ebenfalls in Rottbach begüterten Tassilo III. und seiner Tochter Cotania siehe Joachim Jahn, Urkunde und Chronik. Ein Beitrag zur historischen Glaubwürdigkeit der Benediktbeurer Überlieferung und zur Geschichte des agilolfingischen
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Ob die eine oder andere Zuweisung richtig ist oder nicht, ist nicht mehr in Erfahrung zu bringen. Trotzdem ist die Dichte der mit dem agilolfingischen Herzogshaus verbundenen Damen sehr hoch. Dies waren Frauen, die nach ihrem Eintritt ins Kloster nicht nur spirituelle Erfahrungen weitergaben, sondern dort vermutlich selbst eine spezifische Form einer höfischen Gesellschaft etablierten und sehr wahrscheinlich auch eine familiäre Erinnerungskultur pflegten.36 Für die Zeit, die wir hier ansprechen, ist etwa Chelles unter der Schwester Karls des Großen, Gisela, zu erwähnen, die nicht nur Verbindung mit den Intellektuellen am Hof hielt, sondern auch aktiv die Erinnerung an ihre 783 verstorbene Mutter Bertrada hochhielt.37 Als Beispiel für eine aktive Rolle von Nonnen in der sie umgebenden Gesellschaft mit Königsnähe ist Remiremont in den 820er Jahren zu erwähnen.38 Ein Kloster, das ebenfalls enge Kontakte zum Hof hielt, war das von Desiderius und Ansa gegründete Kloster Santa Giulia in Brescia.39 Auf dem Salzburger Nonnberg sind die Verbindungen zur Agilolfingerfamilie jedenfalls weitaus deutlicher bezeugt als im männlichen Konvent. Und gerade für den Salzburger Nonnberg sind auch besitzgeschichtlich ausgezeichnete Verbindungen mit dem Haus der Agilolfinger nachgewiesen, wie etwa durch Theodbert und Regintrud, die das Kloster schwerpunktmäßig ausbauten. Der Bayernherzog unterstellte dabei dem Kloster gezielt wichtige fiskalische Einkunftsquellen und sogar Teile der herzoglichen Militärorganisation. Damit konnten vielfältige Besitzungen und darauf ruhende Rechte aus dem Salzburger Umland zentral erfasst werden. Dass diese neuaufgerichtete Ordnung aber mit dem Kloster Nonnberg
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Bayern, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 95 (1987) S. 1 – 51, hier S. 22 – 25. Zu merowingerzeitlichen Beispielen vgl. die kurze Zusammenstellung bei Hasdenteufel, Das Salzburger Erintrudis-Kloster (wie Anm. 31) S. 21 – 26. Vgl. Nelson, Bertrada (wie Anm. 10) S. 104 f. Vgl. Janet L. Nelson, Gender and Genre in Women Histories in the Earlier Middle Ages, in: Janet L. Nelson, The Frankish World (1996) S. 183 – 198, hier S. 191 – 194. Eva-Maria Butz, Adel und liturgische Memoria am Ende des karolingischen Frankenreichs, in: Adlige – Stifter – Mönche. Zum Verhältnis zwischen Klöstern und mittelalterlichem Adel, hg. von Nathalie Kruppa (2007) S. 9 – 30, hier S. 13 ff. Vgl. Franz-Josef Jacobi, Diptychen als frühe Form der Gedenk-Aufzeichnungen. Zum ‚Herrscher-Diptychon’ im Liber Memorialis von Remiremont, Frühmittelalterliche Studien 20 (1986) S. 186 – 212. Hartmut Becher, Das königliche Frauenkloster San Salvatore / Santa Giulia in Brescia im Spiegel seiner Memorialüberlieferung, Frühmittelalterliche Studien 17 (1983) S. 299 – 392, hier S. 308 ff.
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verbunden wurde und nicht mit Sankt Peter, spricht für die besondere Rolle des Frauenklosters für die Herzogsfamilie.40 Wenn man vergleichbare Nonnenklöster mit Fürstennähe in Betracht zieht oder die Rolle von Frauen am Hof überhaupt berücksichtigt, dann können wir sicher davon ausgehen, dass das Nonnenkloster vor 788 eine bedeutsame integrative Funktion hatte, die nach 788 sicherlich auch zu Veränderungen führte. Salzburg hat sich unter Arn deutlich gegenüber Virgils Zeiten geändert. Eine neue Schrift, neue Texte und andere Schreiber wurden etabliert. Salzburg wurde eine verantwortungsvolle Position in der Kirchenlandschaft Bayerns zuerkannt, was auch die Rolle des Salzburger Oberhirten wesentlich veränderte. Mit der Mission der Awaren wurden neue Aufgabenfelder erschlossen und Reformen veränderten tiefgreifend soziale Praktiken.41 In einigen Handschriften aus dem ausgehenden 8. Jahrhundert und beginnenden 9. Jahrhundert sind diese formalen und inhaltlichen Änderungen eindrucksvoll dokumentiert.42 Im Liber vitae sind diese Umbrüche nur indirekt zu bemerken, indem das ursprünglich vorgesehene Programm nicht weitergeführt wurde, sondern alternative Wege eingeschlagen wurden. Nun wurden vermehrt einzelne Listen von verbrüderten Mönchskonventen eingefügt und politische Aspekte nicht weiter verfolgt: Die weltlichen Gegenspieler Arns von Salzburg, die comites Gerold (†799) und Audulf (†818), fanden ebenso wenig Eingang in das Verbrüderungsbuch wie in der unmittelbaren Umgebung des neuen Bischofs nach 788 eine agilolfingische Erinnerungskultur weiter gefördert wurde. Manche Parteigänger Tassilos gingen ins Exil, manche traten wohl wie der Herzog selbst mit seiner Familie mehr oder weniger freiwillig ins Kloster ein.43 Am Nonnberg dürften sich die alten Strukturen zum Teil aber noch erhalten haben. Hier hatte jene Generation von Frauen, die noch unter der Herrschaft der Agilolfinger ins Kloster eingetreten
40 Joachim Jahn, Ducatus Baiuvariorum (wie Anm. 12) S. 87 – 89. 41 Vgl. etwa Warren Brown, Unjust Seizure. Conflict, Interest, & Authority in an Early Medieval Society (2001). 42 Vgl. etwa Wien, ÖNB, Cod. lat. 795, Cod. lat 420 etc. Siehe Bischoff, Die südostdeutschen Schreibschulen (wie Anm. 19) S. 114 – 119, S. 79 f. Vgl. Maximilian Diesenberger / Herwig Wolfram, Arn und Alkuin – zwei Freunde und ihre Schriften, in: Erzbischof Arn von Salzburg, 784/85 – 821, hg. von Meta Niederkorn-Bruck / Anton Scharer (Veröffent lichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 40, 2004) S. 81 – 106. 43 Annales regni Francorum a. 788, hg. von Kurze (wie Anm. 30) S. 82. Siehe dazu auch Bernhard Bischoff, Salzburger Formelbücher und Briefe aus Tassilonischer und Karolingischer Zeit. Sitzungsberichte der bayerischen Akademie der Wissenschaften 1973, Heft 4 (1973) S. 25 und 55 – 57 über den verbannten Geistlichen Promo.
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und wahrscheinlich auch verstärkt mit der memoria ihrer früheren Äbtissinnen aus dem agilolfingischen Herzogshaus verbunden war, das Schicksal der ins Frankenreich verbannten Frauen aus der Herzogsfamilie noch im Auge. Wahrschein lich aber orientierte man sich nun auch grundsätzlich an Frauen, denen in der Vergangenheit und in der Gegenwart bedeutsame Rollen zukamen, wie etwa an Rotrud, der Tochter Karls des Großen. So scheint es möglich, dass die wenigen Zusätze zu den Königs- oder Herzogslisten nach 784 auf den Konvent am Nonnberg zurückgehen. In dem ein wenig ins Abseits gerückten Buch des Lebens hat die Erinnerungskultur, die über Frauen erfolgte, damit noch vereinzelte Spuren hinterlassen.
Die Libri vitae von Salzburg und Cividale und das Bayerische Ostland (799 – 907)1 von Herwig Wolfram
1. Das historische Umfeld Im Jahre 796 wurde der Awarenkrieg mit der Unterwerfung des Khagans und seiner Großen vom fränkischen Königshof offiziell für beendet erklärt. Obwohl die Kampfhandlungen noch bis 811 andauerten, markierte das Jahr 796 doch den Beginn der fränkischen Neuordnung des eroberten Raums.2 Die Administration der unterworfenen Avaria wurde Herzog Erich von Friaul und Graf Gerold I., dem Präfekten von Bayern, übertragen, wobei die pannonische Drau die Grenze ihrer Mandatsgebiete gebildet haben dürfte. Nachdem sowohl Erich von Friaul wie Gerold I. von Bayern überraschend 799 den Tod gefunden hatten, teilte Karl der Große das doppelt so groß gewordene Bayern und richtete ein Missaticum an der Grenze ein,3 aus dem das Bayerische Ostland des 9. Jahrhunderts entstand. Diese plaga orientalis (Conversio c. 10) umfasste den heute oberösterreichischen 1
Herrn Uwe Ludwig, Duisburg-Essen, ist der Autor zu großem Dank verpflichtet für seinen kompetenten fachlichen Rat und für zahlreiche wichtige Informationen. Der vorliegende Text wurde auch mit Zustimmung aller Beteiligten in der von Peter F. Kramml herausgegebenen Festschrift für Heinz Dopsch, verstorben am 31. Juli 2014, im Salzburg Archiv veröffentlicht sowie in Conversio Bagoariorum et Carantanorum. Das Weißbuch der Salzburger Kirche über die erfolgreiche Mission in Karantanien und Pannonien, hg., übersetzt, kommentiert und um die Epistola Theotmari wie um Gesammelte Schriften zum Thema ergänzt von Herwig Wolfram (Zbirka Zgodovinskega časopisa 44, Ljubljana/ Laibach 22012, 32013) S. 274 – 301, aufgenommen. 2 Walter Pohl, Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa. 567 – 822 (22002) S. 319 – 322; Herwig Wolfram, Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs von seiner Entstehung. 378 – 907 (22003) S. 212 ff., 219 ff. und 233 ff. 3 Herwig Wolfram, Salzburg, Bayern, Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 31, 1995) S. 180 ff.; Ders., An den äußersten Grenzen des Reiches. Die karolingische Markenorganisation von der Ostsee bis zur Adria, in: Conversio (wie Anm. 1) S. 246- 273, hier S. 262.
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Herwig Wolfram
Traungau, das östlich der Enns beginnende awarische Pannonien, Karantanien sowie dem Anspruch nach auch Mähren unter Einschluss großer Teile der heutigen Slowakei. Im Jahr 828 fügte Ludwig der Fromme auch die Grafschaft im Laibacher Becken (die spätere Krain) und das Fürstentum von Siscia/Sisak an der Save hinzu. Diesen Riesenraum, der vom Böhmerwald bis zur Fruška Gora, dem Frankengebirge westlich von Belgrad, reichte, kommandierte ein Missus und Obergraf (Ostlandpräfekt) mit seinen zugeordneten Grafen, comites (et missi) socii. Ihnen waren gentile Fürsten, duces, unterstellt.4 In Karantanien und in der späteren Krain wurden die duces comitibus subditi ad servitium imperatoris (Conversio c. 10) 828 durch fränkisch-bayerische Grafen ersetzt.5 In Mähren scheiterte der entsprechende Versuch, den der Königssohn Karlmann 870/71 unternahm, am Widerstand des Fürsten Zwentibald I. (871 – 894).6 Das von Regensburg aus verwaltete Böhmen und Siscia/Sisak sowie das kleine Kamptaler Fürstentum standen unangefochten unter der Herrschaft von duces, von einzelnen oder einer Mehrzahl von gentilen Fürsten. In der pannonischen Moosburg/Zalavár trat 876 an die Stelle eines gentilen Fürsten der Königssohn Arnulf von Kärnten. Aber auch er galt als dux, und schließlich wurde hier 896 mit Brazlavo wieder ein gentiler Fürst eingesetzt. Zwischen den Böhmen im Norden und den Kroaten im Süden fielen alle slawischen Fürstentümer dem Ungarnsturm zum Opfer.7
4 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 84 ff., 87 ff., 298 – 310, bes. 299 (Schaubild); Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 212 ff., bes. 223 (Schaubild); Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 49 ff. und 165 ff. 5 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 306 ff.; Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 248. 6 Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 255 f. 7 Siehe Conversio (wie Anm. 1) Kommentar S. 173 mit Anm. 40, und Herwig Wolfram, Die ostmitteleuropäischen Reichsbildungen um die erste Jahrtausendwende und ihre gescheiterten Vorläufer. Ein Vergleich im Überblick, in: Böhmen und seine Nachbarn in der Přemyslidenzeit, hg. von Ivan Hlaváček / Alexander Patschovsky (Vorträge und Forschungen 74, 2011) S. 49 – 90, hier S. 68 f. (Mähren) und 73 ff. (Böhmen), 66 ff. (Pannonien), sowie Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 330 ff. (Moosburg); Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 258 mit Anm. 269 nach Die Traditionen des Hochstifts Regensburg und des Klosters S. Emmeram, hg. von Josef Widemann (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte, Neue Folge 8, 1943) Nr. 102 S. 91 (Arnulf als dux (in) der pannonischen Moosburg); Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 58 f. mit Anm. 299 (Kamptaler Fürstentum, sein Inhaber nicht als dux, jedoch mit der im weltlichen Bereich fürstengleichen Titulatur vir venerabilis bezeichnet); Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 335 mit Anm. 728 nach Harald Krahwinkler, Friaul im Frühmittelalter. Geschichte
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Die Missionierung und Christianisierung dieses Raums, den zeitgenössische Quellen zunächst auch Avaria, dann Sclavinia und Pannonia nannten,8 sollte nach dem Willen Karls des Großen ursprünglich Bischof Arn von Salzburg zusätzlich zu Karantanien allein übernehmen.9 Daraus wurde 796 die Zuteilung Pannoniens zwischen Raab, Donau und Drau durch König Pippin von Italien, eine Entscheidung, die Karl der Große 803 persönlich in Salzburg bestätigte (Conversio c. 6).10 Es dauerte freilich noch Jahrzehnte, bis hier die gewünschte Rechtssicherheit hergestellt war.11 Im Jahre 798 wurde das Bistum Salzburg zum Erzbistum und zur Metro pole Bayerns und seines Ostlandes erhoben.12 Im Jahre 811 teilte Karl der Große die Karantana provincia zwischen Aquileia und Salzburg und legte die jeweiligen Diözesangrenzen auch in Karantanien an der Drau fest, wie dies bereits 796/803 im pannonischen Missionsgebiet erfolgt war. Allerdings hatten die Salzburger keine einheitlichen Vorstellungen vom Verlauf der Drau. Die Urkunde Karls unterscheidet an der karantanischen Drau ein aquileisches Südufer von einem Salzburger Nordufer; demnach floss für den Kaiser wie die beiden betroffenen Metropoliten die Drau von Westen nach Osten, was sie bis heute tut. Die Conversio lokalisierte dagegen das „Gebiet der Karantanen und ihre Nachbarn am westlichen Ufer des Flusses bis zur Mündung der Drau in die Donau“. Anstelle einer Autopsie verließ man sich im Salzburg des Jahres 870 auf einen geographischen Traktat, der das Donauknie bei Vác negierte und daher die Drau in eine unvermindert nach Osten fließende Donau von Süden her münden ließ.13 In den beiden Jahren 796 und 803
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einer Region vom Ende des 5. bis zum Ende des 10. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 30, 1992) S. 252 ff. (Siscia/Sisak). Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 70 mit Anm. 13 und 184 (Namenentwicklung). Noch vor Conversio cc. 7 f. (wie Anm. 1) S. 68/70 (a. 870) lokalisiert etwa D. Ludwig der Deutsche 25 (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 1. Die Urkunden Ludwigs des Deutschen, Karlmanns und Ludwigs des Jüngeren, hg. von Paul Kehr, 1932/34, Nachdruck 1980) S. 30 f. (837 September 29) = Niederösterreichisches Urkundenbuch 1, 777 – 1076, bearb. von Maximilian Weltin / Roman Zehetmayer (Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 8, 1, 2008) Nr. 7 S. 82 f., ein Gebiet an der niederösterreichischen Ybbs in Sclavinia. Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 225. Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 286 mit Anm. 503. Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 224 ff. Ebd., S. 172 ff. Vgl. D Kar. I. 211 (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata Karolinorum 1. Die Urkunden Pippins, Karlmanns und Karls des Großen, hg. von Engelbert Mühlbacher, 1906, Nachdruck 1991) S. 282 f. mit Conversio c. 8 (wie Anm. 1) S. 68/70. Siehe Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 70 f.
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wurde zugleich auch eine Salzburger Diözesangrenze an der Raab gezogen beziehungsweise bestätigt. Diese Grenze ergibt nur gegenüber Passau Sinn, mag sich auch das Donau-Inn-Bistum mit der Einlösung des Angebots Zeit gelassen haben.14 Ausdrücklich erwähnt die nasse Grenze ein angeblicher königlicher Schiedsspruch zwischen Erzbischof Adalram und dem Passauer Bischof Reginhar. Dies behauptet eine wohl erst im 10. Jahrhundert entstandene Fälschung, die Regensburg 829 November 18 datiert und dennoch unter dem Namen des Bayernkönigs Ludwig des Deutschen geht. Vielfach wird angenommen, dass diese Fälschung, deren Verfasser weitgehend das Diplom Karls des Großen von 811 als Vorlage verwendete, dennoch auf eine 829/30 tatsächlich vorgenommene Grenzziehung schließen lässt.15 Es fragt sich jedoch, ob um 829/30 noch eine weitere von der weltlichen Macht befohlene Diözesanregulierung zwischen Passau und Salzburg erfolgte. Die darüber als Urkunde Ludwigs des Deutschen überlieferte Fälschung kann diese Annahme jedenfalls nur bedingt stützen, denn im Grunde hätte die 796/803 getroffene Regelung ohnehin genügt. Das eigentliche Salzburger Diözesangebiet bestand seit 811 im Ostland aus Karantanien nördlich der Drau und seit 796/803 aus Pannonien zwischen Raab, Donau und Drau.16 Der Salzburger Metropolitanverband umfasste dagegen neben Bayern auch dessen gesamtes Ostland nördlich der Drau.17 Das Salzburger Pannonien hatte demnach seine Westgrenze am rechten östlichen Ufer der Raab, und am anderen Ufer begann unausgesprochen die Passauer Zuständigkeit. 14 Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 187 ff, 15 Zu D. Ludwig der Deutsche 173sp (wie Anm. 8) S. 244 f. siehe Niederösterreichisches Urkundenbuch 1 (wie Anm. 8) Nr. +5 S. 50 f. und 67 – 71 (Max Weltin), wo Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 196 mit Anm. 24, und Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 178 und 227 (beide Stellen stützen sich auf Heinz Dopsch, Salzburg und der Südosten, Südostdeutsches Archiv 21, 1978, S 5 – 35, hier S. 14 mit Anm. 43 f.) mit Recht relativiert werden. – Die Intitulatio Hludovicus divina largiente gratia rex Baioariorum wird zum ersten Mal durch D. Ludwig der Deutsche 2 (wie Anm. 8) S. 2 mit 830 X 6 nachgewiesen. Außerdem hat das Spurium die für DD. Ludwig der Deutsche 2 ff. unüb liche Legitimationsformel divina ordinante providentia: siehe Herwig Wolfram, Intitulatio II. Lateinische Herrscher- und Fürstentitel im neunten und zehnten Jahrhundert (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband 24, 1973) S. 7 – 178, hier S. 65 mit Anm. 33 und 105 mit Anm. 18. 16 Siehe oben Anm. 10. Zum Begriff plaga orientalis siehe Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 84 ff. nach Conversio c. 10 (wie Anm. 1) S. 72/74. 17 Heinz Dopsch, Die Zeit der Karolinger und Ottonen, in: Geschichte Salzburgs. Stadt und Land 1,1, hg. von Heinz Dopsch (21983) S. 157 – 228 und 1,3 (1984) S. 1217 – 1249, hier S. 160 ff.; Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 110 und 172 f. Siehe auch oben Anm. 3 f.
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2. Die Texte Der Salzburger Liber confraternitatum entstand nur knapp vor dem Tod Bischof Virgils am 27. November 784 als ein „reguläres“, systematisch angelegtes „Verzeichnis der Lebenden und Toten“, mit denen sich Kloster und Bistum Salzburg in Gebetsverbrüderung wusste. Der Liber vitae von St. Peter geht auf ältere Vorarbeiten zurück, diente liturgischen Zwecken und ist als ältestes Denkmal seiner Art an seinem Entstehungsort erhalten geblieben. Seit 784 „wird das Verbrüderungsbuch im Kloster St. Peter zu Salzburg verwahrt,“ 18 das von 739 bis 798 zugleich Sitz des Bistums und von 798 bis 987 des Erzbistums Salzburg war.19 Der Grundstock des Liber Confraternitatum ist vierfach gegliedert; die Handschrift unterscheidet einerseits geistliche und weltliche Ordines und andrerseits die Lebenden von den Toten. Nach 784 und noch stärker nach Arns Tod 821 wird diese genaue Ordnung verwässert, leider aber niemals zur Gänze aufgegeben, so dass man nicht immer sagen kann, ob die Einteilung noch oder nicht mehr gültig war. Für welches monasterium man immer auch die Aufbewahrung des Evangeliars von Cividale (Codex Foroiuliensis) im 9. Jahrhundert annimmt, es besteht kein Zweifel, dass diese geistliche Gemeinschaft im Jurisdiktionsbereich Aquileias lag.20 Wieso die Handschrift, die an der Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert entstand, zu einem Liber vitae wurde und wer die ersten Eintragungen um 850 18 Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg, hg. von Karl Forstner (Codices selecti 51, Graz 1974) S. 13 (Zitat) und 17 ff. 19 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 252 ff., 290 ff. und 397; Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 110 ff. und 172 f. 20 Uwe Ludwig, Transalpine Beziehungen der Karolingerzeit im Spiegel der Memorialüberlieferung. Prosopographische und sozialgeschichtliche Studien unter besonderer Berücksichtigung des Liber vitae von San Salvatore in Brescia und des Evangeliars von Cividale (Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte 25, 1999) S. 177 ff. Krahwinkler, Friaul (wie Anm. 7) S. 267 f. mit Anm. 112 fragt, ob es sich dabei um den Konvent von San Canzian d´Isonzo wenige Kilometer östlich von Aquileia gehandelt hat, und verweist auf die Tatsache, dass der in den Codex Foroiuliensis mit seiner Gemahlin eingetragene Kaiser Ludwig II. – Ludwig, Transalpine Beziehungen, S. 186 sowie 251, fol. 3v.1 und 2 – in San Canzian am 13. Juli (865) D. L. II. 44 (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata Karolinorum 4. Die Urkunden Ludwigs II., hg. von Konrad Wanner, 1994) S. 154 f. ausgestellt hat. Cesare Scalon, Il Codex Forojuliensis a San Canzian?, in: I santi Canziani nel XVII centenario del loro martirio / Sveti Kancijani ob 1700-letnici mučeništva, hg. von Giovanni Toplikar / Sergio Tavano (2005) S. 308 – 334, bes. S. 330 ff., und Cesare Scalon, Il Codex Forojuliensis e la sua storia, in: L’Evangeliario di san Marco,
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veranlasste, ist unbekannt. Auch lässt sich keine, dem Grundstock des Liber Confraternitatum vergleichbare Ordnung erkennen.21 Karl Forstner, Karl Schmid und Uwe L udwig haben die Memorialüberlieferung von Salzburg und Cividale neu bearbeitet und dabei die Lesungen der Namen vielfach verbessert oder ihre Zahl wesentlich ergänzt. Daher wären neue Voraussetzungen gegeben, um wieder einmal historische Fragen zu stellen.
3. Ausgewählte Beispiele Die kirchliche Organisation des Bayerischen Ostlandes verlangte, dass die Mandatsträger, die Grafen und gentilen Fürsten wie ihre Umgebung, zu beiden Metropolen gute Beziehungen unterhielten. Nicht neu ist daher die Frage, wie und ob diese Mandatsträger von der Memorialüberlieferung von Salzburg und Cividale berücksichtigt worden sind. Obwohl noch auf die Bethmann-Edition des Evangeliars von Cividale von 1877 und die Herausgabe des Salzburger Verbrüderungsbuches durch Sigismund Herzberg-Fränkel von 1904 angewiesen, hat Michael Mitterauer in seiner ausgezeichneten Dissertation, approbiert 1960 und erschienen 1963, grundlegende Forschungen zum Thema veröffentlicht. Bereits 1960 hatte er ein „Nebenprodukt“ dieser Pionierleistung in Aufsatzform vorgelegt.22 Der programmatische Titel der kleineren Arbeit lautete „Slawischer und bayerischer Adel am Ausgang der Karolingerzeit“. Dieser Adel stellte im 9. Jahrhundert die Mandatsträger des Bayerischen Ostlandes. Er bestand jedoch weder aus der Elite eines einzigen slawischen Volkes noch ausschließlich aus Bayern, so dass von theodisk-slawischen Großen zu sprechen wäre.23 Diese bildeten eine
hg. von Gilberto Ganzer (2009) S. 77 – 98, S. 90 f., versucht diese Lokalisierungsmög lichkeit als sehr wahrscheinlich zu erweisen. 21 Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 193 ff. 22 Michael Mitterauer, Karolingische Markgrafen im Südosten. Fränkische Reichsaristokratie und bayerischer Stammesadel im österreichischen Raum (Archiv für Österreichische Geschichte 123, 1963) und Michael Mitterauer, Slawischer und bayerischer Adel am Ausgang der Karolingerzeit, Carinthia I 150 (1960) S. 693 – 726. 23 Zu dem im 9. Jahrhundert sowohl quellengerechten wie bereits ethnisch gebrauchten Begriff theodiscus, der anstelle von „germanisch“, ganz besonders aber von „deutsch“ zu verwenden wäre, siehe Wolfgang Haubrichs / Herwig Wolfram, Theodiscus, in: Reallexikon für Germanische Altertumskunde 30 (22005) S. 420 – 433 und Herwig Wolfram, Gotische Studien. Volk und Herrschaft im frühen Mittelalter (2005) S. 241 – 262. Zum bayerischen Ostland siehe Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 212 ff. (223:
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Gruppe politisch Handelnder, die – wie im übrigen Karolingerreich auch – sowohl miteinander verwandt und versippt waren, wie sie miteinander und gegeneinander, mit und gegen die Herrscher agierten.24 Bereits Jordanes machte in seinen Getica klar, dass Nomen und Gens verschiedene Dinge sein können. Dementsprechend war mancher theodiske Namenträger ein Slawe. So hießen die im Frühjahr 888 erwähnten slawischen Besitzer zweier Königshufen Wartmann und Saxo. Das gleiche gilt für die slawischen Zeugen zweier am Beginn des 11. Jahrhunderts in St. Georgen am Längssee ausgestellten Urkunden; rund die Hälfte trug theodiske Namen. Für die umgekehrte Namengebung wird erst mit 870 ein prominentes Zeugnis überliefert. Damals erhielt der älteste Arnulf-Sohn den Namen seines Taufpaten Zwentibald I. Daher gilt unverändert die alte Warnung vor vorschnellen Schlüssen und Identifizierungen.25 Skizze) und Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 165 ff., 185 ff. und bes. 298 ff. (299: Skizze). – Man sollte auch die Mandatsträger im Markenbereich nicht generell als Markgrafen bezeichnen, da marchio in der Einzahl und als Bezeichnung eines namentlich genannten Mandatsträgers in funktionalen Quellen erstmals um 900 und dann auch nur für ganz wenige ranghöchste Grafen verwendet wird. Eine quellengerechte Bezeichnung wäre dagegen Grenzgraf: siehe Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 188 f., und Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 217 nach Conversio c. 10: confinii comes. Siehe Conversio c. 10 (wie Anm. 1) S. 72/74 und Kommentar S. 168 mit Anm. 15, sowie Wolfram, An den äußersten Grenzen (wie Anm. 3) S. 269 mit Anm. 164. 24 Karl Brunner, Oppositionelle Gruppen im Karolingerreich (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 25, 1979) bes. S. 194 – 197. Karl Schmid, Das Zeugnis der Verbrüderungsbücher zur Slawenmission, Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 126 (1986) S. 185 – 205, hier S. 191 f., weist darauf hin, dass „die bisher praktizierte Herauslösung der slawischen Namen aus dem Eintragsgefüge (des Codex Foroiuliensis) nicht mehr zu rechtfertigen ist“. In diesem Sinne auch Uwe Ludwig, Anmerkungen zum Evangeliar von Cividale und zur Erforschung der slawischen Nameneinträge, in: Slowenien und die Nachbarländer zwischen Antike und karolingischer Epoche. Anfänge der slowenischen Ethnogenese 2, hg. von Rajko Bratož (2001) S. 809 – 828, hier S. 815. 25 Iordanes, Getica 58, hg. von Theodor Mommsen (Monumenta Germaniae Historica, Auctores antiquissimi 5,1, 1882, Nachdruck 1982) S. 53 – 138, hier S. 79. Herwig Wolfram, Überlegungen zur politischen Situation der Slawen im heutigen Oberösterreich (8.-10. Jahrhundert), Schriftenreihe des Oberösterreichischen Musealvereins 10 (1980) S. 17 – 24, hier S. 23 mit Anm. 27 f., zu D. Arnolf 21 (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 3. Die Urkunden Arnolfs, hg. von Paul Kehr, 1940, Nachdruck 1988) S. 31 f. Zu den Zeugen in St. Georgen am Längssee siehe Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 50 mit Anm. 217 nach Monumenta historica ducatus Carinthiae 3: Die Kärntner Geschichtsquellen 811 – 1202, hg. von August Jaksch (1904)
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In großer Zahl und zumeist in Gruppen geordnet sind die Namen von theodisk- slawischen Mandatsträgern und die ihrer Umgebung im Codex F oroiuliensis verzeichnet.26 Umso mehr fällt auf, dass die meisten von ihnen im Liber Confraternitatum fehlen, obwohl der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit nördlich der Drau lag und sie daher kirchlich dem Erzbistum unterstanden. So hatten der mährische Flüchtling und Moosburger Fürst Priwina sowie nach 860 sein Sohn und Nachfolger Chozil von nach 821 bis zum Kommen Methods 867/69 die Verbindung mit Salzburg – nur unterbrochen für die Jahre 834 bis 838/39 und vor 850 – treulich gepflegt.27 Trotzdem wurde keiner der beiden in das Salzburger Verbrüderungsbuch eingetragen. Demgegenüber nennt der Codex Foroiuliensis die Namen von Priwina und C(h)ozil / Quocili, und zwar inmitten derer von 23 anderen Slawen und Slawinnen.28 Außerdem gibt es eine gesonderte Eintragung eines Bribina in einem Block von Namen, an dessen Spitze der Graf Witigowo steht. Zum dritten verzeichnet der Codex Foroiuliensis die Eintragung von Chozil mit seinem (Halb)Bruder (?) Unzat samt Frauen und slawisch-theodisken Gefolgsleuten, darunter Amalrih, dem ersten theodisken Zeugen der Complacitatio von 850.29 Chozil/Chezil(o), die Kurzform von Cadolah, ist nicht slawisch, sondern theodisk. Der gentile Fürst und fränkische Graf besaß eine hereditas im heute
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Nr. 205 S. 87 (1002/18), sowie Conversio (wie Anm. 1) Kommentar S. 178 Anm. 66 f. zu Conversio c. 10 S. 72/74. Rolf Bergmann, Die germanischen Namen im Evangeliar von Cividale. Möglichkeiten und Probleme ihrer Auswertung, Beiträge zur Namenforschung, Neue Folge 6 (1971) S. 111 – 129, hier S. 118, sowie unten Anm. 101 (Zwentibald). Siehe auch die Zurückhaltung bei der Auswertung der „Einträge aus dem Umkreis Pribinas und Cozils“ durch Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 226 ff. Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 201 ff. Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 259 ff. Conversio cc. 11 – 13 (wie Anm. 1) S. 74 – 78. Zur Unterbrechung siehe Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 311 – 322 und 328 f. Schmid, Das Zeugnis der Verbrüderungsbücher (wie Anm. 24) S. 191 – 197, bes. 195 (Faksimile Abb. 5); Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 226 ff. und 265, fol. 14v.3: 1) Oimuscle 2) Dabraua…10) Quocili 11) Priuuinna …23) Sinata. Zu Bribina und Witigowo siehe unten Anm. 61. Unzat wird in Conversio c.11 (wie Anm. 1) S. 74 (vgl. c. 13 S. 78) wie im Codex Foroiuliensis unmittelbar nach Chozil genannt. Mitterauer, Slawischer und bayerischer Stammesadel (wie Anm. 22) S. 723 mit Anm. 200 f., vermutet mit guten Gründen, dass Unzat der zweite Sohn Priwinas war: Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 207 ff. und 250, fol. 2v.5, 1) Cozil 2) Uuozet… 10) Amalrih. Zur Complacitatio von 850 in Conversio c. 11, siehe Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 323 f.
