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German Pages 448 Year 2022
O J Ä R S AMBAIN1SLETTISCHE
VOLKSMÄRCHEN
VOLKSMÄRCHEN EINE I N T E R N A T I O N A L E
Herausgegeben
REIHE
vom
Zentralinstitut für Geschichte Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde an der Akademie der Wissenschaften der D D R
durch
Julian Krzyzanowsky, Warschau Gyula Ortutay, Budapest Erna Pomeranzewa, Moskau Gisela Burde-Schneidewind, Berlin
milhet-ritndei
von
Wolfgang
Steinilz
Reduktion
Friedmar
Geißler
LETTISCHE VOLKSMÄRCHEN Herausgegeben von OJÄRS AMBAINIS
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1977
Übersetzung von Benita Spielhaus Fachbearbeitung Wilfried Fiedler
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str 3 - 4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer
202
100/178/77
Einband, Schutzumschlag Helga Klein Fotosatz VEB Druckerei „ T h o m a s Müntzer", 582 Bad Langensalza Bestellnummer
753 025 2 (2121/11) Printed in G D R
DDR 9,50 M
LSV 7208
Tiermärchen
i DER BAUER U N D DIE TIERE
Einst lebte ein Bauer. Das war in alten Zeiten, als Menschen und Tiere noch dieselbe Sprache sprachen. Damals hatte der Bär einen ganz, ganz langen Schwanz, und auch der Rücken des Wolfes war noch nicht so steif wie heute, sondern so geschmeidig wie eine Schlange. Der Fuchs, der Arme, hatte damals einen dünnen Schwanz, der am Boden schleifte und deshalb noch nicht buschig war. Und sie lebten alle in Freundschaft miteinander. Da ist einmal der Bauer in den Wald gegangen und hat angefangen, große und kleine Bäume zu fallen. Die kleineren verbrannte er, und die größeren hob er auf, um ein Haus zu bauen. Nachdem er den ganzen Wald abgeholzt hatte und die Rodung fertig war, begann er Rüben zu stecken. Die sind dann auch so prächtig gewachsen, wie du sie dir größer gar nicht vorstellen kannst. Aber was hatte der Bauer für ein Pech! Plötzlich erschien ein großer Bär, der Nacht für Nacht auf dem Rübenfeld herumtrampelte. Nun beschloß der Bauer, Wache zu halten, und er überlegte, wie er das Ungeheuer loswerden könnte. Mit guten Worten w rd das sowieso nicht zu machen sein. Er dachte lange nach, und schließlich fiel ihm etwas ein. Er schleppte einen dicken Klotz an den Rand des Rübenfeldes, hieb in den Klotz einen tiefen Spalt und trieb einen großen Keil hinein. Als der Bär in der Nacht erschien, wunderte er sich: Wer mag nur den Klotz über den Weg gewälzt haben? Er wollte hinüberklettern, aber welch ein Pech, sein Schwanz war in dem Spalt eingeklemmt. Darauf hatte der Bauer nur gewartet. Der Keil war herausgefallen und der Schwanz des Bären steckengeblieben. Der Bär konnte die Schmerzen kaum ertragen und fing entsetzlich zu schreien an. Sofort war der Bauer zur Stelle und verprügelte den Bären fürchterlich. Als sich der Bär mit aller Kraft losriß und fortlief, blieb sein Schwanz im Klotz stecken. Der Bär rannte in den Wald und weinte bitterlich. Da kam 5
der Wolf vorbei und fragte ihn, was ihm fehle. Er erzähke, wie ihn der Bauer zugerichtet hatte, so daß er sich kaum noch bewegen kann. Der Wolf war über die Frechheit des Bauern empört und rief: „Der Teufel soll ihn holen, ich werde ihm zeigen, was ein Wolf vermag!" Am nächsten Tag, als der Wolf frühstücken wollte, begab er sich zu den Schafen des Bauern. Der Bauer war von seinem Nachtwerk müde und schlief beim Viehhüten ein. So griff sich der Wolf ein Schaf und rannte in den Wald. Das Schaf brüllte zwar, und der Bauer wachte auf, aber der Wolf war mit seiner Beute bereits auf und davon. Nun überlegte der Bauer hin und her, wie er sich am Wolf rächen könnte. Er grub im Wald eine ganz tiefe Grube, bedeckte sie mit Reisig und legte ein großes Stück gebratenes Fleisch darauf. Dann versteckte er sich im Wald und wartete. Der Wolf witterte das Fleisch, näherte sich der Grube und stürzte sich auf das Fleisch, aber das Reisig war so dünn, daß es dem Gewicht des Wolfes nicht standhielt. So stürzte der Wolf mit dem Reisig in die Grube. Nun eilte der Bauer herbei und verprügelte den Wolf so entsetzlich, daß er sich noch bis heute an den Bauern erinnert. Nachdem der Bauer den Wolf übel zugerichtet hatte, ging er nach Hause. Der Wolf hockte in der Grube und weinte bitterlich. Da kam der Fuchs vorbei und fragte den Wolf, was mit ihm los sei. Er erzählte, wie er in die Grube gefallen war und ausgerechnet mit dem Schwanz nach unten, so daß sein Rückgrat noch immer ganz steif ist und er sich kaum bewegen kann. Er bat den Fuchs, ihm aus der Grube zu helfen. Das tat der Fuchs auch. Und nun überlegte er sich als der Klügere, wie er dem Bauern eine Lehre erteilen könne, die er nicht vergessen wird. In der nächsten Nacht schlich der Fuchs zum Hühnerstall des Bauern und packte den Hahn. Der Ärmste begann vor Angst so laut zu krähen, daß der Bauer erwachte. Er sah gerade noch, wie der Fuchs den Hahn fortschleppte, nahm die Axt und schlich dem Fuchs hinterher in den Wald. Alle drei — der Bär, der Wolf und der Fuchs — hatten sich bei den „Drei Tannen" getroffen — das waren, weißt du, drei Tannen, zwischen denen sich ein freier Platz befand. Dort begannen sie mit ihrer Beratung. Der Fuchs sagte, daß der Bauer schon zur Genüge gestraft sei, und legte sich aufs Ohr. Zu allem Unglück hatte er seinen Schwanz zwischen zwei Bäume hingelegt. 6
Der Bauer stellte still und leise eine lange Latte hinter die Tannen und band den Schwanz des Fuchses heimlich daran fest. Als das vollbracht war, holte er Reisig und zündete es an. Prasselnd begann das Reisig zu brennen. Nun erschraken die Tiere und nahmen Reißaus. Als auch der Fuchs vor Angst davoneilte, riß von seinem halben Schwanz das Fell ab. Seit jener Zeit trägt er den Schwanz höher, und der Schwanz ist nun auch buschiger als zuvor. Eines Tages beschlossen alle drei Tiere, sich am Bauern zu rächen. Doch dem Bären wurde als erstem davor bange, und er sagte: „Ich gehe nicht mit. Der Bauer wird mir noch den ganzen Schwanz abreißen, und dann kann ich mich nirgends mehr sehen lassen." Auch dem Wolf war nicht ganz geheuer zumute, und er pflichtete dem Bären bei. Anfangs wollte sich der Fuchs noch auf den Weg machen, aber schließlich sagte auch er: „Nun, wenn ihr nicht mitkommt, was soll ich dann allein." So ist der Bauer ungeschoren und am Leben geblieben. 2
DER MANN UND DER BÄR
Einst lebten ein Mann und ein Bär. Beide waren gute Freunde. Alles machten sie gemeinsam. Im Frühling beschlossen sie, Buchweizen zu säen. Der Mann hat Samen — der Bär hat keinen, dafür aber einen Spaten. Nun gut. Sie säen. Und sie vereinbaren, daß dem Mann im Herbst der untere Teil des Buchweizenhalmes gehören wird und dem Bären der obere. Es wird Herbst. Da wird gemäht und gedroschen, aber der Bauer, der Schlauberger, schält sich aus den kleinen Buchweizenspitzen die Körner heraus und gibt dem Bären nur die leeren Hülsen. Zwar merkt der Bär, daß er hintergangen ist, aber er schweigt und wartet aufs nächste Jahr — dann wird er den Bauern anführen. Wieder wird es Frühling, na und diesmal verabreden beide, Weizen zu säen. Der Bär hat keinen Weizen, dafür aber eine Forke. Der Bauer hat Weizen. Sie säen und vereinbaren, daß dem Bären diesmal der untere Teil des Halmes gehören soll und dem Bauern der obere. Es wird Herbst, und es wird gemäht. Der gemähte Weizen 7
wird in die Scheune gefahren und gedroschen. Der Bauer erhält den oberen Teil — die Körner, aber der Bär geht wieder leer aus, er bekommt nur das Stroh. Nichts zu machen, verabredet ist verabredet. Doch nun ist der Bär auf den Bauern wütend geworden und in den Wald gegangen. Seit jener Zeit lebt er allein. 3
W I E D E R MANN DEN B Ä R E N U N D DEN F U C H S
BESIEGTE
Ein Mann ging durch den Wald und hörte plötzlich jemanden schreien. Ihm wurde zwar angst, aber schließlich faßte er dennoch Mut und ging weiter, um zu sehen, was eigentlich los ist. Er entdeckte, daß ein Baum auf einen Bären gestürzt war, so daß der Bär sich weder vorwärts noch rückwärts bewegen konnte und daher aus Leibeskräften um Hilfe schrie. Der Mann fertigte mehrere Keile an und schob sie unter den Baum, bis er sich ein wenig hob und der Bär herauskriechen konnte. Nun war er frei. Aber was glaubst du — der Bär stürzt sich gleich auf den Mann und sagt: „Ich werde dich fressen." „Ich habe dich vor dem Tode bewahrt, und du willst mich fressen?" fragte der Mann verwundert. „Ja, ich kann's nicht ändern. Ich habe Hunger, und deshalb werde ich dich fressen." „Nun, vorher müssen wir aber aufs Gericht gehen. Wir werden abwarten, was das Gericht beschließt", sagte der Mann. Nun gut. Sie begaben sich aufs Gericht. Sie gingen und gingen, bis sie einem alten Hund begegneten, dem der Bär den Vorfall aus seiner Sicht berichtete. Der Mann erzählte dem Hund wiederum alles aus seiner Sicht, und dann warteten sie, was der Hund sagen würde.. Der Hund hatte aufmerksam zugehört und meinte schließlich: „Nun ja, das ist nun einmal der Welt Lohn. Als ich jung war, liebten mich alle und gaben mir sehr gut zu fressen. Ich mußte nachts das Haus vor Dieben bewachen und tagsüber mit den Hirten auf die Weide gehen und ihnen beim Viehhüten helfen. Ich habe meine Pflicht stets gut erfüllt. Aber jetzt, wo ich alt bin, jetzt kümmert sich keiner mehr um mich. Man jagt mich hinaus in den Wald, und niemand gibt mir Brot. Das ist nun mal der Welt Lohn. Der Bär darf dich also zerfleischen."
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Der Bär war hocherfreut und wollte sich gleich auf den Mann stürzen. Doch der Mann war mit dem Urteil des Hundes ganz und gar nicht einverstanden und überzeugte den Bären davon, einen anderen Richter aufzusuchen. Der Bär erklärte sich damit einverstanden, und sie gingen weiter. Sie gingen und gingen, bis sie einem alten Pferd begegneten. Nun trugen sie dem Pferd ihr Anliegen vor. Wiederum erzählte der Bär aus seiner Sicht und der Mann aus der seinen. Das Pferd hörte aufmerksam zu und sagte dann ebenso wie der Hund: „Nun ja, das ist der Welt Lohn. Solange ich jung und kräftig war, mußte ich tagtäglich von früh bis spät schuften. Dem Bauern fehlte es nie an Arbeit für mich. Ich mußte die Äcker pflügen und das geerntete Getreide in die Scheunen fahren. Und wenn es gedroschen war, mußte ich schwere Fuhren zur Mühle und wieder zurückziehen. Im Winter war das Holz aus dem Walde nach Hause zu fahren. Alle Pflichten erfüllte ich aufs beste. Aber jetzt, wo ich alt bin und keine Kraft mehr habe, braucht der Bauer mich nicht mehr und jagt mich in den Wald. Das ist nun einmal der Welt Lohn, Gutes mit Bösem zu vergelten. Der Bär darf dich zerfleischen", entschied das Pferd. „Nun, hast du's vernommen?" frohlockte der Bär und wollte sich sofort auf den Mann stürzen. Der Mann war aber auch mit der Entscheidung des Pferdes nicht einverstanden und forderte den Bären auf, weitere Gerichte aufzusuchen. Nach langem Hin und Her erklärte sich der Bär damit einverstanden, und sie wanderten weiter. Sie gingen und gingen, bis sie einem Fuchs begegneten. Nun erzählten sie ihre Geschichte dem Fuchs und baten ihn, das Urteil zu fallen. Der Fuchs vernahm die Worte des einen und des anderen und flüsterte dann dem Mann ins Ohr: „Hör zu, wenn du mir fünf oder sechs Hühner gibst, werde ich dich retten." Um dem Tod zu entkommen, versprach der Mann dem Fuchs alle seine Hühner. Darauf sagte der Fuchs: „Ich muß mir erst die Stelle anschauen, wo dich der Mann gerettet hat, ehe ich meine Entscheidung treffe. Vielleicht lagst du gar nicht unter einem Baum." „Ja, ja, die Stplle können wir uns ruhig ansehen", sagte der Bär, und alle drei machten sich auf den Weg dorthin. Nun erzählte der Bär, wie der Baum auf ihn gestürzt war und wie 9
er geschrieen und daß ihn schließlich der Mann gerettet hatte. Aber der Fuchs war nicht bereit, den Worten des Bären zu glauben. Daraufhin kroch der Bär unter den Baum und zeigte, wie er gelegen hatte. In diesem Augenblick flüsterte der Fuchs zum Mann: „Zieh doch die Keile heraus, zieh sie heraus!" Der Mann tat, wie ihm geheißen, und wieder quetschte der Baum den Bären ein. „ S o kannst du liegenbleiben", sagte der Fuchs und ging mit dem Mann nach Hause, um die versprochenen Hühner zu holen. Der Fuchs wartete an der Pforte, während der M a n n in die Scheune ging, einen Sack holte und sich dann in den Hühnerstall begab, um die Hühner einzufangen. Seine Frau ahnte etwas und fragte ihn, was er vorhabe. Der Mann erzählte ihr, wie es ihm heute ergangen war und daß er den Fuchs nicht betrügen wollte. „ D u N a r r ! " rief die Frau, „stecke lieber Hunde in den Sack — sie werden sich auf den Fuchs stürzen, und du wirst zu guter Letzt noch das Fell bekommen!" Eigentlich hat meine Frau recht, überlegte der Mann, vielleicht muß man in der Welt tatsächlich Gutes mit Bösem vergelten. S9 steckte er statt der Hühner Hunde in den Sack und trug ihn zum Fuchs. Der Fuchs war vor Freude schon ganz aus dem Häuschen. Das wird eine köstliche Mahlzeit abgeben, dachte er bei sich. Der Mann öffnete den Sack. Der Fuchs kann es kaum erwarten, das erste Huhn zu erblicken. Doch statt dessen stürzen sich aus dem Sack Hunde auf den Fuchs. Der Ärmste ahnt, daß ihm ein schlimmes Ende bevorsteht, und nimmt Reißaus. Die Hunde jagen ihm hinterher, aber es gelingt dem Fuchs zu entkommen. Endlich erreicht er seinen Bau und kriecht völlig erschöpft hinein. Nachdem er wieder ein wenig Puste geholt hat, schaut er auf seine Füße und sagt: „Woran dachtet ihr, meine lieben Füßchen, als ich Reißaus nahm?" „ U n s bewegte nur ein Gedanke — möglichst schnell den Hunden zu entkommen und zum Fuchsbau zu gelangen, ehe die Hunde uns erreichen." „ U n d ihr, meine lieben Äuglein, woran dachtet ihr?" „ A c h , wir schauten bald nach links, bald nach rechts, ob uns nicht etwa jemand im Wege steht." 10
„Und woran dachtest du, mein liebes Schwänzchen, als ich Reißaus nahm?." „Ich hatte nur einen Gedanken — an einem Ast hängenzubleiben, damit die Hunde uns erwischen." Nun wurde der Fuchs auf seinen Schwanz ärgerlich. Er stürzte aus dem Bau und rief: „Hier, Hunde, hier habt ihr den Schwanz, hier habt ihr den Schwanz!" Die Hunde befanden sich noch in der Nähe des Fuchsbaus. Sie packten den Fuchs am Schwanz und zogen ihn aus seinem Bau. 4
WIE DER ALTE TROGSCHNITZER ZU BROT KAM
Einst lebte ein altes Männlein, das sein Brot mit Trogmachen verdiente. Aber da geschah es einmal, daß das Männlein keine Arbeit und kein Brot mehr hatte. Zum Glück bat ihn ein benachbarter Bauer, einen Trog zu schnitzen. Als Lohn dafür sollte er Brot bekommen. Nun gut. Das Männlein schnitzte den Trog und brachte ihn dem Bauern. Es war entsetzlich heiß an diesem Tag. Der Trog war schwer, und das Männlein hatte wenig Kraft. Deshalb wollte es sich im Wald unter einer alten Eiche ein wenig ausruhen, und es stülpte den Trog über sich. Nach einer Weile springt ein Hase herbei und denkt, daß das für ihn ein gutes Tischlein ist, und setzt sich drauf. Auch ein Fuchs ist plötzlich da. Er setzt sich auf den Trog neben den Hasen und freut sich über das hübsche Tischlein. Leider ist nur nichts darauf! Es vergeht wieder eine Weile. Nun kommt der Wolf gelaufen. Auch er findet ,das Tischlein hübsch und bedauert nur, daß nichts darauf ist. Schließlich erscheint ein Bär. Er meint ebenfalls: Wahrlich, ein hübsches Tischlein — leider ist nichts darauf. So saßen sie nun alle beieinander und überlegten, ob sich nicht eine Mahlzeit beschaffen ließe. Natürlich! Und jeder ging in eine andere Richtung. Schon nach wenigen Augenblicken kehrten sie zurück. Der Bär brachte einen Bienenstock, der Wolf einen Hammel, der Fuchs einen Gänserich und der Hase einen Kohlkopf. Anschließend begannen sie zu tafeln. Auf einmal bewegte sich das Männlein unter dem Trog. Der Bär fragt: 11
„Wer bewegt denn das Tischlein ?" Macht nichts. Sie essen weiter. Plötzlich bewegt sich das Männlein wieder. Jetzt regt sich der Fuchs auf, aber sie futtern trotzdem weiter. Nun drehte sich das Männlein auf die andere Seite. Der Hase erschrak sehr und nahm Reißaus, und der Bär, der Wolf und der Fuchs folgten ihm in Windeseile. • Nun aber hatte der alte Trogschnitzer Honig, Fleisch und den Kohlkopf. Für den Trog bekam er vom Nachbarn noch ein Brot, und nun hatte er für lange Zeit genug zu essen, denn wieviel braucht schon ein alter Mann? 5
DER WOLF U N D DER PFLÜGER
Das Pferd eines Bauern war beim Pflügen müde geworden. Wütend schrie der Bauer: „Wenn dich doch der Wolf auffressen wollte!" Plötzlich sprang aus dem Gebüsch ein Wolf und sagt: „Nun, gib das Pferd her, ich werde es fressen!" Der Bauer reißt seine Augen weit auf, wundert sich und sagt dann: „Warte, bis ich dieses Stück gepflügt habe." Der Wolf tat, wie ihm geheißen. Als der Bauer zu pflügen aufgehört hatte, kam der Wolf, um das Pferd zu fressen, aber der Bauer sagte: „Du kannst doch das Pferd nicht mit Haut und Haaren fressen. Gehen wir nach Hause, ich werde das Pferd mit heißem Wasser begießen, dann löst sich die Haut, und das Pferd wird besser schmecken." Der Wolf war einverstanden und machte sich mit dem Bauern auf den Weg. Zu Hause rief der Bauer: „Mein liebes Frauchen, bring schnell heißes Wasser herbei!" Die Frau brachte das Wasser. Nun wartete der Wolf darauf, daß der Bauer das Pferd begießt. Aber statt dessen schüttet der Bauer dem Wolf das heiße Wasser in die Augen. In Windeseile verschwindet der Wolf. Am nächsten Morgen ist der Bauer wieder beim Pflügen. Nun kommt der Wolf und sagt: „Jetzt werde ich dich fressen!" Der Bauer sagte: „Gut, aber warte, bis ich auf dem Baumwipfel zu Gott 12
gebetet habe, denn Gott kann nicht so tief bis auf die Erde herabblicken." Der Wolf war einverstanden. Der Bauer stieg auf den Wipfel des Baumes und ließ sich dort nieder. Der Wolf wartet und wartet — umsonst. Schließlich wird er wütend und ruft andere Wölfe zu Hilfe. Die Wölfe vernahmen seinen Ruf und rannten zum Baum. Der erste Wolf stellt sich unter den Baum, die anderen Wölfe klettern auf ihn, und der letzte befand sich schon ganz in der Nähe des Bauern. Voller Angst rief der Bauer: „Mein liebes Frauchen, so bringe doch schnell heißes Wasser herbei!" Der unterste Wolf hatte das heiße Wasser bereits kennengelernt und machte sich auf und davon. Als er die Flucht ergriff, stürzten die anderen Wölfe zu Boden. Viele von ihnen kamen dabei um, und die, die noch am Leben geblieben waren, rannten in den Wald. So war es dem Bauern gelungen, sich vor dem Tod zu retten. 6
WIE DER WOLF DIE STÄRKE DES MENSCHEN MASS
Einst begegneten einander Fuchs und Wolf. Der Wolf sagte, daß der Mensch gar nicht so stark sei. Der Fuchs sagte, daß er doch stark sei. Er werde ihm einen Menschen zeigen, mit dem er kämpfen soll. Dann werde er schon sehen, wer stärker sei. Die beiden stehen am Wegrand und warten. Ein Junge kommt vorbei. Der Wolf fragt, ob das ein Mensch sei. „Nein, das wird erst einmal ein Mensch sein." Nach einer Weile kommt ein Bettler. „Ist das nicht ein Mensch?" „Nein, das ist kein Mensch, das war einmal ein Mensch." Dann kommt der Förster. Er erblickt den Wolf, lädt seine Flinte und wartet. Das ist ein Mensch, er soll nun auf ihn zugehen. Der Wolf tut das und stürzt auf ihn zu. Der Förster schießt einmal — der Wolf denkt nicht an Flucht. Er schießt ein zweites Mal — der Wolf rührt sich nicht von der Stelle. Doch als der Förster zum dritten Mal schießt, macht sich der Wolf auf und davon. Ja, der Mensch ist wohl doch stärker. Er hat einmal gespuckt — nichts ist geschehen, er hat zum zweiten Mal gespuckt — wieder ist nichts geschehen, aber beim dritten Mal 13
konnte er es nicht mehr aushalten und hat die Flucht ergreifen müssen. 7
DIE F Ü C H S I N U N D D E R
KATER
Einst begegnete der Kater der Füchsin und dachte: Die Füchsin hat's dick hinter den Ohren. Man erzählt, daß sie sehr schlau ist und sich in der Welt gut auskennt. Eigentlich müßte ich mich mit ihr bekannt machen und alle möglichen Künste von ihr lernen. So näherte er sich der Füchsin, verneigte sich ganz tief und sagte: „Guten Tag, Frau Füchsin. Wie geht es Ihnen in diesen schweren Zeiten?" Aber die Füchsin war sehr stolz. Sie betrachtete den Kater vom Scheitel bis zu den Pfoten und sagte sich: Eigentlich lohnt es gar nicht, an ihn ein Wort zu verschwenden. Schließlich meinte sie jedoch: „Ach du, Mäusejunker, Topflecker, wie wagst du's überhaupt, in meine Nähe zu kommen und mit mir anzubändeln! Nun, wie klug bist du denn eigentlich, wovon hast du schon Ahnung und was hast du überhaupt gelernt?" „Ich beherrsche nur eine Kunst, Frau Füchsin", antwortete der Kater unterwürfig. „Nun, was ist denn das für eine.Kunst?" „Wenn Hunde mich jagen, verstehe ich, mich vor ihnen auf einen Baum zu retten." „Was ist das schon für eine Kunst", lachte ihn die Füchsin aus. „Ich beherrsche mehr als hundert Künste. Außerdem habe ich noch einen ganzen Sack voller List und Tücken. Aber wie dem auch sei, laß uns ein Stück miteinander gehen; aus Mitleid werde ich dir beibringen, wie man am besten den Hunden entkommen kann." Kaum hatte die Füchsin dies ausgesprochen, waren plötzlich — wer weiß, woher — Hunde und Jäger zur Stelle. Eins, zwei, drei, war der Kater auf dem Baum, versteckte sich im Laub und schrie von dort: „Frau Füchsin, so öffne doch schnell deinen Sack, nimm deine List und Tücken heraus, sonst wird's dir schlecht ergehen!" Kaum hatte der Kater das gesagt, stürzten sich schon die Hunde auf die Füchsin. „Siehst du, wie's scheint, nützen dir deine hundert Künste 14
nicht allzuviel!" rief der Kater. „Besser wäre es, du beherrschtest eine einzige Kunst, zum Beispiel das Klettern auf Bäume, dann könnten dir die Hunde jetzt nichts anhaben." 8
DIE FÜCHSIN UND DER K R U G Arbeiter machten auf der Wiese Heu. Dte Bäuerin hat ihnen in einem Krug etwas zum Trinken gebracht. Sie tranken, aber als sie nach Hause gingen, vergaßen sie den Krug auf der Wiese. N u n blies der Wind in den Krug, und er gab ein grollendes Geräusch von sich. Das vernahm eine Füchsin, die aus dem W a l d an den Wiesenrand gekommen war. Die Füchsin lauschte und lauschte und konnte sich nicht erklären, woher das Grollen kommt. Sie dachte, das sei das Brüllen eines Löwen, erschrak und rannte in den W a l d zurück. D o c h auch im Walde hörte sie noch das Grollen. N u n überkam sie eine große Neugier, und sie begab sich wieder zur Wiese. D o r t erblickte sie den Krug und begriff, daß er an ihrer Angst schuld gewesen war. Dafür wollte sich die Füchsin am Krug rächen. Sie befestigte einen Strick um seinen Hals und brachte ihn zum Fluß, um ihn zu ertränken. Die Füchsin tauchte den Krug ins Wasser. Er füllte sich mit Wasser und wurde so schwer, daß er die Füchsin mit sich ins Wasser z o g . Jetzt begann die Füchsin zu flehen: „ M e i n liebes Krüglein, laß mich los! Es war doch nur ein Spaß. Verstehst du denn gar keinen Spaß?" Der K r u g hörte aber nicht auf die Füchsin und wollte auch gar nicht ihre Späße verstehen. Er z o g die Füchsin immer tiefer ins Wasser. U n d so ist die Füchsin mit dem Krug ertrunken. 9
DIE LIST DES FUCHSES In alten Zeiten hatte der K ö n i g der Tiere alle Tiere zu Gericht geladen. Er hatte T a g und Ort bestimmt, an dem sie sich einzufinden hatten. A m festgelegten T a g waren auch alle Tiere erschienen. Sehr viele waren gekommen: Vögel, Schlangen und andere Tiere. N u r der Fuchs fehlte — er hatte sich nicht vor Gericht eingefunden. Diesmal ersparte sich der K ö n i g der Tiere noch viele Worte. K u r z darauf lud er wieder alle Tiere zum Gericht ein.
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Auch dieses Mal erschienen am bestimmten Tag alle Tiere. Nur der Fuchs fehlte wieder. Aus Furcht vor dem Gericht war er nicht gekommen, denn er hatte sich durch seine Verschlagenheit bei allen Tieren unbeliebt gemacht. Und er wußte, daß er der Strafe nicht entgeht, wenn er vor dem Gericht des Königs erscheint. Deshalb war er gar nicht erst gekommen. Da der listige Fuchs auch zum zweiten Mal nicht erschienen war, berief der Löwe, der König der Tiere, das Gericht der Tiere zum dritten Mal ein. Und auch beim dritten Mal erschienen alle Tiere am festgesetzten Ort. Nur der Fuchs fehlte wieder. Er hatte auch der dritten Aufforderung keine Folge geleistet. Nun wurde der König der Tiere auf den Fuchs sehr böse. Er befahl den anderen Tieren, den Fuchs zu fangen und ihn mit Gewalt vor Gericht zu bringen, wo er wegen seiner Verschlagenheit verurteilt werden sollte. Die Tiere befolgten den Befehl des Königs, und sie begaben sich in den Wald, um den Fuchs festzunehmen. Der Fuchs, der Schlauberger, hatte vom Befehl des Königs erfahren, aber er hatte sich überlegt, wie er seinen Verfolgern entwischen könnte, falls es ihnen gelingen sollte, ihn gefangenzunehmen. Er hatte immer und immer wieder überlegt, bis er eine List ersonnen hatte. Der Fuchs macht sich auf den Weg, verkriecht sich im. Gebüsch und wartet, bis ein Mensch vorbeikommt. Er wartet und wartet, bis er tatsächlich einen Menschen im Pelzmäntelchen erblickt. Jetzt springt der Fuchs aus dem Gebüsch auf den Weg und fangt an, dem Menschen zu erzählen, daß sich in den Sträuchern ein großer Schatz befindet. Er habe ihn im Vorbeigehen gesehen. Der Mensch soll nur geschwind hinlaufen, dann wird er den Schatz bestimmt finden. Und der Mensch glaubte dem Fuchs. Schnell zog er sein Pelzmäntelchen aus, warf es hin und eilte ins Gebüsch. Darauf hatte der Fuchs nur gewartet. Schnell nahm er sich den Pelz und rannte in den Wald. Müde kam der Mensch an der vom Fuchs genannten Stelle an und begann den Schatz zu suchen. Er durchsuchte die ganze Gegend, aber einen Schatz konnte er nicht entdecken. Schließlich kehrte er zurück und schimpfte auf den Fuchs, der ihn nur betrogen hätte. Einen Schatz hatte er nicht gefunden. Doch so recht konnte er's auch wiederum nicht glauben, daß der Fuchs ihn tatsächlich betrogen haben sollte. Vielleicht liegt der Schatz hinter anderen Sträuchern! Am besten wird es sein, wenn der Fuchs selbst ihm zeigt, wo sich der Schatz befindet. 16
So kehrte er zu der Stelle zurück, wo er dem Fuchs begegnet war und sein Pelzmäntelchen hingeworfen hatte. Aber dort erblickte er weder den Fuchs noch seinen Pelzmantel. So ging er sehr verärgert ohne sein Mäntelchen nach Hause. Der Fuchs hatte sich inzwischen im Wald den Pelzmantel angezogen und zugeknöpft. Nun hatte er keine Angst mehr davor, gefangengenommen zu werden. Mutig ging er durch den Wald und hoffte, durch seine List seinen Häschern jederzeit entkommen zu können. Doch einmal begegneten die Tiere dem Fuchs im Wald und ergriffen ihn. Sie schleppten ihn zum Löwen, damit er ihn verurteilt. Als der Fuchs keinen Ausweg mehr sah, •knöpfte er schnell das Pelzmäntelchen auf, schlüpfte aus dem Mantel und eilte davon. So hielten die Häscher lediglich das Pelzmäntelchen in ihren Händen, und der Fuchs war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Vergeblich suchten ihn alle Tiere, sie konnten ihn nicht finden und vor Gericht schleppen, wo ihm das Urteil verkündet worden wäre. So war es dem listigen Fuchs gelungen, seinen Häschern zu entkommen. Und er lebt bis heute, ohne vor Gericht verurteilt worden zu sein.
10 W I E DIE TIERE IHRE S Ü N D E N BEICHTEN G I N G E N
Einst war eine Katze unterwegs, um ihre Sünden zu beichten. Sie begegnete einem Hasen. Der Hase fragt: „ W o h i n des Weges, mein liebes Kätzchen?" Die Katze: „Ich gehe meine Sünden beichten. Ich bin so sündig, daß es mir nicht mehr gelingt, auch nur eine einzige Maus zu fangen." Der Hase: „ N i m m mich mit! Ich bin so sündig, daß ich mich vor jedem Lebewesen fürchten muß." Nun gut. Sie setzen ihren Weg gemeinsam fort und begegnen dem Fuchs. Er fragt: „Meine lieben Nachbarn, wohin des Weges?" „ W i r gehen unsere Sünden beichten", antworten sie. Der Fuchs: „Nehmt mich mit, ich habe arg gesündigt — ich habe dem Bauern eine ganze Fuhre Fische gestohlen." 2
Lettische Volksmärchen
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Nun gut. Sie setzen ihren Weg gemeinsam fort und begegnen dem Wolf. Er fragt: „Wohin des Weges, meine lieben Nachbarn?" „Wir gehen unsere Sünden beichten", antworten sie. Der Wolf: „Nehmt mich mit, ich habe arg gesündigt — ich habe dem Bauern ein Füllen umgebracht." Nun gut. Die Katze führt ihre Gefährten in den Wald zu einer tiefen Grube, wo Kohlen gebrannt werden. Die Katze zeigt ihnen die Grube, über die eine Stange gelegt ist, und sagt: „Hier ist die Stelle, wo man seine Sünden bekennen muß. Wem es gelingt, die Stange zu überqueren, der ist nicht sündig, aber wem es nicht gelingt, der ist sündig." Die Katze macht den Anfang und überquert die Stange, aber der Hase landet schon beim ersten Sprung in der Grube. Auch der Fuchs und der Wolf stürzen hinab. Lachend geht die Katze fort — sie ist die Gute, während der Hase, der Fuchs und der Wolf als die Sündigen in der Grube bleiben. Es vergehen mehrere Tage, und sie verspüren großen Hunger. Was sollen sie tun — sie müssen sich um Nahrung kümmern. So sagt der Fuchs zu seinen Gefährten: „Wollen wir singen, und wer die zarteste Stimme hat, der wird aufgefressen." Es singt der eine, es singt der andere. Der Hase hat die zarteste Stimme — also wird er aufgefressen. Wieder vergehen einige Tage — wieder haben sie Hunger. Der Fuchs sagt zum Wolf: „Wollen wir singen, und wer die rauheste Stimme hat, der wird aufgefressen." Es singt der Fuchs, es singt der Wolf. Der Wolf hat die rauheste Stimme, und so bringt der Fuchs den Wolf um und vertilgt ihn. Während er den Wolf frißt, ist ihm wohl zumute, aber nachdem er ihn aufgefressen hat, beginnt er zu überlegen, wie er aus der Grube kommen soll. Und er fangt an zu schreien, so laut er nur kann. Das hört der Ziegenbock. Er kommt zur Grube und fragt: „Warum brüllst du so?" Der Fuchs: „Ich schreie vor Freude. Wenn du wüßtest, wie schön es hier ist, dann würdest du auch in die Grube springen." Der Ziegenbock denkt: Das kann stimmen, und er springt in die Grube. Nun lacht ihn der Fuchs aus: 18
„Du hast zwar einen langen Bart, aber du bist ein großer Narr. Ich bin bei Dunkelheit in die Grube gefallen, und du springst mit deinem grauen Bart am hellichten Tag hinein. Dennoch, wenn du auf mich hörst, können wir beide uns retten. Stelle dich aufrecht an den Rand der Grube, ich klettere auf deine Hörner, springe hinaus, hole einen Strick und ziehe dich auch heraus." Nun gut. Der Ziegenbock tut, wie ihm geheißen, und der Fuchs springt aus der Grube. Nun müßte er den Strick holen, aber statt dessen lacht er den Ziegenbock nur aus und läßt ihn in der Grube sitzen. n W I E DIE T I E R E A U F D E R F L U C H T IN EINE G R U B E
FALLEN
In der Mistgrube unter der Hühnerlatte hatte sich viel Mist angehäuft, der zu dampfen begann. Ein Huhn nahm eines Nachts so eigenartige Dünste wahr, daß es ihm durch den Sinn schoß: Wenn nur die Erde nicht brennt! Zum Teufel, was soll denn sonst so dampfen ? Vor Angst begann das Huhn zu gakkern. Der Hahn wachte auf: „Was soll's, was soll's? Kannst du denn nicht mal mitten in der Nacht deinen Schnäbel halten?" „Was redest du — siehst du denn nicht, daß die Erde unter unseren Füßen brennt?" „Warte nur, warte! Am Ende hast du wirklich recht — es dampft tatsächlich. Aber, Frau, vielleicht bist du selbst schuld daran?" „Du bist wohl ganz und gar von Sinnen! Du suchst nach dem Schuldigen, während wir fast verbrennen. Machen wir, daß wir fortkommen, ehe unser letztes Stündlein schlägt!" Und die Ärmsten ergriffen die Flucht mit allen ihren Kinderchen. Am Rande des Birkenhains begegneten sie einem Hasen. „Wohin des Weges zu so früher Stunde?" fragte der Hase. „Die Erde brennt, die Erde brennt! Meine Frau ist schuld daran." „Tatsächlich?" „ J a doch, j a ! Meine Frau ist schuld daran." „Mein liebes Brüderchen, wenn dem so ist, dann machen wir, daß wir davonkommen." So flohen sie. Auf der Flucht begegneten sie dem Fuchs. „Wohin des Weges zu so früher Stunde?" 2'
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„Ach, mein liebes Brüderchen, die Erde brennt, die Erde brennt! Meine Frau ist schuld daran!" „Tatsächlich?" fragte der erschrockene Fuchs. „Ja doch, ja! Meine Frau ist schuld daran." „Nun, meine Lieben, dann tut Eile not. Ich fliehe mit euch." Auf ihrer Flucht begegneten sie dem Bären. „Wohin denn so eilig?" „Wir müssen fliehen, wir müssen fliehen, die Erde brennt. Halb ist sie schon verbrannt, und das Huhn ist schuld daran." Aber der Bär, der tapfere Mann, lachte nur: „Ihr seid alle miteinander töricht; zeigt mir doch den Brand, dann werden wir sehen, was los ist." Sie führten ihn zum Stall. Und der Bär hat recht. Von einem Brand ist keine Spur zu sehen, denn der Bauer hat inzwischen die Mistgrube ausgeleert. Der Hahn und das Huhn flogen froh über die Mistgrube, aber die neuen Freunde — der Bär, der Fuchs und der Hase — hatten nicht damit gerechnet, daß die Grube so tief war. Und kaum beginnen sie zu klettern, da fallen sie auch schon in die Grube. Was nun? Nach langem Hin und Her wird ihnen klar, daß sie nicht herauskönnen. Das Schlimmste war jedoch, daß alle drei Hunger hatten. Und sie beschlossen: Der Hase muß sterben, ob er will oder nicht. Sie verurteilten ihn gleich zum Tode und fraßen ihn au r . Und der Fuchs, der Schlauberger, versteckte die Eingeweide des Hasen für seine nächste Mahlzeit heimlich in einer Ecke und ließ sich dann neben dem Bären nieder. Sie schliefen und schliefen. Auf einmal steht der Fuchs auf und frißt weiter. Der Bär staunt: „Was ißt du? Das sind doch Eingeweide! Hör mal, gib mir auch etwas davon! Wo hast du sie hergenommen?" „Was bist du für ein Tor! Ich habe mir den Bauch aufgeschlitzt und mein eigenes Gedärm herausgenommen; mach es so wie ich, dann stirbst du nicht vor Hunger." Und der Bär, der Tor, schlitzt sich selbst seinen Bauch auf; aber er kam nicht mal zum Luftholen — da war er schon krepiert. Schadenfroh lachte der Fuchs über den einfaltigen Bären. Er selbst wird schon irgendwie aus der Grube herausgekommen sein.
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12 WIE DER FUCHS DIE TIERE BETROG
In alten Zeiten hatte einmal der Fuchs einem Bauern großen Schaden zugefügt. Er hatte nämlich viele Hühner aufgefressen, und der Bauer beschloß, den Fuchs zu fangen. Er nahm einen Spaten, ging in den Wald, hob eine tiefe Grube aus und bedeckte sie mit Reisig, so daß sie nicht zu sehen war. Dann hängte er ein Huhn über die Grube und ging nach Hause. Gegen Abend lief der Fuchs in den Wald und erblickte das aufgehängte Huhn. Er näherte sich dem Huhn und sagte zu sich: Der Bauer hat eine Grube gegraben und ein Huhn hingehängt, damit ich in die Grube falle, wenn ich mir das Huhn hole. Aber der Speichel triefte ihm schon aus dem Maul, denn er hatte zwei Tage nichts mehr gegessen. Der Fuchs überlegte, wie er zu dem Huhn kommen konnte, und beschloß schließlich folgendes: Er wird über die Grube springen und beim Sprung das Huhn am Kopf packen. Gedacht, getan. Der Fuchs nimmt einen Anlauf und springt, aber das Huhn war fest angebunden, und der Fuchs, der das Huhn am Kopf gepackt hat, bleibt selbst in der Luft hängen. Nun denkt er nach, wie er auf die andere Seite der Grube gelangen soll. Wenn er das Huhn losläßt, dann könnte er's ohne weiteres schaffen. Aber es tut ihm leid, das Huhn loszulassen, und so entscheidet er sich, dem Huhn den Kopf abzubeißen Und dann auf die andere Seite der Grube zu springen. Doch der Fuchs biß so heftig zu, daß er mit dem Hühnerkopf in der Grube landete. Nun wäre er dem Bauern ausgeliefert gewesen, aber der Bauer hatte zum Glück vergessen, zur Grube zu gehen. Am nächsten Morgen begann der Fuchs in der Grube zu singen. Plötzlich kam ein Hund vorbei. Er fragte den Fuchs: „Warum singst du in der Grube?" . Der Fuchs erwiderte, daß er doch allen Grund zum Singen habe, da Hühner von oben in die Grube fallen. „Und ich esse, wieviel ich will, und wenn ich satt bin, ordne ich an, daß kein Huhn mehr hinunterfallt. Und dann bleiben sie in der Luft hängen, bis ich wieder Appetit habe." Der Hund bat ihn, ob er nicht auch in die Grube springen dürfe. Der Fuchs gestattet es ihm, und froh springt der Hund hinunter. Es vergeht ein Weilchen, und er fragt, ob nicht bald ein Huhn in die Grube falle, aber der Fuchs erwidert, daß er erst ein wenig singen müsse. Und beide beginnen zu singen. 21
Das hört der Wolf. Er läuft zu ihnen und fragt, warum sie in der Grube singen. Der Fuchs antwortete: „Warum sollen wir nicht singen? Bald werden Hühner vom Himmel fallen, und dann können wir essen, soviel wir wollen — siehst du nicht, daß schon ein Huhn in der Luft hängt?" Der Wolf überlegt. Es wäre schon gut, Hühner zu essen, ohne sie erst aufspüren zu müssen. Und er bittet, auch ihn in der Grube aufzunehmen. Der Fuchs gestattet es, und der Wolf springt hinunter. Es vergeht ein Weilchen, und da fragt der Wolf, ob die Hühner bald vom Himmel fallen werden, aber der Fuchs antwortet, daß man erst ein wenig singen müsse. Nun singen alle drei, so daß der ganze Wald erzittert. Der Bär vernimmt den Gesang, läuft herbei und fragt: „Warum singt ihr so laut?" Der Fuchs antwortet: „Warum sollen wir nicht singen — gleich werden Hühner vom Himmel fallen, und wir werden so viel essen können, wie wir wollen." Der Bär denkt nach. Es wäre gut, auf diese Art zu einem Happen zu gelangen. Er bittet, auch ihn in der Grube aufzunehmen. Der Fuchs ist einverstanden, und der Bär springt hinunter. Nach einer Weile fragt der Bär, ob die Hühner bald vom Himmel fallen werden, aber der Fuchs belehrt ihn, daß sie erst singen müssen. Und sie singen und heulen, daß der gartze Wald erzittert. So sangen sie mehrere Tage, aber kein Huhn fiel vom Himmel. Nun begannen die Tiere den Fuchs zu beschimpfen. Aber er erwidert, daß die Hühner nicht vom Himmel fallen, weil sich zu viele in der Grube befinden. Solange er dort allein war, seien die Hühner vom Himmel gefallen. Schließlich wurden sie von ihrem Singen so hungrig, daß sie bereit waren, einander aufzufressen. Nun bewegte den Fuchs nur der eine Wunsch, nicht vom Wolf, vom Bären und vom Hund gefressen zu werden, und er sagte: „Da wir alle Hunger haben und kein Huhn vom Himmel fällt, wollen wir schreien. Wer die gröbste Stimme hat, den werden wir fressen." Alle waren einverstanden. Sie fingen an zu schreien, und die Stimme des Bären war die gröbste. Sie ergriffen den Bären, zerfleischten ihn und fraßen ihn auf. 22
Nachdem der Bär vertilgt war, verbrachten sie mehrere Tage in der Grube, bis sie wieder Hunger hatten. Nun sagte der Fuchs, daß derjenige verspeist werden müsse, der als erster in die Grube gesprungen sei. Das war der Hund, und der Wolf und der Fuchs fraßen den Hund auf, aber der Fuchs, der Schlauberger, versteckte Füße und Eingeweide des Hundes unter seinem Körper. Es verstrichen einige Tage, und wieder quälte sie der Hunger. Der Fuchs fing an, die Füße des Hundes zu vertilgen. Der Wolf sah, daß der Fuchs fraß, und fragte ihn: „Gib auch mir von dem, was du frißt!" Der Fuchs erwiderte aber, daß er seine eigenen Füße fresse, und der Wolf begann vor Hunger auch an seinen Füßen zu nagen. Als der Fuchs die Füße des Hundes aufgefressen hatte, machte er sich an die Eingeweide. Der Wolf forderte: „Gib auch mir davon!" Aber der Fuchs sagte: „Du hast ja selbst Eingeweide." Sogleich schlitzte sich der Wolf den Bauch auf und fing an, seine Eingeweide zu fressen, bis er verreckte. Da fraß der Fuchs den Wolf und begann wieder zu singen. Diesmal kam eine Ziege an der Grube vorbei. Sie vernahm den Gesang des Fuchses und fragte: „Warum singst du hier?" Der Fuchs erwiderte: „Warum soll ich nicht singen? Habe ich's hier doch besser als im Himmel. Ich bin hier frei von allen Erdennöten." Die Ziege fragt: „Nimmst du mich vielleicht bei dir auf?" „Warum nicht", erwidert der Fuchs, und die Ziege springt in die Grube. Nach einer Weile sagt der Fuchs zur Ziege: „Stell dich mal auf die Hinterbeine, ich werde auf deine Hörner klettern und Umschau halten, was es auf der Welt gibt." Die Ziege tat, wie ihr geheißen, und der Fuchs klettert auf die Hörner der Ziege und springt so aus der Grube. Beim Fortgehen sagt er zur Ziege: „Du dumme Ziege, lebe nun glücklich im Paradies — ich war's schon überdrüssig." Klagend blieb die Ziege zurück, aber zum Glück erinnerte sich der Bauer an die Grube und machte sich auf, um nachzuschauen, ob nicht der Fuchs hineingefallen war. Statt dessen fand er dort die Ziege. 23
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WIE DER FUCHS FLIEGEN
LERNTE
Der Fuchs meinte, er beherrsche nun alle Künste, nur durch die Lüfte fliegen könne er noch nicht. So begab er sich zu einem Storch, um auch diese Kunst zu lernen. Der Storch packte den Fuchs am Nacken und hob ihn in die Luft. Dort oben schoß es dem Fuchs durch den Sinn: Genug damit, nun werde ich es schon können, ich möchte losgelassen werden. Der Storch ließ ihn auch los, und der Fuchs fiel brummend auf die Erde, genau auf einen Baumstumpf. Er hatte zwar dem Stubben zugerufen: „Mach, daß du fortkommst, du Heide!" Aber der Baumstumpf rührte sich nicht von der Stelle. Und so ist der Fuchs genau auf ihn gestürzt und mit abstehendem Schwanz liegengeblieben. Seit damals ist es keinem Fuchs mehr in den Sinn gekommen, durch die Lüfte zu fliegen, aber alle Füchse haben bis heute abstehende Schwänze. 14
W I E D E R F U C H S MIT DEM K R E B S UM DIE W E T T E L I E F
Der Großvater hatte ein Stück Land gerodet und Rüben angebaut. Die Rüben wuchsen prächtig. Das sahen der Fuchs und der Krebs, und sie begannen sich zu streiten, wem von beiden das Rübenfeld gehören soll. Sie kamen überein, um die Wette zu laufen. Wer den anderen besiegt, dem wird das Rübenfeld gehören. Nun gut. Sie beschlossen, ihren Wettlauf am Ufer des Flusses zu beginnen. In dem Augenblick, als der Fuchs am Ufer Aufstellung genommen hatte und zu laufen beginnen wollte, krallte sich der Krebs in den Schwanz des Fuchses, ohne daß er es merkte. Der Krebs rief: „Los — gleichzeitig!" Und der Fuchs begann zu rennen, was die Füße nur hergaben. Als der Fuchs das Rübenfeld erreicht hatte, drehte er sich jäh um und hielt nach dem Krebs Ausschau. Durch die plötzliche Drehung des Fuchses war der Krebs weit ins Rübenfeld geflogen. Der Fuchs erblickt den Krebs nicht und denkt, daß er noch weit entfernt vom Ziel sei, und ruft: „Krebs, uh — u h ! " Aber wie verwundert war der Fuchs, als er die Stimme des 24
Krebses nicht hinter sich, sondern weit vorn vernahm! Nun mußte der Fuchs dem Krebs wohl oder übel das Rübenfeld überlassen. 15
DER SCHLITTEN DER FÜCHSIN
Einst wanderte und wanderte die Füchsin durch Wälder und Felder und fand schließlich einen kleinen Bastschuh. Sie wanderte weiter, bis es Abend wurde. Nun kehrt sie in einem Bauernhof ein und bittet um eine Bleibe für die Nacht. Der Bauer gewährt sie ihr. Die Füchsin fragt den Bauern, wo sie ihr Pferdchen unterstellen dürfe. Sie solle es nur vor der Tür stehenlassen. Nein, ihr Pferdchen sei gewohnt, im Hühnerstall zu schlafen. Nun gut, mag sie es in den Hühnerstall bringen, sagt der Bauer. In der Nacht läuft die Füchsin in den Stall, zerfleddert den Bastschuh und bindet die Reste dem Hahn um den Hals. Sie selbst begibt sich darauf zur Ruhe. Am nächsten Morgen geht die Füchsin mit dem Bauern, um nach dem Bastschuh zu schauen. Sie läuft als erste in den Stall, ruft den Bauer, er solle nur sehen — der Hahn habe den Bastschuh aufgefressen. Zur Strafe fordert sie vom Bauern den Hahn. Der Bauer ist damit gar nicht einverstanden, aber was bleibt ihm übrig — er muß ihr den Hahn wohl oder übel geben. Die Füchsin nimmt den Hahn und wandert weiter. Es wird Abend, und sie kehrt wieder in einem Bauernhof ein und bittet um eine Bleibe. Nun gut, mag sie hier übernachten, sagt der Bauer. Aber wo sie ihr Pferdchen unterbringen solle, fragt die Füchsin. Mag es doch hier stehenbleiben. Nein, ihr Pferdchen sei gewohnt, im Stall bei den Schafen zu nächtigen. Nun, dann möge sie es in den Stall bringen. Die Füchsin trägt den Hahn in den Stall und kommt zurück, um im Zimmer zu schlafen. Aber in" der Nacht läuft sie zum Stall, zerfleddert den Hahn, frißt ihn auf und bindet die Gedärme dem Bock um den Hals. Es wird Morgen. Die Füchsin geht mit dem Bauern zum Stall. Sie läuft als erste hinein, ruft den Bauern und sagt, daß der Bock ihr Hähnchen aufgefressen habe. Er solle ihr dafür den Bock geben. Der Bauer ist damit gar nicht einverstanden, aber was bleibt ihm übrig — er muß ihr schon den Bock geben. Die Füchsin nimmt den Bock und wandert weiter. Wieder
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wird es Abend, und sie kehrt in einem Bauernhof ein und bittet um eine Bleibe. Der Bauer nimmt sie bei sich auf. Doch wo solle sie ihr Pferdchen lassen? Nun, möge sie es doch bei den anderen Pferden unterstellen. Nein, ihr Pferdchen sei gewohnt, bei Kühen zu nächtigen. Nun, dann solle sie es bei den Kühen unterbringen. In der Nacht läuft die Füchsin zum Stall, zerfleischt den Bock, frißt ihn, aber mit dem Blut und der Wolle beschmiert sie den Kühen Köpfe und Hörner. Am Morgen steht die Füchsin auf und will sich auf den Weg machen. Sie muß nur noch in den Stall gehen, um ihr Pferdchen zu holen. Der Bauer begleitet sie. Wieder rennt die Füchsin als erste in den Stall, ruft den Bauern, daß er schauen solle, wie seine Kuh ihr Böcklein zerfleischt habe. Dafür solle er ihr nun eine Kuh geben. Der Bauer ist damit gar nicht einverstanden, aber er muß ihr die Kuh dennoch geben. Die Füchsin nimmt die Kuh und wandert weiter. Es wird Abend, wieder kehrt sie in einem Bauernhof ein und bittet um eine Bleibe. Der Bauer nimmt sie auf. Sie fragt ihn, wo sie ihr Pferdchen unterbringen könne. Nun, sie solle es bei den übrigen Pferden unterstellen. Das tut sie auch. In der Nacht läuft die Füchsin zum Stall, zerfleischt die Kuh, frißt sich satt und beschmiert mit den Resten die Mäuler der Pferde. Am Morgen will sie sich auf den Weg machen, aber sie muß doch noch ihr Pferdchen holen. Und sie geht mit dem Bauern zum Stall. Wieder läuft sie als erste hinein, eilt dann aber dem Bauern entgegen — er solle doch kommen und sehen, daß sein Pferd ihre Kuh aufgefressen habe. Der Bauer sieht nach — tatsächlich,, die Mäuler der Pferde sind voller Blut. Nun, die Füchsin fordert jetzt ein Pferd, und dem Bauern bleibt nichts anderes übrig, als es ihr zu geben. Doch die Füchsin bittet ihn auch um einen Schlitten, denn mit dem Pferd allein kann sie nichts anfangen. Und der Bauer gibt ihr auch noch einen Schlitten. Doch nun sagt die Füchsin: „Pferd und Schlitten hast du mir gegeben, nun gib mir noch das Zaumzeug!" Der Bauer will das ganz und gar nicht tun, aber was bleibt ihm anderes übrig! Die Füchsin spannt das Pferd an, setzt sich in den Schlitten und fahrt wie eine gnädige Frau davon. Unterwegs begegnet sie einem Hasen. Der Hase fragt: „Wohin des Weges, Gevatterin Füchsin? Nimm mich mit!" 26
Die Füchsin mag das gar nicht hören. Schließlich erwidert sie, daß der Hase eine Pfote in den Schlitten legen solle. Das tut das Häschen auch, die Füchsin fahrt los, und das Häschen hüpft neben dem Schlitten einher. Als es schon ganz müde und matt ist, sagt- die Füchsin, daß es einsteigen solle. Nun fahren sie zu zweit. Sie fahren und begegnen dem Wolf. Der Wolf fragt: „Wohin des Weges, meine lieben Gevattern? Nehmt mich mit!" Die Füchsin hat dazu gar keine Lust, aber als der Wolf von seinem Betteln nicht abläßt, sagt sie, daß er eine Pfote in den Schlitten legen solle. Das tut der Wolf, und die Füchsin fahrt, während er neben dem Schlitten einherhüpft. Er wird davon ganz müde. Nun bittet er die Füchsin, ihm doch zu gestatten, sich in den Schlitten zu setzen, da er todmüde sei. Die Füchsin erlaubt es ihm. Der Wolf steigt in den Schlitten, und nun fahren sie zu dritt. Sie fahren und fahren und begegnen einem Bären. Der Bär fragt: „Wohin des Weges, meine lieben Gevattern? Nehmt auch mich mit!" Die Füchsin hört das gar nicht gern, aber als der Bär sie so herzlich bittet, sagt sie ihm, daß er eine Tatze in den Schlitten legen solle. Der Bär steigt in den Schlitten. Jetzt fahren sie zu viert: die Füchsin, der Hase, der Wolf und der Bär. Sie fahren und fahren. Plötzlich bricht die Deichsel. Sie beschließen, daß sich einer auf die Suche nach einer Deichsel machen muß. Wer soll das tun? Natürlich der, der als erster mitgenommen wurde. Also macht sich der Hase auf den Weg. Nach einer Weile kommt 6r wieder und bringt einen Knüppel. Die Füchsin ruft schon von weitem, daß der nichts tauge, und sie schickt den Bären los. Der Bär bricht auf und bringt einen alten Riemen mit. Doch der taugt auch nicht als Deichsel. Die Füchsin schimpft mit allen und geht nun selbst auf die Suche nach einer Deichsel, während die andern auf das Pferd achtgeben sollen. Kaum ist die Füchsin verschwunden, da stürzen sich alle auf das Pferd und fressen es auf. Die Füchsin kommt zurück, schimpft und weint und fragt, wer das Pferd aufgefressen habe. Sie fragt den Hasen. Er leugnet. Sie fragt den Wolf. Er beteuert seine Unschuld. Sie fragt den Bären. Er sagt, daß er ganz und gar unschuldig sei. „Gut", sagt die Füchsin. „Wenn niemand geständig ist, dann 27
wollen wir über den Fluß gehen, und wer vom Steg ins Wasser fallt, der ist der Schuldige." Der Hase muß als erster gehn, da er als erster mitgenommen wurde. Er geht und — da rutscht dem Ärmsten auch schon ein Pfötchen ins Wasser. Aha, er habe also ein Stück Fleisch gefressen, sagt die Füchsin. Dann muß der Wolf über den Steg gehen. Er geht, doch er fallt mit beiden Hinterfüßen ins Wasser. Aha, er habe also zwei Stück Fleisch gefressen, sagt die Füchsin. Dann muß der Bär gehen. Er geht, doch seine Füße kommen ins Schlittern, und da fallt er auch schon mit beiden Hinterfüßen und einem Vorderfuß ins Wasser. Aha, er habe also drei Stück gefressen, sagt die Füchsin. Nun wird die Füchsin selbst über den Steg gehn, und dann werden die anderen sich davon überzeugen können, daß sie unschuldig ist. Sie geht, aber mitten auf dem Steg rutschen ihr die Füße weg, und sie fällt ins Wasser. Der Hase, der Wolf und der Bär gehen lachend fort. Die Füchsin ahnt, daß sie nicht aus dem Wasser kann und ertrinken muß. Am Uferrand hat ein kleiner Star sein Nestchen, und er fürchtet, daß die Füchsin seine Jungen holt, und er beginnt ganz kläglich zu schreien. Die Füchsin fragt ihn, warum er denn so schreie. Er sagt ihr den Grund und fleht sie an, seine Jungen zu verschonen. Nun gut, sie wird ihnen nichts zuleide tun, aber er solle dafür soviel Reisig in den Fluß werfen, daß sie sich retten kann. Das tut der kleine Star, und die Füchsin steigt ans Ufer. Nun sagt- sie dem Star, daß es zwar nett sei, daß er sie gerettet habe, aber nun solle er ihr etwas zu essen geben. Wie solle er das nur anstellen, fragt der kleine Star. Er solle nur darauf achten, wenn eine alte Frau mit Broten vorbeikomme. Dann solle er ihr um die Nase kreisen, immerzu um die Nase kreisen. Die Frau werde ihre Last auf die Erde stellen und ihn fangen wollen. Inzwischen werde die Füchsin das Brot holen und sich satt essen. Nun gut, es kommt auch eine alte Frau mit Broten vorbei. Der kleine Star beginnt ihr um die Nase zu kreisen. Zunächst will sie ihn fangen, doch dann stellt sie ihre Last auf die Erde und versucht das Vögelchen zu verjagen. Inzwischen ergreift die Füchsin das Brot, versteckt sich im Gebüsch und frißt sich satt. Nun sagt die Füchsin dem Star, daß er ihr etwas zu trinken geben solle. Wie solle er das nur tun, fragt der kleine Star. 28
Er möge nur die Augen aufmachen. Ein alter Mann mit einem Wasserfaß werde hier vorbeifahren. .Dann solle sich der Star auf den Spund stürzen, sich immerzu auf den Spund stürzen. Der Alte werde auf den Spund schlagen, er werde herausspringen, Wasser wird zu fließen beginnen, und die Füchsin werde sich laben. Gut, es fährt ein alter Mann mit einem Wasserfaß vorbei. Auf einmal stürzt sich das Vögelchen auf den Spund. Der Alte wird wütend, ergreift eine kleine Axt und schleudert damit nach dem Vögelchen. Es fliegt davon, aber die Axt stößt den Spund heraus, und das Wasser beginnt zu fließen. Im Nu ist die Füchsin zur Stelle und labt sich nach Herzenslust. Nun hat die Füchsin gegessen und getrunken, doch jetzt fordert sie vom kleinen Star, daß er sie zum Lachen bringen müsse. Das Vögelchen weiß wirklich nicht, wie es das machen soll. Die Füchsin sagt ihm, daß er zur nächsten Scheune gehen müsse. Dort werde ein Vater mit seinem Sohn Getreide dreschen, und das Vögelchen solle sich dem Vater immerzu auf den Nacken stürzen, immerzu auf den Nacken stürzen. Gut, der kleine Star eilt davon. Er stürzt sich dem Vater auf den Nacken. Zunächst will der Sohn das Vögelchen mit den Händen fangen. Vergeblich — es fliegt fort. Schließlich wird er wütend und schleudert ihm einen Knüppel nach, und nun schüttet sich die Füchsin aus vor Lachen. 16 DER FUCHS, DER STAR UND DIE KRÄHE
In einem Frühling hatte der Star sein Nest auf einer kleinen Birke gebaut. Als die Jungen ausgebrütet und schon recht groß waren, kam zufallig ein Fuchs am Birkenbäumchen vorbei. Er schaut nach oben und erblickt im Wipfel ein Starennest, in dem sich die kleinen Starenkinder befinden, die schon recht groß sind. Das gibt einen Leckerbissen für mich ab, denkt der Fuchs, aber wie soll ich nur an das Nest herankommen? Nun beschließt er, den Star zum besten zu halten. Er sagt zu dem alten Star: „Alle anderen sind schon mit der Aussaat fertig, und ich habe noch nicht mal einen Holzpflug. Mir bleibt nichts anderes übrig, als das Bäumchen zu fällen." Der Star beginnt innig zu flehen, er möge doch an seine Kleinen denken.
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„Das geht mich gar nichts an!" antwortet der Fuchs. „Gib mir eines von deinen Kindern, dann lasse ich die Birke stehen." Der Star überlegt, was zu tun ist. Es wird ihm wohl nichts anderes übrigbleiben, als sich von einem Starenkind zu trennen. Aber von welchem soll er sich trennen? Beißt man sich in einen Finger oder in den anderen — beide tun weh. Plötzlich fliegt ganz unerwartet eine Krähe vorbei und sagt: „Fürchte dich nicht, mein lieber Star, mag doch der Fuchs das Bäumchen fällen, wenn er's kann. Wo wird er denn eine Axt hernehmen?" Der Fuchs wedelt mit seinem buschigen Schwanz und sagt, das wäre seine Axt. Da begreift der Star, daß der Fuchs mit einer solchen Axt kein Bäumchen fallen kann, und geht deshalb auf seine Bedingungen ein. Der kann doch mit seinem Schwanz nie und nimmer das Birkenbäumchen fallen! Nun wird der Fuchs wütend auf die geschwätzige Krähe und will sich an ihr rächen. Doch wie soll er das tun? Schnell eilt er zu einem Hügel und legt sich dort hin. Die alte Krähe fliegt zufallig am Hügel vorbei und erblickt den toten Fuchs. Die Krähe läßt sich auf dem Fuchs nieder und w.ill gerade beginnen ihn zu verspeisen. Da ergreift der Fuchs die Leichtsinnige und möchte sie fressen. Jetzt beginnt die Krähe, den Fuchs scheinheilig anzuflehen, ihr doch nicht das anzutun, was einst ihrem Onkel angetan worden sei. Nun erzählt die Krähe, daß man ihn in die Speichen eines Rades geklemmt und so den Berg hinuntergerollt habe. Der Fuchs nimmt sich vor, genau dasselbe mit der Krähe zu tun, was einst mit ihrem Onkel gemacht wurde. Schnell besorgt er sich ein Rad, klemmt die Krähe zwischen die Speichen und rollt das Rad vom Berg hinunter. Aber was macht jetzt die Krähe? Sie entwischt ganz einfach durch die Speichen. Nun begreift der Fuchs, daß er von der Krähe zum besten gehalten worden ist. 17
DIE FÜCHSIN ALS DIENSTMAGD DES WOLFES
Der Wolf hatte eine Füchsin als Dienstmagd zu sich geholt, und was er ihr befahl, das mußte sie tun, denn der Wolf war sich seiner Stärke gar wohl bewußt. Die Füchsin wollte aber dem Wolf nicht mehr länger dienen und überlegte, was zu tun sei. Einmal gingen beide durch den Wald, und der Wolf sagte: 30
„Mein liebes Füchslein, schaffe mir etwas zu essen herbei, sonst fresse ich dich auf!" Darauf antwortete die Füchsin: „Ich weiß, wo im Dorf zwei Lämmer sind. Wenn du willst, hole ich eins." Der Wolf war einverstanden. So gingen sie ins Dorf, die Füchsin stahl ein Lamm und brachte es dem Wolf. Mit dem einen Lamm war's jedoch nicht getan, und der Wolf holte sich auch das andere. Aber das Mutterschaf erblickte den Wolf und fing laut zu blöken an. Nun eilten Leute aus dem Dorf herbei und verprügelten den Wolf so sehr, daß er heulend auf nur noch drei Beinen entkam. „Du hast mich ins Verderben gelockt", beschimpfte er die Füchsin. „Ich wollte noch das zweite Lamm holen, aber die Leute haben mich entsetzlich verprügelt." Darauf meinte die Füchsin: „Warum bist du auch ein solcher Nimmersatt?" Am nächsten Tag gingen die beiden über die Felder, und der Wolf sagte: „Mein liebes Füchslein, schaffe mir etwas zu essen herbei, sonst fresse ich dich auf." Das Füchslein erwiderte: „Ich kenne ein Bauernhaus, wo die Wirtin heute Plinsen gebacken hat. Wir könnten uns einige holen." Sie begaben sich also dorthin, und die Füchsin schnüffelte so lange im Haus herum, bis sie die Plinsen fand. Sie nahm sechs Stück, brachte diese dem Wolf und sagte: „Hier, friß!" Sie selbst aber machte sich aus dem Staube. Der Wolf verschlang die sechs Plinsen, doch die genügten ihm nicht. So machte er sich nun allein auf die Suche, und in seiner Gier stieß er dabei die Schüssel mit allen Plinsen auf den Fußboden. Die Wirtin hörte den Lärm, eilte herbei und erblickte den Wolf. Schnell machte sie die Tür zu und rief ihre Knechte herbei, die den Wolf entsetzlich verprügelten. Steif und lahm schlich er in den Wald zurück und sagte zur Füchsin : „Wieder hast du mich ins Unglück gestürzt! Die Leute haben mich übel zugerichtet!" Doch die Füchsin antwortete: „Warum bist du auch ein solcher Nimmersatt?" Am dritten Tag sahen sie sich wieder. Und der Wolf, der kaum kriechen konnte, sagte wiederum: 31
„Mein liebes Füchslein, schaffe mir etwas zu essen herbei, sonst fresse ich dich auf." Die Füchsin antwortete: „Ich kenne einen Keller, wo sich in einem Milchfaß gesalzenes Fleisch befindet. Ich könnte dir ein Stück davon holen." „Ich komme mit", sagte der Wolf, „damit du mir helfen kannst, wenn meine Unglücksstunde wieder schlagen sollte." „Meinetwegen, komm mit", antwortete die Füchsin und führte den Woif auf geheimen Pfaden in den Keller. Dort gab es wahrlich sehr viel Fleisch, und der Wolf stürzte sich gleich darauf. Auch die Füchsin ließ es sich munden, aber sie schaute sich unentwegt um. Dann begann sie, mehrfach durch das winzige Kellerfenster hinaus- und hereinzuspringen, und probierte dabei, ob ihr das noch mühelos gelingt. „Liebes Füchslein", sagte der Wolf, „warum springst du immerzu hinaus und herein? Kannst du denn nicht in Ruhe essen?" „Ich muß doch Ausschau halten, ob sich nicht jemand nähert", antwortete die Füchsin listig. „Iß nur, iß, laß dir dabei ruhig Zeit!" „Nun, viel Fleisch werde ich wahrlich nicht übriglassen", antwortete der Wolf und schlang weiter. Der Wirt hatte jedoch das Hin- und Herhüpfen der Füchsin vernommen und stieg in den Keller hinunter, um nach dem Rechten zu sehen. Als die Füchsin ihn erblickte, sprang sie mit einem Satz durchs Fenster. Der Wolf versuchte ihr zu folgen, aber er war so vollgefressen, daß er nicht mehr durch das Kellerfenster entwischen konnte und sich einklemmte. So.wurde er vom Wirt erschlagen. Die Füchsin begab sich wieder in den Wald und war heilfroh, daß ihr unersättlicher Peiniger tot war. 18 DIE F Ü C H S I N A L S MAGD DES BÄREN
Der Bär, der Imker, hatte sich eine Füchsin als Magd genommen. Sie mußte schwer arbeiten, aber Honig gab er ihr nie. Das gefiel der Füchsin gar nicht, und eines Tages sagte sie: „Lieber Bär, beurlaube mich zur Taufe des Hasen." „Meinetwegen, aber sei am Abend zurück!" Die Füchsin geht. Doch was macht die Spitzbübin: Sie begibt sich nicht zur Taufe, sondern zum Bienenstock des Bären, 32
um sich am Honig satt zu essen. Und sie schleckert mit großem Appetit. Am Abend fragt der Bär: „Welchen Namen habt ihr denn dem kleinen Häschen gegeben?" „Angegessen", antwortete die Füchsin. Hm, ein merkwürdiger Name, dachte der Bär. Am nächsten Tag bat die Füchsin wieder den Bären: „Lieber Bär, beurlaube mich zur Taufe des Iltis." „Meinetwegen, aber sei am Abend zurück!" Die Füchsin geht wieder dahin, wo sie am Tag zuvor gewesen war. Sie ißt und ißt, bis der Bienenstock halbleer ist. Am Abend fragt der Bär: „Welchen Namen habt ihr denn dem kleinen Iltis gegeben?" „Halbgegessen", antwortete die Füchsin. Hm, ein merkwürdiger Name, dachte der Bär. Am dritten Tag bat die Füchsin wieder: „Lieber Bär, beurlaube mich zur Taufe des Igels." „Meinetwegen, aber sei am Abend zurück!" Nun verspeiste die Füchsin den restlichen Honig. Am Abend fragte der Bär: „Welchen Namen habt ihr denn dem kleinen Igel gegeben?" „Aufgegessen", antwortete die Füchsin. Nun ahnte der Bär, daß mit den merkwürdigen Taufen etwas nicht stimmte. Er ging in den Garten. Und was sahen seine Augen? Der Bienenstock war leer! Sofort entließ er die Füchsin aus seinen Diensten, aber kannst du den Honig zurückholen? 19
WARUM DER WOLF U N D DER FUCHS EINANDER FEIND SIND
Einst war der Wolf sehr ausgehungert. Er wanderte hin und her und suchte etwas zu essen. Er wanderte einen Tag, er wanderte auch den nächsten Tag, aber er konnte nichts Eßbares entdecken. Schließlich begegnete ihm der Fuchs. Der Wolf wollte dem Fuchs gleich das Fell über die Ohren ziehen, aber der Fuchs begann zu flehen, daß er das nicht tun solle. Er werde dem Wolf einen guten Happen besorgen. Der Wolf war damit einverstanden und forderte den Fuchs auf, das schleunigst zu tun. Dann werde er auch am Leben bleiben. Sofort sagte der Fuchs, daß der Wolf mit ihm kommen solle, er wisse, wo ein schönes Füllen angebunden ist. So führte der Fuchs den Wolf auf die Weide und sagte ihm, daß er sich ans Ende des Strickes begeben soll. Er werde dem Wolf den Strick 3
Lettische Volksmärchen
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lim den Bauch schnüren, dann solle er das Füllen immer näher an sich heranziehen, und der Fuchs werde ihm das Füllen in den Rachen treiben. Der Wolf war einverstanden. Dann ging der Fuchs zum Füllen und sagte ihm, daß es mal schauen solle, wer sich am Ende des Strickes befindet. Das Füllen schaute sich um, wieherte und rannte wie der Wind vorwärts. Der arme Wolf konnte ihm nicht folgen und schoß einen Purzelbaum nach dem anderen. So zog ihn das Füllen an dem Strick mit Gewalt ins Haus. Der Fuchs blieb indessen auf der Weide und hielt sich den Bauch vor Lachen. Der Bauer sah den Wolf und ergriff eine Stange, um ihn zu verprügeln. Aber der Wolf stemmte sich gegen den Zaun und hielt sich tapfer. Zum Glück riß der Strick. Der Wolf war heilfroh, sprang über den Zaun und rannte auf und davon, wenn er auch die Hälfte seines Felles verloren hatte. Er beschloß nun: Warte nur, mein Lieber, du entwischst mir nicht so leicht. Meinen Zähnen entkommst du nicht. Mit heraushängender Zunge lief er im Wald hin und her und suchte den Fuchs. Endlich traf er ihn und sagte: „Bete zu Gott, denn dein letztes Stündlein ist gekommen!" Der Fuchs sah, daß es mit ihm kein gutes Ende nimmt, und machte, daß er davonkam. Der Wolf jagte ihm hinterher. Der Fuchs kroch in seinen Bau, aber dem Wolf gelang es noch, ihm das Schwanzende abzubeißen. Darüber wurde der Fuchs wütend. Er sann nun auf Rache und dachte bei sich: Warte nur, wenn ich dich wiedersehe, dann unterhalten wir uns. Dann ging der Fuchs durch den Wald und suchte nach einer Stelle, wo er sich am Wolf rächen konnte. Schließlich entdeckte er eine tiefe Grube und überlegte: Jetzt werde ich dich in den Käfig sperren, so daß du das Licht der Sonne nicht mehr siehst. Der Fuchs ging durch den Wald und begegnete dem Wolf. Der wollte sich gleich auf den Fuchs stürzen, aber der Fuchs sagte, daß der Wolf doch noch einen Augenblick warten solle. Er wolle erst ein paar Worte mit ihm sprechen. Worum es denn gehe? Nun, es sei doch unsinnig vom Wolf, wenn er den Fuchs fressen wolle. Lieber sollten sie gemeinsam ein Haus bauen, dann werde es beiden besser gehen. Der Wolf überlegte sich die Worte des Fuchses genau und stimmte seinem Vorschlag zu. Dann führte ihn der Fuchs zur Grube und sagte: „Hier ist eine geeignete Stelle für unsere Wohnung, aber 34
wir müssen zuerst ausmessen, ob wir beide darin Platz haben. Spring du an der breitesten Stelle in die Grube, ich werde an der schmälsten Stelle springen, denn du brauchst mehr Platz als ich." Der Wolf war einverstanden. Er sprang. Der Fuchs gab ihm einen Stoß, und der Wolf landete tief unten in der Grube. Der Fuchs lachte nun aus vollem Hals und sagte: „Bau nun für mich ein neues Haus und beiß mir ein Schwanzende a b ! " Der Wolf begriff jetzt, daß der Fuchs ihn wieder unverschämt angeführt hatte. Er bat ihn, ihm aus der Grube zu helfen, er wolle ihn auch nie mehr betrügen oder verspotten. Aber der Fuchs lachte nur und dachte nicht daran, den Wolf aus der Grube zu ziehen. Plötzlich vernahm der Fuchs einen Schrei, rannte auf und davon und sagte dem Wolf noch, daß er ein wenig warten solle, morgen sei er mit einem Strick wieder zur Stelle und ziehe den Wolf aus der Grube. Der einfältige Wolf glaubte, daß der Fuchs ihn nicht betrügt und wiederkommen wird. Der Fuchs begab sich statt dessen aufs Feld, wo ein kräftiger Bursche gerade beim Pflügen war. Der Fuchs ging zu ihm hin und erzählte ihm, daß dort und dort ein Graufelliger sitzt und der Bursche ihn besuchen soll. Der ging nach Hause, holte eine Stange und machte sich dann mit dem Fuchs auf den Weg. Der Fuchs zeigte dem Burschen den Wolf und sagte: „Nun, mein lieber Grauer, jetzt ist er da, der dich herausziehen wird, beiß mir nur nochmal in den Schwanz!" Der Bursche erschlug sofort den Wolf, riß ihm das Fell herunter und brachte es nach Hause. Er dankte auch dem Fuchs dafür, daß er zu ihm so gut gewesen war. Seit jener Zeit sind Wölfe und Füchse verfeindet, und das sollen sie noch bis zum heutigen Tage sein, denn sie geben einander noch jetzt nicht den Weg frei, wenn sie sich begegnen. 20
DER VERPRÜGELTE TRÄGT DEN NICHTVERPRÜGELTEN
Einst fand der Fuchs Fische und versteckte sie unter einem Heuschober. Dann setzte er sich und fing an zu essen. D a kommt ein ausgehungerter Wolf vorbei, sieht den schmausenden Fuchs, geht auf ihn zu und sagt: „Sei gegrüßt, Gevatter!" „Sei gegrüßt!" antwortete der Fuchs. 3«
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Der Wolf bittet den Fuchs: „Mein Lieber, gib mir doch wenigstens ein Fischlein!" „Geh doch selbst angeln, mein Lieber!" antwortet der Fuchs. „Das Angeln ist mir auch nicht leichtgefallen!" „Mein Lieber, ich verstehe nicht zu angeln, lehre es mich doch", bittet der Wolf. „Einverstanden! Schau, dort im See ist ein Eisloch. Stecke deinen Schwanz hinein, und über Nacht werden viele Fische anbeißen!" Der Wolf befolgt den Rat. Er geht zum Eisloch, steckt seinen Schwanz ins Wasser und wartet. In der Nacht wird es sehr kalt, das Wasser beginnt zu frieren, und der Schwanz des Wolfes friert ein. Der Wolf versucht den Schwanz zu bewegen. Er probiert's einmal, er probiert's ein zweites Mal — der Schwanz ist sehr schwer. Sicher haben viele Fische angebissen. Nun, vielleicht beißen noch mehr Fische an, denkt der Wolf und bleibt auf dem Eise sitzen. Gegen Morgen kommt der Fuchs zu ihm und fragt: „Wie steht's, meinJLieber, beißen die Fische gut?" „Sehr gut, mein Lieber, sehr gut!" antwortet der Wolf. „Das ist ja schön! Dann bleib nur sitzen, damit noch mehr Fische anbeißen", empfiehlt ihm der Fuchs. Er selbst läuft aber geschwind fort. Er begibt sich nicht in den Wald, sondern ins Dorf und erzählt den Frauen, daß der Wolf das Wasser im Eisloch aufwühlt. Zunächst glauben die Frauen dem Fuchs nicht, aber sie laufen dennoch zum See und sehen tatsächlich den Wolf auf dem Eis. Das ganze Dorf gerät in Aufruhr, Stangen und Latten werden ergriffen, und nun rennen alle zum See, um den Wolf zu verprügeln. Der Wolf, der Arme, versucht zu flüchten, aber vergeblich: Der Schwanz ist festgefroren. Nun fangen die Leute an, ihn zu schlagen. Sie verprügeln ihn entsetzlich, und der Wolf jammert und zappelt vor Schmerzen. Endlich gelingt es dem Unglücklichen, den Schwanz, wenn auch ohne Fell, aus dem Eis zu ziehen, und er läuft davon, was nur die Füße hergeben. Der Fuchs war indessen in ein Zimmer geschlichen, hatte den Backtrog umgeworfen, den Kopf in den Teig gesteckt und sich völlig beschmiert. Dann rannte auch er in den Wald. Hier begegnet ihm der Wolf und sagt unter Tränen: „Mein Lieber, du hast mich entsetzlich betrogen! Ich habe kein Fischlein gefangen und bin kaum mit dem Leben davongekommen." 36
„Schlimm, sehr schlimm, mein Lieber", erwidert der Fuchs, „aber schau mich nur an, mir ist es noch schlimmer ergangen. Ich lief dir zu Hilfe, aber unterwegs trafen mich die Frauen. Eine von ihnen schlug mir mit einer Stange so sehr auf den Kopf, daß das Gehirn herausspritzte. Du siehst es ja! Schau nur, wie das Gehirn auf meinem Schädel trocknet." „Ach, mein Lieber, dann ist es dir tatsächlich noch schlechter ergangen", sagte der Wolf. „Setz dich auf meinen Rücken, ich werde dich ein Stückchen tragen, denn hier können wir nicht bleiben. Hör nur, wie die Hunde im Dorf bellen! Wenn sie erst unsere Spuren entdeckt haben, wird es uns noch schlimmer ergehen. Laß uns fliehen, mein Lieber!" „Ach, mein Lieber, du bist wirklich gut zu mir!" sagt der Fuchs. „Bringe mich zu deiner Höhle, dann bleibe ich am Leben. Sonst muß ich vor die Hunde gehen, denn ich habe keine Kraft mehr zum Gehen." Und der Wolf hebt den Fuchs auf seinen Rücken und schleppt ihn durch den tiefen Schnee. Der Wolf trägt den Fuchs, aber der Fuchs sagt: „Der Verprügelte trägt den Nichtverprügelten, der Verprügelte trägt den Nichtverprügelten!" Der Wolf vernimmt die Worte des Fuchses und fragt: „Sag mal, mein Lieber, wovon sprichst du?" „Ich spreche mein Gebet", antwortet der Fuchs, und dann wiederholt er: „Der Verprügelte trägt den Verprügelten!" Der Wolf geht weiter, und wieder sagt der Fuchs: „Der Verprügelte trägt den Nichtverprügelten." Und so trug der verprügelte Wolf den gesunden Fuchs in seine Höhle. 21
WIE EIN WOLF PRÜGEL ERHIELT
Einst hatte ein Bauer einen Ochsen. Er fütterte ihn sehr gut. Und es kam die Zeit, daß er den Ochsen schlachten wollte. An einem Morgen hört der Ochse, daß er bald geschlachtet werden soll. Er reißt sich los und verläßt den Stall. Als der Bauer am Morgen aufsteht, schleift er das Messer und begibt sich in den Stall. Doch der Ochse ist verschwunden. Inzwischen war der Ochse in den Wald gegangen. Dort begegnete er einem Schwein und sagte: „Bauen wir uns ein Zimmer, in dem wir wohnen können!" 37
Das Schwein erwiderte: „Tu's doch, ich kann im Laub überwintern." Nun gut. Der Ochse geht weiter und begegnet einem Hammel. Der Ochse sagt: „Bauen wir uns für den Winter ein Zimmer!" Der Hammel antwortet: „Tu's doch, ich habe einen dicken Pelz, ich kann den Winter so überstehen." Und der Ochse geht weiter und begegnet einer Gans. Er sagt zu ihr: „Bauen wir uns für den Winter ein Zimmer!" Doch die Gans erwidert stolz: „Ich habe lange Federn, ich brauche kein Zimmer." Der Ochse geht weiter und immer weiter und begegnet schließlich einem Hahn: „Bauen wir uns ein Zimmer!" „Tu's d o c h ! " antwortet der Hahn, „ich habe lange Flügel und ein dichtes Gefieder. Ich brauche im Winter nur meine Füße unter die Flügel zu stecken." Nun beginnt der Ochse ganz allein aus Balken ein Zimmer zu bauen. Er setzt auch einen Ofen und macht Feuer. Dann läßt er sich vor dem Ofen nieder und wärmt sich. Plötzlich ist das Schwein an der Tür — krick: „Ochse, lieber Ochse, mach doch a u f ! " „Du überwinterst doch im Laub — was suchst du hier?" „Wenn du mich nicht hineinläßt, werde ich dein Zimmer unterhöhlen, dann werden wir beide frieren." Nun gut. Der Ochse läßt das Schwein herein. Nach einer Weile erscheint der Hammel und sagt: „Ochse, lieber Ochse, mach doch a u f ! " Der Ochse antwortet: „Du hast doch einen dicken Pelz, du kannst doch draußen überwintern." „Wenn du mich nicht hineinläßt, dann werde ich mit meinen Füßen dein Haus abreißen, und wir werden beide frieren." Nichts zu machen, der Ochse läßt auch den Hammel herein. Dann erscheint die Gans und sagt: „Ochse, lieber Ochse, mach doch a u f ! " „Du hast doch lange Federn, was willst du von m i r ? " „Wenn du mich nicht hineinläßt, picke ich das Moos zwischen den Balken deines Zimmers heraus, und wir werden beide frieren." 38
Und der Ochse läßt auch die Gans herein. Zuletzt kommt der Hahn und schreit: „Ochse, lieber Ochse, mach doch a u f ! " „Du hast doch lange Flügel und ein dichtes Gefieder, du kannst deine Füße unter die Flügel stecken und so überwintern." „Wenn du mich nicht hineinläßt, springe ich aufs Dach und werde Tag und Nacht krähen. Und wir werden beide nicht schlafen." Nun gut. Er läßt den Hahn herein. Jetzt wohnen sie einige Zeit alle zusammen in dem Zimmer. Zufallig kommen einmal zwölf Wölfe vorbei. Sie unterhalten sich darüber, wer wohl im Zimmer wohnen mag, und sie schikken einen Wolf zum Auskundschaften. Kaum hat er die Tür geöffnet, da stürzt sich auch schon der Ochse mit seinen Hörnern auf ihn. Der Hammel stößt ihn in die Lenden, die Gans springt auf seinen Rücken und zerrt an seinem Fell. Der Hahn sitzt auf der Stange und sieht von all dem nichts. Er ruft nur: „Gib her, gib her!" So richteten sie den Wolf übel zu, und dann ließen sie ihn wieder hinaus. Draußen fragten ihn die anderen Wölfe, was es im Zimmer gegeben habe. „Wundersame Dinge", berichtet der Wolf. „Einer stieß mich mit zwei Spießen, ein anderer zerrte an meinem Fell, und ein dritter rief aus vollem Halse: ,Gib her, gib her!' Ein Glück, daß man mich ihm nicht gab — das wäre mein Ende gewesen."' Als die Wölfe das vernommen hatten, machten sie sich sofort auf und davon. Der Ochse, der Hammel, das Schwein, die Gans und der Hahn lebten aber in Glück und Freuden. 22
DER HUND ALS SCHUSTER DES WOLFES
Auf einem Bauernhof lebte einst ein sehr, sehr alter Hund. Er hatte sein Leben lang dem Bauern gedient und war nun zu nichts mehr nütze. Eines Tages sagte der Bauer: „Was soll man mit diesem Nichtsnutz noch anfangen? Man muß ihn einfach in den Wald jagen", und er verjagte ihn vom Hof. Der Hund, der Arme, machte sich auf den Weg, denn was bleibt einem anderes übrig, wenn man hinausgeprügelt wird? 39
So kommt er bis zum Waldrand, setzt sich ein wenig in die Sonne und überlegt, was er anfangen soll. Da erblickt er einen Knochen und beginnt an ihm zu nagen. Plötzlich ist der Wolf zur Stelle und fragt den Hund, was er hier treibt. Der Hund erwidert, daß er sich Schuhe macht. Seine Füße sind steif, die Füße taugen nicht mehr viel, und ohne Schuhe komme er nicht mehr von der Stelle. Nun überlegt sich der Wolf, daß auch mit seinen Füßen nichts mehr los ist. Neulich ist er aufs Eis gegangen, und fast wäre er gestürzt. So fragt er den Hund, ob er nicht auch für ihn ein Paar Schuhe anfertigen könne. Ja, das könne er schon, antwortete der Hund, nur müsse der Wolf ihm dafür ein fettes Lamm besorgen. „Einverstanden — morgen hast du dein Lamm", erwiderte der Wolf und ging fort. Am nächsten Morgen brachte der Wolf einen fetten Hammel und fragte, wann die Schuhe fertig seien. Der Hund antwortete, daß der Wolf sie in drei Tagen abholen könne. Nun gut. Der Wolf wartet drei Tage und kommt dann nach den Schuhen. Aber was hat der Hund getan ? Er hat inzwischen den Hammel vertilgt, und von den Schuhen ist nichts zu sehen. Als der Wolf nach den Schuhen fragt, sagt der Hund: „Ach, mein lieber Freund, das Leder taugte nichts. Als ich es auf den Leisten spannte, riß es in Stücke. Was hättest du mit solchen Schuhen angefangen ?" Dem Wolf läuft das Wasser im Mund zusammen — ihm hätte der Hammel auch gemundet —, aber was bleibt ihm übrig, verspielt ist verspielt. Nun sagt der Hund, daß er dem Wolf in drei Tagen ein paar Schuhe anfertigen könne, wenn er ihm ein fettes Kalb besorge — das wird festeres Leder abgeben als der Hammel. Der Wolf ist auf die Schuhe erpicht, und so schleppt er am nächsten Tag ein fettes Kalb herbei. Wieder verspricht der Hund, daß der Wolf sich in drei Tagen die fertigen Schuhe abholen könne. Am dritten Tag hat der Hund auch das Kalb verschlungen, aber von den Schuhen ist auch diesmal nichts zu sehen. Erneut ist der Wolf zur Stelle, und wieder jammert der Hund, daß das Leder völlig zerschlissen sei, als er es auf den Leisten spannte. Und überhaupt, für solche Schuhe, wie sie der Wolf brauche, tauge kein Kalbsleder — dafür sei ein kräftiges Füllen vonnöten. Der Wolf verspricht, auch ein Füllen zu beschaffen, aber dann möchte er endlich seine Schuhe haben. 40
Der Hund schlägt sich mit der Pfote an die Stirn und versichert, daß der Wolf aus dem Füllenleder hervorragende Schuhe bekommen werde. Der Wolf geht wieder fort, schleppt am nächsten Tag ein stattliches und bereits mit Hufeisen beschlagenes Füllen herbei, und der Hund verspricht, daß der Wolf in drei Tagen seine Schuhe abholen könne. So zieht der Wolf wieder von dannen. Nach drei Tagen ist der Wolf schon am frühen Morgen beim Hund und verlangt die Schuhe. Doch der Hund hat das Füllen mit Haut und Haaren verschlungen, und nur die mit Hufeisen beschlagenen Füße sind übriggeblieben. Der Hund, der Arme, erschrickt, daß der Wolf schon so zeitig gekommen ist, und wird ganz verwirrt. Plötzlich fällt sein Blick auf die mit Hufeisen beschlagenen Füße des Füllens, und er hat einen Einfall — diese Füllenfuße geben doch ausgezeichnete Schuhe ab. Er überreicht sie dem Wolf und sagt, daß er sie anziehen solle. Mit ihnen könne er sogar aufs Eis gehen. Der Wolf ist vor Freude ganz närrisch und zieht die Schuhe an. Gleich wird er aufs Eis gehen. Aber, mein liebes Bürschlein, wie wird's dir mit solchen Schuhen auf dem Eis ergehen? Kaum hat er das Eis betreten, so rutscht auch schon jedes Bein in eine andere Richtung, und der Wolf kommt nicht mehr von der Stelle. Er beschwört den Hund, ihm vöm Eis herunterzuhelfen. Der Hund läuft zum Wolf, packt ihn am Nacken und schleift ihn kreuz und quer übers Eis; er soll sich nur richtig auslaufen. Zufallig kamen Leute vorbei, die nach Holz unterwegs waren. Sie sahen, wie der Hund den Wolf auf dem Eis herumzerrte, und dachten, daß der alte Hund den Wolf umbringen will, aber dazu keine Kraft mehr hat. Sie eilten dem Hund zur Hilfe und verbleuten den Wolf tüchtig. Von diesem Tage an hat der Bauer den Hund bis zu seinem Lebensende wieder bei sich in Gnaden aufgenommen. 23
WIE SICH DER HUND MIT DEM WOLF VERFEINDETE
Einst hatte ein reicher Bauer eine sehr geizige Bäuerin zur Frau. Sie war so raffgierig, daß sie ihrem Hündchen keinen guten Happen gönnte. Der Hund war schon ganz ausgehungert und lungerte matt und müde umher. 41
Eines Tages begegnet der Hund dem Wolf, und der Wolf sagt zu ihm: „Ach, mein lieber Bruder, du bist ganz mager geworden." „Wie soll ich denn nicht abmagern, wenn die Bäuerin mir so gut wie nichts zu essen gönnt", erwiderte der Hund. Nun überlegten beide, wie sie zu einem guten Bissen kommen könnten. Schließlich gab der Wolf dem Hund einen klugen Rat. Er sagte ihm, daß er am nächsten Tag mit der Bäuerin aufs Feld gehen solle, wo sie Bohnen ernten wollte. Sie werde bestimmt ihr kleines Kind mitnehmen und es an den Grabenrand setzen. Wenn sie sich mit den Bohnen zu schaffen mache, könne sie auf das Kind nicht Obacht geben. Der Wolf wolle sich in die Nähe des Bohnenfeldes begeben und einen günstigen Augenblick abwarten, um das Kind zu packen und in den Wald zu flüchten. Der Hund solle ihm dann schleunigst folgen. Beim Laufen möge er stolpern und so den Anschein erwecken, daß er ganz kraftlos sei und kaum vom Fleck komme. Schließlich solle er dem Wolf das Kind wegnehmen und es der Bäuerin zurückbringen. Dann werde sie ihn bestimmt nicht mehr hungern lassen. Gesagt, getan. Am kommenden Tag geht die Bäuerin nach dem Mittagessen aufs Feld, um Bohnen fürs Abendbrot zu pflücken. Sie nimmt ihr kleines Kind mit, denn daheim kann sie's nicht lassen, da alle Leute zur Arbeit gegangen sind. Sie setzt es ins Gras und beginnt Bohnen zu ernten. Aber der Wolf hat sich schon eine ganze Weile zuvor herangeschlichen und hinter einem Weidenbusch auf die Lauer gelegt. Der Hund ist mit der Bäuerin auf dem Feld. Während nun die Bäuerin Bohnen pflückt, springt der Wolf aus dem Gebüsch und packt das Kind, das zwar entsetzlich brüllt, sich aber nicht aus den Klauen des Wolfes befreien kann. Bald merkt die Bäuerin, was vorgefallen ist, und erschrickt furchtbar. Aber den Wolf kann sie nicht mehr einfangen, und ihr Kind wird umkommen. Sie jammert schrecklich. Doch plötzlich sieht sie, daß der Hund dem Wolf hinterherjagt. „Aber mein Hündchen, mein ärmstes, ist j a so schwach.", jammert sie und sieht, wie der Hund ständig stolpert. Der Hund setzt dem Wolf nach in den Wald, und die Bäuerin weiß nicht, was sie anfangen soll. Aber bald bringt der Hund das Kind zurück. Jetzt möchte die Bäuerin dem Hund nur Gutes tun. Von diesem Tage an begannen für den Hund goldene Zeiten. Er fraß, was er nur wollte, er schlief, wo immer und wie lange es 42
ihm behagte. Ein besseres Leben konnte sich wahrlich kein Hund wünschen. Der Hund hatte jedoch die einstigen Hungertage nicht vergessen und überlegte, daß er dem Wolf eigentlich das Gute vergelten müßte. Im Herbst heiratete im Hause des Bauern ein junges Paar, und nun lud der Hund den Wolf zum Hochzeitsschmaus ein. Am Hochzeitsabend war der Wolf auch zur Stelle, aber er durfte nicht allein das Haus betreten. Er wartete hinter dem Tor darauf, daß der Hund ihn hineinließ. Der Hund geleitete den Wolf ins Zimmer und versteckte ihn unter seinem Bett. Dorthin schleppte er allerlei Leckerbissen, und der Wolf konnte gar nicht alles auffressen, was der Hund ihm zukommen ließ. Nachdem er seinen Bauch vollgeschlagen und auch noch tüchtig dem Schnaps zugesprochen hatte, wurde der Wolf unruhig. Er begann unterm Bett entsetzlich zu heulen, so daß die Hochzeitsgäste ihn entdeckten. Jetzt setzte eine schlimme Jagd ein! Es war den Hochzeitsgästen nur recht, daß sich ein solcher Trottel wie der besoffene Wolf zur Hochzeit eingestellt hatte. Sie jagten ihn mit Stöcken und Stangen und richteten ihn übel zu. Schließlich gelang es dem Wolf doch noch, in den Wald zu entkommen, und in der frischen Luft wurde er wieder nüchtern. Er war nun der Meinung, daß der Hund ihm absichtlich einen so üblen Streich gespielt habe. Deshalb beschloß er, sich nie mehr mit dem Hund freundschaftlich abzugeben, sondern ihm den Krieg zu erklären. Er kam gar nicht auf den Gedanken, daß er sich selbst durch sein Saufen und Heulen soviel Ärger und Pein zugefügt hatte. Nun spazierte er den ganzen Tag durch den Wald und suchte Mitkämpfer. Er traf zunächst den Bären und fragte ihn, ob er nicht Lust habe, als Heerführer mit ihm in den Krieg zu ziehen. Er müsse nämlich mit dem Hund Krieg führen, weil der ihn furchtbar betrogen habe. Der Bär erklärte sich mit dem Vorschlag des Wolfes einverstanden. Beide begegnen plötzlich im Wald einem Wildschwein. Nach der Aufforderung des Wolfes, mit ihm in den Krieg zu ziehen, erklärt sich auch das Wildschwein dazu bereit. Die drei wandern weiter und treffen den Hasen, und der Wolf überredet auch den Hasen, gegen den Hund in den Krieg zu ziehen. Der Hase ist einverstanden, denn er kann den Hund nicht ausstehen. 43
Schließlich begegnet dem Wolf, dem Bären, dem Wildschwein und dem Hasen der Fuchs, und auch ihn gewinnt der Wolf für seinen Kriegsplan. Alle fünf märschieren nun zum Kampfplatz und erwarten hier den Hund mit seinem, Heer. Der Wolf verfügt nun über gewaltige Mitkämpfer, und er kann's gar nicht erwarten, den Krieg mit dem Hund zu beginnen. Der Hund lebt indessen in Frieden und Freude daheim. Da erreicht ihn die Nachricht, daß er in den Krieg ziehen soll. Er ist darüber sehr betrübt, daß er gegen seinen Freund, den Wolf, zu Felde ziehen soll, aber er kann's nicht ändern, wenn es der Wolf so will. Der Hund, der Ärmste, hat keinen einzigen Mitkämpfer, und ganz niedergeschlagen spaziert er über den Hof. „Warum läßt du den Kopf hängen?" fragt ihn der Hahn. „Ach, es ist alles so traurig", erwidert der Hund, „ich muß gegen den Wolf ins Feld ziehen, und ich habe keinen Mitkämpfer." Der Hahn sagt darauf, der Hund solle ihn doch mitnehmen, und der Hund nimmt dieses Angebot an. Nun begeben sich die beiden in den Krieg. Unterwegs treffen sie einen Kater. „Wohin des Weges?" „In den Krieg gegen den W o l f , antworten die beiden. Der Kater ist bereit, mit ihnen zu ziehen, und der Hund ist damit einverstanden. So machen sich die drei Kämpfer auf den Weg. Das Heer des Wolfes hat sich inzwischen versteckt, um den Hund und sein Heer aus dem Hinterhalt zu überfallen und schnell zu besiegen. Der Wolf war ins Reisig gekrochen, aber zu allem Unglück war sein Schwanz draußen geblieben, und der Wolf hat die dumme Angewohnheit, mit dem Schwanz zu wedeln. Der Kater denkt, es ist eine Maus, und — zapps — greift er den Wolf am Schwanz. Der Wolf erschrickt und rennt davon. Auch der Kater ist sehr erschrocken und klettert auf den Baum und zu allem Unglück noch auf den Bären. Der stürzt vor Angst vom Baum und kommt dabei um. Als die anderen Kämpfer sehen, daß der Bär bereits gefallen ist, eilen sie auf und davon. So besiegt der Hund mit seinen Freunden das Heer des Wolfes.
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WIE ES D E M HUNGRIGEN WOLF ERGING
Einst hatte der Wolf großen Hunger. Er erblickte einen Hammel auf der Wiese und rief: „Gehörnter, Gehörnter, ich will dich fressen." Der Gehörnte fragte: „Wer bist du, daß du mich fressen willst?" „Ich bin der Wolf!" „Was bist du schon für ein Wolf, du bist doch ein Hund." Aber der Wolf behauptete hartnäckig, daß er ein Wolf sei. „Nun, wenn du wirklich ein Wolf bist, dann stell dich dort unten ins Tal und reiß dein Maul weit auf. Ich werde vom Berg hinunter geradewegs in deinen Rachen laufen." Gut. Der Wolf gehorcht auch. Er begibt sich ins Tal, reißt sein Maul bis zu den Ohren auf und wartet. Der Hammel klettert auf den Berg, rast mit voller Wucht hinunter und rennt mit den Hörnern gegen die Stirn des Wolfes. Der Wolf fallt zu Boden, aber der Hammel eilt nach Hause. Nach einer Weile steht der Wolf auf und sagt sich: Ich bin wahrlich ein Narr. W o hat man das je gesehen, daß einem der Braten selbst ins Maul läuft! Hungrig geht der Wolf weiter. Er erblickt auf der Wiese ein grasendes Pferd. „Mein liebes Pferd, ich werde dich fressen!" „Wer bist du, daß du mich fressen willst?" „Ich bin der Wolf." Aber das Pferd erwidert: „Was bist du schon für ein Wolf, du bist doch ein Hund." Indes behauptet der Wolf hartnäckig, daß er ein Wolf sei. „Nun, wenn du ein Wolf bist, läßt sich's nicht ändern. Friß mich. Schade nur, daß ich nicht gut genährt bin. Beginne mich deshalb vom Schwanz her zu fressen. Währenddessen werde ich noch futtern, damit ich fetter werde." Der Wolf tat, wie ihm geheißen, er schlich um das Pferd und wollte den Schwanz ergreifen. Doch das Pferd holt mit dem Hinterfuß aus, so daß der Wolf zu Boden stürzt. Aber das Pferd trabt nach Hause. Der Wolf sitzt und überlegt: Ich bin wahrlich ein großer Narr! Wo hat man das je gesehen, daß einer beim Schwanz zu fressen anfangt. Der Wolf geht weiter. Ein Schwein wärmt sich in der Sonne: „Liebes Schweinchen, ich werde dich fressen!" 45
„Wer bist du, daß du mich fressen willst?" „Ich bin der Wolf." „Was bist du schon für ein Wolf, du bist doch ein H u n d ! " Der Wolf behauptet wieder hartnäckig, daß er ein Wolf sei. „Nun, wenn du ein Wolf bist, dann steige auf meinen Rücken, ich werde dich ein wenig herumtragen. Danach kannst du mich fressen." Der Wolf setzt sich auf den Rücken des Schweins, aber das Schwein rast mit dem Wolf schnurstracks nach Hause. Da kommen Hunde angerannt und überfallen den Wolf. Sie peinigten ihn so lange, bis er wieder in den Wald gelaufen ist. 25
D E R W O L F HÄLT SICH A N DIE A B M A C H U N G
Früher, als es noch sehr viele Wölfe gab, konnte man von ihnen gelegentlich ein halbes Schaf bekommen. So erblickte einmal ein Bauer beim Pflügen einen Wolf, der ein Schaf im Maul hielt. Der Bauer sagte: „Mein lieber Freund, wohin des Weges? Willst du mir nicht das halbe Schaf abtreten?" Sofort ließ der Wolf das Schaf los. Der Bauer trug es nach Hause und pflegte und fütterte es. Dann dachte er bei sich: Nein, es ist besser, ich behalte dieses Schaf noch über den Winter. Gedacht, getan. Im Frühling warf das Schaf zwei Lämmer. Kaum grasten diese zum erstenmal auf der Weide, war auch der Wolf schon zur Stelle: Er nahm sich ein Lamm und schleppte es fort. Das andere Lamm ließ er den ganzen Sommer in Ruhe. Im Herbst schlachtete der Bauer das zweite Lamm und das Mutterschaf, doch er wollte dem Wolf nicht die einst versprochene Hälfte geben. Seine Nachbarn warnten ihn: „Das wird nicht gut enden — die Wölfe halten sich genau an die Abmachung." Nun, ihm blieb gar nichts anderes übrig, als dem Wolf die Hälfte von dem Schaf zu bringen. Ohne ein Wort zu verlieren, nahm der Wolf seinen Teil, und der Bauer dachte: Nun ist alles in bester Ordnung! Aber er hatte sich geirrt. Eines Nachts schlich der Wolf in cen Hof des Bauern und suchte nach dem halben Schafsfell, das ihm der Bauer nicht gegeben, sondern zu anderen Fellen 46
in ein Faß zum Gerben gelegt hatte. Der Wolf entdeckte das Schafsfell, zog es aus der Lohe, riß es mitten durch, legte die eine Hälfte wieder zurück ins Faß, nahm sich seinen Teil und ließ sich nie mehr blicken. Siehst du, so sind nun mal die Wölfe: Sie halten sich genau an die Abmachung. 26
DER ALTE UND DIE ALTE
Es lebte einst ein Alter mit seiner Alten. Sie hatten fünf Schäfchen, ein bellendes Hündchen und eine junge Stute mit einem Stummelschwänzchen. Da kommt einmal der Wolf und singt unter ihrem Fenster: „Es lebt ein Alter mit seiner Alten, Sie haben fünf Schäfchen, Ein bellendes Hündchen, Eine junge Stute mit einem Stummelschwänzchen." Die Frau sagt: „Hör nur, Alterchen, wie schön der liebe Wolf singt. Wollen wir ihm doch ein Schäfchen geben." Und sie gaben es ihm. Der liebe Wolf schleppte das Schaf fort, fraß es, und am nächsten Morgen erschien er wieder und sang unterm Fenster: „ E s lebt ein Alter mit seiner Alten, Sie haben vier Schäfchen, Ein bellendes Hündchen, Eine junge Stute mit einem Stummelschwänzchen." Die Frau sagt: „Hör nur, Alterchen, wie schön der liebe Wolf singt. Wollen wir ihm doch noch ein Schäfchen geben." Und sie gaben es ihm. Der liebe Wolf schleppte das Schaf fort, fraß es, erschien wieder und sang unterm Fenster: „Es lebt ein Alter mit seiner Alten, Sie haben drei Schäfchen, Ein bellendes Hündchen, Eine junge Stute mit einem Stummelschwänzchen." 47
Die Frau sagt: „Hör nur, Alterchen, wie schön der liebe Wolf singt. Wollen wir ihm noch ein Schäfchen geben." Und sie gaben es ihm. Der liebe Wolf schleppte das Schaf fort, fraß es, erschien am nächsten Morgen wieder und sang unterm Fenster: „Es lebt ein Alter mit seiner Alten, Sie haben zwei Schäfchen, Ein bellendes Hündchen, Eine junge Stute mit einem Stummelschwänzchen." Die Frau sagt: „Hör nur, Alterchen, wie schön der liebe Wolf singt. Wollen wir ihm ein Schäfchen geben." Und sie gaben es ihm. Der Wolf schleppte das Schäfchen fort, fraß es, erschien wieder und sang: „Es lebt ein Alter mit seiner Alten, Sie haben ein Schäfchen, Ein bellendes Hündchen, Eine junge Stute mit einem Stummelschwänzchen." Die Frau sagt: „Hör nur, Alterchen, wie schön der liebe Wolf singt. Wollen wir ihm auch unser letztes Schäfchen geben." Und sie gaben es ihm. Der Wolf schleppte es fort, fraß es, erschien wieder unterm Fenster und sang: „Es lebt ein Alter mit seiner Alten, Sie haben ein bellendes Hündchen, Eine junge Stute mit einem Stummelschwänzchen." Die Frau sagte: „Hör nur, Alterchen, wie schön der liebe Wolf singt. Wollen wir ihm unser bellendes Hündchen geben." Und sie gaben es ihm. Der liebe Wolf schleppte das Hündchen fort, erschien am nächsten Morgen wieder unterm Fenster und sang: 48
„Es lebt ein Alter mit seiner Alten, Sie haben eine junge Stute mit einem Stummelschwänzchen." Die Frau sagt: „Hör nur, Alterchen, wie schön der liebe Wolf singt. Wollen wir ihm unsere junge Stute mit dem Stummelschwänzchen geben." Und sie gaben sie ihm. Der Wolf schleppte sie fort, fraß sie, erschien am Morgen wieder unterm Fenster und sang: „Es lebt ein Alter mit seiner Alten, Es lebt ein Alter mit seiner Alten." Die Frau sagt: „Hör nur, Alterchen, wie schön der liebe Wolf singt, nun muß ich wohl dich ihm geben." Und sie gab ihr Alterchen dem Wolf. Der Wolf schleppte den Alten fort, fraß ihn, erschien unterm Fenster und sang: „Es lebt eine Alte, Es lebt eine Alte." Nun sagt die Frau: „Mein lieber Wolf, singe oder singe nicht, ich habe nichts mehr für dich." Aber der Wolf ist mit einem Satz durch das Fenster im Zimmer, und im Nu ist die Frau auf dem Ofen. Der Wolf springt hinterher, sie verkriecht sich unterm Ofen. Doch sie kann ihm auch dort nicht entkommen. Er ergriff die Frau und fraß sie. 27
DER BÄR UND DIE MAUS
Einst bereitete sich der Bär eine Schlafstätte. Da kam ein kleines Mäuschen auf ihn zu und fragte ihn: „Väterchen, was machst du hier?" Er brummte: „Siehst du denn nicht, daß ich mir eine Schlafstätte mache?" „Nun, gönne mir auch ein kleines Plätzchen!" 4
Leitische Volksmärchen
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Er denke gar nicht daran, einem solchen Nichts einen Platz neben sich zu gönnen, das Mäuschen solle lieber sehen, daß es mit heiler Haut davonkomme. Das Mäuschen erwiderte, er solle es nicht fortjagen — vielleicht könne es ihm einmal von Nutzen sein. Wie sollte ihm schon jemals ein solches Nichts nützlich sein? Das Mäuschen sagte nun kein Wort mehr und trippelte davon. Es vergingen einige Tage. Jäger hatten ausfindig gemacht, daß sich hier ein Bär niedergelassen hat. Sie spannten ein Netz, der Unglückliche geriet in diese Falle und verfing sich so darin, daß er nicht mehr entkommen konnte. Er schaute ringsum, aber weit und breit war keine Hilfe zu erblicken. Plötzlich kam das Mäuschen vorbei, sah den Bären im Netz und fragte ihn: „Nun, Väterchen, wie geht es dir?" Das Väterchen sperrte die Augen weit auf und fing an, das Mäuschen innig zu bitten, ihn aus dem Unglück zu erlösen. Das Väterchen sperrte die Augen weit auf und begann das helfen solle. Nun erinnerte sich der Bär seiner Worte und schämte sich. Die Bärenfänger waren schon zur Stelle, und der arme Bär wußte wahrlich nicht mehr aus noch ein. Da sagte das Mäuschen: „Du hast mir nicht geholfen, aber ich werde dir helfen." Es nahm alle seine Kräfte zusammen und zerbiß das Netz. Lachend kroch der Bär aus dem Netz und suchte das Weite, ohne dem Mäuschen auch nur ein einziges Wort des Dankes gesagt zu haben. 28
WARUM DER HASE EINE DURCHGEBISSENE LIPPE HAT
Einst hatte sich Vater Perkons über Mücken, Schnaken und Fliegen geärgert. Er fing dieses freche Volk, steckte es in einen Sack und schnürte ihn zu. Dann rief er den Hasen und befahl ihm, den Sack im Wasser zu versenken. Vater Perkons warnte jedoch den Hasen davor, in den Sack zu schauen und womöglich eines dieser frechen Wesen entfliehen zu lassen. Aber der Hase war entsetzlich neugierig, doch er durfte j a nicht in den Sack schauen. Als er am Fluß angelangt war, konnte er seine Neugier nicht mehr beherrschen. Er öffnete den Sack und schaute heimlich hinein. Plötzlich — dschinks — flog eine Mücke vorbei an seiner Nase in die Büsche. Nun warf der Hase den Sack auf die Erde und jagte der Mücke nach, bis er sie 50
fing. Als er zurückkehrte, befand sich kein einziges Insekt mehr im Sack. Der Hase war darüber sehr erschrocken, er sprang in den Fluß und wollte sich nun selbst ertränken. Auf einmal war, weiß der Teufel woher, ein Krebs zur Stelle, der den Hasen in die Lippe biß. Vor großem Schmerz vergaß der Hase die Angst und rannte in den Wald. Seit damals hat der Hase eine durchgebissene Lippe. Doch er entsinnt sich seines Unglücks nur, wenn der Donner grollt. Dann überkommt ihn unheimliche Angst, und er kriecht ins Gebüsch und zittert. 29
WARUM DER HASE LANGE OHREN HAT
Einst hatte sich der Hase mit einem Hammel angefreundet, und sie beschlossen, zusammen zu wohnen. Eines Tages sagte der Hammel zum Hasen: „Bauen wir uns ein Haus!" „Einverstanden!" antwortete der Hase. Am nächsten Tag gingen sie in den Wald nach Balken. An einem dicken Baum machten sie halt, und der Hammel sagte: „Ich werde diesen Baum umwerfen!" „Das schaffst du nicht!" erwiderte der Hase. „Ich schaffe es! Du wirst's sehen!" prahlte der Hammel. Er nahm einen tüchtigen Anlauf und warf sich mit seinen Hörnern gegen den Baum. Und der Baum stürzte zu Boden. Der Hase dachte bei sich: Auf diese Weise fallt man also Bäume. Das kann ich auch! Sie gingen zu einem anderen Baum, und der Hase sagte: „Diesen Baum werde ich umwerfen!" „Das schaffst du nicht!" erwiderte der Hammel. „Ich schaffe es! Du wirst's sehen!" Nun nahm der Hase einen tüchtigen Anlauf und warf sich mit der Stirn gegen den Baum. Aber der Baum rührte sich nicht, nur der Kopf des armen Häsleins rutschte zwischen die Schultern. Der Hammel wollte seinem Freund helfen und den Kopf wieder hochziehen. So sagt er: „Rühr dich nicht! Ich werde dir den Kopf an den Ohren wieder hochziehen!" Der Hammel packte den Hasen an den Ohren und fing zu ziehen an. Er zog und zog, bis der Hase zu schreien begann: „Genug!" 4*
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Aber der Hammel zog und zog. Es gelang ihm zwar, den Kopf hochzuziehen, aber dabei hatte er die Ohren des Hasen ganz weit aus dem Kopf herausgezogen. Seit dieser Zeit hat der Hase lange Ohren. 30
DER H U N D U N D DER HASE
Einst hockte der Hase mit gefalteten Vorderpfoten am Waldrand und pfiff und pfiff, daß der ganze Wald tönte. Ausgerechnet in diesem Augenblick kam ein Hund vorbei. Er hörte das Pfeifen und machte kurz halt. Was für ein schönes Pfeifen, dachte er. Wer mag das wohl sein, der so herrlich zu pfeifen versteht? Er schaute sich um und erblickte den Hasen. „Ach, du bist es, Bruder Jandt!" rief er aus. „Bitte pfeife noch ein wenig, mir gefallt dein Pfeifen sehr!" Wieder fing der Hase zu pfeifen an. „Ach, wie schön das klingt! Lieber Jandt, kannst du mir das Pfeifen nicht beibringen?" fragte der Hund. „Nein, mein Lieber", sagte der Hase, „dir kann ich das Pfeifen nicht beibringen!" „Warum denn nicht?" fragte der Hund. „Dein Mund taugt nicht zum Pfeifen." Der Hase hockte sich auf die Hinterpfoten und begann wieder zu pfeifen. Der Hund stand neben ihm und lauschte. Nach einer Weile fing er an, den Hasen erneut zu bitten. „Dein Mund ist zu schmal", sagte der Hase, „wenn er breiter wäre, dann könnte ich dich vielleicht pfeifen lehren." „Kannst du meinen Mund nicht irgendwie breiter machen, damit ich es doch noch lerne?" fragte der Hund. „Ich könnte deinen Mund etwas breiter sägen", antwortete der Hase. Der Hund wollte doch zu gern pfeifen, und deshalb sagte er: „Gut, Bruder Jancit, fang an zu sägen. Ich will die Schmerzen gern ertragen, wenn ich dann nur pfeifen kann." Der Hase holte die Säge und sägte den Mund des Hundes breiter. „Versuche nun zu pfeifen wie ich", sagte der Hase und pfiff wieder. Der Hund versuchte es, aber alle Mühe war vergebens! Immerzu versuchte er's, aber anstatt zu pfeifen, klang es nur „ Wau-wau-wau!" 52
Nun wurde der Hund sehr ärgerlich: „Warum hast du meinen Mund zersägt und mir gesagt, daß ich dann pfeifen kann? Jetzt wird's dir schlecht ergehen." Der Hase nahm Reißaus, und der Hund jagte ihm nach. Schlecht wäre es dem Hasen ergangen, wenn er nicht in einer Höhle Zuflucht gefunden hätte. Damals hatten die Hasen viel längere Schwänze als heute. Als der Hund die Höhle erreichte, hatte sich der Hase schon tief verkrochen, und nur sein Schwanz war noch zu sehen. Der Hund ergriff den Schwanz und biß ihn ab. Seit dieser Zeit haben alle Hasen Stummelschwänzchen, und wenn der Hund einen Hasen erblickt, jagt er ihm nach und bellt „Wau-wau-wau-wau!" 31
DER HASE UND DER FUCHS
Der Hase und der Fuchs waren Nachbarn. Der Hase hatte eine häßliche Holzhütte, aber der Fuchs war Besitzer einer schönen Eishütte. Es wurde Frühling, und die Eishütte des Fuchses fing an zu tauen. Jetzt ging der Fuchs zum Hasen und bat ihn, sich ein wenig in seiner Hütte wärmen zu dürfen. Der Hase gestattete es ihm. Aber kaum hatte der Fuchs die Hütte des Hasen betreten, veijagte er den Hasen. Er solle sich eine andere Hütte bauen, und der Fuchs dünkte sich als stolzer Besitzer der Hasenhütte. So machte sich der Hase auf den Weg und weinte. Da begegnete ihm der Wolf und fragte: „Warum weinst du?" Der Hase: „Soll ich denn nicht weinen? Ich war Nachbar des Fuchses. Ich hatte eine Holzhütte und der Fuchs eine Eishütte. Es wurde Frühling, und in der Sonne taute die Eishütte des Fuchses, und er ergriff Besitz von meiner Holzhütte." „Gut!" rief der Wolf. „Machen wir uns auf den Weg. Ich werde dem Fuchs die Holzhütte wegnehmen." Der Hase und der Wolf betraten die Hütte, aber der Fuchs lugte hinter dem Ofen hervor und schrie: „Verschwindet! Verschwindet! Wenn ich springe, packe ich euch beide am Kragen und werfe euch hinaus!" Der Wolf erschrak und ergriff die Flucht. Der Hase machte sich auf den Weg und weinte. Nun begegnete ihm der Bär. Er fragte: „Warum weinst du?" Der Hase: 53
„Soll ich etwa nicht weinen? Ich war Nachbar des Fuchses. Ich hatte eine Holzhütte und der Fuchs eine Eishütte. Es wurde Frühling, und in der Sonne taute die Eishütte des Fuchses, und er ergriff Besitz von meiner Holzhütte." „Gut!" rief der Bär. „Machen wir uns auf den Weg. Ich werde dem Fuchs die Holzhütte wegnehmen." Der Hase und der Bär betraten die Hütte, aber der Fuchs lugte hinter dem Ofen hervor und schrie: „Verschwindet! Verschwindet! Wenn ich springe, packe ich euch beide am Kragen und werfe euch hinaus!" Der Bär erschrak und ergriff die Flucht. Der Hase wanderte allein weiter und weinte. Diesmal begegnete ihm der Hahn. Er fragte: „Warum weinst du?" Der Hase: „Soll ich etwa nicht weinen? Ich war Nachbar des Fuchses. Ich hatte eine Holzhütte und der Fuchs eine Eishütte. Es wurde Frühling, und in der Sonne taute die Eishütte des Fuchses, und er ergriff Besitz von meiner Holzhütte." „Gut!" sagte der Hahn. „Gehen wir, ich werde dem Fuchs die Hütte wegnehmen." Der Hase und der Hahn betraten die Hütte, aber der Fuchs lugte hinter dem Ofen hervor und schrie: „Verschwindet! Verschwindet! Wenn ich springe, packe ich euch beide am Kragen und werfe euch hinaus!" Der Hahn: „Beherrsche dich, Brüderchen! Ein Soldat mit Speeren und Säbeln hat die Hütte betreten. Wenn du nicht im guten die Hütte verläßt, bricht ein Krieg aus." Und außerdem rief der Hahn: „Schau, schau nur — dort steht ein Soldat!" Jetzt erschrak der Fuchs und nahm Reißaus. Der Hase und der Hahn lebten nun gemeinsam in der Hütte und gelangten im Lauf der Zeit zu großem Reichtum. 32
DER FROSCH AUS RIGA U N D DER FROSCH AUS LIEPÄJA
In alten Zeiten lebten einmal zwei Frösche. Der eine wohnte in Riga und der andere in Liepäja. Dem einen fiel es ein, sich umzusehen, wie man in Riga lebt, und der andere dachte, es wäre gut, mal zu sehen, wie Liepäja ausschaut und wie man dort lebt. 54
Der Frosch aus Liepäja macht sich auf den Weg, er geht und geht, bis er einen Hügel erreicht und den Frosch erblickt, der aus Riga nach Liepäja unterwegs ist. „Wo kommst du her?" fragt der Frosch aus Liepäja. „Ich bin unterwegs, um mir mal Liepäja anzusehen", antwortet der Frosch aus Riga. „Und ich bin unterwegs nach Riga", erwidert der Frosch aus Liepäja. So kommen sie ins Gespräch und stellen fest, daß ihr Ziel noch fern ist und ihnen schlimme Gefahren von Störchen drohen. „Halt", sagt der eine Frosch, „wie wäre es, wenn wir uns auf dem Gipfel des Berges auf unsere Hinterfüße stellen und Ausschau halten, was man von dort aus sieht, dann brauchen wir nicht den weiten Weg zu den Städten zurückzulegen." Gedacht, getan. Beide stellen sich einander gegenüber auf die Hinterfüße. Und was erblicken sie? Der Frosch aus Riga sagt: „Mein liebes Brüderlein, dein Liepäja sieht genauso aus wie mein Riga!" Und der Frosch aus Liepäja sagt, daß Riga Liepäja gleicht wie ein Ei dem andern. „Wenn es so in der Welt bestellt ist, dann brauchen wir doch unseren Weg nicht fortzusetzen", meinten beide Frösche. Aber sie vergaßen ganz, daß ihre Augen oberhalb des Kopfes sind und daß sie sich auf die Hinterfüße gestellt hatten und deshalb nicht nach vorn, sondern rückwärts schauten. Und so wissen die armen Frösche bis heute nicht, daß Riga und Liepäja einander gar nicht ähnlich sind. 33
D I E VÖGEL BESIEGEN DIE VIERBEINER
Einst ging der Bär mit dem Wolf am Nest einer Meise vorbei. Der Wolf machte den Bären auf das Nest aufmerksam und sagte: „Siehst du dort das Schloß der Meise?" Der Bär antwortete ihm: „Das ist gar kein Schloß, sondern eine armselige Hütte." Die Meise hörte das und fühlte sich sehr gekränkt. So forderte sie die Tiere zu einem Kampf mit allen den Lebewesen heraus, die fliegen können. Der Bär und der Wolf nahmen diese Herausforderung an, denn sie zweifelten keinen Augen55
blick am Sieg der Vierbeiner. Der Bär begab sich in den Wald und verkündete den Vierbeinern, daß sie sich für den Kampf am nächsten Tag rüsten sollten. Die Vierbeiner wählten den Fuchs zu ihrem Heerführer und vereinbarten folgendes: Wenn der Fuchs seinen Rücken leckt, ist Gefahr im Anzug, und alle müssen fliehen. Die Eule war heimliche Zeugin dieser Abmachung und setzte die Vögel davon in Kenntnis. Als am nächsten Tag der Kampf kaum begonnen hatte, flog eine Hornisse auf den Fuchs und stach ihn in den Rücken. Der Fuchs stieß einen Schmerzensschrei aus und fing sofort an, sich den Rücken zu lecken. Die Vierbeiner sahen das und ergriffen im Nu die Flucht — wie verabredet. So besiegten die Vögel die Vierbeiner, und der Bär mußte sich in Gegenwart aller Vögel sogar noch bei der Meise entschuldigen. 34
WIE DIE TAUBE IHR NEST BAUTE
Anfangs hat die Taube die Eier in die Erde gelegt. Doch einmal holte sich der Fuchs die Eier, und die Taube klagte: „Ein halbes Schock habe ich gelegt, ein halbes Schock habe ich gelegt — und kein Ei ist mehr da!" Damit sich dieses Mißgeschick nicht wiederholte, rief sie die anderen Vögel herbei und nahm sich vor, von ihnen zu lernen, wie man ein Nest baut. Aber was geschieht? Kaum fangen die Vögel an, die Zweiglein zusammenzuflechten, ruft die Taube: „Ich kann's schon, ich kann's schon!" Doch es dauert gar nicht lange, bis die Taube sich eingestehen muß: Nein, ich kann's noch nicht! Und sie ruft die Vögel zum zweiten Mal zu Hilfe. Sie fliegen nochmals herbei und flechten weitere Zweiglein zum Nest. Fast ist es schon halb fertig, da ruft die Taube wieder: „Ich kann's schon, ich kann's schon!" Nun gut. Wenn sie's kann — was sollen wir dann noch! Und sie fliegen fort. Aber die Taube, die Dumme, hat keine Ahnung vom Nestbauen. Schließlich ruft die Taube ein drittes Mal die anderen Vögel zu Hilfe. Vergebens! Und so bleibt das Nest der Taube so durchlässig, daß die Eier fast herausfallen. 56
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DIE S P I N N E U N D DIE F L I E G E
In alten Zeiten herrschte über die ganze Welt ein einziger König. Er war sehr mächtig, und nicht nur die Menschen, sondern auch alle anderen Lebewesen mußten seinen Befehlen gehorchen. Im großen Reich des Königs gab es bereits alles, nur das Feuer fehlte noch. Der König überlegte hin und her, wie man wohl Feuer beschaffen könne. Zwar wußten die Menschen, daß es in der Hölle Feuer gibt, aber wie sollte man das Feuer aus der Hölle holen — der Teufel bewacht doch das Feuer. So berief der König eine große Versammlung ein, und nun wurde beraten, wie man den belohnen wollte, der das Feuer aus der Hölle holt. Zuletzt wurde beschlossen, daß derjenige, der diese Tat vollbringe, für alle Zeiten umsonst essen dürfe, an welchem Tisch auch immer es ihm beliebe, und keinem solle es gestattet sein, ihn fortzujagen. So begaben sich viele in die Hölle, um Feuer zu holen, aber niemand kehrte zurück — der Teufel hatte alle getötet. Nun hatte die Spinne von der hohen Belohnung Kunde erhalten. Deshalb bereitete sie sich in aller Stille auf die Reise in die Hölle vor. Sie fing an Seile zu spinnen. Sie spann und spann, bis sie viele, viele Seile hatte. Dann nahm sie die Seile und begab sich zu der Stelle, von der aus man sich zur Hölle hinunterläßt; das Ende des Seiles befestigte sie an einem Baum und ließ sich am Seil hinunter in die Erde. Das glückte ihr auch. Unten war es ganz finster. Die Spinne wanderte und hielt nach einem Feuerschein Ausschau. Endlich erblickte sie Feuer. Vom Teufel war weit und breit keine Spur, und so ergriff sie ein brennendes Scheit und machte sich auf und davon. Das Emporklettern fiel ihr nicht mehr so leicht wie das Hinuntergleiten. Endlich war sie oben, aber sie war so ermattet, daß sie sofort hinfiel und einschlief. In der Nähe flog eine Fliege vorbei — sie hatte einen merkwürdigen Geruch wahrgenommen und schaute sich neugierig um. Und da erblickte sie die schlafende Spinne und neben ihr das brennende Feuerscheit. Heimlich stahl die Fliege das Feuer und eilte zum König, dem sie weismachte, daß sie das Feuer aus der Hölle geholt hätte. Der König freute sich sehr und ließ der Fliege zu Ehren ein großes Fest veranstalten. Er übergab ihr auch eine Urkunde, die besagte, daß sie und ihre Angehörigen für alle Zeiten an 57
jedem Tisch umsonst speisen können und daß sie von keinem vertrieben werden dürfen. Gegen Abend erwachte die Spinne und wollte sich mit dem brennenden Scheit zum Schloß begeben, aber siehe da — das Scheit war nicht mehr da. Nun war das arme Spinnlein sehr erschrocken, es rannte überall hin und fragte, ob nicht jemand bemerkt habe, daß das Feuer vielleicht wieder in die Hölle verschwunden sei. Alle hielten die Spinne für verrückt und sagten ihr, daß die Fliege schon am frühen Morgen das Feuer dem König gebracht hätte und jetzt in Freuden lebe. Nun begriff die Spinne, daß die Fliege ihr das Feuer gestohlen hatte, und sie eilte zum König und erzählte ihm, daß die Fliege eine Betrügerin ist. Sie, die Spinne, habe das Feuer geholt, und die Fliege habe es ihr gestohlen. Der König wollte das nicht glauben und forderte Beweise, aber die Spinne konnte nichts beweisen, und so blieb es dabei, daß die Fliege und nicht die Spinne das Feuer geholt hat. Die Spinne wurde deshalb der Fliege sehr böse. Sie berief alle Spinnen zu einer Versammlung ein und berichtete vom Verbrechen der Fliege, und sie überzeugte alle anwesenden Spinnen davon, daß die Fliege alle Spinnen bestohlen habe. So beschlossen die Spinnen, alle Fliegen zum Tode zu verurteilen, wo auch immer man ihrer habhaft wird. Seit jenen Zeiten verträgt sich die Spinne nicht mehr mit der Fliege, und wenn sie eine erblickt, bringt sie diese um. 36
W I E DIE H A U S T I E R E DIE R Ä U B E R V E R T R I E B E N
Einst hatte ein Bauer ein altes Pferd. Es war so alt, daß es zu nichts mehr nütze war. Der Bauer wollte es aber nicht totschlagen, denn es hatte ihm lange treu gedient. So trieb er es in den Wald — mag es zusehen, wie es fertig wird. Das Pferd war darüber sehr betrübt und wußte nicht, wie es sein Leben fristen sollte. Doch plötzlich kam ihm ein kluger Gedanke. Es entschloß sich, als Musikant nach Riga zu wandern. Und es machte sich auf den Weg. Unterwegs begegnet das Pferd einem Hund, der auch sehr traurig ist und schluchzt. Auf die Frage des Pferdes, warum der Hund weint, erwidert der: „Soll ich denn nicht darüber weinen, daß der Bauer mich aus 58
dem Haus gejagt hat, weil ich ihm nicht mehr dienen kann? Ich soll selbst zusehen, wie ich mir mein Brot verdiene." Das Pferd tröstete den Hund und erzählte ihm, daß es ebenfalls von seinem Herrn vertrieben war. Sie könnten doch gemeinsam nach Riga wandern und sich dort als Musikanten ihren Lebensunterhalt verdienen. Der Hund war mit diesem Vorschlag einverstanden, und sie setzten den Weg gemeinsam fort. Sie wandern und wandern. Plötzlich begegnen sie einem Hahn, der ihnen seine Geschichte erzählt — ihm war dasselbe Unglück widerfahren. Nun, wenn dem so ist, dann mag auch er mit ihnen als Musikant nach Riga wandern. Und sie setzen ihren Weg zu dritt fort. Auf einmal ist — wer weiß, woher - eine Katze zur Stelle, die ebenfalls als Musikant nach Riga mitgenommen wird. Nun wandern alle vier, bis es Nacht wird. Im Nu ist es finster geworden, und es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Nacht im Walde zu verbringen. Aber sie fürchten sich vor dem Wolf. So beschließen sie, daß einer von ihnen auf den Baum klettern und Ausschau halten soll, ob nicht irgendwo ein Haus zu erblicken ist, in dem Licht brennt. Eins-zwei-drei ist die Katze auf dem Baum und sieht irgendwo im Westen Licht. Sofort brechen sie alle auf und entdecken mitten im Wald das Haus. Die Katze, der Hahn und der Hund wollen gleich hineingehen, aber das Pferd hält sie zurück, schaut heimlich durchs Fenster und erblickt im Zimmer zwölf Räuber beim Mahl. Nun wird es den Musikanten himmelangst, aber dann meinen sie doch, daß ihnen nichts zustoßen wird, wenn sie den Räubern aufspielen. Nun gut! Das Pferd stellt sich mit seinen Hinterbeinen an die Wand. Der Hund steigt auf die Vorderfüße des Pferdes, die Katze klettert auf den Hund, und der Hahn läßt sich auf der Katze nieder. Dann beginnen sie mit ihrer Musik, so gut ein jeder kann — der eine stimmt zarte Töne an, der andere laute. Als die Räuber dieses Tradiridi vernehmen, denken sie, daß ihr letztes Stündlein gekommen sei, und reißen aus, so schnell sie nur vermögen. Da das Haus nun leer war, ergriffen die Musikanten Besitz davon und wollten sich zur Ruhe begeben: die Katze auf der Ofenbank, das Pferd an der Mistgrube, der Hahn auf dem Dach und der Hund vor der Hausschwelle. Nachdem die Räuber schon ein Stück Weges zurückgelegt hatten, dachten sie, daß es gut sei, noch mal nachzuschauen, 59
vor wem sie eigentlich Reißaus genommen haben. Doch keiner wagte es, noch einmal zurückzugehen. So stritten sie eine ganze Weile, bis der Mutigste sich dazu entschloß. Der Räuber betritt also das Haus, aber alles ist finster. Er sucht auf der Ofenbank nach Streichhölzern, doch statt dessen berührt er die Katze. Diese erschrickt so sehr, daß sie dem Räuber ins Gesicht springt und ihn entsetzlich kratzt. Im Nu verläßt er das Zimmer. Aber da tritt ihn auch schon das Pferd in den Rücken, und der Hund faßt ihn am Bein. Der Hahn, der im Dunkeln nichts erkennen kann, scharrt und schreit: „Wohin, wohin, gib mir zu fressen!" So ist der Räuber fast halbtot bei den anderen Räubern angekommen und hat ihnen berichtet: „Gott bewahre, in welcher Gefahr ich mich befand! Im Zimmer wollte man mir die Haut übers Gesicht ziehen. Heraus kam ich auch nicht. Einer hielt mich mit Stangen an den Füßen, ein anderer wälzte mir einen Balken über den Rücken, und ein dritter schrie: ,Wohin, wohin, gib mir zu fressen!' Der hat mich beinahe verschlungen." Nun ergriffen die Räuber endgültig die Flucht, und die Musikanten behielten das Haus. 37
DER FREIBRIEF
In alten Zeiten, als der Hund und die Katze noch ihren Freibrief hatten, konnten sie immer im Haus bleiben. Aber lange hat dieses angenehme Leben nicht gewährt, denn beide verstanden nicht, ihren Freibrief gut aufzubewahren. Die Katze hat ihn hinter einem Sparren auf dem Dachboden versteckt, und der Hund bewahrte seinen Freibrief unter der Schwelle seiner Hütte auf. Doch Ratten entdeckten den Freibrief der Katze, nahmen ihn an sich und zernagten ihn. Im nächsten Jahr, als der Hund und die Katze ihren Freibrief vorzeigen sollten, um weiterhin im Haus bleiben zu können, zeigte der Hund den seinen vor, aber die Katze konnte ihren Freibrief nicht finden. Und nun schickte die Bäuerin die Katze zum Viehhüten auf die Weide, doch der Hund konnte daheim bleiben. So wurde die Katze auf den Hund neidisch und wollte sich unbedingt an ihm rächen. Im Sommer war es beim Viehhüten noch einigermaßen erträglich, aber im Herbst, wenn es jeden Tag regnete, gefiel es der Katze ganz und gar nicht auf der 60
Weide. Und nun schoß ihr etwas durch den Sinn. Eines Abends, als der Hund beim Abendbrot war, kroch die Katze in sein Stübchen, entwendete dessen Freibrief und versteckte ihn unter ihrem Kopfkissen. Im kommenden Jahr mußte der Freibrief wieder vorgezeigt werden. Jetzt zeigt die Katze den Freibrief vor, aber der Hund sucht seinen vergebens. Im folgenden Jahr ist der Katze auch der Freibrief des Hundes abhanden gekommen. Nun müssen sie beide arbeiten — der Hund muß das Vieh hüten und die Katze auf Mäusefang gehen. Seit dieser Zeit können Hunde und Katzen einander nicht ausstehen. 38
WIE DER HAHN KOHL KOCHTE
Einst hatte ein Bauer einen sehr alten Hahn, der die Leute durch sein Krähen nicht mehr zur rechten Zeit weckte. Darüber war der Bauer ärgerlich und gewährte dem Hahn keine Unterkunft und Nahrung mehr. Er jagte ihn in den Wald. Traurig irrte der Hahn, der Ärmste, drei Tage durch den Wald. Ein benachbarter Bauer hatte einen alten Kater, der ebenfalls zu nichts nutze war, da er keine einzige Maus mehr fing. Auch er wurde von seinem Herrn in den Wald getrieben, denn der Bauer dachte gar nicht daran, einen überflüssigen Esser noch länger zu beherbergen. Mag er in die Welt gehen und selbst für Brot und Unterkunft sorgen. Der Kater humpelte in den Wald und irrte dort ebenso traurig umher wie der Hahn, denn auch er wußte nicht, wo er bleiben und was er anfangen sollte. Er wanderte und wanderte, bis er eines Tages dem Hahn begegnete. Die beiden kamen ins Gespräch. Als sie feststellten, daß sie Leidensgenossen waren, wurde ihnen ein wenig froher ums Herz, und sie beschlossen, in Zukunft gemeinsam ihr Los zu tragen. Gesagt, getan. Sie suchen sich ein geeignetes Fleckchen, um sich eine Hütte zu bauen. Nachdem sie eine günstige Stelle gefunden haben, stürzen sie sich begeistert in die Arbeit, und eins-zwei-drei steht die Hütte. Nun vereinbaren sie, daß der Hahn die hauswirtschaftlichen Pflichten übernehmen soll, während der Kater auf die Jagd gehen und Fleisch beschaffen wird. Als in der Hütte alles fertig 61
ist, befiehlt der Kater dem Hahn, Kohl zu kochen. Er selbst läuft in den Wald nach Fleisch. Beim Fortgehen ermahnt er den Hahn, niemanden in die Hütte zu lassen. „Nein, nein", versichert der Hahn, „ich lasse keinen hinein!" Guten Mutes verläßt der Kater die Hütte. Der Hahn macht Feuer im Herd und setzt den Kohl auf. Als der Kohl schon ein Weilchen kocht, klopft es plötzlich an die Tür, und jemand bittet kläglich, eintreten und sich wärmen zu dürfen. Der Hahn überlegt, wer das wohl sein mag, der so durchgefroren ist, und er schaut aus dem Fenster. Natürlich, Gevatter Fuchs ist zur Stelle. Der Hahn will ihm nicht öffnen und sagt, daß ihm sein Wirt, der Kater, verboten habe, jemanden hereinzulassen. Noch beim Fortgehen habe er's ihm eingeschärft, um Gottes willen niemandem zu öffnen. Aber Gevatter Fuchs fleht herzzerreißend um Einlaß. Er müsse vor die Hunde gehen, wenn der Hahn sich seiner nicht erbarme, denn er friere entsetzlich — seine Füße seien bereits erfroren, so daß er sich nicht mehr aufrecht halten könne. Damit der Hahn seinen Worten Glauben schenkt, tritt der Fuchs von einem Bein aufs andre. Dem Hahn tut der arme Gevatter Fuchs leid, und er läßt ihn herein, damit er sich ein wenig aufwärmt. Freudig betritt der Fuchs das Zimmer und fragt den Hahn, was er denn hier so treibe. Der Hahn erzählt ihm, daß er Kohl koche. Nun bittet der Fuchs den Hahn, ihm etwas Kohl zum Kosten zu geben. Der Hahn erfüllt den Wunsch seines Gastes. Doch während der Hahn sich beugt, um etwas Kohl herauszuschöpfen, packt ihn der Fuchs — zapps — am Kragen und schleppt ihn fort in den Wald. Zum Glück kommt der Kater genau auf demselben Weg heimwärts, so daß er dem Fuchs begegnet, ihm das Opfer entreißt und so seinen Freund rettet. Der Kater war sehr erzürnt über den ungehorsamen Hahn, der den Fuchs in die Hütte gelassen hatte. Der Hahn versuchte zwar, sich zu rechtfertigen. Er habe gedacht, daß der Fuchs so durchgefroren sei, daß er gleich sterben müsse. Aber der Kater war derart ärgerlich, daß er den Hahn für seinen Ungehorsam am liebsten mit Ruten verprügelt hätte. Der Kohl war inzwischen weich gekocht, und beide Freunde ließen es sich schmecken. Anschließend begaben sie sich zur Ruhe. Am kommenden Morgen sollte der Hahn wieder Kohl 62
kochen, und der Kater machte sich erneut in den Wald auf, um Fleisch zu holen. Beim Fortgehen ermahnte er wieder den Hahn, um Gottes willen niemanden in die Hütte zu lassen, denn sonst werde es ihm schlimm ergehen. Er solle sich auch weder durch Bitten noch durch Betteln erweichen lassen. Der Hahn verspricht dem Kater hoch und heilig, diesmal wirklich keinem zu öffnen, und der Kater begibt sich frohgemut in den Wald. Aber Gevatter Fuchs liegt bereits im Gebüsch auf der Lauer und wartet darauf, daß der Kater die Hütte verläßt. Nachdem der Kater aufgebrochen ist, macht der Hahn Feuer im Herd und setzt den Kohl auf. Kaum hat der Kohl zu kochen begonnen, klopft's auch schon an die Tür, und jemand bittet um Einlaß. Der Hahn trippelt zum Fenster und schaut, wer es denn ist, der so wehleidig zu bitten versteht. Und wieder erblickt er den frechen Gevatter Fuchs. Der Hahn beschließt,, ihn diesmal nicht hereinzulassen. Als der Fuchs gar keine Ruhe gibt, sagt ihm der Hahn, daß es ihm vom Kater streng untersagt sei, jemandem zu öffnen. Und er denke auch gar nicht daran, den Fuchs hereinzulassen, der ihn erst gestern so gemein genarrt habe. Der Fuchs erwidert aber, daß es doch nur ein Scherz gewesen sei und er nicht mehr derartige Späße machen werde. Wenn der Hahn ihm nicht Einlaß gewähre, dann sei für den Fuchs das letzte Stündlein gekommen, denn Jäger mit ihren Hunden seien ihm bereits auf der Spur. So gab der Fuchs mit seinem Bitten und Betteln keine Ruhe, bis der Hahn sich wieder erweichen ließ. Der Fuchs erkundigt sich nun, was der Hahn hier so allein treibe, und der Hahn erzählt ihm, daß er Kohl koche, während der Kater nach Fleisch unterwegs sei. Und wieder bittet ihn der Fuchs um eine Kostprobe. Der Hahn, der Einfaltige, ahnt nichts Böses. Doch während er sich beugt, um den Kohl herauszuschöpfen, packt ihn — zapps — der Fuchs wieder am Kragen und schleppt ihn in den Wald. Diesmal hatte der Fuchs zwar einen anderen Weg eingeschlagen, aber — hol's der Teufel — auch der Kater benutzt diesen Weg und erblickt den Fuchs mit dem Hahn zwischen den Zähnen. Er stürzt sich auf den Fuchs und rettet seinen Freund vor dem sicheren Tod. Als sie daheim angekommen sind, schimpft der Kater den Hahn wieder für seinen Ungehorsam und seine Dummheit 63
aus, aber er, der Ärmste, rechtfertigt sich, so gut er's halt versteht. Nachdem der Kater den Hahn tüchtig ausgezankt hat, schließen sie wieder Frieden und lassen sich den Kohl gut munden. Der Kater versichert dem Hahn, daß er, sollte er noch ein drittes Mal solch eine Dummheit machen, nicht ohne Prügel davonkommen wird. Der Hahn ist damit einverstanden und sagt dem Kater, daß er ihn nur verprügeln solle, wenn er noch mal ein solcher Narr sei und jemanden in die Hütte lasse. Als sie sich am Kohl satt gegessen haben, begeben sie sich zur Ruhe. Am dritten Morgen geht der Kater wieder in den Wald, um Fleisch zu holen, und wieder soll der Hahn Kohl kochen. Beim Fortgehen ermahnt der Kater den Hahn eindringlich, niemanden in die Hütte zu lassen, denn das wäre der Tod des Hahns. Wieder begibt sich der Kater in den Wald, und Gevatter Fuchs, der unweit der Hütte im Gebüsch auf der Lauer liegt, beobachtet alles. Als der Kater nicht mehr zu sehen ist, wartet der Fuchs noch eine Weile und klopft dann an die Tür der Hütte. Der Hahn ist im Nu am Fenster, um zu schauen, wer dort wieder klopft. Diesmal aber bettelt der Fuchs nicht. Er fordert den Hahn auf, ihn schleunigst hineinzulassen, da ihn der Kater schicke. Ihm sei im Wald ein Unglück zugestoßen, und der Fuchs solle mit dem Hahn beraten, wie sie dem Kater helfen können. Und außerdem habe der Kater dem Fuchs aufgetragen, ihn in den Wald mitzunehmen. Der Hahn glaubt den Worten des Fuchses, der entsetzlich zu heucheln versteht. Und so läßt der leichtgläubige Hahn den Fuchs auch diesmal in die Hütte. Der Fuchs fordert den Hahn auf, ihm auch heute etwas Kohl zu geben, da er sonst zu schwach sei, um dem Kater zu helfen. Natürlich, der Fuchs solle sich nur satt essen! Und der Hahn beugt sich, um Kohl herauszuschöpfen, und wieder packt ihn der Fuchs — zapps — am Kragen und schleppt ihn in den Wald. Diesmal war das Glück dem Hahn nicht hold, denn der Kater kam ihnen unterwegs nicht entgegen, und der Hahn glaubte, daß nun tatsächlich sein letztes Stündlein gekommen sei. Der Fuchs schleppte ihn ins tiefe Dickicht und zog ihn in seinen Bau. Dort schleuderte er den Hahn in eine finstere Ecke und
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sagte ihm, daß er sein letztes Vaterunser sprechen solle. Er werde indessen mit seiner Frau beraten, ob sie den Hahn gebraten oder gekocht fressen wollen. Inzwischen war der Kater mit seiner Beute aus dem Wald heimgekehrt. Als er die Hütte offen vorfand und den noch nicht verspeisten Kohl erblickte, ahnte er, was geschehen war. Er wurde sehr traurig, denn er dachte, daß sein lieber Freund nun doch umgekommen sei. Dennoch wollte er versuchen, ihn zu retten. Er steckte all sein Geld ein, das noch aus guten Tagen übrig war, und lief in die Stadt. Dort kaufte er eine schöne Flöte und einen sehr scharfen Säbel. Dann kehrte er flink aus der Stadt zurück und begann die Spuren des Fuchses zu verfolgen. Sie führten zum Fuchsbau. Hier ließ sich der Kater vor dem Bau nieder und fing so lieblich zu flöten an, daß sogar die Vöglein im Wald plötzlich verstummten und den Flötentönen lauschten. Im Fuchsbau vernahmen die jungen Füchse die Musik, und alle drei baten ihre Eltern, sie hinauszulassen, um den schönen Tönen aus der Nähe zu lauschen. Die Eltern hatten nichts dagegen. Sie selbst mußten noch über das Braten des Hahns beraten. So sprangen die jungen Füchse aus dem Bau, um die herrlichen Flötentöne besser zu vernehmen und womöglich auch den Musikanten zu sehen. Doch der Kater, der in der anderen Hand den gezückten Säbel hält, schlägt einem jungen Füchslein nach dem anderen den Kopf ab. Schließlich erscheint die Füchsin selbst, um nach ihren Kindern Ausschau zu halten. Kaum hat sie ihren Kopf aus dem Bau gesteckt, haüt der Kater auch ihr den Kopf ab. Dann hört er mit seinem Geflöte auf und kriecht selbst in den Fuchsbau. Für den Hahn war inzwischen tatsächlich das letzte Stündlein angebrochen. Soeben wollte ihn der Fuchs schlachten. Da ist aber der Kater zur Stelle und haut dem Gevatter Fuchs den Kopf ab. Der arme Hahn lag mit zusammengebundenen Füßen in der Ecke. Schnell befreit der Kater den Hahn, klemmt ihn sich unter die Achsel und trägt ihn heim. Diesmal schimpfte der Kater gar nicht mit dem Hahn, sondern holte lange Birkenruten aus dem Wald. Als der Hahn ahnte, was ihm bevorstand, begann er sich zu rechtfertigen und dem Kater zu erzählen, daß er den Fuchs Lettische Volksmärchen
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hereingelassen habe, weil er den Kater retten wollte. Und er berichtete ganz ausführlich, wie der Fuchs ihn betrogen hatte. Doch das nützte dem Hahn nichts. Der Kater warf ihn zu Boden und verprügelte ihn tüchtig. Der Hahn weinte bitterlich und war zunächst noch beleidigt, aber schließlich wurde alles wieder gut. Seit jener Zeit lebten der Kater und der Hahn glücklich in ihrer Hütte, denn niemand belästigte sie mehr. 39
DER K A T E R BESIEGT DIE Ü B R I G E N T I E R E
Einst hatte ein Bauer einen alten, kranken Kater. Der hatte keine Lust mehr, Mäuse zu fangen, und schlief oder rekelte sich nur den ganzen Tag und in der Nacht auf der Ofenbank. Der Bauer wurde darüber wütend und ließ ihn von den Hunden in den Wald jagen. Es war Wintei, und der alte Kater fror entsetzlich; auch zu essen hatte er nichts, der alte Mann. So schlich er durch den Wald und jammerte: „Kein Brot, kein Haus,.miau, miau!" Plötzlich kam ein alter, weißhaariger, halbtauber Jäger vorbei. Er fragte den Kater: „Woran fehlt's dir, mein Katerchen?" Und der Kater erzählte mit trauriger Stimme: „Kein Haus, kein Brot, miau, miau!" Dem alten Jäger, der es als alter Mann auch nicht leicht hatte, tat der Kater sehr leid. Er sagte: „Liebes Katerchen, komm mit zu mir. Ich habe zwar auch kein Brot, aber wenigstens ein Dach überm Kopf und eine warme Ofenbank." Als der Kater diese Worte hörte, wurde er sehr froh. Er versprach auch, dem Jäger beim Jagen zu helfen. So gingen sie tagtäglich gemeinsam zur Jagd. Aber den beiden alten Burschen glückte auch nichts. Einmal gelang es ihnen allerdings, einen Hirsch zu erlegen. Der Jäger begab sich nach Hause, um ein Pferd zu holen, damit sie den erlegten Hirsch heimfahren konnten. Der alte Kater hütete indessen die Jagdbeute. Er hockte sich auf den Rücken des Hirsches und leckte Blut, das aus der Wunde am Hals floß. Plötzlich kamen, wer weiß, woher, der Wolf, der Fuchs, der Bär und der Hase vorbei. Sie erblickten den erlegten Hirsch und 66
sahen auch den Kater auf dem Rücken des Hirsches, wie er das Blut leckte. Zunächst erschraken sie entsetzlich. Als erster kam der Hase wieder zu sich und raunte dem Bären ins Ohr: „Das muß ein furchtbares Tier sein, das ein so großes Tier umgeworfen hat und nun ruhig ayf dessen Rücken hockt und Blut leckt. Wir müßten es mit irgendwelchen Leckerbissen zu uns locken." Der Fuchs, der sich stets als der Klügste dünkte, faßte auch wieder Mut, schaute wütend den Hasen an und meinte: „Das wollte ich schon längst sagen, aber ich war arg erschrocken. Also, los ans Werk!" Er jagte auch sogleich hinter einer Ente her, die die Bäuerin in den Schnee hinausgelassen hatte. Der Bär wußte seit dem Sommer, daß sich in einem Baum ein Bienenvolk befand, aber er hatte sich bisher vor den Stacheln gefürchtet. Jetzt, wo es gilt, ein wildes Tier heranzulocken, macht er sich auf zum Baum. Dem Wolf ist bekannt, wo Holzfäller Holz machen und wo sich ihr Kochtopf befindet. Er eilt davon, um den Topf zu holen. Der Hase blieb da, um Feuer zu machen. Es dauerte gar nicht lange, bis verlockende Düfte dem Kater in die Nase stiegen. Der Kater erhob sich, schnupperte und begab sich schnurstracks zum Kochtopf. Der Wolf konnte vor Freude auf dem Reisig nicht mehr still sitzen. Er wedelte mit dem Schwanz hin und her, so daß es verdächtig zu rascheln begann. Der Kater dachte, daß eine Maus im Reisig raschelt, und *er hatte doch so lange kein Mäusefleisch mehr gegessen. So vergaß er ganz den Kochtopf und stürzte sich mit seinen Krallen auf den Wolf. Der Wolf erschrak entsetzlich und rannte davon, was die Füße nur hergaben. Der Kater war jedoch noch mehr erschrocken, denn er hatte in seinem ganzen Leben keine so große Maus gesehen. Er kletterte im Nu auf eine Tanne und zum Unglück noch unmittelbar auf den Bären. Der Bär erschrak so sehr, daß er sich nicht mehr auf dem Baum festhalten konnte und rückwärts auf die Erde stürzte. Der Fuchs und der Hase nahmen geschwind Reißaus, als sie gesehen hatten, wie schlecht es ihren stärkeren Brüdern ergangen war.
