Lessing: Vernunft und Geschichte: Untersuchungen zum Problem religiöser Aufklärung in Lessings Spätschriften 9783110947427, 9783484180529


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German Pages 371 [372] Year 1978

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
1. Teil: Die ›Apologie‹ Des Hermann Samuel Reimarus
I. Vernunft und Methode
II. Offenbarungs- und Bibelkritik
III. Der Aufklärer Reimarus
2. Teil: Der Streit um die Fragmente
I. Lessing als Herausgeber der Fragmente
II. Die religionsphilosophische Fragestellung der Streitschriften
3. Teil: Vernunft und Geschichte in der ›Erziehung des Menschengeschlechts‹
I. Fabula demonstrativa: Anweisung zum Selbstdenken
II. Die Vorsehung in der Geschichte
III. Vernunft und Geschichte
Literaturverzeichnis
Namenregister
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Lessing: Vernunft und Geschichte: Untersuchungen zum Problem religiöser Aufklärung in Lessings Spätschriften
 9783110947427, 9783484180529

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Friedrich Sengle

Band 5 6

Martin Bollacher

Lessing: Vernunft und Geschichte Untersuchungen zum Problem religiöser Aufklärung in den Spätschriften

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1978

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Neuphilologie gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bollacher, Martin Lessing, Vernunft und Geschichte : Unters, zum Problem religiöser Aufklärung in d. Spätschriften. - i . A u f l . - Tübingen : Niemeyer, 1978. (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 56) I S B N 3-484-18052-8

ISBN 3-484-18052-8 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1978 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany.

Inhalt

VORWORT

VII

EINLEITUNG 1 . Teil: D I E >APOLOGIE< DES HERMANN SAMUEL REIMARUS

I .

.

.

J

I. V e r n u n f t und Methode II. III.

6

Offenbarungs- und Bibelkritik

IJ

Der A u f k l ä r e r Reimarus

27

2 . Teil: D E R STREIT UM DIE FRAGMENTE

41

I. Lessing als Herausgeber der Fragmente

42

1 . »Geist der Prüfung« contra »praejudicium auctoritatis« . . . 2. Lessing - »Liebhaber der Theologie«, nicht »Theolog« . . . 3. Die Streitschriften als >unbefugte Literatur< II.

43 79 93

Die religionsphilosophische Fragestellung der Streitschriften 1 . Geschichtswahrheit - Vernunftwahrheit: Kritik der historischen Apologetik 2. Das Prinzip der »inneren Wahrheit« als Signum eines humanen Religionsbegriffs 3. Die Wahrheit der Religionsgeschichte

109 109 130 157

3 . Teil: VERNUNFT UND GESCHICHTE IN DER >ERZIEHUNG DES MENSCHENGESCHLECHTS< I. II. III.

203

Fabula demonstrativa: Anweisung zum Selbstdenken .

.

.

204

Die Vorsehung in der Geschichte

244

V e r n u n f t und Geschichte

287

1 . Vernunft und Offenbarung im Erziehungsplan 2. Das Ziel der aufgeklärten Vernunft 3. Die >älteste Hypothesec Vernunft, Geschichte, Mythos

287 303 324

.

.

.

LITERATURVERZEICHNIS

340

NAMENREGISTER

35 J V

Vorwort W e r , ehe er zu handeln, besonders zu schreiben, beginnt, vorher untersuchen zu müssen glaubt, ob er nicht vielleicht durch seine Handlungen und Schriften, hier einen Schwachgläubigen ärgern, da einen Ungläubigen verhärten, dort einem Bösewichte, der Feigenblätter sucht, dergleichen in die H ä n d e spielen w e r d e : der entsage doch nur gleich allem Handeln, allem Schreiben. Ich mag gern keinen W u r m vorsetzlich zertreten; aber wenn es mir zur Sünde gerechnet werden soll, wenn ich einen von ungefehr zertrete: so weiß ich mir nicht anders zu rathen, als daß ich mich gar nicht rühre; keines meiner Glieder aus der Lage bringe, in der es sich einmal befindet; zu leben aufhöre. Jede Bewegung im Physischen entwickelt und zerstöret, bringt Leben und T o d ; bringt diesem Geschöpfe T o d , i n d e m sie jenem Leben bringt: soll lieber kein T o d seyn, und keine Bewegung? oder lieber, T o d und Bewegung? ( A n t i - G o e z e . Vierter)

Leitende Idee und Erkenntnisziel der vorliegenden Studie ist die Lessings Streitschriften gemeinsame Programm-Kategorie der religiösen AufklärungErziehung des Menschengeschlechts< unternommenen Versuch einer Vermittlung von >Vernunft< und >Geschichte< bestimmt. In der begrifflichen Ungeschiedenheit der Kategorie >religiöse Aufklärung< spiegelt sich die Ambivalenz der historischen Bewegung: die Aufklärung in Religionssachen soll zum Ausgang des Menschen aus der religiösen Vormundschaft — nach Kant der schädlichsten und entehrendsten Form von Unmündigkeit - führen, ist aber gerade in Deutschland weitgehend selbst noch von religiösen Tendenzen geprägt. Dennoch hat hier der Begriff der Theologiekritik sein Recht: in ihm vereinigt sich Lessings literarische Handlung der siebziger Jahre mit der Devise des Jahrhunderts - »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der K r i t i k , der sich alles unterwerfen muß« 2 - , und mit ihm soll gesagt sein, daß Lessings private und öffentliche Kritik am traditionalistischen Geschichtsdogma und der >hermeneutischen< Wahrheitsdoktrin der Theologie gerade auch dort, wo sie der depravierten 1

2

K a n t , Beantwortung der F r a g e : W a s ist A u f k l ä r u n g ? ( I X , S. 60). - K a n t w i r d zitiert nach der v o n Wilhelm Weischedel besorgten zehnbändigen W e r k - A u s g a b e der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt 1 9 6 8 / 1 9 7 0 . K a n t , Kritik der reinen V e r n u n f t . Vorrede zur ersten A u f l a g e , A n m . (III, S. 1 3 ) .

VII

das Bild der >wahren< Religion gegenüberstellt, stets dem Prinzip des Selbstdenkens und der Bewußtseinsfreiheit des Laien-Schriftstellers entspringt. Eine Untersuchung, die die Diskussion des literarischen Aufklärungsbegriffs wieder auf die historische Konstellation des achtzehnten Jahrhunderts, ja auf die ursprünglichen Impulse von Lessings theologiekritischer Schreib-Handlung zurückverweist und die in der Theologiekritik als der ermöglichenden Bedingung einer Reflexion der sich aufklärenden Vernunft auf die Geschichte die Problemeinheit des Spätwerks zu fassen sucht, rührt an die Konventionen der Lessing-Forschung. Weitgehende Übereinstimmung besteht nämlich in mindestens dreifacher Hinsicht: 1. Lessing wird nach den Voraussetzungen und Wertvorstellungen der Aufklärungskritiker beurteilt, haben doch schon Hamann und Jacobi, die Romantiker und Hegel, dann auch die Vertreter der kritischen Theorie, der Aufklärungsbewegung Selbstvergessenheit, Abgleiten in abstraktes Populardenken, Utilitarismus und Ökonomismus, Sympathie mit dem sozialen Zwang, Verstrickung in Mythologie und eine »ungebührliche Herrschaft des Verstandes im Verhältniß zur Vernunft und Fantasie«* zum Vorwurf gemacht. Eine Forschung aber, die die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der Aufklärung als >negative< Norm mißversteht und deren Bedeutung mit der vergröbernden Formel von der gescheiterten Aufklärung< abtun will, läßt sich den Blick auf die Lessingzeit nur allzu leicht verstellen. Lessings Werk jedenfalls könnte ein Beispiel dafür sein, daß Aufklärung nicht schlechthin das ist, was ihre Gegner ihr vorwerfen und sie sich dort, wo geflissentlich von überwundener Aufklärung< die Rede ist, selbst besser verstanden hat als eine vereinnahmende Nachwelt. 2. Die Annahme einer aufklärerischen Problemkonstanz in Lessings theologisch-philosophischen Schriften widerspricht aber auch dem Bild vom >resultatlosenApologie< des Reimarus veröffentlicht und dem verdeckten Feuer Luft macht, gleichzeitig aber in den >Gegensätzen des Herausgebers< einen zwischen dem kompromißlosen Rationalismus radikalwolffianischen Zuschnitts und der von Leibniz ausgehenden theologisch-philosophischen Apologetik verlaufenden Mittelweg projektiert, berührt er den neuralgischen Punkt einer wissenschaftlichen Theologie, für welche die Infragestellung des christlichen Theismus mit der Scheinversöhnung von Vernunft und Offenbarung und der Integration des bibelkritischen Verfahrens in das theologische Selbstverständnis zur Ruhe gekommen war. Dafür, daß angesichts der Herausforderung durch die religionsbestreitenden Fragmente die verfeindeten Brüder der altlutherischen Orthodoxie und der wissenschaftlichen Bibelkritik, die Theologen der Kanzel und des Katheders in apologetischer Solidarität gemeinsame Front gegen den Fragmentisten und gegen Lessing machen, ist die Reaktion Semlers und Goezes, der ansonsten in dem Dogmenkritiker nur einen Gesinnungsgenossen des »Bibelstürmers«4 Bahrdt erblicken kann, ein schlagender Beweis. Der Graben, der die offenbarungsorientierte Theologie der Zeit von einer sich aus Geschichte und Tradition befreienden autonomen Vernunft trennt, kennzeichnet die desolate Situation des deutschen Protestantismus, der, um dem urlutherischen freien Forschen — dies die Deutung der Reformation durch die Aufklärer — und der Mitteilung des Erforschten Schranken zu setzen, seine Liberalität an die autoritären neorömischen Päpstchen des Luthertums zu verraten drohte, aufgrund seiner Blindheit gegenüber den neuzeitlichen Emanzipationsbestrebungen also den in der Folge notorischen religiösen Indifferentismus des deutschen Bürgertums durchaus mitverantwortet hat. Der aus dem Deismus hervorgehende, am Ende der klassisch-romantischen Epoche von Heine in seiner Schrift über die deutsche Religion und Philosophie scharfsinnig diagnostizierte Atheismusgedanke des neunzehnten Jahrhunderts gründet nicht zuletzt in der hilflosen und anachronistischen Reaktion der akademischen wie kirchenamtlichen Theologie auf Lessings Veröffentlichung der revolutionären Fragmente. Bleiben Lessings Beiträge zum Fragmentenstreit, dem wohl spektakulärsten und folgenreichsten Ereignis der deutschen Aufklärungsszene, in der Applikation des antagonistischen Grundschemas von >Vernunft< und >Vorurteil< auf die historisch-apologetische >Harmonistik< grundsätzlich der emphatischen Metaphysikkritik des Naturalisten Reimarus 4

2

Goezes Streitschriften gegen Lessing. Hg. von Erich Schmidt. 1893. (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, 4 3 / 4 5 ) S. 194.

verpflichtet, so begegnet er doch dessen statisch-apriorischem Vernunftbegriff mit der Idee einer in der Subjektivität des Denkens stufenweise sich entfaltenden Ratio. Mit der Dynamisierung und Temporalisierung des Vernunftbegriffs, die Lessings Position vom philosophischen wie theologischen Dogmatismus unterscheidet, wird jedoch nicht einem Verzicht auf die »beste edelste Wahrheit« das Wort geredet: im Gegensatz zu den beati possidentes der zeitgenössischen Scholastik holt Lessing Wahrheit - und gerade auch religiöse Wahrheit - in den subjektiven Verantwortungsbereich des Menschen zurück, der sich als moralisches Wesen und selbstmächtiges Individuum in der innovierenden Praxis und der vernunftgemäßen Selbstauslegung zu bewähren hat. Die Reflexion auf die dem Vernunftbegriff inhärente Dialektik von Wahrheit und Irrtum, in der gerade das Moment der Fehlbarkeit als eigentümlich Humanes erscheint, führt aber zurück auf den Ursprung dieses neuzeitlichen Selbstbewußtseins, das ja eben erst das Feld der Geschichte als Hauptquelle menschlichen Irrens und als Ort des >praejudicium auctoritatis< glaubte gebannt zu haben. In der Rückwendung zur Geschichte, die als >Unwahres< doch den menschlichen Verstand allein auf die Spur der besten Wahrheit zu bringen vermag, indem sie in der anschaulichen Exemplarität eines pädagogisch gedeuteten Offenbarungsgeschehens die auf Erkenntnis und moralische Freiheit gerichtete Zielhypothese der historischen Vernunft als den wahrscheinlichen Sinn des weltimmanenten Entwicklungsgangs präfiguriert, verschafft Lessing den ursprünglichen Impulsen des Aufklärungsbewußtseins wieder Geltung: wo ein verkommendes Denken in Halbphilosophie oder erneuerter Autoritätsanmaßung endet, unterwirft er die aufklärende Vernunft ihren eigenen Voraussetzungen und dem in der Konfrontation mit der theologischen >Hermeneutik< nach außen gekehrten Begründungsanspruch; wo in der Negation der Überlieferung die Grenzen zwischen dem >Zeitalter der Aufklärung< und der Zielvorstellung des aufgeklärten Zeitalters< schwinden, verweist er die Vernunft des achtzehnten Jahrhunderts auf den ihr eigenen Zeitkern; wo die Selbstemanzipation der Vernunft aus ihrer Geschichte sich mit Gewalt und Intoleranz verbündet, setzt er den Wert der Erkenntnis in die »gute Absicht« des Erkennenden, unterstellt also alle Einsicht einem nur in der freien Selbstverantwortung gründenden humanen Interesse. Die Moral der Selbstverantwortung, die die intellektuelle Handlung des Kritikers auf die Orientierungsinstanz einer gesicherten »inneren Wahrheit« zurückbezieht, bestimmt die Konsistenz der in den siebziger Jahren entstehenden literarischen Werkstücke, in denen die Bewußtseinsfreiheit des theologischen Laien zu der ihr gemäßen, die historischen Ver3

werfungen von Sprache und Begriff mitgestaltenden Ausdrucksform findet, öffentliche Polemik und private Wortgrübelei sind dabei ebenso authentische Manifestationen des Lessingschen Kritikverständnisses wie eine zwischen Abstraktion und Bildlichkeit sich bewegende Schreibweise, die der »alltäglichen«, zur falschen Natur gewordenen scholastischen Formelrede ihre Individualität als Moment der Erneuerung und Veränderung und als Sprachgestus des unbefugten Schriftstellers entgegenstellt. Wo aber die Logik des Stils transparent, die Sprache also auch ihrer eigenen Geschichtlichkeit ansichtig wird, sind Fragecharakter, Anonymität oder hypothetischer Redemodus nicht individualpsychologisch aufzulösende Verhaltensmerkmale des resultatlosen, gymnastisch-skeptischen >DialektikersSelbstdenkersAPOLOGIE< DES HERMANN SAMUEL REIMARUS

5

I. Vernunft und Methode

In der Vorrede zum ersten Reimarus-Fragment >Von Duldung der Deister, das 1774 im dritten Beitrag der Reihe > Z u r G e s c h i c h t e u n d L i t t e r a t u r . Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel* 1 erschien, verweist Lessing auf die Einheit der Fragmente, die alle » E i n e n Zweck haben, alle sich auf die geoffenbarte Religion beziehen, und vornehmlich die biblische Geschichte prüfen.« 2 Bei dieser »mit der äussersten Freymüthigkeit, zugleich aber mit dem äussersten Ernste« 3 durchgeführten Untersuchung hatte Hermann Samuel Reimarus sich eines von der europäischen Aufklärung entwickelten religionskritischen Regelkanons bedient, dessen spezifische Form er der Philosophie Christian Wolfis und seiner Schule verdankt. Der Ungenannte philosophiert, so schreibt Lessing in der erwähnten Vorrede, »durchgängig aus Wolffischen Grundsätzen«,4 die den Fragmenten neben der thematischen auch die methodische Einheit verleihen. Das methodische Schema, nach welchem Reimarus die Offenbarungswahrheiten der christlichen Religion kritisch untersucht, tritt am deutlichsten in dem Fragment >Von Verschreyung der Vernunft auf den Kanzeln< zutage, da dort Selbstverständnis und Wahrheitsanspruch aufklärerischer Vernunft programmatisch dem paulinischen Vernunftbegriff der herrschenden Theologie gegenübergestellt werden. Der orthodoxen Auslegung von 2. Korinther 1 0 , 4 / j , die zu dem »Machtspruch« 5 von der »Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens«' 1

2 3 4

5

8

6

Die Fragmente werden zitiert nach L M . Numeriert ( I - V ) ist bei Lessing lediglich die im 4. Beitrag veröffentlichte Fragmentengruppe >Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend*. LM XII, S.2J4. L M X I I , S. 254. L M X I I , S. 2 j j . - Vgl. auch den neunten >Anti-GoezeVernunftlehreVernunftlehre< reduziert sich der Glaube subjektiv auf einen Akt der Zustimmung, im Zuge dessen ein Zeugenbericht an die Stelle der eigenen Erfahrung gesetzt wird, objektiv auf die Glaubwürdigkeit eines Zeugnisses, welche durch die Anwendung der Einstimmungsregel in vier Punkten (Geschicklichkeit des Zeugen in der Erfahrung; Aufrichtigkeit des Zeugen in der Berichterstattung; Unmittelbarkeit des Zeugnisses; Sinngehalt des Zeugnisses) überprüft werden kann. 39 Das von 34

35 36 37 38

38

12

V g l . Reimarus, D i e Vernunftlehre. S. 3 3 f f . - Reimarus legt also die >adaequatio< im Sinne v o n >Einstimmung< aus. V g l . Reimarus, D i e Vernunftlehre. I. T h . , § 1 2 0 , S. 1 4 7 f. Reimarus, D i e Vernunftlehre. I. Th., § 1 2 3 , S. 1 4 9 . V g l . Reimarus, D i e Vernunftlehre. S . 4 5 f. V g l . Reimarus, D i e Vernunftlehre. 1. K a p . , >Von der E r f a h r u n g , Wissenschaft und Glaubennatürliche< die wahre Einsicht erst ermöglicht. Mit seinen präzisen Forderungen nach einer kritisch-philologischen, streng methodisch verfahrenden »Hermeneutik«40 kommt Reimarus somit dem modernen Wissenschaftsverständnis der im weitesten Sinne historischen Disziplinen relativ nahe, doch sein Hinweis auf die Bedeutung der »Geschichtskunde« 41 darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die historische Erkenntnis als Einsicht durch Erfahrung zwar eine besondere Erkenntnisstufe (gegenüber bon sens, Philosophie und Mathematik) darstellt, 42 nicht aber eine Erkenntnisart sui generis, die ihren eigenen Gesetzen gehorchte. >Erfahrung< im Verstände des Reimarus ist deshalb nicht an geschichtliche Besonderung geknüpft, sondern an die Allgemeingültigkeit der Regeln: So »sieht man auch, daß eben die Regeln, welche die Richtigkeit unserer eigenen Erfahrung bestimmen, zugleich die Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit eines Zeugnisses bestimmen helfen.« 43 Mit der methodischen Sichtung des gesamten menschlichen Erkenntnisbereichs hat der Verfasser der >Vernunftlehre< das in der >Vorrede< angekündigte Vorhaben, aus dem Vernunftbegriff selbst die Regeln und damit auch die Schranken vernünftiger Einsicht zu entwickeln, konsequent verwirklicht. Die Überzeugung, »daß alle logische Regeln aus den beyden Grundregeln der E i n s t i m m u n g und des W i d e r s p r u c h s entspringen, dadurch die Natur selbst unsere Vernunftkraft so bestimmt hat, daß wir ohne und wider diese Regeln wissentlich nichts gedenken können«, 44 gründet dabei in 40

Reimarus, Die Vernunftlehre. II. Th., § 2 J 2 , S. 2 9 8 ; vgl. § 2 5 3 f f . S. 3 0 0 f f . - Den Vorsprung der Methodik des Reimarus v o r der deistischen Religionskritik unterstreicht Hermann T i m m in antithetischer Pointierung: »Die Deisten sind Dogmatiker, Reimarus ist ein wissenschaftlicher Kritiker« (Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. B d . 1 : D i e Spinozarenaissance. 1 9 7 4 . [Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2 2 ] S. 2 3 ) .

41

Reimarus, Die Vernunftlehre. I I . T h . , § 2 J 2 , S. 2 9 8 . D i e historische Erkenntnis ist z w a r nach der Klassifizierung des Reimarus die unterste Erkenntnisstufe, muß aber »bey aller übrigen Forschung und E r findung zum Grunde gelegt werden, w o man nicht Schlösser in der L u f t bauen will« (Die Vernunftlehre. >Vorläufige AbhandlungVorredeVernunftlehre< für die natürlichen K r ä f t e der Vernunft plädierte oder als gemäßigter Deist die Wahrheiten der natürlichen Religion gegen Atheisten und Freidenker verteidigte, sondern in den von Lessing ans Licht gebrachten offenbarungs- und bibelkritischen Untersuchungen. Wie radikal Reimarus in seiner >Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer GottesGeschichte der Leben-Jesu-Forschung< schreibt, von der zeitgenössischen Theologie wegen des Erkenntnisvorsprungs,

den

Reimarus hatte, alsbald »kalt gestellt« 2 wurde. Die Tendenz der bis 1 7 9 1 in sechs Auflagen erschienenen Schrift >Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion< 3 ist, zumindest nach 1

Dies die endgültige, vom Verfasser gewählte Titelform. Vgl. Gerhard Alexanders >Einleitung< in: Hermann Samuel Reimarus, A P O L O G I E oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Im Auftrag der J o achim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg hg. von Gerhard Alexander. Bd. I und II, 1972. Bd. I, S. 36. (Die von Alexander gewählte Großschreibung des Haupttitels wird aus typographischen Gründen im Text nicht übernommen.) Vgl. dort auch (S. 9 ff.) die Angaben zu Quellenlage, Text- und Editionsgeschichte der nun vollständig veröffentlichten »Apologie^ die ursprünglich sowohl die >Vernunftlehre< als auch Reimarus' Schrift über die natürliche Religion (s. Anm. 3) umfassen sollte. Die, im übrigen verschollene, Handschrift, nach der Lessing druckte, entsprach einem früheren Stadium (ca. 1750) des Monumentalwerkes. Die >Vorrede< zur >Schutzschrift< liegt auch gesondert vor: Hermann Samuel Reimarus, Vorrede zur Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Facsimile. Mit einer Einführung von Hartmut Sierig. Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg. 1967.

1

Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. Sechste, photomechanisch gedruckte Auflage. 1 9 5 1 . S. 26. Hermann Samuel Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet. Dritte Auflage. 1766 [zuerst: 1754].

3

15

außen hin, trotz des Titels weniger religionskritisch (im Sinne einer v e r nünftigem Kritik der Offenbarungswahrheiten) als apologetisch: nach Reimarus entspricht das Christentum durchaus den Forderungen vernünftiger Einsicht, indem es die Wahrheiten der natürlichen Religion nicht nur voraussetzt, sondern sogar »zum Grunde« 4 legt, letztlich also auch das Dogma an die Wahrheit der Vernunft knüpft. Doch wenn Reimarus das Christentum unter Hinweis auf dessen natürlichen Kern verteidigt, rückt er seinen Begriff einer vernünftig-natürlichen Religion selbst in die Nähe eines traditionellen christlichen Religionsverständnisses, wie besonders die Polemik gegen Freidenker, Atheisten und Materialisten belegt.5 Das Loblied, das der Verfasser am Ende seines Werks auf die Religion als unverlierbaren Trost- und Hoffnungsgrund, als erzieherisch-humanisierende Kraft und als Unterpfand menschlicher Glückseligkeit singt, ist genauso von christlichem Ethos geprägt wie der Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, in welchem sich natürliche und christliche Religion im Gegensatz zum blinden, zu unverhüllter Libertinage führenden Notwendigkeitsglauben der Atheisten und Materialisten vereinen. Nicht anders als der junge Lessing in seinem Lehrgedicht über die Vorzüge der Religion polemisiert auch Reimarus in der X. Abhandlung >Von der Seelen Unsterblichkeit, und den Vortheilen der Religion< heftig gegen den wüsten La Mettrie, von dessen Lasterhaftigkeit die vergeistigende, sittliche Kraft eines auf das Jenseits gerichteten Gottesglaubens abgehoben wird. 8 Nichts deutet auf den Zündstoff der von Reimarus zurückgehaltenen Teile seiner >ApologieSchutzschrift< nur zur eigenen »Gemühts-Beruhigung«7 verfaßt hatte, »im Verborgenen« 8 schon längst über die Position der Abhandlung über die natürliche Religion hinausgelangt. In einem aus den frühen fünfziger Jahren stammen4 5

6

7

8

16

Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten. >Vorbericht< (unpaginiert). V g l . Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten. X . Abhandlung: >Von der Seelen Unsterblichkeit, und den Vortheilen der Religion< (S. 6 9 1 f f . ) sowie >VorberichtVorberichtAnti-Goeze< abgedruckte Eingangsparagraph des >Vorberichts< stimmt mit der endgültigen Fassung überein. V g l . auch die Erstfassung des >Vorberichts< in: A P O L O G I E oder Schutzschrift. B d . II. S. 639.) Reimarus, A P O L O G I E oder Schutzschrift. B d . I. >VorberichtVorberichtAnti-Goeze< abdruckte, umreißt der Ungenannte die Gliederung seines Werks, dessen erster Teil von der »Notwendigkeit der Offenbarung« handeln soll, »wobei die ganze Heils-Ordnung zergliedert und in allen Sätzen nach der Regel des Wiederspruchs geprüft ist.«8 Reimarus ist sich bewußt, daß bei konsequenter Anwendung der kritischen Methodenvernunft im Bereich des Glaubens, der Offenbarung und der biblischen Überlieferung die These von der Vernünftigkeit des Christentums nicht aufrecht erhalten werden kann, ja daß Glaubensgehorsam und methodisches Selbstdenken sich grundsätzlich ausschließen. Christentum und vernünftige Religion, in der Abhandlung über die >Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion< noch harmonisch vereinigt, stehen sich in der >Apologie< diametral gegenüber: die vernünftige Religion als einzig wahre ist nicht »Catechismus-mässig«,10 was bedeutet, daß alle mit der Vernunft nicht zu vereinbarende Offenbarung dem Verdikt des Unvernünftigen, ja Unsinnigen verfällt. »Die vernünftige Religion«, so formuliert Reimarus kategorisch in einem Nachlaß-Fragment zur >ApologieVernunftlehre< entwickelten natürlichvernünftigen Regelkanon unternimmt also Reimarus sein monumentales Werk einer gegründeten Offenbarungs- und Bibelkritik, das nach Albert Schweitzer als »vielleicht die großartigste Leistung in der Leben-JesuForschung überhaupt« 12 gelten kann. Die von Lessing veröffentlichten sieben Fragmente demonstrieren sämtlich den Anspruch souveräner Vernunft, sich gegenüber der religiösen Erkenntnis und der Offenbarung ihrer selbst zu versichern und geschichtliche Tradition wie Autorität nach Maßgabe der selbstmächtigen Ratio zu beurteilen. Das in der >Vernunftlehre< sich artikulierende Einheitsstreben einer grundsätzlich den 9

10

11

12

Stück 14 a, Staatsarchiv Hamburg, Familie Reimarus. Abgedruckt in: Reimarus, A P O L O G I E oder Schutzschrift. Bd. I, S. 29 f. (§ 25) (dort Zitat S. 29) und Bd. II, S. 6 3 9 - 6 5 2 (§ 1 - 1 1 ) . Reimarus, A P O L O G I E oder Schutzschrift. Bd. I. >VorberichtApologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes< läßt sich also von zwei Haupttendenzen leiten, einer rationalistisch-apologetischen und einer kritischen. Die vernünftige Religion wird als die natürliche, allgemeingültige, der »Einsicht von dem gantzen Zusammenhange der Sache«15 entsprechende Grundlage eines jeden Glaubenssystems vorgestellt und zugleich, da das Christentum in fälschlicher Auslegung des Sündenfalls sich dem vernunftfeindlichen Glaubensgehorsam verschrieben hat, »gegen die Zunöhtigung eines uns angedrungenen Glaubens«1® verteidigt. In systematischer Hinsicht wird somit die christliche Religion unter Ausklammerung ihres Offenbarungsanspruchs auf den vernünftigen Grund ihrer Lehre hin befragt, wobei Reimarus voraussetzt, daß eine mögliche Verankerung der Glaubenswahrheit im supranaturalen Bereich nicht nur der postulierten Universalität einer Offenbarung, sondern auch unserer Vorstellung von der Weisheit und Güte Gottes sowie der Gültigkeit der vom Weltenschöpfer verordneten »ewigen Regeln des Natur- und Sitten-Gesetzes«17 zuwiderliefe. Was als angebliche Offenbarung nicht dem Satz vom Widerspruch gehorcht, wird kritisch ausgesondert. In historischer Hinsicht reduziert sich für Reimarus das christliche Dogmengebäude auf die Lehre des Menschen Christus, d. h. »eine vernünftige praktische Religion«,18 die auf den Grundsätzen 18

In § 27 der >Vernunftlehre< unterscheidet Reimarus neben dem Gegensatz vernünftig - unvernünftig noch den Bereich des Übervernünftigen. Der >Vorbericht< der >APOLOGIE< (Bd. I, § 10, S. 54) gesteht dem Übervernünftigen jedoch nur scheinbar Daseinsberechtigung zu, wie die Schlußfolgerung - auch ein Engel könnte uns nichts Unvernünftiges glauben machen - sowie das kritische Verfahren der Fragmente zur Genüge belegen.

14

Reimarus, A P O L O G I E oder Schutzschrift. Bd. I. >VorberichtVorberichtVorberichtVorberichtVorberichtVon Duldung der Deisten< ( L M X I I , S. 255).

15 16 17 18

18

vernünftiger Gotteserkenntnis, tätiger Nächstenliebe, der Respektierung der Bürgerpflichten und des tugendhaften Lebenswandels beruht. Diese >Religion Christi< gilt es gegen das Christentum zu verteidigen. V o n hier aus stellt sich für Reimarus die Frage nach der Autorität der Schrift. Der Offenbarungsanspruch des Christentums, dem der Ungenannte mit dem religionskritischen Instrumentarium einer autonomen wissenschaftlichen Philosophie begegnet, stützt sich auf

die

biblische

Überlieferung, d. h. auf >Geschichtswahrheiten< in der Form unmittelbarer und mittelbarer Zeugenberichte. Die Authentizität der Schrift ist nach orthodoxer Auffassung durch das D o g m a der Inspiration verbürgt, das die Bibel als »Gottes eigene Selbstbekundung« 19 dem Zugriff der Vernunft entzieht. Die Wahrheit der Schrift wird also nicht an den Denkvoraussetzungen und dem Wirklichkeitsverständnis der Neuzeit bemessen, sondern bleibt theologisch-dogmatisch — entsprechend der Formel >scriptura sui ipsius interpres< - an den Sinn der Schrift selbst gebunden.20 Im Gegensatz dazu orientiert sich Reimarus bei seiner Auseinandersetzung mit der Überlieferung an einem kritischen Programm, dessen methodische Grundzüge der Verfasser der >Vernunftlehre< selbst im Glaubenskapitel exponiert hatte, das mit seinen Wurzeln jedoch weit in die Tradition europäischer Aufklärung und die Geschichte der lischen, französischen und niederländischen Bibelkritik 19 20

21

eng-

zurückreicht. 21

W. Philipp in: R G G III, Sp. 775 (Artikel »Inspiration«), Vgl. Klaus Scholder, Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehung der historisch-kritischen Theologie. München 1966. (Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus. Zehnte Reihe. Bd. X X X I I I ) S. 125 und S. 7 f f . Zur Geschichte der Bibelkritik und Reimarus' Quellen vgl. David Friedrich Strauß, Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. 1862. S. 35 f f . (Spinoza, Bayle, englische Deisten); Leopold Zscharnack, Einleitung in Lessings »Theologische Schriften I I I (Lessing als Herausgeber der Fragmente)«. In: Lessings Werke. Vollständige Ausgabe in fünfundzwanzig Teilen. Hg. von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen. Bong [1925]. [Reprografischer Nachdruck 1970]. 22. Teil. X V I I I . Bd. S. 9-29; K . Scholder, Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert (Spinozas Religionskritik wird als »Bilanz der ganzen Entwicklung« [S. 165] bezeichnet); ferner vor allem: Günter Gawlik, Der Deismus als Grundzug der Religionsphilosophie der Aufklärung; Henning Graf Reventlow, Das Arsenal der Bibelkritik des Reimarus: Die Auslegung der Bibel, insbesondere des Alten Testaments, bei den englischen Deisten sowie Jürgen von Kempski, Spinoza, Reimarus, Bruno Bauer - drei Paradigmen radikaler Bibelkritik in: Hermann Samuel Reimarus (1694-1768), ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Hamburg. Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg am 12. und 13. Oktober 1972. 1973. S. 1 5 - 4 3 , S. 44-65 und S. 96 bis 1 1 2 . - Aus katholischer Sicht wird Reimarus' Verhältnis zum Deismus be-

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Indem Reimarus die Inkommensurabilität der christlichen Offenbarung verwirft und den dogmatischen ordo salutis von seiner geschichtlichen Begründung her begreift, also zwischen Ereignis und Bericht, geschichtlichem Faktum und theologischer Auslegung unterscheidet, verhilft er der historischen Bibelkritik auch im verspäteten Deutschland zum Durchbruch. D a ß die Beschäftigung mit dem Überlieferungsproblem dabei einem grundsätzlichen Zweifel an der Sicherheit des historischen Wissens entspringt, bestätigt auch Kant, wenn er darauf hinweist, »daß in Ansehung des historischen unsere neutestamentische Schriften niemals in das Ansehen können gebracht werden, daß wir es wagen dürften ieder Zeile derselben mit ungemessenem Zutrauen uns zu übergeben . . ,«22 Die epochale Bedeutung der von Reimarus inaugurierten kritischen Exegese hat zunächst freilich nur Lessing erkannt. Um seine Position im Gegenzug zum Fragmentisten bestimmen zu können, ist es erforderlich, einen Blick auf die Anwendung und die Ergebnisse des historischkritischen Verfahrens in der >Apologie< zu werfen und nach dem Verhältnis von methodischer Prämisse und Schlußfolgerung zu fragen. Als Beispiel sei das Auferstehungs-Fragment gewählt, dem wegen seiner Radikalität und wegen seiner explosiven Wirkung auf die Zeitgenossen eine zentrale Stellung im kritischen Gesamtwerk zukommt: Lessing, der ja nicht sofort mit dem »Dreistesten und Stärksten« 23 aus der >Apologie< aufwartete, sondern bei der Publikation nach dem Prinzip der Steigerung verfuhr, veröffentlichte mit dem fünften Fragment des vierten Beitrags >Ueber die Auferstehungsgeschichte< das Kernstück jener neutestamentlichen Kritik, die mit der Untersuchung des Zweckes Jesu und seiner Jünger unmittelbar auf die Wahrheit der christlichen Religion abzielte. Im Auferstehungs-Fragment, das in Lessings Abdruck den Paragraphen 10-32 des II. Teils der Abhandlung >Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger< entspricht, unternimmt Reimarus in der T a t einen

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h a n d e l t v o n Jos. E n g e r t , D e r D e i s m u s in der R e l i g i o n s - u n d O f f e n b a r u n g s kritik des H e r m a n n S a m u e l Reimarus. 1 9 1 6 . (Theologische S t u d i e n der O e s t e r r . L e o - G e s e l l s c h a f t , 21). Grundlegend zum Deismus: Ernst T r o e l t s c h , G e s a m m e l t e S c h r i f t e n . B d . I V : A u f s ä t z e z u r Geistesgeschichte und Religionssoziologie. H g . v o n H a n s B a r o n . 1925. S. 429 f f . ; W i l h e l m D i l t h e y , G e s a m m e l t e S c h r i f t e n . B d . I I : W e l t a n s c h a u u n g und A n a l y s e des Menschen seit Renaissance u n d R e f o r m a t i o n . 7., u n v e r ä n d e r t e A u f l a g e . 1964. S. 90 f f . und S. 246 f f . ; E m a n u e l H i r s c h , G e s c h i c h t e der neuern e v a n g e l i s c h e n T h e o logie im Z u s a m m e n h a n g mit den allgemeinen B e w e g u n g e n des europäischen D e n k e n s . 5 B d e . 1 9 4 9 - 1 9 5 3 . B d . I, S. 244 f f . K a n t an J o h a n n C a s p a r L a v a t e r , 2 8 . 4 . 1 7 7 5 , zit. n a c h : I m m a n u e l K a n t , B r i e f e . H g . u n d eingeleitet v o n Jürgen Z e h b e . 1970. S. 63. Ein M e h r e r e s aus den P a p i e r e n des U n g e n a n n t e n , die O f f e n b a r u n g b e t r e f f e n d . V o r r e d e Lessings ( L M X I I , S. 304).

»Hauptsturm auf die christliche Religion«, 24 da er hier die Lehre Christi und die christliche Religion konsequent unterscheidet - diesen Gegensatz übernimmt dann Lessing die Diskrepanz zwischen religiöser Metaphysik und weltlicher Absicht brandmarkt und das Grunddatum im System der Apostel, nämlich die Auferstehung Jesu Christi, als durchsichtige Fälschung verwirft. In dem Fragment >Von dem Zwecke Jesu und seiner JüngerUeber die AuferstehungsgeschichteMenschen-Sohns< (weltliche Erlösung Israels) kommt Reimarus vor allem im II. Buch des neutestamentlichen Abschnitts in der >APOLOGIE< immer wieder zu sprechen. Zu der auch in neuerer Zeit - freilich eher zustimmend - vertretenen InsurgentenThese vgl. die Zusammenfassung bei Rudolf Augstein, Jesus Menschensohn. 1974. (rororo 6866) S. 1 1 2 ff., bes. S. 129 f f . Reimarus, Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. I, § 33 ( L M X I I I , S. 268).

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E r will, dies sein methodisches Prinzip, dabei sein Urteil nur »nach klarem und deutlichem Widerspruch und Uebereinstimmung der Dinge richten.«28 Die Auferstehungsgeschichte - so setzt Reimarus an - ist uns nur als Zeugenbericht (Zeugnis der Grabwächter und der Apostel), also durch das Medium fremder Erfahrung, zugänglich und muß somit nach den Regeln der Glaubwürdigkeit beurteilt werden. Mögen auch Glauben und Wissenschaft ihre Erkenntnis aus verschiedenen Quellen, der Erfahrung oder der Vernunft, schöpfen, so gelten doch in beiden Erkenntnisbereichen dieselben Wahrheitskriterien, die etwas als wirklich, möglich oder notwendig ausweisen. Da die Auferstehung nicht aus der Vernunft demonstriert werden kann, muß sich die Evidenz dieser vorgeblichen Wahrheit, auf welche sich ein ganzes Lehrgebäude gründet, aus der notwendigen Übereinstimmung unserer Erfahrung mit dem Erfahrungsbericht der Zeugen sowie der notwendigen inneren Übereinstimmung der Berichte gleichsam rekonstruieren lassen. Ein solches Verfahren entspricht unserem natürlichen Erkenntnistrieb und unserer Vernunftanlage und ist besonders dort konsequent zu handhaben, wo es sich wie bei der Auferstehungsgeschichte um eine »ganz außerordentliche übernatürliche Sache«29 handelt. Waren schon die historischen Zeugen der Auferstehung nicht alle einer Meinung, »wie viel weniger«, so schließt Reimarus, »ist es uns heutiges Tages zu verdenken, daß wir eine Weile ungläubig sind und zweifeln: da wir von allem diesem mit unsern Sinnen gar keine Erfahrung bekommen, sondern alles nach 1700 Jahren aus den Urkunden einiger wenigen Zeugen holen müssen. Und da ist das einzige, was uns jetzt vernünftiger Weise zu thun übrig bleibt, daß wir, in Ermangelung eigener Erfahrung, erwägen, ob die uns überbliebene Zeugnisse übereinstimmen.«30 Einem solchen kritischen Anspruch kann der >Beweis der Auferstehung Jesu aus der Wache PilatiVernunftlehre< formulierten Gesichtspunkte der Geschicklichkeit in der Erfahrung und der Aufrichtigkeit des Zeugen ins Spiel. Die Feststellung, daß sich der WächterBeweis einzig und allein bei Matthäus findet und daß sich die Apostel nie und nirgends in der Öffentlichkeit, vor dem Synedrium, vor einem jüdischen oder römischen Gericht auf die Wächter beriefen, sondern sich, wie bei der Berufung auf den heiligen Geist, in »schlechte und eitele petitiones principii« 32 verstrickten, reicht völlig aus, um diesen Beweis zu vernichten und damit die Wahrheit der Auferstehungsgeschichte aufs stärkste zu kompromittieren. Doch auch mit der Aufrichtigkeit des Matthäus steht es nicht zum besten: kann das Übernatürliche nicht bewiesen werden, »so bekommt die Wahrscheinlichkeit des Natürlichen ein unendliches Übergewicht.« 33 Natürlich und wahrscheinlich ist aber die von Matthäus erwähnte Version eines nächtlichen Leichenraubs durch die Jünger Jesu, da sie — im Gegensatz zur Auferstehungsgeschichte - alle Gründe der Glaubwürdigkeit auf ihrer Seite hat. Dies bedeutet hinwiederum, daß Matthäus seinen Bericht »nur zur Ablehnung der erwähnten Beschuldigung ertichtet« 34 hat. Der »Beweis der Auferstehung Jesu aus der Wache Pilati< ist also nicht nur falsch, sondern geradezu eine Fälschung, und zwar eine durchsichtige, wie die mangelnde Übereinstimmung des Matthäus mit sich selbst und den anderen Evangelisten belegt. Nicht anders verhält es sich mit dem »Beweis der Auferstehung Jesu aus der Apostel ZeugnißVorbericht< zur > A P O L O G I E oder Schutzschrift< schließt mit dem A u f r u f : »Last uns unserm Schöpfer, nach bester Hinsicht der gereinigten V e r nunft, und unserm Nebenmenschen, nach allen natürlichen und bürgerlichen Pflichten, in Ruhe und Frieden dienen!« (Bd. I. § 1 3 , S. 64).