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oberösterreichischen Traungau, im Mandatsbereich der Wilhelminer.30 Ein Wellehelm steht auf der Zeugenliste der Complacitatio von 850, die Chozil anführt.31 In das Reichenauer Verbrüderungsbuch ist unter einem Uuillihelm ein Chezil eingetragen.32 Nicht unmöglich, dass Chozils Mutter der Adelsgruppe der Wilhelminer angehörte. Wahrscheinlich für Mutter und Sohn und nicht – wie überliefert wird – für den Noch-Heiden Priwina weihte Erzbischof Adalram in den Zwanzgerjahren des 9. Jahrhunderts eine Kirche in Neutra/Nitra.33 Als Priwina 833 in Traismauer die Taufe empfing, wird sein Sohn Chozil nämlich nicht genannt. Dieser dürfte die Heimat bereits als Christ verlassen haben.34 Adalram war der slawischen Sprache mächtig und setzte seine Kenntnisse für Mission und Predigt ein.35 Der stets unmittelbar nach Chozil genannte Unzat führte ebenfalls keinen slawischen, möglicherweise aber einen turksprachlichen Namen.36 Hatte er eine awarische oder bulgarische Mutter, die Priwina während seines Aufenthalts bei den Bulgaren in den Dreißigerjahren zur Frau genommen hatte?37 30 Zu Chozils hereditas (Die Traditionen des Hochstifts Regensburg [wie Anm. 7] Nrn. 26 und 42; vgl. D. Ludwig der Deutsche 64 [wie Anm. 8] S. 87 ff.) und Namen siehe Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 312 mit Anm. 617 f. Zu dem für das Ostland wichtigen Clan der Wilhelminer siehe Mitterauer, Karolingische Markgrafen (wie Anm. 22) S. 104 ff., sowie Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 248 ff. und 255 ff. Zu den frühen Wilhelminern in Bayern siehe Gottfried Mayr, Die frühen Wilhelminer in Bayern, Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 73 (2010) S. 1 – 45. 31 Conversio c. 11 (wie Anm. 1) S.74/76. 32 Schmid, Das Zeugnis der Verbrüderungsbücher (wie Anm. 24) S. 193 Abb. 3: Uuillihelm/ Chezil, und 196 f. 33 Conversio c. 11 (wie Anm. 1) S. 74/76. Zur Datierung siehe ebd., Kommentar S. 186. 34 Conversio c. 10 (wie Anm. 1) S. 72/74 erwähnt nur die Taufe Priwinas. 35 Carmina Salisburgensia Nr. 1. VII vv. 18 – 22 (Die sogenannten „Carmina Salisburgensia“ und der Clm 14743, hg. und übersetzt von Lukas Wolfinger, in: Quellen zur Salzburger Frühgeschichte, hg. von Herwig Wolfram [Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 44 = Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Ergänzungsband 22] 2007) S. 179 – 261, hier S. 188/190: Adalram missionierte die barbaricas phalanges, die barbarischen Scharen, womit im Ostfrankenreich der Zeit die Slawen gemeint waren; vgl. Einhard, Vita Karoli Magni c. 15, hg. von Oswald Holder-Egger (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum, 61911, Nachdruck 1965) S. 18. 36 Erich Zöllner, Awarisches Namensgut in Bayern und Österreich, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 58 (1950) S. 244 – 266, hier S. 262 mit Anm. 124. 37 Zu Conversio c. 11 (wie Anm. 1) S. 74/76 siehe Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 312, und Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 248 f.; Pohl, Die Awaren (wie Anm. 2)
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Datierung der Eintragungen: Tritt der Name Priwina auf, käme die Zeit zwischen Priwinas Belehnung mit dem pannonischen Zala-Gebiet um 840 und seinem Tod um 860 in Frage. Sein Nachfolger Chozil dürfte bis gegen 874/76 gelebt haben.38 Die Chozil/Unzat-Eintragung wäre daher grob zwischen um 860 und um 875 zu datieren. Wahrscheinlich sollte man den Zeitraum auf um 860 und vor 869, dem Weihedatum Methods zum Erzbischof von Sirmium/Pannonien, eingrenzen. Diese Entscheidung Roms hatte Chozil im Alleingang erreicht, was seine Beziehungen zu Aquileia, das ja für Pannonien südlich der Drau und damit für Sirmium/Sremska Mitrovica zuständig war, belastet haben könnte. Allerdings gibt es keinen direkten Hinweis, wie Aquileia das Wirken Methods in Pannonien beurteilte. Indirekt könnte man aus der Tatsache, dass Rom nach 879 die Zuordnung Methods zu Pannonien unter Einschluss Sirmiums aufgab und den Erzbischof auf Mähren beschränkte,39 auch auf Widerstand aus Aquileia schließen.40 Möglicherweise wurde bereits Albgar, der Vorgänger Pabos als Graf Karantaniens, in den Codex Foroiuliensis eingetragen. Sicher finden sich darin die Namen von Pabo selbst und des Grafen Rihhari von Steinamanger/Savaria sowie der des karantanischen Grafen Witigowo samt seiner Familie.41 Im Jahre 856 erhielt Karlmann das Bayerische Ostland. In den Jahren 857 bis 861 ersetzte der Königssohn die von Ludwig dem Deutschen ernannten Grafen des bayerischen Ostlands durch seine eigenen Leute. Wahrscheinlich hängt auch der Tod des gentilen Fürsten Priwina um 860 mit der Machtübernahme Karlmanns zusammen. Der Königssohn war damals mit den Mährern verbündet, und Priwina „töteten
S. 327 (Awaren bei den Bulgaren). 38 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 315 mit Anm. 633 zu Conversio c. 13 (wie Anm. 1) S. 78/80. 39 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 98 f., und Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 262 f. 40 Zum Verhältnis zwischen Aquileia und Sirmium siehe Heinrich Berg, Bischöfe und Bischofssitze im Ostalpen- und Donauraum vom 4. bis zum 8. Jahrhundert, in: Die Bayern und ihre Nachbarn 1, hg. von Herwig Wolfram / Andreas Schwarcz (Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 179, 1985) S. 61 – 108, hier S. 105 ff. 41 Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 202 ff. und 248, fol. 1r.7, 4) Pabo und 5) Richeri, sowie S. 218 ff. und 255, fol. 5v.26, 1) Uuitgauo com…9) Bribina…. Zu Albgar und Pabo als Obergrafen von Karantanien sowie zum karantanischen Grafen Witigowo siehe Mitterauer, Karolingische Markgrafen (wie Anm. 22) S. 105 ff., 117 ff. und 144 ff., sowie Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 304 f. Anm. 590 und 317 mit Anm. 639, wo auch Rihhari erwähnt wird.
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die Mährer“, heißt es in der Conversio.42 Weitere bekannte Opfer der Personalpolitik Karlmanns waren der Karantanengraf Pabo und Graf Rihhari von Steinamanger.43 Beide sind nicht nur im Codex Foroiuliensis, sondern auch auf der Reichenau und in St. Gallen nebeneinander an prominenter Stelle verzeichnet worden.44 Während Pabos Name im Liber Confraternitatum fehlt, obwohl er sich nach seiner Absetzung nach Salzburg zurückgezogen hatte,45 dürfte Rihhari in Salzburg verzeichnet worden sein. Ist diese Zuordnung richtig, folgt daraus sehr wahrscheinlich, dass auch Ratpot, der mächtige, wegen seiner selbständigen Mährenpolitik von Ludwig den Deutschen abgesetzte Ostlandpräfekt (spätestens 833 – 854), in den Liber Confraternitatum eingetragen wurde.46 Rihharis Name steht nämlich in der Kolumne oberhalb von dem eines Ratpot; sie nehmen die zweite und dritte Stelle in einer Siebener-Gruppe theodisker Namen ein, die eine ausgeprägte Hand eingetragen hat, die sich markant von ihrer Umgebung unterscheidet. Rihhari und Ratpot waren im zweiten Drittel des 9. Jahrhunderts gemeinsam politisch handelnde Personen, wobei Rihhari der zugeordnete Graf Ratpots war. Bereits 837 dürfte Rihhari eine von Ratpot ausgestellte Urkunde bezeugt haben. Im Beisein Ludwigs des Deutschen vermachte darin der Präfekt seinen gesamten Besitz ad Tullinam, an der Tulln oder in Tulln, für den Fall seines erbenlosen Todes dem Klosterbistum Regensburg. Entweder 844 oder im 42 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 315 mit Anm. 633 zu Conversio c. 13 (wie Anm. 1) S. 78/80. 43 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 317 mit Anm. 636 – 639; Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 251 f. 44 Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 204 f. und 248, fol. 1r.7, 4) Pabo 5) Richeri 45 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 305 mit Anm. 590. In der Salzburger Memorialüberlieferung gibt es einen einzigen Namensvetter Pabos aus dem 8./9. Jahrhundert, und dieser ist ein Mönch: Libri confraternitatum s. Petri Salisburgensis vetustior et recentior, hg. von Sigismund Herzberg-Fränkel (Monumenta Germaniae Historica, Necrologia Germaniae 2, 1890/1904, Nachdruck 2001) S. 3 – 64, hier col. 24,2 S. 11; Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 18) fol. 9 Aa 2,1 und 2: Sigihart Papo. 46 Libri confraternitatum s. Petri Salisburgensis (wie Anm. 45) col. 85,27 f. S. 34; Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 18) fol. 24 Ac 6 f.: Rihheri/Ratpot. Zu Ratpot und Rihhari siehe Mitterauer, Karolingische Markgrafen (wie Anm. 22) S. 91 ff. und 117 ff., sowie Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 310 ff.; Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 248 – 250, und Erwin Kupfer, Krongut, Grafschaft und Herrschaftsbildung in den südöstlichen Marken und Herzogtümern (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 48, 2009) bes. S. 167 f. Über Rihhari im 8. Jahrhundert siehe Mayr, Die frühen Wilhelminer (wie Anm. 30) S. 27 ff.
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Jahr danach wurde eine Königsurkunde ausgestellt, die im Ostland zum ersten Mal nicht bloß zwei Grafschaften, sondern auch deren Grenze nannte. Der Zöbernbach in der niederösterreichischen Buckligen Welt trennte die Grafschaft Ratpots von der Rihharis.47 Möglicherweise kommen im Liber Confraternitatum die pannonischen Großen Wizzemir (Wittimar/Witemir) und Comir (Goimer) vor, die beide die Moosburger Complacitatio von 850 bezeugten. Außerdem weihte Erzbischof Adalwin für Wittimar am 26. Dezember 864 eine Stephanskirche (siehe Conversio c. 13).48 Wizzemir (Wittimar/Witemir) und Comir (Goimer) zählen beide zu einer zwanzig Personen umfassenden Gruppe slawischer und theodisker Namenträger. Unter ihnen befindet sich ebenfalls ein Ratpot,49 wie auch in den Codex Foroiuliensis ein Ratepote samt seiner Frau Emeldrut gemeinsam mit Slawen und Slawinnen eingetragen wurde.50 Wenn der Name Ratpot im Salzburger Verbrüderungsbuch ein zweites und dieses Mal gemeinsam mit Slawen vorkommt, und das gleiche für das Evangeliar von Cividale gilt, könnte es sich zwar um dieselbe Person gehandelt haben, die jedoch nicht mit dem gleichnamigen Ostlandpräfekten identisch gewesen sein muss. Fünf Jahre nach des Obergrafen Ratpot Absetzung ist ein Ratpot mit der Verwaltung des Fiskus Tulln betraut, der schon der wichtigste Stützpunkt seines Vorgängers im Ostland gewesen war.51 Der einzige Überlebende der Katastrophe von 871, der vom Mährerfürsten Zwentibald I., wenn auch „halbtot“, zu Karlmann zurückgeschickt wurde, hat Ratbodo geheißen.52 47 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 310 f. mit Anm. 614 f. zu Die Traditionen des Hochstifts Regensburg (wie Anm. 7) Nr. 29 (837) und zu D. Ludwig der Deutsche 38 (wie Anm. 8) S. 49 f. (844?) und Niederösterreichisches Urkundenbuch 1 (wie Anm. 8) Nr. 7a S. 84 f. Siehe auch Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 250 mit Anm. 209. 48 Conversio cc. 11 und 13 (wie Anm. 1) S. 74/76 und 78/80. Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 323 f. und 331 f. 49 Libri confraternitatum s. Petri Salisburgensis (wie Anm. 45) col. 101,7, 10 und 13 S. 41; Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 18) fol. 27 Cab 7, 10 und 13: Comir… Ratpot…VVizzemir 50 Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 259, fol. 6v.16: Domine miserere 1) famulo tuo Ratepote et 2) famule tue Emeldrut. Zeile 17 – 21 folgen zahlreiche Slawennamen. 51 Kupfer, Krongut (wie Anm. 46) S. 155, sowie Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 117 f. und 310 mit Anm. 614 nach D. Ludwig der Deutsche 96 (wie Anm. 8) S. 138 f. von 859 V 1. 52 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 191 ff. mit Anm. 519, 310 f. und 317 mit Anm. 536. Zu Ratbodo siehe Annales regni Francorum a. 871, hg. von Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum, 1895, Nachdruck 1950) S. 74.
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So steht der Ratpot-Name für eine Politik, die das polyethnische bayerische Ostland des 9. Jahrhunderts auf weite Strecken hin bestimmte. Datierung der Eintragungen: In der Mehrzahl eher vor 854. Zu den zugeordneten Grafen des Karantanengrafen Pabo zählte auch Witigowo. Wahrscheinlich verlor er ebenfalls um 860 seine Grafschaft in Karantanien. Seinen Namen findet man sowohl im Codex Foroiuliensis wie im Liber Confraternitatum. Im Liber Confraternitatum steht Uuitagauuo comis – die Beifügung welt licher Funktionsbezeichnungen kommt sonst im Liber Confraternitatum so gut wie niemals vor – am Ende einer 13er Gruppe, die mit Uuilihelm beginnt, außer dem wilhelminischen Leitnamen aber keine bekannten Namen enthält. Eine deutlich jüngere Hand brachte einen Witigowo im Ordo communium feminarum defunctarum unter. Es lässt sich nicht sagen, ob hier der Graf nach seiner Absetzung nochmals eingetragen wurde oder ob es sich dabei um einen Namensvetter handelte.53 In Cividale steht Graf Witigowo an der Spitze einer 41er Gruppe, die in zwei Kolumnen unterteilt ist. Die erste enthält Männernamen, darunter die der Fürsten Priwina und Trpimir, die zweite fast nur die von Frauen.54 Diese Kolumne wird von einer Irnpurc angeführt; sie dürfte Witigowos Frau gewesen sein. Allerdings gibt es eine andere Eintragung, in der ihr Name als Irmiburg an der Spitze einer 26er Gruppe steht, deren achten Platz ein Vuitigau ohne jede Rangbezeichnung einnimmt. Handelt es sich dabei um den Grafen nach seiner Absetzung? Eher nicht, würde man meinen.55 Eine Eintragung, die eindeutig Witigowos Familie betrifft, enthält die Namen seines Schwiegersohnes Georgius und den seiner Tochter Tona / Tunza.56 Schließlich steht ein Witigowo ohne Grafentitel zwischen einem Heimo und einem Hunfrid, gefolgt von einer Miltrud. Heimo und Miltrud waren ein Ehepaar und Sohn wie Schwiegertochter
53 Libri confraternitatum s. Petri Salisburgensis (wie Anm. 45) col. 88,18 S. 35, und col. 97,27, 2 S. 39; Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 18) fol. 24 Da 12 bis Db 12: Uuilihelm…Uuitagauuo comis, und fol. 26 DEc 8: Witigowo. 54 Zu Trpimir siehe Danijel Dzino, Becoming Slav, Becoming Croat: Identity Transformations in Post-Roman and Early Medieval Dalmatia (East Central and Eastern Europe in the Middle Ages 450 – 1450, Band 12, 2010) S. 189 f. Das Zitat wird Francesco Borri verdankt. 55 Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 218 ff., bes. 219 f. und 220 f. und 255, fol. 5v.26, 1) Uuitgauo com…5) Irnpurc, und S. 262, fol. 9r.7, 1) Irmiburg…..8) Uuitigau…26). 56 Ebd., S. 256, fol. 5v.31, 1) Georgius et 2) Tona.
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des Grafen Witigowo.57 Heimo war ein Vertrauter König Arnulfs, seine Frau Miltrud zählte ebenfalls zu denjenigen Personen, die Arnulfs Aufstieg zum Königtum unterstützten und dafür belohnt werden mussten.58 Ein Heimo comes wird bereits als Zeuge des Libellus Virgilii an hervorragender Stelle genannt.59 Die erste Hand, die nach dem Schreiber des Liber Confraternitatum-Grundstockes Eintragungen vornahm, verzeichnete einen Haimo, der mit dem Grafen jedoch aus zeitlichen Gründen nicht identisch sein kann. Sein Name gehört nämlich derselben Gruppe an, der Kerolt und Cheitamar übergeschrieben wurden; die Schrift der beiden Eintragungen unterscheidet sich kaum.60 Datierung und Zuordnung der Eintragungen: Im Codex Foroiuliensis steht des Grafen Witigowo Name an der Spitze einer Gruppe, die neben Priwina auch den Kroatenfürsten Trpimir (um 845 – 864) und dessen Sohn Petrus verzeichnet.61 Diese Eintragung müsste daher nach um 850 und vor um 860, als Witigowo sein Grafenamt verlor, erfolgt sein. Für die Witigowo-comis-Nennung im Liber Confraternitatum gilt derselbe terminus ante quem. In der im Codex Foroiuliensis mit Heimo beginnenden Gruppe wird ein Witigowo an zweiter Stelle ohne Grafentitel genannt. Wenn dieser Witigowo der ehemalige Graf war, sind diese beiden Gruppen auf nach 860 und um 885 zu datieren, da Witigowo um 885 noch, im Frühjahr 888 nicht mehr lebte.62 War der Witigowo der Heimo-Gruppe jedoch 57 Ebd., S. 256, fol. 5v.33, 1) Heimo 2) Uuitagauuo…4) Mildrud…-38). Zur geschichtlichen Einordnung siehe Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 268; Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 226 mit Anm.154 und 464 s. v. Witigowo, sowie Herwig Wolfram, D. Arnolf 32: Wortbruch II, in: Nulla historia sine fontibus. Festschrift Reinhard Härtel zum 65. Geburtstag, hg. von Anja Thaller / Johannes Gießauf / Günther Bernhard (Graz 2010) S. 530 – 541, hier S. 531 ff. 58 Zu DD. Arnolf 32 und 42 (wie Anm. 25) S. 47 f. und 60 f. siehe Wolfram, D. Arnolf 32 (wie Anm. 57) S. 531 ff. 59 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 220 zu Breves Notitiae 8, 15 (Notitia Arnonis und Breves Notitiae. Die Salzburger Güterverzeichnisse aus der Zeit um 800: Sprachlich-historische Einleitung, Text und Übersetzung, hg. von Fritz Lošek, in: Quellen zur Salzburger Frühgeschichte [wie Anm. 35]) S. 9 – 178, hier S. 100, und Notitia Arnonis 8, 8, in: ebd., S. 84. 60 Libri confraternitatum s. Petri Salisburgensis (wie Anm. 45) col. 36,5 S. 15; Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 18) fol. 11 Ca 6. Zu Kerolt und Cheitamar siehe unten Anm. 91 ff. 61 Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 221 – 223 und 255, fol. 5v.26, 1) Uuitgauo com… 9) Bribina 10) Terpimer 11) Petrus…- 41) und S. 266, fol. 23r.4, 1) Petrus filius 2) domno Tripemero. 62 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 95 zu D. Karl III. 113 (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 2. Die Urkunden Karls III., hg.
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der tote Graf oder ein nach ihm benannter Familienangehöriger, ergäbe sich für diese Witigowo-Eintragung der Spätherbst 888. König Arnulf feierte nämlich in diesem Jahr Weihnachten in der Karnburg, wo er am 26. Dezember für Miltrud eine Schenkungsurkunde ausstellen ließ. Vorher war der König in Friaul, von wo er nur mit kleinem Gefolge nach Norden aufbrach. Heimo und Miltrud könnten sich darunter befunden und bei dieser Gelegenheit das „Kloster“ aufgesucht haben.63 Die Heimo-Eintragungen im Liber Confraternitatum stammen dagegen von der Mitte des 8. und vom Beginn des 9. Jahrhunderts.64 Es könnte sich um Vorfahren Witigowos und seines Sohnes Heimo gehandelt haben. Nur wenig oberhalb der Heimo-Gruppe findet man im Codex Foroiuliensis die Namen von Georgius und Tona. Die beiden sind in Karantanien urkundlich bezeugt, wenn auch erst nach der Jahrhundertwende;65 doch dürfte die Eintragung des Ehepaars eher gleichzeitig mit der Namengruppe zu datieren sein, die Heimo, der Bruder von Tunza/Tona, anführte. Dass Bulgaren und dalmatinische Kroaten in Salzburg fehlen, ist zu erwarten. Aber auch Brazlavo von Siscia/Sisak wurde hier nicht eingetragen, obwohl er am Ende seines Lebens innerhalb der Salzburger Diözese wirkte. Sein 884 erstmals genanntes „Reich zwischen Drau und Save“ lag freilich noch zur Gänze im kirch lichen Jurisdiktionsgebiet Aquileias. Brazlavo war ein mittelbarer Nachfolger Ratimars und Liudewits von Siscia. Er kam 884 zum Tullner Treffen Karls III. mit Zwentibald I. und wurde hier wie dieser Lehensmann des Kaisers. Als dessen Nachfolger Arnulf 892 Mähren erneut angriff, stand ihm Brazlavo mit Rat und Tat zur Seite. Im Jahre 896 beauftragte ihn der Herrscher mit dem Schutz von „Pannonien mit der Moosburg“. Ob gleichzeitig das slawonische Siscia aufgegeben und den Ungarn überlassen wurde, wird nicht berichtet, ist aber zu vermuten. Wahrscheinlich ist Preßburg, Brezalauspurch oder Braslavespurch, Burg und Gründung dieses Brazlavo gewesen. Nach einer, allerdings viel späteren, ungarischen
von Paul Kehr, 1936/37, Nachdruck 1984) S 179 f., und D. Arnolf 32 (wie Anm. 25) S. 47 f. 63 Annales Fuldenses a. 888, hg. von Friedrich Kurze / Heinrich Haefele (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum, 21891, Nachdruck 1993) S. 117; DD. Arnolf 32 (wie Anm. 25) S. 47 f., und 42 S. 60 f.; Monumenta Germaniae Historica, Capitularia regum Francorum 2, hg. von Alfred Boretius / Victor Krause, 1897, Nachdruck 1984, S. 249 ff. (Raffelstettener Zollordnung). 64 Zur Zeitstellung der Zeugenliste des Libellus Virgilii siehe Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 201 f. Zu Kerolt und Cheitamar siehe unten Anm. 90 ff. 65 Die Traditionen des Hochstiftes Freising 1, hg. von Theodor Bitterauf (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte, Neue Folge 4, 1905) Nr. 1036 S. 780 f. (Georgius und Tonza).
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Quelle fand Brazlavo im Jahre 900 anlässlich eines ungarischen Angriffs auf Pannonien den Tod.66 Von dessen regnum inter Dravo et Savo flumine, das im Codex Foroiuliensis als terra bezeichnet wird, waren ein Zelesena, seine Frau Hesla und ihr gemeinsamer Sohn Stregemil sowie ein Begleiter namens Motico gekommen, um sich eintragen zu lassen. Aber auch Brazlavo selbst und seine Gemahlin Uuentenscella dürften ihren Weg dorthin gefunden haben; jedenfalls sind ihre Namen im Codex Foroiuliensis verzeichnet.67 Datierung der Eintragung: Hält die, allerdings wahrscheinliche, Annahme, Brazlavo und seine Leute seien in den Codex Foroiuliensis eingetragen worden, als er noch Fürst von Sisak war, kommt dafür der Zeitraum von vor 884 bis 895/96 in Frage. Die Karolingerzeit des Ostlandes beendete die Epoche Luitpolds (893 – 907), der als erster in ostfränkischen Königsurkunden als marchio tituliert wurde und zumindest in der Theorie als letzter Ostlandpräfekt auch Pannonien nördlich wie südlich der Drau und das Laibacher Becken kommandierte, bis er in der Ungarnschlacht von Preßburg am 4. Juli 907 fiel.68 Seinen und den Namen seiner Frau Kunigunde stellt das Evangeliar an die Spitze einer Gruppe theodiskslawischer Namenträger, worunter sich an dritter Stelle ein Santpulc befindet. Es besteht große Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei um Zwentibald II. handelte. Dieser und sein älterer Bruder Moimir II. waren ihrem Vater Zwentibald I. 894 nachgefolgt. In dem 898 offen ausbrechenden Bruderkrieg ergriffen Luitpold wie sein königlicher Verwandter Arnulf die Partei Zwentibalds II., ja mussten ihn und seine Getreuen sogar aus mährischer Kerkerhaft befreien. Dies geschah 899. Leicht möglich, dass Zwentibald um 900 mit seinem Mentor sowie mit dessen
66 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 91 zu bes. Annales Fuldenses (Cont. Alt.) aa. 884, 892 und 896 (wie Anm. 63) S. 113, 121 f. und 130. Zu Ratimar und Liudewit siehe Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 307 – 309, 311 ff. und 335. 67 Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 235 f. und 249, fol. 2r.6, 1) De terra Brasclauo 2) Zelesena 3) uxor eius Hesla 4) Stregemil filius eorum 5) Motico, sowie S. 257, fol. 6r.17, 1) Brasclauo et 2) uxor eius Uuentenscella. Die in Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 91 nach ungenügenden Vorlagen gebotenen Lesungen sind dementsprechend zu verbessern. 68 Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 270 ff.; Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 189 mit Anm. 505; Karl Brunner, Die fränkischen Fürstentitel im neunten und zehnten Jahrhundert, in: Intitulatio II. Lateinische Herrscher- und Fürstentitel im neunten und zehnten Jahrhundert, hg. von Herwig Wolfram (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband 24, 1973) S. 179 – 340, hier S. 241 mit Anm. 51.