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«I DIE FÜNF KATZEN
Im Winter fuhren einmal fünf Katzen in den Wald, um Holz zu holen. Sie hackten und hackten, aber umsonst. Mit erhobenen Schwänzen fuhren sie wieder nach Hause. Hier schauten sie sich gründlich um, aber sie erblickten kein Holz. Nun fuhren sie ein zweites Mal, und jede Katze bringt ein Holzscheit mit. Das eine Scheit ist kurz, das andere knorrig, und das dritte Scheit ist weder knorrig noch kurz. Schließlich machen alle fünf Katzen Feuer und kochen Brei. Als der Brei fertig war, schlugen sie sich den Bauch voll. Sie konnten sich nun nicht mehr von der Stelle rühren und schliefen gleich ein. Komm mit, wollen wir mal sehen, ob sie noch immer schlafen!
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Zaubermärchen 41 GEH DORTHIN - ICH-WEISS-NICHT-WOHIN, HOLE DAS ICH-WEISS-NICHT-WAS Ein König hatte einen überaus treuen Diener, den er natürlich sehr liebte. Einmal kaufte der König ein Pferd, das sich jedoch nicht bändigen ließ. Alle bemühten sich, es einzureiten und zu zähmen, aber vergeblich — das Pferd ließ sich nicht zähmen. Nun sagte der König zu dem Diener: „Versuchedu, diesen Bösewicht zu bändigen!" Nun gut! Geschickt springt der Diener aufs Pferd und denkt, daß es ihm gelingen wird, das Pferd zu zähmen, aber du lieber Gott — auf einmal springt das Pferd zur Seite, wie von der Tarantel gestochen, und jagt in Windeseile davon, so daß nur eine Staubwolke zurückbleibt. So rennt und rennt es lange durch Sümpfe und Wälder; im Nu befindet es sich in einer fremden Gegend, in die der Reiter noch nie seinen Fuß gesetzt hat, aber es rennt immer weiter und weiter. Zum Glück versperren ihm endlich zwei hohe Bäume den Weg. Sie stehen ganz eng beieinander, so daß nur ein winziger Spalt dazwischen klafft. Als das ungestüme Pferd hindurchrennen will, bleibt es wie in einer Falle stecken und muß stehenbleiben. Das ist schon ganz günstig; der Diener steigt vom Pferd, sieht sich um und denkt: Eine fremde Gegend — wo mag nur Osten, wo Westen sein? Keine Ahnung. So beschließt er, auf gut Glück geradeaus zu gehen. Trifft man hier denn keinen Menschen? Er geht und geht — plötzlich sieht er eine Lichtung und in der Lichtung kleine Häuschen. Er betritt ein Häuschen und findet dort ein uraltes, greises Männlein vor. Das Männlein erwidert freundlich seinen Gruß und fragt: „Wohin des Weges, mein Sohn?" Der Diener erzählt ihm, daß er sich verirrt habe und müde sei, und er bittet das Männlein, ihm den Heimweg zu zeigen. „Ach, mein lieber Sohn! Wer so müde ist, muß sich erholen; was willst du schon zu Hause machen? Bleibe doch einige Zeit bei mir!" 69
Nun gut! Der Diener dankt für die Gastfreundschaft und beschließt, bei dem Männlein zu bleiben. Dort am Häuschen war aber ein großer, herrlicher Garten mit verschiedenen Pforten. Der Diener hatte große Lust, im Garten spazierenzugehen, jedoch das greise Männlein sagte: „Warte doch, warte, geh nicht einfach drauflos! Hier hast du einen Schlüsselbund, schließe die Pforten auf, die du aufschließen willst, und gehe spazieren, wohin du willst, aber schließe nur die Pforte nicht auf, die mit Bast zugebunden ist, und sieh dich dort gar nicht erst um!" Am ersten Tag spazierte der Diener im Garten umher und berührte die mit Bast zugebundene Pforte nicht. Auch am zweiten Tag wanderte er im Garten umher, und er berührte die mit Bast zugebundene Pforte noch immer nicht. Am dritten Tag dachte er: Was kann dort schon so Besondres sein? Überall darf ich Spazierengehen, nur dorthin nicht! Nun will ich mich aber dort erst recht umsehen. Und so knotet er den Bast auf. Er öffnet die Pforte und erblickt ein großes Feld und mitten im Feld einen stillen, klaren See. Er geht zu dem See, schaut sich eine Weile um und will schon zurückkehren. Da hört er plötzlich etwas durch die Luft schwirren. Er blickt hinauf: Drei weiße, kleine Enten lassen sich soeben am Ufer nieder. Doch im Nu verwandeln sie sich in schöne Mädchen, die ihre Kleider ablegen und ins Wasser steigen, um zu schwimmen. Der Diener denkt: So etwas habe ich noch nie gesehen! Spaßeshalber muß ich mir die Kleider genauer betrachten. Der Diener hebt die Kleider der einen hoch und staunt eine geraume Weile. Aber das Mädchen, dem die Kleider gehören, spürt, daß etwas nicht stimmt; es schwimmt ans Ufer und bittet traurig: „Mein lieber Freund! Treibe nicht deinen Spaß mit mir! Bitte, lege meine Kleider wieder dorthin zurück, wo sie lagen." Was bleibt dem Diener übrig? Er legt die Kleider wieder hin. Doch in diesem Augenblick verwandeln sich die Mädchen wieder in Enten, und er selbst wird in eine Taube verwandelt. Die Enten fliegen fort, und die Taube kann ihnen nur noch nachblicken. Das hast du nun davon! Am Abend kommt das alte Männlein nach Hause und sieht eine Taube auf dem Zaun. Es begreift sofort, was geschehen ist, und verwandelt den Diener, nachdem er ihn tüchtig ausgescholten hat, wieder in einen Menschen. 70
Auch am nächsten Tag verläßt das alte Männlein das Häuschen und läßt den Diener allein daheim. Er begibt sich wieder in den Garten, wo er spazierengeht. Schließlich kann er sich nicht beherrschen, öffnet erneut die mit Bast zugebundene Pforte und begibt sich zum See. Er schaut sich dort kurz um und will schon umkehren, als plötzlich etwas durch die Luft schwirrt. Die kleinen weißen Enten sind wieder da und verwandeln sich im Nu in schöne Mädchen, die in den See steigen. Der Diener denkt: Was sind das nur für merkwürdige Kleider? So etwas sieht man nicht alle Tage. Spaßeshalber werde ich sie mir genauer betrachten. Er hebt die Kleider des einen Mädchens vom Boden hoch und staunt eine ganze Weile. Aber das Mädchen, dem die Kleider gehören, spürt bald, daß etwas nicht stimmt; es schwimmt ans Ufer und bittet traurig: „Mein lieber Freund! Treibe nicht deinen Spaß mit mir! Bitte, lege meine Kleider wieder dorthin zurück, wo sie lagen." Was bleibt dem Diener übrig? Er legt die Kleider wieder hin. Doch in diesem Augenblick verwandeln sich auch diesmal die Mädchen in Enten zurück und fliegen fort, aber der Diener wird in ein Schwein verwandelt und bringt kein Wort mehr heraus. Als das Männlein am Abend heimkehrt, erblickt es mitten im Hof ein Schwein und begreift sofort, was geschehen ist. Nichts zu machen, er verwandelt das Schwein wieder in einen Menschen und sagt : „Nun, wenn dir das eine Mädchen so sehr gefallt, so heirate es meinetwegen!" „Das sagst du so einfach! Das Mädchen bleibt doch nicht bei mir. Kaum gebe ich ihr die Kleider zurück, so fliegt sie auch schon fort." „Sie bleibt nicht bei dir? Wie soll sie denn auch bei dir bleiben? Warum hast du ihr die Kleider zurückgegeben, warum ließest du dich durch das Bitten erweichen? Gib dem Mädchen doch die Kleider nicht zurück, ehe sie versprochen hat, bei dir zu bleiben." Nun gut. Am dritten Tag geht das alte Männlein wieder fort und läßt den Diener allein zurück. Nun knotet er sofort den Bast auf, geht ans Ufer des Sees und wartet auf die weißen Entlein. Bald sind sie auch wieder zur Stelle, verwandeln sich in Mädchen, kleiden sich aus und steigen in den See. Indessen 71
nimmt der Diener die Kleider des von ihm auserkorenen Mädchens, betrachtet sie und staunt: Was für herrliche Kleider! Aber das Mädchen schwimmt ans Ufer und fleht ganz innig: „Mein lieber Freund! Treibe nicht deinen Spaß mit mir! Lege die Kleider wieder dorthin, wo sie lagen!" „Bitte nur, soviel du willst, ich denke gar nicht daran. Gelobe mir feierlich, meine Braut zu werden und nicht mehr fortzufliegen, dann, eher nicht, gebe ich dir deine Kleider wieder." Nun ist das Mädchen ganz hilflos und stottert etwas vor sich hin, aber schließlich spricht sie dann doch noch das Wörtchen „Ja" und gelobt dem Diener feierlich, nicht fortzugehen, mögen die beiden Schwestern noch so sehr auf sie einreden. Darauf gab der Diener dem Mädchen die Kleider zurück. Sie zog sich schnell an und ging mit ihm zum Häuschen des alten Männleins. Aber die beiden Schwestern verwandelten sich wieder in Enten und flogen fort. Am Abend kehrte das alte Männlein zurück und traute den Diener mit seiner Braut. Aber nach einiger Zeit sagte der Diener zu dem alten Männlein: „Ich werde mich mit meiner Frau zum König aufmachen, er weiß ja gar nicht, wo ich überhaupt geblieben bin." Das alte Männlein erwiderte: „Geh nur, mein lieber Sohn, und lebe glücklich; aber hüte dich, vor dem König mit deiner Frau zu prahlen. Am besten ist es, wenn der König gar nicht erst erfährt, daß du verheiratet bist." Nun gut! Der Diener kehrt ins Schloß zurück und sagt keinem, daß er in der Fremde eine schöne Frau geheiratet hat; und die junge Frau zeigt sich weder dem König noch jemandem anders. Einige Zeit geht das auch gut, aber der König merkt allmählich, daß sich der Diener verändert hat. Wo immer er auch sein mag, am liebsten möchte er sich in sein Zimmer zurückziehen. Einmal war der Diener wieder heimlich verschwunden. Aber diesmal war der König klug und schaute durchs Schlüsselloch, was er im Zimmer treibt. Und was erblickt er? Der Diener hat eine Frau, die so schön ist wie die Sonne. Das ist doch ganz unmöglich, denkt er. Eine so schöne Frau sein eigen zu nennen steht nur dem König zu. Aber wie soll ich sie ihm wegnehmen? Warte nur, ich werde den Zauberer rufen lassen. 72
Der Zauberer erscheint und fragt den König nach seinem Anliegen. Nun, es handelt sich darum, daß der Diener eine Frau hat, die so schön ist wie die Sonne. Wie kann der König sie zu der Seinen machen? „Wie? Erteile doch dem Diener einen Auftrag, den er nicht erfüllen kann, dann wirst du einen Anlaß haben, ihn zu Vernichten, und du Wirst die Witwe bekommen. Was das für ein Auftrag ist, den er erfüllen soll, das werde ich dir morgen sagen, denn so schnell läßt sich etwas so Schweres nicht ersinnen." Nun gut! Am nächsten Morgen eilt der Zauberer zum König, um ihm den Rat zu erteilen, den er sich nachts ausgedacht hat. Aber unterwegs muß er eine Brücke überqueren, und unter der Brücke kommt plötzlich ein weißer Mensch hervor, der zum Zauberer sagt: „Du Verbrecher, wohin gehst du? Wenn der König den Diener nicht zufriedenläßt, werdet ihr beide umkommen, du und der König!" Doch der Zauberer beachtet diese Worte nicht und winkt mit der Hand ab: „Rede, was du willst!" Und er setzt seinen Weg fort. Er kommt zum König und rät ihm, daß er dem Diener befiehlt, die große Löwyi zu holen, die sich hinter dreißig Königreichen im vierzigsten Königreich befindet. Der König ruft den Diener: „Hör zu! Hinter dem dreißigsten Königreich im vierzigsten Königreich ist eine Löwin. Bringe sie her, so schnell wie möglich, sonst bleibst du nicht am Leben." Als der Diener das vernommen hat, geht er betrübt zu seiner Frau, aber sie tröstet ihn: „Einer solchen Kleinigkeit wegen mußt du doch nicht traurig sein! Geh jetzt schlafen und sammle neue Kräfte, ich webe währenddessen ein buntes Tüchlein und lege Wegzehrung hinein. Aber merke dir eines gut: Hüte das Tüchlein sorgsam! Wenn's dir abhanden kommt, dann ist dein Weg umsonst gewesen." Nun gut! Der Diener hörte auf, betrübt zu sein, und schlummerte süß, aber seine Frau webte die ganze Nacht ein wunderschönes, buntes Tuch, wie es im ganzen Königreich kein zweites gab. Beim Morgengrauen war das herrliche Tuch fertig. Nun weckte sie ihren Mann und geleitete ihn hinaus in die Fremde. 73
Der Diener, der Ärmste, ging einen Tag und noch einen Tag. Er ging eine Woche und noch eine Woche, aber noch immer war er nicht am Ziel. In der dritten Woche entdeckt er plötzlich in einer finsteren, regnerischen Nacht einen winzigen Lichtschein. Er geht auf das Licht zu und klopft an die Tür des Häuschens — ein schönes Mädchen öffnet ihm und heißt ihn freundlieh eintreten. Das Mädchen gibt ihm zu essen, bettet ihn zur Nacht und bringt ihm zu früher Morgenstunde Wasser ins Zimmer. Aber ein Handtuch wird ihm nicht hingelegt. Der Diener wäscht sich und hält vergeblich nach einem Handtuch Ausschau. Schon will er sich mit dem schönen Tuch abtrocknen, das seine Frau gewebt hat. Doch kaum hat das Mädchen das schöne Tuch erblickt, da bittet es auch schon den Diener, das Tuch genauer betrachten zu dürfen, denn solche Tücher versteht nur die Schwester des Mädchens zu weben. Wo hat er es her? Und der Diener erzählt alles. „Meine Frau hat das Tuch gewebt." ,,Dann ist deine Frau meine Schwester. Gut, daß ich das weiß! Und um meiner Schwester willen mußt du also dem König die große Löwin bringen. Gut, daß ich das weiß!" Kaum hatte das Mädchen diese Worte gesprochen, da nahm sie auch schon das Tuch und lief fort. Aber der Diener war ganz traurig: Was soll nun werden? Hat mich doch meine Frau gewarnt, jemandem das Tuch zu geben. Wenn das Mädchen es nur nicht verliert! Diesmal waren allerdings seine Sorgen überflüssig, denn schon bald war das Mädchen zurück und sagte fröhlich: „Hier hast du dein Tuch! Ich habe etwas für dich getan. Ganz in der Nähe befindet sich eine riesige Niederung, und dort wirst du die Löwin vorfinden. Am Rande der Niederung hinter einer Dornenhecke liegt die Löwin, und dort im Gestrüpp tummeln sich die Löwenkinder. Krieche von dieser Seite aus zur Hecke und drücke ein Löwenjunges an dich. Es wird aufschreien. Dann wird sich die Löwin auf dich stürzen, du aber wirf das Tüchlein auf ihr Maul. Sofort wird die Löwin zahm wie ein Hündchen werden und dir erlauben, ihr das Tüchlein um den Hals zu binden und sie zu fuhren, wohin du willst." Nun gut! Der Diener tut, wie ihm geheißen, und fängt die Löwin mühelos. Er bringt sie zum König, der sie in den Garten führen läßt. Dann schickt der König wieder nach dem Zauberer. Was soll 74
er nun dem Diener befehlen? Die Löwin hat er geholt, und des Königs Plan ist somit vereitelt. Aber der Zauberer erwidert: „Warte bis morgen! So schnell lassen sich derart schwierige Dinge nicht entscheiden." Nun gut. In aller Herrgottsfrühe eilt der Zauberer zum König, um ihm den begehrten Rat zu erteilen. Aber unterwegs muß er die Brücke überqueren, und unter der Brücke kommt plötzlich der weiße Mensch hervor, der zum Zauberer sagt: „Du Verbrecher, wohin gehst du? Wenn der König den Diener nicht zufriedenläßt, werdet ihr beide umkommen, du und der König!" Doch der Zauberer beachtet diese Worte nicht und winkt mit der Hand ab: „Rede, was du willst!" Und er setzt seinen Weg fort. Er kommt zum König und rät ihm, daß er dem Diener befiehlt, den großen, blühenden Apfelbaum zu holen, der sich hinter dem vierzigsten Königreich im fünfzigsten Königreich befindet. Der König ruft den Diener: „Hör zu! Hinter dem vierzigsten Königreich im fünfzigsten Königreich befindet sich ein blühender Apfelbaum. Bring ihn her, so schnell wie möglich, sonst bleibst du nicht am Leben." Als der Diener das vernommen hat, geht er betrübt zu seiner Frau, aber sie tröstet ihn: „Einer solchen Kleinigkeit wegen mußt du doch nicht traurig sein! Geh jetzt schlafen, ich webe währenddessen ein buntes Tüchlein und lege Wegzehrung hinein. Aber merke dir eines gut: Hüte das Tüchlein sorgsam! Wenn's dir abhanden kommt, dann ist der Weg umsonst gewesen." Nun gut! Der Diener war nicht länger betrübt und ging schlafen, aber seine Frau webte die ganze Nacht ein wunderschönes, buntes Tuch, wie es im ganzen Königreich kein zweites gab. Beim Morgengrauen war das herrliche Tuch fertig. Nun weckte sie ihren Mann und geleitete ihn hinaus in die Fremde. Der Diener, der Ärmste, ging einen Tag und noch einen Tag. Er ging eine Woche und noch eine Woche, aber noch immer war er nicht am Ziel. In der dritten Woche entdeckt er plötzlich in einer finsteren, regnerischen Nacht einen winzigen Lichtschein. Er geht auf das Licht zu und klopft an die Tür des Häuschens — ein schönes Mädchen öffnet ihm und heißt ihn freund75
lieh willkommen. Das Mädchen gibt ihm zu essen, bettet ihn zur Nacht und bringt ihm zu früher Morgenstunde Wasser ins Zimmer. Aber ein Handtuch wird ihm nicht hingelegt. Der Diener wäscht sich und hält vergeblich nach einem Handtuch Ausschau. Söhon will er sich mit dem schönen Tuch abtrocknen, das seine Frau gewebt hat. Doch kaum hat das Mädchen das schöne Tuch erblickt, da bittet sie auch schon den Diener, das Tuch genauer betrachten zu dürfen, denn solche Tücher versteht nur die Schwester des Mädchens zu weben. Wo hat er es her? Und der Diener erzählt alles. „Meine Frau hat das Tuch gewebt." „Dann ist deine Frau meine Schwester. Gut, daß ich das weiß! Und um meiner Schwester willen mußt du also den blühenden Apfelbaum zum König bringen. Gut, daß ich das weiß!" Kaum hatte das Mädchen diese Worte gesprochen, da nahm es sich auch schon das Tuch und lief fort. Aber der Diener war ganz traurig: Was soll nun werden? Hat mich doch meine Frau gewarnt, jemandem das Tuch zu geben. Wenn das Mädchen es nur nicht verliert! Auch diesmal waren allerdings seine Sorgen überflüssig, denn schon bald war das Mädchen zurück und sagte fröhlich: „Hier hast du das Tuch. Ich habe etwas für dich getan. Hier ganz in der Nähe blüht der Apfelbaum, den du suchst. Klettere hinauf und wirf das Tüchlein auf den Wipfel des Baumes, dann wird er so klein werden wie ein Blümchen, das du mühelos dem König bringen kannst. Aber nachdem du es im Garten des Königs eingepflanzt hast, entferne das Tüchlein, dann wird sich das Bäumlein sofort wieder in einen blühenden Apfelbaum verwandeln." Nun gut. Der Diener tut, wie ihm geheißen, und bringt dem König den blühenden Apfelbaum viel leichter, als er's gehofft hat. Als der König im Garten den Apfelbaum erblickt, staunt er und schickt nach dem Zauberer: Was soll er nun dem Diener befehlen? Den Apfelbaum hat er auch geholt, und des Königs Plan ist somit vereitelt. Aber der Zauberer erwidert: „Warte bis morgen! So schnell lassen sich derart schwierige Dinge nicht entscheiden!" Nun gut. In aller Herrgottsfrühe eilt der Zauberer zum König, um ihm den. begehrten Rat zu erteilen. Aber unterwegs 76
muß er die Brücke überqueren, und unter der Brücke kommt plötzlich der weiße Mensch hervor, der zum Zauberer sagt: „Du Verbrecher, wohin gehst du? Wenn der König den Diener nicht zufriedenläßt, werdet ihr beide umkommen, du und der König!" Doch der Zauberer beachtet diese Worte nicht und winkt mit der Hand ab: „Rede, was du willst!" Und er setzt seinen Weg fort. Er kommt zum König und rät ihm, dem Diener folgendes zu sagen: „Geh dorthin — Ich-weiß-nicht-wohin! Hole das Ich-weißnicht-was!" Der König ruft den Diener und sagt: „Hör mal! Geh dorthin — Ich-weiß-nicht-wohin! Hole das Ich-weiß-nicht-was!" Nachdem der Diener diese Worte vernommen hat, geht er ganz betrübt zu seiner Frau. Sie tröstet zwar ihren Mann, aber sie weiß auch nicht, was nun zu tun ist. Schließlich sagt sie: „Sei nicht traurig! Geh ruhig schlafen; ich webe währenddessen ein doppelt so großes und noch viel schöneres Tuch und lege Wegzehrung hinein. Nur hüte es besonders gut, damit es nicht abhanden kommt!" Der Diener legte sich schlafen. Aber seine Frau webte die ganze Nacht im Schweiße ihres Angesichts ein so wunderschönes Tuch, wie's bisher noch nie in diesem Königreich gewebt worden war. Beim Morgengrauen war das Tuch fertig. Nun weckte sie ihren Mann und geleitete ihn Unter Tränen in die Fremde. Aber der Diener war kaum fort, als der König auch schon des Dieners Frau zu sich rufen ließ und sagte: „Weißt du was? Dein Mann wird diesmal wohl nicht mehr zurückkommen, und wo sollst du dann als Witwe bleiben? Deshalb — ich brauche auch eine Frau komm zu mir als Königin!" Die Frau des Dieners dachte bei sich: Es wäre unklug, den König zu ärgern — lieber werde ich ihn täuschen und so antworten: Vielen Dank für eine so große Ehre; ich glaube ja auch nicht, daß mein Mann diesmal zurückkommt, dennoch möchte ich auf alle Fälle ein Jahr warten; wenn er bis dahin nicht heimgekehrt ist, dann wollen wir weiter darüber sprechen. Nun gut! So soll es sein. Aber der Diener ging einen Tag und noch einen Tag. Er ging eine Woche und noch eine Woche, aber noch immer war 77
er nicht am Ziel. In der dritten Woche entdeckt er plötzlich in einer finsteren, regnerischen Nacht einen winzigen Lichtschein. Er geht auf das Licht zu und klopft an die Tür des Häuschens — ein schönes Mädchen öffnet ihm und heißt ihn freundlich eintreten. Das Mädchen gibt ihm zu essen, bettet ihn zur Nacht und bringt ihm zu -früher Morgenstunde Wasser ins Zimmer. Aber ein Handtuch wird ihm nicht hingelegt. Der Diener wäscht sich und hält vergeblich nach einem Handtuch Ausschau. Schon will er sich mit dem schönen Tuch abtrocknen, das seine Frau gewebt hat. Doch kaum hat das Mädchen das schöne Tuch erblickt, da bittet es den Diener, das Tuch genauer betrachten zu dürfen, denn solche Tücher versteht nur die Schwester des Mädchens zu weben. Wo hat er es her? „Meine Frau hat das Tuch gewebt." „Dann ist deine Frau meine Schwester. Gut, daß ich das weiß! Und um meiner Schwester willen mußt du also nach Ich-weißnicht-wohin gehen und das Ich-weiß-nicht-was holen. Gut, daß ich das weiß!" Kaum hatte das Mädchen diese Worte gesprochen, da nahm sie auch schon das Tuch und lief fort. Aber der Diener war ganz traurig: Was soll nun werden? Hat mich doch meine Frau gewarnt, jemandem das Tuch zu geben. Wenn das Mädchen es nur nicht verliert! Und der Diener wartete einen Tag und noch einen Tag, aber das Mädchen kam und kam nicht zurück. Am dritten Tag kommt es ganz traurig mit dem Tuch gelaufen: „Hör mal, was ich dir sage. Ich habe drei Tage vergeblich gesucht und bin vom Herumlaufen schon ganz durcheinander. Aber laß uns zur alten Mutter der Erde gehen, die bereits sieben Monate tot ist und schläft. Küsse ihre Knie, dadurch erweckst du sie zum Leben, und sie wird dir alles sagen." Nun gut. Sie begaben sich zur Mutter der Erde. Der Diener küßte ihr die Knie, aber sie wurde ärgerlich, daß man sie nicht schlafen ließ. Dann küßte der Diener noch einmal die Knie der Mutter der Erde. Jetzt schalt sie nicht mehr, sondern rief alle Vögel herbei und fragte den Diener: „Was begehrst du?" „Ich wollte wissen, was das bedeutet: Geh dorthin — Ichweiß-nicht-wohin und hole das Ich-weiß-nicht-was." „Nun, meine liebe Vögelchen", rief die Mutter der Erde, „wißt ihr nicht, wo eine solche Sache zu finden ist?" 78
Die Vögel erwiderten: „Wir wissen's nicht!" Dann rief die Mutter der Erde alle Vierbeiner herbei und fragte sie, ob sie nicht wüßten, was das ist: Geh dorthin — Ich-weiß-nicht-wohin und hole das Ich-weiß-nicht-was. Die Tiere erwiderten: „Wir wissen's nicht!" Dann rief die Mutter der Erde alle die kleinen Kriech- und Hüpftiere herbei und fragte: „Wißt ihr nicht, wo das zu finden ist: Geh dorthin — Ichweiß-nicht-wohin und hole das Ich-weiß-nicht-was?" Sie antworteten: „Wir wissen's nicht!" Darauf fragte die Mutter der Erde: „Seid ihr denn überhaupt alle erschienen?" „Nein, der lahme Frosch ist ein Stück zurückgeblieben." Da kommt auch schon der lahme Frosch herbeigesprungen. „Warum kommst du so spät?" „Verehrte Frau Königin, ich war sieben Monate krank. Schwäche plagte meine Beine." „Schon gut! Aber kannst du diesen Menschen nicht zum Ichweiß-nicht-wohin geleiten und ihm helfen, das Ich-weißnicht-was zu holen?" „Wie werde ich denn das nicht können? Natürlich kann ich's!" „Dann tu's!" Sofort begann der Frosch voranzuhüpfen, und der Diener folgte ihm. Schließlich gelangten sie zu einem winzigen Häuschen ohne Fenster. Der Frosch hüpfte über die Schwelle, und der Diener betrat mit ihm das Zimmer. In einer Ecke war ein verborgenes Loch; der Frosch sprang hinein und verschwand, aber der Diener dachte: Ob sich wohl hier befindet, was ich suche? Vielleicht! Ich werde mal rufen. Er rief: „Geh dorthin — Ich-weiß-nicht-wohin! Hole das Ichweiß-nicht-was! Komm her, wenn du dort bist!" Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da begann es unten zu spielen und zu tanzen; es war ein solcher Lärm, daß man fast annehmen mußte, daß der Donner grollt. Der Diener fragte weiter: „Antworte mir, ob du das bist, was ich suche!" Und eine unterirdische Stimme antwortete: „Ich bin's!" 79
„Nun, wenn du's bist, so sage mir, wie ich am schnellsten nach Hause komme. Innerhalb eines Jahres muß ich hier gewesen und zurück sein." Die Stimme antwortete: „Wenn man geradeaus geht, dann schafft man's in einem Jahr, aber wenn man einen Umweg macht, ist's unmöglich. Geradeaus zu gehen ist jedoch nicht leicht, denn auf dem Weg liegt eine Riesenschlange, die mit ihrem Stachel jeden Menschen in einer Entfernung von einer Werst anzieht und verschlingt." „Sag mir doch, ob es ganz unmöglich ist, diese Schlange zu bezwingen." „Möglich ist's schon, wenn man's versteht. Versprich der Schlange die leckersten Speisen der Welt und sag ihr, daß Musik erklingt und getanzt wird, während sie speist, dann wird sie dich nicht verschlingen. Wegen der Speisen brauchst du dir natürlich keine Sorgen zu machen. Ich werde alles besorgen, was du befiehlst. Aber während die Schlange schlemmen und außerdem noch Musik und Tanz vernehmen wird, weiß sie vor Wonne nicht mehr, was sie tut. Dann sei gescheit und fordere von ihr für Speise, Musik und Tanz das Kästchen, das sie unter ihrer Brust trägt. Sie wird dir's geben, verlaß dich darauf, denn wer froh ist, der ist auch freigebig — das ist eine alte Sache." „Nun gut!" erwiderte der Diener, „machen wir uns auf den Weg. Mag kommen, was will." Und sie machten sich auf. Der Diener ging voran, und die wundersame Stimme folgte ihm. Sie gingen und gingen. Plötzlich sprach die Stimme: „Jetzt ist's gar nicht mehr weit — sofort wirst du vom Stachel der Schlange angezogen werden!" Und so geschah es auch. Schon sperrt die Schlange ihr Maul auf und will den Diener verschlingen, da bittet er sie: „Verschlinge nicht einen unzubereiteten Bissen — ich biete dir statt dessen die herrlichsten Speisen der Welt und dazu noch Musik und Tanz." Die Schlange stutzt, aber der Diener ruft: „Geh dorthin — Ich-weiß-nicht-wohin! Hole das Ichweiß-nicht-was!" Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da waren die Tische auch schon mit den leckersten Speisen der Welt gedeckt, außerdem erklang so heitere Musik, und es wurde so ausgelassen getanzt, daß es Spaß machte zuzuhören. Je mehr die Schlange von den leckeren Gerichten genoß, um so lustiger wurde sie. 80
Der Diener überlegte: Nun ist's an der Zeit! Und so schlug er ihr vor, die köstlichen Speisen für immer zu behalten und ihm dafüf das goldene Kästchen zu geben, das unter ihrer Brust hervorleuchtet. „Sofort! Natürlich!" rief die Schlange, „denn was ist schon ein solches Kästchen im Verhältnis zu solch leckeren Speisen?!" Nun gut! Der Diener nahm das Kästchen und eilte heimwärts. Unterwegs kam es ihm in den Sinn, das Kästchen zu öffnen und hineinzuschauen, was wohl drinnen ist. Er öffnete es — o mein Schreck! Aus dem Kästchen marschierten Soldaten wie Heuschreckenschwärme, wie Rauchschwaden — man konnte sie weder zählen noch überhaupt überblicken. Im Nu war die riesengroße Niederung voller Soldaten, so daß man sich kaum noch umdrehen konnte. Nun bin ich mächtig, dachte der Diener, ich werde mich ganz stolz zum König aufmachen. Und er erschien tatsächlich mit seinem Riesenheer beim König. Die Frau des Dieners kam ihrem Mann ganz verweint entgegen: „Mein geliebter Mann! Welch ein Glück, daß du noch rechtzeitig eintriffst, denn der König belästigt mich wie der Tod selbst, daß ich die Seine werden soll, weil du gestorben seist; und der Zauberer, der Bösewicht, stachelt ihn dabei noch an." Als der Diener das hörte, wurde er zornig und herrschte den König an, warum er das tue. Doch der König berief sein Heer ein und fragte den Zauberer, was er dem Diener sagen sollte. Der Zäuberer belehrte ihn: „Sag doch, was du willst!" Der König hielt sich daran, aber nun begann der Diener mit dem König Krieg zu führen. Es wurde lange gekämpft. Schließlich fiel der König als erster, dann fiel der Zauberer und endlich auch das ganze Heer des Königs. Nun wurde der Diener König, und er lebte mit seiner Frau glücklich und in Freuden. 42
DIE TIERE ALS HELFER
Es lebte ein Vater mit seinem Sohn. Der Vater hatte nur ein kleines Stübchen, in dem beide wohnten. Nun geschah es, daß 6
Lettische Volksmärchen
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sie kein Brot mehr hatten und glaubten, vor Hunger sterben zu müssen. Da nahm der Vater hundert Rubel und gab sie dem Sohn. Er soll auf den Markt gehen und Brot kaufen, damit sie nicht verhungern. Der Sohn nahm das Geld und machte sich auf den Weg. Er war schon ein ganzes Stück gegangen — da sah er, wie ein Bauer seinen Hund entsetzlich prügelte, als wollte er ihn totschlagen. Der Sohn sagte zu ihm: „Du, schlage den Hund nicht, hör auf damit!" Er versprach ihm hundert Rubel, wenn er den Hund in Ruhe lasse. Der Bauer ist damit einverstanden, er nimmt das Geld und läßt den Hund laufen. Und der Sohn kehrt nun ohne Geld und Brot zum Vater zurück. Der Vater kommt schon dem Sohn entgegen und fragt: „Nun, hast du Brot mitgebracht?" Der Sohn erwidert, daß das Geld nicht gereicht habe und er mehr Geld brauche, um Brot zu kaufen. Die Wahrheit getraut er sich nicht zu erzählen. Am nächsten Tag gibt der Vater dem Sohn wieder hundert Rubel. Er solle auf den Markt gehen und Brot kaufen. Andernfalls müssen sie verhungern. Der Sohn nimmt das Geld und macht sich wieder auf den Weg. Er war schon ein ganzes Stück gegangen — da sah er, wie derselbe Bauer ein Mäuschen schlug. Der Sohn rief: „Du, schlage die Maus nicht, hör auf damit!" Er versprach ihm hundert Rubel, wenn er die Maus laufenlasse. Der Bauer ist damit einverstanden und läßt die Maus los. Der Sohn gibt ihm das Geld und kehrt wieder ohne Brot zum Vater zurück. Dem Vater sagt er, daß das Geld nicht gereicht habe. Man brauche viel mehr Geld, um Brot zu kaufen. Es läßt sich nicht ändern, Vater und Sohn werden nun wohl verhungern müssen. Am dritten Morgen gibt der Vater dem Sohn nochmals hundert Rubel und sagt ihm, daß er diesmal unbedingt Brot kaufen müsse — sonst sei ihnen der Hungertod gewiß, denn sie hätten nicht eine einzige Scheibe mehr. Der Sohn nimmt das Geld und geht auf den Markt, um Brot zu kaufen. Nachdem er ein Stück gegangen war, sah er, wie der Bauer eine Katze prügelte. Der Sohn schrie: „Du, schlage die Katze nicht, hör auf damit!" Er versprach ihm wieder hundert Rubel, wenn er die Katze laufenlasse. Der Bauer war damit einverstanden. Der Sohn gibt 82
ihm das Geld, der Bauer läßt die Katze los, aber der Sohn kehrt wieder ohne Brot zurück. Der Vater kam dem Sohn bereits entgegen und freute sich aufs Brot, aber als er den Sohn mit leeren Händen sah, wußte er, daß der wieder kein Brot gekauft hatte. Auf die Frage des Vaters, w o das Brot sei, erwiderte der Sohn, daß das Geld nicht gereicht habe. Und noch einmal gab der Vater, ohne viele Worte zu verlieren, dem Sohn hundert Rubel. Der Sohn nahm das Geld und hatte die feste Absicht, diesmal wirklich Brot zu kaufen, damit der Vater seinetwegen nicht verhungerte. Wieder war er ein Stück gegangen, als er sah, wie der Bauer eine Schlange schlug, und wieder rief der Sohn: „ D u , schlage die Schlange nicht, hör auf damit!" Er versprach dem Bauern hundert Rubel, wenn er die Schlange losließ. Der Bauer war damit einverstanden und ließ die Schlange los. Der Sohn gab ihm das versprochene Geld, und der Bauer ging fort und lachte über den dummen Sohn, der so töricht ist, ihm jedesmal hundert Rubel zu zahlen, nur damit er ein Tier nicht totschlägt. Die Schlange war dem Sohn für ihre Rettung sehr dankbar und gab ihm einen Zauberring. Sie sagte ihm, daß er diesen Ring am Finger tragen solle, und wenn er mal etwas brauche, dann möge er nur den Ring drehen und sich innig wünschen, daß dies oder das ihm gehöre. Dann werde er erhalten, was auch immer er sich wünscht. Wenn er Brot brauche, dann solle er mit dem Ring an den Mühlstein pochen. Der Sohn nahm den Ring und ging frohen Mutes heimwärts. Wieder kam ihm der Vater entgegen und fragte ihn, ob er Brot gekauft habe. Der Sohn erwiderte, daß er zwar kein Brot mitgebracht habe, aber sie würden schon alles bekommen, was sie brauchten. Der Vater verstand ihn nicht, aber da ging der Sohn auch schon zum Mühlstein, pochte mit dem Ring daran und wünschte sich ganz innig Brot. Und siehe, plötzlich war genug Brot da. Nun mangelte es dem Vater und dem Sohn an nichts mehr. Sie hatten von allem reichlich und wußten nicht, was Hunger bedeutet. Wenn sie irgend etwas brauchten, drehte der Sohn nur am Ring, und sie bekamen sofort, was sie sich gewünscht hatten. So lebten sie einige Zeit glücklich und zufrieden. Aber da dachte der Sohn eines Tages: Wenn doch die Bäume Blätter aus Diamanten und Gold hätten, dann wäre die Welt unendlich schön! Und er drehte seinen Ring und wünschte sich das 6*
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innig. Plötzlich bekamen alle Bäume im Garten tatsächlich Blätter aus Diamanten und Gold, und es sah um sein Häuschen herum unendlich schön aus. Bald verbreitete sich weit und breit die Kunde, daß die Bäume im Garten der beiden Blätter aus Gold und Diamanten haben. Feine Herren kamen herbeigefahren und überzeugten sich davon, daß es stimmt, was die Leute erzählt hatten. Und nun begehrten die Herren, daß auch die Bäuihe in den Gärten ihrer Schlösser so aussehen sollten. Sie baten den Sohn, ihnen ebenfalls solche Bäume herbeizuzaubern. Der Sohn erklärte sich bereit und fuhr mit ihnen. Er begab sich in den Schloßgarten, drehte seinen Ring, und im Nu hatten alle Bäume Blätter aus Gold und Diamanten. Aber die Schloßherrin hatte bemerkt, daß der Sohn einen merkwürdigen Ring am Finger trägt und die Blätter golden und diamanten wurden, nachdem er den Ring gedreht hatte. Nun beschloß der Sehloßherr, den Sohn nicht mehr fortzulassen. Er sollte auch nachts bei ihnen schlafen. So legte er sich, nichts Böses ahnend, auch eines Abends zu Bett. Aber kaum war er in süßen Schlummer versunken, nahte schon die Schloßherrin und stahl ihm den Ring. Doch im nächsten Augenblick war auch der Zauber verschwunden. Am nächsten Morgen hatten die Bäume wieder gewöhnliche grüne Blätter, und von Gold und Diamanten war nichts mehr zu sehen. Jetzt wurde der Sohn gefangengenommen und in den Keller gesperrt. Man beschuldigte ihn, ein Betrüger zu sein und die Leute böse genant zu haben. Das Todesurteil wurde gefallt, und bereits in den nächsten Tagen sollte er zum Galgen geführt werden. Was sollte der Sohn nun anfangen? Die Kellermauern waren sehr dick, so daß es unmöglich war auszubrechen. Und den Ring hatte er auch nicht mehr. Ja, was sollte er nun tun? Der Tod war ihm gewiß. Doch nun kamen ihm die Maus, der Hund und die Katze zu Hilfe. Die Katze und die Maus hatten sich nachts ins Schlafgemach der Schloßherrin geschlichen. Aus Angst, daß ihr jemand den Ring stehlen könnte, bewahrte sie ihn ständig im Mund auf. Sie schlief ganz fest, aber hatte ihren Mund weit geöffnet. Flink steckte die Maus ihr Schwänzchen in den Mund der Herrin. Vor Schreck erwachte sie und hüstelte, wobei der Ring auf den Fußboden fiel. Geschwind ergriff die Katze den Ring und eilte zur Tür hinaus. Der Hund hatte inzwischen ein Loch in die Mauer gekratzt, durch das die Katze kroch, und dann 84
gab sie dem Sohn den Ring. Nun war er überglücklich — er hatte seinen Ring wieder und brauchte sich keine Sorgen mehr zu machen. Er steckte den Ring an den Finger, drehte ihn und wünschte sich, daß die Kellermauern sich öffnen. Und die Mauern öffneten sich tatsächlich, und der Sohn verließ den Kerker. Jetzt konnten die feinen Herren ihm nichts mehr anhaben, denn er hatte seinen Ring wieder. So erlebte er mit seinem Vater in der Hütte noch viele glückliche Tage. 43
DIE DANKBAREN TIERE
Einst lebte ein Bauer. Er hieß Peter und hatte einen Knecht, der ebenfalls Peter hieß. Um die beiden zu unterscheiden, nannten die Leute den Bauern den großen Peter und den Knecht den kleinen Peter. Der kleine Peter hatte dem Bauern schon einige Jahrzehnte treu gedient, ohne daß er auch nur ein einziges Mal entlohnt worden war. Deshalb verklagte der kleine Peter den Bauern vor Gericht. Vergeblich bemühte man sich dort, die beiden zu versöhnen, und so gelangte die Angelegenheit zum König. Er bestimmte den Tag, an dem sich beide bei ihm einzufinden hätten. Am festgesetzten Tag machten sie sich auf den Weg in die Hauptstadt. Nachdem sie ein Stück gegangen waren, bemerkte der kleine Peter eine Ameise auf dem We§. Fast hätte er sie zertreten, aber sie bat ihn: „Sei so gut, zertritt mich nicht, ich werde dir dafür sehr dankbar sein!" Der kleine Peter tat ihr auch nichts zuleide und ging weiter. Nach einigen Werst erblickte er eine Biene, die ins Wasser gefallen und schon am Ertrinken war. Sie bat die Vorbeigehenden, ihr aus dem Wasser zu helfen. Der Bauer beachtete sie nicht einmal, doch der Knecht rettete die Biene. Sie dankte ihm vielmals und versprach, ihm behilflich zu sein, wenn er sie mal brauche. Es wurde Mittag. Der große Peter ließ sich am Wegrand nieder und nahm sein Mittagsmahl ein. Auch der kleine Peter war hungrig, aber er hatte nichts zu essen. Da erblickte er eine Taube auf dem Baum. Er ergriff einen Stock und wollte sie totschlagen, aber sie flehte ihn an, sie am Leben zu lassen, und der kleine Peter tat ihr nichts zuleide. Nachdem der Bauer sich 85
satt gegessen hatte, setzten die beiden ihren Weg fort, bis sie schließlich zum König gelangten. Der König befahl ihnen, sofort ihre Klagen vorzutragen. Als der Bauer merkte, daß es für ihn nicht zum besten stand, log er, daß der Knecht sich gerühmt habe, das Getreide in der Scheune des Königs in kürzester Zeit allein dreschen zu können. Der König glaubte diese Lüge und befahl, den Knecht in die Scheune zu führen, die voller Getreide war. Dann wurde die Tür zugeschlossen, und der kleine Peter sollte nun allein dreschen. Er war sehr betrübt und wußte sich keinen Rat. Auf einmal war dieselbe Ameise zur Stelle, deren er sich erbarmt hatte, und sie fragte ihn, warum er so traurig sei. Der kleine Peter antwortete : ,,Soll ich denn nicht traurig sein? Der König hat mir befohlen, das ganze Getreide allein zu dreschen. Wenn ich's nicht tue, wird's mir schlecht ergehen." „Fürchte dich nicht", erwiderte die Ameise, „ich werde dir helfen. Leg dich nur ruhig hin, alles wird gut werden!" Der kleine Peter gehorchte der Ameise und schlief bald ein. Währenddessen war eine große Schar Ameisen zur Stelle, die Körnchen um Körnchen aus den Ähren klaubten und die Säcke mit Getreide füllten; Spreu und Stroh schleppten sie auf einen Haufen. Als der kleine Peter nach festem Schlaf erwachte, war das Werk bereits vollbracht. Der König war darüber wahrlich sehr erstaunt. Aber der große Peter belog den König wieder. Er sagte ihm, daß der kleine Peter geprahlt habe, über den Fluß eine Brücke aus Wachs bauen zu können, über die sogar der König getrost fahren kann. Der König sagte darauf dem kleinen Peter, daß er ihn köpfen lassen werde, wenn die Brücke bis zur Mittagsstunde nicht steht. Traurig verließ der kleine Peter den König, denn er wußte nicht mehr aus noch ein. Plötzlich kam die Biene herbeigeflogen, die er vor dem Ertrinken gerettet hatte. Sie fragte ihn, warum er so betrübt sei. „Soll ich denn nicht traurig sein?" erwiderte der kleine Peter. „Der König hat mir befohlen, bis zur Mittagsstunde eine Brücke aus Wachs über den Fluß zu bauen, sonst läßt er mich köpfen." Die Biene antwortete ihm: „Mach dir nur keine Sorgen! Leg dich ruhig ein wenig hin, und ehe du aufwachst, wird die Brücke fertig sein." 86
Der kleine Peter gehorchte der Biene und legte sich hin, aber vor Hunger konnte er nicht einschlafen. Plötzlich kam die Taube zu ihm geflogen und fragte ihn, was ihm fehle. Der kleine Peter erzählte ihr, daß ihn der Hunger quäle. Darauf sagte die Taube, daß er ein wenig warten solle. Sie flog davon und brachte ihm nach kurzer Zeit reichlich Speis und Trank. Der kleine Peter stillte nun Hunger und Durst. Dann legte er sich nieder und schlief ein. Als er erwachte, war die Brücke schon längst fertig. Der König kam und freute sich sehr über die schöne Brücke. Er lobte die Geschicklichkeit und Kunst des kleinen Peter und beschenkte ihn reich. Dem großen Peter aber befahl er, endlich dem kleinen Peter den schon längst fälligen Lohn zu entrichten, und dann ließ er ihn noch tüchtig verprügeln.
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DIE BEIDEN BRÜDER UND DER GOLDENE VOGEL
Es waren einmal zwei Brüder. Der eine lebte im Überfluß und war habgierig — der andere war ein armer Kerl, aber er hatte ein goldenes Herz. Der reiche Bruder war der Meinung, daß er viel klüger sei als sein armer Bruder, und deshalb nannte er ihn einen Einfaltspinsel. Der arme Bruder hatte zwei Söhne, aber der reiche war kinderlos. Einmal geht der arme Bruder auf die Jagd, erblickt einen goldenen Vogel und ist ganz entzückt von ihm. Er bringt es einfach nicht übers Herz, auf ihn zu schießen, und der Vogel fliegt fort. Aber der Arme bemerkt, daß er unweit auf einer Tanne sein Nest hat. Nun sinnt er, wie er den Vogel lebendig fangen kann. Schnell holt er ein kleines Netz, klettert heimlich auf die Tanne und wirft das Netz über das Nest. So gelingt es ihm, den Vogel zu fangen. Und er weiß vor Freude nicht, was er jetzt tun soll, und zeigt allen Menschen den merkwürdigen goldenen Vogel. Der reiche Bruder eilt ebenfalls herbei, um sich das Wunder anzusehen, und er sperrt dabei seine Augen auf wie eine Katze. Sofort entdeckt er, was unter einem Flügel geschrieben steht: „Wer diesen Flügel verspeist, der findet allnächtlich unter seinem Kopf ein kleines Goldstück!", und unter dem zweiten Flügel steht: „Wer diesen Flügel verspeist, der wird König!" Der reiche Bruder erzählt niemandem ein Sterbenswörtlein 87
von dem, was er gesehen hat. Doch er drängt den Bruder ständig wie der bittere Tod. „Was willst du denn mit einem solchen Spuk anfangen, du bist doch ein armer Schlucker! Sei kein Einfaltspinsel, verkauf mir den Vogel! Ich bin reich, mir macht's nichts aus, ich kann ihn auf der Stelle bezahlen. Aber dich werden die Leute nur auslachen, daß du dich mit solchem Prunk umgibst und dabei fast vor Hunger stirbst." „Laß nur gut sein, Bruder, was geht mich das Geschwätz der Leute an? Was ich einmal gefangen habe, das behalte ich auch." „Sieh einer diesen Einfaltspinsel an, gibst du mir nun endlich den Vogel und nimmst du das Geld?" , ,Ich denke gar nicht dran. Du kannst mit deinem Geld meinen Vogel nicht bezahlen." „Ich und nicht bezahlen können? Wie schwer ist dein Vogel?" „ E r wiegt soviel wie ein Topf!" „Gut — hier hast du einen Topf voll Geld, und nun gib mir den Vogel!" Als der arme Bruder soviel Gold auf einmal erblickt, ist er einfach sprachlos. Sein Leben lang hat er nicht einmal von soviel Gold geträumt, und nun soll er es sogar selbst bekommen. Und so beschließt er: Soll er ihn haben! Von diesem Tage an begann für den armen Bruder ein glückliches Leben. Er baute sich ein neues Haus und Stallungen und schaffte sich vortreffliches Vieh an. In einem Jahr war er so reich wie sein Bruder. Ja, wenn man erst einmal mit einem Topf Gold beginnt, dann hat man bald noch mehr! Aber so ganz anders erging es dem reichen Bruder! Er hatte im nächsten Jahr weder Gold noch Glück, trotz des Vogels. Wie war das bloß geschehen? An jenem Tag, als der reiche Bruder mit dem goldenen Vogel zu Hause angekommen war, behielt er alles, was vorgefallen war, als Geheimnis für sich und erzählte nicht mal seiner Frau davon, welches Glück ihm zuteil geworden war. In der Nacht nun, als alle schlafen, denkt er gar nicht daran, schlafen zu gehen. Eifrig macht er sich daran, selbst seinen Vogel zu rupfen, damit ja niemand sieht, was unter den Flügeln geschrieben steht. Am frühen Morgen muß seine Frau den Vogel braten. Während sie das tut, legt er sich ein wenig schlafen, da er doch in der Nacht kein Auge zugemacht hat. Aber inzwischen kommen die Kinder seines Bruders mit irgendeinem Anliegen zu seiner Frau. Sie denkt: Ich kann doch nicht meines Bruders Kinder wieder gehen lassen, ohne sie 88
bewirtet zu haben. Und so tischt sie ihnen die Flügel des Vogels auf. Die Jungen lassen es sich munden und gehen nach Hause. Inzwischen hat der Mann ausgeschlafen, und seine erste Frage lautet: „Wo ist der Vogel?" „Hier, mein lieber Mann, er ist schon lange fertig!" „Wo sind die Flügel?" „Deine Neffen waren hier, und ich habe ihnen die Flügel gegeben." „Du bist wohl von Sinnen, du bist wirklich ganz und gar närrisch!" wetterte er und hätte seiner Frau am liebsten etwas angetan. Die Ärmste begreift nicht, was los ist, und denkt: Mein Mann hat noch nicht ausgeschlafen, ich muß Geduld mit ihm haben. Aber er ist voll und ganz bei Sinnen, begibt sich zu seinem Bruder und sagt hinterlistig: „Ich muß heute in den Wald nach Holz fahren; gib mir deine Jungen zu Hilfe mit!" „Warum nicht? Nimm sie mit!" Der Reiche fährt mit den Jungen in den Wald und scheucht sie dort hin und her. Sie spüren, daß das nicht gut enden kann, und so nehmen sie die Beine unter die Arme und flüchten ins Dickicht. Der Reiche sucht sie bis zum späten Abend. Umsonst! In der Nacht möchten sie sich nach Hause begeben, aber sie haben sich verirrt. Und so irren die Ärmsten einige Tage und Nächte verzweifelt umher. Zum Glück erscheint eines Tages ein vornehmer Jäger, ein Gutsbesitzer, im Wald. Er vernimmt die Stimmen der halbverhungerten Kinder unter einem Baum. „Weshalb weint ihr?" Und die Jungen erzählen ihm alles. „Habt ihr nicht Lust, vornehme Jäger zu werden?" „Warum nicht?" „Nun, dann kommt mit mir; ich verspreche euch glückliche Tage." Die Jungen erheben sich; aber der Gutsbesitzer erblickt an der Stelle, wo der Kopf eines der Jungen beim Schlafen gelegen hat, ein Häuflein Gold. Er staunt, doch die Jungen erzählen, daß jeweils einer von ihnen allnächtlich ein solches Goldhäuflein unter seinem Kopf vorfindet. „Das ist wunderbar — heb es sorgfaltig auf! Du wirst's in den nächsten Tagen gebrauchen können!" 89
Die Jungen gehen mit dem alten Gutsbesitzer mit, der sie zu vornehmen Jägern ausbildet. Eines Tages ist es soweit, daß der Alte die beiden ruft, damit sie zeigen, was sie gelernt haben. Plötzlich fliegen Wildgänse über ihnen hinweg. Der eine Junge schießt und trifft sofort den Kopf einer Gans. „Du verstehst dein Handwerk!" Nach einer Weile fliegen Wildenten vorbei. Der andere Junge schießt und trifft den Schnabel einer Ente. „Auch du beherrschst dein Handwerk! Nun könnt ihr allein auf Jagd gehen. Ich bin zu alt, um noch durch den Wald zu streifen. Versorgt ihr mich nun mit Wildbret!" Eines Tages begegnen die beiden jungen Jäger einander auf der Jagd. Sie gehen ein Stück miteinander und stoßen plötzlich auf einen Hasen. Sie wollen schon schießen, aber der Hase bittet: „Schießt nicht, ich gebe euch auch zwei meiner Kinder." Einverstanden. Nach einer Weile begegnen sie einem Fuchs. Sie wollen schießen, aber der Fuchs bittet: „Schießt nicht, ich gebe euch auch zwei meiner Kinder." Einverstanden. Nach einer Weile begegnen sie einem Wolf. Sie wollen schießen, aber der Wolf bittet: „Schießt nicht, ich gebe euch auch zwei meiner Kinder." Einverstanden. Nach einer Weile begegnen sie einem Bären. Sie wollen schießen, aber der Bär bittet: „Schießt nicht, ich gebe euch auch zwei meiner Kinder." Einverstanden. Nun erhält jeder einen jungen Hasen, ein Füchslein, einen jungen Wolf und ein Bärenjunges, und sie beschließen, in entgegengesetzte Richtungen auf die Jagd zu gehen. Ehe sie sich trennen, verabreden sie folgendes: Jeder Bruder soll in eine ganz bestimmte Kiefer sein Messer stecken — wer zuerst dort ist, achtet darauf, wie das Messer des anderen aussieht. Wenn es blank ist, dann hat sein Bruder auf der Jagd Glück, aber wenn es verrostet ist, dann ist etwas nicht in Ordnung, und der andere Bruder muß ihm so schnell wie möglich zu Hilfe eilen. Der Bruder, der unter seinem Kopf Gold fand, erlegte so viel Wild, daß er es kaum tragen konnte. Er begibt sich zurück in den Wald und sieht, daß das Messer seines Bruders noch ganz blank ist. Soll er nur weiterjagen, ich habe genug und gehe nach Hause. Er begibt sich mit seiner Beute heimwärts. Unterwegs trifft 90
er den Gutsherrn mit seiner Tochter, der ihm das goldene Schloß zeigt, das er soeben hat erbauen lassen, und sagt: „Dieses Schloß habe ich während deiner Abwesenheit aus dem Gold gebaut, das sich in den Nächten angehäuft hatte. Und ich habe beschlossen: Wer von euch beiden zuerst heimkehrt, dem gebe ich meine Tochter zur Frau. Du bist zuerst heimgekehrt; nimm also meine Tochter und lebe mit ihr im Schloß glücklich und in Freuden." Der andere Bruder hatte sich mit seinen Tieren auf der Jagd verirrt. Lange irrte er kreuz und quer im Wald umher; schließlich kam er in einer ganz fremden Stadt an. An diesem Tag hatte die Stadt Trauer angelegt. Der Jäger wundert sich darüber und fragt: „Was ist denn geschehen, warum seid ihr alle so traurig und verzagt?" „Bist du denn so fremd hier, daß du nicht weißt, was in diesen Tagen geschehen ist?" „Woher soll ich es denn wissen, ich bin doch eben erst hier eingetroffen." „Nun, dann hör zu! Unsere Stadt muß alljährlich dem Drachen dort auf dem Berg einen Menschen zu fressen geben; diesmal ist die Königstochter an der Reihe. Zwar hat der König seine Tochter dem zur Frau versprochen, der es fertigbringt, die Ärmste vor dem Drachen zu retten; aber wo wird sich schon jemand finden, der stark genug ist, das zu tun?" Der Jäger hört diese Worte und schweigt. An dem Tag, an dem die Tochter zu dem Drachen geführt werden soll, begibt er sich still und heimlich mit seinen Tieren auf den Berg des Drachen und versteckt sich dort. Auf diesem Berg war eine Höhle, in der sich der Drache manchmal aufhielt. Da es kein anderes Versteck in der Nähe gibt, kriecht der Jäger in die Höhle. Die Tiere folgen ihm, und sie erblicken einen Riesenberg Gold. Nun kriechen sie noch tiefer hinein und entdecken in einem Hinterzimmer zwei Fässer, über denen der Säbel des Drachen liegt. Aber dieser Säbel ist so schwer, daß er sich nicht heben läßt. Sie betrachten die Fässer genauer, und — welch ein Glück! Auf einem Faß steht: „Wer aus diesem Faß trinkt, dessen Kräfte verneunfachen sich!" Und sie schauen sich weiter um. Auf dem zweiten Faß steht: „Wer aus diesem Faß trinkt, dessen Kräfte verringern sich ums Neunfache." Worauf soll man noch warten? Im Nu ist der Bruder am 91
ersten Faß und trinkt drauflos und läßt auch die Tiere saufen. Sie trinken und trinken, bis der Boden des Fasses zu sehen ist. Jetzt sind sie alle ganz stark geworden. Sie berühren den Säbel — er erscheint ihnen federleicht, und sie entfernen ihn von den Fässern. Die Augen der Tiere funkeln so sehr, daß da dem Jäger selbst angst und bange wird. Während dem Jäger und den Tieren große Kräfte gewachsen sind — hörst du —, da beginnt auch schon der Berg zu beben. Der Jäger weiß sofort, was los ist. Er ergreift den Riesensäbel und stürzt mit den Tieren geradewegs dem Drachen entgegen. Der Drache spuckt entsetzliche Flammen, so daß das Fell der Tiere von der Hitze angesengt wird. Aber der Jäger stürzt mit dem Säbel auf den Drachen, und im Nu ist sein Pelz an einer Stelle verletzt. Der Bösewicht schleppt sich in die Höhle, um sich am Wasser aus dem kraftspendenden Faß zu stärken, aber — hast du gedacht! — das Faß ist leer. Er kriecht wieder aus der Höhle, doch er hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht! Kaum ist er draußen, da stößt ihm auch schon der Jäger, der vor der Höhle gewartet hat, den Riesensäbel ins Fleisch und nagelt ihn an die Wand. Die Klinge bleibt in der Wand stecken, und den Schaft behält der Jäger in seiner Hand. Der Drache gebärdet sich wie ein Verrückter, aber je mehr er tobt, desto tiefer bohrt sich die Klinge in seinen Körper. Die Tiere denken gar nicht daran, untätig abseits zu stehen. Der Bär fallt über den Bösewicht her, der Wolf reißt ihm die Lenden heraus, der Fuchs zerrt an seinem Schwanz, und der Hase ermuntert sie immer wieder. Es dauert gar nicht lange, bis der Drache getötet ist. Kaum war alles überstanden, da nahte die Königstochter einsam und allein der Höhle, denn ihr Begleiter hatte sich vor Angst in den Sträuchern verkrochen und ließ sich nicht blicken. Nun geht der Jäger der Verzweifelten entgegen und erzählt ihr, daß der Drache getötet und sie gerettet ist. Die Prinzessin fallt ihrem Lebensretter um den Hals, gjbt ihm ihren Ring und verspricht ihm, sich nie mehr von ihm zu trennen. Der Retter steckt sich den Ring an den Finger und gibt der Prinzessin das Versprechen, am nächsten Tag zum König zu kommen. Die Prinzessin möchte gern, daß er gleich mit ihr geht, aber er antwortet: „Du siehst selbst, wie blutbeschmiert ich bin, ich kann doch nicht so vor den König treten. Außerdem muß ich mich ein 92
wenig ausruhen, denn einen solchen Kampf spürt man in den Knochen." Nun gut. Der Jäger klettert auf den Drachenberg, um ein wenig zu schlafen, und schärft dem Bären ein, ihn zu bewachen. Aber der Bär ist auch müde und will ein Schläfchen halten: Mag doch der Wolf aufbleiben! Aber auch der Wolf will ein Schlummerstündchen halten: Mag doch der Fuchs aufbleiben! Aber der Fuchs will ebenfalls ein wenig schlafen: Mag doch der Hase aufbleiben! Doch der Hase, sosehr er sich anstrengt, bringt es nicht fertig, munter zu bleiben — er fallt in süßen Schlummer. Als das der Kutscher der Prinzessin bemerkt, springt er — briksch — schnell aus dem Gesträuch, tötet den eingeschlafenen Retter der Prinzessin und rast hinter ihr her. Noch vor der Stadt holt er sie ein. Die Prinzessin versteht nicht, wohin er so schnell eilt, aber er ruft ihr kurz zu: „Falls du dem König nicht sagst, daß ich es war, der dich vor dem Drachen gerettet hat, dann ist es sofort aus mit dir!" Die Prinzessin erschrickt sehr und verspricht ihm, dem König zu erzählen, daß ihr Kutscher sie gerettet habe. Dar König glaubt den Worten der Prinzessin und läßt sofort die Hochzeitsvorbereitungen treffen. Der wahre Retter der Prinzessin lag jedoch bis zum Abend leblos da. Als der Bär als erster aufwacht, sieht er seinen Herrn blutüberströmt liegen. „Bist du von Sinnen", herrscht er den Wolf an, „was ist hier geschehen, während ich schlief?" Der Wolf springt auf und reibt sich die Augen. Er weiß von nichts, da der Fuchs versprochen hat, statt seiner wachzubleiben. Sie wecken den Fuchs, aber auch er hat keine Ahnung, da der Hase versprochen hat wachzubleiben. Sie wecken den Hasen, der hilflos etwas vor sich hinstottert. Nun befiehlt der Bär: Der Hase solle schleunigst die Lebenswurzel holen! Der nimmt geschwind die Beine unter den Arm und jagt davon, daß es nur so raucht. Eins — zwei — drei! Da ist er auch schon mit der Lebenswurzel zurück. Der Bär müht sich eine ganze Weile mit der Lebenswurzel um den Leblosen. Auf einmal, sieh da, beginnt er sich ein wenig zu bewegen. Die Tiere reiben ihn und hauchen ihn an, und schau nur, da erhebt er sich wieder und ist gesund. Nun sind die Tiere vor Freude ganz aus dem Häuschen: Die ganze Nacht schließen sie kein Auge. Sie sprechen davon, wie sie ihren Herrn wieder zum Leben erweckt haben, und sind überglücklich. 93
Am dritten Tag macht sich der Jäger zum König auf. Er kommt in die Stadt — sie ist geschmückt, überall sind vor den Häusern Birken hingestellt, überajl herrscht eitel Freude. Er hat nicht die leiseste Ahnung, was los ist. Und so erkundigt er sich. Aber was muß der Ärmste erfahren? Die Königstochter feiert Hochzeit mit ihrem Retter. Was soll das? Was ist das für ein Retter? Er will sofort aufs Schloß gehen. „Nein", sagt er sich, „ich werde erst Erkundigungen einziehen, ob ich tatsächlich erwartet werde oder nicht." Er schickt den Hasen los. Der Hase kehrt mit der Nachricht zurück, daß die Prinzessin wirklich Hochzeit feiert, aber mit einem anderen Bräutigam. Nun wird der Jäger auf die Prinzessin böse und weiß nicht recht, was er tun oder lassen soll. Aber der Bär empfiehlt ihm: „Solange du nichts Genaues weißt, mußt du dich nicht ärgern; gib mir den Ring der Prinzessin, ich werde mich mal umschauen. Wenn die Prinzessin dich verlassen hat, kehre ich ohne den Ring zurück, aber wenn sie's nicht getan hat — dann bring ich den Ring wieder." Der Bär begibt sich aufs Schloß und spricht heimlich mit der Prinzessin. Sie erzählt ihm, was geschehen ist, und nimmt den Ring nicht zurück. Ihr Retter solle sich beeilen hierherzukommen, solange sie noch nicht getraut sei. Nun erscheint ihr wahrer Retter mit allen seinen Tieren. Die Hochzeitsgesellschaft wundert sich, wer diese Gäste eingeladen hat. Aber die Prinzessin hat schon ihrem Vater alles offenbart. Der alte König ist zornig und läßt den Betrüger gefangennehmen und ihn von vier schwarzen Pferden zerreißen, aber den wahren Ritter läßt er mit seiner Tochter trauen. Nun beginnt die eigentliche Hochzeit. Nach der Hochzeit verkündet der König seinem Schwiegersohn, daß er sich folgendes überlegt habe: Er sei ein alter Mann, und deshalb setze er den Schwiegersohn schon jetzt als seinen Nachfolger ein. So verging eine lange Zeit. Da geht der junge König eines Tages wieder einmal zur Jagd. Er nimmt seine Tiere mit. Mitten im Wald erblickt er ein kleines weißes Reh. Er möchte schießen, aber es gelingt ihm irgendwie nicht. Und auf einmal wird es stockfinster. Der König wundert sich, aber er kann's ja nicht ändern. So befiehlt er, Reisig aufzuschichten und ein Feuer zu machen. 94
Da bewegt sich plötzlich jemand im Feuerschein auf einem hohen Baum. Der König schaut nach oben — ein fremder Mensch hat einen Stuhl in die Äste gestellt und sitzt darauf. „Wer bist du?" fragt der König. „Ich bin schon fast erfroren. Wenn mich doch jemand wärmte!" ,, Komm herunter ans Feuer!" „Ich fürchte mich vor deinen Tieren. Hier hast du eine kleine Rute, schlage damit deine Tiere, dann fallen sie mich nicht an." Der König vermutet nichts Böses, nimmt die Rute und schlägt damit seine Tiere, aber dabei berührt er sich selbst mit dem Ende der Rute und bleibt wie tot liegen. Vergeblich wartet die junge Königin daheim auf ihren Gemahl. Aber der Bruder des Königs, der Schwiegersohn des Gutsbesitzers, der in dem goldenen Schloß wohnte, hatte sich eines Tages aufgemacht, um im Wald nach dem Messer zu schauen. Er kommt an den Baum und sieht, daß das Messer seines Bruders verrostet ist. Was nun? Er holt seine Tiere und begibt sich mit ihnen auf die Suche nach seinem Bruder. Sie suchen und suchen ihn im Wald. Eines Tages erblickt der Bruder des Königs ein kleines weißes Reh; er möchte schießen, aber es gelingt ihm irgendwie nicht. Plötzlich ist's finster. Nichts zu machen, er entzündet ein Feuer. In der Nähe des Lagerfeuers sitzt jedoch jemand auf einem Stuhl auf einem hohen Baum und wimmert: „Mir ist kalt, mir ist kalt!" „Komm herunter und wärme dich!" „Ich fürchte mich vor deinen Tieren. Hier hast du eine kleine Rute, schlage damit deine Tiere, dann steige ich herunter und wärme mich." „Ich denke gar nicht dran, meine Tiere zu schlagen! Sie sind mir teurer als du dort auf dem Baum." Als der Jäger im guten nicht hören will — weißt du —, da beginnt der Mann oben grob mit ihm zu sprechen. Er solle keinen Unsinn machen und die Tiere schlagen, da es sonst schlimm enden könne. Als der Schwiegersohn des Gutsbesitzers diese Worte vernimmt, gebietet er dem Bären: „Du! Zieh den Elenden dort herunter!" Und der Bär ist mit einem Satz auf dem Baum und wirft ihn zu Boden. Der Wolf, der Fuchs und der Hase begrüßen ihn wie einen Bruder, und ehe er sich's versieht, liegt er unten. 95
Im selben Augenblick erwacht auf der anderen Seite des Waldweges der junge König mit den Tieren und kommt zu seinem Bruder, um ihn für die Rettung an sein Herz zu schließen. Nun erzählen sie einander von ihren Abenteuern, streicheln die Tiere und gehen zum Schloß des Königs. Und gleich am nächsten Tag bahnen sie vom Schloß des jungen Königs zum Schloß des jungen Gutsbesitzers einen langen Weg durch den Wald. Auf diesem Weg konnten sich die Brüder nun jede Woche treffen. 45
WORÜBER DIE VIERBEINER U N D DIE VÖGEL SPRACHEN
Einst ging ein Förster durch den Wald und erblickte einen Vogel. Er wollte auf ihn schießen, aber der Vogel sagte: „Schieß nicht auf mich, ich werde dir eine kleine Flöte geben, und du wirst stets wissen, worüber die Vierbeiner und die Vögel sprechen. Wenn du das aber jemandem erzählst, mußt du sterben." Am Abend begleitete der Förster die Pferde auf die Weide, und Hunde liefen ihm hinterher. Gegen Mitternacht sagte der älteste Hund zum jüngsten Hund: „Du bist jünger als ich und hast geschwindere Beine. Laufe nach Hause, denn dort werden heute nacht Diebe einbrechen. Wenn du den Hof erreicht hast, belle laut, dämit die Leute aufwachen. Sollten sie dich nicht hören, springe gegen die Tür, und wenn sie auch das nicht hören, springe gegen das Fenster!" Der jüngste Hund tat, wie ihm geheißen. Die Förstersfrau wollte ihn verprügeln, weil er gegen das Fenster gesprungen war, aber da bemerkte sie, wie Diebe aus der Scheune liefen. So kam der Hund ohne Prügel davon. Die Förstersfrau jagte mit den Knechten hinter den Dieben her. Der Hund kehrte auf die Weide zurück, und der älteste Hund fragte ihn: „Nun, wie ist es dir ergangen?" Der junge Hund erwiderte: „Zunächst konnte ich die Leute nicht wecken. Deshalb rannte ich gegen die Tür und gegen das Fenster, aber sie wollten mich dafür noch schrecklich verprügeln." Der älteste Hund fragte weiter: „Doch dann hast du wohl ein gutes Abendessen bekommen?" Der jüngste Hund erwiderte:
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„Nichts habe ich bekommen, nur mit Wasser übergossene Kartoffelschalen." Als der Förster am nächsten Morgen aus dem Haus ging, erzählte seine Frau, daß letzte Nacht Diebe eingebrochen seien und der Hund sie gestört habe. „Nun, dann hast du ihm doch für diese gute Tat sicher ein gutes Abendbrot gegeben?" Die Förstersfrau antwortete: „Ich gab ihm allerdings gut zu essen: ein Stück Fleisch und Brot." Der Förster sagte: „Du lügst: Du hast ihm kein Fleisch gegeben." Die Förstersfrau behauptete hartnäckig, daß sie ihm doch ein Stück Fleisch gegeben habe, und so fingen die beiden zu streiten an. Der Förster wurde wütend und sagte der Frau, daß sie dem Hund nur mit Wasser übergossene Kartoffelschalen gegeben habe. Als die Frau merkte, daß sie so nicht weiterkam, fragte sie freundlich: „Woher weißt du denn das?" Der Mann sagte: „Ich verstehe, was die Vierbeiner sprechen." Die Frau bat ihn, ihr mehr zu erzählen. Doch der Mann sagte: „Ich darf dir nichts erzählen, sonst muß ich sterben." Doch die Frau ließ nicht locker: „Mein lieber Mann, auch wenn du sterben mußt, so erzähle mir trotzdem alles, damit auch ich verstehe, worüber die Tiere sprechen." Der Mann ließ sich einen Sarg zimmern und lud seine Verwandten ein. Er befahl, den Pferden Hafer und den Hühnern Weizen zu geben. Die Pferde fraßen den Hafer nicht, und die Hühner rührten den Weizen nicht an, denn ihnen tat der gute Mann leid. Alle Trauergäste waren schon versammelt bis auf einen. Als der Förster sich in den Sarg gelegt hatte, erschien auch der bisher noch fehlende Trauergast, und mit ihm schlich der Hahn heimlich ins Zimmer. Als der Hahn den Mann im Sarg erblickte, begann er zu schreien: „Du Rindvieh, du großes Rindvieh, einer Frau wegen willst du sterben! Ich halte neun Frauen in Schach, und du kannst nicht mal mit einer einzigen fertig werden. Siehst du dort die 7
Lettische Volksmärchen
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Zügel? Nimm sie und bändige deine Frau. Ich halte neun Frauen in Schach, und du kannst nicht mit einer einzigen fertig werden?" Da sprang der Mann aus dem Sarg, ergriff die Zügel und verprügelte seine Frau: „ D a hast du's, was die Tiere sprechen! Da hast du's, was die Tiere sprechen!" Die Frau flehte: „Schlag mich nicht, mein lieber Mann, hör auf, ich werde nicht mehr fragen, worüber die Tiere sprechen." Von nun an war die Frau nie mehr neugierig. Der Förster lebt bis heute glücklich und in Freuden. 46
DIE W U N D E R DES ALTEN SCHLOSSES
Ein Vater hatte drei Söhne. Jeder von ihnen ritt jeweils für eine Nacht zum Pferdehüten. In einer Sonntagsnacht war der Jüngste an der Reihe. Beim Morgengrauen sprang er auf sein Pferd und jagte heimwärts. Nachdem er ein kurzes Stück geritten ist, hört er, wie eine Stimme ihn zurückruft. Er schaut sich um und sieht einen Heuschober in Flammen stehen. Oben auf dem Heuschober erblickt er ein schönes Mädchen, das ihm mit der Hand zuwinkt und ihn ruft. Er beschließt hinzureiten, wendet sein Pferd und erreicht den Heuschober, aber das Feuer ist bereits erloschen und das schöne Mädchen verschwunden, A m Hals spürt er jedoch etwas Kaltes. Er schaut hin und entdeckt eine schwarze Riesenschlange, die sich ihm um die Schultern gewunden hat. Er erschrickt furchtbar. Aber da schmiegt sich die Schlange ihm auch schon ans Ohr und flüstert: „Bring mich zu meinem alten Schloß, bring mich nach Hause!" Der Sohn fragt sie eindringlich, wo denn ein solch altes Schloß steht, aber sie gibt kein Sterbenswörtchen mehr von sich. So wendet er sein Pferd heimwärts und reitet nach Hause. Als die Brüder die Schlange erblickten, erschraken sie entsetzlich. Der Vater versuchte zwar, mit allen möglichen Worten den Sohn von der Schlange zu befreien, aber vergebens! Kaum näherte man sich ihr, da zischte sie auch schon furchtbar. Der Sohn erzählte nun alles, was er erlebt hatte, und am 98
nächsten Tag macht er sich auf den Weg, denn die Schlange flüstert ihm immerzu ins Ohr: „Bring mich zum alten Schloß!" Der jüngste Sohn ritt und ritt einen Tag und noch einen Tag und noch einen dritten Tag durch die Welt, aber von einem alten Schloß erblickte er keine Spur. Er tritt sogar ans andere Ende der Welt, aber vergebens! So weinte er bitterlich und seufzte schwer. Ein ganzes Jahr war bereits vergangen. Er ritt ein zweites Jahr und ein drittes, bis er schließlich ein ganz fremdes Land erreichte. Er fragte den einen, er fragte den andern, aber niemand kannte ein solches Schloß. Da traf er unterwegs einen Armen: „He, Großväterchen, weißt du nicht, wo das alte Schloß ist?" Der jüngste Sohn warf dem Alten sein Geldbeutelchen hin und sagte: „Nimm diesen Beutel, aber sage mir, wo das alte Schloß ist." Der Alte dachte nach, kratzte sich am Nacken und sagte: „Reite nur geradeaus, mein Sohn. Nach dreizehn Tagen und dreizehn Wochen wirst du am Rande dieses Weges einen Stein erblicken und dahinter einen alten, verwachsenen Pfad. Biege dort ab und reite weiter, dann findest du eine alte Ruine — und das ist das Schloß." Der Alte verschwand hinter dem Hügel, aber der Sohn ritt geradeaus weiter. Nach dreizehn Tagen und dreizehn Wochen erblickte er einen Stein und dahinter einen alten Pfad. Langsam ritt er nun auf die Ruine zu. Kaum hatte er die Freitreppe erreicht, löste sich die Schlange von seinen Schultern und verschwand. Auch die Ruine war plötzlich entschwunden, und vor dem Reiter ragte ein Wunderschloß empor. Auf der Freitreppe erschienen zwei Schwestern, denen sich die dritte zugesellte. Sie fiel ihnen um den Hals und erzählte, wer sie gerettet hatte. Nun baten die Schwestern den jüngsten Sohn ins Schloß. Hier erblickte er goldene Tische mit Kuchen, Weizenbrot und Honig. Als er gespeist hatte, ging er hinaus, nach seinem Pferd zu schauen. Und was sieht er? Das Pferd frißt aus einer goldenen Schüssel Hafer, der auch wie Gold aussieht. Nun wandten sich alle drei Schwestern an den jüngsten Sohn, und die jüngste Schwester sprach: 7"
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„Nimm diesen Geldbeutel, und wenn du Geld brauchst, wird er's dir geben." „Nimm dieses Schwert", sagte die zweite, „und wenn du es schwingst, wird bereits alles vollbracht sein." „Und nimm diesen Mantel", sprach die dritte Schwester, „er wird dich vor allem Übel bewahren." Der Sohn dankte und legte sich schlafen. „Nein", sagte die jüngste Schwester, „du sollst zu mir kommen." , Er wollte erst nicht, aber schließlich ging er doch zu ihr. Das Bett war so breit, daß man keinen Rand sah, und die Kissen waren wie Berge übers Bett zerstreut. Der Sohn wurde auf den weichen Kissen ganz benommen, und er schlief wie tot ein. Am Morgen- wacht er auf und schaut sich um — da ist kein Schloß und auch kein Bett. Sein Pferdchen hat schon alle Steine angenagt und sich ins Gras gelegt, aber — sieh da — das Geldbeutelchen ist in seiner Tasche, das Schwert liegt neben ihm, und der Mantel ist über seine Schulter geworfen. Sofort besteigt er das Pferd, und nun geht's schnell nach Hause. Er ritt und ritt. Plötzlich begegnet er einem Bettler. Der Sohn greift zum Geldbeutel. Ein Taler ist drin. Er nimmt ihn heraus und wirft ihn dem Bettler hin. Ehe er sich's versieht, ist ein neuer Taler im Geldbeutel. Nun kommt er in ein Königreich und hört, daß der König eine schöne Tochter habe und derjenige sie zur Frau bekomme, der die Zeche einer Nacht im Königsschloß bezahle. Er überlegt, na, was ist schon dabei, er wird mal hinreiten. Unterwegs erkundigt er sich bei dem einen und beim andern, wie die Aussichten sind. „Was?" staunt ein Armer, „du hoffst die Königstochter zu bekommen? Das ist doch wahrlich zum Lachen . . . Viele haben ihr Haupt schon dort lassen müssen, denn wer nicht bezahlen kann, der wird geköpft." Der Sohn schmunzelte nur, warf einen Taler hin und ritt davon. Er übernachtet im Schloß und sieht am nächsten Morgen den König in einer riesengroßen Kutsche vorfahren. Der König macht am Schloß halt, ruft den Sohn heraus und sagt: „Schütte die Kutsche voll mit Talern!" Zunächst zögert der Sohn, nimmt dann aber sein Geldbeutelchen aus der Tasche. Alle grinsen, und der Henker hat schon das Schwert gezückt. 100
„Wart ein Weilchen", sagt der Sohn, holt einen Taler aus dem Beutelchen und wirft ihn in die Kutsche. Schon ist der zweite Taler da. Jetzt schüttelt er den Geldbeutel, und Taler auf Taler fallen in die Kutsche. Im Nu ist ein Haufen voller Taler da, so daß der König sogar Einhalt gebietet. Der Sohn aber reißt den Geldhaufen mit der Hand auseinander, ruft die Armen herbei und sagt: „Das ist für euch!" Nun führt der König den Sohn zum Thronsaal und verkündet die Hochzeit. Schnell kommt der Hochzeitstag, aber der Sohn hat noch nicht ein einziges Mal mit der Prinzessin gesprochen. Sie hatte nämlich einen anderen Bräutigam, den Prinzen eines anderen Königreichs. Er hieß Mudris. Am Hochzeitstage hatte sie ihn ganz und gar vergessen, denn aych der jüngste Sohn war schön. Sie heirateten und lebten einige Zeit glücklich miteinander, bis die Prinzessin sich eines Tages ihres Mudris' erinnerte. Heimlich schrieb sie ihm einen Brief, in dem sie ihn bat, sie von dem jüngsten Sohn zu erlösen. Mudris rief alle seine Mannen zusammen, und bei Hörnerklang begaben sie sich aufs Schloß. Der Schwiegervater war gar nicht auf der Seite seiner Tochter und befahl daher, dem Mudris ein Heer von jungen Männern entgegenzuschicken. Aber dessen Heer war stärker, und seine Mannen näherten sich schon dem Schloßtor. Nun begab sich der jüngste Sohn ans Tor und befahl, es zu öffnen, aber der Schwiegervater und die Wächter widersetzten sich diesem Befehl mit aller Kraft. Da zog der Sohn das Schwert aus der Scheide, schwang es und sprach: „Der Sieg ist unser!" Er stieß den Wächter zur Seite, rannte durchs Tor und kehrte im Nu mit dem verwundeten Mudris zurück. Der Krieg war beendet, und die Soldaten feierten im Schloß ein Freudenfest. Mudris' Vater traf ein, um seinen Sohn für eine halbe Fuhre Gold freizukaufen. Von diesem Tage an war die Prinzessin zum jüngsten Sohn lieb und gut und bedrängte ihn immerzu, ihr zu erzählen, was das für eine Kraft ist, mit der er alle besiegt hat, denn kaum hatte er das Schwert bewegt, da waren die Gegner auch "schon gefallen. Anfangs schwieg der Sohn, aber später erzählte er ihr doch alles. Eines Morgens, während sich der Sohn wusch, vertauschte die 101
Prinzessin heimlich Schwert und Mantel und brachte beides dem Mudris. Nach dreizehn Tagen begann Mudris erneut einen Krieg. Der jüngste Sohn warf seinen Mantel über, gürtete sein Schwert um und ging dem Gegner ganz allein entgegen. Die Mannen des Mudris erschienen wie Hirsche in der Schneise, aber der jüngste Sohn zitterte und bebte nicht. Er zückt das Schwert, schwingt es, doch umsonst — das Schwert gehorcht ihm nicht mehr. Während er sich darüber' wundert, stürzen Mudris' Mannen auf ihn und fesseln ihn. Gefesselt führen sie den Ärmsten ins Schloß und verkünden ihm, daß morgen sein letztes Stündlein schlägt. Nun gut. Es tagt. Der Henker hat bereits das Beil geschärft, aber der König hat durch sein Bitten bei Mudris erwirkt, daß es dem jüngsten Sohn gestattet wird, seinen letzten Wunsch zu äußern, der ihm auch erfüllt werden soll. „Nun gut", sagt der jüngste Sohn, „wenn ihr mich geköpft habt, dann kocht mich und werft meine Knochen in einen Sack. Bindet ihn oben zu und legt ihn meinem Pferdchen auf den Rücken. Laßt es dorthin traben, wohin es mag." Gesagt, getan. Sie ließen das Pferd mit dem Knochensack auf dem Rücken lostraben, schlössen das Tor zu und begannen zu feiern. Das Pferdchen hatte nicht vergessen, wo es guten Hafer gibt, und lief zum alten Schloß. Dort bleibt es stehen und sieht sich um. Da kommt eine der Schwestern heraus — sie schaut und schaut — dieses Pferd kennt sie doch? Die zweite Schwester erscheint und auch die dritte, und sie schauen: „Ach, das ist doch unser Freund! Mal sehen, was er uns gebracht hat!" Sie betrachten den Sack — nur Knöchlein sind drin. Sie tragen sie behutsam ins Schloß, legen sie sorgfaltig zusammen und erwecken den jüngsten Sohn zum Leben. „Nun werden wir dich in ein Pferd verwandeln", sagten die Schwestern. Am nächsten Morgen ergriffen die Schwestern den jüngsten Sohn — das Pferd — an den Zügeln und führten ihn aufs Schloß zum König. Kaum hatten sie das Tor erreicht, da wollte der Sohn — das Pferd — wie verrückt wiehern. „Wiehere doch, so wiehere doch", sagten die Schwestern. Und nun wieherte es drauflos, daß der ganze Wald dröhnte und das Wasser bebte. Die Prinzessin lief herbei, um zu sehen, was los ist. Kaum hatte sie das schöne Pferd erblickt, lief sie zu 102
Mudris hin und bat ihn um Geld, damit sie das Pferd kaufen kann. Danach ging sie mit dem Pferd in den Stall, aber dort war auch schon die Wahrsagerin — eine alte Hexe — zur Stelle und bedeutete, daß man das Pferd schlachten müsse. Zwar wollte die Prinzessin zunächst gar nichts davon wissen, aber schließlich gab sie nach. Nun kam die Magd in den Stall. Und der jüngste Sohn fing an zu sprechen. Er erzählte ihr, wer er sei, und bat die Magd, ihn vor dem Tod zu bewahren. „Wenn ich geschlachtet werde, dann stell dich so hin, daß auf dich Blut spritzt. Anschließend nimm die blutige Schürze und vergrabe sie unter dem Schlafzimmerfenster der Prinzessin." So geschah es dann auch. Die Magd vergrub die Schürze unter dem Fenster, und in der Nacht wuchs dort ein wundervoller Apfelbaum. Als die Prinzessin ihn am Morgen sah, freute sie sich, doch schon war die Hexe wieder da und sagte, daß man diesen Apfelbaum fallen müsse. Die Magd kam hinzu und beweinte den schönen Apfelbaum, aber der flüsterte ihr zu: „Wenn man mich fällt, dann stell dich so hin, daß ein Span dir in den Schoß fliegt. Wirf diesen Holzspan in den Schloßteich." Schon kamen die Holzfäller und begannen den Apfelbaum zu fallen. Die Magd stellte sich so hin, daß ein Span in ihren Schoß flog. Unauffällig brachte sie ihn zum Schloßteich und warf ihn ins Wasser. Um die Mittagsstunde begab sich Mudris auf die Jagd, aber bald kehrte er um, denn er hatte kein Wild erblickt. Während er am Teich vorbeikommt, sieht er ein kleines Entlein schwimmen. Er meint, daß es nicht der Mühe wert ist zu schießen — er wird es lebend mit der Hand fangen. Und so legt er seinen Bogen auf die Erde, zieht seinen Mantel aus, wirft das Schwert zur Seite und steigt in den Teich. Kaum ist er im Teich, da ist die Ente auch schon am Ufer, und es ist keine Ente mehr, sondern der jüngste Sohn. Er wirft den Mantel über seine Schulter, ergreift das Schwert, spannt den Bogen und schießt einen Pfeil genau in Mudris' Herz. Darauf begab er sich gleich- zum Schloß, rief die Leute zusammen und befahl, die Prinzessin und den Schwiegervater zu 103
verbrennen. Nachdem das vollbracht war, ließ er ein herrliches Fest veranstalten, heiratete die Magd und lebte noch ein langes Leben. 47
DIE TIERE ALS SCHWIEGERSÖHNE
Ein Vater hatte drei Töchter. Einmal ging der Vater mit der jüngsten Tochter Beeren sammeln. Plötzlich begann es entsetzlich zu regnen — es goß wie aus Eimern. Im stärksten Regen begegnete den Beerensammlern ein goldener Fisch, der zum Vater sprach: „Wenn du mir deine jüngste Tochter nicht zur Frau gibst, fresse ich dich auf. Aber wenn du sie mir gibst, schenke ich dir drei Schuppen von mir. Wenn's dir mal schlecht geht, brauchst du sie nur in der Hand zu reiben, dann eile ich dir sofort zu Hilfe!" Nichts zu machen, der Vater mußte die Tochter für die Schuppen hergeben. In der nächsten Woche geht der Vater mit der mittleren Tochter Beeren sammeln. Da setzt plötzlich ein entsetzlicher Sturm ein. Fast werden die Beerensammler zu Boden geworfen. Und während des heftigsten Sturms fliegt ein gewaltiger Adler herbei und spricht zum Vater; „Wenn du mir deine mittlere Tochter nicht im guten zur Frau gibst, fresse ich dich auf. Aber wenn du sie mir gibst, schenke ich dir drei Federchen von mir. Wenn's dir mal schlecht geht, brauchst du sie nur in der Hand zu reiben, dann eile ich dir sofort zu Hilfe!" Nichts zu machen, der Vater mußte die Tochter für die Federchen hergeben. In der dritten Woche geht der Vater mit der ältesten Tochter Beeren sammeln. Auf einmal wird es im Walde so dunkel, daß man nicht mehr die Hand vor Augen sieht. In der Dunkelheit schleicht ein großer Bär zu den Beerensammlern und spricht zum Vater: „Wenn du mir deine älteste Tochter nicht zur Frau gibst, fresse ich dich auf. Aber wenn du sie mir gibst, schenke ich dir drei Fellbüschel von mir. Wenn's dir mal schlecht geht, brauchst du sie nur in deiner Hand zu reiben, dann eile ich dir sofort zu Hilfe!" Nichts zu machen, der Vater, mußte die Tochter hergeben. Am Morgen kehrte der Vater ganz allein nach Hause zurück. 104
Er lebte eine lange Zeit ohne seine Töchter. Doch das war kein rechtes Leben. Entsetzlich lang wurde ihm die Zeit „So geht das nicht mehr weiter!" ruft der Vater einmal aus und reibt die drei Schuppen in seiner Hand. Sofort ist der goldene Fisch zur Stelle und fragt nach seinem Begehren. „Ich möchte meine jüngste Tochter wiedersehen!" „Einverstanden! Begib dich dorthin, wo ich dir an jenem Tag die Schuppen gab. Du' wirst ein kleines Boot erblicken. Steige in das Boot und laß dich einfach treiben. Wo das Boot stehenbleibt, dort steige aus, du wirst dann schon deine Tochter finden." Geschwind bricht der Vater auf. Tatsächlich, das kleine Boot wartet schon. Er steigt ein, es beginnt von selbst dahinzugleiten, und bald geht's bereits übers leuchtende Meer. Schließlich hält das Boot am Ufer in der Nähe einer Höhle. Der Vater geht in die Höhle und findet die Tochter ganz allein vor. „Ach, mein lieber Vater, wie bist du hierhergelangt? Wenn dich mein Mann nur nicht unfreundlich empfangt!" Im selben Augenblick betritt der goldene Fisch die Höhle und fragt: „Was ist hier für ein fremder Geruch?" „Mein Vater ist zu Besuch gekommen ¡" .antwortet sie. „Dann ist ja alles in bester Ördnung, ich bin doch deines Vaters Schuldner!" erwidert der Fisch und bringt seinem Schwiegervater eine Menge Gold herbei. Der Vater lädt das Gold ins Boot und fährt bald wieder nach Hause. Nach einiger Zeit hat der Vater erneut das einsame Leben satt. „So geht das nicht mehr weiter!" ruft er einmal aus und reibt die Adlerfedern in seiner Hand. Sofort ist der Adler zur Stelle und fragt nach seinem Begehr. „Ich möchte meine mittlere Tochter wiedersehen!" „Einverstanden! Begib dich dorthin, wo ich dir an jenem Tag die Federn gab. Dort findest du einen großen Hengst vor. Besteige ihn, aber bewege die Zügel nicht. Laß den Hengst dorthin gehen, wohin er will." Geschwind bricht der Vater auf. Tatsächlich, der Hengst wartet schon. Er besteigt ihn, und der Hengst jagt wie der Wind davon. Schließlich bleibt er vor einer Höhle stehen. Der Vater geht in die Höhle und findet die Tochter ganz allein vor. „Ach, mein lieber Vater, wie bist du hierhergelangt? Wenn dich mein Mann nur nicht unfreundlich empfangt!" 105
Im selben Augenblick betritt der Adler die Höhle und fragt, was hier für ein fremder Geruch sei. „Mein Vater ist zu Besuch gekommen!'" antwortet sie. „Dann ist ja alles in bester Ordnung, ich bin doch deines Vaters Schuldner!" erwidert der Adler und bringt seinem Schwiegervater eine Menge Gold herbei. Der Vater nimmt das Gold und reitet schnell wieder nach Hause. Nach einiger Zeit hat der Vater wieder Langeweile. „So geht das nicht weiter!" ruft er aus und reibt in seiner Hand die drei Büschel des Bärenfells. Sofort ist der Bär zur Stelle und fragt nach seinem Begehren. „Ich möchte meine älteste Tochter wiedersehen!" „Einverstanden! Begib dich dorthin, wo ich dir an jenem Tag die Büschel von meinem Fell gab. Dort findest du ein Pferd vor, das dem Wind ähnlich ist. Besteige es und dann laß es lostraben!" Geschwind bricht der Vater auf. Tatsächlich, das Pferd wartet schon. Er besteigt es, und kaum sitzt er auf dem Pferd, da jagt es auch schon davon wie der Wind und bleibt vor einer Höhle stehen. Der Vater geht in die Höhle und findet die Tochter ganz allein vor. „Ach, mein lieber Vater, wje bist du hierhergelangt? Wenn dich nur mein Mann nicht unfreundlich empfängt!" Im selben Augenblick betritt der Bär die Höhle und wundert sich über den fremden Geruch. „Mein Vater ist zu Besuch gekommen!" antwortet sie. „Dann ist ja alles in bester Ordnung, ich bin doch deines Vaters Schuldner!" erwidert der Bär und bringt seinem Schwiegervater eine Menge Gold herbei. Der Vater nimmt das Gold und reitet in Windeseile wieder nach Hause. Das Pferd führt er in den Stall und will dann in die Stube gehen. Doch das gelingt ihm nicht, denn der Teufel hat sich eingenistet. Was nun? Er eilt zum Stall und klagt dem Pferd sein Leid. Das Pferd antwortet: „Macht nichts! Besteige mich, laß uns zum kleinen Boot reiten, ich weiß, wo das Leben des Teufels versteckt ist." Und aas Pferd bringt den Vater zum kleinen Boot. Während das Pferd ins Boot steigt, nimmt der Vater die drei Fischschuppen, die drei Adlerfedern und die drei Büschel Bärenfell in die Hand und reibt sie tüchtig. Im Nu springen der Bär, der Adler und der Fisch ins Boot 106
neben den Vater. Nun fahren sie alle gemeinsam kreuz und quer übers Meer. Schließlich machen sie an einer kleinen Insel halt. Auf dieser Insel ist ein großer Stein; das Pferd wälzt diesen Stein beiseite. Unter dem Stein befindet sich eine Höhle; der Bär kriecht hinein und bringt einen Fisch heraus; aber der Fisch wird groß und größer. Nun drückt der Bär den Fisch zusammen, damit er zu wachsen aufhört. Der Fisch wird nun tatsächlich wieder klein und springt ins Meer. Sofort stürzt der goldene Fisch auf den Meeresgrund und holt den anderen Fisch, der entwischt war, zurück. Und der kleine Fisch verwandelt sich in eine Ente und fliegt geschwind — schwupp — in die Luft. Der Adler fangt die Ente und zerreißt sie. Da fallt aus der Ente ein Ei heraus. Der Vater zerdrückt dieses Ei, aus dem sich ein helles Flämmchen erhebt, aber der Vater löscht es, und so muß der Teufel sein Leben aushauchen. Im selben Augenblick verwandelten sich der Bär, der Adler und der goldene Fisch in Menschen, die sagten, daß sie dort und dort Könige seien. Sie waren verzaubert gewesen und hatten deshalb als Tiere umherirren müssen. 48
DAS KATZENSCHLOSS
Ein Herr hatte drei Söhne — zwei kluge und einen, den jüngsten, der dumm war. So war das früher bei allen Herren. Der Herr lebt sein Leben. Schließlich wird er alt, und seine Söhne sind erwachsen. Nun beginnt er zu überlegen, welchem Sohn er sein Gut vermachen soll. Die beiden klugen Brüder fangen an zu streiten: „Das Gut steht mir zu!" „Mir steht das Gut zu!" Das Dummerchen aber sagt gar nichts dazu und treibt nur seinen Spaß mit den klugen Brüdern: „Eigentlich gehört das Gut ja mir, aber wenn ihr es wollt — unter Brüdern —, dann nehmt es nur ruhig, aber das alte gelbe Pferdchen und den Leiterwagen überlaßt mir." Die klugen Brüder hören nicht auf zu streiten und fangen beinahe an sich zu raufen. Das beobachtete der alte Herr und sah ein, daß es so nicht weiterging. Eines Tages rief er alle Söhne zu sich und sprach: „Meine Söhne, so geht das nicht weiter. Deshalb soll sich 107
jeder von euch aufmachen und ein schönes Tuch suchen. Wer mir das schönste Tuch bringt, der bekommt das Gut." So bleibt ihnen nichts weiter übrig — sie müssen den Streit beenden und tun, was der Vater ihnen geheißen. Gleich am nächsten Tag machten sich die beiden klugen Brüder auf den Weg, aber das Dummerchen bewegte noch nicht mal die Ohren. Die klugen Brüder nahmen die besten Pferde und viel Geld. Dann ritt jeder durch sein Tor hinaus, um das schönste Tuch zu suchen. Nun fragte der Vater das Dummerchen: „Mein Söhnchen, denkst du denn gar nicht daran, aufzubrechen und dein Glück zu suchen?" Das Dummerchen schmunzelte nur und antwortete: „Mögen's doch die älteren Brüder suchen, dann brauche ich's nicht zu tun." Wenn's so ist, na ja, dann hat der Vater nichts hinzuzufügen. Und als nun nur noch vier Tage bis zur Rückkehr der älteren Brüder blieben, spannte das Dummerchen sein altes gelbes Pferdchen vor den Leiterwagen und fuhr durch das dritte Tor hinaus. Er fahrt und fahrt, aber weiß selbst nicht so recht, in welche Richtung er fahren oder nicht fahren soll. Er läßt die Zügel locker — mag das alte Pferdchen traben, wohin es will. So fuhr und fuhr er, bis er in einem großen Wald an eine Wegkreuzung kam — links zweigte ein großer, breiter Weg ab, aber rechts ein kleiner, ganz schmaler. Das Dummerchen wollte schon fast auf dem größeren weiterfahren, aber das alte gelbe Pferdchen bog flink nach rechts ab, und das Dummerchen dachte, mag das Pferdchen nur den ganz kleinen Weg benutzen, wenn es so will, und sie fuhren weiter. Bald dämmerte es, und sie befanden sich in einem Wald, so groß, daß kein Häuschen mehr zu sehen war. Fast war das Dummerchen seinem Pferd schon böse, weil sie nun wohl dem Wolf in den Rachen rannten. Aber nach einer Weile erblickte das Dummerchen einen hellen Feuerschein. Sie fuhren näher heran, und, was glaubst du, sie befanden sich vor einem großen Schloß. Das Dummerchen wollte in das Schloß gehen, doch vor dem Tor sitzen zwei stattliche Kater und fletschen die Zähne. Nun fürchtete sich das Dummerchen sehr, aber dann dachte es: Im Wald werden mich sowieso die Wölfe verschlingen, dann sollen mich lieber hier die Kater zerreißen, und er begab sich seelenruhig ins Schloß. Doch kaum betritt er das Schloß, da fletschen die Kater gar 108
nicht mehr die Zähne und fallen das Dummerchen auch nicht an, sondern umschnurren ihn. Als das Dummerchen in den Schloßhof kommt, läuft ihm eine ganze Schar Katzen und Kater entgegen. Und stell dir vor — alle Katzen und Kater sprechen genauso verständlich wie Menschen. Sie geleiten ihren Gast ins Schloß und das alte gelbe Pferdchen in den Stall und versorgen beide so gut, wie man es sich besser gar nicht vorstellen kann. Am nächsten Morgen möchte das Dummerchen weiterfahren, aber alle Katzen bestürmen ihn, einige Zeit bei ihnen zu bleiben. Gern wäre er dort geblieben, aber er hatte doch nur drei Tage Zeit, um ein schöneres Tuch als seine beiden Brüder zu finden. Das hört eine weiße Katze und sagt: „Das macht doch nichts, mein Brüderchen. Verbringe diese drei Tage doch bei uns, und dann kannst du losfahren — du wirst das Tuch haben und alles, was dein Herz begehrt." So lebte das Dummerchen drei Tage im Katzenschloß wie der König selbst. Diener brachten ihm Speis und Trank, betteten und verwöhnten ihn aufs beste. Am Abend des dritten Tages spannten die Kater wieder das alte gelbe Pferdchen vor den Leiterwagen, und die weiße Katze gab dem Dummerchen eine kleine Nuß und sagte: „Fahre beruhigt nach Hause, aber öffne die kleine Nuß unterwegs nicht, und alles wird für dich zum besten sein." Darauf setzt sich das Dummerchen in seinen Leiterwagen, und auf geht's zum Hause seines Vaters, daß es nur so raucht. Die beiden klugen Brüder sind bereits daheim eingetroffen, und jeder zeigt dem Vater sein schönes Tuch. Die Tücher sind schon ganz hübsch, aber so besonders sind sie nun auch wieder nicht. Und die Brüder und die Pferde sind so abgemagert, daß man sie kaum wiedererkennt. Nun kommt das Dummerchen in den Hof gefahren, und sein altes gelbes Pferdchen tänzelt fröhlich einher, und er selbst sieht auch gar nicht so aus, als sei er auf der Suche nach etwas Besonderem gewesen. Der Vater sagte nun: „Mein Söhnchen, du warst sicher bei guten Gastgebern, aber man hat dir wohl nur ein winziges Gastgeschenk mitgegeben." Das Dummerchen schmunzelte wieder und antwortete kurz: „Ja, ich war bei guten Gastgebern und habe ein noch besseres Gastgeschenk bekommen." Er nahm die kleine Nuß, die ihm die weiße Katze gegeben hatte) aus der Tasche, klopfte darauf, und im Nu fiel ein so 109
schönes Tüchlein heraus, daß das ganze Haus davon erstrahlte. Den klugen Brüdern verschlug's die Sprache, als sie dieses schöne Tuch erblickten. Aber der Vater sagte jetzt: „Nun, meine Söhne, ihr müßt doch zugeben, daß das Gut dem Dummerchen gehören muß, denn sein Tuch ist das schönste." Ja, es ist schon das schönste Tuch, das wollten die klugen Brüder gar nicht abstreiten, aber daß das Dummerchen das Gut haben soll, davon mochten sie nichts wissen. „Wenn nicht, dann eben nicht", erwidert das Dummerchen dazu nur, „das Gut gehört jetzt zwar mir, aber wenn ihr's so sehr begehrt, dann nehmt es und teilt euch darein, wie ihr's nun mal versteht; laßt mir nur das alte gelbe Pferdchen und den Leiterwagen." Jetzt begann wieder der tägliche Streit zwischen den beiden klugen Brüdern. Bald sagte der eine: „Das Gut gehört mir", und der andere erwiderte: „Mir gehört das Gut." Der Vater bemühte sich, sie zu beschwichtigen, aber als er mit ihnen ganz und gar nicht mehr zurechtkam, rief er eines Tages wieder alle Söhne zu sich und sagte: „Derjenige, der das Gut bekommt, muß sowieso heiraten. So macht euch auf in die Welt und sucht das schönste Brautkleid. Wer es findet, der bekommt das Gut." Wieder nehmen die klugen Brüder die besten Pferde und möglichst viel Geld, und dann reitet jeder durch ein anderes Tor hinaus. Aber das Dummerchen bewegt nicht mal die Ohren. Und der Vater fragte: „Mein Söhnchen, denkst du gar nicht daran, dich auf die Suche nach dem Glück zu machen?" Das Dummerchen antwortete ebenso wie beim ersten Mal: „Mögen's doch die älteren Brüder suchen, dann brauche ich's nicht zu tun." Wenn er so denkt, nun ja, dann hat der Vater nichts hinzuzufügen. Als nur noch vier Tage bis zur Rückkehr der älteren Brüder blieben, spannte das Dummerchen sein altes gelbes Pferdchen vor den Leiterwagen und fuhr durch das dritte Tor hinaus. Wieder wußte der Ärmste nicht, in welche Richtung er fahren oder nicht fahren sollte, aber er sagte sich: Schon beim ersten Mal war mein altes gelbes Pferdchen klüger als ich, mag es auch diesmal dorthin traben, wohin es mag. Und als das Dummerchen die Zügel locker läßt, da trabt 110
das alte Pferdchen so geschwind los, daß es eine Freude ist, das zu sehen. Und am Abend treffen sie wieder beim selben Katzenschloß ein. Am Schloßtor stehen ebenso wie beim ersten Mal zwei große Katzen und fletschen die Zähne. Aber diesmal hat das Dummerchen überhaupt keine Angst — raus aus dem Wagen und rein ins Schloß! Wieder laufen große und kleine Katzen herbei und empfangen ihren Gast wie den König selbst. Sie geleiten das Dummerchen ins Schloß und das alte gelbe Pferdchen in den Stall. Am nächsten Morgen will das Dummerchen losfahren, aber alle Katzen sind um ihren Gast herum und bitten ihn, doch ja nicht so schnell fortzufahren. Das Dummerchen will auch gern bleiben, aber nach drei Tagen sind die Brüder zu Hause, und dann muß auch er mit einem Brautkleid daheim sein. So berichtete er den Katzen von seinen Sorgen. Die weiße Katze hört aufmerksam zu und sagt: „Das macht doch nichts, mein Brüderchen. Bleib ruhig drei Tage bei uns, und du wirst alles haben, was du brauchst." Gegen Abend des dritten Tages spannen die Kater das alte gelbe Pferdchen vor den Leiterwagen, und die weiße Katze gibt dem Dummerchen eine kleine Truhe und sagt: „Fahre ruhig nach Hause, nur öffne sie nicht unterwegs, und alles wird sich für dich zum guten wenden." Dann steigt das Dummerchen in den Leiterwagen, und los geht's nach Hause, daß der Sand nur so knirscht. Daheim sind die beiden klugen Brüder wieder zuerst eingetroffen und zeigen dem Vater, welch schöne Kleider sie gefunden haben. Der Vater schaut und schaut — ja sie sind schon schön, aber wiederum nicht so schön, daß es kein noch schöneres gibt. Aber sie selbst und die Pferde sind während der langen Zeit des Suchens so abgemagert, daß man sie kaum wiedererkennt. Da trabt auch schon das Dummerchen mit seinem alten gelben Pferdchen in den Hof, daß die Torpfosten vom Fahrtwind schwanken. Der Vater schaut aufs Dummerchen und sagt: „Nun, mein Söhnchen, du warst, scheint es, bei guten Gastgebern, aber wie ist denn das Gastgeschenk?" Das Dummerchen antwortet wieder kurz und bündig: „Wie die Gastgeber, so das Gastgeschenk", und öffnet seine kleine Truhe. Und wie staunen der Vater und die beiden klugen Brüder, als das Dummerchen aus der kleinen Truhe ein so schönes Kleid nimmt, wie es nicht mal eine Prinzessin je gesehen hat. 111
Der Vater sagt wieder: „Nun, meine Söhne, ihr seht doch selbst, daß dem Dummerchen das Gut gehören muß, denn es hat das schönste Brautkleid mitgebracht." Die beiden klugen Brüder streiten das gar nicht ab, aber daß das Dummerchen das Gut haben soll, damit sind sie ganz und gar nicht einverstanden. Das Dummerchen antwortet wieder: „Das Gut gehört jetzt zwar mir, aber wenn ihr es so sehr begehrt, dann nehmt es und teilt euch darein, wie ihr es nun einmal versteht, aber eines sage ich euch, laßt mir das alte gelbe Pferdchen und den Leiterwagen." Nun beginnt zwischen den beiden klugen Brüdern wieder der alte Streit. Der eine sagt: „Das Gut gehört mir." Der andere erwidert: „Mir gehört das Gut."' Eine Weile schwieg der Vater, er dachte, daß die beiden sich doch noch gütlich einigen werden. Aber als die Streitigkeiten immer heftiger wurden, hielt der Vater das nicht mehr aus. Eines Tages rief er wieder alle drei Söhne zu sich und sprach: „Bisher war es, wie es war, aber nun geht das nicht mehr so weiter. Geht und sucht euch die schönste Frau, und wer die schönste Frau heimbringt, der bekommt das Gut." Da der Vater das so bestimmt, können die Söhne nichts anderes tun, als sich auf die Suche nach einer Frau zu machen. Die beiden klugen Brüder holen wieder sofort die besten Pferde und nehmen eine Menge Geld mit, und jeder reitet durch sein Tor hinaus. Doch das Dummerchen bewegt wieder nicht mal die Ohren. Nun vergeht einige Zeit, aber er ist noch immer daheim. Der Vater meint, daß er doch schon längst unterwegs sein müßte, aber er denkt gar nicht daran. Eines Tages kann sich der Vater nicht länger beherrschen und sagt zum Dummerchen: „Mein Söhnchen, machst du dich diesmal überhaupt nicht auf, um dein Glück zu suchen?" „Mögen's nur die älteren Brüder suchen, dann muß ich nicht so viel suchen." Wenn er so denkt, nun ja, dann hat der Vater nichts mehr hinzuzufügen. Und als wiederum nur noch vier Tage bis zur Heimkehr der Brüder blieben, da spannte das Dummerchen wieder sein altes gelbes Pferdchen vor den Leiterwagen und fuhr durch das dritte Tor hinaus. 112
Wohin aber soll er nur diesmal fahren, dachte das Dummerchen. Ein Tuch und ein Brautkleid hatten die Katzen, aber, wo sollen die für mich eine Frau hernehmen? Er überlegte hin und her, kam aber zu keinem Entschluß. Endlich sagte er sich, wenn schon mein altes gelbes Pferdchen zweimal klüger war als ich, dann soll es auch diesmal dorthin gehen, wohin es mag. Diesmal lief das alte gelbe Pferdchen schneller als je zuvor und trabte wieder auf demselben alten Weg zum Katzenschloß. Am Tor blieb das alte gelbe Pferdchen stehen. Dort saßen wieder die beiden großen Kater und fletschten die Zähne. Das Dummerchen dachte: Wenn mich schon mein altes gelbes Pferdchen hierhergebracht hat, dann muß ich wohl oder übel hierbleiben, und er begab sich ins Schloß. Wieder waren sofort von allen Ecken und Enden Katzen zur Stelle. Sie begrüßten ihren Gast wie den König selbst und geleiteten auch das alte gelbe Pferdchen in den Stall. An diesem Abend schaute sich nun das Dummerchen das ganze Schloß an und wollte erkunden, ob sich hier auch ein Mensch aufhält oder ob nur Katzen das Schloß bewohnen. Aber geh, wohin du willst, du findest nur Katzen. Am Morgen ist der Ärmste sehr betrübt und will sich schon auf den Heimweg machen. Aber alle Katzen sind um ihn herum und lassen ihn nicht fort. Sie wollen wissen, warum er so traurig dreinblickt. Nun ja, das verhält sich so, daß seine beiden Brüder vielleicht schon längst schöne Frauen gefunden haben, aber er hat noch nicht mal eine gesehen. Das hört die weiße Katze, und sie sagt: „Ach, mein Brüderchen, das macht nichts. Verbringe nur die drei Tage bei uns. Dann kannst du nach Hause fahren — du wirst die schönste Frau haben und alles, was dein Herz begehrt." Wenn es sich so verhält, dann ist das Dummerchen einverstanden zu bleiben und verbringt alle drei Tage bei den Katzen. Sie beköstigen und versorgen ihn wie den König selbst. Es naht der Abend des dritten Tages, und das Dummerchen müßte nach Hause fahren, aber die Katzen lassen ihn nicht fort — diese Nacht soll er noch hier schlafen, denn nachts kann man mit einer Braut nicht durch große Wälder fahren. Wenn dem so ist, dann muß er halt bleiben, und er verbringt auch noch diese Nacht auf dem Schloß. Aber welche Ängste mußte das Dummerchen ausstehen! Am Abend legte er sich wie immer zu Bett. 8
Lettische Volksmärchen
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Um Mitternacht hört er im Schloßturm einen merkwürdigen Wind sausen. Er weht und weht, und dann hört das Dummerchen auf einmal, wie ein entsetzlicher Windstoß das ganze Schloß erschüttert, so daß die Erde erbebt und alle Türen und Fenster auf einmal aufgerissen werden. Das Dummerchen war zu Tode erschrocken und rannte sofort zu den Katzen, um zu fragen, was geschehen ist. Aber welch ein Wunder — anstatt der Katzen sieht er im Schloß Menschen, und die weiße Katze ist eine so schöne Prinzessin, wie man sie in dreimal neun Ländern nicht wieder findet. Die schöne Prinzessin lief dem Dummerchen sofort entgegen und nannte ihn ihren lieben Mann. Inzwischen spannten Kutscher zehn Pferde vor eine Kutsche und allen voran das alte gelbe Pferdchen. Und dann ging's in Windeseile mit dem Dummerchen und seiner Prinzessin zum Gut des Vaters, so daß sich am Wegrand die Bäume zur Erde beugten, und als sie in den Hof fuhren, sprangen die Torpfosten eine ganze Werst weit auseinander. Nachdem die Frauen der klugen Brüder die schöne Prinzessin erblickt hatten, wollten sie geschwind davoneilen, aber als das Dummerchen die Prinzessin ins Zimmer führte, erstrahlte das ganze Zimmer in Glanz und Schönheit. Ohne ein Wort zu verlieren, gab der Vater jetzt dem Dummerchen das Gut und wollte die klugen Söhne am liebsten davonjagen. Aber das Dummerchen nahm sich nicht mehr als das gelbe alte Pferdchen und den Leiterwagen. Alles übrige teilte er unter seine Brüder zu gleichen Teilen auf. Dann fuhren das Dummerchen und die Prinzessin zurück ins Schloß und feierten eine großartige Hochzeit, zu der Gäste aus aller Herren Ländern eingeladen waren. Auch ich erhielt eine Einladung. Nun glaubte ich, daß ich zu einer königlichen Hochzeit nicht so schlecht und recht hingehen kann, und so kaufte ich mir einen Wagen aus Semmeln, Pferde aus Piroggen, Schuhe aus Möhren, ein Kleid aus Glas, einen Hut aus Butter und einen Regenschirm aus Papier. Ich kam glücklich auf dem Schloß an und sah alles, was dort geschah. Alle aßen, tranken und vergnügten sich nach Herzenslust. Auch der Vater des Dummerchens und seine beiden klugen Brüder mit ihren Frauen waren gekommen. Und auch Töchter und Prinzessinnen vieler anderer Herren waren anwesend, aber die Braut des Dummerchens war wirklich die schönste von allen. Auf der Hochzeit erfuhr ich auch, daß das Schloß, in dem jetzt das Dummerchen mit der schönen Prinzessin wohnt, einst 114
ein herrliches Königsschloß gewesen war. Aber dann hatten plötzlich Teufel den König bedrängt. Sie hatten alle Menschen in Katzen verzaubert, und erst nachdem ein Mensch dreimal das Schloß besucht und drei Tage und drei Nächte dortgeblieben war, sind die Menschen entzaubert worden, und das Schloß hat sich dann wieder in das einstige Königsschloß verwandelt. Das Dummerchen hatte das vollbracht und somit auch die schöne Prinzessin und alle Leute des Königs gerettet, denn nach dreimal neun Jahren hätten die Teufel alle Katzen verschlungen. Ja, und auf der Hochzeit ging es also sehr vornehm zu. Aber auf dem Heimweg ist's mir ganz schlecht ergangen. Kaum war ich ein Stückchen gefahren, da erschien plötzlich, was weiß ich, woher, eine große Hundemeute. Sie zerfledderte und fraß meinen Semmelwagen. Ich schrie zwar, aber das half nichts. Einige Jungen liefen allerdings herbei, vertrieben die Hunde, aber dafür verspeisten sie meine Piroggenpferde. Nun war ich die Pferde und den Wagen los. So mußte ich zu Fuß weitergehen, aber wie weit konnte ich Ärmste schon kommen? Unterwegs setzte zudem noch ein starker Regen ein, und mein papierner Regenschirm löste sich völlig auf. Nach dem Regen schien die warme Sonne, und nun schmolz mein Butterhut. Nichts zu machen, ich ging barhäuptig weiter. Wenn es wenigstens so geblieben wäre, dann hätte ich ja noch einigermaßen nach Hause kommen können. Aber an einem Haus begegnete ich ganz unverschämten Ziegen. Sie zernagten meine Möhrenschuhe. Nun hatte ich nur noch mein gläsernes Kleid. Aber, du lieber Gott, plötzlich fing es zu stürmen und zu regnen an, so daß ich an einen großen Stein geschmettert wurde und mein gläsernes Kleid in Scherben zerschlug. Nun war ich splitternackt. Ich schämte mich, so weiterzugehen, kroch in eine Scheune und versteckte mich in einem Flachsbündel. Dort würde ich wahrscheinlich noch bis heute schlafen. Ich hatte aber Pech, denn in der Nähe, siehst du, waren des Dummerchens — er war ja jetzt König — Jäger auf der Jagd. Sie hatten plötzlich nicht mehr genug Schrot. Deshalb lief einer in die Scheune und griff sich das Flachsbündel, in dem ich schlief. So schleppte er mich in den Wald, und dort nichts wie rein mit mir in den Gewehrlauf. Jetzt begann ich zwar zu schreien, daß sie ja nicht schießen sollten, denn sie würden mich umbringen, aber das half nichts. Schon knallte der Schuß und schleuderte mich kopfüber durch Sümpfe und Wälder. Erst nach einer Woche wachte ich auf und war nirgendwo anders 8"
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als hier. Mein ganzes Leben war während der Hochzeitstage völlig durcheinandergeraten. Siehst du, so kann es einem Hochzeitsgast ergehen. 49
DER BÄR ALS SCHWIEGERSOHN Es war einmal ein recht alter Mann. Es ging ihm ganz gut, nur war seine Frau gestorben, und nun lebte er allein mit seiner einzigen Tochter. In der Nähe hatte er auch keine Angehörigen, aber irgendwo weiter weg lebten noch einige seiner Verwandten. Eines Tages kam es ihm in den Sinn, sie zu besuchen, und er teilte das seiner Tochter mit. Nun blieb sie mutterseelenallein im Hause, während er zu den Verwandten fuhr. Er fuhr und fuhr und kam durch furchtbar große Wälder. Früher waren ja alle Wälder viel größer als heute, und W e g e gab es damals auch kaum. Zunächst verirrte er sich zwar, aber schließlich kam er doch noch ans Ziel. Die Verwandten waren wohlauf, und es ging ihnen gut. Er hielt sich eine Weile bei ihnen auf und fuhr dann wieder nach Hause. A b e r während er heimwärts, fuhr, wurde es in einem großen W a l d plötzlich Nacht, und er verirrte sich. Er irrte und irrte umher und landete in einem so dicken Gestrüpp, daß er überhaupt nicht mehr aus noch ein wußte. A u f einmal erblickte er einen hellen Feuerschein. N u n fuhr er in diese Richtung und dachte, daß dort ein Haus sein müsse. Als er sich dem Licht immer mehr näherte, erblickte er ein schönes Schloß. Anfangs fürchtete er sich allerdings, ins Schloß zu gehen, denn er dachte, daß man ihn als einfachen Bauern dort gar nicht hereinlassen werde, aber dann überlegte er sich, daß er im nächtlichen Dunkel sowieso nicht weiterkomme, und so ging er einfach hinein. Nachdem er das Schloß betreten hatte, ging er von Zimmer zu Zimmer, aber er konnte keinen Menschen entdecken. Plötzlich stand vor ihm ein Bär, weiß der Teufel, woher er gekommen war, und fragte nach seinem Begehr. Anfangs erschrak der Mann und dachte, daß sein letztes Stündlein geschlagen habe und der Bär sich gleich auf ihn stürzen werde. Aber der Bär dachte gar nicht daran und fragte ihn nur, was er wolle, und versprach ihm zu helfen, wenn er's vermöge. Der Mann erzählte ihm, daß er von seinen Verwandten komme und sich im Wald verirrt habe. D a es Nacht ist, weiß 116
er nicht, in welche Richtung er zufahren hat. Und er fragte den Bären, ob er ihm nicht sagen wolle, wo er hier übernachten könne. Der Bär erwiderte, daß er getrost im Schloß bleiben solle, da hier.außer ihm niemand sei. Nun merkte der Mann, daß der Bär gar nicht so böse ist, und so blieb er bei ihm. Der Bär setzte ihm ein Abendbrot vor und aß auch mit. Das alles machte er genauso wie ein Mensch, und der Mann staunte nur. Nach dem Abendessen legten sie sich schlafen. Der Bär schlief im Bett wie ein Mensch. Nun begriff der Mann überhaupt nicht, was das für ein sonderbarer Bär ist, der allein im Schloß wohnt und alles wie ein Mensch macht. Am Morgen setzte der Bär dem Mann das Frühstück vor und fragte ihn, was er jetzt zu tun gedenke. Er antwortete, daß er nach Hause fahren wolle. Der Bär sagte, daß er das nur tun solle. Der Mann bricht auf und fährt durch große Wälder, aber immerzu findet er sich beim Schloß wieder. Nichts zu machen, es wurde wieder Abend. Auch diesmal bat er den Bären um eine Bleibe zur Nacht. Der Bär gewährte sie ihm auch und nahm ihn sehr freundlich auf — er machte alles wie am Abend vorher: Er gab ihm zu essen und zu trinken und auch ein Nachtlager. Er half ihm zudem noch, das Pferd zu versorgen. Am nächsten Morgen bat der Mann den Bären, ihm den Heimweg zu zeigen. Der Bär erwiderte, daß er das zwar tun könne, aber dafür müsse der Mann ihm seine Tochter zur Frau geben. Das wollte der Mann durchaus nicht. Zwar dachte er bei sich, daß seine Tochter hier ein gutes Leben hätte, aber wie sollte sie denn die Frau eines Bären sein? Nein, das ist ausgeschlossen. Noch heute wird er aufbrechen und auf gut Glück den Weg zu finden versuchen. Er fuhr und fuhr, aber kaum ist es Abend, da ist er schon wieder am Schloß angekommen. Nichts zu machen, er muß auch diesmal den Bären um eine Bleibe für die Nacht bitten. Der Bär empfängt ihn ebenso freundlich wie an den beiden Abenden zuvor — er gibt ihm zu essen und zu trinken und gewährt ihm ein behagliches Nachtlager; auch die Stute versorgt er gut. Am nächsten Morgen bittet der Mann den Bären noch einmal, ihm den Heimweg zu zeigen. Und der Bär antwortet wie tags zuvor, daß er das tun werde, wenn der Mann ihm seine 117
Tochter zur Frau gebe. Fast hätte der Mann sie ihm auch schon versprochen, aber dann dachte er sich, daß der Bär seiner Tochter nicht gefallen wird, und so versuchte er halt, auf gut Glück nach Hause zu fahren. Er fuhr und fuhr und war wieder den ganzen Tag unterwegs, aber am Abend war er wieder nirgendwo anders als beim Schloß. Nun sah er ein, daß es für ihn keine andere Rettung gab, als wohl oder übel dem Bären seine Tochter zur Frau zu versprechen. Jetzt empfing ihn der Bär wie seinen Schwiegervater und war herzensgut zu ihm. Er gab ihm zu essen und zu trinken und gewährte ihm wieder ein gutes Nachtlager; das Pferd versorgte er selbst, so daß der Mann gar nicht erst in den Stall gehen mußte. Am nächsten Morgen begleitete ihn der Bär ein Stück und zeigte ihm den Weg, auf dem er bequem nach Hause fahren konnte. Als er zu Hause ankam, war er sehr niedergeschlagen. Die Tochter merkte gleich, daß mit ihrem Vater etwas nicht stimmte, und sie fragte ihn, was ihm fehle, ob jemand gestorben oder schwer krank sei. Der Mann wollte zuerst durchaus nichts erzählen, aber was blieb ihm übrig? So erzählte er der Tochter, was geschehen war und daß er sie dem Bären zur Frau versprochen hatte. Der Bär, so sagte er, lebt wie ein Mensch und wohnt in einem großen Schloß. Nur ist ein Bär eben ein Bär und kein Mensch. Aber die Tochter war gar nicht traurig. Sie antwortete dem Vater: „Wenn der Bär dir nichts zuleide getan und dir sogar noch geholfen hat, nach Hause zu gelangen, dann wird er auch mir nichts zuleide tun." Eines Tages machten sie sich nun beide auf den Weg zum Bären. Der Bär empfing sie so herzlich, wie man es sich gar nicht vorstellen kann. Der Mann blieb noch einige Tage im Schloß, dann begab er sich nach Hause und ließ den Bären mit seiner Tochter im Schloß zurück. Die beiden lebten dort gut und friedlich miteinander. Als sie jedoch manchen Tag miteinander verbracht hatten, bemerkte die Tochter, daß der Bär unter seiner Bärenhaut eine Menschenhaut hatte. Nun achtete sie genau darauf, wie er zu Bett ging. Eines Abends blieb sie länger auf und sah durch einen kleinen Türschlitz, daß der Bär beim Schlafengehen seine Bärenhaut auszieht und ein richtiger Mensch ist, nur sein Kopf ist ein Bärenkopf. Jetzt gefiel er der Tochter noch besser, und sie 118
dachte bei sich, daß es gut wäre, irgendwie die Bärenhaut zu beseitigen. Mag der Kopf aussehen wie auch immer, aber sonst würde ihr Mann doch wie ein Mensch aussehen. Und eines Nachts, während der Bär in süßem Schlummer liegt, geht sie zu ihm hinein, nimmt die Bärenhaut, die er ans Fußende des Bettes gelegt hat, und wirft sie in den Ofen. Kaum war die Bärenhaut verbrannt, erkrankte der Bär sehr schwer und war dem Tode nahe. Nun begreift sie, was die Ursache dafür ist, und ihr tut der Bär sehr leid, aber sie kann es nicht ungeschehen machen. Der Bär bleibt einen Tag im Bett, und es geht ihm noch schlechter. Er bleibt einen zweiten Tag liegen, und nun geht es ihm so schlecht, daß er fast sterben muß. Die Tochter sitzt an seinem Bett und weint bitterlich. Aber weine nur, soviel du willst, du kannst es nicht ändern. Am dritten Tag konnte er kaum noch atmen, und die Tochter hatte jede Hoffnung auf Genesung aufgegeben, und sie wollte am liebsten auch schon sterben. Aber nachdem der dritte Tag und auch noch die Nacht vergangen waren, verwandelte sich der Bär am Morgen in einen so schönen Prinzen, daß es eine Freude war, ihn anzuschauen. Nun war die Tochter sehr erstaunt und überglücklich. Sie fiel ihm um den Hals und bat ihn, ihr zu verzeihen, daß sie ihn so gequält hatte. Aber der Prinz wußte wiederum nicht, wie er ihr dafür danken sollte, daß sie ihn gerettet hatte. Er war vom Teufel selbst in einen Bären verzaubert worden und konnte nur erlöst werden, wenn jemand seine Bärenhaut verbrannte. Davon ahnte aber niemand etwas, und so war es der Tochter zum Glück gelungen, ihn zu erlösen. Aber wie dem auch sei, jetzt war er wieder ein Mensch. Nun feierten sie eine große Hochzeit und luden alle ein, die überhaupt nur zum Schloß kommen konnten. Es mangelte an nichts, und alle aßen und tranken nach Herzenslust. Als der Vater der Tochter zur Hochzeit eintraf, sperrte er vor Staunen die Augen weit auf,-, als er anstelle des Bären einen so schönen Prinzen sah. Nun fuhr er nicht mehr nach Hause zurück, sondern blieb im Schloß. Bestimmt leben sie alle auch heute noch, aber wer weiß schon, in welchem Wald sich dieses Schloß befindet?
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50 DAS IGELPELZCHEN
Es lebte einst ein Ehepaar, das kinderlos geblieben war. Eines Tages saßen der Mann und die Frau am Tisch und sprachen: „Wenn Gott uns doch wenigstens ein Igelchen als Kindlein schenkte!" Kaum hatten sie das gesagt, da kroch hinterm Ofen ein Igelchen hervor und sprach: „Ich bin euer S o h n ! " Die beiden nahmen das Igelchen bei sich auf und erzogen es. Als es erwachsen war, sagte die Mutter: „Wenn mein Sohn größer wäre, könnte er Schweinehirt sein, aber solch einen Kleinen würden die Schweine zertreten, und was dann?" „Macht euch keine Sorgen! Ich werde die Schweine schon hüten!" „Wirst du dich denn nicht fürchten, liebes Söhnchen?" „Ich — und mich vor Schweinen fürchten! Das wäre doch gelacht! Gebt nur die Schweine her, ich werde sie schon hüten!" Nun gut. Das Igelchen treibt die Schweine in den Wald und hütet sie drei Jahre lang, ohne sie zwischendurch nach Hause zu treiben. Die Herde ist so groß geworden, daß man die Schweine gar nicht mehr zählen kann, und das Igelchen ist ein ganz gewissenhafter Schweinehirt. Doch eines Tages geschah es, daß sich der Herrscher des Landes in diesen Wald auf Jagd begeben und verirrt hatte. Während er umherirrt, erblickt er die Schweine, aber sieht den Hirten nicht, denn das Igelchen hat sich ins Nest der Eichhörnchen verkrochen. „Ist hier kein Schweinehirt?" ruft der Herrscher laut. „Hallo! Hier bin ich schon!" antwortete das Igelchen aus dem Nest. „Wo steckst du?" „Im Nest der Eichhörnchen." „Komm her! Ich will mit dir reden!" „Warum nicht?" erwiderte das Igelchen und kriecht heraus. „Du bist so klein — wie kannst du überhaupt Schweine hüten?" „Und du bist so groß — wie kannst du dich überhaupt verirren?" „Führe mich aüs diesem Wald hinaus!"