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materieller Hinsicht der Position der neologischen Apologeten an, so kann doch die Verteidigung einer vernünftig-christlichen Universalreligion nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Keime der religionskritischen Substanz der >Schutzschrift< auch hier verborgen liegen und die Prämissen des Reimarusschen Denkens nur schwer mit dem positiven Resultat der Untersuchung in Einklang zu bringen sind. Die Philosophie, die » s c h ö n e W o 1 f f i a n e r i n n«, tritt nach dem Bonmot des scharfsichtigen Gegenaufklärers Hamann auch hier »in Schaafkleidern« auf, um unter dem Vorwand der Religionsrettung doch nur wie eine » P e t z e die Perlen des Heiligtums« 80 zu zertreten. Die Frage des Reimarus: » . . . wie kann einer mit Grunde glauben, daß die Offenbarung von Gott komme, wenn er nicht vorher überführt ist, daß ein Gott sey?«81 dient somit kaum zur Abwehr naturalistischer Argumente, sondern zielt als klassischer deistischer Einwand mit der Forderung nach gegründetem Glauben 32 am Ende auf die Desorganisation des orthodoxen Systems oder, mit den Worten des Fragmentisten, auf die Feststellung der >Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könntenApologie< befreit sich Reimarus radikal von dem »apologetischen Kompromiß«, 83 der die Aufklärungstheologie Deutschlands bis zum Ausgang des Jahrhunderts kennzeichnet. Bedenkt man, daß die Neologie trotz aller rationalisierenden Dogmenkritik letztlich an der Tatsache der göttlichen O f fenbarung festhält, 34 dann ist Ernst Troeltschs Urteil zuzustimmen, Reimarus sei »für die Aufklärungstheologie nicht charakteristisch.« 35 Von den Neologen wie Michaelis und Semler, die in ihren Schriften ja 30

H a m a n n , K o n x o m p a x . S. 2 2 5 . - P . Grappin (La théologie naturelle de Reimarus) betont also zu Recht, daß es hinsichtlich des deistisch-naturalistischen Grundzugs keinen Widerspruch zwischen der > A P O L O G I E < und den veröffentlichten Werken des Reimarus gibt. D i e W i r k u n g auf die meisten Zeitgenossen w a r jedoch, wie auch G r a p p i n sieht, anders. A u f ein Kuriosum der Rezeptionsgeschichte macht J . Engert aufmerksam: der von Lessing als >Subkonrektor< verewigte Friedrich Daniel Behn suchte aus den » v o r t r e f f lichen Büchern des großen Weltweisen Reimarus« heraus den Ungenannten zu widerlegen, »ohne zu ahnen, daß der so grimmig Gehaßte mit dem V e r fasser der >vornehmsten Wahrheiten* identisch sei« (Der Deismus in der Religions- und Offenbarungskritik des Hermann Samuel Reimarus. S. 3 1 ) !

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Reimarus, berichtVor-

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alle »nach theologischer Weise«38 argumentierten, ist Reimarus in der Tat durch einen tiefen Graben getrennt. Und weder die Neologen, die diesen Graben nicht auszumessen wagten, noch die Orthodoxen waren zu der von Lessing erhofften, der Herausforderung des Reimarus ebenbürtigen Refutation fähig, die dem religionsgeschichtlichen Grundproblem des Ungenannten, der historisch-eschatologischen, in der Botschaft Jesu die altprophetisch-politische von der danielisch-apokalyptischen Perspektive kritisch sondernden Betrachtungsweise gerecht geworden wäre. Statt dessen inaugurierte, wie Albert Schweitzer konstatiert, der gegen Ende der siebziger Jahre immer mehr in rückschrittliche Bahnen einlenkende Semler eine halbschlächtige »Ja- und Aber-Theologie«, 37 die ihr »retardierendes Wissen«38 der grandiosen Radikalität des Reimarus entgegenstellte und solchermaßen die elementaren Erkenntnisse der >Apologie< bis auf Johannes Weiß, also bis zum Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts, verdunkelte oder verdrängte. Kann auch der heutige Leser den besonderen religionskritischen Konsequenzen des Reimarus nicht uneingeschränkt zustimmen, so markieren doch seine Schutzschrift als äußerste Position der rationalistischen Exegetik und sein bis zur Historisierung des dogmatischen Christusbilds vordringendes wissenschaftliches Verfahren beispielhaft die Konfrontation zwischen selbstmächtiger Vernunft und Glaubensgehorsam und führen damit die neologische Vermittlungsstrategie der Zeit ad absurdum. Indem Reimarus die Koexistenz von Vernunft und Offenbarung im Osterereignis, in der Deutung des Zwecks Jesu und seiner Jünger, aufkündigt, zwingt er die protestantische Theologie zur Entscheidung: will diese nicht der anachronistischen Apologetik verfallen, muß sie sich um eine Integration der historischen Methode in ihr wissenschaftliches Selbstverständnis bemühen. Dies erklärt, warum die Fragestellung der >Apologie< bis in unsere Tage, etwa bis zu Joel Carmichael, nicht zur Ruhe gekommen ist.39 Indessen gilt es auch heute noch, das Bild des Fragmentisten von den Verzerrungen, die ihm in der Folge gerade des historischen neunzehnten Jahrhunderts widerfahren sind, zu befreien und den Wahrheitsanspruch der aufklärerischen Kritik zunächst an den Voraussetzungen und Ten36

Dies der V o r w u r f des Reimarus an die Adresse der Theologen, die die W a h r heit nicht durch Gründe ausmachen wollen (Von Duldung der Deisten L M X I I , S. 2 5 7 ) .

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A . Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. S. 26. A . Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. S. 2 5 . »Carmichael schreibt keinen Satz, der nicht im wesentlichen bei Reimarus verwurzelt w ä r e « (Harmut Sierig, Die große Veränderung. Reimarus - L e s sing - Goeze. In: Reimarus, Vorrede zur Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Facsimile. S. 12).

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denzen der Epoche zu bemessen. Wer, wie beispielsweise Erich Schmidt, den Ungenannten als »unhistorischen Eiferer« 40 diskreditiert, verkennt nicht nur gründlich die geniale »geschichtliche Intuition« 41 seiner Bibelkritik, sondern er fällt auch, indem er unreflektiert sein eigenes Vorverständnis als »unverrückten Maßstab und Gesichtspunkt seiner Urteile« 42 auf das achtzehnte Jahrhundert überträgt, genau in den Fehler, den schon Kuno Fischer am Induktionsverfahren des Reimarus monierte. Die rationalistische Starrheit, die den Erfahrungsbegriff des Fragmentisten kennzeichnet, darf jedoch nicht vergessen machen, daß der Kanonkritiker die Offenbarungswahrheiten kompromißlos von den Geschichtswahrheiten, die jenen ja nach dem Verständnis der Orthodoxie zugrunde liegen, absondert und den Angriff gegen das geistliche System durchgehend vom Boden geschichtlicher Faktizität aus führt. Aber auch der Gesichtspunkt der Gleichzeitigkeit, ein Vergleich zwischen der >Apologie< und der im Detail differenzierteren, nicht nach dem rationalistischen Entweder - Oder von geschichtlicher Wahrheit oder Pfaffenbetrug verfahrenden historischen Dogmenkritik der Neologen berechtigt den Interpreten nicht dazu, dem Ungenannten jeglichen historischen Sinn abzusprechen und ihn nur noch als mechanischen, überdies in seiner Furcht vor Veröffentlichung seiner Erkenntnisse halbherzigen Rationalisten gelten zu lassen.43 Reimarus vermag zwar den individuellen geschichtlichen Moment noch nicht in seiner Bedeutung zu erfassen, doch auf seine konsequente Reduzierung der Offenbarungswahrheiten auf empirisch-historische Gegebenheiten dürfte zutreffen, was Strauß über die »kräftige Einseitigkeit« des achtzehnten Jahrhunderts schreibt, nämlich daß diese noch »allemal der Charakter geschichtlicher Fortschrittsperioden« 44 ge40 41

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E . Schmidt, Lessing. B d . I I , S. 196. A . Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. S. 25. Reimarus w i r d bei Schweitzer sogar als »Historiker v o n Gottes Gnaden« (S. 2 $ ) gepriesen! K . Fischer, Leibniz. Leben, Werke und Lehre. S. 630. - Fischers Kritik ist zum durchgehenden M o t i v in der Reimarus-Literatur geworden. V g l . Paul Rilla, Lessing und sein Zeitalter. 1 9 7 3 . S. 3 4 1 f f . — F r a n z M e h ring, der ebenfalls die Ängstlichkeit von Reimarus betont, w i r d der historischen Rolle des Fragmentisten gerechter, wenn er aus der Perspektive L e s sings urteilt: Lessing »sah in Reimarus den ganzen A u f k l ä r e r gegenüber den halben A u f k l ä r e r n v o m Schlage der Semler, Teller, N i c o l a i und wie sie sonst hießen« (Die Lessing-Legende. M i t einer Einleitung von Rainer Gruenter. 1 9 7 2 . [Ullstein Buch N r . 2 8 5 4 ] S. 349). D a ß die vernünftige O f f e n barungskritik auch für den Dialektiker »une base sûre et indispensable« d a r stelle und als Gegengewicht gegen den historischen Relativismus fungieren könne, bemerkt im Hinblick auf Hegel P. G r a p p i n (La théologie naturelle de Reimarus. S. 1 8 1 ) . Strauß, Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift. S. 2.

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wesen sei. Angesichts der säkularen Wirkung der >Apologie< muß es deshalb befremden, wenn heute - gar von fachtheologischer Seite — behauptet wird, bei der Publikation der Fragmente seien »Blickpunkt und Methode schon geistesgeschichtlich überholt« 45 gewesen. Der Herausgeber der Fragmente, Lessing, war in diesem Punkte ganz anderer Meinung. Die eine der geschichtlichen Alternativen zum System des Reimarus, nämlich die altlutherische Orthodoxie, verwarf er als »unreines Wasser«;46 in der anderen, der Neologie, die ja die weitere Geschichte der protestantischen Theologie bestimmte, erblickte er nichts als »Mistjauche«. 47 Und Semler, der führende Dogmenkritiker der Zeit, der Reimarus im Namen der wissenschaftlichen Theologie in die Schranken verwies und der in einer abgeschmackten Parodie auf die >Parabel< dem Herausgeber der Fragmente Irrsinn bescheinigte,48 verdiente sich bei Lessing die Ehrentitel »Schubiack«, »Esel« und »impertinente Professorgans«,48 über dessen Geschmiere gar die Arbeit am >Nathan< ins Stocken zu geraten drohte. Für Lessing sind die Fragmente des Reimarus keineswegs erledigt. Seine eigene Konzeption führt ihn zwar über den Fragmentisten wie über dessen theologische Gegner hinaus, indem er beider Grundthese, die sukzessive Degradation der geschichtlichen Substanz, in einer das Selbstverständnis der Theologie sprengenden Entwicklungsidee aufgehen läßt. Voraussetzung ist aber, daß sich die christliche Religion zunächst der von Reimarus ausgelösten theologischen Krise bewußt wird. Diese Bewußtwerdung erhofft er sich von einer bis zur Wurzel des Religionsproblems vorstoßenden Kontroverse zwischen den Bestreitern und den Verteidigern des Christentums: 45 46 47 48

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H. Reventlow, Das Arsenal der Bibelkritik des Reimarus. S. 4$. Brief an Karl Lessing, 2. Februar 1774 ( L M X V I I I , S. 101). Brief an Karl Lessing, 2. Februar 1 7 7 4 ( L M X V I I I , S. 101). Vgl. den anonymen, angeblich von einem verdienten Gelehrten stammenden Anhang >Von dem Zwecke Herrn Leßings und seines Ungenanten. Ein Paar Fragmente eines Ungenanten aus meiner Bibliothek. Herausgegeben von A - ZApologie< des Ungenannten veröffentlicht. Besonders das letzte Fragment >Von dem Zwecke Jesu und seiner JüngerGegensätzen< angedeutete Kritik am methodischen Verfahren und der religionsbestreitenden Intention des Reimarus präzisiert. Bevor jedoch Lessings >sachliche< Position im theologischen Kampf näher betrachtet werden kann, soll die einfache - und vielleicht deshalb meist unterschlagene Frage gestellt werden, welche Absichten Lessing mit der Publikation der Fragmente verfolgte, ferner in welcher Funktion er als Herausgeber wie als Kontrahent der offiziellen Theologie agierte und schließlich in welcher Weise sich der Übergang von dem aufklärerischen Postulat eines freien Vernunftgebrauchs zu der literarisch vermittelten Öffentlichkeit in Lessings Erwiderungen vollzog. Hierbei soll gezeigt werden, daß gerade die Beurteilung des >Theologen< Lessing einem in der Regel nicht ausreichend legitimierten Vorverständnis von Lessings Denken entspringt, das, weil es sich mit theologischen Inhalten befaßt, wie selbstverständlich auch der Theologie zugerechnet wird. Die stillschweigende Voraussetzung, der Herausgeber der Reimarusschen Untersuchungen argumentiere im Fragmentenstreit grundsätzlich auf derselben Ebene wie Reß, Goeze oder Semler, nämlich als Theologe, erscheint im Hinblick auf die real- und ideengeschichtliche Konstellation der siebziger Jahre sowie angesichts der publizistischen Absichten und des Selbstverständnisses des Autors Lessing in einem fragwürdigen Licht. Es ist also notwendig, die Relationen zwischen Lessings >Resultaten< und seinem >Standort< zu bestimmen. 1

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Semler, Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten. Anhang. S. 13.

i. »Geist der Prüfung« contra »praejudicium auctoritatis« Semler, der theologisch bedeutsamste Gegner des Ungenannten und seines Herausgebers, konnte sich in seiner satirisch gemeinten Umformung der >ParabelAbhandlung von freier Untersuchung des Kanon< einen fiktiven Herrn P** mutmaßen, wohl »gar keine Absicht gehabt.« 1 Nicht anders als Goeze vertritt der Mitbegründer der historischen Dogmenkritik aber vorsorglich das Prinzip, Lessing hätte das gefährliche Buch des Reimarus doch »in seinem bestaubten Winkel können ruhen lassen.«8 Die Reaktion Semlers, der ja in einer ausführlichen Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten insbesondere vom Zwecke Jesu und seiner JüngerVorrede Wertheimische BibelEtwas Vorläufiges gegen des Herrn H o f raths Leßings mittelbare und unmittelbare feindselige Angriffe auf unsre allerheiligste Religion, und auf den einigen Lehrgrund derselben, die heilige SchriftAntiGoeze< erwähnt ( L M X I I I , S . 1 4 3 ) und zu dessen Bibelparaphrase der junge Goethe einen satirischen Prolog verfaßte (>Prolog zu den neuesten O f f e n b a h rungen GottesVorerinnerung< präzisiert:

keit erahnen, so kommt Goeze schon gleich zu Beginn seiner Invektive zur Sache, indem er sich auf die Verbindung von Thron und Altar beruft und warnend darauf hinweist, daß »die ganze Glückseligkeit der bürgerlichen Verfassung unmittelbar«' auf der christlichen Religion beruhe. Goezes Fazit: Wer wie Lessing der Welt religionsfeindliche Schriften mitteile, müsse jemand sein, der »den Grundsatz hat: S o b a l d e i n V o l k s i c h e i n i g w i r d , R e p u b l i k s e y n zu w o l l e n , so d a r f e s , folglich die biblischen Aussprüche, auf welchen die Rechte der Obrigkeit beruhen, als Irthümer verwirft.« 10 Die Substanz der Goezeschen Anti-Lessingiana und die Reaktion Lessings, der ja im >Absagungsschreiben< Goezes »pflichtschuldige Pastoralverhetzung der weltlichen Obrigkeit« 11 geißelt, sind nur aus der Verschränkung von geistlichem und weltlichem Despotismus im achtzehnten Jahrhundert zu begreifen, wofür gerade die Streitschriften des Hamburger Pastors die offenkundigsten und krassesten Exempel liefern. Mangelnde Bereitschaft, wohl auch Fähigkeit, sich mit den Gedanken des Ungenannten und seines Herausgebers sine ira et studio auseinanderzusetzen — in den Streitschriften ist nur vom angeblichen Hohn auf die Religion, vom »unbesonnenen Druck der lästernden Fragmente«, 12 von »Scheingründen« und dem »bittern aber kraftlosen Spot« 13 Lessings die Rede - wird kompensiert durch Anbiederung beim Hause Braunschweig14 und die peinliche Drohung mit einem Einspruch des Reichshofrats, dessen soeben erfolgtes Konklusum gegen Carl Friedrich Bahrdts Bibelparaphrase Goeze triumphierend kommentiert, nicht ohne auch Lessing gemeinsam mit dem Wertheimischen Schmidt und dem Neologen Semler (!) der gefährlichen Gruppe » D u r c h seine m i t t e l b a r e n A n g r i f f e auf unsre Religion und auf die heilige Schrift, verstehe ich den von ihm veranstalteten D r u c k der F r a g mente, und die von ihm übernommene A d v o c a t u r des Verfassers derselben. . . . D u r c h seine u n m i t t e l b a r e A n g r i f f e auf unsre Religion, verstehe ich, seine, den Fragmenten entgegengesetzten Scheingründe, welche mehr den Z w e c k haben, dieselbe zu untergraben, zu stürzen, wenigstens sie lächerlich zu machen, als sie zu vertheidigen . . . « (S. 3 f.). 9 10 11 12

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Goeze, E t w a s Vorläufiges. In: Goezes Streitschriften gegen Lessing. S. 2 4 . Goeze, E t w a s Vorläufiges. In: Goezes Streitschriften gegen Lessing. S. 24. D a s Absagungsschreiben ( L M X I I I , S. 1 0 2 ) . Goeze, E t w a s Vorläufiges. >VorerinnerungVorerinnerungVorerinnerungAnti-Goeze< ( L M X I I I , S . 1 5 6 f.) und den N a c h k l a n g in >Noch nähere Berichtigung des M ä h r chens von 1000 Dukaten oder Judas Ischarioth, dem zweyten< ( L M X I I I , S. 3 8 2 f.).

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der Bibelstürmer zuzurechnen." Mit Erschrecken erblickt Goeze überall aufkeimenden »Brutussinn«, 19 sei es in der Literatur, in der Kirche oder im Staat. Die subversiven Gesinnungen des Jahrhunderts, die er auch bei Lessing zu erkennen glaubt, sind ihm beispielsweise in >Etwas Vorläufiges< einen besonderen, als Anmerkung nachgetragenen Exkurs über den Samen der Rebellion und die republikanischen Tendenzen seiner Zeitgenossen wert. Doch obgleich der »Brutussinn« im Laufe der Geschichte immer wieder aufflackerte -

in Deutschland zuletzt bei den Wieder-

täufern zu Münster - , sieht Goeze für die »gegenwärtige Einrichtung unsers Militair-Etats und der Kriegszucht« 1 7 keine Gefahr: Unsre Monarchen sind Gottlob sicher, daß ihre Garden die Wege nie betreten werden, auf welchen ehemals die prätorianische Leibwache die souveraine Macht an sich gerissen hatte, und, nach ihrem Wohlgefallen Kaysern den Hals brach, und andre auf den Thron setzte; allein woher entspringt ihre Sicherheit und die Treue, welche sie von ihren Kriegern erwarten, und wirklich bey ihnen finden? daher, weil solche Christen sind. Sind sie es gleich nicht alle im schärfsten Verstände; so sind doch die Grundgesetze der christlichen Religion von dem Rechte der Obrigkeit, und von der Pflicht der Unterthanen, zu tief in ihre Herzen geprägt, als daß es ihnen so leicht, als den Heyden, werden solte, solche daraus zu vertilgen. 18 15

Vgl. Goeze, Etwas Vorläufiges. In: Goezes Streitschriften gegen Lessing. S. 24, S. 70 f f . und erster >Anti-Goeze< (LM X I I I , S. 142 f f . ) sowie >Vorrede des Herausgebers« zu >Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger< (LM X I I I , S. 220). - Der unrühmliche Kommentar zu dem Konklusum gegen Bahrdt erschien am 27. 10. 1778 im 97. Stück der >Freywilligen Beyträge zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit«: Goeze dankt Gott und seinem Kaiser für die Bewahrung der heiligen Schrift, verdammt Bahrdt und Semler und schließt: »Und der Herr Leßing wird anfangen zu glauben, daß es keine Kleinigkeit sey, Fragmente drucken zu lassen, in welchen die heil. Apostel, welche die römische und protestantische Kirche, bis hieher mit dem höchsten Rechte, als von Gott erleuchtete und getriebene Männer Gottes verehret haben, als die ärgsten Bösewichter, Leichenräuber, und Lügner gelästert werden. Wird er diese Reichshofraths-Conclusa, auch als die vorigen gegen den Wertheimischen Bibelverdreher, aus einer w i l d e n Orthodoxie herleiten? Und wie wird denen zu Muthe werden, welche schon angefangen haben, die Grundsäulen und Grundsätze der politischen Verfassung mit eben solcher Dollkühnheit anzugreifen, als andre, die Grundsäulen und Grundsätze der kirchlichen?« (Goezes Streitschriften gegen Lessing. S. 194).

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Goeze, Etwas Vorläufiges und Verriß von C. F. Cramers anonymer Lobschrift >Klopstock. In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa« im 66. Stück der >Freywilligen Beyträge«. In: Goezes Streitschriften gegen Lessing. S. 24, S. 70 f f . und S. 190 ff. Goeze, Etwas Vorläufiges. >Anmerkung«. In: Goezes Streitschriften gegen Lessing. S. 70. Goeze, Etwas Vorläufiges. >Anmerkung«. In: Goezes Streitschriften gegen Lessing. S. 70 f. - Dem Fragmentenstreit eignet also - was H . Timm nicht

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Goeze entwirft hier das Zerrbild einer Theologie, deren striktes, letztlich auf Luther zurückgehendes Obrigkeitsdenken die Selbstentfremdung des zum Zuchtmittel gewordenen reichs- und landeskirchlichen Protestantismus deutlich macht und die wegen ihrer politischen Willfährigkeit dann vor allem der Religionskritik des neunzehnten Jahrhunderts, das die politisch-sozialen Aspekte des geistlichen Despotismus schärfer zu erkennen vermochte, ihre Argumente an die Hand gab. Daß das theokratische Prinzip auch im nichttheologischen Denken der Epoche fest verankert war, zeigt ein Blick auf Goezes Zeitgenossen: Wieland etwa, der Goezes Polemik gegen Bahrdts Bibelübersetzung unter Anspielung auf den weisen Danischmend als »B o n z e n g i f t« 19 abtut, beruft sich doch in einer 1777 im >Teutschen Merkur< erschienenen Erwiderung auf den republikanisch gesinnten Dohm auf das göttliche Recht der Obrigkeit, das ihm freilich paradoxerweise mit dem Recht des Stärkeren zusammenfällt. Nach merkwürdig widersprüchlicher und disparater Argumentation gelangt der Verfasser des >Goldnen Spiegels< zu dem machiavelIistisch anmutenden Schluß, » d a s R e c h t d e s S t ä r k e r n sey Jure Diuino die wahre Quelle aller obrigkeitlichen Gewalt« 20 - eine Sentenz, die, wie Jacobi mit Grund monierte, keineswegs als unwandelbares Naturgesetz, eher als Sophisma und Verkehrung spinozistischer Ideen angesehen werden müsse.21 Angesichts des Wielandschen Quodlibets, das mit dem Versuch einer Harmonisierung von paulinischem Obrigkeitsgehorsam und englisch-republikanischem Staatsdenken endet,22 fiel es J a -

"

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erkennt (vgl. Gott und die Freiheit I, S. 2 7 ) - sehr wohl ein eminent politischer A s p e k t ! V g l . dazu auch das - freilich sehr allgemein gehaltene Kapitel >Die Goeze-Lessing-Kontroverse ( i 7 7 7 - i 7 8 o ) < bei K l a u s Epstein, D i e Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. A u s dem Englischen v o n Johann Zischler. 1 9 7 3 . S. 1 5 5 - 1 6 9 . C h r . M . Wieland, Anzeige v o n : J . M . G ö t z e , Beweis, daß die Bahrdtische Verdeutschung des neuen Testaments keine Obersetzung sey. In: Wielands Gesammelten Schriften. H g . v o n der Deutschen Kommission der Preußischen A k a d e m i e der Wissenschaften. 1 9 0 9 f f . I. A b t . , Bd. 2 1 , S. 108. Wieland, Über das göttliche Recht der Obrigkeit. In: Wielands Gesammelten Schriften. I. Abt., B d . 2 1 , S. 3 6 2 f. V g l . Fr. H . Jacobi, Ueber Recht und G e w a l t , oder philosophische E r w ä g u n g eines Aufsatzes von dem Herrn H o f r a t h Wieland, über das göttliche Recht der Obrigkeit, 1 7 8 1 . I n : Friedrich Heinrich Jacobi, Werke. 6 Bde. H g . von Friedrich R o t h und Friedrich Koppen. 1 9 6 8 . [Reprografischer N a c h d r u c k der Ausgabe Leipzig 1 8 1 2 f f . ] B d . V I , S. 4 1 9 - 4 6 4 . V g l . Wielands Gesammelte Schriften. I. A b t . , B d . 2 1 , S. 3 7 0 . - Wieland w a r v o n D r o h m ausdrücklich als Verfasser des >Goldnen Spiegels< um eine E r l ä u terung des Obrigkeitsproblems gebeten worden (vgl. Bd. 2 1 , S. 3 5 9 ) . So trägt auch der A u f s a t z die Z ü g e jener »grotesken Kompromißhaftigkeit«, die

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cobi nicht schwer, seinerseits auf das Recht und die Würde der menschlichen Vernunft zu pochen! 23 Dem gelästerten Reimarus ist jedenfalls zuzustimmen, wenn er in dem Fragment >Von Duldung der Deisten< die fatale Allianz von Thron und Altar beklagt, 24 und es muß als Ironie der Geschichte erscheinen, daß Goeze mit obrigkeitlichen Schritten ausgerechnet einem Manne droht, der dem Plädoyer des Fragmentisten für die vernünftige Religion mit dem Hinweis entgegengetreten war, die V e r nunft - in Gestalt der Neologie - herrsche jetzt doch überall und habe immerhin »das Gute hervorgebracht, daß neurer Zeit, wenigstens in dem protestantischen Deutschlande, alle bürgerliche Verfolgung gegen Schriften und Schriftsteller unterblieben ist.« 25 Lessings Optimismus

wurde

nicht nur durch das Reichshofratskonklusum gegen Bahrdt, sondern auch durch Goezes politische Denunziation seiner editorischen Tätigkeit sowie die Konfiskation des ärgerlichen Reimarus-Manuskripts durch die Braunschweiger Zensurbehörde widerlegt. Die Erfahrung dieser klerikalen Intoleranz hat die Konzeption des goezischen Patriarchen im >Nathan< bestimmt: Ich geh sogleich zum Sultan. — Saladin, Vermöge der Capitulation, Die er beschworen, muß uns, muß uns schützen; Bey allen Rechten, allen Lehren schützen, Die wir zu unsrer allerheiligsten Religion nur immer rechnen dürfen! Gottlob! wir haben das Original. Wir haben seine Hand, sein Siegel. Wir! Auch mach' ich ihm gar leicht begreiflich, wie Gefährlich selber für den Staat es ist, Nichts glauben! Alle bürgerliche Bande

23 24

25

48

Friedrich Sengle (Wieland. 1949. S. 260) in Wielands Staatsroman konstatierte. Vgl. Jacobi, Werke. Bd. VI, S. 436, S. 439 f f . Vgl. L M X I I , S. 257. - Daß der kirchlich-protestantische Glaube im 18. Jahrhundert nicht schlechthin mit dem Subordinationsprinzip verbündet war, zeigt etwa der bekannte Kanzelredner und Bremer Beiträger Johann Andreas Cramer. In dem Lied >In deiner Stärke freue sich Der König allez e i t ergeht an den Herrscher folgende Aufforderung: »Er hasse den Gewissenszwang Als schnöde Tyrannei Und fördre nicht durch Straf' und Drang Der Bürger Heuchelei!« (Zit. nach: Albert Knapps Evangelischer Liederschatz für Kirche, Schule und Haus. Eine Sammlung geistlicher Lieder aus allen christlichen Jahrhunderten. Vierte Ausgabe von Joseph Knapp. 1891. Nr. 2721). Nachtrag Lessings zum Fragment >Von Duldung der Deisten< (LM X I I , S. 270).

Sind aufgelöset, sind zerrissen, wenn Der Mensch nichts glauben darf. - 2 6 Forscht man also bei Goeze nach den Rechtfertigungsgründen, von welchen seine Verteidigung des biblischen Christentums und des lutherischen Bekenntnisses getragen wird, dann stößt man - und darin besteht vor allem für den heutigen Leser der Goezeschen Streitschriften der neuralgische Punkt seiner apologetischen Bemühungen — auf das bewußt oder unbewußt eingesetzte Argument der Autorität, das seinem theologischen Ursprungsbereich, nämlich dem in der Bibel niedergelegten Wort Gottes, entfremdet ist und nur noch vom Herrschaftsanspruch des absolutistischen Staates her verstanden werden kann. Goeze, der ja nicht nur gegen Lessing zu Felde zog, sondern sich in nicht abreißende literarische und theologische Fehden gegen Johann Ludwig Schlosser, gegen Basedow, Bahrdt, Alberti oder Semler verstrickte, 27 erweist sich als Anhänger eines rigorosen Subordinationsprinzips und als konsequenter Vertreter des ancien regime, dessen Legitimität nach orthodoxem Verständnis fest in den »Grundgesetzen der christlichen Religion von dem Rechte der Obrigkeit, und von der Pflicht der Unterthanen« verankert ist. W o immer, ob im neunzehnten Jahrhundert oder in jüngster Zeit, der Versuch unternommen wird, Goeze gegenüber Lessing zu rechtfertigen und zu 20

27

L M III, S. I i 8 . - Die Kritik an der protestantischen Kirche, die im Dienst der Obrigkeit zum Instrument sozialer Unterdrückung herabgesunken ist, verbindet Lessings Streitführung mit der Revolte des >Sturm und DrangDer Hofmeisters einem der eindrucksvollsten Zeugnisse der verkehrten deutschen Welt der siebziger Jahre, den kauzigen Schulmeister und Prediger Wenzeslaus gegen Läuffers Unglauben folgendermaßen anreden: »Nehmt dem Pöbel seinen Aberglauben, er wird freigeistern wie Ihr und Euch vor den Kopf schlagen. Nehmt dem Bauer seinen Teufel, und er wird ein Teufel gegen seine Herrschaft werden und ihr beweisen, daß es welche gibt« (J. M. R. Lenz, Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Eine Komödie. Mit einem Nachwort von K a r l S. Guthke. 1968. [Reclam Universal-Bibliothek Nr. 1376] S. 76). Goezes >Theologische Untersuchung der Sittlichkeit der heutigen SchaubühneGötzens erbaulichen Betrachtungen über das Leben Jesu auf Erden< den Zorn des Pastors erregt hatte (Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772. In: Deutsche Litteraturdenkmale des 18. Jahrhunderts. In Neudrucken hg. von Bernhard Seuffert. Bd. 7/8. 1883. S. X I X ff.).

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>rettenParabelAxiomataAnti-GoezeLaie< und >Theolog< als Zentralproblem der Aufklärung unablässig reflektiert wird. 45 Indem Lazarowicz den Gegensatz von Autorität und Selbstdenken von seinem realen geschichtlichen Zusammenhang loslöst,

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erste, der die Päbstchen wieder mit dem Pabste vertauscht« (Anti-Goeze. Erster - L M X I I I , S. 1 4 4 ) . K . L a z a r o w i c z , Verkehrte Welt. S. 1 3 5 f. — L a z a r o w i c z nimmt hier das Bild für die Sache. G e w i ß bekämpfte Goeze - wie Röpe formuliert - die P a pisten »im treuen Festhalten an dem W o r t e Gottes, durch welches Luther Papst und P f a f f e n überwunden hatte« (Johan Melchior Goeze. S. 9 1 ) . A b e r seinen Zeitgenossen galt Goeze schon lange v o r Lessings Vergleich als »Papst Hammoniens« (Klamer Schmidt), wie auch Göckingks »Grabschrift auf den Orthodoxen< bezeugt, gegen die sich G o e z e im 7 2 . Stück des Altonaer >Reichs-Postreuters< wendet (Goezes Streitschriften gegen Lessing. S . 206 f f . ) . K . L a z a r o w i c z , Verkehrte Welt. S. 1 3 6 . — Dies w a r im übrigen schon das apologetische A r g u m e n t Röpes (vgl. A n m . 30). V g l . dazu die beiden folgenden Kapitel.

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liefert er genau jene Goeze->RettungVernunft und OffenbarungRede über Lessing< bestimmt: so war Mann der Meinung, daß der >Anti-Goeze< höchstwahrscheinlich Lessings »schönste Dichtung« darstelle und daß »das Theologische darin nur als Vordergrund und Vorwand für allgemein Geistig-Sittliches« 59 gesehen werden dürfe. Durch die an Kierkegaard orientierte theologische Blickrichtung erfährt der Gegensatz zwischen Lessing und Goeze eine neue Wertung. Wurden in den meisten Darstellungen der Kontroverse Licht und Schatten je nach Interesse auf die eine oder andere Seite verteilt, so erscheinen Lessing und Goeze bei Thielicke nun als historisch gleichwertige, gleichermaßen der Wahrheit verpflichtete Geister, deren relative Gegensätzlichkeit erst bei Kierkegaard »in Gestalt einer höheren Synthese aufgehoben«60 sei. Lessing und Goeze verkörpern Momente der (christlich verstandenen) Wahrheit, deren geschichtlich überholte Tendenz in den Extremen orthodoxer Verkrampfung und »säkularistischer Emanzipation« 61 hervortrete. Lessing wird zwar in seinem Bemühen um »intellektuelle Rechenschaftsablage« 62 über die Unbedingtheit des christlichen Glaubens gewürdigt, doch Thielicke, der »in ein echtes Dialegesthai mit Lessing kommen«63 möchte und dessen ungeachtet die Theologie des achtzehnten Jahrhunderts nach den Erkenntnissen der dialektischen Theologie bemißt, muß freilich als Unwahres in Lessings Denken verwerfen, was, geschichtlich gesprochen, auf die Vermittlung von aufklärerischem Subjektverständnis und theologischem Wahrheitsbewußtsein hinausläuft. So wird Lessing zugestanden, daß er den Autoritätsanspruch der geschichtlichen (christlichen) Tradition »in einer sehr existenziellen Weise«64 als Problem erfahren habe, aber zugleich hält Thielicke Goezes Befürchtung, Lessings »sich selbst behauptende Subjektivität« könne die christliche

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60 61 62 63 64

T h . Mann, Rede über Lessing. I n : T h . Mann, Gesammelte W e r k e in zwölf Bänden. S. Fischer Verlag i 9 6 0 . Bd. I X , S. 2 4 1 . - V g l . dazu die Beurteilung des >Anti-Goeze< in Friedrich Schlegels Essay >Über Lessing< ( 1 7 9 7 ) : laut Schlegel ist Lessings Polemik so vergessen, »daß es vielleicht für viele, welche Verehrer Lessings zu sein glauben, ein P a r a d o x o n sein würde, wenn man behauptete, der A N T I - G Ö T Z E verdiene nicht etwa bloß in Rücksicht auf zermalmende K r a f t der Beredsamkeit, überraschende Gewandtheit und glänzenden Ausdruck, sondern an Genialität, Philosophie, selbst an poetischem Geiste und sittlicher Erhabenheit einzelner Stellen, unter allen seinen Schriften den ersten R a n g « (S. 1 0 6 ) . H . Thielicke, Lessing und Goeze. S . j 1. H . Thielicke, Lessing und Goeze. S. 40. H . Thielicke, Lessing und Goeze. S. 39. H . Thielicke, Lessing und Goeze. S. 4 1 . H . Thielicke, Lessing und Goeze. S . 4 3 .

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Wahrheit »heteronomisieren«,65 für gerechtfertigt. »Hier«, so lesen wir in dem Aufsatz >Lessing und GoezeGegensätzeChrist< — >Theolog< und >frommer Christ< - »aufgeklärter Christ< nicht mehr, um nochmals Claudius zu zitieren, für die »gewöhnlichen Bänke« 87 paßt, also weder der Bank der Berliner Philosophen noch derjenigen der Orthodoxen oder Neologen zuzurechnen ist. Die Fronten in dem durch die Herausgabe der Fragmente entfachten Streit sind hingegen, wenigstens was die Forderung der Freiheit der Forschung und des Urteils betrifft, klar gezogen: bei aller Abneigung gegen die neuen Theologen — »Halbphilosophen« nennt sie Lessing in dem bekannten Brief an seinen Bruder Karl vom 2. Februar 1774 88 - war sich der Herausgeber der Fragmente bewußt, daß die heftigste Reaktion gegen die offenbarungskritischen Thesen des Ungenannten und gegen seine eigenen >Gegensätze< von der Seite der Orthodoxie ausgehen würde. Sah sich Lessing noch bei Veröffentlichung des Deisten-Fragments dazu bewogen, wie zuvor bei seinen Leibniz-Kommentaren des Jahres 1773 im Namen einer methodischen Scheidung von Vernunft und Glauben Kritik an den halbschlächtigen Neologen und der illegitimen Rationalisierung

86

87

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M . Claudius, >Nachricht v o n meiner A u d i e n z beim Kaiser von JapanNachricht v o n meiner A u d i e n z beim Kaiser von Japanökonomie< der frommen Väter, d. h. den von ihnen angenommenen taktisch-kasuistischen Wahrheitsbegriff, in Goezes Augen zu entschärfen sucht. 121

122 123 124

7*

V g l . A n t i - G o e z e . Sechster ( L M X I I I , S. 1 7 5 ) . - D a s A r z t - Z i t a t ist der >Apologia adversus libros RufiniAnti-Goeze< ( L M X I I I , S. 1 4 2 ) und in der >Bitte< ( L M X I I I , S. 96) sowie die entsprechenden Ausführungen bei Jürgen Schröder (Gotthold Ephraim Lessing. Sprache und D r a m a . 1 9 7 2 . S . 44 ff.). A n t i - G o e z e . Sechster ( L M X I I I , S. 1 7 5 ) . A n t i - G o e z e . E i l f t e r ( L M X I I I , S. 209). A n t i - G o e z e . F ü n f t e r ( L M X I I I , S. 1 6 7 ) . - V g l . Augustinus, Epistola ad Dioscorum, I I , 1 2 (Patrologiae Cursus Completus. Series Prima. Tomus X X X I I I . 1845. S. 437).