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Getreuen und seinen eigenen Leuten nach Friaul kam.69 Was die Namensform Santpulc betrifft, könnte man fragen: Ist sie nur eine vereinfachende Schreibung oder eine unabsichtliche oder gar absichtliche romanisch-slawische Hybride?70 In letzterem Fall müsste der Eintragende Slawischkenntnisse besessen haben, um Svęti/Sventi- mit Sant(o)- übersetzen zu können. Wie dem auch sei, Salzburg hat auch von Luitpold, Zwentibald II. und Genossen keine Notiz genommen oder auch umgekehrt. Datierung der Eintragung: um 900. Im Codex Foroiuliensis wurden wohl 865 die Namen von Kaiser Ludwig II. und seiner Gemahlin Ingelberga verzeichnet, 884 der Kaiser Karls III . und mög licherweise auch die von Arnulf und Ota vor 888.71 Das Ehepaar führt eine insgesamt 17 Namen umfassende theodisk-slawische Gruppe an, wie dies für Mandatsträger des Ostlandes üblich war.72 Obwohl der Liber ConfraternitatumGrundstock von 784 nicht weniger als vier Ordines der Könige und Herzöge enthält, nämlich je zwei für die lebenden und die toten Herrscher,73 kennt das Salzburger Verbrüderungsbuch keinen Karolinger des 9. Jahrhunderts. Dass dafür der Salzburg-Aufenthalt Karls des Großen im Jahre 803 nicht genützt wurde, könnte man noch damit erklären, dass sein Name ohnehin schon im Liber Confraternitatum von 784 stand.74 Aber auch Ludwig der Fromme fehlt 69 Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 215 ff. und 267, fol. 42r.1, 1) Liutpaldus 2) Quunigund 3) Santpulc. Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 320 f. 70 Vgl. Ludwig, Anmerkungen (wie Anm. 24) S. 818 mit Anm. 53. Bergmann, Die germanischen Namen (wie Anm.25) S. 128 f. Zu einer theodisk-slawischen Hybride im Codex Foroiuliensis siehe Krahwinkler, Friaul (wie Anm. 7) S. 141 f. mit Anm. 135. Zu theodiskromanischen Hybriden siehe Wolfgang Haubrichs, Baiern, Romanen und andere, Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 69 (2006) S. 395 – 465, hier S. 418 f. 71 Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 186 sowie 251, fol. 3v.1, 1) Lodohicus imp. 2) Ingelberga regina, und S. 264, fol. 12r.2, 1) Domno Karolo imperatore 2) Domno Liuttuuardo episcopo. Zu Arnulf und Ota siehe ebd., S. 213 ff. und 263, fol. 10r.5, 1) Alnolfo 2) Ota. 72 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 321, und Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 257 ff. 73 Libri confraternitatum s. Petri Salisburgensis (wie Anm. 45) col. 29 f.,1 ff. S. 12, und col. 62,1 – 27 S. 26; Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 18) fol. 10 Aa und Ba sowie fol. 20 Aa-d. 74 Libri confraternitatum s. Petri Salisburgensis (wie Anm. 45) col. 29,1 S. 12; Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 18) fol. 10 Aa 1: Charlus rex.
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im Liber Confraternitatum, obwohl er sehr wahrscheinlich im Oktober 791 in der Nähe von Salzburg einen Gerichtstag abhielt.75 Das gleiche gilt von Ludwig dem Deutschen, obwohl der ostfränkische König 861 das Martinsfest und 863 Ostern in Salzburg feierte.76 Keine Spuren hinterließ auch König Arnulf im Liber Confraternitatum, als er im April 892 in Salzburg vorbeikam.77 Datierung der Arnulf-Ota-Eintragung im Codex Foroiuliensis: Diese müsste zwischen 882 und 887 erfolgt sein, als Arnulf noch kein König, sondern als filius regalis und dux für Karantanien und Pannonien zuständig war.78
4. Überlegungen zum unterschiedlichen Befund Für den unterschiedlichen Befund kann man keinen quantitativen Grund nennen. Das Evangeliar von Cividale enthält über 1500 Namen, in den Salzburger Liber Confraternitatum sind im vergleichbaren Zeitraum mehr als dreimal so viele Namen eingetragen worden.79 Im Codex Foroiuliensis sind über 300 Namen slawischer Herkunft,80 im Liber Confraternitatum bei weitem nicht so viele. In
75 Siehe Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 204 f. mit Anm. 82 zu Breves Notitiae (wie Anm. 59) 13, 13. 76 Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 184 mit Anm. 279 nach Continuatio altera Annalium Iuvavensium maximorum a. 861 und a. 863 (Annales Iuvavenses maximi und Continuationes, hg. von Harry Bresslau, Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 30,2, 1934, Nachdruck 1976, S. 727 – 744) S. 741. 77 Zu D. Arnolf 98 (wie Anm. 25) S. 143 f., und Johann Friedrich Böhmer, Regesta Imperii 1 (751 – 918), neubearb. von Engelbert Mühlbacher, vollendet von Johann Lechner (21908). Mit Vorwort, Konkordanztabellen und Ergänzungen von Carlrichard Brühl und Hans H. Kaminsky (1966) 1869 siehe Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 186 mit Anm. 288. 78 Brunner, Die fränkischen Fürstentitel (wie Anm. 68) S. 240. Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 432 Anm. 269 zu Die Traditionen des Hochstifts Regensburg (wie Anm. 7) Nr. 102 S. 91: Bezeichnung Arnulfs als dux. 79 Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 18) S. 32 mit Anm. 136: „Die Fortsetzungen der Erstanlage (von 784) umfassen ca. 5100 Namen, die zum größten Teil der arnonischen Zeit angehören (785 – 821).“ Sigismund Herzberg-Fränkel, Über das älteste Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg, Neues Archiv 12 (1887) S. 53 – 107, hier S. 80 – 101. 80 Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 175 ff., und Ludwig, Anmerkungen (wie Anm. 24) S. 810 f. mit Anm. 10; Schmid, Das Zeugnis der Verbrüderungsbücher (wie Anm. 24) S. 191 spricht von „etwa 350 slawischen Namen“.
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Salzburg dürften „nekrologische Quellen“ verloren gegangen sein.81 Auch scheint früh schon das regionale, ja lokale Interesse am Verbrüderungsbuch überwogen zu haben, so dass auf viele Vertreter der interregnalen wie auch der hohen Politik ebenso verzichtet wurde, wie diese auf die Eintragungen ihrer Namen verzichteten. Max Diesenberger überlegt mit Recht, ob nicht der im Jahre 784 angefertigte Grundstock des Liber Confraternitatum dem karolingischen 9. Jahrhundert als zu „agilolfingisch-langobardisch“ galt und daher nicht entsprechend fortgesetzt wurde.82 Das wird seine Richtigkeit haben, wenn man die beiden systemkonformen Eintragungen inmitten regelloser Namenseintragungen von Personen bestenfalls regionaler Bedeutung bedenkt.83 Dagegen besaß der Codex Foroiuliensis offensichtlich deswegen eine besondere überregionale Attraktivität, weil kein besserer Liber vitae denkbar war als eine altehrwürdige Evangelienhandschrift, mag man Teile von ihr auch noch lange nicht als Autograph des Evangelisten Markus und Markus-Reliquie gedeutet haben.84 Dass der Aufbewahrungsort des Codex Foroiuliensis in Friaul auf dem Weg von Mitteleuropa und dem Balkan nach Rom lag, erhöhte sicher die Attraktivität für diejenigen Reisenden, denen ihr ewiges Gedächtnis ein Anliegen war. Dazu kommt: Die Mandatsträger des Bayerischen Ostlandes anerkannten den Patriarchen von Aquileia als das geist liche Oberhaupt ihres Funktionsbereichs südlich der Drau. Schon während des Awarenkriegs hatte Aquileia für die Pannonienmission die Führungsrolle beansprucht. Im Sommer 796 hielt König Pippin von Italien an der Donau gegenüber der Theißmündung eine Bischofssynode ab, die nachweisbar unter dem Vorsitz 81 Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 18) S. 33 mit Anm. 139 nach HerzbergFränkel, Über das älteste Verbrüderungsbuch (wie Anm. 79) S. 98 f. 82 So wurde 784 der Langobardenkönig Desiderius unter die toten und sein Sohn Adalgis, der Bruder Liutpirgs und Schwager Tassilos III ., unter die lebenden Könige jeweils nach den Karolingern eingetragen: Libri confraternitatum s. Petri Salisburgensis (wie Anm. 45) col. 29,1,12 S. 12, und col. 62,1,4 S. 26. Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 18) fol. 10 Ab 12: Adalgisus, und fol. 20 Aa 5: Desiderius. 83 Siehe unten Anm. 90 ff. 84 84 Ludwig, Anmerkungen (wie Anm. 24) S. 811 ff., und Uwe Ludwig, Osservazioni sulle note commemorative nell´Evangeliario di Cividale, in: L´Evangeliario di san Marco (wie Anm. 20) S. 107 – 134, hier S. 125 mit Anm. 128, doch hat Uwe Ludwig, L‘Evangeliario di Cividale e il vangelo di san Marco. Per la storia di una reliquia marciana, in: San Marco: aspetti storici ed agiografici. Atti del Convegno internazionale di studi, Venezia 26 – 29 aprile 1994, hg. von Antonio Niero (1996) S. 179 – 204, hier S. 179 ff., schon vor mehr als 15 Jahren gezeigt, dass die Auffassung, das Markusevangelium des Codex Foroiuliensis sei ein Markus-Autograph und daher eine Markus-Reliquie, frühestens vor 1180 entstanden sein kann.
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des Patriarchen Paulinus II. (785/86 – 792/804) stand, während die Teilnahme des Salzburger Bischofs Arn zwar wahrscheinlich, aber nicht bezeugt ist.85 Allerdings fehlen wichtige Mandatsträger auch im Codex Foroiuliensis, wie etwa Salacho, der erste bekannte bayerische Graf im Laibacher Becken, und Ratimar, der gentile Fürst von Siscia/Sisak. Ob letzterer schon Christ war, kann bloß vermutet werden, Salacho war es sicher; beide wirkten um 838.86 Kann diese Jahreszahl vielleicht auch als ein terminus post quem für die ältesten Codex ForoiuliensisEintragungen gelten? Dies würde zumindest das Fehlen von Salacho erklären.87 In Salzburg war man zwar ebenfalls nicht aus der Welt, aber offenkundig neben den Einheimischen mehr an „exotischen“ Personen interessiert. Sowohl 803 wie 807 kamen Boten aus Jerusalem nach Salzburg. Die Namen des Patriarchen Thomas und seiner Gesandten von 807, Georg und Felix, wurden in das Verbrüderungsbuch von St. Peter ordnungsgemäß unter die lebenden Äbte und ihre Kongregationen eingetragen. Die beiden Mönche hatten im Auftrag ihres Patriarchen einen persischen Gesandten zu Karl dem Großen begleitet.88 Nach Arn gilt, wenn auch nicht immer, der Satz Karl Forstners: „Von einer systema tischen Fortsetzung der Erstanlage kann nirgends die Rede sein. Überall wird der Charakter des Zufälligen offenbar.“ 89 Man findet nämlich auch nach Arn noch systemkonforme Eintragungen, von denen zwei von besonderer Bedeutung sind. 85 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 286 mit Anm. 506 zu Conventus episcoporum ad ripas Danubii, hg. von Albert Werminghoff (Monumenta Germaniae Historica, Concilia 2, 1/1, 1906, Nachdruck 1997) S. 172 – 176, bes. S. 176. 86 Conversio c. 10 (wie Anm. 1) S. 72/74. Zu Salacho siehe Mitterauer, Karolingische Markgrafen (wie Anm. 22) 138 f.; Peter Štih, Priwina: Slawischer Fürst oder fränkischer Graf?, in: Ethnogenese und Überlieferung, hg. von Karl Brunner / Brigitte Merta (Veröffent lichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 31, 1994) S. 209 – 222, hier S. 210 mit Anm. 4; Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 249, und Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 460 s. v. Zu Ratimar siehe Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 311 f. Anm. 616 und 314 mit Anm. 629 f., sowie Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 249. 87 Ludwig, Anmerkungen (wie Anm. 24) S. 820 mit Anm. 68, und Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 193 ff.: der größte Teil der Einträge stammt „aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts“. 88 Annales regni Francorum a. 807 (wie Anm. 52) S. 123. Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 176 mit Anm. 227. Libri confraternitatum s. Petri Salisburgensis (wie Anm. 45) col. 30,33 – 38 S. 12; Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 18) fol. 10 Bd-e, vgl. S. 27 (H 10). 89 Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 18) S. 33. Schmid, Das Zeugnis der Verbrüderungsbücher (wie Anm. 24) S. 190; Herzberg-Fränkel, Über das älteste
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5. Zwei systemkonforme Liber Confraternitatum-Eintragungen (a) Kerolt und Cheitamar Diese Eintragung ist die für unser Thema historisch wichtigste Stelle. An prominenter Stelle, nämlich an der Spitze des ursprünglichen Ordo der lebenden Wohltäter St. Peters, flickte eine Hand des frühen 9. Jahrhunderts zuerst den Namen Kerolt und dann etwas tiefer rechts davon den Namen Cheitamar ein.90 Ein theodisker und ein slawischer Großer traten demnach gemeinsam auf, wobei die Reihenfolge und Stellung der Eintragung möglicherweise auch eine Rangordnung ausdrücken sollte. Die Überlieferung des Raums kennt außer Cheitamar noch Cheitmar, Chotemir und Choitmer. Dazu kommen zwei Gerolde in Frage, der Schwager Karls des Großen und Bayernpräfekt Gerold I., der am 1. September 799 starb, 91 und sein Neffe Gerold II., der nachweisbar von 826 bis 832/33 die 799/800 eingerichtete Präfektur des Bayerischen Ostlandes leitete.92 Welcher von den beiden in den Liber Confraternitatum eingetragen wurde, hängt von der Zuordnung Cheitamars ab. Der erste bekannte Träger des Namens war der um 769 gestorbene Karantanenfürst Cheitmar.93 Ein Chotmer steht für sich allein im Codex Foroiuliensis vier Zeilen vor Cozil/Chozil, Uuozet/Unzat und Margareta.94 In der Zeugenliste der Moosburger Complacitatio von 850 wird an Verbrüderungsbuch (wie Anm. 79) S. 80 f. 90 Libri confraternitatum s. Petri Salisburgensis (wie Anm. 45) col. 36,1 S. 15 (Die Wiedergabe dieser Eintragung in der Edition lässt nicht auf das Original schließen.); Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 18) fol. 11 Ca 2 und 3: Kerolt…Cheitamar. 91 Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 156 mit Anm. 95 und 218 f. mit Anm. 50; Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 181 f. und 185 ff.; Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 219 (Gerold I.). 92 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 56 f. mit Anm. 280 und 300 f. mit Anm. 570; Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 247 f. (Gerold II.) 93 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 283. 94 Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 250, fol. 2v. 1, 1) Chotmer und fol. 2v.5, 1) Cozil 2) Uuozet 3) Margareta. – Zum Frauennamen siehe das Margareten-Patrozinium von Spizzun (Conversio c. 13 [wie Anm. 1] S. 78/80), wozu zwei Korrekturen anzubringen sind: (1) Entgegen der Annahme von Schmid, Das Zeugnis der Verbrüderungsbücher (wie Anm. 24) S. 193 n. 4 und 196, war Spizzun keine Eigenkirche Chozils. (2) Die Eintragung der drei Personen erfolgte in den Codex Foroiuliensis und nicht – so Conversio Bagoariorum et Carantanorum, hg. und übersetzt von Fritz Lošek (Monumenta
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hervorragender dritter Stelle nach Chozil und Unzat ein Chotemir genannt.95 Der um 769 gestorbene Karantanenfürst ist auszuscheiden; er kann unmöglich in den Ordo der lebenden Wohltäter St. Peters eingetragen worden sein, und zwar weder in den Grundstock von 784 noch in einen Nachtrag.96 Für die Zuordnung des Chotmer im Codex Foroiuliensis rät Uwe Ludwig zur Vorsicht.97 Aber auch wenn man ihn mit der nachfolgenden C(h)ozil-Gruppe verbindet, gehört er wahrscheinlich in die Zeit nach 860 bis 875, da im Ostland schon lange kein Obergraf namens Gerold mehr wirkte.98 Dagegen könnten der Ostlandpräfekt Gerold II. und der Moosburger Chotemir von 850 gemeinsam aufgetreten sein. Geht man das Wagnis ein und setzt den Liber Confraternitatum-Cheitamar mit dem Chotemir der Conversio gleich, folgen daraus wichtige Schlüsse: Der Chotemir von 850 kann sich Priwina erst nach dessen Einsetzung in Unterpannonien um 840 angeschlossen haben. Zum andern wurde die Lösung der pannonischen Frage, die Ratbod und Priwina gelang, anscheinend bereits von Gerold II. und Chotemir/Cheitamar versucht.99 Datierung der Eintragung: vor 833.
(b) Zuuentibulch und Zuuentizizna Von sehr großer historischer Bedeutung ist auch die Eintragung des mährischen Fürstenpaars Zuuentibulch und Zuuentizizna sowohl in den Liber Confraternitatum wie in den Codex Foroiuliensis. Dazu eine kleine Vorgeschichte. Wie der Rastislav einzuordnen ist, der in einem mit Adelanus beginnenden, fast nur
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Germaniae Historica, Studien und Texte 15, 1997) S. 1 – 135, hier S. 133 Anm. 173 – in das Reichenauer Verbrüderungsbuch. Zu Conversio c. 11 (wie Anm. 1) S. 74/76 siehe Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 323 f., und Conversio (wie Anm. 1) Kommentar S. 189 mit Anm. 35. Wird von Schmid, Das Zeugnis der Verbrüderungsbücher (wie Anm. 24) S. 197, nicht bedacht. Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 228, steht der Gleichsetzung der beiden Namensträger von S. 250, fol. 2v. 1 und Conversio c. 11 distanziert gegenüber. Siehe jedoch die Nähe der Eintragung zur Cozil-Gruppe (Ludwig, Transalpine Beziehungen [wie Anm. 20] S. 250, fol. 2v.5). Siehe oben Anm. 38 f.: Datierung der Eintragung der Cozil-Gruppe im Codex Foroiuliensis. Siehe Conversio (wie Anm. 1) Kommentar S. 189 zu Conversio c. 11 S. 74/76.
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aus slawischen Namen bestehenden Eintrag des Codex Foroiuliensis vorkommt, muss offen bleiben. Der Mährerfürst, der 862/63 in Konstantinopel um einen Bischof und Lehrer bat, hat Rastislav (846 – 870) geheißen und war der Onkel Zwentibalds I., der ihn stürzte und sein Nachfolger wurde. Und Adalwin hieß der Salzburger Erzbischof (859 – 873), der Methodios Widerstand leistete. Es scheint jedoch wenig wahrscheinlich, dass er wirklich der im Codex F oroiuliensis titellose Adelanus war.100 Sicheren Grund betritt man dagegen mit Rastislavs Nachfolger. Eine sonst nicht nachweisbare Hand des letzten Drittels des 9. Jahrhunderts trug in den Liber Confraternitatum nebeneinander die Namen Zuuentibulch und Zuuentizizna ein. In derselben Anordnung findet sich das Namenpaar im Codex Foroiuliensis als Szuentiepulc und Szuentezizna, gefolgt von einem Predeslau. Die drei Namen stehen im Codex Foroiuliensis in der Zeile nach einem (U)uiching p(res)b(ite)r. Im Liber Confraternitatum folgt dagegen in der Zeile nach Zuuentibulch und Zuuentizizna an dritter Stelle ein Name, den Karl Forstner als Uuhigh(er)i pr(esbiter) las, den aber Karl Schmid mit aller gebotenen Vorsicht als Uuihi(n?)gh pr(esbiter) deutete und damit ebenfalls Wiching zuschrieb.101 Zum dritten enthält das Reichenauer Verbrüderungsbuch untereinander die Namen Uuichinc und Szuentebulc.102 Ohne den Frauennamen lesen zu können, deutete Theodor von Karajan, der erste Editor des Salzburger Verbrüderungsbuches, bereits 1852 Zuuentibulch als den Mährerfürsten Zwentibald I. (871 – 894). Ihm wurde von Sigismund 100 Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 184, 259 ff. und 315 ff.; Schmid, Das Zeugnis der Verbrüderungsbücher (wie Anm. 24) S. 197 mit Anm. 49, und Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 258, fol. 6v.5, 1) Adelanus…4) Rastisclao…13) Gomer – 19). 101 Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 18) S. 32 (Liste der gegenüber HerzbergFränkel verbesserten oder ergänzten Lesungen) und fol. 10 Ba 5, 52 und 63: 1) Zuuentibulch 2) Zuuentizizna….Uuhigheri pr. (Lesung Forstner, Das Verbrüderungsbuch von St. Peter, S. 32); vgl. Libri confraternitatum s. Petri Salisburgensis (wie Anm. 45) col. 30,5 f. S. 12. In der Aufstellung der Schreiberhände bei Forstner, Das Verbrüderungsbuch von St. Peter, S. 23 ff., fehlt die Hand, die jene Eintragung machte. Siehe bes. Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 231 bes. mit Anm. 288 und 253, fol. 4v.7, 1) (U)uiching pbr., und 8, 1) Szuentiepulc 2) Szuentezizna. Siehe auch Ludwig, Anmerkungen (wie Anm. 24) S. 825, und Schmid, Das Zeugnis der Verbrüderungsbücher (wie Anm. 24) S. 195 Abb. 10 und 198 f. 102 Schmid, Das Zeugnis der Verbrüderungsbücher (wie Anm. 24) S. 195 und 198 f. Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, hg. von Johanne Autenrieth / Dieter Geuenich / Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica, Libri memoriales et Necrologia, Nova Series 1, 1979) pag. 63 B4: Uuichinc, darunter Szue(n hochgestellt)tebulc; vgl. ebd. pag. 104 X4: Zuentibolch.
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Herzberg-Fränkel, dem zweiten Editor des Liber Confraternitatum, widersprochen, weil die nach dem Grundstock von 784 eingetragenen Namen „ordnungslos durcheinander wirbeln“ und daher keine korrekte Zuweisung erlaubten.103 Allgemein hat dieses Urteil seine Richtigkeit. So ist ein Witigowo in den ursprünglichen Ordo communium feminarum defunctarum eingetragen worden.104 Aber die Namen von Zuuentibulch und Zuuentizizna stehen im Ordo ducum vivorum cum coniugibus et liberis, was eine absichtliche und daher systemkonforme Eintragung darstellt. Der Name des Mährerfürsten ist nämlich der Kolumne hinzugefügt, die Herzog Tassilo III . eröffnet, und der Name der mährischen Fürstin findet sich in derselben Kolumne, die mit der herzoglichen Gemahlin und langobardischen Königstochter Liutpirga beginnt. Diese Ordnung entspricht genau der Gleichsetzung der königgleichen Herzöge mit den gentilen Fürsten; beide galten als duces gentium, wie dies ein Paulus Diaconus ausdrücklich bezeugt.105 Die Identifizierung der Eingetragenen und die Datierung der Eintragungen im Liber Confraternitatum und im Codex Foroiuliensis auf spätestens 880 sichert die gemeinsame Nennung von Zuuentibulch und Zuuentizizna mit dem Presbyter Wiching. Dieser alemannische Geistliche stand in den Diensten Zwentibalds, wie Papstbriefe und historiographische Quellen 880 und die folgenden Jahre bezeugen. Der venezianische Priester Johannes, ein früherer Vertrauter und geistlicher Berater des Mährerfürsten,106 war 879 im Auftrag Zwentibalds in Rom gewesen und hatte Method der Häresie bezichtigt. Darauf forderte der Papst den mährischen Erzbischof auf, nach Rom zu kommen.107 Method ging 880 zusammen mit Gesandten Zwentibalds in die Ewige Stadt und wurde glänzend
103 Herzberg-Fränkel, Über das älteste Verbrüderungsbuch (wie Anm. 79) S. 80 f., zu Libri confraternitatum s. Petri Salisburgensis (wie Anm. 45) col. 36,5. Zu Zwentibald I. siehe Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 317 f. 104 Siehe oben Anm. 47. 105 Pohl, Die Awaren (wie Anm. 2) bes. S. 269, und Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 166 f. zu Paulus Diaconus, Historia Langobardorum V 29, hg. von Ludwig Bethmann / Georg Waitz (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Langobardicarum, 1878, Nachdruck 1988) S.12 – 187, hier S. 154. 106 Iohannes VIII., Epistolae (Iohannes VIII., Registrum, hg. von Erich Caspar, Monumenta Germaniae Historica, Epistolae 7, 1928, Nachdruck 1978) S. 1 – 272, S. 450 s. v. Iohannes presbyter Venetus. Vgl. Annales Fuldenses a. 874 (wie Anm. 63) S. 83: Johannes ist der mährische Verhandlungsleiter beim Abschluss des Friedens von Forchheim. 107 Iohannes VIII., Epistolae (wie Anm. 106) Nr. 200 S. 160.
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rehabilitiert.108 Unter den mährischen Gesandten, die ihn 880 nach Rom begleiteten, befand sich auch der Priester Wiching. Spätestens auf der Hinreise könnte es geschehen sein, dass seiner und die Namen des mährische Fürstenpaars in den Codex Foroiuliensis, wenn auch nicht von derselben Hand eingetragen wurden.109 Auf der Rückreise war Wiching nämlich bereits der vom Papst geweihte Bischof von Neutra/Nitra.110 Noch 891 dürfte er als Gesandter Zwentibalds mit Arnulfs Leuten wegen der Erneuerung des Friedens nach den Kämpfen von 890 verhandelt haben. Als König Arnulf 892 den Krieg gegen Zwentibald erneuerte, verließ Wiching gegen das Kirchenrecht seine Bischofsstadt, floh zum Frankenkönig und trat 893 als Kanzler in dessen Dienste. Im Jahre 899 versuchte Arnulf, seinen Protegé als Bischof von Passau zu installieren. Dagegen protestierten die bayerischen Bischöfe mit Erzbischof Theotmar an der Spitze und setzten Wiching 899/900 „gegen den Willen des Herrschers“ ab. Nach seiner letzten Nennung in der Epistola Theotmari c. 5 von 900 verschwindet der Alemanne aus den Quellen.111 Wiching war Zwentibalds Vertrauter und unterhielt zugleich gute Beziehungen zu Arnulf. Das konnte solange gut gehen, als die beiden miteinander verbündet waren. Mag auch ihr Verhältnis bereits vor 890/92 nicht immer ungetrübt gewesen sein,112 persönlich trafen sie einander anlässlich der Taufe des Arnulf-Sohnes
108 Iohannes VIII., Epistolae (wie Anm. 106) Nr. 201 S. 161 mit Anm. 2. 109 Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 232 ff. 110 Zu Iohannes VIII., Epistolae (wie Anm. 106) Nr. 255 S. 222 – 224, siehe Michael Richter, Die politische Orientierung Mährens zur Zeit von Konstantin und Methodius, in: Die Bayern und ihre Nachbarn (wie Anm. 40) S. 281 – 292, hier S. 288 f., und Johannes Fried, Formen päpstlichen Schutzes für Laienfürsten (9. bis 13. Jahrhundert), in: Proceedings oft he Fifth International Congress of Medieval Canon Law, Salamanca, 21 – 25 september 1976, hg. von Stephan Kuttner / Kenneth Pennington (Monumenta Iuris Canonici. Series C: Subsidia 6, 1980) S. 345 – 359, bes. S. 346 f. 111 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 95. Annales Fuldenses (Cont. Alt.) aa. 890, 892 und 899 (wie Anm. 63) S. 118 f., 121 und 133. Josef Fleckenstein, Die Hofkapelle der deutschen Könige 1 (Monumenta Germaniae Historica, Schriften 16,1, 1959) S. 204; Die Regesten der Bischöfe von Passau 1 (731 – 1206), bearb. von Egon Boshof (Regesten zur bayerischen Geschichte 1, 1992) Nr. 170 f.; Erwin Herrmann, Slawisch-germanische Beziehungen im südostdeutschen Raum von der Spätantike bis zum Ungarnsturm. Ein Quellenbuch mit Erläuterungen (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 17, 1965) S. 209 ff.; Franz-Reiner Erkens, Die Fälschungen Pilgrims von Passau. Historisch-kritische Untersuchungen und Edition nach dem Codex Gottwicensis 53a (rot), 56 (schwarz) (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte, Neue Folge 46, 2011) S. 50. 112 Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 257 ff. und 269 f. Regino von Prüm, Chronica a. 890, hg. von Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores
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Zwentibold, die sehr wahrscheinlich im Jahre 870 stattfand. Damals befand sich Zwentibald im Herrschaftsbereich Karlmanns, des Vaters von Arnulf, gleichsam im Exil. Bei dieser Gelegenheit dürfte es gewesen sein, dass der Mährer den ältesten Karlmann-Enkel und Arnulf-Sohn aus der Taufe hob und ihm seinen Namen Zwentibold gab. Dies war die erste bekannte Patennachbenennung in der Westkirche.113 Die Taufe stiftete zwischen Arnulf und Zwentibald das Band der compaternitas, der Gevatterschaft. Regino von Prüm begründete die Abtretung Böhmens 890 an Zwentibald mit der familiaritas, die Arnulf mit dem Mährerfürsten verbunden hatte, „bevor er auf den Thron des Reichs erhoben wurde“.114 Die Bereitschaft Zwentibalds, als Taufpate eines kleinen Karolingers zur Verfügung zu stehen, fällt – so geht die Annahme – in das ereignisreiche Jahr 870. Der König und nun Urgroßvater Ludwig der Deutsche war nach Pfingsten (14. Mai) auf der Reise von Worms zu einem Treffen mit dem Westfrankenkönig Karl dem Kahlen beim Einsturz einer Pfalz fast zu Tode gekommen und musste sich danach zwei Monate lang in Aachen auskurieren. Der Fürst des m ährischen Fürstentums von Neutra/Nitra, Zwentibald I., trug dem soeben Großvater gewordenen Karlmann, dem ältesten Königssohn und Herrn des Ostlandes, sein Neutraer Regnum zu Lehen auf, stürzte schließlich seinen Onkel, den obersten Mährerfürsten Rastislav, und lieferte ihn seinem Lehenherrn aus. Die innermährischen Wirren nützend, eroberte Karlmann das mährische Kernland und meinte, nun auch dieses gentile Fürstentum in Grafschaften umwandeln zu können. Während dieser Ereignisse befand sich Zwentibald mit seiner Frau Zuuentizizna offenkundig nicht im Lande, sondern – so lassen sich die Nachrichten zu 870 und 871 am ehesten deuten – im Herrschaftsbereich Karlmanns, das heißt im Bayerischen
rerum Germanicarum in usum scholarum, 1890, Nachdruck 1989) S. 134. 113 Michael Mitterauer, Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte (1993) S. 311 ff. 114 Zur Verbindung Arnulfs mit Zwentibald I. siehe bes. Regino von Prüm, Chronica a. 890 (wie Anm. 112) S. 134. Böhmer, Regesta Imperii 1 (wie Anm. 77) 1485 b. Vgl. Gerd Althoff, Zur Bedeutung der Bündnisse Svatopluks von Mähren mit Franken, in: Symposium Methodianum. Beiträge der Internationalen Tagung in Regensburg (17.-24. April 1985) zum Gedenken an den 1100. Todestag des hl. Method, hg. von Klaus Trost (Selecta Slavica 13, 1988) S. 13 – 21, hier S. 14 ff.; Arnold Angenendt, Kaiserherrschaft und Königstaufe (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 15, 1984) S. 121 ff. (pactum compaternitatis) und 238 ff., bes. 243, datiert die Taufe auf 874, auf das Jahr des Friedens von Forchheim. Nach Annales Fuldenses a. 874 (wie Anm. 63) S. 82 f., waren aber in Forchheim nur die Gesandten Zwentibalds unter Führung des venezianischen Priesters Johannes anwesend, nicht aber der Mährerfürst selbst.