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„Warum nicht? Gib mir deine jüngste Tochter zur Frau, dann tu ich's gleich." „Auf keinen Fall! Ich denke gar nicht daran, so einem Knirps meine Tochter zu geben!" „Nun, dann eben nicht — so such dir selbst den Weg!" Der Herrscher reitet davon. Er irrt den ganzen Tag umher, und es wird Abend. „Wo bist du? Lieber kleiner Hirt, ich kann den Weg nicht finden, komm doch, führ mich aus dem Wald hinaus!" „Warum nicht? Gib mir nur deine jüngste Tochter zur Frau, dann tu ich's gleich." „Was redest du da für einen Unsinn? Das kann ich doch wahrlich nicht tun!" „Nun, dann eben nicht — so such dir selbst den Weg!" Der Herrscher reitet und reitet einen großen Bogen, aber es dauert gar nicht lange, und er ist wieder da. „Nun, was ist? Wirst du mich aus dem Wald geleiten?" „Warum nicht? Gib mir nur deine jüngste Tochter zur Frau, dann tu ich's gleich!" „Was soll man mit dir machen! So nimm sie schon." „Also versprichst du mir deine jüngste Tochter zur Frau?" „Ja, ich verspreche sie dir!" „Gut! Dann folge mir auf diesem Pfad, aber beeile dich, damit meine Schweine inzwischen nicht ausreißen!" Das Igelchen wies dem Herrscher den Weg und sagte ihm, wann er zur Hochzeit erscheinen werde. Dann eilte er — hast du nicht gesehen — den Schweinen hinterher. Drei Tage vor der Hochzeit treibt das Igelchen die Schweine in den Hof des Vaters. Der Vater schlägt staunend die Hände überm Kopf zusammen — überall wimmelt es von Schweinen; dreh dich um, wohin du willst — überall hörst du's grunzen. Am Morgen des dritten Tages zieht das Igelchen seine Festtagskleidung und sein Igelpelzchen an, spannt zwei schwarze Hähne vor seine Kutsche aus Baumrinde, und auf geht's zum Schloß der Braut. Der Herrscher empfangt das Igelchen keineswegs mit leeren Händen; er befiehlt seinen Soldaten, mit Steinen zu werfen, damit die Kutsche aus Baumrinde zerschmettert wird und die Hähne umkommen. Aber kaum naht ein Stein, da springen die Hähne hoch in die Luft — kir, kir, kir! Und so geht's weiter, bis die Kutsche vor dem Schloßtor haltmacht. Da krähen die Hähne: 121
„Kikeriki! Kikeriki! Der Schwiegersohn unseres Herrschers ist hier!" Da kommt auch schon die Braut heraus, hebt das Igelchen hoch, legt es in ihre Schürze aus Seide und trägt es ins Schloß. Ihre beiden älteren Schwestern lachen sie aus und spotten. Aber die jüngste Schwester erwidert nur: „Laßt's gut sein. Wen das Schicksal für mich bestimmt hat, mit dem werde ich mich begnügen!" Am nächsten Morgen hebt die Braut das Igelchen wieder hoch, legt es in ihre Schürze und trägt es zur Trauung in die Kirche. Der Trauring wird dem Igelchen an das Pfötchen gesteckt, und nach der Trauung hebt die junge Frau ihren Mann hoch, legt ihn in die Schürze und trägt ihn nach Hause. Die anderen lachen über das merkwürdige Paar, aber die junge Frau sagt nur: „Laßt's gut sein. Wen das Schicksal für mich bestimmt hat, mit dem werde ich mich begnügen!" Am Abend vor dem Schlafengehen hat das Igelchen sein Igelpelzchen ausgezogen und ans Fußende des Bettes gelegt. Die junge Frau sieht das und denkt: Wozu soll man ein solch stachliges Mäntelchen aufbewahren? Wart nur, wart, sobald mein lieber Mann eingeschlafen ist, verbrenne ich's! Gedacht, getan. Aber was geschah nun? Kaum war das Mäntelchen verbrannt, erkrankte der junge Mann schwer. Die junge Frau weint und entschuldigt sich, aber das Igelchen klagt nicht über seine Schmerzen, sondern beruhigt seine Frau: „Mein liebes Frauchen, ich weiß sehr wohl, daß du das nicht aus Bosheit getan hast, aber du hättest dich doch vorher mit deinem Mann beraten sollen. Siehst du, wenn du das Pelzmäntelchen nicht verbrannt hättest, wäre ich es nach zwei Wochen sowieso und ohne Schmerzen losgewesen. Wenn es mir nun dennoch gelingt, die Krankheit zu überstehen, wirst du ein Wunder erleben: Statt Tränen zu vergießen, wirst du fröhlich sein." Schlimm erging's dem Igelchen, aber es ertrug die Schmerzen geduldig. Am letzten Tag plagte es die Krankheit besonders schwer. Doch kaum war die Sonne untergegangen, da sprang das Igelchen auch schon aus dem Bett, putzt sich dreimal das Näschen und steht plötzlich als stattlicher Prinz vor seiner Frau. In seiner Freude übergibt der Vater der Braut dem Schwiegersohn die Herrschaft über sein Reich. Der junge Herrscher lud 122
seine Eltern zu sich ein und lebte mit seiner jungen Frau glücklich und in Freuden. 51 DER DÄUMLING
Einst wurde einem Ehepaar ein Sohn geboren, der nur drei Spannen lang war. Sie nannten ihn Däumling. Er wurde immer älter, aber er wuchs überhaupt nicht. Dennoch war er mutig und fürchtete sich vor niemandem. Einmal bat der Däumling seine Eltern, sie möchten ihm erlauben, sich in der Welt ein wenig umzusehen. Zwar wollten ihn die Eltern nicht lassen, denn wohin wird schon ein solch winziges Etwas gehen, aber schließlich erlaubten sie's ihm doch. Der Däumling wanderte also durch die Welt. Plötzlich kam ef in einen großen Wald. Er war schon den ganzen Tag gewandert, so daß er sehr müde war. Daher legte er sich auf dem Erdboden aufs Ohr, und bald war er fest eingeschlafen. Zufallig befand sich ausgerechnet in diesem Wald der König dieses Reiches auf der Jagd. Er jagte einem Hasen hinterher und wäre fast über den Däumling gestolpert. Doch er erblickte ihn noch rechtzeitig und schimpfte mit ihm, daß er sich vor seinen Füßen herumtreibe. Er solle mal schleunigst verschwinden, damit er nicht noch den Hasen verscheuche. Der Däumling stellte sich taub und schlief seelenruhig weiter. Da rief der König seine Jäger und befahl, alle sollten zugleich losschießen. Jetzt bewegte der Däumling den kleinen Finger, aber er dachte gar nicht daran, sich zu erheben. Nun befahl der König, noch einmal zu schießen. Jetzt bewegte der Däumling die Hand, schlief aber weiter, als wäre er tot. Nun befahl der König, ein drittes Mal zu schießen. Darauf sprang der Däumling auf, stellte sich vor den König hin und schrie ihn an, was ihm denn einfalle, ihn zu stören. Wenn er erst loslege, dann könnten sie alle etwas erleben. Dem König war noch nie ein so mutiges Zwerglein begegnet. Deshalb lachte er sich schief und fragte ihn, ob er denn auch nur einer Heuschrecke die Faust zeigen könne. Der Däumling erwiderte, daß der König statt von Heuschrecken lieber von Bären reden solle. Und wenn er ihm nicht glaube, dann möge er ihm doch einen Bären zeigen. Der König versicherte, daß der Däumling des Königs Tochter 123
zur Frau bekomme, wenn er einen Bären fange, aber sollte ihm das nicht gelingen, werde er Prügel beziehen. Der Däumling war einverstanden. Am nächsten Morgen zeigt der König dem Däumling einen Bären, der auf seinem Lager schläft. Der Däumling steckt sich Steine in die Tasche und macht sich zum Bärenfang auf. Der Bär schläft in der Nähe einer kleinen Scheune. Der Däumling wirft einen Stein auf den Bären, aber der wacht davon nur auf. Da wirft er einen zweiten Stein, nun knurrt der Bär. Zuletzt wirft der Däumling einen dritten Stein. Jetzt springt der Bär auf und stürzt sich mit aller Kraft auf den Däumling. Der rennt nun, so schnell er kann, in die Scheune und wirft sich dort neben der Schwelle auf den Boden. Der Bär jagt dem Däumling hinterher und springt mit einem Satz über ihn hinüber. Jetzt erhebt sich der Däumling geschwind, läuft aus der kleinen Scheune und knallt die Tür zu. Der Bär ist gefangen. Nun ruft der Däumling den König herbei, und der sperrt seinen Mund vor Staunen auf. Er fragt den Däumling, wie er es fertiggebracht habe, den Bären zu fangen. Und jetzt prahlt der Däumling. Was ist schon dabei, einen Bären zu fangen? Er hat ihn einfach an den Ohren gepackt und in die Scheune geschleppt. Und wenn der König auch nur ein wenig Mut habe, dann solle er doch den Bären aus der kleinen Scheune herauslassen. Nun hätte zwar der König dem Däumling seine Tochter zur Frau geben müssen, aber er dachte gar nicht daran. Zuvor solle der Däumling noch in den Wald gehen und die zwölf Räuber erschlagen, die dort hausen. Dann erst werde er des Königs Tochter zur Frau bekommen. Der Däumling erklärt sich auch damit einverstanden. Wieder nimmt er Steinchen mit und geht in den Wald. Dort klettert er auf einen Baum. In der Nacht trafen sich unter diesem Baum die Räuber, machten ein Lagerfeuer und fingen an, ihr Abendbrot zuzubereiten. Auf einmal sagte der Räuberhauptmann zu einem Räuber, daß er ihn am Kopf kratzen soll. Er kratzte und kratzte ihn. Da warf der Däumling von oben dem Räuberhauptmann ein Steinchen auf den Kopf. Der Räuberhauptmann schrie den Räuber an, daß er ihn nicht so stark kratzen soll. Nun warf der Däumling wieder ein Steinchen. Jetzt wurde der Hauptmann wütend und drohte dem Räuber, daß er was erleben könne, wenn er ihn noch einmal so arg kratze. Und wieder warf der 124
Däumling einen Stein auf den Kopf des Räuberhauptmanns. Jetzt konnte der sich nicht mehr beherrschen. Er ergriff einen dicken Stock und begann den Räuber zu verprügeln. Dieser schrie und rief die anderen Räuber zu Hilfe. Sie liefen herbei, und nun gab es eine Prügelei auf Leben und Tod. Zuletzt waren alle so müde, daß sie zu Boden sanken und sofort einschliefen. Da kletterte der Däumling vom Baum hinunter, entwendete einem Räuber das Schwert und schlug allen die Köpfe ab. Dann schnitt er ihnen noch die Zungen heraus, um sie dem König zu zeigen, und begab sich aufs Schloß. Der König staunte und konnte es gar nicht fassen, daß der Däumling die Räuber überwältigt hatte. Der Däumling fing nun wieder an zu prahlen — er habe dem einen eine Ohrfeige versetzt, und der sei gleich tot zu Boden gesunken, dann habe er dem nächsten eine Ohrfeige versetzt — auch der war sofort tot, und so habe er alle Räuber niedergemacht. Trotzdem gab der König dem Däumling seine Tochter noch nicht zur Frau. Er müsse erst noch alle Feinde aus dem Lande vertreiben, dann werde er sofort die Tochter des Königs bekommen. Der Däumling war auch damit einverstanden. Er forderte nur ein weißes Pferd und weiße Kleider, dann werde er die Feinde schon in die Flucht schlagen. Der König gab ihm weiße Kleider und ein weißes Pferd und geleitete ihn auf einen Berg, von wo aus er ihm das feindliche Heer zeigte. Der Däumling bestieg das Pferd und ritt, das Schwert schwenkend, dem Feind entgegen und schrie: „Ein Frosch, ein Frosch, ein Frosch!" Als die Feinde ein solch kleines Männchen in weißen Kleidern herbeireiten sahen, erschraken sie sehr und ergriffen das Hasenpanier. Nun waren die Feinde vertrieben, und der König gab auch seine Tochter dem Däumling zur Frau. 52
ENDE GUT, ALLES GUT
In alten Zeiten lebten ein Förster und eine Förstersfrau. Beide waren schon recht alt und schwach, und deshalb klagten sie ständig: „Das Alter ist da, Kinder haben wir nicht — wer wird nun für uns sorgen?" Aber welch ein Wunder! Eines Nachts schenkt die Försters125
frau noch in hohem Alter einem Knaben das Leben. Die beiden Alten sind überglücklich und wissen vor Freude nicht, wen sie zum Taufvater nehmen sollen. Zuletzt beschließen sie folgendes: Der Förster wird sich auf den Weg machen, und wem er zuerst begegnet, den bestellt er zum Taufvater. Nun gut. Kaum hat er am nächsten Morgen das Gartentor hinter sich geschlossen, trifft er auch schon einen feinen Herrn. Der Herr fragt: „Wohin des Weges?" „So und so. Ich bin unterwegs, um für meinen kleinen Sohn einen Taufvater zu suchen." „Das trifft sich ja ausgezeichnet, daß wir uns begegnen! Ich bin schon seit langem auf der Suche nach einem Taufsohn. Nimm mich als Taufvater, dann wirst du erleben, was für ein Mann eines Tages aus deinem Sohn wird! Allerdings fordere ich eins: Wenn dein Sohn neun Jahre alt ist, muß er zu mir in die Lehre kommen. Und weißt du, bis ich ihm beigebracht habe, was ein großer Mann wissen muß, werden Jahre vergehen. Verbleiben wir so, ja?" „Einverstanden! Denn was weiß ich alter Narr schon von großen oder kleinen Männern? Kümmere du dich meinetwegen um ihn, du bist ja sein Taufvater!" Nun gut, es bleibt dabei. Nachdem neun Jahre vergangen sind, ist der Taufvater da: Sein Taufsohn soll nun zu ihm in die Lehre kommen. Eins-zweidrei macht sich der Junge fertig und geht frohgemut mit. Aber, lieber Gott, wo denkst du hin! Unterwegs verging dem Ärmsten jede Freude. Weißt du, der Taufvater hatte Gewohnheiten wie ein Tier. Er steckt den Jungen in ein Kistchen, schlägt den Deckel zu und wirft es in den Fluß. Mag der Junge ertrinken, wenn das Glück ihm nicht zu Hilfe, kommt. Sag selbst, was ist das für ein Mensch, der so handelt? Man erkennt sehr wohl, was für ein Väterchen der sogenannte Taufvater war. Doch zum Glück ertrank der Junge nicht. Das Kistchen landete in einem Mühlgraben und versperrte dem Mühlwasser den Lauf. Der Müller mahlt und mahlt — er versteht nicht, warum kaum Wasser fließt. Als er sich die Sache näher betrachtet, entdeckt er ein Kistchen, in dem sich ein Junge in Todesängsten befindet. Aber von dem Jungen erfährt er auch nichts Näheres. Der Vater hat ihn dem Taufvater mitgegeben, und der Taufvater hat ihn in das Kistchen gesteckt — mehr weiß er nicht. Da soll nun einer ahnen, was für ein Taufvater das ist. 126
Nichts zu machen, überlegt sich der Müller, ein ausgesetztes Kind — ich muß es wohl oder übel aufziehen. Sollten sich später mal Angehörige finden, gebe ich's ihnen zurück, finden sich keine — nun, dann soll es eben Müller werden. Und der Sohn des Försters wuchs zu einem stattlichen jungen Mann heran und wurde Müller. Der alte Müller liebte ihn wie seinen eigenen Sohn. Aber einmal geschah es, daß der Taufvater an der Mühle vorbeifuhr und dem Sohn begegnete. Der Sohn erkennt ihn nicht, aber der Taufvater erinnert sich sofort an ihn. Und so steigt er einfach aus der Kutsche, geht zum alten Müller und fragt ihn, ob er nicht einen recht zuverlässigen Menschen — vielleicht den Burschen dort — mit einer dringenden Nachricht zu seiner Frau schicken könne. Er sei nämlich in Eile von daheim fortgefahren und habe jetzt erst gemerkt, daß er etwas vergessen habe. Der Müller denkt: Ein feiner Herr — man muß ihm helfen! Mag doch der Pflegesohn die Nachricht überbringen! Der feine Herr schreibt ein paar Zeilen, versiegelt den Brief und übergibt ihn dem jungen Müller, der sich sofort auf den Weg macht. Nach einer Weile begegnet er einem armen alten Mann. Der fragt den jungen Müller: „Wohin so eilig, mein Sohn?" So und so. „Bist du denn blind? Weißt du denn überhaupt, was in dem Brief steht? Laß mich mal sehen!" Der Alte liest, murmelt einige Worte, gibt ihm den Brief wieder und sagt: „Dein Glück, daß du mir begegnet bist, sonst wärst du verloren; aber nun geh unbesorgt — es wird dir nichts Schlimmes zustoßen!" Der Sohn gibt den Brief ab, und die Gnädige öffnet ihn. „Hier steht geschrieben, daß ich dich als Diener bei mir behalten soll." Nun, macht nichts — der Sohn ist einverstanden. Aber welchen Ärger gab's am nächsten Tag! Der gute Taufvater, weißt du, kommt nach Hause gefahren. Er schlägt sich an die Stirn: Wie konnte er nur so etwas hinschreiben! Er braucht doch gar keinen Diener, und er hat doch gewollt, daß der Sohn sofort umgebracht wird. Macht nichts — als Diener wird man ihn auch brauchen können. Mag er gleich zwei Pferde einspannen und ans jenseitige 127
Ufer des Schwarzen Meeres fahren, um von dort acht Pfauenfedern zu holen. Nun gut! Der Sohn spannt die Pferde an und fahrt los. Am nächsten Tag kommt er zufällig durch die Stadt eines Königs. Der König steht am Fenster und fragt ihn aus Langeweile: „Wohin des Weges?" „Ich fahre ans andere Ufer des Schwarzen Meeres, Pfauenfedern zu suchen." „Ach wie gut, daß wir ins Gespräch gekommen sind! Kannst du dich nicht unterwegs erkundigen, warum meine Apfelbäume keine Äpfel tragen?" „Aber gern!" Am dritten Tag kommt er zufällig durch die Stadt eines anderen Königs. Der König fragt ihn: „Wohin des Weges?" „Ich fahre ans andere Ufer des Schwarzen Meeres, um Pfauenfedern zu suchen." „Ach wie gut, daß wir ins Gespräch gekommen sind! Kannst du dich nicht unterwegs erkundigen, warum mein Weinberg keine Trauben trägt?" „Aber gern!" Am vierten Tag kommt er zufallig durch die Stadt eines dritten Königs. Der fragt ihn: „Wohin des Weges?" „Ich fahre ans andere Ufer des Schwarzen Meeres, um Pfauenfedern zu suchen." „Ach wie gut, daß wir ins Gespräch gekommen sind! Kannst du dich nicht unterwegs erkundigen, wohin meine drei Töchter verschwunden sind?" „Aber gern!" Am fünften Tag erreicht der Diener das Schwarze Meer. Er spannt seine Pferde aus, bindet sie auf der Wiese an und läßt sich mit einem Floß übersetzen. Der Fährmann fragt ihn: „Mein Sohn, was willst du am andern Ufer?" „Ich brauche Pfauenfedern!" „Ach, das trifft sich gut! Wenn du die Pfauenfedern holst, dann erkundige dich, wann ich mein Fähramt endlich loswerde." „Aber gern!" Am andern Ufer verläßt der Sohn das Floß und setzt seinen Weg zu Fuß fort. Auf dieser Seite ist der Weg schlecht: lauter Sümpfe, so daß man kaum durchkommt. Er plagt sich und watet mühsam durch die Sümpfe. Da erblickt er plötzlich mitten im Sumpf ein riesengroßes 128
Schloß. Er betritt das Schloß, ohne eine Menschenseele zu sehen. Er geht weiter — dort ist eine mittelgroße Tür; er öffnet sie und sieht drei junge Frauen. Sie schreien sofort auf und wissen nicht, wo sie sich verstecken sollen. Der Sohn beruhigt sie : „Fürchtet euch nicht! Ich bin ebenso ein Mensch wie ihr — ich will acht Pfauenfedern holen." „Ach Brüderchen, das sind keine Pfauenfedern — das sind Haare unseres Herrn! Wie willst du sie bekommen?" „Nun, nun, ich denke, ihr werdet mir doch helfen?" „Aber gern. Doch dafür mußt du uns zu unserem Vater nach Hause bringen. Wir wollen nicht länger in dieser Hölle schmachten, wir sind Königstöchter — wie gut ginge es uns daheim!" „Ich weiß, daß ihr Königstöchter seid. Auf dem Wege hierher bin ich eurem Vater begegnet, und der sagte, daß ich euch nach Hause bringen soll. Aber ich habe noch andere Dinge zu erledigen. Die Apfelbäume eines anderen Königs tragen keine Äpfel, der Weinberg eines dritten Königs trägt keine Trauben, und der Fährmann des Schwarzen Meeres hier will sein Amt loswerden. Nun weiß ich gar "nicht, wer mir das alles sagen kann." „Du brauchst kein Wort zu verlieren. Unser Herr wird heimkommen — er soll es dir sagen. Aber solange er noch nicht da ist, waschen wir dich mit besonderen Kräutern, damit der Herr keinen Menschengeruch wittert, und danach verstecken wir dich unter seinem Bett." Nun gut! So geschah's denn auch. Am Abend kommt der Herr zurück und legt sich zu Bett: Die älteste Königstochter soll sich zu ihm legen! Sie tut's, und bald schnarcht der Herr schon. Nun reißt sie dem Herrn zwei Haare aus und wirft sie dem Sohn unters Bett. Sofort wacht der Herr auf: Warum sie an seinen Haaren zupft? „Wer wird denn absichtlich an deinen Haaren zupfen? Vielleicht habe ich im Schlaf mit den Armen um mich geschlagen, denn icfi hatte einen merkwürdigen Traum. Die Apfelbäume eines Königs tragen keine Äpfel." „Ja, dort unter der Schwelle des Gartentores ist eine große Geldtruhe. Er soll sie ausgraben — dann wird er Äpfel in Hülle und Fülle haben. Aber verschwinde jetzt! Die zweite soll sich zu mir legen; sie wird ruhiger schlafen." Nun legt sich die zweite Königstochter zu ihm, und wieder schnarcht der Herr im Nu. Jetzt reißt sie ihm drei Haare aus und wirft sie dem Sohn unters Bett. Der Herr wacht auf: Warum sie ihm die Haare ausreißt? 9
Lettische Volksmärchen
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„Ich reiße dir keine Haare aus! Wahrscheinlich habe ich im Schlaf mit den Armen um mich geschlagen, denn ich hatte einen merkwürdigen Traum. Der Weinberg eines Königs trägt keine Trauben." „Ja, soll er den Mist vom Misthaufen aus der Gartenecke auf dem Weinberg verteilen, dann wird er Weintrauben ernten. Aber verschwinde jetzt! Die dritte soll sich zu mir legen — sie wird ruhiger schlafen!" Nun legt sich die dritte Königstochter zu ihm — wieder schnarcht der Herr im Nu. Sie reißt ihm drei Haare aus und wirft sie dem Sohn unters Bett. Der Herr wacht auf: Warum sie ihm die Haare ausreißt? „Ich reiße dir keine Haare aus! Wahrscheinlich habe ich im Schlaf mit den Armen um mich geschlagen, denn ich hatte einen merkwürdigen Traum. Der Fährmann des Schwarzen Meeres möchte sein Amt loswerden, aber es gelingt ihm nicht." „Wieso? Wenn er jemand übersetzt, soll er selbst am Ufer als erster aussteigen und schnell den Riegel zuschieben, dann muß der andere an seiner Stelle als Fährmann zurückbleiben. Aber nun geht alle drei in euer Zimmer. Mit euch ist nichts anzufangen, ihr laßt eine "berhaupt nicht schlafen." Nachdem der Herr das gesagt hatte, drehte er sich auf die andere Seite und fing wieder zu schnarchen an. Aber der Sohn kroch unterm Bett hervor, nahm die Königstöchter und eilte davon. Doch der Herr merkte bald, daß etwas nicht stimmte, und jagte den Flüchtenden hinterher, so daß die Erde dröhnte. Dem Sohn wurde bereits bange, aber die älteste Tochter beruhigte ihn: „Wir brauchen keine Angst zu haben, ich werde eine Handvoll Sand auf die Erde werfen, und der Herr wird aufgehalten." Und sie wirft eine Handvoll Sand auf die Erde — plötzlich steht da ein großer Berg. Während sich der Herr durch den Berg wühlt, sind sie schon weit weg. Doch bald hören sie wieder die Erde dröhnen. Dem Sohn wird bange, aber die zweite Tochter beruhigt ihn: „Wir brauchen keine Angst zu haben, ich werde einen Zweig auf die Erde werfen, und alles wird gut!" Sie wirft ein kleines Zweiglein auf die Erde — und plötzlich ist da ein ganz dichter Wald. Während der Herr sich durch den Wald zwängt, sind sie schon auf dem Floß. Der Herr rast zum Meer — nichts zu machen: Die Flüchtlinge sind bereits am anderen Ufer. Nun spuckt er vor Wut und schimpf, daß die halbe Welt untergehen soll, aber der Fährmann lacht: 130
„Soll er nur schimpfen, nur zu, wenn ich nur mein Amt loswerde." „Das ist ganz einfach!" erwiderte der Sohn und belehrt ihn, was er tun muß. Während der Fährmann nun den Herrn übersetzt, macht er es so, wie's der Sohn ihm geraten hat. Und sie gehen weiter. Am nächsten Tag treffen sie beim König ein, dessen Töchter verschwunden waren. Der Sohn führt die Töchter zum Vater und sagt: „Hier hast du deine Töchter! Gibst du mir für diesen Dienst deine jüngste Tochter zur Frau ?" „Ach du Barmherziger!" ruft der Vater voller Freude aus. „Mein Sohn, nimm dir. nur, welche du magst! Ich kann dir gar nicht genug danken!" „Hab Dank, lieber Vater, für dein gutes Herz. Ich muß nur noch woandershin. Aber sobald ich mit allem fertig bin, eile ich zurück, um meine Braut, die jüngste Tochter, zu heiraten." Am nächsten Morgen begibt sich der Sohn zu dem König, dessen Weinberg keine Trauben trägt. Er sagt ihm, was zu tun ist, und siehe da: Kaum war auf dem Weinberg der Mist vom Misthaufen an der Gartenecke verteilt, da blühte der Weinberg, und an der Stelle des Misthaufens stand ein schönes Schloß da. Als der König das sah, wollte er den Sohn am liebsten mit Gold überschütten, aber der erwiderte : „Ich nehme nichts von dir! Ich wünsche mir nur, daß der junge König, dein Sohn, mein Schwager wird." „Einverstanden — das ist doch eine Kleinigkeit!" antwortete der König. Nun gut. Am nächsten Morgen begibt sich der Sohn zu dem König, dessen Apfelbäume keine Äpfel tragen. Er sagt ihm, was zu tun ist, und siehe da: Kaum war die Geldtruhe ausgegraben, da blühten die Apfelbäume, und am Tor stand plötzlich ein schönes Schloß. Als der König das sah, wollte er den Sohn am liebsten mit Gold überschütten, aber der Sohn erwiderte: „Ich nehme nichts von dir! Ich wünsche mir nur, daß dein Sohn, der junge König, die älteste Schwester meiner Frau heiratet!" „Einverstanden — das ist doch eine Kleinigkeit!" antwortete der König. Nun gut. Am nächsten Morgen begibt sich der Sohn zum Taufvater, bringt ihm die acht Pfauenfedern und sagt: „Kennst du die? Du schicktest mich ins Unglück, ich aber fand mein Glück. Kennst du diese Federn?" Doch kaum hatte der Taufvater die Pfauenfedern erblickt, da 9«
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konnte er keinen Laut mehr von sich geben. Sofort löste er sich in Rauch auf, und niemand weiß, wo der Unhold geblieben, wo er versunken ist. Am nächsten Morgen kehrte der Sohn zu seiner Braut, der jüngsten Tochter des Königs, zurück. Unterwegs nahm er auch die beiden Königssöhne mit, und sie machten sich alle drei auf, um ihre Hochzeit zu feiern: Der Sohn heiratete die jüngste Tochter und erbte das Reich seines Schwiegervaters, aber die beiden andern begaben sich nach der Hochzeit mit ihren Frauen in ihre Königreiche. 53
DER BÄRENMENSCH
Eine Mutter begab sich mit ihrem Kind an den Waldrand, um Heu zu rechen. Das Kind hatte sie unter eine Tanne in den Schatten gelegt, aber sie selbst war ein wenig weiter gegangen und hatte zu arbeiten angefangen. Da trottete auf einmal, wer weiß, woher er plötzlich gekommen war, ein Bär aus dem Wald, packte das Kind und rannte wieder zurück in den Wald. Die Mutter suchte im Wald verzweifelt nach ihrem Kind, aber als sie es nicht fand, dachte sie, daß der Bär es wohl gefressen hätte, und ging traurig nach Hause. Der Bär trug das Kind zu seinen Jungen in die Bärenhöhle, legte es zu ihnen, und die Bärenmutter säugte es zugleich mit ihren Bärenkindern. Die Bärenkinder wuchsen schnell heran, und jedes ging seiner Wege, aber der Knabe blieb bei der Bärenmutter, die ihn bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr säugte.' Als die Bärenmutter eines Tages auf Nahrungssuche war und nicht zurückkehrte, wartete und wartete der Knabe auf sie, aber vergeblich! Nichts zu machen, nun mußte er lernen, sich selbst Nahrung zu suchen. Er wanderte durch den Wald, aß Beeren, Äpfel, Nüsse und allerlei Kräuter. Später begegnete er Hirten im Wald und lernte sprechen. Eines Tages hatte es der Bärenmensch satt, allein im Wald zu leben, und so beschloß er, den Wald zu verlassen und unter Menschen zu leben. Kaum hatte er die Straße betreten, da fuhr der König an ihm vorbei. Wohin er unterwegs sei, fragte der König. So und so, er wolle sich Arbeit suchen. Da solle er nur zu ihm kommen, sagte der König. Gut, der Bärenmensch war einverstanden. Sie vereinbarten, daß er dem König als Lohn am Ende eines 132
jeden Jahres drei Schläge an die Stirn versetze; wenn der König das nicht aushalte, dann solle er dem Bärenmenschen drei Scheffel Gold zahlen. Einverstanden — der König, der ein starker Mensch ist, lacht nur über einen so lächerlichen Lohn und heißt den Bärenmenschen auf den Bock klettern. Er soll des Königs Kutscher sein. Der Bärenmensch steigt auf den Bock, und kaum versetzt er den Pferden einen Schlag mit der Peitsche, da sind die Pferde hin. Er reißt die Pferde aus der Deichsel, wirft sie wie junge Katzen in den Graben und zieht den Wagen selbst, so daß der förmlich durch die Luft fliegt. Als der König solche Kräfte wahrnahm, erschrak er, aber nichts zu machen, vereinbart ist vereinbart, und er sann nun darauf, wie er den Bärenmenschen irgendwie beseitigen könne, damit er nicht am Jahresende den versprochenen Lohn erhalte. Bald war der König auch zu Hause und befahl dem Bärenmenschen, in die Getreidedarre zu gehen und zu dreschen. Der Bärenmensch tat's auch, er nahm das Balkengerüst in die Hand und schlug damit so zu, daß es zersplitterte. Während er das Getreide drosch, vernichtete er das Balkengerüst völlig. Als es Nacht wurde, befahl der König dem Bärenmenschen, den Hafer zu bewachen, der am Waldrand wuchs, und er sollte aufpassen, wer ihn nachts immer zertrampelte und auffraß. Der Bärenmensch ging am Abend aufs Feld, stieg am Feldrain auf eine Eiche und wartete auf den Haferfresser. Um Mitternacht sieht er, wie ein Bär in den Hafer stapft und zu fressen anfangt. „Ach, mein alter Onkel hat sich in den Hafer meines Herrn begeben", sagt der Bärenmensch, steigt vom Baum herunter und packt den Bären an den Ohren. Zwar wütet der Bär und schüttelt sich, aber der Bärenmensch schleppt ihn zum Schloß des Königs. Am Morgen geht der Bärenmensch zum König und erzählt ihm, daß er den Haferdieb gefangen und in den Stall gesperrt habe. Der König war mit der Arbeit des Bärenmenschen zufrieden und sagte: „Schlaf dich nun aus, aber morgen fahre frühzeitig in den Wald, um Holz zu holen." Am nächsten Morgen spannte der Bärenmensch das Pferd an, setzte sich pfeifend in den Wagen, und los ging's in den Wald, ohne Axt und Säge. Im Wald angelangt, riß der Bärenmensch eine Tanne aus, band sie hinten am Wagen fest, setzte sich selbst auf den Wagen und fuhr nach Hause. Aber, welch ein Wunder, 133
das Pferd vermochte den Wagen nicht zu ziehen. Der Bärenmensch wurde darüber wütend, doch kaum schlug er das Pferd mit der Peitsche, da war es auch schon tot. Nun, wenn man kein Pferd hat, dann geht's auch ohne. Der Bärenmensch packte die Tanne am Wipfel und zog sie nach Hause. „Wo ist denn das Pferd geblieben?" fragte der König. Was war das schon für ein Pferd? Es war doch nur eine Katze, denn es konnte nicht mal ein Bäumchen nach Hause ziehen, das ein Mensch ohne weiteres nach Hause zieht. Übermütig erzählte der Bärenmensch, daß er wütend geworden sei und dem Pferd eins mit der Peitsche versetzt habe, so daß es sofort tot war. Zwar wurde der König wegen des erschlagenen Pferdes zornig, aber er sagte kein böses Wort, denn er fürchtete sich vor der großen Kraft des Bärenmenschen. Unweit vom Schloß des Königs war eine Mühle, in der sich der Teufel niedergelassen hatte. Jeden, der dorthin zum Mahlen gefahren war, hatte der Teufel zu Tode gequält, und jetzt fuhr niemand zu dieser Mühle. Der König befahl dem Bärenmenschen, zu dieser Teufelsmühle zu fahren und Weizen zu mahlen, und er war sicher, daß der Bärenmensch nicht mehr lebendig zurückkehren würde. Der Bärenmensch spannte den Bären vor den Wagen, lud die Säcke auf und fuhr los. Er betrat die Mühle, aber er erblickte keinen Menschen, nicht einmal den Müller selbst. Wenn niemand da ist, dann ist eben niemand da, dachte der Bärenmensch bei sich und begann, den Weizen selbst zu mahlen. Da packt ihn auf einmal der Teufel an den Haaren und zerrt ihn zum Mühlstein. „Laß mich in Frieden und scherze nicht", schreit der Bärenmensch den Teufel an, „erst kommst du nicht zum Mahlen, und dann fängst du mit solchen Mätzchen an!" Aber der Teufel hört gar nicht hin, und er zerrt den Bärenmenschen auf den Mühistein. Der Bärenmensch sieht, daß der Teufel mit dem Unsinn nicht aufhören will. Da packt er ihn am Schlafittchen und drückt ihn gegen den Mühlstein. Nun bittet der Teufel, er möge ihn doch am Leben lassen. Doch der Bärenmensch denkt gar nicht daran. „Du wirst mir ja doch beim nächstenmal deinen Dienst verweigern", sagt der Bärenmensch und drückt den Teufel gegen den Mühlstein. Als der Teufel merkte, daß sein Ende gekommen ist, begann er zu flehen, der Bärenmensch solle ihn doch am Leben lassen, er werde ihm auch lebenslänglich dienen. Darauf ließ der Bären134
mensch den Teufel los. Nun mahlten sie den Weizen, luden die Mehlsäcke auf den Wagen, der Teufel stieg als Kutscher auf den Bock, und pfeifend fuhren sie nach Hause. Der König erstarrte vor Angst und riß seine Augen vor Staunen weit auf, als der Bärenmensch lebendig nach Hause gefahren kam und noch dazu den Teufel mitbrachte. Nun redete der König dem Bärenmenschen ein, er solle zum König des Nachbarlandes fahren und sechs Fässer voll Gold holen, die er einst jenem König geliehen hatte. Gut! Der Bärenmensch spannt den Bären vor den Wagen, der Teufel setzt sich als Kutscher vorn hin, und die beiden fahren los. Sie fuhren und fuhren, bis .sie endlich am dritten Tag gegen Mittag im Nachbarland in der Nähe des Königsschlosses waren. „Wir müssen ein wenig ausruhen, es ist Mittag", sagte der Bärenmensch zum Teufel, „spann du unser Pferd aus und laß es Hafer fressen, es frißt Hafer gern." Der Teufel tat, wie der Bärenmensch ihm befohlen, und er blieb bei dem schlafenden Bärenmenschen als Wächter. Als der König erfuhr, was alles geschehen war, gebot er seinen Leuten, ihre Gewehre zu laden und die drei zu erschießen. Ja, und nach einer Weile sind die Leute zur Stelle und fangen an, auf den Teufel zu schießen. „Werdet ihr gleich aufhören, der Herr schläft doch! Wenn er aufsteht, wird's euch schlecht ergehen", rief ihnen der Teufel zu und drohte mit dem Finger. Als die Leute sahen, daß sie diesen Mann nicht erschießen konnten und er sie noch gewarnt hatte, den Herrn zu wecken, weil es ihnen sonst schlecht ergehe, eilten sie zurück zum König und berichteten ihm alles. Nichts zu machen. Man erwartete den Bärenmenschen am Schloß und übergab ihm alle sechs Fässer voll Gold. Darauf machte sich der Bärenmensch mit dem Teufel aus dem Staube. „Das Jahr geht nun zu Ende", sagte der Teufel zum Bärenmenschen, „weißt du, daß sich dein König aus Furcht vor deinen drei Schlägen einen neuen Steinturm hat mauern lassen und sich darin vor dir versteckt'?" Als sich der Bärenmensch mit der Goldfuhre dem Schloß näherte, kam ihm die Königin bereits ein Stück entgegen. Er solle sich das ganze Gold nehmen und dann fahren, wohin er wolle. Das Jahr sei doch um, und der König sei gar nicht daheim. 135
„Wenn der König nicht da ist, dann werde ich dem neuen Steinturm die drei Schläge versetzen", sagte der Bärenmensch. Als der Bärenmensch dreimal gegen den Turm schlug, stürzte er ein und erschlug auch gleichzeitig den alten König, der sich im Turm befand. Darauf heiratete der Bärenmensch die Königin und lebte noch lange Jahre glücklich mit seinem Bären und dem Teufel. 54
DER STARKE
Ein Vater hatte einen Sohn, der der Starke hieß. Als der Starke herangewachsen war, sagte er zum Vater: „Vater, zeige mir doch, wie groß unsere Felder sind." Der Vater führte ihn zu den Feldern. Aber mitten auf dem Feld stand eine große, große Tanne. Der Starke fragte: „Was ist das für ein Bäumlein?", und er packte die Tanne am Wipfel und riß sie mit allen Wurzeln heraus. Der Vater wunderte sich, aber der Starke hielt mit der einen Hand die Tanne in der Luft, mit der anderen Hand berührte er die Äste und sagte: „Das wird für mich ein guter Stock sein, wenn ich spazierengehe." Ja, so war das. Sie kamen nach Hause. Nach dem Spaziergang fragte der Starke die Mutter nach dem Essen. Die Mutter beeilte sich, schnell etwas zuzubereiten, aber der Vater sagte: „Mit einer Kleinigkeit brauchst du für ihn gar nicht anzufangen. Koch lieber dicke Grütze in unserem Kessel, der fünf Eimer faßt." Die Mutter kochte die dicke Grütze und wollte etwas in einen Eßnapf schöpfen, aber der Starke sagte: „Wozu schöpft ihr erst etwas heraus? Ich esse gleich aus dem Kessel." Und so machte er sich daran und aß alles auf. Als der Vater das sah, runzelte er die Stirn: „Nein, mein Sohn, wenn du so viel essen willst, dann kannst du nicht mehr bei mir bleiben. Du mußt zum König gehen, dort wirst du dich ganz nach deinem Sinn ausarbeiten und satt essen können." „Ja, ja, Vater, das alles könnte schon geschehen, aber ich gehe nicht so ohne weiteres, wenn man es mir befiehlt. Soll der König mich holen, dann gehe ich." Gut! Der König schickte einmal nach ihm, er schickte ein zweites Mal nach ihm — der Starke geht und geht nicht. Er 136
schickte sechs Soldaten, die den Starken holen sollten — aber er ging immer noch nicht mit. Nun, wenn er im guten nicht mitkommen wollte — gedachten die Soldaten ihn mit Gewalt mitzunehmen. Aber der Starke lachte: „Wozu soll ich mich mit euch Iltissen länger abgeben — da!" Und so berührte er jeden der Soldaten nur mit einem Finger und erschlug sie so. Aber der König schickte noch mal zwölf Soldaten aus. Auch diese erschlug der Starke, doch dann überlegte er sich: Das geht ja nicht, daß so viele Leute des Königs umkommen. Ich werde schon zu ihm gehen müssen. Gut. Er begab sich zum König, reichte ihm die Hand und fragte: „Nun, König, was hast du mir Gutes zu sagen?" „Bleibe bei mir, ich habe viel Arbeit für dich!" „Ja, ja — meinetwegen!" brummte er und blieb beim König. Aber nach einiger Zeit fing der Starke an, dem König zu erzählen, daß er beabsichtige, seine Tochter zu heiraten. Der König riß die Augen auf: „Mein Sohn, wenn du meine Tochter haben willst, dann mußt du erst in die Welt gehen und mir ein goldenes Pferd, einen goldenen Hund und einen goldenen Hahn heimbringen — eher gebe ich dir meine Tochter nicht, mag kommen, was da wolle." „Gut!" erwiderte der Starke und eilte sofort zum Schmied, damit der ihm einen recht starken Wanderstab schmiedete, der sich weder biegt noch bricht. Der Schmied fertigte ihm einen Stock an, der drei Zentnei schwer war, aber der Starke schlug nur mit dem Stock gegen seinen Finger, und der Stock zerbrach. Nun machte der Schmied ihn noch um drei Zentner schwerer, und dann war er richtig. Aber ehe er wegging, begab sich der Starke noch zur Königstochter, um Abschied zu nehmen, und er sagte ihr, daß sie auf ihn warten und um Himmelswillen zu keinem anderen gehen soll. Die Königstochter versprach es ihm und gab ihm ihren goldenen Ring. Der Starke ging und ging — da begegnete ihm ein großer Mann, und er fragte ihn, wer er wäre. „Ich bin der Wasserantreiber. Wenn ich meinen Knüppel ins Wasser lege, schwindet das Wasser sofort, so daß man mit trokkenen Füßen hinübergehen kann." „Dann komm mit, du bist gut!" Er war damit einverstanden. Sie gingen zu zweit und b^geg137
neten einem Mann, der Berge ins Tal hinunterschob. Der Starke fragte: „Wer bist du?" ,,Ich bin der Bergdrücker!" „Dann komm mit, du bist gut!" Nun gingen sie zu dritt und begegneten wieder einem großen Mann. Der Starke erkundigte sich: „Werbist du?" „Ich bin der Hundert-Meilen-Seher-und-Hörer. Ich sehe alles und höre alles in einer Entfernung von hundert Meilen." „Dann komm mit, du bist gut!" Nun gingen sie zu viert und kamen zum Schloß des Teufels; aber rund um das Schloß des Teufels war ein großer Fluß — man kam nicht hinüber. Da schlug der Wasserantreiber mit seinem Knüppel in das Wasser — sofort wurde es trocken. Sie gingen in das Schloß des Teufels. Dort saß in einem Zimmer ein uraltes Weib. Das war des Teufels Mutter, aber der Teufel war mit seinen Söhnen wer weiß wo geblieben. Dort war aber auch eine Brücke, über die die Teufel stets nach Hause ritten. Der Starke befahl dem Hundert-MeilenSeher-und-Hörer, sofort diese Brücke zu bewachen, damit sie nicht heimlich von den Teufeln überfallen würden. Aber die anderen beiden schickte er schlafen, und er selbst legte sich auch ein wenig auf das Ohr. Er lag und lag — aber er konnte und konnte nicht richtig einschlafen. Schließlich rieb er sich die Augen, sprang auf und ging hinaus, um nachzuschauen, wie es an der Brücke steht. Er kam hin — da hast du's! Der HundertMeilen-Seher-und-Hörer schlief fest. Oha! Da war der Starke vielleicht böse! Aber er überlegte es sich und sagte nichts, soll sich nur die Schlafmütze ausschlafen! Und so begab er sich selbst unter die Brücke und paßte auf, ob die Teufel heute nacht kämen oder nicht. Er schaute und schaute — und — ja, um Mitternacht kommt tatsächlich der jüngste Sohn des Teufels auf einem schwarzen Pferd angeritten, und bei ihm waren ein schwarzer Hund und ein schwarzer Hahn. Der reitet zur Brücke, aber das Pferd geht nicht hinüber. „Wer ist dort?" fragte der Sohn des Teufels. Das Pferd, der Hund und der Hahn erwiderten: „Unter der Brücke ist ein starker Mann, der wird uns erschlagen." 138
„Mag er doch mit mir seine Kräfte messen, wenn er so stark ist!" Der Starke kam hervor, und kaum hat er dem Sohn des Teufels mit seinem Eisenstock auf die Stirn geschlagen, da ist er auf der Stelle tot. Nun nahm er das Pferd, den Hund und den Hahn, brachte sie ins Teufelsschloß und führte sie in den Stall des Teufels. Am Morgen fragte er den Seher, was er in der Nacht gesehen hätte. Er habe nichts gesehen, antwortete der. Gut, dann eben nicht — in der nächsten Nacht schickte er den Bergdrücker. Aber mit dem Bergdrücker geschah dasselbe wie mit dem ersten. Der Starke mußte anstelle des Schlafenden den mittleren Sohn des Teufels erschlagen und sein Pferd, seinen Hund und seinen Hahn in den Stall des Teufels führen. In der dritten Nacht wachte der Wasserantreiber — mit ihm erging es ebenso. Der Starke tötete an seiner Stelle den ältesten Sohn des Teufels, aber das Pferd, den Hund und den Hahn führte er in den Stall des Teufels. In der vierten Nacht rüstete sich der Starke selbst, die Brücke zu bewachen. Aber vorher stellte er drei Teller auf den Tisch und auf die Teller Gläser, dann goß er Wasser in die Gläser und schärfte seinen Kameraden ein: „Bleibt hier und schaut in die Gläser. Wenn das Wasser in ihnen zu Blut wird, dann rührt und rührt das Wasser um, so gut ihr es könnt, damit meine Kräfte beim Kampf auf der Brücke wachsen." Gut! Er ging unter die Brücke und wachte. Ja, und es wird Mitternacht. Der Teufel selbst kommt auf einem goldenen Pferd angeritten, daß die ganze Erde bebt, und er hat einen goldenen Hund und einen goldenen Hahn bei sich. Er reitet zur Brücke — das goldene Pferd wiehert, der goldene Hund bellt, der goldene Hahn kräht, und sie gehen nicht über die Brücke. „Was ist denn dort für ein Unglück geschehen?" ruft der Teufel. Das goldene Pferd, der goldene Hund und der goldene Hahn antworten: „Unter der Brücke befindet sich der Starke selbst, er wird uns erschlagen." „Mag doch der vielgerühmte Starke mit mir seine Kräfte messen!" Gut! Der Starke geht auf den Teufel zu, und nun beginnt zwischen ihnen ein erbitterter Kampf. Der Teufel stürzt sich 139
auf den Starken, und der Starke versinkt bis zu den Unterschenkeln in der Erde. Darauf stürzt sich der Starke auf den Teufel, und der Teufel versinkt bis zu den Waden in der Erde. Dann stürzt sich der Teufel ein zweites Mal auf den Starken, und der Starke versinkt schon bis über die Knie in der Erde. Dann wirft er sich dem Teufel entgegen, und der Teufel versinkt bis zu den Unterschenkeln. Noch ein drittes Mal stürzt sich der Teufel auf den Starken, und nun versinkt der Starke bis zu den Hüften in der Erde. Darauf ruft der Starke: „Darf sich ein Mann bei der Arbeit erholen?" „Er darf es!" antwortet der Teufel, „das ist doch selbstverständlich!" Aber währenddessen hat sich drinnen im Schloß das Wasser in den Gläsern schon zu Blut verwandelt und steigt über den Rand, aber die anderen, die verfluchten Schlafmützen, schlafen. Als der Starke das merkte, riß er in der kurzen Verschnaufpause seine Mütze vom Kopf und stürmte gegen die Wand des Schlosses, aber die Kameraden wachten nicht auf. Dann riß er sich selbst die Stiefel herunter und stürmte gegen die Wand des Schlosses — aber sie wachten noch nicht auf. Schließlich riß er sein Halstuch herunter und schlug es gegen die Wand des Schlosses. Zum Glück drang das Halstuch durch die Wand, verfing sich in den Beinen der Betten, und da schraken die Schlafmützen plötzlich auf. Natürlich ahnten sie das Unglück und rührten nun, sosehr sie nur konnten. Je mehr sie das Blut rührten, um so mehr wuchsen dem Starken die Kräfte, und nun begann er den Kampf mit dem Teufel von neuem. Der Teufel schlug und schlug auf ihn ein, aber welch ein Wunder, wahrlich, welch ein Wunder! Der Starke sank gar nicht mehr in die Erde ein, sondern im Gegenteil: Bei jedem Schlag erhob er sich wieder. Dagegen trieb der Starke den Teufel ganz in die Erde, und dann rief er frohlockend aus: „Mag nun der Teufel den Teufel holen!" Nachdem das vollbracht war, nahm der Starke das goldene Pferd, den goldenen Hund und den goldenen Hahn des Teufels und brachte alle in das Schloß. Dann rief er die Kameraden zu sich und ohrfeigte sie tüchtig, weil sie nicht wachgeblieben waren. Aber am Morgen gab der Starke jedem ein Pferd, einen Hund und einen Hahn — diejenigen, die er den Söhnen des Teufels fortgenommen hatte. Er selbst behielt das goldene Pferd, den goldenen Hund und 140
den goldenen Hahn. Dann stiegen sie auf die Pferde und ritten heimwärts. Als sie jedoch ein Stück geritten waren, erinnerte sich der Starke plötzlich: Wo ist denn mein goldener Ring, den mir die Tochter des Königs an den Finger gesteckt hat? Den habe ich im Teufelsschloß vergessen. Nichts zu machen — er ließ die Kameraden weiterreiten, und er selbst kehrte um und ritt zurück, um den Ring zu holen. Er kam hin — aber was war das? Die Türen des Teufelsschlosses sind verschlossen — an ein Hineinkommen ist nicht zu denken. Was nun? Da rieten ihm das goldene Pferd, der Hund und der Hahn, sich in eine Fliege zu verwandeln und durch das Schlüsselloch hineinzukriechen, um den Ring zu holen. Gut. Er verwandelte sich in eine Fliege, kroch durch das Schlüsselloch hinein und wollte soeben seinen Ring nehmen. Da schaute er sich um: Im anderen Zimmer saßen drei Töchter des Teufels mit der Mutter des Teufels und beratschlagten. Halt! schießt es ihm durch den Kopf, ich muß doch mal hören, worüber sie eigentlich beraten. Und so fliegt er auf den Ofen Und lauscht. Die Mutter des Teufels sagt: „Wir müssen uns am Starken rächen. Morgen werde ich mich, wenn sie reiten, in ein weißes Wirtshaus verwandeln. Dann werden sie hineingehen und dort bleiben." „Das ist nichts!" meinte die erste Tochter, „ich werde mich in eine heiße Sonne verwandeln, damit sie durstig werden; und dann wird dort plötzlich ein kühles Bächlein sein, an dem sie trinken wollen, und dort werden sie bleiben." „Das ist nichts!" meinte die zweite Tochter, „ich werde mich in einen schönen Birnbaum mit Birnen verwandeln; diese werden sie essen wollen, und sie werden dort bleiben." „Das ist nichts!" meinte die dritte Tochter, „ich werde mich in eine grüne Wiese verwandeln und werde sie in süßen Schlummer versetzen. Dann werden sie die Pferde grasen lassen, aber sie selbst werden sich hinlegen und dort bleiben." Als der Starke das hörte, ergriff er schnell den Ring, kroch durch das Schlüsselloch hinaus, verwandelte sich wieder in einen Menschen zurück, sprang auf das goldene Pferd und jagte schnurstracks mit dem goldenen Hund und dem goldenen Hahn den Kameraden hinterher. Er erreichte sie und sagte kein Wort. Sie ritten und ritten — ja, und auf einmal war vor ihnen ein weißes Wirtshaus. Die 141
Kameraden waren ganz erpicht darauf hineinzugehen, aber der Starke erlaubte es ihnen um nichts in der Welt. Sie reiten weiter, es wird sehr heiß, so sehr brennt die heiße Sonne — man könnte denken, daß man verbrennt! Und da ist plötzlich ein kühles, kühles Bächlein, das kommt wie gerufen. Was nun? Die Kameraden empfinden es wie ein Geschenk Gottes, und sie wollen sofort trinken, aber der Starke erlaubt es ihnen um nichts in der Welt. Sie reiten weiter. Der Starke läßt sie sich umschauen, ob das Bächlein noch da ist. Sie schauen sich um — keine Spur vom Bächlein ist mehr zu sehen, und sie haben auch keinen Durst mehr. Aber nun erblicken sie plötzlich einen Birnbaum mit schönen Birnen. Zu gern möchten sie die essen, aber der Starke erlaubt es nicht. Sie reiten weiter — plötzlich erblicken sie eine Wiese, die ist voller Kleeblüten, und es überkommt sie eine so süße Müdigkeit, daß sie nicht mehr auf den Pferden sitzen können. Aber der Starke ermuntert sie mit aller Gewalt: „Hier wird nicht geschlafen, laßt uns weiterreiten!" Sie kommen zur Wegkreuzung, und sie wissen nicht, wo die Müdigkeit geblieben ist. Aber hier an der Wegkreuzung trennt sich der Starke von seinen Kameraden und sagt: „Nehmt jeder sein Pferd, seinen Hund und seinen Hahn und reitet, wohin ihr wollt, ich werde auch meines Weges reiten." Gut. Und dann kam der Starke zum König geritten, mit dem goldenen Pferd, dem goldenen Hund und dem goldenen Hahn, und er erhielt die Tochter des Königs zur Frau. 55
DIE F Ü N F BRÜDER
Eine arme Witwe verdingt schon früh vier ihrer Söhne als Knechte und behält nur den fünften bei sich. Trotz der dürftigen Nahrung wächst er wie ein Hirsch heran, und in seinem achten Lebensjahr wirft er bereits mit acht Scheffeln Getreide wie mit Federn um sich. Wie er nun ein junger Bursche ist, hat er erst recht unwahrscheinlich große Kräfte. Einmal fährt er ins Holz und schleppt lachend eine dicke Tanne mitsamt den Wurzeln nach Hause. 142
Ein anderes Mal, als er eine ähnliche Tanne herausreißt, trifft er im Wald einen Jäger mit einem Gewehr in der Hand und redet ihn freundlich an : „Nun, war dir das Jagdglück hold?" „Ich werde noch Glück haben", antwortet der Jäger. „Ich möchte heute abend noch hundert Meilen bis zu einer Eiche zurücklegen. Auf einem Ästchen dieser Eiche sitzt eine ganz kleine Mücke. Ihr will ich das linke Auge ausschießen und dann bei Sonnenuntergang nach Hause gehen." Als der Bursche das hört, begleitet er den Jäger. Unterwegs setzen sie ihr Gespräch fort, und es stellt sich heraus, daß sie Brüder sind. In der Freude über diese zufällige Begegnung legen sie geschwind dreißig Meilen zurück. Da treffen sie plötzlich einen mit der Mütze auf dem Ohr, der fröhlich pfeift. Wer froh ist, redet gern. So ist's auch diesmal — sie lassen den Pfeifenden nicht vorbei, sondern fragen ihn: „Warum tragen Sie denn die Mütze auf dem Ohr?" „Wenn ich die Mütze geraderücke, dann friert alles mögliche an den Häuserwänden und am Rand meiner Mütze an." Sie unterhalten sich, und es stellt sich heraus, daß auch er einer ihrer Brüder ist. Was soll er noch zögern — er schließt sich ihnen an. Wieder legen sie dreißig Meilen zurück und erblicken einen, der sich gerade die Schuhe auszieht. „Geht es sich denn barfuß besser?" fragen sie ihn. „Ja", antwortet er, „mir bleibt nichts anderes übrig, denn sobald ich den Schuh am Fuß habe, laufe ich gleich wer weiß, wohin." Auch er schließt sich ihnen an, und es stellt sich heraus, daß sie alle vier Brüder sind. Bei der neunzigsten Meile treffen sie einen, der seine Nase zugestopft hat. Sie fragen ihn: „Warum stopfst du dir die Nase zu?" Er antwortet: „Kaum sind meine beiden Nasenlöcher offen, da drehen sich auch schon sechs Windmühlen wie verrückt." „Nun, du bist bestimmt unser Bruder, denn der fünfte fehlt noch." Und in ihrem weiteren Gespräch stellt sich heraus, daß er es tatsächlich ist. Schnell legen alle fünf miteinander die letzten zehn Meilen zurück, schießen der Mücke das Auge aus und beschließen, noch vor Sonnenuntergang ihre alte Mutter zu besuchen. 143
Nachdem sie ihre Mutter besucht haben, machen sie sich zum König auf, um dort ihr Brot zu verdienen. Im Königsschloß erfahren sie, daß der König demjenigen die Prinzessin versprochen habe, der sie im Wettlauf besiege. „Da gibt's doch kein Zögern!" ruft der Bruder aus, der sich im Wald die Schuhe ausgezogen hat, und er ist bereit, mit der Prinzessin um die Wette zu laufen. Der König gibt beiden einen Krug und befiehlt ihnen, von der Quelle, wo die Sonne aufgeht, Wasser zu holen. Wird die Prinzessin in diesem Wettlauf besiegt, dann ist am nächsten Tag Hochzeit. Die Prinzessin läuft wie ein Rebhuhn, doch der Schuhauszieher hat schon längst Wasser aus der Quelle geschöpft und legt sich auf halbem Wege auf den Schenkelknochen eines alten Pferdes und schläft ein. Als die Prinzessin sieht, daß er eingeschlafen ist, stößt sie seinen Krug um und läuft zum König. Der Bruder, der gut schießen kann, weckt den Schlummernden jedoch sofort mit einem Schuß. Ganz flink, ohne erst den Schlaf aus den Augen zu reiben, ergreift der den Krug, läuft nochmals zur Quelle und ist dennoch als erster beim König. Aber der König gibt ihm die Prinzessin trotzdem nicht. Er feilscht und feilscht so lange herum, bis er ihn überredet, statt der Prinzessin einen Sack voll Goldmünzen zu nehmen, so schwer, wie er ihn nur tragen kann. Nun gut. Während sieben Schneider den Goldsack nähen, lockt der König die fünf Brüder in ein Zimmer, wo statt der Wände nur Öfen sind. Diese läßt er so stark heizen, daß das ganze Zimmer glüht. Der Mützenträger pfeift und sagt: „Macht nichts! Mögen sie doch heizen, soviel sie wollen, ich brauche ja meine Mütze nur geradezurücken, und im Nu wird's kalt sein." So geschieht's auch. Drei Tage und drei Nächte werden die Öfen geheizt. Sie bekommen schon Risse, aber das Zimmer bleibt kalt. Am dritten Tag wundert sich der König, doch der Sack ist soeben fertig geworden, und wohl oder übel muß er das Geld herausrücken. Er holt alles Geld aus einer Geldkammer — er holt es aus der zweiten Geldkammer, aber der Sack ist erst halbvoll. Jetzt leert er alle Geldkammern, und endlich füllt sich der Sack so einigermaßen. Der Träger nimmt den Sack, der ihm so leicht erscheint, als ob Spreu drin wäre, und dann verschwindet er. Der große Läufer und seine Brüder folgen ihm. Dem König tut natürlich das Geld leid. So ruft er schnell 144
seine Soldaten herbei und sendet sie aus, den Geldsack zurückzuholen. Da öffnet der große Bläser die Nasenlöcher und bläst die Soldaten davon, als ob sie Rauch wären. Nur ein Soldat, der sich an einer Baumwurzel verfangen hat, bleibt zurück. Man kann ihn heute noch sehen, wenn man von weitem den Baumstumpf betrachtet, den der Wind umgestürzt hat. 56
DER DUMMKOPF
Ein König hatte drei Söhne, zwei kluge und einen dummen. Und Nacht für Nacht wurde dem König ein Pferd gestohlen. Er schickte die klugen Söhne, die Pferde zu bewachen, aber es blieb dabei — nach wife vor wurde ein Pferd gestohlen. In der dritten Nacht ging der Dummkopf die Pferde bewachen. Gut — er setzt sich in eine Ecke und wartet. Er wartet und wartet — doch das Mondlicht beginnt ihm in die Augen zu scheinen, und sogleich umfangt ihn ein so süßes, ja ein so süßes Schlummergefühl, daß er kaum widerstehen kann. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu erheben und sich an einer anderen Stelle hinzusetzen. Kaum hat er es sich bequem gemacht, da öffnet sich die Stalltür, und ein großer, großer, weißer Bär kommt hereingestapft, nimmt sich das allerbeste Pferd, führt es fort und verschwindet unter einem großen Stein. Am Morgen erzählt das der Dummkopf dem Vater, und der läßt den Stein fortwälzen. Nachdem der Stein fortgewälzt ist, entdeckt man eine tiefe Höhle. Nun schmiedet der Dummkopf eine hundertfünfzig Klafter lange Kette und eine zwölf Pud schwere Keule, befestigt die Kette an seinem Körper und läßt sich durch ein Loch in die Tiefe hinab. Zuvor schärft er noch den Arbeitern des Vaters ein, daß sie ihn hochziehen sollen, wenn er unten die Kette bewegt. Er läßt sich hinab, aber die Kette ist noch um zwei Klafter zu kurz. Nichts zu machen — er springt einfach hinunter. Nun, und dann geht und geht er, und schließlich entdeckt er drei Kreuzwege. Er überlegt — er wird geradeausgehen. Gut. Er legt den halben Weg zurück und stößt auf ein silbernes Schloß, und in dem Schloß sind hundert Zimmer. Als er die Zimmer durchschritten hat, findet er im letzten Zimmer ein junges Mädchen. Sie sagt sogleich: „Dummkopf, Dummkopf, was suchst du hier?" 10
Lettische Volksmärchen
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„Ich suche die Pferde meines Vaters!" erwidert er. „Schon gut, schon gut! Doch laß dich nicht mit dem weißen Bären ein. Ich kann dir aber nichts Genaueres über ihn erzählen. Geh zu meiner jüngeren Schwester, sie wird dir alles erzählen." „Wie weit ist denn das von hier?" „Ungefähr zehn Werst, aber ehe du aufbrichst, nimm diesen silbernen Apfel von mir." Der Dummkopf nahm den silbernen Apfel und machte sich zur jüngeren Schwester im goldenen Schloß auf. In diesem Schloß waren zweihundert Zimmer. Als er die Zimmer durchschritten hat, findet er im letzten die jüngere Schwester. Sie sagt: „Du, Dummkopf! Was suchst du hier?" „Ich suche die Pferde meines Vaters!" „Schon gut, schon gut! Doch laß dich nicht mit dem weißen Bären ein. Ich kann dir aber nichts Genaueres über ihn erzählen. Geh zu meiner jüngsten Schwester, sie wird dir alles erzählen." „Wie weit ist denn das von hier?" „Etwa fünfzig Meilen; aber ehe du aufbrichst, nimm diesen goldenen Apfel von mir." Der Dummkopf nahm den goldenen Apfel und machte sich zur jüngsten Schwester im diamantenen Schloß auf. In diesem Schloß waren dreihundert Zimmer, und sie kam ihm sogleich durch die erste Tür entgegen: „Dummkopf, Dummkopf! Was suchst du hier?" „Ich suche die Pferde meines Vaters!" „Schon gut, schon gut! Doch laß dich nicht mit dem weißen Bären ein. Er ist sechzig Klafter lang und fünfzig Klafter hoch, sein Fell ist so dick, daß du dich darin verstecken kannst. Aber wenn du dennoch vorhast, mit ihm zu kämpfen, dann warte, bis er sich schlafen legt. Während er schläft, krieche nur an seinem weißen Kopf hinauf, krieche nur hinauf bis zu seinem rechten Ohr. Im Ohr hat er den Kellerschlüssel versteckt. Nimm den Schlüssel, krieche hinunter, geh in den Keller, schließ die Tür auf — dort findest du zwei Kübel: Im rechten Kübel ist der Kräftetrank, im linken — der Schwächetrank. Vertausche die Kübel und trinke drei Schluck vom Kräftetrank, nicht mehr und nicht weniger! Wenn du weniger trinkst, wirst du nicht so viel Kraft erhalten, wie du für den Kampf brauchst; wenn du mehr trinkst, werden dir die Kräfte schwinden, die du bereits hattest. Wenn du all das getan hast, lege den Schlüssel zurück in das Ohr. Nun, und jetzt mach dich ans Werk, aber bevor du aufbrichst, nimm diesen diamantenen Apfel von mir!" Nachdem der Dummkopf diese Kunde erhalten hatte, zögerte 146
er nicht länger, sondern paßte auf, bis der weiße Bär heimkam, und dann wartete er, bis er sich schlafen legte. Der Bär trottete heim, er legte sich schlafen — war das ein Bär! So groß wie eil} richtiger Berg! Ein schneebedeckter Berg! Fürwahr — er sah eher einem verschneiten Berg als dem Tier ähnlich, das der Dumme gesehen hatte. Nachdem sich der Bär hingelegt hatte und eingeschlafen war, stieg der Dummkopf am Kopf des weißen Bären bis zu seinem Ohr hinauf, nahm den Schlüssel, schloß den Keller auf, trank drei Schluck, vertauschte die Kübel, legte den Schlüssel ins Ohr zurück, und dann schwang er seine zwölf Pud schwere Keule, um sie zunächst einmal auf die Stirn des Bären zu schleudern. Als er die Keule schwang, merkte er selbst, daß seine Kräfte durch den Trank gewaltig zugenommen hatten. Die schwere Keule erschien so leicht wie ein Spielzeug. Ja, und so schlug er damit auf die Stirn des Bären, aber der Bär bewegte sich nach diesem Schlag nur ein ganz klein wenig und rief: „Verschwinde, du Bremse, warum stichst du mich!" Der Dummkopf erkannte: Der Bär hatte einen zu festen Schädel! Deshalb kroch er ein wenig hinab und begann dem riesigen Bären die Seite zu verbleuen. Er verbleute und verbleute ihn, ja er brach ihm sogar eine Rippe. Als er ihm die Rippe brach, brummte cier Bär vor Zorn entsetzlich, sprang auf, drehte den Kopf um und erblickte den Dummkopf mit der Keule. Nun schrie mein Bär aus voller Kehle: „Du Knirps, was machst du mit mir? Jetzt wird es dir gleich schlecht ergehen!" Mutig erwidert der Dumme: „Mag es mir ergehen wie auch immer, wenn ich nur zu trinken bekomme!" Kaum hat er das Wort „trinken" ausgesprochen, da fließt dem Bären, weißt du, beim Gedanken an den Kräftetrank im Keller das Wasser im Munde zusammen. Sie schließen einen Waffenstillstand und wollen beide trinken gehen. Sie kommen in den Keller — der Bär stürzt sich wie ein Nimmersatt auf den Kübel, in dem sich zuvor der Kräftetrank befunden hat, in dem aber nun der Schwächetrank ist. Der Bär trinkt und trinkt — drei Riesenschlucke nacheinander; aber der Dummkopf tut nur so, als ob er trinke — seine drei Schluck hatte er ja bereits getrunken, wozu soll er noch mehr trinken? Und als nun der Weiße getrunken hatte, wurde er zusehends schwächer, um die Hälfte kleiner, ja man kann sogar sagen magerer. 10*
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Nun begannen sie miteinander zu raufen. Der Dummkopf macht nur einen Griff. Kaum hat er dem Bären mit der Keule auf die Vorderpfote geschlagen, da ist schon seine Pfote kreuzweise zerschmettert. Der Bär stürzt hin, und jetzt kann ihn der Dummkopf leicht töten. Nun, wozu soll er sich noch Sorgen machen? Sofort holt er die drei Schwestern und führt sie an das Loch, damit sie hinaufgezogen werden. Die Mädchen werden hochgezogen. Nun müßte sich der Dummkopf an der Kette befestigen, aber plötzlich schießt ihm ein Gedanke durch den Sinn: Wer weiß, wie übermütig jene sind, die mich hochziehen sollen? Vielleicht ziehen sie mich nur bis zur Hälfte hoch und lassen mich dann hinunterstürzen, damit ich umkomme? Ich werde deshalb einen Stein an die Kette binden, dann werde ich ja sehen, was sie im Sinn haben. Er befestigte den Stein, und wirklich — kaum war der Stein bis zur Hälfte hochgezogen, da drehte er sich und stürzte hinab. Was sind das für Menschen! Sie trachten dem Dummkopf nach dem Leben. Aber zum Glück haben sie ihr Ziel nicht erreicht. Ja, und so überlegte der Dummkopf, der sich dort unten selbst überlassen war. Was nun? Hinauf komme ich nicht mehr, nun muß ich mich hier unten ein wenig umsehen. Er geht auf denselben Spuren zur Wegkreuzung zurück. Als er dort ankommt, beschließt er, links abzubiegen. Aber er ist noch nicht weit gegangen — da sieht er plötzlich einen Wald, und mitten im Wald eine Lichtung. Auf der Lichtung steht eine Rieseneiche. Auf der Rieseneiche ist ein Nest, und im Nest sind kleine Adler. Er denkt — wozu soll ich noch weitergehen? Bald wird es dunkel sein — ich werde in den buschigen Ästen der Eiche übernachten. Gut. Er schläft und schläft — es mag etwa um Mitternacht sein —, da hört er etwas zischen. Er schaut genau hin und sieht: Eine große Schlange kriecht auf die Eiche hinauf und streckt ihren Kopf gierig nach den jungen Adlern aus. Da ergreift der Dummkopf seine zwölf Pud schwere Keule, und kaum hat er damit der Schlange aufs Maul gehauen — da ist sie hin. Und das hatte sie auch wirklich verdient, denn was sucht sie dort, diese Vogelschlingerin! Im Morgengrauen eilt die Adlermutter heim — sie fragt und fragt sofort ihre Jungen: „Was ist das hier für ein fremder Geruch? Und wer hat diese Riesenschlange erschlagen?" Die Jungen antworten: 148
„Hier in den Ästen der Eiche schläft der Dummkopf, der diese Schlange ganz einfach mit der Keule erschlagen hat." „Ja, dann mag er nur ausschlafen!" Kurz nach der Adlermutter eilt der Adler selbst heim: „Was ist das hier für ein fremder Geruch? Und wer hat diese Schlange erschlagen?" „In den Ästen der Eiche schläft der Dummkopf, der hat die Schlange mit seiner Keule erschlagen!" Als der Adler das hörte, rief er den Dummkopf zu sich: „Komm her, Dummkopf! Was wünschst du dir dafür, daß du meine Kinder vor der Schlange gerettet hast?" „Ich wünsche mir nur eins — bringe mich von hier auf die Oberwelt, wenn du so stark sein solltest." „Ich bin so stark, und ich werde es gern tun. Ich werde dich über das weite Meer in dein Land tragen!" „Gut, gut!" erwiderte der Dummkopf, „aber laß mich dich ein wenig prüfen, damit ich sehe, ob du es schaffst oder nicht, mich über das Meer zu tragen." Als er das gesagt hatte, versetzte er mit der zwölf Pud schweren Keule dem Adler einen Schlag geradewegs auf die Rippen, daß es nur so krachte, aber die Keule prallte vom Körper des Adlers mit einer solchen Wucht zurück, daß man annehmen mußte, er hätte auf einen Stein und nicht auf einen Vogel geschlagen. Es schien, als hätte der Adler den Schlag kaum gespürt, aber dennoch wurde er wütend und wetterte: „Fang nicht mit mir an! Ich bin nicht der weiße Bär, schließe lieber Frieden mit mir!" Sie schlössen Frieden. Nun sagte der Adler: „Wenn du mir zwölf Fässer Wein und zwölf gutgenährte Ochsen beschaffst, dann kann ich dich über das weite Meer bringen." Nichts zu machen — er mußte den Wein und die Ochsen beschaffen. Er ging und kam zum Meeresstrand, dort traf er einen Fischer. Der Fischer sagte: „Verdinge dich bei mir als Knecht, wenn du mir brav dienst, wirst du dir den Wein und die Ochsen verdienen." Gut. Er verdingte sich bei ihm. Eines Tages mußte der Dummkopf mit Strömlingen, die der Fischer gefangen hatte, in die Stadt fahren. Er kommt in die Stadt — alle Leute rufen: „Schlimm, schlimm!" „Was ist schlimm?" fragte der Dummkopf. Sie antworten: 149
„Was schlimm ist? Morgen wird die älteste Tochter des Königs dem Teufel übergeben!" Der Dummkopf sagte: „Nur das nicht — nur nicht die Tochter dem Teufel übergeben!", und er macht sich auf, um in der Nacht auf den Teufel zu warten. Dort war nur eine einzige Brücke. Der Dummkopf verkriecht sich darunter und wartet auf den Teufel. Er wartet und wartet — da kommt gegen Mitternacht der Teufel mit drei Köpfen, und Hunde laufen vor ihm her. Sie kommen zur Brücke, bleiben stehen — sie gehen nicht hinüber, aber der Teufel schreit sofort aus vollem Halse: „Dummkopf, kriech unter der Brücke hervor! Andernfalls wird es dir schlecht ergehen!" Der Dummkopf kriecht unter der Brücke hervor, und kaum hat er mit der Keule einmal ausgeholt und den Hunden eins versetzt, da sind sie hin, und kaum hat er noch einmal ausgeholt und dem Teufel eins versetzt, da ist auch der hin. So wurde die Königstochter gerettet, und der Dummkopf geht lachend nach Hause. Anderntags fahrt der Dummkopf wieder in dieselbe Stadt und hört, wie alle Leute rufen: „Schlimm, schlimm!" „Was ist schlimm?" „Ja, morgen wird die mittlere Tochter des Königs dem Teufel übergeben!" „Nur das nicht!" erwidert der Dummkopf und erschlägt an der Brücke auch den zweiten Teufel, der sechs Köpfe hatte. Nicht lange darauf fahrt der Dummkopf wieder mit Strömlingen in dieselbe Stadt und hört, wie alle Leute rufen: „Schlimm, schlimm! Ganz schlimm!" „Was ist schlimm?" „Ja, morgen müssen wir die jüngste Tochter des Königs dem Teufel übergeben!" „Nur das nicht — nur nicht die Tochter dem Teufel übergeben!", und er macht sich auf, um in der Nacht auf den Teufel zu warten. Gegen Mitternacht kommt der Teufel mit zwölf Köpfen, und Feuer rast ihm voran. Das Feuer erreicht die Brücke, aber gelangt nicht hinüber. Der Teufel schreit lauthals: „Dummkopf, kriech unter der Brücke hervor! Andernfalls wird es dir schlecht ergehen!" Der Dummkopf kriecht unter der Brücke hervor, aber er kann und kann nicht an den Teufel herankommen. Nichts zu machen — der Dummkopf reißt sich alle Kleider vom Leibe, deckt 150
sie über das Feuer und trampelt und tritt mit den Füßen so lange darauf herum, bis er das Feuer gelöscht hat. Danach erhob er die Keule und versetzte dem Teufel einen solchen Schlag, daß alle zwölf Köpfe auf einmal hin waren. Nachdem er nun den Teufel getötet hat, geht er fröhlich in die Stadt zurück und sagt zum König: „Nun sind alle deine Töchter gerettet!" Der König — man kann es nur zu gut verstehen — ist über alle Maßen froh und verspricht, dem Dummkopf alles zu geben, was er sich nur wünscht, sogar die ganze Stadt und die jüngste Tochter zur Frau. Aber der Dummkopf will nichts anderes als nur zwölf Fässer Wein und zwölf gutgenährte Ochsen. Gut — er bekam die Ochsen, er bekam den Wein, und so ausgestattet, begibt er sich zum Adler. Der Adler befiehlt ihm, das Fleisch links auf seinen Rücken zu laden und den Wein rechts. Dem Dummen gebietet er, sich in die Mitte zu setzen, und er schärft ihm ein: „Wenn ich meinen Kopf auf die linke Seite drehe, dann wirf mir ein Stück Fleisch in den Schnabel, wenn ich ihn auf die rechte Seite drehe, dann reiche mir Wein zum Trinken!" Gut. Und nun erhob sich der Adler in die Luft und eilte nur so übers Meer, übers Meer hin, tagelang und nächtelang. Schließlich fehlt es an Fleisch, es fehlt an Wein; er dreht den Kopf auf die eine Seite — es ist nichts mehr da, er dreht ihn auf die andere Seite — es ist nichts mehr da, und nun wird er immer schwächer, so daß er dort schon fast ins Meer gestürzt wäre. Der Dummkopf sieht, daß es nicht gut enden wird — er schneidet sich selbst die Wade aus einem Bein und wirft sie dem Adler in den Mund. Nachdem der den Bissen verschlungen hat, erhebt er sich gleich höher in die Luft, und nun ist das Ufer schon von fern zu sehen. Jetzt wird es dem Dummen bereits ganz froh ums Herz. Nun werden wir die Küste doch erreichen! Aber vergebens! Ungefähr eine Werst vor der Küste stürzt der Adler ins Meer. Zum Glück ist das Wasser an dieser Stelle nicht mehr tief, so daß beide wohlbehalten und gesund ans Land gelangen. Der Adler fragt: „Warum hinkst du?" „So und so — das Bein hat keine Wade mehr — ich habe sie herausgeschnitten, damit du etwas zu fressen hattest." Als der Adler das vernimmt, behaucht er die Wunde am Bein. Die Wunde heilt, und alles ist wieder gut. Nun besorgt der Dummkopf für den Adler wieder einen 151
Ochsen im Wald am Meeresufer, füttert ihn tüchtig, und dann trennen sich die beiden: Der Adler kehrt zurück in die Unterwelt, und der Dummkopf eilt zu seinem Vater. Er kommt zum Vater, aber niemand erkennt ihn wieder, weil er, als er sich in der Unterwelt herumtrieb und mit dem zwölfköpfigen Teufel kämpfte, seine Kleider verbrannt hatte, um das Feuer zu ersticken. Was soll er nun tun? Er denkt: Wenn man mich nicht erkennt, wenn mich niemand mehr kennt, dann lasse ich mich eben am Rande des Waldes meines Vaters in einer einsamen, kleinen Hütte als Schuster nieder und werde in aller Stille leben, bis mir eine bessere Arbeit einfallt. Und so lebt und lebt er nun. Da weint eines Tages die jüngste Schwester der geretteten Töchter aus der Unterwelt, sie sehnt sich nach ihren diamantenen Schuhen, die sie in der Unterwelt getragen hat. (Alle drei geretteten Töchter waren in das Schloß vom Vater des Dummkopfes gebracht worden.) Der König fragt seine beiden klugen Söhne: „Kann denn niemand auf der Welt solche diamantenen Schuhe anfertigen?" Die klugen Söhne antworten: „Wer soll das schon können!" Aber da war ein gescheiter Diener, der sagte: „Ich kenne wohl einen klugen, gescheiten Schuster hier am Rande unseres Waldes. Sollte er das nicht können?" Als die jüngste Tochter das gehört hat, eilt sie sofort an den Waldrand zu dem Schuster. Sie kommt hin, beginnt mit ihm zu sprechen — ja, das ist doch der Dummkopf, ihr Retter. Sie erkennen sich und fallen einander gleich um den Hals. Sie begrüßen sich, und auf einmal sagt der Dummkopf: „Du wolltest deine diamantenen Schuhe haben? Hier sind sie, ich habe sie bewahrt und gehütet, von der Unterwelt bis in diese Hütte habe ich sie stets bei mir getragen, wohin ich auch immer ging, was ich auch immer tat." Und nun geht der Dummkopf mit der jüngsten Tochter heim zum Vater, und der Vater richtet den beiden die Hochzeit aus. Am Hochzeitsmorgen führt der Dummkopf alle zu einem Spaziergang in den Garten. Während sie so hin und her gehen, nimmt der Dummkopf plötzlich das silberne Äpfelchen, das er in der Unterwelt bekommen hat, aus der Tasche und wirft es nach links — aus 152
dem silbernen Apfel entsteht im Nu ein schönes, silbernes Schloß. Dann nimmt er den goldenen Apfel heraus, wirft ihn nach rechts — im Nu steht ein goldenes Schloß da. Er nimmt den diamantenen Apfel heraus, wirft ihn mitten in den Garten — im Nu steht ein diamantenes Schloß da. Nun nimmt der älteste Bruder noch am selben Tag die älteste der geretteten Schwestern zur Frau, und sie leben im silbernen Schloß; der zweite Bruder nimmt sich die mittlere Schwester, und sie leben im goldenen Schloß; der Dummkopf aber lebt mit seiner Braut, der jüngsten Schwester, mitten im Garten — im diamantenen Schloß. 57
DIE TOCHTER DES KÖNIGS VON SEMGALE
Vor vielen Jahrhunderten stand am Ufer der Daugava ein prächtiges Schloß. In diesem Schloß lebte ein mächtiger König, dem ein großes Reich gehörte. Er beschützte nicht nur seine Untertanen aufs beste, sondern er sorgte auch gütig und liebevoll für sie. Auf das Wohlergehen seiner Untergebenen war er so bedacht wie ein Vater auf das seiner Kinder. Die Untertanen waren ihm daher auch gehorsam und treuergeben. Jener König hatte eine einzige Tochter, die wegen ihrer Schönheit Schönchen hieß. Der König liebte sie sehr und behütete sie wie seinen kostbarsten Schatz. Manchmal wollte Schönchen die Umgebung des Schlosses aufsuchen und dessen Lieblichkeit und Schönheit bewundern und auch den herrlichen Liedern der Vöglein lauschen. Aber ihr Vater, der mächtige König, erlaubte ihr um keinen Preis, diese Freude zu genießen — nicht etwa, weil er hartherzig gewesen wäre, sondern aus großer Liebe, denn er fürchtete sehr, daß seinem Kinde ein Unglück widerfahren könne. Und Schönchen mußte dem Befehl ihres Vaters Folge leisten, wenn ihr das auch leid tat. So behütet, war sie zu einer großen und schönen Prinzessin herangewachsen. Es war an einem herrlichen Sommertag. Die liebe Sonne schien hell und wärmte freundlich die Erde. Die Blumen hatten ihren schönsten Schmuck angelegt und erfüllten die ganze Luft mit wohltuendem, lieblichem Duft. Schönchen konnte, am geöffneten Fenster zwar etwas von dieser Schönheit der Natur wahrnehmen, aber ihr Herzchen war damit nicht zufrieden. Sie bat ihren Vater, daß er ihr gestatte, wenigstens im Schloßgarten 153
spazierenzugehen. Anfangs wollte der Vater das nicht erlauben, aber schließlich gestattete er es ihr doch. Schönchen konnte ihrem Vater dafür gar nicht genug danken, denn sie war sehr glücklich. Sie betrat mit ihren Begleiterinnen den Garten und setzte sich auf eine schöne Rasenbank. Da sie nun aber die lieblichen, kleinen Vögelchen, die am Ufer des Flusses hinter dem Gartenzaun ihre Liedlein zwitscherten, besser sehen wollte, sagte sie zu ihren Begleiterinnen: „Bleibt hier! Ich gehe auf ein Weilchen dort hinunter, um mir den schönen Sänger anzuschauen." Die Begleiterinnen gestatteten es ihr auch gern. Leichten Schrittes begab sich Schönchen durch die kleine Gartenpforte zum Ufer des Flusses und hoffte, ihr Ziel zu erreichen. Am Ufer des Flusses angekommen, ging sie ohne zu überlegen immer weiter. In kurzer Zeit hatte sie sich so weit entfernt, daß das Schloß nicht mehr zu sehen war. Sie merkte zwar, daß es an der Zeit war, den Rückweg anzutreten, aber die Ärmste wußte nicht, in welcher Richtung sich das Schloß befand, und so irrte sie umher und ging in eine andere Richtung und entfernte sich immer weiter vom Schloß. Da die Begleiterinnen der Prinzessin um ihren Liebling in Sorge gerieten, begaben sie sich auf die Suche nach ihr. Aber ach! Wie erschraken sie, als sie Schönchen am Ufer des Flusses nicht fanden! Zwar schrien und riefen sie, aber auf ihre Rufe antwortete nur der starke Wind, der die Bäume beugte. Nach langem Suchen kehrten die Begleiterinnen aufs Schloß zurück und überbrachten dem König die traurige Nachricht. Als der König das hörte, wollte er vor Gram und Furcht fast sterben. Sofort wurden alle Leute auf die Suche geschickt. Inzwischen hatte sich Schönchen gerade ganz weit vom Schloß entfernt und war schon von großer Angst erfüllt, weil sie das Schloß nicht finden konnte; aber ihre Angst wurde noch größer, als sie eine schreckliche Wolke erblickte, die sich ihr mit großer Geschwindigkeit näherte, Bäume umwarf und die Dächer der Gebäude abdeckte. Um sich vor dem Sturm zu retten, stieg sie in einen kleinen Käfig, den sie aus Tannenrinde gemacht hatte. Aber als der Sturm losbrach, wurde Schönchen mitsamt dem kleinen Käfig in* eine fremde, unbekannte Gegend getragen. Vergeblich suchten die Leute aus dem Schloß die Prinzessin; denn keinem war es geglückt, Schönchen zu finden. Der König, von Gram gebeugt, versprach demjenigen, der 154
Schönchen fände, einen hohen Lohn und auch Schönchen selbst zur Frau. Als die Jünglinge aus Semgale davon Kunde erhielten, wollten sie sich auf die Suche begeben; denn jeder wollte in den Genuß des Ehrenlohnes kommen, aber am meisten von allen wünschte sich das der schöne Diener des Königs. Er ging zum König und bat ihn zu gestatten, daß er mit einigen Begleitern die Prinzessin suche. Er werde sie schon finden. Der König erlaubte es ihm auch gern. Mit drei Weggefährten machte sich der Diener auf die Suche. Nachdem sie einige Meilen zurückgelegt hatten, lagerten sie bei einem kleinen, leeren Häuschen mitten im Walde, denn der Diener wollte vor allem diese Gegend durchsuchen. Bei Sonnenuntergang betraten sie das Häuschen. Am nächsten Tag ließ der Diener einen Begleiter im Haus zurück, damit er das Essen kochte und die Sachen bewachte, aber mit seinen beiden anderen Begleitern begann er zu suchen. Während der im Haus zurückgelassene Begleiter um die Mittagsstunde das Essen kocht, kommt ein Bettler mit einem grauen Bart ins Haus und bittet herzlich um einen Bissen Brot. Der Alte stützt sich auf einen dicken, knorrigen Stock und scheint sehr kraftlos zu sein. Der Koch erbarmte sich seiner und gab ihm ein Stückchen Brot und Fleisch. Aber der Bettler, dieser Schelm, wirft das Stückchen Brot auf die Erde, ohne daß der Koch das merkt, und klagt, daß es ihm hinuntergefallen sei und er sich nicht selbst bücken könne, um es aufzuheben. Der Koch bückte sich und wollte dem Bettler das Brot wiedergeben. Aber kaum hat er das Stück Brot berührt, da beginnt ihn der kraftlose Bettler mit seinem knorrigen Stock zu schlagen. Der Koch blieb, entsetzlich verprügelt, auf der Erde liegen, doch der Bettler war inzwischen schon verschwunden. Als der Koch wieder zu sich kam, erblickte er seine Gefährten, die von der Suche bereits zurückgekehrt waren. Der Koch jammerte nun, daß er ganz krank sei, denn er verschwieg, daß der Bettler ihn verprügelt hatte. Am zweiten Tag ließen sie den zweiten Gefährten als Koch zu Hause, und ihm erging es mit dem bärtigen Bettler keineswegs besser als dem ersten. Aber auch er erzählte seinen Gefährten nicht, daß der Bettler ihn verprügelt hatte, sondern er klagte ebenfalls nur, daß er krank sei. Am dritten Tag blieb der dritte Gefährte als Koch im kleinen Häuschen. Aber auch ihm erging es nicht besser; denn er 155
machte eine noch eingehendere Bekanntschaft mit dem knorrigen Stock als die beiden anderen. Als der Diener nach Hause kam, konnte er sich ganz und gar nicht denken, warum nur seine daheim gelassenen Begleiter krank werden. Am vierten Tag beschloß er, selbst zu Hause zu bleiben, und er schickte seine geschwächten Gefährten allein los, um Schönchen zu suchen. Um die Mittagsstunde begann der Diener mit dem Kochen. Auch an diesem Tag schlich sich der greise Bettler in das kleine Häuschen, denn er dachte, daß es mit dem Anführer noch besser klappen müßte als mit seinen Helfern. Zu Beginn verlief alles wie bisher. Auch an diesem Tag bekam der Bettler ein Stückchen Brot und Fleisch. Aber kaum warf der Bettler das Brot auf die Erde, da fing der Diener, der die Tücke des Bettlers durchschaut hatte, an, ihm eine gründliche Lehre zu erteilen. Zwar bat ihn der Alte inständig, mit dem Prügeln aufzuhören, aber der Diener ließ sich nicht erweichen. Er bezahlte ihm den verdienten Lohn und ließ ihn kaum noch am Leben. Er wollte den Bettler nicht eher weglassen, bis die Gefährten zurückgekehrt waren. Aber wie sollte er ihn inzwischen bändigen? Selbst bei ihm zu bleiben, hatte er keine Zeit, denn wegen des Kochens mußte er viele Male hinausgehen, und unglücklicherweise war auch kein Strick da, mit dem er den Bettler hätte anbinden können. Schließlich hatte der Diener einen guten Einfall. Er fertigte einen großen Keil an, und ob der Bettler wollte oder nicht, der Diener klemmte damit seinen Bart in den Klotz, auf dem er soeben Fleisch gehackt hatte. Nachdem er den Bettler auf diese Weise angebunden hatte, konnte er selbst hinausgehen, wann er wollte. Wie er aber einmal eine Weile draußen geblieben ist und wieder hereinkommt, fehlt von dem Bettler jede Spur, nur sein langer, grauer Bart ist in dem Klotz geblieben. Der Diener versteckte den Bart des Armen sorgfaltig in seiner Reisetasche und schwieg über sein Erlebnis ebenso, wie seine Gefährten geschwiegen hatten. Da er in dieser Gegend nicht mehr länger bleiben wollte, brach er mit seinen Begleitern am nächsten Morgen nach einem anderen Ort auf, und sie setzten dort ihre Suche fort. Da entdeckten sie mitten in einem großen Wald eine tiefe, tiefe Höhle. Weil sie neugierig waren zu erfahren, was sich auf dem Grund der Höhle befand, überlegten sie nicht lange und 156
beschlossen, sich in die Höhle hinunterzulassen und sie sich genau anzusehen. Nachdem sie aus Bast ein langes Seil und aus kleinen Weidenruten einen großen Korb geflochten hatten, banden sie das Seil an den Korb. Einer der Begleiter setzte sich nun in den Korb, und die anderen ließen ihn in die Höhle hinab. Er hatte noch nicht die Hälfte erreicht, da schrie er schon, daß sie ihn schnell hinaufziehen sollten; denn man könnte es nicht längere Zeit in der Höhle aushalten. Ebenso erging es den anderen Begleitern, als sie in die Höhle hinuntergelassen wurden. Zuletzt ließ sich der Diener selbst in die Höhle hinunter, und ihm glückte es, ganz unversehrt bis auf den Grund der Höhle zu gelangen. Wie er so im Finsteren umhertappte, fand er eine Türklinke. Er drückte sie, und plötzlich leuchtete ihm Tageslicht entgegen, denn die Tür hatte sich geöffnet, und er erblickte eine schön eingerichtete Kammer. Darüber war er sehr erstaunt; aber sein Staunen wuchs noch, und er erschrak vor Freude, als er das gesuchte Schönchen am Fenster sitzen sah. Als sie den Diener erblickte, wurde sie ganz blaß und sagte: „Ach, lieber Diener, mach, daß du fortkommst. Wenn mein Wächter erscheint, wird er dich sofort umbringen." Aber der Diener zückte sein Schwert und sprach: „Mag er nur kommen! Ich möchte diesen Kerl gern kennenlernen!" Es dauerte auch nicht lange, da erschien ein gewaltiger Riese mit zwei Köpfen, der mehr einem Tier als einem Menschen glich. Der Riese stürzte sich auf den Diener und wollte ihn gleich verschlingen. Aber der Diener versetzte ihm mit seinem gewaltigen Schwert einen so starken Hieb, daß beide Köpfe des Riesen wie Knöpfe herunterfielen. Die erste Heldentat war glänzend gelungen, und so wurde der Diener noch kühner. Er schnitt die Zungen aus den beiden Köpfen heraus und versteckte sie in seiner Reisetasche. Nun bat Schönchen den Diener, daß er fortgehen solle, und sie sagte: „Jetzt wird der Kerl mit den fünf Köpfen kommen. Dem wirst du wirklich nicht entrinnen. Er wird dich erbarmungslos zerfleischen." Aber der Diener ließ sich nicht abschrecken. Er mußte auch nicht lange warten, bis der erwähnte Fünfköpfige, Feuer speiend, hereinkam. 157
Der Diener begann sofort mit ihm zu kämpfen und überwältigte auch den schrecklichen Fünfköpfigen. Dann schnitt er aus allen fünf Köpfen die Zungen heraus und versteckte sie sorgfaltig in seiner Reisetasche. Aber nun begann Schönchen unter Tränen und Händeringen den Diener innig anzuflehen, daß er die Flucht ergreifen sollte, denn jetzt würde der gewaltige Riese mit zwölf Köpfen erscheinen. Der Diener erwiderte: „Mag er nur kommen! Ich bin bereit, ihn zu begrüßen." Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da stolperte der Vielköpfige durch die Tür herein. Diesmal war der Kampf bei weitem heftiger, und der Diener überwältigte den schrecklichen Riesen nur mit großer Mühe. Als Schönchen das sah, rief sie in ihrer großen Freude aus: „Jetzt bin ich gerettet! Nun müssen wir uns vor nichts mehr furchten!" Der Diener schnitt auch diesem Vielköpfigen die Zungen heraus und bewahrte sie als Erinnerung auf. Ohne zu zögern, hob er nun die Prinzessin in den Korb und gab durch Ziehen am Seil den Gefährten ein Zeichen, daß sie den Korb hochziehen sollten. Schönchen wurde auch glücklich hochgezogen. Nun mußte sich der Diener selbst in den Korb setzen, aber er tat es nicht gleich. Da er seine Begleiter auf die Probe stellen wollte, ob sie nicht beabsichtigten, ihn zu töten und sich dann selbst als Schönchens Retter auszugeben, legte er — statt selbst hineinzusteigen — einen Stein in den Korb. Und sieh da! Er hatte sich nicht geirrt, denn nachdem der Korb bis zur Hälfte hochgezogen war, fiel er gleich wieder herunter. Wenn der Diener jetzt selbst im Korb gesessen hätte, wäre er erschlagen worden, so aber war er gesund und unversehrt. Der Diener wurde von unsagbarem Schrecken erfüllt, daß er nun in diesem Gefängnis einen qualvollen Tod erleiden würde. Noch größer waren seine Angst und Trauer, weil er sah, daß ihm die herzlich geliebte Prinzessin jetzt wieder entrissen war. Die Begleiter glaubten, daß der Diener auf dem Grund der Höhle schwer verletzt sein Leben beenden würde, und sie zogen frohlockend von dannen, obwohl Schönchen sie weinend anflehte, ihren Retter nicht im Stich zu lassen. Aber das rührte die Begleiter nicht. Einer wie der andere hoffte vom König den Ehrenlohn zu empfangen, obwohl ihn keiner verdient hatte. 158
Als sie ein Stück gegangen waren, legten sie sich hin, um zu übernachten. Beim Hinlegen nahm sich jeder von ihnen vor, in der Nacht aufzustehen und Seine Gefährten aus der Welt zu schaffen. Einem von ihnen gelang das auch. Als er nun mit Schönchen allein geblieben war, ging er raschen Schrittes vorwärts, und nach kurzer Zeit erreichte er das Schloß des Königs. Welche Freude und Fröhlichkeit herrschten im Königsschloß und im ganzen Reich, als bekannt wurde, daß Schönchen wieder daheim war! Alle erwiesen ihrem Retter große Ehre, obwohl Schönchen weinend erzählte, er sei ein Spitzbube und richtiger Mörder. Als man ihn fragte, wo seine Gefährten geblieben seien, wand er sich hin und her und war um keine Antwort verlegen. Von dem Diener erzählte er, daß er sich saufend und stehlend herumtreibe. Der König veranstaltete einen großen Hofball und hatte schon den Tag bestimmt, an dem sich Schönchen mit ihrem Retter vermählen sollte. Schönchen wurde über diese Nachricht so traurig, daß sie lieber sterben wollte, als solch einen Ehrentag zu erleben. Als der Diener, Schönchens eigentlicher Retter, verzweifelt dort in der Höhle erwachte, ging er in dieselbe Kammer, wo er Schönchen gefunden hatte. Er schaute sich gründlich um und erblickte eine geheime Seitentür. Nachdem er sie geöffnet hatte, sah er einen alten Mann auf einem Stuhl sitzen. Er betrachtete ihn genau und erkannte in ihm denselben Bettler, der in jenes Häuschen gekommen war, wo er den Bart zurückgelassen hatte und von wo er ausgerissen war. Der Diener zückte sein Schwert, bedrohte den Alten und verlangte von ihm, herausgelassen zu werden. Der Alte versprach das und bot ihm dazu noch viel Geld an, wenn er ihn nur am Leben lasse. Er gab ihm wirklich eine Menge Gold- und Silbergeld, so daß es der Diener kaum tragen konnte. Dann ließ ihn der Alte aus Angst vor dem blinkenden Schwert hinaus. Der Diener traf im Schloß des Königs gerade in dem Augenblick ein, als Schönchens Hochzeit begann. Vor Gram war er ganz von Kräften gekommen und konnte sich nicht so schnell als Schönchens Retter zu erkennen geben. Schließlich erkannte ihn der König zwar, aber nach den Worten des hinterlistigen Begleiters hielt er ihn für einen Herumtreiber und Spitzbuben. 159
Doch Schönchen gab keine Ruhe, sie warfsich vor dem Vater auf die Knie und bat ihn innig, daß er von beiden Rettern ein Zeichen verlangen solle, um sich zu überzeugen, wer der eigentliche Retter war. Der König stimmte zu, und der Begleiter wurde ganz blaß, denn er hatte kein Zeichen. Der König merkte das und wurde schon argwöhnisch. Nun sollte der Diener ein Zeichen vorweisen. Er stellte sich vor den König und alle Schloßbewohner hin und erzählte mit deutlichen, schlichten Worten alles, was geschehen war. Aber um seine Erzählung zu bekräftigen und zu bestätigen, daß er nichts als die reine Wahrheit gesprochen habe, zog er aus seinem Reisebeutel den grauen Bart, neunzehn Zungen und auch das Gold- und Silbergeld, das er zuletzt noch von dem alten Kerl bekommen hatte. Schönchen hatte das alles auch schon ganz ausführlich erzählt. Und da die Worte des Dieners mit der Erzählung Schönchens übereinstimmten, zweifelte der König nicht länger und erkannte den Diener als den eigentlichen Retter an. Als Schönchen das sah, fiel sie ihrem Retter um den Hals, denn bis jetzt hatte sie das nicht tun dürfen. Der König weinte Freüdentränen, gab dem jungen Paar seinen Segen und wünschte ihm alles Gute. Den falschen Retter verurteilte der König wegen seines Betruges und seiner Mordtaten zum Tode, aber auf Schönchens Bitte hin wurde ihm die Todesstrafe erlassen, und man warf ihn auf Lebenszeit in den Kerker. Der König war sehr glücklich, und er richtete die Hochzeit seiner Tochter noch großartiger aus, worüber sich auch alle seine Untertanen freuten. Da der König von Semgale kein anderes Kind mehr hatte als nur diese einzige Tochter, so wurde der Diener schließlich zum Herrscher des mächtigen Semgale. Die Untertanen rühmten ihn noch nach seinem Tode und erzählten ihren Kindern unter Tränen vom Verschwinden und von der Rettung Schönchens. 58
KURBADS
Es war einmal ein Bauer, der hatte keine Kinder. Der Bauer machte sich deswegen nicht viele Gedanken, aber die Bäuerin grämte und härmte sich darüber tagtäglich. Und als nun noch
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zu allem Unglück der Bauer nach sieben Jahren starb, da hatte der Kummer der Bäuerin kein Ende. „Wenn schon mein Mann gestorben ist — ich muß es ertragen, aber hätte ich doch wenigstens ein Kindlein, das ich hätscheln könnte!" Da hörte die Witwe eines Tages, daß in der Stadt ein Mann seines knappen Auskommens wegen beschlossen hatte, eins seiner neun Kinder anderen Leuten zur Pflege zu geben. Sofort läßt die Bäuerin das Füllen anspannen und fahrt in die Stadt. Doch es soll nicht sein: Der Mann hat das Kind soeben schon weggegeben. „Hol mich der Kuckuck!" ruft der Knecht aus, „wir sind umsonst gefahren, Bäuerin!" In ihrem Kummer efwidert die Bäuerin kein Sterbenswörtchen. Auf der Heimfahrt erblicken sie, während sie kurz vor ihrem Haus über den Fluß fahren, einen großen Fisch, der sich auf das Ufer hinausschnellt. Der Fisch zappelt, als könnte er nicht mehr ins Wasser zurück. Rasch springt der Knecht vom Wagen und hofft den Fisch zu fangen, aber der Fisch ist im Nu wieder im Wasser und sagt: „Die Bäuerin soll selbst kommen, von ihr werde ich mich fangen lassen." Die Bäuerin geht hin. Ja, der Fisch springt wieder auf das Ufer und sagt: „Hör zu, Bäuerin, nimm mich mit, schlachte und koche mich und iß mich auf, dann wird dir die liebe Laima einen Sohn schenken; nur gib acht, daß sonst niemand auch nur einen Bissen von mir genießt." Die Bäuerin tut das und schärft der Magd ein, daß sie ja nicht vom Fischgericht oder vom Fischfleisch kosten soll. Aber die Magd denkt gar nicht daran zu gehorchen! Sie muß doch schließlich wissen, ob der Fisch genug gesalzen ist. Als ob die Bäuerin sonst jemals gekommen wäre, um die Kelle abzulecken! Was soll das also! Sie beißt ein Stück vom Fisch ab — er mundet ihr, sie schleckert an der Kelle — es schmeckt ihr; die Schuppen und die Eingeweide am Herdrand dagegen sehen nicht gut aus — weg mit ihnen auf den Misthaufen! Aber die Stute, die mitten auf dem Hof nur Gras zu knabbern bekommt, stapft auf den Misthaufen und frißt die Schuppen und frißt die Eingeweide. Was soll man dazu auch sagen: Wo Hunger ist, da munden sogar Eingeweide! Der Bauer ist gestorben — er ist nicht mehr 11
Lettische Volksmärchen
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da, den Knecht sieht man tagelang auch nicht zu Hause! Für den Bauch der armen lieben Stute ist es Sonntag, er knurrt nur. Aber was geschah nun in der nächsten Nacht? In der nächsten Nacht schenkte die Bäuerin einem Knaben das Leben, auch die Magd gebar einen Sohn, und die Stute brachte ebenfalls einen Sohn zur Welt. Die Leute nannten den Sohn der Stute Kurbads. Die drei Jungen wachsen gemeinsam auf; doch Kurbads ist mutiger und kühner als die beiden andern. Nußkerne sind seine liebste Speise, Stutenmilch sein liebstes Getränk, und die Ofenbank ist seine liebste Schlafstelle. Schon in seinem fünften Lebensjahr weicht Kurbads, wenn er durch den Wald springt, nicht den kleineren Bäumen aus; im sechsten Lebensjahr ist ihm kein Baum mehr zu groß, und im siebenten Lebensjahr fürchtet er sich weder vor dem Wolf noch vor dem Bären. So wächst Ku^bads im Laufe der Jahre zu einem solch starken Menschen heran, daß alle Hausarbeiten, sogar die schwersten, für ihn eine Kleinigkeit sind. Schweiß auf der Stirn, wie das bei anderen Menschen ist, hat er noch nicht kennengelernt. Da kommt es ihm in den Sinn, irgendein schwieriges Werk zu vollbringen, zumindest eines, bei dem er sich den Schweiß von der Stirn wischen müßte. Eines Tages sagt der Starke zu seinen beiden Halbbrüdern — dem Sohn der Bäuerin und dem Sohn der Magd —, daß er beschlossen habe, am Abend das neue Gebäude zu säubern. Dieses neue Haus hatte der verstorbene Bauer gebaut, aber es hatte einen Fehler: Am Tag, bevor der Bauer einziehen wollte, war schon der Böse da. Da half gar nichts, man konnte dort nicht wohnen, und es war erst recht unmöglich, die bösen Geister zu vertreiben! Die Halbbrüder widersetzten sich zwar dem Plan Kurbads', denn zu dritt würden sie doch nicht imstande sein zu tun, was alle Hausbewohner gemeinsam nicht vermocht hatten. Aber Kurbads antwortet: „Derjenige, der gekocht und gebraten ist, kann nicht zu solcher Weisheit gelangen wie derjenige, der roh verspeist wird." Schließlich willigen die Halbbrüder auch ein, und sie gehen in das verhexte Gebäude mit. Als es dunkel wird, beginnen in den Ritzen der Zimmerwände Käferchen und Fliegen zu sprechen: „Nun wollen wir mal sehen, ob sie nicht wie kleine Würmer Reißaus nehmen werden! Laßt erst unseren dreiköpfigen Herrn über die Brücke des Flusses kommen." 162
Kurbads hört diese Worte, aber die Halbbrüder hören sie nicht. Vor Mitternacht sagt Kurbads zum Sohn der Magd: „Du bist der Schwächste von uns, nimm dein Schwert und geh die Brücke am Fluß bewachen. Dort wird ein Riese mit drei Köpfen vorbeikommen, laß ihn nicht herüber! Er ist von allen Riesen der schwächste, deshalb wirst du mit ihm fertig werden." Aber der Sohn der Magd antwortet barsch: „Mich geht das nichts an! Meinetwegen mag kommen, wer will." „Nun, wenn du dich fürchtest, muß ich selbst gehen. Wir dürfen es nicht zulassen, daß er über die Brücke gelangt, sonst gewinnt er Gewalt über uns. Für alle Fälle werde ich einen Becher auf das Fensterbrett stellen: Wenn sich in ihm Milch zeigt, dann geht es mir im Kampf gut; aber wenn sich Blut zeigt, dann lauft zu meiner Mutter, damit sie mir zu Hilfe eilt. Seid auf der Hut, vergeßt nicht, was ich gesagt habe!" Kurbads gürtet sein Schwert um, geht zum Ufer des Flusses, setzt sich vor der Brücke hin und wartet. Bis Mitternacht ist alles still, nur die Frösche im Fluß, die Wildgänse in der Luft und die Schwalben unter der Brücke unterhalten sich miteinander. Die einen rufen im Fluß: „Kurbads! Kurbads!", die anderen rufen in der Luft: „Er wird ihn verjagen, er wird ihn verjagen!", und die dritten rufen unter der Brücke: „Der große Riese hat drei Köpfe, alle — futsch!" Da hört man genau um Mitternacht, wie die Boten des Riesen nahen: Der Hund kommt jaulend durch die Felder und der Habicht pfeifend durch die Luft. Kurbads gürtet sein Schwert um, steht auf und hält das Schwert vor die Brücke. Die ganze Er„de erdröhnte, der Riese mit den drei Köpfen ist da, aber er stößt gegen Kurbads' Schwert und bleibt wie vor einer Wand stehen. Zwar ruft der Riese: „Kurbads, laß mich hinüber!" Aber Kurbads hält sein Schwert, wie er es gehalten hat, und antwortet: „Ich werde dich nicht herüberlassen!" Dreimal fordert der Riese seinen Gegner auf zurückzuweichen, doch da das nichts hilft, schreit er Kurbads wütend an: „Blase in die Weite, damit ich sehe, wieviel Geld du aus der Wölbung unter der Brücke, aus meinem Geldbeutel, wegblasen kannst!" Kurbads bläst, und er bläst einen ganzen Scheffel voll Gold163
münzen, der Dreiköpfige dagegen bläst nur einen halben Scheffel voll Kupfermünzen. Als der Riese das sieht, will er schon zurückgehen, aber Kurbads läßt ihn nicht fort: Er soll das Geld für ihn auflesen. Der Riese gehorcht nicht. Nun, wenn er nicht gehorcht, dann muß mit dem Schwert gekämpft werden. Das war vielleicht ein Kampf! Die Brücke erbebte, die Erde dröhnte, die Schwerter klirrten, aber die Köpfe des Riesen fielen schließlich von seinem Körper. In ihrer Freude über den Sieg feierten Kurbads und seine Halbbrüder fröhlich bis zum nächsten Abend. Als die Dämmerung hereinbricht, hören sie zu feiern auf und eilen in das neue Gebäude. Hier sprechen in den Ritzen der Zimmerwände die Käferchen und Fliegen: „Warte nur, den Dreiköpfigen hast du zwar überwältigt, aber was wirst du mit dem Sechsköpfigen anfangen?" Kurbads hört dieses Gespräch, die Halbbrüder jedoch hören es nicht. Vor Mitternacht sagt Kurbads zum Sohn der Bäuerin: „Geh du heute nacht die Brücke bewachen!" Aber er fürchtet sich ebenso wie der andere, und so antwortet er: „Was geht es mich an! Meinetwegen mag kommen, wer da will!" „Nun, wenn ihr beide ängstlich seid, dann muß ich wieder selbst gehen. Wir dürfen es nicht zulassen, daß er über die Brücke gelangt, da er dann Gewalt über uns gewinnt. Für alle Fälle werde ich einen Becher hinstellen: Wenn sich in ihm Milch zeigt, dann steht es gut; wenn sich Blut zeigt, dann eilt zur Mutter." Kurbads geht zum Ufer des Flusses. Alles ist still, nur die Frösche quaken: „Kurbads! Kurbads!", die Wildgänse schreien: „Er wird ihn verjagen, er wird ihn verjagen !", und die Schwalben unter der Brücke zwitschern: „Der große Riese hat sechs Köpfe — alle werden — futsch — hin sein!" Da hört man genau um Mitternacht die Boten des Riesen nahen: Der Hund kommt jaulend durch die Felder und der Habicht pfeifend durch die Luft. Kurbads steht auf und hält sein Schwert vor die Brücke. Der Riese mit den sechs Köpfen erscheint, die Erde dröhnt, aber er kann nicht weiter — das Schwert ist im Wege. Zwar brüllt der Riese: „Kurbads, laß mich hinüber!" 164
Aber Kurbads hält sein Schwert, wie er es gehalten hat, und antwortet: „Ich werde dich nie und nimmermehr herüberlassen!" Dreimal fordert der Riese seinen Gegner auf zu weichen, aber als das nichts hilft, schreit er Kurbads schließlich an: „Blase ins Weite, damit ich sehe, wieviel Geld du aus der Wölbung unter der Brücke, aus meinem Geldbeutel, wegblasen kannst!" Kurbads bläst, und er bläst einen ganzen Scheffel voll Goldmünzen heraus, der Sechsköpfige dagegen bläst nur einen halben Scheffel voll Kupfermünzen. Als der Riese das sieht, möchte er schon zurückgehen, aber Kurbads läßt ihn nicht fort: Er soll das Geld für ihn auflesen. Der Riese tut es nicht. Nun, wenn er nicht gehorcht, dann muß mit dem Schwert gekämpft werden. Das war vielleicht ein Kampf! Die Brücke erbebte, die Erde dröhnte, aber schließlich fielen die Köpfe des Riesen vom Körper. Nun geht Kurbads fröhlich nach Hause, aber er legt sich auch gleich schlafen, um sich für den morgigen Kampf zu stärken. Am dritten Abend summten in den Ritzen der Zimmerwände die Käferchen und die Fliegen ganz unruhig: „Wenn du doch zugrunde gingest! Die beiden hast du allerdings überwältigt. Aber wenn schon, wenn schon, mit unserem Neunköpfigen wird ein solcher Knirps gar nicht erst anfangen!" Kurbads hört dieses Gespräch, die Halbbrüder jedoch hören es nicht. Kurbads stellt den Becher auf das Fensterbrett, schärft den Halbbrüdern ganz nachdrücklich ein, daß sie heute nacht den Becher nicht aus den Augen lassen sollen, und dann eilt er zur Brücke. Alles ist ebenso still wie an den anderen Abenden, nur die Frösche quaken ohne Unterlaß: „Kurbads, Kurbads!", die Wildgänse schreien: „Er wird ihn veijagen, er wird ihn verjagen !", und die Schwalben zwitschern wie besessen: „Alle Köpfe des Neunköpfigen werden heute nacht — futsch — hin sein!" Da hört man genau um Mitternacht die Boten des Riesen kommen: Neun Hunde jaulen durch die Felder, neun Habichte kreischen durch die Luft. Kurbads bleibt mitten auf der Brücke stehen. Der Riese geht auf ihn zu und brüllt ihn an: 165
„Kurbads, laß mich hinüber!" Kurbads antwortet: „Was schmetterst du da, was flötest du, du Zottelkopf — komm, laß uns die Kräfte messen!" Gut. Kurbads schlägt aus Leibeskräften zu. Ein Kopf fallt schon vom Rumpf, aber sofort wachsen drei neue Köpfe an seiner Stelle. Als Kurbads sieht, daß er so nicht weiterkommt, wirft er das Schwert fort und packt mit bloßen Händen den Riesen am Genick. Doch der Riese treibt seinen Gegner mit einem Griff bis zu den Knien in die Erde und mit dem zweiten — bis zur Achselhöhle. Als Kurbads das widerfahrt, sagt er: „Alle Krieger erholen sich ein Weilchen — wollen auch wir uns ausruhen!" Gut. Der Riese setzt sich und ruht sich aus; aber Kurbads macht sich nur Gedanken, wie er seine Mutter zu Hilfe rufen könnte. Ja, wie soll die Mutter wissen, daß sie kommen muß, wenn die Halbbrüder in ihrer Schlafsucht weder nach dem Becher sehen noch ihr Nachrichten zukommen lassen. Er reißt sich eine Pastel vom Fuß und wirft sie geradewegs ans Fenster des Zimmers, in dem die Brüder eingeschlafen sind. Sie wachen auf und sehen: Der Becher ist voller Blut. Nun rennen sie wie angeschossen mit der Nachricht zur Stute, und die eilt eins-zwei! Kurbads zu Hilfe. Jetzt ging es hurtig zu: Wenn der Sohn einen Kopf abhackte, so schlug die Mutter so stark aus, daß weiße Funken sprühten und die Stellen, wo der Kopf gesessen hatte, ausbranntet, so daß keine neuen Köpfe mehr wachsen konnten. Nach wenigen Augenblicken lag der Riese wie ein Klotz am Boden. Nach dem Kampf geht Kurbads in das gesäuberte Zimmer, um dort zu übernachten. Doch der Schlaf kommt ihm nicht so schnell, und er hört in den Wandritzen die Fliegen und Käferchen sprechen: „So ein Bösewicht, unsere Männer hat er umgebracht. Aber mag er schon die Männer umgebracht haben, die Frauen der Umgebrachten, die Hexen, werden sich an den Knirpsen rächen. Wenn sie alle drei morgen unterwegs sind, dann wird sich die Frau des Dreiköpfigen in ein Bettchen verwandeln. Wenn der eine von ihnen das Bettchen erblickt, wird eine so süße Müdigkeit ihn überkommen, daß er sich gleich hinlegen wird, und dann ist er selbstverständlich in unseren Fängen. Die Frau des Sechsköpfigen wird sich in eine kleine Quelle verwandeln, und wenn der zweite die kleine Quelle erblickt, wird er gleich sehr 166
durstig sein — er wird trinken, aber dann ist er selbstverständlich in unseren Fängen. Doch die Frau des Neunköpfigen wird sich bald in eine Schlange, bald in einen Hundeschnäuzigen verwandeln und so lange den starken Bösewicht bedrängen, bis sie ihren Mann gerächt hat." Am Morgen gibt Kurbads das zusammengeblasene Geld den Müttern, damit sie von allem reichlich haben, und dann macht er sich mit den beiden Halbbrüdern auf den Weg. Am Wegrand erblicken sie ein schönes Bettchen. Den Sohn der Mutter überkommt gleich eine so süße Müdigkeit, daß er nicht davon abzubringen ist, sich schlafen zu legen. Aber Kurbads erlaubt es ihm nicht. Er entgürtet sein Schwert und schlägt damit ein Kreuz über dem Bettchen. Anstelle des Bettes bleibt nur eine Blutlache, und die Müdigkeit ist verschwunden. Beim Weitergehen finden sie eine Quelle, und der Sohn der Magd bekommt Durst und möchte trinken. Aber Kurbads erlaubt es ihm nicht und schlägt mit seinem Schwert ein Kreuz über der Quelle — da ist nur eine Blutlache übrig, und der Durst ist verschwunden. Nach einem Marsch von drei Tagen kommen die Halbbrüder in ein ganz fremdes Land, wo der Teufel die drei Töchter des Herrschers geraubt hat, während sie in der Badestube waren. Der Herrscher hat versprochen, die jüngste Tochter und das Reich dem zu geben, der die Töchter findet. Kurbads erbot sich sogleich, sie zu suchen. Die Halbbrüder wollen sich auf die Suche in die weite Welt aufmachen, aber Kurbads sagt: „So nicht! Wo sie verschwunden sind, dort muß man anfangen, sie zu suchen — sie sind in der Badestube verschwunden, also muß man in der Badestube beginnen." Am Abend nimmt Kurbads die Keule, das Schwert, Grütze und einen Kochtopf. Er macht in der Badestube Feuer und kocht Brei; den Halbbrüdern wird das Warten zu lange — sie schlafen ein. Um Mitternacht fangt die Tür der Badestube an zu quietschen. Der Teufel schleicht in die Badestube und schüttet Asche in den Brei. Aber Kurbads fangt den Teufel, klemmt ihn in die Tür ein und verprügelt ihm mit der Keule tüchtig den Rücken. Unter Schmerzen verspricht ihm der Teufel alles Mögliche: Er werde ihm eine kleine Pfeife geben, und wenn er auf ihr bläst, werden zehn kleine Zwerge aus der Erde kriechen und jede Arbeit vollbringen. Kurbads nimmt zwar das Pfeifchen, aber prügelt den Teufel von neuem, bis er ihm sagt, wo er die drei Töchter gelassen hat. 167
Als der Teufel sieht, daß er nicht umhin kann, fangt er schließlich an zu erzählen. „Dort am Ende jenes Feldes ist ein Sumpf. Mitten im Sumpf auf einem Hügel ist ein großer, großer Stein. Wenn man den Stein fortwälzt, so kann man durch ein tiefes, tiefes Loch in die Unterwelt gelangen. Durch dieses Loch muß man sich hinunterlassen, dort werden die Töchter sein." Diese Auskunft genügte Kurbads. Er läßt den Teufel los, weckt die Halbbrüder und geht auf die Suche nach dem Sumpf. Ja, tatsächlich! Am Ende des Feldes ist ein Sumpf, mitten im Sumpf ist ein Hügel, und auf dem Hügel ist ein Stein, so groß wie ein Heuschober. Kurbads bläst die Backen auf und wälzt den Stein in den Sumpf, daß es nur so klatscht. Aber was nun? Wie soll man durch das Loch hinunterkommen? Da fällt ihm ein, auf dem Pfeifchen zu blasen. Kaum hat er tüchtig hineingeblasen, da sind zehn Zwerge zur Stelle Was er ihnen befehle? „Ich befehle euch, ein so langes Seil herzubringen, daß ich damit den Grund dieses Loches erreichen kann." Eins-zwei! Die Zwerglein sind mit dem Seil zur Stelle. Kurbads bindet nun den Sohn der Magd an das Seil und läßt ihn hinunter, aber kaum ist er bis zur Hälfte gekommen, da schreit er, daß man ihn hochziehen soll — er hat Angst. Ebenso ging es mit dem Sohn der Bäuerin. Nun beschließt Kurbads, sich selbst hinunterzulassen. Aber damit die Halbbrüder nicht im nassen Sumpf liegen müssen, schärft er den Zwerglein ein, den beiden ein Haus zu errichten und ihnen Speise und Trank zu besorgen. Im Nu sind Balken gezogen, die Dachsparren und das Dach errichtet, und der Tisch mitten im Zimmer ist gedeckt. Die Zwerglein verschwinden, und Kurbads läßt sich mit seiner Keule hinunter in die Unterwelt. Doch auf halbem Wege schon tritt der Teufel seinem Peiniger von neulich entgegen und sagt: „Laß dich herunter, laß dich herunter, ich werde dich schon niederschlagen!" Aber Kurbads kam nicht mal dazu, die Keule zu erheben. Sowie der Teufel sie erblickt, verschwindet er. ~ Schließlich erreicht das Seil den Grund des Lochs und stößt auf ein weites Feld. Auf der anderen Seite des Feldes sieht man ein Haus und Rauch. Nun geht Kurbads los, bis er das Haus erreicht. Das ist die Behausung des Teufels selbst. Drinnen kochen 168
gerade drei Köche in einem großen Kessel das Mittagessen für den Teufel. Als sie den Fremden erblicken, fragen ihn die Köche halberschrocken: „O je, wie bist denn du hierhergeraten! Unser Herr wird heimkommen und dich mit einem einzigen Fingerchen zusammenschlagen !" „Was schwatzt ihr nur, ihr Angsthasen!" erwidert Kurbads und setzt sich neben den Kessel hin. Trotzdem überreden ihn die Köche, sich lieber hinter dem Ofen zu verstecken, denn sonst könne es ihnen selbst schlecht ergehen, weil sie einen Fremden hereingelassen haben. Kurbads gehorcht. Es dauert gar nicht lange, da kommt auch schon der Teufel nach Hause und beginnt gleich zu schnüffeln und zu fragen, was das hier für ein fremder Geruch sei. Sie schwindeln sich damit heraus, daß soeben eine Krähe vorübergeflogen sei. Er beruhigt sich und geht an den Kessel, um zu sehen, ob das Essen gesalzen und gar ist. Kaum hat der Teufel seinen Kopf zur Kelle hinuntergebeugt, da springt Kurbads hinterm Ofen hervor und haut ihm mit dem Schwert so über den Kopf, daß Kopf und Rumpf in den Kessel fallen. Während der Teufel nun schmort, müssen die Köche von den verschwundenen Töchtern erzählen. Sie sagen, daß die eine im silbernen Schloß wohne und dem gehört habe, den er soeben erschlagen habe; die zweite wohne im goldenen Schloß und gehöre dem Dreiköpfigen; die dritte, die jüngste, wohne im diamantenen Schloß und gehöre dem Sechsköpfigen. Als Kurbads das vernommen hat, gürtet er sein Schwert um und begibt sich zum silbernen Schloß. Aus dem Schloß kommt ein junges Mädchen heraus, schlägt die Hände zusammen und staunt: „Ach, mein lieber Bursche, wie bist du nur hierhergeraten! Mein Herr und Gebieter wird heimkommen und dich mit dem kleinen Fingerchen erschlagen." „Nun, nun, mein Töchterchen, ist er denn wirklich so furchtbar? Sage lieber, dein Herr ist bereits tot, und ich bin gekommen, um dich zu erlösen." Als die Tochter das hört, wirft sie sich Kurbads zu Füßen und schluchzt vor Freude so herzzerreißend wie ein Kind. Nun schaut sich Kurbads das silberne Schloß genau an, ißt. 169
trinkt und fragt dann die Tochter einiges über ihre Schwestern. Sie erzählt und unterrichtet ihn, so gut sie es kann, und zuletzt bringt sie ihm ein merkwürdiges kleines Gefäß, das ihr Herr und Gebieter an jenem Morgen auf dem Fensterbrett vergessen hat. In dem Gefäß sind zweierlei Arzneien: Rechts ist das Stärkemittel und links das Schwächemittel. Wenn man von der Arznei rechts trinkt, erhält man unendliche Kraft; wenn man von der Arznei links trinkt, dann ist die Kraft für ein ganzes Jahr hin. Kurbads trinkt von der Arznei rechts, und nun ist er so stark, daß es selbst für ihn ein Wunder ist. Am Morgen eilt Kurbads zur Behausung des zweiten Teufels, der drei Köpfe hat, und schlägt auch ihn nieder. Nun sind schon zwei Töchter erlöst. Am dritten Tag ist der Sechsköpfige an der Reihe. Doch hier ist es für Kurbads nicht mehr so einfach: Der Sechsköpfige hat bereits von dem Essen gekostet und hat gegessen und sich soeben zur dritten Schwester in das diamantene Schloß begeben. „Nun — macht nichts! Ich werde ihn schon dort erwischen!" sagt Kurbads und eilt zum Schloß. Im Schloß befindet sich das kleine Arzneigefaß auf dem Fensterbrett, und der Sechsköpfige hält seinen Mittagsschlaf und schnarcht drauflos. Kurbads dreht das kleine Arzneigefaß um: Das Stärkemittel ist nun links und das Schwächemittel rechts, und dann geht Kurbads, um zu sehen, was die jüngste Schwester so macht. Er findet auch das schöne Mädchen; sie ist jedoch sehr traurig. Als sie den Fremden erblickt, flüstert sie ihm mit Verwunderung leise zu: „Ach, mein lieber Bursche, wie bist du nur hierhergeraten! Mein Herr und Gebieter wird aufstehen und dich mit dem kleinen Fingerchen erschlagen." „Nun, nun, so stark wird er schon nicht sein. Wecke ihn lieber, damit mein Schwert dem Schurken im Reich des Ungeziefers einen Platz zuweisen kann. Dort ist für solche Henker ein süßeres Schlafen als in diamantenen Schlössern." Während sie so miteinander sprechen, ist der Sechsköpfige aufgewacht, wobei das Bett, wenn er sich auf die andere Seite dreht, so sehr quietscht, daß einem sogar im dritten Zimmer die Ohren zufallen. Die Tochter eilt zum Sechsköpfigen hinein und beruhigt ihn, er solle nur weiterschlafen. Aber er schnüffelt und fragt, was 170
das für ein fremder Geruch sei. Die Tochter macht ihm weis, daß soeben ein Mäuschen über den Fußboden gehuscht sei — er soll nur ruhig schlafen. Der Sechsköpfige glaubt es und schläft wieder ein. Jetzt wartet Kurbads nicht länger. Er entgürtet sein Schwert, öffnet die Tür und schlägt mit solcher Wucht zu, daß drei Köpfe auf einmal ab sind. Blitzschnell springt der Teufel hoch und will von dem Stärkemittel trinken, aber statt dessen trinkt er von dem Schwächemittel. Kurbads schlägt ihm auch noch die drei anderen Köpfe ab, und dann wirft er den Rumpf und die Köpfe in eine Pfütze. Die jüngste Schwester fällt Kurbads um den Hals, sie weint Freudentränen und weiß nicht, wie sie ihm danken soll. Aber Kurbads erklärt ihr kurz und bündig, daß er nicht gekommen sei, um sie des Dankes wegen zu erlösen, sondern nur deshalb, damit er die jüngste Schwester zur Frau erhält, und die beiden Schwestern mögen zu den Halbbrüdern gehen, die auf der Oberwelt am Eingang zu dem Loch geblieben sind. „Nun gut, nehmen wir die anderen Schwestern mit, und eilen wir zum Vater auf die Oberwelt, um Hochzeit zu feiern. Denn sei gewiß: Sobald die Sippe der umgebrachten Teufel herausbekommen hat, was du mit unseren Herren und Gebietern gemacht hast, dann wird sie dich wie ein Heuschreckenschwann von allen Seiten bedrängen." „Gut, gut — eilen wir." Hinter dem Tor schaut Kurbads noch einmal auf das diamantene Schloß zurück. Die jüngste Schwester bemerkt das und fragt: „Mein lieber Bursche, warum schaust du dich so traurig um?" „Wenn ich doch für meine Mühen dieses diamantene Schloß mitbekäme!" „Das geht doch ohne weiteres. Hier, nimm meinen Kranz, trage ihn dreimal um das Schloß, dann wird sich das diamantene Schloß in ein diamantenes Ei verwandeln." So geschieht es. Er nimmt das diamantene Ei und eilt dann zur mittleren Schwester ins goldene Schloß. Hinter dem Tor schaut sich Kurbads wieder um. Die mittlere Schwester fragt: „Mein lieber Bursche, warum schaust du dich so traurig um?" „Wenn ich doch für meine Mühen dieses goldene Schloß mitbekäme!" 171
„Das geht doch ohne weiteres. Hier, nimm meinen Kranz, trage ihn dreimal um das Schloß, dann wird sich das goldene Schloß in ein goldenes Ei verwandeln.'' So geschieht es. Nun eilen alle drei zum silbernen Schloß zur dritten Schwester. Hinter dem Tor schaut sich Kurbads wieder um. Die älteste Schwester fragt: „Mein lieber Bursche, warum schaust du dich so traurig um?" „Wenn ich doch für meine Mühen dieses silberne Schloß mitbekäme!" „Das geht doch ohne weiteres. Hier, nimm meinen Kranz, trage ihn dreimal um das Schloß, dann wird sich das silberne Schloß in ein silbernes Ei verwandeln." So geschieht es. Jetzt eilen alle vier zu dem Loch, durch das sie von der Unterwelt zur Oberwelt gelangen. Kurbads bindet die älteste Schwester an das Seil und zerrt daran, damit die Halbbrüder es hochziehen. Sie ziehen die älteste Schwester hinauf, sie ziehen die mittlere hinauf, sie ziehen die jüngste hinauf und lassen gerade das Seil hinunter, um auch Kurbads hinaufzuziehen. Doch da ist die Frau des Riesen, die Hexe, in Gestalt eines Werwolfs zur Stelle: Schnacks! — das Seil ist durchgebissen; es gleitet — schwacks! — in die Unterwelt hinab; und der große Stein wälzt sich — schlacks! — aus dem Sumpf heraus und deckt das Loch zu. Zuletzt verschwindet auch das von den Zwerglein gezimmerte Häuschen, und die fünf andern sind noch glücklich, daß sie mit heiler Haut heimkehren können. Kurbads bleibt also in der Unterwelt. Nichts zu machen! Er muß die Keule nehmen, sich das Schwert umgürten und einen Ausweg suchen. Wenn er sich doch noch seines Zwergenpfeifleins erinnert hätte! Wer weiß, vielleicht hätten die Zwerglein ihm geholfen. Aber so ist es nun einmal: Wenn es am nötigsten ist, ist man wie vor den Kopf geschlagen. Er geht und geht nun, bis er auf ein Häuschen stößt, vor dessen Tür ein blindes, altes Männlein mitten auf dem Hof Vieh hütet. „Warum läßt du das Vieh hier auf dem Hof darben? Dort draußen ist doch das Weideland viel, viel fetter." „Ja, es ist zwar fetter, aber jene Wiesen gehören dem Hundeschnäuzigen — dorthin darf ich nicht." „Wo wohnt denn der Hundeschnäuzige, ist er jetzt zu Hause?" „Im Augenblick ist er wohl nicht zu Hause, aber das ist auch 172
einerlei — auch dann darf ich nicht auf seinen Wiesen das Vieh hüten, denn dort im Wald hat der Hundeschnäuzige einen Flurhüter, einen gewaltigen Vogel." „Ist denn der so schrecklich?" „Er wäre gar nicht so schrecklich, aber — was soll man da sagen — der Mann ist selbst in der Klemme: Wenn er nicht wacht, dann rächt sich der Hundeschnäuzige. So ließ mich der Vogel des Hundeschnäuzigen im vorletzten Jahr mein Vieh ein wenig auf den Wiesen seines Herrn weiden, aber stell dir vor! Der Hundeschnäuzige war zur Stelle, saugte mir die Augen aus und erschlägt jetzt Jahr für Jahr die Jungen des Vogels mit Hagelkörnern. Der Hundeschnäuzige soll allerdings ein kleines Arzneigefaß haben, und mit Hilfe der Arznei könnte man die Augen wiedererlangen, aber wie soll einer zu der Arznei kommen." „Mein lieber Alter, ich will dich vom Hundeschnäuzigen befreien, wenn du mir nur sagen könntest, wie ich aus der Unterwelt herauskomme." „Wenn du den Hundeschnäuzigen überwältigst, würde dich der Vogel des Hundeschnäuzigen aus Dankbarkeit auf die Oberwelt bringen." „Aha — dann ist es gut! Laß sofort dein Vieh auf seine Wiesen, damit es zu einer Schlägerei kommt." Das Vieh ist auf den Wiesen, da ist auch der Hundeschnäuzige zur Stelle, und der Aufruhr ist fertig. Kurbads packt den Hundeschnäuzigen an seiner Hundegurgel, tritt ihn mit dem Fuß zu Boden und schlägt mit der Keule so entsetzlich auf ihn ein, daß das Hundevieh ihm vor Schmerzen sagt, wo er, das kleine Gefäß mit dem Heilmittel hingestellt hat. Kurbads nagelt den Hundeschnäuzigen mit dem Schwert an den Erdboden, holt das Arzneigefaß und salbt mit der Arznei die Augen des alten Männleins. Da erhält der liebe Alte sein Augenlicht wieder. Aber inzwischen hat sich der Hundeschnäuzige von dem Schwert losgerissen und stürzt sich auf Kurbads. Kurbads schlägt noch einmal mit der Keule zu, umsonst, er schlägt ein zweites Mal — umsonst, der Hundeschnäuzige fällt nur hin, er schlägt ein drittes Mal zu — da zuckt er mit einem Bein und streckt alle viere von sich. Nun führt der liebe Alte, von Freude erfüllt, seinen Retter geschwind zu dem Vogelnest, denn er weiß, daß jetzt den Vogeljungen ein Hagel bevorsteht. Er kommt zum Nest. Die Vögelchen schlafen wie artige 173
Stubenhocker im Nest, aber sie sind noch nackt. Während Kurbads und der Alte sich dort umschauen, setzt der Hagel brausend und tosend ein. Aber Kurbads bedeckt die nackten Vögelchen, so gut er kann, und bewahrt sie so vor den Hagelschlägen. Kaum ist der Hagel vorbei, da kommt auch der Vogel des Hundeschnäuzigen heimgelaufen, stellt sich in der Größe eines Pferdes Kurbads gegenüber hin und sagt: „Dank dir werden nun meine Kinder endlich einmal heranwachsen. Wie soll ich dich dafür belohnen?" „Ich will keinen anderen Lohn, ich möchte nur auf die Oberwelt gelangen!" „Gut, ich werde dich hinbringen. Aber der Weg ist weit, das Meer ist breit — geh also und erjage drei Ochsen der Unterwelt und zerhacke sie in kleine Stücke, und wenn ich unterwegs den Schnabel umdrehe, dann wirst du mir jedesmal ein Stück hineinwerfen." Kurbads geht die Ochsen jagen. Ach, waren das Ochsen! Wenn sie brüllten, geriet die Keule ins Zittern, und wenn sie scharrten, dröhnte die Erde. Dennoch packt Kurbads einen an den Hörnern und schlägt ihm den Kopf ab, er greift den zweiten und schlägt ihm den Kopf ab, er greift den dritten und schlägt ihm den Kopf ab. Am nächsten Morgen nimmt Kurbads das Ochsenfleisch, steigt auf den Vogel, und los geht es über das Meer — neun Tage und neun Nächte. Am neunten Tag kann man schon den Rand der Oberwelt sehen. Da schaut sich Kurbads um: Das Ochsenfleisch ist alle. Was nun? Wenn kein Fleisch mehr da ist, kann der Vogel ihn nicht tragen. Nichts zu machen! Kurbads muß sich selbst mit dem Schwert die Wade vom rechten Bein abschneiden und den Vogel damit füttern, bis sie das Land erreichen. Gegen Abend kommt Kurbads glücklich heim und findet seine liebe Braut und die Halbbrüder beim alten Herrscher vor. Sie erzählen nun von ihrem Erlebnis mit dem Seil, und Kurbads berichtet von seinem Abenteuer in der Unterwelt. Beim Erzählen erinnert er sich an das diamantene, das goldene und das silberne Ei. Er nimmt den Kranz der jüngsten Schwester, trägt ihn dreimal um die Stelle, wo er das diamantene Schloß zu bauen beabsichtigt, er wirft das diamantene Ei auf die Erde — das diamantene Schloß steht fertig da. Dann nimmt er den Kranz der mittleren Tochter, trägt ihn 174