Goezes monolithisches, autoritätsgebundenes Traditionsverständnis wird angesichts der patrologischen Evolutionen Lessings, die die V o r würfe des Hauptpastors auf die Kirchenväter zurückfallen lassen, ad absurdum geführt: Lessing schlägt Goeze mit dessen eigenen W a f f e n ; dem buchstabengläubigen »überspannten Lutheraner« 1 2 5 gegenüber bedient er sich freilich, wenn er Tradition mit deren Kanonisierung konfrontiert, gleichfalls einer >falsitas dispensativaAnti-Goeze< von seiner Kritik, v o m »Geist der Prüfung«, nicht zu trennen. Sowohl Herder als auch Friedrich Schlegel, wohl die kompetentesten Lessinginterpreten der nachfolgenden Generation, haben dies erkannt. In seinem Nachruf auf den am 1 5 . Februar 1 7 8 1 in Braunschweig Verstorbenen rechtfertigt der fünfzehn Jahre jüngere Herder die Herausgabe der Wolfenbütteler Fragmente in der Überzeugung, daß Lessing »auch die Ausgabe dieser Stücke a l l e i n und e i g e n t l i c h z u m B e s t e n d e r W a h r h e i t , zu einer freiem und männlichen Untersuchung, P r ü f u n g und B e v e s t i g u n g d e r s e l b e n v o n a l l e n Seiten, veranstaltet habe.« 129 Als »Laye« ließ sich Lessing von einer philosophi125

120 127

128 129

N o c h nähere Berichtigung des Mährchens von 1000 Dukaten ( L M X I I I , S. 383). V g l . Anti-Goeze. F ü n f t e r ( L M X I I I , S. 1 7 1 ) . Lessing schreibt im zweiten >Anti-GoezeLeßings Tod< v o m M ä r z 1 7 8 1 , in der es heißt: »Das ist nun der vierte große Verlust, den das gelehrte Deutschland im L a u f von drei Jahren erlitten hat, und mir, ich gestehe es, der empfindlichste. H a l l e r - L a m b e r t - S u l z e r - nun auch L e ß i n g ! Dieser letzte Schlag hat mich betäubt; aber mit jedem T a g e fühl ichs schmerzlicher, w a s w i r an diesem seltnen Manne verlohren haben« ( X V , S. 3 3 ) . - Z u Herders Lessing-Bild vgl. auch die Ausführungen in: Lessing: Epoche - W e r k — Wirkung. V o n W i l f r i e d Barner u. a. 1 9 7 5 . (Beck'sche Elementarbücher - Arbeitsbücher f ü r den literaturgeschichtlichen U n t e r richt. H g . von W . Barner und G . Grimm) S. 3 3 8 f f . , w o m. E . der historischideologische Gegensatz zwischen Herder und Lessing zu sehr forciert ist das H e r d e r - Z i t a t S . 3 3 9 jedenfalls stützt kaum die These v o m theologischabsoluten Wahrheitsbegriff des Autors. 132 Fr. Schlegel, Ü b e r Lessing (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. 1. A b t . , II. Bd., S. 100). - Die Absicht, »Lessings Geist im ganzen zu charakterisieren«, bestimmt auch noch die Anthologie >Lessings Geist aus seinen Schriften,

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beabsichtigt in dem Lyceums-Aufsatz >Über Lessing< vom Jahre 1797, das zum wohlfeilen Klischee erstarrte Lessing-Bild kritisch mit seinem Original zu vergleichen und dadurch den verehrten Mann vor seinen platten Nacheiferern zu schützen. Er verfolgt damit, wie er in einem Nachtrag zu dem Aufsatz bekennt, ein durchaus subjektives Interesse, das aus dem Vorhaben, die eigene dichtungstheoretische Position in der Auseinandersetzung mit dem repräsentativen Autor zu klären, resultieren mag. Was ihn an Lessing fesselt, ist — so die Formulierung im Abschluß des Lessing-Aufsatzes - die Lessing eigentümliche » M i s c h u n g v o n L i t e r a t u r , P o l e m i k , W i t z u n d P h i l o s o p h i e « , 1 3 3 die Schlegel wiederum - auch hier der subjektive Impuls - zu einer allegorisch >Eisenfeile< benannten Anthologie eigener Gedanken, einer Skizze fragmentarischer Universalität inspiriert.134 Daß Lessing dennoch nicht für den romantischen Dichtungsbegriff in Anspruch genommen werden kann, liegt an seinem angeblich mangelnden historischen Sinn, seinem letztlich algebraisch-prosaischen Kunstverstand, der sich zu wahrem poetischem Instinkt nur im >Nathan< läutere. Gelangt Schlegel in seinem Lessing-Aufsatz so zu der höchst anfechtbaren Sentenz: » E r s e l b s t w a r m e h r w e r t , a l s a l l e s e i n e T a l e n t e « , 1 ' 5 die alles Gewicht auf die genialische Individualität des Fragmentisten und interessanten Redners legt, dann öffnet ihm doch gerade die Kritik an Lessings Poesiebegriff die Augen für den hohen Rang der Anti-Goeze-Polemik, die alle vordergründige Höflichkeit und Dezenz hinter sich läßt und die eine »zermalmende K r a f t der Beredsamkeit« mit »poetischem Geiste und sittlicher Erhabenheit« 136 verbindet. Das bedeutendste Zeugnis für Schlegels Beschäftigung mit Lessing stellt dann eine 1804 veröffentlichte Anthologie dar, die unter dem Titel >Lessings Geist aus seinen Schriften, oder dessen Gedanken und Meinungen zusammengestellt und erläutert von Friedrich Schlegel< eine umfangreiche Auswahl von Schriften, Briefen und Dichtungen mit Einleitungen

oder dessen Gedanken und Meinungen zusammengestellt und erläutert von Friedrich Schlegels Leipzig 1804. Die Anthologie w i r d in der zweiten, unveränderten A u f l a g e zitiert nach: Friedrich Schlegel, Kritische Schriften. H g . v o n Wolfdietrich Rasch. 3. A u f l . 1 9 7 1 (das Zitat S. 4 2 1 ) . 135 134 135 13>

Fr. Schlegel, [Abschluß des Lessing-Aufsatzes] ( 1 . Abt., I I . Bd., S. 398). V g l . Fr. Schlegel, S. 3 9 9 f f . F r . Schlegel, Über Lessing. S. 1 1 2 . F r . Schlegel, Über Lessing. S. 106. - Z u Schlegels L y c e u m s - A u f s a t z wie zu seiner Lessing-Anthologie vgl. auch G . G r i m m in: Lessing: Epoche - W e r k - W i r k u n g , S. 3 4 2 f f .

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und Zusätzen des Herausgebers vereint.137 Schlegel knüpft hier, wie einzelne Formulierungen und die Übernahme eines auf die >Erziehung des Menschengeschlechts< gemünzten Sonetts aus dem Zusatz zum LyceumsAufsatz >Über Lessing< zeigen,138 an seine früheren Lessingiana an, deren Hauptgedanken auch den interpretatorischen Skizzen der dreiteiligen Anthologie zugrunde liegen. Lessings wahre Tendenz, so Schlegel, richtet sich nicht auf die Poesie, sondern auf die Philosophie. Unter dem philosophischen Geist versteht Schlegel dabei die ungehinderte, freimütige Untersuchung, die Kühnheit des Forschers, kurz, jenen »Geist des Selbstdenkens«,138 den Lessings Schriften in eminenter Weise zu erregen vermögen. Das freie, dialektischdialogische Denken hilft der methodischen Philosophie auf den Sprung, spürt auf, reizt. Damit ist Lessings Philosophie aber wesentlich Kritik, denn Kritik — dies die Definition Schlegels in der allgemeinen Einleitung >Vom Wesen der Kritik< - bedeutet »Prüfung, freimütige und sorgfältige Prüfung der Meinungen andrer, Widerlegung manches gemeingeltenden Vorurteils, . . .«14° Kritik, die sich gegen Vorurteile, Irrtümer und Hirngespinste wendet, ist ihrerseits zugleich mit der Gattung der Polemik verwandt, ja kann gänzlich in diese übergehen. Aus dem Gedanken eines Übergangs von Kritik in Polemik, der bereits in der allgemeinen Einleitung anklingt, entwickelt nun Schlegel in den Stücken >Vom kombinatorischen Geist< und >Vom Charakter des Protestanten< eine Theorie der Polemik, in welcher das Wesen von Lessings polemischem Geist mit einer geschichtsphilosophisch begründeten Konzeption der neuzeitlichen Polemik vermittelt wird. Da, anders als bei den Griechen, in der Gegenwart Kritik und Literatur zugleich entstehen, die Stelle, die die klassische Literatur in der Antike innehatte, aber bei den Deutschen noch von einer geistlosen Pseudoliteratur eingenommen wird, hat die Polemik als Kunst, »das böse Prinzip der Gemeinheit und Unwissenheit bis in ihre höchsten 137

Die zweite A u f l a g e erschien 1 8 1 0 . - In unserem Zusammenhang sind besonders wichtig die Stücke >An FichteVom Wesen der KritikVom kombinatorischen Geist< und >Vom Charakter des Protestanten«.

138

Es handelt sich um das Sonett »Wenn kalte Z w e i f l e r selbst prophetisch sprechen«, das unter dem Titel >Lessings W o r t e / i 8 o i < in die Gedichtsammlungen von 1809, 1 8 1 6 und 1 8 2 3 übernommen wurde.

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Fr. Schlegel, >An FichteVom kombinatorischen Geist< und >Vom Charakter des Protestanten« wieder aufgenommen (S. 4 2 3 , S. 430).

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Fr. Schlegel, >Vom Wesen der KritikAnti-Goeze< einzugehen, zeichnet der wohl bedeutendste Theoretiker der Romantik in dem Abriß >Vom Charakter des Protestanten« ein Bild des Protestanten Lessing, das - bei aller romantischen Vereinseitigung — gerade dem dort praktizierten Grundsatz des >sapere audeVom kombinatorischen Geist«. S . 424 f. F r . Schlegel, >Vom Charakter des Protestanten«. S. 4 2 9 . F r . Schlegel, >Vom Charakter des Protestanten«. S . 430. - Bemerkenswert ist, daß Schlegel noch in den Vorlesungen zur »Geschichte der alten und neuen Literatur« ( 1 8 1 2 ) Lessings eigentlichen Beruf in der philosophischen Erforschung der Wahrheit, in der protestantischen Freiheit des Denkens erblickt. Aber die Bewertung des Freiheits-Prinzips hat sich geändert. Für den Konvertiten Schlegel mündet das Selbstdenken des Protestanten in »Selbstdenkerei«, in eine negativ-zersetzende A u f k l ä r u n g . Lessings Kühnheit w i r d nun darin gesehen, zur ältesten Philosophie und zur kirchlichen Glaubensregel zurückgefunden zu haben (vgl. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. 1. A b t . , V I . Bd., S. 3 8 6 f f . ) . D i e Forschungsbeiträge zu Lessings Sprache, Stil und publizistischer Technik bestätigen weitgehend die hier vorgetragenen Thesen. S o qualifiziert W a l t e r Jens Lessings Rede als »aufklärerisch-pädagogisch«, als »bürgerlich-demokratisch« und »natürlich« im Gegensatz zur dogmatisch-akademischen Suada des »So und nicht anders«. Lessings Rhetorik soll »den Zuhörer zwingen, Möglichkeiten durchzuspielen, die der Wirklichkeit den Autoritätsanspruch nehmen« (Feldzüge eines Redners: Gotthold Ephraim Lessing. I n : V o n deut-

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ist aber auch ein Exempel dafür, wie der ursprünglich reformatorische Impuls des Protestantismus vor einer neuen Überlieferungsabhängigkeit bewahrt bleibt und die »alten Maximen der Freiheit« nicht unter das Joch des Buchstabens gezwungen werden können. N u r im Blick auf die Prinzipien des >sola scriptura< und des >sola fideParabel< zu unterscheiden z w i schen Geist und Buchstaben, dem Luther der Lutheraner und dem großen, verkannten Mann. Die »Wißbegierde« ist für Lessing nicht - wie für den Teufel des >Faustsachlichen< Ertrag solchen Denkens vernachlässigt. Doch dort, wo man nicht nach biederer Röpescher Manier Lessings Heterodoxie mit einer autoritativen System-Theologie in Einklang bringen und das Unzeitgemäße wieder einebnen will, sondern — immer noch theologischem Interesse folgend - in Abwendung von >Weltgeschichtlichem< und >Systematischem< nach dem Beispiel Kierkegaards sich dem subjektiven existierenden Denker in religiöser Hinsicht zu nähern trachtet oder aber sich von dem Aspekt religionskritischer, >logischer< Wahrheitssuche leiten läßt, ist die Frage nach Lessings subjektiver Intention, seinem die kritische Handlung organisierenden Selbst- und Methodenbewußtsein als wesentliches Verstehensmoment zu berücksichtigen. Die Verkoppelung von Selbst- und Methodenbewußtsein soll exemplarisch an Lessings Selbstaussagen über sein theologisches Interesse sowie an dem markanten, in Abwehr des orthodoxen Lehrbegriffs formulierten programmatischen Wahrheitsdiktum aus der >Duplik< verdeutlicht werden. Ein Verfahren, 1

Reimarus, A P O L O G I E oder Schutzschrift. Bd. I. >VorberichtAnti-Goeze< zum beziehungslosen Nebeneinander verschiedener Bedeutungsebenen verflacht; desgleichen verkennt der Referent, da für ihn Theologie und Religionsphilosophie augenscheinlich zusammenfallen, die mögliche religionsphilosophische Auflösung genuin theologischen Wissens, wie sie für die Anti-Goeze-Schriften behauptet worden ist; schließlich widerspricht eine solche Schlußfolgerung auch dem — von Guthke selbst erwähnten - Prinzipien-Be2 3

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K. S. Guthke, Der Stand der Lessing-Forschung. S. 88. K. S. Guthke, Der Stand der Lessing-Forschung. S. 90 f.

kenntnis Lessings, er sei »Liebhaber der Theologie, und nicht Theolog«, ein situationsbestimmendes Diktum, mit dem er seine Distanz zur institutionalisierten und behördlich verankerten Theologie seiner Zeit zum Ausdruck bringt. Die dem Appell des Selbstdenkens verpflichtete Unterscheidung »Liebhaber der Theologie« »Theolog« entstammt der Einleitung zu den >AxiomataAxiomata< die Unterscheidung von Bibel und Religion, Buchstaben und Geist in Thesenform explizieren und die desultorische Darstellung der >Gegensätze des Hera u s g e b e r ihrer logischen Folge gemäß erläutern — sowie die Verknüpfung von individuellen mit epochentypischen Vorstellungen in diesem Passus, so wird man die Distinktion »Liebhaber der Theologie« - »Theolog« nicht nur autorpsychologisch, als Hinweis auf die experimentelle Offenheit des Lessingschen Denkens, als Bescheidenheitstopos oder als ironische, den Umfang seines theologischen Wissens grotesk verkleinernde Vexierformel verstehen dürfen. 5 Der methodologische Sinn des Abschnitts liegt vielmehr in dem abwehrenden Gestus, mit dem Lessing sich gegen die Ansprüche einer scholastisch domestizierten System-Theologie gerade als Dilettant, d. h. als Außenstehender, zu verwahren sucht, in der bewußt herausgestellten Alternativ-Position des Nicht-Theologen, dessen Bewußtseinsfreiheit an die Bedingung freier Sprachhandlung geknüpft ist. Daß eine solche Antithese von Theologie und Nicht-Theologie nicht 4 5

Axiomata (LM X I I I , S. 109). So meint Karlmann Beyschlag, »daß diese ironisch hingeworfenen Worte in Wahrheit eine geradezu groteske Selbstverkleinerung darstellen und . . . darstellen sollen« (Einführung in Lessings theologisch-philosophische Schriften. In: Lessings Werke. Hg. von Kurt Wölfel. 3 Bde. [Insel] 1967. Bd. III,

S- 593)-

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eo ipso in die Negation von Theologie mündet, betont Lessing selbst: sein Antipode »muß nicht thun, als ob der, welcher g e w i s s e Beweise einer Sache bezweifelt, die Sache selbst bezweifle.«' Lessings aus der Wahrheitskraft individueller Sprachvollkommenheit artikulierte Sentenz berührt einen zum populären Argumentations-Arsenal aufklärerischer Positionsbestimmung gehörenden Fragenbereich: so kann der Herausgeber der Reimarus-Fragmente aus der Position des Nicht-Theologen heraus, hier in einer kontinuierlichen Tradition stehend, gegen die sprachliche, sich im Gebrauch von lateinischen oder deutschen »Schulterminis«7 äußernde Bevormundung durch die Kirche polemisieren und die dogmatische Rede Goezes durch das Gegenbild seines metaphernreichen >natürlichen< Stils als akademische Unnatur entlarven; als »Liebhaber der Theologie« muß er aber auch nicht - dies dann ein Hauptpunkt der Aufklärungsdebatte in der berlinischen Monatsschrift - auf ein »gewisses System« schwören, braucht also, da er die Freiheit des Selbstdenkens besitzt, den vom Ungenannten beklagten, den zeitgenössischen Klerikalismus unterminierenden Konflikt zwischen der persönlichen Überzeugung des Menschen und der behördlich kontrollierten Lehrverpflichtung des Amtsträgers nicht am eigenen Leibe zu erfahren; 8 klingt in der Beschreibung des kirchlich verwalteten Individuums bereits Kants Unterscheidung von freiem und eingeschränktem Vernunftgebrauch an, so verdichtet sich in Lessings Bild vom bornierten Fachtheologen, der wie der Ochs an die Krippe gebunden ist, die in den AntiGoeze-Schriften ständig thematisierte Spannung von Gebundenheit und Freiheit, Vormundschaft und Autonomie, die dann wiederum Kant, der wie Lessing das theologische Herr-Knecht-Verhältnis am Beispiel des domestizierten Tieres verdeutlicht, zu einem der Kernpunkte seiner religiösen Aufklärungstheorie macht. Die Distinktion »Liebhaber der Theologie« — »Theolog« involviert also mehr als ein geistreiches, auf die rhetorische Situation beschränktes >Aequivok< des Theaterlogikers. Sie umreißt den Grundgestus der Lessingschen Rede, die den Gegensatz von Traditionalismus und Selbstdenken in der methodischen Einklammerung des theologischen Wahrheitsanspruchs bestätigt und mit der Gegenüberstellung von Theolog und Liebhaber der Theologie, Kanzelredner und Laie, Orthodoxem und Ketzer, Schäfer und Kräuterkenner, Priester und Tempeldiener den auf Aufklärung »in R e l i g i o n s s a c h e n « dringenden kritischen Geist des Jahrhunderts beispielhaft reflektiert. Über den antiklerikalen Affekt Lessings kann es dabei keinen Zweifel geben: doch auch wenn er die 6 8

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7 Axiomata ( L M X I I I , S. 109). Anti-Goeze. Dritter (LM X I I I , S. 157). Vgl. Reimarus, Von Duldung der Deisten ( L M X I I , S. 2 J 7 ff.).

»Quisquilien und Ungereimtheiten« 9 der Theologen verspottet, wenn er betont, daß es ihm bei seinen theologischen »Neckereyen oder Stänkereyen, mehr um den gesunden Menschenverstand, als um die Theologie zu thun ist«,10 bleibt ein fundamentaler Unterschied zur Religionskritik des neunzehnten Jahrhunderts unübersehbar. Lessing sucht nicht eine als phantastischen Schein, als Opium, als himmlisches Alibi irdischer Misere entlarvte Religion philosophisch aufzuheben — die jüdisch-christlichen Traditionsgehalte europäischer Religionsgeschichte hat er nicht ein für allemal hinter sich gelassen. Doch indem er Theologie und Nicht-Theologie als Laie, als ein unheiliger Ketzer, »der mit seinen eigenen Augen w e n i g s t e n s sehen«11 will, methodisch trennt, somit die Option des denkenden Dilettanten angesichts der Alternative von Rechtgläubigkeit und Häresie nicht dogmatisch präjudiziert, sondern auf die Bewußtseinsfreiheit des moralischen Subjekts vertraut, erweist er sich gegenüber den eingeschworenen Rationalisten seiner Zeit als der radikalere Aufklärer. Ein signifikantes Beispiel für die Heterodoxie des »ehrlichen Layen« 12 Lessing, der den Doktrinarismus der Konservativen wie der Neuerer gleicherweise der Kritik unterwirft, bietet jener zum klassischen Bestand der Lessing-Rezeption gehörende Abschnitt aus der >DuplikProtestantismus< sowie der metaphysikkritische Grundimpuls seiner Ketzer-Polemik einprägsam beschrieben wird: N i c h t die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu seyn vermeynet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine K r ä f t e , worinn allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. D e r Besitz macht ruhig, träge, stolz Wenn G o t t in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusätze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke, und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein! 1 3 9 10

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Brief an K a r l Lessing, 4. 7. 1771 ( L M X V I I , S. 390). Brief an K a r l Lessing, 20. 3. 1777 (LM X V I I I , S. 226). - V g l . auch Lessings Argumentation im siebten >Anti-Goeze< ( L M X I I I , S. 181 f.). Berengarius Turonensis ( L M X I , S. 6z). A x i o m a t a ( L M X I I I , S. 132). Im dritten A x i o m bezeichnet sich Lessing noch als »armen Layen« (LM X I I I , S. 115). - V g l . auch das Bruchstück einer Abhandlung über >Nathan den WeisenDuplikDuplik< die Bestätigung seiner von Kierkegaard her entwickelten Deutung des »Exerzitienmeisters« Lessing, der das Ziel der Wahrheitserkenntnis nicht in Leibnizens »totaler Metaphysik« gesehen, sondern der »die A u f k l ä r u n g hinter sich gelassen« habe und dem es im Sinne Kierkegaards um Subjektivität, »die höchste Leidenschaft der Innerlichkeit« und um »die Jemeinigkeit der Wahrheit« 1 5 gegangen sei. Kierkegaard hatte - insofern k n ü p f t Thielicke mit Recht an dessen Lessing-Deutung an - in der Unwissenschaftlichen Nachschrift< ebenfalls sich auf die >DuplikDuplikWiderlegung< von Lessings >SpinozismusPhil. Bros, und Unwiss. Nachschr.< v o n N i e l s Thulstrup, S. 948).

Stenz des Menschen resultierende Beschäftigung mit Lessing, seine vorsichtig abwägenden, mögliche und wirkliche Thesen Lessings unterscheidenden Reflexionen müßten den dialektischen Theologen davor bewahren, Lessing, der f ü r Kierkegaard selbst ein »Rätsel« 17 blieb, in dessen N a m e n zu erobern und »das Geheimnis« des mystifizierten Denkers »nur von Kierkegaard her entschleiern« 18 zu wollen. Wenn der Verfasser der >Duplik< im Gegenzug zur dogmatischen Konvention zwischen dem Besitz der Wahrheit und der »Nachforschung der Wahrheit« kritisch differenziert und die axiomatische Antithese, in der man ja einen Anklang an das Problem von Kants Vernunftkritik erkennen kann, 19 rhetorischer Praxis entsprechend im sinnlichen Bild variiert, um sich durch das Kunstmittel des >delectare< auch der Phantasie des Lesers zu bemächtigen, so bleibt eine solche Synkrisis doch angebunden an die unmittelbare Redesituation, nämlich das parteilich-forensische Gegeneinander von Kläger und Beklagtem, Replik und Duplik. Enthält also die >Duplik< die Zurückweisung amtlich-theologischer Einwände gegen Lessings >Gegensätze< in Form einer Widerrede des Angeklagten, dann mußte Lessings auf Erwerb und Erforschung der Wahrheit abzielende Gegenposition von der theologischen Scholastik als christentumsfeindliche Herausforderung empfunden werden. Dieser Konstellation folgt Goezes A n t w o r t : Goeze, der »beatus possidens«, 20 verwarf in seinem Pamphlet >Leßings Schwachem denn auch prompt die >DuplikBesitz der Wahrheit< - Erforschung der Wahrheit< deutet er als unmittelbaren Angriff des philosophischprofanen, auf Erweiterung der Erkenntnis dringenden Tantalus-Geistes gegen die eine Wahrheit der Bibel; die durch Gottes Rechte und Linke versinnbildlichte Opposition von »reiner Wahrheit« und dem »Trieb nach Wahrheit« aber kritisiert er als eine im ganzen unangemessene Beschreibung des Gott-Mensch-Verhältnisses. D a nach Goeze der gläubige Christ sehr wohl an der reinen Wahrheit - eben der vergegenständlichten Wahrheit des Glaubens - teilhaben kann, diese also nicht Gott allein vorbehalten ist, formt er Lessings dem menschlichen Erkenntnisinteresse verpflichtetes Bild zur gänzlich abstrusen Antithese um, indem er die Spannung zwischen Wahrheitssuche und Wahrheitsbesitz als lästerlichen Erkenntnis-Nihilismus bloßzustellen sucht: Wenn G o t t mir in seiner Rechten den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, aber mit dem Zusätze: mich immer und ewig zu irren, und in der Linken das allerschröcklichste Schicksal, vernichtet zu werden, vorhielte, und sagte: wähle! so würde ich mit Zittern in seine Linke fallen, und sagen: Vater, vernichte mich! Denn gehört die reine Wahrheit allein für Gott, bin ich in ewiger G e f a h r zu irren; so ist kein Augenblick möglich, da ich v e r sichert seyn könnte, daß ich nicht irre, und dabey einen immer regen Trieb nach Wahrheit zu haben, das ist der schröcklichste Zustand, in welchem ich mir eine menschliche Sele denken kan. U n d das ist, nach Herrn L . ganzen Vorstellung, der Zustand, zu welchem Gott alle Menschen in dieser und jener W e l t bestimmet haben sol. 2 3

Daß Goeze den Sinn der Lessingschen Worte gänzlich verfehlt, resultiert aus der traditionell-dogmatischen Verfemung der >hairesislibido sciendi< - das Prinzip des Erkenntnisstrebens findet in jenem des orthodoxen »Lehrglaubens« 24 seine Negation - ebenso wie aus der grundsätzlichen Inkommensurabilität von rechtgläubigem Biblizismus und einem autonomen Ichbewußtsein, für welches die Forderung nach einem aufgeklärten Christentum< in das Programm einer methodischen »Nachforschung der Wahrheit« eingegliedert ist. Die Gegenüberstellung von göttlich-reiner Wahrheit und dem »immer regen Trieb nach Wahrheit« deutet auf einen Subjektbegriff, der dem emanzipativen Denken des achtzehnten Jahrhunderts angehört und der dem philosophischen Zeit23

Goezes Streitschriften gegen Lessing. S. 90 f.

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Goeze, D i e gute Sache des wahren Religionseifers, überhaupt erwiesen: insonderheit aber gegen den Verfasser des zu Berlin 1 7 6 7 herausgekommenen Traktats v o m falschen Religionseifer, verteidigt. H a m b u r g 1 7 7 0 (zit. nach: G . Fittbogen, D i e Religion Lessings. S. 1 2 4 ) .

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alter auch darin verpflichtet ist, daß er sich seiner selbst - daher das Unverständnis Goezes - im Gegenzug zur Metaphysik des siebzehnten Jahrhunderts versichert, also auch in seinem kritischen Selbstbewußtsein nicht mehr dem traditionellen Glaubensbereich und dem Obedienzgebot des >sentire cum Ecclesia< verhaftet bleibt. Lessings ethisch-erkenntnistheoretische Programmsentenz, in der die »Nachforschung der Wahrheit« über den Besitz derselben gestellt und die reine Wahrheit zugunsten eines nicht irrtumsfreien »Triebs nach Wahrheit« verworfen wird, findet somit als epochentypische Devise, wie schon Cassirer bemerkt, in der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts überall ihre Parallelen. 25 Die Vernunft, noch für die großen metaphysischen Systeme des vorhergegangenen Jahrhunderts die Region der ewigen, dem menschlichen und göttlichen Geist gemeinsamen Wahrheiten, ist dem Zeitalter Lessings nicht mehr Inbegriff eingeborener Ideen, »die vor aller Erfahrung gegeben sind, und in denen sich uns die absolute Wesenheit der Dinge erschließt. Die Vernunft«, so konstatiert Cassirer, »ist weit weniger ein solcher B e s i t z , als sie eine bestimmte Form des E r w e r b s ist. Sie ist nicht das Ärar, nicht die Schatzkammer des Geistes, in der die Wahrheit, gleich einer geprägten Münze, wohlverwahrt liegt; sie ist vielmehr die geistige Grund- und Urkraft, die zur Entdeckung der Wahrheit und zu ihrer Bestimmung und Sicherung hinführt.« 28 Als Zeugen für die neue Geistesbewegung nennt Cassirer neben Lessing noch Montesquieu, die Enzyklopädisten, Diderot, Duclos.27 Aber auch in der Spätphase der deutschen Aufklärung, die - angesichts der Vorzeichen des klassischromantischen Zeitalters - sich apologetisch um eine theoretische Fundierung ihres Kritikprogramms bemüht, wird der Gedanke der - antidogmatisch gefaßten — Relativität menschlicher Erkenntnis und einer ganz an Lessings Diktum gemahnenden dynamisch-progressiven Wechselbeziehung von Wahrheit und Irrtum vertreten. Nach Ansicht des Pädagogen Friedrich Eberhard von Rochow beispielsweise kann keines der menschlichen Denksysteme ganz wahr sein, weil diese von Menschen geschaffen wurden, »denen es in ihrem jetzigen Zustand versagt ist, in das Innere (das Wesen, Verhältnis und Absicht zum Ganzen) der Natur zu dringen. >Wir irren also allesamt, nur jeder irrt anders !Anti-Goeze< zeigt - Goezes Verachtung für den Pöbel teilt, unterscheidet den Herausgeber der Fragmente von den Vertretern einer elitär-akademischen Gelehrsamkeit und reiht ihn in die Gruppe jener » u n b e f u g t e n Schriftsteller« 8 ein, die, nach einem Wort von Marx, unsere Literatur gemacht haben. Der Gegensatz zwischen befugter und unbefugter Literatur, den Marx in Gottsched und Lessing verkörpert sieht, modifiziert sich in den siebziger Jahren zu dem Antagonismus von Dogma und Kritik, ordiniertem Theologen und mündigem Schriftsteller: G o e z e und L e s s i n g , »da wählt zwischen einem >befugten< und einem >unbefugten< Autor!«® Der notorischen Klage der Lessing-Forscher über die »ganze sachliche Dürftigkeit« 10 seiner angeblich gleißnerischen Polemik liegt denn auch meist ein normativer, ja ungeschichtlich-ontologischer Literaturbegriff zugrunde, der sich ausschließlich am anerkannten System von Kanon und Lizenz orientiert und der jede normsprengende Abweichung als Infragestellung seiner selbst erfahren muß. Wer den Negationsaspekt der unbefugten Literatur nur auf die sanktionierte Werthierarchie des historischen Moments zurückbezieht, die Unbotmäßigkeit von Lessings Polemik also beispielsweise an den religiösen, moralischen und sozialen Wertvorstellungen der zeitgenössischen Zunft-Theologie und ihrer Apologeten bemißt, verkürzt den »imperativischen Charakter« 11 einer nicht auf Reproduktion des Vorgegebenen, sondern auf Sinnfindung zielenden Schreibart. So gehört die Unbefugtheit der Lessingschen Streitschriften unmittelbar zur >Sachedilettantischenbefugten< und einem >unbefugten< A u t o r ! « ( M a r x / E n g e l s , Über Kunst und Literatur. I. Bd., S. 144).

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G . Fittbogen, D i e Religion Lessings. S. 1 3 8 . W o l f g a n g Iser, D e r implizite Leser. 1 9 7 2 . ( U T B 1 6 3 ) S. 8. - Iser demonstriert den Negationscharakter eines fiktionalen Textes, d. h. seine A b w e i chung von der zeitgenössischen Geltungshierarchie und die dadurch v o m Leser zu bewältigende Sinnkonstitution, am Beispiel des mit der A u f k l ä r u n g entstehenden modernen Romans. D a s Moment der »Entdeckung« (S. 9), das Iser seinen Vorstudien zu einer Theorie literarischer W i r k u n g zugrunde legt, ist aber als allgemeine rezeptionsästhetische Kategorie nicht auf die Gattung des Romans beschränkt.

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in der Verachtung der theologischen Halbphilosophie, im Spott auf das moralische Dekorum seiner Zeit, in der bürgerlich-republikanischen Handhabung der rhetorischen Kunst, im Appell an den mündigen Leser. Lessing argumentiert in den Streitschriften nicht mehr im Rahmen der kirchlichen Freiheiten, 12 sondern als Schriftsteller, der selbst Mündigkeit für sich in Anspruch nimmt. Dies ist das >Positive< seiner Unbefugtheit. Wie sehr der unbefugte Charakter der Streitschriften in Lessings Auffassung vom freien, mündigen Schriftsteller verwurzelt ist, mag an einem Beispiel verdeutlicht werden: Erscheint in der polemischen Rede das Normwidrige als Vorzeichen des von Lessing immer wieder evozierten aufgeklärten Zeitalters, so repräsentieren die »Nebendinge«, auf die Lessing etwa nach Meinung des mit E. signierenden Rezensenten des Altonaer >Reichs-Postreuters< vom 15. Juni 1778 ausweicht, da »die schlechte Beschaffenheit seiner Sache ihm nicht erlaubt, bei der Sache selbst zu bleiben«, durchaus die »Hauptsache«. 13 Der Rezensent, der bei der Besprechung von Goezes Schrift >Leßings Schwächen< ganz auf der Seite des Theologen steht, moniert vor allem Lessings scheinbar ausweichende und nebensächliche Witzeleien, die er als Ausgeburten einer mit der gesunden Vernunft und der » g e w ö h n l i c h e n Logik« 14 nicht zu vereinbarenden Sonder-Logik ablehnt. Lessing verstößt aber nicht nur gegen die normative Logik, sondern auch gegen die Hierarchie der Stil- und Sprachebenen, vertauscht das genus sublime mit dem genus humile, fällt bei seinen Witzeleien bisweilen »ins Niedrige«. 15 In einer Anmerkung verweist der anonyme Rezensent auf eine Eigentümlichkeit des Lessingschen Sprachgebrauchs: H e r r Leßing schreibt vorkömmt, bekömmt, da es doch eigentlich vorkommt, bekommt heissen sollte. Wir bemerken diese Kleinigkeit blos deswegen, weil es uns gewissermaßen kränkt, daß ein so großer Sprachkundiger, als Herr Leßing, in solchen Kleinigkeiten fehlt. 1 8

Lessing pariert die Finte des Schreibers E. in einer Anmerkung zum zehnten >Anti-GoezeMutter Else< wird er im >Anti-Goeze< apostrophiert - aufgewiesenen Gegensatz von korrektem und fehlerhaftem Sprachgebrauch befragt Lessing nach seinen inhaltlichen Voraussetzungen und den einem solchen Purismus zugrunde liegenden Wertvorstellungen: Es kränkt Euch, daß ein so großer Sprachkundiger, wie ich - (niemals seyn wollen) - in solchen Kleinigkeiten fehlt? E y , gutes Mütterchen! weil Ihr ein gar so zartes H e r z habt, muß ich E u c h ja wohl zurechte weisen. N e h m t also Eure Brille zur H a n d , und schlagt den A d e l u n g nach. W a s leset Ihr hier? > I c h k o m m e , d u k o m m s t , e r k o m m t ; im gemeinen L e ben, und der vertraulichen Sprechart, d u k ö m m s t , e r k ö m m t / Also sagt man doch beydes? U n d w a r u m soll ich denn nicht auch beydes schreiben können? Wenn man in der vertraulichen Sprechart spricht, d u k ö m m s t , e r k ö m m t : w a r u m soll ich es denn in der vertraulichen Schreibart nicht auch schreiben können? Weil Ihr und Eure Gevattern nur das andre sprecht und schreibt? Ich ersuche E u c h höflich, Else, allen Euern Gevattern, bey der ersten Zusammenkunft von mir zu sagen, daß ich unter den Schriftstellern Deutschlands längst mündig geworden zu seyn glaube, und sie mich mit solchen Schulpossen ferner ungehudelt lassen sollen. Wie ich schreibe, w i l l ich nun einmal schreiben! w i l l ich nun einmal! V e r lange ich denn, daß ein andrer auch so schreiben s o l l ? 1 7

Der pedantisch-mikrologischen Sprachkritik des Goeze-Anhängers begegnet Lessing also mit dem selbstbewußten Hinweis auf die Mündigkeit des Schriftstellers, der weder für sich noch für andere bloße Autorität gelten lassen will, und mit dem Bekenntnis zu den Formen der vertraulichen, dem gemeinen Leben zugeordneten Sprech- und Schreibart. Lessings scheinbar beiläufige Kritik an der schulmäßigen Klassifikation der genera dicendi entspringt genau denselben Impulsen wie die differenzierende Absage des Nicht-Theologen an Goezes theologische Schulsprache, die als die Sprache der Autorität, als befugtes genus, nicht anders als die akademisch disziplinierte Regelsprache, dem Lessingschen Sprachbewußtsein widerspricht. Adelung, den Lessing hier zitiert, hatte übrigens mit seinem G r a m m a tisch-kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart< gerade kein deskriptives, den allgemeinen, auch regionalen und >niedrigen< Sprachgebrauch erfassendes, sondern ein am gehoben-literarischen Muster orientiertes normatives Wort-Lexikon zu schaffen versucht. Die Konzeption dieses in der Tradition der italienischen und französischen Akademie-

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A n t i - G o e z e . Zehnter ( L M X I I I , S. 204).

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Wörterbücher stehenden »autoritativen Wörterbuchs« 18 verteidigt Adelung auch in der Neuausgabe des Werks, wenn er darauf hinweist, daß angesichts der kritischen Beschränkung auf den mustergültigen Sprachgebrauch »alle veraltete, alle provinzielle, und alle niedrige, bloß dem Volke eigene Wörter und Ausdrücke der Regel nach von selbst«19 weggefallen seien. N u r in Ausnahmefällen, nämlich wenn sie auch in den Sprachgebrauch der guten Schriftsteller Eingang gefunden haben, sollen Provinzialismen und Barbarismen berücksichtigt werden, desgleichen die niedrigen Wörter, wenn sie für die niedrig-komische Schreibart brauchbar sind. So sind zwar auch im Artikel >Kommen< die Mundartformen »du kömmst, er kömmt« aufgeführt und durch ein — freilich nur einziges - Zitat aus Geliert belegt, aber in einer Anmerkung schränkt Adelung, gestützt auf die alte Stil- und Ständehierarchie, den freien Gebrauch der Umlaut-Varianten doch wieder ein: Die Conjugation im Präsenti du kömmst, er kömmt, ist vorzüglich den gemeinen Mundarten Obersachsens und Oberdeutschlands eigen; in Niedersachsen sagt man kümmst, kümmt. Die anständigere Sprechart wird alle Mahl den reinen Vocal vorziehen; kommst, kommt. 20

Die normative Sprachtheorie des >Grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart< wird also bei Lessing durch die Umwertung der nur selektiv erfaßten Randbereiche der sogenannten anständigen Sprechart auf den Kopf gestellt. Daß Adelung die Provinzialismen und umgangssprachlichen Wendungen auch in Lessings Wortschatz als »unedel« 21 kritisierte, unterstreicht nur die Singularität einer Sprache, die in ihrer » G e s c h l a n k i g k e i t « , 2 2 ihre Verbindung von Solidität und Einfachheit nichts mehr von dem »steifen Gange« 2 ' der akademisch-theologischen Suada an sich hat. Lessings »Verteidigung kerniger umgangssprachlicher Ausdrücke gegen den s t y l e n o b l e « ist 18

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Harald Weinrich, Die Wahrheit der Wörterbücher. In: D I E Z E I T , N r . 27, 2 7 . 6 . 1 9 7 5 , S. 34. Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Revidirt und berichtiget von Franz Xaver Schönberger. 1808. >Vorreden S. IV. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. S. 1700. Vgl. Eric A . Blackall, Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1 7 0 0 - 1 7 7 5 . 1966. S. 275. Herders Nachruf auf Lessing im >Teutschen Merkur< ( X V , S. 486 f. und Lesart 1). - Vgl. E. Blackall, Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache. S. 276. Herder, Gotthold Ephraim Leßing ( X V , S. 487). - Vgl. E. Blackall, Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache. S. 276.

also nicht nur in seinem Stilideal der »klaren Kürze« 24 gegründet, sondern verweist auch - gerade als Manifestation dieses auf Klarheit und Kürze dringenden Stilwillens - auf das Selbstbewußtsein des mündigen Schriftstellers, der sich den sprachlichen und den in der Sprache sich spiegelnden sozialen Normen seiner Zeit nicht unterwerfen will. Dabei ist die Sprache der Streitschriften nicht bloße >Natur< im Gegensatz zur höfisch-klerikalen >UnnaturNatur< und >Wortgrübelei< zugleich.25 Der vielfältig vermittelte Charakter der Sprache verweist auf die historisch bedingte Unbefugtheit Lessings, die als Position des mündigen, über Theologie redenden Schriftstellers auf die Auseinandersetzung zwischen Glauben und Vernunft und damit auf die Bedingungen der Möglichkeit genuin religiöser Erfahrung bezogen bleibt, darüber hinaus aber auch in der sozialen Gebundenheit des bürgerlichen Individuums ihre Grenze findet. Daß die von Kant vertretene Trennung von öffentlichem, freiem Vernunftgebrauch und eingeschränktem Privatgebrauch der Vernunft gerade im Staate Friedrichs bei aller obrigkeitlichen Toleranz in Religionsdingen zu einer Aushöhlung und Perversion der aufklärerischen Ziele zu führen drohte, hatte Lessing schon Ende der sechziger Jahre erkannt, als er sich gegen die »Berlinische Freyheit zu denken und zu schreiben« wandte, die sich darin erschöpfe, »gegen die Religion so viel Sottisen zu Markte zu bringen, als man will.« 26 Preußen erschien Lessing 24

E . Blackall, Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache. S. 2 7 3 und S. 2 7 4 . - Auch Detlef Droese (Lessing und die Sprache. 1 9 6 8 ) greift zu kurz, wenn er Lessings Vorliebe für Dialektwörter mit einem »rein künstlerischen Interesse« (S. 4 3 ) erklärt.