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Ostland samt Bayern östlich des Inns. Möglicherweise als Beweis seiner Treue dürfte sich Zwentibald als Taufpate für den Sohn Arnulfs, des Sohnes Karlmanns, freiwillig oder unfreiwillig bereit gefunden haben. Die Bedeutung dieses Zeichens soll weder überbewertet noch herabgesetzt werden. Im Jahre 870 war der etwa zwanzigjährige Arnulf weit von jeder Aussicht auf Gewinnung politischer Macht entfernt. Zwentibald war auf die Hilfe und die Gunst seines Lehenherrn Karlmann angewiesen. Weder Arnulf noch sein Sohn Zwentibold entstammten gültigen Muntehen. Arnulf war zwar der einzige Sohn seines Vaters, jedoch nicht der einzige Enkel Ludwigs des Deutschen. Zwentibold war dagegen zum Zeitpunkt seiner Geburt der einzige ostfränkische Karolinger seiner Generation. 115 Seine Taufe bedeutete daher einen Wechsel auf die Zukunft, die 870 allerdings niemand erahnen konnte. Wo der kleine Zwentibold getauft wurde, ist nicht überliefert. Karlmann beherrschte seit 865 das Ostland und Bayern östlich des Inns wie ein König, eine Stellung, die er Ludwig den Deutschen und seinen Brüdern nach schweren Auseinandersetzungen vertraglich abgerungen hatte. Daher waren die Beziehungen zwischen dem Vater und seinem ältesten Sohn auch nach 865 nicht die besten, weshalb Karlmann die Königsstadt Regensburg für die Taufe seines Enkels wohl verschlossen blieb.116 Deshalb könnte diese in Karlmanns Lieblingspfalz und späterer Begräbnisstätte (Alt)Ötting stattgefunden haben. In dieser Pfalz kam jedenfalls Zwentibolds um 23 Jahre jüngerer Halbbruder Ludwig (IV. das Kind) 893 zur Welt und wurde hier wahrscheinlich auch getauft.117 Von Altötting war es nicht weit nach Salzburg. Zwentibalds möglicher Abstecher nach Salzburg würde beweisen, dass er den aktuell für Mähren zuständigen Oberhirten respektierte. Er könnte aber auch seinen Priester Wiching mit der Eintragung beauftragt haben, falls dessen Name richtig gelesen wird. Im Jahre 1912 versuchte Václav Novotný, Szuentezizna mit derjenigen böhmischen Dame zu identifizieren, die ein vornehmer Mährer, begleitet von einer großen Gefolgschaft, im Herbst 871 im südböhmich-bayerischen Grenzgebiet heiratete. Dabei geriet die Hochzeitsgesellschaft, so berichten die Annales Fuldenses, 115 Annales Fuldenses aa. 870 f. (wie Anm. 63) S. 70 ff.; Regino von Prüm, Chronica a. 870 (wie Anm. 112) S. 100 f. Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 254 ff. Vgl. Conversio (wie Anm. 1) 295 mit Anm. 115. 116 Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 162 f. und 254. Zur Bezeichnung Regensburgs als civitas regia siehe DD. Ludwig der Deutsche 97 f. (wie Anm. 8) S. 139 ff. 117 Böhmer, Regesta Imperii 1 (wie Anm. 77) 1538 a. Rudolf Schieffer, Die Karolinger (42006) S. 177 f. Zu Annales Fuldenses (Cont. Alt.) a. 893 (wie Anm. 63) S. 122 siehe Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 168 f.
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in einen von den Böhmen gegen die Bayern errichteten Hinterhalt, worin sie sich selbst fing und sich vor bayerischen Kriegern nur mit größter Mühe und unter Zurücklassung ihrer wertvollen Ausrüstung retten konnte.118 Die Identifizierung des mährischen Fürstenpaars mit den Personen der Handlung hat freilich sehr geringe Wahrscheinlichkeit. Wieso sollten die Annales Fuldenses, die über den Fürsten Zwentibald zu dieser Zeit sehr ausführlich berichten, ihn nicht auch als Hochzeiter namentlich erwähnen? Außerdem hätten sie den mährischen Feind als traurigen Helden einer empfindlichen Niederlage schildern können. Wenn aber die vorgeschlagene Datierung der Salzburger Eintragung auf 870 hält, ist der spekulativen Identifikation ohnehin jede Grundlage entzogen, weil Zuuentizizna 871 zumindest bereits ein Jahr lang die Frau Zwentibalds war. Ebenso wenig wahrscheinlich ist, dass der im Codex Foroiuliensis nach Szuentezizna genannte Predezlau ein Sohn des Fürstenpaars war, weil – abgesehen von chronologischen Schwierigkeiten – im Codex Foroiuliensis Verwandtschaftsbezeichnungen zwar nicht immer, aber zumeist angegeben werden und von Zwentibald I. nur die beiden Söhne Moimir II. und Zwentibald II. bekannt sind.119 Datierung der Eintragungen: im Liber Confraternitatum 870, im Codex Foroiuliensis vor 880. Die Reichenau-Nennung ist schwerer zu datieren. Hängt sie mit der dort vorgenommenen Methodius-Eintragung zusammen? In diesem Fall wäre ebenfalls die Zeit um oder knapp nach 870 vorzuschlagen.120
6. Persönliche Anwesenheit bei der Nameneintragung? Nicht bloß für den Mährerfürsten und die Mährerfürstin stellt sich die Frage, ob ihre Namen in ihrer Anwesenheit eingetragen wurden, ob sie tatsächlich persönlich nach Salzburg oder nach Friaul gekommen sind. Karl Schmid beobachtete, dass Slaweneintragungen oft von ungeübten Händen stammen, und scheint daraus 118 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 90 zu Annales Fuldenses a. 871 (wie Anm. 63) S. 75. Vgl. Václav Novotný, České dějiny 1,1 (1912) S. 352 – 354, und zuletzt Luboš Polanský unter Mitarbeit von David Kalhous / Petr Kopal / Irena Moravcová, Přemyslovská dynastie: Soupis členů původního českého panovnického rodu (Die Dynastie der Přemysliden: Verzeichnis der Mitglieder des ersten tschechischen Herrschergeschlechts), in: Přemyslovci Budování českého státu (Die Přemysliden. Der Aufbau des tschechischen Staates), hg. von Petr Sommer / Dušan Třeštík / Josef Žemlička (2009) S. 541 – 575, hier S. 548. Die Literaturangaben werden Pavlina Rychterová, Wien, verdankt. 119 Siehe ganz besonders die bulgarischen Eintragungen unten Anm. 124. 120 Vgl. Schmid, Das Zeugnis der Verbrüderungsbücher (wie Anm. 24) S. 201 ff.
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auf Eigenhändigkeit mancher Eintragungen in die Bücher des Lebens zu schließen. In diesem Fall setzten diese die persönliche Anwesenheit des Einzutragenden voraus.121 Naturgemäß war das Gegenteil für die Eintragungen in die ordines defunctorum/arum der Fall. So waren Gisela und ihr Sohn H einrich III. persönlich in St. Gallen anwesend, als sie sich hier im Sommer 1027 in das Buch des Lebens einschreiben ließen. Dagegen wurde der Name des toten Kaisers Konrad II. in zahlreiche libri vitae nachgetragen.122 Eintragungen wurden selbstverständlich auch für Lebende, wahrscheinlich sogar in der Mehrzahl, in deren Abwesenheit vorgenommen. Wenn es im Codex Foroiuliensis heißt De Bolgaria qui primus venit in isto monasterio nomen eius Sondoke, ist anzunehmen, dass dieser bei seiner Eintragung anwesend war. Dagegen ist es sehr unwahrscheinlich, dass ihn auch die zahlreichen Angehörigen seiner Familie, die ebenfalls eingetragen wurden, alle nach Friaul begleiteten, als er als Gesandter des Bulgarenkhans MichaelBoris 866 nach Rom unterwegs war.123 Verzeichnet sind Sondokes Eltern, seine beiden Frauen, seine beiden Söhne und fünf Töchter und möglicherweise weitere Verwandte. Als sicher kann gelten, dass Sondoke die Namen seines Herrn und dessen umfangreicher Familie in deren Abwesenheit eintragen ließ.124 Die Frage muss daher je nach Einzelfall geprüft und zu beantworten versucht werden. Ebenso wenig ist die Frage eindeutig zu beantworten, wie Mehrfacheintragungen zu erklären sind.
121 Schmid, Das Zeugnis der Verbrüderungsbücher (wie Anm. 24) S. 198. 122 Herwig Wolfram, Konrad II. Kaiser dreier Reiche. 990 – 1039 (2000) S. 185. 123 Zu Boris siehe Daniel Ziemann, Vom Wandervolk zur Großmacht: Die Entstehung Bulgariens im frühen Mittelalter (7.-9. Jh.) (Kölner Historische Abhandlungen 43, 2007) S. 399. Das Zitat wird Francesco Borri verdankt. 124 Schmid, Das Zeugnis der Verbrüderungsbücher (wie Anm. 24) S. 192. Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 178, 243 und 251, fol. 3v.4: Hic sunt nomina de Bolgaria 1) inprimis rex illorum Mihahel et 2) frater eius Dox et 3) alius frater eius Gabriel et 4) uxor eius Maria et 5) filius eius Rasate et 6) alius Gabriel et 7) tercius filius Simeon et 8) quartus filius Iacob et 9) filia eius Dei ancella Praxi et 10) alia filia eius Anna, und S. 252, fol. 4r.10: De Bolgaria qui primus venit in isto monasterio nomen eius 1) Sondoke et 2) pater eius Iohannes et 3) mater eius Maria et 4) uxor eius Anna et 5) filius eius Mihael et 6) alius filius eius Uuelecneo et 7) filia eius Bogomilla et 8) alia Kalia et 9) tercia Mar… et 10) quarta Helena et 11) quinta Maria et 12) alia uxor eius Sogesclaua et 13) alius homo bonus Petrus… x… et 14) Georius 15) Petrus et 16) uxor eius Sofia.
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7. Schlusswort Die vorliegende Skizze hat das von Karl Forstner, Karl Schmid und Uwe Ludwig aufbereitete und ergänzte Material selbst für den eingeschränkten Themenbereich bei weitem nicht erschöpfend ausgewertet. Auch sind die vorgeschlagenen Identifizierungen wie Datierungen nicht immer über das Versuchsstadium hinausgekommen. Allerdings wäre es übertriebene Skepsis und daher falsch, die sowohl in den Liber Confraternitatum wie in den Codex Foroiuliensis gemeinsam eingetragenen Zuuentibulch, Zuuentizizna und Wiching nicht mit dem Mährerfürsten Zwentibald I., seiner Fürstin und dem späteren Bischof von Neutra/Nitra zu identifizieren. Jedenfalls wollte der Beitrag bloß eine kleine Auswahl an Fragestellungen bieten. Er soll als Anregung verstanden werden, sich von neuem – ein halbes Jahrhundert nach Michael Mitterauers Wiener Dissertation – mit den Namenträgern des Bayerischen Ostlandes zu befassen und deren bisher bekannte Geschichte durch neue Einsichten zu erweitern. Nicht gestellt wurden folgende Fragen, vielleicht auch weil sie kaum zu beantworten sind: Der Grundstock des Liber Confraternitatum unterscheidet tote und lebende, männliche und weibliche Eingetragene. Diese Trennung ist nach 784 – wie etwa bei Witigowo nachweisbar – nicht mehr strikt beobachtet worden.125 Der Codex Foroiuliensis hat weder eigene Ordines für Frauen und Männer noch unterscheidet er lebende und tote Personen erkennbar voneinander. Den seltenen Eintragungen von Verstorbenen wird das Wort (h)obiit hinzugefügt.126 Gibt es dennoch Kriterien für allgemeine Aussagen? Wie wurden Funktionsbezeichnungen behandelt? Nach welchen Kriterien wurde etwa ein Graf einmal als solcher bezeichnet, das andere Mal aber nicht, ohne dass seine Absetzung nachzuweisen wäre? Steht die Spitzenstellung in einem Namenblock stets für den Vorrang der eingetragenen Person?127 Graf Witigowo wurde nicht bloß gemeinsam mit Priwina, sondern auch mit dem Kroatenfürsten Trpimir eingetragen, beiden aber deutlich vorgereiht. Waren gentilen Fürsten auch einem comes socius, wie Witigowo, nachgeordnet?128 Weder im Liber Confraternitatum noch im Codex Foroiuliensis kommen ethnische Bezeichnungen vor. Dies stimmt mit dem allgemeinen Quellenbefund überein, wonach Romanus oder Sclavus oftmals, wenn auch nicht immer, nur für anonyme Unterschichten oder wie in der Ordinatio 125 Siehe oben Anm. 53. 126 Uwe Ludwig macht brieflich auf Ludwig, Transalpine Beziehungen (wie Anm. 20) S. 257, fol. 6r. 10, und 259, 6v. 15, aufmerksam, wo Verstorbene eingetragen sind. 127 Vgl. oben Anm. 53. 128 Siehe oben Anm. 54.
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imperii von 817 zur allgemeinen Unterscheidung verwendet wird.129 Offenkundig sahen sowohl die bayerischen wie die fränkisch-langobardischen Eliten die slawische Oberschicht als ihresgleichen an, sobald sie Christen geworden waren. Den Slawen von Eberstalzell wurde 777 frei gestellt, als Freie abzuziehen, wenn sie sich nicht der Kremsmünsterer Grundherrschaft unterstellten wollten.130 In Puchenau bei Linz wurde 827 die Grenze zwischen dem Siedlungsgebiet einer slawischen Gruppe und der Freisinger Grundherrschaft schiedsgerichtlich festgelegt. Die im Inquisitionsverfahren befragten Bayern und Slawen galten in gleicher Weise als nobiles.131 Auch Ludwig der Fromme unterstützte 828 die Politik der Öffnung und garantierte freien Slawen im niederösterreichischen Zentralraum ihr Eigentum.132 Dagegen verlieh Otto I. an der Elbe Land an einen miles strenuus et vir nobilis, weil er so tapfer gegen Slawen gekämpft hatte,133 vermittelte dieses Gebiet den westeuropäischen Sprachen die Gleichung „Slawe=Sklave“,134 bezeichnete ein sächsischer Markgraf einen christlichen slawischen Fürstensohn, der dem Reich mit 1000 Reitern in Italien gedient hatte, als einen Hund, dem das Conubium mit der Herzogsfamilie verwehrt sei.135 Thietmar von Merseburg beschimpfte zwar die heidnischen Slawen wegen ihrer Habgier ebenfalls als Hunde. Aber er machte für den Ausbruch der heftigen und lang andauernden Reaktion von 983, die unter dem nicht ganz sachgerechten Namen „Liutizen-Aufstand“ geht,136 die Überheblichkeit und Hartherzigkeit des Markgrafen der Nordmark, Dietrich I., 129 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 47 ff.; Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 296 (Romanen) und 320 (Slawen). 130 Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 378. 131 Die Traditionen des Hochstiftes Freising 1 (wie Anm. 65) Nr. 548 S. 469 f. (827 VIII 21). 132 Böhmer, Regesta Imperii 1 (wie Anm. 77) 850, und Niederösterreichisches Urkundenbuch 1 (wie Anm. 8) Nr. 1a S. 6 ff. (D. Ludwig der Fromme und Lothar I. von 828 III 28). Siehe auch Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 310 ff., und Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 56 f. 133 D. Otto I. 133 (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum et imperatorum Germaniae 1. Die Urkunden Konrad I. Heinrich I. Otto I., hg. von Theodor Sickel, 1879/84, Nachdruck 1997) S. 213 f. 134 Zum Entstehungsgebiet der Bedeutung „Slawe = Sklave“ siehe Charles Verlinden, L‘origine de Sclavus = esclave, Archivum Latinitatis Medii Aevi 17 (1937) S. 97 – 128, hier S. 121 ff. 135 Zu Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae II 42 (40) Schol. 27 (30), hg. von Bernhard Schmeidler (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum, 31917, Nachdruck 1993) S. 101, siehe Wolfram, Konrad II. (wie Anm. 122) S. 240 mit Anm. 73 136 Christian Lübke, Regesten zur Geschichte der Slaven an Elbe und Oder 3: Regesten 983 – 1013 (Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen I: Gießener Abhandlungen zur
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verantwortlich.137 Adam von Bremen ist ihm nicht nur in dieser Schuldzuweisung gefolgt, sondern bezeichnete ganz allgemein die unbillige Bedrückungen der Slawen durch Christiani iudices als Ursache des Widerstands.138 Slawische und slawisch sprechende westliche Missionare hatten bei den Elbslawen noch nach der ersten Jahrtausendwende wenig Erfolg. Die neue Lehre galt als „deutsches“ Evangelium, und so mancher biedere Slawe zweifelte noch im 12. Jahrhundert, ob ein deutscher Heiliger, wie Heinrich II., ihm helfen würde, wenn er sich an ihn wende.139 Dagegen verlief die Christianisierung des Donau- und Südostalpenraums im 8. und 9. Jahrhundert wesentlich friedlicher als die der Sachsen, die dann als Christen ihrerseits radikaler christianisierten und germanisierten als Bayern, Thüringer und Franken. Allerdings gründete Heinrich II. das Bistum Bamberg nicht zuletzt, um „das Heidentum der Slawen zu zerstören“.140 Die Karantanen leisteten zwar ihrer Eingliederung in das bayerische Herzogtum und der Salzburger Mission wiederholten mehrjährigen Widerstand. Dieser endete aber schon 772 nicht zuletzt, weil die drei überlieferten carmulae von keinem namentlich Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 134) Nrn. 220 ff. S. 15 ff. Wolfram, Gotische Studien (wie Anm. 23) S. 270 f. 137 Thietmar von Merseburg, Chronicon III 17 (10), hg. von Robert Holtzmann (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum, Nova Series 9, 1935, Nachdruck 1996) S. 118. 138 Adam, Gesta II 42 (40) mit Schol. 28 (31) und II 43 (41) Schol. 31 (32) (wie Anm. 135) S. 101 und 103. Vgl. Adam, Gesta III 22 S. 165 f.: Nostri cum triumpho redierunt, de christianitate nullus sermo, victores tantum praedae intenti (nach Orosius, Adversum paganos II 6, 9); Adam, Gesta III 23 (22) S. 166: Audivi etiam,…., populos Sclavorum idamdudum procul dubio facile converti posse ad christianitatem, nisi obstitisset avaricia Saxonum. „Quibus“, inquit (rex Danorum), „mens pronior est ad pensionem vectigalium quam ad conversionem gentilium.“ 139 Wolfram, Gotische Studien (wie Anm. 23) S. 271 mit Anm. 43 nach Adam, Gesta III 20 (19) mit Schol. 71 (71) (wie Anm. 135) S. 163. Herwig Wolfram, Sprache und Identität im Frühmittelalter mit Grenzüberschreitungen, in: Sprache und Identität im frühen Mittelalter, hg. von Walter Pohl / Bernhard Zeller (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 20, 2012) S. 39 – 59, hier S. 44 mit Anm. 169. Hans-Dietrich Kahl, Slawen und Deutsche in der brandenburgischen Geschichte des zwölften Jahrhunderts (1964) 1, S. 76 f., und 2, S. 644 Anm. 3, nach Ex aliis miraculis s. Heinrici cc. 8 – 10, hg. von Georg Waitz (bei Georg Heinrich Pertz, Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 4, 1841, Nachdruck 1986) S. 814 – 816, hier S. 815b f. Der Hinweis auf Darstellung wie Quelle wird Christian Lübke verdankt. 140 D. Heinrich II. 143 (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum et imperatorum Germaniae 3. Die Urkunden Heinrichs II. und Arduins, hg. von Harry Bresslau / H. Bloch, 1900/03, Nachdruck 1957) S. 170.
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bekannten einheimischen Fürsten angeführt oder auch nur unterstützt worden wären.141 Als Helmold von Bosau in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Slawen und ihr Verhältnis zum Christentum Revue passieren ließ, bemerkte er zu Beginn seiner Chronik, es gäbe kein Volk, das „ehrenhafter und im Gottesdienst wie in der Verehrung der Priester ergebener“ sei als die Karantanen.142 Um 800 war der bayerische wie der aquileische Episkopat unter dem Einfluss Alcuins bereit, sich für die Bekehrung der Awaren und Slawen besser vorzubereiten, als dies im Falle der Sachsen geschehen war. Vor allem waren die Fehler zu vermeiden, die bei der sächsischen Mission begangen wurden. Nicht Zehente, sondern Seelen sollten gewonnen werden. Die decima Sclavorum, der Slawenzehent, betrug besonders im Salzburger Missionsgebiet nur die Hälfte des kanonischen Vollzehents und bildete bis ins Hochmittelalter eine beachtliche Erleichterung der Abgabenpflicht.143 Ja, noch lange, nachdem dieser Zehent 1036 auf der Synode von Tribur durch Kaiser Konrad II. abgeschafft worden war,144 wusste Bertold von Kremsmünster darüber Bescheid. Der „Bernardus Noricus“ überschrieb die decania Sclavorum „verbessernd“ mit decima, als er knapp nach 1300 eine Abschrift der „erweiterten“ tassilonischen Gründungsurkunde in den Codex Fridericianus übertrug.145 Die Christianisierung der slawischen Völker bedeutete ihre Eingliederung in die westliche Welt, die sich jedoch um Sprache, Recht und Gewohnheiten der Missionierten wenig kümmerte. Wie nötig dies aber gewesen wäre, lehren die als Ausnahmen hervorgehobenen Einzelbeispiele: Thachulf, dux Sorabici limitis, wurde von den Sorben als Vermittler bevorzugt, „weil sie ihm vor allen anderen trauten, da er die Gesetze und Gebräuche des slawischen Volkes
141 Siehe Conversio c. 5 (wie Anm. 1) S. 64/65 und Kommentar S. 126. 142 Helmold von Bosau, Cronica Sclavorum I 1, hg. von Bernhard Schmeidler (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum, 1937) S. 6 f.: Carinthi confines Bawaris, homines divino cultui dediti, nec est ulla gens honestior et in cultu Dei et sacerdotum veneratione devocior. 143 Wolfram, Grenzen und Räume (wie Anm. 2) S. 224 mit Anm. 80 f.; Maximilian Diesenberger / Herwig Wolfram, Arn und Alkuin 790 – 804: zwei Freunde und ihre Schriften, in: Erzbischof Arn von Salzburg. hg. von Meta Niederkorn-Bruck / Anton Scharer (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 40, 2004) S. 81 – 106, hier S. 86 f. 144 Wolfram, Konrad II. (wie Anm. 122) S. 329 f. mit Anm. 33. 145 Diesenberger / Wolfram, Arn und Alkuin (wie Anm. 143) S. 87 mit Anm. 28; Wolfram, Salzburg (wie Anm. 3) S. 357 und 375wx.
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kannte“.146 Adalram war als einziger der Salzburger Erzbischöfe imstande, auf slawisch zu predigen, und weihte bereits in den 820er Jahren eine Kirche in Neutra/Nitra, an der äußersten Grenze des Bayerischen Ostlandes. 147 Kein Wunder, dass in weiten Teilen dieser missatischen Mark die Einführung der slawischen Kirchensprache durch die Slawenlehrer Konstantinos und Methodios so großen Erfolg hatte.148 Ein ganz pragmatischer Grund für die unterschiedliche Entwicklung könnte gewesen sein, dass die Karolinger die slawischen Großen des Donau- und Ostalpenraums im 8. und 9. Jahrhundert dringend benötigten, um das riesige Neuland zu verwalten und zu verteidigen. Dagegen stand im 10. Jahrhundert an der Elbe genügend sächsisches Personal für die außerdem kleinräumigeren Marken zur Verfügung, so dass für deren Verwaltung keine gentilen Fürsten mehr gebraucht wurden. Sowohl der Liber Confraternitatum wie der Codex Foroiuliensis enthalten freilich viele slawischen Namen, die keine Geschichte erzählen. Gibt es Wege, wenigstens einige von ihnen zum Sprechen zu bringen? Welche politische Terminologie wurde verwendet, um die Repräsentanten der „Neuen Völker“ in das politische System des Karolingerreichs einzuordnen? Diese Frage bezieht sich nicht bloß auf die „ausländischen“ Bulgaren und Kroaten, sondern auch auf den reichsangehörigen Fürsten von Siscia.149 Könnte ein christlicher Bulgare wie Sondoke zwei Frauen gehabt haben, von denen die eine einen christlichen, die andere einen slawischen (heidnischen?) Namen führte, oder wird die Eintragung falsch verstanden?150 Wie können eingetragene Namensvettern zugeordnet oder gar mit bereits identifizierten gleichgesetzt werden? Wenn Namensvettern Funktionsbezeichnungen, wie etwa comes oder diaconus, führen, sind sie einander kaum gleichzusetzen. Wie weit ist es aber möglich, Unterscheidungen mit orthographischen und paläographischen Mitteln vorzunehmen?151 Die überwiegende
146 Annales Fuldenses a. 849 (wie Anm. 63) S. 38, und Wolfram, An den äußersten Grenzen (wie Anm. 3) S. 267 mit Anm. 151. 147 Conversio c. 11 (wie Anm. 1) S. 74/76. Zur Datierung siehe Kommentar S. 186 mit Anm. 19 – 23. 148 Conversio c. 12 (wie Anm. 1) S. 76/78, Kommentar S. 186 f. 149 Siehe oben Anm. 67; vgl. regnum inter etc. mit terra Brasclavo. 150 Siehe oben Anm. 125. 151 Siehe etwa die Eintragungen (8./9. Jahrhundert) von Witigowo im Verbrüderungsbuch von St. Peter: Libri confraternitatum s. Petri Salisburgensis (wie Anm. 45) col. 41,23 S. 18: Uuitagauo diac.; col. 51,30 S. 22: Uuitocouo; col. 88,18 S. 35: Uuitagauuo comis; col. 97,27:
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Mehrzahl der in den Codex Foroiuliensis eingetragenen Namen steht im Casus obliquus. Warum stehen manche Aufzeichnungen im Casus rectus?152 Sicher kann die Liste solcher Fragen noch fortgesetzt werden. Vielleicht gibt es darauf doch die eine oder andere Antwort.
S. 39: Witigowo; col. 85,27 f.; S. 34: Rihheri/Ratpot; col. 101,10 S. 41: Ratpot unter vorwiegend slawischen Namenträgern. 152 Siehe oben Anm. 56 und 61. Vgl. Bergmann, Die germanischen Namen (wie Anm. 25) S. 125.
Angelsächsische Könige in der kontinentalen Memorialüberlieferung Von Andreas Bihrer Es waren noch nicht einmal zwei Generationen vergangen, da musste sich zwischen 978 und 988 der angelsächsische Adelige und Geschichtsschreiber A ethelweard in einem Brief bei Äbtissin Mathilde von Essen erkundigen, mit wem die englische Königstochter Eadgifu verheiratet worden war.1 In England war zu diesem Zeitpunkt lediglich noch bekannt, dass ihr Ehemann ein König jenseits der Alpen gewesen war. Wohl auch am englischen Königshof, zu dem der Geschichtsschreiber enge Verbindungen besaß, stammten doch seine Vorfahren aus dem königlichen Geschlecht, war über die ja nicht lange zurückliegende Heiratsverbindung, die um 930 geschlossen worden war, nichts mehr bekannt. Alles deutet zudem darauf hin, dass der englische König damals Eadgifu zusammen mit Edith, der späteren Ehefrau Ottos I., auf den Kontinent geschickt hatte, ohne für deren jüngere Schwester überhaupt eine Heiratsverbindung ausgehandelt zu haben. Vielmehr waren es wohl die Ottonen, welche die Eheverbindung mit dem burgundischen Königshaus arrangiert hatten.2 Aus dieser Geschichte wird deutlich, dass Beziehungen zwischen frühmittelalter lichen Königen, deren Reiche nicht aneinandergrenzten, in erster Linie für das Verhältnis des Regenten zu den Großen im eigenen Reich von Bedeutung waren, denn dem englischen König war vor allem daran gelegen, Prinzessinnen wie Edith oder Eadgifu dem Heiratsmarkt seines Königsreichs zu entziehen. Entstand daraus eine hochrangige Verbindung wie mit den Ottonen, die nach innen argumentativ genutzt werden konnte, dann waren die Investitionen durchaus beträchtlich. Versprach eine Beziehung nur einen geringen Ertrag, oder konnte diese nicht aufrechterhalten werden, dann wurde eine Eheschließung selbst einer Königstochter schnell wieder vergessen.