dreimal herum,, wirft das goldene Ei auf die Erde — das goldene Schloß steht fertig da. Zuletzt nimmt er den Kranz der ältesten Schwester, trägt ihn dreimal herum, wirft das silberne Ei auf die Erde — das silberne Schloß ist fertig. Nun gibt er dem Sohn der Bäuerin und dessen Braut das goldene Schloß, dem Sohn der Magd und dessen Braut gibt er das silberne Schloß, und für sich selbst und seine Braut behält er das diamantene Schloß. Nach der Hochzeit hat Kurbads vor, ruhig in seinem Schloß zu leben und sich von seinen Mühen zu erholen. Doch die Hexen und Feen geben keine Ruhe, weder tags noch nachts. Bald töten sie das liebe Vieh, bald fügen sie den Feldern Schaden zu, bald peinigen sie die Untertanen. Kurbads weiß, daß die Hexe des Neunköpfigen schuld ist, und er entschließt sich, sein Reich zu säubern. Er nimmt drei Scheffel Salz und drei Scheffel Salzlake auf die Schultern und geht der Schlangenhexe entgegen und denkt: Wenn ich ihr das Salz in den Rachen schütte, wird sie laufen,, um Wasser zu saufen, aber während sie das Wasser säuft, werde auch ich eilen und sie am Ufer einholen und töten. Nachdem Kurbads drei Tage gegangen ist, kommt die Schlange zischend durch die Lüfte, sie klappert mit den Flügeln und hat ihren Rachen weit aufgesperrt. Kurbads bleibt stehen und schüttet ihr geschwind die drei Scheffel Salz in den Rachen. Sie niest nur und läuft auf einem andern Weg zum Meer, um ihren Durst zu stillen. Kurbads jagt ihr hinterher, aber ehe er das Meer erblickt, eilt die Schlange, die sich satt getrunken hat, zurück. Kurbads bleibt stehen und schüttet ihr drei Scheffel Salzlake in den Rachen. Sie niest nur und läuft wieder auf einem andern Weg zum Meer, um ihren Durst zu stillen. Kurbads verliert die Spur. Nun sucht und sucht er, bis er den Strand erreicht, wo er eine Schmiede erblickt. In der Schmiede hämmert der Himmelsschmied. Er gibt Kurbads einen Rat: Zu Fuß würde er vergeblich der Schlange hinterhereilen. Er wolle ihm ein Pferd schmieden, mit dem er dreimal um die Welt reiten könne, bevor eine Handvoll Flachs verbrennt. Nur muß sich der Reiter davor hüten rückwärtszuschauen. Während sich Kurbads mit dem Himmelsschmied unterhält, hat sich die Schlange satt getrunken und saust nun über die Schmiede hinweg. Er ergreift zwar glühende Funken und wirft 175
sie der Schlange in den Rachen, aber er versengt nur ihre Zungenspitze. Nun schmiedet der Himmelsschmied ein Pferd, das so hell leuchtet wie ein Stern. Kurbads setzt sich auf das Pferd und jagt der Schlange hinterher. Das Pferd läuft mit dem Wind um die Wette über unzählige Meere, durch unzählige Wälder. Da hör mal! Was ist das? Der Lärm hinter dem Rücken ist entsetzlich: Die Bäume stürzen bricks und bracks! Das Wasser brandet schwicks und schwacks! Kurbads schaut rückwärts, aber im selben Augenblick grollt der Donner, Blitze zucken, und das Pferd ist verschwunden. Zwar bedauert er es sehr, daß er die Vorschrift des Himmelsschmieds vergessen hat und sich umgeschaut hat, zwar begreift er auch sogleich, daß die Lärmenden seine Feinde waren, aber hin ist hin. Nun streckt sich Kurbads am Rande eines Bächleins aus und stellt das Stärkemittel neben sich hin. Nach dem Mittag gedenkt er das Mittel einzunehmen und dann mit allen Kräften zu versuchen, der Schlange nochmals hinterherzujagen. Aber es kommt wieder anders, denn die Schlangenhexe hat um die Mittagszeit mit dem Teufel verabredet, Kurbads zu überlisten und dann zu überwältigen. Während er schlummert, verwandelt sich die Hexe in eine Kröte, springt an das kleine Arzneigefäß heran und dreht das Stärkemittel nach links und das Schwächemittel nach rechts. Kurbads erwacht und will von dem Stärkemittel trinken, aber er trinkt von dem Schwächemittel: Der Ärmste merkt zwar sogleich, was geschehen ist, aber zu spät — seine Kraft ist für ein Jahr dahin. Jetzt zögert der Teufel nicht länger, geschwind ist er zur Stelle, Kurbads soll sich für ein Jahr" bei ihm als Knecht verdingen. Wenn er das nicht tut, dann soll er kommen und mit ihm seine Kräfte messen. Der Böse denkt: Ich werde dich schon mit Arbeit plagen, mein Freundchen, am Leben wirst du mir nicht bleiben. Kurbads verdingt sich, aber unter der folgenden Bedingung: Wenn sich einer von beiden wegen der Arbeit ärgern sollte, dann werden ihm drei Streifen Fleisch aus dem Rücken geschnitten. Dem Teufel ist ein solcher Vertrag nur recht. Am Morgen befiehlt der Teufel Kurbads, Hasen zu hüten. Aber was das für Hasen sind, das begreift der Hirt gleich: Sobald er sie hinaustreibt, da laufen sie in alle Himmelsrichtungen 176
auseinander. Gegen Abend ist der Hirt aliein auf der Weide, und kein Hase ist mehr da. Macht nichts! Als die Sonne untergeht, bläst Kurbads nur auf seiner Pfeife, die er von den Zwerglein hat, und gleich sind zehn Zwerglein zur Stelle: Und sie suchen, und sie schnuppern, und sie scheuchen, und sie treiben, bis alle Hasen wieder wie die kleinen Würmer im Haus sind. Der Teufel sieht das und denkt: Mit ihm ist nicht zu spaßen, es macht ihm gar nichts aus, ob er das Schwächemittel getrunken hat oder nicht. Am Morgen gibt ihm der Teufel den Auftrag, Kühe zu hüten, und schärft ihm ein, daß er sie so hüten soll, daß sie am Abend vor Feistigkeit nur so wackeln. Die Kühe laufen auseinander und verschwinden wie tags zuvor die Hasen. Doch mit Hilfe des Pfeifchens sind die zehn Zwerglein wieder zur Stelle: Und sie suchen, und sie schnuppern, und sie scheuchen, und sie treiben, bis alle Kühe wieder beisammen sind. Kurbads hackt nun noch mit der Keule jeder Kuh ein Bein ab und treibt sie dann heim, daß sie nur so wackeln. „Hör mal, du hast ja den Kühen die Beine abgehackt!" brüllt der Teufel, blau vor Wut. „Heute früh sagtest du doch selbst, daß ich die Kühe so hüten soll, daß sie am Abend nur sö wackeln, und nun ärgerst du dich darüber." „Nein, nein, Kurbads, ich ärgere mich nicht!" „Nun, dann laß es gut sein — gib mir eine andere Arbeit!" Am Morgen heißt ihn der Teufel Pferde hüten, und er schärft ihm ein, daß er sie so hüten soll, daß am Abend alle lachen. Die Pferde verschwinden wieder ebenso wie tags zuvor die Kühe. Doch mit Hilfe der kleinen Pfeife sind die zehn Zwerglein wieder zur Stelle: Und sie suchen, und sie schnuppern, und sie scheuchen, und sie treiben, bis wieder alle beisammen sind. Kurbads schneidet jedem Pferd mit dem Schwert die Oberlippe ab und treibt sie dann heim, daß sie nur so lachen. „Höre mal, du hast doch den Pferden die Oberlippe abgeschnitten !" „Heute früh sagtest du selbst, daß ich sie so hüten soll, daß am Abend alle lachen, und nun ärgerst du dich darüber." „Nein, nein, Kuri>ads, ich ärgere mich nicht!" „Nun, dann laß es gut sein — gib mir eine andere Arbeit!" Am Morgen beauftragt ihn der Teufel, die Stute anzuspannen und ein so langes Stück zu pflügen, wie die weiße Hündin zurücklegt. Kurbads spannt die Stute vor einen kurzen Pflug, 12
Lettische Volksmärchen
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so daß sie gar nicht gehen kann; er fangt eine weiße Hündin, schlägt mit der Keule ihre Lenden windelweich, jagt sie unter den Kornspeicher, setzt sich dann selbst auf den Pflug und wartet auf den Abend. Am Abend kommt der Teufel, um nach dem Rechten zu sehen. „Warum pflügst du nicht?" „Warum ich nicht pflüge! Die Hündin läuft nicht, die Stute bewegt sich nicht von der Stelle, und dann ärgerst du dich." „Nein, nein, ich ärgere mich nicht!" „Nun, dann laß es gut sein — gib mir eine andere Arbeit!" Am Morgen befiehlt ihm der Teufel, den Pferdestall auszumisten, der seit vielen Jahren keine Mistgabel gesehen hat. Kurbads bläst auf seinem Pfeifchen, die Zwerge sind zur Stelle: Und sie stoßen, und sie schleudern, und sie werfen, und sie karren, bis der Stall eins-zwei! leer ist. Am Abend kommt der Teufel, um nach dem Rechten zu sehen. Ja, da ist nichts zu machen. Am Morgen heißt ihn der Teufel mit der Stute — das ist die Teufelsmutter — einen ganzen Klafter Holz aus dem Walde heimfahren. Kurbads lädt den Klafter Holz ein, die Stute bewegt sich nicht von der Stelle. Da sie die Fuhre nicht zieht, ist Kurbads mit der Keule da und mißt und mißt. „Was willst du dort an meinen Flanken messen?" fragt die Stute. „Laß nur, laß, liebe Stute, ich möchte aus deinen Flanken Pasteln schneiden, damit du die Fuhre leichter heimziehen kannst." „Tu das nicht, ich werde sie schon so nach Hause ziehen!" Die Stute zieht nun, und schließlich zieht sie die Fuhre heim. Zu Hause ist der Teufel auf die Stute wütend. Aber die Stute antwortet: „Du nimmst das Maul voll! Zieh du doch die Fuhre, dann wirst du sehen, was du mit Kurbads anfängst!" „Ärgerst du dich?" fragt Kurbads. „Nein, nein, ich ärgere mich nicht!" „Nun, dann laß es gut sein — gib mir eine andere Arbeit!" Am Morgen befiehlt der Teufel, für das Mittagessen ein Schaf zu schlachten. Kurbads besteht darauf, daß der Teufel ihm zeige, welches Schaf geschlachtet werden soll; aber der Teufel erwidert: „Schlachte das Schaf, das auf dich schaut!" Nun geht er in den Stall, um das betreffende Schaf auszu178
suchen, aber da alle auf ihn schauen, schlachtet er eben alle Schafe. Der Teufel wütet, aber Kurbads fragt ihn: „Ärgerst du dich?" „Nein, nein, ich ärgere mich nicht!" „Nun, dann laß es gut sein — gib mir eine andere Arbeit!" Am Morgen heißt ihn der Teufel zwei Scheffel Mehl herbringen, aus dem Knödel gekocht werden sollen; einen Scheffel Knödel muß Kurbads aufessen, den anderen wird der Teufel essen. Kurbads setzt sich hinter den Teufel und stopft sich die Knödel unter das Hemd. Der Teufel ißt und ißt, aber er überfrißt sich und quält sich die ganze Nacht. Am Morgen befiehlt der Teufel Kurbads, die Badestube zu heizen. Er will baden und sich kurieren. In der Badestube stöhnt und ächzt der Ärmste: „Weißt du, Kurbads, ich habe mich ein wenig überfressen. Wie fühlst du dich?" „Auch ich fühle mich nicht recht wohl, aber ich kenne ein Mittel. Ich werde mir mit dem Schwert den Bauch aufschneiden, damit die Knödel herausfallen." Kurbads geht in den kleinen Vorraum, schüttet die Knödel auf den Lehmboden und sagt dann zum Teufel: „Jetzt bin ich gesund wie ein Rettich!" Der Teufel versucht sich auch den Bauch aufzuschneiden, aber er bringt es nicht fertig — es tut entsetzlich weh. Kurbads krümmt sich vor Lachen auf dem Fußboden, aber der Teufel erwidert kein Sterbenswörtlein und brummt nur vor Wut: „Ob er nun das Schwächemittel getrunken hat oder nicht! Dieser Knirps hat eine merkwürdige Natur und eine merkwürdige Kraft." Beide baden nun im Mondenschein bis Mitternacht. Da ergreift der Teufel auf einmal seine dreißig Zentner schwere Axt und sagt zu Kurbads: „Hier hast du die Axt, laß uns in den Wald gehen und eine Eiche holen." Kurbads ergreift die Axt am Stiel und schaut lange in den Mond. „Was schaust du da? — Gehen wir!" „Gehen wir, gehen wir! Aber weißt du was? Ich hätte Lust, die Axt ins Fensterchen des Großvaters zu werfen." „Bist du verrückt! Ich habe nur eine einzige Axt, und die soll ich durch dich noch einbüßen? Gib die Axt her — gehen wir!" „Gehen wir, gehen wir!" 179
Sie gehen in den Wald. Der Teufel klettert auf die Eiche, biegt sie wie eine Gerte hinunter und ruft Kurbads zu, daß er sie fällen soll, aber Kurbads lehnt sich an eine dicke Eiche und schaut in den Mond. „Was schaust du da? — Hau zu!" „Ich tue es, ich tue es, aber ich möchte gern zuvor die Axt in das Fensterchen des Großvaters werfen, denn ich habe ihn lange nicht kauen hören." „Bist du denn von Sinnen, laß den Großvater in Ruhe! Gib die Axt lieber mir, ich werde die Eiche fallen — klettere du hinauf und biege sie hinunter." Kurbads springt nun auf den Wipfel der Eiche. Aber die Eiche erhebt sich — schwicks! — in die Luft und wirft Kurbads genau auf ein Häschen hinüber. Er packt das Häschen und wartet, bis die Eiche zu Boden stürzt. Der Teufel hackt und hackt. Endlich stürzt die Eiche nieder, aber umgekehrt: Der Wipfel fallt auf das Haus zu und das dicke Ende auf den Wald zu. Kurbads nimmt nun den Hasen und geht zum Teufel. „Wo treibst du dich herum, warum biegst du die Eiche nicht herunter?" „Wo soll ich mich denn herumtreiben, ich habe meinen jüngsten Bruder getroffen, und wir haben uns unterhalten, denn wir hatten uns lange nicht gesehen." „Was ist dein Bruder von Beruf?" „Er ist Läufer." „Er soll mit uns um die Wette laufen!" Gut. Als Kurbads nun den Hasen losläßt, rennt er drauflos und wackelt mit seinem Stummelschwänzchen. Der Teufel rennt und rennt — nichts zu machen, er kann ihn nicht einholen. „Du hast meinen Bruder nur veralbert: Du möchtest alles und kannst nichts. Nun, was soll mit der Eiche geschehen! Fasse du am dünnen Ende an, ich werde am dicken anfassen. Es ist doch klar, daß wir, sobald wir zugepackt haben, die Eiche nach Hause schleppen, ohne unterwegs haltzumachen." Der Teufel faßt am dünnen Ende an und zerrt die Eiche rückwärts durch den Wald, daß es nur so kracht; aber Kurbads setzt sich auf das dicke Ende und fährt gleichsam mit. Zu Hause wischt sich der Teufel den Schweiß von der Stirn, doch Kurbads «pottet: „Bist du aber ein schwacher Käfer, daß sich bei dir so schnell Schweiß einstellt." Am Morgen heißt der Teufel ihn die Teufelskinder heimfah180
ren und gut füttern. Kurbads spannt die Teufelsstute an, fährt nach den Kindern, lädt sie in den Wagen ein, deckt sie gut zu, bindet die Fuhre fest und fährt nach Hause. Aber unterwegs fällt ein Teufelskind nach dem anderen heraus, und sie rufen: „Kurbads, ich falle heraus, Kurbads, ich falle heraus!" Nun verfahrt Kurbads ganz anders: Wenn eins herausfällt, dann schlägt er es immer wieder — knaucks! — gegen das Rad, und es ist hin! Zu Hause setzt er die erschlagenen Kinder der Reihe nach an den Tisch, stopft ihnen Essen in den Mund, legt jedem einen Essennapf in den Schoß und geht dann die Stute loszuschirren. Es dauert nicht lange, da ist der Teufel zur Stelle und schreit aus vollem Hals: „Kurbads, du hast ja die Kinder erschlagen!" „Ich habe sie durchaus nicht erschlagen. Du siehst doch genau, daß sie vor Hunger gestorben sind: Alle haben den Mund voller Essen, und ihre Hände sind im Essennapf. Glaube mir: Diese kleinen Hungerleider haben sich verschluckt." „Was redest du da, du hast sie erschlagen!" „Wie, ärgerst du dich etwa?" „Nein, nein, ich ärgere mich nicht!" „Nun, dann laß es gut sein — gib mir eine andere Arbeit!" Am Morgen sagt der Teufel zu Kurbads: „Hör zu, am Abend gehe ich zu einer Hochzeit. Versorge die Stute, mach dich fertig und komm auch hin. Aber wenn du siehst, daß ich zwischen der Braut und dem Bräutigam sitze, dann wirf ein Auge auf mich." Kurbads schlägt der Stute die Augen aus und geht zur Hochzeit. Kaum setzt sich der Teufel zwischen die Braut und den Bräutigam, da wirft Kurbads ein Stutenauge auf ihn — der Teufel schaut schon hinauf. Nach einer Weile wirft er das zweite Stutenauge auf ihn — der Teufel springt auf und ist im Nu draußen und eilt nach Hause. Zu Hause tobt er: „Warum hast du der Stute die Augen ausgeschlagen?" „Du selbst hießest mich doch, auf dich ein Auge zu werfen!" „Wer wird so etwas sagen?" „Wie, ärgerst du dich?" „Nein, nein, ich ärgere mich nicht!" „Nun, dann laß es gut sein — gib mir eine andere. Arbeit!" 1 „Du wirst sie bekommen, du wirst sie bekommen!" In der Nacht legt sich Kurbads schlafen, aber er hört, was der Teufel mit der Teufelsmutter spricht. Sie wollen sich in der 181
Nacht leise an Kurbads heranschleichen und ihn mit der Axt erschlagen. Denn falls er sich nicht beeile, dann werde Kurbads ihn schließlich selbst erschlagen. Das Jahresende sei auch nicht mehr fern, und dann sei es mit der Wirkung des Schwächemittels vorbei. Nachdem Kurbads das gehört hat, springt er von seinem Lager auf, legt ein Butterfaß unter das Kissen, so daß es wie der Kopf eines Menschen aussieht, und dann versteckt er sich selbst hinter dem Ofen. Gegen Mitternacht schleicht der Teufel auf Zehenspitzen herein und haut auf das Butterfaß, das in unzählige Stücke zerschmettert wird. Lachend läuft er zur Teufelsmutter und erzählt: „Habe ich vielleicht zugeschlagen — das Gehirn spritzte nur so aus dem Schädel." Aber Kurbads läuft dem Teufel nach und fragt ihn, warum er denn das Butterfaß zerschlagen hat. Als der Teufel Kurbads jetzt erblickt, beginnen ihm die Beine nur so zu schlottern: „Man kann ihn einfach nicht totschlagen!" Er nimmt seine Sachen unter einen Arm und die Frau, die Teufelsmutter, unter den anderen Arm und flieht zur Hexe, der Feindin Kurbads'. Doch Kurbads jagt auf des Teufels Spur hinterher. Nach einiger Zeit sagt der Teufel zu seiner Frau: „Nun können wir uns ein wenig ausruhen, denn unsere Last ist entsetzlich schwer." „Aber natürlich, man könnte schon ein wenig ausruhen!" antwortet Kurbads hinter dem Rücken des Teufels. „Kurbads, bist du auch hier?" „Selbstverständlich, wo du bist, dort bin auch ich!" Der Teufel nimmt wieder seine Sachen und die Frau und eilt bis zum Flußufer, wo er etwas auszuruhen und sich zu erholen gedenkt. Kaum hat er sich gesetzt, da ist Kurbads wieder da. „Kurbads! Bist du auch hier?" „Selbstverständlich, wo du bist, dort bin auch ich!" In einer solchen Klemme hat sich der Teufel noch nie befunden. Nun ist das Ende wahrlich da: Man kann ihn einfach nicht totschlagen, man kann ihm einfach nicht entkommen. Zuletzt denkt er sich folgendes aus: Er wird die Frau neben sich betten, aber Kurbads soll am Flußufer liegen, damit er ihn ins Wasser stoßen kann, wenn er eingeschlafen ist. Doch Kurbads legt sich neben dem Teufel selbst hin. Er kämpft lieber mit dem Schlaf, so gut er es kann. Er wartet, 182
bis beide eingeschlafen sind, wälzt dann die Teufelsmutter an seinen Platz, legt sich auf ihren Platz und wartet, was nun weiter geschehen wird. Sobald der Teufel aufwacht, stößt er den Schlafenden in den Fluß. Doch bald merkt er, daß er seine Alte selbst hineingestoßen hat. So springt er ans Ufer, trampelt auf dem Boden herum und ringt die Hände. Jetzt ergreift Kurbads die Keule und schlägt dem Teufel so auf den Schädel, daß er — hast du nicht gesehen! — untergeht. Kurbads, der nun endlich von der Teufelsknechtschaft frei ist, macht sich auf den Heimweg, und wie er unterwegs seine Keule schwingt, merkt er, daß die einstigen Kräfte wiedergekehrt sind. Er geht und geht, bis er in einen großen Wald kommt. Am Waldrand sitzt ein greiser Mann und flicht Peitschen. „Lieber Greis, für wen flichtst du die Peitschen?" „Das sind die Hexenpeitschen, denn dieser Wald ist von Hexen besessen, so daß jeder Wanderer seine liebe Not mit den Ungeheuern hat. Man kann die Ungeheuer nur mit diesen Peitschen bändigen. Doch wenn sich einer fände, der mit starker Hand die Behausung der Ungeheuer zerstörte, dann wäre der Wald für alle Zeiten sauber." Kurbads entschließt sich, das zu tun. Er wartet den Abend ab, als sich die Ungeheuer in ihrer Behausung versammelt haben, und dann wälzt er einen großen Stein vor den Eingang der Behausung. Nun ergreift er seine Keule, wälzt den Stein ein wenig zur Seite, läßt ein Ungeheuer heraus — und erschlägt es; wälzt den Stein ein wenig zur Seite, läßt das zweite Ungeheuer heraus — und erschlägt es; wälzt den Stein ein wenig zur Seite, läßt das dritte Ungeheuer heraus — und erschlägt es. So schuftet Kurbads die ganze Nacht, bis es mit allen Ungeheuern aus und vorbei ist. Und der Wald ist seit dieser Zeit von Hexen frei. Am nächsten Tag stößt Kurbads jenseits des Waldes auf einen Menschen, der ein großes Feuer macht und unaufhörlich schreit: „Mich friert, mich friert!" „Warum wärmst du dich nicht, wenn dich friert?" Ja, sobald ich mich wärmen wollte, wäre mein Peiniger, der Werwolf, da und würde mich sofort verschlingen!" „Wärme dich ruhig, ich werde dem Werwolf schon eine Lehre erteilen!" So geschah es auch. Kaum hat er sich die Hände tüchtig ge183
wärmt, da ist der Werwolf zur Stelle und stürzt sich zähnefletschend auf den Ärmsten. Kurbads packt den Werwolf an der Gurgel, zerreißt ihn und wirft ihn ins Feuer, damit er für die Hexen zum Frühstück schmort. Der Werwolf verbrennt schwelend, das Feuer erlischt, und der Mann friert nicht mehr. Nachdem Kurbads ein Stück gegangen ist, erblickt er einen anderen Menschen, der am Rande eines kleinen Sees sitzt und unaufhörlich schreit: „Mich dürstet, mich dürstet!" „Warum trinkst du nicht, wenn dich dürstet?" „Ja, sobald ich trinken wollte, wäre mein Peiniger, der Adler, da und würde mich sofort verschlingen." „Trinke ruhig, ich werde dem Adler schon eine Lehre erteilen!" So geschah es auch. Kaum hat er tüchtig getrunken, da fliegt der Adler, mit dem Schnabel klappernd und mit den Flügeln schlagend, auf den Ärmsten herab. Aber Kurbads haut dem Adler den Kopf ab und stürzt den Bösewicht in den See. Der See trocknet sogleich aus, und den Mann dürstet nicht mehr. Endlich trifft Kurbads zu Hause ein. Aber hier erwartet ihn ein weiteres Unheil: Die Schlangenhexe hat seine Frau verhext, und nun ist sie sterbenskrank. Die Ärmste leidet so unter ihren Qualen, daß sie nicht einmal ihren Mann wiedererkennen kann. Doch Kurbads weiß immer einen Rat und hat stets Kraft. So ist das auch hier. Er nimmt das Mittel des Hundeschnäuzigen, mit dem er die Augen des lieben Alten geheilt hat, und mit derselben Arznei heilt er auch seine Frau. Jetzt lebt Kurbads einige Jahre in Glück und Frieden, denn die Schlangenhexe darf sich nicht mehr in seinem Reich sehen lassen. Dennoch hat sie die Rachegedanken auch nach Jahren noch nicht aufgegeben. Da sie nicht anders an Kurbads herankommen kann, läuft die Schlangenhexe durch neun Reiche und wiegelt neun Herrscher auf, Kurbads mit einem Heer zu überwältigen. Es versammelt sich ein riesengroßes Heer, und der Thronfolger des dritten Reiches, ein unbesiegbarer Riese, führt das Heer geradewegs in Kurbads' Reich. Kurbads versammelt auch seine Soldaten und zieht den Feinden entgegen. Nun setzt ein furchtbarer Kampf ein: Die Schwerter klirren, die Keulen krachen nur so. Zwar schlägt Kurbads den Riesen mit der Keule nieder, aber während er das Schwert zücken will, um ihm den Schädel zu spalten, verletzt der Riese ihn mit der Schneide des Schwertes an der linken Schulter. 184
Als die Schlangenhexe das sieht, läßt sie sich mit klappernden Flügeln auf Kurbads' Haupt nieder und spuckt ihre tödliche Galle in seine Schulterwunde. Kurbads hebt seine Linke und erwürgt die Schlangenhexe, er hebt seine Rechte und spaltet den Schädel des Riesen. Dann fällt er, von der tödlichen Galle vergiftet, auf seine Keule und stirbt. 59
WIE DER HOLZFÄLLER DEN TEUFEL BEZWINGT
Einmal fällt der Holzfäller im Wald Bäume, da sieht er einen Marder vorbeilaufen. Sofort eilt er ihm mit der Axt hinterher. Aber was hat der Dummkopf davon? Er rannte und rannte und fing ihn nicht. Im Gegenteil, er verirrte sich noch — das hatte er davon. Er irrte und irrte nun umher — es begann dunkel zu werden, und ob er wollte oder nicht, er mußte auf einen Baum klettern, auf einen Baum mit ganz buschigen Ästen, und dort die Nacht verbringen. Siehst du, auf der Erde darf man nämlich nicht schlafen — vielleicht wird man dann noch totgebissen. Es konnte kurz vor Sonnenaufgang sein, als der Holzfäller unten einen heftigen Streit vernahm. Hol dich der Teufel! Wer wird denn dort gefressen? Er schaut hin — und was sieht er? Ein Löwe, ein Windhund, ein Kater, ein Adler, eine Ameise, ein Hahn, ein Sperling und eine Fliege machen sich über einen verendeten Hirsch her, und einer schreit immer lauter als der andere: „Ich werde die Totenklage singen!" — „Nein, ich werde die Totenklage sihgen!" So hat der Hirsch auf einmal die merkwürdigsten Verwandten, daß man sich nur wundern kann. Die Fliege hat dem Verblichenen sein Leben lang hinterm Ohr gesessen, der Windhund ist dann und wann mit ihm um die Wette gelaufen, die Ameise und der Adler waren seine nächsten Nachbarn, und die Frau des Katers war wiederum eine gute Bekannte der Frau des Hirsches, und der Hahn, der wundert sich nur und ruft in die Menge: „Laßt die Verwandten Verwandte sein, ich habe die beste Stimme!" Der Holzfäller im Wipfel der Tanne lauscht gespannt, wie's dort unten noch enden mag. Da ruft auch schon der eine und der andere, der ihn erblickt hat: 185
„Komm herunter, entscheide du! Wer soll singen, und wer soll nicht singen?" Der Holzfäller klettert herunter, überlegt sich's einen Augenblick und sagt dann: „Was soll ich euch schon sagen? Ich selbst muß singen, sonst werden wir den Hirsch nicht bestatten." „Das stimmt! So ist's richtig!" rufen sie wie aus einem Mund. Und für eine so weise Entscheidung will ihn auch jeder von ihnen gut belohnen, jeder von ihnen wird ihm etwas von seiner Kraft dafür geben. Wenn er einmal etwas brauche, solle er sich nur des einen oder anderen von ihnen erinnern — im Nu wird er sich dann in einen Löwen, eine Fliege, einen Windhund oder in einen Hahn verwandeln. Nun gut! Der Holzfäller sang dem Hirsch die Totenklage, so daß der ganze Wald widerhallte, und dann verwandelte er sich in einen Löwen und machte, daß er aus dem Wald kam. Aber am Waldrand begegnet er einem Schweinehirten, der entsetzlich schluchzt. „Was fehlt dir, mein Junge?" Ja, was soll er nur tun oder lassen? Der Teufel wird in Kürze alle Schweine auffressen. „Ach, du lieber Gott! Wie kommt er denn dazu, dich so zu narren?" „Ja, das ist nicht meine Schuld, daran ist der König selbst schuld. Er hatte sich vor einigen Tagen hier im Wald verirrt und wußte nicht, wie er herauskommen sollte. Und da war plötzlich — was weiß ich, woher — ein fremder, junger Herr da und führte ihn nicht eher aus dem Wald, bis er ihm täglich ein Schwein zu geben versprach, und wenn die Schweine alle sind, dann mußte er ihm die Königstochter, sein eigenes Kind, zu geben versprechen. Siehst du, nun wird er die Schweine auffressen und außerdem noch der Schwiegersohn des Königs werden. Aber der König will einen solchen Teufel auf keinen Fall zum Schwiegersohn haben, und so hat er seine Tochter demjenigen zur Frau versprochen, der diesen Bösewicht umbringt." „Soso! Dann muß ich natürlich versuchen, den Schweinefresser in die Hände zu bekommen; ich bin ja zum Schwiegersohn des Königs wie geschaffen, daran wird doch niemand zweifeln." Er geht also zum König und sagt ihm alles. Der König ist einverstanden, jaja, mag er anstelle des Jungen die Schweine hüten. 186
Nun gut! Er hütet die Schweine einen Tag, es wird Abend, der Teufel ist zur Stelle, nimmt sich ein Schwein und verschwindet im Wald. Geschwind treibt der Holzfäller die übrigen Schweine nach Hause, verwandelt sich in einen Windhund, läuft einen Bogen und rennt dem Teufel entgegen. Sie stoßen aufeinander, und der Teufel sagt: „Guten Abend! Mein lieber Windhund — ich habe da etwas Schweres zu schleppen!" „Ob schwer oder nicht, darüber zu sprechen haben wir keine Zeit, aber hinter sieben Wäldern, im achten Wald, will sich soeben ein Gutsaufseher erhängen und kann's nicht, weil es ihm an Mut fehlt. Lauf hin, greif ihn dir — wozu gibst du dich mit den lächerlichen Schweinen ab?" „Meinst du wirklich, lieber Windhund? Ach Bruderherz, wenn's so ist, muß ich mich beeilen. Hier, halte das Schwein fest, ich bin gleich wieder da. Und wenn mir alles gelingt, bekommst du das halbe Schwein." Der Teufel rannte fort. Aber der Windhund verwandelte sich wieder in den Holzfäller und brachte das Schwein wohlbehalten nach Hause. Am nächsten Tag gegen Abend kommt der Teufel verärgert hergelaufen und holt sich wieder ein Schwein. Aber der Holzfaller verwandelt sich in einen Adler, fliegt einen Bogen und eilt ihm entgegen und staunt: „Gnädiger Herr, wieso essen Sie heute Schweinefleisch?" „Nichts zu machen, nichts zu machen, Väterchen Adler! Vor Hunger verschlingen wir manchmal Fesseln und schlucken Haken." „Du Dummkopf — in der anderen Welt schreit eben ein Kind. Eine Verbrecherin hat das Kleine ertränkt. Beeile dich lieber und hol es dir." „Ist das wahr?" Und so spaltete der Teufel in Windeseile eine Eiche mitten durch, schob das Schwein wie in einen Schraubstock hinein und eilte so schnell in die andere Weltv daß ihm fast der Atem ausging. Aber der Holzfäller nahm sich das Schwein aus der Eiche und ging lachend seiner Wege. Am dritten Tag hütet und hütet der Holzfäller —. der Teufel läßt sich nicht blicken, und es ist schon Abend. Der Holzfäller treibt die Schweine in den Stall und denkt bei sich: Wenn nur der Spitzbube nicht in der Nacht auftaucht! Ich muß mich'in einen Hahn verwandeln und ihn auf der Hühnerstange erwarten. Und tatsächlich, als ob's jemand vorausgesagt hätte! Um 187
Mitternacht ist der Teufel, fast verhungert, ?ur Stelle und rüttelt an der Stalltür. Aber nun beginnt der Hahn drauflos zu krähen, und der Teufel kommt gar nicht erst zu Wort, sondern sucht das Weite. Doch glaubst du etwa, daß der Bösewicht leer ausgeht? Weit gefehlt! Er läuft zum Schloß des Königs, zerrt die Königstochter aus dem Bett, und nun war's ein noch viel größeres Unglück. „Daß du mir entwischt bist!" spuckt der König am nächsten Morgen wütend, aber der Holzfäller beruhigt ihn: „Macht nichts, macht gar nichts, Väterchen, laßt's mich nur machen!" Und so steigt der Holzfäller auf den Berg, in den der Teufel mit der Königstochter hineingelaufen war. Er findet ein winziges Löchlein, verwandelt sich in eine Ameise, setzt sich rittlings auf ein Sandkörnchen und läßt sich hinunter in den Abgrund. Er kommt unten an und erblickt ein großes, weites Feld. Nichts zu machen — er verwandelt sich in eine Fliege und fliegt schnurstracks auf die andere Seite. Dort sieht er ein gläsernes Schloß und die gestohlene Königstochter, wie sie am Fenster sitzt und weint. Nun verwandelt sich die Fliege wieder in den Holzfäller und gibt sich zu erkennen, aber die Königstochter bangt: „Ach, du lieber Gott! Wie bist du nur hierhergekommen? Wenn mein Herr erscheint, wird er dich in Stücke reißen!" Und tatsächlich — bald ist auch der Teufel zur Stelle. Aber der Holzfäller verwandelt sich in einen Löwen und stürzt sich auf den Teufel. Oje! Wie sich die beiden da rauften: Haut- und Fleischfetzen flogen nur so durch die Luft. Aber schließlich verschlang der Löwe den Teufel. Nun freuten sich die Königstochter und natürlich auch der Hölzfäller; er hatte nur noch eine Sorge — wie er auf die Oberwelt zurückgelangen sollte. Er überlegte und überlegte — da schoß es der Königstochter durch den Sinn: Beim Herumblättern in den Büchern des Teufels hatte sie eine Stelle entdeckt, in der die Rede davon war, daß sich in dem und dem Baum ein kleines Diamantei befindet. Wenn es gelingt, dieses Ei auf die Oberwelt zu bringen, dann hebt sich das ganze gläserne Schloß empor. Nun gut! So verwandelt sich unser Holzfäller gleich in einen Sperling, fliegt auf den Baum, nimmt das Diamantei aus dem Nest und bringt es herunter. Aber wie soll man nun mit dem Ei dem Abgrund entrinnen! 188
„Warte mal!" fällt da der Königstochter wieder etwas ein, „der Teufel hat hier einen Torwächter, der in dieser Welt keine Katzen leiden kann; wenn er eine erblickt, wirft er sie gleich auf die Oberwelt hinauf; siehst du, so ist's!" Nun gut. Der Holzfäller verwandelt sich in eine Katze, nimmt das Ei in den Mund und schleicht um die Füße des Torhüters herum. Kaum hat der die Katze erblickt, da ruft er auch schon: „Husch, weg mit dir, du Aas, weg mit dir, du Aas!", und er packt die Katze am Schwanz und trägt sie auf der großen, langen Treppe nach oben. Er trägt und trägt sie, plötzlich steht er vor einem Kupfertor, einem Riesentor. Er schließt es auf, versetzt der Katze einen Fußtritt und wirft sie hinaus, und zwar auf denselben Berg, in den er, der Holzfäller, erst vorgestern als Ameise hineingekrochen war. So war das also. Aber kaum daß die Katze sich wieder in den Holzfäller verwandelt und das Ei auf die Erde gelegt hatte, da begann sich auch schon das gläserne Schloß mit der Königstochter emporzuheben und wurde am Gipfel des Berges sichtbar. Nun schließt der Holzfäller die Königstochter in die Arme und erlebt mit ihr in seinem gläsernen Schloß glückliche Tage. 60
DIE WUNDERMÜHLE
In alten Zeiten lebten einst zwei Brüder. Der eine war reich und der andere sehr arm. Der reiche Bruder haßte den armen aus tiefster Seele. Eines Tages hatte der arme Bruder kein Brot mehr. Deshalb wollte er sich welches kaufen, doch unglücklicherweise hatte er keinen einzigen Groschen mehr. Da ging er zum reichen Bruder, um ihn um Hilfe zu bitten. Doch kaum hatte dieser ihn kommen sehen, warf er eine verschimmelte Schweineschulter durchs Fenster und rief ihm zu, er solle sie doch in der Hölle verkaufen, dann werde er Geld in Hülle und Fülle haben. Der Ärmste dankte noch für diese Gabe und machte sich weinend auf den Weg zur Hölle. Unterwegs begegnet ihm ein weißes Männlein, das ihn nach dem Grund seiner Tränen fragt. Der Arme erzählt dem weißen Männlein, daß ihn sein Bruder in die Hölle geschickt habe, um die Schweineschulter zu verkaufen, aber er kenne nicht einmal den Weg zur Hölle. Das alte Männlein tröstet den Ärmsten und sagt ihm, daß die 189
ganze Sache gar nicht der Tränen wert ist. Er solle nur auf diesem Weg immer weitergehen, dann wird er geradewegs in die Hölle gelangen. Das Männlein sagt ihm noch, daß er in der Hölle kein Geld für die Schweineschulter verlangen solle, sondern eine kleine Handmühle, die dort in einer Ecke herumliege. Der arme Bruder dankt dem Männlein und setzt seinen Weg fort. Er geht und geht, aber zur Hölle scheint er nicht zu gelangen. Endlich erreicht er sie doch, aber er kommt nicht hinein, denn vor der Hölle befindet sich ein Riesentor. Der Ärmste beginnt nun zu klopfen. Da erscheint ein Teufelsknecht mit drei Köpfen und fragt nach dem Begehren des Ärmsten. Dieser verspricht ihm sofort die Schweineschulter. Als der Teufelsknecht hört, daß der Ärmste eine Schweineschulter zu verkaufen hat, wird er zugänglich und fragt, wieviel er dafür verlangt. Aber der Ärmste will kein Geld, er will nur die Weine Handmühle, die dort in einer Ecke herumliegt. Der Dreiköpfige mag jedoch kein Wort über die Mühle hören und sagt ihm, daß er etwas anderes verlangen solle, nur nicht die Mühle. Aber der arme Bruder merkt, daß dem Teufelsknecht im Gedanken an die Schweineschulter schon das Wasser im Munde zusammenläuft, und so läßt er sich auf nichts anderes ein. Schließlich bekommt er auch die Handmühle. Dann verabschieden sich die beiden. Der Teufelsknecht läuft mit der Schweineschulter zurück in die Hölle und schließt das Riesentor hinter sich zu, und der arme Bruder eilt mit der Mühle heimwärts, so schnell ihn die Füße tragen. Unterwegs begegnet er wieder dem weißen Männlein, das ihn fragt, ob er die Mühle erhalten habe. Ja, er habe sie bekommen, erwidert er, aber er wisse nicht, was er damit anfangen soll, denn er habe ja nichts zum Mahlen. Nun belehrt ihn das Männlein, daß er nur zu sagen braucht, daß die Mühle mahlen soll. Dann wird sie sich gleich drehen, und aller mögliche Segen wird herausfallen. Das Männlein verrät ihm auch noch die Worte, mit denen er die Mühle anhalten kann. Nur solle er sich davor hüten, jemandem diese Worte zu sagen. Nachdem das weiße Männlein dem Ärmsten nun alles mitgeteilt hat, was man mit der Mühle machen kann, verschwindet es. Nun begannen für den armen Bruder glückliche Zeiten. Tagtäglich versorgte ihn die Mühle köstlich mit Speis und 190 «
Trank. Auch anderen Reichtum mahlte sie für ihn und schließlich sogar so viel Gold, daß er sich ein prächtiges Schloß bauen konnte. Als der reiche Bruder das goldene Schloß erblickt, verliert er fast den Verstand. Er läuft zum armen Bruder und fragt ihn, wie er zu solchem Reichtum gekommen sei. Dieser erzählt ihm nun alles über die kleine Mühle, die ihm zu diesem Reichtum verholfen hat. Jetzt bedrängt ihn der reiche Bruder, ihm die Mühle zu verkaufen. Ja warum eigentlich nicht — er ist einverstanden, denn er hat jetzt doch alles in Hülle und Fülle, mag nun auch der Bruder zu Reichtum gelangen. Kaum hat jener diese Worte vernommen, greift er sich die Mühle und trägt sie stöhnend und keuchend nach Hause. Zu Hause angekommen, zittert er fast vor Freude. Seine Frau wundert sich. Was mag ihrem Mann nur zugestoßen sein? Am nächsten Morgen hat der reiche Bruder vor, auf die Wiese zu gehen, um mit anderen Männern Heu zu machen. Die Bäuerin möchte daheim bleiben und Brei kochen, aber der Mann sagt ihr, daß sie auf die Wiese mitkommen soll. Er wird schon selbst zur Frühstückszeit nach Hause laufen und mit der Mühle flink Brei mahlen. Die Bäuerin gehorcht ihrem Mann und geht mit auf die Wiese. Als es Frühstückszeit ist, wirft der Mann die Sense hin und eilt heimwärts. Daheim beginnt er nun Brei zu mahlen. Er mahlt und mahlt. Alle Töpfe sind bereits voll, aber die Mühle mahlt unablässig weiter. Der Bauer ruft, daß es nun genug ist, aber die Mühle mahlt weiter. Schon ist das ganze Zimmer voller Brei. Der reiche Bruder weiß sich keinen Rat mehr. Schließlich nimmt er die verrückte Mühle und bringt sie dem Bruder zurück. Mag er damit machen, was er will. Aber der Bruder schmunzelt nur über das Unglück mit dem Brei. Ganz leise spricht er die richtigen Worte, und vom Brei ist keine Spur mehr vorhanden. Einmal sahen Seeleute etwas in der Sonne leüchten. Sie verließen das Schiff und wollten aus der Nähe betrachten, was dort eigentlich leuchtet. Sie gehen ein Stück und erblicken ein Schloß aus purem Gold. Sie erkundigen sich, wem dieses Schloß gehört und wie der Besitzer dazu gekommen ist. Der arme Bruder antwortete, daß das Schloß sein Eigentum sei und daß er es mit Hilfe der kleinen Mühle bekommen habe. Die Seeleute staunen und staunen und bitten, sich die Mühle anschauen zu dürfen. Und sie sind von der Mühle so begeistert, daß sie beschließen, sie in der Nacht zu stehlen. 191
Am nächsten Morgen sucht der Bruder seine Mühle, aber er kann und kann sie nicht finden, denn die Seeleute sind mit ihr schon längst auf hoher See. Sie wissen eigentlich gar nicht, was die Mühle für sie zuerst mahlen soll. Während sie hin und her überlegen, ruft der eine, daß die Mühle Salz mahlen soll, denn das haben sie daheim vergessen. Alle sind damit einverstanden, und nun beginnt die Mühle Salz zu mahlen, daß es nur so stiebt. Die Mühle mahlt und mahlt. Schon ist eine ganze Schüssel voll Salz, so daß die Seeleute davon genug haben und die Mühle anhalten wollen, aber vergebens versuchen sie es — die Mühle hört nicht auf zu mahlen. Nun eilen alle Seeleute herbei und wollen die Mühle mit den Händen anhalten, doch umsonst! Im Nu ist das ganze Schiff voll Salz und versinkt mit allen Seeleuten und der Mühle. Aber auf dem Meeresgrund mahlt sie bis zum heutigen Tag weiter, und deshalb ist das Meerwasser auch so furchtbar salzig. 61
DER TEUFELSMIKELIS
Einst lebte ein armer Bauer in einem Haus, das so verfallen war, daß man sich fürchten mußte, es zu betreten. Das Dach war fast abgedeckt, der Regen tropfte durch die Decke ins Zimmer — es war wirklich schlimm. Zwar hatte der Bauer zwei Pferde, aber sie waren so schwach, daß sie kaum einen leeren Wagen ziehen konnten. Auch die Kühe waren nur Haut und Knochen. Und die Kinder — er hatte eine stattliche Anzahl — lungerten noch im Spätherbst halbnackt herum und kauten an einer vertrockneten Brotrinde. Es wurde Winter. Daheim hatte der Bauer nicht ein einziges Holzscheit mehr. So machte er sich in den Wald auf und nahm in seinem Brotbeutel ein trockenes Ränftlein mit; im Wald hängte er den Beutel an einen dürren Ast und fing an Holz zu hacken. Nachdem er eine Weile gearbeitet hat, schaut er nach seinem Beutel. Doch der ist verschwunden. Was nun? Den Bauern plagt entsetzlicher Hunger, und er wird ganz traurig. Auf einmal erblickt er einen feinen Herrn, als ob der vom Himmel gefallen wäre. Dieser fragt den Bauern, warum er so traurig sei. Na ja, man hat ihm sein Brot gestohlen. Der Herr empört sich über einen so unverschämten Dieb und meint, daß vielleicht sogar seine eigenen Knechte die Diebe seien. 192
Er pfeift laut und ruft: „Ihr alle, die ihr Juris, Jeskis, Brencis und Mikelis heißt, wo seid ihr?" Nun liefen sie herbei — die Großen und die Kleinen, und der Herr fragte: • „Seid ihr alle da?" Mikelis war noch nicht zur Stelle. Der Herr schaute sich um, und da kroch auch schon Mikelis verschämt und ängstlich aus dem Gebüsch. „Hast du das Brotbeutelchen dieses armen Mannes genommen?" „Ja, ich war es!" „Nun, zur Strafe dafür wirst du ab sofort diesem Bauern ein Jahr umsonst als Knecht dienen!" Nachdem der Herr, der Teufel, das gesagt hatte, verschwand er mit seinen Gesellen, und Mikelis ergriff die Axt des Bauern und begann, Bäume zu fällen, daß der ganze Wald nur so dröhnte. Der Bauer solle nur nach Hause gehen! Bis zum Abend hatte Mikelis eine Menge Bäume gefallt. Am nächsten Morgen fragte er den Bauern nach einem Pferd, um das Holz heimzufahren. Und der Bauer gab ihm sein halbverhungertes Pferd. Mikelis, der Teufelsknecht, lud nun im Walde den Wagen so voll, daß die Achsen fast brachen, und er ermunterte das Pferd, die Fuhre zu ziehen. Das arme Pferdchen plagte sich, aber es kam nicht von der Stelle. Nun, wenn es so steht, dann muß er eben das Pferd auf die Fuhre binden. Er schirrte sich selbst ein und zog den Wagen nach Hause. Am nächsten Tag nahm er das Pferd gar nicht erst in den Wald mit. Er schleppte den halben Wald allein heim und besserte das Haus aus. Außerdem beschaffte Mikelis eine Menge Balken, errichtete einige ganz neue Gebäude und fragte dann den Bauern, ob er denn gar kein Geld brauche. Der antwortete: „Selbstverständlich brauche ich Geld, aber wo soll ich's denn hernehmen?" „Gut", meinte der Teufelsmikeiis, „fahren wir zusammen in den Wald!" Sie fuhren also in den Wald und begannen, Moos zu sammeln. Eine Fuhre hatten sie mit Moos von Baumstämmen vollgeladen, die andere mit weichem Sumpfmoos. Dann fuhren sie die beiden Fuhren in die Stadt. Kaum waren sie dort angekommen, da sah das Moos wie weiche Wolle aus, und die Leute drängten sich um die Fuhren: 13
Lettische Volksmärchen
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„Oh, welch herrliche Wolle!" Wieviel ein Pfund kostet? Soundso viel. Sie bezahlten ohne Widerrede, wieviel verlangt wurde. Nachdem alle Wolle verkauft war, hatten die beiden eine Menge Geld. Ja, so war das. Doch nun hatte der Teufelsknecht beim Bauern keine Arbeit mehr, und er sagte ihm, daß er zum gnädigen Herrn gehen und ein Stück Wald zum Roden fordern wird. Gesagt, getan. Der gnädige Herr wehrte sich nicht — er dachte: Was kann denn schon ein solcher Schwächling roden? Und er gab ihm das geforderte Waldstück. Aber der Bursche stürzte sich auf die Arbeit; er wälzte die schwarze Erde um, und — hast du nicht gesehen! — war der ganze Wald gerodet und die Saat beendet. Bald wuchs hier prächtiger, mannshoher Weizen, und dem gnädigen Herrn tat es nun bitter leid, daß er dem Bauern einen solchen Weizen geben mußte. Der Teufelsknecht sagte: ,,Na, wenn nicht, dann nicht!" Aber so viel Weizen, wie man mit einem Mal forttragen kann, wird er doch wohl dem Bauern für die vollbrachte Arbeit gönnen. Jaja, einverstanden. Und was macht nun der Teufelsknecht? Er reißt Bast die Menge ab und flicht ein Seil, so schwer, daß es der Bauer nicht einmal anheben kann. Damit begibt sich Mikelis auf das Gut, bindet den ganzen Weizen zusammen, nimmt ihn auf den Rücken und schleppt ihn heim. Dann sagt er zu seinem Bauern: „Der gnädige Herr hat mir gestattet, so viel Weizen zu nehmen, wie man mit einem Mal forttragen kann, aber das ist nur die Hälfte von dem, was ich tragen könnte." Nun drosch er den Weizen und schüttete ihn in Säcke. Dann sagte er zum Bauern: „Iß dich nun satt — ich verlasse dich jetzt, denn die Zeit meiner Knechtschaft bei dir ist beendet." Und so ging er auf und davon, Gott allein weiß, wohin. 62
DER KLUGE BAUER
Ein Bauer kommt des Weges einher. Er wird müde und setzt sich am Wegrand auf einen großen Stein, um sich ein wenig auszuruhen. Da ist auch schon der Teufel zur Stelle und schreit ihn an: „Was fällt dir ein, dich auf meinen Stuhl zu setzen?" 194
Mutig erwidert der Bauer: „Warum schreist du? Willst du, daß ich dich zu Staub zermalme?" Dem Teufel wird angst, und er spricht nun mit sanfter Stimme: „Was hättest du denn davon?" „Nun, ich könnte dann in aller'Ruhe sitzen bleiben und mich erholen." „Wohin bist du überhaupt unterwegs?" „Ich war bei meinem Freund, um mir Geld zu leihen, aber ich habe ihn nicht zu Hause angetroffen." „Wenn du nett zu mir bist, kann ich dir Geld leihen." „Einverstanden. Gib mir das Geld!" „Aber im Herbst, wenn die Blätter fallen, mußt du mir das Geld wieder hierherbringen!" „Gut, ich bin einverstanden." Nun schleppt der Teufel einen schweren Geldsack herbei, und der Bauer geht beruhigt heim, nachdem er das Geld erhalten hat. Es wird Herbst, doch der Bauer denkt gar nicht daran, seine Schulden zu bezahlen. Der Teufel wartet und wartet, aber der Bauer kommt und kommt nicht zur verabredeten Stelle. Im Winter ist der Bauer wieder einmal unterwegs zu seinem Freund. Am großen Stein begegnet ihm der Teufel. Er sagt zu ihm: „Es ist schon eine lange Zeit verstrichen, aber du hast deine Schulden noch immer nicht beglichen." Der Bauer erwidert : „Warte nur, wenn es an der Zeit ist, dann werde ich meine Schulden' bezahlen!" „Die Blätter sind doch schon längst von den Bäumen gefallen!" „Die Tannen und Fichten sind aber noch immer grün." So wartet der Teufel bis heute darauf, daß die Tannen und Fichten ihre Nadeln verlieren, damit er sein Geld zurückbekommen kann. 63
DAS ALTER DES TEUFELS
Einst ging ein kluger Bauer durch den Wald. Da machte sich der Teufel an ihn heran und fragte ihn: „Kannst du erraten, wie alt ich bin?" 13*
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„Was gibst du mir dafür, wenn ich's errate?" „Zehn Sack Gold." „Gold kann man stets brauchen, aber ich habe heute nicht meinen Ratetag. Ich werde es ein andermal tun." „Machen wir's so: Nach einer Woche bin ich wieder zur Stelle." Der Bauer ist einverstanden. Nach einer Woche ist er um Mitternacht am verabredeten Ort. Er klettert auf einen Baum und beginnt, den Kuckuck nachzuahmen. Der Teufel kommt und staunt: Hol dich der Tod! Ich habe in neunhundertneunundneunzig Jahren noch nie gehört, daß der Kuckuck zur Winterszeit ruft. Im Dunkeln steigt der Bauer vom Baum herunter, macht noch eine Runde und kommt dann von der anderen Seite keuchend zum Teufel. Der Teufel fragt ihn: „Nun, hast du's erraten?" Der Bauer antwortet: „Unterwegs schoß es mir durch den Sinn, daß du neunhundertneunundneunzig Jahre alt sein mußt." „Wie hast du das erraten?" „Gnädiger Herr Teufel, an deinem Bart konnte ich das erkennen !" Der Teufel gab dem Bauern die versprochenen zehn Sack Gold und suchte wutschnaubend das Weite. 64
EIN MÄRCHEN ÜBER EIN MÄRCHEN
Es war einmal vor langer, langer Zeit, da hauste der Teufel in einem Sumpf. Er versprach demjenigen eine Unmenge Goldgeld, der ihm ein Märchen erzählt, das er noch nicht kennt. Darauf kamen viele aus aller Herren Ländern, um dem Teufel die allerverschiedensten Märchen zu erzählen. Doch welches Märchen man auch immer ihm zu erzählen begann, er kannte sie alle und erzählte sie selbst zu Ende. Nun hatte ein Vater drei Söhne. Die beiden ältesten waren klug, doch der dritte, der jüngste, war ein Dummerchen. Eines Tages beschlossen sie, sich zum Teufel zu begeben und ihm Märchen zu erzählen. Zuerst begibt sich der älteste Bruder zum Teufel und sagt: „Guten Abend, gnädiger, barmherziger Herr!" Der Teufel erwidert: „Guten Abend, mein Kind!" 196
Der älteste Bruder erzählt und erzählt, aber der Teufel ist ihm beim Erzählen immer ein Stück voraus, und nun wird es wieder nichts. Ja, außerdem galt dabei noch folgende Bedingung: Wer dem Teufel kein Märchen erzählen konnte, das er nicht schon kannte, dem wurden drei Hautstreifen aus dem Rücken geschnitten. Ünd weil nun der älteste Bruder kein Märchen wußte, das der Teufel nicht schon gehört hatte, schnitt er ihm drei Streifen aus dem Rücken und schickte ihn darauf nach Hause. Am folgenden Tag, so gegen Abend, begab sich der mittlere Bruder zum Teufel, um ihm Märchen zu erzählen. Er begrüßte den Teufel mit denselben Worten wie der älteste Bruder: „Guten Abend, gnädiger, barmherziger Herr!" Und der Teufel erwiderte gleichfalls: „Guten Abend, mein Kind!" Und der mittlere Bruder erzählte alle Märchen, die er kannte. Aber — du kannst erzählen, was du willst — der Teufel kennt alle Märchen, wahrlich alle. Das läßt sich nun mal nicht ändern. So schneidet der Teufel auch dem mittleren Bruder drei Streifen aus dem Rücken und schickt ihn darauf nach Hause. Am Abend des dritten Tages macht sich nun der jüngste Bruder zum Teufel auf. Dem Vater ist das gar nicht recht — er sagt ihm, daß es ihm ebenso ergehen wird wie den beiden älteren Brüdern, aber das Dummerchen läßt sich durch nichts, aber auch durch gar nichts zurückhalten. Er begibt sich zum Teufel in den Sumpf und sagt: „Guten Abend, Teufel!" Der Teufel erwidert: „Guten Abend, mein Kind!" Darauf antwortet der jüngste Bruder: „Was bin ich denn für dich für ein Kind, willst du nicht lieber ein Märchen hören?" Ja, das wolle er schon, aber wenn er ihm nicht ein Märchen erzähle, das er noch nie gehört habe, dann werde er ihm drei Streifen aus dem Rücken schneiden. Gut, er ist damit einverstanden, doch das Dummerchen fugt noch hinzu: „Wenn du mich unterbrichst und behauptest, daß irgend etwas nicht stimmt, dann schneide ich dir sechs Streifen aus dem Rücken." Dem Teufel bleibt nichts weiter übrig, als zu gehorchen, ob er nun will oder nicht. Und das Dummerchen beginnt zu erzählen: 197
„Wir sind daheim drei Söhne eines Vaters, der Vater ist der vierte, und ich bin der fünfte." Schon will ihn der Teufel unterbrechen und sagen, daß das nicht stimmen kann, aber er besinnt sich noch rechtzeitig, denkt an die sechs Streifen, die ihm aus dem Rücken geschnitten werden sollen, und beherrscht sich. Und das Dummerchen fährt fort: „Wir wollten alle miteinander ein Stück Land roden. So machten wir uns auf und rodeten ein großes, großes Stück Land. Am nächsten Morgen hielten wir Ausschau nach der Rodung, aber wir konnten sie nicht mehr entdecken. Vergeblich suchten wir den halben Tag. Auf einmal erblickte ich einen Mann, der Harkenstiele schnitzte. Ich ging zu ihm und sah, daß er das Ende eines Stiels auf die große, große Rodung gelegt hatte. Und ich, ich bin ja nun jung und stark, ich ergriff also den Stiel und schleuderte ihn neun Meilen weit. Und dann fanden wir auch unsere große, große Rodung. Wir begannen zu säen. Wir säten drei Tage lang und hatten während dieser Zeit ein und ein halbes Gerstenkorn gesät. Aber was für herrliche Gerste ging dort auf! Nachdem wir sie gemäht und gedroschen hatten, brauten wir Bier, und stell dir vor — wir hatten ein und eine halbe Scheune voll Bier. Das war vielleicht ein Trinken: Siebzig Männer und siebzig Pferde tranken drei Tage und drei Nächte. Waren wir betrunken! Nun begannen wir Fliegen zu fangen und sie in Säcke zu stecken. Und ich, ich bin ja jung und stark, ich fing einen ganzen Sack voll Fliegen. Das war genau zur selben Zeit, als in Deutschland die Fliegen teuer waren; dort bekam man für eine Fliege eine Kuh, stell dir nur vor, eine Kuh für eine Fliege! Als ich davon erfuhr, nahm ich, ich bin ja jung und stark, den Sack mit den Fliegen auf den Buckel, und nun nichts als auf und davon nach Deutschland. Ich bekam dort auch für jede Fliege eine Kuh, und nun hatte ich so viele Kühe wie der Baron selber. Ich wurde kaum mit den vielen Kühen fertig, und so bestieg ich ein Schiff und wollte sie nach Hause bringen. Doch auf dem Meer ereilte uns ein heftiger Sturm, der das Schiff zerschmetterte und uns an die jenseitige Küste verschlug. Nun überlegte ich hin und her, was ich tun sollte. Aber ich, ich bin ja jung und stark, ich hatte schnell einen Einfall: Ich packte eine Kuh am Schwanz, schwang sie im Kreis herum und nichts wie übers Meer hinüber. Ich packte die nächste Kuh am Schwanz — und nichts wie übers Meer hinüber. Und so machte ich es mit allen gesunden Kühen; nur 198
eine lahme Kuh war noch übriggeblieben. Doch da überlegte ich: Wie soll ich selbst denn das Meer überqueren? Und dann dachte ich, ich bin ja jung und stark, daß ich auch mich selbst hinüberwerfen kann. Ich packte also die lahme Kuh am Schwanz, drehte ihn etwa zehnmal im Kreise, und dann nichts wie zusammen mit ihr hinüber übers Meer. Ich hielt mich dabei an ihrem Schwanz ganz fest. Und, haste was kannste, ich kam mit der lahmen Kuh am anderen Ufer an. Nun begann ein langes Suchen, bis ich alle Kühe wieder beisammen hatte, aber ich, ich bin ja jung und stark, ich packte jede Kuh, die nicht gehorchen wollte, an den Hörnern. Und stell dir vor: Gott selbst staunte, daß ich so viele Kühe hatte, und fragte mich, ob ich sie nicht schlachten wolle, um Pasteln zu machen, denn die Pasteln aller Götter, ob der großen oder der kleinen, waren zerschlissen. Und er versprach mir viel Geld dafür. So begann ich alle Kühe zu schlachten und aus den Häuten Pasteln zu machen: Aus den dickeren Häuten fertigte ich Pasteln für die größeren Götter an und aus den dünnen welche für die Engelein. Aber nun hatte ich noch eine große Sorge. Wie sollte ich nur die Pasteln in den Himmel bringen? Niemand holte sie ab, und das versprochene Geld mußte ich doch schließlich auch bekommen. Da band ich die Schwänze von allen Kühen zu einem ganz langen Seil zusammen. An einem Ende befestigte ich die Pasteln, und an dem anderen, ich bin ja jung und stark, schwang ich sie im Kreis herum und begab mich schnurstracks hinauf in den Himmel. Kaum hatte ich das Seil geschwungen, traf ich damit auch schon die Hand von Petrus selbst. Der ergriff das Ende des Seils und zog mich mitsamt den Pasteln himmelwärts, gab mir das Geld und nahm die Pasteln in Empfang. Ich wollte auch den Himmel betreten, aber man ließ mich nicht hinein, sondern warf mich Statt dessen wieder auf die Erde hinunter. Plötzlich setzte ein heftiger Wind ein und verschlug mich in ein großes Moor. Beim Hinunterstürzen versank ich bis zum Hals im Sumpf. Vergebens versuchte ich herauszukommen, und so blieb mir nichts anderes übrig, als dort zu bleiben. Ich glaubte schon, mein letztes Stündlein sei gekommen. Auf einmal sah ich einen Bären vorbeirennen, dem ein Hase folgte, der den Bären fangen wollte. Fast hätte ich mich schon an den Schwanz des Bären geklammert, aber daftn fiel mir ein, daß der Hase stärker ist als der Bär, weil er ja den Bären jagt. Und so klammerte ich mich nicht an den Schwanz des Bären, sondern an den des vorbeilaufenden Hasen. Als er an mir vorbeirannte, packte ich ihn, ich bin ja jung und 199
stark, am Schwanz. Der Hase zerrte und stemmte sich dagegen. Er zerrte und zerrte, bis er mich aus dem Sumpf herauszerrte. Aber ihm selbst, dem Ärmsten, riß dabei der Schwanz ab." Der Teufel hatte die ganze Zeit mit offenem Mund zugehört, und er war völlig sprachlos. Ein solches Märchen hatte er wahrlich noch nie gehört. Und vor allem, er fürchtete sich entsetzlich, etwas zu sagen, denn dann wären ihm doch sechs Streifen aus dem Rücken geschnitten worden. Aber das Dummerchen bemerkte, daß der Teufel ganz ängstlich dreinschaute, und rief: „ N u n , reicht das? Und wenn du mir nicht glaubst, hier kannst du den Hasenschwanz sehen." K a u m hatte er das gesagt, warf das Dummerchen auch schon den Hasenschwanz auf den Tisch. N u n mußte der Teufel wohl oder übel glauben, daß das Dummerchen die reine Wahrheit erzählt hatte, und er erschrak darüber noch mehr. D a s ist doch kein gewöhnlicher Mensch, der mit Gott selbst gesprochen hat und K ü h e wie Federn übers Meer wirft. Er gab ihm sofort den ganzen Sack voll Geld, der so schwer war, daß das Dummerchen ihn kaum tragen konnte, und der Teufel sagte ihm, daß er sich davonscheren soll, denn er will von ihm nichts mehr hören und sehen. Mehr hatte das Dummerchen auch nicht gewollt als den großen Geldsack. Er warf ihn über die Schulter und begab sich wie ein General heimwärts. Der Vater und die Brüder konnten nicht genug darüber staunen, daß dem jüngsten Bruder ein solches Glück zuteil geworden war, aber er selbst tat kaum dergleichen. Er baute sich ein großes Schloß und lebte dort wie der König selbst. 65
DER TEUFEL ALS SOLDAT In alten Zeiten, als auch die Teufel noch gelegentlich das Soldatenhandwerk erlernten, gab es einmal einen mutigen und sehr schlauen Soldaten. Er machte sich über den Teufel keine Gedanken. Einst mußte er um Mitternacht Wache stehen. N u n gut — er machte sich auf. Aber da in dieser Nacht nichts zu tun war, präsentierte er sein Gewehr. Und was glaubst du, da ist auch schon der Gottseibeiuns zur Stelle. D o c h den Soldaten erschütterte das nicht, er fürchtet sich nicht, er zittert nicht. Was gibt's 200
denn da schon zu fürchten? Den Klauen des Teufels entwischst du sowieso nicht. Der Teufel kommt immer näher. „Guten Tag, lieber Nachbar! Ich wünsche dir alles Gute! Bringe mir bei, wie man ein Gewehr präsentiert. Ich wollte das schon immer lernen, aber geschafft habe ich's bis heute nicht." „Ach, du Schlauvogel, du möchtest es wohl bereits können, nachdem du's nur einmal gesehen hast. Wieviel Prügel habe ich nicht schon einstecken müssen, ehe ich es in zehn Jahren gelernt habe. Nun, Bruder, so einfach ist das nicht!" „Laß schon gut sein, mein Lieber! Bring es mir bei!" „Nichts gibt's umsonst, ich will mein Können für denselben Preis verkaufen, den ich gezahlt habe!" Nun befahl der Soldat dem Teufel, Haltung anzunehmen. Kaum bewegte sich der Schwarze, da hatte er auch schon mit dem dicken Ende des Gewehrs eins über bekommen: „Ich werde dir helfen — wie kannst du dich nur so rekeln!" Als er den Schwarzen bereits mehr als zehnmal mit dem dicken Ende des Gewehrs traktiert hatte, zitterten diesem die Beine. „Nun verschwinde", rief der Soldat, „laß es fürs erste Mal genug sein!" Dem Teufel erschien diese Lehre sehr hart, aber der Soldat beruhigte ihn: Ohne Fleiß kein Preis. Der Teufel dachte: Wahrscheinlich muß das so sein, er weiß es schließlich besser als ich. Und der Schwarze gab dem Soldaten zehn Dukaten und verschwand. Aber der Soldat dachte im stillen: Schade, daß ich ihn so wenig geschlagen habe; wenn ihm zwanzig Hiebe verpaßt worden wären, hätte ich vielleicht auch zwanzig Dukaten bekommen. Nach einer Woche mußte der Soldat an derselben Stelle Wache stehen. Und wieder ist der Teufel zur Stelle: „Guten Abend, lieber Nachbar!" „Guten Abend, Bruderherz! Was gibt's?" „Etwas Gutes gibt's — ich möchte wieder Unterricht haben!" „Soso! Du wolltest neulich alles auf einmal können! Nein, mein Freundchen, nimm Haltung an, Brust raus, Bauch rein!" So gab sich der Soldat lange mit dem Gehörnten ab, und schließlich befahl er ihm zu marschieren. Während der Schwarze hin und zurück marschiert, nimmt der Soldat aus dem Beutel ein kleines Kreuz und bindet es dem Teufel an den Schwanz. Nun brach der Teufel vielleicht in ein Geschrei aus! Und wie er zappelte! Was soll er jetzt anfangen? 201
Er verspricht dem Soldaten maßlos viel Geld, er solle nur das Kreuz vom Schwanz entfernen. Aber der Soldat antwortet: „Nein, Bruderherz, ich brauche kein Geld, bringe mich nach Hause — zehn Jahre habe ich Frau und Kinder nicht gesehen." Nun gut! Der Teufel nahm den Soldaten auf den Rücken, und im N u war er daheim. Einige Tage verbrachte der Soldat bei seinen Lieben. Dann setzte er sich wieder auf den Rücken des Teufels und begab sich eins-zwei-drei zurück. 66
DER KLUGE KNECHT Einst hütete ein Knecht an einem See Pferde und flocht für ein Pferd Zügel. D a kroch der Teufel plötzlich aus dem See und fragte den Knecht, was er mit den Stricken machen wolle. Der Knecht erwiderte, daß er damit Berge in den See wälzen wird. Nun flehte ihn der Teufel inständig an, das ja nicht zu tun, weil er dann keine Bleibe mehr hätte; er sei auch bereit, ihm viel Geld zu schenken — nur solle der Knecht von seinem Vorhaben ablassen. Nun gut. Der Knecht nahm das Geld und versprach, die Bitte des Teufels zu erfüllen. Doch jetzt forderte der Teufel den Knecht zum Hammerwerfen auf. M a l sehen, wer den Hammer höher werfen kann. Nun gut. Der Teufel schleppte vom Grund des Sees einen Riesenhammer herbei und warf ihn so hoch, daß man ihn kaum noch sehen konnte. Nun war der Knecht an der Reihe. Er ahnte, daß er den Hammer kaum heben kann, und griff deshalb zu einer List: Er faßte ihn am Griff, schaute gen Himmel und rief: „Macht das Himmelsfensterlein auf, damit ich den Hammer in den Himmel werfen k a n n ! " Als der Teufel diese W o r t e vernahm, humpelte er gleich herbei Und sagte, daß der Knecht den Hammer besser nicht werfen solle — er gehört nämlich den Urvätern des Teufels. Der Knecht lachte nur und ließ sofort den G r i f f los. Nun forderte ihn der Teufel auf, mit ihm zu ringen. Der Knecht war einverstanden, aber er sagte nur nebenbei: Es ist doch sinnlos zu ringen, er wird den Teufel sowieso bezwingen, er soll doch lieber mit seinem älteren Bruder ringen — den kann er vielleicht besiegen . . . »Ja, j a ! "
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Der Teufel war gleich einverstanden. Da zeigte der Knecht dem Teufel einen Bären, der im Sumpf schlief, und der Teufel begann einen Ringkampf mit dem Bären. Fast hätte der Bär dem Teufel sämtliche Knochen gebrochen. Trotzdem gab der Teufel noch immer keine Ruhe. Jetzt forderte er den Knecht zum Wettlaufen auf. Der Knecht erwiderte: „Für dich ist's doch völlig sinnlos, mit mir um die Wette zu laufen. Ich besiege dich sowieso — laufe lieber mit meinem jüngeren Bruder um die Wette!" „Ja,ja!" Der Teufel war sofort Feuer und Flamme. Nun zeigte der Knecht dem Teufel einen Hasen, der auf einem Hügel schlummerte. Der Teufel wollte tatsächlich mit dem Hasen um die Wette rennen, doch ehe er sich's versah, war der Hase schon auf und davon, und der Teufel stand noch immer auf der Stelle. Doch der Teufel gab keine Ruhe. Er forderte den Knecht auf, mit ihm am Ufer des Sees einen Spaziergang zu machen. Sie waren schon ein ganzes Stück gegangen — da erblickten sie zwei Eggen. Der Teufel wollte wissen, was das ist. „Das sind die Kämme meines Vaters", erwiderte der Knecht, „er war heute früh hier und hat sie wahrscheinlich vergessen." „Hat dein Vater aber stattliche Kämme!" wunderte sich der Teufel und steckte die Eggen in sein Haar: die eine in die rechte Seite des Kopfes — die andere in die linke. Sie gingen weiter und erblickten auf dem See zwei Boote. Was das wohl sein mag? „Das sind die Pasteln meines Vaters. Als er heute früh hier pflügte, weichte er sie ein, damit sie recht geschmeidig werden." „Hat dein Vater aber große Pasteln!" wunderte sich der Teufel und steckte den einen Fuß in ein Boot und den anderen Fuß ins andere Boot. Sie gingen weiter. Aber sie waren noch gar nicht weit gekommen, als es zu donnern begann. Der Teufel erschrak furchtbar. Der Knecht beruhigte ihn: „Mach dir doch darüber keine Sorgen. Mein Vater arbeitet mit seinen Leuten auf dem Feld, und das Füllen der Stute eines Feldarbeiters hat sich ein wenig entfernt. Daher wiehert die Stute ab und zu leise nach dem Füllen." Der Teufel wurde ruhiger. Aber nach einer Weile donnerte es erneut. Der Teufel erschrak noch mehr als zuvor, aber der Knecht beruhigte ihn wieder: 203
„Fürchte dich nicht! Das ist doch nur die Stute!" Als es jedoch zum dritten Mal donnerte, da schlug es auch schon ein, und der Teufel wurde erschlagen. Der Knecht lachte sich ins Fäustchen, daß er den Teufel so überlistet hatte. 67
D E R M U S I K A N T IN D E R H Ö L L E
Es ist schon lange, lange her, da herrschte ein geiziger Herr, der seine Leute und andere betrog und bis aufs Blut ausnutzte. Er nahm ihnen das letzte Stück Vieh fort und verkaufte es, um noch mehr Geld zusammenzuraffen. Wenn die Leute nichts mehr zu essen hatten, lieh er ihnen zwar einen Scheffel Getreide, aber damit mußten sie das ganze Frühjahr über auskommen. Zwar schütteten die Ärmsten Spreu dazu, fügten Stroh bei oder nagten an Baumwurzeln, aber dem Hunger konnten sie nicht entfliehen. Glücklich der, der wenigstens sein nacktes Leben behielt. Der Herbst kam, und die Schulden mußten zehn- und zwanzigfach bezahlt werden. Aber je mehr Geld der Herr erhielt, um so mehr wuchs seine Geldgier, und er wurde mit jedem Tag reicher. Er ließ ein großes Gebäude aus Eisen errichten, wo er sein Geld aufbewahrte. Zählen konnte er's schon nicht mehr; deshalb maß er es scheffelweise, und Wochen vergingen, bis er alles gemessen hatte. Nun sah der Herr, daß er genug Reichtum besaß, und er beschloß, auf seine alten Tage von den Sünden abzulassen und sich in die Schar der Frommen einzureihen. Er ließ eine große und prachtvolle Kirche bauen, wie sie bisher niemand gesehen hatte. Innen war sie mit so viel Gold ausgestattet, daß einem die Augen bei ihrem Anblick übergingen. Dann befahl er, am Altar einen Sarg anzufertigen, in den man ihn nach seinem Tod legen und in dem man ihn unterm Altar beerdigen sollte. Als die Kirche fertig war und eingeweiht wurde, legte sich der Herr in den Sarg, denn er wollte' sehen, wie es sich darin liege; aber kaum hatte man den Sarg geschlossen, da öffnete sich die Erde, und der Sarg versank mit dem Herrn in die Tiefe. An der Stelle, wo der Sarg versunken war, blieb ein tiefer, aber nicht sehr breiter Spalt. Die gnädige Frau, die noch jung und schön wie ein Blümlein war, versprach denjenigen zu heiraten, der sich durch den Spalt hinunterläßt und ihr Nachrichten von dem Verstorbenen überbringt. Da erschienen viele Herren, die alle die reiche Schöne 204
zur Frau haben wollten, aber keiner besaß den Mut, sich durch den Spalt in die Tiefe hinunterzulassen. Schließlich war Jänltis, der Musikant des verstorbenen Herrn, bereit, sich hinunterzulassen. Man trug alle Seile herbei, die man in der ganzen Gemeinde und auf dem Gut nur auftreiben konnte, knüpfte sie zusammen, aber vergeblich! Das Seil war zu kurz. Es wurden Seile von den Nachbargemeinden und Nachbargütern geliehen, aber sie reichten nicht. Nun befahl die Gnädige, den ganzen Flachs aus der Gemeinde und vom Gut zu Seilen zu flechten, aber vergeblich! Es reichte noch immer nicht. Darauf ließ man die Schnüre von allen Pasteln abschneiden und den Pflügern die Peitschen wegnehmen und zu Seilen flechten — jetzt merkte Jänis, daß es bis zum Innern der Erde nicht mehr weit war, er zog sein Messer aus der Tasche und schnitt das Seil oberhalb seines Kopfes durch. Nachdem er in eine große, dunkle Höhle hinuntergestürzt war, begann er an den Wänden entlangzutappen, bis er schließlich eine große, eiserne Tür entdeckte. Nun nichts als diese aufstoßen! Er strengte sich einen ganzen Tag an, bis sich die Tür schließlich krachend öffnete. Er betrat ein großes Zimmer voller Dampf und voll blauem Rauch. Mitten im Zimmer stand ein großer Trog mit glühenden Kohlen, und am Trog war ein weißes Pferd angebunden, das sich das Maul mit den glühenden Kohlen vollstopfte. Kaum erblickte das Pferd Jänis, da hob es seinen Kopf und sprach: „Weh dir, Jänltis, wo bist du hinuntergestiegen! Hier ist doch die Hölle, und ich bin dein ehemaliger Herr. Hier quält mich jetzt der Teufel. Wenn die Teufel mit den sechs und den zwölf Köpfen zurückkehren, dann werden sie dich zerreißen, so daß kein Härchen ungeschoren bleibt." Jänis ging weiter, er kam in ein anderes Zimmer, das aus lauter Gold und Edelsteinen bestand. Jänis setzte sich in einen goldenen Sessel und beganh zu spielen. Da liefen die Teufel herbei: Einige mit drei, andere mit sechs, wieder andere mit neun und der Oberteufel mit zwölf Köpfen. Lüstern hörten sie Jänis' Spiel zu. Der Oberteufel schickte seine Diener nach den Hexen. Es erschienen Fräulein, so schön wie die liebe Sonne, in Seidenkleidern und goldenen Schuhen mit Diamantabsätzen — sie selbst waren wie Milch und Blut, aber ihre Augen blitzten wie Feuer. Die Teufel trugen schwarze, lange Fräcke mit goldenen Knöpfen und Stiefelchen mit spitzen Absätzen, jeder von ihnen steckte sich einen Diamantstern an, und nun begannen sie mit den Hexen zu tanzen und zu 205
kosen. Und da war etwas zu sehen, wie die Teufel mit den Hexen herumsprangen! Die Hexen flogen fast nur durch die Luft, und kaum berührten ihre Füße den Erdboden, da blitzte es nur so. Jänis aber spielte und spielte, was das Zeug hielt — immer schneller, immer schneller — und da, tranks! tranks! rissen zwei Saiten. Er spielte auf den restlichen zwei Saiten weiter, aber nun waren die Teufel und die Hexen vom Tanzen so in Hitze geraten, daß es Jänis von dem verrückten Reigen ganz blau vor Augen wurde. Verzweifelt griff er mit aller Kraft in die Saiten, so daß die ganze Hölle erbebte. Und da stürzten die Teufel zu Boden, und die Saiten und die Geige waren auf der Stelle hin. Der Oberteufel stand auf, schüttelte sich und sagte: „Weißt du, Jänis, der letzte Griff war wohl zu stark — jetzt ist die Geige kaputt! Was soll ich nun in der Hölle ohne Musik anfangen?" Jänis erwiderte, daß das nicht so schlimm sei. Er solle ihm nur einen Scheffel Geld geben und ihn auf die Oberwelt lassen, dann werde er sich schon eine neue Geige besorgen. Der Teufel überlegte und sagte: „Gut, ich gebe dir fünf Scheffel Geld, damit du eine neue Geige kaufst, aber damit du nicht vergißt, in die Hölle zurückzukehren, gebe ich dir einen meiner Ratgeber mit." Nun verließ Jänis mit einem Teufel die Hölle. Sie gingen und gingen wohl ein ganzes Jahr unterhalb der Erde. Der Teufel schleppte die Geldsäcke, und Jänis folgte ihm pfeifend. Schließlich kamen sie an einen Fluß, und sie beschlossen zu schwimmen, und sie schwammen ein ganzes Jahr, bis sie die Oberwelt irgendwo im fernen Litauen erreichten. Sie kamen zu einem Gehöft. Jänis ging hinein und bat um eine Bleibe zur Nacht für sich, denn den Teufel konnte doch niemand sehen. Am Abend machten die Litauerinnen für Jänis das Bett zurecht, in dem er schlafen sollte. Als der Teufel das sah, fragte er: „Sag mal, wo soll ich denn in der Nacht schlafen?" Jänis zeigte ihm einen Trog, wo soeben Teig eingerührt worden war, und sagte: „Hier wirst du ausgezeichnet schlafen!" Der Teufel legte sich in den Trog, daß der Mehlstaub nur so hochflog. Am Morgen ging ein Mädchen zum Trog, schlug ein Kreuz und begann zu kneten. Der Teufel, der Ärmste, wachte auf 206
und wollte entwischen, aber vergebens — das Kreuz hinderte ihn daran. Das Mädchen nahm einen großen Löffel und fing an, den Teig zu rühren. Jetzt erging's dem Teufel aber schlecht! Er begann sich von einer Seite auf die andere zu drehen, aber er konnte und konnte nicht aus dem Trog hinauskommen — das verfluchte Kreuz war ihm im Wege. Jänis lag indessen im Bett, sah alles und dachte: Warte nur, warte, Brüderchen, du entkommst noch den Klauen des Teufels! Er stand auf, kleidete sich an, kaufte von dem Litauer zwei Pferde und einen Wagen, lud seine Geldsäcke ein, und dann ging's, haste was kannste, auf und davon. Jänis hatte schon einen weiten Weg zurückgelegt, als er den Teufel plötzlich in der Luft zischen und knurren hörte. Der Teufel läuft zu ihm und sagt: „Weh dir, in welches Unglück hast du mich gestürzt! Stell dir vor, das Mädchen hat mich in den Brotlaib geknetet und in den Ofen geschoben. Ich dachte — nun kannst du entwischen, aber — o je! Wieder war mir das Kreuz im Wege! Mein Wams begann bereits zu glühen, da fiel mir in meinem Unglück ein, daß der Ofen ja einen Schornstein hat, durch den ich ausreißen kann. Und das tat ich, wobei der ganze Schornstein und der ganze Ofen zusammenstürzten, und so habe ich dich eingeholt. Ach, bin ich aber müde!" Während sie sich so unterhielten, erreichten sie ein anderes Gehöft. Dort erblicken sie eine betrunkene Litauerin mit einem dicken Bauch, offener Brust und aufgekrempelten Ärmeln — o je, da laufen dem Teufel Schauer über den Rücken, als er sie sieht. Geschwind fragt er Jänis: „Was ist das für eine?" Lachend erwidert Jänis: „Das ist wieder eine von den Kneterinnen, die dich vorhin geknetet haben. Sie kommt, um dich wieder zu kneten. Wenn dich vorhin schon das junge Mädchen so übel zugerichtet hat, so kannst du dir vorstellen, wie es dir jetzt ergehen wird." Als der Teufel das hörte, ließ er Jänis mit den Geldsäcken stehen und eilte brüllend durch die Luft davon. So entkam Jänis endlich den Teufelsklauen. Jänis traf daheim bei der schönen Gnädigen ein. Kaum hatte sie ihn erblickt, da fiel sie ihm um den Hals und rief: „Ach du mein lieber Jänis! Nun bist du endlich daheim! Wie habe ich auf dich gewartet!" 207
Nun wurde sieben Wochen lang Hochzeit gefeiert. Auf dem Gutshof waren Tische gedeckt, an denen jeder nach Herzenslust essen und trinken konnte, ganz gleich, ob Tag war oder Nacht. Nach der Hochzeit verteilte Jänis das Geld, das ihm der Teufel geschenkt hatte, unter seinen Leuten, so daß alle reich wurden. Jänis freute sich noch seiner Kinder und Kindeskinder, und alle rühmten den guten, lieben Herrn Jänis.
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DER GOLDENE BART
Ein Mann, der nachts in der Riege des Gutes schlief, fand und fand keine Ruhe. Bald rüttelten irgendwelche fremden Drescher am Balkengerüst, bald droschen sie mit Dreschflegeln, daß es entsetzlich polterte, bald lärmten sie auf andere Art. Einmal wollte der Mann nun unbedingt sehen, was das für Menschen sind, die solchen Krach machen. So legte er sich eines Nachts gar nicht erst schlafen, sondern blieb vor dem brennenden Ofen sitzen, und um nicht einzuschlafen, machte er zum Zeitvertreib einen kleinen Trog. Während er beim Schnitzen war, erschien plötzlich, was weiß ich, woher, ein fremder Mensch: Warum er dort herumraschele? „Ich raschele nicht — ich schnitze einen kleinen Trog, in dem ich Gold schmelzen kann." „Wozu willst du Gold schmelzen?" „Wozu — das ist meine Sache. Ich bin ein betagter Bursche — kein Mädchen mag mich mehr. Deshalb werde ich mir einen goldenen Bart gießen — ich denke, dann wird sich schon ein Mädchen für mich finden." „Ach", rief der Fremde aus (es war der Teufel selbst), „das ist wahrlich ein vernünftiges Wort! Aber kannst du nicht auch meinen Bart vergolden?" „Warum nicht, doch dann mußt du mir drei Mützen voll Gold bringen, billiger geht es nicht." Der Teufel war einverstanden, er riß sofort dem Mann die Mütze vom Kopf und rannte nach Gold. Nach drei Sekunden war er mit dem Goldgeld zurück, und nun mußte der Bart gegossen werden. Und der Teufel wartete, daß es geschieht. Der Mann war aber kein Dummkopf! Er zerließ im kleinen Trog Harz und hieß den Teufel seinen Bart in diese Flüssigkeit tauchen — dann wird das geschmolzene Gold am Bart kleben208
bleiben und erstarren, und er wird einen Bart aus Gold haben, daß es nur so funkeln wird. Nun gut — der Teufel taucht also seinen Bart ins Harz. Der Mann wendet ihn im Trog hin und her, so daß er vom Harz tüchtig durchtränkt wird, und nach einer Weile sagt er: „Zieh den Bart nun heraus, ich glaube, er ist ausreichend vergoldet." Der Teufel zog und zog — aber du lieber Gott, wie entsetzlich! Das Harz war erstarrt und der Bart ganz und gar verklebt. Der Teufel schreit vor Schmerzen — was soll er nur mit einem solchen Bart anfangen! Ganz verzweifelt ist er über dieses Mißgeschick, aber der Mann beruhigt ihn: „Warte nur! Das Gold muß am Bart richtig haftenbleiben!" Darauf fragt der Teufel: „Wie heißt du?" Der Mann antwortete: „Ich heiße — Ich selbst!" Und dann sagte er noch zum Teufel: „Geh jetzt — das Gold haftet nun fest am Bart!" Der Teufel ging fort, aber während er die Dreschtenne verließ, strich er immerzu den Bart lang und schrie vor Schmerzen: „Ach, welche Schmerzen! Ach, welche Schmerzen! Und mein Bart ist so starr, daß er sich gar nicht glattstreichen läßt — wenn er nur nicht ganz und gar hin ist." Als das die Drescher des Teufels hörten, fragten sie ihn: „Wer hat dir denn den Bart so verschandelt? Wer war's denn?" „Ich selbst.war's — ich selbst!" „Nun, wenn du's selbst warst — was brüllst du dann so herum", erwiderten die Knechte. Seit jener Nacht war es nachts in der Darre ruhig — wer weiß, wo die Teufel geblieben waren. Aber der Mann hatte drei Mützen voll Goldgeld und war jetzt reich. Er heiratete die Tochter des Gutsherrn und lebte glücklich. 69
DER SOLDAT BEZWINGT DIE TEUFEL U N D DEN TOD
Einmal kehrte ein Soldat von seinem Dienst nach Hause zurück. Er war frohen Mutes, denn nun konnte er endlich daheim bleiben. Pfeifend ging er seines Weges, als ihm ein Bettler begegnete und um eine Gabe bat. Der Soldat hatte nichts 14
Lettische Volksmärchen
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außer drei Dukaten und einem Tabaksbeutel. Weshalb soll ich denn geizig sein, dachte der Soldat bei sich und gab dem Bettler einen Dukaten. Der Bettler bedankte sich und ging fort. Als der Soldat ein kleines Stückchen gegangen war, begegnete ihm wieder ein Bettler, der um eine Gabe bat. Nichts zu machen — er gab dem Bettler den zweiten Dukaten. Der Bettler bedankte sich und setzte seinen Weg fort. Auch der Soldat ging weiter, und wieder begegnete ihm ein ebensolcher Bettler wie die beiden ersten. Der Bettler bat wieder um eine Gabe, und der Soldat gab ihm seinen letzten Dukaten. Nun zog der Bettler ein Ledersäckchen aus der Tasche und gab es dem Soldaten für die drei Dukaten, die er an die Bettler verteilt hatte, und er lehrte ihn, wie er sich verhalten solle. Wenn er einmal jemanden züchtigen müsse, dann solle er nur folgende Worte sprechen: „Sack auf, Sack zu!", und im Nu würde das im Sack sein, was der Soldat wünscht. Der Soldat nahm den Sack und ging froh weiter. Es wird Abend. Der Soldat ging zum König und bat um ein Nachtlager. Der König wollte es ihm nicht geben, denn er hatte selbst großen Kummer. Der Teufel hat ihm befohlen, seine drei Töchter der Reihe nach auf das Schloß des Teufels zu bringen, und nun ist niemand da, der die Töchter bewacht. Der Soldat verpflichtet sich, die Töchter zu beschützen. Der König war sehr froh darüber und versprach dem Soldaten die jüngste Tochter zur Frau, wenn es ihm gelingen sollte, die Töchter zu bewachen. Der Soldat ist einverstanden, nur möge man ihm eine Fuhre Kerzen geben. Am Abend nahm der Soldat die Tochter des Königs und eine Fuhre Kerzen und fuhr los zum Schloß des Teufels. Er traf im Schloß ein und entzündete alle Kerzen, so daß es im Schloß so hell war wie am Tage. Am Abend kam der Teufel, um die Tochter zu holen, und er wunderte sich, daß im Schloß so viele Lichter angezündet waren. Er begann an der Tür zu poltern und fragte, wer sich im Schloß befinde. Der Soldat erwiderte, daß es nur ein alter Soldat sei, aber wenn er wolle, so möge er hereinkommen. Doch der Teufel ging nicht hinein und sagte, daß er am nächsten Tag kommen würde. Am nächsten Morgen war der König schon früh im Schloß, um zu sehen, ob sie noch am Leben waren. Und welches Wunder! Er fand den Soldaten und seine Tochter in süßem Schlummer. Darüber war der König nun endlich froh. Der Soldat erzählte, daß der Teufel versprochen hatte, in 210
der kommenden Nacht zurückzukehren, aber dann möge man dem Soldaten zwei Fuhren Kerzen geben. In der nächsten Nacht mußte der Soldat die mittlere Tochter bewachen. Der Soldat nahm zwei Fuhren Kerzen, die mittlere Tochter des Königs, und dann fuhr er los zum Schloß des Teufels. Er traf im Schloß ein und entzündete beide Fuhren Kerzen. Um Mitternacht kam ein Teufel mit drei entsetzlichen Köpfen und drei schwarzen Pferden. Der Kutscher ging zur Tür und fragte barsch, wer so viele Kerzen angezündet habe. Der Soldat erwiderte, daß das ein alter Soldat getan habe. Als der Teufel das hörte, antwortete er, daß er nun, da es ein alter Soldat sei, morgen abend kommen würde, und er fuhr davon, daß die Funken nur so sprühten. Nachdem der Teufel fortgefahren war, schliefen der Soldat und die Tochter glücklich bis zum nächsten Morgen. Am nächsten Morgen kam der König selber, um zu sehen, ob der Soldat und die Tochter noch am Leben wären, aber sie kamen ihm bereits lachend entgegen. Der König konnte sich über einen so heldenhaften Soldaten gar nicht genug freuen. In der nächsten Nacht mußte der Soldat die jüngste Tochter bewachen. Diesmal verlangte er vom König drei Fuhren Kerzen. Der König gab dem Soldaten drei Fuhren Kerzen, und am Abend begab sich der Soldat mit der jüngsten Tochter zum Schloß des Teufels. Er entzündete alle drei Fuhren Kerzen, und dann warteten sie darauf, was nun geschehen wird. Um Mitternacht kam ein Teufel mit neun Köpfen und neun schwarzen Pferden. Er sprang aus dem Wagen und fragte, wer sich im Schloß befinde. Der Soldat erwiderte, daß es ein alter Soldat sei. Er zog aus seiner Tasche den Sack, den ihm der Bettler gegeben hatte, und wartete, was nun geschehen wird. Diesmal riß der Teufel die Tür auf und stürzte sich auf den Soldaten, aber der Soldat rief: „Sack auf, Sack zu!", und der Teufel war im Nu im Sack. Nun nahm der Soldat den Sack und begann den Teufel tüchtig mit einem Ebereschenknüppel zu bearbeiten. Der Teufel im Sack fing zu bitten an, daß man ihn herauslassen sollte. Er wird sich die Prinzessin nehmen und dem Soldaten das Schloß geben, aber er soll ihn ja aus dem Sack herauslassen und nicht mehr schlagen. Der Soldat ließ sich um nichts in der Welt darauf ein und schlug weiter drauflos, bis der Teufel versprach, die Prinzessin 14»
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in Ruhe zu lassen und sich nie mehr in dieser Gegend blicken zu lassen. Der Soldat öffnete den Sack und ließ den Teufel heraus. Jedoch suchte der Teufel keineswegs das Weite, sondern stürzte sich auf den Soldaten und wollte ihn zerreißen. Da nahm der Soldat nochmals den Sack und rief: „Sack auf, Sack zu!", und der Teufel war wieder im Sack, und der Soldat schlug aus Leibeskräften auf ihn ein. Wieder begann der Teufel im Sack zu bitten, er würde gleich verschwinden und sich in dieser Gegend nicht mehr blicken lassen, aber jetzt glaubte der Soldat dem Teufel nicht mehr und schlug weiter auf ihn ein. Schließlich war der Soldat bereit, den Teufel herauszulassen, aber unabhängig von der ersten Abmachung mußte er noch so viel Gold bringen lassen, daß das ganze Schloß damit angefüllt war, aber er selbst mußte so lange im Sack bleiben, bis das Geld hergebracht war. Der Teufel war jetzt einverstanden, alles zu tun, um nur aus dem schrecklichen Sack hinauszukommen. Er pfiff dreimal, und sofort war das Schloß voller Teufel. Der Teufel im Sack sagte, daß sie, so schnell sie nur könnten, das ganze Schloß mit Goldgeld anfüllen sollten. Das ging ruck, zuck! Die Teufel verschwanden und waren bald wieder mit Geldsäcken zur Stelle. So ging das eine ganze Zeit, und das Schloß füllte sich allmählich mit Gold. Da lief ein Teufelchen plötzlich zum Teufel und sagte, daß in der Hölle kein Geld mehr da wäre, und fragte, was sie nun tun sollten, da ein Zimmer noch nicht mit Gold angefüllt wäre. Der Teufel sagte, daß er im Keller noch sieben Fässer voller Gold hätte. Mögen sie nur, so schnell sie können, das Gold holen. Die Teufel rannten wieder fort und waren geschwind mit dem Gold zurück. Jetzt waren alle Zimmer mit Gold angefüllt. Nun öffnete der Soldat den Sack und ließ den Teufel heraus. Der Teufel sprang im Nu aus dem Sack und rannte fort, ohne sich auch nur einmal umzuschauen. Als der König in dieser Nacht im Schloß Lärm hörte, dachte er, daß nun der Teufel soeben käme, um seine Tochter zu holen. Deshalb eilte er schon früh am Morgen zum Schloß, um zu sehen, was dort geschehen war. Aber welche Freude! Der Soldat und die Tochter kamen ihm schon lachend entgegen, und außerdem war dazu das ganze Schloß voller Gold. Noch am selben Tag feierte der Soldat mit der jüngsten Tochter Hochzeit, und der König gab dem Soldaten auch noch das halbe Königreich. 212
Der Soldat war alt, und so regierte er nicht mehr lange, denn kurz nach der Hochzeit starb er. Er kam in den Himmel, ging zu Gott und fragte ihn nach Arbeit. Gott machte den Soldaten zum Türwächter. Nun stand der Soldat vor der Tür Gottes und wachte. Eines Tages stellte sich hier der Tod ein und sagte, daß der Soldat ihn zu Gott hineinlassen solle, da er nach Arbeit fragen müsse. Der Soldat wüßte nicht, ob er ein solches von der Sonne ausgedörrtes Gerippe zu Gott hereinlassen sollte. Deshalb ging er selbst zu Gott hinein und erzählte, daß der Tod zur Tür gekommen wäre und herein wollte, er ihn aber nicht hereingelassen hätte. Der Tod frage nach Arbeit, und der Soldat wisse nicht, was er tun soll, ob er ihn hereinlassen, soll oder nicht. Gott antwortete dem Soldaten, er möge dem Tod sagen, daß er drei Jahre nacheinander ohne Unterlaß die Alten dahinschlachten solle. Der Soldat begann zu überlegen, was dann sein wird, wenn der Tod alle alten Menschen dahinschlachtet. Dann wird er ja auch den alten König dahinschlachten, und wer soll dann im Reich herrschen? Deshalb ging der Soldat zum Tod und sagte, daß Gott gesagt habe, daß er die ganzen drei Jahre ohne Unterlaß an alten Eichen nagen solle. Der Tod ging ganz gebrochen fort und nagte drei Jahre ohne Unterlaß an alten Eichen. Nach drei Jahren kam der Tod wieder zu Gott, um nach Arbeit zu fragen. Der Soldat erschrak tüchtig, als er den Tod erblickte. Deshalb wagte er es nicht, ihn so abgemagert zu Gott zu lassen, und er begab sich selbst zu Gott und erzählte, daß der Tod nun wieder gekommen wäre, um nach Arbeit zu fragen. Gott erwiderte, wenn alles getan sei, dann soll er in den nächsten drei Jahren ohne Unterlaß alle Menschen mittleren Alters dahinschlachten. Der Soldat überlegte und überlegte, was er nun tun sollte, aber er brachte es nicht fertig, dem Tod zu sagen, daß er alle Menschen mittleren Alters dahinschlachten möge. Denn dann würde er ja auch seine junge Frau dahinschlachten. Der Soldat ging zum Tod und sagte ihm, daß Gott ihm befehle, die ganzen drei Jahre ohne Unterlaß an Eichen mittleren Alters zu nagen. Der Tod ging noch gebrochener fort als das erste Mal und nagte drei Jahre lang ohne Unterlaß an Eichen mittleren Alters, und nach drei Jahren kam er wieder zurück und fragte nach Arbeit. 213
Nun erschrak der Soldat entsetzlich, als er den Tod erblickte. Der hatte überhaupt kein Fleisch mehr, sondern nur noch Knochen, so daß der Soldat ihn nicht zu Gott zu lassen wagte. Deshalb ging er selbst zu Gott hinein und fragte ihn, was der Tod in den nächsten drei Jahren tun müsse. Gott erwiderte, daß er alle Kinder auf der Welt dahinschlachten solle. Der Soldat überlegte: Nein, das kann er dem Tod nicht sagen, vielleicht hat auch meine Frau zu dieser Zeit ein Kind geboren, und dann würde der Tod auch das dahinschlachten. Daher kam der Soldat zum Tod heraus und sagte, daß Gott befohlen habe, daß er drei Jahre ohne Unterlaß an jungen Eichen nagen solle. Der Tod ging fort und hielt sich kaum noch auf den Füßen. Ganze drei Jahre nagte er ohne Unterlaß an jungen Eichen. Nach drei Jahren schleppte sich der Tod wieder zu Gott, um nach Arbeit zu fragen. Als der Soldat den Tod erblickte, konnte er ihn gar nicht mehr wiedererkennen. Jetzt hatte er nicht einmal mehr Haut auf dem Körper, sondern bestand nur noch aus Knochen. So durfte der Soldat ihn um keinen Preis zu Gott hereinlassen. Deshalb ging der Soldat selber hinein und erzählte, daß der Tod wieder da sei,' um nach Arbeit zu fragen. Gott erwiderte, was er ihm denn jetzt für eine Arbeit geben sollte, da doch alle Menschen hingeschlachtet wären. Möge der Tod doch selbst zu ihm hereinkommen. Nun saß der Soldat in der Klemme. Er ließ den Tod zu Gott hinein, aber Gott erkannte ihn nicht mehr. Er fragte, wer er sei. „Ich bin der Tod", antwortete der Hereingelassene. Gott konnte sich nicht genug darüber wundern, daß er so aussah, obwohl er doch so viele Menschen gegessen hatte. Der Tod erwiderte, daß es doch kein Wunder sei, wenn er so aussehe, da er ja ganze neun Jahre ohne Unterlaß an Eichen nagen mußte. Erst jetzt begriff Gott, daß der Torwächter am Unglück des Todes schuld war. Feierlich nahm sich Gott vor, das dem Soldaten heimzuzahlen. Er rief den Soldaten zu sich und befahl ihm, ganze neun Jahre lang den Tod auf seinen Schultern durch die Welt zu tragen, aber dem Tod sagte er, daß er zuallererst die Angehörigen des Soldaten dahinschlachten solle, so daß auch kein einziger am Leben bleibe. Nun schleppte der Soldat den Tod auf seinen Schultern durch die Welt. Sofort begab sich der Tod zu den Brüdern und Schwestern des Soldaten, um sie umzubringen. Als sie das Zim214
mer betraten, lagen dort schon alle sterbenskrank darnieder und stöhnten nur noch. Dem Soldaten taten sie leid. Er setzte sich auf die Ofenbank, zog seinen Schnupftabakbeutel heraus und begann Tabak zu schnupfen. Als der Tod das sah, bat er den Soldaten, ihm auch Tabak zum Schnupfen zu geben. Der Soldat wollte ihm keinen geben, aber als er so sehr bat, sagte der Soldat, daß er ihm den Tabak in ein Säckchen schütten wird, und dann kann er in den Sack kriechen und nach Herzenslust schnupfen. Der Soldat zog den Sack, den der liebe Alte ihm geschenkt hatte, aus der Tasche, öffnete ihn und sprach: „Sack auf, Sack zu!", und im Nu war der Tod im Sack. Der Soldat faltete den Sack zusammen und steckte ihn in die Tasche. Den Kranken begann es sofort besser zu gehen, und sie wurden offensichtlich munterer. Einige fingen schon an, aus dem Bett zu steigen. Bald schon wurden alle gesund, aber der Soldat ging zu seiner Frau, und sie lebten neun Jahre glücklich miteinander. Dann trug der Soldat den Tod zu Gott, aber unterwegs sagte er dem Tod, daß er ihn nur dann aus dem Sack herauslassen werde, wenn er ihn in einen jungen Menschen verwandle. Der Tod war durch das Leben in dem Sack völlig von Kräften gekommen, deshalb versprach er das dem Soldaten auch. Der Soldat ließ den Tod aus dem Sack heraus und wurde jung und hübsch. Nun trug er den Tod zu Gott. Gott fragte, ob er viele Menschen dahingeschlachtet hätte. Der Tod begann zu klagen, daß er doch gar nicht viele hatte hinschlachten können, da der Soldat ihn im Sack eingesperrt und die ganzen neun Jahre nicht hinausgelassen hatte. Gott zürnte deswegen dem Soldaten furchtbar und jagte ihn gleich davon, aber dem Soldaten machte das so gut wie gar nichts aus, denn er war ja jetzt wieder jung. Er begab sich in sein Reich und lebte glücklich.
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DIE HEXE ALS H E L F E R I N
In einer kleinen Hütte lebte eine arme Mutter mit ihrem Jungen. Sie besaßen nichts außer drei Schweinen. Tag für Tag ging die Mutter bald zu diesem, bald zu jenem Bauern, um das tägliche Brot zu verdienen. So schlugen sie sich tagaus, tagein mehr schlecht als recht durchs Leben. 215
Der Junge wurde größer und wollte unbedingt zu Besitz gelangen, nur wußte er ganz und gar nicht, wie er das anstellen sollte. Die Mutter schickte ihn die drei Schweine hüten. Er trieb die Schweine in den Wald, ging umher und überlegte, ob er nicht mit Hilfe der Schweine zu Besitz gelangen könnte. Er sann hin und her, kam aber zu keinem Entschluß. Er setzte sich auf einen Baumstumpf, ließ den Kopf hängen und blieb nachdenklich sitzen. Nach einem Weilchen kommt da im Wald eine große, alte Hexe mit einem großen, schönen Hund auf ihn zu. Die Hexe fragt, ob er nicht ein Schwein gegen den Hund eintauschen möchte. Der Junge betrachtet den Hund, und er gefiel ihm sehr. Er wäre schon auf den Tausch eingegangen, aber die Mutter würde darüber sehr böse sein und mit ihm schimpfen. „Fürchte dich nicht, tausche nur, denn der Hund wird dein Glück sein." Der Junge überlegte eine ganze Weile, bis er schließlich sagte, daß die Mutter zwar mit ihm schimpfen werde, aber er dennoch bereit sei, ein Schwein gegen den Hund einzutauschen. Er nahm den Hund und gab eines seiner Schweine dafür her. Seine Freude über den Hund war groß, aber des Schweines wegen fürchtete er sich vor der Mutter, denn sie hatte ihm immer wieder eingeschärft, daß er die Schweine ja nicht einmal billig verschachern sollte. Als er am Abend nur zwei Schweine heimtrieb, fragte die Mutter gleich, wo das dritte Schwein wäre. Der Junge erzählte, daß er das dritte Schwein gegen den Hand eingetauscht habe. Der Hund sei sein Glück. Der Mutter behagte das gar nicht, und sie ärgerte sich. Was hat man denn von einem Hund, man wird ihn nur füttern müssen. Sie brummte ein Weilchen vor sich hin, und dann war alles wieder gut. Der Hund ging dem Jungen nie von der Seite. Sein Name war Redzetäjs 1 . Er hieß so, weil er alles sah, was in der Welt geschah. Am nächsten Morgen trieb der Junge wieder die beiden Ferkel in denselben Wald. Er hatte sie schon eine ganze Weile gehütet, als auf ihn dieselbe Hexe mit einem noch größeren und noch schöneren Hund zukam und ihn fragte, ob er nicht wieder tauschen wolle. Nein, das dürfe er nicht, da die Mutter ihn dann nicht mehr hineinlassen werde. „Fürchte dich nicht, in diesem Hund liegt dein Glück." 1
Redzetäjs — Der Sehende.
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Der Hund war noch viel schöner und größer, er gefiel dem Jungen sehr, aber er fürchtete sich vor der Mutter, das zweite Schwein zu vertauschen, denn am Morgen hatte sie ihm ausdrücklich eingeschärft, so etwas nicht wieder zu tun. Er wollte und wollte es auch durchaus nicht, aber die Hexe redete auf ihn ein, bis er bereit war, das zweite Schwein zu vertauschen. Nun hatte er zwei Hunde. Der zweite Hund hieß Dzirdetäjs1. Er hörte nämlich alles, was auf der Welt gesprochen wurde. Der Junge war sehr froh und trieb sein Schwein heimwärts, er hatte jetzt nur noch ein Schweif dafür aber zwei Hunde. Sie waren auf Schritt und Tritt um ihn. Als er das Schwein heimtrieb, fragte die Mutter gleich, wo das zweite Schwein sei. Der Junge fürchtete sich, aber er erzählte, daß er das Schwein gegen den zweiten Hund eingetauscht habe, denn in dem Hund liege sein Glück! Die Mutter schimpfte wieder und wollte schon den Jungen mitsamt seinen Hunden fortjagen. Aber schließlich wurde es ihr weich ums Herz, und nachdem sie ihn tüchtig ausgeschimpft hatte, sagte sie nichts mehr. Am nächsten Morgen machte sich der Junge zum Schweinehüten auf, aber jetzt hatte er nur noch ein einziges Schwein. Die Mutter meinte, was man denn mit einem einzigen Schwein anfangen sollte. Sonst sagte sie nichts. Der Junge trieb das Schwein in denselben Wald. Beide Hunde folgten ihm auf Schritt und Tritt. Er hatte schon eine ganze Weile im Wald das Schwein gehütet, als dieselbe Hexe mit einem Hund auf ihn zukam, der noch viel größer und schöner war als die beiden anderen Hunde. Die Hexe trat an ihn heran und fragte, ob er jetzt nicht auch diesen dritten Hund gegen das Schwein eintauschen wolle. Der Hund gefiel dem Jungen sehr, aber gegen das Schwein durfte er ihn nun wohl nicht eintauschen, da dann kein einziges Schwein mehr übrigblieb und die Mutter ihn bestimmt nicht mehr ins Haus hereinlassen würde. Die Hexe sagte, daß er gar keine Angst zu haben brauche, sondern sich nur den Hund nehmen und ihr das dritte Schwein geben möge. All sein Glück liege in den Hunden. Der Hund war furchtbar groß und schön. Er hieß Plesejs2. Der Junge sann eine ganze Weile nach, was er tun und beginnen 1
Dzirdetäjs — Der Hörende. 2 Plesejs — Der Reißende.
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sollte. Der Hund gefiel ihm sehr, und er dachte, daß er auf den Tausch eingehen müßte, mochte geschehen, was geschähe. Er gab das dritte Schwein hin und nahm sich den Hund Plesejs. Nachdem sich die Hexe das Schwein genommen hatte, verschwand' sie sogleich. Der Junge wurde traurig, da er nicht wußte, was er tun, was er beginnen sollte, denn er hatte Angst, ohne ein einziges Schwein nach Hause zu gehen. Alle Hunde schmiegten sich froh an ihn, aber das vermochte ihn nicht zu erfreuen, denn ihm tat die Mutter sehr leid. Bei tiefer Dunkelheit kehrte er mit den drei Hunden heim. Als die Mutter ihn erblickte, fragte sie gleich, wo das Schwein sei. Der Junge war betrübt und begann zu weinen. Der Mutter wurde es weich ums Herz, sie sagte an diesem Abend nichts, aber am nächsten Morgen stand sie dennoch auf und sprach: „Denke nach, mein Sohn, wovon wir nun leben sollen. Das war unsere einzige Nahrung, und nun haben wir nichts mehr." Der Junge ließ den Kopf hängen und erwiderte kein Wort. Die Mutter füttert die Hunde einen Tag und einen zweiten Tag, und eines Morgens sagte sie dem Jungen, daß sie die Hunde nun nicht mehr füttern werde, er solle sie lassen, wo er wolle, denn man habe von ihnen nichts außer Not. Der Junge nahm alle drei Hunde und begab sich zu derselben Stelle in dem Wald, wo er sie von der Hexe eingetauscht hatte. Er setzte sich auf den Baumstumpf und begann ganz entsetzlich zu schluchzen. Da stand die Hexe plötzlich vor ihm und fragte: „Warum weinst du?" „Wie soll ich nicht weinen, meine Mutter kann mich nicht mehr leiden, und sie jagt mich mitsamt den Hunden davon, aber wohin soll ich gehen?" „Weine nicht, es wird schon gut werden, ich werde dir helfen." Ob er denn wisse, daß hinter den Bergen einem König seine drei schönen Töchter gestohlen worden seien und schon viele sie gesucht hätten, aber keiner sie gefunden habe. Sie werde ihm nun erzählen, wo sie sich aufhalten, und er solle nur zusehen, daß er sie finde, denn dann werde es ihm an nichts mehr fehlen. Der Junge seufzte tief und sagte, na wer weiß, ob er das vermöge. „Fürchte dich nicht, du wirst es schon können, sei nur ein mutiger Mann." Nun, mag es sein, wie es auch immer sei, er wird es versuchen. 218
Und nun erzählte ihm die Hexe, daß sich die Töchter des Königs hinter dreimal sieben Wäldern, dreimal sieben Meeren und Flüssen und dreimal sieben Bergen auf dem Gipfel eines Berges befanden. Der letzte Berg sei sehr hoch, und ganz oben auf dem Gipfel des Berges stünde ein schönes Schloß aus den allerkostbarsten Steinen, und in diesem Schloß wohnten die Töchter. Das Schloß gehöre einem unterirdischen Herrscher. Furchtbare Ungeheuer bewachen das Schloß, kaum sehen sie, wie sich jemand dem Schlosse naht, da werfen sie ihn sofort vom Berg hinunter, und wen sie einmal vom Berg hinuntergeworfen haben, der steigt ein zweites Mal nicht mehr auf den Berg. Ja, aber er wisse doch gar nicht den Weg zu jenem Berg und wie er die Meere und Flüsse überqueren soll. Die Hexe nahm sogleich ein kleines leuchtendes Knäuel aus ihrer Tasche, gab es dem Burschen und sprach: „Halte es am Bändchen fest und laß das Knäuel rollen und folge ihm, wohin es rollt, denn das wird dein Wegweiser sein. Du wirst über alle Meere und Flüsse gelangen, habe nur keine Angst, denn wenn du dich zu fürchten anfängst, dann kannst du schnell untergehen. Wenn du einmal Helfer brauchst, dann pfeife nur, und die Hunde werden alles für dich tun, was du auch immer wünschst." Nachdem sie alles erzählt hatte, verschwand sie. Der Bursche merkte nicht, wo sie geblieben war. Er setzte sich auf den Baumstumpf und begann zu überlegen, was nun er tun, was er beginnen, ob er nun gehen oder nicht gehen sollte. Dzirdetäjs und Redzetäjs stießen mit ihren Schnauzen an den Arm des Burschen und riefen: „Los!" Sofort war es ihm, als ob ein Nebelschleier von seinen Augen fiele. Er stand auf, ließ das leuchtende Knäuel vor sich herrollen, und sie begannen langsam vorwärts zu gehen. Sie gingen Tag um Tag, aber es gelang ihnen nicht, durch den Wald zu kommen. Der Bursche wurde müde und wollte nicht mehr weitergehen, aber die Hunde ermunterten ihn immer wieder. Sie durchquerten den Wald und kamen zu einer großen Wasserfläche — das war das Meer. Der Bursche blieb stehen und fing an nachzudenken, ob er weitergehen, stehenbleiben oder umkehren sollte. Dzirdetäjs erahnte seine Gedanken und bellte kurz auf: 219
„Los!" Der Bursche ließ das Knäuel rollen, und es rollte geradewegs ins Meer. Der Junge seufzte auf, und nun ging er voran. Er spürte das Wasser unter seinen Füßen nicht. Es dauerte auch gar nicht lange, eins-zwei!, schon befanden sie sich jenseits aller dreimal sieben Meere. Sie kamen zu einer wunderschönen Wiese, die voller herrlicher Blumen war. Durch djese blütenreiche Wiese schlängelten sich dreimal sieben Flüsse, in denen silbernes Wasser floß. Die Wiese gefiel dem Burschen sehr, und frohgemut durchschritt er sie. Ab und zu wollte er eine von den schönen Blumen pflücken, aber Redzetäjs erlaubte es ihm nicht — jedesmal, wenn er gerade dabei war, eine Blurqe zu pflücken, zog Redzetäjs von der Seite seine Hand fort. Sie gingen und gingen, bis sie zu hohen Bergen kamen, über die man nicht hinüberschauen konnte. Die Berge zu überschreiten war das AllerschWerste; an vielen Stellen konnte der Bursche nicht hinaufgelangen. Dann nahmen ihn die Hunde und trugen ihn hinüber. Sie hatten viele Steinwände überquert, als sie am letzten Berg ankamen. Sie blieben unten stehen und schauten hinauf. Sie schauten und schauten eine ganze Weile, aber sie konnten nichts sehen, denn der Berg war so hoch, daß sie den Gipfel nicht zu erblicken vermochten. Ringsherum war tiefe Dunkelheit, und der Bursche wußte nicht, ob er auf den Berg steigen oder die Nacht im Tal verbringen sollte. Da begann Dzirdetäjs plötzlich zu sprechen: „Über Nacht bleiben wir hier, aber morgen bei Sonnenaufgang beginnen wir auf den Berg zu steigen." Der Bursche legte sich hin und schlief ruhig, und die Hunde bewachten ihn reihum. Um Mitternacht leuchtete es plötzlich auf dem Gipfel des Berges, als wäre es die liebe Sonne. Redzetäjs stand mit dem Jungen auf und zeigte ihm das Schloß, das auf dem Gipfel des Berges in einem einzigen Feuerschein erstrahlte. Da er noch nie ein solches Licht gesehen hatte, begriff er nicht, was los war, und alles begann bereits zu beben. Er solle sich doch nicht fürchten, denn das sei gar nichts Schlimmes. Das Licht rühre nur von all den Kostbarkeiten des Schlosses her, die wie die liebe Sonne strahlen. Nun, als er das gesehen hat, kann er wieder ruhig schlafen. Es wurde Morgen, und bei Sonnenaufgang weckten die Hunde den Burschen, und sie begannen den Berg zu besteigen. 220
Nachdem sie mehrere Tage bergaufgegangen waren, erreichten sie endlich das Schloß. Alle Wächter hatten sich vom Schloß entfernt. Der Bursche und seine Hunde öffneten die Tür des Schlosses und gingen hinein. Dort war alles so schön, daß die Augen von so vielen wunderbaren Dingen geblendet wurden. Der Bursche öffnete die zweite Tür, und hinter der erschien sogleich eine sehr schöne Tochter des Königs. Sie rief aus: „O weh, warum bist du hierhergekommen? Eile lieber gleich von dannen, denn bald wird mein Mann nach Hause kommen und dich in Stücke zerreißen. Geh nur fort, denn sieben Jahre sind vergangen, und niemand hat mich erlösen können." „Einerlei, was auch immer geschieht, ich fürchte mich vor niemandem." Die Königstochter seufzte und wußte nichts mehr zu sagen. Ganz allein ging der Bursche hinein, die Hunde kamen nicht mit ins Schloß, sondern versteckten sich außerhalb des Schlosses. Er brauchte gar nicht lange zu warten, da erschien ein Ungeheuer und schnüffelte und schnaubte. Es lief zur Tochter des Königs und brüllte sie an, sie solle ihm zeigen, wo der Fremde geblieben sei, denn es sei doch jemand hereingekommen. Wenn sie ihm den nicht zeige, dann werde er ihr auf der Stelle den Kopf abhacken. Sie sagte kein Wort. Sofort kam der Bursche hervor und rief, das Ungeheuer solle die Tochter in Ruhe lassen, denn er selbst sei der Schuldige. „Ah! Das wird ein leckerer Happen sein!" Das Ungeheuer erhob die Axt und wollte dem Burschen gleich den Kopf abhacken. Der Bursche war noch nicht zum Pfeifen gekommen, da waren schon alle drei Hunde zur Stelle. Plesejs machte sich nur mit seinen Krallen ans Werk, und — hast du nicht gesehen — war das Ungeheuer in Stücke zerrissen. Froh fiel die Königstochter dem Burschen um den Hals und bat ihn unter Tränen; sie doch hier nicht länger allein zu lassen. Der Bursche führte sie in eines der Zimmer des Schlosses, das ihm der Hund gezeigt hatte, weil sie darin sehr sicher waren. Dort verbrachten sie die Nacht. Am nächsten Morgen stand der Bursche mit den Hunden auf, und sie überlegten sich, wohin sie gehen sollten. Der Bursche dachte: Was ich mir vorgenommen habe, das habe ich gefunden, jetzt werde ich nach Hause gehen. Jeder nahm sich eine Kostbarkeit mit, und sie verließen das Schloß. Aber da schoß 221
es dem Burschen plötzlich durch den Sinn, daß die Hexe erzählt hatte, dem König seien drei Töchter gestohlen worden und die jüngste sei die allerschönste. Er fragte sofort die Königstochter, ob sie ihm sagen könne, wo ihre beiden Schwestern seien. Sie seien in ebendiesem Schloß, man müßte nur höher steigen. Der Bursche hieß die Tochter im Zimmer warten, und er selbst stieg mit den Hunden höher hinauf. Er stieg auf einer schier endlosen Treppe so lange empor, daß es ihm eine ganze Ewigkeit erschien. Endlich war das zweite Stockwerk des Schlosses erreicht. Kaum hatte er die Tür geöffnet, da kam ihm plötzlich die mittlere Tochter des Königs entgegen, die viel schöner war als die ältere Schwester. Als sie den Burschen erblickte, rief sie aus: „O weh, mein Lieber, warüm kommst du, eile lieber gleich von dannen. Sieben Jahre sind vergangen, niemand hat mich erlöst, und es wird mich auch niemand erlösen, mein Mann kommt bald nach Hause, und er wird dich zu feinem Mehl zermahlen." „Ich gehe nicht, und ich fürchte mich vor niemandem." Die Hunde spürten, daß das Ungeheuer nahte. Sofort versteckten sie sich und zerrten auch den Burschen unter das Bett. Nach einem Weilchen kam das dreiköpfige Ungeheuer herein und schnüffelte. Es ging zur Königstochter und verlangte, daß sie ihm zeige, wo die Fremden geblieben seien. Wenn sie es nicht tue, werde er ihren Kopf wie einen Knopf auf den Fußboden kullern. Der Bursche sprang mitsamt dem Bett hoch und rief: „Hier bin ich!" „Ach, du Dreikäsehoch, du gedenkst wohl, mich ebenso wie meinen Bruder umzubringen! Nun, das wird dir nicht gelingen, mein Freundchen, ich zermahle dich jetzt zu feinem Mehl." „Finger weg, dir wird's nicht gut ergehen!" Das Ungeheuer hörte nicht und packte den Burschen am Kragen. Da pfiff er ein wenig, und sofort sprangen alle Hunde unter dem Bett hervor. Plesejs ergriff das furchtbare Ungeheuer, riß ihm alle drei Köpfe ab und schleuderte sie mit solcher Wucht davon, daß sie in feines Mehl zerstoben. Das Ungeheuer selbst zerrissen die Hunde in kleine Stückchen, und die warfen sie aus dem Schloß hinaus, damit sie von den Vögeln aufgepickt wurden. Die Königstochter wußte vor Freude nicht, was sie tun sollte, denn ihr Befreier war gekommen und hatte sie erlöst. 222
Nun schauten sie sich den zweiten Teil des Schlosses an. Er war viel schöner als der erste. Die Nacht verbrachten sie dort. Sie legten sich in einem Zimmer zur Ruhe, das drei Türen hatte, und alle drei standen offen — sie waren nicht verschlossen. An jeder Tür blieb ein Hund stehen und wachte die ganze Nacht. Am Abend war alles still, niemand störte sie, aber gegen Mitternacht begann jemand wie der Wind von einer Seite des Schlosses auf die andere zu rennen und zu poltern. Er rannte hin und her und öffnete die Türen, doch kaum erblickte er den Hund vor der Tür, da schlug er sofort die Tür zu und verschwand. Das allerfurchtbarste Ungeheuer hatte in der letzten Nacht einen sonderbaren Geruch wahrgenommen. Es hatte keine Ruhe mehr, stand auf und ging nach seinen Brüdern sehen. Es suchte den einen, es suchte den anderen, aber es konnte und konnte sie nirgendwo finden. Das Ungeheuer öffnete eine Tür, es öffnete die zweite Tür und erblickte einen Mann mit Hunden, so stark, daß es sie nicht überwältigen konnte. Nun gedachte das Ungeheuer, den Burschen durch eine List zu besiegen. Am nächsten Morgen erwachten alle bei Sonnenaufgang und machten sich bereit hinunterzusteigen. Der Bursche führte die beiden Schwestern zusammen und sagte ihnen, daß sie so lange hierbleiben sollten, bis er auch mit dem allerfurchtbarsten Ungeheuer fertig sei. Die Schwestern waren über das Wiedersehen nach sieben Jahren so glücklich, daß beide wie kleine Kinder weinten. Sie wollten den Burschen durchaus nicht fortlassen, aber er erwiderte, daß er gehen und sein Versprechen einlösen müsse. Der Bursche begab sich jetzt mit den Hunden dorthin, wo sich die schönste und jüngste Tochter des Königs befand. Lange stieg er eine hohe Treppe empor, dann öffnete er eine Tür, und drinnen sah er alles leuchten wie die liebe Sonne. Seine Augen wurden geblendet. Er öffnete die zweite Tür, da kam ihm die jüngste Tochter des Königs entgegen und leuchtete wie die liebe Sonne, so wunderschön war sie. Das Herz des Burschen verliebte sich so innig in sie, daß er sogar bereit war, auf der Stelle zu sterben. Als die Tochter ihn erblickte, rief sie beglückt aus: „O weh, mein Lieber, warum bist du gekommen, eile lieber gleich von dannen, denn sieben Jahre lang ist niemand mit dem Leben davongekommen, und auch dir wird es nicht gelin223
gen. Mein Mann wird gleich nach Hause kommen und dich in Stücke zerreißen!" „Mag kommen, was will, ich fürchte mich nicht!" Diesmal sagten die Hunde nichts; das neunköpfige Ungeheuer kam herein und rief: „Ach, du Dreikäsehoch, wenn du auch meine beiden Brüder umgebracht hast, mich wirst du nicht umbringen!" „Das werden wir sehen!" Das Ungeheuer schaute auf die Königstochter und sprach: „Nun, dieser Kröte werde ich zuerst den Kopf abhacken wie einen Kohlkopf." Der Bursche sagte: „Nicht so schnell!" Als das Ungeheuer merkte, daß es mit Gewalt nichts erreichen konnte, warf es sogleich das Netz seiner List aus und sprach: „Warum sollen wir uns schlagen. Welches Vaterland gilt es zu teilen? Einigen wir uns doch lieber im guten! Ich werde dir, einem so mutigen Burschen, die Königstochter kampflos geben." Zwar wollte der Bursche dem nicht zustimmen, aber das Ungeheuer ließ so lange keine Ruhe, bis er ihm zustimmte, sich mit ihm im guten zu einigen. Das Ungeheuer sagte, daß der Bursche, wenn er nichts anderes als die Königstochter wolle, sie fortführen möge, aber während sie hier beieinander säßen, solle er doch die Hunde zum Fressen hinauslassen. Der Bursche meinte, daß das Ungeheuer mit den Hunden selbst sprechen möge; wenn sie wollten, dann sollte es geschehen, andernfalls könne er es nicht tun. Das Ungeheuer ging voran, und alle drei Hunde folgten ihm. Doch es führte die Hunde keineswegs zum Fressen, sondern in eine kleine Kornkammer und schloß alle Türen zu, so daß keiner herauskonnte. Nach einem Weilchen ging der Bursche hinaus, um nach seinen Hunden zu sehen. Da entdeckte er, daß sie alle in der Kornkammer eingeschlossen waren. Ihm war, als fiele er vom Himmel — jetzt würde wohl sein Ende gekommen sein. Er ließ den Kopf hängen und begab sich zurück in das Zimmer. Das Ungeheuer lacht mit allen neun Köpfen, betritt das Zimmer und spricht: „Nun werden wir j a sehen, wem die Königstochter gehören wird, dir oder mir." 224
Das Ungeheuer ging zur Wand, ergriff das Schwert, zückte es und begab sich zur Königstochter. Der letzte Augenblick war gekommen. Das Schwert begann bereits herunterzugleiten. Der Bursche pfiff vor Aufregung. Dzirdetäjs hörte das sofort und sagte es dem Plesejs. Vor Zorn warfen sich die Hunde mit einer solchen Wucht gegen die Tür, daß diese mitsamt den Angeln heraussprang. In einem Satz war Plesejs durch das Fenster im Zimmer, packte das Ungeheuer, schleuderte es sich um die Ohren und warf es mit derartiger Kraft zu Boden, daß nur ein nasser Fleck übrigblieb. Jetzt waren alle drei Königstöchter frei, und niemand tat ihnen mehr etwas zuleide. Nachdem sie sich das ganze Schloß und die Kostbarkeiten genau betrachtet haben, nehmen sie einen Teil mit und gehen zu den andern beiden Schwestern. Als nun alle Schwestern beieinander waren, wußten sie vor Freude nicht, wohin sie gehen und was sie tun sollten. Sie übernachteten im Schloß und verließen es am nächsten Morgen. Die Hunde gingen voran. Kaum hatten sie die Türen geöffnet, da stürzten sich Drachen mit weit aufgerissenen Mäulern auf sie nieder; doch Plesejs streckte nur seine Pfote aus, und die Drachen verschwanden im Nu. Die Ungeheuer hatten sehr schöne Pferde besessen. Nun wurden diese vor die mit Schätzen beladenen Kutschen gespannt, und los ging's. Der Bursche fuhr aber nicht sofort zum Schloß des Königs, sondern erst zu seiner Mutter. Er nahm die Mutter mit und sprach zu ihr: „Siehst du nun, Mutter, was mir die Hunde gegeben haben!" Sie sagte zu ihrem Sohn kein Wort mehr, doch sie bereute es, daß sie ihn damals gescholten hatte. Alle fuhren nun zum König. Der König war vor Kummer völlig ergraut, als er aber seine Töchter erblickte, wußte er vor Freude nicht, wohin er gehen und wo er bleiben sollte. Sofort sagte er dem Burschen, daß er sich die Tochter, die er mag, zur Frau nehmen solle. Er erwählte sich die Jüngste, die Schönste. Gleich richtete der König eine große Hochzeit aus, die mehrere Tage hintereinander gefeiert wurde. Nach der Hochzeit übergab der König all sein Hab und Gut und die Regentschaft dem Burschen, und er war nun ein sehr guter Herrscher. Alle erlebten glückliche Tage, und wenn sie nicht gestorben sind, erleben sie die auch noch heute.
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Lettische Volksmärchen
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71 DER WUNDERSOHN
Es lebten drei Schwestern, die pflückten einmal Flachs. Es kam der König des Landes mit einem Heer vorbei. Da sagte eine der Schwestern: „Ach, wenn der König mich zur Frau nähme, würde ich ihm einen Sohn schenken mit der Sonne auf der Brust und dem Mond an der Stirn." Die zweite sagte: „Wenn der König mich zur Frau nähme, würde ich mit einer Ähre sein ganzes Heer satt machen." Die dritte Schwester sagte: „Wenn der König mich zur Frau nähme, würde ich mit einer Handvoll Flachs sein ganzes Heer einkleiden." Dieses Gespräch kam dem König zu Ohren, und er nahm sich die Schwester zur Frau, die versprochen hatte, ihm einen Sohn zu schenken mit der Sonne auf der Brust und dem Mond an der Stirn. Der König heiratete, und als er in ein fernes Land in den Krieg zog, schärfte er seiner Gemahlin ein: „Sobald du niederkommst, schreibe mir!" Nach einiger Zeit gebar die Königin einen Sohn mit der Sonne auf der Brust und dem Mond an der Stirn. Sie ist überglücklich und schreibt dem König: So und so — der Sohn mit der Sonne auf der Brust und dem Mond an der Stirn hat das Licht der Welt erblickt. Sie schrieb und schickte den Brief mit einem Boten zum König. Der Bote geht und geht — er kommt zu einem Haus und bittet um eine Bleibe zur Nacht. Aber in diesem Haus wohnten die beiden Schwestern der Königin. Sie fragen den Boten aus, von wo er kommt, wohin er geht und was er überbringt. Der Bote sagte: „So und so, ich bin Bote und überbringe dem König einen Brief von der Königin." Die Schwestern bitten ihn, daß er ihnen den Brief zeigt. Er tut es. Die Schwestern nehmen den Brief, öffnen ihn und schauen, was darin steht. Aber nun erwacht Neid in den Schwestern: erstens, weil ihre Schwester zu solchen Ehren gekommen ist; zweitens — weil sie nun auch noch einen so ungewöhnlichen Sohn geboren hat. Die Schwestern überlegen und verändern den Brief in der 226
Nacht. Sie schreiben, daß ein Sohn geboren ist, der weder das eine noch das andere ist: Er sieht weder einem Menschen noch einem Hund noch einer Katze ähnlich. Daher möge der König bestimmen, was man mit einem solchen Sohn anfangen soll! Am nächsten Morgen geben die Schwestern den Brief dem Boten zurück, bewirten ihn gut und laden ihn ein, auf dem Rückweg wieder bei ihnen einzukehren. Gut. Der Bote bricht auf und kommt zum König. Er geht zu ihm und übergibt ihm den Brief. Der König liest den Brief und wird sehr traurig. Er merkt den Betrug nicht und antwortet daher: „Tu dem Kind nichts zuleide, mag es sein, wie es sei. Warte, bis ich selbst eintreffe." Der König schickte den Brief wieder mit demselben Boten zur Königin. Auf dem Rückweg macht der Bote bei den Schwestern der Königin halt. Sie lesen den Brief des Königs und ändern ihn in der Nacht folgendermaßen: „Der König gebietet dir, Königin, deinen Sohn zu nehmen und ihn entweder den Schweinen als Fraß zu geben oder ihn im Stall den Hengsten vor die Füße zu werfen." Die Königin erhält den Brief und weiß nicht, was sie tun soll. Anstatt glücklich zu sein, erteilt ihr der König einen so schrecklichen Befehl. Aber der Königin tut das Kind sehr leid. Sie kann es nicht zulassen, daß es umgebracht wird. Doch dem Befehl des Königs darf man sich nicht widersetzen. Sie weinte und weinte, sie überlegte und überlegte, bis sie schließlich einen Ausweg fand. Sie ließ das Gerücht verbreiten, daß sie den neugeborenen Sohn auf Geheiß des Königs umgebracht hatte. Aber in Wirklichkeit übergab sie ihn vorbeifahrenden armen Leuten, einem Mann und seiner Frau. Bei ihnen wuchs der Kleine zu einem verständigen Knaben heran. Inzwischen war der König aus der Fremde zurückgekehrt. Nach seiner Heimkehr fragte er die Königin: „Wo ist dein Kindlein?" Die Königin antwortet: „Auf deinen Befehl mußte ich das Kind umbringen." Der König wurde sehr zornig und gebot, die Königin in eine Mauer einzumauern, damit sie weder lebendig noch tot sei. Einmal erließ der König einen Aufruf: Wer von seinen Untertanen kann einen Scheffel Nüsse zählen? Gut. Am festgelegten Tag versammelten sich Leute von allen Ecken und Enden im Schloß des Königs. Da geht auch der 15'
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arme Hirtenjunge zu seinem Vater, dem armen Mann, und sagt: „Vater, laß uns auch auf das Schloß gehen!" „Ach, Söhnchen", antwortete dieser, „was sollen wir Armen dort? Es werden Reiche und Kluge in Hülle und Fülle dasein." Aber der Sohn bittet und bittet: „Laß uns doch gehen, laß uns gehen!" Da der Junge so brennend gern das Schloß sehen möchte, ist der Alte schließlich einverstanden. Sie kommen hin — sie betreten das Schloß. Der Arme versteckt sich hinter der Tür, aber der Sohn geht weiter. Kaum werden eine Lade und ein Sack mit Nüssen hereingetragen, da ist der Sohn auch schon bei den Nüssen und zählt. Er nimmt jeweils einige Nüsse, wirft sie in die Lade und sagt jedes Mal: „Zwei Nüsse in die Lade — es waren drei Schwestern; zwei Nüsse in die Lade — sie pflückten einmal Flachs, der König kam mit seinem Heer vorbei; zwei Nüsse in die Lade — eine Schwester sagte: Wenn der König mich zur Frau nähme, würde ich ihm einen Sohn schenken mit der Sonne auf der Brust und dem Mond an der Stirn; zwei Nüsse in die Lade — die zweite Schwester sagte: Wenn der König mich zur Frau nähme, würde ich mit einer Ähre sein ganzes Heer satt machen; zwei Nüsse in die Lade . . ." So machte der Junge immer weiter; während er jeweils zwei Nüsse in die Lade warf, erzählte er alles über die drei Schwestern. Aber als er der Reihe nach alles bis zu Ende erzählt hatte, fügte er noch hinzu: „Zwei Nüsse in die Lade — aber meine Mutter befindet sich in der Mauer. Der König hat sie unschuldig verurteilt. Ich bin der Königin und des Königs Sohn." Kaum hatte er dieses Wort ausgesprochen, da begann die Sonne auf seiner Brust und der Mond an seiner Stirn zu leuchten. Der König und alle anderen verstanden auch, wie das geschehen war und was die Worte des Jungen bedeuteten. Sofort gebot der König, seine Frau aus der Mauer zu befreien, und gab ihr ihre frühere Königinnenwürde wieder. Aber die Schwestern der Königin, die üblen Neiderinnen, befahl er ohne Gnade zu bestrafen.