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Z u m Terminus der >Wortgrübelei< vgl. E . Blackall, Die E n t w i c k l u n g des Deutschen zur Literatursprache, S. 2 6 7 f f . und J . Schröder, Gotthold E p h raim Lessing, S. 13 f f . - D e r Antagonismus zwischen der Schulsprache und der Sprache des mündigen Schriftstellers artikuliert sich freilich in den A n t i Goeze-Schriften als das Gegeneinander von >Unnatur< und >Natur< (vgl. e t w a die bei Lessing auffälligen Metaphern aus dem Bereich der N a t u r , des gemeinen Lebens). D o c h dieser historische Gegensatz w i r d überlagert v o n einer höchst >künstlichenNatürlichkeitsStudie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt< gezeigt hat, zu einer Aufspaltung des Individuums in den »Menschen« und den »Staatsbürger«. 29 Bei Hobbes bricht der Mensch entzwei, »er wird geteilt in eine private und in eine öffentliche Hälfte: Handlungen und Taten unterliegen restlos dem Staatsgesetz, die Gesinnung ist frei, >in secret freeMoral< und >PolitikLeviathanErnst und Falk< in seine Betrachtungen einbezieht! Seeba verkürzt dadurch die Perspektive der »Historizität« seiner Analyse, w a s wiederum nicht ohne Konsequenzen für die v o m V e r f . erstrebte »Aktualität« (S. V I I I ) sein kann. - Auch außerhalb der Germanistik, e t w a bei H . Timm, sind Kosellecks Thesen ohne Folgen geblieben: T i m m , der >Ernst und Falk< als A n t w o r t auf Rousseaus >religion civile< begreift, betont vielmehr die schwärmerisch-unpolitische, der Idee der Geistkirche verpflichtete Tendenz der Lessingschen Maurertheorie (Gott und die Freiheit I, S. 1 2 8 f f . ) . Ernst und F a l k . Gespräche f ü r Freymäurer ( L M X I I I , S. 3 4 1 ) . Ernst und F a l k ( L M X I I I , S. 3 6 3 ) . Ernst und F a l k ( L M X I I I , S. 360). Falk sagt im f ü n f t e n Gespräch: »Ihrem Wesen nach ist die Freymäurerey eben so alt, als die bürgerliche Gesellschaft. B e y d e konnten nicht anders als m i t e i n a n d e r entstehen« ( L M X I I I , S . 4 0 1 ; vgl. S . 3 4 5 ) . R . Koselleck, K r i t i k und Krise. S. 7 2 .

Die Mystifikation des Individuums im außer- und gegenstaatlichen Maurergeheimnis ist nicht die einzige Antwort der Aufklärung auf den absolutistischen Staat. In der >Republique des lettresMensch< und >UntertanWahrheit< und >Autorität< und ihrer verdeckt politischen Brisanz. Kosellecks geistesgeschichtlich-soziologische, den Zusammenhang von >Kritik< und >Krise< im absolutistischen Staat analysierende Studie, die die Geschehenseinheit der Aufklärung voraussetzt, legt die epochalen Aspekte der Lessingschen Maurerphilosophie frei und eröffnet dem Lessing-Forscher die Möglichkeit, den scheinbaren Antagonismus von öffentlicher (religiöser) Kritik und gleichsam sektiererischer Logen-Bündelei als zeitbedingte Erscheinungsform des dialektischen Grundverhältnisses von Kritik und absolutistischem Souveränitätsanspruch zu begreifen. Das maurerische Geheimnis und die autonome Vernunftkritik, über das tertium comparationis des Oppositions-Bewußtseins vereint, stellen dabei die signifikantesten Kennzeichen eines Aufklärungsprozesses dar, in dessen Verlauf sich der Innenraum der Gesinnung sukzessive ausweitet, bis, wie Kants Sprachgebrauch zeigt, sich das Verhältnis von öffentlich und Privat umkehrt, die staatlich-öffentliche Sphäre also auf das Private reduziert, der Bereich des Gewissens aber dem Öffentlichkeitscharakter der autonomen Gelehrtenrepublik zugeordnet wird. Kants Aufklärungs-Aufsatz, den Koselleck nicht in seine Analyse einbezieht, markiert den Endpunkt einer Entwicklung, innerhalb derer Öffentlichkeit zunächst noch, wie Habermas in Anlehnung an Koselleck schreibt, »weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit antizipiert« 38 wurde, die Superiorität der Innensphäre über die staatliche Obrigkeit aber bereits entschieden war. Kant, der alle Aufklärung unter Menschen an die Bedingung des freien öffentlichen Vernunftgebrauchs knüpft, stellt mit seiner Forderung nach Publizität als dem »Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral« 40 den absolutistischen Grundsatz des >auctoritas non 38 39

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V g l . R . Koselleck, Kritik und Krise. S. 81 f f . Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 4. A u f l a g e . 1969. (Politica, 4) S. 46. - Habermas, der nach eigenem Bekenntnis der »ausgezeichneten U n tersuchung R . Kosellecks« (S. 1 0 2 , A n m . 2) viele Hinweise verdankt, nennt Koselleck an der angegebenen Stelle freilich nicht namentlich. J . Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. S. 1 1 7 .

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veritas facit legem< auf den Kopf. Aufklärung als Selbstdenken wie als gesellschaftlich-kollektive Bewegung verwirklicht sich in der Öffentlichkeit, gehorcht allein der Instanz des richtenden Publikums. Nach Kant ist die Philosophie als autoritätsfreie >untere< Disziplin - im Gegensatz zu den oberen Fakultäten - auf die »öffentliche Darstellung der Wahrheit« 41 angewiesen. Theologie, Jurisprudenz und Medizin dagegen sind, nicht anders als der Vernunftgebrauch des Untertans, dem Autoritätsprinzip verpflichtet. Als Teil der Staatsmaschinerie ist der Mensch zum passiven, bloß ausführenden Bürger degradiert: Hier ist es nun freilich nicht erlaubt, zu räsonnieren; sondern man muß gehorchen. S o fern sich aber dieser Teil der Maschine zugleich als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft ansieht, mithin in der Qualität eines Gelehrten, der sich an ein Publikum im eigentlichen Verstände durch Schriften wendet: kann er allerdings räsonnieren, ohne daß dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Teile als passives Glied angesetzt ist. 42

Im Lichte der Dialektik von Innen und Außen klärt sich auch die in der >Vorrede eines Dritten< zu >Ernst und Falk< skizzierte Analogie der gleichermaßen aus der bürgerlichen Gesellschaft hervorgegangenen Bewegungen von Maurertum und Christentum. 43 Die Verwandtschaft von Christentum und Freimaurerei beruht nicht nur darin, daß hier wie dort die »wahre O n t o 1 o g i e« resp. die »systematischen Lehrbücher so spät entstanden sind«,44 also in der nachträglichen Kodifizierung der mündlichen Tradition, sondern in der strukturellen Polarität jenes von Lessing beschworenen Opus supererogatum, das in den Freimaurer-Dialogen als Imperativ überstaatlicher Sittlichkeit, in den theologiekritischen Schriften aber als das Prinzip einer im Medium unbefugter Literatur sich verwirklichenden souveränen Kritik erscheint. Als heimliches Wissen des Maurers bleibt die Vernunft auf den Zirkel der Gleichgesinnten beschränkt. Als Waffe des mündigen Schriftstellers tritt sie an das Tages41

42 43

44

K a n t , Der Streit der Fakultäten ( I X , S. 2 9 7 ) . - V g l . dazu auch J . H a b e r mas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. S. 1 1 7 f f . K a n t , Beantwortung der Frage: W a s ist A u f k l ä r u n g ? ( I X , S. $5 f.). N i c h t nur die Freimaurerei, sondern auch das Christentum ist mit der bürgerlichen Gesellschaft entstanden. Diesem Gedanken ist das N a c h l a ß - F r a g ment >Ueber die Entstehung der geoffenbarten Religion< gewidmet: im G e gensatz zur natürlichen Religion, zu der jeder Mensch nach Maßgabe seiner K r ä f t e fähig ist, ist die positive Religion Anpassung der Vernunft-Religion an den Staat, die bürgerliche Gesellschaft, also Konvention (vgl. L M X I V , S. 3 1 2 f.). Ernst und F a l k ( L M X I I I , S. 3 4 1 f.). - V g l . auch das 4. Gespräch, w o Falk sagt, die Loge verhalte sich zur Freimaurerei wie »Kirche zum Glauben« ( L M X I I I , S . 398).

104

licht, getragen v o m Konsensus des urteilenden, dem öffentlichen V e r nunftgebrauch verpflichteten Publikums. In der esoterischen Gemeinschaft der Gleichen ist also vorweggenommen, was in der allgemeinen Weltbürgergesellschaft als das Prinzip der Publizität, als richtende Ö f fentlichkeit auf den Plan treten soll. Das maurerische Geheimnis, das die sich emanzipierende kritische Vernunft im Rahmen der von K a n t beschriebenen »wahren Reform der Denkungsart« 4 5 vorzeichnet, verliert aber dort seine Daseinsberechtigung, w o seine Ontologie und die darin involvierten politischen Konsequenzen sichtbar gemacht und seine verdeckt antiabsolutistischen Intentionen o f f e n ausgesprochen werden können. Wird das Geheimnis in seiner Schutzfunktion offenbar, wird — und zwar trotz der »höheren O r t ' s« vorgebrachten Bedenken - »Licht über so wichtige Gegenstände« 46 wie das Logenwesen gebracht, gerät das Mysterium in Widerspruch gerade zur maurerischen Ontologie. Denn in dem Maße, wie der Begriff der Weltbürgergesellschaft gegenüber einem »Staate, der immer nur herrschen will«, 4 7 an Kontur gewinnt, die esoterische antizipierte Öffentlichkeit der Geheimbünde also sich zur literarisch vermittelten bürgerlichen Öffentlichkeit ausweitet, erstarrt der Reservatcharakter der Maurergesellschaften zum sinnentleerten Ritual. Herder prophezeit deshalb schon 1 7 8 1 mit Recht, daß sich der Orden »wahrscheinlich bald höchst lächerlich machen« wird, »wenn er nicht selber öffentlich gesteht, daß seine Geheimnisse nichts sind.« 48 Die Dialektik von Wahrheit und Geheimnis, deren bloßen Schein die Freimaurerzünfte v o r dem Z u g r i f f Lessings zu bewahren suchten,49 hat f ü r Herder keine Gültigkeit mehr. 45

K a n t , Beantwortung der Frage: W a s ist A u f k l ä r u n g ? ( I X , S. 55). - A u c h Lessing denkt über das Verhältnis von Revolution und R e f o r m wie K a n t : » W a s Blut kostet ist gewiß kein Blut werth« ( L M X I I I , S. 4 0 1 ) . Dies schließt - genauso wenig wie bei K a n t - eine tiefgreifende U m w a n d l u n g , ja Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft jedoch nicht aus. V g l . dazu auch Fr. H . Jacobis Mitteilung eines Lessing-Worts an Elise Reimarus, 1 5 . 3. 1 7 8 1 (Daunicht, Lessing im Gespräch. S. $20). Die Korrelation v o n Denkungsart und Gesellschaftsstruktur wird dann in Herders Fortsetzung von Lessings Freimaurer-Gesprächen einseitig aufgelöst: »Die Denkart macht den M e n schen, nicht die Gesellschaft; w o jene da ist, formt und stimmt sich diese von selbst« (Lessing, Ernst und Falk. M i t den Fortsetzungen Johann G o t t f r i e d Herders und Friedrich Schlegels. S. 7 2 ) .

46

Ernst und Falk ( L M X I I I , S. 389). K a n t , Der Streit der Fakultäten ( I X , S. 3 6 3 ) . Zit. nach: Lessing, Ernst und F a l k . M i t den Fortsetzungen Johann G o t t f r i e d Herders und Friedrich Schlegels. S . 1 1 7 .

47 48

49

Z u r zwiespältigen maurerischen Reaktion auf die Veröffentlichung der b e spräche für Freymäurer< vgl. H . Schneider, Lessing und die Freimaurer. S. 180 und S. 1 8 7 f f . sowie Contiades in: Lessing, Ernst und Falk. M i t den

10$

In seinem >Gespräch über eine unsichtbar-sichtbare Gesellschaft^ einer Fortsetzung von Lessings zweitem Freimaurer-Gespräch, fordert er deshalb statt des esoterischen, dem Trug verwandten Maurer-Symbols die » G e s e l l s c h a f t a l l e r d e n k e n d e n M e n s c h e n in a l l e n W e l t t e i l e n«,60 die Gelehrtenrepublik also, die auf Öffentlichkeit angewiesene Weltbürgergesellschaft. Und in >Glaukon und Nicias< lesen wir: »Laß also die Eule der Weisheit ihr Nest im geheimen Schoß der Minerva verlassen und sich ans Tageslicht wagen.«51 In dem Licht, das Lessing über das Logengeheimnis gebracht hat, sondert sich die Ontologie vom bloß historischen Staub: die supererogatio der - genau wie das Christentum - in der bürgerlichen Gesellschaft verwurzelten Freimaurerei rehabilitiert die Aufklärungsfunktion des arcanum, dessen gegen die zeitgenössische Geltungshierarchie gerichtete Tendenz im öffentlich-literarischen Bekenntnis des Religionskritikers Gestalt gewinnt. So überwindet Lessing, indem er die konventionelle Grenze zwischen staatlich sanktionierter Denkfreiheit und dem absolutistischen Subordinationsgedanken mißachtet, gerade das im sklavischen Preußen praktizierte Toleranzprinzip, das zwar jedem die Freiheit läßt, »d'aller au ciel par quel chemin il lui plait«, 52 diese Freiheit aber nur garantiert, solange die Religionen - in ihrer Vielzahl sich ohnehin gegenseitig relativierend - den ihnen zugewiesenen politisch indifferenten Privatbereich nicht überschreiten. Auf die Analogie von mittelbarer und unmittelbarer Prozeßführung zielt auch Schlegel, wenn er in seiner Abhandlung >Vom Charakter des Protestanten schreibt, »daß die Schriftstellerei selbst, so behandelt wie sie Lessing behandelte«, eine von Äußerlichkeiten befreite »öffentliche Freimaurerei« 53 darstelle. Das Prinzip der Fortsetzungen Johann Gottfried Herders und Friedrich Schlegels. S. 1 3 0 f f . - Lessing selbst hat die ritualisierte Geheimnistuerei der Freimaurer ja bekanntlich schon in dem Jugendgedicht >Das Geheimniß< (vgl. L M I, S. 1 8 0 f f . ) verspottet. 50

Lessing, Ernst und Falk. Mit den Fortsetzungen Johann Gottfried Herders und Friedrich Schlegels. S. 69.

51

Lessing, Ernst und Falk. Mit den Fortsetzungen Johann Gottfried Herders und Friedrich Schlegels. S. 1 1 9 , A n m . 1 1 . Friedrich II. v o n Preußen, Mémoires de Brandebourg. Zit. nach: Was ist A u f k l ä r u n g ? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. S. 399 (= A n m e r kung zu dem Beitrag >Ueber D e n k - und Drukfreiheit. A n Fürsten, Minister, und Schriftsteller^.

52

53

Fr. Schlegel, >Vom Charakter des Protestanten^ S. 4 3 5 . - V g l . Lessing, Ernst und Falk. M i t den Fortsetzungen Johann Gottfried Herders und Friedrich Schlegels. S. 120, A n m . 2. - A u c h die Idee der Gelehrtenrepublik reicht bis in die A n f ä n g e der Romantik hinein und erscheint beispielsweise als T e i l jenes poetischen Bildungsprogramms, das der mit Schlegel symphilosophierende N o v a l i s in seinen an C h a m f o r t s und Lessings Aphoristik an-

106

freien wissenschaftlichen Prüfung in Verbindung mit der Forderung nach Publizität, die kritisch-laizistische Trennung von religiöser, obrigkeitlicher auctoritas und einer im selbstbewußten Subjekt gründenden veritas, die offene Unbefugtheit einer gegen die theologischen, moralischen und sprachlichen Konventionen der Zeit verstoßenden Literatur — dies alles ist die supererogatio des Schriftstellers Lessing, der als mündiger Autor sich souverän über die Pedanterien der Sprachscholastiker hinwegsetzt, der als Polemiker in den gängigen Moralvorstellungen nur den Firnis einer unedlen Epoche erkennen kann, der als Freimaurer Licht in das Logengeheimnis bringt und der als ketzerischer Protestant dem »crede« des protestantischen Dogmatismus sein »freies credo«54 entgegenhält. Die Unbefugtheit der Streitschriften meint bei Lessing freilich nicht eine unbedingte Negation des Autoritätsprinzips, sondern fungiert als Gattungsmerkmal einer Literatur, die den Vollzug des Kritik-Programms als die in der freien republikanischen Gelehrten-Öffentlichkeit sich bewährende Selbstbetätigung der Wahrheit artikuliert. Wo Wahrheit aber auf die der Vernunft des achtzehnten Jahrhunderts angemessene Weise der Selbstbefreiung des autonomen Subjekts aus den Bindungen der Tradition bezogen und somit die sich selbst historisch begreifende Vernunft notwendig mit ihrer eigenen Geschichte - der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Trennungen also — konfrontiert wird, bleibt auch Lessings >Protestantismuspositiven< Religion geknüpft. Am Ende der Untersuchungen zur Herausgebertätigkeit Lessings, die den Antagonismus von biblischem Mythos und kritischer Vernunft vor dem Hintergrund der Reimarus-Fragmente sichtbar machten, steht also die Frage nach der im Spätwerk sich abzeichnenden Lösung des Religionsproblems. Daß Lessing die Antithese von Mythos und Logos nicht wie Reimarus auf die Spitze

54

55

knüpfenden >Vermischten B e m e r k u n g e n (>Blüthenstaubnatürlichen< Menschen freizulegen. Als Momente einer dem Postulat der Vernunft-Aufklärung gehorchenden Kritik-Strategie erscheinen die Prädizierungen des >protestantischen< oder >maurerischen< Ketzers aber nur im Blick auf Lessings Geschichtsauffassung. Diese jedoch erwächst aus der religionsphilosophischen Problembestimmung.

108

II. D i e religionsphilosophische Fragestellung der Streitschriften

Die Frage nach Lessings Antwort auf die in den Fragmenten vollzogene Destruktion der Offenbarungstheologie involviert, wie schon die >Gegensätze< erkennen lassen, einen im engeren Sinne methodologisch-systematischen und einen religiös-inhaltlichen Aspekt. Das methodologische, am Verhältnis von historischem Ereignis und erklärendem Bericht, geschichtlich gegründeter Offenbarung und notwendiger Vernunftwahrheit sich bestimmende Problem ist freilich auch hier der religiösen >Sache< nicht bloß äußerlich — etwa nach Art eines Tributs an den rationalistischen Zeitgeist - vorgestellt, sondern umreißt den religionsphilosophischen Horizont, in dem auch das Goeze gegenüber vertretene Credo Lessings eingezeichnet ist. Bevor wir also nach dem religiösen Resultat der Streitschriften und dessen Bedeutung für die Religionskritik Lessings fragen, sei der Blick auf den Gegensatz von Ereignis und Überlieferung, Offenbarung und Vernunft gerichtet, da in ihm die erkenntnistheoretische Aporie der neuzeitlichen Religionsphilosophie und damit die Wurzeln der von Lessing entworfenen universalen Erziehungshypothese sichtbar werden. i. Geschichtswahrheit - Vernunftwahrheit: Kritik der historischen Apologetik Reimarus hat, so lesen wir in der >DuplikGegensätzen des HerausgebersVon Verschreyung der Vernunft auf den KanzelnErfahrung< unterworfen, die Wahrheit des Christentums also nach dem Gesetz einer kritisch-rationalistischen Hermeneutik - so nennt Reimarus die den Glaubensdingen angemessene Erkenntnis a posteriori — beurteilt wird. Rationalistisch ist Reimarus' Hermeneutik in der Reduzierung des Glaubwürdigkeits- und Wahrscheinlichkeitscharakters der historischen Zeugnisse auf den Satz des Widerspruchs resp. der Identität. Kritisch ist seine Methode in der Trennung von Ereignis und Bericht, biblischem Dokument und geistlichem System, Geschichte und Offenbarung. D a die überlieferten Zeugnisse der christlichen Religion der voraussetzungslosen Methode des Fragmentisten nicht standhalten, bricht der Offenbarungsanspruch und damit das gesamte Lehrgebäude des Christentums zusammen. Lessings abschwächende Argumentation, Reimarus habe nicht von der mangelnden Glaubwürdigkeit der Auferstehungsgeschichte auf die Falschheit des Religionssystems geschlossen, sondern umgekehrt von der Auferstehungslehre auf die Unbegründetheit des Osterereignisses, 3 verdunkelt hier das Problem: Die Wahrheit der Religion erschließt sich Reimarus einzig und allein aus der inneren Glaubwürdigkeit ihrer geschichtlichen Faktizität. Die Einwände Lessings richten sich freilich nicht — darin folgt ihm dann D a v i d Friedrich Strauß - gegen die einzelnen methodologischen 3

110

V o n dem Z w e c k e Jesu und seiner Jünger. Vorrede des Herausgebers X I I I , S. 2 1 8 f.).

(LM

Axiome des Reimarus. Hinsichtlich der Widersprüchlichkeit der Osterberichte gibt er dem von den Harmonisten angegriffenen Verfasser des Auferstehungsfragments ausdrücklich Recht. 4 So zielt sein Interesse keinesfalls theologisch-apologetisch auf die Zurücknahme des Antagonismus von Offenbarungsglauben und Vernunft, sondern läßt sich als religionsphilosophisches von der neuzeitlichen Methodenvernunft leiten, die die Voraussetzungen des Offenbarungsanspruchs kritisch ihrem Selbstverständnis unterwirft. Der fundamentale Unterschied, der Lessings Methodenbewußtsein von dem des konservierenden Theologen trennt, liegt darin, daß er die in der Folge sich entfaltende historisch-kritische Methode als das den historischen Geisteswissenschaften angemessene methodische Verfahren anerkennt, die Voraussetzungslosigkeit des modernen Wissenschaftsbegriffs also nicht durch ein traditions- oder autoritätsbegründetes religiöses Vor-Urteil zu relativieren sucht. Lessing appelliert nicht an den frommen, sondern an den aufgeklärten Christen. Uber das Verhältnis von Glauben und Vernunft, Geschichte und Absolutem hat die Philosophie zu bestimmen. Doch die von Reimarus unternommene philologisch-historische Exegese der Schlüsselstelle 2. K o r . 10, 4/$ geht gerade hier am Kern der Sache vorbei, weil sie die philosophische Dimension des Vernunft-Offenbarung-Problems zu wenig reflektiert. Philosophisch ist eine » g e w i s s e Gefangennehmung unter den Gehorsam des Glaubens« 5 durchaus denkbar. Die Entscheidung über eine solche Gefangennahme der Vernunft liegt aber bei der Vernunft selbst: Ob eine Offenbarung seyn kann, und seyn muß, und welche von so vielen, die darauf Anspruch machen, es wahrscheinlich sey, kann nur die Vernunft entscheiden.6

In seiner Abwehr des unverwässerten Rationalismus Reimarusscher Prägung greift Lessing also zunächst auf das traditionelle Argument einer aufklärerischen Philosophie zurück, die z w a r grundsätzlich die religiöse Erkenntnis den natürlichen Regeln der Vernunft unterwarf, angesichts der supranaturalen Glaubensinhalte und einer der Inspirationslehre verpflichteten Offenbarungstheologie aber sich zur Anerkennung des >Übervernünftigen< gezwungen sah. Das >Übervernünftige< läßt sich dabei fassen als das dem erkenntnistheoretischen Disjunktionsprinzip von Vernünftig und Widervernünftig faktisch Konträre. Als solches, d. h. als ein dem principium contradictionis Entgegengesetztes und den Grundregeln der autonomen Methodenvernunft unmittelbar nicht Un4 s 8

Vgl. Eine Duplik (LM X I I I , S. 24 f.). Gegensätze des Herausgebers ( L M X I I , S. 432). Gegensätze des Herausgebers ( L M X I I , S. 432).

in

terworfenes, erfährt die Offenbarungsreligion eine bedingte philosophische Legitimation. So wird — unter Hinweis auf Leibnizens Kritik an Bayle — im Artikel >Vernunft< des Zedlerschen Universallexikons der Begriff des >Übervernünftigen< gerade zur Stützung der Konformitätsthese angezogen, weil damit alle Einwürfe gegen die Vernunftwidrigkeit der Glaubensgeheimnisse abgewiesen werden können: Folglich widersprechen Offenbarung und Vernunfft einander nicht würcklich, ungeachtet es bißweilen also scheinet, wenn die Offenbarung uns solche Wahrheiten lehret, welche zwar über die Vernunfft, nicht aber wieder dieselbe sind. Man sagt aber, daß eine Sache ü b e r d i e Vernunft ( S U P R A R A T I O N E M ) sey, wenn die bekannten und ausgemachten Sätze der Vernunfft nicht zureichend, zur gewissen Erkänntniß einer Sache zugelangen. Hingegen w i d e r d i e V e r n u n f t ( C O N T R A R A T I O N E M ) ist eine Sache, wenn sie dem Lichte der Vernunfft widerspricht, das ist, wenn sie mit einem, von der Vernunfft deutlich erkannten Satze nicht zugleich bestehen kan. 7 Für Lessing dient die philosophisch legitimierte Anerkennung der übervernünftigen Offenbarung dem Interesse der Philosophie:

darin

unterscheidet sich seine Position vom Monismus des Fragmentisten, in dessen Beweisführung die von Locke über Leibniz und Thomasius bis zu W o l f f vertretene traditionelle Distinktion von Vernünftigem, Widervernünftigem und Übervernünftigem gleichsam nur noch pro forma aufrecht erhalten, in der Durchführung der Bibel- und Offenbarungskritik aber

ausnahmslos

dem Regelkanon

der >Vernunftlehre
vernünftig< - >übervernünftig< dargestellt bei Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Hg. von Heinz Heimsoeth. 15. Auflage. 1957. S. 4 1 6 f f . und S. 275 f f .

8

Vgl. dazu das Kapitel > O F F E N B A R U N G S - U N D B I B E L K R I T I K , S. 17 f.

112

philosophische Sache« - das religiöse Übervernünftige - »sehr philosophisch«9 zu verteidigen, die eigene Denkmethode und ihre Axiome also sich am Gegenprinzip bewähren zu lassen. Indem er aber mit dem Argument der Tradition die Philosophie von der Theologie abgrenzt, verändert er die Funktion einer solchen Abgrenzung: eine gewisse Bescheidung der Vernunft gegenüber der Offenbarung erweist sich für Lessing nicht mehr als die Schutzbehauptung einer radikal emanzipativen Vernunft angesichts des kirchlich-religiösen Machtanspruchs, sondern als Argument einer selbstkritischen, dem Reimarusschen Vernunft-Absolutismus entgegengesetzten undogmatischen Ratio. Die in dem Paulus-Wort aus dem zweiten Brief an die Korinther angedeutete Gefangennahme der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens oder, wie Lessing schreibt, die »Ergebung« der Vernunft, besagt also nichts »als das Bekenntniß ihrer Grenzen, sobald sie von der Wirklichkeit der Offenbarung versichert ist.«10 Der Grund für eine solche - als Hypothese angenommene - bewußte Ergebung der Vernunft ist zunächst einmal anthropologischer Natur. Reimarus hatte ja in seinem Fragment >Von Verschreyung der Vernunft auf den Kanzeln< nicht nur die Korintherstelle, sondern auch die orthodoxe Auslegung der Erzählung vom Sündenfall der Kritik unterzogen. Nicht die Tatsache der unwiderruflichen Verderbnis der Vernunft folge aus dem Sieg der sinnlichen Affekte, sondern die Lehre, daß allein vernünftige Erkenntnis den Sündenfall hätte verhindern können. 11 Für Lessing erschöpft die Auslegung des Reimarus die Sache aber nur zur Hälfte. Der Fragmentist hat es nämlich versäumt, nach den Ursachen der Unwirksamkeit unserer Vernunftkräfte zu fragen. Im Aufweis dieser Ursache liegt die Wahrheit dieses so oft verhöhnten Märchens: M i t einem W o r t e : die Macht unsrer sinnlichen Begierden, unsrer dunkeln Vorstellungen über alle noch so deutliche Erkenntniß ist es, welche zur k r ä f tigsten Anschauung darinn gebracht w i r d . 1 2

Im Licht des psychologisch-anthropologischen Antagonismus von Trieb und Vernunft erscheint das orthodoxe wie auch das rationalistische Fazit des mosaischen Märchens gleichermaßen als Ergebnis einer unangemessenen späteren Akkomodation. Lessings »zwischen beiden Ex9 10 11

12

Brief an Moses Mendelssohn, i . 5 . 1 7 7 4 ( L M X V I I I , S. 1 1 0 ) . Gegensätze des Herausgebers ( L M X I I , S. 4 3 3 ) . V g l . das Fragment >Von Verschreyung der V e r n u n f t auf den Kanzeln< ( L M X I I , S. 3 1 3 ff.). Gegensätze des Herausgebers ( L M X I I , S. 4 3 3 ) . - Im Zusammenhang mit Lessings Geschichtsauffassung w i r d diese Stelle ausführlich interpretiert im K a p i t e l >Die Wahrheit der ReligionsgeschichteUeber den Beweis des Geistes und der Kraft< gerade im Johannes-Evangelium das trennende Element des Christentums gesehen wird, steht im Zusammenhang mit Lessings Kritik der sich widersprechenden theologischen Hermeneutik in den >AxiomataNeuen Hypothese über die Evangelisten als blos menschliche Geschichtschreiber betrachtet bringt allein das Evangelium des Johannes, also das Evangelium des Geistes, der christlichen Religion »ihre wahre Consistenz«,66 nämlich jene an der Gottessohnschaft Christi orientierte theologisch-dogmatische Dimension, die das Christentum über die jüdischen Sekten erhebt und die dem tief verwurzelten Glauben an die Notwendigkeit eines göttlich-menschlichen »Mittlers«67 Rechnung trägt. Die johanneische Logoslehre, der - neben den Paulus-Briefen — umfassendste Versuch, die Fleischwerdung des Wortes theologisch zu bewältigen und die Einheit von Mensch und Gottessohn zu demonstrieren, ist christlich-theologische Summe und Inbegriff dogmatischer Rechtfertigung. Johannes markiert den Übergang von der Christus-Religion zur 64 65

Ueber den Beweis des Geistes und der K r a f t ( L M X I I I , S. 8). »Jede scharfsinnige Unterscheidung läßt sich v o n einem, der seiner Sprache nur ein wenig mächtig ist, in eine Antithese bringen« ( L M X I I I , S. 1 2 7 ) .

«» L M X V I , S. 390. 67 N e u e Hypothese über die Evangelisten als blos menschliche Geschichtschreiber betrachtet ( L M X V I , S. 390). - Lessings im § 63 der >Neuen H y p o these< niedergelegte Ansicht v o n der Unvergänglichkeit des Christentums bildet keinen Widerspruch zum Fragment über die >Religion Christi< oder zur >Erziehung des Menschengeschlechts< (vgl. Dilthey, Gotthold Ephraim Lessing. S . 8 5 ) : in den letztgenannten Schriften spricht er aus der Position der sich aufklärenden Vernunft heraus (vgl. den »Vorbericht des Herausgebers< zur »Erziehung des MenschengeschlechtsHermeneutikEchtheit< des lapidaren » K i n d e r c h e n , l i e b t e u c h ! « 7 0 Die Funktion, die dem Testament des Johannes in der kritischen Prozeßführung gegen ein dogmatistisches Kirchenchristentum zukommt, läßt sich dabei an drei Hauptpunkten verdeutlichen: 1. Das bei Hieronymus überlieferte Liebesgebot des seligen Johannes muß, obgleich apokryph, als Jesu eigenes Vermächtnis angesehen werden. Das Testament ist Summe eines auf die Menschlichkeit Jesu gegründeten allgemeingültigen Religionsverständnisses, ist einfältige, aus dem Herzen kommende Rede, nicht dogmatisches Argument oder philosophisch-theologischer Lehrsatz. 71 Der Wahrheitsgrund der urchristlichen Liebesformel liegt einzig und allein in ihr selbst, in jener Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit, die als Signum der inneren Beglaubigung dem Gefühl des einfältigen Christen die Objektivität 88

69 70 71

N e u e Hypothese über die Evangelisten als blos menschliche Geschichtschreiber betrachtet ( L M X V I , S. 389). - Bei der Darstellung der Entstehung des Urevangeliums spricht Lessing stets nur vom Menschen Jesus (vgl. § 4, § $5 und § $7) - das Ostergeschehen w i r d mit keinem W o r t erwähnt. D a s Testament Johannis ( L M X I I I , S. 9). D a s Testament Johannis ( L M X I I I , S. 1 3 ) . Des Johannes Anrede »kam immer ganz aus dem H e r z e n « , sie w a r »immer einfältig und kurz«, das genaue Gegenteil also der gnostisch-platonischen »erhabenen Schreiberey« ( L M X I I I , S. 1 3 und S . I J ) .

147

der selbstevidenten Wahrheit verleiht. Das Testament ist somit Wesenskern eines unverfälschten Christentums, als solches aber auch Rechtfertigung der das Vernunftganze abbildenden axiomatischen Gleichung von »innerer Wahrheit«, »innerer Güte« und »innerem Gefühl« und >immanente< Bestätigung einer Harmonie von Offenbarung und Vernunft. 2. Die johanneische Liebesformel ist nicht moralisches Fazit eines sich von Christi Mittleramt her begreifenden Erlösungsglaubens, sondern selbst »praeceptum Domini« 72 und sonach hinlängliche Glaubenslehre. Das orthodoxe Verhältnis von Glaube und Liebe erscheint dadurch »auf den Kopf« 7 3 gestellt: göttlich ist das Johannes-Wort als der dem christlichen Offenbarungsbegriff vorgegebene natürlich-humane Kern der Lehre Christi, die ihrerseits erst durch menschliches Zutun, nämlich die theologischen Rechtfertigungsversuche des Evangelisten Johannes, zum vernunftjenseitigen und damit trennenden theonomen Dogmensystem ausgebaut wurde. Historisch wie religionsphilosophisch ist die christliche Liebe - das »Praktische« im Gegensatz zu den »Glaubenslehren« 74 - für Lessing das Primäre und Suffiziente. Die konsequent zu Ende gedachte Spannung von Theologie und Laienchristentum, Glauben und Liebe, Dogma und Vernunft mündet somit in die Aufhebung des christlichen Religionsbegriffs. Aus Lessings A b sicht, die Definition des Christentums »ein wenig weiter« 75 zu fassen, erwächst ein allgemeinverpflichtender praktisch-moralischer Imperativ, der seine Legitimation sich selbst und nicht einer in Christus zentrierten Offenbarungs- und Erlösungsreligion verdankt.

72 73

74 75

Das Testament des Johannis (LM X I I I , S. 17). Karlmann Beyschlag in: Lessings Werke. Hg. von K u r t W ö l f e l . Bd. III, S. 609. Das Testament Johannis (LM X I I I , S. 16). Das Testament Johannis (LM X I I I , S. 17). - Die Auflösung des christlichen Religionsbegriffs kündigt sich schon in den >Gegensätzen des Herausgebers< an: wenn Lessing im Gegensatz zu Reimarus, der einen zu engen Begriff von der christlichen Religion vertrete, es für recht und billig hält, »daß bey Bestreitung des Christenthums alle Secten für Einen Mann zu stehen angenommen werden, und eigentlich nichts wider das Christenthum für gültig zu achten, als worauf keine von allen diesen Secten antworten kann« (LM X I I , S. 438), so gibt er nicht nur die Lehrsätze von der Verderbnis der menschlichen Vernunft, von der Notwendigkeit eines klaren und deutlichen Glaubens zur Seligkeit und von der Theopneustie preis (vgl. S. 438 f.). Ein Christentum, das sich auf das Gemeinsame a l l e r Sekten gründete, wäre ein substanzloses Unding, ein bloßer N a m e ! - Vgl. auch >Axiomata< ( L M X I I I , S. izz f.).

148

3. Die »Entchristlichung«78 des Religionsbegriffs, die sich bei Lessing als Ausgliederung einer profanen »Religion Christi« aus der christlichen Religion und als Reduktion der hermeneutischen Wahrheiten auf ein mit den Namen Johannes und Spinoza verbundenes eigenevidentes Wahrheitsprinzip vollzieht, findet in den zeitgenössischen Säkularisationstendenzen ihre genaue Parallele, ja ist selbst repräsentativ für die den Beginn der Goethezeit markierende religiöse Protestation gegen eine antichristliche Kirche und den Mythos des Machtgottes: Goethe, der sich Lavater gegenüber als Nichtchristen bezeichnet hatte und dessen von Lessing gutgeheißenes Prometheus-Gedicht die anthropozentrische Religionskritik des neunzehnten Jahrhunderts in aller Radikalität antizipiert, erblickt in der Formel »Kindlein liebt euch« die Signatur einer spinozistisch-johanneischen, vom »Amor Dei intellectualis« wie vom urchristlichen Liebesgebot geprägten UniversalReligio, deren Inhalt »Mosen und die Propheten, Evangelisten und Apostel begreift.« 77 Auch Herder deutet das Prinzip der Menschenliebe in jenem für die frühe Spinoza-Rezeption charakteristischen christlich-unchristlichen Doppelsinn: Liebe als der archimedische Punkt unseres Erkennens und Wirkens ist »die höchste Vernunft, wie das reinste, göttlichste Wollen; wollen wir dieses nicht dem h. Johannes, so mögen wirs dem ohne Zweifel noch göttlichem S p i n o z a glauben, dessen Philosophie und Moral sich ganz um diese Achse beweget.«78 Lessing steht also mit seinem Versuch, die in Analogie zur >Ethik< gefaßte, sich selbst beglaubigende logisch-philosophische Wahrheit mit der im Gefühl des Laienchristen sich offenbarenden »inneren Wahrheit« des Christentums zu vermitteln, in den siebziger Jahren nicht allein. Die von Spinoza selbst in seinem >Theologisch-Politischen Traktat< vorgezeichnete Symbiose von philosophischer Vernunft und einem johanneischen Christentum der Liebe78 definiert auch die Orien76

V g l . dazu E . W . Zeeden, Martin Luther und die Reformation. B d . I, S. 2 7 5 bis 288. Zeedens Hauptthese von der »Entchristlichung des Religionsbeg r i f f s « bei Lessing besitzt umso mehr objektives Gewicht, als der A u t o r den modernen Säkularisationstendenzen im Grunde skeptisch gegenübersteht (vgl. den Schluß des erwähnten Kapitels). D a d u r c h erklären sich freilich auch einige Fehlurteile: mit der Unterscheidung von Religion und Bibel hat L e s sing z. B. nicht »der religiösen Willkür T ü r und T o r « (S. 2 7 4 ) geöffnet, sondern umgekehrt die willkürlich-hermeneutische Exegese der Kontrolle durch die verbindliche, weil rationale, »innere Wahrheit« unterworfen.

77

Goethe an Herder, 20. 2 . 1 7 8 6 ( W A I V , 7, S. 1 8 3 ) . Herder, V o m Erkennen und Empfinden der menschlichen S. 2 0 2 ) .

78

79

Seele

(VIII,

D a z u und zur Funktion eines johanneisch-undogmatischen Religionsbegriffs innerhalb von Goethes und Herders Spinozarezeption der siebziger J a h r e

149

tierungsinstanzen der Lessingschen Religionskritik: w o sich ein dem »gesunden Menschenverstand« 80

verpflichtetes

Wahrheitsbewußtsein

der gefühlten »Heilsamkeit« christlicher Religiosität zu versichern sucht, hat die Offenbarung ihre Funktion als »souveränes göttliches Handeln am Menschen« 81 eingebüßt. Die paränetische Formel des »Kinderchen,

liebt

euch!«

ist das Evangelium

des Men-

schensohns, das humane Erbe einer im Namen Jesu säkularisierten dogmatisch-autoritativen Mittler- und Erlösungsreligion. Insofern lag Lessings Religionskritik, wie Hamann mit Recht vermutete,

also

durchaus »Feindschaft gegen das Christentum« zugrunde. Hamann kannte auch den Grund dieser Feindschaft: »Last sich wol«, so fragt er in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, »mit dem panischen System im K o p f ein christlich Vaterunser beten?« 82 Indem aber Lessing die »geoffenbarte Religion, die sich auf menschliche Zeugnisse gründet« und die deshalb »unmöglich eine ungezweifelte Versicherung

in irgend etwas gewähren kann«, 83 auf eine der vorurteils-

losen Liebe und dem »Wohlthun« 84 verpflichtete ethische Grundkategorie reduziert und der Vorstellung vom souveränen göttlichen Handeln am Menschen mit einem in der Autonomie des Individuums verankerten vgl. M. Bollacher, Der junge Goethe und Spinoza, S. 219 f f . , S. 68 f f . und S. 148 f f . Die dort entwickelte These einer Spinozarenaissance in den siebziger Jahren als eines fundamentalen Ereignisses der neueren Geistesgeschichte sowie der Nachweis einer Synthese von johanneischem Liebesglauben und spinozistischem Pantheismus bei Lessing, Herder und Goethe sind neuerdings durch H . Timms Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit nachdrücklich bestätigt worden: »Mit der Spinozarenaissance hat das johanneische Zeitalter des postkirchlichen, universalen Geistchristentums begonnen, das sich durch den steilsten Inkarnationsglauben auf den A-theismus des Deus sive natura sive ego verpflichtet wußte« (Gott und die Freiheit I. S. 10). 80

81 82

83

84

Ueber den Beweis des Geistes und der K r a f t (LM X I I I , S. 8). - Vgl. Lessings Brief an den Bruder Karl vom 20. 3. 1777 (LM X V I I I , S. 226). Karl Barth, zit. nach: R G G I V , Art. >OffenbarungLiebe< und >Wohltun< sind auch die Grundpfeiler von Nathans Religiosität: »Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurtheilen freyen Liebe nach! / Es strebe von euch jeder um die Wette, / Die K r a f t des Steins in seinem Ring' an Tag / Zu legen! komme dieser K r a f t mit Sanftmuth, / Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohlthun, / Mit innigster Ergebenheit in Gott, / Zu H ü l f ' ! « (Nathan der Weise, III, 7 - L M I I I , S. 94 f.).