1
Vgl. Chronicon Aethelweardi. The Chronicle of Aethelweard, hg. und übers. von Alistair Campbell (1962) S. 2; vgl. dazu Andreas Bihrer, Begegnungen zwischen dem ostfränkischdeutschen Reich und England (850 – 1100). Kontakte – Konstellationen – Funktiona lisierungen – Wirkungen (Mittelalter-Forschungen 39, 2012) S. 294 f. 2 Vgl. hierzu Bihrer, Begegnungen (wie Anm. 1) S. 295.
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Die Struktur solcher Beziehungen zwischen nicht aneinandergrenzenden, nicht benachbarten bzw. durch eine große Entfernung oder eine naturräumliche Barriere getrennten Regna soll am Beispiel der Kontakte der angelsächsischen Könige nach Italien und in das ostfränkische Reich erhellt werden. Im Folgenden soll der Blick allein auf die Nennung von Königen in der Memorialüberlieferung gerichtet werden: Die Ergebnisse werden aber immer in den Kontext der gesamten dokumentierten oder erschlossenen Beziehungsformen eingeordnet. Die Einträge auswärtiger Herrscher in Verbrüderungsbüchern dürfen als besonders aussagekräftig für die Frage nach Verbindungen zwischen verschiedenen Regna gelten, denn die Klöster waren ja lediglich zur Gebetshilfe für den eigenen Regenten verpflichtet. Somit standen hinter einer Bitte um Aufnahme in das Gebetsgedenken eines auswärtigen Konvents bzw. hinter einem Eintrag eines externen Herrschers in ein Verbrüderungsbuch immer besondere Intentionen. Solchen Kontakten von nicht unmittelbar benachbarten Königsreichen galt lange ein geringes Interesse der Forschung.3 Erst in den letzten 25 Jahren kamen diese Beziehungen stärker in den Blick der Forschung: Nun wurde unter dem Signum der europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Ende des Kalten Kriegs oftmals ein immenses Ausmaß an Kontakten selbst zwischen weit entfernt liegenden Regionen in Europa sogar für das Frühmittelalter angenommen. Dem älteren Bild einer starken Konkurrenz der frühmittelalter lichen Proto-Nationalstaaten, die sich weitgehend autochthon entwickelt hätten, wurde in vielen Fällen nun das Gegenbild eines fruchtbaren Austauschs und eines harmonischen Zusammenlebens entgegengestellt. Der berühmte Aufsatz von Karl Leyser ,Die Ottonen und Wessex‘ ist ein gutes Beispiel für eine solche Sichtweise, denn Leyser zufolge seien die Beziehungen zwischen England und dem ostfränkischen Reich im 10. Jahrhundert enger und besser gewesen als „zu irgendeiner anderen Zeit ihrer jeweiligen Geschichte“.4 Leyser postulierte zudem eine „ottonisch-wessexsche Allianz“,5 sogar eine „Gesinnung der gemeinsamen Abkunft und Interessengemeinschaft“.6 Die Prüfung der historischen Überlieferung rät jedoch zur Vorsicht gegenüber solch optimistischen Thesen. Vielmehr zeigt sich ein sehr viel fragmentarischeres 3 Ein Überblick über die Forschung zu den Beziehungen zwischen England und dem ostfränkisch-deutschen Reich im Frühmittelalter bei Bihrer, Begegnungen (wie Anm. 1) S. 13 – 26. 4 Karl Leyser, Die Ottonen und Wessex, Frühmittelalterliche Studien 17 (1983) S. 73 – 97, hier S. 73. 5 Leyser, Die Ottonen (wie Anm. 4) S. 96. 6 Leyser, Die Ottonen (wie Anm. 4) S. 74.
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Bild: Kontakte gab es sehr viel weniger, und für eine Interessengemeinschaft, für eine Allianz, ja selbst für das so oft von der Forschung beschworene Gemeinschaftsgefühl aufgrund der gemeinsamen Abstammung von Sachsen und Angelsachsen gibt es für das 10. und 11. Jahrhundert nicht einen Hinweis.7 Vielmehr kann eine beträchtliche Instabilität der Beziehungen beobachtet werden, die aber zugleich eine große Variabilität ihrer Nutzung ermöglichte und eine Aufrechterhaltung von Beziehungen aus diesem Grund attraktiv machte. Eine solche Nutzung bedurfte allerdings einer Stabilisierung der Verbindungen, also der Herstellung von Gemeinschaft. Hierfür stand den frühmittelalterlichen Herrschern bekannt lich ein beträchtliches Arsenal an Fixierungstechniken zur Verfügung: Erwähnt seien nur Heiratsverbindungen, Amicitia-Bündnisse, Geschenkaustausch, persön liche Begegnung oder Austausch von Gesandtschaften, gemeinsamer Vollzug von rituellen Handlungen, gemeinsames Gebet, gemeinsames Mahl, diplomatische und politische Unterstützung, militärische Hilfe – aber auch Stiftungen und Schenkungen an kirchliche Institutionen des jeweils anderen Reichs, deren Gegenleistung die Gebetshilfe bildete, schriftlich fixiert in den Eintragungen der Verbrüderungsbücher. Einträge von kontinentalen Herrschern in angelsächsischen Memorialzeugnissen kommen, von einer Ausnahme abgesehen, nicht vor. In Jan Gerchows Zusammenstellung der Memorialüberlieferung der Angelsachsen findet sich lediglich im Verbrüderungsbuch des Klosters Lindisfarne bzw. der Kathedralkirche von Durham mit Karl dem Großen ein einziger kontinentaler Herrscher.8 Der Eintrag Carlus regis dürfte mit dem Umstand zu erklären sein, dass sich der König von Northumbria für einige Zeit am fränkischen Hof als Exilant aufgehalten hatte. Ein bei Gerchow zum 17. September in einem Nekrolog von Christ Church in Canterbury angegebener Lodvicus Rex meint hingegen erst den 1180 gestorbenen französischen König Ludwig VII.9 Zwar ist die Zahl der angelsächsischen Memorialzeugnisse sehr gering, doch verwundert schon, dass 7 Vgl. Ulrike Matzke, England und das Reich der Ottonen in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Beziehung und Wahrnehmung von Angelsachsen und Sachsen zwischen Eigenständigkeit und Zusammengehörigkeit (Göttinger Forschungen zur Landesgeschichte 16, 2009) S. 55 – 97 und 112 – 121, und Bihrer, Begegnungen (wie Anm. 1) S. 485 – 490. 8 Vgl. The Durham Liber Vitae. London, British Library, MS Cotton Domitian A.VII. Edition and Digital Facsimile with Introduction, Codicological, Prosopographical and Linguistic Commentary, and Indexes 1, hg. von David and Lynda Rollason (2007) S. 92, und Jan Gerchow, Die Gedenküberlieferung der Angelsachsen. Mit einem Katalog der libri vitae und Necrologien (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 20, 1988) S. 304. 9 Vgl. Gerchow, Die Gedenküberlieferung (wie Anm. 8) S. 353.
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zum Beispiel im Liber Vitae des Konvents von New Minster in Winchester und damit am Sitz des englischen Königs keine kontinentalen Herrscher verzeichnet wurden.10 Dagegen finden sich in angelsächsischen Memorialzeugnissen einige Eintragungen von nicht-königlichen Personen. Daneben sind Verbrüderungen mit kontinentalen Konventen oder religiösen Gemeinschaften, so zum Beispiel der Stadt Köln, noch aus der Zeit vor 1100 belegt.11 Die Herrscher auf dem Kontinent bevorzugten diese Form der Herstellung oder Fixierung von Beziehungen mit England offensichtlich nicht. Völlig anders sieht es hingegen in Bezug auf die kontinentale Memorialüberlieferung aus: Hier werden mehrere Einträge von Namen angelsächsischer Könige in Verbrüderungsbüchern überliefert.12 Darüber hinaus existieren weitere Quellen liturgischer Memoria, und es gibt zudem chronikalische Zeugnisse, die könig liche Schenkungen beschreiben, mit denen monastische Gebetshilfe erworben werden sollte. Nach dem späten 9. Jahrhundert bereisten die englischen Könige erst wieder ab dem frühen 11. Jahrhundert den Kontinent: Mit Knut dem Großen, der 1016 englischer König wurde, steigt deswegen die Zahl der Dokumente zu königlichen Stiftungen auf dem Kontinent bzw. zur liturgischen Memoria der Herrscher sprunghaft an. Die ältesten Belege für angelsächsische Herrschereinträge auf dem Kontinent sind in das 9. Jahrhundert zu datieren:13 Beide Einträge im Verbrüderungsbuch des Frauenklosters San Salvatore in Brescia sind Präsenzeinträge.14 Zum einen sind 10 Vgl. The Liber Vitae of the New Minster and Hyde Abbey Winchester, hg. von Simon Keynes (Early English Manuscripts in Facsimile 26, 1996). 11 Zu diesen Einträgen vgl. Bihrer, Begegnungen (wie Anm. 1) S. 107 f. und 214 f. Die Kölner Liste wurde ediert in Rudolf Schützeichel, Die Kölner Namensliste des Londoner MS. Harley 2805. Mit einem Faksimile, in: Namensforschung. Festschrift für Adolf Bach zum 75. Geburtstag am 31. Januar 1965, hg. von Rudolf Schützeichel / Matthias Zender (1965) S. 97 – 126, hier S. 104 – 110. 12 Vgl. die Zusammenstellung bei Bihrer, Begegnungen (wie Anm. 1) S. 280 – 290, wo auch die hier nicht untersuchten Einträge des 11. Jahrhunderts behandelt werden. 13 Die Einträge im Gedenkcodex von Brescia habe ich in meiner Habilitationsschrift nur kurz angesprochen, vgl. Bihrer, Begegnungen (wie Anm. 1) S. 88 und 282; im Folgenden werden einige neue Gedanken zur Diskussion gestellt. 14 Zur Bedeutung des Klosters San Salvatore in Brescia für die Karolinger vgl. Simon Keynes, Anglo-Saxon Entries in the Liber Vitae of Brescia, in: Alfred the Wise. Studies in Honour of Janet Bately on the Occasion of her 65th Birthday, hg. von Jane Roberts / Janet L. Nelson / Malcolm Godden (1997) S. 99 – 119, hier S. 104 f.; zur Verbindung des Frauenklosters nach Pavia, einem wichtigen Haltepunkt angelsächsischer Pilger auf dem Weg nach Rom, vgl. Hartmut Becher, Das königliche Frauenkloster San Salvatore / Santa
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König Burgred von Mercia mit seiner Frau sowie die Namen von acht Begleiterinnen und Begleitern eingetragen, die wohl mit weiteren Familienmitgliedern zu identifizieren sind (Abb. 1 und Abb. 2).15 Der Eintrag steht, wie die Forschung bereits erkannt hat, mit der Reise des von den Wikingern vertriebenen Königs ins Exil nach Rom zusammen, wo er im Jahr 880 starb.16 Sehr viel problematischer ist hingegen der zweite angelsächsische Herrschereintrag in dem Gedenkcodex von Brescia (Abb. 3 und Abb. 4).17 Der Eintrag umfasst im Kern sechs Namen: Ederath, Atruth und Ædæluulfus rex anglorum sowie darunter Elfreth, nochmals Elfreth und Marcoardus abbas. Die Deutung der Namen in der rechten Spalte ist unstrittig, genannt sind König Aethelwulf von Wessex und sein Reiseführer, Abt Markward von Prüm.18 Aethelwulf war im Jahr 855/856 zuerst zu Karl dem Kahlen in das Westfrankenreich gereist, dann weiter nach Rom; auf dem Rückweg hatte er die Tochter Karls namens Judith geheiratet. Von dieser Reise erzählen nicht nur englische Quellen, auch die Annalen von St. Bertin berichten davon.19 Allerdings werden in diesen historiographischen Zeugnissen keine Aussagen zur Reisegruppe des Königs von Wessex gemacht. Erst Asser, der Biograph König Alfreds des Großen, erwähnt, dass Alfred seinen Vater bei der Reise nach Rom begleitet habe.20 Bei Asser sowie im Anglo-Saxon Chronicle, das ebenfalls am Hof Alfreds entstand, wird zudem zum Jahr 853 berichtet, dass Aethelwulf seinen damals etwa vier bis sechs Jahre alten Sohn nach Rom geschickt habe, wo
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Giulia in Brescia im Spiegel seiner Memorialüberlieferung, Frühmittelalterliche Studien 17 (1983) S. 298 – 392, hier S. 380 – 382. Vgl. Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia, hg. von Dieter Geuenich / Uwe Ludwig (Monumenta Germaniae Historica, Libri Memoriales et Necrologia, Nova Series 4, 2000) fol. 31v; zur Identifizierung der in diesem Eintrag genannten Personen vgl. Becher, Das königliche Frauenkloster (wie Anm. 14) S. 380 f., wo von einem „Familieneintrag“ die Rede ist, und Keynes (wie Anm. 14) S. 115. Vgl. Becher, Das königliche Frauenkloster (wie Anm. 14) S. 380 f., und Keynes, AngloSaxon Entries (wie Anm. 14) S. 109 f. Vgl. Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia (wie Anm. 15) fol. 27v. Die Identifizierung des Marcoardus abbas mit Markward von Prüm bei Becher, Das königliche Frauenkloster (wie Anm. 14) S. 378 f., und Keynes, Anglo-Saxon Entries (wie Anm. 14) S. 108 f. und 113 f. Vgl. Annales Bertiniani, hg. von Georg Waitz (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 5, 1883) S. 45 – 47. Vgl. Asser’s Life of King Alfred Together with the Annals of Saint Neots Erroneously Ascribed to Asser, hg. von William Henry Stevenson (1959) S. 7 – 9.
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Abb. 1: Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia, fol. 31v.
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Abb. 2: Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia, fol. 31v (Ausschnitt).
Alfred vom Papst zum König gesalbt und zudem adoptiert worden sei.21 Diese spätere chronikalische Darstellung überrascht sehr, denn 853 lebten noch drei ältere Söhne Aethelwulfs, und Alfred wurde erst nach dem Tod seiner älteren Brüder im Jahr 871 König von Wessex. Dass mit dem im Verbrüderungsbuch von Brescia eingetragenen Namen Elfreth der spätere König Alfred der Große gemeint war, ist wahrscheinlich. Da die älteren Brüder nicht genannt werden, ist von einem Präsenzeintrag auszugehen – und damit von der persönlichen Anwesenheit des jungen Alfred in Brescia auf seinem Weg nach Rom. Soweit mag man Hartmut Becher und Simon Keynes folgen, nicht jedoch bei ihrer These, es habe zwei Reisen Alfreds nach Rom gegeben, nämlich 853 allein zu seiner Salbung und 855/856 zusammen mit seinem Vater.22 Keynes versteht die doppelte Nennung von Elfreth in der zweiten Zeile als zwei separate Einträge der Jahre 853 bzw. 855/856.23 Uwe Ludwig konnte aber demgegenüber überzeugend darlegen, dass die Namen in einem Zug von einer Hand zu einem Anlass geschrieben wurden und überdies der Eintrag erst in das Jahr 856 zu datieren ist.24 Außerdem soll der These von Becher und Keynes widersprochen werden, mit dem zuerst genannten Ederath sei der ältere Bruder Alfreds namens Aethelred gemeint.25 Unwahrscheinlich erscheint jedoch eine solche Schreibung des Namens, zumal Aethelred in anderen Quellen nie als Mitglied der Reisegruppe genannt wird. Vielmehr dürfte der Name eines mitreisenden Angelsachsen namens Aethereth festgehalten worden sein; der zweite
21 Vgl. The Anglo-Saxon Chronicle. A Collaborative Edition 3: MS A. A Semi-diplomatic Edition with Introduction and Indices, hg. von Janet M. Batley (1986) S. 45. 22 So Becher, Das königliche Frauenkloster (wie Anm. 14) S. 377, und Keynes, Anglo-Saxon Entries (wie Anm. 14) S. 116. 23 Vgl. Keynes, Anglo-Saxon Entries (wie Anm. 14) S. 108 f. 24 Vgl. Uwe Ludwig, Zur Chronologie der Nameneinträge, in: Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia, hg. von Dieter Geuenich / Uwe Ludwig (Monumenta Germaniae Historica, Libri Memoriales et Necrologia, Nova Series 4, 2000) S. 89 – 129, hier S. 92. 25 So Becher, Das königliche Frauenkloster (wie Anm. 14) S. 377 f., und Keynes, AngloSaxon Entries (wie Anm. 14) S. 112 f.
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Abb. 3: Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia, fol. 27v.
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Abb. 4: Der Memorial- und Liturgiecodex von San Salvatore / Santa Giulia in Brescia, fol. 27v (Ausschnitt).
Alfred und der in der ersten Zeile in der Mitte genannte Atruth dürften ebenfalls mit Mitgliedern der Reisegruppe zu identifizieren sein. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich nun aus der kritischen Diskussion der Zuweisungen und Thesen von Becher und Keynes? Unwahrscheinlich ist, dass Aethelwulf zwei seiner Söhne mit auf seine Reise in das Westfrankenreich und nach Rom genommen hatte: Die Reisegruppe bestand zwar aus mehreren Angelsachsen, doch gehörte der Königssohn Aethelred nicht zu ihr. Zudem ist die Vorstellung von den zwei Romreisen Alfreds endgültig ad acta zu legen. Dass Alfred aber mit seinem Vater 855/856 nach Rom zog, ist unbestritten.26 Als jüngster Sohn war er möglicherweise für ein Bischofsamt vorgesehen, somit ist es durchaus möglich, dass Alfred eine wie auch immer geartete päpstliche Weihe empfing, die von ihm und seinem Umkreis später als Königssalbung umgedeutet wurde. Außerdem sollen zur Dimension der liturgischen Erinnerung, die gewiss im Vordergrund des Eintrags von Brescia stand, noch zwei weitere Aspekte hinzugefügt werden. England besaß bekanntlich eine besonders enge Beziehung zum Papsttum, hatte doch Gregor der Große den wichtigsten Anstoß zur Missionierung Britanniens gegeben. Die Verbindungen Englands zum Papsttum sind vielfältig: Unter anderem zogen zahlreiche englische Könige bis ins 9. Jahrhundert als Pilger nach Rom.27 Auch die Reisen Burgreds von Mercia und Aethelwulfs von Wessex sind als solche Pilgerreisen zum Grab des Apostelfürsten und zu anderen wichtigen Kirchen zu verstehen.28 Mit dem Eintrag in Verbrüderungsbücher wurde somit gleichsam der Weg der Pilgerfahrt fixiert und damit die Reise schriftlich 26 Vgl. bereits Ludwig, Zur Chronologie (wie Anm. 24) S. 92. 27 Vgl. dazu zuletzt Stephen Matthews, Legends of Offa: The Journey to Rome, in: Aethelbald and Offa. Two Eighth-Century Kings of Mercia, hg. von David Hill / Margaret Worthington (BAR British Series 383, 2005) S. 55 – 58. 28 Becher, Das königliche Frauenkloster (wie Anm. 14) S. 377, stellt seine Diskussion der Angelsachseneinträge im Gedenkcodex von Brescia unter die Kapitelüberschrift „Pilger“, Ludwig (wie Anm. 24) S. 92, spricht von einer „Pilgerreise“ und in einer anderen Publikation von „zwei angelsächsischen Pilgergruppen“, vgl. Uwe Ludwig, Transalpine Beziehungen der Karolingerzeit im Spiegel der Gedenküberlieferung. Prosopographische und sozialgeschichtliche Studien unter besonderer Berücksichtigung des Liber vitae von
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festgehalten, von der man sich besonderen jenseitigen Lohn erhoffte. Das Beispiel einer Verbrüderung König Knuts des Großen mit dem Konvent von St. Omer, die in der späteren chronikalischen Darstellung ebenfalls zu einer Pilgerfahrt stilisiert wurde, könnte diese These stützen.29 Zugleich diente die Aufnahme eines auswärtigen Herrschers auf Pilgerfahrt in das Gedenkbuch der Steigerung des Ansehens des Klosters. Das Verbrüderungsbuch fungierte somit gleichsam als ,Gästebuch‘ und war wichtig für die Selbstvergewisserung des Konvents, der sich seiner Bedeutung als wichtiges Pilgerziel und damit als religiöses Zentrum versichern konnte. Außerdem fällt auf, dass Aethelwulf nicht nur, wie in der Memorialüberlieferung üblich, als rex, sondern als rex anglorum bezeichnet wird.30 Diesen spezifizierenden Zusatz könnte man dahingegen deuten, dass das Reich, das König Aethelwulf regierte, eindeutig definiert werden sollte, also nicht nur der soziale Rang, mit welchem man vor das göttliche Gericht trat. Hier hilft wieder ein vergleichender Blick auf Knut den Großen weiter: Dessen Verbrüderung mit dem Konvent von St. Omer wurde in der Historiographie dazu genutzt, Knut als christlichen König, aber auch als mächtigen europäischen Herrscher zu inszenieren, der seinen kontinentalen Pendants in nichts nachstand, ja diese noch übertrumpfte. 31 Da diese Inszenierung im Umfeld des englischen Königshofs geschah, darf angenommen werden, dass es in erster Linie den Intentionen Knuts entsprach, mit seinen Schenkungen an kontinentale Konvente seinen herausragenden Rang unter den europäischen Königen zu dokumentieren. An einem Brief Knuts des Großen, den dieser nach seiner Romfahrt 1027 an das englische Volk adressierte, lässt sich zeigen, dass solche Reisen insbesondere der herrscherlichen Repräsentation nach innen
San Salvatore in Brescia und des Evangeliars von Cividale (Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte 25, 1999) S. 239. 29 Vgl. Encomium Emmae reginae, hg. und übers. von Alistair Campbell with a Supplementary Introduction by Simon Keynes (Camden Classic Reprints 4, 1998) S. 36. 30 Das Wort anglorum könnte ein Nachtrag sein, diese Vermutung wäre aber an der Handschrift zu überprüfen. In jedem Fall wurde das Wort aber vom Schreiber des Angelsachsen-Eintrags geschrieben, wahrscheinlich auch im gleichen Zug. Die Titulatur rex Anglorum entspricht nicht der üblichen Titulatur Aethelwulfs in England, ist aber typisch für kontinentale Bezeichnungen des Königs von Wessex, vgl. Keynes, Anglo-Saxon Entries (wie Anm. 14) S. 108, der Beispiele aus dem Westfrankenreich und aus Italien anführt. 31 Vgl. Encomium Emmae (wie Anm. 29) S. 36, vgl. hierzu Bihrer, Begegnungen (wie Anm. 1) S. 288.
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dienten.32 In diesem Brief werden nicht nur die Pilgerfahrt, sondern auch die politischen Konsultationen Knuts erwähnt. In den Gesprächen sei es ihm gelungen, so Knut der Große, zahlreiche wirtschaftliche Vergünstigungen für die englischen Italienhändler zu erreichen. Genauer besehen sind diese Verbesserungen für den englischen Italienhandel jedoch marginal: Knut der Große wollte sich in erster Linie als Wohltäter für sein Königreich darstellen. Alfred der Große oder sein Sohn Eduard der Ältere hatten, ohne persönlich in Italien anwesend zu sein, ebenfalls Verbesserungen für englische Händler erreicht, wie ein die Stadt Pavia betreffender Vertrag belegt.33 In diesem Schriftstück wird die Sonderstellung der angelsächsischen Pilger und Händler in Pavia dokumentiert, insbesondere aber der politische, diplomatische, rechtliche und finanzielle Einsatz des Königs für diese Personengruppe im fernen Italien herausgestellt; die Abmachung ist Teil herrscherlicher Repräsentation. Auch der Eintrag König Aethelwulfs und seiner Reisegruppe in den Gedenkcodex von Brescia könnte mit diesen nach innen gerichteten Interessen der englischen Könige in Verbindung stehen. Nicht nur die Pilgerroute wurde dokumentiert, sondern auch der Einsatz für die Belange der englischen Pilger und Händler festgehalten. Aethelwulf war nicht nur als König nach Brescia gekommen, sondern als englischer König. Die politische Dimension von Gedenkbucheinträgen ließe sich außerdem an einem Eintrag König Knuts des Großen, seiner Frau und seines ältesten Sohns zeigen, deren Namen in das Verbrüderungsbuch der Bremer Kirche (in Libro fraternitatis nostrae) eingetragen wurden, wovon die Chronik Adams von Bremen berichtet.34 Diese Aufnahme geschah wohl im Gefolge der Beilegung eines Konflikts des Königs mit dem Bremer Erzbischof, sie war ein Element der Konfliktlösung. Doch hierbei agierte Knut in erster Linie als dänischer König, zudem ist
32 Der Brief Knuts des Großen ist überliefert in William of Malmesbury, Gesta Regum Ang lorum. The History of the English Kings 1, hg. und übers. von Roger A. B. Mynors / Rodney M. Thomson / Michael Winterbottom (1998) S. 324 – 328; zudem wurde er abgedruckt in Councils and Synodes with Other Documents Relating to the English Church 1: A. D. 871 – 1204, Teil 1: 871 – 1066, hg. von Dorothy Whitelock / Martin Brett / Christopher N. L. Brooke (1981) Nr. 65, vgl. hierzu Bihrer, Begegnungen (wie Anm. 1) S. 76. 33 Vgl. Die ,Honorantie Civitatis Papie‘. Transkription, Edition, Kommentar, hg. von Carlrichard Brühl / Cinzio Violante (1983) S. 16 – 19, vgl. hierzu Bihrer, Begegnungen (wie Anm. 1) S. 75 f. 34 Vgl. Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte, hg. von Bernhard Schmeidler (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 2, 31917) S. 112, vgl. hierzu Bihrer, Begegnungen (wie Anm. 1) S. 288.
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dieses Beispiel in das 11. Jahrhundert zu datieren. Abschließend wollen wir in das 10. Jahrhundert zurückkehren und die Nennungen des 939 verstorbenen englischen Königs Aethelstan in der kontinentalen Memorialüberlieferung ansprechen.35 Vor der Hochzeit von Otto I. und Edith im Jahr 929 sind keine Verbindungen zwischen einem englischen und einem ostfränkischen König überliefert, die Zahl der Kontakte muss sehr gering gewesen sein. Mit der Heiratsverbindung bestand somit die Möglichkeit, die Beziehungen zwischen den beiden Regna neu zu definieren. Auch wenn die Initiative für die Ehe wohl von den Ottonen ausging, war es doch insbesondere der englische König Aethelstan, der die Ausgestaltung der neuen Beziehungen maßgeblich prägte. Diese Beobachtung passt überdies zur Herrschaftsausübung Aethelstans in England selbst, wo der Herrscher zahlreiche Neuerungen einführte und damit eine neue Form königlicher Herrschaft prägte. Unter anderem schickte Aethelstan, wie eingangs erwähnt, zwei Prinzessinnen nach Sachsen, die Ottonen besaßen das Auswahlrecht. Zudem wurde Bischof Coenwald von Worcester auf den Kontinent gesandt: Er sollte, wie es in einer ausführlichen Notiz im Sankt Galler Kapiteloffiziumsbuch heißt, alle Klöster in ganz Germanien besuchen (Abb. 5).36 Aethelstan ging also zum einen planmäßig vor, zum anderen sollte sein Bote die kirchlichen Institutionen im gesamten Regnum besuchen, um diese zu beschenken. Die Bitten um Gebetshilfen besaßen somit nicht nur in der liturgischen Heilsversicherung ihr Motiv, sondern dienten auch der Fundierung und Formulierung der neuen Außenbeziehungen. Am Beginn des Eintrags im Sankt Galler Verbrüderungsbuch steht König Aethelstan; weitere Familienmitglieder werden nicht genannt (Abb. 6 und Abb. 7).37 Stattdessen folgt eine Aufzählung englischer Bischöfe, angeführt vom Erzbischof von Canterbury; danach werden noch zwei Äbte erwähnt. Die darauf
35 Die Vorstellung der Aethelstan-Einträge kann hier sehr knapp geschehen, da ich mich mit diesen bereits ausführlich in meiner Habilitationsschrift, vgl. Bihrer, Begegnungen (wie Anm. 1) S. 282 – 287, und in einem Beitrag im Begleitband zur Sankt Galler Ausstellung ,Bücher des Lebens‘, vgl. Andreas Bihrer, Die insular-kontinentalen Beziehungen im Spiegel der Memorialüberlieferung des Frühmittelalters, in: Bücher des Lebens – Lebendige Bücher, hg. von Peter Erhart / Jakob Kuratli Hüebelin (2010) S. 116 – 122, beschäftigt habe. Im Folgenden werden nur die Quellen und direkte Verweise auf die Sekundärliteratur angeführt, weitere Literaturhinweise finden sich bei Bihrer, Begegnungen (wie Anm. 1) S. 280 – 290. 36 Vgl. Confraternitates Sangallenses, in: Libri confraternitatum Sancti Galli, Augiensis, Fabariensis, hg. von Paul Piper (Monumenta Germaniae Historica, Necrologia Germaniae, Supplementum 1, 1884) S. 1 – 144, hier S. 136 f. 37 Vgl. Confraternitates Sangallenses (wie Anm. 36) col. 332 S. 100.