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EINÄUGLEIN, ZWEIÄUGLEIN, DREIÄUGLEIN
Die Mutter eines kleinen Mädchens war gestorben, und es war nun eine Waise. Nach einiger Zeit heiratete der Vater eine andere Frau, die jetzt die Stiefmutter des Waisenkindes wurde. Sie besaß drei eigene Töchter; die eine hatte ein Auge,xiie zweite zwei Augen und die dritte drei Augen. Die Töchter der Stiefmutter waren sehr faul; sie dachten nicht einmal daran, ein Hälmchen aufzuheben. Das Waisenkind mußte sie bedienen, und es tat das auch, ohne zu murren. Dpch außerdem konnten die Stiefmutter und ihre Töchter das Waisenkind nicht ausstehen. Das Waisenkind mußte nicht nur alle Hausarbeiten verrichten, sondern auch noch die Kühe hüten. Einmal kam es der Stiefmutter in den Sinn, dem Waisenkind Wolle zum Spinnen auf die Weide mitzugeben. Das Waisenkind nahm die Wolle, trieb die Kühe auf die Weide und begann zu weinen, denn wie sollte es beim Hüten drei Pfund Wolle spinnen? Während es bitterlich weinte, kam Raibula zu dem Mädchen und fragte, warum es weine. Das Waisenkind erzählte ihr: „Die Stiefmutter hat mir drei Pfund Wolle mitgegeben, die ich beim Hüten spinnen soll. Wie soll ich das nur machen?" „Dabei kann ich dir helfen", sagte die bunte Kuh, „stecke mir nur die Wolle ins Maul, dann wird durch meine Nüster der Faden herauskommen und sich um meine Hörner wickeln. Und du wirst gesponnene Wolle haben." Das Waisenkind machte es so, und nach kurzer Zeit war alle Wolle gesponnen. Die Stiefmutter und ihre Töchter staunten nur, daß das Waisenkind die Wolle so schnell gesponnen hatte. Am nächsten Tag schickte die Stiefmutter ihre einäugige Tochter mit dem Waisenkind zum Kühehüten. Sie sollte nämlich dem Mädchen abgucken, was ihr nützt. Zur Frühstückszeit kamen die Kühe in die Lichtung und begannen das gerupfte Gras wiederzukäuen. Das Waisenkind und die Stiefschwester setzten sich hin, um zu frühstücken. Nach dem Frühstück fing das Waisenkind ein Wiegenliedchen zu singen an: „Es schloß sich erst das ein' Äuglein, Bald schloß sich auch das zweit' Äuglein." 229
Kaum hatte es das Liedlein beendet, da schnarchte auch schon die Stiefschwester in tiefem Schlaf. Ganz schnell nahm das Waisenkind die Wolle und eilte zu Raibula. Eins-zwei-drei — war die Wolle gefressen, gesponnen und aufgewickelt. Als die faule Tochter aufwachte, war es bereits Mittag, und die Kühe mußten heimgetrieben werden. Zu Hause fragte die Mutter ihre einäugige Tochter, wer dem Waisenkind beim Spinnen geholfen habe, aber sie wußte nichts zu sagen. Am nächsten Tag ging die zweiäugige Tochter mit dem Waisenkind zum Hüten. Aber mit ihr geschah dasselbe. Kaum hatte das Waisenkind sein Wiegenliedchen gesungen: „Es schloß sich erst das ein' Äuglein, Bald schloß sich auch das zweit' Äuglein", da schnarchte die Tochter, die Schlafmütze, schon, daß es nur so rasselte. Auch sie sah nicht, wie das Waisenkind die Wolle spann. Am dritten Tag mußte die dreiäugige Tochter das Waisenkind zum Hüten begleiten. Als die beiden gefrühstückt hatten, begann das Waisenkind wieder zu singen: „Es schloß sich erst das ein' Äuglein, Bald schloß sich auch das zweit' Äuglein." Die Tochter schloß zwar beide Augen im Gesicht, aber das Auge im Nacken blieb geöffnet. Unglücklicherweise wußte nämlich das Waisenkind nicht, daß die Stiefschwester noch ein drittes Auge hatte. Sofort eilte das Mädchen zu Raibuja, und die Wolle war im Nu gesponnen. Nun konnte die Schwester daheim erzählen, wie es dem Waisenkind gelungen war, die Wolle so schnell zu spinnen. Gleich ließ die Stiefmutter Raibula schlachten. Zwar weinte das Waisenkind bitterlich, aber Raibula wurde geschlachtet. Heimlich nahm das Waisenkind Raibulas Herz und versteckte ? es am Gartentor in der Erde. Hier wuchs nun ein herrlicher goldener Apfelbaum, der große, glänzende Goldäpfel trug. Aber nur das Waisenkind bekam die goldenen Äpfel. Wenn jemand anderes einen Apfel pflücken wollte, erhob sich der goldene Apfelbaum in die Lüfte, und niemand konnte einen Apfel pflücken, aber sobald das Waisenkind kam, beugte sich der Apfelbaum zu ihm hinunter. 230
Eines Tages ritt ein reicher Prinz am Vaterhaus des Waisenkindes vorbei. Er erblickte den goldenen Apfelbaum und wollte einen Apfel pflücken; aber kaum hatte er seine Hand danach ausgestreckt, da erhob sich der Apfelbaum in die Lüfte. Nun rief der Prinz alle Hausbewohner herbei und versprach, das Mädchen zu heiraten, das ihm einen Apfel pflückt. Die drei Töchter der Stiefmutter waren in den schönen Prinzen ganz vernarrt, und so begab sich eine nach der anderen zum Apfelbaum, aber der erhob sich in die Lüfte. Sie schämten sich sehr, daß sie von ihrem Wunsch ablassen mußten. Dann ging das Waisenkind zum Apfelbaum, und der goldene Baum beugte sich zu ihm herunter, so daß es so viele Äpfel pflücken konnte, wie es nur wollte. Der Prinz nahm das Waisenkind zu sich und heiratete es. 73
DAS WAISENKIND U N D DIE TOCHTER DER STIEFMUTTER
Einem Mann war die Frau gestorben, und sie hatte ein kleines Mädelchen hinterlassen. Nach einiger Zeit nahm sich der Mann eine Hexe zur Frau. Sie liebte das Stiefkind sehr, sehr wenig. Doch später, als die Hexe selbst eine Tochter geboren hatte, konnte sie das Stiefkind überhaupt nicht mehr ausstehen. So beschloß die Hexe, das Waisenkind umzubringen. Sie goß Fett in ein Töpfchen, band es mit einem Tüchlein zu und sagte: „Bringe das Töpfchen dem Vater auf das Feld, aber eines merke dir. Wenn ein einziges Fetttröpfchen auf das Tüchlein spritzt, dann reiße ich dir den Kopf ab!" Das Waisenkind trug das Töpfchen ganz vorsichtig, aber nichts zu machen, das Tüchlein wurde trotzdem bespritzt. Nun weinte das Waisenkind bitterlich, und der Vater fragte: „Warum weinst du, mein liebes Kind?" So und so — das Mädchen erzählte alles. „Am Abend werde ich nicht mehr am Leben sein — die Mutter hat gesagt, sie wird mir den Kopf abreißen." „Nun, nun, das wird schon nicht so schlimm werden! Wasche das Tüchlein auf dem Heimweg aus!" Das Waisenkind wusch zwar das Tüchlein, aber richtig sauber wurde es nicht mehr. Nun fing das Mädchen wieder bitterlich zu weinen an. Da kroch plötzlich eine Schlange hervor und sprach: 231
„Warum weinst du? Flicht mir lieber ein Kränzlein, denn morgen hat meine Schwester Hochzeit!" Das Waisenkind pflückte Blümlein und flocht ganz flink ein Kränzlein. Nach einer Weile kroch eine zweite Schlange hervor und sprach: „Warum weinst du? Flicht mir lieber ein Kränzlein, denn morgen hat meine Schwester Hochzeit!" Das Waisenkind pflückte Blümlein und flocht ganz flink ein Kränzlein. Nach einer Weile kroch eine dritte Schlange hervor und sprach: „Warum weinst du, Schwesterchen? Ich bin die Braut, morgen habe ich Hochzeit — flicht mir ein Kränzlein!" Nun pflückte das Waisenkind die schönsten Blümlein, die es überhaupt finden konnte, und flocht ein ganz wunderschönes Kränzlein. Kaum hatte es der Schlangenbraut das Kränzlein überreicht, da waren auf einmal alle drei Schlangen mit ihren Kränzlein auf dem Kopf zur Stelle und fragten: „Schwesterchen, was für ein Glück sollen wir dir für das Gute wünschen, das du uns erwiesen hast?" „Ich möchte nur, daß mein fettbespritztes Tüchlein weiß wird, ein anderes Glück will ich nicht." Darauf sprach eine Schlange: „Möge das Tüchlein noch einmal so weiß werden, wie es war!" Die zweite Schlange sprach: „Du selbst sollst so schön werden wie die Sonne!" Die dritte Schlange sprach: „Wenn du weinst, dann werden Perlen aus deinen Augen fallen, und wenn du sprichst, dann wird deine Stimme so schön klingen wie eine Kokle!" Das Waisenkind brachte das ganze Töpfchen voller Perlen heim und gab das Tüchlein zurück, das so weiß war wie Schnee. Die Hexe wunderte sich, woher das Mädchen ein so weißes Tüchlein, so viele Perlen, eine solche Schönheit und eine so liebliche Stimme hatte. Am nächsten Tag schickte sie absichtlich ihre eigene Tochter mit dem Fettöpfchen aufs Feld. Diese bespritzte das Tüchlein tüchtig mit Fett. Der Vater sagte: 232
,;Ach, mein Töchterchen, wird denn die Mutter nicht schimpfen, daß das Tüchlein so fettig ist?" „Wieso sollte sie denn schimpfen! Wenn ich nur wüßte, an welcher Stelle-das Waisenkind gestern das Tüchlein so weiß gewaschen hat, dann hätte ich keine Sorgen!" „Ach, mein Töchterchen, es wird es in seinen Tränen gewaschen haben; du weißt nicht, wie bitterlich es geweint hat." Als die Tochter das hörte, schluchzte sie auf dem Heimweg absichtlich und preßte mit Gewalt Tränen aus den Augen, damit es so viele im Töpfchen hätte, um darin das Tüchlein auszuwaschen. Plötzlich kroch eine Schlange hervor und sprach: „Warum weinst du? Flicht mir lieber ein Kränzlein, denn morgen hat meine Schwester Hochzeit!" Aber die Tochter stieß die Schlange mit dem Fuß weg und ging weiter. Nach einer Weile kroch die zweite Schlange hervor und sprach: „Warum weinst du? Flicht mir lieber ein Kränzlein, denn morgen hat meine Schwester Hochzeit!" Aber die Tochter stieß die Schlange mit dem Fuß weg und ging weiter. Nach einer Weile kroch die dritte Schlange hervor und sprach: „Warum weinst du, Schwesterchen? Ich bin die Braut, morgen habe ich Hochzeit — flicht mir ein Kränzlein!" Aber die Tochter stieß die Schlange mit dem Fuß weg und wollte schon weitergehen, doch in diesem Augenblick waren alle drei Schlangen zur Stelle und sagten: „Nun, was für ein Glück sollen wir dir wünschen? Wir wünschen dir, daß dein Tüchlein schwarz sei wie Teer, daß dir beim Weinen Kröten aus den Augen fallen mögen, daß dein Gesicht so häßlich werde wie die Nacht und deine Stimme dem Gebrüll eines wilden Tieres gleiche!" Zu Hause wunderte und wunderte sich die Hexe, woher die Tochter ein so schwarzes Tüchlein, so viele Kröten im Topf, ein so entsetzliches Gesicht und eine so furchtbare Stimme hatte. Als die Hexe alles gehört und gesehen hatte, wurde sie auf das Waisenkind noch zorniger. Sie gab ihm überhaupt nichts mehr zu essen. Aber obwohl das Waisenkind nichts zu essen bekam, wurde es immer schöner. 233
Nach einigen Wochen ritt zufallig ein Königssohn am Haus der Hexe vorbei. Beim Vorbeireiten vernahm er eine so schöne Stimme, als höre er die Klänge einer Kokle. Er hielt das Pferd an und fragte, wem in diesem Haus die schöne Stimme gehöre. Sofort lief ihm die Hexe entgegen und sagte: „Meiner Tochter, meiner Tochter! Warte, warte nur, ich führe sie gleich heraus!" Die Hexe versteckte nun das Waisenkind unter einem Schemel und drohte ihm mit dem Tod, daß es ja wie erstarrt dort bleiben und kein Sterbenswörtlein von sich geben sollte! Darauf führte die Hexe ihre eigene Tochter geschwind zum Königssohn hinaus. Aber was geschah nun? Der Königssohn erschrak vor dem finsteren Gesicht, und wegen der brüllenden Stimme der Tochter begannen die Pferde des Königssohnes wild zu werden. Er schickte die Tochter fort und verlangte nach der mit der lieblichen Stimme. Als jedoch die Hexe erwiderte, daß hier keine andere mehr da wäre, fing der Königssohn an, alle Ecken zu durchsuchen, bis er das Waisenkind unter dem Schemel fand. Nun führte der Königssohn das Waisenkind auf sein Schloß und machte es zu seiner Frau. 74
D I E B O H N E N R A N K E BIS Z U M H I M M E L
Eine Mutter hatte zwei Töchter: ihre eigene und eine Stieftochter. Ihre eigene Tochter verwöhnte sie sehr, aber die Stieftochter zwang sie, schwer zu arbeiten. Einmal ließ sie sie Bohnen aus der Asche lesen. Den ganzen Tag weinte die Stieftochter, während sie die Bohnen aus der Asche las, aber eine Bohne hatte sie doch übersehen. In der Nacht war diese Bohne aus der Asche bis in den Himmel gewachsen. Am Morgen stand die Stieftochter wieder als erste auf; sie freute sich über die lange Bohnenranke und kletterte an ihr bis in den Himmel hinauf. Dort erblickte sie ein kleines Häuschen mit einem halbverfallenen Stübchen, in dem ein alter, kranker Mann lag. Kaum hatte er die Stieftochter gesehen, da bat er sie herzlich, für ihn die Badestube zu heizen. „Selbstverständlich, mein Väterchen, sage mir nur, wo ich Holz finde." 234
„Mein Mädelchen, Holz gibt's hier in der Nähe nicht. Geh hinter den Stall, dort findest du Aasknochen. Nimm die zum Heizen!" Aber die Stieftochter dachte: Wie soll man mit Knochen die Badestube heizen? Lieber laufe ich doch in den Wald nach Holz und bringe es auf meinem Rücken nach Hause. Bald hatte sie Holz geholt und die Badestube geheizt. Nun ging sie zu dem alten Mann in die Stube und sagte: „Väterchen, die Badestube ist geheizt, aber wo nehme ich Wasser her?" „Mein Mädelchen, Wasser gibt's hier in der Nähe nicht. Geh hinter den Stall, schöpfe Jauche und verwende die statt Wasser!" Aber die Stieftochter dachte: Wie soll man in Jauche baden? Lieber laufe ich doch in den Wald, suche eine kleine Quelle und hole von dort Wasser. Als das Wasser warm war, ging sie zu dem alten Mann in die Stube und sagte: „Väterchen, das Wasser ist nun warm, aber woher soll ich einen Rutenbund zum Baden-hernehmen?" „Mein Mädchen, hier in der Nähe findest du keinen Rutenbund. Geh hinter den Stall, dort liegt der Schwanz eines alten Pferdes." Aber die Stieftochter dachte: Wie soll man sich mit einem Pferdeschwanz schlagen? Lieber laufe ich doch in den Wald und hole Birkenzweige. Als der Rutenbund zum Baden da war, ging die Stieftochter zu dem alten Mann und sagte: „Väterchen, nun ist alles bereit, komm in die Badestube!" Aber der Alte antwortete: „Gern käme ich, aber ich kann nicht gehen. Zieh mich an den Füßen in die Badestube!" Als die Stieftochter diese Worte hörte, nahm sie den alten Mann auf ihre Schultern und trug ihn in die Badestube. Nachdem er gebadet hatte, trug sie ihn ebenso wieder zurück in sein Bett. „Hör mal, mein Mädelchen, jetzt möchte ich dir für dein gutes Herzchen danken. Geh in die Kornkammer und nimm dir aus der kleinen Lade das Seidentüchlein; aber nimm es ja nicht aus der Lade, auf der die rote Katze hockt." Die Stieftochter nahm sich das Seidentuch, ließ sich an der Bohnenranke hinunter auf die Erde und versteckte das Tüch235
lein in ihrer Kammer. Als sie am nächsten Tag die Kammer betrat, sah sie, daß sie voller Kostbarkeiten war. Nun war die Stiefmutter sehr erbost, daß die Stieftochter reicher war als ihre eigene Tochter. So beschloß sie, die eigene Tochter auch an der Bohnenranke zum Himmel zu schicken, um Kostbarkeiten zu holen. Die Tochter kletterte ebenfalls in den Himmel und fand denselben alten Mann in dem alten Stübchen vor. Er bat sie, die Badestube zu heizen. „Ja, ja, ich würde sie schon heizen, aber du hast doch kein Holz." „Holz gibt's hier in der Nähe nicht. Geh hinter den Stall, dort findest du Aasknochen. Nimm die zum Heizen!" Sie nahm diese Knochen und heizte die Badestube. Dann ging sie ins Zimmer, um nach Wasser zu fragen. „Wasser gibt's hier in der Nähe nicht. Geh hinter den Stall, schöpfe Jauche und verwende die statt Wasser!" Sie schöpfte Jauche und ging ins Zimmer, um nach einem Rutenbund zum Baden zu fragen. „Hier in der Nähe findest du keinen Rutenbund. Geh hinter den Stall, dort liegt der Schwanz eines alten Pferdes." Sie legte den Pferdeschwanz als Rutenbund zum Baden hin und rief den alten Mann nun in die Badestube. Aber er sagte: „Gern käme ich, aber ich kann nicht gehen. Zieh mich an den Füßpn in die Badestube!" Sie zog ihn in die Badestube. Als er gebadet hatte, zog sie ihn wieder an den Füßen zurück in sein Bett. Nun sagte der alte Mann auch zu ihr, daß sie in die Kornkammer gehen und sich aus der kleinen Lade ein Seidentüchlein nehmen soll; doch sie soll es ja nicht aus der Lade nehmen, auf der die rote Katze hockt. Aber sie nahm sich in der Kornkammer das Tuch aus der Lade, auf der die rote Katze hockte, denn dieses Tuch war viel schöner als das andere. Dann ließ sie sich an der Bohnenranke geschwind wieder hinab zur Erde und legte das Seidentuch in die Kammer. Am nächsten Morgen stand sie zum ersten Mal in ihrem Leben frühzeitig auf und eilte in die Kammer, um nach den Kostbarkeiten zu schauen. Aber kaum hatte sie die Kammertür geöffnet, da schlug ihr eine Feuerglut entgegen und verschlang das ganze Gebäude. 236
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WIE DIE TIERE DIE STIEFTOCHTER RETTETEN
In alten Zeiten lebte eine Witwe, eine böse Hexe. Sie hatte eine eigene Tochter und eine Stieftochter, ein Waisenkind. Die eigene Tochter war so häßlich wie die Hexe selbst, mit einer langen, krummen Nase, herabhängenden Ohren, dicken Lippen und runzligen Wangen. Aber das Waisenkind war schön, es hatte ein liebliches Gesicht und war schlank und rank wie ein Schilfrohr im See. Natürlich würdigte niemand die häßliche Tochter der Hexe auch nur eines Blickes, aber das schöne Waisenkind begehrten bereits viele Freier. Das wurmte die Hexe gar sehr, und so beschloß sie, die Stieftochter umzubringen. Eines Tages löschte die Stiefmutter alles Feuer im Haus und schickte darauf die Stieftochter nach Feuer zum Schloß des Hundeschnäuzigen, das sich unweit vom Haus der Hexe befand. Sie wußte, daß der grimmige Hundeschnäuzige einen Menschen in seinem Schloß in Stücke zerreißen wird. Das Waisenkind, das ein anständiges, gehorsames Mädchen war, tat gleich, was ihm geheißen war, und es eilte im Nu geradewegs durch einen großen, dichten Wald zum Schloß des Hundeschnäuzigen. Nachdem es den Wald verlassen hatte, begegnete es einer fetten Kuh mit prall gefülltem Euter. Die Kuh bat freundlich: „Töchterchen, melke mich; es geht sich schwer mit einem prallen Euter." Gleich molk das Waisenkind die Kuh so gut, wie es besser gar nicht möglich war. „Hab Dank, hab Dank, Töchterchen", sagte die Kuh, und dann ging jeder seines Weges. Beim Weitergehen begegnete dem Waisenkind ein weißes Schäfchen mit sehr langer, zottiger Wolle, die fast bis zur Erde herunterhing. Das Schäfchen bat freundlich: „Töchterchen, schere mich; mit der dicken Wolle geht es sich schwer bei der Hitze." Gleich schor das Waisenkind das Schäfchen so gut, wie es besser gar nicht möglich war. „Hab Dank, hab Dank, Töchterchen", sagte das Schäfchen, und jeder ging seines Weges. Nachdem das Waisenkind wieder ein Stück gegangen war, 237
erblickte es ein Pferd, das sich mit dem Strick an einem Pflock verfangen hatte. Das Pferd bat freundlich: „Töchterchen, binde mich los!" Das Waisenkind löste den Strick vom Pflock und setzte seinen Weg nach Feuer zum Schloß des Hundeschnäuzigen fort. Das Schloß des Hundeschnäuzigen war ein äußerst prunkvolles Haus, das auf Hühnerbeinen stand. Nachdem das Waisenkind hier angekommen war, wünschte es einen guten Abend und bat um Feuer. Der Hundeschnäuzige dankte für den Gruß und antwortete: „Du wirst schon Feuer bekommen, aber nimm hier diese Knöpfchen — laß sie klingen und tanze, bis ich ausgeschlafen habe." Nachdem der Hundeschnäuzige das gesagt hatte, ging er in das andere Zimmer, um sich zu überlegen, wie er das Mädchen am besten töten sollte, um sich dabei selbst tüchtig zu vergnügen. Aber kaum war der Teufel hinausgegangen, da kroch ein kleines Mäuschen aus dem Fußboden hervor und sprach: „Meine Liebe, mein Töchterchen, gib mir die Knöpfchen, ich werde statt deiner tanzen, aber du mach, daß du fortkommst, so schnell du nur kannst — geradewegs durch die Felder und Wälder, schnurstracks nach Hause. Wenn der Herr dieses Schlosses aus seinem Zimmer kommt, wird er dich erbarmungslos in Stücke zerreißen. Geh in die Küche, dort findest du Feuer; da sind auch auf der Lade zwei Geldbeutel: ein großer und ein kleinerer, beide sind voller Goldgeld und Edelsteine. Nimm dir den kleinen — der große wird zu schwer sein." Das Waisenkind gab der Maus die Knöpfchen, ging in die Küche, holte sich Feuer, nahm den kleinen Geldbeutel und eilte schleunigst fort — durch die Felder und Wälder, geradewegs nach Hause. Nach einiger Zeit kam der Hundeschnäuzige aus seinem Zimmer und sah, daß nicht das Mädchen, sondern die Maus mit den Knöpfchen rasselte. Der Hundeschnäuzige ärgert sich und greift mit seinen großen eisernen Krallen nach der Maus. Aber die verschwindet ganz flink im Fußboden, und der Hundeschnäuzige kratzt mit seinen Krallen vergeblich an der Wand entlang wie eine Katze an einer zugeklappten Falle. Nun suchte der Hundeschnäuzige das Mädchen in allen Zim238
mern und Kammern. Da er sie nirgendwo im Schloß fand, lief er hinaus und wollte die Flüchtende einholen. Er ließ seinen Pfoten freien Lauf, aber er konnte das Mädchen nicht mehr einholen, denn er rannte nicht geradewegs durch die Felder und Wälder, sondern machte einen Umweg. Beim Laufen begegnete dem Hundeschnäuzigen ein Pferd, und er fragt es, ob es nicht ein Weibsbild gesehen habe. Das Pferd besann sich eine Weile und erwiderte, daß es allerdings eins gesehen habe. Es sei soeben zum Schloß gelaufen, das auf Hühnerbeinen steht, aber zurück sei noch niemand gekommen. Jetzt raste der Hundeschnäuzige wie verrückt nach Hause, durchsuchte nochmals alle Zimmer, Kammern und alle Ecken, aber als er niemanden fand, heulte er vor großem Zorn auf und jagte dem Mädchen auf dem Weg hinterher. Nachdem der Hundeschnäuzige die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, begegnete ihm ein Schaf, und er fragte es, ob es nicht ein Weibsbild gesehen habe. Das Schaf besann sich eine Weile und erwiderte, daß es allerdings eins gesehen habe. Es sei soeben zum Schloß gelaufen, das auf Hühnerbeinen steht. Da raste der Hundeschnäuzige keuchend und stöhnend zurück zu seinem Schloß, durchsuchte alle Zimmer von oben bis unten und alle Ecken und Winkelchen. Als er das Mädchen nirgendwo fand, schnaubte und heulte er vor Zorn und raste den Weg zurück, daiß der Sand nur so stob. Nachdem der Hundeschnäuzige schon mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, begegnete ihm eine Kuh, und er fragte sie, ob sie ein Weibsbild gesehen habe. Die Kuh besann sich eine Weile und erwiderte, daß sie allerdings eines gesehen habe. Es sei soeben zum Schloß gelaufen, das auf Hühnerbeinen steht. Der Hundeschnäuzige raste wie der Teufel selbst zurück zu seinem Schloß, durchsuchte alle Zimmer, Kammern, alle äußersten Ecken und Winkelchen, schaute unter die Tische und Bänke und durchsuchte alle anderen Ecken und Winkel, und als er das Mädchen nirgendwo fand, begab er sich zur Ruhe, denn er war vom langen Rennen und Suchen völlig übermüdet und erschöpft. Als er aber ins Schloß kam, hatte er sich seines Geldbeutels erinnert, den er gestern in der Küche auf der Lade liegengelassen hatte. Er ging in die Küche, um sein liebes Geld zu holen, aber da er den kleinen Beutel dort nicht mehr fand, war ihm klar, daß das Mädchen mit einem großen Teil seiner Habe weggerannt war. Er lief nun vor Wut blau und schwarz an, knirschte 239
mit den Zähnen, ließ den Kopf hängen, legte sich schlafen und sann voller Wut nach, wie er sich an dem Mädchen rächen könnte. Zur selben Zeit kam das Waisenkind gesund und munter nach Hause, gab der Stiefmutter das Feuer und erzählte, daß es im Schloß des Hundeschnäuzigen zu großem Reichtum gekommen sei. Die Stiefmutter, wie das für eine Hexe bezeichnend ist, war auf den Reichtum sehr erpicht, und nun wollte sie mit aller Macht, daß ihre eigene Tochter zu noch größerem Reichtum gelangte als die Stieftochter. So löschte sie zu Hause wieder alles Feuer aus, einigte sich mit ihrer Tochter und schickte sie zum Schloß des Hundeschnäuzigen nach Feuer. Die Tochter der Hexe lief und sprang nur so durch den großen Wald zum Schloß, um möglichst viel Gold und Edelsteine zusammenzuraffen. Als sie durch den Wald gelaufen war, begegnete sie der Kuh mit dem prallen Euter. Die Kuh bat freundlich: „Töchterchen, melke mich!" Aber die Tochter ging mit erhobener Nase vorbei. Nachdem sie ein Stück gegangen war, kam ihr das zottige Schäfchen entgegen und bat freundlich: „Töchterchen, schere m i c h ! " Aber die Tochter der Hexe rief böse: „Geh weg, ich habe keine Zeit, um mich mit jemandem herumzuplagen!" Als sie noch weiterging, stieß sie fast das Pferd um, das sich mit dem Strick an dem kleinen Pflock verfangen hatte. Das Pferd bat freundlich: „Töchterchen, binde mich l o s ! " Aber die Tochter lief vorbei und murrte nur ganz wütend: „Geh mir aus dem Weg, du verfluchter Vielfraß! Ich habe keine Zeit, um mich mit dir herumzuplagen!" Als sie auf dem Schloß des Hundeschnäuzigen angekommen war, wünschte sie dem Hundeschnäuzigen nicht einmal einen guten Abend, sondern fragte sofort nach Feuer. Lachend erwiderte der Hundeschnäuzige: „Du wirst schon Feuer bekommen, aber nimm hier diese Kntjpfchen, laß sie klingen und tanze, bis ich das Feuer gefunden habe." Der Hundeschnäuzige ging in das andere Zimmer, um zu 240
überlegen, wie er seine größte Feindin aufs grausamste quälen könne. Wieder kroch das kleine Mäuschen aus dem Fußboden hervor und sprach: „Mein liebes Töchterchen, gib mir die Knöpfchen, ich werde statt deiner tanzen, aber du mach, daß du fortkommst, so schnell du nur kannst. Wenn der Herr dieses Schlosses aus seinem Zimmer kommt, wird er dich in Stücke zerreißen. Geh in die Küche, dort findest du Feuer; da sind auch auf der Lade zwei Geldbeutel; ein großer und ein kleinerer. Nimm den kleinen Geldbeutel mit — der große wird zu schwer sein." Die Tochter warf die Knöpfchen dem Mäuschen hin, eilte in die Küche, griff sich den großen Geldbeutel und rannte wie der Wirbelwind heimwärts. Im selben Augenblick sprang der Hundeschnäuzige, der sich Folterqualen ausgedacht hatte, aus seinem Zimmer und sah wieder die Maus tanzen und mit den Knöpfchen rasseln. Aber diesmal war der Hundeschnäuzige gescheiter. Wie ein Habicht packte er das Mäuschen mit seinen eisernen Krallen und zerfetzte es in kleine Stückchen. Dann schoß er durch die Tür hinaus der Flüchtenden hinterher. Nachdem er ein gutes Stück gelaufen ist, begegnet ihm ein Pferd, und er fragt es, ob es nicht ein Weibsbild gesehen habe. Das Pferd antwortete gleich, daß eins unlängst in die Richtung des Waldes gelaufen wäre. Nun jagte der Hundeschnäuzige schleunigst hinterher; er kam zum Schaf und fragte es, ob es nicht ein Weibsbild gesehen habe. Das Schaf antwortete gleich, daß er nur schneller in die Richtung des Waldes laufen solle, er werde es schon einholen. Nun rannte der Hundeschnäuzige wie der Teufel selbst, bald war er bei der Kuh und fragt sie, ob sie nicht ein Weibsbild gesehen habe. Die Kuh antwortete, daß es sich hinter dem Strauch befinde, und sie drehte den Kopf in die Richtung, wo die Tochter, vom Schleppen des großen Geldsackes ermattet, stöhnend und keuchend auf der Erde lag. Überglücklich lief der Hundeschnäuzige zur Tochter der Hexe und entriß ihr seinen Geldbeutel, den sie fest in ihren Klauen hielt. Sie hielt den Geldbeutel zwar fest, so gut sie es nur vermochte, sie schrie, biß, schlug mit Füßen und Händen um sich und spuckte dem Hundeschnäuzigen blauen Schwefel in die Augen, aber es half alles nichts. Der Hundeschnäuzige packte die Tochter der Hexe an den !f>
Lettische V o l k s m ä r c h e n
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Haaren, zerrte sie zurück auf sein Schloß und zerriß sie dort in Stücke. Gegen Abend ging die alte Hexe hinaus, um ihr Töchterchen mit der Goldlast zu erwarten. Sie wartete und wartete bis Mitternacht, aber sie wartete vergeblich. Nun begriff die Alte erst, was geschehen war. Da überkam sie solcher Zorn und Jammer, daß sie auf der Stelle starb. Aber das keusche, schöne, reiche Waisenkind rühmten und priesen alle Leute. Ihr Ruhm drang auch zum jungen König dieses Reiches, und er nahm sich das Waisenkind zur Frau. Nun wurde eine großartige Hochzeit gefeiert. Auch ich wurde zur Hochzeit eingeladen. Ich bereitete mich in allen Ehren vor: Ich kaufte zwei Pferde aus Zucker und einen Wagen aus Honigbrot, ich ließ mir vom Schneider einen bunten Rock und Hosen aus Papier nähen, setzte mir einen Hut aus Butter auf, zog mir feine Stiefel aus Plinsen an und begab mich dann zur Hochzeit wie der hochgeborene Brautführer selber. Unterwegs begann die Sonne heiß zu brennen — mein Hut zerschmolz. Ich wollte mir einen anderen Hut besorgen und machte am Wirtshaus halt. Während ich im Wirtshaus war, aß eine Schar Jungen — weiß der Kuckuck, woher sie plötzlich gekommen waren — meine Pferde und meinen Wagen auf. Bloßen Hauptes ging ich zu Fuß weiter. Unterwegs zerrissen meine feinen Stiefel. Es begann stark zu regnen, mein Rock und meine Hosen lösten sich auf. Was nun? Wohin sollte ich so nackt und bloß? Ein kalter Regen fiel vom Himmel. Zum Glück erblickte ich am Wegesrand ein großes Rohr. Ich krieche hinein und, matt und durchfroren, schlafe ich in der guten Zufluchtsstätte bald ein. Aber ich war in eine Kanone gekrochen. Nach dem Regen führten die Soldaten hier ihre Schießübungen durch und schössen mit den Kanonen, daß es nur so donnerte. Sie schössen auch mit der Kanone, in der ich schlief, und sie schössen mich in dieses Land, in unsere eigene Gemeinde. 76
DAS MÄDCHEN OHNE ARME
Es waren einst ein Bruder und eine Schwester. Sie vertrugen sich sehr gut. Aber einmal begannen andere Leute dem Bruder einzureden, daß er doch endlich heiraten solle. „Geh doch, geh, eine Schwester bleibt eine Schwester, aber eine Frau bleibt eine F r a u ! " 242
Am Abend erzählt der Bruder, was die Leute ihm gesagt haben. Die Schwester erwidert: „Heirate, heirate nur, Brüderchen! Es ist wahrlich an der Zeit, das schon längst zu tun, aber ich werde dann nicht bei dir wohnen. Bau für mich dort am Feldrand eine kleine Hütte, ich werde für mich allein leben, damit wir uns auch in Zukunft so gut vertragen wie bisher." Gut. Der Bruder baute für die Schwester eine kleine Hütte und heiratete selbst sehr bald. Doch welch ein Unglück! Der gute Bruder hatte die Tochter einer Hexe geheiratet. Wie sonderbar! Die Schwester hatte das gleichsam vorausgesehen, denn weshalb hätte sie sich sonst von einem so guten Bruder trennen mögen? So bleibt es. Inzwischen war schon eine geraume Zeit verstrichen. Aber der Bruder, wie er auch immer mit seiner Hexe lebt, liebt seine Schwester noch ebenso wie früher. Es vergeht kein Morgen und kein Abend, an dem er nicht zur kleinen Hütte eilt, um seine Schwester zu besuchen. Doch der Hexe gefallt das ganz und gar nicht. Als der Bruder eines Morgens wieder bei der Schwester gewesen ist, knirscht die Hexe nur so mit den Zähnen. „Jetzt werde ich es dir einmal zeigen!" ruft sie schließlich aus, läuft in den Stall und schlachtet alle Kühe. Als ihr Mann nach Hause kommt, ruft sie ihm entgegen: „Laufe, lauf nur zu deiner Goldschwester, sobald du die Augen aufmachst! Schau nur, was sie in der vergangenen Nacht angerichtet hat! Alle deine Kühe hat sie geschlachtet. Dich muß man fast für ein Kind halten! Du hättest ihr alles hingegeben, aber sieh nur, wie sie es dir vergolten hat! Du bist ganz blind!" Doch während die Hexe dort herumwettert, nimmt der Mann schnell das Geldbeutelchen, eilt, ohne ein Wörtlein zu sagen, auf den Markt, um andere Kühe zu kaufen. Als er an der kleinen Hütte vorbeikommt, läuft ihm die Schwester entgegen: „Brüderchen, wohin denn so eilig? Warum schaust du so betrübt aus?" „Ach! Kann man denn allen Kummer immer aussprechen?" „Du hast das doch stets getan, warum willst du es denn jetzt nicht tun?" „Laß nur, laß! Ich sage es dir ein andermal", erwiderte der Bruder und geht sogleich weiter. 16'
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Es verstreicht wieder eine gewisse Zeit. Der Bruder hat alles vergessen und geht wieder oft zu seiner Schwester. Die Hexe knirscht nur so mit den Zähnen. Und eines Morgens, während er die Schwester besucht, hat die Hexe alle Schafe geschlachtet. Als der Mann nach Hause kommt, ruft sie ihm entgegen: „Wirst du wieder zu deiner Schwester rennen? Schau nur, was sie uns in der vergangenen Nacht angetan hat! Alle Schafe hat sie geschlachtet. Ich weiß wirklich nicht — ich werde wohl aus dem Hause fliehen müssen, wenn du ihr auch das noch verzeihst!" Aber während die Frau dort herumwettert, nimmt der Bruder schnell das Geldbeutelchen und eilt auf den Markt, um andere Schafe zu kaufen. Als er an der kleinen Hütte vorbeikommt, läuft ihm die Schwester entgegen: „Brüderchen, wohin denn so eilig? Warum schaust du so betrübt aus?" „Ach! Kann man denn allen Kummer immer aussprechen?" „Du hast das doch stets getan, warum willst du es denn jetzt nicht tun?" „Laß nur, laß! Ich sage es dir ein andermal", erwiderte der Bruder und geht sogleich weiter. Es verstreicht wieder eine gewisse Zeit. Der Bruder hat alles vergessen und beginnt von neuem zur Schwester zu gehen. Die Hexe knirscht mit den Zähnen und sinnt darüber nach, wie sie den Mann zwingen kann, sich an der Schwester zu rächen. Warte nur, ich werde mein kleines Kindlein töten und sagen: Während du nicht zu Hause warst, lief deine Schwester mit einem großen Dolch hierher und brachte unseren kleinen Liebling um. Das wird helfen! Und tatsächlich! Eines Tages, während der Mann im Holz ist, tötet die Hexe selbst ihr Kindlein und wartet dann auf die Rückkehr des Mannes. Er kommt heim — ach, du meine Güte! —, und wie weint und jammert die Hexe: „Unser kleines Kindlein ist tot, es ist tot! Während ich im Stall war, lief deine eigene Schwester wie ein Untier mit einem großen Dolch ins Zimmer und brachte das Kindlein in der Wiege um! Ach, du meine Güte! Was soll ich nun anfangen, was soll ich nun tun? Hier am Zaunrand sind Mörder, hier vor unserer Tür wird mein Mann betrogen, und er glaubt nicht, was ich sage. Zu guter Letzt werde ich selbst noch umgebracht werden!" 244
Die Frau, die Hexe, fällt weinend zu Boden und geht gar nicht erst ins Haus. Aber der Mann geht hinein, und nun fängt wegen des Kindleins auch sein Blut zu sieden an. Gr kommt zur Frau heraus, wischt sich die Tränen ab und beginnt mit ihr zu beraten, was zu tun ist. „Was du tun sollst? Nimm das Beil, hacke ihr beide Arme ab, dann mag sie meinetwegen auch hier in der Nähe wohnen. Ohne Arme wird sie uns doch nichts Böses mehr zufügen können. Aber so ertragen wir es nicht mehr länger, mein lieber Mann." Schweren Herzens nimmt der Mann das Beil und macht sich auf, das zu tun, was die Frau will. Nachdem er fortgegangen ist, ist sie munter wie ein Schmetterling, weint nicht mehr und steigt sogar noch auf den Zaunpfosten, um zu sehen, ob er auch wirklich zu der kleinen Hütte geht. Er geht tatsächlich hin. Die Schwester eilt ihm entgegen: „Brüderchen, warum weinst du?" „Ich habe großen Kummer! Komm mit!" Die Schwester denkt: Wahrscheinlich wird er mir jetzt seinen Kummer offenbaren. Und sie geht auch mit. Sie kommen in den Wald zu einer krummen Birke. Der Bruder bleibt stehen. „Befindet sich denn dein Kummer hier?" fragt die Schwester. „Wahrscheinlich hier", erwidert der Bruder. „Lege deine Arme auf die Krümmung der Birke, dann werde ich dir meinen Kummer zeigen!" Die Schwester tut das. Darauf schlägt der Bruder mit dem Beil zu, ohne selbst überhaupt hinzuschauen, und eilt dann nach Hause. Aber die Schwester stöhnt vor Schmerzen: „Liebes Blut, fließe nicht, liebe Schönheit, entschwinde nicht!" Und sieh nur! Es fließt kein Blut, und ihr Antlitz wird augenblicks schöner als die Sonne selbst. Die Ärmste irrte ohne Arme lange durch den Wald. Aber eines Nachts, wie sie so irrte, kam sie zum Schloß eines fremden Königs. Bei diesem Schloß ist ein großer Apfelgarten, und mitten im Garten steht ein diamantener Apfelbaum mit goldenen Äpfeln. Der König selbst hütete diesen Apfelbaum sehr. Still und heimlich schleicht das Mädchen in den Garten und fängt an, so gut sie es mit dem Mund vermag, Äpfel zu essen. Zuletzt erblickt sie auch den diamantenen Apfelbaum, sie geht an ihn heran — welch ein Glanz! Der diamantene Apfelbaum 245
leuchtet, das Antlitz des Mädchens leuchtet, und die goldenen Äpfel leuchten. Aber einen goldenen Apfel pflückt das Mädchen mit dem Mund und ißt ihn auf; dann geht sie in den Wald zurück. Am Morgen lälift der alte König zu seinem Sohn ins Zimmer: „Mein lieber Sohn, in der nächsten Nacht mußt du den diamantenen Apfelbaum bewachen — ein goldener Apfel ist verschwunden!" In der nächsten Nacht begibt sich der Sohn zum diamantenen Apfelbaum. Er wartet und wartet — niemand kommt, um einen Apfel zu holen. Plötzlich sieht er im Dornengestrüpp unweit vom Apfelbaum, daß sich etwas Helles bewegt. Er geht heran — es ist ein Mensch. Und schau nur! Es ist das Mädchen mit ihrem Sonnenantlitz. Sie soll aus dem Gestrüpp herauskriechen. Ja, ja, sie wird es schon tun, aber dann muß er ihr einen goldenen Apfel geben. Der Sohn des Königs gibt ihr den goldenen Apfel, sie mag ihn nehmen, aber womit soll sie ihn nehmen? Sie hat keine Arme — so muß sie ihn halt mit dem Mund nehmen. Nachdem sie den Apfel genommen hat, möchte sie wiedef fortgehen, aber der Sohn des Königs sagt: „Geh nicht fort! Ich habe dir den goldenen Apfel gegeben, versprich du mir, meine Braut zu werden!" Gern, aber er möge bedenken, was er mit einer Braut ohne Arme anfangen wird — sprach das Mädchen. „Nein, nein, dein Antlitz bedeutet mir mehr als deine Arme!" erwiderte der Sohn des Königs und führt sie zu seinem Vater. Der Vater hat nichts einzuwenden; er mag sie nehmen, wenn sie ihm gefallt — was macht das schon, daß sie keine Arme hat. So feierten sie ihre Hochzeit. Aber im nächsten Jahr ziehen der junge König und sein Vater in den Krieg. In dieser Zeit schenkt die Frau des Königssohnes ejnem Knaben das Leben, der so schön ist wie sie selbst, und außerdem hat der Knabe auch goldenes Haar. Alle bewundern dieses Kind. Und die Königin ist überglücklich. Eine solche Freudenbotschaft muß auch dem König auf dem Kriegsschauplatz übermittelt werden. Gut. Sofort schreibt sie einen Brief: So und so — sie hat einem Sohn das Leben geschenkt, der so schön ist wie die Sonne; er hat sogar goldenes Haar. Und ein Diener soll dem König den Brief überbringen. Die Königin schärft ihm noch ein: „Eile dorthin, ohne haltzumachen. Solltest du dennoch sehr 246
müde werden, dann wirst du auf halbem Weg eine kleine Hütte erblicken, wo ich früher gewohnt habe; kehre in diese Hütte ein, um dich auszuruhen oder auch zu übernachten. Nur sage keinem, wohin du gehst!" Der Diener geht und geht — am dritten Abend bei Sonnenuntergang ist er sehr müde. Er geht noch ein Stück und erblickt die kleine Hütte. Er geht hinein — kein Mensch ist zu sehen. Worauf soll er warten! Er schlägt die Tür zu und schläft ein. Aber die Hexe, die Frau des Bruders der Königin, hatte das Zuschlagen der Tür gehört. Sie eilt, haste was kannste, zur kleinen Hütte, um zu sehen, ob die Schwester ihres Mannes zurückgekehrt oder ob jemand anderes hineingeschlichen ist. Sie schaut sich um — nein, die Schwester ihres Mannes ist es nicht, sondern ein fremder Bursche. „Was suchst du hier?" „Ich will mich ausschlafen!" „Wohin .gehst d u ? " „Zum König auf den Kriegsschauplatz!" „Gibt es etwas Neues?" „Es gibt Neues, es gibt Altes — solches und anderes!" „Aber wenn du einen so weiten Weg vor dir hast, wirst du doch nicht auf dem nackten Lehmboden schlafen? Warte mal, ich bereite dir gleich ein weiches Nachtlager!" Der Bursche ist einverstanden — warum nicht? Vielen Dank! Sie holt nun einen Strohsack, schüttelt ihn auf, aber dann geht sie nicht heim, sondern wartet hinter der Hausecke, bis der Bursche eingeschlafen ist. Und kaum ist er eingeschlafen, da schleicht die Hexe so leise ins Zimmer, daß nicht mal die Tür quietscht, und beginnt alle Taschen des Burschen zu durchsuchen. Sie findet den Brief, und nun erfahrt sie genaü, welche Freuden der Schwester ihres Mannes zuteil geworden sind. Warte nur, überlegt sich die Schurkin, diesen Brief behalte ich und schreibe einen anderen: Die Königin hat einen Sohn geboren, der weder einem Hund noch einer Katze noch überhaupt jemandem ähnlich sieht. Die Hexe tut das. Der Diener ahnt nichts von dem, was geschehen ist. Er bringt den Brief zum König, und der König zuckt mit den Achseln über ein solches Kind. Dennoch antwortet er, daß die Königin es aufziehen und ihn daheim erwarten soll, mag der Knabe auch einem Hund oder einer Katze ähnlich sehen. 247
Der Diener macht sich mit der Nachricht auf den Rückweg und kehrt unglücklicherweise wieder in der kleinen Hütte ein, um zu übernachten. Als die Hexe hört, daß die Tür geöffnet wird, ist sie geschwind zur Stelle. „Ach! Wie wirst du denn auf dem Lehmboden schlafen? Sofort schüttle ich dir einen Strohsack a u f ! " Der Bursche ist einverstanden. Aber sie wartet hinter der Hausecke, bis er eingeschlafen ist, und durchschnüffelt dann seine Taschen. Sie entdeckt den Brief, in dem steht, daß der Knabe aufgezogen werden soll, bis der König heimkommt. Nein, so nicht! Aha, es wird gut sein, wenn ich schreibe: Ich kann dein Kind ganz und gar nicht ausstehen! Bringe es um, so schnell du kannst! So schreibt die Hexe mit bösem Grinsen. Der Diener überbringt die Nachricht, und die Königin ist vor Kummer ganz und gar verzweifelt. Was nun? Sie weint einen Tag, sie weint den zweiten und den dritten Tag — nichts zu machen. Sie übergibt den goldenen Jungen den Mägden. Mpgen sie es ruhig wissen. Was sollen die Mägde tun? Auch ihnen gehen die Tränen der Königin zu Herzen. Sie beschließen, den Knaben in den Pferdestall zu werfen. Sie werfen ihn also in den Pferdestall. Die Pferde beginnen den Knaben in den Schlaf zu wiegen: „Schuschu, schuschu, Goldkindlein, Bis lieb' Väterchen kehrt heim!" Die Mägde schauen am nächsten Morgen nach dem. Knaben — er ist wohlauf. Nun werfen sie ihn in den Rinderstall. Die Ochsen und die Kühe aber nehmen den Knaben auf ihre Horner und wiegen ihn in den Schlaf: „Schuschu, schuschu, Goldkindlein, Bis lieb' Väterchen kehrt heim!" Die Mägde schauen am nächsten Morgen nach dem Knaben — er ist wohlauf. Nun bringen sie ihn zur Königin zurück. Sie nimmt das liebe Kind in Empfang und weint noch mehr. Schließlich sagt sie: „Alle Tiere verschonen mein Kindchen — wie soll'ich mich da von ihm trennen? Bindet mir das Kindlein auf den Rücken, ich werde in den Wald gehen und vor den Blicken meines Mannes fliehen. Wenn ich sterbe, dann werde ich mit meinem Kind248
lein sterben; wenn ich lebe, dann werde ich mit meinem Kindlein leben!" Die Königin geht fort und irrt durch den Wald. Am dritten Tag hat sie Hunger, und auch das Kindchen weint vor Hunger. Aber was tun? Sie hat j a keine Arme. Wie soll sie es füttern? Die Ärmste vergießt bittere Tränen. Da ist es auf einmal, als ob der Wald erbebte. Sie blickt nach oben — in der Luft steht ein weißer Mann und ruft: „Fang auf, fang a u f ! " „Was soll ich auffangen?" Kaum hat sie das gesagt, da kommen von oben zwei Arme herunter und bleiben an ihren Schultern haften, und in der einen Hand ist ein kleines Beutelchen. Während sie es öffnet, fallen ganz viele Goldstücke heraus. Die Königin erstummt fast, als sie das alles sieht. Der weiße Mann aber spricht: „Nimm alles, was ich dir gab, aber gib mir deinen Jungen! Du kannst ihn im Wald j a doch nicht so behüten, wie es notwendig ist. Ich werde ihn dir schon eines Tages wiedergeben." Die Königin denkt: Wer mir meine Arme wiederzugeben vermocht hat, warum sollte der mir nicht mein Kindchen wiedergeben können? „Hier, nimm es!" Der weiße Mann nimmt den Knaben und entschwindet gleichsam wie im Wasser. Aber die Königin geht und geht und weiß selbst nicht wohin. Nach einigen Tagen ist der Wald zu Ende, und vor ihr taucht eine Lichtung mit Häusern auf. Die Königin betritt ein Haus und bittet, daß man sie aufnimmt. Man tut es auch, allerdings fragt man sie genau aus, wer sie sei. „Ich bin eine Märchenerzählerin, ich wandere umher und erzähle Märchen." Nun gut, mag sie dableiben. Sie bleibt einige Tage dort, und die Bewohner des Hauses nehmen sie freundlich auf. Eines Nachts jedoch legt sie absichtlich das geöffnete Beutelchen in die Mitte des Hofes. Am Morgen ist der Hof voller Goldstücke. Die Hausbewohner wundern sich, doch die Märchenerzählerin erwidert: „Wundert euch nicht, baut mit den Goldstückchen ein goldenes Schloß und nehmt dort jeden Wanderer so freundlich auf, wie ihr mich aufgenommen habt!"
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Gut. Sie bauen ein Schloß. Vom Glanz des Schlosses erstrahlt die halbe Welt. Währenddessen ist der König mit seinem alten Vater aus dem Krieg heimgekehrt. Man hebt an ihm zu erzählen, was alles geschehen ist. Ach, du meine Güte! Der König wird vor Kummer ganz krank. Wie konnte der Diener nur so handeln? Der Diener streitet es ab, er erzählt, wie alles war, aber das hilft ihm nichts. Er wird wie ein Verbrecher ins Gefängnis geworfen. Und sofort macht sich der König auf, um seine Frau zu suchen. Und müßte er auch bis an sein Lebensende suchen, er wird nicht eher zurückkommen, bis er sie gefunden hat.. Das gelobt er beim Fortgehen. Nun geht der Ärmste, er geht einen Tag, er geht einen zweiten und einen dritten Tag, er durchwatet Sümpfe, er durchschreitet Wälder — vergebens sucht er nach einer Spur. Eines Abends plötzlich, die Sonne war bereits untergegangen, und die Dunkelheit hatte sich herniedergesenkt, erglühen an einer Stelle die Wipfel der Bäume im Wald. Welch ein Wunder! Leuchtet dort etwas Besonderes? Man muß sich das genauer anschauen! Er geht und geht und erreicht das goldene Schloß. Er geht hinein — ob er sich nicht ausruhen könne? Warum nicht? Das Schloß sei doch dazu da, daß sich hier die Müden erholen. Er solle sich nur setzen, man werde ihm auch etwas zu essen geben. Während er sich setzt, holt die Königin das Essen und stellt es auf den Tisch. Fürwahr, überlegt er, wenn sie keine Arme an den Schultern hätte, würde ich sagen, daß das meine Frau ist. Sie hat das gleiche Sonnenantlitz wie meine Frau, dieselbe Sprache — alles stimmt haargenau. Nach einem Augenblick ist er bereits satt. Nun, was er jetzt zu tun gedenkt? Ob er plaudern möchte oder schlafen, fragt die Königin. Nein, nein, er sei noch nicht müde, vielleicht könne sie ihm etwas erzählen. „Gut", erwidert die Königin. „Ich werde Märchen erzählen." Sie möge erzählen, sie möge nur erzählen, Märchen liebe er sehr. „Nun gut!" beginnt die Königin. „Es war einmal eine Königin ohne Arme . . ." Er lauschte bereits gespannt. „Und während der König im Krieg ist, schenkt die Königin einem Knaben, so strahlend wie die Sonne und mit goldenen 250
Haaren, das Leben; aber der König schrieb ihr, daß sie diesen Knaben umbringen sollte." Schon sperrte der König den Mund weit auf. „Daraufbrachte die Mutter den Knaben in den Wald. Aber dort erschien ihr plötzlich ein weißer Mann. Er gab der Mutter die Arme wieder und nahm den Knaben mit. Er werde ihn aufziehen und ihn später zurückgeben. Und dann wohnte diese Mutter in einem goldenen Schloß. Eines Tages betrat der König das Schloß und erkannte seine Frau nicht mehr." „Erzähle nicht weiter, erzähle nicht weiter!", damit fiel der König der Königin um den Hals. „Jetzt erkenne ich dich wieder!" Und vor großer Freude brachten beide kein Sterbenswörtlein mehr heraus und schluchzten nur. In der nächsten Woche traf der König mit der Königin zu Hause ein. Und der alte König war so froh, daß er gleich ein großes Fest veranstaltete und die halbe Welt einlud. Als das Fest seinen Höhepunkt erreicht hat, öffnet der alte König plötzlich die Tür und trägt zwei Körbe herein — einer ist voller Nüsse, und der andere ist leer. Und der König gibt folgendes Rätsel auf: „Wer vermag die Nüsse paarweise in den leeren Korb hineinzuzählen und zu sagen, was jedes Paar bedeutet?" Alle zucken mit den Achseln, sie überlegen hin, sie überlegen her — aber ihnen fallt nichts ein. Da springt auf einmal die Tür auf, und ein alter Mann mit einem großen Knaben an der Hand kommt herein und sagt: „Ihr könnt das Rätsel ja doch nicht erraten, laßt es meinen Jungen versuchen, er wird es erraten!" Gut. Mag der Junge raten. Der Junge nimmt ein Paar Nüsse, legt sie in den leeren Korb und spricht: „Ein Bruder hatte eine liebe Schwester — ein Paar Nüsse. Aber dieser Bruder heiratete die Tochter einer Hexe — das zweite Paar Nüsse. Die Hexe haßte die Schwester ihres Mannes und überredete ihn, seiner Schwester die Arme abzuhacken, weil die Schwester das Kind der beiden getötet hätte — das dritte Paar Nüsse. Aber die Hexe hatte geschwindelt und ihren Mann belogen — das vierte Paar Nüsse. Die Schwester des Mannes floh in den Garten des Königs und aß goldene Äpfel von einem diamantenen Apfelbaum — das fünfte Paar Nüsse. Der König erwischte sie dabei und heiratete sie — das sechste Paar Nüsse. Während der König im Krieg war, gebar die Köni251
gin einen Sohn, aber die Hexe stahl dem Diener, dem Boten, einen Brief aus der Tasche und schrieb, daß die Königin ein Schreckgespenst, weder einem Hund noch einer Katze ähnlich, geboren habe — das siebente Paar Nüsse. Der König kehrte aus dem Krieg zurück und warf den Diener ins Gefängnis, aber der war ganz unschuldig — das achte Paar Nüsse. Und die Königin hatte inzwischen ihren Sohn dem weißen Mann gegeben, damit er ihn aufzog — das neunte Paar Nüsse. Nun hat der Mann ihn hierhergebracht, um ihn zurückzugeben — das zehnte . . . " Er kam gar nicht mehr dazu, alles zu sagen — der König und die Königin erkannten ihren Sohn, und sie hätten wer weiß was vor Freude getan. Aber der alte Mann entschwand in diesem Augenblick gleichsam wie im Wasser. Nun feierte der König ein so fröhliches Fest wie nie zuvor. Doch nach dem Fest sagt er zu seinem Heer: „Machen wir uns auf, die Hexe zu bestrafen!" Sie begaben sich dorthin — die Hexe kommt ihnen mit ihrem Mann, dem Bruder der Frau des Königs, entgegen und fragt, was das Heer will. „Dir das zu bezahlen, was du verdient hast!" erwiderte der König und befiehlt sofort, beide zu ergreifen und von Pferden zerreißen zu lassen. Im selben Augenblick kommt aber die Königin keuchend von zu Hause gelaufen und ruft: „Rührt meinen Bruder nicht an! Er ist schuldig und dennoch unschuldig! Ich vergebe ihm!" Nichts zu machen! So wurde nur die Hexe zerrissen, und der Bruder blieb am Leben. Auch den Diener ließ man aus dem Gefängnis heraus, und alles war wieder gut. 77
DIE PRINZESSIN A U F DEM GLÄSERNEN BERG
Ein Vater hatte drei Söhne; zwei kluge, und der dritte, der jüngste, war ein Dummerchen. Der Vater starb, und im Sterben wünschte er sich, daß jeder Sohn eine Nacht an seinem Sarg wachen sollte. Der älteste Sohn müßte in der ersten Nacht wachen, aber e r hatte Angst und überredete das Dummerchen, daß er statt seiner beim Vater wachte. Das Dummerchen machte sich nun auf, um beim Vater zu wachen. Er ging zum Sarg und setzte sich hin. Um Mitternacht erhob sich der verstorbene Vater aus dem SaFg und fragte: 252
„Nun, mein ältester Sohn, bist du es?" „Nein, ich bin dein Jüngster, das Dummerchen." „Warum ist denn mein Ältester nicht gekommen?" „Er hat Angst", erwiderte das Dummerchen. Der Vater gab dem Dummerchen eine kleine silberne Pfeife und erzählte ihm, wohin er gehen und was er tun solle. Dann Werde er ein silbernes Pferd und silberne Kleider bekommen. Darauf legte sich der verstorbene Vater wieder in den Sarg zurück. In der zweiten Nacht mußte der mittlere Sohn beim Vater wachen, aber auch er hatte Angst, und er überredete das Dummerchen, daß es statt seiner beim Vater wachte. Um Mitternacht erhob sich der verstorbene Vater wieder aus dem Sarg und fragte: „Nun, mein mittlerer Sohn, bist du es?" „Nein, ich bin das Dummerchen." „Hat der mittlere Sohn auch Angst vor mir?" „Ja!" erwiderte das Dummerchen. Der Vater gab dem Dummerchen eine kleihe goldene Pfeife und sagte ihm, daß er ein goldenes Pferd und goldene Kleider bekommen werde, wenn er auf ihr pfeife. In der dritten Nacht mußte das Dummerchen selbst beim Vater wachen. Er ging zum Sarg des Vaters und las in der Bibel. Um Mitternacht erhob sich der Vater wieder und fragte: „Nun, mein Jüngster, bist du es?" „Ja, ich bin dein Jüngster, das Dummerchen", erwiderte das Dummerchen. Jetzt gab der Vater dem Dummerchen eine kleine diamantene Pfeife und einen diamantenen Apfel. Wenn das Dummerchen auf der Pfeife blase, werde er «in diamantenes Pferd und diamantene Kleider bekommen. Nach einiger Zeit ließ ein König verkünden,. daß er seine Tochter dem zur Frau geben wird, der zu ihr auf den gläsernen Berg hinaufreitet. Nun eilten von allen Ecken und Enden Königssöhne und Edelleute herbei. Aber keinem gelang es, auf den gläsernen Berg hinaufzureiten. Auch das Dummerchen hatte davon gehört. Er beschloß, sein Glück zu versuchen, denn auch der mittlere und der älteste Bruder waren zum gläsernen Berg geritten. Der Mutter durfte das Dummerchen jedoch seinen Plan nicht kundtun, denn er wußte, daß sie ihn nicht fortlassen würde, und so log er: 253
„Mütterchen, laß mich in die Pilze gehen!" Ja, die Mutter erlaubte es und gab ihm ein Körbchen mit. Das Dummerchen ging in den Wald, suchte einen Haselnußstrauch auf, wie es der Vater ihm gesagt hatte, und pfiff auf seiner kleinen silbernen Pfeife. Sofort waren da ein silbernes Pferd und silberne Kleider. Das Dummerchen zog sich die silbernen Kleider an und stieg aufs Pferd. Nun sah das Dummerchen wie ein richtiger Prinz aus. Er ritt zum gläsernen Berg, erreichte beim Hinaufreiten das erste Drittel und verbeugte sich vor der Prinzessin. Dann ritt er zurück zum Haselnußstrauch und pfiff nochmals. Sofort verschwanden das Pferd und die silbernen Kleider. Ganz schnell sammelte das Dummerchen dann alle möglichen Pilze, die er fand, und ging nach Hause. Die Mutter nahm die Pilze und begann zu schimpfen: „Ein Dummer bleibt ein Dummer, was soll ich denn mit den madigen Pilzen anfangen?" Das Dummerchen sagte nichts und legte sich schlafen. Am nächsten Tag ritten wieder Prinzen und Edelleute auf den gläsernen Berg. Auch der älteste und der mittlere Bruder waren dabei. Aber keiner konnte den Gipfel des Berges erreichen. Das Dummerchen ging wieder in den Wald Pilze sammeln. Er trat an den Haselnußstrauch heran und pfiff auf der kleinen goldenen Pfeife. Sofort waren da ein goldenes Pferd und goldene Kleider. Das Dummerchen erreichte auf dem goldenen Pferd die Hälfte des Berges, verbeugte sich vor der Prinzessin und ritt zurück. Im Wald sammelte das Dummerchen alle möglichen Pilze, die er fand, und ging nach Hause. Daheim schimpfte die Mutter wieder, weil sich im Korb madige Pilze befanden. Das Dummerchen sagte nichts und legte sich schlafen. Die beiden älteren Brüder kamen heim und erzählten der Mutter: „Wenn du wüßtest, was für ein schöner Prinz auf den gläsernen Berg geritten ist! Er hatte ein goldenes Pferd und goldene Kleider, aber auch er erreichte nur die Hälfte des Berges!" Am dritten Tag ritten die Prinzen und Edelleute wieder auf den gläsernen Berg. Auch der älteste und der mittlere Bruder waren dabei. Das Dummerchen bat die Mutter erneut, ihn in den Wald zu lassen, um Pilze zu suchen, aber die Mutter wollte es ihm nicht erlauben, da das Dummerchen doch immer nur madige 254
Pilze heimgebracht hatte. Schließlich schlich sich das Dummerchen heimlich aus dem Haus und ging in den Wald. Am Haselnußstrauch pfiff er auf der kleinen diamantenen Pfeife, und sofort waren da ein diamantenes Pferd und diamantene Kleider. Das Dummerchen ritt zum Berg. Dort waren viele Reiter, aber keinem gelang es, auf den Berg hinaufzureiten. Das Dummerchen ritt los und schaffte es, den Gipfel des gläsernen Berges zu erreichen. Den diamantenen Apfel warf er der Prinzessin in den Schoß. Die Prinzessin küßte das Dummerchen und drückte ihm einen silbernen Stern auf die Stirn. Dann ritt das Dummerchen vom Berg hinunter in den Wald. Am Haselnußstrauch pfiff er auf der kleinen diamantenen Pfeife, und im Nu verschwanden das Pferd und die Kleider. Das Dummerchen sammelte so viele Pilze, bis der Korb voll war, und ging nach Hause. Dort verkroch er sich in eine dunkle Ecke und band sich ein Handtuch um den Kopf. Die Mutter kam und fragte: „Was fehlt dir, daß du den Kopf verbunden hast?" „Ich habe Kopfschmerzen", antwortete das Dummerchen. „Nim, dann leg dich hin!" Auch die beiden anderen Brüder kamen heim und erzählten der Mutter von einem Prinzen, der auf einem diamantenen Pferd auf den Gipfel des gläsernen Berges geritten und dann verschwunden war. Der König sandte nun seine Diener in aller Herren Länder, um den Reiter zu suchen, auf dessen Stirn ein silberner Stern war, denn das sei der Bräutigam der Prinzessin. Doch sie fanden ihn nirgends. Ein Diener des Königs kam auch ins. Haus der Mutter des Dummerchens und befahl ihr, ihm alle ihre Söhne zu zeigen. Der älteste und der mittlere Bruder kamen aus dem Zimmer und zeigten sich. Sie hatten keinen silbernen Stern auf der Stirn. Das Dummerchen schlief in der dunklen Ecke und zeigte sich keinem. Darauf fragte der Diener des Königs die Mutter: „Wo ist denn dein dritter Sohn?" „Ach, wozu fragt Ihr nach dem? Das ist doch ein Dummerchen, und er ist krank", erwiderte die Mutter. Nun, macht nichts, sie solle ihn nur herführen — so sprach der Diener des Königs. Und sie führten das Dummerchen her. Als der Diener das um den Kopf gebundene Handtuch herunterriß, war der silberne Stern zu sehen. 255
„Das ist der Bräutigam der Prinzessin!" rief der Diener. Der Diener geleitete das Dummerchen zum Schloß des Königs. Dort feierte er mit der Prinzessin Hochzeit. Und er soll noch bis heute glücklich mit ihr leben. 78
DIE WEISHEITEN DES LIEBEN ALTEN
Ein Vater hatte drei Söhne — zwei waren klug, aber der dritte ein Dummkopf. Doch die Söhne waren so faul, daß sie gar nicht ans Arbeiten dachten. Das Dummerchen war von allen am fleißigsten und machte seine Arbeit, aber die beiden klugen Söhne taten so gut wie nichts und gingen nur mit den Händen in den Hosentaschen herum und pfiffen vor sich hin. Solange nun noch der Vater am Leben war, hielt er die faulen Söhne noch ein wenig zur Arbeit an, und sie schlugen sich schlecht und recht durch. Aber kaum ist der Vater tot, da arbeiteten die beiden überhaupt nicht mehr, und so haben sie auch nichts mehr zu essen. Da beschließen die klugen Brüder, eine kleine Brücke über den Fluß zu bauen — dort floß nämlich ein Fluß vorbei — und von jedem, der über die Brücke geht, Geld zu verlangen. Dann werden sie Geld haben, um sich Brot zu kaufen. Als sie nun die kleine Brücke errichtet hatten, stellte sich am ersten Tag der älteste Bruder an die Brücke nin. Er stand den ganzen Tag, aber es fand sich keiner, der über die Brücke ging. Zwar kamen Menschen vorbei, die über die Brücke gehen wollten, aber kaum sagt der älteste Bruder, daß sie dafür bezahlen müssen, wollen sie lieber durch den Fluß waten, und keiner benutzt die kleine Brücke. Da kann er nichts machen, und am Abend kommt er mit leeren Händen nach Hause. Am nächsten Tag macht sich der mittlere Bruder auf. Er geht zur Brücke, steht den ganzen Tag dort, aber es findet sich keiner, der über die Brücke gehen will. Zwar kommen Menschen vorbei, die über die Brücke gehen wollen, aber kaum hören sie, daß sie dafür bezahlen müssen, da wollen sie durch den Fluß waten, und keiner benutzt die kleine Brücke. Aber am dritten Tag ist das Dummerchen an der Reihe. Er steht und steht, doch alle waten nur durch das Flüßchen, und über die Brücke geht niemand — alle wissen bereits, daß sie dafür bezahlen müssen. Aber so gegen Abend kommt ein altes Männlein vorbei. Er fragt nichts, sondern möchte nur über die kleine Brücke gehen. 256
Da stellt sich ihm das Dummerchen in den Weg und sagt, daß man nicht so mir nichts, dir nichts hinübergehen kann, sondern dafür bezahlen muß. Doch der liebe Alte erwidert: „Mein Söhnchen, ich habe nicht einen einzigen Groschen in der Tasche, laß doch jene bezahlen, die Geld haben. Ich gebe dir drei Weisheiten auf den Weg, die dir nützlicher sein werden als das liebe Geld." Qas Dummerchen sah, daß er von dem lieben Alten kein Geld bekommen wird und daß der ebenso wie die anderen durch den Fluß waten wird. So ließ er ihn für die drei Weisheiten hinüber. Nun sprach das alte Männlein: „Was du dir dreimal wünschen wirst, daß es geschähe, das wird dreimal geschehen." Das Dummerchen merkte sich diese Worte, aber das alte Männlein ging nun fort, und das Dummerchen sah nicht einmal, wohin es gegangen und wo es geblieben war. Das Dummerchen hatte ihn ja auch nicht gekannt. Am Abend kommt das Dummerchen nach Hause, und die klugen Brüder bestürmen ihn, ihnen Geld zu geben, denn es kann doch nicht sein, daß niemand über die Brücke gegangen ist. Das Dummerchen erwidert, daß zwar ein altes Männlein über die kleine Brücke gegangen ist, aber kein Geld hatte, und er das alte Männlein für drei Weisheiten hinübergelassen hat. Nun hatten die Brüder seit Tagen keinen einzigen Bissen Brot mehr im Hause, und sie waren so hungrig, daß sie es nicht mehr aushielten. Da fangen sie vor Zorn an, das Dummerchen auszuschimpfen und zu verprügeln, weil er das alte Männlein umsonst über die kleine Brücke gelassen hat. Zwar fleht das Dummerchen, daß sie ihn nicht schlagen sollen, aber sie hören gar nicht hin und prügeln einfach drauflos. Schließlich konnte das Dummerchen es nicht mehr ertragen und riß von zu Hause aus. Aber nun durfte er sich daheim nicht mehr sehen lassen, er hatte Angst, daß die klugen Brüder ihn wieder schlagen würden. Was sollte er nun beginnen? Er setzte sich auf einen Baumstumpf und fing bitterlich zu weinen an. Da sieht er plötzlich, daß vor ihm dasselbe alte Männlein steht und lacht. Das Dummerchen schaut den lieben Alten an, und dieser fragt das Dummerchen, warum er weint. Ja, wie soll er nicht weinen, da die klugen Brüder ihn doch aus dem Hause gejagt haben, und wohin soll er nun gehen? 17
Lettische Volksmärchen
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Das alte Männlein antwortete: „Ich habe dir doch drei Weisheiten gegeben, aber wenn du selbst nicht weißt, wie du sie findest, dann geh auf das Schloß des Königs und sage, daß du etwas tun willst und daß man dir Arbeit geben soll, dann wirst du vielleicht wissen, wie man die Weisheiten benutzt." Das Dummerchen hörte darauf, was das alte Männlein ihm gesagt hatte. Der liebe Alte verschwand wieder im Wald, aber das Dummerchen ging zum Schloß des Königs und fragte nach Arbeit. Der König erwiderte, daß er keine Arbeit für das Dummerchen habe. Dort draußen plagen sich zwar alle tüchtig und wollen auf den gläsernen Berg hinaufgelangen und das Prinzeßchen herunterholen, aber das Dummerchen hat doch weder ein Pferd noch sonst etwas, und wie soll er auf den "Berg hirtaufkommen? Nun hatte das Dummerchen wieder nichts zu tun, und er ging hin, um zu schauen, was denn die anderen dort machten. Er begab sich zum gläsernen Berg und schaute. Dort hatten sich allerhand Prinzen und Söhne vornehmer Herren eingefunden und wollten auf den gläsernen Berg hinaufreiten. Aber wer auch nur ein kleines Stück geritten war, kam wieder herunter, und keinem glückte es, den Gipfel zu erreichen. Das Dummerchen dachte bei sich: Wenn ich doch ein Pferd hätte, das auf den Gipfel des Berges hinaufreiten könnte, dann würde ich schon das Prinzeßchen herunterholen! Kaum hatte er das gedacht, da lief auch schon ein schöner Schimmel herbei und blieb neben ihjn stehen. Nun stieg das Dummerchen auf den Schimmel und ritt auf den gläsernen Berg. Der Schimmel lief wie ein Wirbelwind bergauf und hatte bereits alle die Prinzen und Söhne vornehmer Herren überholt. Aber da will das Dummerchen sehen, ob die anderen schon recht weit zurück sind, und er schaut sich um. Aber kaum hat er sich umgeschaut, da stolpert das Pferd plötzlich, und es geht wieder bergab zu den anderen. Sie lachen das Dummerchen nur aus, weil er nicht sieht, wo er reitet, und verspotten ihn tüchtig. Nun bleibt dem Dunimerchen nichts anderes übrig, als sich beschämt aus dem Staube zu machen. Auch das Pferd verschwand auf einmal, und das Dummerchen war nun wieder ganz allein. Aber die anderen kommen auch nicht vorwärts — sie reiten und reiten ein Stückchen auf den Spuren von Dummerchens Pferd, aber dann fallen sie wieder hinunter, und keiner erreichte an diesem Tag den Gipfel. 258
Doch am nächsten Morgen eilen wieder alle zum Berg und beginnen hinaufzureiten. Aber keiner kommt weiter, als es dem Dummerchen am Tag zuvor geglückt war. Solange noch die Spuren vom Pferd des Dummerchens vorhanden sind, geht es gut, aber sobald sie noch höher reiten, fallen sie wieder hinunter. Auch das Dummerchen war hingegangen und schaute und schaute, wie die anderen ritten. Da dachte er plötzlich bei sich: Wenn ich nur wieder so ein Pferd wie gestern hätte, dann würde ich schon hinaufreiten! Kaum hat das Dummerchen das gedacht, da ist das Pferd zur Stelle. Nun stieg das Dummerchen wieder auf das Pferd und ritt bergauf. Er war schon fast auf dem Gipfel des gläsernen Berges — es fehlte nur noch ein winziges Stückchen —, da beginnen auf einmal unten alle zu schreien und zu rufen, daß das Dummerchen oben ist, daß er oben ist. Wieder konnte sich das Dummerchen nicht beherrschen und schaute sich um. Er wollte sehen, ob ihm nicht jemand dicht auf den Fersen ist. Aber kaum hatte er sich umgeschaut, sah er wieder nicht mehr, wo er ritt, und fiel wieder hinunter. Und nun jagten die anderen auf den Spuren von Dummerchens Pferd den Berg hinauf. Aber weiter als er kam auch diesmal niemand. Alle waren so weit geritten, daß nur noch ein winziges Stückchen bis zum Gipfel fehlte, aber den Gipfel erreichte keiner. An diesem Tag waren alle der Reihe nach geritten, aber da niemand den Gipfel erreicht hatte, waren sie des Reitens überdrüssig geworden und ließen es für diesmal sein. Frühzeitig am nächsten Morgen waren sie wieder zur Stelle und wollten wieder der Reihe nach auf den Berg hinaufreiten. Aber sobald sie höher hinauf wollen, als es dem Dummerchen geglückt ist, fallen sie nacheinander wieder herunter, und keiner erreicht den Gipfel. Das Dummerchen ging auch hin und schaute zu, wie die anderen ritten, und dachte so bei sich: Wenn ich doch dasselbe Pferd hätte wie an den beiden vergangenen Tagen, dann würde ich schon den Gipfel erreichen und das Prinzeßchen herunterholen. Kaum hatte er das gedacht, da war ein noch schöneres Pferd als an den beiden vergangenen Tagen zur Stelle. Das Dummerchen setzte sich auf das Pferd und ritt den gläsernen Berg hinauf. Jetzt schaute er sich nicht mehr um, und so ritt er geradewegs bis zum Prinzeßchen. 17*
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Er nahm das Prinzeßchen und brachte es herunter. Er selbst hatte schöne Kleider an wie ein Prinz, und nicht ein einziger konnte sagen, daß es das Dummerchen war. Alle hielten ihn für einen großen Prinzen. Die Prinzessin war gleich lieb zu ihm, und der König gab sie ihm zur Frau und außerdem noch das ganze Königreich als Aussteuer. Nun wurde eine großartige Hochzeit gefeiert. Zur Hochzeit waren alle Könige und Prinzen eingeladen, und sie tanzten und vergnügten sich. Den anderen Prinzen tat es zwar leid, daß sie nicht das Prinzeßchen zur Frau bekommen hatten, aber das ließ sich nicht mehr ändern — das Dummerchen feierte mit dem Prinzeßchen Hochzeit, und sie lebten glücklich. Und wenn das Dummerchen nicht gestorben ist, dann lebt er noch heute glücklich. Die beiden klugen Brüder erschraken zwar sehr, als sie erfuhren, daß das Dummerchen König geworden war, aber er tat ihnen nichts zuleide. 79
DER GUTE RAT
Ein anderes Mal wiederum — das war noch zur Zeit der großen Pest, als die Menschen wie mit einem Besen von dieser entsetzlichen Krankheit hinweggekehrt wurden — lebte ein ärmlicher Knecht mit seiner Frau bei einem Bauern. Sie hatten schon fast gar nichts mehr außer einem kleinen Jungen. Aber bald wurden auch die Eltern von der Pest dahingerafft, und der arme Junge blieb ganz allein zurück. Er wußte gar nicht, was er anfangen sollte, denn er war noch zu klein, ungefähr fünf Jahre alt. Ein Segen, daß der Bauer so anständig war und sich seiner annahm. Aber als ob es je bei Fremden so sein könnte wie bei den eigenen Eltern! Schon als kleiner Kerl mußte er bei dem Bauern Schweine hüten. Der Junge hütete fleißig und klagte auch gar nicht darüber, daß er arbeiten mußte. Aber der Bauer war ein überaus großer Geizkragen. Er gab ihm nicht mal anständige Kleidung und schickte ihn tagtäglich barfuß zum Hüten. Als der Junge noch klein war, verstand er nichts davon. Nur hin und wieder weinte er, weil er an den Füßen fror. Aber als er dann etwas größer wurde, ließ ihn der Bauer nicht mehr Schweine hüten, sondern nun mußte er Kühe hüten. Der Bauer hatte viele Kühe, und der Junge mußte sich abhetzen, um die 260
gesamte Herde zu bändigen. Er lief sich müde, der Ärmste, und hütete das Vieh, aber seine Füße waren am Morgen eiskalt, und durch das Hüten in den Wäldern waren sie entsetzlich zerkratzt. In einem Herbst war es sehr regnerisch und kalt. Weil er immer so fror und der Regen ihn ständig durchnäßte, war der Junge schon ganz von Kräften gekommen. Eines Tages konnte er es gar nicht mehr aushalten — so sehr fror er an den Füßen. Er stellte sich an eine Kiefer und begann bitterlich zu weinen. Da trat ein altes Mütterchen auf ihn zu und fragte ihn, was ihm fehle. Nun erzählte der Junge, daß der Bauer ihn jeden Tag barfuß zum Viehhüten jage und er an den Füßen friere — ganz gerötet und geschwollen seien sie schon von der großen Kälte und Nässe. Darauf sagte das alte Mütterchen, daß er es noch ein wenig aushalten solle, denn bald werde sie ihn zu einem anderen Bauern bringen, wo er nicht mehr frieren muß und auch nicht vom Regen durchnäßt sein wird. Dort wird er jedoch lernen müssen, gut auf einem Pferd zu reiten. Reiten machte ihm großen Spaß, und er war ein guter Reiter. Nur schalt der Bauer stets mit ihm, daß er zu toll ritt, und deshalb sah er es gar nicht gern, wenn die Knechte dem Jungen die Pferde gaben, damit er sie auf die Koppel ritt. Aber für den Jungen bedeutete es ein unvorstellbares Glück, daß er nach Herzenslust wird reiten können. Vor lauter Vorfreude vergaß er ganz seine Füße und weinte gar nicht mehr. Nur konnte er es kaum erwarten, daß das alte Mütterchen ihn holte und zum anderen Bauern führte. Es verging eine Weile, aber die liebe Alte kam und kam nicht. Der Junge wurde schon wieder traurig, und an einem kalten Tag fing er erneut zu weinen an, weil er an den Füßen fror. Da trat abermals dasselbe alte Mütterchen auf ihn zu und fragte ihn, warum er weine. Ja, wie solle er nicht weinen, wenn er an den Füßen friert. Nun sagte die liebe Alte, daß er es noch ein wenig aushalten solle, übermorgen werde sie wiederkommen und ihn dann ganz bestimmt wegführen. Der Junge hörte wieder auf zu weinen und freute sich, daß schon so bald alle Qualen vorbei sein würden. Er konnte den übernächsten Tag kaum erwarten. Und als es nun übermorgen war, da kam das alte Mütterchen wieder zu ihm, nahm ihn an der Hand und führte ihn fort. Die Kühe blieben allein und gingen, wohin sie wollten — sie zer261
trampelten alle Felder des Bauern. Der war darüber erbost und ging den Jungen suchen. Die Prügel hätte ihm ebenso weh getan wie der Regen, wenn der Bauer ihn gefunden hätte. Aber der Junge hatte inzwischen mit dem alten Mütterchen bereits ein gutes Stück des Weges zurückgelegt. Sie gingen und gingen einen langen, weiten Weg, und der Junge war schon beinahe müde. Nach einigen Wochen oder einem Monat erreichten sie das Schloß eines Königs. Das alte Mütterchen zeigte auf das Schloß und sagte, daß dort der zukünftige Herr des Jungen wohne. Es ist der König selbst, der dort wohnt. Er hatte einen lieben Sohn im Alter des Jungen gehabt. Der war ein guter Reiter gewesen, aber die Pest hatte ihn hinweggerafft. Dieser König hat ein weißes Pferd, das sich von keinem anderen reiten läßt, nur der liebe Sohn des Königs hat es gekonnt — alle anderen wirft es hinunter. Und jetzt will der König denjenigen an Sohnes Statt annehmen, der auf diesem Pferd reiten kann. Zwar haben es schon viele versucht, aber keiner hat es geschafft — sie brachen sich dabei nur die Hälse. Der Junge wird wohl auch kaum mit dem Pferd zu Rande kommen, aber das alte Mütterchen will ihm gern helfen. So gab die liebe Alte dem Jungen eine kleine Bürste und sagte: Wenn er auf dem Pferd reiten wolle, dann solle er nur die Mähne des Pferdes mit dieser kleinen Bürste striegeln, andernfalls werde das Pferd ihn zu Boden werfen, und dann sei es aus mit dem Reiten. Der Junge hörte gut zu und versprach, alles so zu machen, wie sie ihm riet. Nun führte das alte Mütterchen den Jungen zum König und sagte ihm, daß der Junge ihm bestimmt ein guter Sohn sein werde. Der König nahm wohl wahr, daß er recht heruntergekommen ausschaute, aber er sagte nichts Schlechtes — man wird schon sehen. Er gebot den Dienern, ihm sein Zimmer zu zeigen und ihm neue Kleider zu geben. Sofort waren die Diener mit so vornehmen Kleidern zur Stelle, daß der Junge fast erschrak. Als er sie angezogen hatte, knisterte es nur so, denn alles war aus purer Seide. Er schämte sich, daß die Diener ihn, einen so großen Jungen, ankleideten und an seiner Kleidung hin und her zerrten. Aber sie erlauben ihm nichts allein zu tun — sie waschen sein Gesicht, kleiden ihn an, setzen ihm alle Speisen vor und legen ihn am Abend wie ein kleines Wickelkind schlafen. Doch bald schon hatte er sich an all diese Dinge gewöhnt 262
und fand nichts Schlimmes mehr dabei. Da kam eines Tages der König wieder zu ihm und fragte ihn, wie es denn mit dem Reiten stünde und ob er den Mut habe, auf ein großes Pferd zu steigen. Der Junge erwiderte, daß man es ihm geben solle, er habe überhaupt keine Angst. Nun hieß der König ihn in den Stall gehen und nach einem weißen Pferd schauen. Das werde sein Reitpferd sein, und kein anderer dürfe auf ihm reiten. Wenn er dieses Pferd bändigen könne, werde er sein eigener Sohn sein, aber wenn nicht, dann solle er lieber die Schweine hüten gehen. Der Junge begab sich in den Stall, um sich das weiße Pferd anzuschauen. Es war tatsächlich groß und kräftig — noch nie hatte der Junge ein solches Pferd gesehen. Aber dann erinnerte er sich daran, was das alte Mütterchen ihm geraten hatte. Er nahm die kleine Bürste, striegelte dem weißen Pferd die Mähne, und es war ganz zahm und brav. Dann führte der Junge das Pferd aus dem Stall heraus, ließ es satteln und stieg auf. Alle staunten nur, wie er schnell eine Runde nach der andern ritt. Aber der König war darüber sehr froh. Er nannte ihn gleich seinen Sohn und sagte, daß er an seiner Stelle König sein werde, wenn er selber alt werde und der Junge genug gelernt habe. Nun schickte der König den Jungen in verschiedene Schulen und schärfte ihm ein, tüchtig zu lernen. Er war aber auch gescheit, und alles ging ihm flink von der Hand. Er beendete eine Schule, er beendete die zweite und die dritte, daß sich alle nur wunderten. Und während er die Schulen besuchte, wuchs er zu einem großen und schönen jungen Mann heran. Als die Prinzessinnen anderer Könige das erfuhren, waren sie fast von Sinnen — so sehr gefiel er' ihnen. Aber er beachtete sie kaum. Derselbe König hatte eine etwas jüngere, aber bildschöne Tochter, die schöner war als alle Prinzessinnen. Und auch ihr gefiel er besser als alle Prinzen. So gewannen die beiden einander lieb, und der König war darüber ebenfalls froh. Er richtete ihnen eine große Hochzeit aus und vermachte gleichzeitig dem jungen König das ganze Königreich als Aussteuer des schönen Prinzeßchens. Nun lebten sie glücklich miteinander. Und die liebe Alte, die ihm jene kleine Bürste gegeben und ihn zum König geführt 263
hatte, nahm er zu sich ins Schloß und sorgte für sie bis an ihr Lebensende. So war auch sie sehr glücklich und bereute nicht, daß sie dem armen Jungen geholfen hatte, König zu werden. 80
W I E DEM G E I Z I G E N KÖNIG E I N E L E H R E E R T E I L T
WURDE
Es lebte einmal ein König. Der war sehr geizig und gönnte den Bettlern keinen Bissen Brot. Wenn einmal ein Bettler zu ihm kam, befahl er seinen Dienern, die Hunde auf ihn zu hetzen und ihn davonzujagen. Eines Tages ging der König spazieren und begegnete unterwegs einem Bettler. Der bat den König, ihm etwas zu geben, da er seit drei Tagen nichts mehr gegessen habe, denn sonst müsse er vor Hunger sterben. Der König hörte gar nicht hin und ging einfach weiter, aber der Bettler sprach: „Warte nur, einmal wirst du selber betteln gehen." Am nächsten Tag kam der Förster zum König und erzählte ihm, daß er im Wald einen merkwürdigen Hirsch gesehen habe, dessen Fell wie Silber glänzte. Der König begab sich sogleich auf die Jagd. Die Treiber rannten bis in den Nachmittag hinein, doch den Hirsch bekamen sie nicht zu Gesicht, und sie beschlossen, die Jagd zu beenden. Aber beim letzten Treiben erblickten sie auf einmal den Hirsch. Er entkam ihnen jedoch, und es gelang ihnen nicht, ihn zu schießen. Sie hielten sich zwar noch bis zum späten Abend im Wald auf, den Hirsch aber sahen sie nicht mehr. Am nächsten Ta'g berichtete der Aufseher dem König, daß er den Hirsch gesehen habe, wie er über die Felder lief. Gleich eilte der König mit seinen Dienern hinaus, und sie suchten den Hirsch, aber wieder bekamen sie ihn nicht zu Gesicht — er war verschwunden wie ein ganz kleines Messerchen. Am dritten Tag kam der Gärtner zum König gelaufen und sagte, daß der Hirsch im Garten sei. Sofort eilte der König hinaus, doch kaum hatte er den Hirsch erblickt, da war der auch schon über den Zaun gesprungen und auf und davon geeilt. Aber der König verfolgte ihn bis zum Strand. Der Hirsch war bereits ein weites Stück ins Meer hinausgeschwommen, doch der König watete nun ebenfalls ein Stück ins Meer hinaus, schoß und traf den Hirsch mitten ins Herz. Sofort legte der König seine Kleider ab und schwamm zu dem Hirsch hin. 264
Nachdem er ihn ans Ufer gezogen hatte, entdeckte er, daß seine Kleider verschwunden waren, aber er konnte keine Menschenseele am Strand entdecken. Er suchte und Suchte, doch es war, als wären die Kleider ins Wasser gefallen. Darauf deckte der König den Hirsch ab, umhüllte sich mit dem Fell und ging zum Schloß. Als er das Schloß betreten hatte, wollten ihn die Diener erstaunlicherweise nicht hineinlassen. Sie sagten, was denn das für ein Gespenst sei, das nicht mal Kleider anhabe — der König werde es gleich hinausjagen. Als der König solche Reden vernahm, begann er sich zu wundern. Was denn los sei, fragte er die Diener, und welcher König ihn hinausjagen werde. Er selbst sei doch der König in diesem Schloß. Die Diener brachen in Gelächter aus. Was wolle er schon für ein König sein, da der König soeben eingetroffen sei. Nun wurde er ganz verwirrt und bat, daß man ihn doch hineinlasse, aber die Diener dachten gar nicht daran. Zuletzt begann er zu bitten, daß man ihm gestatte, den König zu sehen. Nach langem Bitten führten ihn die Diener herein, und wie groß war die Verwunderung des Königs, als er einen ebensolchen König in seinen Kleidern am Tisch sitzen sah. Der König fragte ihn, wer er sei und wie er ins Schloß gekommen wäre. Der andere König antwortete ihm, daß er einen solchen Bettler nicht kenne, und befahl den Dienern, ihn mit Hunden davonzujagen. Nun mußte der König betteln gehen, aber niemand mochte ihm etwas geben, denn auch er hatte den Armen nie etwas gegeben, und so zog er drei Jahre als Bettler umher und war schon alt geworden. Nun sah er, wie es einem Armen ergeht, der betteln muß, um etwas zu essen zu bekommen. Eines Tages betrat er halbverhungert und in zerschlissenen Kleidern wieder sein Schloß und hoffte wenigstens etwas Eßbares zu erhalten. Aber im Schloß fand gerade ein Fest statt, und als er hereinkam^ erblickte er sofort den anderen König, und der sah auch jetzt so aus, wie er einst ausgesehen hatte. Er ging zu ihm hin, warf sich vor ihm auf die Knie und flehte ihn um ein wenig Essen an, denn er war ganz ausgehungert. Der König fragte ihn, ob er jetzt wisse, wie es einem Armen gehe. Er erwiderte, daß er es nun wisse, und wenn er jetzt König wäre, bekämen alle Armen täglich Essen und Kleidung. 265
Nachdem er das gesagt hatte, warf der andere König die Kleider von sich und war plötzlich verschwunden. Der König wurde nun wieder König in seinem Schloß, und von dieser Zeit an ließ er allen Bettlern täglich Essen und Kleidung geben, und wenn einmal ein fremder Bettler ins Schloß kam, dann ließ er ihm ebenfalls reichlich Brot und in einer Dose auch etwas Butter und noch dies und das geben. Er jagte fortan keinen Bettler mehr davon, sondern gab stets reichlich, denn er hatte am eigenen Leibe erfahren, wie es einem Armen ergeht, der umherziehen und betteln muß, um nicht Hungers zu sterben. 81 DIE GOLDENE AXT
Es lebten einmal zwei Brüder: ein reicher und ein armer. Der reiche Bruder wußte nicht, wie er den Tag verbringen sollte, denn er mußte nicht arbeiten. Er lebte in Prunk und Wohlstand. Der arme Bruder dagegen verdiente den Lebensunterhalt für sich und seine Familie durch schwere Arbeit — er hackte im Walde Holz. Sein einziger Reichtum war seine Axt. Während ei eines Tages am Ufer des Flusses Bäume abholzte, fiel ihm zufällig die Axt aus der Hand und rollte in die Tiefe. Nun wußte der arme Mann nicht, was er machen sollte — am Abend ohne Brot heimzukehren und die hungrigen Kinderchen weinen zu sehen, das brachte er nicht fertig. Lange weinte er, bis schließlich eine gütige Stimme zu ihm sprach: „Weine nicht, ich werde dir in deinem Kummer helfen. Sage mir, was dir zugestoßen ist!" Der arme Bruder erzählte alles von seinem Unglück und fing wieder zu weinen an. Da trat ein kleines, weißhaariges Männlein auf ihn zu. Es hatte ein Stöckchen in der Hand und einen langen, weißen Bart. Das Männlein versprach, die Axt aus der Tiefe zu holen, und der arme Bruder beruhigte sich. Das alte Männlein stieg ans Wasser hinunter, steckte seine Hand in die Fluten, zog eine silberne Axt aus dem Wasser und fragte: „ist das deine Axt?" „Nein", antwortete der Arme. Darauf zog das alte Männlein eine goldene Axt aus dem Was266
ser und fragte, ob das die Axt des armen Bruders sei. Nein, auch das sei sie nicht. Schließlich zog das alte Männlein die Axt des armen Bruders aus dem Wasser. Der nahm sie mit Dank in Empfang und wollte sich schon wieder an die Arbeit machen, als das alte Männlein sagte: „Höre mal, wenn du bereits mit einer solchen Axt dein Brot verdienen kannst, dann wirst du's mit diesen beiden noch viel besser können." Und das Männlein gab dem Armen auch die goldene und die silberne Axt. Als der arme Bauer heimkam, fand er seine Familie froh und munter am gedeckten Tisch vor. Seine Frau berichtete, daß ein kleines, altes Männlein bei ihnen gewesen sei und ihnen viel Goldgeld gegeben habe. Von nun an begann es dem armen Bruder immer besser und besser zu gehen, und nach einem Jahr war er schon ebenso reich wie sein Bruder. Er baute sich ein neues, schönes Haus. Kaum war alles fertig, da erschien der reiche Bruder und fragte ihn verwundert, wie er zu solchem Reichtum gekommen sei. Der arme Bruder erzählte ihm auch alles, und der reiche Bruder lief in Windeseile nach Hause, um zu noch mehr Reichtum zu gelangen. Er begab sich ans Ufer, wo er einen Baum zu fällen gedachte. Nachdem er ein paarmal zugehauen hatte, warf er die Axt mutwillig ins Wasser. Da setzte er sich ans Ufer und schluchzte so laut, daß der ganze Wald davon widerhallte. Das alte Männlein erschien auch und fragte, warum er so weine. Er erzählte ihm alles. Als das alte Männlein die silberne Axt aus dem Wasser gezogen hatte, rief der Reiche: „Gib sie her, Alter, das ist meine Axt!" Das alte Männlein gehorchte und gab sie ihm. So geschah das auch mit der goldenen Axt und mit seiner eigenen eisernen Axt. Der Reiche bedankte sich nicht einmal, sondern eilte geschwind nach Hause, um das Geld zu zählen, das das alte Männlein ihm bestimmt inzwischen gebracht hatte. Er ging und ging, aber der Wald nahm und nahm kein Ende. Er merkte, daß er sich verirrt hatte, und ohne viel zu überlegen, legte er sich aufs Ohr, um zu schlafen. Er sagte sich, daß er morgen schon den Weg nach Hause finden würde. In der Nacht hatte er einen Traum. Dasselbe alte Männlein tritt an ihn heran und spricht: „Viel hast du begehrt, wenig hast du bekommen. Lerne nun, in Armut zu leben!" 267
Dann verschwand das alte Männlein. Als er am Morgen aufwachte, wußte er nicht, wo er sich überhaupt befand. Er ging den ganzen Tag, aber wohin er auch schaute: Wald, nichts als Wald. Als es schon zu dämmern begann, sank er hungrig auf einem Hügel nieder und schlief ein. Viele Tage mußte der reiche Mann im Wald in Not und Elend verbringen, bis ihn einmal sein armer Bruder fand. „Sage mir, wieviel Gold haf der weißhaarige Alte zu mir nach Hause gebracht?" war seine erste Frage an den Bruder. „Viel, sehr viel", erwiderte der arme Bruder und führte ihn aus dem Wald. Erst als sie aus dem Wald heraustraten, merkte der Reiche, daß er die ganze Zeit hier in seinem eigenen Wald verbracht hatte. Er stieg auf den Berg und hielt nach seinem Haus Ausschau, aber an jener Stelle war ein Aschenhaufen, und die Angehörigen des Reichen lebten bei seinem armen Bruder. Dort blieb dann auch der reiche Bruder wohnen und bedauerte es bitterlich, daß er in seinem Leben als Reicher seinem armen Bruder, der jetzt für ihn sorgte, nicht geholfen hatte.
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LAIMA E R F Ü L L T DREI WÜNSCHE
Mutter Laima wanderte durch die Welt und kehrte einmal an einem Winterabend in einem Häuschen ein, um sich aufzuwärmen. Als sie wieder aufbrach, rief sie die Bäuerin zu sich und sprach: „Dafür, daß ich mich hier aufwärmen durfte, dürft ihr euch drei Dinge wünschen!" „Oh, wenn doch auf dem Herd eine Wurst briete!" rief die Bäuerin geschwind. Im Nu briet auch schon die Wurst, daß es nur so prasselte. Da lief der Bauer herbei: „Du Närrin! Wenn doch die Wurst an deiner Nase hängen bliebe! Konntest .du denn nicht Gold und Reichtum wünschen?" Augenblicklich erfüllte sich das, was der Bauer ausgesprochen hatte. Die Wurst blieb an der Nase der Bäuerin hängen und konnte nicht mehr entfernt werden. Nun erschrak der Bauer und bat Laima, die Wurst von der Nase seiner Frau zu entfernen. Die Göttin tat das und sagte beim Weggehen: 268
„Ihr seid nicht die ersten, die meine Gaben leichtsinnig verschwenden. Drei Dinge gewährte ich euch — drei erhieltet ihr — lebt wohl!" 83
DER KÖNIG VON RIGA
Wie das so am Heiligabend üblich ist, versorgten die Burschen schnell die Pferde und die Mägde die Kühe. Dann versammelten sich alle in der Stube. Die Piroggen standen auf dem Tisch, der Bauer sprach das Abendge.bet, dann aß man Abendbrot, es wurde nochmals gebetet, und nun erwarteten alle das Weihnachtsfest. Kurz vor Mitternacht verließ der Bauer die Stube und kam nicht wieder. Die andern gingen hinaus, um nach dem Bauern zu sehen. Sie fanden ihn nicht und gingen wieder zurück in die Stube. Einige glaubten,- daß der Bauer zu den Halbpächtern gegangen sei. Mitternacht war bereits vorbei. Die Hausbewohner hörten die Hunde der Halbpächter bellen und gingen wieder hinaus. Sieh mal einer an — da kommt der Bauer mit seiner weißen Stute angefahren. In jenem Jahr gab es keine weißen Weihnachten. Der Bauer fährt in den Hof. Die Leute wundern sich und fragen: „Wo warst du?" „In Riga!" erwidert der Bauer. Die Leute glauben das nicht und sagen: „Du lügst!" „Woher habe ich denn die Heringsfasser, wenn ich lüge?" sagt der Bauer, „kommt her, dann werdet ihr's sehen." Tatsächlich — sie erblicken Heringsfasser. Der Bauer läßt sie in die Scheune rollen. Das erste Faß rollt sich leicht, aber kaum haben sie das zweite berührt, da kräht der Hahn; das Faß wird so schwer, daß es sich nicht von der Stelle bewegen läßt. Alle überlegen, was zu tun ist. Der alte Bauer sagt, daß ihnen wohl nichts anderes übrigbleibe, als den Wagen umzuwerfen und dann das Faß herunterzurollen. Gesagt, getan. Sie wälzen das Faß in die Scheune, spannen die weiße Stute aus, führen sie in den Stall, und der Bauer geht in die Stube. Nun fragt auch die Bäuerin: „Wo warst du?" „Ich war in Riga!" erwiderte der Bauer wie zuvor. 269
„Du kannst ja gar nicht in Riga gewesen sein. Was schwätzt du da?" „Sieh einer an, du glaubst mir also nicht — woher habe ich denn sonst die Fässer?" Die Bäuerin fragt weiter: „Wer hieß dich denn nach Riga fahren?" „Nun ja, als ich hinausgegangen war, stand plötzlich ein feiner junger Herr vor mir, der mir befahl, ihn nach Riga zu fahren. Er versprach mir dafür ein Heringsfaß. Ich verspürte plötzlich eine solche Lust dazu, daß ich nicht erst nochmal in die Stube kam, um euch Bescheid zu geben. Kaum waren wir unterwegs, da fragte ich ihn, wann wir denn in Riga sein werden. Der junge Herr sagte: ,Nun, wir werden schon noch Riga erreichen.' Die Räder rollten wie über Glas und holperten gar nicht. Da sagte der junge Herr: ,Weißt du, warum ich deine Hilfe brauche? Ich muß um Riga kämpfen. Wenn wir an der Brücke sind, binde die Stute an, nimm die linke Deichsel und komm mit mir! Auf der Brücke wird mein Gegner erscheinen. Er will über Riga herrschen, und ich will über Riga herrschen. Mitten auf der Brücke wird der Kampf zwischen uns beginnen. Versuche, ihn dreimal mit der Deichsel zu schlagen, nur hüte dich davor, mich zu treffen, denn ich bin sonst auf der Stelle tot!' Wir erreichten die Brücke. Ich band die Stute an, nahm die linke Deichsel und folgte dem jungen Herrn. Als wir die Mitte der Brücke erreicht haben, überfallt auch schon ein großer schwarzer Herr meinen jungen Herrn. Mit einem Schlag fällt der zu Boden. Ich schlage nun tüchtig auf den Gegner ein, und kaum habe ich dreimal zugeschlagen, springt mein junger Herr im Nu hoch und schleudert den schwarzen Herrn über den Brückenrand. ,So, nun bin ich also König von ganz Riga. Führe deine Stute her, ich will dir deine wohlverdienten Heringe geben.' Ich fuhr zu einem großen Gebäude. Man gab mir ein Faß. Das Faß war so leicht, daß ich dachte, es sei leer. Wir fuhren zu einem zweiten Gebäude. Der junge Herr öffnete die Tür und sagte, ich solle mir von den Heringen hier auch ein Faß nehmen, sie seien besser als die anderen. ,Mit zwei Heringsfässern werde ich wohl vor morgen Mittag kaum daheim sein', sagte ich. 270
,Du wirst gar bald zu Hause sein', erwiderte der junge Herr, ,nur darfst du zu deinem Pferdchen nicht «Tprru» sagen.' Wir reichten uns zum Abschied die Hände, und ich fuhr heimwärts. Der Wagen rollte wie über Glas, ohne zu holpern. Er fing erst zu rütteln an, als die Nachbarhunde bellten, aber da war ich ja auch so gut wie zu Hause." Die Leute öffneten nun die Fässer. Das eine Faß war voller Heringe, aber das andere — voller Golddukaten. Der junge Herr soll der liebe Gott selbst gewesen sein. 84
WIE DAS D U M M E R C H E N DIE SIEBEN V E R Z A U B E R T E N B R Ü D E R E R R E T T E T E
Ein König hatte große Wiesen. Von diesen Wiesen verschwand jede Nacht ein Heuhaufen. Da ließ der König einen Bauern den Heuhaufen bewachen. Dieser Bauer hatte drei Söhne: zwei kluge und einen dummen. Der Vater ging nicht selbst auf die Wiese, um den Heuhaufen zu bewachen, er schickte seine Söhne. Zuerst taten das die klugen jeweils eine Nacht, aber es gelang ihnen nicht, den Heuhaufen zu bewachen. In der dritten Nacht ging das Dummerchen auf die Wiese. Er wartete dort eine Weile — da kam ein kleines Männlein hergelaufen. Es sagte dem Dummerchen, daß er sich ganz oben auf den Heuhaufen legen sollte. Ein Tier wird sich dem Heuhaufen nähern und das Heu zu fressen anfangen. Dem soll sich das Dummerchen in die Mähne stürzen und es nicht mehr loslassen. Das Dummerchen kletterte auf den Heuhaufen und wartete. Plötzlich schlich sich ein großes Tier heran und fing an, Heu zu fressen. Der Heuhaufen wurde zusehends kleiner, aber als schon fast das ganze Heu vertilgt war, stürzte sich das Dummerchen dem Tier in die Mähne und sprang auf seinen Rücken. Das Tier stürmte wie der Wirbelwind davon, aber das Dummerchen klammerte sich ganz fest. Schließlich blieb das Tier auf einem Berg stehen und fragte das Dummerchen: „Warum klammerst du dich an mir fest?" „Warum frißt du mein Heu?" erwiderte das Dummerchen. „Warum ich es fresse? Ich muß doch fressen. Wir sind sieben verzauberte Brüder, und wohin man uns schickt, dorthin 271
müssen wir gehen. Verpflichte dich, sieben Jahre lang keinem zu erzählen, was du heute abend erlebt hast, dann werden wir alle sieben Brüder nach sieben Jahren erlöst sein." Gut. Das Dummerchen war einverstanden. Darauf trug das Tier das Dummerchen auf seinem Rücken zum Heuhaufen zurück, gab ihm dafür, daß er sich verpflichtet hatte, sieben Jahre zu schweigen, einen silbernen, einen goldenen und einen diamantenen Zaum und sprach: „Nimm diese Zäume als Lohn. Wenn du einmal etwas brauchst, dann rüttle ein wenig an diesen Zäumen — und es wird gut sein." Von dieser Zeit an verschwanden die Heuhaufen nicht mehr. Der Vater berichtete dem König, daß es dem Dummerchen gelungen sei, sie zu bewachen. Der König freute sich und nahm das Dummerchen zu sich aufs Schloß. Im Schloß ging es dem Dummerchen recht gut. Er arbeitete, wann er wollte. Wenn er keine Lust hatte, konnte er sich tagelang ausruhen, niemand trieb ihn zur Arbeit, niemand belästigte ihn. Da hatte das Dummerchen einmal Lust, an den Zäumen zu rütteln, um zu sehen, was dabei wohl herauskommt. Er rüttelte also, und sofort lief ein silbernes Pferd herbei mit einem großen Beutel voller echtem Silber. Das Dummerchen sprang auf das Pferd, ritt dreimal um den Garten des Königs und säte das Silber im Garten aus. Im Nu erstrahlte der Garten vor lauter Silber. Dann ließ das Dummerchen das silberne Pferd heimwärtstraben und ging zum Gärtner des Königs,, um ihn aus dem Mittagsschlaf zu wecken. Der Gärtner rieb sich die Augen und fragte: „Was willst du?" Aber das Dummerchen zeigte mit dem Finger auf den Garten und sagte: „Was leuchtet hier, was leuchtet hier?" Als der Gärtner einen solchen Glanz erblickte, rannte er ganz erschrocken zum König und erzählte ihm, was im Garten los war. Der König und alle anderen liefen sofort in den Garten, um silberne Äpfel zu pflücken. Nur die jüngste Tochter des Königs lief nicht mit, sie blieb im Zimmer beim Dummerchen. Aber dem König gelang es nur, einen einzigen silbernen Apfel zu pflücken; alle anderen Äpfel erhoben sich in die Luft und entschwanden, sobald man sie pflücken wollte. Den gepflückten Apfel gab der König seiner ältesten Tochter, 272
und dann befahl er, für den nächsten Tag Gäste einzuladen, um auch ihnen den Wundergarten zu zeigen, den bisher noch nie einer gesehen hatte. Aber am nächsten Tag war es bereits zu spät, den silbernen Garten zu sehen. In der Nacht hatte das Dummerchen wieder am silbernen Zaum gerüttelt, das silberne Pferd gerufen, und dann war er dreimal um den Garten geritten. Beim dritten Mal verschwand im Garten das ganze Silber. Am nächsten Morgen erschienen eine Unmenge Gäste, aber alle Freude war umsonst — sie sahen kein Silber mehr. Den König wurmte es sehr, daß die Gäste betrogen waren, und um sie wenigstens ein bißchen zu beruhigen, dachte er sich etwas anderes aus. Er verkündete, daß sich seine älteste Tochter heute aus der Schar der Gäste einen Bräutigam aussuchen werde. So geschah es auch. Die älteste Tochter nahm den silbernen Apfel und gab ihn einem Gast. Der König geleitete umgehend den erkorenen Gast aus der Menge und ließ ihn mit seiner ältesten Tochter trauen. Es verging eine längere Zeit. Da rüttelte das Dummerchen wieder einmal an einem Zaum, diesmal am goldenen. Ein goldenes Pferd lief herbei, mit einem Beutel voller echtem Gold. Das Dummerchen sprang auf das Pferd, ritt dreimal um den Garten des Königs und säte das Gold im Garten aus. Im Nu erstrahlte der Garten vor lauter Gold. Dann ließ das Dummerchen uis goldene Pferd heim traben und ging zum Gärtner des Königs, um ihn aus dem Mittagsschlaf zu wecken. Der Gärtner rieb sich die Augen und fragte: „Was willst du?" Aber das Dummerchen zeigte mit dem Finger auf den Garten und sagte: „Was leuchtet hier, was leuchtet hier?" Als der Gärtner solchen Glanz erblickte, rannte er ganz erschrocken zum König und erzählte ihm, was im Garten los war. Der König und alle anderen liefen sofort in den Garten, um goldene Äpfel zu pflücken. Nur die jüngste Tochter des Königs lief nicht mit, sie blieb im Zimmer beim Dummerchen. Aber dem König gelang es nur, einen einzigen goldenen Apfel zu pflücken, alle anderen Äpfel erhoben sich in die Luft und entschwanden, sobald man sie pflücken wollte. Den gepflückten Apfel gab der König seiner mittleren Tochter, und dann befahl er, für den nächsten Tag Gäste einzuladen, 18
Lettische Volksmärchen
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um auch ihnen den Wundergarten zu zeigen, den bisher noch nie einer gesehen hatte. Am nächsten Tag war es aber bereits zu spät, den goldenen Garten zu sehen. In der Nacht rüttelt das Dummerchen wieder am goldenen Zaum, ruft das goldene Pferd herbei und reitet dreimal um den Garten. Beim dritten Mal verschwand im Garten das ganze Gold. Am nächsten Tag erschienen eine Unmenge Gäste, aber alle Freude war umsonst — sie sahen kein Gold mehr. Den König wurmte es sehr, daß die Gäste betrogen waren, und um sie wenigstens ein bißchen zu beruhigen, dachte er sich etwas anderes aus. Er verkündete, daß sich seine mittlere Tochter heute aus der Schar der Gäste einen Bräutigam aussuchen werde. So geschah es auch. Die mittlere Tochter nahm den goldenen Apfel und gab ihn einem Gast. Der König geleitete umgehend den erkorenen Gast aus der Menge und ließ ihn mit seiner mittleren Tochter trauen. Es verging eine längere Zeit. Da rüttelte das Dummerchen wieder einmal an einem Zaum, diesmal am diamantenen. Ein diamantenes Pferd lief herbei, mit einem Beutel voller Diamanten. Das Dummerchen sprang auf das Pferd, ritt dreimal um den Garten des Königs und säte die Diamanten im Garten aus. Im Nu erstrahlte der Garten vor lauter Diamanten. Dann ließ das Dummerchen das diamantene Pferd heimtraben und ging zum Gärtner des Königs, um ihn aus dem Mittagsschlaf zu wecken. Der Gärtner rieb sich die Augen und fragte: „Was willst du?" Aber das Dummerchen zeigte mit dem Finger auf den Garten und sagte: „Was leuchtet hier, was leuchtet hier?" Als der Gärtner einen solchen Glanz erblickte, rannte er ganz erschrocken zum König und erzählte ihm, was im Garten los war. Der König und alle anderen liefen sofort in den Garten, um diamantene Äpfel zu pflücken. Nur die jüngste Tochter des Königs lief nicht mit, sie blieb im Zimmer beim Dummerchen. Aber dem König gelang es nur, einen einzigen diamantenen Apfel zu pflücken, alle anderen Äpfel erhoben sich in die Luft und entschwanden, sobald man sie pflücken wollte. Den gepflückten Apfel gab der König seiner jüngsten Tochter, und dann befahl er, für den nächsten Tag Gäste einzuladen, um auch ihnen den Wundergarten zu zeigen, den bisher noch nie einer gesehen hatte. 274
Am nächsten Tag war es aber bereits zu spät, den diamantenen Garten zu sehen. In der Nacht rüttelte das Dummerchen wieder am diamantenen Zaum, rief das diamantene Pferd herbei und ritt dreimal um den Garten. Beim dritten Mal verschwanden im Garten alle Diamanten. Am nächsten Tag erschienen eine Unmenge Gäste, aber alle Freude war umsonst — sie sahen keine Diamanten mehr. Den König wurmte es sehr, daß die Gäste betrogen waren, und um sie wenigstens ein bißchen zu beruhigen, dachte er sich etwas anderes aus. Er verkündete, daß seine jüngste Tochter sich heute aus der Schar der Gäste einen Bräutigam aussuchen werde. So geschah es auch. Die jüngste Tochter nahm den diamantenen Apfel, aber sie konnte unter den Gästen keinen finden, der ihr gefiel. Nun ließ der König alle möglichen Leutö eintreten, auch das Dummerchen kam herein. ' Kaum hatte die jüngste Tochter das Dummerchen erblickt, da überreichte sie ihm den diamantenen Apfel. Der König ärgerte sich zwar darüber, daß sie sich ein solches Dummerchen auserkoren hatte, aber er konnte es nicht ändern, und sie mußten getraut werden. Doch die beiden Schwäger wollten das Dummerchen ganz und gar nicht als ihren Verwandten anerkennen. Sie überredeten den König, das Dummerchen mit seiner Frau woandershin zu schicken. Der König hörte auf sie und schickte die beiden weit, weit weg vom Schloß, fast schon außerhalb der Grenzen seines Landes. Dort mußten sie in einer ärmlichen Hütte leben. Das genügte aber den beiden Schwägern noch nicht, sie wünschten sich, daß das Dummerchen und seine Frau gar nicht mehr auf der Welt wären. Eines Tages sagten die beiden, daß sie beschlossen hätten, auf die Jagd zu reiten. Der König wollte seinen Schwiegersöhnen Diener als Helfer mitschicken, aber die Schwiegersöhne erwiderten: „Nein, nein, wir wollen gern einmal unter uns sein." Aber was taten die Schurken? Sie dachten gar nicht aps Jagen, sondern begaben sich zum Dummerchen und nahmen es mit, um es im Walde umzubringen. Das Dummerchen ahnte nichts Böses und folgte den Schwägern auf einer kleinen Stute. Sie mußten durch einen schrecklichen Sumpf reiten. Am Rand des Sumpfes hielten die Schwäger 275
ihre Pferde an, hoben das Dummerchen von der alten, kleinen Stute und warfen den Unschuldigen in den Sumpf. Sie selbst machten sich gleich auf und davon und lachten darüber, daß es nun ein für allemal mit dem Dummerchen aus wäre. Mit dem Dummerchen war es aber ganz und gar nicht aus, es rüttelte am silbernen Zaum und rief das silberne Pferd herbei. Das silberne Pferd zog das Dummerchen aus dem Sumpf heraus und trug ihn eins-zwei auf dem Rücken zu seiner Frau. Sie wunderte sich und fragte, wo sich das Dummerchen so besudelt hätte, aber der erwiderte nur: „Gib mir geschwind andere Kleider, ich muß den Schwägern entgegenreiten!" Während er zum Tor hinausritt, hefteten sich plötzlich zwei gewaltige Hunde an das Pferd, an jeder Seite einer. Nach einer Weile begegnete das Dummerchen den Schwägern, Sie staunten über das silberne Pferd und begannen mit dem Dummerchen zu handeln, daß er ihnen die beiden gewaltigen Hunde verkaufen sollte. Das Dummerchen antwortete: „Wenn ihr mir eure Trauringe gebt und versprecht, die Hunde neun Tage lang nicht hinauszulassen, dann mag es geschehen." Die Schwäger gäben ihm ihre Trauringe und versprachen, die Hunde einzusperren. Gut. So verblieben sie. Am nächsten Tag waren die Schwäger jedoch wieder zur Stelle undvüberredeten das Dummerchen, mit ihnen auf die Jagd zu kommen. Er ritt auch mit. Als sie am Sumpf vorbeiritten, machten die Schwäger halt, hoben das Dummerchen von seiner kleinen Stute und warfen ihn kopfüber in den Sumpf. Das Dummerchen aber rüttelte am goldenen Zaum und rief das goldene Pferd herbei. Das Pferd zog das Dummerchen aus dem Sumpf und trug ihn eins-zwei auf dem Rücken zu seiner Frau. Sie wundert sich, wo sich das Dummerchen so besudelt hätte, aber der erwidert nur: „Was kommt nicht alles auf einer Jagd vor! Gib mir lieber geschwind andere Kleider, damit ich den Schwägern entgegenreiten kann!" Die Frau gab ihm andere Kleider. Im Nu streifte er sie sich über und sprang dann auf das goldene Pferd, um den Schwägern entgegenzureiten. Während er durch das Tor ritt, hefteten sich zwei gewaltige Wölfe an die Fersen des goldenen Pferdes. 276
Nach einer Weile begegnete das Dummerchen den Schwägern. Sie. staunten über das goldene Pferd und begannen mit dem Dummerchen zu handeln, daß er ihnen die beiden Wölfe verkaufen sollte. Das Dummerchen antwortete: „Wenn ihr mir eure Hochzeitsäpfel gebt und versprecht, die Wölfe neun Tage lang nicht hinauszulassen, dann mag es geschehen." Die Schwäger versprachen es. Das Dummerchen nahm die Äpfel und ritt davon. Aber am dritten Tag waren die Schwäger wieder zur Stelle und überredeten das Dummerchen, mit ihnen auf die Jagd zu kommen. Das Dummerchen tat es. Auf der Jagd packten sie das Dummerchen und warfert ihn in eine tiefe Felsenschlucht. Jetzt glaubten sie, daß das Dummerchen endgültig umgekommen wäre. Aber weit gefehlt! Er rüttelte am diamantenen Zaum und rief das diamantene Pferd herbei. Das diamantene Pferd zog das Dummerchen aus der Schlucht und trug ihn eins-zwei auf dem Rücken zu seiner Frau heim. Sie wunderte sich, daß seine Kleider zerfetzt waren, aber das Dummerchen antwortete: „Was kommt nicht alles auf einer Jagd vor! Gib mir lieber andere Kleider, damit ich den Schwägern entgegenreiten kann!" Die Frau gab ihm andere Kleider. Im Nu streifte er sie sich über und sprang dann auf das diamantene Pferd, um den Schwägern entgegenzureiten. Während er durchs Tor ritt, hefteten sich zwei gewaltige Bären an die Fersen seines Pferdes. Nach einer Weile begegnete das Dummerchen den Schwägern. Sie staunten über das diamantene Pferd und begannen mit dem Dummerchen zu handeln, daß er ihnen die beiden Bären verkaufen sollte. Das Dummerchen antwortete jedoch : „Wenn ihr mir eure Hochzeitshemden gebt und versprecht, die Bären neun Tage lang nicht hinauszulassen, dann mag es geschehen." Gut. Die Schwäger versprachen es. Das Dummerchen nahm die Hemden und ritt zu seiner Frau, während die Schwäger zum König zurückkehrten und ihm erzählten, daß das Dummerchen ihnen die Trauringe, die Äpfel und die Hemden abgeluchst hätte. Der König wurde sehr zornig. Er befahl, das Dummerchen, 277
diesen Betrüger, zu ihm zu bringen. Aber das Dummerchen ging nicht gleich zum König; er hatte vor, erst am neunten Tag zum König zu kommen. Nun war der neunte Tag da. Das Dummerchen wollte zum König aufbrechen. Aber er war noch nicht durchs Tor gegangen, als ihm sieben Königssöhne in lauter Silber, Gold und Diamanten entgegengefahren kamen. Das Dummerchen kannte sie nicht, aber sie erkannten das Dummerchen sofort. Alle sieben stiegen aus den Kutschen und sprachen: „Hab Dank dafür, daß du es fertiggebracht hast, sieben Jahre zu schweigen. Jetzt sind wir erlöst. Hier hast du als Erinnerung von uns die diamantene Kutsche und sechs diamantene Pferde." Das Dummerchen nahm gleich die kostbaren Pferde, fuhr in den Hof und erzählte seiner Frau alles vom Anfang bis zum Ende. Später setzten sie sich beide in die Kutsche und fuhren zum Schwiegervater, dem König, daß es nur so funkelte. Das ganze Schloß des Königs erstrahlte von den diamantenen Pferden. Der König staunte zwar über den Glanz, aber er tat so, als ob er ihn gar nicht bemerkte, und fragte nur barsch: „Warum hast du meine Schwiegersöhne betrogen? Warum hast du ihnen ihre Hochzeitssachen entlockt?" „Ich soll ihnen etwas entlockt haben? Ich soll sie betrogen haben?" staunte das Dummerchen. „Sie haben mir doch selber diese Sachen verkauft, als sie die Tiere kauften; wer ehrlich ist, bezahlt ehrlich." „Was für Tiere?" fragte der König. „Die Tiere, die deine guten Schwiegersöhne eingesperrt halten." „Laßt sie heraus!" befahl der König. Die guten Schwiegersöhne gingen die Tiere herauslassen. Aber kaum hatten sie das getan, da stürzten sich die Tiere — krapt! — auf die Schwiegersöhne und zerfleischten sie. Nun erzählte das Dummerchen dem König alles vom Anfang bis zum Ende, wie er den Heuhaufen bewacht hatte und schweigen mußte, wie er die sieben Brüder erlöst hatte und schließlich auch noch mit den Schwägern kämpfen mußte. Als der König das vernahm, umarmte er das Dummerchen und bat ihn, ihm zu vergeben; er habe das alles nicht gewußt: Er habe das Dummerchen ohne Wissen gequält, weil er den hinterlistigen Schwiegersöhnen geglaubt habe. Von dieser Zeit an lebte das Dummerchen glücklich. Später, nach dem Tod des Königs, erbte er das ganze Königreich. 278
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DER K.0KLESP1ELER In alten Zeiten hatte ein König einen Schäfer, der so schön die Kokle zu spielen verstand, daß sogar die Vögel herbeiflogen, um zuzuhören. Auch die Tiere des Waldes versammelten sich rund um die Schafherde, sobald sie die Klänge der Kokle vernahmen, und lauschten und lauschten. Und sie hörten auf, den Schafen nachzujagen, und zerfleischten sie nicht mehr. Da geschah es einmal, daß die Königstochter selber auf einem Spaziergang am Waldrand vorbeikam, wo der Schäfer gerade seine Schäfchen hütete. Während sich die Königstochter dem Wald nähert, vernimmt sie die lieblichen Töne der Kokle. Sie bleibt stehen, hört einmal hin, hört nochmals hin — fast schmilzt ihr das Herz bei diesen Klängen! Schließlich geht sie auf den Schäfer zu und sagt: „Mein Lieber, zwei Dinge muß ich dir sagen: Mir gefallen die Klänge deiner Kokle, und als zweites: Du selbst gefällst mir ebenfalls! Ich werde mich weder von den Klängen deiner Kokle noch von dir trennen!" Nun spielte der junge Schäfer auf seiner Kokle so wunderwunderschön, und das Mägdlein hörte so aufmerksam zu, daß es sogar vergaß, nach Hause zu gehen. Der alte König wartete und wartete; aber von seiner Tochter war nichts zu sehen und zu hören. Nun begibt er sich auf die Suche nach ihr und findet sein Kind bei dem Schäfer. „Was treibst du hier?" fragt der Alte streng. „Väterchen, ich lausche dem Koklespiel. Siehst du denn nicht, daß sogar die Vögelchen herbeigeflogen sind, um zuzuhören? Befiehl dem Schäfer, auf seiner Kokle zu spielen, und du wirst merken, daß es dir ebenfalls Freude bereiten wird zuzuhören. Dann, Väterchen, wirst du dich auch nicht mehr wundern, daß ich beschlossen habe, mich weder von ihm noch von seiner lieben Kokle zu trennen." Als der alte König diese Worte vernimmt, läuft er vor Zorn blau an. Er packt seine Tochter, bringt sie nach Hause, und den Schäfer, den Koklespieler, befiehlt er tief in den Wald hineinzuführen und ihn dort hinzurichten. Die Diener des Königs führen den Schäfer in den Wald, um sofort dem Befehl des Königs Folge zu leisten. Doch als sie den Unschuldigen anrühren wollen, da rauscht es ganz 279
dumpf im Walde, und im selben Augenblick ruft ein stattlicher Mann in grüner Kleidung den Henkern z u : „ I n meinem Revier werdet ihr einem Unschuldigen nichts zuleide tun!" Weil aber die Diener des Königs nicht sofort von dem Schäfer ablassen, erhebt der grüne Mann seine Hand und vernichtet die Henker; als der Schäfer das sieht, ergreift er vor Freude seine K o k l e und spielt und spielt, mag es biegen oder brechen. A m nächsten Morgen eilt die Königstochter in aller Herrgottsfrühe in den Wald, um den Schäfer zu suchen. Sie hegt keine Hoffnung, ihn noch am Leben zu finden. A b e r als sie den Waldrand erreicht hat, weicht ihr K u m m e r , denn aus dem Wald erklingen dieselben Kokletöne wie am Vortag. Und tatsächlich, der Schäfer k o m m t der Königstochter gesund wie ein Fisch im Wasser entgegen. Nun überlegen beide eine ganze Weile, wie sie sich vor dem grausamen K ö n i g retten sollen. Aber während sie noch am Nachdenken sind, ist der alte K ö n i g bereits unterwegs nach seiner Tochter. Und diesmal sogar mit einem ganzen Heer. W a s nun? In der Eile fällt den Ärmsten nichts anderes ein, als die Flucht zu ergreifen. Und sie fliehen; doch das Heer ist ihnen dicht auf den Fersen. Durch den Wald kamen sie noch ganz gut, aber zu allem Unglück ist auf der anderen Seite des Waldes ein Fluß. Jetzt wäre es den Flüchtenden schlimm ergangen, aber der grüne M a n n — wer weiß, w o er plötzlich herkam — verspricht den Ärmsten Hilfe. Im N u errichtet er eine grüne Brücke über den Fluß und geleitet die beiden hinüber. A u c h der K ö n i g möchte mit dem Heer die Brücke überqueren, aber sie verschwindet vor seinen Augen. A m anderen Ufer sagt der grüne Mann zu dem Schäfer : „Streite nicht mit dem König, gib ihm jetzt deine liebe Braut zurück, später wird er dir seine Tochter von selbst geben. Und du, mein Mädchen, gedulde dich. Dein Liebster wird zurückkehren, und du wirst ohne deines Vaters Haß die Seine werden." Gut. Der Schäfer ist damit einverstanden. Er sagt: „ H ö r zu, König, ich bin nicht trotzig und streite mich nicht mit dir! Hier hast du deine Tochter, du wirst sie mir später schon im guten geben!" Der Schäfer geht nun in die entgegengesetzte Richtung und
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verdingt sich bei einem anderen König. Im nächsten Jahr bricht ein Krieg aus zwischen diesem König und dem König des Nachbarlandes. Der Schäfer zieht in den Krieg. Aber im Wald tritt derselbe grüne Mann an ihn heran und spricht: „Wie willst du mit deinem Schwert kämpfen'? Hier hast du mein Schwert. Damit wirst du ganz allein das ganze Heer besiegen." Der Schäfer nahm das Schwert des grünen Mannes und schlug ganz allein den Gegner zurück. Der König weiß vor Freude nicht, was er tun soll; er bestimmt den Schäfer zu seinem Nachfolger, denn er hatte weder einen Sohn noch eine Tochter. Der König des Nachbarlandes gibt aber noch immer keine Ruhe; er sammelt ein doppelt so großes Heer und sendet es mit seinem Sohn an der Spitze gegen den ihm verhaßten König aus. Nun erbebt* dem alten König das Herz, denn der feindliche Heerführer, der Sohn des Königs des Nachbarlandes, ist ein solch großer Riese, daß man sich wahrlich fürchten muß: Er ist so groß wie ein Heuschober und hat einen Kopf wie einen Kessel; aber der junge König lacht nur und sagt: „Und wenn er so groß wäre wie drei Heuschober — mir macht es nichts aus! Wenn ich mit meinem Schwert zuschlage, dann ist er hin." Nachdem der junge König, der einstige Schäfer, diese Worte gesprochen hat, geht er dem Feind entgegen. Als der Riese den Gegner erblickt, schreit er und lästert: „Nun, du Knirps, hast du Mut, dich zu schlagen? Wollen wir einen Zweikampf machen: Wenn ich dich besiege, dann ist auch dein Land besiegt; wenn du mich besiegst, dann kannst du dir mein Land nehmen." Gut. Als der alte König diese Reden vernimmt, verliert er fast den Mut. Er kann sich einfach nicht vorstellen, wie man einen solchen Riesen überwinden soll. Der junge König wartet nicht lange: Er schlägt zu, und da ist auch schon der Kesselkopf des Riesen abgehauen. Nun hat die Freude kein Ende: Der König des Nachbarlandes ist verjagt, und außerdem hat man noch ein neues Reich hinzugewonnen. Der alte König läßt gleich ein Freudenfest veranstalten und lädt alle Untertanen ein, denen er verkündet, daß er den jungen König nicht nur zu seinem Nachfolger im alten Königreich ernannt hat, sondern auch im neuen Königreich, das der junge König mit seinen eigenen Händen besiegt und erobert 281
hat, weil es ihm gelang, den Riesen zu töten, l^un feierten sie alle fröhlich, drei liebe Tage und drei liebe Nächte lang. Da verbreitet sich am dritten Tag gegen Abend das Gerücht, daß der alte König des Nachbarlandes das besiegte Land verlassen und sich aufgemacht hat, ein anderes Land zu erobern. Er hat nämlich den König überfallen, der jenseits des Flusses herrscht. Als der junge König das hört, springt er jäh auf und sagt: „Schau mal einer an, es reichte ihm noch nicht, daß er seinen Sohn und sein Land verloren hat, nun muß er noch meinen zukünftigen Schwiegervater überfallen. Ich breche sofort auf, um ihn auch von dort zu vertreiben, und anschließend hole ich meine Braut heim!" Nachdem er das gesagt hat, ergreift er das Schwert des grünen Mannes und eilt davon. Er kommt dorthin: Die ganze Erde zittert und bebt, denn der Heerführer des Feindes ist der Sohn einer Hexe. Es heißt, daß ihn niemand töten oder überwinden kann. Aber der junge König macht nicht viele Worte; er sagt: „Laßt mich nur machen!" Und so geschah es auch: Weder die Söhne der Hexe noch andere Teufel konnten etwas ausrichten — wen das Schwert des grünen Mannes traf, um den war's geschehen. Als nun alles glücklich vollbracht und der Krieg beendet war und die Feinde vertrieben waren, rief der König den starken Krieger zu sich und fragte: „Sage mir, um Himmelswillen, sage mir, wer bist du? Ich habe beschlossen, dir, mein kühner Krieger, meine Tochter zur Frau zu geben. Nur so vermag ich dir zu danken und dich zu belohnen. Einen kostbareren Schatz habe ich nicht." „Wer ich bin? Ich bin dein einstiger Schäfer!" „ D a s kann nicht sein!" „Nun, wenn du's mir nicht glaubst, dann rufe deine Tochter, sie wird mich schon erkennen." Die Tochter kommt, sie schaut und schaut, aber sie vermag sich nicht vorzustellen, d a ß dieser Jüngling der einstige Schäfer sein soll. „Nun, wenn du mich so nicht erkennst, dann — wo ist meine Kokle?" Der einstige Schäfer ergreift seine Kokle und beginnt zu spielen. Als die Königstochter das hört, kann sie nur noch ausrufen : 282
„ J a , du bist's! Ach, daß ich dich in der prächtigen Kleidung nicht erkannt habe!" Darauf gibt der König seine Tochter dem Koklespieler zur Frau und läßt ein Hochzeitsfest ausrichten, wie es bisher noch niemand erlebt hat. Am Hochzeitsmorgen sagt der junge König zu seinem Schwiegervater: „Nun, siehst du, habe ich dir damals nicht jenseits des Flusses gesagt, daß du mir deine Tochter einmal im guten zur Frau geben wirst?" 86
DAS SCHLOSS DES MEERESKÖNIGS
Weit im Meer, dort, wo sich überm Wasser vier schwarze Felsenklippen erheben, befand sich in der Meerestiefe das schöne Schloß des Meereskönigs. Zwar hatten die Menschen schon lange von diesem Schloß auf dem Meeresgrund und von seinen Reichtümern gehört, aber noch keinem war es gelungen, das Schloß mit eigenen Augen zu sehen. Wohl hatten sich viele kühne Seefahrer aufgemacht, das Schloß zu entdecken, aber keiner war zurückgekehrt. Der alte Meereskönig verließ nur selten sein Schloß, denn er erfuhr von seinen Knechten alles, was in der Welt geschah. Der König hatte auch einen Sohn, der eines Tages seinen Vater bat, ihm zu gestatten, daß er sich die Welt ansehe. Anfangs weigerte sich der König, diese Bitte zu erfüllen, aber da der Sohn ihn ohne Unterlaß bat, erlaubte er's ihm schließlich. Als der Königssohn aufbrach, begegnete er auf dem Meer einem armen Fischer, der im Schweiße seines Angesichts Netze auswarf. Aber es gelang ihm nicht, auch nur einen einzigen Fisch zu fangen. Traurig setzte er sich an den Rand seines Bootes und begann bittere Tränen zu vergießen. Als der Königssohn das sah, fragte er ihn, warum er weint. „Soll ich denn nicht weinen?" antwortete der Fischer. „Daheim habe ich Frau und Kinder, die hungrig sind. Hier habe ich mich nun den ganzen Tag geplagt, aber keinen einzigen Fisch gefangen." „ D a kann ich dir helfen", sagte der Königssohn, „aber versprich mir das, was ich am Strand zuerst erblicke." Der Fischer versprach's, und der Königssohn fuhr weiter. 283
Am Strand saß die schöne Tochter des Fischers, die einen Kranz flocht und weit aufs Meer hinausschaute. Der Königssohn tauchte im Wasser unter, um das Mädchen heimlich betrachten zu können. Auf einmal kam ein Wind auf, der ihren Kranz ins Wasser hinaustrug. Das Mädchen beugte sich nach dem Kranz, aber der Wind erfaßte auch die Schöne und brachte sie zum Königssohn. Bald fuhr ebenfalls der alte Fischer, der einen reichen Fischfang gemacht hatte, frohgemut nach Hause. Aber wie sehr erschrak er, als er sein Töchterchen daheim nicht vorfand. Er suchte und rief. Wo war nur sein Töchterchen geblieben? Einzig das Kränzlein schwamm auf dem Wasser in der Nähe des Strandes. Der Königssohn brachte das Töchterchen des Fischers ins Meeresschloß hinab und machte sie zu seiner Frau. Sie schenkte ihm zwei Söhne, schöne Jungen. Aber obwohl es der Tochter des Fischers sehr gut ging, sehnte sich ihr Herz immerfort nach der Oberwelt, nach den Eltern und Brüdern. Nachdem bereits einige Jahre vergangen und ihre Söhne zu schlanken Burschen herangewachsen waren, bat sie einmal ihren Mann, daß er ihr erlaube, ihre'Eltern zu besuchen. Als ihr Mann das hörte, wollte er's ihr zunächst zwar nicht gestatten, aber schließlich gab er ihr einen Laib Brot und ein Paar Schuhe und sagte: „Wenn du dieses Brot aufgegessen und die Schuhe abgetragen hast, dann kannst du deine Eltern besuchen!" Froh nahm sie das Brot und die Schuhe und dachte, daß sie nun bald zu ihren Eltern könne. Aber wie traurig wurde sie, als sie bemerkte, daß der Brotlaib, obwohl sie davon aß, immer wieder groß wurde und die Schuhe, die sie Tag für Tag tüchtig trug, sich nie abnutzten. Während sie sich so grämte, flog eine Schellente durch die Lüfte und rief : „Verbrenne das Brot, zerschneide die Schuhe!" Sie tat, wie der Vogel ihr geraten hatte: Sie verbrannte das Brot und aß die Asche auf, obwohl sie bitter war; und sie zerschnitt die Schuhe. Nun war das Brot alle, und die Schuhe waren zerschlissen. Sie ging zu ihrem Mann und sprach: „Jetzt erfülle, was du mir versprochen hast. Sieh, das Brot habe ich aufgegessen, und die Schuhe sind abgetragen." Als der Königssohn das hörte, wunderte er sich sehr über ihre Klugheit und sagte: 284
„Gut! Geh, aber versprich mir zurückzukehren. Ich werde am Strand auf dich warten. Rufe nur dreimal: ,Ist's eine Milchflut oder eine Blutflut?' Wenn ich am Leben bin, dann wird sich bei diesen Worten die Wasseroberfläche gleichsam mit weißer Milch bedecken, aber wenn sich auf dem Wasser ein blutiges Rot zeigt, dann wisse, daß ich tot bin." Froh nahm sie ihre beiden Söhne und viele Kostbarkeiten mit, um ihre Eltern zu beschenken, und machte sich auf in die Heimat. Die Hütte war schon längst eingestürzt, und an ihrer Stelle stand ein prächtiges Haus. Vor Gram war der Vater ein altes, greises Männlein geworden, und die Brüder waren zu schlanken Jünglingen herangewachsen. Die.Freude war riesengroß. Der Alte vergoß Freudentränen, und die Brüder beschlossen, ihre Schwester nie mehr fortzulassen. So lebten sie einige Zeit glücklich, bis die Schwester sich zur Abreise rüstete. Zwar baten die Brüder, daß sie nicht daran denken solle, aber sie blieb bei ihrem Vorsatz, zu ihrem Mann zurückzukehren. Nun sannen und sannen die Brüder, wie sie die Schwester von ihrem Vorhaben abbringen könnten. In der Nachbarschaft lebte eine sehr kluge Zauberin. Sie gingen mit großen Geschenken zu ihr und baten um Rat. Anfangs wollte die Zauberin allerdings nichts sagen, aber als sie die kostbaren Geschenke erblickte, die die Brüder ihr anboten, da sagte sie wahr, und sie sprach: „Nur dann, wenn der Königssohn, ihr Mann, tot ist, bleibt eure Schwester hier." Als die Brüder das vernahmen, beschlossen sie, den Mann ihrer Schwester zu töten. Die Zauberin eröffnete ihnen auch, daß außer der Schwester nur die Söhne die Worte wissen, mit denen man den König herbeirufen könne. Die Brüder heizten nun die Badestube tüchtig ein und führten ohne Wissen der Schwester die beiden Jungen in die überheizte Badestube, so daß ihnen die Haare versengt wurden. Dann prügelten sie die Jungen und fragten: „Was hat euer Vater der Mutter gesagt? Was hat euer Vater der Mutter gesagt?" Der größere Junge ertrug zwar die Hitze und ließ kein Wort verlauten, aber der kleinere, der die Schmerzen nicht aushalten konnte, sprach: „Wenn er lebt, dann möge eine Milchflut erscheinen; wenn er tot ist, dann erscheine eine Blutflut." 285
Nun griffen die Brüder nach ihren Speeren, stellten sich an den Strand und riefen: „ W e n n er lebt, dann möge eine Milchflut erscheinen; wenn er tot ist, dann erscheine eine Blutflut." A u f der Wasseroberfläche zeigten sich Wellen aus Milch, und schon bald erhob sich der K o p f des Königssohnes aus den Fluten. In diesem Augenblick schleuderten die beiden Brüder ihre Speere, und der tödlich verletzte Königssohn versank in den Wellen. Auch die Schwester kam mit den Söhnen an den Strand und rief: . „ W e n n er lebt, dann möge eine Milchflut erscheinen; wenn er tot ist, dann erscheine eine Blutflut!" Sofort wurde das Wasser von einem blutigen R o t überzogen. Als sie das sah, schwanden ihr vor Angst die Sinne. Und als sie ihre Augen dorthin richtete, wo ihre Kinder gestanden hatten, und sie sie nicht mehr erblickte, weinte sie bitterlich. Aber die Brüder traten an sie heran und begannen sie auf allerlei A i t zu trösten. Da sie die Kinder nicht mehr entdeckte, denn sie waren in jenem Augenblick, als sie das Blut ihres Vaters gesehen hatten, zu Wasser geworden, beruhigte sie sich allmählich, ging mit den Brüdern nach Hause und lebte in Frieden. Nachdem der alte K ö n i g vom T o d seines Sohnes erfahren hatte, beschloß er, sich an den Menschen zu rächen. Und von dieser Zeit an ertränkte er viele Schiffe mit allen Menschen. 87 VOM RÄTSEL, DAS NICHT ERRATEN WURDE Ein K ö n i g hatte eine Tochter, die jedes Rätsel erraten konnte. Dafür war die Prinzessin in der ganzen Welt bekannt. Viele kamen, um die kluge Prinzessin zu bewundern, und alle wollten sie heiraten. Schließlich sagt der K ö n i g : „ I c h kann das nicht länger ertragen; jeden T a g ist mein Schloß mit Freiern gleichsam vollgestopft. Jetzt tue ich folgendes kund: Derjenige, der meiner Tochter ein Rätsel aufgibt, das sie nicht errät, soll ihr Mann werden. Aber alle jene, die meiner Tochter Rätsel aufgeben, welche sie errät, lasse ich erhängen." Das half, denn von diesem T a g an war von einem Andrang der Freier keine Rede mehr. So blieb das eine geraume Zeit. 286
Da prahlen auf einmal drei Söhne eines Vaters so lange, bis jeder von ihnen behauptet, seine Kräfte mit der Prinzessin messen zu können. Der älteste Bruder als der Erfahrenste meldet sich mit seinem Können auf dem Schloß. Zwar waren seine Rätsel klug, aber die Antworten der Prinzessin waren noch klüger. Nichts zu machen — er muß zum Galgen schreiten. Dem zweiten Bruder erging's nicht besser. Nun will sich der jüngste Bruder zum Schloß aufmachen, aber Vater und Mutter erlauben es ihm nicht: Wer soll denn nach dem Tod aller Söhne im Haus bleiben? Wer wird im Alter für sie sorgen? Doch der jüngste Bruder läßt nicht locker. Er bittet und bittet, bis der Vater nachgibt. Aber die Mutter will davon gar nichts wissen — zwei Söhne sind schon am Galgen umgekommen —, den dritten wird sie um nichts in der Welt fortlassen. Ich muß machen, daß ich heimlich entwische, überlegt sich der Sohn. Eines Tages sagt er zur Mutter: ,,Hör mal, Mütterlein, ich muß in den Wald reiten und Rehe schießen. Lege mir etwas zu essen in die kleine Büchse und ein Brotränftchen in den Beutel!" Aber die Mutter ahnt gleich, was der Sohn vorhat. Sie wird ärgerlich und schüttet Gift in den Beutel. Weinend flüstert sie: „Ehe du am Galgen verendest, stirb lieber unterwegs, ich brauche dann wenigstens nicht die Schande zu ertragen, daß alle meine drei Söhne so unehrenhaft gestorben sind!" Der jüngste Sohn nimmt sein Gewehr und reitet davon. Unterwegs wird das Pferd müde. Der Sohn denkt: Warte mal, ich gebe ihm das Brotränftchen, dann wird's schon wieder munter werden. Das Pferd frißt das Brot und verendet. Zwei Krähen fliegen herbei und hacken dem Pferd die Augen aus. Auch sie kommen um. Der Sohn steckt die Krähen in den Beutel und geht weiter. Gegen Abend tritt er in ein Häuschen ein, in dem eine alte Mutter mit zwölf Söhnen haust. Die Söhne, alle zwölf, sind üble Mörder; aber im Augenblick ist die Mutter allein daheim. „Hast du nichts zu essen für mich?" fragt der jüngste Sohn. „Ich hab schon was, aber iß flink, denn wenn meine Söhne nach Hause kommen, bringen sie dich um." „Wie viele Söhne hast du?" „Insgesamt zwölf." 287
„Schau mal, Mütterchen, das trifft sich j a gut. Hier habe ich zwei Täubchen. Brate für die ersten sechs Söhne ein Täubchen und für die anderen sechs das zweite Täubchen. Ich esse schnell und mache, daß ich fortkomme." Nachdem sich der jüngste Sohn satt gegessen hatte, ging er keineswegs fort, sondern versteckte sich'heimlich auf dem Boden. Die Alte, die mit dem Braten der Tauben beschäftigt war, bemerkte das gar nicht. Um Mitternacht kehren die Söhne heim und fragen gleich: „Was ist hier für ein fremder Geruch?" „Was für ein Geruch? Ich habe zwei Täubchen bekommen und sie für euch gebraten." Die Söhne essen, aber sie bleiben auf der Stelle liegen; die Alte knabbert die Knochen ab — auch sie ist erledigt. Am Morgen macht sich der jüngste Sohn wieder auf den Weg. Er geht und geht — wie weit kommst du schon mit leerem Magen? Hunger plagt ihn. Zum Glück hört er in der Nähe ein Reh schreien. Er schultert sein Gewehr und sagt: „Wenn es mir gelingt, das Reh zu schießen, werde ich König; wenn's mir nicht gelingt, muß ich hier im Wald vor Hunger sterben." Obgleich er rückwärts schoß, traf er das Reh doch. Nachdem er tüchtig gegessen und sich ausgeruht hat, kommt er schnell vom Fleck. Bald schon ist er im Schloß, wo er sofort der Prinzessin folgendes Rätsel aufgibt: „Ich war einmal ein großer Jäger. Ich schoß einen, der Erschossene tötete zwei, die beiden Erschossenen töteten zwölf und zuletzt noch einen. Am nächsten Tag erschoß ich den, den ich nicht sah, und aß den, den ich gesehen hatte." Das Rätsel mußte innerhalb von zehn i agen erraten werden, aber die Prinzessin durfte niemanden um Rat fragen. Sie rät und rät, aber sie kann's nicht erraten. Am Abend kriegt der jüngste Sohn die Torwächter herum und spricht: „Hör zu, wenn ich König werde, mache ich dich zu meinem Ratgeber, aber du mußt tun, was ich verlange: Lausche hinter der Tür, was die Prinzessin sagt." Der Torwächter tut's. Er berichtet dem jüngsten Sohn, daß die Prinzessin folgende Worte gesprochen hat: „Ach, du mein Schreck, ist das ein schweres Rätsel! Aber es macht nichts — ich habe j a zehn Tage Zeit. Neun Tage lang werde ich meine Dienerinnen schicken, damit sie's von ihm herauszubekommen versuchen. Wenn es ihnen nicht gelingt, 288
gehe ich am zehnten Tag selbst zu ihm. Nur muß ich gut aufpassen, damit niemand erfährt, daß ich um Rat fragte!'* „Gut. Du bist ein tüchtiger Torwächter! Nimm dein Feuerzeug und versteck dich in meinem Zimmer. Wenn die Dienerinnen erscheinen, um mir des Rätsels Lösung zu entlocken, dann werde ich niesen, aber sobald ich niese, laß Funken sprühen, was das Zeug hält!" Gut. Es dauert nicht lange, und eine Dienerin ist zur Stelle. Doch kaum berührt sie mit einem Wort das Rätsel, niest der jüngste Sohn, und der Torwächter läßt Funken sprühen, was das Zeug hält. Als die Dienerin das hört, ist sie Hals über Kopf von dannen und merkt gar nicht, daß sie ihr Tüchlein vergessen hat. Den anderen acht Dienerinnen erging's nicht besser. Am zehnten Tag will nun die Prinzessin selbst ihr Glück versuchen. Sie öffnet die Tür und fragt ängstlich: „Mein lieber Junge, bist du allein hier im Zimmer?" „Warum fragst du danach?" „Ja, mein lieber Junge, ich habe Angst, daß jemand hört, wonach ich dich frage." „Dann willst du sicher das Rätsel wissen?" „Natürlich. Mein Lieber, Guter, sag mir nur das erste Wörtchen, mehr will ich ja gar nicht." Als der jüngste Sohn diese Worte vernimmt, wird ihm so weich ums Herz, daß er es nicht fertigbringt, das erste Wörtchen des Rätsels nicht zu sagen; er vergißt sogar zu niesen. Und das Schlimmste an der Sache: In seiner Verwirrung entwischt ihm auch das zweite Wörtlein. Sofort wird ihm bewußt, was er getan hat, er beginnt zwar gleich zu niesen, auch die Funken sprühen, das Tüchlein der Prinzessin bleibt ebenfalls liegen, aber sie selbst ist schon auf und davon — ihr genügen zwei Wörtchen des Rätsels. Am nächsten Morgen löst die Prinzessin das Rätsel. Der jüngste Sohn soll nun zum Galgen schreiten. Aber ehe er gehängt wird, bittet er den König, der Prinzessin am Galgen noch zum letzten Mal ein Rätsel, und zwar das leichteste Rätsel der Welt, aufgeben zu dürfen. Der König denkt: Nun, was soll schon sein — wenn sie ein so schweres Rätsel erraten hat, dann wird sie das leichteste spielend erraten. Man schreitet zum Galgen. Der jüngste Sohn gibt der Prinzessin folgendes Rätsel auf: „Seht mal, ich war einmal ein großer Jäger. Ich schoß zehn M I Lettische Volksmärehcn
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Rehe: Ihr Fleisch entwischte mir — ihre Häute habe ich noch heute." Dieses Rätsel hatte die Prinzessin nicht erwartet. Rate nur, rate, was ich selbst mit meinen Dienerinnen gemacht habe! Es geht doch nicht, daß ich dem Vater sage, wie ich die ersten Wörtchen des Rätsels durch List herausgelockt habe. Wenn ich aber dieses Rätsel errate — das geht auch nicht, dann wird's dem Vater noch deutlicher, was ich getan habe. Wenn doch die Tüchlein nicht dort liegengeblieben wären oder wenn es nicht festgelegt wäre, daß ich beim Lösen des Rätsels niemanden um Rat fragen darf, dann könnte ich mich noch irgendwie herausreden! So aber bleibt mir nichts anderes übrig, als den jüngsten Sohn zu heiraten. Und so geschah es auch. Nach der Hochzeit bricht der junge König mit seinem Heer auf, um zu sehen, was sein alter Vater und seine Mutter machen. Unterwegs fallt es ihm ein, die Hütte der Mörder zu zerstören, wo er die beiden Krähen als Tauben braten ließ. Die Soldaten reißen das Dach ab, sie reißen den Fußboden auf — ach, du meine Güte! —, unterm Fußboden in einem großen Keller sind ganz hinten seine beiden älteren Brüder angebunden. Die Ärmsten schauen ganz elend aus, obwohl sich dort Speisen in Hülle und Fülle befinden, denn die Mörder hatten Unmengen an verschiedenen Speisen und Getränken in den Keller geschleppt. Als der jüngste Bruder das alles sieht, fragt er sofort: „Meine lieben Brüder, wie seid ihr hierhergekommen? Gabt ihr denn keine Rätsel zu raten auf? Seid ihr denn nicht erhängt worden?" „Wir kamen doch gar nicht bis zum Schloß des Königs. Die Mörder griffen uns und ließen unserem Vater die Lügennachricht zukommen, d a ß wir erhängt wurden, weil die Prinzessin die Rätsel erraten hat. Das taten die Mörder, damit unser Vater uns nicht sucht und so ihre Räuberhöhle findet und zerstört." Wer war nun wohl froher als der alte Vater und das alte Mütterchen, da der jüngste Sohn, nunmehr Schwiegersohn des Königs, auch noch die beiden ältesten Söhne lebendig heimführte! Drei liebe Tage und drei liebe Nächte lang vergossen sie Freudentränen und zogen dann mit dem jüngsten Sohn aufs Schloß.