150

Imperativ sozialen Handelns entgegentritt, weist er gerade den aus dem theologischen Deutungszusammenhang ausgegliederten menschlichen Zeugnissen eine wichtige Funktion im Kampf gegen das orthodoxe Wahrheitsdogma zu. Wieder treibt Lessing das auch von der wissenschaftlichen Theologie aufgeworfene Problem der Echtheit der kanonischen Schriften bis zu dem Punkt, wo die historische Wahrheit nicht mehr als Stütze der Offenbarung fungiert, sondern diese selbst im Rahmen eines historisch-kritischen Beweisverfahrens in Frage stellt: Die Offenbarungsbestreitende Tendenz von Lessings historischer Kritik, mit der er, über Reimarus hinausgehend, die Quellenlage und die Überlieferungsgeschichte der kanonischen Schriften zu einer der Grundfragen religionswissenschaftlicher Forschung macht, ohne jedoch wie Michaelis oder Semler das Evangelienproblem a limine in einen theologischen Denkhorizont einzubeziehen, ist bereits in der >Rettung des Hier. Cardanus< aus den frühen fünfziger Jahren beispielhaft formuliert. Für den Kommentator des Cardanschen Religionsvergleichs ruht die Wahrheit des Christentums vornehmlich auf Gründen historischer Art: M a n kann dieser Arten drey annehmen. Historische Gründe, welche aus den Zeiten v o r der Menschwerdung des Heilandes hergenommen sind; historische Gründe aus den Zeiten des Heilandes selbst, und endlich historische Gründe, aus den Zeiten die nach ihm gefolget sind. Die ersten sind diejenigen, die uns die Propheten an die H a n d geben; die andern sind die, welche auf den Wundern unsers Erlösers beruhen, und die dritten werden aus der A r t , wie die christliche Religion ausgebreitet worden, hergeholt. A l l e diese hat C a r d a n mit wenig Worten, aber mit sehr nachdrücklichen, berührt. 8 5

Was bedeutet aber die historische »Glaubwürdigkeit« 86 für die Wahrheit des Christentums? Steht und fällt diese Wahrheit »mit der Stichhaltigkeit seiner historischen Gründe«, 87 so kann doch für Lessing gerade der dogmatische Inhalt weder durch alttestamentliche Präfigurationen noch durch Christi Wundertaten noch auch durch die >Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion< stichhaltig bewiesen werden. Aber Cardanus, in dessen Religionsvergleich Lessing das gründlichste christlich-apologetische Kompendium aller Zeiten sehen will, läßt es bei den historischen Gründen gar nicht bewenden: anstatt alle Schwierigkeiten »unter das Joch des Glaubens«88 zu zwingen, führt er als weiteren Wahrheitsgrund des Christentums die Übereinstimmung der Gebote Christi mit der natürlichen Moral und der natürlichen Welt85 86 87 88

Rettung des Hier. Cardanus ( L M Rettung des Hier. Cardanus ( L M E . Hirsch, Geschichte der neuern Rettung des Hier. Cardanus ( L M

V , S. 3 2 0 ) . V , S. 3 2 0 ) . evangelischen Theologie. B d . I V , S. 1 4 0 . V , S. 3 2 1 ) .

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Weisheit ins Feld. Daß, wie Lessing betont, Moral und natürliche Philosophie mit der Lehre Christi nicht identisch sind, sondern - dies auch das spätere Argument gegenüber Reimarus — die Christus-Religion die Prinzipien der Vernunft nur enthält, zeigt doch, wie schon in der >Rettung des Hier. Cardanus< historische und philosophische Begründung ineinandergreifen und die historisch-kritische Methode nicht anders als die Ausgliederung einer undogmatischen, herrnhutisch oder johanneisch gefärbten Religion der tätigen Liebe aus dem christlichen Lehrsystem im unteilbaren Wahrheitsprinzip des von Lessing so häufig beschworenen »gesunden Menschenverstands« ihre gemeinsame Wurzel haben. Die »immer siegende Wahrheit« 89 im Christentum ist die übergeschichtliche, sich selbst beglaubigende Wahrheit, ein z w a r der menschlichen Vernunft durch göttliche Offenbarung vorgegebenes, aber der Vernunft nicht fremdes Orientierungsprinzip. Wenn also Lessing, wie Hirsch behauptet, »unterirdische Wühlarbeit« 00 treibt, dann höchstens darin, daß er den Geltungsanspruch eines gleichsam post festum dogmatisierten Christentums wieder an der ursprünglichen Lehre Christi bemißt, die dieser »als Mensch selbst erkannte und übte« und die »jeder Mensch mit ihm gemein haben kann« 9 1 und daß er die orthodoxe Verkehrung des Verhältnisses v o n rechtem Tun und rechtem Glauben wieder aufheben möchte: »Was hilft es«, so stellt Lessing bereits im Herrnhuter-Fragment die Frage Nathans, »recht zu glauben, wenn man unrecht lebt?« 92 Lessings Untersuchungen zur Entstehung und Ausbreitung des Christentums, die von den frühen sechziger Jahren bis hin zur 1 7 7 7 / 7 8 verfaßten >Neuen Hypothese< reichen, dienen somit dem Ziel, die philosophisch-moralischen Grundbegriffe einer »natürlichen Religion« 9 3 em89 90 91 92

93

Rettung des Hier. Cardanus ( L M V , S . 3 2 1 ) . E . Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Bd. I V , S . 140. Die Religion Christi ( L M X V I , S. $ 1 8 ) . Gedanken über die Herrnhuter ( L M X I V , S. 159). - V g l . auch die Kritik am orthodoxen Dogmatismus, die Lessing in der >Rettung des Hier. C a r d a nus< dem Mohammedaner in den M u n d legt: »Die Verehrung heiliger H i r n gespinster macht bey euch ohne Gerechtigkeit seelig; aber nicht diese ohne jene. Welche Verblendung!« ( L M V , S. 3 2 6 ) . V g l . die Definition der »natürlichen Religion« in dem Fragment >Ueber die Entstehung der geoffenbarten R e l i g i o n c »Einen Gott erkennen, sich die w ü r digsten Begriffe von ihm zu machen suchen, auf diese würdigsten B e g r i f f e bey allen unsern Handlungen und Gedanken Rücksicht nehmen: ist der v o l l ständigste Inbegrif aller natürlichen Religion« ( L M X I V , S. 3 1 2 ) . - In den religionsgeschichtlichen Fragmenten der sechziger Jahre erscheint die natürliche Religion, die jeder Mensch nach Maßgabe seiner K r ä f t e erkennen kann, als das von positiven Zusätzen unverfälschte Medium freier menschlicher Selbstverwirklichung, Offenbarung ist bloße bürgerliche Konvention, der freilich im Blick auf die »Unentbehrlichkeit« ( L M X I V , S. 3 1 3 ) eines die

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pirisch zu sichern und den Wahrheitsgrund der göttlich inspirierten O f fenbarungsdokumente mittels eines auf Selbstvergewisserung der V e r n u n f t dringenden kritischen V e r f a h r e n s in Hinsicht auf den »natürlichen L a u f der Dinge« 9 4 zu überprüfen. Bemerkenswert ist hierbei, mit w e l chem — auch v o n der Fachtheologie gerühmten 9 5 - wissenschaftlichen Scharfblick und mit welcher Konsequenz Lessing in den f r a g m e n t a rischen und unveröffentlichten Skizzen der sechziger und siebziger J a h r e seine Urevangeliumshypothese und die Vorstellung v o n einer noch nicht christologisch überhöhten »Religion Christi« aus den Hauptkriterien eines aufklärerischen Wahrheitsbewußtseins, nämlich >Vernunft< und >NaturTatsachenwahrheiten< bestimmten immanenten D e n k - und E r f a h r u n g s r a u m verankert. R a d i k a l sind diese Fragmente dadurch, daß in ihnen, im Gegensatz zu den veröffentlichten Schriften des Fragmentenstreits, die durch die A d ä q u a t i o n v o n »innerer Wahrheit« und »innerem G e f ü h l « verbürgte >Nützlichkeit< der christlichen Religion angesichts einer streng dualistischen Sonderung v o n V e r Bürger verpflichtenden gemeinschaftlichen Bekenntnisses eine »innere Wahrheit« (LM X I V , S. 313) zugesprochen wird. Die »innere Wahrheit« legitimiert sich also hier nicht durch sich selbst, sondern nur kraft ihrer Sozialisationsfunktion. Die beste positive Religion ist also die, »welche die wenigsten conventioneilen Zusätze zur natürlichen Religion enthält, die guten Wirkungen der natürlichen Religion am wenigsten einschränkt« (LM X I V , S. 313). Dies gilt für das Urchristentum und die Lehrart der ersten Christen, die so Lessings Urteil in dem Fragment »Von der Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion< - »von aussen nur den großen und schönen Lehrsatz der natürlichen Religion« (LM X I V , S. 317) zeigte. Das Urchristentum ist mit der natürlichen Religion nicht identisch, enthält aber deren Grundwahrheiten (vgl. Rettung des Hier. Cardanus LM V, S. 321 f.). Auch später, als sich Lessing dem Gedanken einer universalgeschichtlichen Rechtfertigung des Christentums zuwendet, hält er daran fest, daß die Wahrheiten der natürlichen Religion sämtlichen geoffenbarten Religionen zugrunde liegen müssen, wenn diese »das Zeichen der Erdichtung nicht an der Stirne führen« wollen (Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreyeinigkeit - LM X I I , S. 95; vgl. Gegensätze des Herausgebers - L M X I I , S. 434). 94

05

Von der Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion (LM X I V , S. 314). Über die >Neue Hypothese< schreibt E. Hirsch: »Welchen Scharfblick Lessing mit ihr beweist, erhellt daraus, daß es noch ungefähr zwei Menschenalter gedauert hat, bis den Theologen klar wurde, die historisch-kritische Lösung der Evangelienfrage sei unerläßliche Vorbedingung jedes Versuchs zur Geschichte Jesu von Nazareth« (Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Bd. IV, S. 160). J

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nunft (Natur) und Offenbarung gar nicht in den Blick rückt, die relative historische wie moralische Rechtfertigung des Christentums also dem dominanten Interesse einer Grenzziehung zwischen religiöser Transzendenz und einem sich in der Korrelation von Natur und Vernunft konstituierenden Immanenzprinzip untergeordnet wird. In diesem Sinne einer methodisch-experimentellen Konfrontation von natürlicher und positiver Religion, von historischem Ereignis und theologisch auslegendem Bericht bildet das wohl 1780 entstandene Fragment >Die Religion Christi< die Summe von Lessings kritisch-historischen Untersuchungen, insofern hier die Grundfrage nach dem Verhältnis von Göttlichkeit und Menschlichkeit in der Person des Religionsstifters auf eine philosophische Bestimmung des Menschen zurückführt, »die die aufklärerischen Begriffe Vernunft, Natur und Humanität in ihrer wechselseitigen Begründung erläutert.« 9 ' In der Problematisierung des dogmatisch-heilsgeschichtlichen Aspekts der Person Christi - »Ob Christus mehr als Mensch gewesen, das ist ein Problem. Daß er wahrer Mensch gewesen, wenn er es überhaupt gewesen; daß er nie aufgehört hat, Mensch zu seyn: das ist ausgemacht«97 - fließen aber auch sämtliche der im >Testament Johannis< und in den >Axiomata< entfalteten Motive einer johanneisch-säkularisierten Vernunftreligion zusammen: die unter ein Johannes-Motto gestellte und im Namen der Menschlichkeit Jesu vollzogene Trennung von »Religion Christi« und »christlicher Religion« (§ 2) rechtfertigt sich als Antwort der Vernunft auf die Offenbarungstheologie, die die Spannung zwischen universellem und singulärem Glauben (§ 3 und § 4), einfacher und doppelter Natur Christi (§ 5), Religion und Bibel (§ 6), eigenevidenter und hermeneutisch-vieldeutiger Wahrheit (§ 7 und § 8) in einem die Vernunft bestechenden, theozentrischen Monismus aufgehen läßt. Das, was dem Christentum seine »wahre Consistenz« gab, nämlich die theologische Rechtfertigung der göttlichen Person Christi im Evangelium des Geistes, ist »unbegreiflich«,98 ist ein den natürlichen Erfahrungshorizont des Menschen übersteigendes vieldeutiges Dogma. Lessings Frage aus der Schrift >Ueber den Beweis des Geistes und der K r ä f t e »In welcher Verbindung steht mein Unvermögen, gegen die Zeugnisse von jenem [d. h. von Christi Wundertaten] etwas erhebliches einzuwenden, mit meiner Verbindlichkeit etwas zu glauben, wogegen sich meine Vernunft sträu98

97 98

1

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K . Bohnen, Geist und Buchstabe. S. 81. - Schon C . Hebler sah in Lessings Weigerung, an Jesus als einen » G e g e n s t a n d der Religion« (LessingStudien. 1862. S. 99) zu glauben, den Beweis für seine Distanz zum Christentum. Die Religion Christi ( L M X V I , S. 518). Die Religion Christi ( L M X V I , S. 518).

bet?«99 löst sich von hier aus: für denjenigen, der aus den Voraussetzungen einer selbstmächtigen, auf Progression und Erweiterung zielenden Methodenvernunft denkt, der, »eben so reich an kalter kritischer Gelehrsamkeit, als frey von Vorurtheilen«, sich um den »rechten Weg«100 bekümmert, ist »Verbindlichkeit« nicht ein Kriterium der in ihrem Geltungsanspruch nur mit der »Chiromantie« 101 und der »Astrologie«102 vergleichbaren Offenbarungswahrheit, sondern der im vernunftgemäßen Nachforschen sich bewährenden anthropozentrischen Orientierungsnormen. Damit nun erweist sich die axiomatische Gleichung von »innerer Wahrheit«, »innerer Güte« und »innerem Gefühl« als tragendes Motiv der Lessingschen Religionsphilosophie, insoweit diese die Aporetik der christlichen Wahrheitsbeweise wie den Rationalismus der FragmentenKritik von einem in der Ursprünglichkeit der Subjektivität sich entfaltenden Evidenzprinzip her in Frage stellt und hierdurch den faktischen Suprarationalismus der christlichen Offenbarungslehre einer humanen, der natürlichen Kongruenz von religiös-moralischem Gefühl und kritischem Intellekt verhafteten Wahrheitsinstanz unterwirft. Mit dem Begriff der »inneren Wahrheit« schafft sich Lessing ein methodologisches Instrument, mit dessen Hilfe die autoritative Sinnverfügung der historischen Apologetik als ein der wahren Religiosität konträres Vorurteil abgewiesen, das authentische Erbe der Christus-Religion aber in der Approximation von unverfälschter Geschichtswahrheit und ursprünglicher Moralität bestimmt werden kann. Leitende Idee bei der Umwendung des orthodoxen Glaubensbegriffs in einen Bezugspunkt vernunftgemäßer Selbstbestimmung bleibt die These einer Implikation der Vernunft in der Offenbarung: Gewähr für die Legitimität eines mit den Namen Luthers, Johannes' und Spinozas verbundenen kritisch-laizistischen Nachfragens ebenso wie für die Authentizität einer an den »Früchten« zu messenden weltlich-praktischen Religio.103 Weder die >Axiomata W o m i t sich die geoffenbarte Religion am meisten weiß, macht mir sie gerade am verdächtigstem beklagt Lessing die Sinnlosigkeit einer Wissenschaft des Zukünftigen: »Dieser G r u n d gegen die Astrologie ist ein G r u n d gegen alle geoffenbarte Religion« ( L M X V I , S. 400).

108

Die neuerdings v o n katholischer Seite vertretene These, wonach Lessings Kritik im Fragmentenstreit nicht die materielle Substanz des Christentums

15 S

matische Fundierung einer an Wolfis Methodologie geschulten Kritik der historischen Apologetik noch die ethisch-reformatorische, am urchristlichen Liebesgebot orientierte Wiederholung humaner Traditionsgehalte bestätigen indessen den der Aufklärungsepoche zum V o r w u r f gemachten abstrakten, in der Ablehnung der >Vorurteile< gegründeten Gegensatz von Mythos und Logos und damit jene - wie Gadamer formuliert -

»Ent-

machtung der Überlieferung«, die als »Vorurteil gegen die Vorurteile« 104 gegen ihre eigene Logik verstoße. Wenn Gadamer bei dem Versuch, die Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip zu erheben, wahre Autorität als Folge von » E r k e n n t n i s« 105 begreift, so könnte Lessing ein Exempel dafür sein, wie die vom Grundsatz der »inneren Wahrheit« getragene Rehabilitierung eines dem Menschengeschlecht ersprießlichen Überlieferungssinns sich zwischen den Extremen eines dogmatischen Rationalismus und der von Gadamer propagierten Selbst-Entmachtung

des souveränen Individuums verwirklichen

ließe.

Die These, wonach in Wahrheit die Geschichte nicht uns gehöre, sondern wir der Geschichte gehören und Subjektivität nur als Zerrspiegel fungiere, 106 reduziert das freie und vernünftige Handeln des Menschen, in des-

treffe, sondern nur dessen zeitbedingte Trübungen (vgl. A. Schilson, Geschichte im Horizont der Vorsehung. S. 98 ff., S. 106), setzt sich über alle Evidenz des Wortsinns hinweg und ignoriert die von Goeze bis Aner und Barth unbestrittene Radikalität der Lessingschen Position in den siebziger Jahren. Selbst Thielicke spricht von der »aufklärerisch destruktiven K r i t i k« (Lessing und Goeze. S. 45) Lessings, die den Kern des christlichen Glaubens berühre - ein Urteil, das etwa den an Kierkegaard und Thielicke anknüpfenden B. Bothe vor einer einseitig irrationalistischen Deutung des »inneren Gefühls« (vgl. Glauben und Erkennen. S. 64 ff.) hätte bewahren können. (Eine ähnliche Auslegung übrigens bei dem ebenfalls von Thielicke herkommenden Manfred Durzak, Vernunft und Offenbarung im Denken Lessings. In: Durzak, Poesie und Ratio. Vier Lessing-Studien. 1970. [Schriften zur Literatur. Bd. 14] S. 126). Die dekretierte Trennung von eigentlichem Christentum und uneigentlicher Depravation bleibt, solange der Leser nicht über die Gründe neologischer, orthodoxistischer oder hierarchischklerikaler Entfremdungen aufgeklärt wird, moralistisches Argument oder - bestenfalls - vaticinium ex eventu des >fortgeschrittenen< Theologen. 104

103 109

Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 3., erweiterte Auflage. 1972. S. 255. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. S. 264. »In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. . . . Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel« (H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. S. 261). - Zur Kritik am substantialistischen Traditionalismus vgl. auch Hans Robert Jauß, Geschichte der Kunst und Historie. In: Jauß, Literaturgeschichte als Provokation. 1970. (edition suhrkamp 418) S. 208 f f .

IJ 6

sen Namen sie verkündet wird, auf den Gestus der »Bewahrung«. 1 0 7 D a mit redet aber Gadamer einem selbst dogmatischen Traditionalismus das Wort, der verdeckt, daß das Angesprochensein des Menschen durch die Überlieferung nicht dem Vernunftgehalt der Tradition, sondern der vernunftgemäßen Aneignung des geschichtlichen Erbes aus dem Bewußtsein der Gegenwart heraus entspringt. Einem solchen Wechselspiel von Frage und A n t w o r t gleicht die Religionskritik des Aufklärers Lessing. Daß die Religion als Inbegriff des durch Tradition und Autorität Sanktionierten ihre Dignität nicht sich selbst, sondern ihrer in der individuellen Praxis zu entfaltenden vernünftig-moralischen Potenz verdankt, ist auch die Lehre der Ringparabel: wer der K r a f t des Steins nicht zu H i l f e kommen will, bleibt vom Vermächtnis der Wahrheit ausgeschlossen; Geschichte, auf »Treu und Glauben« 1 0 8 angenommen, ist bloßer Buchstabe, ist tautologische Rechtfertigung zufälliger Positivität. Wahrheit aber erscheint nur in der Praxis des Subjekts: im Wollen, in der Gesinnung, im Tun.

3. Die Wahrheit der Religionsgeschichte Der zuerst in der >Rettung des Hier. Cardanus< (erschienen 1 7 5 4 im 3. Teil der >Schrifftenphilosophia moralis aut naturalis< orientierten wissenschaftlichen Religionsvergleichs gewinnt bei Lessing vor dem Hintergrund der monistischen Religionskritik des Reimarus und dem apologetischen Zurückweichen von Orthodoxie und halbschlächtiger Neologie den Charakter eines programmatischen, auch durch das Zeugnis der inneren Biographie bestätigten Reflexionsschemas. Lessings Absicht, einmal zu prüfen, »quid liquidum sit in causa Christianorum« 1 sowie seine sich in der Mitte zwischen dem orthodoxen Supranaturalismus, der neologischen Auslegung der >reasonableness< des Christentums und dem rationalistischen Reduktionsverfahren des Fragmentisten bewegende Kritik der historischen Apologetik mündet in die faktische Negation des dualistischen, göttliche und menschliche Gründe trennenden theologischen Wahrheitskonzepts k r a f t einer sich selbst beglaubigenden »inneren Wahrheit«. Offenbarung ist in den historisch-kritischen Bibel107

108 1

Tradition »ist ihrem Wesen nach Bewahrung, wie solche in allem geschichtlichen Wandel mit tätig ist« (H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. S. 266). Nathan der Weise, III, 7 ( L M III, S. 93). Bibliolatrie (LM X V I , S. 473). 157

Studien und den antineologischen Entwürfen der siebziger Jahre auf einen Begriff gebracht, der, analog zum pragmatischen Offenbarungsverständnis in Spinozas epochemachendem >Theologisch-Politischem TraktatOffenbarungTheologisch-Politischen TraktatsTheologisch-Politischen Traktat« die Anschauungen des >Testaments Johannis« vorweggenommen: w a h r e Rechtgläubigkeit manifestiert sich im T u n des Menschen, nicht in seinem dogmatischen Räsonnement. S i n d also »seine Werke gut, so ist er gläubig, auch wenn er in den Dogmen v o n den anderen Gläubigen abweicht; sind sie dagegen schlecht, so ist er gleichwohl ungläubig, auch wenn er den Worten nach mit ihnen übereinstimmt« (S. 2 $ 2 f.).

3

V g l . Reimarus, V o n Duldung der Deisten ( L M X I I , S. 2 j j ) .

158

Lessings Verdacht in dem Brief an Moses Mendelssohn vom 9. Januar 1 7 7 1 — manchmal des Nachdenkens müde geworden ist,4 so dort, wo er sich bei dem Disjunktionsschema von historischer Wahrheit und trügerischer Pfaffenpolitik beruhigt und die geschichtlichen Wandlungen der Lehre ausschließlich als durchsichtige politische Machinationen des Klerus verwirft. Lessing ist sich zwar mit Reimarus der Diskrepanz zwischen dem aufklärerischen Selbstbewußtsein und dem Geltungsanspruch supranaturaler Offenbarung bewußt, doch seine - vor allem in den >Gegensätzen< und der >Duplik< artikulierte - Weigerung, bei aller Anerkennung des in der >Schutzschrift< angewandten bibelkritischen Instrumentariums die für die christliche Religion ruinöse Konsequenz der Fragmente mitzuvollziehen, entspringt einer grundsätzlichen Distanz: weder begreift er das Individuum als ursprüngliches und ausschließliches Vernunftwesen, noch deckt sich sein Vernunftbegriff mit dem statischaprioristischen Rationalismus des Fragmentisten. Bereits in den Gegensätzen des Herausgebers< stehen Lessings Hinweise auf den adamitischen Antagonismus von Vernunft und Trieb in Verbindung mit dem Versuch, die rationalistische Apodiktik des Reimarus im Namen der sich aufklärenden Vernunft mit dem geschichtsphilosophischen Schibboleth der Zeit, dem Gedanken der Perfektibilität, zu vermitteln. Die Idee einer Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen als individualethisches wie universalgeschichtliches Telos läßt sich in Umrissen über die >Hamburgische Dramaturgie< bis in die frühen fünfziger Jahre zurückverfolgen. Der Auslegung der Katharsis im Sinne einer »Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten«, 5 eines Übergangs vom Trieb zur moralischen Vernunft also, steht Lessings Forderung an den Tragödienschreiber zur Seite, er müsse in seinem Werk einen »Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers« geben, den Zuschauer also an den Gedanken gewöhnen, wie sich doch »alles zum Besten auflöse . . . « ' Die Einheit von wirkungsästhetischem Imperativ und einer Ontologie des tragischen Gedichts verweist hier deutlich auf die Grundlinien der Leibnizschen Philosophie, die Idee der durchgängigen Vernünftigkeit des Universums und dessen aus Entwicklungssubstanzen in unendlicher Kette sich aufbauende monadologische Struktur. Die Perzeptionslehre der Monadologie, hier als Vermittlungsinstanz zwischen ästhetischem und reflexivem Bereich fungierend, wird deshalb im folgenden auf ihre Bedeutung für Lessings Geschichtsbegriff hin zu befragen sein. * Vgl. L M X V I I , S. 365. s Hamburgische Dramaturgie, 78. St. ( L M X , S. 1 1 7 ) . 6 Hamburgische Dramaturgie, 79. St. ( L M X , S. 120).

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Wie sehr Lessing sich den allgemeinen Gedanken einer prinzipiellen Perfektibilität aller Dinge aber schon in frühen Jahren zu eigen gemacht hat, erhellt aus der Reaktion des jungen Berliner Schriftstellers und R e dakteurs auf Rousseaus erste Abhandlung über die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste sowie aus dem Briefwechsel mit Mendelssohn, der Rousseaus zweite Abhandlung über die Ungleichheit unter den Menschen 1 7 5 6 ins Deutsche übertragen und sich in einem >Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing in Leipzig< kritisch mit dem citoyen de Genève auseinandergesetzt hatte: Bereits die Einleitung in das »Neueste aus dem Reiche des Witzes< vom April 1 7 5 1 , jene in neun Stücken bis Dezember desselben Jahres von Lessing herausgegebene Monatsbeilage zu den »Berlinischen Staats- und Gelehrten ZeitungenKulturzyklentheorieo Alles hat in der W e l t seinen gewissen Zeitpunkt. Ein Staat wächst, bis er diesen erreicht hat; und so lange er wächst, wachsen auch Künste und W i s senschaften mit ihm. Stürzt er also, so stürzt er nicht deswegen, weil ihn diese untergraben, sondern weil nichts auf der Welt eines immerwährenden Wachsthums fähig ist, und weil er eben nunmehr den G i p f e l erreicht hatte, v o n welchem er mit einer ungleich größern Geschwindigkeit wieder abnehmen soll, als er gestiegen w a r . 1 0

2. Rousseau übersieht, daß auch das von ihm als »opprobre éternel d'une vaine doctrine« — d. h. der in der Preisfrage unterstellten Parallelität von zivilisatorischem und moralischem Fortschritt — beschriebene tugendhafte, weil kunstfeindliche und kriegerisch-heroische Sparta, »cette république de demi-dieux plutôt que d'hommes«, 11 kaum länger blühte als das witzige Athen der Künstler und Philosophen. Und selbst wenn es ausgemacht wäre, daß die kriegerischen Eigenschaften eines Volkes im Zuge der Ausbreitung der Wissenschaften verschwinden, »so ist es noch die Frage, ob wir es für ein Glück oder für ein Unglück zu halten haben? Sind wir deswegen auf der Welt, daß wir uns unter einander umbringen sollen?« 12 3. Indem der Autor der Akademieschrift die Wissenschaften und Künste für deren Mißbrauch verantwortlich macht, beurteilt er sie nicht nach » L M I V , S . 388. L M I V , S . 394. 11 Rousseau, Discours sur les Sciences et les A r t s . I n : Rousseau, D u Contrat Social. 1 9 6 2 . (Classiques Garnier) S. 9. 12 D a s Neueste aus dem Reiche des Witzes. Monat A p r i l 1 7 J 1 ( L M I V , S . 394). 10

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den ihnen eigentümlichen Gesetzen, sondern diskreditiert mit einem willkürlichen Zerrbild zugleich den Gesamtbereich wissenschaftlichkünstlerischer Produktion. Das Machwerk steht aber nur für die Unfähigkeit seines Schöpfers: nicht die Malerei verführt, sondern der Maler, die frivole Poesie bezeugt lediglich die Immoralität des Dichters. Malerei wie Dichtung »können der Tugend dienen. Die Künste sind das, zu was wir sie machen wollen. Es liegt nur an uns, wenn sie uns schädlich sind.«13 In der Assoziation von Kunst und Moral kündigt sich der Katharsisbegriff der >Hamburgischen Dramaturgie< an, jener wirkungsästhetischen Konzeption also, in der durch die moralische Forderung nach Mitleidserregung die im antiquarischen »Laokoon< statuierte antagonistische Gegenüberstellung von künstlerischem >delectare< und wissenschaftlichem >prodesse< wieder zur Einheit verbunden wird. 14 Aber vor allem die von Lessing dem Subjekt zugewiesene aktive Rolle im Prozeß der Befreiung des Menschen aus dem Zustand ursprünglicher Wildheit ist mit dem regressiven Fatalismus von Rousseaus Zivilisationskritik unvereinbar. Deshalb hat Rousseau in den Augen Lessings Unrecht. Aber - so resümiert er sein Urteil an anderer Stelle — »ich weis keinen der es mit mehrerer Vernunft gehabt hätte.« 15 Hinsichtlich der durch Rousseau und Voltaire repräsentierten ideologischen Antagonismen des siècle des lumières steht Lessing, der ja schon frühzeitig in die Aushängebogen des >Jahrhunderts Ludwigs XIV.< Einblick genommen hatte und dem an Friedrichs Hofe tätigen Philosophen bescheinigte, den Menschen in den Mittelpunkt seiner Geschichtsbetrachtung gerückt zu haben, also eindeutig auf der Seite Voltaires.16 Ein Ver13 14

15 16

L M I V , S. 394 f. Im >Laokoon< schreibt Lessing: » . . . der Endzweck der Wissenschaften ist Wahrheit. . . . Der Endzweck der Künste hingegen ist Vergnügen; . . . « ( L M I X , S. 13). Dieser für das 18. Jahrhundert so bemerkenswerte unhorazische Gegensatz von >prodesse< und >delectare< ist freilich auch für den >Laokoon< kaum repräsentativ: denkt Lessing hierbei primär an die Philosophie und die (vor allem bildende) Kunst der Alten, so rückt gerade sein >argumentativer Ansatz« beim Schmerz- und Mitleidsproblem die Abhandlung wieder in die Mitte zwischen den Briefwechsel über das Trauerspiel und die »Hamburgische Dramaturgie« (vgl. W. Barner in: Lessing: Epoche - Werk - Wirkung. S. 205 f.). »Neunter Brief< aus den >Schrifften. Zweyter Theil< ( L M V , S. 65). Vgl. >Des Herrn von Voltaire Kleinere Historische Schriften. Aus dem Französischen übersetzt. Vorrede des Uebersetzers< ( L M V , S. 2), die Selbstanzeige in der »Berlinischen Privilegirten Zeitung« vom 28. 10. 1 7 5 1 ( L M I V , S. 364 f.) und vor allem die Rezension des »Essai sur les moeurs et l'esprit des nations« vom Jahre 1753 ( L M V , S. 1 4 3 f.). - Der das Jahrhundert be-

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gleich zwischen Lessings Einleitung in die Literaturbeilage der »Berlinischen Staats- und Gelehrten Zeitungen< und der >Introduction< zum >Siècle de Louis X I V < , das in der >Vorrede des Uebersetzers< zu des >Herrn von Voltaire Kleineren Historischen Schriften< als »wichtiges Werk« 1 7 dem Interesse der Leser empfohlen wird, erweist die Übereinstimmung der Anschauungen: Lessings zyklentheoretischer, gleichwohl der Perspektive einer universellen Aufwärtsbewegung zugeordneter Ansatz entspricht Voltaires Konzeption einer über die Hochkulturen Griechenlands, Roms und Italiens bis in das Jahrhundert Ludwigs X I V . verlaufenden, immer wieder durch Perioden des Niedergangs und der Barbarei gehemmten Entwicklungslinie, die v o m K a m p f des Menschen um A u f k l ä rung, Fortschritt und Bildung kündet; Medium und Agens des Fortschritts sind aber, wie f ü r Lessing, die Wissenschaften und Künste, denn diese - so eine Formulierung aus dem >Résumé< von Voltaires Hauptwerk >Essai sur les moeurs et l'esprit des nations< - »adoucissent les esprits en les éclairant . . . « ; 1 8 auch Lessings Aversion gegen Rousseaus Glorifizierung der martialischen Tugenden steht im Einklang mit den Grundgedanken der >IntroductionEssai sur les moeurs et l'esprit des nations< in der »Berlinischen Privilegirten Zeitung< vom 2. Januar 1 7 5 3 hervor. 2 0 D a ß Lessing also durch die Werdensstruktur und die Logizität des Leibnizschen Substanzbegriffs sowie die am Fortschritt der Vernunft orientierte Geschichtsschreibung Voltaires lange vor den siebziger Jahren f ü r eine auf der Kategorie der Perfektibilität basierende Geschichtsbestimmende Antagonismus zwischen der »rationalistischen Strömung« und der »sentimentalen Strömung« (Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes. Aus dem Französischen übertragen von Harriet Wegener. j . Auflage. 1939. S. 507) erreicht gerade zu Beginn der fünfziger Jahre einen vorläufigen Höhepunkt: Rousseau legt 1 7 5 0 seine erste Abhandlung vor, im Jahr darauf erscheint das Programm der »Encyclopédies der von d'Alembert verfaßte »Discours préliminaire*! 17 L M V , S. 2. 18 Voltaire, Essai sur les moeurs et l'esprit des nations. In: Oeuvres de Voltaire. A v e c Préfaces, Avertissements, Notes, etc. Par M. Beuchot. 7 2 Bde. 1829 bis 1940. Bd. X V I I I , S. 376. 19 Voltaire, Siècle de Louis X I V . Chapitre I: Introduction. In: Oeuvres de Voltaire. Bd. X I X , S. 242. - Vgl. S. 237 f f . *> L M V , S. 144.

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trachtung prädisponiert war, bestätigt dann nochmals seine Antwort auf Mendelssohns >Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing in Leipzigs das jener anläßlich der von ihm unternommenen Verdeutschung des >Discours sur l'origine de l'inégalité parmi les hommes< seinem Freund zur Beurteilung vorgelegt hatte. Lessings Einwände gegen Mendelssohn, der in seinem eher langatmigen, empfindsam-irenischen >Sendschreiben< Rousseau gleichsam »wider seine eigene Lehre« 21 zu interpretieren und dessen Zivilisationskritik über eine Theorie des Mitleids mit dem Ideal vollkommener, >sokratischer< Sittlichkeit zu verknüpfen suchte, zielen auf den Kern der Sache, nämlich die bei Rousseau in negativer Spiegelung konturierte Perspektive der Vervollkommnung. Nach Mendelssohn erscheint die Wahrheit der Rousseauschen Philosophie nicht in der geselligkeitsfeindlichen Auffassung vom glücklichen Wilden, sondern in den kontradiktorischen Aussagen des Verfassers, der dem vorgesellschaftlichen, in sich selbst ruhenden natürlichen Menschen doch eine Tendenz zur Selbstvervollkommnung nicht absprechen möchte: Rousseau kann sich nicht überwinden, dem natürlichen Menschen die Bemühung, sich vollkommener zu machen (la perfectibilité), abzustreiten. O ! w a s für siegreiche W a f f e n hat er durch dieses Eingeständniß seinen Gegnern in die H ä n d e gegeben! D e r Wilde hat ein Bestreben, sich vollkommener zu 22 machen.

Ausgehend vom Begriff der Perfektibilität als einer anthropologischen Grundkategorie des auf Ausbildung seiner Moralität angelegten Naturmenschen umreißt Mendelssohn im folgenden eine teleologisch strukturierte Entwicklungstheorie, in der die Urzustandshypothese idealistisch überhöht, die Selbstentfaltung des sittlichen Individuums aber zugleich als naturgesetzlich notwendige und unaufhaltsame Verwirklichung des Schöpfungszwecks ausgelegt wird. An der evolutionistischzielgerichteten Überakzentuierung der Perfektibilität setzt Lessings Kritik der Mendelssohnschen Gedanken an: Sie haben mir ungemein gefallen, ob ich mir gleich einige E i n w ü r f f e auf unsre mündliche Unterredung vorbehalte. Sie betreffen vornehmlich das z w c y t e Stück, aus welchem Sie, nach den eignen Einräumungen des R o u s s e a u , die Moralität den Menschen wieder zusprechen wollen; die Perfectibilité. Ich weis eigentlich noch nicht, w a s R o u s s e a u für einen B e g r i f f mit diesem Worte verbindet, weil ich seine Abhandlung noch bis jetzt mehr durchgeblättert, als gelesen habe. Ich weis nur, daß ich einen ganz andern Begrif damit verbinde, als einen, woraus sich das, was Sie dar21

Moses Mendelssohn, Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing in L e i p zig. I n : Mendelssohn, Gesammelte Schriften. H g . von G . B. Mendelssohn. 7 Bde. 1 8 4 3 - 1 8 4 5 . B d . I, S. 3 7 6 .

22

M . Mendelssohn, Sendschreiben an den H e r r n Magister Lessing. S. 3 7 8 .

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aus geschloßen haben, schließen ließe. Sie nehmen es für eine B e m ü h u n g , sich vollkommner zu machen; und ich verstehe bloß die Beschaffenheit eines Dinges darunter, vermöge welcher es vollkommner werden kann; eine Beschaffenheit, welche alle Dinge in der Welt haben, und die zu ihrer Fortdauer unumgänglich nöthig war. Ich glaube der Schöpfer mußte alles, was er erschuf fähig machen, vollkommner zu werden, wenn es in der Vollkommenheit, in welcher er es erschuf, bleiben sollte. Der Wilde, zum Exempel, würde, ohne die Perfektibilität, nicht lange ein Wilder bleiben, sondern gar bald nichts beßer als irgend ein unvernünftiges Thier werden; er erhielt also die Perfektibilität nicht deswegen, um etwas beßers als ein Wilder zu werden, sondern deswegen, um nichts geringers zu werden. - 2 3

Vergleicht man Lessings Antwort mit der vor allem seit den siebziger Jahren in Deutschland geführten Diskussion des Perfektibilitätsbegriffs - an der Kontroverse beteiligten sich Schlözer und Herder, Reimarus und Tetens —, muß seine auf den ersten Blick eher unzeitgemäße Position überraschen. Mendelssohns Umdeutung der Rousseauschen Lehre hatte ja darin bestanden, daß er das im zweiten >Discours< entwickelte Gegensatzpaar von >Perfektibilität< und >DeterioribilitätUnbestimmtheit< zuerkannt wird, 24 wieder entschieden dem in der Aufklärung dominierenden teleologischen Interpretationsschema unterordnete, das, wie Günther Buck im Blick auf die Genesis des geschichtlichen Bewußtseins schreibt, »Rousseaus Versuch, der Historizität des Menschen unter möglichster Absehung von teleologischen Deutungen nahezukommen«, von »vornherein in schiefem Licht erscheinen«25 ließ. Die von Lessing in gedrängter Form dargestellte Theorie der Perfektibilität als Beschaffenheit eines Dings, vermöge welcher es vollkommener werden k a n n , d. h. als Potenz zur Vervollkommnung und als Grundbedingung für die Perpetuierung des eigenen Vollkommenseins, korrigiert nun das naiv-enthusiastische Fortschrittscredo Mendelssohns in zweifacher Hinsicht: die Betonung des Potentialitätscharakters der Perfektibilität, bei Rousseau die von der zufälligen Einwirkung äußerer Ursachen abhängige »faculté de se perfectionner«, 26 verschiebt den Akzent vom Gedanken 23 24

25 26

Brief an Moses Mendelssohn, 21. 1. 1756 (LM X V I I , S. j 1 f.). Vgl. dazu Günther Buck, Selbsterhaltung und Historizität. In: Geschichte Ereignis und Erzählung. Hg. von Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel. 1973. (Poetik und Hermeneutik V). S. 29 f f . - Rousseau thematisiert den Gegensatz von >(se) perfectionner* - >(se) détériorer* an zwei Stellen des >Discours sur l'origine de l'inégalité parmi les hommes*: vgl. Du Contrat Social. S. 34 und S. 65. G. Buck, Selbsterhaltung und Historizität. S. 34. Rousseau, Discours sur l'origine de l'inégalité parmi les hommes. S. 48; vgl. S. 6$. 165

eines naturnotwendigen Entwicklungsgangs auf die in der Realität der Dinge bereits involvierte Vollkommenheit. Damit scheint Lessing jedoch den Rousseauschen Fundamentalbegriff der >perfectibilité< in dem später von Reimarus und Herder verworfenen Sinn einer scholastischen >potentia remota« auszulegen, nicht als wirkende Kraft, sondern — dies Herders Vorwurf gegen Rousseau in der >Abhandlung über den Ursprung der Sprache< - als »réflexion en puissance«, mithin als bloßen »Scheinbegrif«. 27 Buck, der sich in seinem Aufsatz über >Selbsterhaltung und Histor i z i t ä t in einer Anmerkung auch mit Lessings Deutung der Perfektibilität befaßt, assoziiert deshalb die in der Antwort an Mendelssohn skizzierte These der scholastischen Tradition, nämlich den >Disputationes metaphysicae< des Suarez.88 Daß Lessing selbst, wenn auch in geringerem Maße als Mendelssohn, der entelechischen Interpretation verhaftet und damit außerhalb eines dezidiert neuzeitlichen, an der Kategorie der >Selbsterhaltung< orientierten Geschichtsbewußtseins bleibt, steht außer Zweifel. Eine direkte Übernahme von scholastischen Traditionsgehalten widerspräche aber sowohl Lessings »produktiver Rezeption« 29 der Überlieferung als auch der vielfältigen Vermittlung des alten Denkens gerade in den für die Aufklärung bestimmenden Systemen Spinozas und Leibniz'. So integriert Spinoza die scholastische Vorstellung von der »creatio continua^ die ja auch bei Descartes zur Stützung des Gottesbeweises diente,30 derart in seine Immanenzphilosophie, daß der Satz, wonach Gott »nicht nur die Ursache dafür ist, daß die Dinge zu existieren anfangen, sondern auch dafür, daß sie im Existieren beharren«, die von allen theologischen Implikationen befreite Gleichsetzung von »R e a 1 i t ä t « und » V o l l k o m m e n h e i t « , die Grundformel der neospinozi27 28 29

30

Herder, Sämmtliche Werke V , S. 3 3 . V g l . G . Buck, Selbsterhaltung und Historizität. S. 34, A n m . 3 2 . V g l . W i l f r i e d Barner, Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. 1 9 7 3 . - Barner deutet Lessings Seneca-Rezeption, in der er ein » I n einander von Rezeption und Produktion in einer dialektischen Vielschichtigkeit« (S. 9 5 ) erkennt, als exemplum für Lessings kritische Aneignung der Überlieferung. Gegenüber der Tradition verhalte sich Lessing - dies ein auf Seneca geprägtes D i k t u m aus dem T r a k t a t über dessen Trauerspiele - »als ein K o p f , welcher selbst denkt« (S. 95 f., S. 1 2 2 ) . Barners Resümee: »>Aufklärendesrettendes< Erschließen, produktives Aneignen und agonales >Modernisierenc diese Dreiheit bestimmt Lessings Verhältnis zu Seneca von A n f a n g an« (S. 9 3 ) beschreibt somit den repräsentativen Einzelfall einer allgemeinen Verflechtung von Rezeptivität und Produktivität in Lessings S c h a f fen. V g l . beispielsweise die >Meditationes de Prima PhilosophiaRegulae< als zentrale Erkenntnisinstanz des Intellekts über die Deduktion gestellt,70 bei Spinoza an die Spitze seiner triadischen, in die Gattungen der Meinung oder Vorstellung, der Vernunft und des anschauenden Wissens (scientia intuitiva) untergliederten Erkenntnislehre. Da zur ersten Erkenntnisgattung alle Ideen gehören, die »inadäquat und verworren sind«,80 kann die 77

» O m n i s scientia est c o g n i t i o c e r t a Sc e v i d e n s ; . . . « ( R e g u l a e ad d i r e c t i o n e m ingenii. I n : O e u v r e s de D e s c a r t e s . B d . X , S. 362). - Z u m V e r h ä l t n i s v o n V e r s t a n d , E i n b i l d u n g s k r a f t , S i n n l i c h k e i t u n d G e d ä c h t n i s v g l . die X I I . R e g e l , S. 4 1 0 f f .