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Abb. 5: Kapiteloffiziumsbuch Sankt Gallen (Sankt Gallen, Stiftsbibliothek B 915), pag. 5.
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Abb. 6: Das jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 77.
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Abb. 7: Das jüngere St. Galler Verbrüderungsbuch, pag. 77 (Ausschnitt).
folgenden Namen könnten auf die Reisegruppe verweisen, denn unter diesen befindet sich auch der Bote Coenwald. Der Reichenauer Eintrag ist deutlich kürzer, besitzt aber eine identische Struktur: Zuerst wird der König genannt, dann der Erzbischof von Canterbury, schließlich der Bote Wighart (Abb. 8 und Abb. 9).38 Die Forschung hat bislang nur auf den Zusammenhang zwischen Heirat und Aufnahme in das Gebetsgedenken hingewiesen: Dem ist in jedem Fall zuzustimmen.39 Die These von Wolfgang Georgi, der angelsächsische Bote Wighart hätte zudem den Ottonen-Eintrag im Reichenauer Verbrüderungsbuch veranlasst und in angelsächsischer Tradition den ältesten Sohn Otto als
38 Vgl. Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Einleitung, Register, Faksimile), hg. von Johanne Autenrieth / Dieter Geuenich / Karl Schmid (Monumenta Germaniae Historica, Libri Memoriales et Necrologia, Nova Series 1, 1979) pag. 70. 39 Vgl. Hagen Keller, Widukinds Bericht über die Aachener Wahl und Krönung Ottos I., in: Hagen Keller, Ottonische Königsherrschaft. Organisation und Legitimation könig licher Macht, hg. von Gerd Althoff (2002) S. 91 – 130 und 237 – 275, hier S. 92.
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Abb. 8: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, pag. 70.
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Abb. 9: Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau, pag. 70 (Ausschnitt).
rex bezeichnet, ist wenig überzeugend.40 Auch Hartmut Hoffmanns Ansicht, beim von Aethelstan veranlassten Sankt Galler Eintrag sei die „Gruppierung ganz zufällig zustandegekommen“,41 kann widersprochen werden. Der englische König beabsichtigte eine Verbindung der beiden Kirchen der Regna, und aus diesem Grund sollte sein Bote alle Klöster und wohl ebenfalls alle Kathedralkirchen in ganz Germanien besuchen. Die Aufnahme in das Gebetsgedenken wurde für englische Bischöfe erbeten und damit für die gesamte englische Kirche; der Reichenauer Eintrag stellt eine verkürzte Darstellung dieser Idee dar. Man könnte somit in Anlehnung an den Terminus ,intermonastische Gebetsverbrüderung‘ von ,interecclesiastischer Gebetsverbrüderung‘ sprechen. Der Eintrag stützt überdies die Beobachtung, dass den Bischöfen ab dem späten 9. Jahrhundert nun auch außerhalb des westfränkischen Reichs eine neue Stellung in der politischen Ordnung eines Regnum zugekommen war.42 In diesem Fall standen die in den Eintrag aufgenommenen Bischöfe für die Einheit eines Reichs. Mit der Heiratsverbindung wurden die beiden Königsfamilien verbunden, mit den Schenkungen und der Versicherung der Gebetshilfe die beiden Kirchen – und damit die beiden Regna. 40 Vgl. Wolfgang Georgi, Bischof Keonwald von Worcester und die Heirat Ottos I. mit Edgitha im Jahre 929, Historisches Jahrbuch 115 (1995) S. 1 – 40, hier S. 33 – 37. 41 Vgl. Hartmut Hoffmann, Anmerkungen zu den Libri Memoriales, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 53 (1997) S. 415 – 459, hier S. 437. 42 Vgl. Steffen Patzold, Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (Mittelalter-Forschungen 25, 2008) S. 47 und 512.
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Abb. 10: Coburg, Landesbibliothek 1, fol. 168r.
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Abb. 11: Coburg, Landesbibliothek 1, fol. 168r (Ausschnitt).
Die neu geschaffenen Verbindungen wurden durch weitere Memorialaufzeichnungen vertieft. So tauschten Aethelstan und Otto I. zwei karolingische Evangeliare aus, wohl aus Anlass der Krönung Ottos 936, die ja ganz in karolingischer Tradition stand.43 In dem Otto geschenkten Exemplar sind die Namen Aethelstans und Eadgifus eingetragen, womit entweder die Stiefmutter oder die Halbschwester des Königs zu identifizieren ist (Abb. 10 und Abb. 11).44 Im Gegenzug wurden die Namen Ottos und seiner Mutter Mathilde in deutlich prominenterer Weise eingeschrieben (Abb. 12 und Abb. 13).45 In beiden Fällen wurden also neben den Königen Frauen des Herrscherhauses eingetragen, die ja im 10. Jahrhundert in besonderer Weise für die Bewahrung des Familiengedenkens zuständig waren. Außerdem stellen sich die beiden Könige wie auch sonst in ihrer Repräsentation in die Tradition der Karolinger. Schließlich wurde die Idee der Verbindung der beiden Kirchen wieder aufgenommen, denn Aethelstan gab sein Geschenk an den Konvent von Christ Church in Canterbury weiter, schenkte es also den Klerikern in der Umgebung des Erzbischofs und damit der Spitze der englischen Kirche. Otto seinerseits betonte mit der Weitergabe des Geschenks stärker familiäre Traditionen, denn er gab das Evangeliar an das Gandersheimer Stift. Nur kurz sei auf den Eintrag König Aethelstans im Merseburger Nekrolog hingewiesen, welchen bislang nur Gerd Althoff erwähnt hat (Abb. 14 und Abb. 15).46 In das Merseburger Totenbuch wurden zahlreiche Ottonen aufgenommen:
43 Vgl. Bihrer, Begegnungen (wie Anm. 1) S. 270. 44 Vgl. die Abbildung bei Joachim Ehlers, Sachsen und Angelsachsen im 10. Jahrhundert, in: Otto der Große: Magdeburg und Europa. Katalog der 27. Ausstellung des Europarates und Landesausstellung Sachsen-Anhalt 1: Essays, hg. von Matthias Puhle (2001) S. 489 – 502, hier S. 496. 45 Vgl. die Abbildung in Otto der Große: Magdeburg und Europa. Katalog der 27. Ausstellung des Europarates und Landesausstellung Sachsen-Anhalt 2: Katalog, hg. von Matthias Puhle (2001) S. 121. 46 Vgl. Die Totenbücher von Merseburg, Magdeburg und Lüneburg, hg. von Gerd Althoff / Joachim Wollasch (Monumenta Germaniae Historica, Libri Memoriales et Necrologia, Nova Series 2, 1983) fol. 6v; vgl. hierzu Gerd Althoff, Adels- und Königsfamilien im Spiegel ihrer Memorialüberlieferung. Studien zum Totengedenken der Billunger und Ottonen (Münstersche Mittelalter-Schriften 47, 1984) S. 157 f. und 165.
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Abb. 12: London, British Library Cot. Tib. A ii, fol. 24r.
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Abb. 13: London, British Library Cot. Tib. A ii, fol. 24r (Ausschnitt).
Möglicherweise aus diesem Grund verzeichnete man den Tod des englischen Königs, des Schwiegervaters Ottos I. Da zudem der Todestag eines Aelfnoth angelus und damit wohl einer „Person aus dem Beziehungsfeld der Königin Edith“ 47 verzeichnet wurde, könnte man in der Halbschwester Aethelstans die Urheberin der Einträge vermuten. In jedem Fall belegt die korrekte Angabe des Todesdatums des englischen Königs, dass auch weiterhin Kontakte zwischen den Königshäusern bestanden, obwohl es kurz vor dem Tod Aethelstans zu einem militärischen Konflikt gekommen war, in welchem der englische König auf der Seite der Gegner der Ottonen gestanden hatte. Die von Aethelstan maßgeblich begründete Verbindung wurde zwischen 942 und 946 nochmals aktualisiert, wie ein Eintrag im Verbrüderungsbuch von Pfäfers belegt (Abb. 16 und Abb. 17).48 Zu Beginn einer Reihe von insgesamt 31 Namen stehen Aethelstan, der englische König Edmund, Eadgifu und der Erzbischof von Canterbury Oda. Mit dem Eintrag wurde ein bewusster Bezug zur Initiative Aethelstans 929 hergestellt: Wahrscheinlich besuchte die Gesandtschaft noch weitere Klöster im Reich.49 Nur so ist zu erklären, dass das fern aller von Angelsachsen benutzten Routen liegende Kloster Pfäfers um den Einschluss dieser Personen in das Gebetsgedenken ersucht wurde. Die Struktur der Aufzeichnung erinnert an den Reichenauer Eintrag, denn es werden der König und der Erzbischof genannt. Der bewusste Verweis auf die Gesandtschaftsreise Aethelstans 47 Althoff, Adels- und Königsfamilien (wie Anm. 46) S. 165; der Eintrag ist ediert in Die Totenbücher von Merseburg, Magdeburg und Lüneburg (wie Anm. 46) fol. 6v. 48 Vgl. Liber Viventium Fabariensis. Stiftsarchiv Sankt Gallen Fonds Pfäfers Codex 1. Faksimile-Edition, hg. von Albert Bruckner / Hans Rudolf Sennhauser / Franz Perret (1973) fol. 33. Eva-Maria Butz hat eine umfassende Studie zu diesem Eintrag angekündigt, in welcher sie auch erstmals überzeugend die 27 weiteren Namen deutet. 49 Der Name König Aethelstans könnte nachgetragen sein: Möglicherweise wurde also die Verbindung zu Aethelstans Bitte um Gebetshilfe im Jahr 929 durch eine Ergänzung bei der Eintragung im Jahr 942/946 oder kurz danach hergestellt.
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Abb. 14: Das Nekrolog von Merseburg, fol. 6v.
Abb. 15: Das Nekrolog von Merseburg, fol. 6v (Ausschnitt).
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Abb. 16: Liber Viventium Fabariensis, pag. 33.
Abb. 17 Liber Viventium Fabariensis, pag. 33 (Ausschnitt).
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wird außerdem nicht nur über die Erwähnung der zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Eadgifu verdeutlicht, sondern auch über die Nennung des inzwischen verstorbenen Aethelstan zu Beginn des Eintrags. Doch der Eintrag im Verbrüderungsbuch von Pfäfers bildete den letzten dokumentierten Versuch, an die neu geschaffene Verbindung anzuknüpfen. Bereits eine Generation später musste Mathilde von Essen einen Brief nach England schicken, man möge die Geschichte ihrer Vorfahren für sie aufzeichnen; der Chronist Aethelweard erkundigte sich im Gegenbrief, mit wem die Schwester Königin Ediths verheiratet gewesen war. Die Verzeichnung der Namen englischer Könige in Gedenkbüchern im Reich hatte nur kurzzeitig der Instabilität der Beziehungen entgegengewirkt. Der immense Aufwand der Könige, Beziehungen zwischen den frühmittelalter lichen Regna herzustellen, dies sei als Ergebnis am Ende festgehalten, diente in erster Linie dazu, die Position des Herrschers gegenüber den Großen im eigenen Reich zu stärken. Beziehungen zu weiter entfernten Königen, aber auch zu geist lichen Institutionen in anderen Herrschaftsräumen dienten nicht nur zur Sicherung des eigenen Heils, sie konnten überdies für Interessen zu Hause nutzbar gemacht werden, wie das Handeln Aethelwulfs, Knuts des Großen und Aethelstans zeigte. Diese Verbindungen besaßen einen argumentativen Mehrwert: Mit ihnen ließen sich Vorrang und Weite der eigenen Macht demonstrieren. Die Schenkungen an geistliche Institutionen und die Bitte um Gebetshilfe waren dabei nur eine Form aus dem großen Reservoir an Möglichkeiten, Beziehungen zu fundieren, zu stabilisieren und zu fixieren. Gleichwohl zeigt der Blick auf die Intensität der Kontakte zwischen denjenigen Regna, die keine gemeinsame Grenze aufwiesen, dass zwar die Aufnahme in das Gebetsgedenken auf die Ewigkeit ausgerichtet war, die Beziehungen im Diesseits meist jedoch nur von kurzer Dauer waren.
Romanische und bairische Personennamen im Salzburger Verbrüderungsbuch von Wolfgang Haubrichs Die Bedeutung der Verbrüderungsbücher für die frühe deutsche Sprachgeschichte ist unumstritten groß, auch wenn konkrete, wirklich quellenorientierte linguistische Auswertungen der darin enthaltenen Namenmassen noch nicht sehr häufig sind.1 Darum soll es freilich hier, in einem der historischen Auswertung der Libri Memoriales gewidmeten Kontext, nicht gehen. Hier geht es um den Versuch einer Etablierung historischer Perspektiven der Namenlisten – auf der Grundlage freilich sprachwissenschaftlich-onomastischer Analysen.2 Diese Perspektiven sollen in drei Hauptsträngen entwickelt werden:
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Gerade für die Namen des Salzburger Verbrüderungsbuchs gibt es die frühe, freilich einseitig auf die althochdeutschen Personennamen beschränkte Studie von Josef Schatz, Die Sprache der Namen des ältesten Salzburger Verbrüderungsbuches, Zeitschrift für deutsches Altertum 43 (1899) S. 1 – 45. Vgl. weiter (in Auswahl) Wolfgang Haubrichs, Die Weißenburger Mönchslisten der Karolingerzeit, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 118, Neue Folge 79 (1970) S. 1 – 42; Dieter Geuenich, Prümer Personennamen in Überlieferungen von St. Gallen, Reichenau, Remiremont und Prüm (Beiträge zur Namenforschung, Beiheft Neue Folge 7, 1971); Ders., Die Personennamen der Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter (Münstersche Mittelalter-Schriften 5, 1976); Norbert Wagner, Abzuklärende Personennamen aus den Verbrüderungsbüchern von St. Gallen, der Reichenau, Pfäfers und Salzburg, Beiträge zur Namenforschung, Neue Folge 46 (2011) S. 381 – 449. 2 Dieser Ansatz gehört in den Rahmen der aus Historikern und Philologen zusammengesetzten Arbeitsgruppe ‚Nomen et gens‘. Vgl. Dieter Geuenich / Wolfgang Haubrichs / Jörg Jarnut, Sprachliche, soziale und politische Aspekte der Personennamen des 3. bis 8. Jahrhunderts. Vorstellung des interdisziplinären Projekts ‚Nomen et gens‘, Onoma. Journal of the International Council of Onomastic Sciences 34 (1998/99) S. 91 – 99; Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen, hg. von Dieter Geuenich / Wolfgang Haubrichs / Jörg Jarnut (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16, 1997); Person und Name. Methodische Probleme bei der Erstellung eines Personennamenbuches des Frühmittelalters, hg. von Dieter Geuenich / Wolfgang Haubrichs / Jörg Jarnut (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 32, 2002); Hans-Werner Goetz /
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1. Personennamen als Indizien romanischer Kontinuität und Integration, also ein sozial- und ethnohistorisches Sujet; 2. Personennamen als Indizien zunehmender Integration in die bairische gens; 3. Althochdeutsche Personennamen und ihre sprachliche Behandlung in der ältesten Schicht (Schreiber H1) des Salzburger ‚Liber Vitae‘, wobei auch kleine Seitenblicke auf die Frage der Herkunft des Schreibers und die Einheitlichkeit der Gestaltung dieser Namenschicht gegeben werden sollen.
1. Romani et Latini: Personennamen als Indizien romanischer Kontinuität und Integration Bei den Namen des achten Jahrhunderts ist, auch wenn wir ihre romanische oder germanische Sprachform analysieren können, keine direkte ethnische Interpretation, auch nicht eine unmittelbar sprachindizierende Interpretation möglich. Nicht jeder Träger eines romanischen oder nichtgermanischen Personennamens war Römer, Romane oder Latinus oder sprach Romanisch. Dies gilt für die Verhältnisse in der Galloromania, in der Trier-Metzer Romania (Moselromania),3 in der Raetoromania des Walgaus (vallis Drusiana) im oberen Rheintal 4 und Wolfgang Haubrichs, Personennamen in Sprache und Gesellschaft. Zur sprach- und geschichtswissenschaftlichen Auswertung frühmittelalterlicher Namenzeugnisse auf der Grundlage einer Datenbank, Beiträge zur Namenforschung, Neue Folge 40 (2005) S. 1 – 48, 121 – 215; Namen des Frühmittelalters als sprachliche Zeugnisse und als Geschichtsquellen, hg. von Albrecht Greule / Matthias Springer (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 66, 2009). 3 Vgl. Wolfgang Kleiber / Max Pfister, Aspekte und Probleme der römisch-germanischen Kontinuität. Sprachkontinuität an Mosel, Mittel- und Oberrhein sowie im Schwarzwald (1992); Wolfgang Haubrichs, Galloromanische Kontinuität zwischen unterer Saar und Mosel. Problematik und Chancen einer Auswertung der Namenzeugnisse, in: Italica et Romanica. Festschrift für Max Pfister, Bd. 3, hg. von Günter Holtus / Johannes Kramer / Wolfgang Schweickard (1997) S. 211 – 237; Ders., Romanen an Rhein und Mosel. Onomastische Reflexionen, in: Deutsche Sprache in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Wiesinger, hg. von Peter Ernst / Franz Patocka (1998) S. 379 – 413; zusammenfassend (mit Bibliographie) Wolfgang Haubrichs, Die verlorene Romanität im deutschen Sprachraum, in: Romanische Sprachgeschichte. Ein internationales Handbuch zur Geschichte der romanischen Sprachen, Bd. 1 (2003) S. 695 – 709, hier S. 697 – 699. 4 Vgl. Wolfgang Haubrichs, Die Personennamen, in: Walgau und das Vorderland im frühen Mittelalter, hg. von Peter Erhart (2009) S. 161 – 165; ferner Haubrichs, Die verlorene Romanität (wie Anm. 3) S. 700 f.
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auch für die Alpenromania und den Salzburger Raum,5 auch wenn der langfristige Trend in den meisten Regionen – mit prozentualen Unterschieden 6 – in Richtung ‚germanischer‘ Personennamengebung ging und somit romanische Personennamen herausgehoben, oft archaisch waren, und damit die statistische Wahrscheinlichkeit, dass romanische Personennamen, romanische Tradition und romanische Sprache zusammenfielen, durchaus hoch war. Sicher verweisen freilich die romanischen Personennamen auf ältere, auch regional differenzierte Namengebungsgewohnheiten. Hier soll es um eine Quelle des im Prozess der Integration und der Dissoziation von Romanen und (in dieser Region) Baiern schon recht fortgeschrittenen 8. Jahrhunderts (a. 784) gehen, die freilich auch noch Nachträge des 9. Jahrhunderts enthält, den ‚Liber confraternitatum Salisburgensis‘ (LCS).7 Also muss man 5 Ingo Reiffenstein, Namen im Sprachaustausch. Romanische Relikte im Salzburger Becken, in: Namenforschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11, 1996) S. 997 – 1006; Peter Wiesinger, Die Ortsnamen in Österreich, ebenda, S. 1081 – 1090; Ders., Die zweite Lautverschiebung im Bairischen anhand der Ortsnamenintegrate. Eine lautchronologische Studie zur Sprach- und Siedlungsgeschichte in Bayern, Österreich und Südtirol, in: Interferenz-Onomastik. Namen in Grenz- und Begegnungsräumen in Geschichte und Gegenwart, hg. von Wolfgang Haubrichs / Heinrich Tiefenbach (2011) S. 163 – 246; Wolfgang Haubrichs, Baiern, Romanen und Andere. Sprachen, Namen, Gruppen südlich der Donau und in den östlichen Alpen während des frühen Mittelalters, Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 69 (2006) S. 395 – 463; ferner Haubrichs, Die verlorene Romanität (wie Anm. 3) S. 702 – 704. 6 Vgl. Wolfgang Haubrichs, Hybridität und Integration. Vom Siegeszug und Untergang des germanischen Personennamensystems in der Romania, in: Zur Bedeutung der Namenkunde für die Romanistik. Romanistisches Kolloquium XXII , hg. von Wolfgang Dahmen u. a. (2008) S. 87 – 140, hier S. 114 – 124. 7 Liber confraternitatum [Salisburgensis] vetustior, hg. von Sigismund Herzberg-Fränkel (Monumenta Germaniae Historica. Necrologia Germaniae 2, 1904) S. 4 – 44 und dazu Praefatio S. V-VIII; Ders., Über das älteste Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg, Neues Archiv 212 (1887) S. 53 – 107; Karl Friedrich Hermann, Confraternitas Sanpetrensis. Die Geschichte der Gebetsverbrüderung in St. Peter zu Salzburg, Studien und Mitteilungen des Benediktinerordens und seiner Zweige 79 (1968) S. 26 – 53; Karl Forstner, Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Handschrift A1 aus dem Archiv von St. Peter in Salzburg, mit Einführung (Codices selecti phototypice impressi 51, 1974); Rosamund McKitterick, Geschichte und Gedächtnis im frühmittelalterlichen Bayern: Virgil, Arn und der Liber Vitae von St. Peter zu Salzburg, in: Erzbischof Arn von Salzburg, hg. von Meta Niederkorn-Bruck / Anton Scharer (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 40, 2004) S. 68 – 80; Maximilian Diesenberger, Das Salzburger Verbrüderungsbuch, in:
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für die Namen in linguistischer Feinanalyse auf Spuren lebendiger sprachlicher Romanität oder schon vollzogener beziehungsweise sich vollziehender sprach licher Integration ins Altbairische achten.8 Es geht nicht darum, romanische Personennamen (und entsprechend Namen ‚germanischer‘ Prägung) nur auszuzählen, wie es so oft geschieht, sondern es kommt darauf an, sie zu wägen, sie sprachwissenschaftlich zu wägen mit onomastischer und sprachhistorischer Feinwaage.9
Bücher des Lebens – Lebendige Bücher, hg. von Peter Erhart / Jakob Kuratli Hüeblin (2010) S. 31 – 35. 8 Zu Romanen im Salzburger Verbrüderungsbuch und im Salzburger Land vgl. Friedrich Prinz, Bayern, Salzburg und die Frage der Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter, Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 115 (1975) S. 19 – 50, hier S. 47 ff.; Kurt Reindel, Die Organisation der Salzburger Kirche im Zeitalter des hl. Rupert, Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 115 (1975) S. 83 – 98, hier S. 86 f.; Heinz Dopsch / Herwig Wolfram, Neubeginn oder Kontinuität? Probleme um die Anfänge von St. Peter, in: Sankt Peter in Salzburg – Katalog (1982) S. 20 – 26, hier S. 26; Karl Schmid, Probleme der Erschließung des Salzburger Verbrüderungsbuches, in: Frühes Mönchtum in Salzburg, hg. von Eberhard Zwink (Salzburg Diskussionen 4, 1983) S. 175 – 196, hier S. 185 f. Dort auch die zutreffende Hervorhebung der „unverkennbar große[n] Zahl romanischer Namen im Grundstock des Gedenkbuchs“ (S. 175). 9 Vgl. die Arbeiten zu rheinisch-moselländischen Inschriften von Winfried Schmitz, Zur Akkulturation von Romanen und Germanen im Rheinland. Eine Auswertung des inschriftlichen Materials, Das Altertum 43 (1997) S. 177 – 202; Ders., Spätantike und frühmittelalterliche Grabinschriften als Zeugnisse der Besiedlungs- und Sprachkontinuität in den germanischen und gallischen Provinzen, in: Germania Inferior. Besiedlung, Gesellschaft und Wirtschaft an der Grenze der römisch-germanischen Welt, hg. von Thomas Grünewald / Hans-Joachim Schalles (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 28, 2001) S. 261 – 305; Ders., Quiescit in pace. Die Abkehr des Toten von der Welt der Lebenden. Epigraphische Zeugnisse der Spätantike als Quellen der historischen Familienforschung, in: Kontinuität und Diskontinuität. Germania inferior am Beginn und am Ende der römischen Herrschaft, hg. von Thomas Grünewald / Sandra Seibel (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 35, 2003) S. 374 – 413; Ders., Der neidische Tod und die Hoffnung auf das Paradies. Die frühchristlichen Inschriften als Zeugnisse der Christianisierung des Rhein-Mosel-Raums, in: Neue Forschungen zu den Anfängen des Christentums im Rheinland, hg. von Sebastian Ristow (2004) S. 51 – 70; Wolfgang Haubrichs, Vitalis, Remico, Audulpia. Romanische, germanische und romanisierte Personennamen in frühen Inschriften der Rhein- und Mosellande, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 78 (2014) S. 1 – 37.
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In dieser Analyse spielt eine typologische Gliederung der romanischen Namen keine so große, aber doch fundierende Rolle, so dass es angebracht erscheint, einleitend auf einige Besonderheiten aufmerksam zu machen.10 Die romanischen Personennamen des Donau-Alpen-Raums lassen sich durchaus ähnlich, wie es Nancy Gauthier für die Belgica Prima unternahm, kategorisieren, wobei die Kategorien auch eine historische Dimension haben:11 1. Tr a d i t i o n s n a m e n keltischer, romanischer, indigener Tradition wie Ezius < Aetius, Gaio, Clauza < Claudia, Quartinus, Samudus, Tizan < Titianus, Ucciandus etc., die anders als im Land zwischen Rhein und Maas einen hohen Anteil auch noch im 8./9. Jahrhundert hielten. 2. T h e r i o p h o r e Namen wie Lupus, Lupicinus, Ursus (sehr häufig), Ursulus, Leo, Cervus etc. nehmen auch hier wie überall in der Begegnung mit den germanischen Tiernamen auf -wulfa- ‚Wolf‘ (zum Beispiel Adal-wulf) oder -bero ‚Bär‘ (zum Beispiel Adal-bero) einen großen Raum ein. 3. G e o - oder g l o t t o g e n e Namen wie Maurus, Romanus, Ledi und Latinus, Atticus, Antioch-olus, Coranzan < Corinthi-anus, darunter viele, die auf öst liche Bindungen verweisen. 4. H e i l s n a m e n („noms de bon augure“) wie Felix ‘der Heilvolle’, Florus ‚der Blühende’, und abgeleitet Flor-inus, Severus ‘der Strenge’ und Severiana, Stabilis ‚der Beständige’, aber auch Eufemia ‚bona fama’, Eugenia ‚bonum genus’ und Kurzname Genia, Eufraxia ‚laetitia’ usw. sind zahlreich und steigen seit der Spätantike an, darunter viele graecolateinische Namen.12 5. T h e o p h o r e und c h r i s t l i c h e Namen wie Deusdedit ‚Gott gab [ihn]‘, Amadeo ‚Liebe Gott‘, Dominicus ‚der zum Herrn Gehörige‘ mit Kurzname Minigo, Paschasius ‚der Österliche‘, Donatus ‚der Geschenkte‘ neben Tello aus Donat-ellus etc.
10 Vgl. bereits Haubrichs, Baiern, Romanen (wie Anm. 5) S. 417 f. mit Katalog S. 451 – 464. Dort ist auf S. 451 Anm. 1 der Verweis auf die obigen Anmerkungen in „Anm. 56 – 71“ zu ändern. 11 Nancy Gauthier, Recueil des inscriptions chrétiennes de la Gaule antérieures à la renaissance carolingienne, Bd. 1 : Première Belgique (1975) S. 82 ff. Vgl. Haubrichs, Romanen (wie Anm. 3) S. 385 ff. 12 Vgl. Haubrichs, Baiern, Romanen (wie Anm. 5) S. 422 f.; Ders., Testamentum Remigii. Die Personennamen der servi, coloni und parentes im Testament des Bischofs Remigius von Reims (ca. 511/533), in: Historia Archaeologica. Festschrift für Heiko Steuer (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 70, 2009) S. 285 – 323, Nr. 2, 4, 5, 6, 91 (überwiegend Oberschichtnamen).
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6. H e i l i g e n n a m e n wie Ambrosius, August-inus, Antonius und Kurzname Ninus < Anton-inus, Benedicta, Stephanus etc., oft nur schwer von den Traditionsnamen oder Heilsnamen zu trennen, werden zunehmend zahlreicher. 7. B i b l i s c h e Namen wie Aron, Abraham, Daniel, David und Tevid, Iacobus mit Kurznamen Jago, Jakko, Salomon, Samuel usw., die gerade im bairischen Raum – anders als etwa in der Galloromania – eine starke Stellung besaßen. Woher auch immer sie stammen, diese vorgermanischen Namen im bairischen und vor allem Salzburger Raum dürfen mit Recht „romanisch“ genannt werden, weil sie allen lateinischen Wandel, im Sinne des „latin parlé“ romanische Lautentwicklung und Formenwandel, mitgemacht und vollzogen haben. Das sieht man durchaus auch den Namen des ‚Liber confraternitatum Salisburgensis‘ (LCS) an. Wenige Beispiele seien herausgegriffen: A. Die Romania (und die theodisken Nachfolgedialekte) kennt eine große Anzahl von Kurznamen, die gemäß romanischen Akzentverhältnissen aus lateinischen beziehungsweise latinisierten Personennamen (mit Akzenten auf Antepaenultima beziehungsweise Paenultima) entwickelt wurden: –– Tunna < Antúnia 13 –– Cilia < Cecília –– Cissimo < Dulcíssimo –– Lilia < Eu-lília, -lália, oder aus dem symbolisch aufgeladenen Blumennamen der Lilie, –– Vencio < Evéntio –– Cello < Marcéllo –– Mínigo < Domínico –– Cisso < Narcísso –– Cencio < Vincéntio bzw. Crescéntio Das gilt auch für romanisierte biblische Namen: –– Pep(p)o bzw. Sepi < Ioseb, Iusip < Ioséph(o)
13 Vgl. Haubrichs, Baiern, Romanen (wie Anm. 5) S. 418. Diese sowohl in Oberitalien wie im bairischen Raum verbreiteten Namen des Typs Tonio/Toni < Antónius, Resi < Therésia, Zenzi < Crescéntia usw. folgen dem gleichen Muster.