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Alltagsmärchen
8S DER M E I S T E R D I E B
Es war einmal ein Vater, der hatte einen Sohn. Er erzog ihn überhaupt nicht, sondern ließ ihn tun, was er wollte. Einmal sagt der Vater: „Mein Sohn, du mußt jetzt Brot verdienen!" Der Sohn antwortet: ,,Du hast mich schon so lange erzogen, erzieh mich noch einige Jahre!" Nach drei, vier Jahren sagt der Vater: „Mein Söhnchen, weißt du, nun mußt du Brot verdienen!" Der Sohn antwortet: „Wie soll ich das tun, Ihr habt mich zum Dummkopf erzogen; als Dummkopf werde ich mich in der Welt herumtreiben — kann denn ein solcher Mensch Brot verdienen?" Nun hört der Vater nicht mehr auf die Worte des Sohnes, sondern geht zum König, um den Sohn zu verklagen. Der König läßt den Sohn rufen. „Ach, König, warum hat er mich auch zu einem Dummkopf erzogen; wie kann denn der Brot verdienen?" Der König erwidert: „Dann mußt du eben stehlen, wenn du für den Vater das Brot nicht ehrlich zu verdienen verstehst." Der König schlägt wütend die Tür zu und denkt gar nicht daran, noch weiter mit ihm zu sprechen. Aber am selben Tag muß der König zur Badestube gehen. Draußen ist es warm. Vor der Badestube zieht er seine Stiefel aus und stellt sie vor die Tür. Während er badet, nimmt der Sohn die Stiefel und trägt sie nach Hause. Am nächsten Morgen läßt ihn der König rufen: „Hör mal, du hast doch meine Stiefel gestohlen!" „Natürlich! Du selbst hast mir doch zu stehlen befohlen!" Der König beginnt zu lachen und fragt ihn spaßeshalber: „Willst du wirklich mit Stehlen Brot verdienen?" Der Sohn antwortet: „Ich hatte es eigentlich vor!" „Nun gut, stiehl mir in der kommenden Nacht mein 19»
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schwarzes Pferd, dafür gebe ich dir so viel Geld, daß dein Vater nicht verhungern muß." Der Sohn geht in den Vorraum, erblickt dort den alten Rock des Königs und nimmt ihn sich. Am Abend befiehlt der König seinen Stallburschen, in der Nacht kein Auge zu schließen, denn das schwarze Pferd soll gestohlen werden. Die Burschen nehmen sich vor, munter zu bleiben. Der Sohn zieht jedoch den Rock des Königs an, öffnet die, Stalltür und ruft: „Wo ist das schwarze Pferd? Ich muß den Dieb fangen!" Die Burschen sind schlaftrunken und unterscheiden die Stimme des Sohnes nicht von der des Königs. Sie reiben sich die Augen, erblicken den prächtigen Rock des Königs und führen das schwarze Pferd aus dem Stall. Am Morgen fragt der König die Burschen : „Habt ihr in der Nacht einen Dieb gesehen?" Sie sperren den Mund weit auf und verstehen nichts; aber der Sohn kommt durchs Tor geritten und ruft: „Seht, ich habe für meinen Vater Brot verdient!" Der König gibt ihm das versprochene Geld und befiehlt ihm, eine Kuh zu stehlen. Nun gut. Am Morgen schärft der König einem Burschen ein: „Pflüge hier am Rand der Viehkoppel und gib gut acht, daß niemand meine bunte Kuh nimmt." Der Sohn hatte in dieser Nacht einem Birkhahn die Flügel umgedreht, so daß er nicht mehr fliegen konnte, und ihn heimlich am Rand der Viehkoppel unter eine Rasensode gelegt. Kaum ist der Bursche beim Pflügen an dieser Stelle, kriecht der Birkhahn auch schon unter dem Rasen hervor und eilt davon, so schnell es geht. Der Bursche läuft ihm hinterher, er möchtedoch den Vogel fangen, den er aus der Erde gepflügt hat. Inzwischen aber schneidet der Sohn dem Pferd des Burschen den Schwanz ab, bindet ihn dem roten Ochsen ums Maul, greift die bunte Kuh und rennt davon. 89
DIE WEISHEIT D E S VATERS
In alten Zeiten lebte einmal ein entsetzlich böser König, der seine Untertanen auf alle mögliche Art und Weise quälte. Einmal hatte er den Befehl erlassen, daß alle Söhne ihre alten Väter, sobald sie nicht mehr arbeiten konnten, in den Wald 292
bringen und dort lassen mußten, damit sie umkamen, denn so könne der Staat eine Menge Brot einsparen. Da haben alle Söhne ihre alten Väter in den Wald gebracht und dort gelassen. Es war zur Winterszeit, als sich der Sohn eines Bauern aufmachte, um seinen alten Vater in den Wald zu fahren. Er setzte ihn auf einen Schlitten, band ihn fest und zog ihn in den Wald, aber der Enkel des Alten ging mit ihnen. Nachdem sie schon tief im Wald waren, ließ der Sohn den Schlitten mit seinem alten Vater stehen und wollte nach Hause gehen, aber der Enkel bat ihn, den Schlitten nicht im Wald stehenzulassen, sondern ihn nach Hause zurückzuziehen. Der Sohn fragte den Kleinen, wozu er den Schlitten brauche, und der Junge antwortete: „Womit soll ich dich dann, Vater, in den Wald ziehen, wenn du alt wirst?" Nun fing der Sohn an nachzudenken — bald werde auch ich alt sein, dann wird man mich ebenso in den Wald bringen und dort lassen. Es ist nicht gut, daß ich meinen alten Vater hier lasse. Er dachte noch eine Weile nach, nahm dann den Schlitten mit dem alten Vater und zog ihn wieder nach Hause. Dort führte er den Alten in den Keller und sagte ihm, daß er nun hier bleiben muß. Jeden Tag brachte ihm der Sohn zu essen, und so wohnte der alte Vater im Keller, ohne daß jemand etwas davon erfuhr. In einem Jahr herrschte im ganzen Königreich eine große Hungersnot. Niemand hatte mehr Roggen, um zu säen, vom Essen ganz zu schweigen. Nun brachte auch der Sohn seinem alten Vater jedesmal ein kleineres Stück Brot. Der Alte ertrug das einige Zeit stillschweigend, aber eines Tages fragte er den Sohn, warum er ihm nicht mehr so viel Brot bringe wie früher, sondern immer weniger. Nun erzählte der Sc hn seinem Vater alles von der Hungersnot und daß niemand mehr Roggen habe, um zu essen und zu säen. Der Vater überlegte eine Weile und sagte dann zum Sohn: „Reiß das Dach unserer alten Scheune ab, drisch das Stroh noch einmal, und säe das Korn, dann wirst du wieder Brot haben." Der Sohn ging hinaus und überlegte, ob er das Dach der Scheune abreißen sollte oder nicht. Ob denn überhaupt Körner im Stroh waren? Aber die Hungersnot wurde immer schlimmer, und so riß er denn eines Tages das Dach der Scheune ab, drosch 293
das Stroh, und welch ein Wunder, aus dem Stroh fielen zwei Scheffel Roggen, die er gleich aussäte. Im nächsten Jahr, als niemand Roggen hatte, wuchs auf dem Feld des Sohnes so viel Roggen, daß es eine Augenweide war. Die Nachricht, daß der Bauer Roggen hatte, verbreitete sich im ganzen Land und erreichte auch den König. Er ließ den Sohn zu sich aufs Schloß rufen. Da er gerufen wurde, mußte er ja wohl oder übel hingehen. Der König fragte ihn sofort, wo er den Roggen zum Säen hergenommen habe, während im ganzen Land eine so große Hungersnot herrsche. Der Sohn wollte es nicht sagen, denn er fürchtete, daß es ihm schlecht erginge, wenn der König erführe, daß er seinen alten Vater nicht im Wald gelassen habe. Als er aber sah, daß ihm nichts anderes übrigblieb, erzählte er dem König alles von seinem Vater und daß der ihm geraten hatte, das Scheunendach abzureißen. Der König wurde nachdenklich und erlaubte es von nun an nicht mehr, die alten Männer in den Wald zu bringen, sondern jeder sollte so lange leben, bis er von allein starb.
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DIE V E R L E U M D E T E F R A U
Ein König hatte nur eine einzige Tochter. Es kamen Kriegszeiten, und der König zog in den Krieg, während seine Tochter daheim blieb. Im Schloß des Königs lebte der Leibarzt des Königs, und dem gefiel die Königstochter über alle Maßen, aber sie war ihm nicht zu Willen, und daher beschloß er, sich an ihr zu rächen. Er schrieb dem König, daß seine Tochter einen Hofball nach dem anderen veranstalte und so das ganze Reich zugrunde richte. Auf diese Weise verleumdete der Arzt die Königstochter. Nach einiger Zeit erhielt der Arzt einen Brief vom König. Der König äußerte den Wunsch, daß der Leibarzt die Tochter des Königs umbringen solle, wenn sie so üble Dinge treibe. Nun übergab der Arzt die Königstochter den Henkern, die sollten sie aus dem Leben schaffen. Aber die Henker kannten die Wahrheit, und sie brachten es nicht fertig, die Königstochter zu töten, denn sie war sehr rechtschaffen und zu allen gut. So beschlossen die Henker, die Königstochter in den Wald zu bringen. Dort ließen sie sie schwören, daß sie in dieser Gegend 294
nie mehr auftauchen werde. Dann überließen sie sie ihrem Schicksal, mochte sie gehen, wohin sie wollte. Die Königstochter ging und ging, aber ihr Weg führte sie immerzu nur durch den Wald. Sie irrte so lange im Wald umher, bis ihre Kleider völlig zerschlissen waren, und als sie aus dem Wald trat, war sie splitternackt. Da erblickte sie zufallig eine stattliche Eiche, die in der Mitte hohl war, und die Königstochter kroch in diese Eiche und blieb dort, denn einem Menschen konnte sie sich doch nicht splitternackt zeigen. Ein anderer König wiederum hatte einen einzigen Sohn, und der König und die Königin wünschten sich schon lange, daß der Prinz eine Gemahlin heimführen sollte. Aber der Prinz konnte keine Braut nach seinem Geschmack finden, und so war bereits eine geraume Zeit verstrichen. Doch einmal hatte sich der Prinz auf die Jagd begeben und war so lange umhergestreift, daß er die anderen aus den Augen verloren hatte. Nun irrte er umher, bis er schließlich zu der ausgehöhlten Eiche kam, in der jetzt die Königstochter lebte. Der Prinz hatte Hunde bei sich, und als sie die Eiche erreicht hatten, begannen sie entsetzlich zu bellen. Aber die Königstochter versuchte die Hunde zu besänftigen: „Kusch, werdet ihr gleich still sein! Kusch, werdet ihr gleich still sein!" Doch die Hunde hörten mit ihrem Gebell nicht auf und kläfften weiter. Nun trat der Prinz näher an die Eiche heran und rief: „Komm heraus!" Aber die Königstochter erwiderte: „Ich kann nicht, ich habe keine Kleider und bin splitternackt!" „Komm nur!" sagte der Königssohn, „ich gebe dir meinen Mantel!" Darauf kroch die Königstochter heraus, und der Prinz breitete ihr seinen Mantel über die Schultern. Die beiden begaben sich nun zum Schloß des Prinzen und kamen unterwegs ins Gespräch. Die Königstochter erzählte, wie es ihr ergangen war und daß sie das Schloß des Vaters hatte verlassen müssen, aber daß die Henker ihr nichts zuleide getan hatten. Sie war sehr hübsch und hatte ein gutes Herz, und daher gefiel sie dem Prinzen. Als der Prinz nun mit der Königstochter das Schloß seines Vaters erreicht hatte, führte er sie hinein, ohne daß es jemand 295
bemerkte. Er gab ihr Kleider und sagte ihr, daß sie hierbleiben und ein wenig warten solle. Darauf ging der Prinz zum alten König und zur Königin, und als sie den Prinzen erblickten, fragten sie ihn gleich, was er auf der Jagd geschossen habe. Er erwiderte, daß er zwar nichts geschossen, aber seine Braut gefunden habe. Nun, so solle er sie herführen oder erzählen, wer sie sei und wo er sie gefunden habe. Da holte der Prinz die Königstochter und führte sie zum alten König und zur Königin, und beide waren überglücklich, daß ihr Sohn endlich eine so hübsche und ansehnliche Braut gefunden hatte. Bald feierten der Prinz und die Königstochter Hochzeit und lebten glücklich miteinander. Nach einem Jahr schenkte die Königstochter einem Knaben das Leben, und als er zwei Jahre alt war, sagte sie zum Prinzen, daß sie gern ihren Vater und das väterliche Schloß wiedersehen möchte, und sie bat ihren Gemahl, ihr einen Besuch bei ihrem Vater zu erlauben. Um in das Land zu gelangen, in dem der Vater der Königstochter lebte, mußte man das Meer überqueren, und der Prinz gestattete der Königstochter, ihren Vater zu besuchen. Er beschaffte ein Schiff, und die Königstochter reiste ab. Unterwegs verliebte sich jedoch der Kapitän des Schiffes in die Königstochter und drängte sich ihr auf, sie aber ließ sich nicht mit dem Kapitän ein. Darüber ärgerte er sich, und er beschloß, sich an der Königstochter zu rächen. Als sie das Land erreicht hatten, in dem der Vater der Königstochter König war, ließ der Kapitän das Schiff nicht am Ufer anlegen, sondern ein ganzes Stück entfernt von der Küste auf offener See vor Anker gehen. Er selbst begab sich ans Ufer, aber die Königstochter mußte auf dem Schiff bleiben, und der Kapitän sagte ihr, daß er nicht näher ans Ufer heranfahren dürfe, solange er vom König dieses Landes nicht die Erlaubnis eingeholt habe. Das war aber eine ausgeklügelte Lüge des Kapitäns. Kaum hatte er das Ufer betreten, da machte er sich auch schon zum König auf und erzählte ihm, daß sich auf dem Schiff, das sich dort auf offener See befinde, viele Spione aufhielten, die unterwegs seien, um in diesem Land zu spionieren, und daß man das Schiff zerstören müsse. Der König glaubte das auch und befahl sofort, daß Soldaten das Schiff einkreisen und sprengen sollten. Nun umzingelten Soldaten das Schiff und waren dabei, es 296
zu sprengen. Aber ein Soldat hatte das Schiff bestiegen, denn er dachte, wer weiß, vielleicht befindet sich dort manche Kostbarkeit, die mitzunehmen es sich lohnt. Der Soldat ging auf dem Schiff umher und erblickte die Königstochter. Er fragte: „Worauf wartest du, daß du das Schiff nicht verläßt? Willst du mitsamt dem Schiff in die Luft gesprengt werden?" „Was, wer, wie?" Die Königstochter verstand nichts. Doch der Soldat drängte sie, das Schiff zu verlassen, wenn sie am Leben bleiben wolle, denn dieses Schiff voller Spione werde sofort zerstört. Erst jetzt begriff die Königstochter, was los war und daß dies das Werk des Kapitäns war, um sich an ihr zu rächen. Die Königstochter fragte den Soldaten: „Wie soll ich vom Schiff herunterkommen?" Nun zog der Soldat seinen Mantel aus, gab ihn der Königstochter, setzte ihr seine Mütze auf, und beide verließen das Schiff und stiegen mit anderen Soldaten in ein Boot. Kaum hatten die Soldaten die Küste erreicht, zerbarst auch schon das Schiff. Nun überlegte die Königstochter, wohin sie gehen und wo sie bleiben sollte. Aufs Schloß des Vaters wagte sie sich nicht, denn sie fürchtete, der König könne sie umbringen lassen. So kaufte sie sich Männerkleider, zog diese an und ging, sich Arbeit zu suchen. Sie ging und ging, bis sie schließlich zum Krämer des Königs kam und ihn nach Arbeit fragte. Der Krämer des Königs brauchte gerade einen Gesellen, und so stellte er die Prinzessin bei sich als Gesellen ein. Inzwischen war bereits eine lange Zeit vergangen, und der Prinz erwartete die Königstochter zurück. Er wartete und wartete, aber umsonst. Nun brach der Prinz auf und fuhr zum Vater der Königstochter. Als er dort ankam, begab er sich zum Vater der Königstochter und erzählte ihm, wer er sei und daß er gekommen wäre, um seinen Schwiegervater zu besuchen. Anfangs staunte der alte König zwar, aber dann glaubte er ihm und fing an zu fragen, wo sich denn seine Tochter jetzt befinde. Darauf erzählte der Prinz, daß sie doch zum König gefahren sei. Aber der König behauptete wiederum, daß sie nie und nimmer bei ihm gewesen sei. Schließlich überlegten sie hin und her und gelangten zu keiner Klarheit, wo denn die Königstochter tatsächlich geblieben war. Trotzdem veranstaltete der alte König vor Freude, weil seine 297
Tochter noch am Leben und der Schwiegersohn zu Besuch gekommen war, ein großartiges Fest. Doch obwohl das Schloß voller Gäste war, ging es nicht so richtig fröhlich zu, und schließlich schien es allen sogar langweilig zu werden. Nun fragte der K ö n i g seinen Krämer, ob er nicht jemanden kenne, der hübsche Geschichten zu erzählen verstehe. Darauf erwiderte der Krämer des Königs sofort, daß er wohl jemanden kenne — bei ihm wohne ein Geselle, der eine Unmenge von Geschichten wisse. Da ließ der König diesen Gesellen rufen. Der K r ä m e r des Königs holte ihn und führte ihn aufs Schloß des Königs. Und der König befahl dem Gesellen, Geschichten zu erzählen. Der Geselle begann seinen ganzen Lebenslauf zu erzählen, wie der Arzt ihn verleumdet hatte, wie die Henker ihn umbringen sollten, wie er geheiratet hatte und zu seinem Vater zu Besuch gefahren war und wie ihn der König hatte ins Verderben stürzen wollen. Und der Geselle erzählte alles so, als wäre es eine Geschichte, und er nannte keinen Namen. Als er alles erzählt hatte, gab er sich dem König und dem Prinzen zu erkennen. Jetzt waren beide sehr glücklich, und weil die Königstochter gesund und munter war, wurde auf Wunsch des K ö n i g s das Fest drei Tage und drei Nächte gefeiert. Aber den verlogenen Arzt und den Kapitän ließ der K ö n i g festnehmen und in einen Kessel mit kochendem Teer werfen. 91
EIN KLUGES GESPRÄCH Ein Bauer pflügt das Feld. Sein Pferdchen ist halbverhungert und bewegt sich kaum von der Stelle, und der Bauer sieht auch geplagt und zerlumpt aus. D a fährt ein Herr vorbei, es ist der Kaiser selber. Der wird nachdenklich und fragt den Bauern: „ W a s verdienst du eigentlich, wenn du so arbeitest?" „ W a s verdiene ich schon — zwanzig Kopeken am T a g . " „ D a s ist wenig, sehr wenig", sagt der Kaiser. „ W i e groß ist deine Familie?" „Wir sind vier — ich, meine Mutter und zwei K i n d e r . " „ W i e könnt ihr denn da überhaupt leben?" „ A c h , du lieber Gott, wir leben gut, sehr gut", antwortet der Bauer. „ W i r essen zu jeder Mahlzeit nur Braten, schlürfen 298
Suppe nach Herzenslust, ich bezahle alte Schulden und lege außerdem mein Geld noch gut an." Nun versteht der Kaiser gar nichts mehr. Er denkt nach und sagt dann: „Komm morgen aufs Schloß, wir werden alles klären." „Aber wie soll ich dort hineinkommen?" „Hier hast du einen Zettel, zeige ihn vor, und man wird dich sofort hineinlassen." Nun gut. Am nächsten Tag ist der Bauer im Schloß. Der Kaiser bietet ihm Platz an, läßt ihm zu essen und zu trinken geben und sagt darauf: „Aber nun erzähle mir, wie du mit den zwanzig Kopeken so leben kannst." „Sehen Sie, mein Herr", sagt der Bauer, „das ist ganz einfach. Wir alle essen einen auf dem Feuer gebratenen Hering — das ist der Braten; wir trinken Wasser nach Herzenslust — das ist unsere Suppe; ich gebe meiner Mutter zu essen — so bezahle ich meine Schulden, und ich gebe meinen Kindern zu essen — so lege ich mein Geld gut an. Auf diese Weise, mein Herr, kommen wir ganz gut aus.!' 92
WIE DER BAUER DEM KAISER S C H R I E B
Die Schweine eines Herrn hatten einem Bauern die Kartoffeln herausgewühlt. Nun wollte er sich beim Herrscher selbst beschweren. Er nahm sich also vor, dem Kaiser einen Brief zu schreiben. Da malte er auf Papier ganz kleine Pünktchen, größere Punkte und ganz große Kleckse. Zu der Zeit unternahm der Herrscher gerade einen Spaziergang und traf zufallig den Bauern, dessen Kartoffeln die Schweine seines Herrn herausgewühlt hatten und der soeben beim Briefschreiben war. Als der Herrscher das sah, fragte er: „Was machst du?" Er schreibe dem Kaiser einen Brief! Der Kaiser schaute hin und verstand nichts: Ganz bunt sah's auf dem Papier aus. Aber der Bauer erklärte ihm: „Diese kleinen Pünktchen sind die Ferkel des Herrn; die größeren sind die Schweine des Herrn, aber die winzig kleinen Punkte hier sind meine Kartöffelchen, die die Schweine des Herrn, die man totschlagen müßte, herausgewühlt haben. Und so werden Sie ja verstehen, welcher Schaden mir zugefügt 299
worden ist. Deshalb werde ich dem Kaiser diesen Beschwerdebrief bringen." Er ahnte nicht, daß es der Kaiser selbst war, mit dem er sprach. Der Kaiser ermunterte ihn noch: „Das ist gut! Bring ihm den Brief!" Als der Bauer am nächsten Morgen zum Herrscher kam, wollten ihn die Torwächter nicht hereinlassen, aber da der Kaiser wußte, worum es ging, befahl er ihnen, den Bauern hereinzulassen. Der Bauer trat ein, verbeugte sich bis zur Erde, warf der Kaiserin und den Prinzessinnen eine Handvoll Kartoffeln in den Schoß und sagte, daß er sie ihnen als Gastgeschenk mitgebracht habe und daß es besonders gut sei, sie beim Spinnen zu essen, denn von so schmackhaften Kartoffeln liefe der Speichel nur so im Mund zusammen, und davon brauchten doch die Spinnerinnen jede Menge. Nachdem er das gesagt hatte, drehte er sich um und überreichte den Dienern des Kaisers den Beschwerdebrief. Doch als er ihn überreicht hatte, verstand es keiner von ihnen, ihn zu lesen. Darauf tat der Kaiser, als wäre er erbost, und sprach zu den Dienern: „Gebt den Brief her, ihr habt ja keine Ahnung. Nicht mal einen solchen Brief könnt ihr lesen — wozu eßt ihr dann noch mein Brot? Schaut her, was hier steht: Diese kleinen Punkte sind die Kartöffelchen des Klägers, diese größeren sind die Ferkel des Herrn, und diese ganz großen sind die Schweine des Herrn; aber die Schweine und die Ferkel haben diese Kartöffelchen herausgewühlt, denn sonst würde man sie gar nicht sehen: Sie wären unter der Erde, aber jetzt sieht man sie, weil sie herausgewühlt sind. Und nun befehle ich: Der Herr muß für den gesamten Verlust der Kartöffelchen ehrlich aufkommen." Alle wunderten sich über die Klugheit des Kaisers, der diese Pünktchen hatte entziffern können. 93
ZWEI N A C H B A R N
In alten Zeiten lebten zwei Nachbarn. Der eine war reich und der andere arm. Der arme Nachbar hatte nichts außer einem winzigen Stückchen Land. Er grub es um, säte Rüben und dachte: 300
Nun, mögen sie nur wachsen, vielleicht wird eine Fuhre voll. Dann werde ich sie in die Stadt bringen und mir einen Pelz dafür kaufen. Soweit wäre ja alles in Ordnung gewesen, aber auch hierbei verließ das Pech den Ärmsten nicht. Von der ganzen Aussaat ging nur ein einziges Samenkorn auf, und die eine Rübe wurde so groß, wie sie bisher noch kein Mensch gesehen hatte — sie nahm das ganze Feld des Armen ein. Was soll ich nur mit dieser Rübe anfangen, grämte sich der Arme. Ich könnte sie ja selber essen, aber wie lange soll ich denn daran essen, bis ich sie aufgegessen habe? Ich könnte sie verkaufen, aber was wird man mir schon dafür geben? Ach, lieber schenke ich sie dem König, er soll ja eine Menge solcher Wunderdinge haben. Der Arme nahm sich von seinem reichen Nachbarn ein Pferd, rollte die Rübe in den Wagen und fuhr zum König. Nach seiner Ankunft beim König begann er zu erzählen, so und so: „Ich säte Rüben, und es ist nur eine Rübe gewachsen, die so groß ist, daß es eine Sünde wäre, sie selber zu essen und zu behalten oder anderen zu zeigen; nur für den König ist sie wie geschaffen." Der König war davon angetan, daß der Arme an ihn gedacht hatte. Er ließ die Rübe aus dem Wagen rollen und diesen mit lauter Golddukaten beladen. Das Bäuerlein dankte dem König, setzte sich in den Wagen und fuhr pfeifend heimwärts. So kam er in den Hof gefahren. Die Kinder des reichen Nachbarn liefen ihm entgegen und fragten, ob der König viel für die Rübe gezahlt habe und ob ihm nicht noch jetzt der Rücken schmerze. „Was versteht ihr Kinderchen, ihr Plappermäulchen, schon von solchen Dingen! Schaut nur her!" Nachdem er das gesagt hatte, zeigte er auf den Wagen mit den Golddukaten. Jetzt begann der Arme so üppig zu leben, daß selbst der Reiche ihn beneidete. Er dachte bei sich: Nun, wenn der König schon für eine einzige Rübe eine solche Menge Gold gegeben hat, was wird er mir dann erst geben, wenn ich ihm ein ganz anderes Geschenk bringe! Er holte die besten seiner Pferde aus dem Stall, spannte sie vor einen funkelnagelneuen Wagen und fuhr zum König. Nach seiner Ankunft sagte er: „Hier habe ich dem mildtätigen König ein kleines Geschenk 301
gebracht, sei so gut und nimm diese Pferde von mir zur Erinnerung!" „Aber was soll ich dir denn schenken?" fragte der König. „Was ihr mir gebt, dafür werde ich euch dankbar sein", erwiderte der Reiche. „Ich würde dir Geld geben, aber ich sehe, du hast selber genug. Doch warte mal, unlängst hat mir ein Bäuerlein eine Riesenrübe gebracht — diese werde ich dir schenken!" Der König ließ dem Reichen die große Rübe geben. Was willst du nun machen? Auf dem Heimweg weinte der Reiche fast vor Gram und Wut, aber er nahm sich vor: „Nun werde ich meinem Nachbarn für diese Rübe heimzahlen!" Nachdem er zu Hause angekommen war, rief er seine Knechte und befahl ihnen: „Nehmt den neuen Reichen fest und ertränkt ihn im Fluß!" Was schert es die Knechte, sie sind ja Leibeigene, und was der Herr gebietet, das müssen sie tun. So packten sie den Nachbarn, steckten ihn in einen Sack und trugen ihn zum Fluß. Der Weg führte durch den Wald. Die Knechte waren schon ganz müde, weil sie den Ärmsten die ganze Zeit getragen hatten: „Müssen wir denn eine so schwere Last schleppen? Er wird im Sack schon längst erstickt sein. Hängen wir den Sack an den Baum, und damit hat sich's!" Sie hängten den Sack an einen Ast, banden ihn noch am Baum fest und gingen nach Hause. Aber der Arme im Sack war keineswegs erstickt. Er riß ein Loch in den Sack, steckte den Kopf und die Arme heraus und begann sich umzuschauen. Da sah er plötzlich auf dem Weg einen jungen Herrn reiten. Das Pferd war einige hundert Rubel wert, aber der Sattel war noch kostbarer. Der Arme, der im Sack saß, fing an zu jammern: „Was fange ich nur an, was fange ich nur an! Ich kann weder lesen noch schreiben, und man will mich zum Richter machen!" „Was erzählst du da ?" fragte der Herr. Wieder begann der Arme zu jammern: „Ich kann weder lesen noch schreiben, es gibt so viele Gesetze, wie. soll ich mich in ihnen zurechtfinden, und man will mich zum Richter ernennen. Ich sagte zwar, daß ich's nicht will, ja ich wehrte mich, aber hört denn jemand auf uns? 302
Man steckte mich in den Sack und ordnete an: .Hier bleibst du, bis du dir's überlegt hast und einverstanden bist.' Bald wird man mich holen, und wenn ich auch dann nicht gehorche, bringt man mich zum Fluß und ertränkt mich." „Bist du aber ein Dummkopf! Wenn du selber keine Ahnung hast, dann nimm dir doch einen Schreiber. Mag der schreiben! Es ist doch bekannt,¿daß die Schreiber alle Gesetze kennen", sagte der Herr. „Ach, lieber Herr! Natürlich sind euch, den gebildeten Herren, alle Dinge verständlich, aber was verstehen wir schon davon?" Der Herr dachte eine Weile nach und sagte dann: „Nun, wenn du durchaus nicht willst, daß man dich zum Richter ernennt, dann laß mich an deiner Stelle im Sack sitzen." „Auf Knien werde ich dafür Dank sagen, nur mach das Seil los, und laß mich schnell .hinunter, denn sie versprachen, bald wiederzukommen", drängte der Bauer. Der Herr machte das Seil los und ließ den Sack zur Erde herunter. Der Bauer forderte nun den Herrn auf, in den Sack zu kriechen, und fügte noch hinzu: „Die, die mich zum Richter auserkoren haben, kennen mich nicht, aber es wäre trotzdem besser, wenn wir auch die Kleidung tauschen." „Gut, gut! Zieh deine Lumpen aus und nimm meinen Rock, zieh ihn an, aber recht flink, damit es niemand bemerkt!" Darauf hängte der Bauer den Sack mit dem Herrn an den Baum. Er selbst bestieg das Pferd des Herrn und ritt nach Hause. Unterwegs traf er wieder den reichen Bauern. Als dieser seinen Nachbarn erblickte, sagte er: „Guten Tag, Herr Nachbar, wie geht's?" „Wie soll's mir schon gehen, Gott sei Dank, man kann zufrieden sein!" „Aber wo hast du ein solches Pferd her?" „Wieso, wo ich's herhabe? Erinnerst du dich nicht daran, daß deine eigenen Knechte mich in einen Sack gesteckt und im Wald an einen Baum gehängt haben? Im Wald kam der König zu mir und sagte: ,Das war aber schön, daß du einmal daran dachtest, mich zu besuchen. Besuch mich doch wieder einmal und bring auch noch andere mit, ich werde alle bewirten und beschenken.' Darauf gab er mir zu essen und zu trinken, und 303
damit ich nicht zu Fuß nach Hause gehen muß, gab er mir auch ein Pferd mit Sattel." Der Reiche lief vor Wut ganz blau an : „Sieh doch, was für ein Glück du überall hast!" „Nun, was kann ich dafür, liegt das denn in meiner Macht? Geh du nur auch in den Wald. Dort wirst du an einem Baum einen Sack und im Sack einen Menschen finden. Laß ihn heraus und bitte ihn, daß er dich statt seiner an den Baum hängt." Der Reiche gehorchte und ging in den Wald, um den Sack zu suchen. Nachdem er einen weiten Weg zurückgelegt hatte, fand er den Sack und ließ den Herrn herunter. Als er aber von ihm erfuhr, wie er in diesen Sack geraten war, kroch er nicht hinein. 94
DER S T U B B E N R O D E R U N D DIE LA1MA
Es lebten einst ein Gutsverwalter und Herr. Der Gutsverwalter befahl den Arbeitern, im Wald immer neue Baumstümpfe zu roden. Aber ein Mann hatte nur ein ganz kleines Häuschen und sehr wenig Land. Der Roggen, den er gesät hatte, gedieh nicht, und so beschloß auch er, Baumstubben zu roden. Als er eines Tages bei der Arbeit war, stöhnte er: „Ist das eine harte Arbeit!" Auf einmal trat eine Frau auf ihn zu und sprach: „Ab heute wird es dir gut gehen!" Und von nun an fiel ihm die schwere Arbeit so leicht, als ob er Pilze suchte. Der Gutsverwalter hatte alles beobachtet. Er kam aus dem Wald und fragte den Stubbenroder, was das für eine Frau war, mit der er gesprochen habe. Der Mann erwiderte, daß es eine Frau gewesen sei, die über mächtige Worte verfüge; kaum habe sie, ein gutes Wort gesagt, sofort ging die Arbeit leicht von der Hand, und er hat die Stubben wie Pilze aus der Erde geholt. Als der Gutsverwalter das gehört hatte, eilte er nach Hause zu seinem Herrn und erzählte ihm alles, was er gesehen und gehört hatte. Anfangs glaubte der Herr ihm nicht, aber der Gutsverwalter versicherte feierlich: „Du kannst gewiß sein — das ist keine gewöhnliche Frau. 304
Ihre Worte besitzen Wunderkraft. Du hast es nicht gesehen, wie der Mann mit den Stubben umging — als ob es Pilze wären! Wir müssen versuchen, die Frau aufs Gut zu holen, koste es, was es wolle. Nur einen Haken hat die Sache — sie wird sich nicht so mir nichts, dir nichts von dem Arbeiter trennen. Aber wart mal, mir fallt etwas ein. Laß uns den Mann weg von der Erde auf den Mond schicken, dort soll er eine Nachricht holen, und sagen wir ihm ganz einfach, daß er innerhalb von drei Tagen vom Mond zurück sein muß. Es ist doch klar, daß niemand vom Mond wiederkommen kann." Dem Herrn gefielen diese Worte. Er befahl dem Mann, sofort auf den Mond zu eilen, um die und die Nachricht zu holen. Der Arbeiter vergoß bittere Tränen. Doch da ist auch schon wieder Laima zur Stelle: „Warum weinst du?" So und so — antwortet der Mann. „Macht nichts, ich werfe dieses Knäuel auf den Mond. Es wird sich von hier bis zum Mond selbst aufrollen. Gehe nur immer an dem Fädchen entlang, dann bist du ganz schnell auf dem Mond und wieder zurück." Nun gut. Innerhalb von drei Tagen war der Mann tatsächlich vom Mond zurück. Der Herr staunte, und der Gutsverwalter zuckte mit den Achseln. Am nächsten Tag fällt dem Gutsverwalter schon wieder etwas ein: „Laß uns ihn nach einer Nachricht auf die Sonne schicken — das ist viel weiter!" Nun gut, er wird zur Sonne geschickt. Und wieder wirft Laima ein Knäuel in die Luft, und innerhalb von drei Tagen ist der Mann wie ein Schmetterling mit einer Nachricht zurück. Der Herr staunte, und der Gutsverwalter zuckte mit den Achseln. Doch am nächsten Tag fällt dem Gutsverwalter schon wieder etwas anderes ein: „Laß uns ihn nach einer Nachricht in die Hölle schicken — von dort kehrt er bestimmt nicht zurück!" Nun gut. Aber Laima wirft wieder ein Knäuel in die Luft. Es rollt und rollt, bis es am Höllengrund angekommen ist. Der Mann ging nun am Fädchen entlang und gelangte bis zum Höllentor. Dort schaute er sich um und sah den Gutsverwalter hinter sich stehen. Diesmal war er ihm nämlich hinterhergeritten, um sich zu vergewissern, ob der Mann wirklich bis zur 20
Lettische V o l k s m ä r c h e n
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Hölle geht. Aber das Fädchen erblicken konnte der Gutsverwalter nicht — das war nur dem Arbeiter vergönnt. Der Mann beachtete den Gutsverwalter gar nicht. Er öffnete das Höllentor und ging mutig hinein. Aber kaum hatte er den ersten Schritt gemacht, da stieß er auch schon auf den verstorbenen Vater seines Herrn. Der Teufel hatte ihm aufgetragen, schwere Fässer zu wälzen. Doch was kümmerte es den Mann, er schritt immer tiefer in die Hölle hinein, und der Verstorbene ging wieder dorthin, wohin er gehen mußte. Nach einer Weile hatte der Mann seinen Auftrag erledigt und wollte die Hölle verlassen. Dabei begleitete ihn jemand zum Tor. Beim Hinausgehen fiel der Blick des Mannes zufallig auf die Fässer. Stöhnend plagte sich der verstorbene Vater seines Herrn mit den Fässern. Der Gutsverwalter, der sich in der Nähe befand, dachte: Warte nur, ich werde meinem einstigen Brotgeber ein wenig helfen. Er sprang vom Pferd und legte mit Hand an, aber die Fässer bewegten sich nicht von der Stelle. Als der Teufel das sah, griff er nach seinem Speer und rief: „Ach nein, sieh mal einer an, zwei fette Väterchen können diese lächerlichen Fässer nicht bewegen!" Während er das sagte, versetzte er dem Gutsverwalter und dem Vater des Herrn einen Hieb. Der Arbeiter mochte nichts mehr davon sehen, er spuckte aus und ging lieber nach Hause. Am zweiten oder dritten Tag kehrte der Gutsverwalter halbtot zurück. Er zeigte dem Herrn seine Rippen und berichtete alles Entsetzliche sowohl über den Vater des Herrn als auch über den Teufel. Als der Herr das hörte, wurde er auf den Arbeiter sehr böse. „Warte nur", murmelte er, „jetzt lasse ich dich eine tiefe, dunkle Höhle graben, mit Ausgängen an beiden Enden, und dann jage ich dich hinein. Mitten in die Höhle lasse ich heimlich einen Kessel mit kochendem Wasser stellen, dann wirst du schon umkommen!" Aber Laima verkündete ihm rechtzeitig, was ihn erwartete, und sie schärfte ihm ein, mutig durch die Höhle zu gehen, dann werde ihm nichts zustoßen. Der festgelegte Tag kam. Der Mann mußte nun durch die Höhle gehen. Und er tut es auch. Nach einem Weilchen hört man in der Höhle etwas platschen. Der Herr und der Gutsverwalter frohlocken. Wieder vergeht eine Weile. Doch — was 306
ist das? Der Mann kommt wohlbehalten und gesund aus der Höhle gekrochen und ist dazu noch von oben bis unten mit lauter Gold bedeckt. Als der Herr das sieht, eilt er mit dem Gutsverwalter in die Höhle, um absichtlich in den Kessel zu springen. Sie sprangen zwar hinein, aber nicht mehr heraus, denn die beiden waren in dem kochenden Wasser umgekommen. 95
W I E DEM G U T S V E R W A L T E R EINE L E H R E E R T E I L T
WURDE
In alten Zeiten lebte einmal ein abscheulicher Gutsverwalter. Weder Gott noch der Teufel konnten ihm etwas recht machen. Was auch immer die Tagelöhner taten, mit allem war er unzufrieden. Er brüllte herum und schlug sie wie ein Verrückter. Die Knechte begaben sich nur ungern in seine Nähe. Sie mieden ihn, wo sie nur konnten, um nicht verprügelt zu werden. Einmal hatte der Gutsverwalter einen Bauern ganz ohne Grund verprügelt. Das konnte und konnte der nicht vergessen und sann in seinem Zorn auf Rache. Die Tagelöhner hatten gemerkt, daß sich der Gutsverwalter sehr vor Gespenstern und bösen Geistern fürchtete. Und so dachten sie sich einmal etwas aus, um ihn zu erschrecken. Über die Korndarren des Gutes gingen bereits viele Gerüchte um, es hieß, daß es dort oft spukte und man daher nachts manchmal nicht schlafen könne. Allabendlich begab sich der Gutsverwalter in die Korndarren, um dort vor Anbruch der Nacht nach dem Rechten zu sehen. An einem Samstagabend beschmierten sich mehrere Bauern so schwarz wie Teufel, hüllten sich in rohe Kalbsfelle, versteckten sich auf dem Balkengerüst einer Korndarre und warteten, daß der Gutsverwalter seinen Rundgang unternahm. Er schlich auch in die Korndarre und stocherte mit einem Knüppel im Balkengerüst herum. Zu seinem Erstaunen bewegte sich plötzlich dort etwas; es sprang auf den Ofen und verhöhnte den Gutsverwalter mit unverschämten Worten. Er dachte nun, daß es der Teufel selber wäre, und erschrak so sehr, daß er sich nicht mehr von der Stelle rühren konnte. Ein solches Schreckgespenst hatte er noch nie gesehen: Die ganze Gestalt bestand nur aus Fell, ein sehr langer Schwanz schlenkerte um seine Füße herum, nackte Arme streckten sich ihm entgegen, und ein entsetzliches Gesicht starrte ihn an! Da schnappten sich auch schon „die Teufel" den Gutsver20*
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walter, steckten ihn in einen Sack und überlegten, was nun zu tun sei. Der Gutsverwalter begann zu flehen, daß man ihn aus dem Sack herauslassen möge. Habe er denn nicht genug für ihr Wohl gearbeitet? Habe er nicht die Arbeiter nur ganz, ganz wenig prügeln lassen? Aber einer der Teufel höhnte mit dumpfer Stimme: „Kusch, Herrchen, du bekommst jetzt dein Teil!" Die Teufel wälzten den Gutsverwalter über die Tenne und die Getreidedarre, daß sein Kopf im Sack nur so brummte. Schließlich rollten sie ihn mitten auf die Tenne, warfen ihn ins gedroschene Stroh und begannen draufloszuprügeln. Nun mußte der Gutsverwalter Schlimmstes erdulden! Die Dreschflegel tanzten nur so über seinen Rücken. Zwar jammerte und flehte er um Gnade, aber umsonst! Die ganze Nacht quälten ihn die Teufel, bis sie ihn zuletzt im Sack ganz oben an den Dachfirst der Getreidedarre hingen. Es wurde Sonntagmorgen, und der Guts'verwalter schlug in dem Sack wie verrückt um sich und schrie. Da kam aus dem Wirtshaus der Starost vorbei. Als er aus der Getreidedarre die Hilfeschreie vernahm, ging er hin, um zu sehen, was los war. Er öffnete die Tür der Getreidedarre: Ach, du mein Schreck! Das ganze Getreide war vom Balkengerüst heruntergerissen und lag auf einem Haufen, und dem Starosten war, als ob vom Dachfirst der Gutsverwalter selbst schrie. Dem Starosten wurde angst und bange, aber dennoch rief er: „Bist du's, Indrik?" Als der Gutsverwalter die Stimme des Starosten erkannte, schrie er: „Ach, du Lieber, Guter, rette mich! Mein letztes Stündlein ist gekommen!" Der Starost zog den Sack mit dem Gutsherrn herunter. Es bumste nur so, als er auf den Boden fiel, und der Gutsverwalter stöhnte eine ganze Weile, bis der Starost ihn schließlich halbtot aus dem Sack befreite. Nun berichtete der Gutsverwalter entsetzliche Dinge über die Korndarre, daß dort tatsächlich böse Geister ihr Unwesen trieben und er mit eigenen Augen gesehen habe, wie ein Gespenst, ganz in Fell, mit einem Riesenschwanz, ihm um die Füße herumgestrichen sei und ihn mit frechem Blick angeschaut habe. Der Starost begriff schon, daß die Tagelöhner die Schuldigen waren, aber er verlor darüber an den Gutsverwalter kaum ein Wort. Die Lehre schadet ihm gar nichts! 308
Nach diesen durchgestandenen Ängsten war der Gutsverwalter lange krank. Doch nach seiner Genesung veränderte er sich sehr. Zwar brüllte er die Tagelöhner noch immer an, aber mit dem Stock schlug er sie zeit seines Lebens nicht mehr. Und er begab sich nie mehr allein in die Korndarre, um nach dem Rechten zu sehen. 96
DER HERR UND DER TEUFEL
Ein Herr quälte seine Untertanen ganz fürchterlich. Einmal hatte sich ein Bauer ein gutes Stück Geld verdient, aber der Herr nahm es ihm fort. Nun war der Bauer sehr ärgerlich und sagte, daß es besser sei, dem Teufel zu dienen als dem Herrn. Kaum hatte er das ausgesprochen, da war der Teufel schon zur Stelle. Der Bauer solle nur in seine Dienste treten, denn in der Hölle lebe es sich ganz gut. Jetzt überlegte der Bauer, ob er's tun soll oder nicht. Aber der Teufel redete so lange auf ihn ein, bis er einwilligte. Also ging der Bauer in die Hölle. Der Teufel fragte ihn, welche Arbeit er zu verrichten verstehe. Aber der Bauer erwiderte, daß es ihm ganz gleich sei, was er tun soll, denn er könne alles: Holz fällen, Holz heimfahren, Holz spalten, Heu machen und eben überhaupt alles, was es so gebe. Nun sagt der Teufel, daß er morgen nach Holz fahren soll. Er werde ihm «in älteres Pferd geben, und er möge ihm ruhig eins überbraten, damit es so schnell laufe, wie's die Beine nur hergeben, aber er solle sich ja davor hüten, das Pferd auf den Kopf zu schlagen. Auf diese Weise möge der Bauer dem Teufel zwei Wochen dienen, und außerdem fügt er noch hinzu, daß er sich um seinen Lohn keine Sorgen zu machen brauche, denn der Teufel werde ihn anständig bezahlen. Am nächsten Morgen fuhr der Bauer mit dem alten Pferdchen ins Holz. Er fuhr und fuhr, aber auf einmal — welch ein Pech! — kippte die Fuhre um. Der Bauer ärgerte sich darüber sehr, und in seinem Zorn schlug er dem Pferd dreimal auf den Kopf. Von den Schlägen verwandelte sich das Pferd in einen Menschen und sprach zu dem Bauern: „Peter, warum schlägst du mich, kennst du mich denn nicht? Ich bin doch der Vater deines Herrn, der im vorletzten Jahr gestorben ist." 309
Nun erzählte er dem Bauern alle seine Sorgen und bat ihn, wenn er wieder zu Hause sei, seinem Sohn einzuschärfen, daß er mit den Leuten menschlich umgehen solle, sonst werde er ebenso in die Hölle kommen wie er. Der alte Herr berichtete Peter noch, daß in der Hölle alles genau umgekehrt sei wie in Wirklichkeit. Alle Vögel, die hier umherfliegen, alte Bäume, die hier wüchsen, und die Käfer, die hier umherkröchen, seien böse Menschen, die in die Hölle gekommen wären und nun furchtbare Qualen erdulden müßten. Außerdem riet der alte Herr dem Peter, er solle für seine Dienste weder Gold noch Silber nehmen, sondern vom Teufel drei Sack Kohlen verlangen. Dann werde er zu Vermögen kommen. Noch einmal schärfte ihm der Herr ein, seinem Sohn zu sagen, wie man auf der Welt leben müsse. Aber Peter erwiderte, daß der Herr sowieso nicht auf ihn hören werde. Nun verspricht der alte Herr, ein paar Worte auf ein Zettelchen zu schreiben, das Peter seinem Sohn geben soll. Er nahm also ein Stück Baumrinde und schrieb darauf seinem Sohn, wie man in der Welt leben muß, um nicht in die Hölle zu kommen. Nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten, befahl der Herr, daß Peter ihm dreimal auf den Kopf schlage, damit er sich wieder in ein Pferd verwandele und der Teufel sie beide nicht auffresse. Dann schlug Peter dem alten Herrn dreimal auf den Kopf, worauf er sich gleich wieder in ein Pferd verwandelte und die Fuhre weiterzog, daß es nur so quietschte. Aber jetzt tat Peter das alte Pferd leid, und um es zu schonen, zögerte er absichtlich mit der Arbeit und lud so wenig Holz wie irgend möglich auf. Darüber ärgerte sich der Teufel und brüllte ihn an, er sei überhaupt kein guter Arbeiter. Deshalb werde er ihm bezahlen, soviel ihm zustehe, und dann solle er sich heimscheren. Der Teufel führte Peter nun in die Silberkammer und bot ihm einen Sack Silber an. Aber Peter erwiderte — was solle er, ein Arbeiter, mit Silber anfangen? Er wollte lieber drei, vier Sack Birkenkohle haben. Der Teufel antwortete, daß er ihm ohne weiteres Kohlen geben könne, aber in einer anderen Kammer habe er Gold, vielleicht möchte Peter das haben. Doch Peter beharrte darauf, daß der Teufel ihm lieber drei Sack Birkenkohle geben soll — das reiche ihm. Nichts zu machen. Der Teufel gab Peter drei Sack Birkenkohle und führte ihn dann aus der Hölle hinaus. Als Peter die Hölle verließ, schienen ihm die Säcke feder310
leicht zu sein, aber kaum hatte der Teufel ihn verlassen, wurden sie so schwer, daß er sie kaum noch zu heben, geschweige denn zu tragen vermochte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ein Pferd zu beschaffen, erst dann konnte er mit großer Mühe die Säcke nach Hause befördern. Als er die Säcke daheim aufmachte, entdeckte er lauter Goldgeld. Am nächsten Morgen reitet Peter zum Gut, um dem Herrn zu erzählen, was sein Vater gesagt habe. Fast hätte der Herr ihn schon hinausgeworfen, da zeigt Peter ihm das Stück Baumrinde, doch das hat sich in ein Goldstück verwandelt. Zum Glück waren die Worte, die der alte Herr darauf geschrieben hatte, nicht ausgelöscht. Als der Herr die Worte seines Vaters gelesen hatte, wurde er ganz blaß. Peter fragte ihn, ob er ihm noch immer nicht glaube. Der Herr erwiderte jedoch, daß er ihm nun alles glaubt und von nun an zu allen wie ein Bruder sein wird. Und tatsächlich — von diesem Tage an war er der beste Herr, den man sich auf der Welt überhaupt denken konnte. 97 EIN S O L C H E R N I M M T EIN SOLCHES E N D E
Ein Arbeiter, der bitterschwer geschuftet hatte und dazu noch von seinem Herrn mit dem Stock bearbeitet worden war, setzte sich an den Grabenrand und kaute die von seinen Tränen aufgeweichten Brotrinden. Während er aß, dachte er über sein Leben und das Leben seines Herrn nach. „Schau nur, ich muß mit leerem Magen den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, auf dem Feld arbeiten und zeit meines Lebens den schweren Pflug mit eignen Händen bewegen. Niemand fragt dich danach, ob es regnet oder hagelt, ob du frierst oder es in der Sonnenglut kaum aushalten kannst. Aber sieh nur, wenn du dich schon unzählige Male von einem Ende des Feldes zum andern geschleppt und dir mindestens zehnmal den Schweiß abgewischt hast, dann erhebt sich der Herr erst von seinem Lager, schleicht zum Fenster und schaut nach dem Wetter. Wenn es auch nur etwas unangenehm ist — ein wenig zu warm oder ein bißchen regnerisch —, wie kann er dann schon hinausgehen, um die Leute zu prügeln! Nein! Aber wenn das Wetter schön ist, dann ist er im Nu zur Stelle, und los geht es mit dem Stock, ganz gleich, ob über 311
den Kopf oder die Augen! Kann man denn überhaupt noch davon sprechen, daß es einen Gott im Himmel gibt?" Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gehen, steht plötzlich ein altes, weißes Männlein vor ihm und fragt ihn, warum er so traurig sei und woran er denke. Er erzählt dem Männlein — so und so: Er plagt sich, so gut er's vermag, ob er etwas gegessen hat oder nicht, doch der Herr schlägt ihn nur. Wie kann der liebe Gott das zulassen? Warum ist er selber als Arbeiter und nicht als Herr zur Welt gekommen — er würde seine Arbeiter nie so entsetzlich prügeln. „Ich will dir etwas sagen", sprach das alte, weiße Männlein, „ich werde ein Jahr an deiner Stelle auf dem Gut arbeiten und bei dir daheim für alles sorgen, lerne du inzwischen die Welt kennen. Und wenn du nach deiner Rückkehr ein Herr sein willst, dann sollst du's werden." Sofort macht sich der Arbeiter auf den Weg. In einem großen Wald begegnet er einem schwarz gekleideten Herrn. Er fragt den Arbeiter, wohin er geht. Der Arbeiter berichtet — so und so: Er soll in einem Jahr die Welt kennenlernen und wird dann in den Herrenstand erhoben werden. Der Schwarze sagt zu ihm: „Wozu willst du umherirren? Komm zu mir als Knecht, ich gebe dir einen Scheffel Gold dafür. Dann hast du in einem Jahr ebensoviel Geld wie ein Herr." Der Arbeiter ist einverstanden und geht mit dem Schwarzen mit. Als sie bei ihm zu Hause angekommen sind, führt er ihn in den Stall und zeigt ihm, was er zu tun hat. Der iStall ist voll von den \cxschiedensten Pferden, einige bestehen nur noch aus Haut und Knochen, andere scheinen im Sommer Arbeitspferde zu sein, und wieder andere sind bildschöne, schwarze Hengste. Der Arbeiter muß sie alle jeden Tag der Reihe nach mit einem Ochsenziemer bearbeiten. Anfangs schlägt er sie nicht so sehr, aber da ist auch schon der Schwarze im Stall und schärft ihm ein, so zu schlagen, daß der ganze Stall vom Brüllen der Hengste nur so dröhnt. Jeden Tag führt er neue Hengste in den Stall, die herrlich glänzen. Aber zu fressen bekommen sie nichts, höchstens werden ihnen jämmerliche Knochen zum Abnagen hingeworfen, wenn ein altes Pferd verendet. Aber mit dem Ochsenziemer werden sie jeden Tag geprügelt. Eines Tages führt der Schwarze wieder einen schwarzen, fetten, glänzenden Hengst in den Stall und bindet ihn an. „Diesen prügle ohne Erbarmen!" sagt der Schwarze zum 312
Arbeiter, „er hat dich auch zur Genüge geschlagen — es ist dein Herr." Als der Arbeiter das vernimmt, erschrickt er so sehr, daß er nichts mehr zu tun vermag. „So also endet das Herrendasein!" Der Schwarze nimmt jetzt selbst den Ochsenziemer zur Hand und bleut und bleut den glänzenden schwarzen Hengst. Dieser brüllt und springt und weiß nicht, wo er bleiben soll. Als der Arbeiter das sieht, macht er sich aus dem Staub und eilt im Nu durchs Tor zurück nach Hause. „Hol dich der Teufel mit deinem ganzen Geld!" denkt er, „ich möchte kein Herr mehr sein — was nützt mir das Geld!" Sein Haus findet er in bester Ordnung vor, und es gibt alles in Hülle und Fülle. Man erzählt ihm, daß sein Herr in der vergangenen Woche gestorben sei und gestern beerdigt wurde. 98 EIN MANN ALS HEIZER DES HÖLLENKESSELS
Es lebte einmal ein mutiger Mann. Eines Tages ging er durch den Wald und verirrte sich. Da tritt plötzlich der Teufel an ihn heran und fragt ihn, ob er sich nicht als Knecht bei ihm verdingen wolle. Warum nicht? Und sie werden einig. Der Teufel führt den Burschen in die Hölle und zeigt ihm drei Kessel mit Deckeln, unter denen jeden Tag Feuer gemacht werden muß, aber mehr als zwei Holzscheite dürfen dazu nicht verwendet werden. Am ersten Tag, während der Teufel sich irgendwo herumtreibt, will der Bursche mal nachschauen, was in den Kesseln eigentlich gekocht wird. Er hebt den Deckel vom ersten Kessel und sieht — o mein Schreck —, daß sein Herr darin schmachtet und durch die Hitze schon ganz zusammengeschmort ist. Der Bursche sagt: „Warte mal, Väterchen, für dich braucht man mindestens drei Holzscheite!", und er wirft drei Scheite ins Feuer. Am Abend kommt der Teufel nach Hause: Warum der Bursche drei Scheite verfeuert habe? Er erwidert, daß im Kessel ein Käfer stecke, den er kenne und der eine gute Behandlung verdient habe. Als der Bursche am zweiten Tag Feuer macht, wollte er gern wissen, was sich im zweiten Kessel befindet. Er hebt den Deckel 313
und erblickt seinen Gutsverwalter. S o f o r t w i r f t er vier Scheite ins Feuer, A m A b e n d ist der T e u f e l sehr ärgerlich — warum, der Bursche mit dem H o l z so verschwenderisch umgehe. D o c h er erwidert, daß er seinen Gutsverwalter ebenso behandeln wolle, wie dieser ihn stets behandelt habe. A m dritten T a g heizte und heizte der Bursche und dachte — ich muß doch mal nachschauen, was im dritten Kessel ist. Er h o b den Deckel und erblickte seinen Gutsaufseher. N u n w a r f er schnell sechs Scheite hinein und blies tüchtig, damit das Feuer noch heller brennt. Und weißt du, was geschah, als der T e u f e l nach Hause k a m ? Er sagte dem Burschen, daß er sich nicht an die Vereinbarung gehalten habe und nun zum Gutsverwalter in den Kessel springen solle. D e r Bursche antwortete, daß er das gleich tun werde, nur solle der Teufel mal den Deckel abheben. Der Teufel tut es, doch der Bursche schleicht flink hinter den T e u f e l , ergreift ihn und wirft ihn — plunksch! — zum Gutsaufseher in den Kessel. „ N u n sind beide T e u f e l zusammen — mögen sie gemeinsam k o c h e n ! " lachte der Bursche und ging nach Hause.
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DER TEUFEL U N D DER GUTSAUFSEHER Ein Gutsaufseher begegnete dem T e u f e l und kam mit ihm ins Gespräch. D e r Teufel erzählte ihm allerlei K l u g e s über die D i n g e der W e l t . D o r t in der N ä h e hütete ein Junge die Schweine, und er bemerkte, daß eines der Schweine in ein K a r t o f f e l f e l d lief. Er rannte ihm nach, um es herauszutreiben, und dabei rief er i m m e r f o r t : „ H o l dich d o c h der T e u f e l ! " D e r Aufseher stieß d e m T e u f e l mit d e m D a u m e n in die Seite und sagte: „ E r verspricht dir das Schwein, und du nimmst es n i c h t . " D e r Teufel antwortete: „ I c h kann mir das Schwein nicht nehmen, denn die W o r t e k o m m e n dem Hirten nicht v o m H e r z e n . " N a c h dem Gespräch gingen die beiden zum G u t und hörten, wie eine Mutter a m W e g r a n d ihr weinendes. K i n d zum Schweigen bringen w o l l t e und dabei immerzu rief: 314
„Weine nicht, der Teufel wird dich p a c k e n ! " Der Aufseher stieß dem Teufel wieder mit dem Daumen in die Seite und sagte: „ S i e verspricht dir das Kind, und du nimmst es nicht." D e r Teufel antwortete ihm: „ I c h kann mir das K i n d nicht nehmen, denn die Worte kommen der Mutter nicht vom Herzen." N u n kamen sie zu den Gutsfeldern, wo die Tagelöhner arbeiteten. Als einer der Arbeiter den Aufseher gewahrte, rief er aus: „ D a kommt ja wieder der Aufseher mit seinem Stock. Wenn doch der Teufel einmal diesen Leuteschinder holen wollte!" Nun rief der Teufel: „Diese Worte kommen ihm wirklich vom H e r z e n ! " A l s der Aufseher den Arbeiter auszuschelten begann, packte ihn der Teufel, steckte ihn in seinen Fellsack und trug ihn in die Hölle. 100
ALLE HERREN SIND DUMMKÖPFE Einmal geht ein Bauer in den Wald, um Holz zu hacken. D a fahrt ein Herr vorbei und fragt: „ W i e viele Bauern auf der Welt sind D u m m k ö p f e ? " Der Bauer erwidert: „ D i e Hälfte. Aber die Herren sind alle D u m m k ö p f e . " Der Herr ärgert sich und fährt weiter, aber unterwegs wird er so wütend, daß er dem Kutscher befiehlt, die Pferde zu wenden und zu dem Bauern zurückzufahren, denn er wolle ihn für seine Reden töten. A b e r der Bauer ist klug und legt eine Birke über den Weg. Er drückt ihren Wipfel gegen einen anderen Baum, kriecht drunter und stützt sie mit seiner Schulter so, als ob er sie halten wollte. Der Herr fährt an ihn heran, erkennt ihn nicht und fragt: „ H a s t du nicht einen Bauern gesehen?" Der antwortete, daß er keinen gesehen habe. Darauf fragt der Herr: „ K a n n s t du ihn nicht suchen? Vielleicht ist er in den Sumpf gelaufen?" Der Bauer ist einverstanden, doch er verlangt von dem Herrn, daß er inzwischen die Birke auf seinen Schultern halte. Der Herr ist einverstanden, aber der Bauer schiebt den Wipfel von dem Baum weg, an den er ihn gestützt hatte, so daß der 315
Herr alle Kräfte aufbieten muß, um die Birke zu halten. Nach einer Weile kommt der Bauer gelaufen und sagt: „Gib mir deine beiden Pferde, sonst kann ich den Bauern nicht mehr einholen. Er ist schon sehr weit gelaufen." Der Herr gibt ihm ein Pferd, doch das zweite will er ihm nicht geben. Der Bauer sagt: „Wie sollen wir zwei denn auf einem Pferd hierherreiten? Gib mir lieber beide!" Dem Herrn bleibt nichts weiter übrig, als dem Bauern beide Pferde zu geben. Der Bauer nimmt die Pferde und fahrt nach Hause, aber der Herr hält die ganze Zeit über die Birke auf seinen Schultern. Er wartet und wartet, doch der Bauer kommt nicht. Nun befiehlt er dem Kutscher, die Birke zu halten. Der Kutscher sagt, daß er das nicht kann, weil ihm der Magen so weh tue. Ihm tat vor lauter Lachen über die Dummheit des Herrn der Magen wirklich weh! Der Herr wurde wütend, und da der Bauer noch immer nicht zurückgekommen war, spannte er sich selbst vor den Wagen und zog ihn heimwärts. Zu Hause sagt der Kutscher zu dem Herrn: „Nun, erinnerst du dich daran, wie der Bauer sagte, daß alle Herren Dummköpfe sind ?" IUI
DER TSCHIKS
Einst ging einem Herrn die Kutsche in die Brüche. Ein Glück, daß ein Schmied in der Nähe war. Der Herr ließ die Kutsche ausbessern, und der Schmied verlangte dafür einen ganzen Rubel. Nichts zu machen — was gezahlt werden muß, das muß eben gezahlt werden; aber beim Heimfahren grollt der Herr wegen des Schmieds: „Für eine solche Kleinigkeit nimmt er einen ganzen Rubel! Wie lange hat er schon dafür gearbeitet? Dann verdient ja der Schmied mehr als der tlerr, der in der Kutsche sitzt. Wenn ich's mir genau überlege, dann kann auch ich die Arbeit eines Schmiedes machen und die Rubel nur so in die Tasche stecken. Warte nur, warte, ich werde mir heimlich die Arbeit des Schmiedes abgucken, und zum Georgi tag jage ich ihn aus der Schmiede und werde selbst als Schmied arbeiten." Nun gut. Tag für Tag geht jetzt der Herr zu seinem Schmied 316
in die Schmiede. Er fragt ihn dies und fragt ihn das, und der erzählt ihm dieses und jenes, aber heimlich schaut und schaut der Herr dabei zu, wie der Schmied schmiedet. So hatte er in einiger Zeit das Handwerk des Schmiedes mit den Augen ganz gut gelernt. Er vertreibt den Schmied aus der Schmiede, mag er gehen, wohin er will. Er selbst wird nun mit seinem Kutscher schmieden. Er, der Herr, wird schmieden, ätsch, und der Kutscher soll den Blasebalg blasen. Nun gut. Am nächsten Tag kommt aus der Nachbargemeinde ein Bauer mit einem großen Eisenstück, um sich ein Pflugschar schmieden zu lassen. Ganz stolz nimmt der Herr das Eisen, schiebt es ins Feuer, schüttet einen großen Kohlenhaufen darauf und sagt: „Kutscher, fang an zu blasen!" Der Kutscher, der Ärmste, bläst auch und plagt sich, bis das Eisen weiß ist. Nun zieht der Herr das Eisen auf den Amboß und sagt zu dem Bauern: „Hämmere nun!" Der Bauer ergreift den großen Hammer und schlägt zu, daß die Funken fliegen. Er hämmert und hämmert — das Eisen ist bereits hauchdünn, aber der Schmied machtsich nichts daraus — er soll nur weiterhämmern, bis es abgekühlt ist. Schließlich ist das Eisen schwarz. Nichts zu machen — er legt es wieder ins Feuer, schüttet einen großen Haufen Kohlen darauf und sagt: „Kutscher, fang an zu blasen!" Der Kutscher, der Ärmste, bläst auch, bis das Eisen wieder weiß ist, und nun wird wieder geschmiedet. Der Bauer hat das Hämmern satt und sagt: „Wir werden das Eisen noch völlig durchbrennen — ein Pflugschar wird nie und nimmer draus." „Wieso? Natürlich wird ein Pflugschar draus. Du Dummkopf verstehst nur nicht richtig zu hämmern. Komm du her, Kutscher, du kannst das besser!" Und der Kutscher kommt und schmiedet und schmiedet, aber mit einem Pflugschar wird es nichts. „Dein Eisen taugt nichts: Für ein Pflugschar reicht es nicht — ich schmiede lieber eine Axt." „Nun, so schmiedet eine Axt. Eine Axt kann man auch immer brauchen." Sie schmieden und schmieden, so gut sie's verstehen. Nach einer Weile sieht der Herr: Vom Eisen ist nicht mehr allzuviel übrig. 317
„Weißt du, Bauer, mit einer Axt wird's nichts — ich schmiede dir ein Messer." „Schmiedet ein Messer. Ein Messer kann man auch immer brauchen." Sie schmieden und schmieden wieder, so gut sie's eben verstehen. Nach einer Weile sieht der Herr: Vom Eisen ist nur noch ganz wenig übrig. „Weißt du, Bauer, mit einem Messer wird's nichts — ich schmiede dir eine Ahle." „So schmiedet eine Ahle, auch eine Ahle kann man immer brauchen." Sie schmieden und schmieden wieder, so gut sie's eben verstehen. Nach einer Weile sieht der Herr: Vom Eisen ist fast gar nichts mehr übrig — nur noch eine ganze Winzigkeit. „Weißt du, Bauer, mit einer Ahle wird's nichts — ich schmiede dir einen Tschiks." Kaum hatte er das gesagt, da nahm er das winzige Eisenstückchen, das noch übriggeblieben war, erhitzte es und warf es ins Wasser. Tschiks! zischte das winzige Etwas im Wasser, und der Tschiks war fertig. Nun verlangte der Herr für seine Arbeit gute Bezahlung — einen ganzen Rubel. Aber der Bauer erwiderte: „Geld habe ich nicht, aber Weizen. Besucht mich nur, Herr Schmied, ich werde ehrlich bezahlen." Der Bauer fahrt nach Hause; der Herr aber läßt den Kutscher sofort die Kutsche anspannen, und sie fahren dem Bauern hinterher, um möglichst schnell den verdienten Lohn zu bekommen. Unterwegs schärft der Herr dem Kutscher ein: „Hör zu, ich selbst gehe mit einem Sack in die Kornkammer, denn ich weiß doch am besten, wieviel ich für meine Arbeit bekommen muß. Du bleibst draußen, und paß gut auf: Wenn der Bauer ,Genug' sagt, dann rufe: ,Schütte auch meinen Teil dazu, denn das Hämmern war sehr schwer!'" Nun gut. Sie fahren zu dem Bauern. Er führt den neuen Schmied gleich in die Kornkammer. Hinter der Tür hatten sich einige kräftige Burschen versteckt. Sie ergreifen den Schmied, werfen ihn zu Boden, und der Bauer verprügelt ihn mit einer erhitzten Türangel. Der Herr möchte nicht, daß der Kutscher hört, wie er Prügel bezieht, und so erträgt er die Schmerzen und beißt die Zähne zusammen. 318
Nachdem sie ihn tüchtig verprügelt haben, ruft der Bauer: „Nun reicht's!" Aber der Kutscher antwortet von draußen: „Schütte auch mein Teil dazu!" Drauf sagt der Bauer zu den Burschen: „Meinetwegen — geben wir ihm noch eine Tracht!" Sie ergreifen ihn nochmals, und der Herr erhält nun auch den Teil des Kutschers. Unterwegs sagt der Herr zum Kutscher: „Der Teufel soll dich holen! Warum sagtest du, daß man noch mehr schütten soll?" „Aber, Herr, Ihr selbst habt mir das doch befohlen; ich mache stets das, was Ihr befehlt." „Nun, nun, schon gut! Aber sobald wir zu Haus sind, zünde die verfluchte Schmiede an: Ich habe es satt, Schmied zu sein." 102 MATSCH ATI NSCH Einst lebte in einer Hütte ein gescheites Männlein. Es hieß Matschatinsch. Mit seinem Herrn machte es. was es wollte. So kommt sein Herr eines Tages von der Jagd und kehrt in Matschatinschs Hütte ein, um sich zu erholen. Matschatinsch wußte, daß sein Herr ein Einfaltspinsel war, und so kochte er in einem eisernen Topf Grütze, nahm ihn vom Herd, brachte ihn ins Zimmer und zeigte ihn dem Herrn: „Schau nur, hast du schon einen Topf gesehen, aus dem die Grütze mitten im Zimmer ohne Feuer dampft? Ich mache das so: Ich gieße Wasser in den Topf, schütte Grütze hinein, stelle den Topf mitten ins Zimmer, und schon-beginnt sie zu kochen." Der Herr schaut hin: Tatsächlich, aus dem Topf steigt Dampf. Aber er kommt gar nicht auf den Gedanken, daß ein Topf mit Grütze, der soeben vom Feuer genommen ist, immer noch ein Weilchen dampft. „Matschatinsch, weißt du was, ich gebe dir noch dreiunddreißig Lofstellen Land zu deiner Hütte dazu, wenn du mir den Topf gibst." Nun gut. Er bekommt den Topf, trägt ihn stolz nach Hause und legt einen Hasen hinein. Mag er schmoren. Aber wie soll schon etwas ohne Feuer kochen! Nun fühlt sich der Herr betrogen. Er läßt Matschatinsch aufs Gut rufen und schlägt ihm mit einem Knüppel über den Rücken. Matschatinsch hatte sich 319
schon zu Hause überlegt, daß es für ihn ohne Prügel nicht abgehen wird. Doch um den Herrn wieder zu narren, hatte er Kalbsdärme mit Blut gefüllt und sie sich auf den Rücken gebunden. Als der Herr losschlägt, spritzt das Blut in alle Richtungen. Matschatinsch fallt zu Boden und wimmert: „Nun hat er seinen Matschatinsch erschlagen, nun hat er ihn erschlagen." Als der Herr ihn so im Blut liegen sieht, läuft er zu seinen Knechten und schärft ihnen ein, Matschatinsch in einen Sack zu stecken, ihn zum Eisloch zu bringen und dort im Wasser zu ertränken. Die Knechte bringen ihn zum See, aber das Eisloch ist zugefroren, und sie müssen eine Axt holen. Während sie die Axt suchen, springt Matschatinsch aus dem Sack und stopft Steine hinein. Am nächsten und übernächsten Tag geht der Herr wieder zur Jagd. Er hat noch keinen Hasen geschossen, als Matschatinsch schon aus seiner Hütte schaut und mit Kienäpfeln nach den Kötern wirft. Der Herr erblickt Matschatinsch und wundert sich: „Wo kommst du denn her? Und womit wirfst du nach meinen Hunden?" „Ich werfe mit Geld nach deinen Hunden, und wenn ich keins mehr habe, springe ich einfach ins Eisloch und raffe es mir haufenweise zusammen. Aber sage das nicht den Knechten, sonst begeben sie sich auch auf den Grund des Sees, um sich mein Geld zu holen." Als der Herr das vernommen hat, eilt er geschwind heimwärts und springt dann ins Eisloch, aber — muru-murum — er landet auf dem Grund des Sees, und dort sucht er noch heute Matschatinschs Geld. 103 GÄNSETEILEN
Einst lebte ein armer Bauer namens Grikis. Er wollte sich > gern ein neues Häuschen bauen, aber er besaß weder Balken noch Geld. Dafür gehörte ihm eine Gans. Da macht er sich eines Tages zum Gutsverwalter auf, um ihm von seiner Notlage zu erzählen. Und er bittet ihn um Balken 320
und verspricht ihm eine Gans. Der Gutsverwalter ist einverstanden. Grikis bringt die Gans aufs Gut, aber der Gutsverwalter sagt: „Ich habe zwei Töchter, zwei Söhne und eine Frau; wir sind also sechs — wie soll man da eine Gans aufteilen?" Grikis erwidert: „Wartet, ich werde sie teilen." Er nimmt die Gans, schneidet den Kopf ab und sagt: „Euch, Herr Gutsverwalter, als dem Oberhaupt der Familie steht der Kopf zu, Eurer Gattin als der fleißigen Hausfrau das Schwänzchen, und Euren Töchtern, den beiden schönen, jungen Mädchen, geschickt und flink wie Vögelchen, ihnen stehen die Flügelchen zu, und Euren Söhnen als den Stützen des Hauses, ihnen stehen die Füße zu, aber mir, dem armen Bauern, mir stehen der Bauch und die Abfalle zu." Der Herr ist glücklich, daß Grikis die Gans aufgeteilt hat, er gibt ihm seinen Teil und dazu noch die Balken. Uberglücklich geht Grikis nach Hause, denn er hat mehr bekommen, als er erhofft hatte. Als ein anderer Bauer davon hört, denkt er bei sich: Ich muß eine Scheune bauen, aber Geld habe ich nicht, dafür jedoch fünf Gänse. Die werde ich dem Gutsverwalter bringen. Gedacht, getan. Er bringt die Gänse aufs Gut. Aber der Gutsverwalter überlegt hin und her, wie man die Gänse verteilen soll — auch der Bauer überlegt, aber sie kommen zu keinem Ergebnis. Schließlich lassen sie Grikis holen, damit er ihnen dabei hilft. Grikis ist glücklich, daß man ihm eine solche Ehre erweist und ihn zum Gänseteilen aufs Gut ruft. Grikis nimmt eine Gans, gibt sie dem Gutsverwalter und sagt: „Ihr, Eure Frau und die Gans — das sind drei!" Dann nimmt er die zweite Gans und sagt: „Eure beiden Söhne und die Gans — das sind drei." Während er die dritte Gans den Töchtern gibt, sagt er: „Und zwei Töchter und eine Gans — das sind auch drei." Zwei Gänse behält er für sich und sagt: „Ein Bauer und zwei Gänse — das sind auch drei." So verteilt Grikis die Gänse zu seinen Gunsten — er nimmt sich zwei Gänse und geht nach Hause.
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Lcltischc V o l k s m ä r c h e n
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WIE DER GUTSHERR SEINEN HUND SPRECHEN LERNEN LIESS
Ein Herr hatte einen Hund namens Bobitis. Der Herr sagte immer wieder: „Ist mein Bobitis ein kluger Hund! Alles kann er, nur nicht sprechen." Eines Tages hörte das der Diener und meinte: „Ja, gnädiger Herr, ich kenne da einen Mann, der Hunde sprechen lehrt." Der Herr war darüber hocherfreut und fragte: „Wie lange wird es dauern, bis er Bobitis sprechen gelehrt hat?" „Nun, ein paar Monate wird Bobitis schon lernen müssen. Der Preis beträgt zweihundert Rubel monatlich." Der Herr war einverstanden. Er gab dem Diener zweihundert Rubel und hieß ihn Bobitis zu dem Lehrer bringen. Der Diener nahm Bobitis und ging fort. Nachdem er sich weit genug vom Gut entfernt hatte, schlug er den Hund tot, verscharrte ihn in der Erde und kam zurück. Auf dem Gut berichtete er dem Herrn, daß er Bobitis in die Lehre gegeben habe. Nach zwei Monaten fuhr er mit der Kutsche los, um Bobitis abzuholen. Nachdem der Diener zurückgekehrt war, erzählte er dem Herrn, daß Bobitis schon ganz gut spreche, aber noch einen Monat in der Lehre verbleiben müsse. Der Herr gab dem Diener nochmals zweihundert Rubel. Nach einem Monat fuhr er los, um Bobitis endgültig heimzuholen. Bedrückt kehrte der Diener aufs Gut zurück und erzählte, daß Bobitis sehr gut gesprochen und unterwegs auf Fragen gescheite Antworten gegeben habe, so daß es ein Wunder war. Aber als ihn der Hund plötzlich gefragt habe, ob der gnädige Herr noch immer ein Techtelmechtel mit der Köchin habe, da sei er böse geworden und habe Bobitis erschlagen. Er fühle sich zwar schuldig, aber der gnädige Herr möge doch Erbarmen mit ihm haben. Darauf lobte der Herr ihn, gab ihm noch fünfhundert Rubel und sagte: „Es ist gut, daß du diesen Nichtsnutz erschlagen hast! Wenn die gnädige Frau alles von ihm erfahren hätte, was dann? Der blöde Hund hätte das ganze Gut durcheinandergebracht!" 322
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DER SCHLAGFERTIGE ANDRITIS
Zu der Zeit, als die Herren noch machen konnten, was sie wollten, lebte in der Gemeinde Aizsils der schlagfertige Bauer Andritis. Den wollte der gnädige Herr mit aller Gewalt zwingen, das Stubenmädchen vom Gut zu heiraten, aber Andritis meinte: „Nun, wenn der gnädige Herr selbst es nicht mehr heiraten kann, wie soll ich's dann tun?" Aber der gnädige Herr hatte die Hochzeit bereits für den nächsten Sonntag festgelegt und sprach mit Andritis gar nicht mehr davon. Warte nur, dachte Andritis, wenn du's so eilig hast, dann habe auch ich's eilig: In Kurzeme wird irgendwo eine neue Gemeinde errichtet, und dort nimmt man allerlei Leute auf. Am Sonnabend werde ich mich nach dahin aufmachen, und dann kannst du sehen, wo du mit deinem Stubenmädchen bleibst! Nun gut. Aber was geschah jetzt? Schon am nächsten Tag raunte irgendein Schwätzer dem Herrn ins Ohr: „Es heißt, Andritis wird wohl am Sonnabend fortlaufen!" Sofort sattelte der Herr sein Pferd und war im Nu bei Andritis: „Hör mal, du willst fortlaufen? Und was machst du hier? Ist das nicht etwa ein Wanderstock?" „Erbarmen, Herr! Das ist doch ein Zaunpfahl!" „Wenn das ein Zaunpfahl sein soll, warum sind dann beide Enden so spitz?" „Ach so! Das ist eine andere Sache. Seht, ich mache alles auf einmal. Wenn ein Ende des Zaunpfahls verfault ist, dann drehe ich ihn einfach um, stecke gleich das andere Ende in die Erde und brauche keine Axt dazu!" „Nun, dann hast du wohl vor, hier noch lange zu wohnen, wenn du dich darauf einrichtest, daß die Zaunpfahle faulen?" „Das kann man nicht so einfach sagen — unser Leben liegt in Gottes Hand." Der Herr dachte: Was faseln nur die Schwätzer? Er denkt doch gar nicht daran fortzulaufen. Aber vorsichtshalber kann ich ihn ja schon ganz plötzlich am Sonnabend trauen lassen. Nun gut. Am Sonnabend ist Andritis schon nach Kurzeme unterwegs. Unterwegs trifft er den Pfarrer. Wohin Andritis gehe? 21*
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„Zur Kirche!" antwortet Andritis. „Ach so, du kommst also nicht aufs Gut? Der gnädige Herr ließ mir doch mitteilen, daß du diesen Sonnabend auf dem Gut und nicht in der Kirche getraut werden sollst." „Wieso sagt Ihr, daß heute Sonnabend ist? Heute ist Sonntag. Deshalb muß man zur Kirche gehen." „Aber nein, Andritis, heute ist nicht Sonntag, Sonnabend ist heute, Sonnabend!" „Warum seid Ihr nur so eigensinnig? Ich habe mir alle Tage genau gemerkt: Montag schlachtete ich die Ziege, Dienstag zog ich ihr das Fell ab, Mittwoch kochte ich sie, Donnerstag aß ich sie, Freitag heizte ich die Badestube, Sonnabend badete ich. Heute ist Sonntag, und ich gehe zur Kirche. Lebt wohl!" Nachdem Andritis das gesagt hatte, eilte er nach Kurzeme, ließ sich dort nieder und lebte glücklich. Aber als der Herr erfuhr, daß Andritis fortgelaufen war, schrie er: „Ach du, Andritis, ach du, Andritis, wo soll ich nun mein Stubenmädchen lassen ?" 106
WIE DER HERR EIN FOHLEN AUSBRÜTETE
Es war einmal ein Herr, der auf dieser Welt nichts mehr liebte als Pferde. Er wünschte sich innig, Pferde zu haben, wie sie kein anderer besaß. Wenn er hörte, daß irgendwo ein Markt abgehalten wurde, begab er sich schnurstracks dorthin, mochte selbst die gnädige Frau auf dem Totenbett liegen. Einmal ritt der große Pferdeliebhaber wieder zu einem Markt ünd begegnete unterwegs einem Bauern mit einer Fuhre Gurken. Der Herr fragte ihn : „Was hast du in deiner Fuhre?" Der Bauer war ein ganz Schlauer und erwiderte : „Das sind Eier, aus denen man Fohlen ausbrüten kann, wie sie noch keiner hat." Der Herr ließ sich diese Eier zeigen. Er sucht sich das größte aus und fragt : „Wieviel kostet dieses Ei?" Der Bauer, der Schlauberger, antwortet: „Dreihundert Rubel." Der Herr zieht seine Geldbörse aus der Tasche und bezahlt dreihundert Rubel. 324
Beim Fortfahren dreht sich der Bauer nochmals um und schärft dem Herrn ein: „Man muß dieses Ei in einen Topf legen und sich draufsetzen, bis es ausgebrütet ist. Und wenn einen jemand etwas fragt, darf man nur ,tpruh' antworten!" So trennten sie sich, und jeder ging seines Weges. Kaum war der Herr zu Hause angekommen, da setzte er sich auch schon zum Brüten auf den Topf. Die Gnädige fragt ihn zwar, warum er dort so lange hockt, aber er schnauft nur: „Tpruh!" Über eine so unsinnige Antwort ärgerte sie sich sehr, aber da sie weiß, wie ihr Mann ist, läßt sie ihn in Ruhe. Mag er doch hocken. Man bringt ihm Speis und Trank, und sie verliert kein Wort mehr über diese Sache. Der Herr brütet drei Wochen, er brütet vier Wochen, aber es gelingt ihm nicht, etwas auszubrüten. Schließlich ist er schon ganz geschwächt und hat das Brüten satt. Wütend ergreift er den Topf mit dem Inhalt, läuft in den Wald und wirft ihn mitsamt der Gurke auf einen Reisighaufen. Plötzlich rennt ein Hase — wer weiß, wo er herkam — von der anderen Seite des Reisighaufens mit erhobenem Stummelschwänzchen in den Wald. Zwar ruft der Herr ihm nach: „Mein hübsches Tierchen, mein gutes Pferdchen!", aber als der Hase den Lärm hört, rennt er nur noch schneller, bis er endlich im Wald verschwunden ist. Nun begab sich der Herr betrübt nach Hause. Unterwegs traf er wieder den Bauern, von dem er die Gurke für dreihundert Rubel gekauft hatte. Er erzählte ihm, daß er bereits ein Fohlen ausgebrütet habe, wie es keiner besitzt, aber er selber, ein Dummkopf, der er sei, habe es weggeworfen. Der Bauer, der Schlauberger, hörte sich zunächst alles genau an und sagte dann: „So ergeht es allen Dummköpfen, die kein Fohlen auszubrüten verstehen." Daheim berichtete der Herr der Gnädigen von seinem traurigen Schicksal. Als sie nun von der Dummheit ihres Mannes gehört hatte, konnte sie ihn ganz und gar nicht mehr ausstehen.
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107 DER GEIZIGE HERR
Einst lebte ein geiziger Herr; nie ließ er seine Schlüssel zu Hause, und seiner Frau teilte er das Essen stets sparsam zu. Einmal machte ihm der Gutsaufseher den Vorschlag, mit ihm auf die Jagd zu gehen. Ja, er war einverstanden. Der Gutsaufseher nimmt sich Brot mit — der Herr nicht. Sie jagten und jagten, hatten aber kein Glück. Der Herr sagt: „Es lohnt sich nicht! Gehen wir nach Hause — ich habe Hunger!" Aber der Gutsaufseher war ein ganz Schlauer. Er ging voran und führte den Herrn immer tiefer in den Wald, bis sie sich verirrten. Sie gingen und gingen, und der Herr war so hungrig, daß er nicht mehr aus noch ein wußte; aber der Gutsaufseher beruhigte ihn: „Wartet nur, wartet noch ein wenig!" Schließlich überkam den Herrn mitten im Wald eine solche Schwäche — er hatte doch den ganzen Tag nichts gegessen —, daß er stehenbleiben mußte. Der Gutsaufseher kletterte auf einen Heuschober; aber der Herr war so matt, daß er nicht hinaufkam und unten bleiben mußte. Der Gutsaufseher verzehrte oben sein Brot. Da fragte der Herr : „Was ißt du dort? Gib mir auch etwas!" „Was soll ich denn geben? Ich esse doch Heu vor Hunger!" „Ach, du ißt Heu! Wie schmeckt denn das Heu?" „Wie soll es schon schmecken ? Euch, gnädiger Herr, der Ihr nur Braten gewöhnt seid, wird es bestimmt nicht munden." Nachdem der Gutsaufseher sich satt gegessen hatte, kletterte er vom Heuschober herunter und ging weiter. Der Herr folgte ihm. Sie gingen und gingen, und schließlich erblickten sie ein Haus. Der Gutsaufseher sagte: „Vielleicht wird man uns in diesem Haus zum Essen einladen, wer weiß? Gehen wir hinein. Aber wenn man uns einlädt, dann setzt Euch nur nicht gleich an den Tisch — das sieht schlecht aus und ist hier nicht üblich. Erst wenn man Euch zum dritten Mal zu Tisch bittet, tut es!" Nun gut. Sie gingen hinein. Soeben hatte der Bauer mit seinem Gesinde Abendbrot gegessen. Die Bäuerin stellte andere Teller auf den Tisch und lud die Gäste ein: 326
„Nehmt Platz!" Der Gutsaufseher setzte sich gleich an den Tisch, aber der Herr dachte: Na gut, man hat uns ja erst einmal aufgefordert. Und er blieb stehen. Noch einmal sagte die Bäuerin: „Gnädiger Herr, kommt doch und schämt Euch nicht!" Doch er erwiderte: „Vielen Dank, aber ich habe keinen Hunger." Die Bäuerin dachte: Zu sehr kann man einen solchen Herrn auch nicht behelligen, vielleicht verärgere ich ihn noch; wer weiß, ob er unser Essen überhaupt mag — lieber laß ich's sein! Und so blieb es dann auch. Nur den Gutsaufseher forderte sie immerzu auf: „Iß nur tüchtig, habe keine Angst, schäme dich nicht!" Der Gutsaufseher ließ es sich schmecken, und die Bäuerin räumte das Geschirr ab: Brot und Löffel legte sie in den Schrank, aber den Topf mit der dicken Grütze, die übriggeblieben war, stellte sie auf den Schrank. In der Nacht, als alle schliefen, weckte der Herr den Gutsaufseher : „Ich habe entsetzlichen Hunger!" „Ach, gnädiger Herr, oben auf dem Schrank hat die Bäuerin gestern abend die dicke Grütze hingestellt — eßt doch die!" „Ja, wo ist die denn? Ich kann sie im Dunkeln nicht finden." „Macht nichts, ich habe ein Garnknäuel; ich werde ein Fadenende an dem Topf befestigen und den Faden bis hierher spannen. Dann geht immer am Faden entlang, und dann werdet Ihr den Topf schon finden." Gut! Das wäre ja alles schön! Aber was machte der Gutsaufseher, der Gauner: Er band das Ende des Fadens nicht an den Topf mit der dicken Grütze, sondern an den Trog, in dem soeben der Sauerteig angerichtet war, u i d das andere Ende befestigte er an dem Bett, in dem der Bauer und die Bäuerin schliefen. Der Herr schlich nun am Faden entlang, aber der Gutsaufseher flüsterte: „Wenn Ihr satt seid, bringt mir auch einen Klumpen von der dicken Grütze." Der Herr kroch zu dem Trog hin und aß sich am Sauerteig satt; zuletzt nahm er einen tüchtigen Klumpen Sauerteig für den Gutsaufseher, aber während er am Faden entlangschlich, gelangte er nicht zum Gutsaufseher, sondern zum Bett des Bauern, warf dem Schlafenden den Sauerteig ins Gesicht und sagte: 327
„ H i e r , Aufseher, iß nur, iß, ich habe schon g e g e s s e n ! " A l s der Gutsaufseher das hörte, sagte e r : „ W o kriecht Ihr nur herum? D o r t ist doch nicht mein Bett, kommt hierher!" G a n z unglücklich kam der Herr zum Gutsaufseher: „ A c h , ich bin v ö l l i g durcheinander! A b e r s a g ' d o c h , Gutsaufseher, w o soll ich jetzt meine mit dicker Grütze beschmierten Hände abwaschen?" „Schaut nur, hier auf dem Tisch steht ein Wasserkrug, wascht Eure H ä n d e d a r i n ! " „ N e i n , nein, das geht nicht, gieß du mir das Wasser über die Hände!" „ W o z u soll man zu nachtschlafender Zeit das Wasser erst noch gießen? Steckt die Hände in den K r u g und zieht sie schnell wieder heraus, dann werden sie sauber sein." N u n gut, er steckte zwar die H ä n d e in den K r u g , aber herausziehen konnte er sie nicht mehr, denn sie waren steckengeblieben. Jetzt riet der Gutsaufseher dem H e r r n : „ A u f der T e n n e ist ein Birkenklotz, geht hinaus und schlagt den K r u g gegen den K l o t z . Er wird zerbrechen, und Eure H ä n d e werden frei sein." D e r H e r r ging zur Tenne und erblickte etwas Weißes. Er dachte: Das ist w o h l der Birkenklotz, und er schlug dagegen. A b e r es war nicht der K l o t z , sondern die Bäuerin, die hinausgegangen war, um sich ein frisches H e m d anzuziehen, weil der Herr ihr H e m d mit d e m Sauerteig beschmutzt hatte. A l s die Bäuerin einen Schlag auf den Rücken erhielt, schrie sie a u f : „ M e i n lieber, guter M a n n , warum schlägst du m i c h ? " D e r Herr erschrak furchtbar und lief z u m Gutsaufseher: „ M a c h e n w i r , d a ß wir f o r t k o m m e n , hier spukt e s ! " U n d so suchten beide das Weite. U n d von dieser Z e i t an ließ der Herr v o n seinem G e i z ab. 108 WIE ES EINEM HERRN BEIM LÜGEN E R G I N G Ein Herr hatte sieben Bauern, die ebenso reich waren w i e er selbst. U n d einer der Bauern hatte sich einmal ein prächtiges P f e r d gekauft. D e r H e r r wollte ihm nun dieses P f e r d abkaufen, aber der Bauer w o l l t e d a v o n nichts wissen. D a r a u f sagte der Herr:
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„Weißt du was, wir werden lügen. Was du sagst, werde ich für bare Münze nehmen, und was ich sage, mußt du für bare Münze nehmen." Und so wetteten sie miteinander. Der Herr legte hundert Rubel hin, und der Bauer bot dafür sein prächtiges Pferd; wer von beiden den größten Unsinn sprechen und den anderen in Grund und Boden reden würde, der sollte die hundert Rubel und das Pferd haben. Nun gut. Sie überlegten sich die ganze Nacht, was sie einander am nächsten Morgen vorlügen sollten. Am anderen Morgen sagt der Bauer zum Herrn: „Lügt Ihr!" Der Herr antwortet: „Lüge d u ! " Schließlich hält der Herr als erster eine lange Rede: „In dieser Stadt herrschte eine schreckliche Hungersnot. Sieben Jahre lang gab es weder Brot noch Grütze, es gab einfach gar nichts. Da kam ein Sperling geflogen, der einen Mühlstein auf dem Rücken trug. Der Mühlstein fiel herunter und zersprang. N u n hatte man sieben Jahre lang alles, um Grütze zu kochen und Brot zu backen." Der Bauer sagte: „Ja, gnädiger Herr, das stimmt!" Nun begann der Bauer zu lügen: „Ja, gnädiger Herr, so war das einst in alten Zeiten. Im Garten meines Vaters war damals ein riesengroßer Kohlkopf bis in den Himmel gewachsen, ich kletterte an ihm empor in deil Himmel, und dort waren auch Märkte und Wirtshäuser." Der Herr rief : „Das stimmt! So war es!" Der Bauer sagte: „Und mein Vater hatte einen großen Bock, dessen Hörner bis in den Himmel ragten, und einen so kleinen Stall wie diesen Stuhl hier. Aber die Mägde hatten den Bock aus dem Stall herausgelassen, und er fraß den Kohlkopf auf. Ja, nun war der Kohlkopf hin — der Bock hatte ihn gefressen. Was nun? Ich konnte mit dem Kohlkopf nicht mehr zum Markt, um ihn zu verkaufen. Ich ging zur Getreidedarre, dort worfelte man saure Milch. Ich kaufte die geworfelte Milch für eine Mark und begann daraus einen Strick zu drehen. Ich hätte gern mehr Milch gekauft, aber mehr war nicht vorhanden; wenn ich nur welche für drei Groschen bekommen hätte, das hätte dann gereicht. Ich ging ins Gebüsch, schnitt mir Haken ab und drehte 329
aus der geworfelten Milch einen Strick. Von oben drehte ich ihn, und von unten heftete ich ihn fest. Plötzlich reißt der Knoten, und nun falle und falle ich — und mitten in einen Steinhaufen: Die Beine stecken bis zu den Knien drin. Aber ich lasse sie ruhig stecken und laufe heim nach einer Axt, um meine Beine aus den Steinen herauszuhacken. Bevor ich zurück bin, das versteht Ihr bestimmt, gnädiger Herr, hat ein großer Hund meine Beine gefaßt und rennt davon. Nun werfe ich mit der Axt nach dem Hund und spalte seinen Magen; und aus dem Hundemagen fiel ein Buch heraus." Der Herr fragte: „Konntest du denn lesen, was in dem Buch stand?" Der Bauer erwiderte: „Warum denn nicht? Natürlich konnte ich lesen! Dort stand, daß Euer Vater die Schweine meines Vaters gehütet hat." Als der Herr das hörte, gab er dem Bauern eine Ohrfeige: „So, du Frechdachs, so hat mein Vater die Schweine deines Vaters gehütet!" Aber der Bauer hatte nun die Wette gewonnen, und er nahm sich die hundert Rubel und sein Pferd, denn der Herr hatte sich geärgert und alles Gesagte für bare Münze genommen. 109
DIE K L U G E TOCHTER
Einst lebte ein Herr. Er hatte einen Bauern, der ihm Arbeiter aufs Gut schicken mußte. So schickte der Bauer seine beiden Söhne und manchmal seine Tochter zu ihm. Aber diese Tochter war sehr klug, deshalb ging sie selten aufs Gut arbeiten, sondern saß meistens nur zu Hause. Einmal ging der Herr zu dem Bauern und fand die Tochter allein zu Hause. Daher fragte er sie: „Wo ist dein Vater?" Die Tochter antwortete ihm: „Er ist in die Stadt gefahren, um das zu holen, wovon der Mund schief wird — Der Herr verstand die Worte der Tochter nicht, aber er fragte nicht weiter und tat so, als hätte er alles begriffen. Nun fragt der Herr : „Wo ist deine Mutter?" Die Tochter erwidert: „Sie ist weinend unterwegs, um ihn zurückzuholen." 330
Und wieder versteht der Herr nicht, was das bedeutet. Darauf fragt er: „Wo sind deine Brüder?" Die Tochter antwortet: „Sie gingen, um das Alte zu fallen, damit das Neue wächst." Und wieder versteht der Herr nicht, was das bedeutet. Jetzt meint der Herr: „Wenn dein Vater zurück ist, dann sage ihm, daß er zu mir kommen soll." Als der Vater heimkehrt, erzählt ihm die Tochter, daß der Herr hier gewesen sei und gesagt habe, daß er sich gleich nach seiner Rückkehr zu ihm aufs Gut begeben solle. Der Vater geht sofort zum Herrn aufs Gut und läßt sich melden. Der Herr fragt ihn: „Wo warst du heute? Ich war bei dir und fand dich nicht zu Hause." „Ich war in der Stadt, um Salz zu kaufen." Darauf fragt der Herr: „Und wo war deine Frau?" „Meine Frau war zur Beerdigung ihres Bruders." Der Herr fragt weiter: „Und wo waren deine Söhne?" Der Vater antwortet: „Sie waren im Wald Holz fällen." Jetzt sagt der Herr: „Hier hast du zwanzig gekochte Eier, bringe sie deiner Tochter und sage ihr, daß sie so lange auf den Eiern hocken soll, bis sie kleine Küken ausgebrütet hat." Der Vater geht nach Hause und sagt, daß die Tochter ihm großen Kummer bereitet habe. Sie fragt ihn, was für einen Kummer sie ihm denn bereitet habe. Der Vater sagt es ihr und gibt ihr die Eier, damit sie nun die Küken ausbrütet. Aber die Tochter merkt, daß die Eier gekocht sind, sie nimmt sie und ißt sie alle auf. Darauf nimmt sie eine Handvoll Weizen, gibt ihn dem Vater und sagt, daß er ihn dem Herrn bringen soll, damit er ihn aussät und dafür sorgt, daß er in zwei Wochen reif ist und Grütze daraus macht, denn dann sind die Küken ausgebrütet und werden Hunger haben. Der Vater geht zum Herrn, berichtet ihm, was die Tochter gesagt hat, und gibt ihm die Handvoll Weizen. Jetzt sagt der Herr, daß die Tochter die Eier aufessen soll. Er 331
gibt dem Vater eine Handvoll Flachs und sagt, daß die Tochter daraus Hemden für seine Knechte weben solle. Der Vater bringt die Handvoll Flachs nach Hause, gibt den Flachs der Tochter und berichtet ihr, was der Herr gesagt hat. Die Tochter nimmt den Flachs und wirft ihn ins Feuer. Dann reißt sie aus dem Besen eine Rute, gibt sie dem Vater und sagt, daß er sie dem Herrn geben und ihm sagen solle, daß er daraus einen Webstuhl machen möge, denn sie haben keinen Webstuhl, um so viele Hemden zu weben. Der Vater geht zum Herrn, gibt ihm die Rute und erzählt ihm, was die Tochter gesagt hat. Nun ist der Herr überrascht und spricht: „Geh heim, doch sage diesmal deiner Tochter, daß sie zu mir zu Besuch kommen soll, aber weder zu Pferde noch zu Fuß, weder nackt noch angezogen, weder mit einem Geschenk noch ohne ein Geschenk." Der Vater ist sehr traurig, denn er weiß, daß das nicht geht. Aber die Tochter erwidert, daß ihr das gar nichts ausmacht, sie wird schon zu Rande kommen. Sie läßt die Brüder eine lebende Krähe und einen Hasen fangen. Dann zieht sie sich nackt aus, wickelt ein Netz um ihren Körper, steckt die Krähe in eine Achselhöhle und den Hasen in dje andere, steigt auf eine Ziege, packt sie an den Hörnern, und auf geht es zum Gut. Als sie schon beinahe am Gut war, befahl der Herr, Hunde loszulassen, damit sie die Tochter zerfleischen, aber sie ließ ihren Hasen los, und die Hunde jagten diesem hinterher. Die Tochter begab sich zum Herrn ins Schloß und war dabei, dem Herrn die Krähe als Geschenk zu überreichen. Aber kaum wollte er den Vogel in Empfang nehmen, da ließ die Tochter die Krähe los, und sie flog zum Fenster hinaus. Der Herr sprach: ,,Du bist viel zu klug, als daß ich dir etwas zuleide tun könnte, und daher gefällst du mir. Deshalb bitte ich dich um deine Hand, aber nur unter der Bedingung, daß du als meine Frau mich nie im Reden übertreffen darfst, wenn ich etwas sage. Ebenso werde ich dich nie im Reden übertreffen, wenn du etwas sagst. Und wer von uns beiden sich nicht an diese Abmachung hält, der muß das G u t verlassen." So lebten sie eine lange Zeit in Eintracht miteinander. Einmal hatten sich in der Nähe des Gutes drei arme Schlucker eingefunden: Einem von ihnen gehörte eine Stute, dem anderen Räder, und der dritte hatte einen Wagen. Aber da bringt 332
die Stute ein kleines Füllen zur Welt, und die drei beginnen zu streiten und zu behaupten, daß das Füllen von den Dingen geboren worden ist, die jedem von ihnen gehören. Weil sie sich aber nicht einigen können, beschließen sie, zum Herrn zu gehen, damit er den Streit schlichtet. Und der Herr sagt: „Fahrt hinauf auf den Berg, und dann mag jeder seinen Gegenstand hinunterrollen lassen: Wessen Sache das Füllen nachläuft, dem gehört es." Und so taten's denn auch die Armen — sie stellten die Gegenstände hin, ließen die Stute los, aber sie begann sofort Gras zu fressen. Dann ließen sie die Räder los, sie rollten hinab, und das Füllen, das gewohnt war, Rädern hinterherzulaufen, rannte ihnen nach. Nun begann wieder ein heftiger Streit, denn der, dem die Stute gehörte, ließ es nicht zu, daß man ihm das Füllen fortnahm. Sie beschlossen, noch einmal zum Herrn zu gehen. Da aber der Herr nicht zu Hause war, wandten sie sich an die Gnädige selbst und erzählten ihr, worum es gehe und daß sie wissen wollten, wer eigentlich das Füllen geboren hat. Darauf sagt die Gnädige: „Wie kommt ihr überhaupt auf den Gedanken, daß eine unbelebte Sache ein Füllen zur Welt bringen kann? Die Stute hat das Füllen geboren, und wem die Stute gehört, dem gehört auch das Füllen." Als der Herr heimkehrte, erfuhr er, was die Gnädige mit den Armen gemacht hatte. Da sagte er: „ D u hast dich nicht an unsere Abmachung gehalten, und deshalb mußt du jetzt das Gut verlassen, aber da du mir eine sehr gute Frau gewesen bist, gestatte ich dir, daß du dir das von meinen Sachen aussuchst, was du dir am meisten wünschst und was dir das Liebste ist." Die gnädige Frau bereitete nun einen Abschiedsabend. Sie machte den Herrn trunken, befahl dem Kutscher, Pferde vor die Kutsche zu spannen, hob den Herrn in die Kutsche, stieg ein und fuhr los. Auf halbem Wege wachte der Herr auf und fragte, wohin sie führen. Darauf erwiderte die Frau, daß sie fortfährt und das mitnimmt, was ihr das Liebste ist. Nun erkannte der Herr, daß er eine sehr treue und liebe Frau hatte. Deshalb befahl er, die Pferde umzulenken und zum Gut zurückzufahren. Von diesem Tage an begann die glücklichste Zeit ihres Lebens. 333
110 DER HERR UND DER SCHWEINEHIRT
Beim Spazierengehen tritt ein Herr an einen Schweinehirten heran und fragt ihn: „Junge, was macht dein Vater?" „Mein Vater macht aus zwei Wegen einen." „Aus zwei Wegen einen? Wie macht man das?" „Das ist aber ein dummer Herr! Er weiß nicht, wie man aus zwei Wegen einen macht! Dabei macht er es doch selbst auch!" „Ach so! Aber was macht deine Mutter?" „Sie hat soeben das gegessene Brot abgegeben." „Das gegessene Brot abgegeben? Wie das?" „Das ist aber ein dummer Herr! Er weiß nicht mal, daß man heute das zurückgibt, was man sich gestern geliehen hat!" „Ach so! Zurückgibt, aber was macht denn deine verheiratete Schwester?" „Vergangenes Jahr hatte sie Freuden und dieses Jahr Leid." „Wieso?" „Das ist aber ein dummer Herr, der nicht mal das weiß! Nun, vergangenes Jahr hat sie doch Zwillingen das Leben geschenkt — sind das keine Freuden? Und dieses Jahr, siehst du, da hat sie nicht mal Brot zum Essen — ist das nicht Leid?" „Ach so! Du bist ein schlagfertiger Junge! Aber sag mal, warum beschimpfst du mich, ich sei dumm? Dafür mußt du mit mir aufs Gut kommen und Prügel beziehen." Nun gut. Pfeifend geht der Junge mit. Sie kommen aufs Gut. Der Herr ist sehr ärgerlich: Wie wagt es nur jemand, ihm vor der Nase so zu pfeifen? Der Diener soll die Hunde auf diesen unverschämten Kerl hetzen. Der Diener läßt die Hunde los. Nun trug aber der Junge stets ein kleines Häschen unterm Arm. Kaum stürzen die Hunde auf ihn, da läßt er das Häschen los. Ach, du barmherziger Gott, nun jagen die Hunde wie verrückt dem Hasen hinterher. Der Junge aber lacht. Da wird der Herr noch zorniger. Man soll den frechen Kerl in den Keller sperren und gute Ruten holen. Der Diener stößt den Ärmsten in den Keller hinunter und läuft in den Birkenhain nach Ruten. Doch lustig pfeifend reißt der Junge aus einem großen Weinfaß den Zapfen heraus: Der Wein ergießt sich in Strömen über den Fußboden. Als der Diener zurückgelaufen kommt, erblickt er das Unheil, drückt sofort seinen Finger in das Spundloch und ruft: 334
„Gib den Zapfen her, gib den Zapfen her!" Aber der Junge wirft sich inzwischen ein Stück Fleisch über den Rücken, legt seinen Rock darüber, so daß man nichts entdecken kann, und eilt davon. Der Herr schaut aus dem Fenster, sieht den Jungen mit einem Buckel und lacht schadenfroh: „Hat der Bengel aber tüchtige Prügel bekommen — der ganze Rücken ist krumm!" in DER ILTIS H A T D E N H E I L I G E N GEIST A U F G E F R E S S E N !
Einst verbreitete ein Geistlicher von sich den Ruf, daß er sehr heilig sei. Um seine Heiligkeit zu beweisen, dachte er sich den folgenden Scherz aus: Er ließ den Küster eine Taube fangen, ihr die Flügel zusammenbinden und sie auf den Kirchenboden bringen. In das kleine Dach der Kanzel war ein Loch gemacht worden, durch das die Taube hindurchgelassen werden sollte. Am Sonntag verkündete der Geistliche von der Kanzel, daß sich am kommenden Sonntag der Heilige Geist über ihm niederlassen werde, und wer das sehen wolle, der solle an diesem Tag zur Kirche kommen. Am nächsten Sonntag war die Kirche brechend voll. Natürlich! Der Geistliche hatte kaum die Kanzel bestiegen, da begann er schon mit seiner Heiligkeit zu prahlen. Endlich kam er zur Predigt, und nun hätte der Heilige Geist auf ihn herniederfliegen müssen. Der Geistliche dehnte die letzten Worte seiner Predigt wer weiß wie lang und wartete, daß der Küster die Taube hinunterfliegen ließ, aber es geschah nichts. Da nun die Taube nicht kam, fing er an zu rufen: „Heiliger Geist, so laß dich doch nieder, Heiliger Geist, so laß dich doch nieder!" Aber umsonst! Der Küster war in großen Nöten, denn in der Nacht hatte ein Iltis die Taube verschlungen. Zwar rief der Küster dem Geistlichen zu, daß der Iltis den Heiligen Geist aufgefressen habe, aber der Geistliche schrie mit immer lauterer Stimme: „Heiliger Geist, so laß dich doch nieder, Heiliger Geist, so laß dich doch nieder!" Der Küster hielt es nicht mehr aus, er nahm die übriggebliebenen Federn der Taube und warf sie auf den Geistlichen: 335
„Ich habe dir doch gesagt, daß der Iltis den Heiligen Geist aufgefressen hat!" Die Kirchgänger sahen die Taubenfedern durch die Luft fliegen und hätten den Geistlichen tatsächlich für heilig gehalten, wenn er nicht angefangen hätte, den Küster zu verfluchen, und so seinem Ruf selbst Schaden zufügte. Nun war es allen klar, daß der Geistliche sie hatte beschwindeln wollen, und von diesem Tag an glaubte ihm kein Mensch mehr. 112 GIB MIR MEINE G R O S C H E N
WIEDER!
Einst lebte ein armes Männlein in der Badestube eines reichen Bauern. Da geschah es, daß der Arme ein Kind taufen lassen mußte, aber nicht einen lumpigen Groschen für den Pfarrer hatte. Der reiche Bauer lieh ihm sieben Groschen, um das Kind taufen zu lassen. Das Männlein dachte: Das ist wirklich gut! Aber es war keineswegs gut. Nach einer Woche ist der Bauer in der Badestube: „Gib mir meine Groschen wieder!" Zum Glück lag das Männlein gerade im Bett und rettete sich mit der Lüge, daß es krank sei und nicht verdienen könne. Deshalb möge der Bauer noch eine Woche Geduld haben. Die Woche vergeht, und das Männlein weiß: Der Bauer wird kommen, um das Geld zu holen. Was nun? So beschließt das Männlein, sich Totenkleider anzuziehen, auf den Boden der Badestube zu steigen und sich in den Sarg zu legen, als ob er tot wäre. Tatsächlich — es ist noch nicht Mittag —, da ist auch schon der Bauer zur Stelle und will das Geld haben: „Wo ist der Mann?" Die Frau wundert sich: „Wißt Ihr es denn noch nicht? — Mein Mann ist gestorben, er liegt auf dem Boden der Badestube." Der Bauer glaubt das nicht: „Das stimmt nicht!" Und er steigt auf den Boden, um den Verstorbenen zu sehen. Er scheint wirklich tot zu sein. Er liegt, in ein weißes Laken gehüllt, mit einer weißen Mütze auf dem Kopf und mit gefalteten Händen, ganz wie ein Toter, nür das Gesicht sieht nicht 336
danach aus. Wie bei einem Müller ist das Gesicht von Mehl staubig oder mit Mehl bestreut — wer kann's wissen? Damit es wie bei einem Toten aussieht, deshalb wohl das Mehl. Nun lüftet der Bauer das Laken, nimmt einen Roggenhalm und berührt damit die Lippen des Verstorbenen, um zu sehen, ob er heute Brot gegessen hat. Er tut es nochmals, und da bewegen sich auch schon die Lippen. Der Bauer berührt sie noch ein zweites und ein drittes Mal, da beginnt der Tote sich die Lippen zu reiben und erhebt sich: Der Bauer soll noch eine Woche auf die Groschen warten. Es vergeht eine Woche. Nun wird es das Männlein klüger anfangen. Er buddelte sich auf dem Friedhof ein und sagte der Frau, sie soll dem Bauern mitteilen, daß ihr Mann beerdigt und längst gestorben sei. Ja, und nun erscheint der Geizkragen also wieder: „Wo ist der Mann?" „Auf dem Friedhof, längst beerdigt, längst gestorben!" „Soso! Also ist er wirklich gestorben? Nun, wurden denn auch die Glocken zur Beerdigung geläutet?" „Wie soll man die Glocken läuten lassen, wenn man kein Geld hat?" „Nun, dann muß das schnell nachgeholt werden!" Kaum hatte er das gesagt, da ging er auch schon zum Grab des Männleins und begann zu brummen: „Bimbam, Bimbam!" Über das Grab war nur eine dünne Erdschicht mit Tannenzweigen geschüttet, und darunter lag das Männlein und dachte: Das ist der verrückte Bulle des Nachbarn, der hierhergerannt ist und nun brüllt. Wenn er nur nicht aufs Grab trampelt und mir mit der Erde auf den Kopf fällt! Ich springe lieber hoch. Das Männlein sprang also aus dem Grab und lief dem Bauern geradewegs in die Arme: Er solle noch eine Woche warten. „Schon gut, aber mach nicht solchen Blödsinn und versteck dich nicht!" Auch diese Woche vergeht, und das Männlein hat noch keine sieben Groschen verdient. Was nun? Er begibt sich in die Leichenkammer, legt sich in einen Sarg und läßt durch seine Frau ausrichten, daß er nun tatsächlich tot sei. Aber der Bauer glaubt's nicht mehr und macht sich zur Leichenkammer auf. Doch dem Männlein war inzwischen das Glück hold. Drei Mörder hatten sich hier bei Anbruch der Dunkelheit eingefunden, um ihr Geld zu zählen. Sie teilten es in drei 22
Lettische Volksmärchen
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Haufen — für jeden einen Haufen. Unglücklicherweise war aber ein Taler übrig. Wer sollte den bekommen? Der eine wollte ihn, der andere wollte ihn. Die Mörder begannen zu streiten. Zuletzt beschließen sie, daß der Taler demjenigen gehören soll, der mit seinem Schwert auf einen Streich den und den Sarg durchhaut. Als das Männlein das hört, erschrickt er: Dann ist ja mein letztes Stündlein gekommen! Und er fing an zu schreien: „Nicht mal den Toten gönnen diese fetten Kerle R u h e ! " Die Mörder erschraken über den Schrei so sehr, daß sie das Geld liegenließen und das Weite suchten. Bald darauf betritt der Bauer die Leichenkammer und sieht: Das Männlein ist ja gar nicht gestorben, sondern zählt Geld. Aber das Männlein springt dem Bauern vor Freude entgegen: „Komm nur, komm, du Pfennigfuchser! Hier hast du deine Groschen!" Das Männlein gab dem Bauern die Groschen zurück, die er ihm schuldete, aber wo er das übrige Geld hineinschütten sollte, wußte er nicht. Da richtet er seine Augen nach oben und sieht: Jemand späht durch das Fensterchen. Das war einer der Mörder, der heimlich zurückgekommen war, um nachzuschauen, wo das Geld geblieben war. Da reißt mein Männlein - - schwupps! — dem Lauernden die Mütze vom Kopf, schüttet das Geld hinein und schleppt es nach Hause. Nun war das Männlein ebenso reich wie der reiche Bauer. 113
WIE KOMMT DENN DAS?
Es war einmal ein Bauer, und dieser Bauer hatte einen Knecht. Der Bauer überlegte hin und her, wie er dem Knecht noch mehr Arbeit zuweisen und ihm noch schlechter zu essen geben kann. Er arbeitete selbst mit und rief den Knecht nur dann zum Essen, wenn er's selbst vor Hunger nicht mehr aushielt. Der Bauer aß das weiche Brot, aber dem Knecht gab er nur die Rinden. Doch der Knecht war kein dummer Mann, und er sann darauf, wie er dem Bauern eine Lehre erteilen könnte. Als beide eines Tages tüchtig gearbeitet hatten, sagte der Bauer zum Knecht: „Ich habe Hunger!" Aber der Knecht antwortete: „Ein Wunder, ich mag noch gar nicht essen!" 338
„Wie kommt denn das?" fragt der Bauer. „Ich habe mich an den Brotrinden satt gegessen; solange sie im Bauch nicht aufgeweicht sind, hat man keinen Hunger." Gut, daß ich das weiß, dachte der Bauer, ich werde von nun an die Brotrinden essen, damit ich schön lange arbeiten kann. Das Weiche soll dieser Nichtsnutz von Knecht bekommen! Tatsächlich! Nun gab der Bauer dem Knecht nur noch weiches Brot zu essen und aß selbst die Rinden. Wieder verging einige Zeit. Da sagt der Bauer einmal, nachdem sie tüchtig gearbeitet haben, zu dem Knecht: „Ich habe Hunger!" Aber der Knecht antwortet: „Ein Wunder, ich mag noch gar nicht essen!" „Wie kommt denn das?" fragt der Bauer. „Ich habe mich an weichem Brot satt gegessen", antwortet der Knecht, „und weiches Brot klebt im Bauch wie Lehm zusammen; solange es nicht aufgeweicht ist, ist man ganz satt." Jetzt verstehe ich, denkt der Bauer, man muß beides essen — das Weiche und die Brotrinden. Das wird am gescheitesten sein. Und von nun an bemühte sich der Bauer nicht mehr, dem Knecht den schlechtesten Teil des Brotes zu geben. 114 GUTE RATSCHLÄGE
Einst verdingte sich ein Bursche für guten Lohn als Knecht bei einem Bauern. Er mußte sich verpflichten, allen Befehlen des Bauern Folge zu leisten. Der Bursche wiederum bot dem Herrn an, ihm im Bedarfsfall gute Ratschläge zu erteilen. Anfangs ging auch alles ganz gut. Inzwischen war die Zeit der Heumahd gekommen. Die Waldwiesen des Bauern waren vier Werst vom Hof entfernt. Auch die Nachbarn hatten dort ihre Wiesen. An einem schönen Abend erzählt der Bauer seinem Knecht, daß sie sich morgen früh ganz zeitig zu den Wiesen aufmachen wollten, denn auch die Nachbarn würden morgen mit der Heumahd beginnen. „Aber wir müssen vor ihnen dort sein!" Doch zum Unglück hatte es der Bauer am Morgen verschlafen, und als er aufstand, sah er die Nachbarn aufbrechen. Geschwind rief er den Knecht und fragte ihn: 22»
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„Sag mal, Mikelis, wie können wir möglichst schnell auf der Wiese sein?" Mikelis rieb sich die Augen und sagte: „Nun, ich könnte dir hierbei einen guten Rat geben. Du, Bauer, tu so, als ob du ein Hase wärest, und ich werde so tun, als ob ich ein Hund wäre. Du rennst los, und ich jage dir hinterher, und so werden wir im Nu dort sein." Der Bauer nahm noch schnell die Sense, und der Knecht rannte kläffend hinterher. Und tatsächlich, sie waren vor den Nachbarn auf der Wiese. Dort blieb der Bauer stehen und sagte zu Mikelis: „Das war wirklich ein guter Rat." Aber kaum hat der Bauer das gesagt, da merkt er, daß der Knecht keine Sense hat, und erstaunt fragt er: „Wo ist deine Sense?" Der Knecht antwortet langsam: „Seit wann hat denn ein Hund eine Sense?" Darauf sagt der Bauer freundlich: „Dann hol dir deine Sense, ich werde allein mähen, bis du zurück bist." Der Knecht geht darauf in aller Ruhe nach Hause, um die Sense zu holen. Aber während der Bauer inzwischen mäht, überlegt er, wie er es dem Knecht heimzahlen kann. Es ist Frühstückszeit, die Nachbarn setzen sich und frühstücken, aber Mikelis und der Bauer haben nichts zu essen. Nun sagt der Bauer zu Mikelis: „Wollen wir uns auch setzen und frühstücken." Aber Mikelis antwortet: » „Was sollen wir denn essen?" Darauf holt der Bauer einen Strick hervor und zeigt ihn Mikelis. Dann hebt er den Strick zum Mund: „Nun werden die Nachbarn denken, daß wir ebenfalls essen." Und Mikelis macht es ebenso. Als die Nachbarn gegessen und sich ausgeruht haben, erhebt sich auch unser Bauer, und alle fangen wieder zu mähen an. Doch während der Bauer ein wenig schlummerte, nahm Mikelis das Sensenblatt aus dem Stiel heraus. Als der Bauer am Heuschwaden stand, rief Mikelis: „Jetzt wollen wir tüchtig mähen und uns nicht umschauen!" Der Bauer war darüber sehr erfeut und mähte aus Leibeskräften, aber der Knecht machte sich mit dem Stiel seiner Sense hinter dem Rücken des Bauern zu schaffen, als ob er dem Bauern 340
drohe, ihn mit der Sense ins Bein zu treffen. Schließlich war der Bauer müde und sagte: „Mikelis, mähe nicht so dicht hinter mir." „Ich beeile mich doch nur", erwiderte Mikelis. Als das Ende der Wiese erreicht war, drehte sich der Bauer um und sah, daß der Knecht kein Sensenblatt am Stiel hatte. Er sagte: „Was ist das für ein Mähen ohne Sensenblatt?" Aber Mikelis antwortete: 9 „Macht nichts, die Nachbarn denken doch auch so, daß ich mähe." Am nächsten Tag gingen sie wieder auf die Wiese und mähten bis zum Frühstück. Die Bäuerin brachte ihnen zum Frühstück dicke Grütze, und mitten in der Grütze war eine tüchtige Delle voll zerlassener Butter. Kaum hatten sie zu essen begonnen, da sagte der Bauer zur Bäuerin: „Weißt du, Frau, als wir anfingen zu mähen, da sah es so aus, als wäre auf der Wiese ein solcher Graben." Während er diese Worte sprach, machte er in der dicken Grütze von der Butterdelle bis zu seinem Rand einen kleinen Graben, so daß die ganze Butter auf seine Seite floß und für den Knecht nichts übrigblieb. Als der Knecht das bemerkte, seufzte er und sagte: „Genau wie's seit alten Zeiten geschrieben steht, als man den Turm zu Babel errichtete. Damals hatten die Menschen vor, den Turm bis in den Himmel zu bauen, aber Gott war darüber erzürnt und brachte ihre Sprache durcheinander, so daß sie einander nicht mehr verstanden. Und damit war der Turmbau beendet. Siehst du, so wurde die Sprache durcheinandergebracht." Darauf nahm er den Löffel und vermengte die dicke Grütze mit der Butter kreuz und quer. Beleidigt zahlte der Bauer dem Knecht seinen Lohn aus und entließ ihn mit den Worten: „Du bist klüger als ich." 115
DIE RATSCHLÄGE DES VATERS
Ein Vater, der im Sterben lag, erteilte seinem Sohn drei Ratschläge: „Geh nicht zu häufig zu Besuch, sonst wird man beginnen, dich zu mißachten; tausche auf dem Markt keine Pferde, sonst 341
wirst du zu Fuß gehen müssen; heirate keine Frau aus der Ferne, denn es wäre eine schlechte Frau für dich." Der Sohn nickt mit dem Kopf und behält diese Ratschläge in seinem Herzen. Nach dem Tode des Vaters denkt er: Ich muß die Ratschläge meines Vaters überprüfen. Nun gut. Er geht zu Besuch. Beim ersten Mal bewirtet man ihn mit Gebäck, auch beim zweiten Mal läßt man es an nichts fehlen, beim dritten Mal ist man schon kühler, beim vierten Mal ist's halt, wie's so ist, beim fünften Mal bietet man ihm weder zu essen noch zu trinken an, und beim sechsten Mal bewirtet man ihn mit spreuigem Brot und saurer Grütze. Er beißt in die erste Brotscheibe, so gut es geht, doch die zweite bringt er nach Hause und versteckt sie in der Kornkammer in einer kleinen Lade. Beim Schlafengehen sagt er sich: Der erste Ratschlag meines Vaters stimmt, nun will ich den zweiten überprüfen. Nun gut. Er fahrt von Markt zu Markt und tauscht Pferde, aber was ist dabei für ihn herausgesprungen ? Schließlich hat er sich einen Klepper eingetauscht, der mitten auf dem Weg stehenbleibt, so daß er zu Fuß weitergehen muß. Der Sohn zieht ihm die Haut ab und hebt sie in seiner kleinen Lade auf. Beim Schlafengehen sagt er sich: Zwei Ratschläge meines Vaters stimmen, aber nun will ich den dritten überprüfen. Nun gut. Am nächsten Sonntag begibt er sich auf Brautschau bis ans andere Ende der Welt. Er sucht und sucht, und er findet auch ein Mädchen, schmuck wie eine Perlenkette: Sie geht so, daß die Absätze nicht mal die Erde berühren. Wozu noch warten, mag das Mädchen ihn doch am Sonntag darauf besuchen. Doch am Abend auf dem Heimweg überlegt sich der Sohn: Zwei Ratschläge meines Vaters habe ich bereits in der Tasche; beim dritten will ich es mir aber genau überlegen, ehe ich ihn in die Tasche stecke. Ein Sonntag ist eben ein Sonntag — da kann man nicht viel sehen, aber an einem Wochentag ist's eine ganz andere Sache. Was macht es schon — ich werde zurückgehen, still und heimlich auf dem Dreschboden übernachten und mir dann am Morgen mal anschauen, wie sich meine •zukünftige Lebensgefährtin bei der Arbeit ausnimmt. Am Morgen begeben sich die alten Leute aufs Roggenfeld, doch sie ist nirgends zu sehen. Das ist aber sonderbar! Auch zur Mittagszeit ist sie nicht zu entdecken. Nun geht der Sohn in die Stube: Die Schürze, die sie gestern trug, liegt wie eingesalzen mitten im Zimmer, und sie selbst schnarcht hinterm Ofen, so daß fast die Wände einstürzen. Der Sohn nimmt sich die Schürze und eilt nach Hause. Er 342
legt die Schürze in die kleine Lade und wartet dann seelenruhig auf den nächsten Sonntag. Am Sonntag erscheint die Zukünftige mit ihren Angehörigen. Sie schauen in eine Ecke, sie schauen in die andere Ecke — alles sagt ihnen aufs beste zu. Sie gehen auch in die Kornkammer, und dort erblicken sie die kleine Lade, in der sich die Ratschläge des Vaters befinden. „Was ist denn dort drin?" „Das kann ich nicht zeigen — dort befinden sich Kostbarkeiten!" Er möge sie ihnen doch zeigen. „Nun, wenn ihr's unbedingt wollt!" Er öffnet die kleine Lade — was ist denn das? „Aber, mein Junge, wie kommt denn meine Schürze hierher?" „Ja, mein liebes Mädchen, diese kleine Lade ist die Lade der Ratschläge meines Vaters: Während andere Leute schlafen, sammelt sie für mich nützliche Ratschläge. Und drei Ratschläge befinden sich schon in ihr: Diese Brotscheibe, diese Haut und deine Schürze. Das erste lehrt: Geh nicht zu oft zu Besuch, sonst wird man beginnen, dich zu mißachten; das zweite lehrt: Tausche keine Pferde, sonst wirst du zu Fuß gehen müssen; das dritte, dein Schürzchen, lehrt: Heirate keine Frau aus der Ferne, denn es wäre eine schlechte Frau für dich!" Das Mädchen schämte sich und fuhr davon. 116 DIE FAULE BRAUT
In alten Zeiten lebte einmal eine Mutter mit ihren Töchtern. Andrejs, der Nachbarssohn, hatte sich eine der Töchter als Braut ausersehen und begann sie zu besuchen. Aber die Leute erzählten, daß sie faul sei. Er glaubte das jedoch nicht und wollte sich selbst überzeugen. Jeden Abend besuchte er sie, und stets sah er sie am Spinnrocken spinnen. Er bemerkte aber auch, daß der Spinnrocken immer genauso aussah. D a dachte er sich einen Scherz aus. Eines Abends blieb er länger als sonst dort, nahm den Schlüssel der Kornkammer und steckte ihn heimlich in den Spinnrocken. Und dann kam er einige Zeit nicht mehr zu Besuch. Wenn das Mädchen diesen Rocken fleißig spinnt, muß es den Schlüssel 343
finden. A b e r der Spinnrocken stand da, wie er gestanden hatte. Doch in die Kornkammer konnte man nicht hinein. D i e Mutter ging zu den Nachbarn und erzählte von ihrem Pech. Andrejs wird doch nicht gar den Schlüssel mitgenommen haben? Die Mutter ging zu ihm und erkundigte sich. Er fragte, o b man denn zu Hause den Schlüssel nicht gefunden hätte. Er wüßte, daß der Schlüssel bei ihnen daheim ist. N u n bat die Mutter, daß Andrejs kommen und den Schlüssel suchen helfen solle. Er ging hin, nahm den Schlüssel aus dem Spinnrocken und sagte: „ N u n weiß ich, daß meine Braut faul ist." Er verabschiedete sich, ging von dannen und ließ sich nie wieder blicken. 117
WIE SICH DER SOHN EINE FRAU SUCHTE Einst hatte eine Mutter einen einzigen Sohn, der dazu noch ein D u m m k o p f war. N a ja, aber er wuchs heran. Nichts zu machen. Eines Tages beginnt die Mutter ihn zu ermuntern, sich eine Frau zu suchen. Der Sohn ist sofort dazu bereit. Er fahrt los. Man bewirtet ihn mit Eiern. Der Bursche hat so etwas Leckeres schon lange nicht gegessen und steckt sich ein Ei nach dem anderen in den Mund. Er fährt nach Hause, und die Mutter fragt ihn: „ W i e hat man dich denn heute bewirtet?" „ M a n hat mich gut bewirtet, sogar sehr gut — ich bekam nur Eier zu essen." „ N u n , dann bist du sicher satt?" „ W o denkst du hin? Es war doch immer nur ein Bissen und noch ein Bissen, ein Bissen und noch ein Bissen." „ A b e r , mein Söhnchen, wie konntest du zu Besuch nur so gierig essen? Du hättest ein Ei immer in drei oder vier Stücke schneiden müssen — so gehört es sich." Es dauert nicht lange, und der Sohn ist wieder unterwegs auf Brautschau. Die Essenszeit naht. Diesmal setzt man ihm trokkene Erbsen vor. Nun gut. Der Sohn erinnert sich daran, was ihm die Mutter gesagt hat: Z u Besuch muß man langsam essen und alles in drei, vier Stücke schneiden. Und so nimmt er das Messer aus der Tasche und halbiert jede Erbse, und die Hälfte halbiert er noch einmal.