78

D i s c o u r s de la m é t h o d e ( O e u v r e s de Descartes. B d . V I , S. 38). V g l . die I I I . R e g e l ( O e u v r e s de D e s c a r t e s . B d . X , S. 366 f f . ) . S p i n o z a , D i e E t h i k . I I . T e i l , L e h r s a t z 4 1 , B e w e i s , S. 90.

79 80

181

auf klaren und deutlichen Ideen beruhende Einsicht in die Ewigkeitsstruktur des Seienden nur aus der zweiten oder dritten Erkenntnisgattung entspringen. Denn die »Erkenntnis der ersten Gattung ist die einzige Ursache der Falschheit, die der zweiten und dritten dagegen ist notwendig wahr.« 81 Für das allgemeinaufklärerische Selbstbewußtsein des achtzehnten Jahrhunderts wird dann aber vor allem Leibnizens Werk bestimmend, dessen enzyklopädisch-universelles, in eine Vielzahl von »Gelegenheitsschriften« 82 zersplittertes Erbe zum unerschöpflichen Arsenal der vorkantianischen Vernunftphilosophie gehört. Die trivialisierende Rezeption des Leibnizschen Weltbilds in der sogenannten Popularphilosophie - ihr gibt Hegel die Schuld am »Verkommen des Denkens« 83 bis zu Kant - ist dabei vermittelt durch Wolfis Systematisierung und Formalisierung des in seiner polyhistorischen Weite und sprachlich-literarischen Diversifikation kaum überschaubaren und teilweise unzugänglichen Originalwerks. Die dominierende Position der Leibniz-Wölfischen Philosophie, die zur allgemeinen Bildung wurde, indem sie »den Gedanken in der Form des Gedankens zum allgemeinen Eigentum gemacht und ihn an die Stelle des Sprechens aus dem Gefühl, aus dem sinnlichen Wahrnehmen und in der Vorstellung in Deutschland gesetzt hat«, 84 ist insbesondere dort sichtbar, wo sich das aufklärerische Selbstverständnis auf eine ihres spekulativen Gehalts beraubte apodiktische Verstandeslogik beschränkt. So statuiert beispielsweise die ganz vom Geist der Frühaufklärung geprägte Zedlersche Enzyklopädie im Vernunft-Artikel, »daß alles, was die Vernunft klar, deutlich und untrüglich erkennet, wahr sey, und daß man folglich keine weitere Ursache daran zu zweifeln habe.« 85 Wo die Erkenntnistheorie dem Satz des Widerspruchs gehorcht, antagonistisch also zwischen den ideae »clarae oder obscurae, distinctae oder confusae« 86 unterschieden wird, fungiert die dunkle und verworrene Repräsentation der Dinge bestenfalls als Ausgangspunkt und Anstoß für eine gegründete Vernunfterkenntnis. Die Formalisierung der cartesianischen Ideenlehre in der Popularphilosophie entsprang dabei wohl auch einem >natürlichen< Sprachbewußtsein, demzufolge die im Wort >Aufklärung< intendierte 81 82

83 84 85

86

182

Spinoza, Die Ethik. II. Teil, Lehrsatz 4 1 , S. 90. Gerhard Krüger, in: Leibniz, Die Hauptwerke. Zusammengefaßt und übertragen von G . K . 1958. ( K T A Bd. 1 1 2 ) S. X L . Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III ( X X , S. 267). Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III ( X X , S. 256). Zedier, Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Artikel >VernunftIdeaAkroamatischen< bei Leibniz vgl. besonders die >Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstands S. 280 und S. 2 sowie Anm. ebenda. - Mit >akroamatisch< bezeichnet man in der Spätantike die zum Hören bestimmten (dies der griechische Wortsinn) oder aus Vorträgen entstandenen Lehrschriften (vor allem des Aristoteles) im Gegensatz zur erotematischen, fragenden, d. h. dialogischen Lehrweise. Bei Leibniz meint >akroamatisch< die Methode, in der alles mit höchster Strenge dargestellt und bewiesen wird, ist also die eigentlich zur Wahrheit hinführende Weise des Philosophierens. Ihr gegenüber steht die exoterische (populäre, allgemeinverständliche) Methode, die sich nicht auf strenge Beweise, sondern auf Wahrscheinlichkeitsgründe, Beispiele und Ähnlichkeiten stützt. In den >Neuen Abhandlungen vermischt Leibniz die beiden Redemodi: zwar ist er, im Gegensatz zu Locke, dazu gezwungen, »etwas mehr akroamatisch und abstrakt« (S. 2) zu sein, doch die leichtere Verständlichkeit der Gedankenführung soll gerade durch die dialogische Anlage der Schrift bewirkt werden. Lessing greift die Leibnizsche Unterscheidung in seinem Kommentar über das Pro183

Leibnizschen Philosophie auch in der Kritik des theologiebestreitenden Rationalismus deistischer und populärphilosophischer Provenienz. E r w i e s sich schon das Wahrheitsdiktum aus der >Duplik< durch seine N ä h e zu Leibnizens dialektischem Denken als kardinales Exempel einer die A u f klärung gegen ihre theologischen Gegner w i e ihre eigenen Simplifikateure verteidigenden Kritikposition, so betritt Lessing auch dort

den

zwischen dem traditionalistischen und neumodischen Dogmatismus verlaufenden mittleren W e g der philosophischen V e r n u n f t , w o der T r i u m p h des E n t w e d e r - O d e r zum Selbstwiderspruch oder zum V e r d i k t über eine dem Gesetz

der Perfektibilität gehorchende Menschheitsgeschichte

zu

führen droht. D i e A u f k l ä r u n g dunkler Empfindungen in deutliche Ideen — die scheinbar so zeitgemäße Grundformel des Lessingschen K r i t i k p r o gramms also -

gerät dadurch in Widerspruch zur planen

Verstandes-

logik, daß sie die Reflexion auf das anthropologische und historische Relativitätsverhältnis von U n v e r n u n f t und Vernunft mit in das V e r f a h blem der ewigen Strafen auf: der vermittelnde Leibniz, der in jedem Satz den K e r n der Wahrheit suchte, verfuhr wie die alten Philosophen in ihrem exoterischen Vortrag; Leibnizens esoterische (akroamatische) Wahrheit w a r aber das Gesetz der Stetigkeit (vgl. L M X I , S. 477). Der Adäquation >exoterisch< = >populärallgemeinverständlich< entspricht auch der Wortgebrauch im j . Gespräch von >Ernst und Falkesoterisch< und >exoterisch< hier zugleich in einem Analogieverhältnis zur maurerischen Dialektik von >geheim< und >öffentlich< steht. Lessings Denkmethode ist der Leibnizschen darin zu vergleichen, daß auch sie von der Spannung zwischen logischer Strenge und dialogisch-desultorischer Vermittlung, von axiomatischer und kasuistischer Argumentation getragen wird. Der von Lessing noch an anderer Stelle erwähnte Gegensatz von >gymnastisch< und >dogmatisch< (vgl. L M X V I , S. 475 und L M X V I I I , S. 266), in der Literatur meist der Relation >exoterisch< - >esoterisch< gleichgesetzt, zielt dagegen vorrangig auf das taktische Verhalten des Polemikers, der seine W a f f e n nach dem Gegner richtet, anstatt dessen Lehrsätze seiner eigenen Wahrheit anzugleichen. Schon bei Leibniz ist >dogmatisch< kein G e genbegriff zur exoterischen Redeweise, die sehr wohl »dogmatisch oder philosophisch« sein kann, aber nicht die »höchste exakte Strenge« (Neue A b handlungen. S. 2, Anm.) besitzt. Daß die - vor allem in der mit Lessings >Theologie< befaßten Literatur häufige - Reduktion der methodischen Verflechtung von exoterischer und esoterischer Redeweise auf das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft eine unzulässige Verdinglichung des Lessingschen Philosophierens darstellt, hat z w a r H . Thielicke nachgewiesen, aber dadurch, daß er - in Verkennung von Lessings Geschichtsbewußtsein - das esoterische Denken selbst unter der Weise des Exoterischen begreift (vgl. O f fenbarung, Vernunft und Existenz. S. 44 f f . ) , führt er die Dialektik von esoterischer Vernunft und exoterischer Offenbarung erst recht ad absurdum: die Umdeutung der Ursprungstheologie in eine Geschichts-Utopie als >Wahrheit< des offenbarungsgläubigen Lutheraners!

184

ren der Wahrheitssuche hineinnimmt und somit dem trivialen Erkenntnispostulat der Deutlichmachung des Undeutlichen wieder die ihm in der popularisierenden Rezeption abhanden gekommene philosophische Tiefendimension verleiht. 00 Die Konsequenzen, die sich aus Lessings grübelnder, die Wahrheit dialogisch entfaltender Denkmethode f ü r die Grenzziehung zwischen der Religionskritik und der Rechtfertigung der Religionsgeschichte ergeben, verleihen der Lessingschen Argumentation jene Konstanz, derzufolge die Goeze-Polemik und die Erziehungs-Hypothese als die extremen Pole einer einheitlich angelegten philosophischen Kritikhandlung gedeutet werden können. Die Problemeinheit von Lessings kritischem Unterfangen ist deshalb auch dort zu fassen, wo, noch vor der Publikation der grundstürzenden Offenbarungsfragmente, die bis zur Rousseau- und Leibniz-Rezeption zurückreichenden Entwicklungsfäden sich zu einem Denkmodell verdichten, das die Grundkonzeption der E r ziehung des Menschengeschlechts< vorwegnimmt und die dort behauptete Priorität der sich aufklärenden Vernunft gegenüber der supranaturalen Offenbarungstheologie gerade durch eine unverkennbare strukturelle Analogie bestätigt. Lessing formuliert diesen Ansatz in seinem Kommentar zu den philosophischen Aufsätzen K a r l Wilhelm Jerusalems, der, selbst ein »junger Grübler«, das Talent besaß, »die Wahrheit bis in ihre letzte Schlupfwinkel zu verfolgen« und der, bei aller Wärme der Empfindung, doch eher sich vom »Geist der kalten Betrachtung« 01 leiten ließ. Lessing verfolgt mit der Publikation der nachgelassenen Aufsätze einen klaren Z w e c k : sie sollen, gleichsam als unverfälschtes Vermächtnis, der unheilvollen Wertherischen »Schwärmerey der Liebe« 92 in Goethes Roman entgegenwirken — schon 1774 hatte Lessing ja diesem »warmen Produkt« noch eine »kleine kalte Schlußrede« 93 hinzugewünscht - und als Korrektiv zu einem Menschenbild fungieren, dessen Abenteuerlichkeit f ü r Les90

91

92 93

So ist etwa der Begriff der >Perzeption< mit ihren Unterarten der >petites perceptions< und der >apperceptions< bei Leibniz primär nicht eine erkenntnistheoretische, sondern eine »ontologische Fundamentalbestimmung des monadischen Seins . . . « (H. H . Holz, Leibniz. S. 76). In der ontologischen Begründung der Gnoseologie gleicht also Leibniz' Philosophie dem Denken Descartes' und Spinozas. Philosophische Aufsätze von Karl Wilhelm Jerusalem. >Vorrede< des Herausgebers (LM X I I , S. 293 und 294; vgl. auch S. 295, wo Lessing schreibt, daß »diesen Kopf eben so wenig Licht ohne Wärme, als Wärme ohne Licht befriedigten«), - Auf Jerusalems Eigenschaft des philosophischen Grübelns verweist übrigens schon Kestner in seinem ausführlichen Bericht an Goethe vom 2. 1 1 . 1 7 7 2 (vgl. Der junge Goethe. Bd. IV, S. 352). Brief an Johann Joachim Eschenburg, 16. 10. 1 7 7 4 ( L M X V I I I , S. 116). Brief an Johann Joachim Eschenburg, 26. 10. 1 7 7 4 ( L M X V I I I , S. 1 1 5 ) . 185

sing nur aus dem Prinzip der christlichen Pädagogik, körperliche Bedürfnisse zu spiritualisieren und zu sublimieren, erklärbar ist.'4 So wendet sich Lessings Kritik weniger gegen den Kunst-Charakter des >Wertherunphilosophischendaß die Sprache dem ersten Menschen durch Wunder nicht mitgetheilt seyn k a n n.Vorrede< zu den Philosophischen AufsätzenVorrede< des Herausgebers ( L M X I I , S. 294).

97

98

Dies der Titel der ersten Abhandlung. - Die Preisfrage der - bis in ihren Sprachgebrauch hinein - an Frankreich orientierten Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin hatte folgenden Wortlaut: » E n supposant les hommes abandonnés à leurs facultés naturelles, sont-ils en état d'inventer le langage? et par quels moyens parviendront-ils d'eux-mêmes à cette invention?« D a z u und zu Süßmilchs Göttlichkeitsthese v g l . R u d o l f H a y m , Herder. Mit einer Einleitung von W o l f g a n g Harich. B d . 1 und 2. 1 9 J 4 . I. B d . S. 4 2 8 f f .

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Jerusalem am Ende seiner knappen Analyse, in der die Denkvoraussetzungen einer supranaturalen Sprach-Erklärung nacheinander als mit der menschlichen Vernunft unvereinbar abgewiesen werden, mit den folgenden Worten: D a es sich also nicht ohne Ungereimtheit denken läßt, daß G o t t ein jedes W o r t durch ein neues Wunder in der Seele hervorgebracht haben sollte: da er in die Seele keine besondere K r a f t legen konnte, durch welche die Sprache w ä r e hervorgebracht worden; da er ferner dem Menschen das Vermögen zu reden selbst, nicht ohne das Vermögen zu denken mittheilen konnte: dieses sich aber erst nach dem Gesetze der Vorstellungskraft entwickelt; und diese Fälle alle übrigen ausschliessen: so folgt, daß die Sprache dem Menschen durch ein Wunder nicht mitgetheilt s e y n k a n n , sondern daß er selbst der Urheber davon seyn muß.

Jerusalems Beweisführung entspricht also hier völlig dem rationalistischen Disjunktionsschema, das keine mittlere Lösung kennt und demzufolge die Ungereimtheit der übernatürlichen Erklärungsversuche die unerschütterliche Wahrheit des Natürlichkeitsprinzips zu bestätigen scheint. Doch der Autor fügt seiner Abhandlung, deren Stoff, wie derjenige der anderen Aufsätze, »mehrmalen« - so Lessing in den >Zusätzen des Herausgebers« — »der Stoff unsrer Gespräche gewesen«,100 noch eine Parenthese hinzu, die den Antagonismus von natürlicher und übernatürlicher Sprach-Genese abschwächt und eine >übernatürliche< Mitteilung der Sprache unter der Voraussetzung eines direkten physischen Einflusses des Körpers auf die menschliche Seele als - freilich nur schwer - denkbar supponiert. >Übernatürlich< wäre an dieser Hypothese, daß die Sprache nicht als bloße Reflexionsform verstanden wird - so hatte ja Jerusalem seine Ursprungstheorie aus dem Wesen des Menschen abgeleitet, das er als die Kraft definiert, »sich die Welt vorzustellen, . . .*101 - , sondern daß der menschlichen Vorstellungsfähigkeit durch göttliche >Organisation< das Sprachbewußtsein zugeordnet und »solchergestalt die Idee des Wortes zugleich mit der Idee des Objekts der Seele mitgetheilet wäre.«108 Der im Ursprungsproblem der Sprache beschlossene Zirkel, nämlich die »Unableitbarkeit des sich immer schon selbst 99

100

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Philosophische A u f s ä t z e von K a r l Wilhelm Jerusalem ( i 7 7 6 ) . M i t G . E . Lessings Vorrede und Zusätzen neu hg. v o n Paul Beer. 1900. (Deutsche Litteraturdenkmale des 1 8 . und 19. Jahrhunderts, hg. von A u g u s t Sauer. N r . 8 9 / 90) S. 1 3 fL M X I I , S. 296. - Z u r Freundschaft Lessings mit Jerusalem vgl. auch H . Schneider, Werther-Jerusalem als Freund Lessings. I n : Schneider, Lessing. Z w ö l f biographische Studien. S. 9 4 - 1 0 9 . Philosophische A u f s ä t z e von K a r l Wilhelm Jerusalem ( 1 7 7 6 ) . S. 1 3 . Philosophische A u f s ä t z e von K a r l Wilhelm Jerusalem ( 1 7 7 6 ) . S. 1 4 .

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voraussetzenden Sinns«,103 die auch bei Jerusalem durch die Gleichung Denken = Sprache, Vernunft = Logos gegeben ist, soll also in der Rückführung der sinnesphysiologisch nicht erklärbaren Sprach-Genese auf Gott als den fundierenden ursprünglichen Sinn gehoben werden. Eine solche ausgleichende Hypothese läßt sich freilich nur mühsam mit Jerusalems Deutung des Erkenntnisvorgangs verbinden, wonach jedes sinnliche Objekt in der Seele mehr als eine Vorstellung auf einmal hervorbringt. Empfängt also die Seele beispielsweise mit der Vorstellung einer Rose zugleich die Vorstellungen rot, Geruch, Blatt etc., so müßten in ihr auch die Wörter Rose, rot, Geruch, Blatt etc. hervorgebracht werden. Angesichts der Verwirrung, die sich aus einer solchen Erklärung ergeben könnte, stellt deshalb Jerusalem abschließend fest: Vielleicht w ü r d e es eine größere Schwierigkeit seyn, sich aus dieser herauszuwickeln, als die Sprache selbst zu erfinden. 1 0 4

Im Hinblick auf Lessings Erziehungstheorie fällt freilich die »Schwierigkeit« der von Jerusalem ohnehin nur knapp umrissenen natürlichübernatürlichen Erklärung des Ursprungsproblems nicht ins Gewicht: zum produktiven Weiterdenken wird Lessing angeregt durch ein methodisches Verfahren, das auch dort, wo die Positionen der orthodoxen oder neologischen Theologie im Namen der natürlichen Vernunft verworfen werden, im Gegensatz einen möglichen Wahrheitsgehalt berücksichtigt und dadurch Jerusalems Philosophieren in gewissen Punkten in Distanz zur formalisierten Verstandeslogik der allgemeinen Bildung bringt. So findet die eklektisch-hypothetische Ursprungserklärung des ersten Aufsatzes eine ebenfalls aus der Kritik einer theologischen Lehrmeinung - nämlich der Freiheit des Willens - erwachsene Parallele im bedeutsamen Mittelstück der Abhandlungen, welches unter dem Titel >Ueber die Freyheit< Jerusalems Gedanken zu der auch in den f r a n k f u r t e r Gelehrten Anzeigern rezensierten Schrift des Pseudonymus Alexander von Joch (= Karl Ferdinand Hommel) über Belohnungen und Strafen nach türkischen Gesetzen versammelt. Im Anschluß an A. von Joch/K. F. Hommel, der mit seiner Darstellung eines scheinbar partikularen Aspekts der türkischen Rechtsprechung seinen Lesern die Diskrepanz zwischen christlicher und islamischer Freiheitslehre vor Augen geführt hatte, sucht Jerusalem, ähnlich wie sein Vorgänger, die Lehre von der absoluten Notwendigkeit wider die gängigen Einwürfe der christlichen Theologen und Philosophen zu verteidigen. Der ganze Streit über die Freiheit oder Not103

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188

Erich Heintel in: J o h a n n Gottfried Herder, Sprachphilosophische Schriften. Zweite, erweiterte A u f l a g e . 1964. (Philosophische Bibliothek 248) S. X X X I . Philosophische A u f s ä t z e von K a r l Wilhelm Jerusalem ( 1 7 7 6 ) . S. 14.

wendigkeit der Handlungen entspringt hierbei laut Jerusalem aus der ethischen Grundfrage, ob der Mensch Gewalt über seine Vorstellungen habe, ob also der Wille die Vorstellungen hervorbringen oder wenigstens kontrollieren und lenken könne. Für die Verteidiger der Willensfreiheit entscheidet diese Frage zugleich über das Verhältnis von Tugend und Laster, ist also grundlegend für die philosophische« Rechtfertigung der orthodoxen Jenseits- und Ewigkeitsvorstellungen (Problem der ewigen Strafen) sowie die das moralische Böse vor Gottes Allmacht legitimierenden Theodizee-Versuche der philosophischen Theologie. Die Lehre von der Freiheit des Willens, ob leibnizianisch mit der Unterscheidung zwischen absoluter und hypothetischer Notwendigkeit oder im Rekurs auf das bloße Gefühl verteidigt, 105 steht für Jerusalem eindeutig im Widerspruch zu seiner sinnesphysiologischen Erkenntnisprämisse - » . . . am Ende ist das erste Glied immer eine Vorstellung, die durch einen sinnlichen Gegenstand rege gemacht ist«106 - und zu den Grundregeln der autonomen Vernunft, dem Prinzip der Kontradiktion und des zureichenden Grundes. Mit der Leugnung der Willensfreiheit entfällt aber ein traditionelles Implikat der christlichen Ethik, der Jerusalem einen von theologischen Voraussetzungen abgelösten, deterministisch-empiristischen Tugendbegriff entgegenstellt. Tugend meint nach Übereinkunft aller vernünftigen Moralisten die Beherrschung der Leidenschaften durch die Vernunft, heißt also nichts anderes, »als d i e d u n k e l n V o r s t e l l u n g e n u n s e r e r S e e l e zu deutlichen a u f k l ä r e n . « 1 0 7 Die auch von Lessing dem Ungenannten gegenüber apostrophierte »Macht unsrer sinnlichen Begierden, unsrer dunkeln Vorstellungen über alle noch so deutliche Erkenntniß«, 108 die der Verfasser der Abhandlung keineswegs leugnet, wird im Zusammenhang der Jerusalemschen Erkenntnismetaphysik mit dem Begriff der >Unvollkommenheit< gefaßt, die im Blick auf die ihr zugrunde liegende Schwäche der Vorstellungskraft als moralisches Defizit des von seiner Bestimmung abweichenden Menschen erscheint. Mit der Kernthese, wonach die » V o l l k o m m e n h e i t m o r a l i s c h e r G e s c h ö p f e in d e r S t ä r k e i h r e r V o r s t e l l u n g s k r a f t b e s t e h t « , die einzelnen Begriffe aber in einer » n o t h w e n d i g e n R e y h e a u f e i n a n d e r f o l 105

106 107 108

Z u r A m b i v a l e n z des Gefühls von Freiheit und Unfreiheit vgl. auch die lange Zeit Goethe zugeschriebene Rezension über A . v. J o c h in den f r a n k f u r t e r Gelehrten Anzeigen« (25. 1 2 . 1 7 7 2 ) , w o mit der Fabel v o m Kanarienvogel zugleich die Relativität des Freiheitsbegriffs thematisiert wird ( W A I, 3 7 , S. 264 ff.). Philosophische A u f s ä t z e von K a r l Wilhelm Jerusalem ( 1 7 7 6 ) . S. 2 3 . Philosophische A u f s ä t z e v o n K a r l Wilhelm Jerusalem ( 1 7 7 6 ) . S. 2 6 . Gegensätze des Herausgebers ( L M X I I , S. 4 3 3 ) .

189

g e n « , 1 0 í hat Jerusalem der Lehre von der Notwendigkeit auch dort Daseinsberechtigung verschafft, wo eine von theologischem Interesse geprägte Morallehre an der Willensfreiheit als einem unverzichtbaren Prinzip humaner Verantwortlichkeit festhalten zu müssen glaubte. Der Verfasser des Traktats über die Freiheit argumentiert hier unverkennbar als Protagonist jener allgemeinaufklärerischen Bildung, deren Grundsätze auch Lessings hochbedeutsames Bruchstück eines >Christenthums der Vernunft« aus den fünfziger Jahren bestimmen, das mit seinem Versuch einer vernünftigen, also philosophischen Begründung des theologischen Kerndogmas der Dreieinigkeit (§§ 1 - 1 2 ) den Zentralgedanken des § 73 der Erziehungsschrift vorwegnimmt, in den Folgeparagraphen (13—27) aber ein sich bruchlos zu Jerusalems Vorstellungen fügendes Reflexionsschema entwickelt. Angesichts der gemeinsamen Verankerung des Vollkommenheitsbegriffs in einem universalen System graduell verschiedener Repräsentationen des Ganzen durch seine Teile richtet sich das Interesse des Lesers gerade auf die bei Jerusalem und Lessing möglichen Abweichungen und Widersprüche in der Bewertung solcher Aufklärungs-Theoreme : Ausgehend von seinem auf die Vorstellungskraft bezogenen Begriff moralischer Vollkommenheit wendet sich Jerusalem also nun dem Problem der ewigen Strafen zu, das er - hier wird die zwischen Philosophie und orthodoxer Theologie vermittelnde Tendenz sichtbar — von den für die Aufklärung verbindlichen Grundpositionen der Leibnizschen Philosophie her zu lösen sucht. Erhebt sich in der Natur alles »von einer Stuffe der Vollkommenheit zur andern«, 110 gibt es zwischen den einzelnen Substanzen und Perzeptionen, Graden und Teilen keine absoluten Unterschiede, sondern vielmehr ein dem Gesetz der Stetigkeit und den Vernunftregeln gehorchendes universales Beziehungsgefüge, dann ist die Vorstellung von willkürlicher Belohnung und Strafe wie die Idee eines Übergangs zu einem unglücklicheren, unvollkommeneren Zustand (der christlichen >HölleDas Christenthum der VernunftLeibnitz von den ewigen Strafen< schreibt, daß derselbe Gedanke »an einem andern Orte, einen ganz andern Werth haben«116 könne. Verwirft Jerusalem also die orthodoxe Höllenvorstellung - unter der Voraussetzung ihrer absoluten Gegensätzlichkeit zur Vorstellung eines Himmels wie zum Prinzip des Naturzusammenhangs — als unvereinbar mit dem Gesetz der Stetigkeit, so wendet Lessing den Kontinuitätsbegriff gegen die neologische Leugnung der ewigen Strafen, die, wie die gemeine Denkungsart, im Grunde weit unphilosophischer ist als »der allergröbste Be-

112

Philosophische Aufsätze von Karl Wilhelm Jerusalem (1776). S. 30. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. >VorredeAbnehmens< nur noch als tautologische Leerform fungiert, hatte Jerusalem bei seinem Versuch, die Notwendigkeitslehre mit den Prinzipien einer rationalistischen Theologie zu verbinden, völlig mißachtet. Aber in einer Theodizee, bei welcher die Hypothese eines Stokkens oder gar Rückgangs des moralischen Wesens angesichts eines emphatischen Fortschritts-Optimismus gar nicht in den Blick kommt und die psychologische, moralische und soziale Differenz zwischen den Menschen - die Kluft zwischen einem Leibniz und dem »dümmsten Huronen« 121 immerhin - im Verhältnis zur Nichtexistenz der Menschheit nur als Relation zwischen Graden der Vollkommenheit erscheint, mündet die Betroffenheit der fragenden Vernunft in die kritiklose Sanktionierung des Bestehenden. Hier droht Aufklärung umzuschlagen in die Vergewaltigung der Wirklichkeit, die bedingungslose Aufhebung des Widerspruchs, in eine falsche Synthese von rationalistischer Ontologie und dem Bereich der »gemeinsten Dinge des Lebens« oder bestenfalls in einen seichten Traum, der dazu führen sollte, daß mit der Mattigkeit des populären Denkens in der Folge allzu oft auch die Impulse ursprünglicher Aufklärung in Mißkredit gerieten. Lessings Philosophie hingegen widersteht einem solchen >Verkommen des Denkenso seinem tieferen Verständnis der Leibnizschen Philosophie gemäß unterscheidet er zwischen gleichförmiger und wachsender Vollkommenheit, zwischen der Vollkommenheit des Ganzen und der Unvollkommenheit (der relativen Vollkommenheit) der Teile, zwischen >unterem< und >oberem< Erkenntnisvermögen. Benennt Lessing mit dem Prinzip, daß in der Welt nichts isoliert, nichts ohne Folgen, das in sich zusammenhängende Weltganze aber in ständiger Bewegung und Veränderung (>Zunehmen< und Abnehmern der Vollkommenheit) begriffen ist, zwei Grundzüge der Leibnizschen Dialektik," 2 so bestätigt er mit der Anerkennung des >Abnehmens< 1!1

122

Philosophische Aufsätze von Karl Wilhelm Jerusalem (1776). S. 34; vgl. S. 33Vgl. H. H. Holz, Leibniz. S. 68. 193

des moralischen Wesens die Möglichkeit des Irrtums, der Verfehlung und der Überwältigung der Vernunft durch die Sinnlichkeit. Die Rechtfertigung, die Wiedergutmachung des Irrtums fordert aber den Gedanken der >EwigkeitWiederkunftNeue Apologie des Sokrates< - nach Lessing glaubte auch Sokrates die ewigen Strafen! deutet also voraus auf die Erziehungsschrift und die vom Widerspruch zwischen Zeit und Ewigkeit geprägte universalhistorische Aufklärungsbewegung der sich verwirklichenden Vernunft. Auf die eigentümliche Lehre von der >Wiederkehr< verweist Lessing selbst in seinen Zusätzen zu Jerusalems Freiheits-Traktat, wenn er - bei aller Übereinstimmung des deterministischen Systems mit den Prinzipien der Moral - doch folgendes zu bedenken gibt: O b aber die Speculation nicht noch ganz andere Einwendungen dagegen machen könne? U n d solche Einwendungen, die sich nur durch ein zweytes, gemeinen A u g e n eben so befremdendes System heben Hessen? D a s w a r es, was unser Gespräch so oft verlängerte, und mit wenigen hier nicht zu fassen stehet. 123

Das Interesse Lessings an den sympathetischen Denkversuchen Jerusalems erklärt sich aus der Ähnlichkeit eines philosophischen Programms, das, entsprechend der Erkenntnis, die Wahrheit müsse »auch hier liegen, wo sie immer liegt; zwischen beiden Extremen«,124 auf die Überwindung einer die Vernunft b e l e i d i g e n d e n Orthodoxie und einer die Vernunft b e s t e c h e n d e n Neologie abzielt. Jerusalems Methode, beispielsweise die Lehre von der Notwendigkeit gegen die Einwürfe der Kirche zu verteidigen, indem — entgegen den theologischen Befürchtungen - geradezu apologetisch die Verträglichkeit von Determinismus und einer auf dem Unterschied von Gut und Böse basierenden Moral statuiert wird, ist aber nicht frei von der Tendenz des Kurzschließens, der Negation des >DrittenDritte< erwogen wird, läßt Lessing sich zu spekulativem Weiterdenken anregen. Nach Meinung des Herausgebers der philosophischen Aufsätze hat Jerusalem in seinem Beitrag zum Problem des Sprachursprungs bewiesen, was zu beweisen ist: Die Sprache kann dem ersten Menschen durch Wunder nicht seyn. U n d folglich? - Man traue dem Verfasser nicht zu, daß so fort weiter werde geschlossen haben: Folglich hat sich der Sprache selbst erfunden. Dieses würde allerdings ein Drittes 123 124

L M X I I , S. 298 f. Gegensätze des Herausgebers ( L M X I I , S. 4 3 2 ) .

194

mitgetheilet er nunmehr Mensch die überspringen

heissen, welches ohne ein Wunder gar wohl möglich gewesen wäre, und ohne Zweifel das ist, welches diejenigen, die dem Menschen die Selbsterfindung der Sprache absprechen, vornehmlich im Sinne haben. D i e Sprache k a n n d e n e r s t e n M e n s c h e n s e y n g e l e h r e t w o r d e n : er kann eben so dazu gelangt seyn, wie noch itzt alle Kinder dazu gelangen müssen. 125 Lessing umreißt also hier das Argumentationsschema der >Erziehung des Menschengeschlechts^

deren A n f a n g er dann im folgenden

Jahr

- 1 7 7 7 — bei der Kommentierung des vierten Reimarus-Fragments (>Daß die Bücher A . T . nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren^ der Öffentlichkeit in seinem ganzen Zusammenhang

(§§

1-53)

mit-

teilt. 12 ' Nicht in ihrem zeitlichen Vorsprung gegenüber der endgültigen Konzeption der Erziehungsschrift liegt jedoch die Bedeutung der H e r ausgeber-Zusätze,

sondern in ihrer Beweisfunktion für die Annahme

einer in ihren Voraussetzungen konstanten und einheitlichen, in der antiorthodoxen und antineologischen Streitführung gleichbleibenden Kritikstrategie. Die durchgehende Polemik gegen die halbphilosophische V e r mischung von historischen und philosophischen, geoffenbarten und vernünftigen Wahrheiten, von Wunder- und Tatsachenbeweisen

erscheint

im Blick auf den Systemabriß des Lessingschen Denkens als Moment einer Wahrheitssuche, die, zwischen den Fronten der norddeutschen A u f 125

128

Philosophische Aufsätze von K . W. Jerusalem. >Zusätze des Herausgebers< (LM X I I , S. 296). Die strukturelle Analogie zwischen dem Zusatz zur ersten Abhandlung Jerusalems und der Erziehungsschrift ist - soweit überhaupt beachtet kaum in ihrer Tragweite für die geschichtsphilosophische Problembestimmung der Spätschriften erkannt worden. Zu einer eklatanten Mißdeutung von Lessings Jerusalem-Kommentar gelangt H . Leisegang in der seinerzeit von höchster Stelle abgesegneten Preisschrift über Lessings Weltanschauung, die in ihrem aufklärungsfeindlichen Irrationalismus den Wandel einer geistesgeschichtlich-organologisch orientierten Literaturwissenschaft zur d e u t schen Ideologie< bereits erahnen läßt. Leisegang zitiert die fragliche Stelle nur deshalb, weil »von vielen der Erziehungsgedanke bei Lessing immer noch ernst genommen wird«, diese Hypothese aber laut Lessing »für den Philosophen unbrauchbar« (Lessings Weltanschauung. S. i 2 j ) sei. Da aber die Erziehungshypothese von Lessing selbst sehr ernst genommen wird, beschuldigt Leisegang den Verfasser der >Erziehung des Menschengeschlechts« der Verstellung: Lessing bediene sich dort bewußt »eines nicht einwandfreien Mittels« (S. 127), um seine mystischen Entwicklungs-(Emanations-)Vorstellungen unter dem Gesichtspunkt der Erziehung darzustellen! - K . Bohnen, der Leisegangs Hinweis auf den Jerusalem-Kommentar aufgreift, verwirft zwar den Verdacht Lessingscher Unlauterkeit, steht aber doch wohl unter dem Bann der in dieser Schrift vertretenen unhistorischen Betrachtungsweise, wenn er Lessings Erziehungsgesetz selbst von einem angeblich »ungeschichtlichen Ansatzpunkt« (Geist und Buchstabe. S. 191) her bestimmen möchte.

195

klärungsszene vermittelnd, zwar nicht die historische, aber doch die philosophische Priorität der Vernunft gegenüber der Offenbarung statuiert. Steht es allein der Vernunft zu, über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Offenbarung zu entscheiden, dann fordert auch die Frage nach dem Ursprung der Sprache insoweit eine philosophische Auflösung, als wiederum nur die Vernunft die Verankerung der Wundertheorie in einem den menschlichen Erfahrungsbereich übersteigenden supranaturalen Glaubensbereich aufzuzeigen imstande ist. Zugleich aber setzt sich die Vernunft, obwohl allein zur Auflösung verjährter Ansprüche der theologia revelata befähigt, mit der Anerkennung des >Dritten< ihre Grenzen: mit der Hypothese einer Sprachgenesis durch Erziehung und Unterricht, eines in seinem Ursprung möglicherweise wunderbaren, in seiner Auswirkung aber höchst natürlichen Prozesses relativiert sich die philosophische Grundfrage nach der vernunftgemäßen Spracherfindung in Hinsicht auf den ihr eigenen Zeitkern. Der von der Philosophie gebilligte »mittlere Fall« widersteht somit einer reinen philosophischen Reduktion, indem er »sich lediglich durch historische Gründe erhärten oder verwerfen läßt.«127 Der Philosoph kann, wenn er erwiesen hat, daß der Ursprung der Sprache nicht auf Wunderwirkung beruht, zwar die empirisch-genetischen Voraussetzungen der Spracherfindung aufzeigen und dadurch möglichen vernunftfeindlichen Folgerungen vorbauen, für welche die orthodoxe Partei die Hypothese des höheren Unterrichts gerne benutzen möchte; aber für die Hypothese selbst kann er nur ein geringes Wahrscheinlichkeits-Argument beibringen, nämlich dieses: Zugegeben, daß die Menschen die Sprache selbst erfinden können; wenn gleichwol auf die Erfindung derselben, w i e sich vermuthen läßt, eine so geraume Zeit, vielleicht so viele viele Jahrhunderte vergehen müssen: so w a r es w o l der Güte des Schöpfers gemässer, zum Besten derer, welche in diesen sprachlosen Zeiten ein so kümmerliches, kaum Leben zu nennendes Leben gelebt hätten, dem Dinge seinen langsamen ganz natürlichen L a u f nicht zu lassen, sondern den W e g jenes Unterrichts zu wählen. 1 2 8

Die Unterrichts-Hypothese, als Vermittlung zwischen den Extremen der Selbsterfindung und der Wunderwirkung fungierend, fällt also unter die möglichen Antworten einer auf ihre eigene Geschichtlichkeit reflektierenden Vernunft, die im übrigen ihre Herkunft aus dem Aufklärungsdenken und der Leibniz-Wolffschen Tradition nicht verleugnen kann. Von den Grundregeln einer solchen selbstmächtigen Vernunft läßt Les127

128

Philosophische A u f s ä t z e von K . W . Jerusalem. >Zusätze des Herausgebers< ( L M X I I , S. 297). Philosophische A u f s ä t z e von K . W . Jerusalem. >Zusätze des Herausgebers< ( L M X I I , S. 297).