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B. Ein weiteres Zeugnis für aktuelle lebendige romanische Sprache treffen wir in Hybridbildungen des bairischen Alpenraumes (Alpenromania). Auch hier wieder einige Beispiele:14 –– germ. Stamm *Ad- (Kurzform < *adal- ‚Adel, edel‘) + rom. Suffix -ulus, -olus führt im LCS zu dreimal Ad-olus, einem germano-romanischen Hybridnamen. –– lat. Stamm Digno- zu lat. dignus ‚würdig, ehrenvoll‘ + germ. Stamm *wāra‚schützen, wahren‘ führt zu Digno-war ‚Wahrer der Würde‘,15 zweimal in Salzburg (LCS) und einmal im nahen Konvent von Mondsee (8. Jahrhundert), nach dem Muster der bithematischen, aus zwei Elementen gebildeten germ. Personennamen (Adal-wulf-). Solche Hybridbildungen sind nur in bilingualem Milieu möglich, wir finden sie auch in der Gallo- und Italoromania mit Urso-bert < lat. ursus und germ. *berhta‚glänzend, berühmt‘ beziehungsweise mit Flavi-ulf- < lat. Kaiser-Gentilicium Flavius und germ. *wulfa- ‚Wolf ‘. Freilich lassen sich in der Alpenromania nur wenige Hybridnamen nachweisen. C. D i r e k t e E n t l e h n u n g e n : In der lateinischen Namengebung war die Vergabe von Verwandtschaftsbezeichnungen nicht üblich. Wir treffen sie jedoch in der bairischen Onomastik, etwa bei Fater, einem Abt des Klosters Kremsmünster (2. Hälfte des 8. Jahrhunderts), dem a. 822 Pater in Freising (Wolfratshausen) entspricht. Hierher gehört wohl auch neunmal Anulus ‚der kleine Alte, Großvater‘ zwischen Freising, Metten und Niederaltaich, was germ. Att-ila ‚Väterchen‘ ungefähr entspricht. Auf der bairischen Seite kann man umgekehrt die Adoption einer Eigenheit des lateinischen Namensystems, die Verwendung von Zahlwörtern wie Secundus, Quartus,16 Septimus, Nonus etc. als Personennamen, beobachten – mit Sipunta ‚die Siebte‘ (LCS) und Niunta ‚die Neunte‘.17
14 Vgl. Haubrichs, Baiern, Romanen (wie Anm. 5) S. 418 f. 15 Weniger wahrscheinlich erscheint mir eine romanisierte Variante des germ. Namenelements *-thegan- ‚Krieger, Held‘. 16 Vgl. auch verkürzt (germanisiert?) a. 827 bei Sterzing/Vipiteno ego Quarti nationis Noricorum et Pregnariorum („der Baiern [?] und der Breonen“); ebenso im LCS: Haubrichs, Baiern, Romanen (wie Anm. 5) S. 429, 454 f. 17 Haubrichs, Baiern, Romanen (wie Anm. 5) S. 421. Der Beleg Niunta in: Die Traditionen des Hochstifts Freising , Bd. 1, hg. von Theodor Bitterauf (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte, Neue Folge 4, 1905) Nr. 144 (± a. 791).
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Auch diese Bildungen sind nur als Frucht einer intensiven bilingualen Situation zu denken; gleichzeitig sind sie bairische Eigenheiten und finden sich so nicht in der Galloromania. D. Es erstaunt in dieser Sprachsituation nicht, dass sich an den Namen der Salzburger Alpenromania auch romanischer Lautwandel des 6. und 7. Jahrhunderts manifestiert,18 nämlich die Sonorisierung von [p] > [b], [t] > [d], [k] > [g]: –– Lupus > Lubo –– Senator > Senadur –– Vitalis > Vidale –– Secundina > Sigundina Dabei findet man nur im Salzburger Raum die spätere Weiterentwicklung der Verschlusslaute [p, b] zu spirantischem [v]: –– Iube-anus > Iuvan –– Proba > Prova –– Sab-ulus > Savolus –– Lup-ic-inus > Luvisinus –– Lup-in-arius > Luvinarus Man wird also von einer langandauernden Romanität im Salzburger Raum ausgehen.19 Auch die romanische Palatalisierung von [di], [ti] vor Vokal und von [ki],[ke] > [tsi],[tse], geschrieben oder ähnlich, die man in der zentralen Galloromania ins 6./7. Jahrhundert datiert, die aber in Randgebieten vielleicht später anzusetzen ist,20 ist in der Alpenromania und im Salzburger Raum ebenfalls durchgeführt (vgl. Ortsnamen wie Linz etc.): 18 Haubrichs, Baiern, Romanen (wie Anm. 5) S. 419 – 421. Vgl. zur Datierung Max Pfister, Sonorisierungserscheinungen vor dem Jahre 900, in: Philologie der ältesten Ortsnamenüberlieferung, hg. von Rudolf Schützeichel (1992) S. 311 – 331. 19 Vgl. Ingo Reiffenstein, Vom Sprachgrenzland zum Binnenland. Romanen, Baiern und Slawen im frühmittelalterlichen Salzburg, LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 21, Heft 83 (1991) S. 40 – 64; Haubrichs, Baiern, Romanen (wie Anm. 5) S. 429 – 447; ferner die oben Anm. 5 und 8 angegebene Literatur. 20 Max Pfister, Zur Chronologie von Palatalisierungserscheinungen in der östlichen Galloromania, in: Romania Ingeniosa. Festschrift für Gerold Hilty zum 60. Geburtstag, hg. von Georges Lüdi / Hans Stricker / Jakob Wüest (1987) S. 179 – 190; Wolfgang Haubrichs,
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–– Antioch-olus > Anzogolus –– Claudia > Clauza –– Cervo > Zervo –– Dulc-issimo > Zissimo –– Agroecio > Ag(a)rizzo Nur im Salzburger Land finden wir auch die späte für das Galloromanische typische Weiterentwicklung von [ts] > [s] wie etwa von lat. kentu > *tsento > altfranzösisch cent [in Lautschrift sã]: –– Lupicinus > Lupisinus –– Ursicinus > Ursisinus Auch diese Entwicklung bedeutet, dass man in der Salzburger Romania mit länger andauernder Romanität zu rechnen hat. Auch der romanische Schwund von [n] vor Dental, wie er sich in mensa > mesa, mansus > mas, trans > tras, insula > isola ausprägt, erreicht noch die palatalisierten Namenformen: –– Habentio > Hapizo –– Amantia > Amaza Natürlich wurde von den Romanen der Region auch ‚germanisches‘ Namengut integriert und sprachlich weiterentwickelt. Im LCS finden wir öfter ein nicht unmittelbar germanisch erklärbares Namenelement *Aas-, etwa in Aaso, Aas-perht, Aas-frid, wobei die Doppelschreibung Länge des Vokals anzeigt. Dieses Element finden wir als *As- auch im langobardischen Italien und in der fränkischen Gallia.21 Dagegen scheint ein sonst, vor allem in den genuin theodisken Gebieten, häufiges Namenelement *ans- < *ansu- (ursprünglich ‚Gott, Ase‘ bedeutend,22 später wohl Lautverschiebung in Lothringen. Zur althochdeutschen Integration vorgermanischer Toponyme der historischen Sprachlandschaft zwischen Saar und Mosel, in: Althochdeutsch, hg. v. Rolf Bergmann / Heinrich Tiefenbach / Lothar Voetz (1987), Bd. 2, S. 1350 – 1391, hier S. 1386 f. 21 Vgl. Wolfgang Haubrichs, Langobardic Personal Names: Given Names and Name-Giving among the Langobards, in: The Langobards before the Frankish Conquest. An Ethnographic Perspective, hg. von Giorgio Ausenda / Paolo Delogu / Chris Wickham (2009) S. 195 – 236, hier S. 219. 22 Friedrich Kluge / Elmar Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (25. Auflage 2011) S. 64 f. Durch den nordgermanischen Schwund von [n] in der Lautgruppe
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‚heros, Krieger‘23) in Salzburg zu fehlen. Damit ist die Erklärung naheliegend: Es handelt sich auch beim vorgeblichen Namenelement *Aas- um den Schwund des [n] vor [s], also um eine romanische Entwicklung. Das Element ist in dieser romanisierten Form vom Schreiber H1 des LCS standardisiert worden.
2. Die Bajuwarisierung romanischer Personennamen Umgekehrt wurden auch die romanischen Personennamen von den neuen Siedlern 24 adaptiert und natürlich auch in der Rezeption sprachlich verändert. 1. In Ausnahmefällen – z. B. wie oben besprochen bei den Zahlwort-Namen – geschah das durch Übersetzung. Dies ist nur durch eine bilinguale Situation erklärbar.
[ns] entsteht der Name der nordischen Göttergruppe der ‚Asen‘. 23 In des Jordanes ‚Getica‘ – Iordanis Romana et Getica, hg. von Theodor Mommsen (Monumenta Germaniae Historica. Auctores antiquissimi 5,1, 1882) c. 13, 78 S. 76 – sind die ansis, anses (Nominativ Plural) Heroen, die als semidei galten. 24 Ich teile nicht die Meinung des Archäologen Hubert Fehr, dass die ‚Germanisierung‘ von Ortsnamen und Personennamen, die Implantation neuer germanischer und theodisker toponymischer und anthroponymischer Typen, kurz der Sprachwechsel ohne bedeutsame Neusiedlung und Einwanderung zu erklären ist. Vgl. Hubert Fehr, Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 68, 2010) besonders S. 70 – 92, 681 – 783 und öfter (weitgehend wissenschaftsgeschicht liche Argumentation ohne näheren philologischen Sachbezug); Ders., Am Anfang war das Volk? Die Entstehung der bajuwarischen Identität als archäologisches und interdisziplinäres Problem, in: Archäologie der Identität, hg. von Walter Pohl / Mathias Mehofer (Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 406, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 17, 2010) S. 211 – 231; Ders., Friedhöfe der frühen Merowingerzeit in Baiern – Belege für die Einwanderung der Baiovaren und anderer germanischer Gruppen?, in: Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, hg. von Hubert Fehr / Irmtraut Heitmeier (2012) S. 311 – 336, besonders S. 314 ff., 319 ff., 331 f. Vgl. dazu bereits Arno Rettner, Zur Aussagekraft archäologischer Quellen am Übergang von der Antike zum Frühmittelalter in Raetien, ebenda, S. 273 – 309. Zu den philologischen Implikationen ist an anderem Ort Stellung zu nehmen. Vgl. einstweilen den Sammelband: Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, hg. von Dieter Hägermann / Wolfgang Haubrichs / Jörg Jarnut (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 41, 2004).
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2. Noch eindrucksvoller wird das allmähliche Wachsen einer bilingualen Mischkultur belegt durch die Entwicklung germanisch-bairischer Formen für genuin romanische Personennamen (die dann selbstverständlich auch keine lateinischromanischen Kasusendungen mehr aufweisen). Einige Beispiele:25 –– Ióhan < Iohánnes –– Antres < Andréas –– Tamuzan < Domitiánus 26 –– Tonazan > Donatiánus –– Meíol < Maiólus (mit ahd. [ai] > [ei]) –– Matarn < Matérnus –– Sivir < Sevérus, -irus (mit ahd. Assimilation des Stammsilben-e an [i] der Folgesilbe) –– Rumol < Rumólus mit spätlat. Hebung von [o] im Hauptton vor Nasal 27 und vulgärlat. Senkung [u] > [o] < Romulus Tizan < Titiánus –– –– Wital < Vitális etc.28 Diese Kürzungen sind eine Folge der allmählichen germanischen Akzentkonzentrationen auf der ersten Silbe, also Ióhan, Tízan, Sívir, Wítal usw. 3. Diese ‚eingedeutschten‘ romanischen Personennamen zeigen konsequenterweise auch die oberdeutsch-bairischen Lautentwicklungen des 7./8. Jahrhunderts, zum Beispiel die Medienverschiebungen, durch die alte stimmhafte Konsonanten zu stimmlosen Konsonanten werden, also [b] > [p], [g] > [k], [d] > [t]:29 –– Andreas > Antres –– Candulo > Cantulo –– Daniel > Tenil 25 Vgl. auch Norbert Wagner, Zu romanischen Personennamen in althochdeutschem Umfeld, Beiträge zur Namenforschung, Neue Folge 23 (1988) S. 131 – 157; Ders., Ungeklärte seltene althochdeutsche Personennamen, Beiträge zur Namenforschung, Neue Folge 28 (1993) S. 243 – 267; Ders., Abzuklärende Personennamen (wie Anm. 1) S. 413 – 419, 430, 443 – 445; ferner Haubrichs, Baiern, Romanen (wie Anm. 5) S. 414, 421. 26 Vermutlich stand in der Vorlage dieser kopial überlieferten Freisinger, auf Dachau bei München bezüglichen Urkunde Tumuzan, wobei das erste als cc-a verlesen wurde. 27 Vgl. solche Fälle wie monachus > *municu > ahd. munich, monasterium > *munisteriu > ahd. munistri, nonna > nunna, ahd. nunna und so weiter. 28 Zu weiteren Beispielen vgl. Haubrichs, Baiern, Romanen (wie Anm. 5) S. 421. 29 Vgl. u. S. 422f. mit Anm. 41, 44, 45.
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–– David > Tevid –– Beronicianus > Peronzan –– Bonifatius > Ponafezzo –– Gaius, -o > Kaio 4. Teilweise in denselben Namen findet sich dann auch der althochdeutsche Umlaut [a] > [e] vor [i, j], allerdings bezeichnenderweise erst in den jüngeren Schichten des LCS:30 –– Antiolo > Enzolo –– Bonifácio > -fezzo –– Daniel > Tenil –– David > Tevid –– Ladino > Ledi –– Spaniolus > Spenneol
3. Räumliche und quantitative Dimensionen der romanischen Personennamen Romanische Personennamen kommen im bairischen Sprachraum überall vor [vgl. Karte 1], aber doch mit einer (selbst wenn man die Quellengunst bedenkt) außerordentlichen Konzentration in der civitas Iuvavensium (Salzburg) und im anschließenden oberösterreichischen Seengebiet.31 In diesen Regionen, vor allem an den Grenzen zu fast ausschließlich mit theodisk-bairischen Ortsnamen bestückten Landschaften finden sich auch Toponyme, welche die Präsenz von Romanen indizieren,32 zum Beispiel Vicus Romaniscus ‚romanisches Dorf‘ bei Salzburg, mit althochdeutscher Doppelform (die sich durchsetzte) Wals, 8. Jahrhundert Walchwis < *Walah wihs ‚Romanisches Dorf‘; dazu die zahlreichen Siedlungsnamen, die auf die absolut gebrauchte, letzten Endes ethnische Gruppenbezeichnung Walchen < (bî den) Walahôn (Dativ Plural) ‚bei den Romanen‘ zurückgehen, wie etwa Traunwalchen, Seewalchen, Litzelwalchen etc.33 Schließlich kommen formal bairische Siedlungsnamen hinzu, die aber im Bestimmungswort einen 30 31 32 33
Vgl. unten S. 433f. mit Anm. 55 f. Vgl. Haubrichs, Baiern, Romanen (wie Anm. 5) S. 423. Vgl. oben Anm. 5, 8, 19. Zu diesen Namen samt Seen- und Gaunamen, welche die ethnonyme Bezeichnung Walchen enthalten, vgl. Haubrichs, Baiern, Romanen (wie Anm. 5) S. 434 – 438; Christa Jochum-Godglück, Walchensiedlungsnamen und ihre historische Aussagekraft, in: Die
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Karte 1
romanischen Personennamen enthalten, zum Beispiel Eugendorf bei Salzburg, vor 735 Iubindorf, ± 790 Iupin- < *Iubinin-dorf zum Personennamen Iubian(us), der auch im LCS belegt ist, oder Liefering (Stadt Salzburg) < *Libor-ingun zum Personennamen Liborius.34 In diesem Raum, dominiert von der Stadt Salzburg, der civitas Iuvavensium, finden sich circa 350 von insgesamt 570 romanischen Personennamen im bairischen Sprachraum südlich der Donau und östlich des Lechs. Auffallend ist die Vielfalt dieser Namenwelt, die Präsenz auch seltener, traditioneller spätantik-christlicher
Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, hg. von Hubert Fehr / Irmtraut Heitmeier (2012) S. 197 – 218. 34 Vgl. Haubrichs, Baiern, Romanen (wie Anm. 5) S. 453.
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und vor allem auch graecolateinischer Namen:35 etwa Anthesimus, Eparchius, Euphraxia, Sergia. Bei den Heilsnamen und christlichen Namen wären unter vielen anderen zu nennen: Samba-ti-olus (zu sam-baton ‚Sabbat‘), Sperata ‚die Erhoffte‘, Pascasius (zu pasca ‚Ostern‘), Stabilis ‚der Beständige‘ und so weiter. Jenseits der Einträge des LCS kann man aus Urkunden den chronologischen Eindruck gewinnen, dass die Namengebung im Laufe des weiteren achten Jahrhunderts zugunsten der theodisken Namen zu kippen beginnt. Ein letzter Punkt zu den nichtgermanischen Personennamen: Auffallend ist im Bereich der Raetia Secunda und des Ufernorikums die gegenüber anderen Namenlandschaften starke Verbreitung biblischer Personennamen, auch seltener Namen wie Eliuth, Israel, Ismahel.36 Viele der Träger biblischer Personennamen sind Kleriker. Aber es gibt doch auch eine hohe Anzahl von Laien: Als Beispiel sei herausgegriffen der comes Iob in Freisinger Urkunden.37 So kann man aus der Namengebung keineswegs auf die spätere Bestimmung des Benannten zum geistlichen Stande schließen. Laien bzw. Grundherren ist sicherlich auch die Entstehung von theodisk-bairischen Toponymen mit biblischen Personennamen zu verdanken:38 –– Amering, Gde. Gumattenkirchen (Mühldorf am Inn), a. 1251 Avramingen [t]: Uualto (9, 22) OMV < Waldo Aot-mar (10, 35) OMV < AudUuic-pot (11, 2) OMV < -bod(o) Hilti-munt (11, 21) OMV < Hildi-mundCota-diu (35, 12) OSAV < GōdaTruht-hari (42, 31) OMD < Druht(i)Uuald-frid (58, 6) OPD < Wald(a)Theoto (62, 21) ODD < Theodo Taato abb[as] (64, 25) OCE < Dādo Cotani abb[atissa] (70, 3) OSAD < God(a)Aata (71, 3) OSAD < Ada At-ina (71, 14) OSAD < Ad-ina Tut-ilo (73, 1) OCVD < Dud-ilo Taga-perht (73, 31) OCVD < DagaAuto (74, 8) OCVD < Audo Raato (75, 26) OCVD < Rado Tóto (77, 25) OCVD < Dodo Sunt-hari (77, 33) OCVD < Sund- ‘Süden’ Tiso (78, 3) OCVD < Diso Póto (79, 19) OCVD < Bodo
40 Die folgenden Listen von Namen enthalten jeweils für den betreffenden Sektor repräsentativ ausgewählte Beispiele aus der Grundschicht des Salzburger Verbrüderungsbuches (LCS), also aus den vom Schreiber H1 niedergeschriebenen Namen. Grundlage ist die Edition von Herzberg-Fränkel, verglichen mit der von Forstner besorgten FaksimileAusgabe (siehe oben Anm. 7). Die Einträge des LCS sind nach ordines organisiert, die zur besseren sozialen Verortung den einzelnen Namen beigegeben wurden. Die Siglen dafür lauten: OMV = Ordo monachorum vivorum; OPV = Ordo pulsantium vivorum; ODV = Ordo ducum vivorum; OAV = Ordo abbatum vivorum; OSAV = Ordo sanctimonialium vivarum et religiosarum feminarum; OVV = Ordo virorum vivorum relegiosorum; OMD = Ordo monachorum defunctorum; OPD = Ordo pulsantium defunctorum; ODD = Ordo ducum defunctorum; OCE = Ordo communis episcoporum vel abbatum defunctorum; OSAD = Ordo sanctimonialium defunctarum; OCVD = Ordo communis virorum defunctorum; OCFD = Ordo communis feminarum defunctarum.
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21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28.
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Hetin (80, 28) OCVD < Hedin Pato (81, 26) OCVD < Bado Hratan (94, 18) OCFD < Hrad(a)Coto-uuar (94, 32) OCFD < GōdaIta (95, 9) OCFD < Ida Cotes-thiu ‘Gottes Magd’ (95, 33) OCFD < GodesOta (96, 17) OCFD < Oda Tota (97, 2) OCFD < Doda
Diese Namenliste (eine breite Auswahl) weckt nicht nur den Eindruck einer Einheitlichkeit des Lautstandes und der Orthographie, was nicht selbstverständ lich für das Althochdeutsche 41 und gewiss auf den Schreiber H1 zurückzuführen ist.42 Sie erweist zugleich die systematische Durchführung eines typisch oberdeutschen (das Ostfränkische einbeziehenden) Lautwandels des 7./8. Jahrhunderts, der Medienverschiebung im dentalen Konsonantenbereich.43 Das Gleiche lässt sich im Bereich der Labiale 44 demonstrieren; und zwar wieder sowohl im absoluten und relativen Anlaut (Zweitelement) wie auch im Inlaut (Auswahl): B. Medienverschiebung [b] > [p]: 29. Popo (9, 233) OMV < Bobo 30. Erchan-perht (9, 25) OMV < -berht31. Sigi-pero (10, 3) OMV < -bero 32. Laip-uni (11, 30) OMV < Laib33. Plid-ker (11, 34) OMV < Blid-ger 34. Petto (26, 12) OPV < Betto 35. Uuilli-port (26, 14) OPV < -b(r)ord
41 Vgl. die Übersichten bei Wilhelm Braune / Ingo Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik, Bd. 1: Laut- und Formenlehre (15. Auflage 2004) § 7 – 8, 11 – 23, 171 – 191. 42 Zu diesem Schreiber vgl. ausführlich Forstner, Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg (wie Anm. 7) S. 16 – 23. Danach handelt es sich um einen unter Bischof Virgil von Salzburg († 784) tätigen, am karolingischen Minuskelstil von Saint-Denis geschulten Schreiber, der in gleichartigem Duktus und sorgfältig „den Grundstock des Liber vitae … in einem Zuge und in kurzer Zeit“ im Jahre 784 niederschrieb. Zu seinem orthographischen System vgl. stets Schatz, Die Sprache (wie Anm. 1). 43 Vgl. Braune / Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik (wie Anm. 41) § 83 – 90, 162 – 164; Schatz, Die Sprache (wie Anm. 1) S. 17 – 20. 44 Vgl. Braune / Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik (wie Anm. 41) § 83 – 90, 134 – 136; Schatz, Die Sprache (wie Anm. 1) S. 37 f.
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36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67.
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Ragin-pald (26, 32) OPV < -baldPato (36, 2) OVV < Bado Petto (42, 26; 42, 35; 43, 38; 44, 9) OMD < Betto Suap-rōd (43, 1) OMD < -SwābErchan-pald (43, 12) OMD < -baldPaldo (44, 8) OMD < Baldo Pern (44, 27) OMD < Bern Epar-hard (58, 25) OPD < EbarPili-munt (58, 39) OPD < BīliPili-druth (62, 23) OPD < BīliPili-druth (62, 23) ODD < BīliPuoso (73, 9; 74, 20) OCVD < Bōso Podul-unc (73, 38; 76, 24) OCVD < BodulPopili (76, 21) OCVD < Bob-ili Sip-icho (77, 31) OCVD < *SibjaPagiri ‚Baier‘ (78, 27; 41) OCVD Penno (78, 29) OCVD < Benno Póto (79, 19) OCVD < Boto Rapan-olf (79, 23) OCVD < HrabanPera-deo (81, 22) OCVD < Bera- ‘Bär’ Epor (81, 24) OCVD < Ebur Kepa-roh (82, 7) OCVD < GebaPill-unc (82, 32) OCVD < *BiljaHadu-purc (95, 1) OCFD < -burg Hrod-purc (95, 2) OCFD < -burg Fridu-purc (95, 4) OCFD < -burg Hrat-pirc (95, 24) OCFD < -berg(a)Kaer-pirc (95, 27) OCFD < -berg(a)Drud-pirc (95, 31) OCFD < -berg(a)Papa (96, 21) OCFD < Baba Alp-suind (96, 33, 40) OCFD < Alb(a)Kepa-drud (96, 39) OCFD < Geba-
Besonders interessant gestaltet sich die Graphematik im guttural-velaren Bereich, die wieder nur in – freilich breiter – Auswahl gegeben wird: C. Medienverschiebung [g] > [k]: 68. Hrod-kaer (10, 1) OMV < -gair69. Kaer-hari (10, 5) OMV < Gair70. Kisl-olf (10, 8) OMV < Gisil-
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71. Cotaes-scalc ‘Gottes-Knecht’ (10, 9) OMV < Godes72. Caoz-perht (10, 20) OMV < Gauz73. Perht-caoz (10, 25) OMV < -gauz 74. Coma-leih (11, 13) OMV < Guma-laih75. Cund-hari (11, 25) OMV < Gund76. Aot-kis (11, 35) OMV < -gis 77. Al-choz (26, 19) OPV < goz78. Cuot-olf (27, 7) OPV < Gōd(a)79. Cotes-tiu (34, 3) OSAV < Godes80. Kysl-arios (42, 1) OMD < Gisil81. Chund-hart (43, 4) OMD < Gund82. Ker-ilo (43, 5) OMD < Gair83. Craos (43, 36) OMD < Graus84. Aki-hart (44, 3) OMD < Agi85. Cauui-perht (44, 14) OMD < Gauwja86. Cunzo (58, 8) OPD < Gunzo 87. Ker-man (58, 10 N) OPD < Gair88. Crim-olt (62, 23) ODD < Grim89. Huc-perht (62, 26) ODD < *Hug(u)-berht 90. Cotes-tiu abb[atissa] ‘Gottes-Magd’ (70, 7) OSAD < Godes-thiu 91. Cota-ni abb[atissa] (70, 12) OSAD < God(a)92. Aki-hari (73, 5) OCVD < Agi93. Kysl-olf (74, 2) OCVD < Gisal94. Kisal-frid (75, 9; 75, 14) OCVD < Gisal95. Cauzo (76, 29) OCVD < Gauzo 96. Uuald-kis (76, 32) OCVD < -gis 97. Uuolf-caoz (76, 35) OCVD < -gauz 98. Cund-achar (77,7) OCVD < Gund-wakar 99. Al-chaoz (79, 11) OCVD < -gauz 100. Kagan-hart (79, 32) OCVD < Gagan101. Cundul-perht (80, 19) OCVD < Gundul-berht 102. Camal-perht (81, 7) OCVD < Gamal-berht 103. Kepa-hart (82, 15) OCVD < Geba104. Cra-man (82, 37) OCVD < Grao105. Cot-uuar (94, 7) OCFD < Gōd(a)106. Cund-lind (94, 20) OCFD < Gund107. Cund-raat (94, 22) OCFD < Gund108. Cund-friit (94, 24) OCFD < Gund109. Cota-drud (95, 10) OCFD < Goda-
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110. 111. 112. 113. 114. 115. 116. 117. 118.
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Kail-drud (95, 23) OCFD < Gail(a)Cotes-thiu ‘Gottes Magd’ (95, 33) OCFD < Godes-thiu Chunda (96, 7) OCFD < Gunda Chold-uuaih (96, 16) OCFD < GoldPerht-kart (96, 28) OCFD < Berht-gard(a) Kepa-drud (96, 39) OCFD < GebaKisal-drud (97, 3) OCFD < GisalCund-ni (97, 5) OCFD < GundCauui-pirc (97, 6) OCFD < Gauwja-berg
Die Medienverschiebung ist im gutturalen Bereich nahezu vollständig durchgeführt.45 Wieder sind die Schreibungen bemerkenswert systematisch und zugleich differenziert hinsichtlich der verwendeten Grapheme: Vor den velaren Vokalen [a, o, u, au] steht bzw. die bereits merowingische Graphie (z. B. Nr. 81 Chund-, Nr. 112 Chunda, Nr. 99 -chaoz), ebenso vor Liquiden [r, l] (zum Beispiel Nr. 83 Craos, Nr. 88 Crimolt), wobei die Graphie sonst vorwiegend für die Verschlusslautsicherung vor palatalen Vokalen wie [e, i] eingesetzt wurde, vor allem in den westlichen romanisch-theodisken Interferenzgebieten, wo [ge, gi] in der Gefahr standen, nach romanischer Lautentwicklung frikativ ausgesprochen zu werden. Für diese palatale Lautumgebung hat LCS – mit zwei Ausnahmen (Nr. 100 Kagan-, Nr. 114 -kart) – das Graphem reserviert, und zwar vor [e] (zum Beispiel Nr. 82 Ker-ilo, Nr. 103 Kepa-), vor [i] (zum Beispiel Nr. 70 Kisl-, Nr. 76 -kis) und vor dem Diphthong [ai], geschrieben auch (zum Beispiel Nr. 69 Kaer, Nr. 110 Kail-). Die Vermeidung der Schreibung vor palatalen Vokalen ist eindeutig: es sollte die romanische Aussprache von als [tse, tsi], den Ergebnissen der romanischen Palatalisierung, ausgeschlossen werden. Dies aber zeigt, dass die Verteilung der Graphien im Bereich der Gutturale im LCS nur auf dem Hintergrund einer
45 Vgl. Braune / Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik (wie Anm. 41) § 83 – 90, 147 – 149; Schatz, Die Sprache (wie Anm. 1) S. 29 – 36. Die Runeninschrift von Stetten (Stadt Mühlheim, Landkreis Tuttlingen, Baden-Württemberg) aus einem Frauengrab von ca. 680/90 scheint den Namen AMELKUND < *Amal-gund- zu enthalten, mit Medienverschiebung [g] > [k]. Sie wäre der erste Beleg für die Medienverschiebung im nordalpinen Bereich. Vgl. Robert Nedoma, Personennamen in südgermanischen Runeninschriften (2004) S. 182 – 184, der freilich die ‚Runizität‘ der Inschrift skeptisch betrachtet.