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Die Leute wundern sich: „Was ist das für ein Sonderling, der nicht einmal Erbsen zu essen versteht!" Aber der Sohn macht sich nichts draus. Er schneuzt sich und lenkt, noch halb hungrig, die Pferde wieder heimwärts. Sofort fragt ihn die Mutter: „Nun, mein Söhnchen, wie hat man dich heute bewirtet?" „Mit trockenen Erbsen. Entsetzlich!. Dabei kann man j a gar nicht satt werden. Es dauert schon lange genug, bis du diese kleinen Dinger zerschnitten hast, ganz zu schweigen vom Essen!" „Aber, Söhnchen, was bist du für ein Dummkopf! Du gehst zu Besuch und schneidest Erbsen mit dem Messer! Die muß man doch mit der Hand essen." Es dauert nicht lange, und der Sohn begibt sich zum dritten Mal auf Brautschau. Er fährt los. Es ist Essenszeit, und der Brei wird auf den Tisch gestellt. Der Sohn erinnert sich daran, was die Mutter gesagt hat, daß man mit der Hand essen muß. Und nun langt er einfach mit der Hand in den Brei wie ein Maurer in den Lehm und wirft sich den Brei in den Mund. Aber es dauert gar nicht lange, und der Vater des Mädchens flüstert ihm ins Ohr, daß er lieber nach Hause fahren und sich nicht mehr sehen lassen soll. Der Sohn fahrt nach Hause — nun, wenn man ihn nicht mag, dann mag man ihn halt nicht. Als er daheim eintrifft, fragt ihn die Mutter: „Du bist schon zurück?" „Wie lange dauert's denn, bis man Brei ißt, eins-zwei-drei mit der Hand in den Mund, und man ist satt." „Ach, mein Söhnchen", seufzt die Mutter, „wie kannst du nur Brei statt mit dem Löffel einfach mit der Hand essen? Dann wirst du j a nie im Leben eine Frau finden!" Und die Mutter hat recht. 118
WER NICHT ARBEITET, SOLL AUCH NICHT ESSEN
Ein Bauernsohn wollte die Tochter eines Nachbarn heiraten; aber der Nachbar gab sie ihm nicht. Nun fragte ihn der Bursche, warum er ihm seine Tochter nicht gebe. Der Vater antwortete, daß die Tochter sehr faul sei; er möchte nicht schuld sein am Unglück des Mannes und erleben, daß der seine Frau verprügeln müsse. 345
Der Bursche erwiderte, daß er sie ihm ruhig geben solle. Er werde mit ihr gut auskommen, denn er habe das Fleißkräutlein zur Hand. Nun gut. Er holt die Tochter zu sich. In der ersten Woche tat die junge Frau ja noch etwas, aber in der zweiten Woche fing sie zu faulenzen an. Der Mann unternahm nichts. Eines Morgens ging er mit den Leuten zum Mähen aufs Feld; sie blieb im Bett und schlief bis zum Frühstück. Der Mann kam mit den Leuten nach Hause, um zu frühstücken. Seine Frau reckte und streckte sich im Bett; das Frühstück war nicht bereitet. Der Mann sagte kein Wort; sie aßen, was sie fanden, und gingen wieder aufs Feld. Aber ehe der Mann das Haus verließ, schloß er alle Schränke zu und nahm die Schlüssel mit, so daß seine Frau nicht einen Bissen zu essen hatte. Zu Mittag und am Abend machte er es ebenso. Sie rüttelte zwar an allen Türen, aber umsonst. . Am ersten Tag hielt sie es ohne Essen aus. Als der Mann mit den Leuten am nächsten Tag zum Frühstück nach Hause kam, sagte sie: „Mein lieber Mann, ich habe die halbe Stube gekehrt!" „Das ist gut!" erwiderte er, gab ihr einen halben Teller voll zu essen und eine halbe Scheibe Brot und sagte weiter kein Wort. Am nächsten Morgen hatte die Frau die ganze Stube gekehrt. Der Mann gab ihr nun eine ganze Scheibe Brot und ein volles Töpfchen mit Essen. Am dritten Morgen kehrte sie die Stube, ließ das Vieh aus dem Stall, setzte den Kochtopf auf und lief schnell zu ihrem Mann. „Komm, mein lieber Mann, schütte die Grütze hinein — das Wasser kocht schon!" „Nun, wenn du den Kochtopf aufsetzen konntest, dann wirst du auch die Grütze hineinschütten — hier hast du die Schlüssel!" Die Frau nahm die Schlüssel und war von diesem Augenblick an die beste Hausfrau auf der Welt. Nach einigen Wochen kam der Schwiegervater, um zu sehen, was seine faule Tochter machte. Der Alte ging in die Stube und setzte sich. Seine Tochter sagte ihm aber gleich: „Setzt Euch nicht, Väterchen, setzt Euch nicht! Bei uns bekommt niemand etwas zu essen, der sitzt und nichts t u t ! " 346
Aber ihr Mann sprach: „Bleibt nur ruhig sitzen, lieber Vater, Gäste verdienen das Brot, indem sie sitzen, aber die Hausleute, indem sie gehen." 119 DIE FRAU MIT DEN PLAGEGEISTERN
Reiche Eltern hatten eine einzige Tochter, die sehr schön und verwöhnt war. Aber trotz ihrer Schönheit und ihres Reichtums wollte niemand sie heiraten, denn es hatte sich herumgesprochen, daß „die Schöne eine schöne Krankheit hat". Sie habe nämlich ein Leiden, das „Plagegeister" genannt wird: Wenn etwas nicht nach ihrem Willen geschieht, dann muß sie gleich die Arbeit Arbeit sein lassen, zu Bett gehen und so lange liegenbleiben, bis man ihren Wunsch erfüllt und sie beschwichtigt hat. Einmal stellte sich wieder ein Freier ein, ein junger, rechtschaffener Bauer. Die Mutter, die die Tochter verwöhnt hatte, rühmte ihren Augenstern und behauptete, daß es ihr schwerfallen werde, sich von der Tochter zu trennen und ohne sie zu leben. Der Vater dagegen, ein einfacher, ehrlicher Mann, sagte zu dem Freier: „Wenn dir meine Tochter gefallt, dann nimm sie, wie Laima es beschlossen hat, aber damit du von mir nicht schlecht denkst, lasse ich es dich gleich wissen, daß meine Tochter ein Leiden hat, das ,Plagegeister' genannt wird." Der junge Mann denkt einen Augenblick nach und erwidert dann: „Mag es sein, wie es auch immer sei, ich nehme sie. Welcher Mensch ist schon ohne Fehler! Auch mich befallt, wenn auch recht selten, ein ganz schlimmes Leiden." „Was ist denn das für ein Leiden?" „Wenn ich nichts gegessen habe und kaltes Wasser trinke, dann werde ich vor Hunger ganz toll." Nun überlegen beide hin und her und beschließen, daß die Tochter mit ihren „Plagegeistern" und der junge Mann mit seiner Tollheit einander heiraten sollen. Sie heiraten also und leben anfangs auch in Frieden und Eintracht. Nach einem Monat will die Frau plötzlich zu ihrer Mutter fahren, aber der Mann sagt, sie möge sich noch einige Tage gedulden, da es jetzt viel zu tun gebe und er heute tüchtig pflügen müsse. 347
Nachdem er das gesagt hat, ruft er den Knecht, und beide machen sich sofort zum Pflügen auf. Nun wird die junge' Bäuerin von den „Plagegeistern" heimgesucht : Sie legt sich ins Bett und kümmert sich um gar nichts, was im Haus vorgeht. Das Hausmädchen kommt zwar zu ihr ans Bett und meint, daß es Zeit sei, Frühstück zu machen und es den Pflügern zu bringen, aber die Bäuerin zischt nur im Bett wie eine Schlange und gibt kein Sterbenswörtchen von sich. Dem Mädchen wird himmelangst, und es macht, daß es aus dem Zimmer kommt. Der Bauer pflügt und pflügt mit dem Knecht — er pflügt und pflügt und wartet aufs Frühstück, aber vergebens! Niemand bringt es. Da schießt es dem Bauern durch den Sinn, daß seine Frau wahrscheinlich von ihrem Leiden befallen im Bett liegt. Er sagt zum Knecht: „Laß uns bis zum Frühstück pflügen und dann nach Hause gehen. Wenn das Essen nicht fertig ist, dann tu das, was ich dir sage; aber wenn ich mich anschicke, dich zu schlagen, dann verkriech dich unterm Bett." Nun gut. Sie pflügen und gehen heim. Und was sehen sie: Die Bäuerin liegt im Bett, und vom Essen keine Spur! Der Bauer sagt zum Knecht: „Ich bin so müde, daß ich überhaupt nicht essen mag; bring mir einen Krug mit kaltem Wasser zum Trinken. Ich werde mich ausruhen, solange die Pferde fressen." Als die Frau das hört, laufen ihr Schauer über den Rücken, denn sie erinnert sich plötzlich an das Leiden ihres Mannes — die Tollheit —, und sie möchte am liebsten aufstehen, aber dann wird ihr Mann ihr ja die Krankheit auch ein anderes Mal nicht glauben. Nein, sie bleibt liegen, denn welche Frau will schon ihrem Mann unterlegen sein. Der Bauer trinkt einen Schluck und beginnt im Zimmer hin und her zu gehen, zu pfeifen und zwischendurch zu sprechen: „Ich habe nichts zu essen — warum? Bin ich so arm — oder? Faulenze ich — oder? Ist nichts mehr zum Kochen da — oder? Bursche, gib mir einen Krug Wasser!" Der Bauer trinkt und trinkt, bis das ganze Wasser ausgetrunken ist, dann wirft er den Krug zu Boden, so daß die Scherben nur so durchs Zimmer fliegen, und dann beginnt er wieder im Zimmer hin und her zu gehen und noch lauter zu reden: „Du, Bursche, bist ein Tunichtgut, meine Frau liegt mit ihrem Leiden zu Bett, und du denkst gar nicht daran, für mich 348
etwas zu kochen — du Henkersknecht, warte nur, ich werde dir helfen!" Darauf nimmt er die Peitsche vom Haken: „Ich werde dir helfen! Meine Frau liegt mit ihrem Leiden zu Bett, und du kannst mir kein Essen kochen, wie?" Und er geht mit erhobener Peitsche auf den Burschen los. Schnell verkriecht der sich unterm Bett. Aber der verrückte Bauer stürzt sich aufs Bett, so daß die Frau fast schon ihre „Plagegeister" vergißt. Doch der Irre schaut weder nach rechts noch links: Er reißt die Liegende aus dem Bett, zerrt sie mitten ins Zimmer, verprügelt sie nach Leibeskräften und wiederholt ständig: „Meine Frau liegt mit ihrem Leiden zu Bett, und du verfluchter Teufelsknecht denkst nicht daran, mir etwas zu essen zu kochen. Ich werde dir helfen!" Die Frau schreit aus vollem Halse und jammert, aber der Mann prügelt sie so lange, bis sie verspricht, ganz von ihrem Leiden zu genesen. Erst dann läßt der Bauer die Bäuerin los, wirft die Peitsche fort und stürzt selbst mitten ins Zimmer lang hin und schläft schnarchend und schnaubend ein. Inzwischen beeilte sich die Frau, schnell Feuer zu machen und für ihren Mann das allerbeste Frühstück zu bereiten. Auch der Knecht kroch unterm Bett hervor. Die Bäuerin sagte leise und unter Tränen zu ihm: „Warum mußtest du dich auch unterm Bett verstecken? Konntest du rticht lieber durch die Tür verschwinden?" „Ach, meine liebe Bäuerin, ich ahnte doch nicht, daß er so toll ist." „Er wurde es erst durch dein kaltes Wasser. Warum gabst du's ihm?" „Wir waren doch beide sehr durstig. Und warum erlaubtest du mir denn, ihm kaltes Wasser zum Trinken zu geben, wenn du wußtest, was los ist?" Da erwacht auch schon der Bauer aus seinem Tollheitsschlaf. Er hebt den Kopf, schaut sich um und sagt: „Ach, wie mein Kopf schmerzt! Bursche, gib mir Wasser zu trinken!" Aber da ist bereits sein Frauchen bei ihm: „Ach, mein lieber, guter Mann! Trinke j a kein kaltes Wasser! Trink lieber diese gute, warme Milch! Komm zu Tisch — du hast doch heute noch keinen Bissen gegessen!" Der Mann steht auf, setzt sich an den Tisch, und nachdem 349
er ausgiebig gefrühstückt hat, dankt er seinem Frauchen für das gute Essen. Von nun an wurde die Bäuerin nicht mehr von ihrem Leiden befallen, und sie sorgte stets rührend für ihren Mann, damit er nie mehr kaltes Wasser trank, ohne vorher gegessen zu haben. 120 DER KRIEG DER GACKERER
Es war einmal ein Mann, der hatte eine etwas dümmliche Frau. Im Herbst schlachtet er Vieh und bewahrt das Fleisch auf. Die Frau fragt: „Wohin werden wir so viel Fleisch legen?" „Wohin wir's legen werden? Wir werden es zum Kohl legen und für den langen Tag aufheben", erwidert der Mann. Am nächsten Tag geht der Mann zur Arbeit. Die Frau macht sich nun mit dem Fleisch zu schaffen. Eine Hälfte hängt sie für den langen Tag auf, und die andere bringt sie zum Kohl in den Garten, wie der Mann ihr .ja gesagt hat. Da schleicht plötzlich ein großer, langer Bettler durchs Tor. Er bittet um einen Happen Fleisch. „Das geht nicht! Mein Mann hat gesagt: Eine Hälfte Fleisch muß ich zum Kohl legen, was ich auch schon getan habe, und die andere Hälfte muß ich für den langen Tag aufheben." „Ach, liebe Bäuerin! Ich bin doch der lange Tag, gib mir also das für mich aufgehobene Fleisch!" sagte der Arme. „Du bist also der lange Tag? Ich habe schon oft von dir gehört, und erst jetzt sehe ich dich. Nun, dann nimm dir das Fleisch, das ich hier aufgehängt habe!" Während die Bäuerin den langen Tag durchs Tor hinausgeleitet, sind die Hunde schon in den Garten zum Kohl gelaufen und machen sich über das Fleisch her. Als die Bäuerin die Meute erblickt, ruft sie: „Ach, diese ausgehungerten Freßsäcke! Ich plage mich und trage das Fleisch zum Kohl, und dieses Hundeviehzeug macht sich drüber her!" Ohne lange zu überlegen, ergreift die Frau eine Fessel für Kühe, stürzt auf die Hundemeute und packt den größten Köter am Schopf. Aber dieser zerrt wie verrückt. Wie soll man einen solchen Schwerenöter bändigen? Die Frau überlegt und bindet den Hund in der Kornkammer an den Spund des Bierfasses. Der Hund zerrt jetzt noch heftiger, bis er den Spund 350
herausreißt, und dann nichts wie auf in den Wald. Das Bierfaß läuft aus. Bald ist auf der Tenne schon eine große Pfütze. Die Frau entsinnt sich nun, daß ihr Mann einmal gesagt hat, daß man den Tennenboden trocken halten muß, damit das Mehl nicht schimmelt und die Kleie nicht klumpig wird. Nun holt die findige Bäuerin geschwind Mehl aus der Lade und schüttet die Pfütze mit dem weißen Mehl zu. Nun ist wieder alles trocken. Der Mann kommt durstig nach Hause. Er will Bier trinken, aber das Faß ist so gut wie leer. Kaum ein halber Eimer ist noch übrig, außerdem ist das Bier auch noch trübe. Der Mann schaut auf den Fußboden: Das ganze Mehl ist vom Bier überschweirimt. Er schaut zur Decke. Auch das Fleisch scheint auf einen weiten Weg gegangen zu sein. Nun beginnt der Mann mit seiner Frau zu schimpfen,,-weil all die guten Dinge zum Teufel sind. Hunde haben das Fleisch in den Wald geschleppt. Wozu sie überhaupt noch den Rest des trüben Bieres aufbewahrt hat, den hätte sie doch auch noch in den Wald bringen können! Aber die Frau denkt bei sich: Also ist mein Mann nur deswegen wütend, weil ich das trübe Bier nicht in den Wald gebracht habe, nun, das kann ich schon noch tun. Schnell holt sie den Melkeimer, läuft in den Wald, gießt das Bier an einem großen grauen Stein aus und sagt: „Fließe nun hier, fließe nun hier!" Kaum hat sie diese Worte gesprochen, da kommt — schiirr, schiirr, schiirr — unter dem Stein ein glänzender Haufen Geld zum Vorschein. Die Frau füllt den Milcheimer mit dem Geld und schleppt ihn nach Hause. Jetzt ist der Mann über eine so gute und kluge Frau unendlich glücklich. Doch schon am nächsten Tag erfährt der Gutsherr davon, daß dem Mann ein solches Glück zuteil geworden ist. Er befiehlt, das Geld aufs Gut zu bringen. Der Mann verliert fast den Verstand. Er schimpft mit seiner Frau, warum sie dem Herrn in ihrer Geschwätzigkeit die ganze Sache verraten habe. „Wenn dich doch neun Wölfe holten!" wütet der Mann und überlegt und überlegt, wie noch alles zu retten ist. Schließlich schießt ihm ein kluger Gedanke durch den Kopf. Er erzählt seiner Frau, daß morgen die Kriege der Gackerer beginnen. Als die Frau das hört, ruft sie in Todesängsten aus: „Was — die Kriege der Gackerer? Ach, du lieber Gott!" 351
„Was heißt hier — ach, du lieber G o t t ! " erwidert der Mann. „Verstecke dich lieber rechtzeitig dort in der Rübengrube, ich bedecke dich mit einem Vlies, dann wirst du es überleben." Doch der Frau tut ihr Mann leid, und sie sagt: „Aber, mein Lieber, wo wirst du dann bleiben?" „Um mich mach dir mal keine Sorgen — ich werde mitkämpfen!" antwortet der Mann.Nun begleitet er die Frau zur Rübengrube, bedeckt sie mit einem Vlies, schüttet Erbsen drauf und treibt dann Hühner, Küken, Enten und Gänse dorthin. Nun beginnt die Schlacht des Federviehs auf dem Vlies, und der Lärm ist so groß wie in jedem anderen Krieg. Der Mann greift sich noch einen Knüppel und schlägt damit auf die Schoten, damit der Aufruhr noch größer wird. Endlich läßt der Mann seine Frau wieder das Licht der Welt sehen und spricht: „Komm nun heraus, die Kriege der Gackerer sind zu Ende." Am frühen Morgen spannte der Mann ein Pferd an, setzte seine Frau vorn in den Wagen, selbst ließ er sich hinten nieder, und dann ging's — haste was kannste — zum Herrn. Unterwegs nahm der Mann heimlich eine Semmel aus der Tasche und warf sie über den Kopf der Frau in ihren Schoß. Sie ruft sofort: „Was ist denn das?" „Sieh mal einer an, du Verrückte, nun erleben wir bereits die Zeiten, in denen Weißbrot vom Himmel fällt", erwidert der Mann. Sie fuhren weiter. Am Wegrand war eine Scheune, in der ein Ziegenbock meckerte. Die Frau fragt: „Wer brüllt denn dort?" „Schon wieder weißt du etwas nicht. Bist du aber dumm — dort in der Scheune quält doch der Teufel unseren Herrn", sagt der Mann. Schließlich erreichten sie das Gut. Da kommt der Herr ihnen auch bereits entgegen. „Wo ist das Geld?" fragt der Herr den Mann. „Was für Geld?" erkundigt sich der Mann. Aber der Herr wird noch wütender und schreit ihn an: „Wagst du es gar zu leugnen? Deine eigene Frau erzählte mir, daß sie welches gefunden habe!" 352
„So frage doch meine Frau", antwortet der Mann. Jetzt ruft der Herr die Frau nach vorn und fragt: „Sag mir, wann du das Geld gefunden hast!" „Ach so, das war ungefähr eine Woche vor den Kriegen der Gackerer." Aber der Herr fragt weiter: „Wann fanden denn die Kriege der Gackerer statt?" „Ach so, das war damals, als Weißbrot vom Himmel fiel", erwidert die Frau. Zornig fragt der Herr: „Wann fiel das, was fiel?" Aber die Frau sagt: „Ach so, das war damals, als dich der Teufel dort in der Scheune quälte und es mir leid tat, daß du mehr wie ein Zicklein brülltest als wie ein Mensch." Vor Wut schrie der Herr die Frau an: „Mach doch, daß du selbst zum Teufel kommst, verrücktes Weib!" Und er jagte sie mit ihrem Mann zum Tor hinaus. So behielt der Mann das Geld. 121
DER LANGE WINTER
Ein Bauer hatte eine sehr dumme Frau. Als er einmal von der Arbeit heimkam, gab er ihr fünfundzwanzig Rubel: „Hier, Frau, hebe das Geld auf! Wenn der lange Winter kommt, werden wir alles abgeben müssen." Die Frau legte das Geld in den Schrank. Ein andermal brachte der Mann fünfzig Rubel und ein drittes Mal sogar hundert Rubel heim und sagte: „Hier, Frau, hebe das Geld auf! Wenn der lange Winter kommt, werden wir alles abgeben müssen." Aber was für ein Spaß geschah nun? Während der Mann eines Tages wieder einmal beim Arbeiten ist, erscheint bei der Frau ein lang aufgeschossener Bettler und bittet um milde Gaben. Die Frau sagt: „Verschwinde! Ich kann dir nichts geben. Der lange Winter wird kommen — dann werden wir sowieso alles abgeben müssen." Der Bettler, ein rechter Schlauberger, begann sich zu wundern: „Der lange Winter, der lange Winter! Ich bin doch der lange Winter; für welchen Winter sparst du denn noch?" 23
Lettische Volksmärchen
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Die Frau überlegte: Es kann doch nur einen langen Winter geben. Und sie gab dem Armen alles Geld. Als der Mann nach Hause kommt, eilt sie ihm entgegen: „Mein lieber Mann, vorgestern war der lange Winter hier und hat das ganze Geld mitgenommen, war das ein lang aufgeschossener Armer, dieser lange Winter!" Der Mann erschrak: „Was? Hast du ihm wirklich alles gegeben? Bist du denn ganz von Sinnen! Nun werde ich mich in die Welt begeben, und wenn ich noch drei solche Dummköpfe wie dich finde, dann lasse ich dich am Leben. Wenn nicht, nun, dann erhänge ich dich n o c h ! " Na gut. Er machte sich auf, um Dummköpfe zu suchen. Er ging und ging. Da kam er zu einem Haus und sah, wie Frauen eine Kuh aufs Dach zerrten. Er fragte sie, warum sie das machten. Ja, dort auf dem Dach wächst prächtiges Gras, das die Kuh fressen soll. Der Bauer brach in Gelächter aus; doch wie er so lachte, schaute er genau hin: Die Kuh war gar nicht mehr am Leben. Während die Frauen sie am Strick hochgezogen hatten, war sie erwürgt worden. Friß nur, friß! Der Bauer hielt sich dort nicht länger auf, sondern ging weiter. Er ging und ging und kam zu einem großen Schloß, das sehr schön aussah. Nun reckte er seinen Hals und schaute: Ist das eine prächtige Maurerarbeit! Aber die Gnädige des Schlosses erblickte ihn und fragte: „Was schaust du dich hier so um, Menschlein?" Er erwiderte: „Was heißt hier Menschlein? Ich bin kein Menschlein, ich bin ein Engelchen, ein echtes Engelchen!" Nun staunte die Gnädige: „Ach, ein solches Engelchen sehe ich zum ersten Mal! Sag mir, mein liebes Engelchen, wie geht's denn meinem verstorbenen Kindlein?" „Wie es ihm geht? Wie soll's ihm schon gehen? Es hütet barfuß Schweine. Es hatte doch früher nie Schweine gehütet, nun kann es das zur Genüge tun; unsere Kinder pflegen hier Schweine zu hüten — wer wird sie dort noch dazu zwingen? Aber für solche wie dein Kind ist das sehr gesund — das ist auch meine Meinung!" „Entsetzlich!" jammerte die Gnädige, „kannst du ihm nicht Strümpfchen und Schuhchen bringen?" 354
„Solch ein Unsinn! Ein Schweinehirt mit Schuhen! Hat man das schon jemals gehört? Lieber ein Scherflein Geld!" „Ja, ja — Geld, Geld!" rief die Gnädige und schüttete ein ganzes Säckel voll mit Goldgeld, das er ihrem kleinen Schweinehirten bringen sollte. Nun gut. Er nahm das Säckel und ging fort. Nach einer Stunde empfangt die Gnädige den gnädigen Herrn Baron mit folgenden Worten: „So und so — welch ein Glück —, ich habe dem Söhnchen ein Säckel Gold geschickt, damit es sich Schuhe kauft!" Als der gnädige Herr alles erfährt, ist er entsetzt: Sofort soll man ein Pferd satteln, er wird dem Betrüger hinterherjagen! Und dann galoppiert er auch schon los, daß es nur so raucht. Als der Bauer bemerkte, daß man hinter ihm herjagt, warf er das Geldsäckel geschwind ins Gebüsch und legte seine Mütze auf den Weg. Dann setzte er sich hin, als ob er die Mütze bewachte. Der gnädige Herr kam herangeritten: Warum er hier bei der Mütze hocke. Ob er nicht jemanden mit einem Säckel über dem Rücken vorbeigehen sah? „Aber natürlich! Vor einer halben Stunde kam hier jemand vorbei; und mir schien, daß er schwer zu tragen hatte, dehn er ging merkwürdig krumm." „Zum Teufel! Spring schnell auf mein Pferd und jage ihm hinterher, du kennst ihn doch besser als ich, denn du hast ihn soeben gesehen, während ich ihn nie sah." „Ja, ja, Herr, natürlich kenne ich ihn, aber ich kann nicht •fortreiten, denn ich muß hier unter der Mütze einen kostbaren Vogel hüten, den ich für meinen Herrn gekauft habe." Macht nichts — er selbst wird inzwischen den Vogel hüten, der Bauer soll nur losreiten! „Ja, ja, Herr; aber ich kann nicht ohne Mütze reiten, und diese Mütze darf nicht bewegt werden." Nun, macht nichts — er soll die Mütze des gnädigen Herrn nehmen und losreiten! Gut. Er nahm die Mütze des Herrri, sprang aufs Pferd, schlug sich in die Büsche, ergriff das Geldsäckel und ritt in einem Bogen quer durch den Wald nach Hause zu seiner Frau. Jetzt wußte er, daß es noch mehr Dummköpfe auf der Welt gibt, und er sagte seiner Frau kein Wort mehr. Aber mit dem Geld kaufte er sich ein großes Gut und lebte nun so wie alle Gutsbesitzer. Der gnädige Herr war indessen bis zum Abend bei der Mütze 23'
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geblieben. Als die Sonne bereits untergegangen war, überlegte er, daß er eigentlich mal nachschauen müßte, wie denn der kostbare Vogel aussieht. Er lüftete ein ganz klein wenig den Rand der Mütze und schaute heimlich darunter: Kein Vogel war zu sehen. Nun erschrak er: Wenn der Bauer zurückgeritten kommt und merkt, daß ich nicht gut aufgepaßt habe, und der Vogel fortgeflogen ist, was dann? Lieber mache ich mich aus dem Staube, damit er mich gar nicht zu Gesicht bekommt. Und so ging er nach Hause und war froh, daß er sich klug aus der Klemme gezogen hatte. 122
DIE WAHRSAGERIN IM TÄSCHCHEN
Es lebte einmal ein armer Häusler, der nichts außer einer Ziege besaß, die auch noch krank wurde und verendete. Darüber ist der Häusler mit seiner Frau sehr traurig und weiß nicht, was er nun anfangen soll. Er deckt die Ziege ab, läßt die Haut trocknen, faltet sie dann zusammen, steckt sie in eine Tasche, legt sich diese über die Schulter und begibt sich in die Welt. Er möchte sein Glück versuchen, ob nicht Mutter Laima ihm irgendwo entgegenlächelt. Nachdem er einen ganzen Tag unterwegs ist, kommt er am Abend zu einer Mühle und hofft, dort eine Bleibe für die Nacht zu finden. Die Müllerin hat gar keine Zeit, sie hat alle Hände und Füße voll zu tun; sie bäckt Weißbrot, brät Fleisch und bereitet allerhand leckere Gerichte. In allen Ecken zischt und tropft es nur so. Draußen sieht der Häusler einen feinen Herrn- Spazierengehen, der ihm nicht der Müller, sondern ein Gast zu sein scheint. Als der Häusler nun um ein Obdach für die Nacht bittet, wird die Müllerin wütend und jagt ihn aus der Mühle. So geht er mit seinem Täschchen auf der Schulter fort, aber unweit vom Tor begegnet er auf dem Weg dem Müller selbst, der soeben vom Feld nach Hause gefahren kommt. Er fragt den Häusler: „Wohin des Weges?" Nun erzählt er ihm, daß er in der Mühle war und die Müllerin um eine Bleibe zur Nacht gebeten hat, daß sie ihn aber Hals über Kopf hinausjagte. 356
Der Müller sagt zu ihm: „Es gehört sich nicht, einen Fremden zur Abendstunde aus dem Haus zu weisen! Geh zurück, melde dich bei der Müllerin und sage ihr, der Müller selbst wünscht es, daß sie dir ein Obdach für die Nacht gewährt." Während der Müller das Pferd abspannt, geht der Häusler in die Stube und sieht den Tisch brechend voll von verschiedenen Speisen und Getränken. Er erzählt der Müllerin, daß er den Müller getroffen und der ihn zurückzukommen geheißen habe. Als sie das vernimmt, räumt sie geschwind den Tisch ab und stellt die Speisen und Getränke in den Schrank oder auf den Schrank, und den Gast, den sie bewirten wollte, schiebt sie in einen anderen Schrank. Nachdem der Müller das Pferd abgespannt hat, kommt er in die Stube. Die Müllerin empfangt ihn mit einer süßsauren Miene und tischt ihm Kartoffeln und Brot auf. Der Müller setzt sich und lädt auch den Häusler zum Essen ein. Er sagt ihm, daß er seine Tasche von der Schulter nehmen soll; aber der antwortet: „Laß gut sein, ich kann mich von ihr nämlich nicht trennen." Während er ißt, stößt er mit der Tasche gegen den Schrank, und natürlich beginnt es in ihr zu knistern. „Wirst du gleich still sein!" sagt er vorwurfsvoll. Nach einer Weile fängt es in der Tasche wieder zu knistern an, und noch einmal sagt er mahnend: „Bist du endlich still!" Der Müller fragt, mit wem er sich unterhält. „Ich habe eine Wahrsagerin im Täschchen", antwortet er. „Nun, was sieht und erzählt sie denn?" fragt der Müller. Der Häusler zeigt mit der Hand auf den Schrank. Der Müller geht zum Schrank und nimmt eine Schüssel mit Braten heraus, und beide essen nun nach Herzenslust. Nach einem Weilchen beginnt es wieder im Täschchen zu knistern. Der Müller fragt: „Was sagt denn die Wahrsagerin jetzt?" Der Häusler zeigt oben auf den Schrank. Der Müller wirft einen Blick dorthin und entdeckt Bierflaschen, die er natürlich gleich herunterholt, und er kostet, wie das Bier nach dem Braten schmeckt. 357
Zwar haben beide nun genug gegessen und getrunken, aber die Wahrsagerin beginnt wieder zu reden. Der Müller fragt: „Nun, was ist denn jetzt los? Was erzählt sie uns noch?" Da zeigt der Häusler mit der Hand auf den großen Schrank. Der Müller öffnet ihn und erblickt den Glöckner des Dorfes. Schnell ergreift er die Peitsche und verprügelt ihn nach Strich und Faden. Dem Ärmsten bleibt nichts anderes übrij», als schleunigst das Weite zu suchen, und er macht, daß er fortkommt, ohne sich erst noch zu bekreuzigen. Jetzt ist der Müller auf solch eine Wahrsagerin ganz erpicht. Er fragt den Häusler, ob er sie ihm nicht verkaufen wolle. „Warum nicht?" sagt der, „bezahle mir nur zweihundert Rubel dafür, dann bekommst du sie." Der Müller bezahlt ihm zweihundert Rubel, und der Häusler gibt ihm das Täschchen mit der Wahrsagerin, aber er schärft ihm noch ein, daß er die Tasche auf keinen Fall öffnen solle. Dann geht er fort, und der Müller ist über einen so guten Kauf sehr froh. Nach einigen Tagen fahrt der Müller aufs Feld. Nachdem er wieder zu Hause ist, möchte.er wissen, wie's so steht, ob nicht dies oder das oder dieser oder jener irgendwo im Schrank oder im Ofen steckt. Er nimmt das Täschchen vom Schrank, stellt es auf den Tisch und fragt, aber er erhält keine Antwort. Darauf stößt er mit der Faust dagegen, aber die Wahrsagerin schweigt. Wütend öffnet er die Tasche und erblickt — die ausgetrocknete Ziegenhaut. Nun hätte er den Häusler wahrscheinlich ebenso mit der Peitsche traktiert wie damals den Glöckner, aber Gott hatte mit jenem Mitleid! Er war bereits über alle Berge. 123 DER GROSSE WAHRSAGER
Es lebte einmal ein alter Mann, der sein Brot nicht mehr verdienen konnte. Deshalb gab er sich als großen Wahrsager aus. Nun hatte ein Herr aus dieser Gegend wieder einmal seinen teuren Goldring verloren, und er suchte einen Wahrsager, der ihm vielleicht sagen könne, wo der Ring geblieben sei. Als der Herr erfuhr, daß in der Nachbarschaft ein großer Wahrsager wohnt, schickte er seine Diener zu ihm. Die Diener führten ihn auch zum Herrn, und der Wahrsager sprach: 358
„Ich kann nicht so schnell wahrsagen, wo sich der Ring befindet. Gebt mir drei Tage gut zu essen und recht viel Geld, dann sage ich Euch wahr, wo sich der Ring befindet." Der Herr war einverstanden und gab dem Wahrsager aufs beste zu essen. Nach dem Abendbrot sagte der Wahrsager zu den Dienern: „Eine gute Sache ist schon erreicht, aber zwei gute Sachen stehen noch aus." Der Wahrsager dachte dabei an den gut verbrachten Tag, während die Diener, die nämlich die Schuldigen waren, befürchteten, daß der Wahrsager schon einen Dieb entdeckt hatte. Am nächsten Tag wurde der Wahrsager ebenso gut beköstigt, und nun sagte er: „Zwei gute Sachen sind schon erreicht, aber eine gute Sache steht noch aus." Der Wahrsager dachte dabei wieder an die beiden guten Tage, aber die Diener fürchteten sich noch mehr, denn sie glaubten, daß der Wahrsager unter ihnen schon zwei Diebe entdeckt hatte. Am dritten Tag wurde der Wahrsager ebenso gut wie am ersten und am zweiten Tag beköstigt. Nun sprach er, als spräche er zu sich selber, zu den Dienern: „Nun sind drei gute Sachen bereits erreicht, und ich weiß, was ich tun werde." Er hatte nämlich vor, sich in der Nacht heimlich aus dem Staube zu machen. Die Diener erschraken furchtbar. So beschlossen sie miteinander: „Der Wahrsager weiß vermutlich, daß wir drei den Ring gestohlen haben. Laßt uns lieber selber zu ihm gehen, ihm alles gestehen und ihm viel Geld bieten, damit er dem Herrn nichts erzählt." So begaben sie sich zu dem Wahrsager, gestanden ihm alles und baten ihn, ihrem Herrn nichts zu erzählen. Der Wahrsager sagte: „Natürlich wußte ich, daß ihr den Ring habt, aber ich wollte es dem Herrn nicht gleich kundtun. Wenn ihr mich nun gut bezahlt, dann wollen wir versuchen, den Diebstahl zu verheimlichen. Bringt mir den Ring. Wir verstecken ihn dann so, wie es sich gehört." Als die Diener den Ring gebracht hatten, steckte der Wahrsager ihn in ein Brot und gab das Stück von dem Brot einer Pute zu fressen. 359
Am nächsten Tag rief der Herr den Wahrsager zu sich und fragte: „Drei Tage sind bereits vergangen, weißt du nun, wo mein Ring ist?" Der Wahrsager antwortet: „Euren Ring hat eine Pute verschluckt, und ich werde Euch gleich zeigen, welche es war." Die Pute wird geschlachtet, und in ihrem Magen befindet sich der Ring des Herrn. Der Herr ist darüber sehr froh und gibt dem Wahrsager viel Geld. Dennoch will er ihm noch nicht recht glauben. Deshalb fangt er eine Grille, legt sie in einen kleinen Krug, dreht ihn um und fragt den Wahrsager, was im Krüglein versteckt ist. Der Wahrsager hieß aber Grille, und erschrocken rief er aus: „Ach, Grille, du armer Schlucker, diesmal hat's dich erwischt!" Erstaunt rief nun der Herr aus: „Du bist wirklich ein großer Wahrsager!" Und er gab ihm noch mehr Geschenke. Nun würde der Alte überall als großer Wahrsager gerühmt. Wenn es ihm gelang, etwas zu erraten, dann priesen ihn alle, aber wenn es ihm nicht gelang, dann verloren die Leute kein Wort darüber. 124 SO GEHT ES, WENN MAN JEMANDEN EINEN DUMMKOPF NENNT
Ein Bauer hatte drei Söhne: zwei gescheite und einen dummen. Die älteren, gescheiten Söhne gab er zu einem Töpfer in die Lehre, aber den dummen behielt er daheim, und er lernte kein Handwerk. Doch zu Hause tat er auch nichts Nützliches und rekelte sich fast nur hinter dem Ofen. Als später der Vater starb, wurden die beiden älteren Söhne, die Töpfer, die Herren im Haus und schoben das Dummerchen beiseite: Er taugt ja doch zu nichts. Das Dummerchen aber dachte: Nun, wenn ich zu nichts tauge, dann tauge ich halt zu nichts! Aber als die beiden klugen Brüder nun die Herren im Haus waren, wollten sie noch klüger sein als zuvor; sie beschlossen, ohne Knechte auszukommen, höchstens eine Magd wollten sie sich nehmen, auch die Felder würden sie selbst bestellen und zwischendurch noch Töpfe machen. So würden sie ganz schnell 360
reich werden und sich vielleicht noch ein Haus, vielleicht sogar ein Gut kaufen und wie in Abrahams Schoß leben; dem Dummkopf brauchte man ja nichts zu geben, er mochte ihnen umsonst dafür dienen daß er von ihnen das Essen bekam. Und dann fingen die beiden Klugen an, sich in die Arbeit zu stürzen, und man mußte annehmen, daß der Reichtum nur so durch Türen und Fenster herein käme. Bald pflügten sie, bald machten sie Töpfe; bald machten sie wieder Töpfe, bald pflügten sie wieder — so ging das bei ihnen tagaus, tagein. Als nun schon fast alle Ecken und Enden in Haus und Hof voller Töpfe standen, schickten sie den Dummkopf mit einer großen Fuhre nach Riga, damit er sie möglichst teuer verkaufen soll, und je mehr Geld er heimbringt, um so besser! Zwar entgegnete der Dummkopf: Alles Geld wird er nicht heimbringen können, denn schließlich braucht er auch manchen Groschen Zehrgeld und so; aber sie hielten ihm vor: „Wer sich nicht in Ehren ernähren kann, was darf der schon verbrauchen?" Er solle um Gottes willen das Geld nicht anrühren. „•Gut!" erwiderte er, „ich werde es nicht anrühren! Ich werde überhaupt nicht aufs Geld schauen!" Und er fuhr los. Auf dem Markt in Riga stellen sich die Käufer ein: Wieviel er für einen Topf haben will? „Wieviel ich haben will? Was kann ich schon haben wollen: Mir ist eingeschärft worden, nicht aufs Geld zu schauen, und so will ich auch nicht darauf sehen. Nehmt die Töpfe und fragt nicht, wieviel ich haben will!" Ach, du Barmherziger! Als die Käufer hörten, daß es die Töpfe umsonst gibt, stürzten sie sich nur so darauf. Es war noch nicht Abend, als die Fuhre bereits leer war und der Dummkopf' nach Hause fuhr. Er ist kaum durchs Tor gefahren, da bestürmen ihn auch schon die Brüder. „Dummkopf, wo ist das Geld?" „Wo das Geld ist? Das Geld ist in Riga!" „Nun, wo hast du denn die Töpfe gelassen, wenn das Geld in Riga ist?" „Die Töpfe sind auch in Riga! Dort wird man sie fuhrenweise los; aber das Geld bekommt man nicht eher, bis alle Töpfe hingebracht sind." Als die Brüder hören, daß die Rigaer auf die Töpfe so erpicht sind, gibt's für sie nur eins: Eine Fuhre nach der andern wird nach Riga geschickt, und dem Dummerchen ist vor lauter 361
Hin- und Herfahren schon fast dumm geworden, aber was getan werden muß, das muß getan werden, man kann doch den klugen Brüdern nicht einfach „Nein" sagen! Und so wurde weiterhin eine Fuhre nach der anderen nach Riga gefahren. Im Herbst wird schließlich die letzte Fuhre nach Riga gefahren, und diesmal, hol's der Teufel, muß das Geld für alle Fuhren nach Hause gebracht werden; wenn der Dummkopf das nicht tut, dann — so haben die klugen Brüder ihm schon angedroht — hat sein letztes Stündlein geschlagen. So ein Pech, denkt das Dummerchen, das Leben ist doch kostbar, und nun soll es mit mir aus sein! Aber auf dem Heimweg — Glück, wo kommst du her — vernimmt er aus dem Gebüsch ein merkwürdiges Geräusch. Er fahrt näher heran und sieht: Mörder oder Strolche, was weiß ich — Unterwegs kennt man ja nicht alle —, verstecken etwas im Schnee. Das Dummerchen überlegt: Wozu soll ich mich mit solchem Gelichter einlassen, mögen sie nur alles verstecken, sie werden schon verschwinden, und dann wird das Glück mir hold sein! Ja, so geschah's dann auch: Sie machen sich im Schnee zu schaffen und verschwinden. Nun tastet das Dummerchen im Schnee und findet: Eine große Truhe voller Silber, die so versteckt ist, daß keine Grille mehr danach zirpt. Was nun? Das Dummerchen hebt die Truhe in den Schlitten und fahrt zu den Brüdern nach Hause. Am nächsten Tag erscheinen die Strolche, um den Schatz aus dem Schnee zu holen, aber sie suchen vergebens. Umsonst haben sie die Stadt Riga bestohlen! Als die klugen Brüder das glänzende Geld erblicken, verlieren sie fast den Verstand. Sofort erlauben sie dem Dummkopf, was sie ihm nie zugestanden haben: Er soll heiraten. Nun, wenn man heiraten muß, muß man eben heiraten — widersprechen darf man da nicht. Ja, und nun bereiten die klugen Brüder die Hochzeit vor, ohne überhaupt danach zu fragen, ob eine Braut vorhanden ist oder nicht, und das Dummerchen muß mitten im Winter nach Riga fahren, um Butter für die Hochzeit zu holen — siehst du, die Haushälterin der Brüder war so freigebig: Sie hatte sich selber allzuviel Butter gegönnt, und nun ist nicht mehr so viel vorhanden, wie für die große Hochzeit gebraucht wird. Das Dummerchen fahrt nach Riga, kauft Butter und will nach Hause fahren — aber, du lieber Gott! — inzwischen hat es zu tauen begonnen, stellenweise liegt überhaupt kein Schnee 362
mehr, so daß man mit dem Schlitten nicht von der Stelle kommt. Der Dummkopf denkt: Wie soll ich nur heimfahren? Aber wenn's schon im Winter keinen Schnee gibt, so habe ich doch Butter! Und nun bestreicht er den ganzen Weg mit Butter, so daß man fahren kann. Und er fuhr und fuhr — es war fast gefahrlich glatt — und kam zu Hause an. Die Brüder waren ärgerlich; sie hatten so viel Bier gebraut, daß die ganze Badestube voll davon war, und der Dummkopf hat nicht mal das bißchen Butter heimbringen können. Sie werden sie selbst holen, aber er soll inzwischen die Badestube heizen und sich für die Hochzeit schon sauber waschen! Nun gut, sie fahren los, und er heizt die Badestube. Er heizte und heizte, aber er hatte zu sehr geheizt: Das Bier war in der Wärme ganz toll geworden und hatte die Spunde an die Decke gestoßen. So verströmte das Bier auf dem Fußboden, und es wurde nichts aus der Hochzeit. Aber im nächsten Herbst wurde etwas daraus: Das Dummerchen bereitete nun selber die Hochzeit vor, es nahm sich eine Frau und heiratete, wie sich's gehört. Danach lebte das Dummerchen so klug, daß die klugen Brüder sich manchen Rat von ihm holten. Siehst du, so geht es manchmal, wenn man jemanden einen Dummkopf nennt. 125 DES VATERS HAB UND GUT
Ein sehr reicher Bauer hatte drei Söhne und zwei Töchter. Als er alt und schwach wurde, vermachte er sein Haus dem ältesten Sohn. Er lebt einige Zeit bei ihm, bis es dem ältesten Sohn über ist. Der Vater soll doch zu den anderen Brüdern gehen und bei ihnen wohnen, sie warten schon auf ihn. Der Vater gehorcht dem ältesten Sohn und macht sich zum mittleren Sohn auf. Aber bereits nach einigen Monaten schickt dieser den Vater zum jüngsten Sohn. Er begibt sich nun zum jüngsten Sohn, aber schon nach einem Monat hält dieser dem Vater vor, warum er nicht bei seinem lieben ältesten Sohn wohne, dem er Haus und Hof vermacht habe. Der Vater aber war sehr fromm und pflegte jeden Sonntag zur Kirche zu gehen. Doch nun konnte er das nicht mehr, denn
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er hatte keine gute Kleidung. Die alten Sachen waren völlig zerschlissen. Trotzdem nimmt er an einem Sonntag allen Mut zusammen und geht in den alten Kleidern zur Kirche. Dort begegnet er einem früheren Freund, der auch ein reicher Mann war. Er fragt den Alten: „Warum bist du so zerlumpt, Nachbar? Du warst doch ein reicher Mann und ein vermögender Bauer!" Nun erzählte der Alte ihm alles und sagte, daß er zu früh sein Haus dem Sohn überlassen und sein Hab und Gut aufgeteilt habe. Jetzt müsse er selbst am Bettelstab von Tür zu Tür gehen und um Essen betteln, denn seine lieben Kinder seien herzlos und ihm ganz fremd geworden. Sie füttern lieber die Hunde, als ihrem alten Vater einen Bissen zu gönnen . . . „Nun gut. Sei künftig klüger, dann wird's dir auch jetzt gut gehen. Hör zu, was ich dir sage: Komm mit mir nach Hause. Ich habe eine alte Truhe, die gebe ich dir. Fertige so viele kleine Schlüssel an, wie du Kinder hast, und wenn du bei ihnen bist, dann mach dir an einem Schlüsselchen zu schaffen. Wenn sie dich fragen, was das für ein Schlüssel sei, dann verschweige die Wahrheit, sage ihnen vielmehr, daß das der Schlüssel von deinem Hab und Gut sei, das irgendwo aufbewahrt werde. Wenn du einmal stirbst, dann werden sie's bekommen . . . " Nun gut. Man muß es mal ausprobieren. Der Vater begibt sich zum ältesten Sohn und macht sich an einem glänzenden Schlüsselchen zu schaffen. Das bemerkt der Sohn. Er fragt ihn, was das für ein Schlüssel sei. „Nun, das ist der Schlüssel zu meinem Hab und Gut. Wenn ich einmal sterbe, bekommt ihr es. Das Schlüsselchen kann ich dir bereits jetzt geben, und wenn ich auf dem Sterbebett liege, sage ich euch, wo sich mein Hab und Gut befindet." Nachdem der Sohn das vernommen hat, wird er zu seinem Vater so freundlich, wie jeder Sohn zu seinem Vater sein muß, um so mehr noch, da ihm das ganze Lebenswerk des Vater zugute kommt. Als der Vater am Sonntag zur Kirche gehen will, gibt ihm der älteste Sohn seine neuen Kleider und fahrt ihn wie einen Herrn zur Kirche. Das sehen die beiden anderen Söhne und auch die Töchter. Sie denken bei sich: Oh, der Vater ist gar nicht arm, denn der älteste Sohn gibt ihm doch nicht umsonst seine neuen Kleider und fährt ihn dazu noch wie einen Herrn zur Kirche. Nun gehen sie alle auf den Vater zu und begrüßen ihn, und jedes seiner Kinder lädt ihn ein, zu ihm zu ziehen. Der Vater 364
zieht auch zu den anderen Söhnen und erzählt ihnen dasselbe wie dem ältesten Sohn. Nun sorgte der jüngste Sohn dafür, daß~für den Vater neue Kleider genäht wurden, und der mittlere Sohn ließ ihm neue Stiefel anfertigen, so daß der Alte von Kopf bis Fuß wie ein Herr gekleidet und auch gut genährt war. Er lebte wie im Paradies. Jetzt fehlte es dem Alten nicht an Milch und Honig. Alles, was sein Herz begehrte, bekam er von den Söhnen, ohne daß er sie darum bitten mußte. Als er wie in Abrahams Schoß bei ihnen gelebt hatte, trafen ihn einmal die Töchter wieder in der Kirche und sagten: „Unser Vater ist j a stolz geworden — bei uns läßt er sich gar nicht mehr b l i c k e n . . . " Nach Jahren wird der Alte krank. Man holt den Pfarrer, der nimmt die Beichte ab. Der Alte gibt dem Pfarrer alle Schlüssel, die er nach seinem Tod den Kindern verteilen soll. Nachdem der Alte gestorben war, richteten die Kinder eine große Beerdigung aus, und anschließend gab ihnen der Pfarrer die Schlüssel. Sie sind außer sich vor Freude. Sie schicken nach dem Gerichtsvertreter, dem Schreiber und dem Gemeindeältesten. Dann stellen sich die Kinder mit ihren Schlüsseln und der Gerichtsvollzieher und der Aufseher mit gezücktem Schwert vor die Truhe, um alles gerecht zu verteilen. Man schließt die Truhe auf und entdeckt, daß sie völlig leer ist, nur ein alter Stock liegt darin und ein Zettelchen mit den Worten: „Man muß einen Alten mit dem Stock prügeln, damit er nicht sein Hab und Gut den Kindern gibt."
126 IST DAS WAHR?
Es war einmal ein reicher Mann, der eine schöne Tochter hatte. Viele begehrten die schöne Tochter des Reichen zur Frau, aber der Vater sagte jedesmal: „Meine Tochter gebe ich nur dem, der mindestens ebenso reich ist wie ich!" Aber niemand war so vermögend, und so wurde nichts aus der Heirat der Tochter. Doch einmal tauchte ein gescheiter Sohn eines Vaters auf. Er hatte sich eine vornehme Kutsche, gute Pferde und einen schlag365
fertigen Kutscher beschafft und fuhr los, um die Tochter des Reichen zu freien. Unterwegs fragte er den Kutscher: „Verstehst du gut zu lügen?" „Zu lügen verstehe ich zwar nicht, aber das bestätigen, was du sagen wirst, das kann ich gut." „Also dann auf zum Schloß des Reichen!" Bald trafen sie im Schloßhof ein. Der Sohn stieg aus der Kutsche, schaute auf das Schloß und staunte und staunte. Der Reiche kam ihm entgegen und fragte ihn, warum er staune. Der Sohn erwiderte: „Bei uns sehen die Gebäude etwas anders aus. Ich selber besitze ein Schloß, in dem man im oberen Stockwerk die Engel singen hört." „Ist das wahr? Willst du nicht näher treten? Wohin fährst du?" „Ich habe einen weiten Weg vor mir, lieber trete ich nicht erst ein, um nicht unnötig Zeit zu verlieren!" „Nein, nein, du mußt mit hineinkommen. Meine Tochter hat heute ein leckeres Essen bereitet. Du mußt hineinkommen und dich satt essen." So ging der Sohn denn hinein. Doch während er aß, schlich der Reiche zum Kutscher und fragte ihn: „Hör mal, hat dein Herr tatsächlich ein solches Schloß, wie er es vorhin erzählte? Im oberen Stockwerk soll man die Engel singen hören." „Von Engeln weiß ich nichts, denn ich war nie im oberen Stockwerk, aber soviel habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen: Neulich ist ein Huhn aufs Schloßdach geklettert und hat Sterne gesammelt." Als der Reiche das gehört hatte, eilte er zu dem Sohn und begann nun, ihn auf alle erdenkliche Art auszufragen: Wohin er fahre, warum er fahre? „Ich fahre auf Brautschau!" erwiderte der Sohn. „Schön und gut", rief der Reiche, „heute lasse ich dich sowieso nicht fort. Wohin willst du noch eilen — es ist doch bereits Abend?" Der Sohn ließ sich überreden. Nach dem Essen führte ihn der Reiche in den Garten und zeigte ihm seine prächtigen Kohlköpfe. Aber der Sohn zuckte nur mit den Achseln. „Für uns ist das nichts Besonderes. Ich habe selbst so große 366
Kohlköpfe, daß bei starkem Regen zehn, zwölf Mann unter ihnen Zuflucht finden." Als der Reiche das gehört hatte, schlich er wieder zum Kutscher, um sich nach den Kohlköpfen zu erkundigen. Der Kutscher antwortete: „Wie groß sie in diesem Jahr sind, kann ich nicht so genau sagen, denn in diesem Sommer war ich nicht im Garten des Herrn, aber eins weiß ich: Im letzten Jahr hatte ein Wirbelsturm das Dach des Heuschuppens abgedeckt; sofort schnitten wir ein Kohlblatt ab, und mit einem einzigen Kohlblatt haben wir den Heuschuppen wieder gedeckt." „Ist das wahr?" „Aber natürlich; das ist bei uns nichts Besonderes." Darauf führte der Reiche den Sohn in die Käserei, zeigte ihm seine großen Käselaibe und fragte: „Wie macht man bei euch Käse?" „Bei uns wird der Käse von Pferden getreten." Als der Reiche das gehört hatte, schlich er wieder zum Kutscher, um sich nach dem Käse zu erkundigen. Der Kutscher antwortete: „Wie sie dort Käse machen, das weiß ich nicht, denn ich habe mit dieser Arbeit nichts zu schaffen, aber eins weiß ich: Letzte Woche gingen wir in den Wald, um Bäume zu fallen, und nahmen einen Käse mit. Es wurde Essenszeit, wir begannen den Käse mit den Äxten zu spalten, und — stell dir vor — mitten aus dem Käse sprang ein Füllen heraus." Nun wußte der Reiche genug. Sofort geleitete er den Sohn ins Schloß, sprach nur noch vom Heiraten und konnte so nebenbei seine Tochter nicht genug rühmen. Das merkte der Sohn und murmelte mit halber Stimme bei sich: „Eine gute Frau ist eine treffliche Sache. Wenn es mir doch beschieden wäre, eine solche zu bekommen! Aber sie wird mich ja nicht nehmen." Kaum hatte der Reiche diese Worte vernommen, da sagte er schon: „Wer wird dich nicht nehmen, dich, einen so Mächtigen?" „Deine Tochter!" „Sie — und dich nicht nehmen! Das laß mal meine Sache sein! Morgen soll sie sich fertigmachen, übermorgen bereiten wir die Hochzeit vor, überübermorgen findet die Trauung statt, und dann begleite ich euch nach Hause." Dabei blieb es. 367
Am Morgen flüsterte der Sohn seinem Kutscher zu: „Hör mal, alles ist uns gelungen; aber während wir hier Hochzeit feiern, mußt du heimwärts eilen und aus Brettern einen riesenhohen Turm errichten. Sobald ich mit meinem Schwiegervater daheim eintreffe, zündest du den hohen Bretterturm an. Der Schwiegervater wird dann fragen, was dort brennt, und ich werde antworten: ,Ach, welch ein Unglück! Während wir Hochzeit feierten, ist mein hohes Schloß niedergebrannt, meine Kohlköpfe sind versengt, und mein Käse ist verkohlt.' Alles gelang, wie verabredet. Der Schwiegervater jammerte zwar sehr über das niedergebrannte Schloß, aber schließlich rief er aus: „Fehlt es mir denn vielleicht an Geld? Hier, mein lieber Schwiegersohn, nimm, soviel du brauchst, und baue ein neues Schloß!" 127 DAS GUTE MÄRCHEN
Ein Vater hatte drei Söhne. Einmal ritten alle drei zum nächtlichen Pferdehüten, sammelten Reisig und wollten ein Lagerfeuer machen, aber niemand hatte etwas zum Feuermachen mit. Was nun? Zum Glück erblickten sie weit am Waldrand einen Feuerschein. Sie dachten, daß dort auch Hirten nachts Pferde hüten, und sie beschlossen gleich, daß der älteste Bruder von ihnen Feuer holen solle. Nun gut. Er brach auf — bald war er schon ganz nahe dort. Da erblickte er an einem Lagerfeuer einen alten Mann, der das Feuer schürte und in der Asche herumwühlte. Nun überlegt sich der älteste Bruder, ob er zu dem Alten gehen soll oder nicht. Er entscheidet sich, es zu tun, geht hin und bittet ihn um Feuer. Der Alte antwortet: „Wenn du Märchen zu erzählen und tüchtig zu lügen verstehst, bekommst du Feuer; wenn nicht, dann schneide ich dir drei Hautstreifen aus dem Rücken." Zitternd entschuldigt sich der älteste Bruder, daß er weder Märchen zu erzählen noch zu lügen verstehe. Nichts zu machen — der unbarmherzige Alte schnitt ihm drei Hautstreifen aus dem Rücken, und mit einem übel zugerichteten Rücken und ohne Feuer kam er zu seinen Brüdern zurück. 368
Sie überlegten wieder hin und her und entschieden, daß nun der mittlere Bruder Feuer holen muß. Er machte sich auf. Nachdem er ein Stück gegangen ist, sieht er einen alten Mann an einem Feuer hocken, der das Feuer schürt und in der Asche herumwühlt. Er geht auf ihn zu und bittet ihn um Feuer. Der Alte antwortet: „Wenn du Märchen zu erzählen und tüchtig zu lügen verstehst, bekommst du Feuer; wenn nicht, dann schneide ich dir drei Hautstreifen aus dem Rücken." Zitternd entschuldigt sich der mittlere Bruder, daß er weder Märchen zu erzählen noch zu lügen versteht. Nichts zu machen — der Alte schnitt ihm drei Hautstreifen aus dem Rücken und schickte ihn ohne Feuer fort. Nun mußte der dritte Bruder, der jüngste, nach Feuer gehen. Er machte sich auf und fand denselben Alten vor, der das Feuer schürte und in der Asche herumwühlte. Der jüngste Bruder trat an ihn heran und bat um Feuer. Der Alte antwortete: „Wenn du Märchen zu erzählen und tüchtig zu lügen verstehst, bekommst du Feuer; wenn nicht, dann schneide ich dir drei Hautstreifen aus dem Rücken." Der jüngste Bruder sagte, daß er Märchen zu erzählen und tüchtig zu lügen verstehe, und er begann. Einst schickte ihn sein Vater zum Pflügen aufs Feld. Er pflügte und pflügte — plötzlich wurde der Himmel ganz finster, und es begann in Strömen zu gießen. Nun überlegte er, wohin er sich retten sollte! Doch am Feldrand stand eine große Eiche, die in der Mitte ein Loch hatte; an diese Eiche band er seine Stute und kroch selber in die Eiche. Als es aufgehört hatte zu regnen, war das Loch in der Eiche zugewachsen, und nun mußte er sich ausdenken, wie er aus ihr wieder herauskam. Zum Glück fiel ihm ein, daß sein Vater zu Haus eine kleine Axt hat. Sofort ging er heim, um die kleine Axt zu holen, und befreite sich mit ihrer Hilfe. Nun sprang er auf die Stute und ritt nach Hause, aber vom starken Regen waren alle Pfützen voller Wasser. Als die Stute über eine Pfütze sprang, riß sie in der Mitte durch: Ihre Hinterbeine blieben auf der einen Seite der Pfütze, die Vorderbeine auf der anderen. Nichts zu machen — er ging in den Wald, hieb von einer Espe einen Knüppel ab, steckte ihn durch die Stute und schob die Rippen aneinander; sie wuchsen zusammen, und nun konnte er weiterreiten. Aber noch war er nicht zu Hause. Plötzlich stieß er im Wald auf eine 24
Lettische Volksmärchen
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riesige Espe, die bis in den Himmel gewachsen war. Er wollte auf ihr in den Himmel klettern, doch während er an den Ästen immer höher stieg, begann die Espe, die unten am Stamm schon alt war, stammaufwärts zu faulen. Schließlich befand er sich auf dem Wipfel und konnte nicht mehr herunterkommen. Da fiel ihm ein, daß sein Vater in der Scheune Buchweizenspreu hat. Er ging in die Scheune, flocht aus Buchweizenspreu ein ellenlanges Seil, befestigte es am Wipfel der Espe und ließ sich am Seil glücklich vom Himmel auf die Erde hinunter. Für das Erzählen eines solchen Märchens und für so tüchtige Lügen gab der Alte dem jüngsten Bruder sogleich Feuer. Er ging damit zu den älteren Brüdern zurück. Sie machten nun ein Lagerfeuer und wärmten sich alle drei. 128 DER B I E N E N H I R T
Als ich noch nicht geboren war, war ich drei Arschin lang. Ich war damals Hirt, und in meiner Herde befanden sich zwölf Bienen. Früh beim Austreiben und abends beim Heimtreiben mußte ich stets zählen, ob noch alle Bienen da sind. Eines Abends entdeckte ich beim Zählen, daß eine Biene fehlte. Ich machte mich auf, um sie zu suchen. Da sehe ich, wie im Schlamm eines tiefen Grabens ein Wolf mein Bienchen zerfleischt. Ich fange an zu schreien, aber der Wolf läßt die Biene nicht los. Ich ergreife mich selbst am Haarschopf und schleudere mich in den Graben, aber ich bleibe im Schlamm stecken und komme nicht mehr von der Stelle. Ich laufe heim, hole einen Spaten und grabe meine Füße aus. Den Wolf habe ich veijagt, doch von meinem Bienchen waren nur noch die Seitenknöchelchen übriggeblieben. Ich ging nach Hause und holte Töpfe. In drei Töpfen pökelte ich Fleisch, aber die Knochen verstreute ich auf einem Löf Land. Ich merke, daß man diesen Boden nicht pflügen kann. So beginne ich, die Knochen aufzusammeln, und werfe sie in den Graben. Aber es geschah ein Unglück. Als ich den Rückenknochen des Bienchens werfe, fallt er bis in den Himmel. Was nun? Ich muß in den Himmel steigen. Ich tpe es. Und weißt du, was ich dort sah? Mein Vater und dein Vater pflügten Brachland.
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ANHANG
NACHWORT Die Sammlung und Publikation der lettischen
Volksmärchen
Will man die bedeutende Rolle der Folklore im Leben und in der kulturellen Entwicklung des lettischen Volkes richtig verstehen und würdigen, so muß man sich zunächst einen kurzen Einblick in die historischen Geschicke. Lettlands verschaffen. Diese Kenntnis wird es dem Interessierten ermöglichen, den Ideengehalt der lettischen Volksdichtung und deren sozialpolitische Bedeutung im Leben des Volkes für die Vielfalt und Spezifik der Gattung sowie der künstlerischen Form der lettischen Volksdichtung zu erkennen. Gegen Ende des 1. Jahrtausends unserer Zeitrechnung wohnten auf dem Territorium des heutigen Lettland baltische Stämme (von Westen nach Osten: Kuren, Semgalen, Letgalen), außerdem Liven, die ein finno-ugrisches Idiom sprachen (in den am Meer gelegenen Gebieten von Kurzeme und Vidzeme). Eine vergleichsweise hoch entwickelte Agrikultur war die wichtigste Voraussetzung für die Auflösung der Urgemeinschaft und den Übergang zu einer neuen, fortschrittlicheren Gesellschaftsordnung — dem Feudalismus. Im 9. —12. Jahrhundert bildeten sich bei den in Lettland lebenden Stämmen die ersten Erscheinungsformen des Frühfeudalismus heraus, und die Konsolidierung des lettischen Volkes begann. Schon im 9. Jahrhundert berichten skandinavische Quellen vom Bestehen eines auf territorialer Grundlage organisierten politischen Verbandes in Westkurzeme. Es wird „das Reich" (regnum) der Kuren erwähnt, das in fünf Bezirke (civitates) mit mehreren befestigten Siedlungen eingeteilt ist. Hier finden sich Zeugnisse über Wirtschaftsverbindungen mit Skandinavien, und es wird ein „Herrscher" (rex) erwähnt, der gegen die eindringenden Wikinger kämpfte. Sicherlich muß die Terminologie der alten Chroniken stellenweise angezweifelt werden, dennoch dürfte feststehen, daß sich in jenen Jahrhunderten auf dem Gebiet Lettlands halbfeudale territoriale Einheiten mit Ältesten an der Spitze herausgebildet haben. Es waren Gebiete vermögender Grundbesitzer mit einem befestigten Lager, einer Burg oder einer Stadt als Zentrum. Die Dokumente des 12. JahrKunderts erwähnen bereits verschiedene Stammesführer, deren Macht große Gebiete und mehrere Vasallen unterworfen waren (Kaupo im livischen Gebiet mit der Burg Turaida; Tälivaldis im letgalischen Tälava u. a.). Bereits im 10. Jahrhundert befand sich der östliche Teil des heutigen Lettland in feudaler Abhängigkeit von den russischen Fürsten von Polock und Pskov (Vjaöko in Koknese, Visvaldis in Jersika). Diese Abhängigkeit hatte zwar noch recht nominellen Charakter, dennoch können wir von gewissen ökonomischen und kulturellen Einflüssen (Steuerabhängigkeit bzw. Verbreitung des Christentums) sprechen. 373
Im 11.—12. Jahrhundert hatte in Westeuropa bereits die Epoche des vollentwickelten Feudalismus begonnen und eine rasche Entfaltung von Handwerk und Handel mit sich gebracht. Gleichzeitig traten Expansionsbestrebungen auf, die auf die Inbesitznahme der Handelswege und neuer Territorien zielten. Im Rahmen dieser feudalen Expansion begann auch der Druck der westeuropäischen Feudalzentren auf die von Westslawen und Balten bewohnten Gebiete. Mit dem Segen des römischen Papstes erschienen schließlich im 12. Jahrhundert an der Mündung der Daugava und an der Ostseeküste deutsche Kaufleute und christliche Missionare. Von militärischen und ökonomischen Stützpunkten aus (1186 — fkcile/Uexküll, 1201 — Riga) begann die Unterwerfung des Gebiets der baltischen Stämme. Die Geschichte des 13. Jahrhunderts war durch blutige Kämpfe gekennzeichnet, in denen der Kreuzritter- und der Deutsche Orden unter geschickter Ausnutzung der Meinungsverschiedenheiten und Zwistigkeiten zwischen den einheimischen Stammesführern für sich und die katholische Kirche Lettland und Estland unterwarfen. So bildete sich Livland heraus — ein Konglomerat feudaler Kleinstaaten, deren größter Staat — Gebiete der Esten, Liven und Balten umfassend — dem Deutschen Orden gehörte. Damit wurde die natürliche Herausbildung der feudalen Gesellschaftsordnung an der Ostseeküste unterbrochen, und nur einigen Vertretern der herrschenden Schichten gelang es, ein geringes Maß an Vasallenrechten zu bewahren. Die Bewohner Lettlands und Estlands wurden Bauern auf den Gütern der fremden Feudalherren. Die Verwaltung des Landes, die Lenkung der politischen Geschicke rissen die erobernden Ritter und deren Nachfolger für viele Jahrhunderte an sich. Immer stärker drückte das Joch der Leibeigenschaft, das Land wurde von den Kämpfen und Kriegen, die die herrschenden Feudalherren untereinander führten, verwüstet, und Bauernerhebungen (so 1343 — 1345 in Estland) wurden grausam unterdrückt. Sebastian Münster, der bekannte Gelehrte des 16. Jahrhunderts, berichtet in seiner Kosmographie (Kosmographey . . . Basel 1550): „Es ist das gemein bauwrs volck in disem Land fast ein leibeigen volck / unnd wirt gar rauch unnd hert von jren oberherren / sonderlich von ettlichen Edelleüten und der ordenßherren amptleüten oder landtknechten. Die seind so unbarmhertzig gegen jnen / so sie jnen werden daß ein armer bauwr ein güt pferd / ochs oder küw erzogen oder sunst überkomen hatt / suchen sie ein ursach wie könen / domit sie jm daß selbig abstreiffen und auß dem rucken schlagen. Entlauft jnen ein bauwr / wie sie offt hungers / marter unellends halben thun müssen / un jn darnach widerüberkommen / hauwen sie jm ein bein ab / damit er jhnenit mehr entlauft. Es ist das eilendest und betrübtest volck / daßgleichen und der sonen nit funden wirt." Die Ostsee war stets ein wichtiger Verkehrsweg zwischen Ost- und Westeuropa. Im Kampf um die Herrschaft über dieses Meer prallten so nur allzuoft die Interessen der Länder aufeinander, für die es ein Handelsweg war: auf die baltische Küste erhoben Schweden, Polen, Dänemark und das schnell wachsende zentralisierte russische Reich Anspruch. Als Folge des blutigen Livländischen Krieges (1558 — 1583) zerfielen die
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kleinen Ordensstaaten und Bistümer, und der .größte Teil des lettischen Territoriums geriet in Abhängigkeit von Polen. Kurzeme und Semgale wurden Herzogtümer und Vasallen Polens, und in einigen Gebieten Kurzemes regierten die Dänen. Die'neuen Landesherren stützten sich auf die einheimischen Gutsbesitzer, deren Privilegien noch zunahmen, während die lettischen Bauern immer rechtloser und ärmer wurden. D a r a n änderte auch die Tatsache nichts, d a ß der westliche Teil Vidzemes im 17. J a h r hundert in den Machtbereich der Schweden geriet. Der Nordische Krieg (1700—1721) verwüstete Lettland und Estland aufs grausamste. Im Ergebnis erhielt Rußland den Zugang zur Ostsee, und das gesamte von Letten bewohnte Gebiet wurde einem einzigen Reich eingegliedert. Damit waren die G r u n d l a g e n der späteren ökonomischen Entwicklung Lettlands gelegt; das im 13. Jahrhundert gewaltsam durchrissene Band mit dem russischen Volk wurde erneuert, und es entstanden die Vorbedingungen für den Prozeß der Herausbildung der lettischen Nation. Die Lage der Volksmassen — zu jener Zeit der Bauernschaft — verbesserte sich damit nicht, denn die Privilegien der einheimischen Gutsbesitzer und Bürger blieben erhalten, ja sie wurden sogar noch erweitert. So sind das 18. und das 19. Jahrhundert durch das Aufflammen zahlreicher Bauernunruhen charakterisiert. In der Mitte des 19. Jahrhunderts begann die Herausbildung kapitalistischer Produktionsverhältnisse; in den baltischen Provinzen entstand das Proletariat. Während der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1905/1906 bildete die lettische Arbeiterklasse in engem Bündnis mit den breitesten Schichten der Bauern einen jener Vortrupps der revolutionären Bewegung, die zugleich gegen den Zarismus und gegen die ökonomische und nationale Unterdrückung durch die einheimischen Gutsbesitzer kämpften. Dieser Kampf war erst nach der G r o ß e n Sozialistischen Oktoberrevolution siegreich, als 1919 Sowjetlettland gegründet wurde. Allerdings — mit Unterstützung ausländischer Imperialisten gelang es der lettischen Bourgeoisie, die Sowjetmacht in Lettland zu stürzen, und erst 1940 wurde sie wieder errichtet. Ungeachtet der Opfer und der Zerstörungen infolge der O k k u p a t i o n von Seiten des faschistischen Deutschland (1941 — 1945) ist Lettland heute eine der industriell höchstentwickelten Sowjetrepubliken. Wie wir sehen, hatte das lettische Volk auf G r u n d seiner Geschicke jahrhundertelang keine Möglichkeit, sich aktiv an der Gestaltung der ökonomischen und politischen Entwicklung seines Landes zu beteiligen. Faktisch konnte sich das geistige Leben bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts nur im Volkskunstschaffen äußern, denn die Herausbildung der Wissenschaft und der geschriebenen Literatur befand sich während dieser ganzen Zeit in den Händen der fremden herrschenden Schichten; sie erfolgte völlig isoliert von den Interessen und Bestrebungen der autochthonen Bevölkerung. Die Folklore als einzige Ausdrucksform nationaler Kultur war so in diesen Jahrhunderten eine bedeutsame Waffe im Kampf um die Selbsterhaltung des Volkes, sie ist ein kostbares Erbe, das sich, sorgsam bewahrt und gepflegt, bis in unsere Tage erhalten hat. Aus den Besonderheiten der Geschichte des lettischen Volkes läßt sich
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auch weitgehend erklären, warum ein ernsthaftes wissenschaftliches Interesse für Volkssagen und Märchen, für die Folklore überhaupt, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts festzustellen ist. In den Chroniken des 13. -14. Jahrhunderts (Heinrich der Lette, Reimchronik) finden sich fragmentarische Hinweise auf die geistige Kultur der baltischen Stämme. Hier werden in Gegenüberstellung zu den Beschreibungen der Heldentaten des Kreuzritterordens und des Deutschen Ordens der Volksglaube und der Aberglaube „der Eingeborenen" erwähnt, ebenso ihre Klagelieder nach den Kämpfen gegen die Eroberer. In Beschreibungen aus dem 16. —17. Jahrhundert (Wartmann, Nienstedt, Fabricius) sind einige lettische Sagen zu finden. Als erste Veröffentlichung dieser Art gilt die von Wartmann (1584) aufgeschriebene Sage über die Kirche in Rèzekne. In den Kirchen Visitationsprotokollen desselben Jahrhunderts, in denen der Aberglaube und die Anschauungen der lettischen Bauern mit großer Schärfe angegriffen werden, sind auch Märchen, Zaubersprüche und Beschreibungen von Bräuchen enthalten. Einen heftigen Kampf gegen „das Heidentum" des Volkes führte in Kurzeme der Superintendent Paul Einhorn, dessen 1627 erschienenes Buch Widerlegung der Abgoterev und Aberglaubens u. a. auch einen indirekten Einblick in Sujets und Gestalten von Volksmärchen und -sagen bietet. Im 16. und 17. Jahrhundert erschienen dann die ersten Bücher geistlichen Inhalt für die Bedürfnisse der lettischen Kirchen. Georg Mancelius(1593 bis 1654), Pfarrer in Jelgava. ein führender Vertreter des geistigen Lebens dieser Zeit, zitiert in seinen Kirchenbüchern besonders häufig Volkssagen von Hexen, dem Heiligen Georg, dem segenbringenden Drachen, der Feindschaft zwischen Pérkons und dem Teufel u. a„ die er selbstverständlich vom Standpunkt des Christentums verurteilt. Im 18. Jahrhundert hat Gotthard Friedrich Stender (1714—1796) bedeutsame Spuren in der lettischen Folkloristik, vor allem auf dem Gebiet der erzählenden Folklore, hinterlassen. Er wirkte lange Jahre als Pfarrer in Kurzeme, und 1766 erschienen in Jelgava (2. Ausgabe 1789) seine Jaukas pasakas in stästi (Hübsche Märchen und Geschichten), die u. a. 80 Märchen enthalten. Als Quelle dienten ihm Àsop, Phädrus, die Gesta Romanorum, außerdem Martin Luther und andere deutsche Überlieferungen. Den größten Teil seiner Sammlung bilden Fabeln mit moralischen Lehren, die in der Erkenntnis gipfeln, der lettische Bauer solle ein sittsames, einfaches Leben führen und den Herren und deren Befehlen gehorchen. G . F. Stender war bemüht, durch seine Fabeln die Volksmärchen zu ersetzen, die nach seiner Auffassung ohne nützliche Lehren seien. Stender leitete damit, was die Beziehungen zur lettischen Prosafolklore betrifft, eine ganz neue Richtung ein, die in der für die Letten bestimmten Literatur bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschend blieb. In Zeitschriften, Kalendern und anderen Veröffentlichungen erschienen — nacherzählt und z. T. in Lettland lokalisiert — Märchen und Sagen anderer Völker, vorwiegend der Deutschen. So gab Jèkabs Zvaigznitis ( 1833— 1867) Bände mit Märchen der Brüder Grimm heraus (1. Bd. 1859, 2. u. 3. Bd. 1861), der Pfarrer P. K. Schatz (1844) veröffentlichte in seiner für Schulen gedachten Pirmä lasisoiuis grämata (Erstes Lesebuch, bis 1883 in acht Auf-
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lagen) und L. Heerwagen in Skolas maize (Schulbrot, 1867—1886 erschienen zehn Auflagen) Märchen der Brüder Grimm und Kunstmärchen H. Chr. Andersens. Ebenso wie die Märchen G. F. Stenders sind die in den Schulbüchern veröffentlichten Märchen anderer Völker teilweise in den Märchenschatz des lettischen Volkes übergegangen. So wurde auch 1805 die erste Geschichte aus 1001 Nacht veröffentlicht, und in den sechziger Jahren folgte eine Reihe kleiner Sammlungen arabischer Zaubermärchen. Wenn man von einigen Veröffentlichungen lettischer Volksmärchen und Sagen (beginnend mit dem Jahr 1835) in der in Jelgava erscheinenden Zeitschrift Latviesu avizes (Lettische Zeitungen) absieht, ist die lettische Prosafolklore bis zu den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bei Sammlern und Forschern wenig beachtet worden. Einer der ersten lettischen Dichter, Juris Alunäns, bemerkte, als er 1856 eine estnische Sage veröffentlichte, da&die lettischen Märchen und Sagen bereits verlorengegangen seien. Auch der Verfasser der ersten lettischen Literaturgeschichte (1860), B. Diri(cis, meinte, daß die Märchen der Letten schon verschwunden seien oder sich mit Märchen anderer Völker vermischt hätten. Die ersten Schritte zur Sammlung und Priorschung der lettischen Volksmärchen unternahm August Bielenstein (1826—1907), der bedeutende baltendeutsche Gelehrte und langjähriger Pfarrer von Dobele. Neben seiner verdienstvollen Tätigkeit auf dem Gebiet der lettischen Sprachwissenschaft und Ethnographie begann er um 1865 mit dem Sammeln von Volksmärchen. So bereitete er mit seinen Mitarbeitern etwa 240 Märchen zur Veröffentlichung vor. Aus Bielensteins Feder stammt auch die erste wissenschaftliche Abhandlung über lettische Volksmärchen (Das Volksmärchen in der Zeitschrift Baltische Monatsschrift, Riga 1874), die eine Analyse der mythologischen Elemente im lettischen Märchen gibt und einen Vergleich mit deutschen Märchen und Erzählungen antiker Völker liefert. Als der eigentliche Begründer der Märchenforschung in Lettland ist Fricis Brlvzemnieks (1846—1907) anzusehen. Er lebte und arbeitete in Moskau, wo er das bei den russischen Wissenschaftlern bestehende Interesse für die baltischen Völker ausnutzen konnte. Mit ihrer Unterstützung begann er eine breitangelegte Sammlung lettischer Folklore und ethnographischen Materials. 1869—1870 begab er sich nach Lettland, organisierte und propagierte dort die Sammelarbeit und fand bei der lettischen Intelligenz und bei breitesten Schichten des Volkes ein lebhaftes Echo. Nach Moskau und in die Archive der lettischen Vereine von Jelgava und Riga wurden zahlreiche Aufzeichnungen von Volkserzählungen eingesandt. Binnen kurzer Zeit verfügte F. Brivzemnieks über etwa 1230 Märchentexte. Die Unterstützung durch die russischen wissenschaftlichen Einrichtungen ermöglichte die Veröffentlichung des gesammelten Materials. Nach Publikationen von Volksliedern, Sprichwörtern und Rätseln erschien 1887 in Moskau in russischer Sprache die erste Sammlung lettischer Volksmärchen (Sbornik po etnografii, vypusk II [Ethnographische Sammlung 2. Band], Moskva 1887, herausgegeben von Fr. Brivzemnieks). Dieser Band enthält 148 Märchen und Sagen mit einem deutlichen patriotischen Einschlag: Märchen über Volkshelden, Ortssagen über Riga,
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Kuldiga, D u n d a g a . Im selben Jahr erschien auch in Riga eine Sammlung in lettischer Sprache, in die F. Brivzemnieks 27 Märchen a u f n a h m . Wenn F. Brivzemnieks Anregungen für das Sammeln der Volksliteratur gab, so wollte er damit vor allem auch Wissenschaftler anderer Völker mit den besten Zeugnissen der lettischen Kultur bekannt machen. F. Brivzemnieks hat sich zwar nicht eigentlich mit der Erforschung der Folklore beschäftigt, dennoch stellen einige seiner Ansichten einen wichtigen Beitrag zur lettischen Folkloristik dar. F. Brivzemnieks betrachtete die Folklore, in erster Linie die Sagen und Märchen, als die eigentliche Literatur des Volkes; nach seiner Meinung seien sie viel älter und im Volk viel lebendiger als die bis dahin von den deutschen Pfarrern in lettischen Büchern veröffentlichten Erzählungen. Diese alte Literatur, die national sei im besten Sinne dieses Wortes, müsse daher gesammelt und für kommende Generationen bewahrt werden. Das Volk trage das weiter, was seine Gedanken und Ansichten zum Ausdruck bringt, und im Lauf der Jahrhunderte werden diese Werke immer m e h r verbessert und ausgefeilt. Zwar seien die einstigen Schöpfer der Märchen und Lieder schon längst vergessen, doch das Volk habe ihre Werke in kollektiver Weise weiter geformt und gestaltet. Er berührt auch die Frage der Ähnlichkeiten, die zwischen den Märchen verschiedener Völker bestehen, doch die Erforschung des Problems überläßt er „der Wissenschaft der neuen Zeit". Wenn m a n die Sammeltätigkeit in den siebziger und achtziger Jahren des 19. J a h r h u n d e r t s betrachtet, m u ß auch Ed. Wolters (Vol'ter) erwähnt werden, der 1882—1883 in Latgale folkloristisches und ethnographisches Material gesammelt hat. Ein Teil (vorwiegend Lieder des Brauchtums) wurde 1890 herausgegeben, aber eine beträchtliche Anzahl vor allem der Märchen ist unveröffentlicht geblieben und wird in Leningrad im Archiv der Akademie der Wissenschaften aufbewahrt. Hier befinden sich mehrere Hefte mit Märchen, die in Latgale aufgezeichnet wurden, darunter auch die erste Aufzeichnung latgalischer Märchen aus dem J a h r e 1847, ebenso die Mitteilung Ed. Wolters' über seine Reise in diese Gebiete und interessante Beobachtungen über die Verbreitung lettischer und russischer Märchen und ihre Beziehungen zueinander. Von Ed. Wolters' Interesse für die Volkserzählung zeugt auch seine allerdings nicht sehr umfangreiche Bibliographie lettischer Märchen von 1912 (in der Zeitschrift Zivaja Stahna [Lebendiges Altertum] Nr. 3—4, 1912, 43). F ü r die Aufzeichnung lettischer Märchen interessierte sich auch J. Sprogis (1833—1916). Einen Teil der von ihm selbst notierten M ä r c h e n (aus der Gegend um Koknese und P|avipas) schickte er 1887 an F. Brivzemnieks nach M o s k a u . Von den 25 Märchen n a h m dieser in seine S a m m l u n g (in lettischer und russischer Sprache) 8 Märchen auf. Die ersten Sammler und Forscher der lettischen Volkserzählung arbeiteten auf Anregung und mit Unterstützung russischer Wissenschaftler und Vereine. Ebenso wie F. Brivzemnieks waren auch Ed. Wolters und J. Sprogis außerhalb Lettlands tätig. Indem sie sich die in der damaligen russischen Gesellschaft herrschenden Bestrebungen zunutze machten, welche auf eine Schwächung des Einflusses der deutschen Gutsbesitzer im
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Baltikum und die Annäherung der dortigen Völker an Rußland gerichtet waren, gelang es ihnen, unter russischen Wissenschaftlern und Einrichtungen Unterstützung für das Sammeln von Erzeugnissen der lettischen materiellen Kultur und Folklore zu finden. Nachdem das Interesse an der Volksdichtung einmal geweckt war, häufte sich das gesammelte Material in den Archiven bald derart an, daß die Notwendigkeit der Ordnung und Auswertung immer deutlicher spürbar wurde. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts begann A. Lerhis-Puskaitis (1859—1903), der sein ganzes Leben lang als Lehrer in Dzükste/Kurzeme tätig war, mit der Sammlung von lettischen Volksmärchen und Sagen. Durch F. Brivzemnieks angeregt, sammelte er in seiner näheren Umgebung und zeichnete 2023 Märchen- und Sagenvarianten auf. 1891 erschien der 1. Teil mit 197 Märchen, dem der 2. und 3. Teil unmittelbar folgten. Offenbar hatte A. Lerhis-Puskaitis zunächst nicht die Absicht, diese Märchen und Sagen auch zu klassifizieren, denn die drei Teile enthalten nur das von ihm gesammelte Material ohne jedes Ordnungsprinzip. Er erhielt bei seiner Arbeit zunächst auch keinerlei Unterstützung vom Lettischen Verein in Riga oder von anderen Einrichtungen. D a s beweist die Tatsache, daß er den vierten Teil, der die Varianten der in die drei ersten Bände aufgenommenen Märchen enthält, auf eigene Kosten veröffentlichen mußte. Mit der Herausgabe dieses vierten Teiles (1893) beendete A. LerhisPuäkaitis seine ursprünglich geplante Arbeit. Im selben Jahr — 1893 — schickte aber auch F. Brivzemnieks seine gesammelten Sagen und Märchen an A. Lerhis-Puskaitis. So mußte die Arbeit fortgesetzt werden, und 1894 erschien der fünfte Teil der Märchen und Sagen auf der Grundlage von F. Brivzemnieks' Material. Nunmehr erhielt A. Lerhis-Pu§kaitis alle größeren lettischen Materialsammlungen, darunter auch die vom Lettischen Verein in Riga und von A. Biqlenstein gesammelten Märchen. Diese veröffentlichte er noch 1896 im sechsten Teil seines Werkes. 1903 erschien schließlich die erste Hälfte des siebenten Teiles, der im Umfang alle bisherigen Teile übertrifft. Die zweite Hälfte des siebenten Teiles ist nicht mehr herausgegeben worden. So hat A. Lerhis-Puskaitis insgesamt 6002 Varianten in sieben Bänden zusammengetragen. Es besteht kein Grund, seine Behauptung zu bezweifeln, daß darin das gesamte bis 1900 bekannt gewordene Märchen- und Sagenmaterial enthalten ist. Die Erschließung dieses reichen Materials erheischte nun eine Klassifikation. Den ersten Versuch in dieser Richtung unternahm A. LerhisPuskaitis in der Einleitung des 7. Teiles seiner Sammlung. Er stützte sich in seinen theoretischen Ansichten jedoch völlig unkritisch auf die in jener Zeit in Westeuropa populären Anschauungen der Anthropologischen Schule. So war er der Meinung, daß Grundlage und Hauptidee aller Volksmärchen animistische Vorstellungen seien, und als wichtigstes Material für die Grundlage der Klassifikation betrachtete er die Sagen und Märchen, in denen ein Widerhall des Seelenkultes mehr oder weniger spürbar ist. Das Wesentlichste der Erzählüberlieferung — die Verbundenheit der Märchen und Sagen mit dem Leben und den Bestrebungen des Volkes — erachtete er somit als weniger bedeutsam, ja zweitrangig. Leider muß man
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deshalb feststellen, daß A. Lerhis-Puskaitis es nicht vermocht hat, in seiner Sammlung ein übersichtliches Klassifikationssystem anzuwenden. Bedauerlicherweise verhielt er sich auch dem ihm zugesandten Material gegenüber völlig unkritisch. Er bemühte sich nicht, Märchen von Sagen zu unterscheiden, und nahm in seiner Sammlung auch die ihm zugesandten Zaubersprüche, Spukgeschichten u. dgl. auf, ja-es scheint, daß auch zweifelhafte Aufzeichnungen von Erzählungen etwa über pseudomythologische Gottheiten hineingelangt sind. In der Einleitung äußert A. Lerhis-Puäkaitis auch seine Anschauungen zur Entstehungszeit und zum Alter der Märchen und Sagen. Nach seiner Meinung ist die Gesamtheit der lettischen Erzählungen vom lettischen Volk selbst geschaffen und von Generation zu Generation vererbt worden. Aus dieser Ansicht heraus ist wohl auöh die unbedenkliche Haltung von A. Lerhis-Puäkaitis gegenüber dem Material seiner Sammlung zu erklären: Jede in seine Hände gelangte Aufzeichnung betrachtete er als gleichwertig, als einen vom Volk bewahrten und gehüteten Schatz. So sind seine Ansichten vielfach wesentlich unkritischer als die von F. Brivzemnieks, der auch den Einfluß fremder Volkserzählungen auf das Repertoire der lettischen Märchen sowie gemeinsame Traditionen im Volksschaffen verwandter Völker in Betracht zog. Bei allen Einwänden, die gegen die theoretischen Ansichten von A. Lerhis-Puäkaitis vorgebracht werden können, ist doch seine vorbildliche Sammel- und Publikationstätigkeit positiv zu bewerten. Die sieben Bände der Märchen und Sagen stellten jahrzehntelang die einzige größere Sammlung lettischer Volksprosa dar. A. Lerhis-Puäkaitis hat ihr ein Register der Einsender und Sammler beigefügt und die Namen und den Wohnort der Erzähler von 144 Märchen und Sagen erwähnt, leider fehlen jedoch Mitteilungen über die Beschäftigung und soziale Stellung der Erzähler. Selbstverständlich wäre die Arbeit A. Lerhis-Puskaitis' ohne das Interesse und ohne die Mitarbeit einer breiten Öffentlichkeit unmöglich gewesen. Ebenso wie das Lebenswerk des bedeutenden Sammlers und Herausgebers lettischer Volkslieder Krisjänis Barons (1835 — 1923), acht Bände der Latvju Dainas (Lettische Dainas, 1894—1915), konnte auch die Märchensammlung von A. Lerhis-Puskaitis nur durch die Hilfe vieler Mitarbeiter und Förderer verwirklicht werden. Ende des 19. Jahrhunderts beteiligte sich fast die gesamte Intelligenz an der Sammlung der lettischen Folklore. So nimmt unter den 550 Korrespondenten von A. Lerhis-Puskaitis der spätere realistische Schriftsteller E. Birznieks-Upitis einen wichtigen Platz ein. Eine Materialsammlung, von deren Ergebnissen A. Lerhis-Puskaitis 786 Varianten verwendete, organisierte die fortschrittliche Zeitung Dienas Lapa (Tageblatt); an ihr wirkte der berühmte Volksschriftsteller J. Rainis mit, ebenso der als Staatsmann und Funktionär bekannt gewordene P. Stuöka. Auch die Lettischen Vereine in Riga und Jelgava beteiligten sich aktiv an der Sammelarbeit. Die Sammlung von A. Lerhis-Puskaitis enthält — im Vergleich zu anderen Gebieten Lettlands — sehr wenig Material aus dem katholischen Latgale (nur 54 Varianten). Das ist vor allem aus der reaktionären Rolle des
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Klerus in der Entwicklung des dortigen Geisteslebens zu erklären. Dennoch entstanden in den neunziger Jahren wenigstens zwei, allerdings von Ausländern vorbereitete, größere Sammlungen der Erzählfolklore aus Latgale: Vladimir Veryho publizierte 1892 in Warschau im 10. Band der Schriftenreihe Wisla 32 latgalische Märchen in polnischer Übersetzung, und 1891 bis 1892 erschien in Krakow eine Sammlung von S. Uljanowska, in der 53 latgalische Märchen und 22 Anekdoten im Original und gleichzeitig in polnischer Übersetzung enthalten sind. Diese beiden kleinen Sammlungen, die A. Lerhis-Puskaitis einen Einblick in die Lage der latgalischen Volksprosa gegen Ende des 19. Jahrhunderts hätten bieten können, waren ihm leider nicht bekannt. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als die Revolution von 1905—1907 und die ihr folgende Reaktionsperiode das öffentliche Interesse zwangsläufig in eine andere Richtung lenkten, ist ein gewisser Rückgang in der Sammel- und Veröffentlichungstätigkeit zu verzeichnen, das gleiche gilt für die Lösung theoretischer Fragen der folkloristischen Forschung. Ab und zu erschienen zwar kleinere Sammlungen lettischer Märchen und Sagen, diese Veröffentlichungen dienten aber mehr den materiellen Interessen der Herausgeber als wissenschaftlichen Zwecken. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts begann Peteris Smits (1869—1938) auf dem Gebiet der lettischen Folkloristik zu arbeiten. Als Fachmann für orientalische Sprachen war er an den Hochschulen Harbin, Peking und Wladiwostok und erst seit 1920 an der lettischen Universität tätig. Schon während seines Aufenthalts im Femen Osten verfolgte er aufmerksam das Leben in seiner Heimat und widmete sich gleichzeitig volkskundlichen Forschungen. So entwickelte er sich allmählich zum bedeutendsten Volkserzählforscher im Lettland der vorsowjetischen Zeit. P. Smits' erste Veröffentlichungen zu Fragen der lettischen Märchen und Sagen richteten sich gegen pseudomythologische Verfälschungen bei der Aufzeichnung folkloristischer Texte. Vor allem auf diesem Gebiet sind seine Forschungen verdienstvoll. Seine Ansichten waren von den theoretischen Erkenntnissen der Finnischen Schule beherrscht, die ihn in vielen Einzelfragen zu wichtigen Ergebnissen gelangen ließen. Erst in der Einleitung zu seiner Märchen- und Sagenausgabe (1925), die die umfangreichste Schrift P. Smits' zu Fragen der lettischen Volksprosa darstellt, legt der Autor ausführlich seine Auffassungen dar und charakterisiert gleichzeitig die Gesamtposition der lettischen vorsowjetischen Folkloristik. Den größten Teil der Einleitung widmet P. Smits dem Vergleich von Sujets und Motiven der Volksmärchen verschiedener Völker und Zeiten sowie der Suche nach den Wegen und Richtungen ihrer Verbreitung. Was die lettischen Märchen betrifft, so ist P. Smits davon überzeugt, daß ihr größter Teil durch deutsche Vermittlung zu den Letten gelangt ist. Außerdem hat er auch alle in Lettland veröffentlichten Märchen anderer Völker sorgfältig analysiert und deren weite Verbreitung im lettischen Märchenrepertoire festgestellt. P. Smits erkannte, daß nur die einzelnen Erzählelemente der Märchen alt sind, keineswegs die Form, in der sie erzählt werden, doch er geht kaum 381
auf die Frage ein, worin sich die nationale Eigenart eines jeden Volkes ausdrückt. Erwähnt wird lediglich, d a ß die aus anderen Ländern übern o m m e n e n Märchen den hiesigen Verhältnissen angeglichen wurden, d a ß z. B. anstelle des Esels und des Ochsen in den Märchen der südlicher wohnenden Völker bei den Letten das Pferd auftritt. Im ganzen ist deutlich zu spüren, d a ß den A u t o r das lettische Märchen vor allem als Teil des internationalen wandernden Märchenrepertoires interessiert und erst in zweiter Linie als Ausdruck der Ansichten und G e d a n k e n des eigenen Volkes. Deshalb nimmt es nicht wunder, d a ß P. Smits F. Brivzemnieks' richtige Behauptung über die Beteiligung breiter Volksschichten an der Gestaltung und Vervollkommnung der Folklorewerke als dichterische Phantasie bezeichnete. Nach der Auffassung von P. Smits bleiben die Volksmärchen ausschließlich d a n k der Tätigkeit der Volkserzähler erhalten: N u r sie bewahrten die Märchen und verbesserten die verdorbenen und in Vergessenheit geratenen Erzählungen. Allerdings sind die Erzähler für P. Smits lediglich in dieser ihrer bewahrenden Funktion von Interesse, nicht aber als die aktiven Träger der Folklore, die in ein bestimmtes Sujet ihr individuelles Verhältnis bzw. das Verhältnis ihrer sozialen Umwelt zur Märchenhandlung oder zum Märchenhelden hineintragen. Der bedeutendste Beitrag P. Smits' auf dem Gebiet der lettischen Erzählforschungist seine Sammlung Latviesu pasakas un teikas(Lettische Märchen und Sagen), Riga 1925 — 1937 (15 Bände). Es handelt sich um die bisher umfangreichste Ausgabe von lettischen Volkserzählungen: Sie enthält 7895 Märchen und Sagen, die nach d e m Typenverzeichnis von A. A a r n e systematisiert sind. P. Smits gebührt weiterhin das Verdienst, im Bereich der lettischen Volkserzählung den Versuch einer Abgrenzung von Märchen und Sage unternommen zu haben. M a n m u ß ihm zustimmen, d a ß es theoretisch wesentlich leichter als in der Praxis ist, eine solche Grenze zu ziehen, schließlich k a n n sich durch ein einziges Detail ein Märchen in eine Sage verwandeln und umgekehrt. Jedenfalls ist sein Versuch positiv zu bewerten, allein schon deshalb, weil bis dahin — einschließlich der Sammlung von A. LerhisPuskaitis — in dieser Frage völlige Unklarheit u n d Willkür herrschten. Die Sagen bilden die letzten drei Bände der Latviesu pasakas un teikas; P. Smits sah sie eigentlich nur als Ergänzung zu den Märchen an. Sie sind nach einem eigenen System des A u t o r s angeordnet, wobei mythologische Sagen, die nach seiner M e i n u n g wichtigsten, den Vorrang einnehmen. D a s Z e n t r u m der folkloristischen Arbeit in Lettland bildete in den zwanziger und dreißiger Jahren die 1925 gegründete Latviesu folkloras krätuve (Zentralstelle der lettischen Folklore). Auf dem Gebiet der Volkserzählforschung ließ sie sich von den theoretischen Prinzipien der Finnischen Schule leiten und entfaltete eine rege Tätigkeit bei der S a m m l u n g von Märchen und Sagen. Es w u r d e ein weitverzweigtes Korrespondentennetz organisiert, und fast sämtliche Schulen Lettlands wurden in die Sammelarbeit einbezogen. Das Streben nach Quantität war jedoch vorherrschend, der Qualität der Aufzeichnungen widmete man nicht immer genügend A u f merksamkeit. Vielfach wurde allzu spärliche A u s k u n f t über die Erzähler gegeben, und nicht immer ist das Material entsprechend den A n f o r d e r u n -
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gen der Folkloristik aufgezeichnet worden. Rückblickend muß man jedoch diese Arbeit als sehr bedeutsam würdigen: In einer Zeit, in der Märchen und Sage bereits im Begriff waren, ihre aktive Funktion im Leben des Volkes zu verlieren, wurde mit dieser reichen Materialsammlung die Grundlage für eine moderne Volksprosaforschung geschaffen. Zwei kleinere Anthologien jener Zeit verdienen noch Erwähnung: 1929 erschien das Werk Latviesu folkloras krätuves teikas par dievu (Sagen der Zentralstelle der lettischen Folklore über Gott), herausgegeben von P. Smits. Es ist die erste Ausgabe lettischer mythologischer Sagen. Ebenfalls von P. Smits vorbereitet, erschienen 1937 die Latgaliesu pasakas (Latgalische Märchen) — 98 Dialektvarianten. Dieses Werk gilt bis heute als die umfangreichste regionale Ausgabe. Zur Klärung theoretischer Fragen hat die Zentralstelle allerdings nur wenig beigetragen. Hier wurde sie von den Auffassungen der Finnischen Schule eingeengt: Zwar war reiches Material gespeichert worden, dieses wurde jedoch nicht verwendet, um die Ansichten und Bestrebungen des Volkes oder die gesellschaftliche und künstlerische Bedeutung der Folklore zu verdeutlichen; ihr einziger Zweck bestand darin, das gesammelte Material zu systematisieren. Dabei hat sie wichtige Arbeit geleistet, so wurde 1940 das Typenverzeichnis der lettischen Tiermärchen von A. Medne veröffentlicht. Es bietet in Anlehnung an das Verzeichnis der Märchentypen von A. Aarne eine Übersicht über die zu jener Zeit bekannten lettischen Tiermärchen (3614 Varianten) und hat auch heute seine Bedeutung noch nicht verloren. In den Jahren der bürgerlichen lettischen Republik (1920—1940) wurde noch eine Reihe kleinerer Märchen- und SagenveröfFentlichungen für die Jugend und die Schulen herausgegeben. Man verwandte dafür schon früher veröffentlichtes Material, vor allem die Sammlung von P. Smits. In unserem Zusammenhang ist auch die von den besten lettischen Künstlern illustrierte achtbändige Ausgabe Tautas pasakas un teikas (Volksmärchen und Sagen), Riga 1923 — 1925, in der Redaktion der bekannten Schriftstellerin A. Brigadere, zu erwähnen. Ferner müssen die in den zwanziger und dreißiger Jahren in der Sowjetunion erschienenen Ausgaben lettischer Sagen und Märchen angeführt werden. Sie erschienen in der Reihe Sokrovisca mirovoj literatury (Schätze der Weltliteratur) in russischer Sprache. 1936 sind in Moskau außerdem Latvju tautas pasakas un teikas (Lettische Volksmärchen und Sagen) in lettischer Sprache veröffentlicht worden. In diesen sowjetischen Ausgaben, die zu einer Zeit erschienen, als die Folkloristen des bürgerlichen Lettland in Anlehnung an die Theorien der Finnischen Schule damit beschäftigt waren, die Heimat der lettischen Märchen in Westeuropa und der ganzen Welt zu suchen, sehen wir bereits einen Versuch, die Märchen und Sagen als mündliche Literatur des unterdrückten arbeitenden Volkes zu erforschen und in ihnen vor allem Zeugnisse einer gesellschaftlichen und klassenbedingten Aussage zu suchen. Wenn auch in diesen Versuchen Unsicherheiten und sogar Fehler zu finden sind, müssen sie dennoch positiv als der Beginn eines großen Arbeitsvor-
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habens gewertet werden, das für die sowjetische Folkloristik noch heute auf der Tagesordnung steht. Mit der Gründung der Akademie der Wissenschaften der Lettischen SSR (1946) wurde die folkloristische Arbeit in ihrem Rahmen fortgesetzt. Zur Zeit sind im A.-Upltis-Institut für Sprache und Literatur an der Akademie der Wissenschaften — im Archiv des Sektors Folklore — etwa 35000 Märchen gespeichert, ferner 30000 Sagen und anderes Erzählgut. Wie bei anderen Gattungen der Folklore liegt auch bei den Volksmärchen das Schwergewicht der Forschung auf den ideellen Werten: Man untersucht die Wechselbeziehungen zur Folklore der Nachbarvölker und beschäftigt sich mit der Frage, welche künstlerischen Mittel in unserer Zeit zur Charakterisierung der Märchengestalten verwandt werden. Auch mit der Erarbeitung eines Katalogs der lettischen Märchen ist begonnen worden. Mehrere Märchenanthologien sind in lettischer und russischer Sprache veröffentlicht worden, wobei vorrangig die gesellschaftlich wichtigsten und die noch nicht veröffentlichten Aufzeichnungen publiziert wurden. Auf den seit 1947 alljährlich durchgeführten Feldforschungen, die der Sammlung folkloristischen Materials dienen, sind auch Volksmärchen und Sagen auf Tonband aufgezeichnet worden, außerdem wurde Material über die Funktion der Märchen im Leben des Volkes sowie über Entwicklungstendenzen zusammengetragen. Die Spezifik der lettischen Märchen und ihre Erzähler Die Märchen stellen die bedeutendste Prosagattung der lettischen Volksdichtung dar. Zusammen mit den Volksliedern und anderen Werken der Folklore haben sie über Jahrhunderte hinweg die Erfahrungen bewahrt, die das Volk in seinem Leben und in der Arbeit sammelte. In einem langen Prozeß der Ausfeilung erhielten sie eine hohe künstlerische Form. Ahnliche, ja sogar die gleichen Märchensujets sind bei weit voneinander entfernt wohnenden Völkern anzutreffen, selbst bei solchen, die sich auf unterschiedlichen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung befinden. Am deutlichsten wird das bei den Tiermärchen. Nun liegt es auf der Hand, daß Völker, die sich auf derselben oder einer ähnlichen historisch-gesellschaftlichen Entwicklungsstufe befinden und analoge Einsichten in die Zusammenhänge zwischen Natur und Gesellschaft besitzen, sich z. B. mythologische Vorstellungen von ihnen unerklärbaren Naturerscheinungen zu bilden vermochten, und unter feudalistischen Verhältnissen konnten naturgemäß bei vielen Völkern gleichgeartete Märchen vom Kampf der Bauern gegen die Herren und Könige entstehen. Andererseits ist allerdings auch die Bedeutung des Wanderns von Märchensujets, vor allem zwischen Nachbarvölkern, nicht zu leugnen. So sind im Repertoire der lettischen Märchen Verbindungen zum Märchenschatz zumal der Russen, Deutschen, Esten und Litauer unverkennbar. Das Wandern des Sujets ist stets mit einem schöpferischen Verhältnis zu den entlehnten Dichtungen verknüpft. Dies kommt bereits in der Auswahl des Sujets zum Ausdruck. Die Letten übernahmen z. B, kaum Ver-
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sionen, in denen über Fahrten und Heldentaten von Prinzen und Königssöhnen berichtet wird. Bezeichnend ist die Angleichung der Sujets an die einheimischen gesellschaftlich-kulturellen Verhältnisse. Die Welt der lettischen Märchen beschränkt sich in erster Linie auf den Bauernhof, das Gut, die Kirche, die nächste Stadt; nirgendwo sind Hinweise auf die Vorstellung von Lettland und die von den Letten bewohnten Gebiete als einem geeinten Territorium zu finden. Im Gegensatz dazu sprechen etwa die russischen Volksmärchen oft von Rußland als dem Handlungsort der Geschehnisse (AT 707 — die Tochter verspricht, mit dem gesponnenen Flachs ganz Rußland zu kleiden; der Teufel wittert in seiner unterirdischen Behausung den aus Rußland Gekommenen). Zum zweiten werden in ¿en lettischen Märchen, dem Märchenstil entsprechend, deutlich die Natur und die gesellschaftlichen Verhältnisse Lettlands gekennzeichnet, und zwar in den Einleitungen. Es treten z. B. nur die in Lettland vorkommenden Tiere auf, auch fremde Länder und Schlösser werden mit Begriffen charakterisiert, dje jedem Märchenhörer aus der eigenen Umwelt geläufig sind. Zum dritten gibt es noch in der lettischen Folklore neben Märchen mit internationalen Sujets auch völlig eigenständige Varianten, die in keinem anderen Volksmärchenrepertoire anzutreffen sind. Für die nationale und klassenmäßige Ausprägung des Sujets sowie für die Gestaltung der künstlerischen Eigenart eines Märchens ist die Persönlichkeit des Erzählers von großer Bedeutung. Weltanschauung, Lebenserfahrung und Talent des Erzählers bestimmen in erheblichem Maße den Inhalt und die künstlerische Form des Märchens. Das hauptsächlich in der vorsowjetischen Zeit aufgezeichnete lettische Märchengut vermittelt über die Erzähler nur recht dürftige Nachrichten, denn die ersten großen Sammler dachten kaum daran, Daten zur Persönlichkeit des Erzählers und über die Umstände des Erzählens festzuhalten. So beschränkt sich A. LerhisPuäkaitis auf die Angabe der Namen einiger hervorragender Erzähler (Kaspars CipipäS, der ihm 70 Märchen erzählt hat, Ilze Zilbärde, von der 50 Märchen stammen). Auch in der Märchenausgabe von P. Smits und in dem Material, das im Archiv des Instituts für Sprache und Literatur an der Akademie der Wissenschaften aufbewahrt wird, findet man über die Erzähler gewöhnlich nur spärliche Angaben: Alter, Wohnort, manchmal noch den Beruf. Doch dessenungeachtet treten aus der Fülle des Archivmaterials bestimmte Erzähler hervor, die sich durch den Reichtum ihres künstlerischen Ausdrucks und Besonderheiten ihres individuellen Stils auszeichnen. Eine der bedeutendsten Erzählerinnen ist Ilze Melzone aus dem Kreis Madona. Von ihr stammen ca. 1200 verschiedene Folkloretexte, darunter 90 Zaubermärchen. Typisch für sie ist das Bemühen, jede Märchenepisode detailliert zu motivieren und ihre eigene soziale Stellung zum Ausdruck zu bringen. Eine weitere interessante Erzählerin ist Milda K|avipa (aus dem Kreis Valka), in deren Märchenrepertoire Züge individueller Neuschöpfung deutlich beobachtet werden können. Von etwa der Hälfte der von ihr erzählten 40 Märchen kann man sagen, daß sie eigene Dichtungen sind, 25
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auch wenn die Personen der Handlung und einzelne Details des Sujets dem Fundus der traditionellen Ausdrucksmittel des Volksmärchens entnommen wurden. Die Erzählerin neigt dazu, jede Szene mit komplizierten magischen Riten und Charakteristiken auszuschmücken, und verzögert dadurch bisweilen den Handlungsablauf ganz erheblich. In den Märchen anderer Erzähler kommt die Tendenz, das traditionelle Sujet zu bereichern, auf ganz andere Weise zum Ausdruck: Sie bemühen sich, magische und phantastische Motive durch die Einführung von Details aus neuerer Zeit oder durch das Einbeziehen von Personen unserer Tage zu begründen und zu erklären. So hat die fünfzigjährige blinde Olga Pupille (Kreis Ilukste), eine gute Volksliedkennerin, auch 24 sehr phantasievolle Märchen erzählt. Charakteristisch für ihre Erzählweise ist es, die Märchenhandlung mit realen Orten und einer bestimmten Zeit zu verbinden. Ihre Märchenkönige leben in Moskau oder Petersburg. Bei der Bestrafung des Königs erläutert sie: „Ich kann nicht sagen, ob das in der Siebzehnten (d. h. 1917) oder einer anderen Revolution war." In vielen Fällen können wir dem Erzählgut selbst Aussagen über das Leben und die soziale Stellung des Erzählers entnehmen; vor allem gilt das für die Märcheneinleitungen, in die oft autobiographische Daten und Lokalisierungen organisch eingeflochten wurden. Von dem achtundachtzigjährigen Erzähler Juris Spanda (Kreis Liepäja), über dessen Leben andere Quellen nicht vorhanden sind, berichtet die Einleitung eines seiner Märchen (AT 613): „An der Grenze Litauens, unweit vom Ufer der Vadakste, stand das Haus eines Knechtes. Darin wohnte mein Vater in sehr ärmlichen Verhältnissen. Unmittelbar nebenan wohnte der reiche Bauer Tiltiqß, ein Verwandter meines Vaters. Er war sehr geizig . . . " Von Kärlis Didzus (85 Jahre alt), Bewohner eines Altersheims im Kreis Tukums, wurden 10 Märchen notiert, die vom Lebensweg armer Bauernknechte handeln. Er beendete ein Märchen mit den folgenden Worten: „Als die Reichen starben, wurde ihr Hab und Gut unter die Kinder und die Gemeindearmen verteilt, nur wir bekamen nichts. Deshalb: wenn ihr einmal reich und wohlhabend seid, denkt an uns, die wir unser ganzes Leben auf Wanderschaft waren und Geld verdient haben, nun aber unsere alten Tage halbnackt und halbverhungert in dunklen Mauern verbringen." Ein weiteres Beispiel bietet sich in dem zweiundachtzigjährigen Ernestes Zauers aus dem Kreis Ventspils an. Er wurde als Sohn eines Knechts geboren, arbeitete auf dem Gut, später in der Stadt in der Fabrik, diente fünf Jahre in der Armee in Rußland, war danach Nachtwächter und starb in einem Altersheim. Dem schriftlichen Zeugnis zufolge ist der Erzähler von einem Bauernhof zum anderen gewandert und hat zwei Monate lang jeden Abend ein anderes Märchen erzählen können. Für das Märchenerzählen wurde er mit Essen und Unterkunft für die Nacht entlohnt. Von ihm sind 23 Zaubermärchen notiert. Über den professionellen Erzähler J. Manulis berichtete 1879 die Zeitschrift Baitips zemkopis (Der Bauer des Baltikums). Er war Analphabet, wohnte im Kreis Jekabpils und verdiente sich Lebensunterhalt und Obdach, indem er von einem Bauerngehöft zum anderen zog. Von ihm heißt es: „Aber zu bewundern war er wegen seiner Märchen und Lieder.
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Wochenlang konnte er immer neue Märchen erzählen: über die Natur ebenso wie über die Götter und Geister. Seine Märchen waren sq bunt und kunstvoll, daß man sie nach einmaligem Hören gar nicht nacherzählen konnte." Selbst die spärlichen Nachrichten über die lettischen Märchenerzähler der Vergangenheit lassen den Schluß zu, daß es Angehörige werktätiger Schichten auf dem Lande waren, die die Spezifik der lettischen Märchen weitgehend bestimmten. Wenn sie während ihres Lebens zeitweilig in eine andere Umgebung oder in andere Verhältnisse gelangten, so bereicherte das nur ihre Schilderungen um neue Details. Auch Elemente aus dem Märchengut anderer Völker konnten so Eingang finden. Es verdient festgehalten zu werden, daß in Lettland wie in den Nachbarländern auch einige Unterschiede zwischen den von Männern und den von Frauen erzählten Märchen erkennbar sind. So ist u. a. für Frauen die Thematik des Waisenmädchens charakteristisch. Schließlich erhalten wir auch Hinweise auf die Erzählzeiten und die Erzählverhältnisse: Es sind die langen Winterabende auf dem Bauerngehöft, wenn eintönige Hausarbeiten verrichtet wurden, es sind die Arbeitspausen auf den Gutsfeldern und in den Scheunen, es sind die Orte, an denen der Bauer entfernteren Verwandten und Nachbarn begegnete (Mühle, Wirtshaus, Festlichkeiten daheim und Feiertage). Für das Material der Märchen spielen neben den Erzählern auch die Aufzeichner eine bedeutsame Rolle. Die ersten Sammler — Pfarrer und ihre lettischen Mitarbeiter — vermieden die Aufzeichnung und Veröffentlichung von Märchen mit einer deutlich gegen Adel und Geistlichkeit gerichteten sozialen Aussage. Später war es vor allem die bürgerlichnationale Bewegung,' die die Sammlung von Volksdichtung auslöste, doch ging es ihr in erster Linie darum, in der Folklore nach Beweisen für eine sagenerfüllte, glückliche Vergangenheit des Volkes zu suchen, nach wunderbaren Helden und einem an Göttern und anderen mythologischen Gestalten reichen Olymp. Das zog ein großes Interesse für die Zaubermärchen nach sich, während Märchen mit sozialer Thematik auch hier vernachlässigt wurden. Bis hin zu den Anfangen der sowjetischen Folkloristik ist in der Aufzeichnung den künstlerischen Eigenarten der lettischen Märchen nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet worden, wichtig erschienen nur Sujets und Inhalte. Damit soll selbstverständlich nicht behauptet werden, daß sich in den lettischen Volksmärchen lediglich die zur Zeit der Aufzeichnung herrschenden Anschauungen widerspiegeln. So wie in der Folklore aller Völker sind auch in den lettischen Märchen Resonanzen, ja ganze Sujets und Sujetbestandteile sogar aus der Zeit der Urgesellschaft zu finden. Im Lauf ihrer jahrhundertelangen Existenz haben sich die Märchensujets und -gestalten in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen ihrer Zeit verändert. Die jeweiligen ideologischen Auffassungen haben sich im Märchenmaterial mehr oder weniger deutlich erhalten, oder sie haben zumindest Spuren hinterlassen. Die lettischen Volksmärchen 25'
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spiegeln jedoch vorwiegend die Ideologie der arbeitenden Massen — der Bauern — während der Epoche des Feudalismus wider. In der vorliegenden Sammlung wird eine Dreiteilung des Erzählgütes vorgenommen: Tiermärchen, Zaubermärchen und Alltagsmärchen. Für jede dieser Gruppen sind inhaltliche Besonderheiten und künstlerische Ausdrucksmittel charakteristisch, und jede Gruppe bietet auf ihre Weise einen Einblick in das dichterische Volksschaffen. Es muß jedoch unterstrichen werden, daß eine solche Einteilung nur bedingt Geltung besitzen kann: Jede Märchengruppe verfügt über bestimmte phantastische Elemente, jede enthält auch Elemente der Widerspiegelung des realen Lebens. Es gibt keine Zaubermärchen, in denen nicht Elemente der Wirklichkeit vorhanden wären, andererseits sind auch in den Alttagsmärchen nicht selten selbst die zentralen Knoten des Sujets außerhalb der Lebenswirklichkeit der betreffenden Zeit vorstellbar, sie künden lediglich vom Erwünschten und Möglichen, vom Sehnen des Volkes, von seinen Zukunftshoffnungen.
1. Tiermärchen Im lettischen Märchenrepertoire gibt es nur relativ wenige Tiermärchen (ca. 10% aller Märchen), dennoch bilden sie eine interessante Gruppe der Volksprosa, die charakteristische Aussagen über den langen, vielschichtigen Entwicklungsprozeß der Märchen im Bewußtsein des Volkes zu bieten vermag. In der Vielschichtigkeit des Inhalts lettischer Tiermärchen ist eine mehr oder weniger deutliche Resonanz alter mythologischer Auffassungen ebensogut zu erkennen wie alltägliche Beobachtungen der Natur und Tierwelt. Ferner spiegelt sie die ideologischen Ansichten der lettischen Bauern in der feudalistischen Periode wider. Zugleich mit der Entlehnung von Märchensujets und Motiven aus der Folklore benachbarter Völker finden wir den Ausdruck dieser Elemente in allen lettischen Tiermärchen. Die Tiermärchen enthalten häufig Hinweise darauf, daß ihre Motive bereits in ferner Vergangenheit als Erfindungen von magischer Bedeutung entstanden sind. In der Folklore vieler Völker begegnen Erzählungen über das wunderbare Entstehen mancher Tiere und ihrer Eigenschaften und über die Beziehungen zwischen Mensch und Tier. Diese Erzählungen sind noch nicht als Märchen zu bezeichnen. Ihre Aufgabe war es, mit magischen Mitteln auf den Menschen und die damals noch nicht beherrschte und daher feindliche Natur, besonders die Tierwelt, einzuwirken. Viele Märchen sind aus mythologischen Geschichten über das Totem eines Geschlechts — ein Tier, das als Gönner und Beschützer des Geschlechts angesehen wurde — entstanden. Solche Erzählungen wurden besonders dann vorgetragen, wenn man sich auf die Jagd begab oder in den Krieg zog, um mit magischen Mitteln Erfolge zu sichern. In der lettischen Folklore ist der Widerhall solcher Vorstellungen im Märchen über verschiedene Tiere vorhanden, z. B. in der Beziehung des Bären zum Menschen. Hier unterscheidet sich der Mensch von der Tierwelt nur durch sein Aus-
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sehen, seine Kleidung, seine Arbeitsgeräte und Waffen. Häufig wird in diesen Märchen über das gemeinsame Leben von Menschen und Tieren berichtet und von Beziehungen, die sich auf Abmachungen oder einen Vertrag stützen. So wird z. B. erzählt, daß man „früher, als es noch sehr viele Wölfe gab,. . . von ihnen gelegentlich ein halbes Schaf bekommen" konnte (vgl. Nr. 25). Als der Bauer die Wölfe zu betrügen versucht, gelingt ihm das nicht, denn „siehst du, so sind nun mal die Wölfe: Sie halten sich genau an die Abmachung". Neben Mythen über Tiere waren in den frühen Entwicklungsstufen der menschlichen Gesellschaft zweifellos auch profane Erzählungen über Tiere und ihre Eigenschaften weit verbreitet, Jägergeschichten verschiedener Art, in denen sich Phantasie mit realistischer Naturbeobachtung verband. In diesen Erzählungen erscheint der Mensch mit seiner Klugheit und Lebenserfahrung gewöhnlich den Tieren überlegen, deren einzige Waffe die physische Kraft ist. Sicher beeinflußten auch Erzählungen solchen Inhalts die Herausbildung des Genres der Tiermärchen. Im Prozeß der historischen Entwicklung verloren die Erzählungen über Tiere und ihre Beziehungen zum Menschen allmählich ihren mythologischen und magischen Charakter. Es verschwand zwangsläufig jenes naive Verhältnis zur Natur, die Grundbedingung der verschiedenen mythologischen Vorstellungen. Dafür entstanden immer mehr Tiermärchen in des Wortes eigentlicher Bedeutung, Märchen, deren Handlungsablauf und Gestalten sich auf eine präzise Naturbeobachtung stützten. In den Tiermärchen sind die Tiere nicht nur mit der Sprache begabt, sondern sie leben und arbeiten auch sonst wie die Menschen. Unter den Verhältnissen der Klassengesellschaft prägten sich immer deutlicher die moralischen, ethischen und ästhetischen Anschauungen der Märchenschöpfer — der arbeitenden Menschen — aus. Märchen, deren Sujets häufig unter dem Einfluß mythologischer Vorstellungen entstanden waren, wurden zu allegorischen Schilderungen der gesellschaftlichen Widersprüche und sozialen Tendenzen in der Periode des Feudalismus. Die Tiergestalten in den Märchen entwickelten sich zu Symbolen für die Vertreter verschiedener sozialer Gruppen und dienten so zur Charakterisierung der Klassenbeziehungen. Häufig arbeiten in den Märchen die Tiere beim Bauern. Wenn er sie zur Arbeit antreibt, wagt es der Wolf, nach dem verdienten Lohn zu fragen, aber er bekommt nur einen heißen Stein in den Rachen geworfen. Der vom Hause vertriebene Hund wird Schuster, um auf diese Weise sein tägliches Brot zu verdienen. Einen anderen Weg wählt das Pferd — es macht sich als Musikant nach Riga auf, gemeinsam mit dem Hund, der Katze und dem Hahn, die das gleiche Geschick ereilte. Es gelingt ihnen gemeinsam, Räubern ein Haus abzujagen, und nun können die Tiere frei unter ihrem eigenen Dach hausen. In manchen Märchen teilt mit den Tieren auch ein Mensch das schwere Lös — ein alter Knecht, den der Bauer wegen seines Alters und seiner Arbeitsunfähigkeit aus dem Haus vertrieben hat. Das international verbreitete Motiv von der Sehnsucht nach einem freien Leben ohne Großbauern oder Gutsherren ist in der lettischen Folklore sehr häufig anzutreffen. Der Abscheu gegenüber dem Bösen und der Glaube an den Sieg des 389
Guten drücken sich indirekt in all den Tiermärchen aus, deren Handlungsgrundlage durch den Zusammenstoß eines starken, räuberischen Tieres mit einem schwächeren, kleineren Tier gekennzeichnet ist, wobei das letztere in den Märchen stets als Sieger hervorgeht. Das Weltbild des Bauern im Feudalismus bestimmte die Popularität einzelner Märchensujets. Es ist anzunehmen, daB so auch die besondere Verbreitung der lettischen Fuchsmärchen zu erklären ist. In diesen Märchen werden gewöhnlich-die List, die Betrügereien und die Raubgier des Fuchses verurteilt. Gegen den Fuchs treten alle im Märchen vorkommenden Lebewesen auf. Unmißverständlich drückt sich hier der Standpunkt des Volkserzählers aus: Das Böse, Gewaltsame darf über das Gute, Anständige nicht die Oberhand gewinnen. Am deutlichsten und vielfältigsten erscheinen die Anschauungen des Volkes in den Märchen, in denen der Mensch gemeinsam mit den Tieren eine Rolle spielt. Wenn hier geschildert wird, wie der Mensch die Tiere, seine Knechte, vertreibt, dann sind die Sympathien des Erzählers auf Seiten der unterdrückten Tiere. Die physisch überlegenen Tiere besiegt der Mensch durch seine Geistesgegenwart und die Fähigkeit, die konkreten Verhältnisse zu seinen Gunsten auszunutzen. Im Ideengehalt dieser Märchen ergeben sich Parallelen zu dem in den Zauber- und Alltagsmärchen geschilderten Kampf des Bauernburschen gegen den Teufel. Einen besonderen Zyklus bilden die Märchen von den Vögeln in Wald und Flur. Auch sie enthalten Elemente der Kritik an negativen gesellschaftlichen Erscheinungen und menschlichen Eigenschaften. In den Märchen von der Taube, die ein Nest bauen lernt, werden Ungeduld und Liederlichkeit getadelt, während im Märchen über die Krähe und den Storch Überheblichkeit und Dünkel ins Lächerliche gezogen werden. Für einen Teil dieser Märchen sind auch ätiologische Motive charakteristisch: In ihrem Bemühen, bestimmte Merkmale der äußeren Erscheinung zu deuten, grenzen diese Märchen häufig an Ursprungssagen. Das Aussehen der Tiere ist in den Märchen nur knapp charakterisiert; die geschilderten Tiere sind dem Erzähler wie dem Zuhörer aus der alltäglichen Beobachtung bekannt. Die Charakterisierung der Gestalten erfolgt vor allem durch die Handlung. Der Ablauf des Märchensujets enthält dabei nur die wichtigsten mit einer bestimmten Gestalt verbundenen Handlungsmerkmale; die Haupteigenschaft einer Gestalt wird nicht von nebensächlichen Zügen und genaueren Einzelheiten überschattet. Zum Beispiel werden im Märchen über die Tiere und den Trogschnitzer (Nr. 4) die Tiere durch das jeweils typische Essen gekennzeichnet, das sie herbeischaffen. Andere Merkmale kommen in Märchen vom Krieg der Tiere deutlich zum Ausdruck (Nr. 33). Die volkstümlichste Gestalt der lettischen Tiermärchen ist, wie erwähnt, der Fuchs. Man darf annehmen, daß der Fuchs zu den ältesten Märchengestalten gehört. Davon zeugt seine weite Verbreitung in der Folklore vieler Völker, aber auch in Werken der Literatur, besonders während des Feudalismus. In den lettischen Märchen sind zweierlei Interpretationen der Fuchs-
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gestalt festzustellen: Während der größte Teil der Märchen den Fuchs als bösen und listigen Räuber darstellt, der von seinen Gegnern — den kleineren Tieren — bestraft oder zumindest überlistet wird, begegnen wir auch Märchen, in denen sich eine positive Haltung des Erzählers gegenüber der Wendigkeit und Geschicklichkeit des Fuchses ausdrückt. Es ist dasselbe Verhältnis wie in den Alltagsmärchen gegenüber dem geschickten Dieb: Klugheit und Geschicklichkeit werden anerkannt. Besonders deutlich wird diese Haltung, wenn dem Fuchs der in seiner Dummheit lächerliche Wolf konfrontiert wird. Eine feststehende Charakteristik erhalten in den Tiermärchen auch andere Bewohner der Wälder und Felder Lettlands. Die schöpferische Phantasie des Märchenerzählers erblickt z. B. im Wuchs des Bären und in seinen langsamen, täppischen Bewegungen Kennzeichen eines kräftigen, aber ungeschickten und etwas einfältigen Menschen. — Der Hahn ist in den Tiermärchen zum Symbol des eingebildeten Angebers geworden, die Elster verkörpert wegen ihrer Stimme und ihrer Bewegungen die Schwätzerin und Klatschbase. Die Sparsamkeit der künstlerischen Ausdrucksmittel bei den Tiergestalten bestimmt auch die Besonderheiten der Komposition, des Stils und der Sprache der Tiermärchen. Was die Komposition betrifft, so ist sie ganz einfach und unkompliziert, sogar dann, wenn in einer Erzählung mehrere selbständige Märchen kontaminiert werden. Die Sujets der Tiermärchen stützen sich meist auf einen raschen Handlungsablauf; für diese Märchen sind lange Einleitungen und Schlüsse nicht typisch. Gleich mit den ersten Sätzen beginnt die Handlung; der Höhepunkt des Geschehens und die Lösung fallen meistens mit dem Abschluß der Erzählung zusammen. Als ein typisches Kompositionsmittel der Tiermärchen ist die mehrfache Wiederholung einer Handlungsepisode anzusehen. Solche Handlungsepisoden wie das Erscheinen des Fuchses im Häuschen der Katze und des Hahnes, wie die Versuche, die Ziege aus dem Häuschen des Hasen zu verjagen, wie die Bitte des Fuchses um Nachtquartier usw. werden meist wörtlich genau wiederholt. Oft aber sind diese Wiederholungen auch mit dem Ziel einer Steigerung verbunden. Humor und Satire spielen in der künstlerischen Gestaltung der Märchen eine große Rolle. Besonders scharf wird die Dummheit verurteilt. Elemente der Satire finden sich auch in den Märchen vom Gericht der Tiere. Meistens gewinnen hier die Haustiere die Oberhand, indem sie allein schon durch ihr Aussehen alle dummen Tiere des Waldes verscheuchen. Die humorvolle Parodie eines kirchlichen Rituals — des Sündenbekenntnisses — finden wir in den Märchen von der Tierbeichte. In einem Teil der Tiermärchen jüngerer Herkunft werden die Elemente des Humors in anderer Weise verwendet. Hier bemüht sich der Erzähler durch die Gestaltung des gesamten Sujets, den Zuhörer das Märchen als ein lustiges Geschichtchen über unglaubwürdige Geschehnisse empfinden zu lassen. Es gibt nicht viele derartige Märchen, die vorhandenen zeugen jedoch von einer Weiterentwicklung der lettischen Tiermärchen: Sie haben sich zu witzigen und komischen Geschichtchen gewandelt, die Kinder belehren oder Erwachsene zerstreuen sollen.
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2. Zaubermärchen Die Zaubermärchen nehmen im lettischen Märchenschatz den zentralen Platz ein, das gilt sowohl für die Vielschichtigkeit des Inhalts als auch für die Entwicklung der künstlerischen Gestalten und für die Häufigkeit. Gemeinsam mit den Alltagsmärchen bilden sie jenen Komplex von Erzählungen, der im Bewußtsein der meisten Menschen mit dem Begriff des Volksmärchens verbunden ist. In den Zaubermärchen hat sich die schöpferische Phantasie des Volkes am glanzvollsten entfaltet. Der Märchenheld begegnet hier Königen und Prinzessinnen, mit übernatürlichen Kräften versehenen Riesen und den bösen und listigen Kräften der Finsternis. Gemeinsam mit dem Märchenhelden gelangen wir in ferne und sagenhafte Länder, in Höhlen mit verborgenen Schätzen, in die von Geheimnissen und mannigfaltigen Gefahren umwitterte Unterwelt und auf die leuchtenden Gipfel gläserner Berge. Das Phantastische ist das Hauptelement der Zaubermärchen. In ihrer Vielschichtigkeit hat sich dadurch, daß sich in ihnen die Entwicklungen im Denken und in den Ansichten unzähliger begabter Erzähler aus dem Volk niedergeschlagen haben, im jahrhundertelangen Prozeß der Formung und Ausfeilung der Märchen eine eigenartige Verflechtung verschiedener Elemente des Phantastischen in den uns heute vorliegenden Varianten ergeben. Gestalten und Motive vieler Zaubermärchen ermöglichen einen Blick in die ferne Vergangenheit, in eine Zeit, in der der Mensch seine Umwelt noch durch das Prisma mythologischer Vorstellungen betrachtete und bemüht war, sich mit Hilfe der Magie Existenzrechte und einen Platz inmitten der ihm unbegreiflichen und feindlichen Naturkräfte zu erringen. Als die Menschen diese Märchen schufen, verkörperten sich ihre noch sehr begrenzte^ Vorstellungen von Natur und Gesellschaft in der Gestalt von phantastischen Tieren und menschenähnlichen Wesen. Eine Verflechtung des Realen mit dem Phantastischen kennzeichnet die Göttergestalten in der Mythologie aller Völker, so haben sich auch in den lettischen Märchen die Gestalten von Gott und Teufel und Verkörperungen von Naturkräften wie Baumreißer, Bergstoßer, Flußgraber u. a. herausgebildet. Im Bereich des Phantastischen läßt sich bei den Zaubermärchen allerdings auch eine entgegengesetzte Erscheinung beobachten. Wenn die mythologische Auffassung von der Welt danach trachtete, den Naturkräften menschliche Eigenschaften zu verleihen, dann müssen die Märchengestalten, in denen der reale Mensch phantastische Fähigkeiten und übernatürliche Kräfte erhält, als eine Erscheinung der jüngeren Zeit angesehen werden. Das gilt für nahezu alle wichtigen positiven Gestalten der Zaubermärchen: den dritten Sohn, die starken Söhne, die großen Erfinder, die klugen Burschen. Hier drückt sich das Bemühen aus, in konkreten Gestalten die Eigenschaften zu konzentrieren, die ftir das gesamte Volk kennzeichnend sind: Kraft, Klugheit und Liebe zur Arbeit. In Form einer Überhöhung wird als die Eigenschaft eines Menschen das für seine ganze soziale Gruppe Charakteristische dargestellt. Was in den Zaubermärchen der Volksheld vermochte, der nie als ein rechtloser Bauer, sondern stets als ein freier, mit der
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Kraft und der Klugheit des ganzen Volkes ausgestatteter Kämpfer geschildert wird und die Unterdrücker im bewaffneten Kampf besiegt, das war in der realen Wirklichkeit nicht möglich. Bereits M. Gor'kij, ein guter Kenner der Folklore, hat hervorgehoben, daß viele Märchengestalten im Kampf um die Befreiung des Volkes entstanden sind. Der Held der Zaubermärchen stellt die harmonische Vereinigung der Gedanken und Gefühle des Volkes dar. Das arbeitende Volk verknüpfte die Beobachtung aus der Wirklichkeit mit der Sehnsucht nach einem Leben, das zwar noch nicht realisierbar war, ihm jedoch in seinem Bewußtsein als Zukunftsvision vorschwebte, und so schuf es die bunte Palette der Märchenhelden. Selbstverständlich sind auch in den Zaubermärchen, wie in der Folklore insgesamt, mystische und phantastische Elemente der kirchlichen Ideologie und der christlichen Religion zu finden. Unverkennbar ist dabei jedoch eine Umformung der religiösen Moral in eine den Auffassungen der Volksmassen entsprechende Richtung. In den lettischen Märchen zeigt sich das besonders deutlich in der Gestalt des Teufels, zu dessen Erscheinungsbild die kirchliche Lehre zwar viel beigetragen hat, der aber hier vor allem zum Symbol des bösen Herrn und Ausbeuters geworden ist. Ähnliches zeigt sich bei einem Vergleich der Elemente des Phantastischen im Märchen mit den übernatürlichen Elementen des christlichen Glaubens. Während die Religion bestrebt ist, den Glauben des Menschen an seine Kraft zu schwächen und ihm Zuversicht in eine höhere Kraft einflößen möchte, will der Volkserzähler mit den phantastischen Elementen des Märchens das Bewußtsein seiner Zuhörer von der eigenen Kraft bewahren und stärken helfen. Gestalten und Sujets, die sich in femer Vergangenheit herausgebildet haben, blieben im Volk viele Jahrhunderte erhalten. Gleichzeitig waren sie einem unaufhörlichen Entwicklungsprozeß unterworfen, und in jeder Epoche wurden sie nach den Lebensauffassungen und Ansichten der entsprechenden Zeit umgestaltet. Alte Motive verflochten sich mit Ansichten jüngerer Herkunft, und manche Handlungsdetails und Gestalten, die unter den neuen Verhältnissen unnötig oder unverständlich waren, gingen verloren. Neue Inhalte und Ideen konnten nur dann in feste traditionelle Gestalten und Sujets einbezogen werden, wenn breite Schichten des Volkes solche Veränderungen akzeptierten; war das nicht der Fall, so ließ sich auch das vom begabtesten Erzähler gestaltete Märchen nicht weiter und dauerhaft im Volk verbreiten. Im Bereich der lettischen Zaubermärchen sind nur wenige Varianten vorhanden, die sich in ihrem gesamten Handlungsablauf auf ein altes, aus der Zeit der Urgesellschaft stammendes Sujet stützen. Das kommt bei den Märchen in Frage, in denen der Held gegen den Menschenopfer fordernden Drachen (bzw. gegen die Schlange, den Bären, den Teufel) kämpft, weiter bei Märchen, die von der Heirat zwischen Vater und Tochter, Bruder und Schwester oder Mensch und Tier handeln. In den meisten Fällen vermischen sich jedoch diese uralten Motive mit Ansichten jüngerer Herkunft: Im allgemeinen werden solche Heiraten verurteilt oder
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als unnatürlich und unmöglich hingestellt. Einzelne archaische Episoden sind allerdings in fast allen Zaubermärchen anzutreffen, wobei in der Mehrzahl der Fälle das Bestreben des Erzählers dahin geht, diese Episoden irgendwie realistisch zu erklären oder zu begründen. In dieser kurzen Übersicht ist es nicht möglich, den ganzen inhaltlichen Reichtum der lettischen Zaubermärchen darzulegen. Zu den volkstümlichen Typen gehören die Märchen vom Kampf mit dem vielköpfigen Teufel, von der Befreiung der verzauberten und geraubten Prinzessin, vom Dienst des dritten Sohnes beim König oder einem anderen Herrn sowie von der Waise und der eigenen Tochter der zweiten Frau. Die große Verbreitung dieser Sujets erklärt sich daraus, daß in ihnen das Wirken und die positiven Eigenschaften der beliebten Märchenhelden am klarsten zutage treten. In einer ganzen Gruppe von Märchen ist der Hauptheld ein übermäßig starker Mann, häufig ein starker Sohn. Diese Märchen enthalten viele Motive alter Herkunft, doch ist der Erzähler bemüht, diese seinen Zuhörern verständlich zu machen, indem er sie durch Beobachtungen aus dem Leben seiner Zeit ergänzt. Meist ist schon die Empfängnis des Helden wunderbar — der Starke ist der Sohn einer Stute oder eines Fisches, sein Vater ist der Bär oder auch der Wolf—, und damit wird der Zuhörer gewissermaßen auf weitere Vorgänge des Märchens vorbereitet. In anderei Märchen ziehen die Eltern den Sohn zu einem Kraftmenschen auf — sie nähren ihn mit Nußkernen, tränken ihn mit Ziegenmilch, legen ihn auf d n Ofen schlafen. In einigen Märchen begegnen auch soziale Motive — Söhne mit gewaltiger Kraft sind vonnöten, damit man unter den schweren Verhältnissen der Ausbeutung überhaupt leben kann. Der starke Sohn rechtfertigt auch die Hoffnungen seiner Eltern. Gewöhnlich geht er auf die Suche nach Arbeit und Verdienst, um ihnen zu helfen. Das Verlassen des väterlichen Hofes wird in den Märchcn sehr kurz geschildert, aber gerade diese Kürze soll den Helden kennzeichnen. Trauer, Zweifel oder Furcht sind ihm unbekannt, man spürt: Er vertraut seiner Kraft und ist davon überzeugt, daß es für den freien Bauernsohn keine unüberwindlichen Hindernisse und Fejnde gibt. Irn weiteren Verlauf des Märchens muß der Held vielfach mit übernatürlichen Gegnern kämpfen und unmögliche Aufgaben vollbringen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Mut des Starken besonders deutlich. Um die Schwere des Kampfes und die Bedeutung des Sieges zu unterstreichen, wird im Mittelteil des Märchens der Zusammenstoß des Helden mit seinem Gegner ausführlich geschildert. Allen Gefahren begegnet der Heid selbstsicher und in der Überzeugung von der Richtigkeit seines Handelns. So sagt der Held, als er erfahren hat, daß der Teufel aus der Hercje des Königs täglich ein Schwein stiehlt und der König demjenigen, der den Teufel besiegt, seine Tochter zur Frau versprochen hat: „So, so! Dann muß ich ja versuchen, daß ich des Schweinefressers habhaft werde; ich bin ja für den Schwiegersohn des Königs wie geschaffen, daran gibt es keinen Zweifel !" Der starke Bursche muß in den lettischen Märchen nicht nur gegen Teufel und Riesen kämpfen; häufig genug ist sein erster Gegner der Herr, der Bauer oder der König, bei dem er sich als Knecht verdungen hat. Schon hier beweist der Starke seine Kraft bei der Bewältigung schwerer Arbeiten.
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Erst danach erfolgt der Zusammenstoß mit den übernatürlichen Gegnern, mit deren Hilfe der Herr den Starken zu besiegen hofft. In dieser Handlungsfolge wird die Bedeutung der Arbeit im Leben des Volkes unterstrichen: Der Volksheld ist zuerst ein Meister in seiner Arbeit, und nur durch den Zwang der Verhältnisse kämpft er mit dem Schwert in der Hand. Außerdem wird die Vielseitigkeit der Kraft des Helden unterstrichen : Die schweren Aufgaben vollbringt er sowohl durch seine physische Stärke als auch durch die Anwendung der bei der Arbeit erworbenen Erfahrung und Klugheit. Die optimistische Lebensauffassung begleitet ihn durch alle Prüfungen, und am Ende erhält der starke Sohn das Gut, Reichtum und die Prinzessin zur Frau. Die Hand der Königstochter und gleichzeitig damit die Hälfte des Reiches bilden in den vorwiegend im Feudalismus entstandenen Zaubermärchen das traditionelle Symbol für die höchste Belohnung des Märchenhelden. Der Starke gehört zu den beliebtesten Gestalten der lettischen Zaubermärchen. Oft werden seine Heldentaten mit bekannten Örtlichkeiten verbunden — mit bestimmten Bergen, Seen, Gütern, Städten. Diese Lokalisierung soll den Helden wohl dem Alltagsleben des Volkes annähern. Aus demselben Grunde begegnen wir den üblichen lettischen Männernamen — Märtins, Ansis, KriSus, Jekabs, Jänis. In ähnlicher Bedeutung werden die Namen Dzelzsdels (Eisensohn), Dzelzspuika (Eisenjunge), Zirpa dels (Sohn der Erbse), Läca dels (Sohn des Bären) u. a. verwendet. In dieser Märchengruppe finden sich daneben einige Varianten, deren Hauptheld Kurbads, Läöplesis oder Ilips (vgl. Il'ja Muromec der russischen Bylinen) heißt. Nicht weniger populär ist als Held der lettischen Zaubermärchen der dritte Sohn, gewöhnlich der jüngste von drei Brüdern. Die Heldentaten, die der dritte Sohn vollbringt, wenn er in die Welt hinauszieht, sind die gleichen, die wir vom großen Starken kennen. Beide Gestalten sind Träger der positiven Ideale des Volkes, dennoch werden jeweils andere Eigenschaften in den Vordergrund gestellt. Wenn der starke Bursche in erster Linie durch seine gewaltige Kraft Sieger bleibt, die sich in der Arbeit ebenso wie im Kampf gegen böse Kräfte offenbart, so herrschen in der Gestalt des dritten Sohnes moralische Eigenschaften vor. Ihn kennzeichnen vor allem Schlichtheit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Anständigkeit — Eigenschaften, die von den beiden „klugen" älteren Brüdern als Torheit angesehen werden. Wegen seiner Hilfsbereitschaft und Anständigkeit helfen ihm auf seinen Wegen sowohl der liebe Alte oder der Arme, den er unterwegs trifft, als auch Tiere, das einfache Volk und die Naturkräfte. So erscheint der Sieg des dritten Sohnes über alle Gegner völlig gesetzmäßig. Wenn im Handlungsablauf den Taten des jüngsten Sohnes die Taten der beiden „klugen" Brüder gegenübergestellt werden, geschieht das, um Falschheit, Habgier, Geiz und andere negative Eigenschaften anzuprangern. Nicht selten wird der jüngste Bruder in den Märchen vom dritten Sohn als Königssohn bezeichnet. In der Mehrzahl der Märchen ist diese Bezeichnung auch das einzige Merkmal, das von der aristokratischen Her395
kunft des Helden spricht, denn in allen Situationen verhält sich der Held wie ein Bauernsohn, er dient als Hirt oder als Arbeiter beim Herrn oder König. Das Thema der Waise begegnet im lettischen Märchen häufig und wird mit besonderer Aussagekraft gestaltet: Das Waisenmädchen erscheint als die schönste und am liebevollsten^charakterisierte weibliche Gestalt der lettischen Volkserzählung. Wie in den Volksliedern ist auch in den Märchen die Gestalt der Waise eine Art Symbol für das Schicksal des gesamten arbeitenden Volkes während der jahrhundertelangen Unfreiheit. Im Unterschied zu den Volksliedern sind in den Märchen die lyrischen und traurigen Elemente selten; es überwiegt die Schilderung des wirklichen Lebens und der schweren Arbeit. Die Waise verrichtet die üblichen bäuerlichen Arbeiten; von Hause verjagt, geht sie aus allen Prüfungen durch ihren Fleiß und'ihre Liebe zur Arbeit als Siegerin hervor. Dieser Vorrang der Waise läßt verstehen, warum in den lettischen Zaubermärchen die starken, kriegerischen Frauen fast gänzlich fehlen, und die schönen, klugen und freundlichen Königstöchter und Prinzessinnen symbolisieren eher das Kampfziel und den Siegerlohn des Helden, als daß sie lebensnahe, vollblütige Frauengestalten sind wie beispielsweise in den russischen Volksmärchen. Das Waisenmädchen hat viele gemeinsame Wesenszüge mit dem dritten Sohn. Beide zeichnen sich durch Arbeitsliebe, Tüchtigkeit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft aus. Ihnen werden die älteren Brüder und die Tochter der Stiefmutter gegenübergestellt, und so wird die künstlerische Wirkung der positiven Gestalten verstärkt. Wie der eigentliche Charakter des dritten Sohnes ist auch der des Waisenkindes zu Beginn der Märchen gleichsam maskiert Der dritte Sohn ist in den Augen der älteren Brüder nur ein Dummchen, und die Stiefmutter betrachtet die Waise als eine stille, demütige Arbeitsbiene, die alle Erniedrigungen ohne Widerspruch erduldet. Das wirkliche Wesen der beiden Gestalten offenbart sich erst, wenn sie den engen Bauernhof verlassen und in die Welt hinausziehen. Dann hat der Erzähler in den phantastischen Elementen des Zaubermärchens ein Mittel, um ihre positiven Eigenschaften in vollem Glanz zu zeigen. In den lettischen Zaubermärchen gibt es noch eine ganze Reihe anderer positiver Gestalten, die die besten Eigenschaften und die Ansichten des Volkes ausdrücken. So werden die Bestrebungen des Volkes, die Arbeit zu erleichtern und die Arbeitswerkzeuge zu verbessern, von den „großen Erfindern" verkörpert. Diese erbauen in einer Nacht Schlösser und Brücken, sie vermögen ein Boot anzufertigen, das zu Wasser und zu Lande fahrt, oder einen Vogel aus Holz, der fliegen kann. Optimismus und Lebensfreude verkörpert in den Zaubermärchen der ausgediente Soldat, der seinen in fünfundzwanzig Jahren schwer verdienten Sold leichten Herzens dem armen Greis schenkt und sich nicht fürchtet, mit dem Teufel und anderen Plagegeistern den Kampf aufzunehmen. Der Teufel ist ein vielköpfiges Ungeheuer, das die Menschen überfällt oder gar Menschenopfer fordert So kommt es zwischen ihm und dem Märchenhelden, der die gefangene Königstochter befreien will, zu einem Zusammenstoß. An Kraft ist der Teufel meist sogar dem großen Starken
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überlegen, dennoch verläuft der Kampf für den Märchenhelden stets glücklich. Während der gesellschaftlichen Entwicklung hat sich allerdings in der Funktion des Teufels ein Wandel vollzogen. Der Teufel quält und peinigt zwar weiterhin die Menschen, die er in seine Gewalt gebracht hat, aber das sind keineswegs nur die dem Herrn ungehorsamen Bauern, sondern die Herren selbst und ihre Handlanger. Nicht selten helfen gar der Bauernbursche oder der Soldat dem Teufel, das Feuer unter den Kesseln zu schüren, in denen die Herren und Gutsaufseher ihre Strafe erleiden. Genauso wie das Sujet und das System der Gestalten dient auch die künstlerische Ausformung der Märchen zur Verdeutlichung ihres Ideengehaltes. Bei aller inhaltlichen Vielfalt der Zaubermärchen ist meist der gleiche kompositorische Aufbau, ein in vielen Jahrhunderten erarbeitetes Grundschema, zu erkennen. Es enthält die folgenden Elemente: eine knappe Charakteristik des Helden und seiner Umwelt; den Aufbruch des Helden in die Welt und den Zusammenstoß mit seinen Gegnern, schließlich den Kampf, der mit dem Sieg des Helden und seiner Belohnung endet. Was den kurz und knapp gestalteten Märchenbeginn betrifft, so sind im lettischen Repertoire zwei Typen anzutreffen: Bei einem Teil der Märchen wird das Bemühen des Erzählers spürbar, den Zuhörer aus dem realen Leben in eine phantastische Wunderwelt zu versetzen. Der Erzähler will gewissermaßen die Unwirklichkeit, den erdachten Charakter des Märchens unterstreichen. In diesen Einleitungen wird betont, daß die Handlung in fernen Zeiten hinter dreimal neun Ländern, Meeren oder Bergen erfolgt sei. — Stärker verbreitet und interessanter sind jene Einleitungen, in denen eine Wertung des Haupthelden, des Ortes oder der Zeit vorgenommen wird. Die Schilderung der Armut und der schweren Arbeit des Waisenmädchens oder des Bauernburschen, die Darstellung der Grausamkeit und des Geizes des Herrn trägt deutlich soziale Züge in das Märchensujet hinein, unterstreicht die enge Verbundenheit des Märchens und der Erlebniswelt seines Helden mit dem Leben der lettischen Bauern. Im weiteren Verlauf des Märchens verläßt der Held das väterliche Haus und begibt sich in die Welt. Dies schafft die Voraussetzung für den gesamten Ablauf der Märchenhandlung. In manchen Varianten älteren Typs wird eine Motivierung nicht gegeben, doch bisweilen ist auch das Bemühen zu beobachten, diese Handlung des Helden zu begründen. Die großen „Starken" ziehen gewöhnlich in die Welt, um eine für sie geeignete Arbeit zu finden, oder sie tun es, wie erwähnt, wegen der Armut ihrer Eltern. Oft beginnt die Märchenhandlung auch damit, daß der Held (das Waisenkind, der dritte Sohn) aus dem väterlichen Haus vertrieben wird. Zweifellos ist der Aufbruch des Helden aus den gewohnten Verhältnissen zu Beginn des Märchens ein alter Bestandteil des Märchensujets. Es folgt die Begegnung oder der Zusammenstoß des Helden mit dem Feind. In dessen Charakteristik sind die verschiedensten Vorstellungen von bösen und dem Volk feindlichen Kräften in Natur und Gesellschaft zusammengeflossen. Darunter sind alte Verkörperungen von Naturelementen — Teufel, Drachen und Hexen. Verhältnismäßig ausführlich werden ihre 397
äußere Erscheinung und ihr Wirken geschildert. Jüngeren Ursprungs ist wahrscheinlich das Zusammentreffen des Helden mit dem König oder Herrn. Gleichermaßen vielfaltig wie die Gegner des Helden sind auch seine Waffen und die Kampfmethoden. Gegen die übernatürlichen Kräfte der Unterwelt kämpft der Held gewöhnlich mit physischer Kraft. Dabei helfen ihm der arme liebe Alte und die verzauberte Prinzessin oder sein eigenes Pferd und die Tiere, denen er einmal einen Gefallen erwiesen hat. Der Märchenschluß ist gewöhnlich sehr kurz und konzentriert. Der größte Teil der Zaubermärchen endet mit der Feststellung, daß der Märchenheld allen Prüfungen standgehalten hat und noch heute glücklich lebt — wenn er nicht gestorben ist. Sehr oft ist das Schicksal des Helden mit der Befreiung oder Eroberung der Königstochter verbunden. Nicht selten ist hinzugefügt, daß es dem Volk nun bei seinem „eigenen" Herrscher viel besser geht. „Der Sohn wurde nun zum Herrn und herrscht noch heute. Den Bauern erging es bei ihm wahrlich sehr gut — sie lebten wie im Ohr der Maus." Sozial schärfer pointiert erscheint der Schluß in Märchen jüngeren Ursprungs. Hier wird auch die Bestrafung des Königs oder Herrn geschildert, oder zumindest wird mit knappen Worten eine Wertung des Herrschers vorgenommen: „So endete dieser Henker, aber der Soldat wurde nach des Königs Tod selber König." Manchmal ist der Erzähler bemüht, den traditionellen Märchenschluß humoristisch umzugestalten und noch einmal den Grundgedanken zu akzentuieren. Eines der Märchen vom dritten Sohn schließt mit folgenden Worten: „Wenn der Teufel ihn nicht geholt hat, dann lebt er auch noch heute. Aber wäre es denn vernünftig gewesen, wenn der Teufel einen geholt hätte, der selbst so viele Teufel geholt hat?" Sujets und Gestaltensystem des lettischen Zaubermärchens stützen sich gewöhnlich auf das Stilmittel des Kontrasts. Alle positiven Eigenschaften sind in der Gestalt des Helden enthalten, während alles Böse und dem Volke Feindliche in den negativen Gestalten konzentriert ist. Die Schilderung in Gegensätzen wird nicht selten mit dem beliebten stilistischen Kunstgriff der dreifachen Wiederholung verbunden. Den beiden älteren Brüdern ist der dritte, der jüngste, gegenübergestellt; den Gegensatz zum fleißigen Waisenmädchen bilden die beiden faulen Töchter der Mutter u. ä. m. Das Gesetz von der Dreizahl kann in den Märchen sowohl rein quantitativ sein (der Held muß drei Tieren helfen, die ihm begegnen) als auch mit einer qualitativen Steigerung verbunden werden. Im Kampf mit dem drei-, sechs- und neunköpfigen Teufel nimmt die Härte des Kampfes zu, immer schwerere und gewaltigere Geräte verwendet der Starke, dreimal überprüft er seine Kräfte, ehe er sich in die Welt aufmacht. Das Gesetz von der Dreizahl dient so der dynamischen Gestaltung des Handlungsablaufs, und die Aufmerksamkeit der Zuhörer wird gleichzeitig auf die Hauptepisoden der Handlung gelenkt. Der charakteristische Märchenstil ist durch eine schlichte Sprache und knappe Ausdrucksweise gekennzeichnet. Nirgendwo wird die Handlung durch ausführlichere Natur- oder Milieubeschreibungen verzögert, die
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Handlungen der Gestalten werden nicht motiviert. Diese Kürze zeigt, wie nahe und verständlich das Märchengeschehen dem Volk ursprünglich war. Die traditionellen Elemente des Märchens machten eine eingehendere Erklärung nicht erforderlich, und die Schlichtheit der Erzählweise mag dazu beigetragen haben, daß das Märchensujet in der Erinnerung vieler Generationen besser erhalten blieb. Eine zweite stilistische Besonderheit der Zaubermärchen ist der häufige Tempuswechsel. In Märchen, die sonst ganz im Präsens erzählt sind, ist häufig nur die Einleitung in einer anderen Zeitform gehalten. Der A b l a u f der Geschehnisse wird meist im Präsens erzählt, und bei besonders lebhaften Handlungsmomenten steht sogar das Futurum. Dadurch wird eine besondere Dynamik der Sprache erreicht. Ebenso wie der Tempuswechsel fördert auch die knappe Ausdrucksweise in den Dialogen der Märchengestalten die Dynamik des Märchens. In vielen Märchen werden Formeln verwendet wie „Gedacht, getan", „ W a s sein muß, muß sein", „So ist das nun" u. a., die gleichfalls einen schnelleren Handlungsablauf fördern und ausführliche Beschreibungen überflüssig machen.