196

sing sich überall dort leiten, wo eine mit dem zeitgenössischen Despotismus verbundene wilde Orthodoxie oder eine sich rationalistisch gerierende Neologie das fundamentale Recht des sich aufklärenden Menschen auf das Selbstdenken in seinem Bestand bedroht. Die stärkere Wahrscheinlichkeit für die Hypothese einer der göttlichen Güte und Gerechtigkeit entsprechenden Herausführung des Menschen aus dem Zustand der Sprach- und Vernunftlosigkeit liegt aber für Lessing nicht bei der Vernunft, sondern auf der Seite der historischen Gründe, also in der bei den ältesten Geschichtsschreibern aufbewahrten Tradition und den Erzählungen der Bibel, die als älteste Urkunde des Menschengeschlechts auch im achtzehnten Jahrhundert noch schlechthin alle Tradition und Geschichte repräsentiert. Inwieweit diese historischen Gründe vor der Instanz der »inneren Wahrheit« und eines praktisch-johanneischen Moralbegriffs sowie dem Postulat einer erst im Vollzug der Geschichte sich aufklärenden Universal-Vernunft bestehen können, zeigt Lessing ebenfalls in den Schriften der siebziger Jahre. Aber die disjecta membra seiner philosophischen Kritik fügen sich nur hier, in den Anmerkungen zu Jerusalems Aufsätzen, zu einem Argumentationsmodell, das den traditionellen, von Reimarus bis Jerusalem vertretenen Begriff einer die Geschichte in ihrer Eigengesetzlichkeit ausklammernden Vernunftphilosophie zusammen mit deren Gegensatz, einer die Geschichte verabsolutierenden Offenbarungstheologie, überwindet und das den Geltungsanspruch einer gewissen Tradition als ein auf Zeugnissen und Erfahrungssätzen basierendes Moment einer philosophischen Geschichtspädagogik rechtfertigt. Der Jerusalem-Kommentar ist damit ein überzeugendes Beispiel für die bei Cassirer beschriebene aufklärerische Synthese von rationalem und historischem Geist, derzufolge die Vernunft auf die Geschichte, die Geschichte aber auf die Vernunft bezogen wird: E r s t aus dem Miteinander und aus dem Gegeneinander dieser beiden Betrachtungsweisen erwächst die w a h r h a f t e >Aufklärung< des Geistes. Z u r G e wißheit v o m S e i n des Geistes gehört als unentbehrliches und integrierendes Moment das Verständnis seines W e r d e n s ; aber andererseits kann freilich dieses Werden nicht erfaßt und nicht in seinem eigentlichen Sinn erkannt werden, wenn es nicht auf ein unveränderliches Sein bezogen und a n ihm gemessen w i r d . 1 2 9

Der von Lessing propagierte mittlere Weg führt über die Stationen einer religiös-historischen Erkenntniskritik zu einer Sinndeutung der Geschichte, in der die theologisch wie zivilisationskritisch motivierte Perspektive einer historischen Abwärtsbewegung umgekehrt, der plane Fort129

E . Cassirer, Die Philosophie der A u f k l ä r u n g . S. 2 4 5 .

197

schritts-Optimismus der Epoche aber zugleich mit den notorischen Widersprüchen und Irrtümern der historischen Welt konfrontiert wird. Korrektiv ist hierbei eine dem monadologischen System korrespondierende Werdensstruktur, die das Gradationsverhältnis von konfuser und distinkter Perzeption mit dem Bereich der Geschichte vermittelt und es Lessing ermöglicht, alternativ zur vulgäraufklärerischen Verachtung aller Überlieferung in der Geschichte der Religionen ein wenn auch trübes, so doch gerade im Interesse der zur Aufklärung berufenen Vernunft notwendiges Wahrheitsmoment auszumachen. Die Anerkennung der Wahrheit der Religionsgeschichte verweist den um Aufklärung aller dunklen Empfindungen und Vorstellungen bemühten Menschen auf seine Genesis, deren mythologisch-geoffenbartes Bild er auf fortgeschrittener Entwicklungsstufe als Introduktionsmittel der Vernunft zu durchschauen lernt. Die Erkennbarkeit religiöser Wahrheit ist aber die ermöglichende Bedingung einer universalhistorischen Sinndeutung. So ist die Religion, im strengen Rationalismus zum bloß Probablen degradiert, bei Lessing konstitutiv für eine Philosophie der Geschichte, die das Bewußtsein ihrer Wahrscheinlichkeit mit dem in der Perspektivität des individuellen Monadenstandpunkts gegründeten Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der individuellen und allgemeinen Entwicklungsstufen verbindet. Die Synkatabasis des göttlichen Logos in der pädagogischen Offenbarungsrede, die gemeinsame Grundidee der Lessingschen Sprachursprungs-Hypothese und der Konzeption der religiösen Erziehung des Menschengeschlechts, verliert in der historisierenden Umdeutung ihre apologetische Funktion: Lessing übersetzt die theologische, dem Christentum von Johannes gegebene »Consistenz« des einmaligen Offenbarungsgeschehens in die Perspektive eines auf Kontinuität und Wiederholbarkeit ausgerichteten Erziehungsprozesses, wobei das Mittlerproblem nicht annulliert, aber die Wirkung der göttlichen Herablassung als ganz und gar natürliche den Gesetzen des allgemeinen Geschehenszusammenhangs unterworfen wird. Die Geschichte als Verdeutlichungsprozeß noch unerkannter Wahrheiten tritt an die Stelle jener Unbegreiflichkeit, wie sie für Lessing die Logoslehre des Johannes-Evangeliums symbolisiert, gleicht also die geoffenbarten Heilswahrheiten einem in Analogie zur rationalen Naturordnung gedachten weltimmanenten Entwicklungssinn an. Lessings philosophisches Wahrscheinlichkeitsargument für die Angemessenheit der göttlichen Kondeszendenz reflektiert dabei selbst die Zeitdimension: der Unterschied zwischen dem ganz natürlichen Entwicklungsgang der menschlichen Vernunft und dem mit der Metapher des Unterrichts, der Erziehung umschriebenen >wunderbaren< Offenbarungsgeschehen ist temporaler Natur, die Hypothese des höheren Unterrichts beruht auf dem Gedanken einer 198

beschleunigten Entfaltung der menschlichen Vernunftkräfte. Die Frage einer qualitativen Veränderung des quantitativen Entwicklungsgangs ist damit nicht präjudiziert. Lessing überwindet die statuarische Vernunftphilosophie eines Reimarus und die geschichtsjenseitige Offenbarungstheologie der Apologeten durch eine entwicklungsgeschichtliche Umdeutung des Offenbarungsgeschehens. Wo Zukunftgerichtetheit und Perfektibilität den Gedanken eines fortschreitenden Verfalls ursprünglicher Güte oder die theologische Lehre vom endzeitlichen Gericht verdrängen, der göttliche Logos also nicht mehr als Subjekt über die Geschichte gestellt, sondern zum Moment eines maieutisch-pädagogischen Vermittlungssystems umgewertet wird, sind aber auch die Bedingungen für eine Theologie der Geschichte nicht mehr gegeben. In der Destruktion einer ausschließlich theologisch begründeten Universalgeschichte - zum klassischen Beispiel einer solchen heilsgeschichtlich ausgerichteten und dem Gesetz der allgegenwärtigen >Providence< verpflichteten Historiographie war in der Neuzeit Bossuets für den Dauphin verfaßter >Discours sur l'histoire universelle< geworden — trifft sich Lessings Bemühen mit den objektiven, vor allem in Westeuropa zum Programm einer Geschichtsphilosophie führenden Entwicklungstendenzen des aufklärerischen Denkens. Auch hier bestätigt sich also Lessings Nähe zu Voltaires Geschichtsauffassung, die ihm nicht nur als Kontrapunkt zu Rousseaus Dekadenzthese, sondern schon früh auch als Anstoß zur eigenen Beschäftigung mit dem Problem der Geschichte und der Geschichtsschreibung gedient hatte. Voltaires lukianische Darstellungsart - die zeitige Dissoziation von >lukianisch< und >kaltblütig-philosophisch< ist hier noch nicht vollzogen — im >Essai sur les moeurs< würdigt Lessing in einer Rezension vom Jahre 1753 als einen ersten Schritt zu einer Geschichtsbetrachtung, die den Menschen als Gattungswesen aus dem Prinzip der Nation zu erklären sucht und damit neben der heilsgeschichtlich-providentiellen auch die mikrologische, sich planlos in der Fülle der Einzelheiten verlierende Anekdoten-Historiographie hinter sich läßt: Die edelste Beschäftigung des Menschen ist der Mensch. M a n kan sich aber mit diesem Gegenstande auf eine gedoppelte A r t beschäftigen. Entweder man betrachtet den Menschen im einzeln, oder überhaupt. A u f die erste A r t kan der Ausspruch, daß es die edelste Beschäftigung sey, schwerlich gezogen werden. Den Menschen im einzeln zu kennen; w a s kennt man? Thoren und Bösewichter. U n d w a s nützt diese Erkenntniß? uns entweder in der Thorheit und Boßheit recht stark, oder über die Nichtswürdigkeit uns gleicher G e schöpfe melancholisch zu machen. G a n z anders ist es mit der Betrachtung des Menschen überhaupt. Ueberhaupt verräth er etwas grosses und seinen göttlichen Ursprung. M a n betrachte, w a s der Mensch für Unternehmungen

199

ausführt, wie er täglich die Grenzen seines Verstandes erweitert, was für Weisheit in seinen Gesetzen herrschet, von was für Emsigkeit seine Denkmähler zeigen. Das einfacheste und vollkommenste Bild von ihm auf dieser Seite zu erhalten, muß man es, auf eine Lucianische Art, aus den schönsten Theilen seiner Arten, das ist der Nationen, zusammen setzen, wozu aber eine sehr genaue Charakteristik derselben, erfordert wird. Noch hatte kein Schriftsteller sich diesen Gegenstand insbesondere erwehlet; so daß der Verfasser der gegenwärtigen Schrift mit Recht von sich rühmen kan: libera per vacuum posui vestigia princeps. 130 Die Aspekte einer profanen universalhistorischen Betrachtung,

wie

sie Voltaires kulturgeschichtlich-geschichtsphilosophischen >Essai sur les moeurs et l'esprit des nations< und besonders die später als Einleitung zu diesem Werk dienende >Philosophie de l'histoire< bestimmen, nämlich die Betrachtung der Geschichte nach philosophischen Prinzipien, 131 da allein der weltbürgerliche Philosoph eine vernunftgemäße, von Rücksichten auf »patrie« und »faction« 1 3 2 freie Beurteilung von Plan und Sinn der Geschichte zu leisten vermag, prägen als allgemeine Richtlinien auch Lessings Geschichtsdenken. Die Eigenart seiner in den siebziger Jahren entwickelten Hypothese beruht aber in der >philosophischen< Integration der Religionsgeschichte als der auf Zeugnisse und Tradition gegründeten Geschichte par excellence in einen universalgeschichtlichen

Bezugsrah-

men und in einer die »innere Wahrscheinlichkeit« 133 der

Geschichte

auch

historisch fundierenden Argumentationsmethode. Dies erklärt,

weshalb Lessing, anders als der gegen Bossuets christlich-mittelalterliche Geschichtsdeutung gewendete Voltaire, wieder das von Gott auserwählte jüdische Volk an den Anfang der Geschichte rückt, ohne freilich wie der gegen Spinozas >Theologisch-Politischen Traktat< polemisierende Prin-

130

Berlinische privilegirte Staats- und gelehrte Zeitung, 2. 1. 1753 (LM V , S- 143). 131 Vgl. die >Introduction< zum >Essai sur les moeurs et l'esprit des nations< (= >Philosophie de l'histoireAvant-Propos< zu diesem Werk, w o Voltaire seine mit China beginnende Periodisierung der Weltgeschichte gegen Bossuets Heilsgeschichtsschreibung gerade mit der philosophischen Intention des >Essai< begründet: »En vous instruisant en philosophe -de ce qui concerne ce globe, vous portez d'abord votre vue sur l'Orient, berceau de tous les arts, et qui a tout donné à l'Occident« (S. 247). - Vgl. auch den Artikel >Geschichtsphilosophie< in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. 1971 f f . Bd. III, Sp. 416 f f . 132 »Le philosophe n'est d'aucune patrie, d'aucune faction« (Rezension von David Humes >Complete History of Englands 2. 5. 1764 - Oeuvres de Voltaire, Bd. X L I , S. 4$i). Auch Voltaire ist also dem Gedanken der kosmopolitischen Gelehrtenrepublik verpflichtet. 133 Hamburgische Dramaturgie, 19. St. (LM I X , S. 261).

200

zenerzieher und spätere Bischof von Meaux die göttliche Vorsehung als alleinige Bestimmungsmacht einer sich bereits im Alten Testament offenbarenden Heilsgeschichte zu restituieren. Angesichts des von Bossuet unternommenen Versuchs, die wankenden Fundamente seiner Geschichtstheologie gegen den durch Spinoza symbolisierten Geist der Neuzeit zu retten, 134 wirkt Lessings Hinweis auf den Ausspruch, die edelste Beschäftigung des Menschen sei der Mensch, als programmatische Selbstidentifikation des Aufklärers mit den Grundgedanken eines Werks, das, neben der Leibnizschen Philosophie, die deutsche Aufklärung und das ihr nachfolgende klassisch-romantische Zeitalter in einem kaum zu überschätzenden Maße beeinflußt hat. Denn in Spinozas Wort, es sei für »den Menschen . . . nichts nützlicher als der Mensch«, 1 3 5 kündigt sich die alle spätere Spinozarezeption bestimmende anthropozentrische Adäquation von Gott, N a t u r und Mensch an - »Man sagt, der Spinozismus ist Atheismus. Dies ist in einer Rücksicht richtig, indem Spinoza Gott von der Welt, von der N a t u r nicht unterscheidet, indem er sagt, Gott ist die Natur, die Welt, der menschliche Geist, - das Individuum ist Gott expliziert in besonderer Weise« 136

jenes große und umstürzende Prinzip der Imma-

nenz also, um dessen Begründung sich Lessings >Spinozisterei< seit Breslau bemüht und das auch der philosophischen Bewältigung des Geschichtsproblems seine gedankliche Konsistenz verleiht. Die »Eroberung der geschichtlichen Welt« 1 3 7 vollzieht sich bei Lessing parallel zur Aneig134

Bossuet wendet sich vor allem gegen Spinozas Esra-These. Dazu Yvonne Charapailler in ihrem Kommentar zum >Discours sur l'histoire universelle< (Oeuvres de Bossuet. Textes établis et annotés par l'abbé Velat et Yvonne Champailler. Bibliothèque de la Pléiade [ 1 9 6 1 ] . S. 662): »La controverse ôte aussi sa mesure à l'historien. La deuxième partie [= La suite de la religion] est encombrée et déséquilibrée par les longues pages ajoutées après 1700 pour répondre >aux incrédules, faux savants, faux critiques« qui attribuaient à Esdras la paternité des livres de Moïse. Si Bossuet, d'autre part, insiste tant sur le caractère inspiré de la Bible, c'est pour répondre à Spinoza.« - Zu Bossuets Polemik gegen Spinoza und Richard Simon vgl. auch die freilich knappen Hinweise bei Thérèse Goyet, L'humanisme de Bossuet. Bd. I I : L'humanisme philosophique. 1965. S. 292 f f . - Daß Bossuet in seiner Zeit einen im Grunde längst entschiedenen Kampf ausfocht, betont K . Scholder, Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert. S. 80.

135

Spinoza, Die Ethik. IV. Teil: Anmerkung zum Lehrsatz 18. S. 205. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I I I ( X X , S. 194). So die entsprechende Kapitelüberschrift bei E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung. S. 263. - Auch für Cassirer t r i f f t Lessings Bemerkung, die edelste Beschäftigung des Menschen sei der Mensch, exakt die Grundtendenz von Voltaires Geschichtsschreibung. Cassirer paraphrasiert Voltaire: »Auf das menschliche Geschlecht hätte man achten sollen; der Satz >homo sum< hätte der Wahlspruch jedes Geschichtsschreibers sein müssen; . . . « (S. 2 9 0 ) . -

136 137

201

nung Spinozas. Im Spätwerk stehen die Gespräche mit Jacobi neben der »Erziehung des Menschengeschlechts^

D a ß ein solches Bekenntnis zur >Humanität< dem neuzeitlichen AutonomieBewußtsein entspricht, beweist auch die Wirkungsgeschichte des >Essay on Man< (vgl. das Kap. >Die Vorsehung in der Geschichte E R Z I E H U N G DES MENS C H E NGESCHLECHTS
V o r b e r i c h t des HerausgebersVorbericht< - b e s t e h t a u s einer S e q u e n z v o n e i n h u n d e r t in P a r a g r a p h e n f o r m a n g e o r d n e t e n T h e s e n , d e r e n t h e m a t i s c h e

Gruppie-

r u n g f o l g e n d e r m a ß e n umrissen w e r d e n k a n n : Einleitung (§§ 1 - 7 ) : Definition des Analogieverhältnisses zwischen individueller Erziehung und kollektiver O f f e n b a r u n g (§§ 1 - 5 ) und Übertragung des Argumentationsschemas auf die Offenbarungsgeschichte (§§ $ - 7 ) ; der Auflösung des U r monotheismus in Polytheismus und Götzendienst durch die sich selbst überlassene menschliche Vernunft folgt ein erster göttlicher Richtungsstoß für die irrende V e r n u n f t (§ 7); Erster Schritt (§§ 8-53): Gottes Erwählung des rohen Volkes Israel zu seiner besonderen Erziehung und Herausführung aus Ägypten (§§ 8 - 1 2 ) ; allmähliche Ausbildung monotheistischer Vorstellungen (§ 13); Erziehung des kindlichen Israel »durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen« (§ 16); die O f f e n b a r u n g entspricht dem auf das Diesseits beschränkten Gesichtskreis des jüdischen Volks (§ 17); Gott erzieht in den Juden »die künftigen Erzieher des Menschengeschlechts« (§ 18); Nutzen der göttlichen Erziehung gegenüber der >natürlichen< Entwicklung (§§ 1 9 - 2 1 ) ; Verteidigung der »Göttlichkeit des Alten Testaments gegen Reimarus' viertes Fragment (>Daß die Bücher A . T . nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren^ und K r i t i k an Warburtons Wunderthese (§§ 22-25); das A l t e Testament als Elementarbuch, das die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele z w a r nicht enthält, aber doch auf diese Wahrheit hinführt (§§ 2 6 - 3 1 ) ; als Dokument eines * (Im 3. Teil werden Zitate aus der »Erziehung des Menschengeschlechts< durch Angabe der entsprechenden Paragraphennummern im T e x t nachgewiesen.) 204

heroischen Gehorsams gegen Gott (§§ 3 2 - 3 3 ) ; erster wechselseitiger Dienst von Offenbarung und Vernunft im babylonischen Exil (§§ 34-39); erleuchteter Gottesbegriff bei den heimgekehrten Juden (§§ 40-41); Ausbildung des Unsterblichkeitsglaubens durch chaldäischen, persischen und griechischen Einfluß (§§ 42-43); die Propädeutik des Alten Testaments im Hinblick auf die noch zurückgehaltenen Wahrheiten (vor allem Unsterblichkeitslehre) entspricht in vollkommener Weise den pädagogischen und rhetorisch-stilistischen Anforderungen an ein Elementarbuch für ein kindisches Volk (§§ 43 bis 50); Erschöpfung des Elementarbuchs (§§ J I - J 3 ) : »Christus kam.« Zweiter Schritt (§§ 53-80): Israel reif zum zweiten großen Schritt der Erziehung, zum Ubergang in das Knabenalter der Menschheit (§§ 54-55); Christus, der »erste z u v e r l ä s s i g e , p r a k t i s c h e Lehrer der Unsterblichkeit der Seele« (§ 58), überwindet die kindischen Bewegungsgründe zum Gehorsam (§§ 5 3 - 6 1 ) ; Ausbreitung, Erweiterung und Kodifizierung der neuen Lehre durch die Jünger, das Neue Testament wird zum zweiten besseren Elementarbuch für das Menschengeschlecht (§§ 62 bis 67); es bewirkt einen neuen » R i c h t u n g s s t o ß für die menschliche Vernunft« (§ 63); das fortgeschrittene Individuum wird vor unzeitiger Übereilung gewarnt (§§ 68-69); die Lehren von der Einheit Gottes und von der Unsterblichkeit der Seele, einst Offenbarungen des Alten und Neuen Testaments, sind zu ausgemachten Wahrheiten der Vernunft geworden: sollten sich die Dogmen von der Dreieinigkeit, der Erbsünde und der Genugtuung des Sohnes nicht auch einmal als Vernunftwahrheiten begreifen lassen? (§§ 70-75); die »Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftswahrheiten« ist conditio sine qua non für die Entwicklung der Menschheit (§ 76); Religion kann Wahrheiten vermitteln, »auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre« (S 77) > Spekulationen über das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung sind »unstreitig die s c h i c k l i c h s t e n Uebungen des menschlichen Verstandes« auf der Stufe des Knaben- und Jünglingsalters, also in der Epoche des Neuen Bundes (§§ 78-80). Dritter Schritt (§§ 80-100): Z i e l der Erziehung ist Aufklärung des Verstandes und eine »Reinigkeit des Herzens«, die uns »die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, fähig macht« (§§ 80-82); Analogieverhältnis zwischen der Erziehung des Jünglings zum Mann und der Erziehung des Menschengeschlechts durch die »Natur« (= O f fenbarung!) (§§ 83-84); Beschwörung der »Zeit der Vollendung«, da der Mensch »das Gute thun wird, weil es das Gute ist« (§ 85), der - in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochenen - »Zeit eines n e u e n e w i g e n E v a n g e l i u m s « ( § 8 6 ) ; Vorstellung vom dreifachen Alter der Welt findet sich schon bei gewissen Schwärmern des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, die sich allerdings der Übereilung schuldig machten (§§ 87-90); glaubt der Schwärmer an eine Wiederkunft? (§ 90); die prästabilierte Harmonie von kollektiver und individueller Erziehung, Retardation des Ganzen und Akzeleration der Teile als Werk der ewigen »Vorsehung« (§§ 9 1 - 9 3 ) ; Spekulationen über die älteste Hypothese des menschlichen Verstandes, die Metempsychose: der »Plan der allgemeinen Erziehung des Menschengeschlechts« (§ 88) mündet selbst in »Schwärmerey« (§ 90) freilich in eine Schwärmerei, die, befreit vom Fehler der Übereilung, nun205

mehr als »Enthusiasmus der S p e k u l a t i o n « gerade die utopische K o i n z i denz von »Zeit« und »Ewigkeit« vorzudenken versucht (§§ 9 4 - 1 0 0 ) : » U n d was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze E w i g k e i t mein?« (§ 100).

Schon am summarischen Abriß der in der Erziehungsschrift sich entfaltenden Denkbewegung wird deutlich, wie vielfältig und wie tief die einzelnen Bausteine der Hypothese in Lessings philosophisch-theologischem Werk gegründet sind. Das allgemeine Verhältnis der Schrift zum Lessingschen Oeuvre wird in der besonderen Problemeinheit der §§ 1 - 5 3 mit dem vierten >Gegensatz< (»Ich muß bekennen, daß ich von einigen Gedanken dieses Aufsatzes bereits wörtlich Gebrauch gemacht habe«) 1 somit mustergültig vorgezeichnet. Auch wenn der kleine Aufsatz niemals »zu einem ausführlichen Buche«2 erweitert wurde, muß es angesichts der unbestreitbaren Affinität der >Erziehung des Menschengeschlechts< zum Gesamtwerk als geradezu absurd erscheinen, welche Verwirrungen eine monomanisch auf eine Thaer-Briefstelle fixierte Literaturwissenschaft bis in die jüngste Zeit hinein mit ihrer Verfasser-Legende anrichten konnte, die immerhin »ein Jahrhundert lang gelehrte Literaturforscher am Narrenseil«3 herumgeführt hat. Von den zeitgenössischen Lesern der Erziehungsschrift war, wie Heinrich Schneider richtig bemerkt, die Autorschaft Lessings ohnehin nicht bestritten worden. 4 Die Gründe für die Entstehung und Persistenz der Thaer-Legende sind deshalb wohl auch eher in einem von Distanz und Irritation, zumindest Unsicherheit oder Indifferenz gekennzeichneten Verhältnis des neunzehnten Jahrhunderts zu einer Geschichtsphilosophie zu sehen, die, der »Disposition der Aufklärung« 5 angehörend, weder dem aufkeimenden Geschichtsbewußtsein der Romantiker noch auch dem positivistischen Fortschrittsoptimismus der späteren Literaturgeschichtsschreibung als sonderlich erinnerungswürdig erscheinen mochte. Die >Erziehung des Menschengeschlechts< fällt - neben den Freimaurergesprächen - jedenfalls schon Ende des achtzehnten Jahrhunderts unter diejenigen Schriften, die laut Friedrich Schlegel, der sein eigenes Lessingbild freilich bald selbst revidierte, von der herrschenden Meinung zur Bedeutungslosigkeit degradiert worden waren: Läse man nicht die W e r k e selbst, sondern nur w a s über sie gesagt worden ist: so dürfte man leicht verführt werden zu glauben, die E R Z I E H U N G D E S 1

Gegensätze des Herausgebers ( L M X I I , S. 4 4 6 ) .

2

Gegensätze des Herausgebers ( L M X I I , S. 4 4 6 ) . H . Schneider, Lessings letzte Prosaschrift. I n : Schneider, Lessing. Z w ö l f biographische Studien. S. 2 2 9 . V g l . Schneider, Lessings letzte Prosaschrift. S . 298, A n m . 2. H . Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. S. 4 1 J .

3

4 5

206

M E N S C H E N G E S C H L E C H T S und die F R E I M A U R E R G E S P R Ä C H E stehen an Bedeutung, Wert, Kunst und Genialität der MISS S A R A S A M P S O N weit nach.6

Bedeutung, Wert, Kunst und Genialität der Erziehungsschrift finden ihren sinnfälligen Ausdruck in dem vielschichtigen, durch die Herausgeber-Fiktion und die Anonymität des Verfassers nochmals vermittelten Argumentationsgefüge, das einerseits die Sprechebenen von Leitwort, Vorrede und Aufsatz in sich integriert, andererseits aber durch Zitate und Verweise die nirgends in dogmatischem Ton gehaltene Hypothese auch wieder mit den ihr vorausliegenden philosophisch-theologischen Kontroversthemen der Zeit verbindet. Die durchgehende Polarität von Integration und Dissoziation, Verallgemeinerung und Besonderung, universeller und individueller Perspektive, axiomatischer und okkasioneller Rede, von Spekulation und Kälte, Bild und Begriff ist als umfassendes Formprinzip der >Erziehung des Menschengeschlechts< auch bei kursorischer Lektüre nicht zu verkennen. Einer allzu planen und eindimensionalen Auslegung des Textes steht ohnehin das vom Herausgeber dem vollständigen Aufsatz vorangestellte Leitwort entgegen. Die darin für die Erziehungsschrift behauptete Dialektik von >wahr< und >falsch< verleiht jedenfalls dem Wortlaut eine Vieldeutigkeit, die, als rein formales Prinzip genommen, den Leser dazu veranlassen könnte, jeweils im Vertrauten das Unvertraute, im Neuartigen und spekulativ Vorausgedachten aber den gar nicht so heterodoxen Geist der Bewahrung entdecken zu wollen. Zukunftshoffnung und Aufklärungspathos der Schrift wären dann jedoch auf das Maß eines unverbindlichen, jeder Harmonisierung sich fügenden Denkens heruntergebracht. Der Schnittpunkt von Innovation und Tradition im Denkverfahren der Erziehungsschrift muß deshalb dort bestimmt werden, wo die Form selbst im Ansatz sich als Inhalt darstellt, die überlieferte Sprach-Organisation also die Methodik des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses abbildet. Die Frage nach der polyperspektivischen Textstruktur der Erziehungsschrift richtet sich auf die geschichtliche Ermöglichung der universal-pädagogischen Wahrheit-Irrtum-Dialektik, versteht sich damit auch zugleich als Beitrag zu einer Metatheorie der aus der Spannung von Offenbarung und Vernunft sich entfaltenden Lessingschen Geschichtsmetapher: Das methodische Paradigma des in Paragraphen gegliederten Erziehungs-Aufsatzes ist zweifellos der »Discours de la m£thode< und die darin aufgegangenen wissenschaftlichen Erkenntnisregeln sowie das im An6

Uber Lessing. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, S. 104.

i. Abt., II. Bd.,

207

Schluß an Descartes ausgebildete und formalisierte Demonstrationsverfahren. Ausgangspunkt für die Begründung der cartesianischen Methode ist jene Konzeption einer gesicherten, alle Einzelbereiche organisierenden und zusammenfassenden idealen Mathematik,

wie sie bereits in den

>Regulae ad directionem ingenii< unter dem Begriff einer >Mathesis universalis< vorgestellt wird. Die mathematisch-logische

Struktur

seiner

neuen Universalwissenschaft definiert Descartes in der vierten Regel folgendermaßen: Quod attentiüs consideranti tandem innotuit, illa omnia tantüm, in quibus ordo vel mensura examinatur, ad Mathesim referri, nec interesse vtrüm in numeris, vel figuris, vel astris, vel sonis, aliove quovis objecto, talis mensura quaerenda sit; ac proinde generalem quamdam esse debere scientiam, quae id omne explicet, quod circa ordinem & mensuram nulli speciali materiae addictam quaeri potest, eamdemque, non ascititio vocabulo, sed jam inveterato atque vsu recepto, Mathesim vniversalem nominari, quoniam in hac continetur illud omne, propter quod aliae scientiae Mathematicae partes appellantur. 7 Wie sehr die szientifischen Leitbegriffe von »ordo« und »mensura«, verbunden mit der dem Gesetz der klaren und distinkten Perzeption gehorchenden Erkenntnislehre, vor allem seit Erscheinen des >Discours< über den methodischen Rahmen

des darin entwickelten

Wissenschaftspro-

gramms hinaus gerade auch auf das Sprach- und Poesieverständnis der Zeitgenossen einwirkte, zeigt deutlich die cartesianische Prägung des für die klassische französische Dichtungstheorie repräsentativen >Art po£tique< des Nicolas Boileau. Die Kanonizität der von Boileau formulierten poetologischen Gesetze beruht darauf, daß er dem »culte de la raison«, 8 7

8

208

Oeuvres de Descartes. Bd. X , S. 377 f. - Zu Begriff und Genealogie des geometrischen Geistes im Rahmen der neuzeitlichen Aufklärung vgl. auch das Kapitel >L'esprit géométrique< bei J . Mittelstrass, Neuzeit und Aufklärung. S. 121—132. Vgl. dazu Peter-Eckhard Knabe, Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens in Frankreich von der Spätklassik bis zum Ende der Aufklärung. 1972. S. 406 f f . - Daß Boileau für seine Theorie des >Art poétique< weder Priorität noch Originalität beanspruchen könne, betont neuerdings wieder Antoine Adam in seiner Einleitung zu dem in der >Bibliothèque de la Pléiade< erschienenen Gesamtwerk des Dichters (Oeuvres complètes de Boileau. Introduction par Antoine Adam. Textes établis et annotés par Françoise Escal. 1966. S. I X - X X V I I ) . Bei der Zerstörung der >Legendearchaische< Autorität für die Partei der >Anciens< aus der Reihe der großen französischen Schriftsteller zu verbannen. Das Programm der >imitatio naturae< bei Boileau war zwar auf die Nachahmung der Alten hin ausgerichtet, aber sein ästhetisches Wahr-

dem

Hauptmerkmal

der

französischen

Klassik,

in

einem

definitiven

R e g e l s y s t e m eine t h e o r e t i s c h e B e g r ü n d u n g g i b t , die - m i t t e l b a r o d e r u n m i t t e l b a r - ihrerseits sich v o m c a r t e s i a n i s c h e n V e r n u n f t b e g r i f f h e r l e i t e t . I n e i n e m e n g e r e n S i n n w i r d ü b r i g e n s s c h o n i m >DiscoursDiscours< a u f d a s G e b i e t d e r Ä s t h e t i k , i n d e m er die S t r u k t u r e i n h e i t v o n V e r n u n f t , N a t u r u n d S p r a c h e u m die R e l a t i o n des >Schönen< e r w e i t e r t , d a s als >Naturwahres< o b j e k t i v e G ü l t i g k e i t b e s i t z t . B e m e r k e n s w e r t ist hierbei, d a ß D e s c a r t e s selbst die O b j e k t i v i t ä t des ästhetisch

Schönen

als

einer

dem

subjektiven

Geschmacksempfinden,

nicht dem Vernunftbereich angehörenden K a t e g o r i e durchaus bezweifelt. S o s c h r e i b t er a n M e r s e n n e : . . . generalement ny le beau, ny l'agreable, ne signifie rien qu'vn rapport de nostre iugement à l'objet; & pource que les iugemens des hommes sont si differens, on ne peut dire que le beau, n y l'agreable, ayent aucune mesure déterminée. 11 heitsprinzip w a r dabei mindestens im selben Maße >cartesianisch< wie die Neuerungstendenzen eines Habert de Montmort (vgl. S. X V ff.) ! La raison de Boileau, so schrieb Lanson in seiner Monographie über den Dichter und Kritiker, »c'est la raison cartésienne, dominatrice et directrice de l'âme humaine, dont elle règle toutes les facultés sans en empêcher aucune: c'est elle qui, par essence, distingue le vrai du faux« (Gustave Lanson, Boileau. Deuxième édition. 1900. S. 94). Auch E. Cassirer (Die Philosophie der A u f klärung. S. 373 ff.) betont die cartesianische Prägung der klassizistischen Ästhetik. Die >Modernität< Boileaus erhellt dann aber vor allem aus der Wirkungsgeschichte: Voltaire und die Enzyklopädisten berufen sich auf sein Vorbild! 9

10

11

D e r vollständige Titel des >Discours< lautet: >Discours de la Methode pour bien conduire sa raison, & chercher la vérité dans les sciencesDiscours de la méthode< (Oeuvres de Descartes. Bd. V I ) , S. 1 (»Le bon sens est la chose du monde la mieux partagée . . .«) und S. 77 f. Brief vom 18. 3. 1630 (Oeuvres de Descartes. Correspondance Bd. I, S. 133). - V g l . dazu auch die Ausführungen v o n P.-E. Knabe, Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens in Frankreich, S. $7. - Die von Boileau gelehrte Objektivität des Schönen setzt also die Äquivalenz von >schön< und >wahr< voraus, kettet aber die Poesie natürlich nicht an den Geltungsbereich der traditionellen quantifizierenden Wissenschaften. Einen interessanten H i n weis auf das Verhältnis v o n Poesie und Geometrie, Euklid und Homer (vgl. auch die Gegenüberstellung v o n Pope und Euklid - L M V I I I , S. 5) gibt Lessing in der Rezension der >Lettres de Rousseau sur différents sujets< 209

Boileaus Dichtkunst ist also >cartesianisch< nicht in der historisch exakten Auslegung des Systems, sondern in der rationalistischen Angleichung von Naturwahrem und Kunstwahrem. Die klassizistische Programmformel aus dem >Art poétiqueo A i m e z donc la Raison. Q u e toûjours vos écrits E m p r u n t e n t d'elle seule et leur lustre et leur p r i x 1 2

korrespondiert somit unmittelbar mit der prinzipiellen Gleichstellung von >Schönheit< und >Wahrheit< in der neunten Epistel an Seignelay: Rien n'est beau que le V r a i . L e V r a i seul est aimable. Il doit regner p a r tout, et mesme dans la f a b l e : (17J0) in den >Critischen N a c h r i c h t e n aus d e m Reiche der G e l e h r s a m k e i t v o m 19. 3. 1 7 J I , w o er - in eigener Übersetzung - eine Stelle aus R o u s seaus Schreiben a n Brossette v o m 2 4 . 7 . 1 7 1 5 z i t i e r t : » . . . Ich besinne mich, d a ß D e s p r e a u x einsmals sagte, die Philosophie des Cartesius habe der Poesie vollends den H a l s gebrochen, und es ist g e w i ß , d a ß dasjenige, w a s sie v o n der M a t h e m a t i k borgt, den W i t z v e r t r o c k n e t und ihn z u einer körperlichen G e n a u i g k e i t gewöhnet, welche, w e n n m a n sich so ausdrücken d a r f , mit der metaphysischen Genauigkeit der D i c h t e r und R e d n e r gar keine V e r w a n d t s c h a f t hat. D i e Geometrie und Poesie haben g a n z verschiedene R e g e l n , und derjenige, w e l c h e r den H o m e r nach dem Euklides beurtheilen w o l t e , w ü r d e eben so abgeschmackt handeln, als der, w e l c h e r den Euklides nach dem H o m e r beurtheilte . . . « ( L M I V , S. 217). D i e A n e k d o t e steht hier in einem konkreten Zusammenhang: C l a u d e Brossette, Vertrauter und Verehrer Boileaus, hatte d e m in die S c h w e i z geflüchteten Jean-Baptiste Rousseau v o n der guerre d ' H o m è r e der >Anciens< und der >Modernes< sowie d e m IliasT r a k t a t des Neuerers A b b é Terrasson berichtet. Rousseau w i l l aber v o n Terrassons Homer-Schelte nichts wissen: » C ' e s t un esprit dur et pédantesque qui ne d e v a i t jamais sortir de ses angles et de ses parallèles, et p o u r qui les beautés d ' u n poète comme H o m è r e seront toujours une terre inconnue« ( C o r respondance de Jean-Baptiste Rousseau et de Brossette. Publiée par P a u l B o n n e f o n . T o m e I : 1 7 1 5 - 1 7 2 9 ; T o m e I I : 1 7 2 9 - 1 7 4 1 . 1 9 1 0 / 1 1 . B d . I, S. 1 5). Brossette w ü r d i g t z w a r die »critique mesurée et méthodique« v o n Terrasson, glaubt aber ebenfalls, d a ß der »esprit géométrique« (Bd. I, S. 28) den Z w e c k e n des Autors schade. D a s B o i l e a u - W o r t , das sich unmittelbar an Rousseaus V e r d i k t über Terrasson anschließt, fungiert somit als A r g u m e n t der >Anciens< gegenüber den >ModernesOeuvres complètes de Boileau< f i n d e t sich kein H i n w e i s auf einen solchen Ausspruch, im G e g e n t e i l : Descartes w i r d v o n Boileau in die Reihe der »admirables Philosophes« (S. j69) gestellt, den herrschenden Aristotelismus verspottet er i m >Arrest burlesque< ; u n d auch die Zeitgenossen assoziieren Boileau und Descartes (vgl. Bernard B e u g n o t / R o g e r Zuber, B o i l e a u : Visages Anciens, Visages N o u v e a u x . 1 6 6 5 - 1 9 7 0 . 1973. S. 28)! - Lessing selbst steht, w i e im folgenden z u zeigen sein w i r d , auch als Literaturtheoretiker keineswegs in einer prinzipiellen G e g n e r s c h a f t z u r M e thodik der wissenschaftlichen Philosophie. 12

210

O e u v r e s complètes de Boileau. S. IJ8.