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Interferenzsituation, das heißt also einer bairisch-romanischen Bilingualität im Entstehungsraum, zu verstehen ist.46 Es sind allerdings einige Fälle von anscheinend, wenn wir nach der Schreibung gehen, nicht zu [k] verschobenen [g] zu konstatieren, darunter mehrfach das stammerweiterte, eher ins Westfränkische weisende Element Gundal-, -ul-:47 D. Unverschobenes [g]: 119. Gundul-perht (10, 10) OMV 120. Gunzi (10, 29) OMV 121. Aon-goz (11, 17) OMV 122. Madal-gaoz (42, 29) OMD 123. Gundul-mar (43, 3) OMD (neben Chund-hart) 124. Gundal-mar (58, 13) OPD (neben Cund-perht) 125. Gundal-perht (73, 18) OCVD 126. Amal-gaer (74, 1) OCVD 127. Helm-gis (74, 23) OCVD 128. Muni-gis (74, 28) OCVD 129. Sundar-gaer (79, 10) OCVD 130. Gund-uin (79, 13) OCVD 131. Hilti-gaer (80, 23) OCVD 132. Grim-perht (83, 2) OCVD 133. Ali-gund (96, 35) OCFD Hier könnten Alttradition beziehungsweise auch Fremdvorlagen mitgewirkt haben. Problematisch im Hinblick auf Interferenzen mit romanischen 46 Schatz, Die Sprache (wie Anm. 1) S. 29, 32 hat diese Verteilung zwar festgestellt, und zwar im Anschluss an eine Untersuchung von Friedrich Kauffmann, Über althochdeutsche Orthographie, Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Alterthumskunde 37, Neue Reihe 25 (1892) S. 243 – 264, hier S. 243 f., dass nämlich diese „verteilung der k- und cSchreibung rein orthographischer natur ist und nicht aus den deutschen lautverhältnissen erklärt werden kann und darf“. Aber da er – in germanistischer Selbstgenügsamkeit – nirgendwo romanische Lautverhältnisse heranzieht, konnte er die in den graphischen Gewohnheiten waltende Rücksichtnahme auf bilinguale Verhältnisse nicht wahrnehmen. 47 Vgl. zu den vorwiegend westfränkischen, teilweise aber auch langobardischen Stammerweiterungen Wolfgang Haubrichs, Stammerweiterung bei Personennamen: ein regionalspezifisches Merkmal westfränkischer Anthroponymie, in: Nomen et gens (wie Anm. 2) S. 190 – 210; Ders., Viri illustres. Romanizzazione e tratti conservativi nei nomi della nobiltà longobarda del VII secolo, in: I nomi nel tempo e nello spazio, in: Atti del XXII Congresso Internazionale di Scienze Onomastiche Pisa 2005, Bd. 4 (2010) S. 513 – 540; Ders., Langobardic Personal Names (wie Anm. 21) S. 208, 221 f.
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Aussprachegewohnheiten ist nur die ganz kleine Gruppe, in der vor palatalen Vokalen steht: zum Beispiel Nr. 126/129/131 -gaer, Nr. 127/128 -gis, freilich alles Fälle, in denen nicht der absolute, sondern der relative Anlaut (im Nebenton) betroffen ist. Bedeutend komplexer stellen sich die Schreibungen von H1 im Bereich der germanischen Diphthonge [au] und [ai] im LCS dar: Normalalthochdeutsch wurde germ. [au] vor Dental und vor [h] zum Monophthongen [ō], in allen anderen Fällen zu [ou] gehoben, dies alles im Laufe des achten Jahrhunderts:48 E. germ. [au] > ahd. [ō, ou], verschriftet und : 134. Aostar-perht (10, 13) OMV < Austar135. Caoz-perht (10, 20) OMV < Gauz136. Perht-caoz (10, 25) OMV < -gauz 137. Aot-mar (10, 35) OMV < Aud(a)138. Aon-goz (11, 17) OMV < -gauz 139. Al-choz (26, 19) OPV < -gauz140. Adal-hoh (36, 2) OVV < *-hauh(a)141. Audo (42, 28) OMD 142. Aot-caoz (43, 19) OMD < -gauz 143. Adal-hoh (43, 29) OMD < *-hauh(a)144. Craos (43, 36) OMD < Graus145. Madal-hoh (44, 12) OMD < *-hauh(a)146. Regin-hoh (58, 19) OPD < *-hauh(a)147. Auto (74, 8) OCVD < Audo 148. Rod-hóh (75, 40) OCVD < *-hauh(a)149. Aost-ilo (76, 4) OCVD < Aust-ilo 150. Maur-uch (76, 17) OCVD < Maur-uco 151. Cauzo (76, 29) OCVD 152. Hrod-hooh (77, 28) OCVD < *-hauh(a)153. Madal-gaoz (79, 41) OCVD < -gauz 154. Caoz-frid (80, 3) OCVD < Gauz155. Aot-munt (80, 30) OCVD < Aud156. Aostar-gaoz (82, 41) OCVD < *Austar-gauz ‘Ostgote’ 157. Caoz-hilt (94, 11) OCFD < Gauz158. Caoz-ni (94, 15; 95, 19) OCFD < Gauz-
48 Braune / Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik (wie Anm. 41) § 45 – 46; Schatz, Die Sprache (wie Anm. 1) S. 3 f.
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159. Caoz-flát (94, 17) OCFD < Gauz160. Aostar-hilt (97, 14) OCFD < AustarDie Schreibung ist uneinheitlich, allerdings lassen sich im Hinblick auf einzelne Namenelemente doch Tendenzen feststellen. So wird bei den Monophthongierungsfällen im Element germ. *hauha- > *hōh stets geschrieben (Nr. 140, 143, 145, 146, 148, 152), bei *gauz- > gōz- nur gelegentlich (Nr. 138, 139). Die archaische Schreibung findet sich nur beim romanischen Lehnelement Maur(Nr. 150) und gelegentlich bei Aud- (Nr. 141, 147) und Gauz- (Nr. 151). Ansonsten überwiegt die Schreibung , die eine bairische Besonderheit ist und nach einer Senkung (mit [u] > [o]) des alten Diphthongs [au] aussieht. Da sie aber auch in Fällen, in denen Monophthongierung eintritt, verwendet wird (zum Beispiel Nr. 134, 156, 160 Aostar-, Nr. 149 Aost-, Nr. 155 Aot-, Nr. 144 Craos und zahlreich Caoz-) handelt es sich auch hier um eine der Schreibung gleichwertige archaische Schreibung, die wohl einen Übergang zum Monophthong markiert.49 Ähnlich komplex ist die Lage beim Diphthong germ. [ai], der im Normalalthochdeutschen vor [r], [w] und germ. [h] zu [ē] monophthongiert wurde, sonst aber analog zum Geschehen beim velaren Diphthong zu [ei] gehoben wurde, alles dies wieder – im Süden – im Laufe des 8. Jahrhunderts:50 F. germ. [ai] > ahd. [ē, ei] in Graphien , , , : 161. Haimo (9, 2) OMV 162. Wald-ker (9, 11) OMV < -gair 163. Hrod-kaer (10, 1) OMV < -gair 164. Wolf-kaer (10, 2) OMV < -gair 165. Kaer-hari (10, 5) OMV < Gair166. Aigil (10,7) OMV 167. Aedi-ram (11, 11) OMV < Aidi168. Coma-leih (11, 13) OMV < -laih 169. Plid-ker (11, 34) OMV < -gair 170. Hrod-ker (26, 28) OPV < -gair 171. Teot-laih (26, 31) OPV 49 Vgl. hierzu auch Ludwig Wüllner, Das Hrabanische Glossar und die ältesten bairischen Sprachdenkmäler (1882) S. 13; Schatz, Die Sprache (wie Anm. 1) S. 14 – 16; Braune / Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik (wie Anm. 41) § 45 Anm. 2 [mit weiterer Literatur]. 50 Braune / Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik (wie Anm. 41) § 43 – 44; Schatz, Die Sprache (wie Anm. 1) S. 3 f. Die Monophthongierung [ai] > [ē] in den benannten Positionen beginnt im fränkischen Bereich stets im 7. Jahrhundert.
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172. Laid-rat (31, 2) OSV 173. Sigi-haid (34, 2) OSAV 174. Aeg-ino (44, 20) OMD < Aig-ino 175. Zeizo (58, 2 N) OPD < Zaizo 176. Plid-ker (58, 12) OPD < -gair 177. Ker-man (58, 10 N) OPD < Gair178. Folc-haid (62, 21) ODD 179. Haim-rammus ep[iscopus] (63, 1) OCE 180. K[a]er-lind abb[atissa] (70, 2) OSAD < Gair181. Madal-haid (81, 5) OSAD 182. Teot-laip (71, 13) OSAD 183. Hugi-laih (76, 1) OCVD 184. Tut-laih (75, 7) OCVD 185. K[a]er-perht (78, 10) OCVD < Gair186. Liut-k[a]er (78, 4) OCVD < -gair 187. Aer-hart (80, 22) OCVD < *Aira- ‚Ehre‘ 188. Mimi-stain (81, 16) OCVD 189. Helm-gaer (81, 17) OCVD < -gair 190. Kaer-pald (82, 16) OCVD < Gair191. Haid-kaer (82, 23) OCVD < gair192. Kaer-laip (94, 26) OCFD < Gair193. Kaila (95, 12) OCFD < Gaila 194. Kail-drud (95, 23) OCFD 195. Ansta-hait ‚Gnaden-Gestalt‘ (95, 28) OCFD < *-haidu 196. Aeg-ina (96, 12) OCFD < Aig-ina 197. Kaer-ni (96, 14) OCFD < Gair198. Perht-haid (96, 18) OCFD < *-haidu 199. Kail-drud (96, 27) OCFD < Gail(a)200. Aer-hilt (96, 36) OCFD < *Aira- ,Ehre’ Die Schreibung für den Monophthong findet sich nur, aber auch da nicht ausschließlich, für das Element westgerm. *gaira- > -ger, -ker (zum Beispiel Nr. 162, 169, 170, 176, 177). Die analoge archaische Schreibung begegnet durchaus noch häufiger bei Haimo, Aigil, Teot-laih, Laid-rad, Sigi-haid, Folchaid, Haim-rammus, Madal-haid, Teot-laip, Hugi-laih, Tut-laih, Mimi-stain, Haid-kaer, Kaer-laip, Kaila, zweimal Kail-drud, Ansta-hait, Perht-haid. Das Graphem steht vor [r] (etwa in Nr. 163, 164, 165, 180, 186, 189, 190, 191, 192, 197 Kaer-), aber auch vor [d] (Nr. 177 Aedi- < *Aid-) und [g] (Nr. 174, 196 Aegino
[i]) gehobenen, assimilierten Diphthong ist erwartungsgemäß selten: Nr. 168 -leih < germ. *laika, Nr. 175 Zeizo zu germ. *-taita-, ahd. zeizo ‚lieb‘, wobei letzterer Name Zusatz von H1 ist (58, 2). Auch hier ist der Lautwandel noch im Fluss; die Schreibungen bleiben konservativ, wie sich auch an den noch seltenen Monophthong-Schreibungen zeigt. Das lässt sich auch an der Behandlung des germ. Diphthongs [ō] ablesen, der normalalthochdeutsch zu fränkisch [uo], alemannisch und südrheinfränkisch [ua] diphthongiert wurde:52 G. germ. [ō] > [uo, ua]: 201. Hrod-perht (9, 26) OMV 202. Hrod-kaer (10, 1) OMV 203. Hor(s)-sco ‚Pferdeschuh, Hufeisen‘ (26, 34) OPV 204. Tooto (26, 38) OPV 205. Oto (27, 3) OPV 206. Cota-diu (35, 2) OSAV < Gōda- ‚gut‘ 207. Ruod-hart (11, 37) OMV (letzter Eintrag) < *Hrōd208. Cuot-olf (27, 7) OMV < Gōd(a)- ‘gut’ 209. Flobri-gis ep. (41, 6) OED < Flōbar- ‘Gnade’ 210. Hrod-hari (43, 1) OMD 211. Odal-scalch (44, 22) OMD 212. Cuot-frid (44, 5) OPD < Gōd(a)- ,gut’ 213. Otilo (62, 27) ODD < Odilo
51 Die Schreibung mit übergeschriebenem kleinem glaubte Schatz, Die Sprache (wie Anm. 1) S. 10, als Doppelschreibung, Nachtragung des a zum e (ae), beurteilen zu sollen. Forstner, Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 7) S. 16 hat jedoch zeigen können, dass von neun Namen mit Überschreibung nur ein einziger – K[a]errod (82, 26) – von H1 stammt. In allen anderen Fällen sind die Überschreibungen Nachträge: [a]Erhardus ep[iscopus] (63, 4), K[a]erlind (Nr. 180), Selpk[a]er (73, 30), K[a]erolf (74, 9), UUolfk[a]er (74, 36), Uualdk[a]er (75, 19), Liutk[a]er (Nr. 186), Harig[a]er (78, 13). Sie sind also eigentlich im Sinne von H1 bereits -Schreibungen und bezeugen, dass die Monophthongierung in der Lautung bereits durchgeführt war; gleichzeitig können die Korrekturschreibungen aber als Versuche gewertet werden, die oberdeutsche Normschreibung, die auch in den bairischen Glossaren des 8. Jahrhunderts und auch in den St. Galler Urkunden bis 775 vorherrscht, also , zu restituieren. 52 Braune / Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik (wie Anm. 41) § 38 – 40; Schatz, Die Sprache (wie Anm. 1) S. 4 f.
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214. Rod-rud abb[atissa] (70, 8) OSAD < Hrōd-(d)rud215. Rod-perht (73, 8) OCVD 216. Puoso (73, 9) OCVD < Bōso 217. Rod-kaoz (75, 42) OCVD 218. Rod-hoh (75, 40) OCVD 219. Rod-pald (76, 16) OCVD 220. Alch-mod ‘Hirsch-Mut’ (77, 11) OCVD 221. Od-rih (77, 18) OCVD 222. Hrodio (77, 36) OCVD 223. Oto (78, 18) OCVD 224. Otilo (78, 19(OCVD 225. Hrod-unc (80, 34) OCVD 226. Hrod-lind (94, 2; 28) OCFD 227. Hrod-drud (94, 6) OCFD 228. Hruod-suind (94, 34) OCFD < Hrōd229. Hruod-flát (94, 35) OCFD < Hrōd230. Clís-mot (95, 7) OCFD < -mōd(a) 231. Cota-ni (95, 11; 96, 17) OCFD 232. Odal-ni (95, 16) OCFD 233. Ota (96, 17) OCFD < Oda Der LCS bewahrt hier in der großen Mehrheit der Fälle das germ. [ō] in der Schreibung bzw. .53 Nur einige, oft am Ende von Einträgen stehende Personennamen haben fränkisches : Ruod-hart, Cuot-olf, Cuot-frid, Puoso, Hruod-suind, Hruod-flat. Sie bezeugen damit die grundsätzlich schon erfolgte Diphthongierung. Konservativ zeigt sich der Schreiber H1 des LCS auch in der Bewahrung von germ. [h] vor Konsonant, obwohl dieses sonst im späten 8. Jahrhundert schwindet:54 H. [h] vor Konsonant erhalten oder nicht (und Hyperkorrekturen): 234. Hrod-perht (9, 26) OMV 235. Hrod-kaer (10, 1) OMV 236. Hrod-ker (26, 28) OPV 237. Hrinc-crim abb. (30, 25) OAV
53 Doppelschreibung bei Langvokal kommt auch sonst öfter bei H1 vor: Vgl. Nr. 9, 11, 16, 107, 108, 152, 204, 244, 347, 348, 349. 54 Braune / Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik (wie Anm. 41) § 150, 153; Schatz, Die Sprache (wie Anm. 1) S. 36 f. (mit allzu kurzer Behandlung des Komplexes).
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238. Caoz-hrih abb. (30, 29) OAV < -rīh ,mächtig’ 239. Hrat-hari (44, 21) OMD 240. Hricho (58, 19) OPD < Rīcho 241. Hraitun abb. (70, 10) OSAD < Hraid242. Caoz-hram (74, 30) OCVD < -hraban ,Rabe’ 243. Hragin-helm (74, 38) OCVD < Ragin- ,Rat’ 244. Hrod-hooch (77, 28) OCVD 245. Hrod-unc (80, 34) OCVD 246. Hram-perht (81, 37) OCVD < Hraban- ,Rabe’ 247. Hrod-lind (94, 2; 28) OCFD 248. Hragin-suind (94, 5) OCFD < Ragin- ,Rat’ 249. Hrod-ni (95, 1; 9) OCFD 250. Hrod-purc (95, 2) OCFD 251. Hregin-ni (95, 3) OCFD < Ragin- ,Rat’ 252. Hrat-pirc (95, 24) OCFD < Hrada- ,rasch’ 253. Huuis-ni (95, 35) OCFD < Hwīz- ,weiß’ 254. Hrih-frit (96, 5) OCFD < Rīh- ,mächtig, reich’ * 255. Ruod-hart (11, 37) OMV < Hrōd256. Ring-olf (42, 32) OMD < Hringa- ,Ring, Reif ’ 257. Rod-rud abb[atissa] (70, 8) OSAD 258. Rod-kaoz (75, 42) OCVD 259. Rod-olt (76, 11) OCVD 260. Rodi (78, 5) OCVD 261. Rapan-olf (79, 23) OCVD < Hraban ‘Rabe’ Durchweg bleiben die Schreibungen (häufig im Element Hrod-), (in Huuis-ni) erhalten. Doch einige Namen (Nr. 255 ff.) ohne [h] wie Ruod-hart, Rod-rud, Rod-kaoz, Rodi < *Hrōd-, Rapan-olf < *Hraban- und Ring-olf < *Hringazeigen schon den neuen Lautstand (in dieser Auswahl mit sieben Exemplaren überproportional vertreten), der in der gesprochenen Sprache schon eingetreten ist, wie die Hyperkorrekturen beweisen, in der der Schreiber fehlerhaft ein nur scheinbar etymologisches [h] vor [r] restituiert: 2x Hricho, Hrich-frit zu ahd. rīh ‚mächtig‘, 3x Hragan-, Hragin-, Hregin- zu *Ragin- ‚Rat‘. Ein weiterer konservativer Zug der Grundschicht des LCS wird durch den in der Schreibung zumeist nicht realisierten Umlaut von ahd. [a] > [e] vor [i, j]
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deutlich, der ansonsten in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts im Althochdeutschen zu dominieren beginnt:55 I. Nicht realisierter ahd. Umlaut [a] > [e] vor [i, j]: 262. Uuatil (9, 31) OMV 263. Kaer-hari (10, 5) OMV 264. Kamfio ‚Kämpe‘ (10, 38) OMV 265. Hari-perht (11, 18) OMV 266. Ragin-olf (11, 23) OMV 267. Scon-hari (26, 2) OPV 268. Hari-man (26, 9) OPV 269. As-ilo (26, 15) OPV 270. Ragin-olf (36, 2) OVV 271. Uuan-ilo (36, 2) OVV 272. Pap-ilo (42, 20) OMD 273. Uuantil-perht (42, 24) OMD 274. Aki-hart (44, 3) OMD 275. Uuari-munt (44, 16) OMD 276. Am-ilo (44, 17) OMD 277. Ag-ino (44, 17) OMD 278. Har-il-unc (44, 24) OMD 279. At-ih (58, 14) OPD 280. Agil-perht (58, 16) OPD 281. Arin-drud abb. (70, 1) OSAD 282. At-ina (71, 14) OSAD 283. Ragin-hari (73, 33) OCVD 284. Nand-ilo (74, 22) OCVD 285. Azzi (75, 13) OCVD 286. Angil-frid (75, 15) OCVD 287. Magin-helm (75, 16) OCVD 288. Agis-hari (75, 18) OCVD 289. Ragin-hari /75, 25) OCVD 290. Halid-uni (76, 6) OCVD 291. Cund-hari /76, 39) OCVD 292. Am-icho (77, 8) OCVD 293. Ambr-icho (77, 20) OCVD
55 Braune / Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik (wie Anm. 41) § 25 – 27, 51; Schatz, Die Sprache (wie Anm. 1) S. 2 – 3.
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294. Agi-rīh (77, 40) OCVD 295. Hari-gaer (78, 13) OCVD 296. Uuolf-dragil (78, 28) OCVD 297. Magin-rát (78, 36) OCVD 298. Uuan-ito (79, 3) OCVD 299. Kisal-hari (79, 34) OCVD 300. Hari-caoz (80, 13) OCVD 301. Lant-uuari (80, 36; 81, 31) OCVD 302. Hap-izo (81, 6) OCVD 303. Agin-olf (81, 20) OCVD 304. Hamm-inc (82, 4) OCVD 305. Agis-hari (82, 9) OCVD 306. Angil-perht (83, 14) OCVD 307. Uualt-ila (94, 4) OCFD 308. Att-ila (94, 15) OCFD 309. Uallia (94, 26) OCFD 310. Franchin ‚die Fränkin‘ (94, 40) OCFD 311. Uualahin ‚die Welsche‘ (95, 6) OCFD 312. Pald-ila (95, 26) OCFD Diese Konservativität ist besonders auffällig bei frequenten, ansonsten längst mit Umlaut belegten Elementen wie Hari- ‚Heer‘ (zum Beispiel Nr. 263, 265 und öfter), wie Ragin- ‚Rat‘ (zum Beispiel Nr. 266, 270 und öfter), wie Agil-, Agi(s)- ‚Schrecken‘ (zum Beispiel Nr. 274, 277, 280, 288 und öfter) und bei den Kurznamen auf -ilo, -ila.56
56 Adolf Gütter, Zur Chronologie des Primärlauts von /a/ im Altoberdeutschen, vor allem im Altbairischen, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache 125 (2003) S. 1 – 23 (zum LCS S. 11 ff.), erschließt aus bairischen Toponymen den Umlaut bereits für die 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts. Vgl. Braune / Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik (wie Anm. 41) § 27.
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Die Regelung ist systematisch, denn – wie Karl Forstner gezeigt hat 57 – die wenigen Umlautsetzungen (7) scheinen wiederum in der Mehrzahl nicht der Hand H1 anzugehören (Nachträge):58 K. Umlaut germ. [a] > [e] vor [i, j]: 313. Regin-hoh (58, 19N) OPD < Ragin- ,Rat’ 314. R[a]egin-drud abb[atissa] (70, 4) OSAD 315. M[a]egin-hilt abb[atissa] (70, 9) OSAD < Magin- ,Macht’ 316. R[a]egin-frid (71, 15) OSAD < Ragin- ,Rat’ 317. Egi-olf (83, 18) OCVD < Agi- ,Schrecken’ 318. Egin-olf (83, 28) OCVD < Agin- (Erweiterung zu Agi-) 319. Hregin-ni (95, 3) OCFD < Ragin ,Rat‘ In einem letzten Punkt möge eine Erscheinung dokumentiert werden, die den Kreis zwischen Romanen und Baiern der Salzburger Region des frühen Mittelalters schließt: die graphische und sprachliche Romanisierung theodisker Personennamen.59 L. Romanisierung althochdeutscher Personennamen: 320. Uual-ari (9, 21) OMV < -hari 321. Ar-frid (9, 27) OMV < Har(i)322. Hotto (9, 34) OMV < Otto 323. Ain-hart (10, 19) OMV < Agin324. Hreht-uuili (11, 1) OMV < Reht(a)- ,Recht‘ 57 Forstner, Das Verbrüderungsbuch von St. Peter (wie Anm. 7) S. 17: Nach ihm stammen die Überschreibungen des in den drei Nonnennamen Nr. 314, 315, 316 nicht von H1; Nr. 313 ist Nachtrag. Auch die Änderung von Agihilt < Egihilt (97, 9) beziehungsweise Agilfrit < Egilfrit (94, 31; dort fälschlich gelesen Angil-frit) stammen nicht von H1. Elizo (43, 39) hält Schatz, Die Sprache (wie Anm. 1) S. 2, selbst für einen „späteren Zusatz des Schreibers“. Auch Aegino (44, 20) ist für ihn nicht sicher; es kann jedoch auch wie Aegina (96, 12) auf *Aig- zurückgehen; Aedi-ram (11, 11) entsprechend auf *Aidi-. Der Name Tepizo (58, 37) neben Tapizo (76, 38) ist etymologisch problematisch, bezeugt aber gleichwohl den Umlaut. Der Zweifel von Forstner, dass H1 „bewusst die ältere Schreibung angewandt“ habe, ist insgesamt, angesichts der nahezu durchgehenden -Schreibungen, nicht berechtigt. 58 Doch zeigen die Fälle Egihilt, Egilfrit, die andere korrigierten, dann Tepizo (siehe Anm. 57) und die in Randstellungen stehenden Nr. 317, 318 sowie Nr. 319 Hregin-ni, dass H1 den Umlaut kannte. Wie Schatz, Die Sprache (Anm. 1) S. 2 f. richtig formulierte „vermied er es, ihn zu schreiben“. 59 Dieses Phänomen lag 1899 noch völlig außerhalb der ‚germanistischen‘ Perspektive von Schatz, Die Sprache (Anm. 1).
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325. Aon-ilt (34, 1) < -hild326. Kysl-arios (42, 1) < -hari(us) 327. Mail-preth (43, 37) < Magil328. Hragin-perht (44, 1) < Ragin329. Teot-mar (9, 38) OMV < Theod(a)330. Teot-had (10, 33) OMV < Theod(a)331. Teot-laih (26, 31) OPV < Theod(a)332. Trud-hari (44, 13) OMD < Thrud(i)333. Ar-frid (44, 15) OMD < Har(i)334. Teot-olf (58, 41) OPD < Theod(a)335. Ain-uuolf (66, 13) OSDD < Agin336. Teot-rat (70, 11) OSAD < Theod(a)337. Teot-mar (74, 5; 74, 35) OCVD < Theod(a)338. Luth-perht (74, 24) OCVD < Liud/th339. Tut-laih (75, 8) OCVD < Theud(a)340. Esnar-olf (75, 12) OCVD < Snar- mit (rom. Vokalvorschlag) 341. Pagiri ‚Baier‘ (78, 27; 41) OCVD (mit rom. Graphie für -aji-) 342. Ás-perht (79, 29; 78, 9; 79, 5) OCVD < Ans(u)- (mit rom. n-Schwund vor s) 343. Aas-frid (79, 16) OCVD < Ans(u)344. Ain-hart (79, 27) OCVD < Agin345. Aas-pert (81, 8) OCVD < Ans(u)346. Haiio (83, 8) OCVD < Hagio 347. Aas-perht (83, 23) OCVD < Ans(u)348. Aas-hilt (94, 8) OCFD < Ans(u)349. Aas-ni (97, 10) OCFD < Ans(u)Die Romanisierungen lassen sich in einigen klassischen Zügen charakterisieren.60 Das beginnt mit der h-Aphaerese, dem Schwund von [h] vor Vokal, der bereits im frühen Vulgärlatein vollzogen war. Wurden Namen germanischer Herkunft mit [h] von Romanen adaptiert, so sprach man diesen Laut normalerweise nicht, und die Namen konnten auch graphisch das verlieren: Ar-frid (zweimal) < *Hari- ‚Heer‘, Uual-ari, Kysl-arios (mit romanischer Senkung von [u] > [o]) < *-hari, Aon-ilt < *-hild- ‚Kampf‘. Umgekehrt wurde, wenn man darum wusste, 60 Vgl. zu den typischen Romanisierungserscheinungen zum Beispiel Wolfgang Haubrichs / Max Pfister, In Francia fui. Studien zu den romanisch-germanischen Interferenzen und zur Grundsprache der althochdeutschen ‚Pariser (Altdeutschen) Gespräche‘ nebst einer Edition des Textes (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abhandlungen 1989, Nr. 6); Haubrichs, Hybridität (wie Anm. 6) S. 124 – 129.
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dass romanisierte Namen oft ihr germ. [h] verloren hatten, dieses auch fälsch lich, hyperkorrekt restituiert. Solch eine h-Prothese findet sich zum Beispiel bei Hotto < Otto (Nr. 322). Romanischer Lautersatz zeigt sich in der Substitution der bereits merowingischen Graphie
statt altem fränkischen – etwa in mehrfach -perht (Nr. 327, 328, 338, 342, 345, 347) –, wie statt – in Kysil-arios (Nr. 326) – zu applizieren. Sonst typische Oberflächenmerkmale wie Senkung von [i] > [e] im Element -frid, kommen nicht vor, sind vielleicht rückgängig gemacht worden; bei Kysl-arios mit ungewohnter lateinischer Endung ist dem Schreiber die romanische Senkung [u] > [o] entgangen. Auch die romanisierten Namen tragen keine lateinische oder romanische Endung, so wie das durchweg auch für die rein theodisken Namen gilt. Lediglich bei der Graphie statt