3. Alltagsmärchen Einen großen Raum nehmen im lettischen Märchenschatz die Alltagsmärchen ein. Für diese Märchen ist eine besonders enge Verbundenheit mit der täglichen Arbeit des Volkes und mit der Sphäre der sozialen Beziehungen typisch, daraus erklären sich ihre Vielfalt und große Popularität. Im Zusammenhang damit drückt sich bei diesem Märchentyp auch die negative Haltung des Volkes gegenüber sozialen Gegnern am deutlichsten und unmißverständlichsten aus. Die Tiermärchen und die Zaubermärchen bilden bis zu einem gewissen Grad deutlich abgrenzbare Märchengruppen, die eine charakteristische Thematik und eine besondere künstlerische Gestaltung aufweisen. Ein komplizierteres Bild eröffnet sich uns jedoch bei der Betrachtung der lettischen Alltagsmärchen, die von höchst unterschiedlichem Charakter und Umfang sein können. Hier finden wir Erzählungen verhältnismäßig junger Herkunft, häufig von der geschriebenen Literatur beeinflußt (z. B. die sog. Abenteuermärchen), Märchen mit einem deutlichen satirischen Einschlag (z. B. die sog. Scherz- oder satirischen Märchen), Sujets, die typisch für Volksanekdoten sind, sowie in Inhalt und Form literarischen Erzählungen eng verwandte Märchen (die sog. novellistischen Märchen). Für alle diese Erzählungen finden wir in der Literatur auch die Bezeichnung „realistische Märchen", und es muß eingeräumt werden, daß die Bezeichnung „Alltagsmärchen" nicht ganz exakt ist, denn sie suggeriert gewissermaßen einen Gegensatz zu den Zaubermärchen und den Tiermärchen, die schließlich ebenfalls Elemente des täglichen Lebens enthalten, wie uns ja auch Phantasie und Erfindungsreichtum in den Alltagsmärchen begegnen. Die Alltagsmärchen unterscheiden sich von den anderen Märchen jedoch
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nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch. In den Zaubermärchen spielt das Phantastische eine dominierende Rolle. Die Helden der Alltagsmärchen sind dagegen gewöhnliche Menschen, die in gewöhnlichen Verhältnissen leben und ihrer alltäglichen Arbeit nachgehen. Auch die Handlung des Märchens und die Konflikte sind bis zu einem gewissen Grad real, wenn sie auch oft nur unter außergewöhnlichen, erdachten Umständen realisiert werden können. Als Beispiel hierfür mag einer der verbreitetsten Zyklen der Alltagsmärchen dienen, die Lügenwette zwischen dem Bauern und dem Herrn (vgl. Nr. 108). Im Leben kann man sich eine solche Situation schwerlich vorstellen, obwohl sie nichts eigentlich Phantastisches enthält. Der Bauer, der mit seiner Klugheit dem Herrn als rechtlich und wirtschaftlich gleichberechtigter Partner entgegentritt, verkörpert in gleicher Weise die Ideale des Volkes wie der freie, starke Sohn des Schmieds in den Zaubermärchen, der mit dem Schwert in der Hand gegen die Teufel und die Heere fremder Könige kämpft und sie besiegt. Man kann sich leicht vorstellen, welchen bewußtseinsbildenden Einfluß Märchen über geizige und unbarmherzige Herren im Zeitalter der feudalen Ausbeutung ausüben mußten. In den Märchen siegte die Gerechtigkeit, der Herr wurde bestraft, der doch den Bauern verkaufen, ihn im Kartenspiel gewinnen, gegen einen Hund oder eine Pfeife eintauschen, prügeln oder zum Militärdienst schicken konnte. Insgesamt sind die Alltagsmärchen im Vergleich zu den Tier- und Zaubermärchen als jüngere Schöpfungen anzusehen. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß nicht auch in den Alltagsmärchen Sujets und Motive alter Herkunft anzutreffen wären. Zweifellos waren bereits in ferner Vergangenheit auch Alltagsmärchen lebendig. Das vielfaltige Repertoire der lettischen Alltagsmärchen vermag noch heute reiches Material zur Erforschung der Geschichte des lettischen Volkes zu liefern. Die Alltagsmärchen stellen eine wichtige Quelle für die Ermittlung des national Spezifischen in der mündlichen Volksprosa dar. Mehr als in jedem anderen Märchengenre sind hier echt lettische Sujets zu finden. Ferner lassen die Umgestaltung international verbreiteter Sujets sowie die Popularität einzelner Sujets — vergleicht man sie mit den Märchen anderer Völker — die Schlußfolgerung zu, daß eine der hervorstechenden Eigenschaften der lettischen Alltagsmärchen der ausgeprägte Haß gegenüber dem feudalen Gutsherrn ist. In vielen Sujets tritt an die Stelle des Herrn der Pfarrer — das beweist, daß im Bewußtsein des Volkes kein großer Unterschied zwischen dem Herrn auf dem Gut und dem Herrn in der Kirche bestand. Auch in den Räubergestalten der lettischen Alltagsmärchen spiegeln sich im allgemeinen äußere Erscheinung und Eigenschaften des feudalen Herrn wider, während z. B. in der russischen Folklore die Räuber sehr oft geflohene Leibeigene sind, die sich am Gutsbesitzer rächen und dem Volk helfen. Mit ihrem Inhalt und dem Gestahensystem lehnen sich die lettischen Alltagsmärchen teils an die Zaubermärchen, teils an die Volksanekdoten an. In der ersten Gruppe treten häufig Könige und Prinzessinnen auf, auch der Teufel und andere für die Zaubermärchen charakteristische Gestalten. Nicht selten ist der traditionelle dritte Sohn der Hauptheld. Hier kämpft er
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jedoch nur mit der Waffe seiner Schlagfertigkeit und Klugheit, ohne die Hilfe verschiedener Wunderkräfte, und zwar nicht gegen übernatürliche Gegner, sondern gegen den König und Herrn. Der Märchenheld muß hier ebenfalls große Reisen unternehmen, aber sie führen ihn nie in die Unterwelt oder ins Jenseits. Statt dessen werden weite Fahrten zu Wasser und zu Lande geschildert, die die Befreiung der geraubten Prinzessin des fremden Königs oder den Handel in fremden Ländern zum Ziel haben. Meist sind die Reiseerlebnisse sehr eingehend beschrieben, sie nehmen im Märchenverlauf den zentralen Platz ein. Die Welt jenseits der Grenzen des Bauernhofes ist hier viel ausführlicher geschildert als in den Zaubermärchen. Im Vergleich zu den Zaubermärchen, in denen das Leben im phantastischen Gewand geschildert wird, kann man in den AUtagsmärchen die bereits oben kurz charakterisierte eigentümliche Spielart des Realismus erkennen. In dem umfangreichen Zyklus über den Wettstreit in der Schlagfertigkeit oder im Lügen gibt es keine phantastischen Elemente. Hier wird geschildert, wie der Bauernbursche den sozialen Gegner mit ganz einfachen Mitteln besiegen könnte, wenn er nur in der realen Wirklichkeit die Möglichkeit hätte, sich mit dem Herrn wie mit seinesgleichen zu messen. Die zweite Gruppe der Alltagsmärchen verwendet vielfältige Ausdrucksmittel der Satire. Diese Märchen stellen vor allem negative Erscheinungen im sozialen Leben und im Alltagsbereich bloß. Ausgeprägt humoristische und satirische Gestalten zeigen die Annäherung dieser Märchen an die Volksanekdoten. Obwohl die Anekdote eine selbständige Gattung der Folklore ist, läßt sich die Grenze zwischen Anekdote und satirischem Märchen nicht immer exakt festlegen. So ist z. B. die knappe Ausdrucksweise für beide Gruppen charakteristisch. Mit den anderen Alltagsmärchen sind die satirischen Märchen durch die gemeinsamen Gestalten und einige grundlegende Gesetzmäßigkeiten der Komposition verbunden. Nach dem Gegenstand der Satire können diese Alltagsmärchen ebenfalls in zwei Gruppen eingeteilt werden: In der ersten Gruppe sind Sujet und Handlung insgesamt auf die Entlarvung dpr sozialen Gegner ausgerichtet. Am schärfsten wendet sich die Satire der Märchen gegen den hauptsächlichen und nächsten Klassenfeind des Bauern, gegen den Feudalherrn. Neben der Schilderung seiner Grausamkeit, Gewalttätigkeit und seines Geizes, die wir auch in den Zaubermärchen finden, zeigen die satirischen Märchen besonders die Dummheit des Herrn. In allen diesen Märchen klingt ein Hauptgedanke an — das Volk, das durch einen einzelnen Helden verkörpert wird, ist den Herren weit überlegen. Ein bezeichnendes Beispiel für diese Gruppe ist das weitverbreitete Märchen vom Knecht, der das Schwein und die Ferkel zur Hochzeit einlädt. Der Anfang des Märchens bereitet gewissermaßen den Hintergrund vor, auf dem später der Höhepunkt der Erzählung, die Dummheit des Gutsherrn, deutlich zutage tritt. Häufig wird eingangs die Dummheit der Frau oder der Mutter des Helden geschildert; der Mann oder der Sohn sieht sich in der Welt um, ob nicht woanders noch größere Dummheit zu finden ist. Dabei zeigt sich, daß es in der Welt an Dummen nicht mangelt. So begegnet er einem Mann, der das Pferd durch ein am Tor aufgehängtes 26
Lettische Volksmärchen
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Kumt treibt, Burschen, die einen Ochsen auf das Dach des Badehauses zerren, damit er dort das Gras frißt, oder auch einer Frau, die durch Schläge ein Huhn zwingen will, die Küken zu säugen usw. Alle diese Begebenheiten werden mit Humor geschildert — der Held erläutert den Einfältigen, wie man richtig handelt, und dann zieht er weiter. Damit ist der Zuhörer des Märchens auf das Weitere vorbereitet — auf die Schilderung der Dummheit des Herrn. Das ist das dritte Beispiel der Dummheit, nach der Märchenüberlieferung das deutlichste von allen. Außerdem ist hier der Märchenheld nicht mehr nur Beobachter der Dummheit, sondern er löst eine entsprechende Situation bewußt aus. Im weiteren Handlungsablauf offenbart sich in einer deutlich satirischen Darstellung die geistige Beschränktheit des Herrn und seiner Ehefrau. Den Höhepunkt erreicht das Märchen, als der Herr durch reiche Geschenke ein Schwein beschaffen läßt, es in die Kutsche setzt und es den Sohn nach Hause fahren läßt. Eii e gleichermaßen bissige Satire findet man im Märchen vom leichtgläubigen Herrn, der eine Mütze mit einem angeblichen Wundervogel bewacht, während der gewitzte Bauer mit dem Pferd des Herrn auf und davon fährt. Auch der Knecht oder der Soldat nützen die Dummheit und den Aberglauben des Herrn aus, indem sie ihm versprechen, seinen verstorbenen Angehörigen Geschenke oder Geld in den Himmel zu bringen. In manchen Märchen werden neben der Schilderung der Dummheit des Herrn auch deren Ursachen aufgedeckt: Der Herr leistet keine schöpferische, nützliche Arbeit und hat deshalb von den elementarsten Wahrheiten des Arbeitslebens keine Ahnung. Dieses Fehlen der praktischen Lebenskenntnisse nützt der Bauer geschickt aus, etwa im Märchen vom Gänseteilen (Nr. 103). Sehr scharf richten sich die Pfeile der Satire gegen die Geistlichen. In den Alltagsmärchen werden die charakteristischsten Eigenschaften kirchlicher Würdenträger und Angestellter wie Pastoren, Pfarrherren, Popen und Küster richtig erkannt und aufs Korn genommen (z. B. Habgier, Geiz und Sittenlosigkeit). Die Vertreter der Geistlichkeit werden meist ähnlich wie die Herren charakterisiert. Ob im Joch des Herrn oder im Dienst des Popen, der Bauembursche wird zu schwerer Arbeit gezwungen, und der Pope versucht, dem Arbeiter weniger als üblich zu bezahlen oder ihm schlechteres Essen zu geben. Aber auch diesen Herren versteht der Bursche eine Lehre zu erteilen. In vielen Märchen wird die moralische Verworfenheit der Geistlichen angeprangert und ihre Heuchelei verurteilt. Oft werden Gebete und andere Teile des Gottesdienstes parodiert, und häufig erscheint die Abrechnung mit dem Popen besonders unbarmherzig. Diese Märchen bezeugen, daß die christliche Lehre das Volk nicht daran hindern konnte, das wahre Gesicht der Geistlichen zu erkennen. Daß die in der Kirche verkündete Lehre bei den Volksmassen keinen allzu tiefen Widerhall gefunden hat, bezeugen Erzählungen wie das weitverbreitete Märchen von dem Bauern, der das Dogma der Kirche, daß Gott jedes Geschenk zehnfach vergilt, geschickt zu seinen Gunsten ausnutzt.
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Ein solcher elementarer Atheismus ist in allen Märchen zu verspüren, die sich gegen die Kirche und die Geistlichen wenden. Zur Schilderung sozialer Beziehungen in der bäuerlichen Umwelt dienen in den Alltagsmärchen vorwiegend die Gestalten des reichen und armen Bruders oder Nachbarn. Häufiger als in den übrigen Alltagsmärchen werden bei dieser Gruppe ausführliche Charakteristiken der Hauptpersonen vorgenommen. Diese Besonderheit dürfte aus der verhältnismäßig jungen Herkunft der Märchen zu erklären sein. Die Gestalten des armen und des reichen Bauern hatten im Bewußtsein des Volkes noch nicht den traditionellen Inhalt angenommen, der mit den Gestalten der Herren und der Geistlichen, der jahrhundertelangen Unterdrücker des Volkes, verbunden war. Der Handlungskonflikt dieser Märchen stützt sich auf die unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse der beiden Zentralfiguren. Den Armen zwingt sein Elend, sich vom Reichen Geld zu leihen, aber später kann er seine Schulden nicht zurückzahlen. Um sich aus dem Joch der sozialen Ungerechtigkeit zu befreien, darf der Arme — nach der Moral des Märchens — alle Mittel anwenden. Häufig greift er zu List und Lüge: Er stellt sich tot, gibt sich als Wahrsager aus, steckt den Reichtum mit List in einen Sack usw. Neben dem Scharfsinn und der Geschicklichkeit des Armen werden die negativen Eigenschaften des Gegenspielers geschildert: Dummheit, Leichtgläubigkeit, Habgier und Geiz. Oft spiegelt sich die Überlegenheit des armen über den reichen Bauern in den Antworten beider auf die Fragen des Herrn oder des Richters wider. Die Situation ist hier dieselbe wie in den Märchen vom Wettlügen zwischen Bauern und Herrn. In den Augen der Märchenerzähler ist demnach die Wertung des reichen Bauern und des Herrn gleich negativ. Nicht sehr umfangreich, doch voller scharfer Satire sind die Alltagsmärchen über die Beziehungen zwischen Knecht und Bauer. In Form und Inhalt sind sie den Volksschwänken mit entsprechender Thematik nahe verwandt. Der Zusammenstoß von Bauer und Knecht ist gewöhnlich auf den Kampf des Knechtes für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen beschränkt. Dennoch erkennt man auch hier einen unversöhnlichen Antagonismus. Als Gegensatz zu der von den Feudalherren verfaßten Literatur jener Zeit, die von gutherzigen und freigebigen Herren berichtet, sind diese Märchen für die Herausbildung und Festigung des Bewußtseins des Volkes sicher nicht ohne Bedeutung gewesen. Die zweite größere Gruppe der satirischen Märchen berichtet von der Alltagsarbeit des feudalen Bauern und behandelt Fragen des häuslichen Familienlebens. Diese Märchen wollen meist negative Erscheinungen im Charakter und Handeln der Menschen kritisieren. Weit verbreitet sind die Märchen von der dummen Frau, die alle Anweisungen wörtlich ausführt und so sich selbst und ihrem Hauswesen großen Schaden zufügt. Als dumm gilt in den Märchen auch die Frau, die daran glaubt, daß Gott auf einem Baum sitzt und Ratschläge zu erteilen vermag, wie sie ihren Mann loswerden kann. Ebensooft wird in den Märchen der dumme Mann gezeigt, der für seine 26*
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Faulheit und Trunksucht bestraft wird. Interessant ist in diesem Märchenzyklus auch, daß der Dumme in all seinem Tun und Handeln nicht in der Lage ist, vernünftig zu urteilen und zu verfahren. Andererseits ist aber der Dumme ja oft der dritte Sohn des Vaters, der ungeachtet seiner Naivität und seiner mangelnden Lebenskenntnis nicht nur für sich selbst alle Schwierigkeiten glücklich meistert, sondern auch noch seinen älteren Brüdern zu helfen vermag. Hier hat eine besondere Überschneidung von Motiven der Zaubermärchen und der Alltagsmärchen stattgefunden, der eine zweifache Auffassung vom Märchenhelden zugrunde liegt. Einmal wird darunter der Dumme in des Wortes unmittelbarer Bedeutung verstanden, zum anderen — entsprechend der Tradition der Zaubermärchen — der Held, der als Dummerchen bezeichnet wird, in Wahrheit jedoch klüger ist als die anderen. Zwei Gestalten unterschiedlicher Qualität sind in einer vereinigt; dadurch wurde ein neuartiger Märchenheld geschaffen. Schließlich muß noch eine andere Gruppe der Alltagsmärchen erwähnt werden, die von merkwürdigen und närrischen Ereignissen berichtet. In ihnen werden die handelnden Personen selbst sehr sparsam charakterisiert. Meist vereinen sich mehrere solcher Märchen zu einer längeren Erzählung, oder sie sind als Episoden in andere Märchen eingebettet. Als einzelne Märchen enthalten sie eine Lehre oder die Verurteilung eines Geschehens durch den Erzähler. Ebenso wie die Sujets der Alltagsiqärchen dient auch ihr Gestaltensystem dazu, den moralischen und gesellschaftlichen Ansichten des Volkes Ausdruck zu verleihen. Was die künstlerischen Mittel anbetrifft, die bei der Gestaltung der Märchenpersonen verwandt werden, so haben die Alltagsmärchen viel Gemeinsames mit den Zaubermärchen. Zum Beispiel treten ungeachtet der für die Alltagsmärchen typischen realistischen Schilderung des Lebens in ihnen auch die phantastischen Personen und Wesen auf, die in den Zaubermärchen so verbreitet sind. Hier spielen sie jedoch nie die Hauptrolle, sondern dienen lediglich zur Charakterisierung der Tätigkeit und der Umwelt der Helden. Gewöhnlich werden zur Verdeutlichung des Märcheninhalts traditionelle Gestalten der Zaubermärchen verwendet, die im Volk bereits als Träger eines bestimmten Ideengehaltes bekannt sind. Zur Charakterisierung des reichen und des armen Bauern dient in den Alltagsmärchen auch der traditionelle liebe Alte — der liebe Gott. Der Reiche, der sich darauf vorbereitet, einen Gott zu empfangen, welcher dem Allmächtigen des Christentums ähnlich sein soll, versteht es deshalb nicht, das alte Männlein, den lieben Gott, wie er in der künstlerischen Phantasie des Volkes lebendig war, gebührend aufzunehmen. In der Mehrzahl der Alltagsmärchen ist der Alte ein durchaus reales Wesen, erst am Ende des Märchens offenbart er seine übernatürlichen Fähigkeiten: Er gibt das dem Reichen fortgenommene Hab und Gut dem Armen, er verwandelt den unbarmherzigen Herrn in ein Pferd, das er zur Arbeit in einem Bauernhof fuhrt, u. ä. m. In den Alltagsmärchen spielt — wie in der gesamten Prosafolklore — der Teufel eine große Rolle. War bereits in den Zaubermärchen eine Verschmelzung der Gestalten des Teufels und des Herrn zu einem Symbol
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alles Bösen zu beobachten, so hat in der Mehrzahl der Alltagsmärchen der Herr vollends die Funktion des Teufels übernommen. In dieser Hinsicht sind die Märchen von der klugen Tochter bezeichnend, die den Heiratsantrag des schwarzen Herrn annimmt oder vom Gutsherrn geraubt und entfuhrt wird. Nur lebt dieser Herr nicht in der Hölle, sondern seine Behausung ist ein Schloß im Dickicht des Waldes, und sein Handwerk besteht im Rauben und Morden. Hier tritt an die Stelle des vielköpfigen Teufels ganz und gar der Feudalherr bzw. der Räuber. In anderen Märchen dieses Genres ist eine entgegengesetzte Erscheinimg zu beobachten: Die Funktion des Herrn, ja sogar die des Bauern übernimmt der Teufel. So wie der Herr dingt sich der Teufel Arbeiter, trachtet, sie um den verdienten Lohn zu betrügen, und entläßt sie, weil sie die ihnen aufgetragene Arbeit nicht vollbracht haben. Weiterhin gibt es Märchen, in denen die Funktionen von Herr und Teufel vereinigt sind. So quält in einem Märchen der „schwarze Herr" in seinem Stall die Pferde, die verstorbene Herren sind. In einem anderen Märchen erklärt er selbst dem Bauern: „Sieh, das sind eure einstigen Herren, die euch so sehr gequält haben. Nun sind sie zur Strafe Pferde geworden!" Hier fallen gewissermaßen die Aufgaben des Teufels und des alten Männleins — des lieben Gottes — zusammen: Beide haben die bösen Herren zu bestrafen. In den Alltagsmärchen begegnet uns somit die an sich paradoxe Erscheinung, daß der Teufel auch die Funktion einer positiven Gestalt ausübt: Der Teufel hilft dem armen Bauern, Geld zu verdienen, damit er dem Herrn seine Schulden bezahlen kann, und für gelungene Lügen macht er den Pferdehüter reich. An anderer Stelle hat der Teufel die hartherzige Königstochter geholt und einer Stadt das Wasser entzogen, weil die Einwohner der Stadt einem Bettler nichts zu essen und zu trinken gaben. Dennoch übernimmt der Teufel in solchen Fällen nur eine zweitrangige Rolle — das Geld zum Bezahlen der Schulden verdient der arme Bauer mit seiner Arbeit selbst, und der Reichtum ist nur eine Belohnung für die Klugheit des Pferdehüters; das dem armen Bettler angetane Unrecht müssen die Menschen selbst gutmachen. In den Alltagsmärchen begegnen wir noch anderen Gestalten der Zaubermärchen, z. B. der Prinzessin und dem König. Die Prinzessin ist im Wettstreit der Schlagfertigkeit die Gegenspielerin des Helden, aber in den Alltagsmärchen wird der Held weit seltener mit der Hand der Prinzessin und dem halben Königreich belohnt. Es scheint, daß die realistische Wertung des Lebens in den Alltagsmärchen eine praktischere, konkrete Belohnung des Helden erforderlich macht: Meist gewinnt er für sich und die Seinen Wohlstand. Entgegen dem guten und gerechten König der Zaubermärchen ist der König in den Alltagsmärchen häufig ähnlich dem Herrn charakterisiert. Ihm gegenüber ist dann auch die Haltung des Volkes eindeutig: Der König ist der Dummkopf, der nicht einmal dem Hirtenjungen zu antworten versteht und nicht begreift, warum der Arbeiter seinen ganzen Verdienst verbraucht, und dennoch Not leidet. Die positiven Hauptgestalten bringen in den Alltagsmärchen Ansichten und Bestrebungen des Volkes zum Ausdruck. Es sind der arme Bauer, der
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Knecht, der Hirtenjunge, verschiedene Handwerker, die kluge Tochter u. a. Eine Hauptrolle spielt der einfache Bauer, der oft nur als Mann, Bursche, Arbeiter u. ä. bezeichnet wird. Haupteigenschaften dieser Gestalt sind die durch Erfahrung erworbene Klugheit, Schlagfertigkeit und das Vermögen, diese im Kampf gegen die verschiedenen Gegner anzuwenden. Die Vielfalt der Märchensujets bestimmt den mannigfach nuancierten Ausdruck dieser Haupteigenschaften, und schließlich entsteht eine Gestalt mit stark verallgemeinerten, für die Menschen jener Zeit typischen Zügen. Der Märchenheld ist wenig individualisiert, oft hat er nicht einmal einen Namen. Gewöhnlich wird der Hauptheld lediglich mit einem Epitheton charakterisiert: der Arme, der Kluge, der Findige. Eine genauere Charakteristik seines Aussehens sowie seiner Gedanken und Ansichten fehlt völlig, es genügt, seine Sprache und sein Tun darzustellen, an ihnen zeigt der Erzähler die Grundeigenschaften seines Helden. Diese Eigenschaften sind meist hyperbolisch wiedergegeben, und sie werden nicht durch nebensächliche Details und Charakterzüge verdeckt. Natürlich konnte das Märchen durch einen besonders begabten Erzähler eine sehr reiche künstlerische Gestaltung erfahren, aber auch ohne diese verlor es die Kraft der ideellen Beeinflussung nicht. Zu einer Zeit, in der die Märchen im Bewußtsein des Volkes noch wirklich lebten, waren auch die traditionellen Gestaltungsmethoden weithin bekannt. Der Zuhörer vervollständigte in seiner Phantasie das in der Darstellung des Erzählers Fehlende, er fügte der Gestalt die Eigenschaften und Bestrebungen hinzu, die das Volk in der entsprechenden Periode bewegten. Eine eingehendere Zeichnung des klugen Bauern und seines Gegners — des Gutsherrn — brauchte nicht von weit her geholt zu werden, beide waren aus dem Alltagsleben wohl bekannt. Gerade in dieser aktiven Mitwirkung der Zuhörer bei der Herausbildung der Gestalten sind die erzieherische und bewußtseinsbildende Rolle und Bedeutung des Märchens zu suchen. Die Darstellung des Erzählers ergab zusammen mit dem, was gewissermaßen zwischen den Zeilen stand, im Bewußtsein des Volkes typische Gestalten. Das Allgemeine verschmolz mit den individuellen Zügen der Person. Dieses Zusammenwirken von Erzähler und Zuhörer bei der Entwicklung der Märchenfiguren spielt gerade in den Alltagsmärchen eine große Rolle. Wenn in den Zaubermärchen die Mitwirkung des Zuhörers an der Gestaltung eine gewisse Kenntnis der traditionellen Motive und des Stils erforderte, so waren die Gestalten und die Thematik der Alltagsmärchen so unmittelbar mit dem alltäglichen Leben und der Arbeit verknüpft, daß sich jeder Zuhörer an der Individualisierung der Märchenhelden beteiligen konnte. Aus diesem Grunde vor allem sind die in den Alltagsmärchen enthaltenen Charakteristiken der Gestalten und die Motivationen ihrer Handlungen so knapp gehalten. Die Handlung des Märchens beginnt im allgemeinen ohne eine längere Einleitung: Der arme Bauer oder der Mann trifft mit seinem Gegner — dem Herrn oder König — zusammen. Der rasche Handlungsablauf bietet indirekt schon die erste Charakteristik der positiven Gestalt — der Held ist sich seiner Fähigkeiten bewußt und verläßt sich auf sie. Zugleich mit dem Bewußtsein seiner Überlegenheit ist sich der Bauer auch stets seiner
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Stellung im Gegensatz zu der des Herrn bewußt. Als der Teufel ihm Gold anbietet, weist er es zurück, denn was soll er als arbeitender Mensch mit Gold anfangen? Die dritte für die Gestalt des armen Bauern kennzeichnende Eigenschaft ist das Bewußtsein seiner Menschenwürde. Als der Herr ihm für eine herausfordernde Antwort eine Ohrfeige versetzt, erwidert er, daß diese eine Ohrfeige jenem drei Ohrfeigen einbringen werde, daß er aber im Augenblick keine Zeit dazu habe. In der Handlung und vor allem in der Sprache des Helden der Alltagsmärchen sind zahlreiche ironische und satirische Anklänge festzustellen. So bittet der reiche Bauer den armen, ihn in den Fluß zu werfen, weil er glaubt, auf dem Grunde des Flusses eine Herde Vieh umsonst zu bekommen. In dem lebhaften Dialog, in dem der arme Bauer den reichen von diesem Tun zurückhalten will, werden noch einmal in scharf satirischer Form die Habgier und Dummheit des Reichen unterstrichen, während der arme Bauer als ein Mensch dargestellt ist, der gegen seinen Willen gezwungen wird, die Forderung des reichen auszuführen. In den Alltagsmärchen spielt auch die kluge Tochter oder Frau eine bedeutende Rolle, gemeinsam mit dem Waisenmädchen der Zaubermärchen die markanteste weibliche Gestalt der lettischen Märchen. Die kluge Tochter verkörpert die gleiche Idee, die hinter der Gestalt des armen Bauern steht: die geistige Überlegenheit des arbeitenden Menschen wird der Dummheit und Einfaltigkeit der Unterdrücker entgegengestellt. So wie das Waisenmädchen und der dritte Sohn in den Zaubermärchen, so spiegeln auch die Gestalten des armen Bauern und der klugen Tochter in den Alltagsmärchen gleichsam zwei Ausdrucksformen ein und derselben Erscheinung wider: Sie zeigen, daß die Frau nach Auffassung des Märchenerzählers ein dem Manne würdiger und gleichwertiger Helfer und Kämpfer gegen die sozialen Feinde ist. Beider Haupteigenschaft und Waffe sind Findigkeit und Klugheit. Dennoch spürt man bei der Gestaltung der Personen Unterschiede. In den Märchen über die kluge Tochter ist der Initiator der Handlung meistens eine andere Märchengestalt, und nicht selten tritt die kluge Tochter zu Beginn des Märchens gar nicht auf. Der Richter stellt zwei Nachbarn die Fragen, sie erfragen zu Hause von ihren Töchtern oder Frauen eine Antwort, und erst mit der Antwort der Tochter des armen Bauern werden im Märchen die Charaktereigenschaften der Klugen offenbar. Eine solche Steigerung der Aktivität ist in den beiden wichtigsten Zyklen über die kluge Tochter zu erkennen: In den Märchen, in denen der Herr oder König die Tochter wegen ihrer Klugheit und Findigkeit heiratet, und jenen Märchen, die vom Kampf der klugen Tochter und von ihrer Befreiung aus der Gefangenschaft von Räubern erzählen. Die zweite Eigenschaft der klugen Bauerntochter ist ihr verhältnismäßig schwach entwickeltes Klassenbewußtsein. Nachdem sie einmal die Frau des Herrn geworden ist, wünscht sie in dieser Stellung zu bleiben. Darin drückt sich das begrenzte Weltbild der Bauern jener Zeit aus: Ebenso wie es für den Helden in den Zaubermarchen den größten Lohn bedeutet, die Prinzessin zu gewinnen und Herrscher zu werden, so ist es für die kluge Tochter das höchste Ziel, Gebieterin auf dem Gutshof zu werden. Selbst eine solche Lösung vermag jedoch die Überlegenheit der Bauerntochter gegenüber 407
dem Herrn deutlich zu machen, denn obwohl am Ende eine Abrechnung mit dem Herrn nicht stattfindet, vermittelt doch die gesamte Handlung des Märchens dem Zuhörer eine unmißverständliche Wertung der beiden Seiten. Auch in den Märchen vom Kampf der klugen Tochter gegen den Räuber als Herrn ist der Initiator der Handlung nicht die Heldin selbst; sie ist vielmehr gezwungen, sich zu verteidigen. Zu Beginn antwortet die Tochter lediglich auf die an ihren Vater oder Bruder gerichteten Fragen. Darauf nimmt die Aktivität der Heldin ständig zu. Als sie bei dem Räuber lebt, übertrifft sie ihn so sehr an Klugheit, daß er beschließt, sich von ihr zu befreien. Erst jetzt nimmt die kluge Tochter die Initiative in ihre Hände. Indem sie sich auf die eigenen Worte des Herrn stützt und diese zu ihren Gunsten ausnutzt, führt sie den schlafenden oder trunken gemachten Mann in ihr Vaterhaus, und nun bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich mit seiner klugen Frau auszusöhnen und nach Hause zurückzukehren. Eine ähnliche Funktion, die überlegene Klugheit des Volkes zu zeigen und eine ironische Wertung der herrschenden Klassen vorzunehmen, erfüllt auch die Gestalt des Hirtenjungen im Märchen. Das Sujet der betreffenden Märchen ist einfach, und ihr Anliegen wird bereits in der Gegenüberstellung des schlichten Bauernjungen mit dem mächtigen König oder Feudalherrn deutlich. Die direkte Charakteristik der beiden Gestalten erscheint äußerst knapp, sie ist vorwiegend dem lebhaften Dialog zu entnehmen, in dem die Schlagfertigkeit des Hirtenjungen und seine Fähigkeit, die Umstände zu seinen Gunsten zu nutzen, anklingen. Genauso wie der arme Bauer ist auch der Hirtenjunge im Umgang mit Würdenträgern selbstsicher, und aus seinem Verhalten spricht die Überzeugung vom eigenen Recht und von der eigenen Überlegenheit. Häufig flicht der Hirtenjunge in das Gespräch sogar eine direkte Charakteristik seines Gegners ein, indem er den Herrn als Dummkopf bezeichnet. Wenn der Herr ihm befiehlt, sich auf dem Gut einzufinden, um für seine Reden Prügel zu beziehen, begibt sich der Junge pfeifend dorthin, denn er ist ja überzeugt, daß er dort durch seine Findigkeit den Ruten des Herrn entkommen wird. Das gelingt ihm in der Tat. Er entrinnt aber nicht nur der Strafe, sondern fügt dem Herrn außerdem noch materiellen Schaden zu und kehrt mit einem Schinken auf der Schulter nach Hause zurück. Als der Herr das sieht, ist er befriedigt, denn er glaubt, der Junge sei ganz krumm von den erhaltenen Prügeln. Das Märchen schließt mit den Worten des Herrn: „Hat der Bengel aber tüchtige Prügel bekommen — der ganze Rücken ist krumm!" Besonders ausführlich schildern die Märchen die Klugheit und Geschicklichkeit des Hirtenjungen, in denen er die Zeichen der Prinzessin erraten muß. In den verschiedenen Varianten führt der Hirtenjunge hier eine ganze Reihe von Vertretern höherer Schichten hinters Licht: die Herren, die Geistlichen, die Söhne des Königs und sogar die Prinzessin selbst, für jede Gelegenheit hat er eine Antwort oder einen Handlungsplan parat. Die Verhältnisse zu seinem Vorteil auszunutzen, das Geheimnis zu entdekken oder das Wissen zu erwerben, womit er die Herren und Prinzen überlisten kann, das hat der Junge meist schon zuvor von der Prinzessin selbst
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gelernt. — Die Fähigkeit, zum rechten Zeitpunkt richtig zu handeln, ist auch für die Märchen typisch, in denen der Junge die Königstochter aus der Gefangenschaft der Räuber befreit. Während sich hier der Zuhörer sein Urteil über die Klugheit des Märchenhelden aus dessen Handlungsweise bildet, bereitet ihn im Märchen von den klugen Antworten der zwischen dem Hirtenjungen und dem König oder Herrn in geistvollen Worten geführte Wettstreit gleichsam auf eine ebenso klug ausgedachte Handlung in der Fortsetzung des Märchens vor. Zumeist gelangt der Hirtenjunge ins Schloß des Königs, wehrt die Gemeinheiten der neidischen Höflinge ab und wird zum Ratgeber des Königs oder selbst zum König. Nicht selten heißt es am Ende des Märchens ausdrücklich, daß die Leute den Jungen nun für klüger halten als den König. Erwähnung verdient auch die in den lettischen Alltagsmärchen beliebte Gestalt des Meisterdiebs. Diebstahl wird in der Folklore an sich negativ bewertet, und auch die Zaubermärchen verurteilen ihn. Diese Haltung des Volkes bleibt grundsätzlich auch in den Alltagsmärchen unverändert. Denn das, was wir hier antreffen, kann nur bedingt als Diebstahl bezeichnet werden. Es geht vielmehr um eine bestimmte Art des Wettstreites hinsichtlich Klugheit, Gewandtheit und Schlagfertigkeit, nicht aber um eine Moralkategorie. Der Meisterdieb ist in den Alltagsmärchen gewöhnlich ein Bauernbursche, der dritte, jüngste Sohn bzw. das Dummerchen. Also reiht ihn die Tradition in die positiven Märchenhelden ein. Fast in allen Varianten sind seine Gegner die negativen Gestalten — der Herr und der Geistliche, seltener der König. Gewöhnlich fordert der Herr, der von seiner Klugheit überzeugt ist und sich auf die Privilegien seiner sozialen Stellung stützt, den Märchenhelden, der den Ruf eines großen Diebes genießt oder sich das Stehlen angeeignet hat, zu einem Wettstreit heraus. Die Bedingungen des Wettstreites gibt meist der Herr vor, und sie sind für den Burschen ungünstig. Der Herr ist von seinem Sieg überzeugt, denn er selbst bestimmt ja, wer stehlen soll und wann er es zu tun hat, außerdem stehen dem Herrn Knechte und Wächter zur Verfügung, die jeden seiner Befehle ausführen. Der Meisterdieb hat sein Handwerk gelernt, weil er durch die Not dazu gezwungen war oder einfach weil er das Stehlen als ein Handwerk wie andere betrachtet. Von den übrigen Helden der Alltagsmärchen unterscheidet er sich lediglich dadurch, daß er seine Geschicklichkeit durch Lernen erworben hat, so daß er gegen den Herrn noch erfolgreicher zu kämpfen vermag als der einfache Bauer. In der Märchenhandlung zeichnen sich sehr deutlich zwei Eigenschaften dieser Gestalt ab. Zunächst ist es das Bewußtsein von der eigenen Klugheit und Überlegenheit, das dem Meisterdieb die Möglichkeit bietet, die bevorstehenden Ereignisse vorauszusehen und entsprechend zu handeln. Und dann ist es eine genaue Kenntnis der Sitten und der Lebensart seines Gegners und die Fähigkeit, diese zu seinen Gunsten auszunutzen. Der Meisterdieb nimmt sich vor, alle Dinge zu vollbringen, die der Herr überhaupt zu ersinnen vermag, obwohl er deutlich sieht, daß alle Vorteile zunächst auf Seiten des Herrn sind. Wenn er sich ans Werk macht — das Pferd des Herrn aus dem bewachten Stall zu stehlen oder das Kissen vom Bett des Herrn
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usw., hat er stets die notwendigen Werkzeuge und Mittel zur Hand, um die List des Herrn zu überbieten. Am deutlichsten kommt das in jener Episode zum Ausdruck, in der sich der Bursche unter Zuhilfenahme von Krebsen und Kerzen als Engel ausgibt und den Geistlichen selbst stiehlt und zum besten hält. Die traditionellen Mittel der Volksprosa werden in den Alltagsmärchen deutlich sparsamer als in den Zaubermärchen angewendet. Der realistische Inhalt erfordert auch eine einfachere Ausdrucksweise. So gibt es hier nur wenige traditionelle Formeln, selbst die charakteristischen Einleitungsund Schlußformeln fehlen meist. Da der Handlungsablauf schneller zu erfolgen pflegt als in den Zaubermärchen, passen sich auch Einleitung und Schluß diesem Ablauf an. Während in den Zaubermärchen die Auffassungen des Volkes in ein phantastisches Gewand gekleidet sind, erscheinen in den Alltagsmärchen die Ansichten des Erzählers und seine Wertung der Geschehnisse deutlich und konkret, sie werden unmittelbar in der Schilderung der Handlung dargeboten. Daher erübrigt es sich auch, am Schluß ausdrücklich die Moral des Märchens zu verkünden. Das häufigste Ausdrucksmittel der Alltagsmärchen ist die Schilderung in Gegensätzen. Der Bauer und der Herr, der Reiche und der Arme, der Kluge und der Dumme — diese Gegenüberstellungen heben die Haupteigenschaften der Gestalten wechselseitig hervor. Jede ideelle und künstlerische Wirkung eines Märchens mit sozialem Einschlag wird im Bewußtsein des Volkes durch das spezifische Verhältnis des Märchens gegenüber dem realen Leben verstärkt. Wer im Leben besiegt wird, der siegt in den Märchen — von dieser Erkenntnis kündet jedes einzelne Märchen und die Gesamtheit aller Alltagsmärchen. Gleichzeitig werden auch Möglichkeiten und Mittel zur Veränderung des Lebens sichtbar. Wie in den Zaubermärchen wird auch in den Alltagsmärchen das Gesetz der Dreizahl verwendet, um die Hauptidee oder die Charakteristik eines Helden zu unterstreichen. Das Alltagsmärchen will in der Ausprägung seiner Gestalten vielfältige Elemente des wirklichen Lebens verallgemeinern. Als die Märchen noch im Volke lebten, waren zudem die Zuhörer selbst bei der Individualisierung der Gestalten mitbeteiligt, denn sie ließen die Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben und ihrer Arbeit in diese Gestalten einfließen. In der Märchenhandlung wird die Charakteristik einer Haupteigenschaft, deren Herausstellung das eigentliche Anliegen des Märchensujets ist, jedoch niemals durch Details überschattet. Eine besondere Rolle spielen in den Alltagsmärchen auch ganz bestimmte Elemente des Phantastischen. Um eine Handlung oder einen Begriff zu verdeutlichen, werden die Gestalten des Teufels und des lieben Gottes benutzt, die Taten vollbringen, die den Hauptpersonen des Märchens als konsequent realistisch gezeichneten Personen nicht möglich sind. Am häufigsten werden solche Elemente zur Unterstreichung des Aberglaubens verwendet. Den Wunderglauben nützt der positive Held ebenso wie den Glauben an die von der Kirche verkündete Lehre in allen Märchen stets zu seinen Gunsten aus. Wie in den anderen Märchengenres werden in den Alltagsmärchen die
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Gestalten hauptsächlich durch ihre Handlung und Sprache charakterisiert. Vor allem in den satirischen Märchen kommt dem spannungsgeladenen Dialog eine große Bedeutung zu. In ihm offenbaren sich in knappen Worten die Eigenschaften der handelnden Personen. Wenn das Dummerchen, das sich im Schloß bei der Prinzessin eingefunden hat, diese anspricht: „Hör zu, Königstochter! Errate meine Rätsel . . .", dann werden in diesen wenigen Worten die Schlichtheit, das Selbstbewußtsein, der Mut und die Überzeugung von der Klugheit und Überlegenheit des Dummerchens charakterisiert. Von einem tiefen, ja manchmal geradezu philosophischen Verständnis des Lebens zeugen viele Antworten des positiven Helden auf die vom Herrn oder König gestellten Fragen. Ebenso wie der Ideengehalt des Alltagsmärchens sind auch seine künstlerischen Ausdrucksmittel einfach, aber sie dienen wirkungsvoll den wichtigsten Funktionen der Märchen — die Gedanken und Bestrebungen des arbeitenden Volkes zu verdeutlichen und sie für kommende Geschlechter zu bewahren. Der Reichtum der Sujets und Gestalten der Volksmärchen bildete jahrhundertelang einen bedeutsamen Bestandteil des Lebens und der Kultur des lettischen werktätigen Volkes. In den Märchen brachte das Volk seine Sehnsucht und sein Wollen zum Ausdruck, und hier spiegelte sich seine Fähigkeit zur künstlerischen Gestaltung und ständigen Neuschöpfung wider. Zu einer Zeit, als im realen Leben Unterdrückung und Ausbeutung herrschten, sprach das Volk in den allegorischen Gestalten seiner Tiermärchen von der Niederlage alles Bösen und vom Sieg der Gerechtigkeit. Die Phantasie der Zaubermärchen hat im Lauf der Jahrhunderte leuchtende Gestalten positiver Helden hervorgebracht, die Träger der besten Eigenschaften des Volkes sind. Die Mitarbeit breiter Schichten des Volkes bei der Bewahrung und Gestaltung seines Märchenrepertoires ermöglichte es, in den Märchen jeweils die Auffassungen einer bestimmten Zeit zum Ausdruck zu bringen und einer traditionellen Gestalt einen neuen Inhalt zu geben. Die Alltagsmärchen, die alte Sujets weitertragen und neue entwickeln, wenden sich scharf gegen die Feinde der lettischen arbeitenden Menschen — gegen die Unterdrücker der verschiedensten Art. So blieb die erzieherische und organisierende Rolle der Märchen noch bis in die Zeit des entwickelten Kapitalismus im Volksleben aktuell.
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ANMERKUNGEN Das in der Sammlung enthaltene Märchenmaterial spiegelt alle Genres des lettischen Volksmärchens wider und bietet einen Einblick in diese Gattung der mündlich überlieferten Volksdichtung, soweit sie uns heute zur Verfügung steht. Chronologisch reflektiert das Material die gesamte, etwa hundert Jahre währende Sammelgeschichte der lettischen Erzählforschung, topographisch umfaßt sie alle Gebiete Lettlands. Bei der Auswahl der Varianten hat sich der Herausgeber von mehreren Prinzipien leiten lassen, in dem Bestreben, einen möglichst allseitigen Überblick über die inhaltlichen und formalen Besonderheiten der lettischen Märchen zu bieten. Vor allem wurden national spezifische Varianten ausgewählt, die dem ausländischen Leser einen Einblick in die Eigenart der lettischen Folklore gewähren. In diesem Zusammenhang wird nicht immer die künstlerisch ausgeformteste oder am weitesten verbreitete Variante eines Märchensujets — besonders bei international weithin bekannten Typen — publiziert, die ja häufig den Volksmärchen der Nachbarn ähnlich oder gar mit ihnen identisch ist. In den Fällen, wo gerade die weite Verbreitung des Märchensujets die wichtigste Besonderheit eines lettischen Märchens darstellt, wird die populärste Variante des Märchens gebracht. Meist werden Fassungen verwendet, die mit den Texten der Volkserzählung identisch sind, nur in besonderen Fällen werden auch literarisch beärbeitete Varianten ausgewählt, wenn sie historisch oder kulturell bedeutsame Prozesse innerhalb des gesellschaftlichen Lebens zur Zeit der Aufzeichnung veranschaulichen. Da entsprechende Angaben fehlen, können wir leider über die Erzähler und Sammler nichts aussagen. Lediglich in besonderen Fällen werden Personen erwähnt, deren Tätigkeit in der Folkloristik oder im lettischen Kulturleben allgemeiner bekannt ist. In der Mehrzahl der Fälle beschränken sich die Daten über die Aufzeichnung des Märchens auf die Angabe einer der vier ethnographischen Regionen Lettlands — Kurzeme, Zemgale, Vidzeme und Latgale — sowie des Kreises. Soweit bekannt, werden auch das Jahr der Aufzeichnung und die Erstveröffentlichung zitiert. Bei dem Bestreben, die ausgewählten Varianten nach thematischen Gesichtspunkten zu gruppieren, wird in der Sammlung die Abfolge der Typen nach dem Katalog von Aarne-Thompson nicht eingehalten. Dieser Umstand kann unserer Meinung nach bei der wissenschaftlichen Auswertung des Materials keine Schwierigkeiten hervorrufen, jedoch dem Leser helfen, den Inhalt der lettischen Märchen in seinen Grundzügen leichter zu erfassen. Das Märchenmaterial ist in drei Hauptgruppen gegliedert: a) Tiermärchen, b) Zaubermärchen und c) Alltagsmärchen. Bei der Zusammenstellung der Sammlung wurden zwei Quellen benutzt: 1. Das unveröffentlichte Material aus dem Bestand der Sektion Folklore
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des A.-Upitis-Instituts für Sprache und Literatur bei der Akademie der Wissenschaften der Lettischen SSR (abgekürzt: FS, mit zwei Zahlen, von denen die erste die Nummer des Einsenders bzw. des Manuskripts bezeichnet, die zweite die laufende Nummer der Variante in dem Manuskript). 2. Die umfangreichste Veröffentlichung von Material der lettischen Erzählfolklore, die auch alle vorhergehenden Publikationen umfaßt: Latviesu pasakas un teikas, Pec Ansa Lerha-Puskaisa un ciliem avotiem sakopojis un redigejis pro/. P. Smits (Lettische Märchen und Sagen, Nach Ansis Lerhis-Puäkaitis und anderen Quellen zusammengestellt und redigiert von Prof. P. Smits) I - X V , Riga 1925-1937 (abgekürzt: LPT mit zwei Zahlen, von denen die römische den Band bezeichnet, die arabische die Seitenzahl in diesem Band). In den Anmerkungen werden die folgenden Angaben gebracht: 1. Die Nummer des Märchentyps nach: The Types of the Folklale, A Classification and Bibliography, Antti Aarne's Verzeichnis der Märchentypen (FFCommunicationsNo. 3), Translated and Enlarged by Stith Thompson, Second Revision, Helsinki 1961, F F C 184 (abgekürzt: AT) bzw. das Motiv nach: Stith Thompson, Motif-Index of Folk Literature I—VI, Kopenhagen 1955—1958 (angegeben: Kennbuchstabe + Zahl), sowie Alma Medne, Latviesu dzivnieku pasakas (Lettische Tiermärchen), Riga 1940 (abgekürzt: AM). 2. Hinweis auf die Quelle: a) FS = Material aus dem Bestand des Akademie-Instituts (vgl. oben) oder b) LPT = P. Smits, Latviesu pasakas un teikas I—XV (ygl. oben). 3. Angaben zur Aufzeichnung des Märchens: Sammelort sowie Daten über das Jahr der Aufzeichnung und Veröffentlichungen. 4. Die publizierte Variante wird charakterisiert durch Hinweise auf das deutsche Material der Brüder Grimm (abgekürzt: KHM), auf das Verzeichnis der russischen Märchentypen: N. P. Andreev, UkazateV skazocnych sjuzetov po sisteme Aarne (Verzeichnis der Märchentypen nach dem System Aarne), Leningrad 1929 (abgekürzt: A A) sowie auf die in deutscher Sprache publizierten lettischen Märchen (G. F. Stender, A. Bielenstein, vgl. Nachwort). 5. Angaben über die Verbreitung des Sujets innerhalb der lettischen Folklore: a) Zahl der Varianten nach der Sammlung von P. Smits (LPT), b) nach dem publizierten Verzeichnis der Tiermärchen sowie nach dem unveröffentlichten Manuskript des Verzeichnisses der Zaubermärchen von A. Medne (AM) und c) nach P. Birkerts' Sammlung Latvju tautas anekdotes (Volksanekdoten der Letten) I—IV, Riga 1929—1930 (PB).
Tiermärchen l. Der Bauer und die Tiere AT 38 + 151. FS 618, 104. Aufgez. im Kreis Madona (Vidzeme). Erste Aufzeichnungen in der Sammlung von A. Bielenstein. Vgl. auch Stender 77. Verbreitung: LPT 3 Var., AM 15 Var. — Das Märchen von der Klugheit des Bauern, die sich der Kraft der Tiere des Waldes überlegen erweist, ist
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in der lettischen Folklore sehr populär. Es variiert beachtlich und weicht stark von dem klassischen Konflikt zwischen Mensch und Tieren ab. Gewöhnlich bringt der Mensch den Bären durch List dazu, daß er seine Tatzen in einer Baumspalte einklemmt (AT 38). In einzelne Var. sind Motive anderer Märchen (z. B. von Alltagsmärchen wie AT 1159) eingewoben. 2. Der Mann und der Bär AT 1030, vgl. 9 B. FS 279, 4912. Aufgez. im Kreis Valmiera (Vidzeme). Verbreitung: LPT 13 Var., AM 23 Var. — Das Märchen von der Teilung der Ernte zwischen Mensch und Teufel ist in der lettischen Folklore auch als Tiermärchen bekannt. Gewöhnlich vertritt den Teufel der Bär; in verschiedenen Var. begegnet auch das Paar Fuchs—Bär (vgl. AA 1030). 3. Wie der Mann den Bären und den Fuchs besiegte AT 179 B*. FS 828, 23363. Aufgez. im Kreis Riga (Vidzeme). Verbreitung: (Kurzeme). Verbreitung: LPT 4 Var., AM 37 Var. — Es handelt sich um ein Märchen literarischen Ursprungs (vgl. Stender 52): Äsops Fabel von dem Bauern, der eine Schlange aus einer Grube zieht, den jedoch die Schlange danach töten will, denn „Undank ist der Welt Lohn" (AT 155). Das Sujet des Märchens stammt wahrscheinlich aus Indien. In lettischen Märchen, wie in unserer Var., ist das Sujet oft lokalisiert. 4. Wie der alte Trogschnitzer zu Brot kam AT 179 B*. FS 828, 23363. Aufgez. im Kreis Riga (Vidzeme), Verbreitung: LPT 4 Var., AM 25 Var. — Es handelt sich um ein sehr volkstümliches lettisches Märchen, das hier in der meist publizierten Form gebracht wird. Es wurde bereits 1878 aufgezeichnet und später in fast allen Märchensammlungen und Schullesebüchem veröffentlicht. AM unterscheidet noch einen Typ *179B, bei dem der Mann, während die Tiere die Speisen herbeischleppen, nach Hause läuft und die Bäuerin warnt. Diese empfängt den Wolf, der ein Schaf holen will, mit siedendem Wasser. Als der Mann unter dem Backtrog von heißem Wasser spricht, fliehen die Tiere. Dieses Sujet erscheint in Lettland seltener (bei AM 9 Var.). 5. Der Wolf und der Pflüger AT 1541 + 121, vgl. 126. FS 144,1158. Aufgez. imKreis Ilökste (Zemgale). Verbreitung: LPT 7 Var., AM 97 Var. 6. Wie der Wolf die Stärke des Menschen maß AT 157. FS 32, 2788. Aufgez. im Kreis Bauska (Zemgale). Verbreitung: LPT 2 Var., AM 26 Var. — Es handelt sich um eine alte, international wohlbekannte Fabel (vgl. auch KHM 72 Der Wolf und der Mensch), die auch in der lettischen Folklore verbreitet ist, und zwar in kaum variierter Gestalt. Das Märchen wurde bereits 1872 veröffentlicht und verdankt seine Popularität wohl seinem aphoristischen Gehalt. 7. Die Füchsin und der Kater AT 105. FS 116, 8806. Aufgez. im Kreis Valka (Vidzeme). Verbreitung: LPT 4 Var., AM 18 Var. — Schon bei G. F. Stender findet sich eine Fabel vom Fuchs, der auf Grund eines angeblich neuen Gesetzes über die
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Freundschaft zwischen allen Tieren versucht, eines Vogels (gewöhnlich eines Hahns) habhaft zu werden. Unsere Var. mit der Erzählung von der Füchsin und dem Kater (d. h. der beiden in der lettischen Folklore schlauesten Tiere, des schlauesten Haustiers und des schlauesten wilden Tiers) weicht stark von der Fabel ab. Die übrigen Var. sind von Stenders Fabel weniger stark verschieden, z. T. (vgl. LPT I, 179) stehen sie russischen Märchenvarianten nahe (vgl. Afanas'ev 11). 8. Die Füchsin und der Krug AT 68 B; J 261.1. FS 207, 724. Aufgez. im Kreis Valka (Vidzeme). Verbreitung: LPT 4 Var., AM 13 Var. — Das am weitesten verbreitete lettische Märchen des Fuchszyklus, Erzählungen, in denen der schlaue Fuchs bestraft wird. Das Märchen dürfte literarischer Provenienz sein; es wird nur sehr wenig variiert. Die ersten Veröffentlichungen erfolgten bereits in den achtziger Jahren des 19. Jh. (auch bei F. Brivzemnieks). 9. Die List des Fuchses AT 53 + 1525 J 2 . AM*** 50 A (vgl. AM* 229); FS 72, 7035. Aufgez. im Kreis Madona (Vidzeme). Verbreitung: In LPT keine Veröffentlichungen, AM 53 Var. 10. Wie die Tiere ihre Sünden beichten gingen AT 136 A* + 20 E* + 20 A + 31; vgl. H 1573.6.1. FS 556,8523. Aufgez. im Kreis Valmiera (Vidzeme). Verbreitung: LPT 4 Var., AM 56 Var. — Es handelt sich um ein bei den Letten weitverbreitetes Tiermärchen. Die Beichtenden (Katze, Hase, Fuchs, Wolf, Ziegenbock, Bär, Hahn, Eichhörnchen, Hirsch, Schwein, Hund) gehen über einen Steg, dabei fallen die Sündigen in eine Grube (ungeschoren gelangen darüber gewöhnlich Katze, Eichhörnchen, Hase) (vgl. H 1573.6.1). Die in die Grube Gefallenen beschließen, den zu fressen, der die dünnste, lauteste, gröbste Stimme hat. Das Märchen wird vielfach kontaminiert, dabei werden die Übeltaten der Tiere konkretisiert: der Fuchs stiehlt Fische (AT 1), der Wolf fällt das Pferd an (AT 47 A); Kontaminationen erfolgen auch mit AT 158 (Der Schlitten des Fuchses). In mehreren Var. frißt der allein in der Grube zurückgebliebene Fuchs seine eigenen Gedärme (AT 21) bzw. kommt mit Hilfe des Ziegenbocks heraus (AT 31). 11. Wie die Tiere auf der Flucht in eine Grube fallen AT 20 C + 20 A + 21. LPT I, 159. Aufgez. im Kreis Cesis (Vidzeme). Verbreitung: LPT 5 Var., AM 28 Var. — Zu vergleichen mit dem Märchen Nr. 10 (AT 20 A), der Anfang ist aber anders: Die Tiere fliehen vor dem Ende der Welt (die Erde brennt), weil sie sehen, daß der Misthaufen raucht (vgl. auch AT 130 B: Bei diesem Typ verscheuchen die Tiere auf der Flucht Räuber aus einem Haus im Wald). Während sie fliehen, laufen oder hüpfen sie gewöhnlich über eine Grube, die Haustiere (Hahn, Katze, Hund) kommen darüber hinweg, die anderen fallen hinein (vgl. AT 20 E*). Weiter wie AT 20 A 12. Wie der Fuchs die Tiere betrog AT 20 A + 21 + 31. FS 378, 149. Aufgez. im Kreis Daugavpils (Latgale). Zur Verbreitung vgl. die Märchen Nr. 10 und Nr. 11. — Unsere Variante 27
Lettische Volksmärchen
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weist eine eigenständige Einleitungsepisode auf, im übrigen wird das traditionelle Sujet AT 20 in einer spezifischen Weise abgewickelt. Sie ist ein Beispiel für die vielfaltige Verzweigung dieses Sujets in der lettischen Märchenfolklore. 13. Wie der Fuchsßiegen lernte Vgl. AT 225. FS 1202, 1280. Aufgez. im Kreis Valka (Vidzeme). Verbreitung: LPT 3 Var., AM 40 Var. — Eines der volkstümlichsten lettischen Tiermärchen ätiologischen Inhalts. Es ist bereits bei Lerhis-Puskaitis und in anderen älteren Sammlungen publiziert. Wir meinen, d a ß ihm ein literarisches Werk zugrunde liegt. In mehreren Var. warnt der Fuchs beim Fallen den Baumstumpf in russischer Sprache. 14. Wie der Fuchs mit dem Krebs um die Wette lief AT 275. FS 868, 593. Aufgez. im Kreis Ilükste (Zemgale). Verbreitung: LPT 3 Var., AM 23 Var. — Der Fuchs, auch Wolf, Hase oder Stier, läuft mit dem Krebs um die Wette, auch mit der Schnecke oder dem Igel. Die vereinbarte Strecke : vom Fluß zur Eiche, bis zum Ende des Grabens, von Bauska nach Jelgava, bis zum Bauerngut oder Wirtshaus. Unsere Var. weist eine besondere Einleitung auf: den Streit um die Rübenernte. Vgl. K H M 187, Afanas'ev 15. 15. Der Schlitten der Füchsin AT 170 + 158 + 136A* + 56 B*, vgl. 16551; vgl. H 1573.6.1. FS 266, 1208. Aufgez. im Kreis Ludza (Latgale). Verbreitung: LPT 3 Var., AM 57 Var. (AT 170: 41 Var.; AT 158: 66 Var.). — Es handelt sich um ein weitverbreitetes lettisches Tiermärchen, das schon in der Sammlung Bielensteins erscheint. Es ist vor allem in den östlichen Gebieten Lettlands bekannt. Unsere Var. bringt die besonders charakteristische Kontamination mit AT 170. Bei einem Teil der Var. sind rhythmisierte Passagen eingeschoben, eine für die lettische Erzählfolklore sonst nicht typische Erscheinung. 16. Der Fuchs, der Star und die Krähe AT 56 A + 6. FS 279,2496. Aufgez. im Kreis Riga (Vidzeme). Verbreitung: LPT 5 Var., A M 54 Var. — Ein bei den Letten weitverbreitetes Tiermärchen. Die Krähe, die einem Vogel einen Rat gibt, überlistet gewöhnlich den Fuchs. Es kommen auch Kontaminationen mit AT 122 D* vor (der Fuchs klemmt den Vogel, ehe er ihn frißt, in die Speichen eines Rades, so soll er wohlschmeckender sein; der Vogel entflieht). 17. Die Füchsin als Dienstmagd des Wolfes AT 41. FS 90, 3085. Aufgez. im Kreis Madona (Vidzeme). Verbreitung: LPT 2 Var., A M 23 Var. — Das Märchen begegnet in Kontaminationen mit AT 15 und A T 20. Anstelle des Wolfs kommt auch der Bär vor. In einigen Varianten ist ein starker Einfluß von K H M 73 spürbar. Unsere Var. besitzt einen antifeudalen Kontext: Die Handlungsweise der Füchsin wird als Kampf gegen die Gewalttätigkeit des Wolfes motiviert. 18. Die Füchsin als Magd des Bären AT 15. FS 231, 5296a. Aufgez. im Kreis Bauska (Zemgale). Verbreitung: LPT 7 Var., AM 105 Var. — Der Typ gehört bei den Letten zu den volks-
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tümlichsten Tiermärchen. Zwei Gruppen von Var. sind zu beobachten, und zwar leben zusammen 1. Tiere des Waldes (gewöhnlich Fuchs und Bär, auch Wolf) und 2. Tiere des Hauses (gewöhnlich Katze und Maus). Interessant sind in unserer Var. die Namen der Patenkinder, oft werden* auch der Füchsin und dem Bären Namen gegeben. 19. Warum der Wolf und der Fuchs einander feind sind Vgl. AT 47 A + 30. FS 72, 14941. Aufgez. im Kreis Madona (Vidzeme). Verbreitung: LPT 4 Var., A M 28 Var. — Als Einleitung des Märchens erscheinen auch die Typen A T 102 oder A T 158, ebenso Kontaminationen mit AT 20 (vgl. auch K H M 132). Es ist bereits in der Sammlung von Bielenstein enthalten. Unsere Var. stellt ein klares Beispiel für die Verurteilung der Schlauheit des Fuchses dar, während sonst gewöhnlich eine positive Einstellung gegenüber den Listen des Fuchses zu spüren ist. 20. Der Verprügelte trägt den Nichtverprügelten AT 2 + 3 + 4. LPT I, 147. Aufgez. im Kreis Rezekne (Latgale). Verbreitung: AM 136 Var. von AT 1,214 Var. von AT 2, 45 Var. von A T 3 und 28 Var. von AT 4. — Wenn K. Krohn in seiner Übersicht über einige Resultate der Märchenforschung ( F F C 96) zu dem Schluß gelangt, daß der Gegenspieler des Fuchses gewöhnlich der Bär ist, so figuriert in den lettischen Märchen anstelle des Bären fast immer der Wolf. Der ätiologische Schluß des Märchens wird oft beibehalten (der Wolf hat einen kurzen Schwanz). Wie bei allen Völkern Europas sind hier auch bei den Letten verschiedenartige Versionen und Kontaminationen häufig. In den lettischen Märchen ist der Einfluß von K H M 74 spürbar. Unsere Var. ist ein Beispiel für die Bildung von Zyklen um die Gestalt des Fuchses und für dessen Heroisierung in der lettischen Erzählprosa. 21. Wie ein Wolf Prügel erhielt AT 43 + 130 A, vgl. 81. FS 196, 15. Aufgez. im Kreis Madona (Vidzeme). Verbreitung: LPT 14 Var., AM 69 Var. — Es handelt sich um ein Märchen, das bei den Letten wohl wegen der in ihm enthaltenen sozialen Analogie besonders beliebt ist. Es wird oft variiert und mit den Typen AT 130 B und 130 C kontaminiert. A m Beginn des Märchens steht oft >uch AT 20 A. Der Bau der Behausung wird sehr unterschiedlich und oft recht detailliert beschrieben. Das Märchen wurde vielfach publiziert, auch schon in den ersten Ausgaben (F. Brivzemnieks, A. Bielenstein). 22. Der Hund als Schuster des Wolfes AT 102. FS 237, 525. Aufgez. im Kreis. Kuldlga (Kurzeme). Verbreitung: LPT 5 Var., AM 40 Var. — Das Märchen wird oft mit AT 102 kontaminiert. Die Mehrzahl der Var. stimmt mit K H M 48 überein, doch bereits 1877 wurde eine völlig abweichende Version publiziert. Auch die vorliegende Var. ist durch ihren besonders ausführlich gestalteten Schluß charakterisiert. 23. Wie sich der Hund mit dem Wolf verfeindete AT 101 + 100 + 104. FS 877, 1339. Aufgez. im Kreis Riga (Vidzeme). Verbreitung: LPT 21 Var. von AT 100, 20 Var. von AT 101, 28 Var. von 27'
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AT 104. — Für die lettischen Märchen ist eine sehr enge Verbindung der Typen AT 101 und AT 100 charakteristisch. In AM sind von AT 100 = 77 Var., von AT 101 = 89 Var. registriert. Beliebt ist eine Kontamination mit AT 104, das auch gesondert in 71 Aufzeichnungen registriert ist. 24. Wie es dem hungrigen Wolf erging AT 122 M* + 47 B. FS 1244, 3866. Aufgez. im Kreis Liepäja (Kurzeme). Verbreitung: LPT 5 Var., AM 31 Var. — Die vorliegende Var. wird durch die Vereinigung verschiedener Motive vom dummen Wolf charakterisiert. Das auslösende Moment der Handlung ist: Die Haustiere (Hammel, Pferd, Schwein) äußern Zweifel an der Kraft des Wolfes (sie vergleichen ihn'mit dem Hund). Der Zusammenstoß des Wolfes mit dem Hammel (AT 122 M*) tritt gewöhnlich als eigenständiges Märchen auf (AM registriert 50 Var.). Es besteht Ähnlichkeit zu AT 122 (Der Fuchs und die Gänse), das eine Adaption von KHM 86 darstellt, doch dessen Popularität ist weit geringer. 25. Der Wolf hält sich an die Abmachung AT 156*. FS 931, 1908. Aufgez. im Kreis Rezekne (Latgale). Verbreitung: LPT 2 Var., AM 7 Var. — Möglicherweise ein Sujet aus einer alten Quelle, das sich einer kleineren Gruppe lettischer Märchen angeschlossen hat, in denen der Mensch mit Tieren in gleichberechtigten juristischen oder nachbarschaftliehen Beziehungen steht. Das Märchen ist bereits in den ältesten gedruckten lettischen Sammlungen zu finden. 26. Der Alte und die Alte AT 163. FS 226, 72. Aufgez. im Kreis Rezekne (Latgale). Verbreitung: LPT 1 Var., AM 55 Var. — Es handelt sich um ein trotz seines „tragischen" Ausgangs sehr volkstümliches Märchen, möglicherweise wegen seiner besonders straffen, fast rhythmisierten Ausdrucksweise. Es ist als ein Beispiel der alten Volkserzählung anzusehen, das auch in Form des Kettengesanges zur Begleitung von Volksreigen und -tänzen bekannt ist. Die Mehrzahl der Var. tritt allerdings in der traditionellen Märchenform auf. Unsere Var. ist wegen der Liedeinschübe des Wolfes eigenartig; in den lettischen Volksmärchen stellen rhythmisierte inhaltliche Episoden eine vergleichsweise seltene Erscheinung dar. Das Sujet ist vor allem in den östlichen Gebieten Lettlands bekannt. 27. Der Bär und die Maus AT 75. FS 72. 14822. Aufgez. im Kreis Madona (Vidzeme). Verbreitung: LPT 1 Var., AM 30 Var. — Eine alte Fabel, die G. F. Stender schon im Jahre 1766 übersetzt und publiziert hat (Nr. 35). Weitere Verbreitung hat sie offenbar mit P. E. Sacs' Pirmä lasisanas grämata von 1844 erlangt. Nach Andreev handelt es sich bei diesem Sujet um Krylovs Fabel. Unsere Var. kann als Beispiel für den Einfluß der ersten lettischen Bücher auf die Volksdichtung dienen. 28. Warum der Hase eine durchgebissene Lippe hat AT — (nach AM liegt AT 70 vor). FS 76, 200. Aufgez. im Kreis Riga (Vidzeme). Verbreitung: LPT 10 Var., AM 60 Var. — In Lettland sind bei diesem Märchen drei Gruppen zu unterscheiden: 1. Der Hase will sich ertränken,
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er erschreckt dabei die Frösche, muß darüber lachen, bis ihm schließlich die Lippe platzt; 2. Der Hase lockt Sperlinge in einen Korb und lacht sie aus; 3. Der Hase trägt Fliegen und Mücken zum Wasser, um sie zu ertränken. Sie fliegen ihm jedoch davon, der Hase will sich vor Kummer ertränken, der Krebs beißt ihm die Lippe durch. Die ganze Gruppe trägt einen ausgeprägt ätiologischen Charakter (sie steht im Gegensatz zu lettischen Volksliedern, nach denen dem Hasen die Lippe platzt, weil er gelogen hat). Als Episode erscheint der Typ auch in den lettischen Märchen von der Feindschaft zwischen Hund und Wolf. Varianten der 1. und 2. Gruppe in G. F. Stenders Ausgabe (Nr. 23). Die vorliegende Var. gehört zur 3. Gruppe; hier handelt der Hase auf Geheiß des Donnergotts Perkons (in anderen Var. auch auf Gottes Geheiß). 29. Warum der Hase lange Ohren hat AT 136 B*. FS 70, 2445. Aufgez. im Kreis Bauska (Zemgale). Verbreitung: AM registriert noch 10 Var. — Ein seltenes, aber charakteristisches lettisches ätiologisches Märchen. Auch in den schriftlichen literarischen Quellen sind Analogien nicht festgestellt worden. 30. Der Hund und der Hase AT 135 C*. FS 1374,284. Aufgez. im Kreis Bauska (Zemgale). Verbreitung: AM registriert zwei weitere Var. — Ein ätiologisches Märchen, das offensichtlich nur für das lettische Repertoire charakteristisch ist. Eine literarische Vorlage in einer Zeitschrift oder einem Kalender erscheint möglich. 31. Der Hase und der Fuchs AT 43 + 103. FS 556, 8645. Aufgez. im Kreis Valmiera (Vidzeme). Verbreitung: LPT 2 Var., AM 9 Var. — Diese Var. ist den wenigen lettischen Kettenmärchen zuzurechnen. Gewöhnlich erscheinen Kontaminationen mit den Typen AT 1 bis 4; auch die Kontamination. AT 43 + 61 B (Die Katze mit dem Hahn gegen den Fuchs) ist häufig. Die vorliegende Var. mit dem Hasen und Fuchs als handelnden Personen stellt ein selbständiges Märchen dar. 32. Der Frosch aus Riga und der Frosch aus Liepäja Vgl. AT 282 A*. FS 1576, 5679. Aufgez. im Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: AM 3 Var. — Unsere Var. ist als ein Beispiel für die Adaption an das lettische Milieu interessant. 33. Die Vögel besiegen die Vierbeiner AT222. FS 17, 25186. Aufgez. im Kreis Riga (Vidzeme). Verbreitung: LPT 3 Var., AM 29 Var. — Die vorliegende Var. stellt unter den sehr verbreiteten Märchen vom Krieg der Vögel gegen die Vierbeiner eine der weniger bekannten Versionen dar. 34. Wie die Taube ihr Nest baute AT 236. FS 84, 3590. Aufgez. im Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: LPT 5 Var., AM 42 Var. — Ein populäres und schon sehr früh (F. Brivzemnieks) veröffentlichtes lettisches Märchen. Interessant die onomatopoetische Nachahmung des Vogelrufs Protu! Protu! (Aussprache: pruotupruotu) „Ich kann's schon, ich kann's schon".
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35. Die Spinne und die Fliege AT —; A 2494.14.1. FS 72, 9854. Aufgez. im Kreis Madona (Vidzeme). Verbreitung: LPT 16 Var. — Die Legende von der Gewinnung des Feuers, in der gleichzeitig eine Erläuterung für das Aussehen und die Handlungsweise der Spinne und der Fliege gegeben wird. In einem Teil der Var. handelt anstelle der Fliege die Schwalbe (entsprechend dann: Begründung der äußeren Erscheinung der Schwalbe). Die vorliegende Var. ist ein Beispiel für die Umwandlung einer Legende in ein Märchen. 36. Wie die Haustiere die Räuber vertrieben AT 130. FS 280, 975. Aufgez. im Kreis Riga (Vidzeme). Verbreitung: LPT 13 Var., AM 70 Var. — Es handelt sich um eines der bei den Letten bekanntesten Tiermärchen, das auch in allen früheren Ausgaben und Schulbüchern veröffentlicht wurde. In der Exposition des Märchens wird häufig ein soziales Moment akzentuiert: Pferd oder Hund werden aus dem Haus gejagt, weil sie nicht mehr zur Arbeit fähig sind. Sie begeben sich nach Riga (auch nach Bremen, nach Kuldiga, Piltene usw.). Vgl. auch KHM 27. 37. Der Freibrief AT 200. FS 929, 61474. Aufgez. im Kreis Kuldiga (Kurzeme). Verbreitung: LPT 5 Var., AM 76 Var. — Ein offenbar wegen seines antifeudalen Inhalts sehr populäres Märchen. In verschiedenen Var. sind Katze und Mäuse die handelnden Personen: die Mäuse zernagen den gestohlenen Freibrief. 38. Wie der Hahn Kohl kochte AT 61 B. FS 877, 1237. Aufgez. im Kreis Riga (Vidzeme). Verbreitung: LPT 8 Var., AM 103 Var. — Ein bei den Letten sehr beliebtes Tiermärchen. Die Personen der Handlung sind meist: Katze und Hahn gegen den Fuchs. Als Einleitung begegnet auch AT 43: Der Hahn besitzt ein Häuschen aus Eis, die Katze eines aus Reisig, im Frühling nimmt die Katze den Hahn zu sich. Der Schluß verläuft wie in den anderen Varianten: die Katze bringt den Hahn wieder zum Leben. Das Märchen gehört innerhalb der Gruppe der Tiermärchen zu den künstlerisch am reichsten gestalteten. Es ist in allen wichtigeren Märchensammlungen publiziert worden. 39. Der Kater besiegt die übrigen Tiere AT 103 B*. FS 76, 1809. Aufgez. im Kreis Riga (Vidzeme). Verbreitung: AM 58 Var. — Märchen dieses Typs sind im Repertoire der Letten sehr populär und reich an Variationen. Im Mittelpunkt unserer Var. steht der Kater (wie bei AT 101 der Hund). — Vgl. auch KHM 48 und Afanas'ev 24; es liegen dennoch Abweichungen vor, die es gestatten, von einer originalen lettischen Version zu sprechen. 40. Die fünf Katzen Vgl. AT 219 C*. FS 834, 5692. Aufgez. in Jelgava (Zemgale). Verbreitung: LPT 1 Var., AM 4 Var. — Ein beliebtes Kindermärchen, das sich vor allem durch Lesebücher und die Vermittlung der Schule verbreitet und gefestigt hat. Deshalb wird es so gut wie gar nicht variiert; eine sonst sehr seltene Erscheinung.
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Zaubermärchen 41. Geh dorthin — lch-weiß-nicht-wohin, hole das Ich-weiß-nicht-was AT 465 A. LPT V, 68. Aufgez. im Kreis Bauska (Zemgale). Verbreitung: LPT 20 Var., AM 38 Var. — Dieses Märchen ist bei den Letten und ihren Nachbarn sehr beliebt. Auch bei den Russen ist es populär, wo die direkte Aufgabe des Königs lautet, nach „lch-weiß-nicht-wohin" zu gehen und ein „Nichts" zu holen. Der Mann begegnet auf seiner Reise drei alten Weiblein, von denen die dritte alle Tiere zusammenruft und von dem hinkenden Frosch erfahrt, wo man das geforderte „Nichts" bekommen kann. Das ist ein unsichtbares Wesen, das alle möglichen Speisen und Getränke herbeizuschaffen vermag. Der Mann erlangt es durch seinen Gehorsam, unterwegs tauscht er es dann gegen andere Zauberdinge ein, aber das „Nichts" kommt immer wieder zu ihm zurück. Nach Hause zurückgekehrt, bezwingt der Mann den König und nimmt dessen Platz ein. Dieser russische Typ ist in den Grundlinien auch in lettischen Märchen vorhanden. Die erste Aufzeichnung findet man in der Sammlung von F. Brivzemnieks aus dem Jahre 1887. Dort ist der Hauptheld ein General; seine Frau schickt ihn zu seinen Patentanten, um sich Ratschläge geben zu lassen. Zum Schluß übergibt der König dem General die Hälfte seines Reiches. Der in dieser Var. vorkommende Name Nekte entspricht dem russischen nikto „niemand". In anderen Varianten ist der Name des Geistes Nekas, d. h. „Nichts". Auch die Grundformel (bzw. die Überschrift) des Märchens kann man als eine Übersetzung aus dem Russischen betrachten. Unsere Var. ist durch ihre Anpassung an die lettischen Verhältnisse bemerkenswert. 42. Die Tiere als Helfer AT 554 + 560. FS 479, 1461. Aufgez. im Kreis Madona (Vidzeme). Verbreitung: LPT 35 $ar., AM 216 Var. — Eine Var. des Märchens von den dankbaren Tieren (Ameisen, Bienen, Vögeln, Fischen) und deren Hilfe bei der Lösung schwieriger Aufgaben (Getreide dreschen, in einer Nacht einen Palast, eine Kirche oder Brücke bauen, in der Tiefe des Meeres einen Ring finden müssen u. dgl.). Der Typ ist auch den Nachbarvölkern geläufig. In der Regel sind die Var. reich an charakteristischen Details zur Erzielung eines örtlichen Kolorits, hierzu gehört auch die vorliegende Var. In anderen Var. handeln gewöhnlich die drei Söhne, aber die Tiere helfen dem Jüngsten. Neben den üblichen Aufgaben hat er auch eine Uhr aus der Hölle oder aus einer Stadt zu bringen, er hat für eine Kirche, die die Bienen in einer einzigen Nacht aus Wachs gebaut haben, einen Pastor zu beschaffen, der die Wahrheit sagt. Bei einem Märchen, das der um die nationale Bewegung verdiente Dichter Auseklis (1850—1879) in Lielvärde aufgezeichnet hat, läßt der Herr den Jungen in einer Nacht alle seine Geldfässer aus dem Keller in die Stube bringen. Der hilfreiche Rabe übergibt ihm ein Ei. Sowie er das aufschlägt, füllt sich die Stube mit Goldgeld. 43. Die dankbaren Tiere AT 554. LPT VII, 384. Ohne Ortsangabe, erstmals 1893 veröffentlicht. Verbreitung: Vgl. Nr. 42. — Eine Var. von Nr. 42. Hier sind die älteren
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Motive des Typs (hilfreiche Tiere) auf eigentümliche Weise mit der Schilderung der realen Wirklichkeit und der sozialen Verhältnisse in der Abschlußperiode des Feudalismus verwoben (der Antagonismus zwischen Herr und Knecht, die Wahrheitsfindung vor Gericht). 44. Die beiden Brüder und der goldene Vogel AT 567 + 554 + 303. LPT II, 446. Aufgez. in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Kreis Tukums (Zemgale). Verbreitung: LPT bringt 34 verschiedene Var. von Kontaminationen mit dem Typ AT 303 ; AT 567 - 122 Var., AT 554 - 216 Var. und AT 303 — 60 Var. - Ein Beispiel für eine der im lettischen Märchenrepertoire vielfältigen Kontaminationen mit dem Typ 303. Das Motiv von der wunderbaren Empfängnis der beiden Brüder fehlt, aber der Erzähler läßt ihnen in seiner Darstellung das traditionelle Glück und den Reichtum zukommen. 45. Worüber die Vierbeiner und die Vögel sprachen AT 670. FS 872, 152. Aufgez. im Kreis Bauska (Zemgale). Verbreitung: LPT 13 Var., AM 57 Var. — Eine der lettischen Var. eines Märchens, dessen Sujet bereits im Alten Orient (u. a. auch in 1001 Nacht) zu finden ist. Der Grad der Adaption bringt das Märchen in die Nähe der Alltagsmärchen (Zyklus der Märchen über die Beziehungen zwischen Mann und Frau). 46. Die Wunder des alten Schlosses AT 318 II + IV + 590 A + 325 IV. FS 182, 23. Aufgez. im Kreis Bauska (Zemgale) 47. Die Tiere als Schwiegersöhne AT 552 -1- 302. LPT VII, 303. Aufgez. im Kreis Bauska (Zemgale). Verbreitung: LPT 16 Var., AM von AT 552 - 87 Var. und von AT 302 — 24 Var. — Drei Schwestern von Brüdern (in unserer Var. drei Töchter eines Vaters) werden die Frauen von Tieren — dies ist auch bei den Letten ein sehr populärer Märchentyp. Die „Schwiegersöhne" sind gewöhnlich der Bär, der Wolf, der Adler, der Fisch. In unserer Var. fehlt die Episode von der Verheiratung der Retter, der Brüder, mit den Königstöchtern. Der Typ 552 ist fast immer mit AT 302 (die Seele des Teufels im Ei) kontaminiert, eserscheinen aber auch Kontaminationen mit AT 329,518,570 und anderen Typen. 48. Das Katzenschloß AT 402 + 1880. FS 237, 222. Aufgez. im Kreis Kuldiga (Kurzeme). Verbreitung: LPT 28 Var., AM 78 Var. — Eine spezifisch lettische Var., die dem Typ Die Prinzessin als Frosch am nächsten steht und die mit einem Lügenmärchen schließt. 49. Der Bär als Schwiegersohn AT 425 + 441. FS 237, 716. Aufgez. im Kreis Kuldiga (Kurzeme). Verbreitung: LPT 11 Var. von AT 441 (davon in 4 Var. der Igel), AM 87 Var. — Dieses bei vielen Völkern verbreitete Sujet wird im lettischen Märchen besonders stark variiert. In der vorliegenden Var. nimmt der Bär die Stelle des Igels ein.
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50. Das Igelpelzchen AT 700 I + 425 + 441. LPT IV, 486. Aufgez. von A. Lerhis-Puäkaitis in Diükste bei Jelgava (Zemgale). Verbreitung: Vgl. zu Nr. 49. — Es handelt sich um eines der bekanntesten lettischen Kindermärchen, das bis auf den heutigen Tag fast in jedem Schullesebuch abgedruckt wurde. Es ist auch im lettischen literarischen Schaffen verwendet worden (z. B. bei Plüdonis). In Form und Inhalt besteht Ähnlichkeit mit deutschen Varianten (vgl. K H M 108). 51. Der Däumling AT 700. FS 72, 8666. Aufgez. im Kreis Madona (Vidzeme). Verbreitung: LPT 22 Var., AM 87 Var. — Ein in der mündlichen Tradition ebenso wie in den Veröffentlichungen weitverbreitetes Märchen. Der Hauptheld des Märchens spielt in der lettischen schöngeistigen Literatur, Musik und bildenden Kunst häufig eine Rolle. In der Volkssprache ist der Spriditis (Däumling) zum Gattungsnamen für einen an Wuchs kleinen, aber strammen und energischen Jungen oder Burschen geworden. Fast in allen Var. trägt der Held den Eigennamen Spriditis, ein anderer verbreiteter Name ist Ikstitis (bzw. Ikslfltis zu ikskis „Daumen"). Der Typ wird bei den Letten sehr selten mit anderen Typen kontaminiert. Auflallend ist die Ähnlichkeit mit russischen Var. Auch von Seiten deutscher Märchen liegt ein Einfluß vor (vgl. K H M 45 und 37), der bereits von der Übersetzung der Grimm : sehen Märchen durch J. Zvaigznite (1859) herrührt. — In der lettischen Var. fehlt zumeist die Episode, wie der kleine Mann in den Bauch des Wolfs, der Kuh oder eines anderen Tieres gerät. 52. Ende gut, alles gut AT 930 + 461 + 313 III. LPT X, 441. Aufgez. im Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: LPT von AT 930 A und 930 B insges. 43 Var., A M von AT 930 — 78 Var. und von AT 461 — 5 Var. — Das Märchen von der vorbestimmten Braut, das hier nur zum Teil vorliegt, ist bei den Letten wohlbekannt und wird vielfach mit anderen Märchen kontaminiert (vor allem mit den TypenAT461 u n d A T 891). Die meisten Aufzeichnungen stammen aus den östlichen Gebieten Lettlands, was an einen Einfluß russischer Märchen denken läßt. 53. Der Bärenmensch AT 650 A. FS 205, 858. Aufgez. im Kreis Bauska (Zemgale). Verbreitung: LPT 31 Var., AM 96 Var. — Es handelt sich um ein bei den Letten sehr verbreitetes Märchen von den auf übernatürliche Weise gezeugten bzw. geborenen Kraftsöhnen. Das Motiv vom Bären als Vater und der wunderbaren Kraft, die den Jungen und den Sohn des Bären vertauscht, wurde von Andrejs Pumpürs (1841—1902) in dem epischen Gesang Làèplèsis (Bärentöter) benutzt, der die Bedeutung eines Nationalepos des lettischen Volkes erlangt hat. 54. Der Starke AT 301 B + 513 + 300 A + 303 II. LPT II, 27. Aufgez. im Kreis Liepäja (Kurzeme). Verbreitung: LPT 9 Var., A M 245 Var. — Das in der ganzen Welt bekannte Märchen vom Drachentöter nimmt im lettischen Märchen-
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repertoire einen gewichtigen Platz ein. Es weist eine deutliche Tendenz zur Kontamination mit zahlreichen anderen Zaubermärchenmotiven auf (AT 466, 502, 530; 532, 553 u. a.). In den Märchen dieses Typs wird den Helden gewöhnlich ein Name gegeben, ebenso vielfältig sind die Namen der Helfer des Helden. Sie charakterisieren ihre besonderen Fähigkeiten. Dieses lettische Märchen berührt sich eng mit russischen Märchen. 55. Die fünf Brüder AT 301 B + 513. FS 609, 998. Aufgez. im Kreis Liepäja (Kurzeme). Verbreitung: LPT 36 Var., AM 113 Var. — Es handelt sich um eine eigenständige Var. des weithin bekannten Märchens, in dem fünf starke Männer — hier Brüder — die einzigen handelnden Personen sind. Das ganze Märchen ist nur der Entfaltung ihrer übernatürlichen Gaben gewidmet. Ziel und Ergebnis ihrer Handlungsweise sind Reichtum und die Hand der Prinzessin. Unsere Var. zeigt nicht die sonst üblichen Kontaminationen. 56. Der Dummkopf AT 5301 + 301 A + 300 A. LPT II, 107. Aufgez. im Kreis Talsi (Kurzeme). Verbreitung: LPT 36 Var., AM 165 Var. — Es handelt sich um einen bei den Letten sehr verbreiteten Märchentyp und um eines der ersten überhaupt aufgezeichneten lettischen Märchen (A. Bielenstein, um 1865). Hier unterstreicht der Name Mujkis „ D u m m k o p f (bzw. Mulkltis „Dummerchen") gleichsam kontrasthaft die Kühnheit und Gewandtheit des Helden. In manchen Märchen finden wir etwas wie eine Rechtfertigung für diesen paradoxen Namen des Helden, so z. B. „Ein Vater hatte drei Söhne, zwei waren klug und der dritte ein Dummerchen. Ob er nun wirklich ein Dummerchen war, wer mag das wissen? Aber so heißt es eben in den Märchen, und so nannten ihn die beiden älteren Brüder und der Vater, nur die Mutter tat das nicht" (LPT XII, 361). 57. Die Tochter,des Königs von Semgale AT 301 A + -38 + 301. LPT II, 57. Publiziert von A. Kurzemnieks m L. Heerwagens Skolas maize (Schulbrot) II, 1874. Verbreitung: Vgl. zu Nr. 56. — Es handelt sich um die literarische Bearbeitung eines Volksmärchens. In den Hauptzügen hält sich der vorliegende Text an AT 301, doch hat die literarische Bearbeitung vieles von der sentimentalen schöngeistigen Literatur der entsprechenden Epoche entlehnt. Die lettischen Volksmärchen kennen weder ein „Zemgale" noch die Bezeichnungen der anderen historischen Territorien Lettlands. Ebenso ist vom Autor ein altbaltischer Stamm, die Semgalen (zemgali), eingeführt worden. In solchen Einzelheiten äußert sich die Tendenz der bürgerlichen nationalen Bewegung, die „legendäre" Vergangenheit Lettlands zu idealisieren. LPT enthält fünf Var., in denen eine Prinzessin Skaistite („Schönchen") begegnet, in zwei Var., die aus Vidzeme stammen, wird Zemgale nicht erwähnt. Entlehnung (oder Änderung des Aufzeichners) sind auch die vielköpfigen Riesen unseres Märchens. In den lettischen Märchen kommen sonst nur vielköpfige Teufel oder Drachen vor. — Unsere Var. wurde als das früheste Beispiel für die Bearbeitungen traditioneller Märchenstoffe ausge-
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wählt, wie sie sich in den fünfziger bis siebziger Jahren des 19. Jh. im Zusammenhang mit der Idealisierung der Vergangenheit und mit dem Problem des Nationalepos zeigen. 58. Kurbads AT 303 + 300 A + 303 II + 570 I + II + 301 + 1000 + 1088 + 1063 B + 1051 + 1072 + 1052 + 1120 + 1006 + 1115 + 10***. LPT II, 319. Aufgez. etwa 1880 von A. Lerhis-Puskaitis in Dzükste, Kreis Jelgava (Zemgale). — Das Märchen wurde von Kaspars Cipi^s erzählt, für den die Tendenz charakteristisch ist, das Sujet sehr ausführlich darzustellen und die einzelnen Handlungsetappen der Märchen mit vielfältigen Einzelheiten auszuschmücken. Von t i p i p s sind 70 Märchen aufgezeichnet worden. Die vorliegende Variante ist das erste Märchen in der repräsentativen Ausgabe von Lerhis-Puskaitis vom Jahre 1891. — Den Kern des Märchens bildet das Sujet vom Kampf mit einem übernatürlichen Gegner (AT 301), das bei den Letten die deutliche Tendenz zur Kontamination mit anderen Typen zeigt. In dieser Hinsicht stellt jedoch unsere Variante auch im Rahmen der lettischen Volksprosa eine einmalige Erscheinung dar. Die Frage nach dem Einfluß des Erzählers und des Sammlers auf die Proportionen bei der Gestaltung des Märchens läßt sich nicht einwandfrei beantworten, denn bei allen von A. Lerhis-Puskaitis aufgezeichneten Märchen (197 Var.) sind Ähnlichkeiten im Stil und in der künstlerischen Gestaltung zu beobachten. — Der Name „Kurbadä" ist etymologisch nicht geklärt (Anm. des Übers.: Volksetymologisch wird es als kur bads „ W o ist Hunger; wo Hunger ist" gedeutet. So lautet das lettische Original der Stelle: „Was soll man dazu auch sagen: W o H u n g e r ist, da munden sogar Eingeweide!" = Ko tur ari teikt: kur bads, tur pat kidas gardas!, vgl. oben S. 161). Als lettischer Eigenname ist Kurbads nicht bekannt. In zwei Var. von LPT ist der Name des Helden ähnlich: Kormats bzw. Kurpats. — P. Smits hat diesem Märchen eine besondere Darstellung gewidmet: Kurbads jeb Läcplesis (Kurbads oder Bärentöter), Riga 1908. Hier betrachtet er das Märchen unter dem Aspekt der Suche nach dem lettischen Nationalepos. Das Märchen besteht faktisch aus fünf bis sechs relativ organisch zu einer Erzählung vereinten Zaubermärchen. Es sind jedoch auch einige für die lettische Erzählprosa untypische Züge festzustellen. P. Smits erscheinen die Feen und Zwerge sowie die Gestalt des Himmelsschmieds in diesem Märchen als „zweifelhaft", außerdem ist der Schluß für Märchen untypisch (der Held geht zugrunde). — Das Märchen über Kurbads ist in fast allen späteren Märchenpublikationen abgedruckt worden. In deutscher Sprache ist es erschienen bei: F. Bienemann, Livländisches Sagenbuch, Reval 1897; V. v. Andrejanoff, Lettische Märchen, Leipzig (o. J.), Universal-Bibliothek; M. Boehm-F. Specht, Lettisch-litauische Volksmärchen, Jena 1924, Märchen der Weltliteratur; Das Drachenschloß, Lettische Volksmärchen, Berlin 1962. 59. Wie der Holzfäller den Teufel bezwingt AT 554 + 300. LPT II, 64. Aufgez. etwa 1890 von A. Birznieks-Upitis (dem späteren Volkskünstler der Lettischen SSR) in Dzirciema, Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: AM von AT 302 — 29 Var., von AT 300 —
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245 Var. — Eine national spezifreche Variante vom Typ der DrachentöterMärchen. Im Mittelpunkt steht die Fähigkeit des Helden, sich in Tiere verwandeln zu können, um die verzauberte Prinzessin aus der Gewalt des Teufels zu befreien. LPT enthält 9 Märchen von Typ AT 300 ohne Kontaminationen, darunter auch unsere Variante, die in relativ starkem Maße auch das Motiv von AT 302 heranzieht. 60. Die Wundermühle AT 565. FS 687, 318. Aufgez. im Kreis Aizpute (Kurzeme). Verbreitung: LPT 7 Var., AM 93 Var. — Ein bei vielen Völkern bekanntes Märchen. Die vorliegende Variante zeigt sowohl typisch nationale Züge (der Held geht mit der Schweineschulter zur Hölle; die Begegnung mit dem lieben Gott in Gestalt eines weißen Männleins) als auch eine soziale Färbung (handlungsauslösend ist der Antagonismus zwischen dem reichen und dem armen Bruder). 61. Der Teufelsmikeiis AT 810 A. LPT IV, 158. Aufgez. im Kreis Riga (Vidzeme). Verbreitung: LPT 14 Var., AM 16 Var. — Der Teufel hilft einem Knecht bei der Arbeit, ein anderer Knecht hängt sich aus Neid auf, und so bekommt der Teufel eine Seele. Dieses Sujet ist im Märchenrepertoire der Letten nur hier nachgewiesen. Hier wird die auch sonst in der Volkserzählung überlieferte Gestalt des „guten Teufels" herausgebildet, der bei der herrschenden sozialen Ungerechtigkeit dem Bauern mit seiner Kraft und seinen übernatürlichen Fähigkeiten bei der Arbeit und bei einem Zusammenstoß mit dem Gutsherrn hilft. Unsere Var. zeigt in der Schilderung nationalspezifische Züge. 62. Der kluge Bauer AT 1184. LPT XI, 230. Aufgez. im Kreis Rezekne (Latgale). Verbreitung: LPT 4 Var., AM 19 Var. — In den meisten lettischen Varianten des Märchens vom geprellten Teufel ist ein Einfluß russischer Märchen spürbar. 63. Das Alter des Teufels AT 812; vgl. 500. LPT V, 466. Aufgez. in Latgale. Verbreitung: LPT 16 Var. — Es liegt eine eigentümliche Variation des in ganz Europa bekannten Typus vor, der bei den Letten in der sehr beliebten „verkürzten" Form gebracht wird. Von den in den LPT veröffentlichten 16 Var. des Typs AT 500 entsprechen nur 7 dem traditionellen Sujet, in den übrigen wird, wie in unserer Var., die Schlagfertigkeit des Bauern (oder der Tochter des Bauern) bei der Beantwortung der vom Teufel gestellten Frage hervorgehoben. 64. Ein Märchen über ein Märchen AT 1000 + 1920, vgl. 1351. FS 237, 763. Aufgez. im Kreis Ventspils (Kurzeme). Verbreitung: AT 1000 - LPT 24 Var., AM 105 Var.; AT 1920 LPT 7 Var. — Im veröffentlichten Material ist eine unserer Var. entsprechende Kontamination nicht nachgewiesen. Es liegt eine eigentümliche Version des weithin bekannten Märchens von der Strafe für das Sichärgern vor. Hier sind Elemente des Zauber- und des Alltagsmärchens vereint.
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Grundlage der Erzählung bildet der real dargestelle Wettstreit mit dem Teufel. Das Märchen, das der dritte Sohn erzählt (AT 1920), ist ein charakteristisches Beispiel für die lettischen Lügenmärchen.
65. Der Teufel als Soldat Vgl. A T 1166*. L P T VI, 8. Aufgez. im Jahre 1877 im Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: L P T 6 Var., die durchweg gegen Ende des vorigen Jh. aufgezeichnet wurden.
66. Der kluge Knecht A T 1045 + 1063 A + 1071 + 1072 + 1148 A. L P T X I , 81. Aufgez. im Kreis Madona (Vidzeme). Verbreitung: In LPT sind 16 analoge Kontaminationen veröffentlicht. Vorkommen in A M : A T 1045 — 199 Var., A T 1063 A - 60 Var., A T 1071 - 69 Var., A T 1072 - 121 Var. Dieser Text stellt ein Beispiel für die bei den Letten am weitesten verbreitete Kontaminationsvariante des Märchens vom dummen Teufel dar.
67. Der Musikant in der Hölle Vgl. A T 1164 C. L P T V, 231. Aufgez. im Kreis Jelgava (Zemgale). Eine spezifisch lettische Var. des Märchens vom Musikanten in der Hölle. Die einleitende Episode stellt die ohne Mitleid vorgetragene Erzählung von dem gestrengen und habgierigen Herrn und dessen unnatürlichem Tod dar (das Motiv von dem strengen Herrn, der in der Erde versinkt, ist auch im lettischen Volksglauben verbreitet). Ein mutiger Bauernjunge .begibt sich in die Hölle, deren Bewohner in der Darstellung sogar in Details dem Leben auf dem feudalen Gut entsprechen (z. B. im Tanz der Teufel und Hexen). Spezifisch ist auch die gemeinsame Reise des Helden mit dem Teufel in das benachbarte Land der Litauer. Für diesen Märchentyp ist die Lokalisierung in einem bestimmten Gut oder einer bestimmten Gemeinde charakteristisch. In einer anderen Variante (in LPT 21mal, in A M 13mal veröffentlicht) gibt sich der Herr gleichfalls als besonders fromm aus, doch der Teufel fürchtet sich nicht einmal vor dem Zeichen des Kreuzes, er schleppt den Herrn in die Hölle, und „der kriecht in den Kessel und kocht in ihm noch bis auf den heutigen Tag, denn der Herr hatte eine sehr dicke Haut. Gott half dem Herrn nicht, weil er nur in Worten ein frommer Mann war, in seinen Taten aber nicht christlich handelte" (FS 13, 1603).
68. Der goldene Bart A T 1138, vgl. 1545. FS 678, 5. Aufgez. in Madona (Vidzeme). Verbreitung: LPT 27 Var. — Dieses weitverbreitete Märchen gehört auch bei den Letten zu den beliebtesten Typen von Erzählungen über den dummen Teufel. Ein Teil der Var. dürfte allerdings durch Schulbücher und andere Veröffentlichungen in Umlauf gelangt sein.
69. Der Soldat bezwingt die Teufel und den Tod A T 330. FS 72, 10139. Aufgez. im Kreis Madona (Vidzeme). Verbreitung: LPT 32 Var., AM 190 Var. — In unserer Var. sind alle auch im lettischen Märchen sehr volkstümlichen Motive vom Schmied (Soldaten), der den Tod bezwingt, vereint.
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70. Die Hexe als Helferin AT —. FS 72, 14193. Aufgez. im Kreis Madona (Vidzeme). Verbreitung: In LPT 8 Varianten, in denen Hunde die Helfer des Helden sind. — Es liegt eine besondere Var. vor, in der eine Hexe einem armen Hirtenjungen hilft. Die Hunde, die sie ihm gegeben hat — Redetäjs (der Sehende), Dzirdetäjs (der Hörende) und Plesejs (der Reißende) —, sind die Helfer des Helden. Die Schilderung des verzauberten Königsschlosses geschieht recht detailliert und mit phantastischen Elementen, diese entfernen sich jedoch niemals von der Beobachtungsgrundlage, die der lettische Bauer im Laufe seiner Lebenserfahrung erlangt hat. 71. Der Wundersohn AT 707. LPT IX, 219. Aufgez. ca. 1860 im Kreis Riga (Vidzeme). Verbreitung: LPT 33 Var., AM 114 Var. — Dieses bereits seit dem 16. Jh. in ganz Europa belegte Märchen ist auch bei den Letten sehr volkstümlich. Unsere Var. ist die älteste lettische Aufzeichnung des Typs. AT 707 zeigt in Lettland wenig Tendenz zur Variation. 72. Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein AT 511, LPT VI, 158. Aufgez. von A. Birznieks-Upitis in Dzirciems, Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: LPT 38 Var., AM 283 Var. - Es handelt sich um eines der volkstümlichsten lettischen Märchen über das Waisenkind. Im Unterschied zum traditionellen Sujet, wo Zweiäuglein die verachtete Stieftochter ist, sind in den meisten lettischen Märchen alle drei die eigenen Töchter der Stiefmutter, und das verfolgte Waisenkind ist ein viertes Mädchen, das gewöhnlich keinen Namen hat. Dies ist eins der bei den Letten sehr seltenen Märchen, in die rhythmisierte Formeln eingeflochten sind. Ein Teil der lettischen Var. bildet Kontaminationen mit den Typen AT 510 und 403. 73. Das Waisenkind und die Tochter der Stiefmutter AT 480 IV + VIII + 403 I —III. FS 105, 466. Aufgez. im Kreis Valka (Vidzeme). Verbreitung: Diesen Typ kann man als den bekanntesten des ganzen lettischen Märchenrepertoires betrachten. LPT bringt 99 Var., in AM ist der Typ genauer differenziert: AT 480 mit 294 Var., AT 480 A* mit 176 Var., AT 480 B* mit 176 Var., AT 480 C* mit 417 Var., AT 480 E* mit 38 Var. und AT 480 F* mit 5 Var. — Innerhalb der in der ganzen Welt verbreiteten und besonders reich entfalteten Märchen vom Waisenkind und der Stiefmutter ist dieser Typ bei den Letten besonders mannigfaltig entwickelt. Das aus dem Vaterhaus verjagte Mädchen kommt zu einem Alten, zum Teufel oder zum Hundeschnäuzigen (sumpurnis) und erhält von ihnen eine gute Belohnung. A m Anfang steht gewöhnlich der Fall in den Brunnen. Es erfolgen Begegnungen mit dem Apfelbaum, der Kuh, dem Ofen, dem Schaf, drei Schlangen usw. Im Kontrast folgen dann die gleichen Begegnungen mit den Töchtern der Stiefmutter. 74. Die Bohnenranke bis zum Himmel AT 510 + 480. Quelle: A. Lerhis-Puskaitis, Latviesu tautas teikas unpasakas III, 64. Aufgez. im Kreis Tukums (Zemgale). Verbreitung: AT 510: LPT 52 Var., zu AT 480 vgl. Anm. zu Nr. 73. — Märchen über Cinderella
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(Aschenbrödel) sind bei den Letten im Gegensatz zu AT 480 nur selten aufgezeichnet worden. Unsere Var. steht für eine kleinere Gruppe von Märchen, in denen die beiden Typen auf organische Weise verbunden sind. Diese Kontamination kommt ohne den Königssohn und die Episode der glücklichen Heirat aus. Es handelt sich um einen spezifisch lettischen Erzähltyp. Dieses Märchen ist mehrfach in Schullesebüchern veröffentlicht worden, wurde jedoch nicht in LPT aufgenommen. 75. Wie die Tiere die Stieftochter retteten AT 480 + 1880. LPT V, 411. Aufgez. im Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: Vgl. den Kommentar zu Nr. 73. — Die erste Veröffentlichung erfolgte durch F. Brivzemnieks im Jahre 1887 in russischer Sprache; es handelt sich um eine der ersten Publikationen des lettischen Märchens vom Waisenkind. Es ist durch phantastische Gestalten charakterisiert: Die Mutter, eine Hexe, schickt die Töchter ins Schloß des Hundeschnäuzigen (sumpurnis), um Feuer zu holen. Interessant und für gute Erzähler charakteristisch ist der Märchenschluß: Nach der Zauberwelt des Märchens soll der Hörer gleichsam wieder in das Alltagsleben eingeführt werden. 76. Das Mädchen ohne Arme AT 706. LPT IX, 181. Aufgez. im Kreis Bauska (Zemgale). Verbreitung: LPT 22 Var., AM 146 Var. — Das Sujet ist in ganz Europa bereits seit dem 12. Jh. bekannt und wird auch bei den Letten und ihren Nachbarn häufig erzählt. 77. Die Prinzessin auf dem gläsernen Berg AT 530. LPT VI, 350. Aufgez. im Kreis Valka (Vidzeme). Verbreitung: LPT 77 Var., AM 371 Var. — Dies ist nach dem Waisenkind und der rechten Tochter (AT 480) das volkstümlichste aller lettischen Zaubermärchen. Es ist ebenfalls im russischen Märchenrepertoire gut bekannt, manchmal auch ohne das Motiv vom Glasberg, was für ein lettisches Märchen nicht vorstellbar wäre. Möglich ist, daß die Popularität des Stoffes in jüngster Zeit durch das bekannte Theaterstück Zelta zirgs (Das goldene Roß) des Volksschriftstellers Jänis Rainis noch gefördert wurde. Das Märchen von der Prinzessin auf dem gläsernen Berg hat auch in der lettischen Musik und in anderen Kunstgattungen Verwendung gefunden. 78. Die Weisheiten des lieben Alten AT 910 + 530. FS 237, 817. Aufgezeichnet im Kreis Talsi (Kurzeme). Zur Verbreitung vgl. den Kommentar zu Nr. 77. 79. Der gute Rat AT —. FS 237, 719. Aufgez. im Kreis Valmiera (Vidzeme). Verbreitung: Nur die vorliegende Var. ist bekannt. — Ein Märchen, das sich in Lettland in der Periode des Feudalismus ausgebildet haben könnte. Die hilfsbereite Alte erinnert an die Laima aus der lettischen Mythologie - die Göttin des Schicksals und Beschützerin der Beistandsuchenden. Der übrige Teil des Sujets — anstelle eines gestorbenen Königssohnes wird ein Bauernsohn angenommen — könnte die Erinnerung an ein reales, wenn auch untypisches Ereignis in der Vergangenheit darstellen („zur Zeit der großen Pest").
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80. Wie dem geizigen König eine Lehre erteilt wurde A T 757. FS 612, 499. Aufgez. im Kreis Aizpute (Kurzeme). Verbreitung: A M 13 Var. — Die Var. entspricht annähernd den Märchen über die von Gott auferlegten Prüfungen, jedoch fehlt eine religiöse Färbung vollständig. Dennoch kommt die Moral, daß man einem Notleidenden die Hilfe nicht versagen darf, deutlich zum Ausdruck. 81. Die goldene Axt A T 729. FS 711, 56. Aufgez. im Kreis Valmiera (Vidzeme). Verbreitung: L P T 2 Var., A M 114 Var. — Ein Märchen mit einer in schroffer Weise ausgedrückten moralischen Lehre: Man darf nicht habgierig sein und muß die Wahrheit sagen. Der Arme erkennt die eigene von ihm verlorene A x t als die seine an, der Reiche bezeichnet sofort eine goldene Axt als seine eigene. Diese Var. ist nur bedingt den Märchen vom reichen und vom armen Bruder zuzurechnen. Möglicherweise handelt es sich um ein Märchen literarischer Provenienz. 82. Laima erfüllt drei Wünsche A T 750 A . L P T I X , 492. Aufgez. von A . Birznieks-Upltis in Dzirciems. Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: L P T 4 Var., A M 33 Var. — Ein in Europa weithin bekanntes Märchen von den drei Wünschen, die jemandem von einer Göttin oder einem Heiligen freigestellt werden. Bei den Letten ist (ebenso wie bei den Finnen und Esten) die Variante mit der gebratenen Wurst besonders volkstümlich. In rund der Hälfte der lettischen Aufzeichnungen kommt Laima vor, obgleich sie sonst in den Märchen, verglichen etwa mit den Volksliedern, relativ selten erscheint. Unser Text, eine Aufzeichnung des späteren Volksschriftstellers der Lettischen SSR A . Birznieks-Upitis, gehört zu den knappsten Var. dieses Märchens. Sie ist in vielen Schullesebüchern nachgedruckt worden. 83. Der König von Riga A T —. L P T V, 41. Aufgez. in Jelgava (Zemgale). Verbreitung: L P T noch 7 Var., die dem traditionellen Schema des Sujets entsprechen, A M 3 Var. — Eine spezifisch lettische Var., in deren Einleitung der Weihnachtsabend auf einem Bauernhof geschildert wird; es folgt das Thema der Verteidigung Rigas gegen böse Mächte (den Teufel). Der liebe Gott der lettischen Märchen ist hier — recht ungewöhnlich — als ein stattlicher junger Mann dargestellt. 84. Wie das Dummerchen die sieben verzauberten Brüder errettete A T 530 + 314. L P T V I , 455. Aufgezeichnet im Kreis Bauska (Zemgale). Verbreitung: Von den in L P T veröffentlichten Märchen des Typs A T 530 sind bei ca. 10 Var. Kontaminationen mit A T 314 festzustellen. — Es handelt sich um eine Variation des bei den Letten populären Märchenzyklus von der Prinzessin auf dem Glasberg. In unserer Var. steht anstelle des gläsernen Berges der silberne, goldene und diamantene Apfel. Die wichtigste Eigenschaft des Haupthelden ist seine Festigkeit bei der Erfüllung des gegebenen Versprechens (er muß 7 Jahre schweigen). A T 530 ist bei den Letten einer der verbreitetsten Märchentypen, mancherorts auch der an Variationen und Kontaminationen reichste.
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85. Der Koklespieler AT 314. LPT VI, 285. Aufgez. ca. 1880 von A. Lerhis-PuSkaitis in Diükste, Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: LPT 13 Var. — Wie hier ist auch in anderen lettischen Märchensujets die Gestalt des Koklespielers (des Musikanten) sehr beliebt. Weniger charakteristisch erscheint die allerdings auch bei anderen Typen vorkommende Gestalt des grünen Mannes in der Rolle des Verteidigers und Helfers. 86. Das Schloß des Meereskönigs AT 425 I + 303 II. LPT IV, 428. Aufgez. im Kreis Valka (Vidzeme). Verbreitung: LPT 32 Var. des Typs, in denen der Freier in 11 Var. die Ringelnatter, in 9 Var. der Teufel, in 6 Var. der Wolf, in 5 Var. der Bär und in 6 Var. andere Tiere sind; AM 40 Var. — Das alle, in der ganzen Welt bekannte Sujet vom Tierbräutigam (Amor und Psyche) ist auch bei den Letten weit verbreitet, dabei mit beträchtlichen Abweichungen vom klassischen Schema. Unsere Var. kann als Beispiel für die spezifisch lettische Version dienen, nur ist die Gestalt des Meereskönigs im lettischen Märchen nicht besonders häufig (an seine Stelle tritt gewöhnlich der Schlangenoder der Ringelnatternkönig: in 11 von den in LPT veröffentlichen Var.). 87. Vom Rätsel, das nicht erraten wurde AT 851. LPT X, 191. Aufgez. von A. Lerhis-Puskaitis in Dzükste, Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: LPT 10 Var., AM 48 Var. — Sehr häufig ist bei den Letten die Kontamination von AT 851 mit AT 531. Alltagsmärchen 88. Der Meisterdieb AT 1525 D. FS 1208, 1173. Aufgez. im Kreis Aizpute (Kurzeme). Verbreitung: LPT 55 Var. — Aus dem umfangreichen Zyklus der Märchen vom Meisterdieb wurde eine Var. ausgewählt, die die enge Verbindung des Märchens mit dem Arbeitsleben des lettischen Bauern zeigt. Der Held ist nicht an Arbeit gewöhnt, deshalb wächst er als Dummkopf heran. Auch der König vermag keinen anderen Rat zu geben, als daß er stehlen soll. Das Stehlen wird in einem Teil der Märchen wie ein anderer Beruf erlernt. Diebstahl gilt nicht als Verbrechen, sondern als ein Zeichen von Geschicklichkeit und Klugheit. In einigen Varianten muß der Meisterdieb so stehlen, „daß niemandem dabei ein Schaden erwächst". In einem Teil der Märchen veranstalten der Meisterdieb und der Herr oder König eine Art Wettstreit in Geschicklichkeit und Einfallsreichtum, den stets der Bauer bzw. Bauernsohn gewinnt. — AT 1525 kann als einer der volkstümlichsten Typen innerhalb der lettischen Alltagsmärchen gelten; er ist sehr reich an Abwandlungen und Kontaminationen. 89. Die Weisheit des Vaters AT 980 A + 981. FS 580, 4. Aufgez. im Kreis Liepäja (Kurzeme). Verbreitung: LPT 7 Var., AM 41 Var. — Ein auch bei den Letten sehr volkstümliches Märchen, das allerdings möglicherweise literarischen Ursprungs ist. Ein Teil der Var. ist deutlich lokalisiert. Ihr Anliegen ist es, die Sitte zu 28
Lettische V o l k s m ä r c h e n
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begründen, sich alter, zur Arbeit unfähiger Menschen zu entledigen. Als Erklärung dienen: 1. Hungerjahre, in denen die Not dazu zwang ( „ I n alten Zeiten waren in Vidzeme oft viele J a h r e hintereinander Hungerjahre. D a versammelten sich einmal alle Jungen und beschlossen, d a ß die Alten und Schwachen getötet werden sollten, damit weniger Esser übrigblieben und Brot gespart w ü r d e . " — L P T X , 567), oder 2. die G r a u s a m k e i t des von einem Herrscher erlassenen Gesetzes (wie in unserer V a r . ) . In einem Teil der Var. wird noch betont, daß solche Gewohnheiten nur in einer sehr fernen Vergangenheit möglich waren.
90. Die verleumdete Frau A T 883 A. L P T X , 253. Aufgez. im K r e i s Valka (Vidzeme). Verbreitung: L P T 3 Var., A M 28 Var. — Eine lettische Var. des weithin bekannten novellistischen M ä r c h e n s von der Prüfung der treuen F r a u .
91. Ein kluges
Gespräch
A T 921. F S 1968, 3961. Aufgez. im J a h r e 1968 im Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: L P T 27 Var., A M 55 Var. — Es handelt sich um eine der neuesten Aufzeichnungen dieses beliebten Volksmärchens, welche die charakteristische Tendenz zeigt, den Stil des Alltagsmärchens dem der Anekdote anzunähern. Gewöhnlich werden das M o t i v vom Besuch des Bauern im Schloß und die damit verknüpften Bedingungen (hundertmal das Gesicht des K ö n i g s sehen u. a.) breiter ausgestaltet. Es werden häufig verschiedene alte Geldeinheiten ( G r o s c h e n , Taler usw.) erwähnt. Etwa in der Hälfte der Var. ist ein Hirtenjunge der Hauptheld.
92. Wie der Bauer dem Kaiser
schrieb
A T - . L P T X I I , 265. Aufgez. im Kreis M a d o n a (Vidzeme). Verbreitung: A M 36 Var. — P. Smits publiziert nur diese eine Var., mit dem Hinweis, daß sie aus der deutschen Folklore entlehnt sei. D o c h das M ä r c h e n wird bereits bei M. Böhm (71, 42) und in vielen späteren Sammlungen und Schullesebüchern veröffentlicht. Durch diese schriftlichen Quellen verbreitete es sich auch in der mündlichen Überlieferung.
93. Zwei Nachbarn A T 1689 A + 1737. F S 84, 967. Aufgez. im Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: L P T 3 0 Var. — Ein bei den Letten sehr volkstümliches Alltagsmärchen, in dem der reiche und der a r m e Bauer in einer schroffen Gegenüberstellung gezeigt werden ( a u c h : Brüder, Nachbarn). Unsere Var. ist durch Details aus dem Alltag der Feudalzeit charakterisiert (vgl. die Rolle des Gerichtsschreibers im Bauerngericht). Das Motiv von der großen R ü b e ( A T 1689 A ) ist bei diesem M ä r c h e n t y p nur in der vorliegenden Variante belegt.
94. Der Stubbenroder und die Laima A T 465 C + 761, vgl. 820. F S 116, 16 306. Aufgez. im Kreis V a l k a (Vidzeme). — Dies ist ein Beispiel für eine G r u p p e v a n M ä r c h e n , in denen zwar Gestalten der Zaubermärchen und der Mythologie v o r k o m m e n (die Gestalten der Hölle, Laima, unlösbare Aufgaben), deren Stil j e d o c h sehr realistisch ist. Das ausgesprochen soziale M o m e n t am Schluß des M ä r -
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chens (die Bestrafung des bösen Herrn) ist in Lettland relativ häufig anzutreffen. 95. Wie dem Gutsverwalter eine Lehre erleilt wurde Vgl. AT 1571*. FS 479. Aufgez. im Kreis Madona (Vidzeme). — Eine wohl unter den lettischen oder estnischen Bauern entstandene Erzählung, in derein in Alltagsmärchen verschiedener Typen vorkommendes Thema seinen Widerhall findet: Der Bauer nutzt im Zusammenstoß mit dem sozialen Gegner die abergläubischen Vorstellungen des Herrn zu seinem Vorteil aus. In unsere Var. sind Glaubensvorstellungen über den Teufel und die Getreidedarre als dessen Behausung eingeflossen. Diese Vorstellung ist in der lettischen Folklore sehr populär, in ihr verflechten sich mythologische Anschauungen mit realen Fakten des Lebens in der Feudalperiode, mit der Darre des Gutshofs als einer Stätte der schweren Arbeit und unbarmherzigen Ausbeutung. 96. Der Herr und der Teufel AT 761. FS 687, 230. Aufgez. im Kreis Aizpute (Kurzeme). Verbreitung: LPT 23 Var., AM 54 Var. — Es handelt sich um einen sehr verbreiteten Typ unter den lettischen Alltagsmärchen, offensichtlich wegen seines stark sozial nuancierten Inhalts. Die traditionelle Gestalt des Bösen, der Teufel, hat hier die Aufgabe, die bösen Herren in der Hölle zu bestrafen. In einem Teil der Var. sind deutlich Ereignisse des realen Lebens dargestellt, vor allem in den Märcheneinleitungen. 97. Ein solcher nimmt ein solches Ende AT 761. LPT X, 30. Aufgez. im Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: LPT 43 Var. — Eine Var. des auch in Nr. 96 vorliegenden Typs, in der besonders deutlich die schwere, rechtlose Lage des Bauern wiedergegeben wird. Es/ist bezeichnend, daß in unserer Var. sowohl Gott (das alte weiße Männlein der lettischen Volksmythologie) als auch der Teufel (in Gestalt des schwarzen Herrn bzw. Edelmanns) als Verteidiger des Bauern auftreten. 98. Ein Mann als Heizer des Höllenkessels AT 475. FS 1726, 1324. Aufgez. im Kreis Liepäja (Kurzeme). Verbreitung: LPT 5 Var., AM 12 Var. — Ein auch den Esten und Finnen wohlbekanntes Märchen. In der vorliegenden Var. ist nichts von den für die Zaubermärchen charakteristischen phantastischen Elementen und der breit entfalteten Erzählung zu spüren. Stark akzentuiert ist der Haß auf den feudalen Gutshof, die Erzählung konzentriert sich auf die Rache an allen drei Herren. Dem beherzten Mann gelingt es am Schluß sogar, den Teufel selber zu bezwingen. 99. Der Teufel und der Gutsaufseher AT 1186. FS 556,8944. Aufgez. im Kreis Valmiera (Vidzeme). Verbreitung: In LPT ist der Typ nicht veröffentlicht. — Ein antifeudales Märchen, das anscheinend aus einer literarischen Quelle stammt, jedoch auch im Volke populär wurde. 28*
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100. Alle Herren sind Dummköpfe A T 1530. FS 740, 8220. Aufgez. im Kreis Rezekne (Latgale). Verbreitung: Von A T 1530: L P T 9 Var., A M 27 Var. 101. Der Tschiks A T 753 + 1695. L P T XII, 431. Aufgez. im Kreis Cesis (Vidzeme). Verbreitung: L P T 2 Var. — Ein volkstümliches lettisches Scherzmärchen, das in der Volkssprache zur Grundlage der Etymologie des Wortes iiks „zu nichts taugliches Etwas, Lappalie" wurde. P. Smits erkennt es als ein typisch lettisches Märchen, das sonst nur noch in Var. bei den benachbarten Liven und Esten festgestellt wurde. 102. Matschatinsch A T 1539. FS 1376, 447. Aufgez. im Kreis Bauska (Zemgale). Verbreitung: L P T 16 Var. — Eines der volkstümlichsten lettischen Scherzmärchen. In mehreren Var. wird die Handlung breiter ausgesponnen, um den Scharfsinn des geschickten Bauern noch deutlicher zu zeigen. Eingeflochten werden auch Episoden von dem Pferd, das Geld von sich gibt, vom Schalmeienbläser, der seine getötete Frau wieder auferstehen läßt, von dem Herrn, der in einen Sack gelockt wird, usw. 103. Gänseteilen A T 1533. FS 17, 1037. Aufgez. im Kreis-Riga (Vidzeme). Verbreitung: L P T 4 Var., PB 2 Var. — Eine schon im mittelalterlichen Europa in vielen Quellen nachweisbare Klugheitsprobe. In den lettischen Var. wird gewöhnlich von einem findigen Bauern erzählt, der je nach der Gegend mit einem bestimmten Namen bezeichnet wird. In unserer Var. sind die beiden häufigsten „Verfahren" des Gänseteilens vereint. Im Handlungsmittelpunkt können auch der arme Bruder, der Zigeuner und der Pastor stehen. 104. Wie der Gutsherr seinen Hund sprechen lernen ließ A T 1750 A, vgl. 1675. L P T XII, 394. Aufgez. im Kreis Riga (Vidzeme). Verbreitung: L P T 7 Var. — Die lettische Var. eines vor allem in Westeuropa wohlbekannten Schwankes. In der Erzählung vom Ochsen, der die Schule besucht hat, wird gewöhnlich das ungebildete Bäuerlein zum Narren gehalten. Ihm erzählt ein Betrüger, daß sein Ochse (Kalb, Hund) schon in Riga, Daugavpils oder sogar in Berlin (vgl. L P T X I I , 388) eine Schule besucht habe, um Lehrer (Advokat, Richter) zu werden. In unserer Var. wird ein Hund in die Lehre geschickt, der einem Gutsherrn gehört; der Held der Handlung ist ein Bauer. 105. Der schlagfertige Andritis Vgl. A T 1848 B; J 2466. L P T XII, 61. Aufgez. im Kreis Riga (Vidzeme). Ein nach der Wirklichkeit gestaltetes Scherzmärchen, das relativ lange bekannt ist (es wurde bereits bei M. Böhm 18, 18 publiziert). Es kann bedingt mit A T 1539 zusammengestellt werden. Smits hat es in L P T beim Typ A T 1525 (Der Meisterdieb) eingeordnet. 106. Wie der Herr ein Fohlen ausbrütete A T 1739 ( L P T : A T 1311 A). FS 872, 1267. Aufgez. im Kreis Riga. Verbreitung: L P T 6 Var.' — Ein antifeudales Alltagsmärchen, dessen Sujet auch
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anderen Völkern bekannt ist^ das aber in den lettischen Varianten eine spezifische Ausprägung erlangt hat. Die ersten Aufzeichnungen sind bereits um das Jahr 1860 nachweisbar. Es ist auch bei F. Brivzemnieks und bei M. Böhm veröffentlicht. 107. Der geizige Herr AT 1572 E* + 1691 + 1775. LPT XII, 475. Aufgez. von dem Dichter Auseklis (1850—1879) in Lielvärde, Kreis Riga (Vidzeme). Verbreitung: LPT 7 Var., PB 11 Var. — Ein populäres Scherzmärchen. Im lettischen Repertoire können Bauer und Knecht, Pastor und Küster bzw. Herr und Gutsaufseher die handelnden Personen sein. 108. Wie es einem Herrn beim Lügen erging AT 1889 + 1920. LPT XII, 512. Aufgez. im Kreis Daugavpils (Latgale). Verbreitung: LPT 7 Var. — Märchen von „guten Lügen" sind bei den Letten sehr beliebt. In unserer Var. sind die von dem Bauern erzählten Lügen nicht nur phantastisch an sich und logisch unvorstellbar, sondern auch mit Einzelheiten aus der bäuerlichen Arbeit verbunden, die für einen Herrn nur schwer verständlich sein konnten (das „Worfeln der Sauermilch" usw.). 109. Die kluge Tochter AT 875. FS 683, 6. Aufgez. im Kreis Liepäja (Kurzeme). Verbreitung: LPT 5 Var., AM 79 Var. — Dieses international bekannte Sujet ist auch in der lettischen Märchenfolklore in einer deutlich lokalisierten Form überliefert: Die Aufgaben und Fragen sind aus der Arbeit und den Lebensanschauungen des lettischen Bauern der Feudalzeit entnommen. Als das stabilste Element erweist sich das Motiv vom Eintreffen beim Herrn am Schluß des Märchens. 110. Der Herr und der Schweinehirt AT 921. FS 958, 1075. Aufgez. im Kreis Aizpute (Kurzeme). Verbreitung: LPT 27 Var., AM 58 Var. — Dieses Märchen läuft auch bei den Letten und ihren Nachbarvölkern um. Im lettischen Repertoire ist es oft mit dem Typ AT 922 (Kaiser und Abt) verbunden. 111. Der Iltis hat den Heiligen Geist aufgefressen! AT 1837. FS Bb 22, 2601. Aufgez. im Kreis Kuldiga (Kurzeme). Verbreitung : LPT 1 Var., PB 5 Var. — Ein Schwank, der u. a. auch aus der estnischen und finnischen Folklore bekannt ist. Unsere Var. ist durch ihre etwas ausführlichere Gestaltung in Form eines Märchens charakterisiert. 112. Gib mir meine Groschen wieder! AT 1654. LPT XII, 367. Aufgez. im Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: LPT 5 Var. — Ein in der lettischen und estnischen Folklore beliebtes Märchen. In mehreren Var. besteht die Tendenz zur Lokalisierung, in anderen spielt in der letzten Episode der Teufel mit, der zu den Gräbern geschickt wird, um festzustellen, wer verstorben ist, und dabei seine Mütze verliert. 437
113. Wie kommt denn das? A T 1567 B. L P T XII, 253. Aufgez. von J. Sprogis in der Sammlung von F. Brivzemnieks. Verbreitung: L P T 15 Var. 114. Gute Raischläge Vgl. A T 1560. FS 1664, 467. Aufgez. im Kreis Jekabpils (Zemgale). Verbreitung: L P T 1 Var., PB 3 Var. — Ein in der lettischen (auch estnischen und finnischen) Folklore sehr verbreiteter Schwank. Er wird oft mit den Typen A T 1561, 1567 u. a. kontaminiert. Häufig erscheint er in ausführlicheren Erzählungen über die Beziehungen zwischen Knecht und Bauer. Unsere Var. entspricht faktisch nur A T 1560; die Einleitung — der Lauf auf die Wiese — ist ein spezifisch lettisches Motiv. 115. Die Ratschläge des Vaters A T 910 A. LPT X, 304. Aufgez. von A. Lerhis-Puskaitis in Dzükste, Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: L P T 13 Var., A M 46 Var. — Das Thema von der Weisheit der Eltern ist in der lettischen Folklore in fast allen Genres stark vertreten. Märchen von den Ratschlägen des Vaters sind besonders beliebt. Unsere Var. stellt eine der ältesten Aufzeichnungen des Typs dar, dabei wird die Handlung auf der Ebene des Alltagslebens abgewickelt. 116. Die faule Braut A T 1453. LPT X I , 419. Aufgez. im Kreis Liepäja (Kurzeme). Verbreitung: L P T 6 Var., PB 7 Var. — Es handelt sich um ein aus Osteuropa eingewandertes Sujet, das in der lettischen Folklore auch die Form eines Alltagsmärchens annahm. 117. Wie sich der Sohn eine Frau suchte A T 1685 + 1691 B. FS 1316, 2374. Aufgez. im Kreis Bauska (Zemgale). Verbreitung: L P T 8 Var. — Ein beliebter Schwank, der zu seiner Zeit eine Art sozialkritische Waffe darstellte. Der Hauptheld der Handlung ist in Wirklichkeit kein Dummkopf, ihm fehlen nur die gesellschaftlichen Fertigkeiten, die ihm in der Familie nicht anerzogen wurden. Als er auszieht, um sich eine Braut zu suchen, treten diese Mängel deutlich zutage, und aus der Hochzeit wird nichts. Das Sujet ist auch bei den Nachbarvölkern der Letten, bei Esten und Finnen, sehr beliebt. 118. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen A T 1370 A * + 901 B*. L P T XI, 328. Aufgez. in Dzükste, Kreis Jelgava (Zemgale) durch A. Lerhis-Puskaitis. Verbreitung: LPT 10 Var. — Dies ist eines der bekanntesten Märchen von der Faulen Frau. In unserer Var. wird, abweichend vom üblichen Sujet (die Frau wird gezüchtigt, indem die Katze Prügel erhält), eine Art Erziehungsmethode akzentuiert, die es der Faulen selbst erlaubt, sich davon zu überzeugen, daß „wer nicht arbeitet, auch nicht essen soll". Es liegen Aufzeichnungen bereits aus der Mitte des 19. Jh. vor. 119. Die Frau mit den Plagegeistern A T 1372* + 1370 + 901. LPT XI, 330. Veröffentlicht von F. Brivzemnieks in Müsu tautas pasakas, 1887. Verbreitung: L P T 6 Var. — Obgleich das Sujet aus Westeuropa stammt, ist es auch im lettischen Märchenrepertoire
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weit verbreitet. In anderen Var. mit der seltsamen Krankheit der „Plagegeister" erkrankt auch ein Knecht, der die ihm vom Bauern aufgegebene Arbeit nicht ausführen kann. 120. Der Krieg der Gackerer A T 1541 + 1387 + 1381 B + 1381. FS 687, 280. Aufgez. im Kreis Aizpute (Kurzeme). Verbreitung: LPT 16 Var. — Es handelt sich um einen bei den Letten sehr beliebten Schwank. Der Mann nutzt die Einfalt seiner Frau, um den Herrn zu täuschen. Es folgt ein für Zaubermärchen charakteristisches Moment — ein Haufen Geld. Die Einleitung bereitet den Zuhörer überzeugend auf die weitere Märchenhandlung vor, d.h. auf A T 1381. Das Sujet des Märchens stammt möglicherweise aus G. F. Stenders Sammlung, ist aber bei seiner mündlichen Verbreitung stark verändert worden. Die Bezeichnung „Krieg der Gackerer" (Nachahmung der Stimmen von Gänsen und anderem Federvieh) ist bei Stender nicht zu finden. 121. Der lange Winter A T 1541 + 1384 + 1210 + 1540. L P T XII, 237. Aufgez. im Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: LPT 14 Var. von A T 1541. — Die populärsten Sujets des lettischen Scherzmärchens, das vom Himmelsboten (dem Schüler aus dem Paradies, A T 1540) und das vom langen Winter ( A T 1541), sind zu einem Märchen vereint. Diese Tendenz zur Kontamination ist bei Scherzmärchen sehr verbreitet. Häufig schließen sich hierbei Sujets aus A T 1200 bis 1332 an, in unserem Fall die Episode, wie die Kuh zum Weiden aufs Dach gebracht wird ( A T 1210). 122. Die Wahrsagerin im Täschchen A T 1358 C + 1535 III. LPT XII, 128. Veröffentlicht im Jahre 1872. Verbreitung: L P T 33 Var. — Das Märchen von der sprechenden Haut wird bei den Letten stark variiert. In einem Teil der Var. fehlt das Motiv des Hineinsteckens in den Sack und der Befreiung daraus. Die vorliegende Var. ist die älteste der veröffentlichten, mit Häusler, Müller und Glöckner als charakteristischen Personen der Handlung. 123. Der große Wahrsager A T 1641. LPT X I I , 326. Aufgez. im Kreis Valka (Vidzeme). Verbreitung: L P T 13 Var. — In Lettland gehört dieses Märchen zu den ersten publizierten, eine Var. konnte in einem 1800 in Riga veröffentlichten Kalender ermittelt werden. Eine deutsche Variante des Märchens ( K H M 98) wurde 1861 ins Lettische übersetzt. Die Mehrzahl der lettischen Var. steht dem deutschen Märchen nahe. 124. So geht es, wenn man jemanden einen Dummkopf nennt A T 1642 + 1653 + 1291 B. LPT XII, 355, ohne Ortsangabe. Verbreitung: L P T 15 Var. — Die Märchen vom dummen Sohn, dem es gelingt, die Räuber zu vertreiben und deren Schatz zu gewinnen, sind im lettischen Volk sehr beliebt. Als Episode gehört A T 1653 noch zu mehreren anderen Märchentypen. Unsere Var. ist die älteste Aufzeichnung des Märchens (ca. 1860). 125. Des Vaters Hab und Gut A T 982. FS 181, 27. Aufgez. im Kreis Jelgava (Zemgale). — Ein Beispiel für eine Gruppe lettischer Alltagsmärchen, deren Ursprung unserer Mei-
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nung nach in einer literarischen Quelle vom Ende des vorigen Jahrhunderts zu suchen ist. Ihres moralisch-erzieherischen Inhalts und der engen Bindungen an alltäglich zu beobachtende Erscheinungen wegen haben Erzählungen dieser Art eine sonst für die Volksmärchen charakteristische Form erhalten und spielen eine verhältnismäßig große Rolle im Volk. 126. Ist das wahr? AT 859 + 1960 E + 1960 D + 1960 K, vgl. 545 B. LPT XII, 520. Aufgez. im Kreis Jelgava (Zemgale). Verbreitung: LPT 6 Var. — Die meisten sog. Lügenmärchen sind im lettischen Repertoire kurz und zeigen die Tendenz, sich als Motive anderen Märchentypen anzuschließen (z. B. Nr. 48). Die vorliegende Var. ist eine der ausführlich gestalteten, gleichsam eine Parodie auf die Form der traditionellen Märchen. 127. Das gute Märchen AT 1920 H + 1882 A + 1889 P + 1889 K. LPT XII, 512. Aufgez. im Kreis Daugavpils (Latgale). Verbreitung: LPT 7 Var. 128. Der Bienenhirt AT 1889 + 1960 M. FS 449, 386. Aufgez. im Kreis Rezekne (Latgale). Verbreitung: LPT 6 Var. vom Typ AT 1960. — Unsere Var. ist ein Beispiel für die Lügenmärchen in der Ichform. Gewöhnlich werden Erzählungen dieser Art als Episoden in ausführlicher gestaltete Erzählungen der Typen A T 1920, 1930 oder 1960 einbezogen.
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WORTERKLÄRUNGEN Arschin: Daugava: Kokle: Kurbads: Kurzeme: Laima:
Altes russisches Längenmaß, ca. 71 cm. Düna, größter Fluß Lettlands; an ihm liegt die Hauptstadt Riga. Altlettisches Saiteninstrument, der griechischen Lyra ähnlich. Personenname, bedeutet „Wo Hunger ist". Kurland. Altlettische Schicksalsgöttin, die den Menschen von seiner Geburt bis zum Tod gütig begleitet. Liepäja: Libau. Löf: Flächenmaß, weniger als ein Hektar. Mi^celis: Michel. Mudris: Personenname, bedeutet „Der Muntere". Pastel(n): Altlettische Bauernsandale(n), aus Leder geflochten. Perkons: Altlettischer Donnergott, bedeutet „Donner". Raibu)a: Kosename füi die Kuh, bedeutet „Die liebe Bunte". Riege: Korndarre, Getreidedarre, die zu jedem Gut gehört. Semgale: Mittellettisches Gebiet, lettische Schreibweise: Zemgale. Starost: Gemeindevorsteher im zaristischen Rußland, Landrat im früheren Polen. Werst: Wegemaß im zaristischen Rußland, ca. 1067 m.
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INHALTSVERZEICHNIS
Tiermärchen 1. Der Bauer und die Tiere 2. Der Mann und der Bär 3. Wie der Mann den Bären und den Fuchs besiegte 4. Wie der alte Trogschnitzer zu Brot kam 5. Der Wolf und der Pflüger 6. Wie der Wolf die Stärke des Menschen maß 7. Die Füchsin und der Kater 8. Die Füchsin und der Krug 9. Die List des Fuchses 10. Wie die Tiere ihre Sünden beichten gingen 11. Wie die Tiere auf der Flucht in eine Grube fallen 12. Wie der Fuchs die Tiere betrog 13. Wie der Fuchs fliegen lernte 14. Wie der Fuchs mit dem Krebs um die Wette lief 15. Der Schlitten der Füchsin 16. Der Fuchs, der Star und die Krähe 17. Die Füchsin als Dienstmagd des Wolfes 18. Die Füchsin als Magd des Bären 19. Warum der Wolf und der Fuchs einander feind sind 20. Der Verprügelte trägt den Nichtverprügelten . . . . . . . . . 21. Wie ein Wolf Prügel erhielt 22. Der Hund als Schuster des Wolfes 23. Wie sich der Hund mit dem Wolf verfeindete 24. Wie es dem hungrigen Wolf erging 25. Der Wolf hält sich an die Abmachung 26. Der Alte und die Alte 27. Der Bär und die Maus 28. Warum der Hase eine durchgebissene Lippe hat 29. Warum der Hase lange Ohren hat 30. Der Hund und der Hase 31. Der Hase und der Fuchs 32. Der Frosch aus Riga und der Frosch aus Liepäja 33. Die Vögel besiegen die Vierbeiner 34. Wie die Taube ihr Nest baute 35. Die Spinne und die Fliege 36. Wie die Haustiere die Räuber vertrieben 37. Der Freibrief
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38. Wie der Hahn Kohl kochte 39. Der Kater besiegt die übrigen Tiere 40. Die fünf Katzen
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Zaubermärchen 41. Geh dorthin — lch-weiß-nicht-wohin, hole das Ich-weiß-nichtwas 42. Die Tiere als Helfer 43. Die dankbaren Tiere 44. Die beiden Brüder und der goldene Vogel 45. Worüber die Vierbeiner und die Vögel sprachen 46. Die Wunder des alten Schlosses 47. Die Tiere als Schwiegersöhne 48. Das Katzenschloß 49. Der Bär als Schwiegersohn 50. Das Igelpelzchen 51. Der Däumling. 52. Ende gut, alles gut 53. Der Bärenmensch 54. Der Starke 55. Die fünf Brüder 56. Der Dummkopf 57. Die Tochter des Königs von Semgale 58. Kurbads 59. Wie der Holzfäller den Teufel bezwingt 60. Die Wundermühle 61. Der Teufelsmikeiis 62. Der kluge Bauer 63. Das Alter des Teufels 64. Ein Märchen über ein Märchen 65. Der Teufel als Soldat 66. Der kluge Knecht 67. Der Musikant in der Hölle 68. Der goldene Bart 69. Der Soldat bezwingt die Teufel und den Tod 70. Die Hexe als Helferin 71. Der Wundersohn 72. Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein 73. Das Waisenkind und die Tochter der Stiefmutter 74. Die Bohnenranke bis zum Himmel 75. Wie die Tiere die Stieftochter retteten 76. Das Mädchen ohne Arme 77. Die Prinzessin auf dem gläsernen Berg . .78. Die Weisheiten des lieben Alten 79. Der gute Rat 80. Wie dem geizigen König eine Lehre erteilt wurde 81. Die goldene Axt
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Laima erfüllt drei Wünsche 268 Der König von Riga 269 Wie das Dummerchen die sieben verzauberten Brüder errettete 271 Der Koklespieler 279 Das Schloß des Meereskönigs 283 Vom Rätsel, das nicht erraten wurde 286 Alltagsmärchen
88. 89. 90. 91. 92. 93. 94. 95. 96. 97. 98. 99. 100. 101. 102. 103. 104. 105. 106. 107. 108. 109. 110. 111. 112. 113. 114. 115. 116. 117. 118. 119. 120. 121. 122. 123. 124. 125. 126.
Der Meisterdieb . 291 Die Weisheit des Vaters 292 Die verleumdete Frau 294 Ein kluges Gespräch 298 Wie der Bauer dem Kaiser schrieb 299 Zwei Nachbarn 300 Der Stubbenroder und die Laima 304 Wie dem Gutsverwalter eine Lehre erteilt wurde 307 Der Herr und der Teufel 309 Ein solcher nimmt ein solches Ende 311 Ein Mann als Heizer des Höllenkessels 313 Per Teufel und der Gutsaufseher 314 Alle Herren sind Dummköpfe 315 316 DerTschiks . Matschatinsch 319 Gänseteilen 320 Wie der Gutsherr seinen Hund sprechen lernen ließ . . . . . 322 Der schlagfertige Andritis 323 Wie der Herr ein Fohlen ausbrütete 324 Der geizige Herr 326 Wie es einem Herrn beim Lügen erging 328 Die kluge Tochter 330 Der Herr und der Schweinehirt 334 Der Iltis hat den Heiligen Geist aufgefressen! 335 Gib mir meine Groschen wieder! 336 Wie kommt denn das? 338 Gute Ratschläge 339 Die Ratschläge des Vaters 341 Die faule Braut 343 Wie sich der Sohn eine Frau suchte 344 Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen 345 Die Frau mit den Plagegeistern 347 Der Krieg der Gackerer 350 Der lange Winter 353 Die Wahrsagerin im Täschchen 356 Der große Wahrsager 358 So geht es, wenn man jemanden einen Dummkopf nennt . . . 360 Des Vaters Hab und Gut 363 Ist das wahr? 365
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127. D a s gute Märchen 128. D e r Bienenhirt
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Anhang Nachwort Literatur- und Abkürzungsverzeichnis Anmerkungen Worterklärungen
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373 412 414 441