De toute fiction l'adroite fausseté N e tend qu'à faire aux yeux briller la Vérité. 1 ®

Richtschnur des Dichters ist also die mature raisonnable« — »Jamais de la Nature il ne faut s'écarter« 14 - , sie allein gewährleistet die der klassizistischen Nachahmungstheorie zugrunde liegende >ideale< Struktureinheit des > Wahren« und des >SchönenWahrscheinlichkeit« für Boileau identische Größen: transzendiert das Wahre diesen umzirkten Geltungsbereich, verliert es seinen Wahrscheinlichkeitscharakter. Diesen Zusammenhang entwickelt Boileau im Anschluß an die Forderung nach Respektierung der dramaturgischen >Einheiten< : . . . nous, que la Raison à ses règles engage, Nous voulons qu'avec art l'Action se ménage: Qu'en un Lieu, qu'en un jour, un seul Fait accompli Tienne jusqu'à la fin le Theatre rempli. Jamais au Spectateur n'offrez rien d'incroyable. Le Vrai peut quelquefois n'estre pas vraisemblable. Une merveille absurde est pour moy sans appas. L'esprit n'est point émû de ce qu'il ne croit pas. 15

In der Ablehnung des Unglaublichen kann Boileau sich auf Horaz als Kronzeugen berufen, der in den Versen 338-340 seiner >Epistula ad Pisones< für die unterhaltende Dichtung eine Wirklichkeitsnähe fordert, die den Ausschweifungen der poetischen Phantasie, wie sie Horaz in den griechischen Märchen am Werk sieht, keinen Raum mehr läßt: ficta voluptatis causa sint proxima veris: ne quodcumque volet poscat sibi fabula credi, neu pransae Lamiae vivum puerum extrahat a l v o . 1 '

Daß Boileau an einer Schlüsselstelle seiner >Art poétique« - bei der Forderung nach Wahrscheinlichkeit« und nach Einhaltung der dramaturls 14

15

14

Oeuvres complètes de Boileau. S. 134. Boileau, L'Art poétique (Oeuvres complètes de Boileau. S. 179). - Vgl. dazu auch den Artikel >Nature/Naturel< bei P.-E. Knabe, Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens in Frankreich. S. 38 j f f . Oeuvres complètes de Boileau. S. 170. - Rapin, Kunsttheoretiker der Académie de Lamoignon, bringt das Verhältnis von >Wahrheit« und W a h r scheinlichkeit« auf eine prägnante Formel: » . . . la vérité ne fait les choses que comme elles sont; et la vraysemblance les fait comme ailes doivent estre« (Zitat nach: Oeuvres complètes de Boileau. S. 997). Quintus Horatius Flaccus, De Arte Poetica Liber / Die Dichtkunst. Lateinisch und deutsch. Einführung, Übersetzung und Erläuterung von Horst Rüdiger. 1961. S. 34. - Vgl. Anmerkung S. 62. 211

gischen >Regeln< - eine horazische Vorschrift aufgreift, ist symptomatisch für den Dichtungsbegriff des Gesetzgebers des ParnassesArt po£tique< keimhaft enthalten; und so ist es nur folgerichtig, wenn Gottsched seinen >Versuch einer critischen Dichtkunst mit einer Übersetzung der >Poetik< des Horaz eröffnet, der, als »einer der aufgeklärtesten Köpfe seiner Zeit«, eine in ihrer Vernünftigkeit musterhafte Dichtungstheorie geschaffen hat, von deren Vorschriften man sich kein Haar breit entfernen könne, »ohne zugleich von der Wahrheit, Natur und gesunden Vernunft abzuweichen.«17 Die Vorschrift der poetischen Wahrscheinlichkeit bildet deshalb auch bei Gottsched den Kern seiner freilich weitgehend zur Verfertigungslehre verkürzten Dichtungstheorie: Dichten ist keine Kunst: aber so dichten, daß es noch einigermaßen glaublich herauskomme, und der N a t u r ähnlich sey; das ist dem Poeten ein L o b . 1 8

Lessing ist sich der Herkunft der gottschedianischen Regeldoktrin aus Boileaus der >Ars poetica< nachgeformten Dichtkunst durchaus bewußt. Es zeugt für die Belesenheit und den Scharfsinn des jungen Literaten, wenn er, in der >Critik über die Gefangnen des PlautusSecundae Responsiones< (>Rationes Dei E x istentiam & Animae A Corpore Distinctionem Probantes More Geometrico DispositaeEthica Ordine Geometrico DemonstrataMathesis universalis< verwandelt sich schon in Spinozas die Entstehung der wahren Philosophie abbildenden geometrischen Ordnung in ein synthetisch-deduktives System der Darstellung, dessen mathematische Evidenz und widerspruchslose Exaktheit in der Folge mit dem euklidischen Beweisgang der >Elemente< identifiziert wurde. Durch Vermittlung der mathematisch geschulten Cartesianer und aufgrund der konstruktiven Systematisierung des Aufklärungswissens im Lehrgebäude des als Mathematikprofessor nach Halle berufenen Christian Wolff, dessen strenge Methode noch K a n t und Hegel als beispielhaft hervorheben, erreicht das 34 35

218

Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I I I ( X X , S. 1 6 3 ) . W o l f i s Bedeutung für die S c h a f f u n g eines mathematischen und allgemeinmethodischen deutschen Vokabulars sowie für die Entwicklung eines am syllogistischen Demonstrationsverfahren orientierten Prosastils betont E . Blackall, Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache, S. 20 f f . D a ß bei aller Wichtigkeit des Wölfischen Denkens für die Entstehung einer philosophisch-allgemeinwissenschaftlichen Prosa und für die Konzeption einer philosophischen Ästhetik (vgl. auch das Kapitel >Wolff e la poetica< bei Luigi Quattrocchi, L a poetica di Lessing, o. J . , S. I J - J I ) ein unmittelbarer Einfluß der Schulphilosophie auf die konkrete Dichtersprache des 1 8 . J a h r hunderts kaum nachzuweisen ist (vgl. den Forschungsbericht von Dieter Kimpel bei Blackall, S. 491), erklärt sich aus W o l f i s rationalistischer A b l e h nung jeglicher Imagination (vgl. E . Blackall, S. 2 1 ) .

mathematische Demonstrationsverfahren einen Gültigkeitsgrad, demzufolge der ordo geometricus auch jenseits der wissenschaftlichen Philosophie als methodisch-didaktische N o r m aller klaren und deutlichen Einsicht anerkannt wurde. So bedient sich vor allem das Lehrbuch der euklidischen Demonstration, wie umgekehrt Euklids >Elemente< gerade dem achtzehnten Jahrhundert als Muster logischer Evidenz und unfehlbarer Beweise gegolten haben. Was im streng philosophiegeschichtlichen Sinn als »Mißverständnis« 3 ® erscheinen muß, nämlich die Umformung der methodischen Tendenz der neuzeitlichen Philosophie zum im Grunde wieder syllogistischen Demonstrationsverfahren, wird zum entscheidenden Impuls einer allgemeinen Verstandesbildung, deren Gründlichkeit und Konsequenz sich unmittelbar aus dem mathematischen Darstellungssystem der in späteren Zeiten so diskreditierten Schulphilosophie herleiten läßt. Lessing steht keineswegs a limine außerhalb dieses allgemeinen Wissenschaftsverständnisses. Für die Einwirkung des mathematisch-philosophischen Geists der Methode auf sein kritisch-wissenschaftliches und dichterisches Werk gibt es von der verlorenen lateinischen Abschiedsrede >De Mathematica barbarorum< vom Juni 1746 bis hin zur >Erziehung des Menschengeschlechts< zahlreiche Zeugnisse, die bei aller prinzipiellen Trennung von >Geometrie< und >Poesie< doch zugleich vom aufklärerischen Erkenntnis- und Demonstrationsideal geprägt sind. Deutlich erkennbar sind die Spuren des Wolffianismus beim jungen Lessing, der, zustimmend oder ablehnend wie im Herrnhuter-Fragment, als Inbegriff der Wissenschaft das an der Meßkunst geschulte philosophische Beweisverfahren wie selbstverständlich voraussetzt. Das szientifische Prinzip der Neuzeit stellt sich dar als eine Synthese von Cartesianismus und euklidischer Geometrie, philosophischer und mathematischer Methode, deren unumstößliche Gültigkeit der Verfasser der >Hamburgischen D r a maturgie< ausdrücklich und im vollen Bewußtsein der Unzeitgemäßheit eines solchen Unterfangens auch f ü r die >Dichtkunst< des Aristoteles und damit f ü r seine eigene Tragödientheorie in Anspruch nimmt. Lessings Bekenntnis, daß er die aristotelische >Poetik< »für ein eben so unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer sind«, 37 involviert neben dem Gedanken der klassischen Musterhaftigkeit der inhaltlich ent3« -^r windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. S. 338. 37

1 0 1 . - 1 0 4 . St. (LM X , S. 214). - Mit den euklidischen >Elementen< hatte sich Lessing schon in der Abschiedsrede in St. A f r a beschäftigt. Vgl. die Anmerkungen Karl Lessings zu den jetzt ebenfalls verschollenen Vorarbeiten des Bruders zu dieser Rede, die eine »Deutsche Uebersetzung des 2ten, 3ten und 4ten Buchs des Euklides« (LM X I V , S. 143, Anm.) enthielten.

219

gegengesetzten Exempla die Annahme einer im philosophischen Sinn unteilbaren Wahrheit, die die Vollkommenheit der aristotelischen wie euklidischen Grundsätze verbürgt. Deshalb sind die Prinzipien der >Dichtkunst< »eben so wahr und gewiß«, 38 wenn auch weniger faßlich, als alles, was die >Elemente< enthalten. Lessing bleibt damit einer Auffassung treu, die er schon gut fünfzehn Jahre zuvor bei der Besprechung einer lateinischen, um die >Elemente< des Euklid erweiterten Einführung in die Philosophie vertreten und die ihn schon damals zu einem Vergleich zwischen Euklid und Aristoteles geführt hatte: D a ß Euklides der wahre Lehrmeister der Methode sey, ist v o n allen v e r n ü n f tigen Philosophen erkannt worden, und die Alten, welche unsere itzige G e lehrten, wie bekannt, so sehr verehren und ihnen so wenig nachahmen, hielten die Erlernung der Geometrie für ein Stück einer guten Auferziehung. 3 9

Lessing verwirft in seiner Rezension die Unterscheidung zwischen der mathematischen und philosophischen Methode, lobt das philosophische Lehrbuch als mustergültige Einführung in die Regeln zur Leitung des Verstandes, dessen Verfasser, der Wolffianer Hentsch, anders als eine große Menge der kleinen Nachfolger des Freiherrn, seinen Euklid beherrsche, und begründet dann sein Lob mit folgenden Worten: M a n findet hier das erste Buch des Euklides abgedruckt und dabey angemerket, wie das darinne beobachtete V e r f a h r e n uns auf die Regeln von den Erklärungen, Grundsätzen, Beweisen, Schlüssen etc. führet; daß man also hier die logischen Regeln beysammen antrift, deren N u t z e n und Wahrheit so zu reden die E r f a h r u n g vieler Jahrhunderte bestätiget hat; eben wie die V o r schriften in des Aristoteles Poetik v o n den Mustern hergenommen sind, deren Schönheit eine allgemeine E m p f i n d u n g erkennet hatte. 40

Aus der Uberzeugung, die Mathematik fungiere als Prolegomenon zu den logischen Grundregeln des Verstandes, erklärt sich auch Lessings lebenslanges Interesse an mathematischen Problemen und seine Vorliebe für Beispiele und Vergleiche aus dem Bereich der mathematischen Wissenschaften. Von einer bemerkenswerten Faszination des Lessingschen Denkens durch die Mathematik zeugen gerade die Jahrzehnte, in denen der Theologiekritiker sich um die Begründung einer von der Offenba38 38

40

220

L M X , S. 2 1 4 . Critische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit, 2 0 . 8 . 1 7 5 1 ( L M I V , S. 2 3 9 f.). - V g l . auch die Fortsetzung v o m 29. 10. 1 7 5 1 ( L M I V , S . 269). L M I V , S. 2 4 0 . - Z u m Funktionswert der euklidischen Geometrie für Lessings Wissenschaftsverständnis vgl. noch — neben den bereits erwähnten Stellen L M I V , S. 2 1 7 und V I I I , S. $ - L M I, S. 2 5 4 (als Repräsentanten des wissenschaftlichen Geistes werden genannt Euklid, Cartesius und Euler); X I I I , S . 1 2 9 und X V , S. 2 1 6 (S. 409).

rung unabhängigen, eigenevidenten Wahrheit bemüht. Steht beispielsweise das Rätsel der Sonnenherden aus der >Griechischen Anthologie< des Planudes als Paradigma mathematischer Problemstellung in keinem unmittelbaren Bezug zur Religionsfrage der Wolfenbütteler Feldzüge,41 so verweisen etwa der Antagonismus von Geometrie und Chiromantie (also der Chiffre für Offenbarung!) in den >Gegensätzen des Herausgebers< oder das denkwürdige Gleichnis von der großen nützlichen, wiewohl auf schiefen Voraussetzungen beruhenden mathematischen Wahrheit in der Schrift gegen Schumann auf einen Begriff philosophischer Mathematik, in der die logizistische Prämisse >Mathematik = Logik< der Rechtfertigung eines autonomen Religions- und Wissenschaftsverständnisses dient. Das kritisch-agonale Moment einer Gegenüberstellung von Mathematik und Chiromantie (Offenbarung), genauer: von geometrischer und chiromantisch-supranaturaler Beweisführung, liegt in dem hierbei unterstellten monistischen Wahrheitsbegriff: fließen die geometrischen Beweise »aus der Natur der Dinge«,42 dann markiert ihr Geltungsbereich auch die Grenze zwischen Wissenschaft und Schwärmerei. Wo immer der natürliche Lauf der religiösen Dinge unabhängig von theologischen praejudicia betrachtet werden soll, ist die philosophische Mathematik deshalb eine unabdingbare Vorschule des methodischen Geistes. In seiner Studie über die >Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion< schreibt Lessing: A l l e philosophische Vorübungen überspringen, besonders die mathematische, welche, ihre eignen Wahrheiten bey Seite gesezt, schon dadurch unentbehrlich wird, daß sie unsern Geist an Ordnung und deutliche genaue B e g r i f f e gewöhnt, und ihn lehrt, was Demonstration ist; diese überspringen, sage ich, und bey dem anfangen, w a s die Spekulation kühnes und wunderbares hat: heißt den geraden W e g zur Schwärmerey nehmen. 43

Das mit der Konsolidierung des neuzeitlichen Denkens sich verallgemeinernde philosophisch-wissenschaftliche Wahrheitsprinzip, das den Gegensatz von Vernunft und Offenbarung zur Kardinalfrage des Jahrhunderts verschärft, wird im Erziehungs-Aufsatz, der auf eine Synthese von Philosophie und Schwärmerei, Spekulation und Kälte, Bild und Begriff hinzielt, nicht schlechthin aufgehoben. Die Bedeutung des wissenschaftlichen Demonstrationsverfahrens, das die Vielzahl der theologiekritischen Motive in Lessings Streitführung zu einem einheitlichen Organisationsprinzip zusammenfaßt, erhellt vielmehr erst aus der Erziehungshypothese, die als Reaktion auf die radikalwolffianische Herausforde41 42 4S

Vgl. L M X I I , S. 9 9 - 1 1 5 . Gegensätze des Herausgebers ( L M X I I , S. 4 3 5 ) . L M X I V , S. 3 1 6 .

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rang der Fragmente zugleich die Antwort auf die im Herrnhuter-Fragment aufgeworfene Frage nach dem praktisch-ethischen Wert des von Descartes und seinen Nachfolgern inaugurierten modernen Wahrheitsbegriffs enthält. Gerade aus dem Blickwinkel der Erziehungsschrift ordnet sich der von Lessing hervorgehobene mathematisch-philosophische Wahrheitsbegriff als Paradigma des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses den mannigfaltigen Spuren des Wölfischen Denkens zu, das, selbst repräsentativ für die aufklärerische Verstandesbildung, für den Herausgeber der Fragmente in den siebziger Jahren einen dauernden Anstoß zur eigenen Positionsbestimmung darstellen sollte. Wie Reimarus, der »durchgängig aus Wolffischen Grundsätzen« 44 philosophiert, bedient sich auch Lessing, vor allem in seiner Abwehr der theologia revelata, des Instruments der rationalen Demonstrationsmethode, deren sprachlogisches Prinzip, nämlich die Kohärenz von Prädikats- und Subjektbegriff, in dem der >Philosophia rationalis sive Logica< entnommenen Motto der >Axiomata< beispielhaft beschrieben wird, und das als Formkraft Stil und Struktur der Lessingschen Schriften in entscheidendem Maße mitbestimmt. Besonders die theologiekritischen Werkstücke, die >AxiomataChristenthum der Vernunft< über die religionshistorischen Fragmente der sechziger Jahre bis hin zur »Neuen Hypothese< und der »Erziehung des Menschengeschlechts< stehen klar in der von Wolff verallgemeinerten Tradition eines durch exakte Definitionen und das Gesetz des »itgcotov äjto Ttov jtgooTtov«45 gekennzeichneten rationalen Stilideals. Ein Blick auf Wolfis lateinische oder deutsche Lehrbücher, die >Philosophia rationalis sive Lógica, Methodo scientifica pertractata< oder die >Vernünfftigen Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandest genügt, um das allgemeine formale Paradigma der Lessingschen Studien sichtbar zu machen. Mit der Feststellung, daß Wolfis syllogistischer Periodenbau und sein wissenschaftliches Beweisverfahren auf Lessings Denk- und Schreibstil eingewirkt haben, ist freilich die Funktion der demonstrativen Methode im Rahmen der theologiekritisch-geschichtsphilosophischen Spätschriften noch nicht benannt. Eine bloß chronologische Differenzierung, derzufolge etwa die in der Erziehungsschrift manifeste Polarität von rationalem und visionärem Impuls, Demonstration und Spekulation, Begriff und Bild dem Kontrastschema von >Alt< und >Neu< zugeordnet würde, griffe in jedem Fall zu kurz, da gerade in der »Erziehung des Menschenge44 45

222

Vorrede zum Fragment »Von Duldung der Deisten< (LM X I I , S. 255). Ueber eine zeitige Aufgabe (LM X V I , S. 294).

schlechts< das >AlteNeue< aber, nämlich die der Wahrheit der Religionsgeschichte gemäße Integration von Offenbarung in die Entwicklungshypothese sowie der Ausblick auf den potentiellen Wahrheitsgehalt religiös-apokalyptischer Schwärmereien, den Horizont der mittelalterlichen Theologie und die alte Geschichtstypologie evoziert. In Hinsicht auf den geschichtsphilosophischen Kontext des achtzehnten Jahrhunderts eröffnet Lessings Geschichtsschau also - reduziert man sie auf ein inhaltliches >quod erat demonstrandum< - kaum neue Dimensionen.46 Auch in der Wirkungsgeschichte des neuzeitlichen Geschichtsdenkens spielt der unter die Kategorien der sittlich-religiösen Aufklärung gestellte Entwurf nur eine geringe Rolle, erst Heine würdigt in seiner Abhandlung >Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland< Lessings Schrift als epochalen Beitrag zu einer Emanzipationsbewegung, die sich über die Stufen der protestantischen Reformation und der deutschen Philosophie bis hin zur politisch-sozialen Revolution erheben wird. 47 Und doch ist es die unmittelbare Wirkungsgeschichte der Lessingschen Kritikposition, von deren Reflexen her sich die Funktion des neuzeitlichen Wissenschafts-Paradigmas in der Erziehungsschrift und in ihren Prolegomena am überzeugendsten erschließen läßt, da hier - nämlich in Lessings Gesprächen mit Jacobi und dessen Briefen an Mendelssohn - die Aufklärungsproblematik selbst thematisch wird und die Lessingsche Weise des Philosophierens mit dem romantischen Gegenprinzip, dem paradoxen >Kopfunter< der Philosophie des Unbedingten, konfrontiert wird. Zur Debatte steht im folgenden primär der Aspekt der Methode, nicht der Inhalt der von Lessing verteidigten Position, des Spinozismus, dessen kardinale Bedeutung für die Genesis des klassischromantischen Denkens nun endlich auch von philosophisch-theologischer Seite anerkannt worden ist.48 Jacobis Disput mit Lessing entsprang keinem Zufall, sondern hatte seinen Grund in der aufsehenerregenden Herausgabe der Reimarus-Fragmente und dem Interesse des Schriftsteller-Philosophen für Lessings theo48

47 48

V g l . H . T i m m (Gott und die Freiheit I, S. 80): » D i e Erziehungsschrift ist eine Montage von Topoi der theologischen Tradition. Materialiter bringt sie nichts Neues.« V g l . Heine, B d . V , S. 1 7 5 f f . Beispielsweise in der Studie von H . Timm. - V g l . auch Alexander Altmanns Darstellung der Spinoza-Gespräche (Lessing und J a c o b i : D a s Gespräch über den Spinozismus. In: Lessing Y e a r b o o k I I I , 1 9 7 1 . S. 2 J - 7 0 ) , in der Lessings Spinozismus ebenfalls grundsätzlich anerkannt w i r d . " 3

logische Streitschriften. 4 ' Daß gerade Jacobi seinen Gesprächspartner mit Goethes >Prometheusorthodoxe Gottesbegriffe< - >Pantheismus< zu stellen. Zur Überraschung Jacobis weicht Lessing dieser Alternative nicht aus: Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen. 'Ev x a i I l a v ! Ich weiß nichts anders.50 Jacobi, laut Hegel »vom edelsten Charakter, ein tief gebildeter Mann«, ist, anders als die auf das Monopol der Freundschaft pochenden Nicolai und Mendelssohn, bei denen sich »nicht nur Flachheit der philosophischen Einsicht, sondern sogar Unwissenheit« 51 zeigte, keinen Augenblick im Zweifel über die Authentizität oder die Tragweite von Lessings Gesichtspunkt. Im EV v.ai jtäv, dem in Gleims Gartenhaus verzeichneten Wahlspruch Lessings und, nach der Überzeugung des Berichterstatters, dem Inbegriff seiner Theologie und Philosophie, erkennt Jacobi das Schibboleth aller Spinozisten: Spinozismus ist ihm aber konsequenter Pantheismus, sprich: Atheismus und Determinismus. Die Bedeutung der philosophischen Gespräche vom Juli 1 7 8 0 liegt darin, daß Jacobi in und mit dem Namen Spinozas, von dem die Leute doch immer wie von einem »todten Hunde« 52 reden, die Frage nach 49

50 51

52

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Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. In: Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn. Hg. und mit einer historisch-kritischen Einleitung versehen von Heinrich Scholz. 1916. (Neudrucke seltener philosophischer Werke. Hg. von der Kantgesellschaft. Bd. VI) S. 74. Lessing nach Jacobi, Über die Lehre des Spinoza. S. 77. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I I I ( X X , S. 3 r j f.). - Hegels Verurteilung der Nicolai-Mendelssohnschen Popularphilosophie an anderer Stelle spricht er von ihrem »gehaltlosen, matten Gewäsche« ( X X , S. 310) - ist kaum weniger pointiert als Marx' Verdikt über die Freunde Lessings: bei ihnen erkennt er nur »ordinäre Philisterhaftigkeit«, oder, wie bei dem geschmähten Mendelssohn, nur »klugscheißende, verdrießliche, besserwissende Nörgelei« (Marx/Engels, Über Kunst und Literatur. Bd. I, S. 444 f.). Der junge Lessing hatte zwar 1754, als er selbst noch keine unmittelbare Kenntnis Spinozas besaß, in Moses pathetisch einen »zweyten Spinoza« (Brief an J . D. Michaelis, 16. 10. 1754 - L M X V I I , S. 40) sehen wollen, doch Mendelssohns Unverständnis hinsichtlich der Jacobischen O f fenbarung sollte davor bewahren, ihn als Kronzeugen für Lessings Anschauungen (vgl. H. Thielicke, Offenbarung, Vernunft und Existenz. S. 105 ff.) in Anspruch zu nehmen. Lessing nach Jacobi, Über die Lehre des Spinoza. S. 88.

Nutzen und Nachteil des ganzen neuzeitlichen Denkens f ü r eine »ächte menschliche Wahrheit« 53 zu beantworten, der Philosophie also unter Berufung auf das unmittelbare Wissen (den Glauben) den Prozeß zu machen sucht. In der Grundannahme, daß es »keine andre Philosophie, als die Philosophie des Spinoza« 5 4 gebe, stimmen Lessing und Jacobi überein, ebenso in der allgemeinen Beurteilung des Spinozismus: als Determinismus schließt er sowohl eine göttliche wie eine menschliche Willkürfreiheit aus. Ausgangspunkt des Jacobischen Ansatzes ist aber die Denunziation des neuzeitlichen Erkenntnisideals und des ihm zugeordneten Schlußverfahrens als eines methodisch wie ethisch gleicherweise verhängnisvollen Irrwegs. Der Einspruch gegen die wissenschaftlichen Erkenntnisregeln, die von Descartes über Spinoza bis zu den Wölfischen Syllogismen die Sicherheit der wahren Einsicht verbürgten, versteht sich in den >Gesprächen< als die konsequente Intervention einer Vernunft, die sich, in A n lehnung an Spinozas Erkenntnistypologie, auf die absolute Prioritätsstellung des unmittelbar-anschauenden Wissens gegenüber den Erkenntnisoperationen des schließenden und verknüpfenden Verstandes beruft. In der Manier dessen, der durch rationale Argumentation ein in seinen Voraussetzungen schwer durchschaubares gegenrationales Prinzip verteidigen muß, ächtet Jacobi nicht nur die »ungemessene Erklärungssucht« 55 eines Leibniz und Spinoza, sondern rechtfertigt auch seinen Salto mortale ins Unbedingte als die wahre Konsequenz einer Philosophie, die aus dem Fatalismus unmittelbar gegen den Fatalismus schließt und somit die Ungereimtheiten des bei Spinoza aufgerichteten wissenschaftlichen Demonstrationsverfahrens umgeht. Doch der Versuch, über die auf dem Parallelismus des ordo rerum und des ordo idearum beruhende, Schritt für Schritt bis zum obersten Prinzip aufsteigende synthetisch-deduktive, am Kriterium der clara et distincta perceptio orientierte Erkenntnismethode und über das gottlose All-Eine der neueren Philosophie hinaus ins Undenkbare fortzuschreiten, das philosophische Denken also gleichsam sich selbst aufheben zu lassen, kann bei Lessing nicht verfangen. Die Grenzziehung zwischen dem aufklärerischen Einheitsprinzip, welches nicht das Denken, sondern die Substanz als prima causa supponiert, und dem Unbegreiflichen als Antidoton zum latenten Materialismus der Immanenzphilosophie droht — wie Lessing klar erkennt - die Rationalität des neuzeitlichen Wissenschaftsprinzips ins Obskurantistische hinein aufzulösen: 5S 54 55

Jacobi, Über die Lehre des Spinoza. S. 90. Lessing nach Jacobi, Über die Lehre des Spinoza. S. 78. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza. S. 90. «i

Worte, lieber J a c o b i ; Worte! Die Grenze, die Sie setzen wollen, läßt sich nicht bestimmen. U n d an der andern Seite geben Sie der Träumerey, dem Unsinne, der Blindheit freyes offenes Feld. 5 8

Indem Lessing auch die philosophische Reflexion am Naturprinzip der lex continui bemißt - Jacobi betont, daß sein Gesprächspartner sich alles » n a t ü r l i c h a u s g e b e t e n h a b e n w o l l t e « 5 7 - , über Offenbarung also nicht aus Offenbarung redet, sondern die Bestimmung des Supranaturalen der Vernunftinstanz und den aus der Natur der Dinge fließenden Beweisarten unterwirft, bewahrt er gegenüber dem in Jacobis Glaubensphilosophie gesetzten Bruch zwischen dem Vielen und dem Einen, dem Bedingten und Unbedingten die Koinzidenz von natura naturans (Gott-Vater) und natura naturata (Gottes-Sohn) sowie die im Bild der menschheitlichen Aufklärungsbewegung vorgestellte endzeitliche Epiphanie des dem göttlichen Erziehungsmittel inhärenten Vernunftkerns. In solch begriffener Harmonie sieht aber Jacobi nur noch das Zeichen einer entzauberten Welt. In der seine Revolte gegen die autonome Philosophie bestimmenden Gleichung von >Wissenschaft = Atheismus< erblickt dann Hegel den Hauptgedanken des Gegenaufklärers. Anläßlich der Beurteilung der spinozistischen Philosophie bemerkt er über Spinozas demonstrative Methode: Sie gehört der Weise des verständigen Erkennens an. Es ist die geometrische Methode: A x i o m e , Erklärungen, Theoreme, Definitionen kommen vor. In neueren Zeiten (Jacobi) stellte man auf, daß alle Demonstration, wissenschaftliches Erkennen auf Spinozismus führe, er sei allein die konsequente Weise des Denkens; es müsse dahin führen, deswegen tauge es überhaupt nicht, nur das unmittelbare Wissen. Jacobi nimmt Spinozismus auch als Atheismus, weil er darauf sieht, daß G o t t nicht von der Welt unterschieden ist. 58

Ausgehend von Spinozas großem Satz: omnis determinatio est negatio billigt Hegel der Jacobischen These für die Philosophie des verständigen Erkennens Gültigkeit zu. Da alles Endliche ein Negatives und nur Gott das Positive, die Substanz ist, hat Jacobi recht. Falsch ist am Spinozismus, daß er nur die eine Seite der Negation ausdrückt, das Bestimmte nicht als wahrhaft wirklich, die Substanz nicht als konkrete Einheit faßt. Doch der Gang Spinozas ist richtig, seine Philosophie ist Vorschule aller Philosophie: 56 57 58

226

Lessing nach Jacobi, Über die Lehre des Spinoza. S. 90. Jacobi, U b e r die Lehre des Spinoza. S . 92. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I I I ( X X , S. 1 6 3 ) . V g l . auch S. 3 1 8 : »Der H a u p t g e d a n k e Jacobis ist nach einer S e i t e : >Jeder W e g der Demonstration geht in den zum Fatalismus ausAnti-Goeze< selbst dem unbarmherzigen Priester entgegengehalten. Kein Zufall ist es, wenn Lessing seine stilistisch-ästhetischen Fermenta cognitionis, jene Sprachtheorie also, die das Proprium der »logischen Begeisterung« als Vermittlung der rhetorisch-rationalistischen Tradition mit den Elementen des Dialogischen und Dramatischen beschreibt, uns inmitten der theologischen Streitführung, ja mit eindeutigem Bezug auf die argumentativ-polemische Prosa der >Anti-GoezeAnti-Goeze< verstreuten Bruchstücke einer Sprachtheorie mit der Fabeldoktrin der >Abhandlungen< von 1 7 5 9 ist evident. 84 Die Fabel, angesiedelt an der Grenze zwischen Dichtung und Moral, zielt als Exempel der praktischen Sittenlehre auf die anschauende Erkenntnis symbolischer, nach dem Wortgebrauch der Zeit also philosophisch-wissenschaftlicher Schlüsse und Wahrheiten. Das Verhältnis von Philosophie und Poesie, in der mit Mendelssohn verfaßten Abhandlung >Pope ein Metaphysiker !< noch disjunktiv bestimmt, erscheint also in Lessings Fabeltheorie als conjunctio oppositorum, als D a r stellung einer vom Allgemeinen auf das Besondere reduzierten, als w i r k lich angenommenen und zur lebhaftesten Anschauung gebrachten Wahrheit, k r a f t derer das poetische Paradigma »so mächtig, als möglich, auf den Willen wirken soll.« 85 Auch hier entspringt Lessings Originalität gegenüber den zeitgenössischen Fabeltheoretikern gerade der Aneignung und Umwandlung der durch die Schulphilosophie geprägten gattungspoetologischen Konvention, die zum selbstverständlichen Bezugshorizont der Aufklärer gehört und deren Mißachtung Lessing einem deutschen Kunstrichter - gemeint ist Breitinger - nicht durchgehen lassen möchte: denn »ihm würde es sehr wohl angestanden haben, wenn er uns mit den trocknen Worten der Schule belehrt hätte, daß die moralische Lehre in 83 84

85

236

J . Schröder, Gotthold Ephraim Lessing. S. 80. A u f diesen Zusammenhang verweist auch J . Schröder, Gotthold Lessing, S. 7 6 ; v g l . auch S. 44 f f . , S. 63 f f . und S. 3 1 3 f f . Abhandlungen ( L M V I I , S. 4 4 4 ) .

Ephraim

die Handlung weder v e r s t e c k t noch v e r k l e i d e t , sondern durch sie der a n s c h a u e n d e n E r k e n n t n i ß fähig gemacht werde.« 8 ' Wolfis >Philosophia practica universalisanschauenden Erkenntnis< (>cognitio intuitivaPhilosophia practica< überwindet und sich in der Auslegung der >anschauenden Erkenntnis< der Leibnizschen Individualitätsphilosophie und der Ästhetik Baumgartens annähert, hat Siglinde Eichner in ihrer Untersuchung über Lessings Prosafabel eindringlich dargelegt. 87 Als methodischer Anstoß für Lessings Beitrag zur Fabeldiskussion des achtzehnten Jahrhunderts bleibt aber die in der Schulphilosophie postulierte erkenntnistheoretische Funktion der bezüglich ihrer ästhetischen Möglichkeiten unterbewerteten Gattung von großem Gewicht. Lessing gelangt in den >Abhandlungen< zu einer authentischen Ästhetik der Fabel, indem er den Zentralbegriff der >cognitio intuitiva< mit der individuellen Erscheinungsform des aufklärerischen Mustergenus vermittelt, gerade aber in der Ästhetisierung der intellektuellen AnschauungAesthetica in nuce< (Sämtliche Werke. B d . I I , S. 1 9 8 ) .

89

H a n s Lothar Markschies, A r t . >FabelAxiomata< bekennt sich Lessing zum Primat des Intellekts gegenüber dem Willen erweist sich somit als das wesentliche Gattungsmerkmal, das in den >Abhandlungen< die Grenze zwischen der heroisch-dramatischen und der Fabeldichtung bezeichnet. »Der heroische und dramatische Dichter«, so pointiert der Verfasser, »machen die Erregung der Leidenschaften zu ihrem vornehmsten Endzwecke. . . . Der Fabuliste hingegen hat mit unsern Leidenschaften nichts zu thun, sondern allein mit unserer Erkenntniß.«*4 Die >Erziehung des Menschengeschlechts^ unter das Motto der perspektivischen Wahrheitserkenntnis gestellt, liefert den theologisch-geschichtsphilosophischen Kommentar für die der Analogie von >Allgemeinem< und >Besonderem< zugrunde liegende Weltvernunft, die, entsprechend dem Gesetz ihrer historischen Besonderung (Offenbarung), auch im hypothetischen Deutungsmodell des privilegierten Individuums metaphorisch, nämlich im Bild der immer bildloser werdenden >Erziehung< beschrieben wird. Die Reduzierung einer abstrakten auf eine der >anschauenden Erkenntnis< angemessene konkret-individuelle Wahrheit - die Erfordernis des erläuternden Exempels teilt die Fabel noch mit allen Wissenschaften — und die größtmögliche Bestimmung des Besonderen - der Wirklichkeitscharakter des dargestellten Beispiels unterscheidet die Fabel von der Parabel - erscheinen in der Erziehungsschrift als die im Sinne der >Abhandlungen< heuristischen Angelpunkte einer in ihrer vorläufigen Uneigentlichkeit sich rechtfertigenden Ratio. Erscheinungsbereich des in uneigentlicher Rede sich äußernden Logos, des durch Offenbarung erziehenden Gottes also, ist die Geschichte, die die frühen mythologischen Erzählungen vom göttlichen Erzieher des Menschengeschlechts als Erinnerung bis in die Gegenwart tradiert, als Verheißung aber die im § 18 beschworene Selbsterziehung der mündig gewordenen Erzogenen in der endlichen Harmonie zwischen dem einzelnen und dem Geschlecht vordenkt. Im Systemabriß der von ihrer Geschichtlichkeit her sich auslegenden Universalvernunft, die wiederum mit der fortgeschrittenen Intellektualität des Verfassers korrespondiert, steht die am wirklichen Exempel des triadischen Geschichtsgangs vorgestellte Selbstexplikation der Ratio zur heuristischen Erziehungsmetapher in einer Relation, die als Verhältnis der Analogie die sinnliche mit der abstrakten, die Offenbarungs- mit der Vernunftwahrheit in Verbindung bringt. Der Analogieschluß der Eingangsparagraphen - Erziehung gleich individuelle Offenbarung, Offenbarung gleich kollektive Erziehung - ist deshalb nicht nur formallogische Introduktion zu einem auf den Übergang der 90

238

LM VII, S. 438.

geoffenbarten in Vernunftwahrheiten fixierten Argumentationsschema, sondern die strukturelle Voraussetzung für eine in der metaphorischen Rede sich selbst erläuternde Vernünftigkeit. In Lessings Fabeltheorie beruht die Möglichkeit der >anschauenden Erkenntnis< auf der Implikation der abstrakten in der individuellen Wahrheit. 91 Das aus dem >principium reductionis< (V. Abhandlung) resultierende Analogieverhältnis ist deshalb besonders dort von Nutzen, wo die natürlichen Erkenntniskräfte des Menschen entwickelt und im Selbstdenken die Freiheit des Individuums gesichert werden soll, auf dem Gebiet der Erziehung also. Lessing behandelt somit den heuristischen, zur Selbständigkeit in Kunst und Wissenschaft anregenden Nutzen der Fabeln, der im Finden und Erfinden von Gattungsbeispielen gesehen wird, in dem Abschnitt >Von einem besondern Nutzen der Fabel in den SchulenSeele< und >Genie< mit dem Erziehungsbegriff der Zeit vermittelt: W a r u m fehlt es in allen Wissenschaften und Künsten so sehr an Erfindern und selbstdenkenden K ö p f e n ? Diese Frage w i r d am besten durch eine andre Frage beantwortet: W a r u m werden w i r nicht besser erzogen? G o t t giebt uns die Seele; aber das G e n i e müssen w i r durch die Erziehung bekommen. 9 2

Den verschlungenen Weg von der Aufklärung der Einzelseele bis hin zum Selbstdenken eines mündigen Menschengeschlechts beschreibt Lessings Geschichtshypothese im Bild eines umgreifenden Erziehungsprozesses, der auch die Frage der Theodizee - »Warum werden wir nicht besser erzogen?«- durch die Behauptung eines zeitigen Umschlags von äußerer göttlicher Erziehungshilfe in menschliche Eigenerziehung auflöst (vgl. >Vorbericht des HerausgebersNathan< sei »ein Sohn seines eintretenden Alters, den die Polemik entbinden helffen« ( L M X V I I I , S. 319), sowie die Mitteilung vom 13. 8. 1 7 7 9 an Tobias Philipp Freiherrn von Gebler, wonach in dem neuen Stück »mehr die Frucht der Polemik als des Genies« (LM X V I I I , S. 323) zu sehen sei. L M X I I I , S. 342. Ernst und Falk ( L M X I I I , S. 344). 249

Dialektik von Wort und Begriff, Bild und Gedanke, Offenbarung und Vernunft in doppelter Weise auf ihre Geschichtlichkeit hin ausgelegt w i r d : fungiert die Offenbarung als historisches Erziehungsmittel des Menschengeschlechts, so bleibt eben diese Erziehung auf die vom Individuum zu leistende Aufklärung des Instinkts zur Vernunft angewiesen, denn eben »die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner V o l l kommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben« (§ 93). Im Blick auf das Entwicklungsziel der totalen Vollkommenheit als der Summe der diachronen individuellen Vollkommenheiten ergibt sich somit für die privilegierten Seelen, die »aus eignen Kräften über die Sphäre ihrer Zeitverwandten« 1 ' hinausdenken, die pädagogische Verpflichtung, die Erziehungsökonomie nicht gewaltsam zu beschleunigen und den unmündigen Verstand nicht »ohne Aufklärung, ohne Vorbereitung« (§ 89) mit unzeitigen Wahrheiten zu konfrontieren — ein Gebot, dem sich übrigens auch der Herausgeber der Fragmente beugt." In dieser pädagogischen Gelassenheit, die Lessing etwa mit Nathan und dem Richter des Ring-Märchens teilt, hat man in der Forschung häufig ein Zeichen von »Konservatismus« 18 gesehen; es sollte aber dabei nicht vergessen werden, daß dieser Konservatismus eine pädagogische Förderung des fortgeschrittenen Individuums nicht nur nicht ausschließt, sondern geradezu notwendig macht:

16 17

18

2JO

Gegensätze des Herausgebers (LM X I I , S. 445). Die Verpflichtung des privilegierten Individuums (des Erziehers, des Wissenden), die schwächeren Zeitverwandten nicht aus ihrem natürlichen Entwicklungsstadium herauszureißen (vgl. § 17, § 26, § 68, § 89 f.), bedeutet freilich nicht, daß Spekulationen über noch zurückgehaltene Wahrheiten unterdrückt werden müßten. Nicht Spekulationen sind schädlich, sondern die Tyrannei, »diesen Speculationen zu steuern« (§ 78); auch im Fragmentenstreit ist Lessing davon überzeugt, »daß nicht Wahrheiten, die man blos zur Untersuchung vorlegt, sondern allein Wahrheiten, die man so fort in Ausübung bringen will, den gemeinen Haufen in wüthenden Religionseifer zu versetzen fähig sind.« Die Meinung, »daß Aeusserungen, wenn sie nur Grund haben, dem menschlichen Geschlechte nicht früh genung kommen können« (beide Zitate: Anti-Goeze. Siebenter - L M X I I I , S. 186), widerspricht zwar dem Wortsinn des § 68 wie auch dem in >Ernst und Falk< erläuterten Begriff der maurerischen Opposition (vgl. L M X I I I , S. 364), erklärt sich aber aus der Dialektik von öffentlichem und privatem Wissen, die als geschichtliche sich im »Zeitalter der A u f k l ä r u n g « (Kant) immer mehr zum öffentlichen Bewußtsein hinentwickelt. So etwa Peter Demetz, Lessings >Nathan der Weiseo Wirklichkeiten und Wirklichkeit. In: Demetz, Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Vollständiger Text/Dokumentation. Ullstein Buch N r . 3925. 1970. (Dichtung und Wirklichkeit 25). S. 1 J 3 .

W e r w o l l t e e i n e m r a s c h e n K n a b e n , w e i l er d a n n u n d w a n n noch f ä l l t , den G ä n g e l w a g e n w i e d e r e i n s c h w ä t zen?18 Den Übergang »aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft« (Kant) und das auf dem richtigen Zeitverhältnis beruhende Gleichgewicht zwischen der Vollkommenheit des einzelnen und der V o l l kommenheit des Ganzen, der einzelnen Glückseligkeit und dem »Totalen der einzeln Glückseligkeiten«, 20 mithin die zwischen dem menschlichen Geschlecht und der einzelnen Seele waltende

»Oekonomie

des

H e i l s« 21 stellt Lessing zumeist unter den traditionsbeladenen Begriff der >VorsehungErnst und F a l k e Nun geh, und studiere jene Uebel, und lerne sie alle kennen, und wäge alle ihre Einflüsse gegen einander ab, und sey versichert, daß dir dieses Studium Dinge aufschliessen wird, die in Tagen der Schwermuth die niederschlagendsten, unauflöslichsten Einwürfe wider Vorsehung und Tugend zu seyn scheinen (LM X I I I , S. 364 f.). - Vielleicht soll dieses eben der Weg seyn, den die Vorsicht ausersehen, dem ganzen jetzigen Schema der Freymäurerey ein Ende zu machen - (LM X I I I , S. 399). [Ankündigung des Nathan.]: . . . die Welt, wie ich mir sie denke, ist eine eben so natürliche Welt, und es mag an der Vorsehung wohl nicht allein liegen, daß sie nicht eben so wirklich ist (LM X I I I , S. 337). >Nathan der Weisec Ob der Gedanke mich schon tödtet, daß Ich meine sieben Söhn' in ihr aufs neue Verlieren soll: - wenn sie von meinen Händen Die Vorsicht wieder fodert, - ich gehorche! (LM III, S. 140) >Die Erziehung des MenschengeschlechtsSelbstbestimmung< und >Vorsehung< sich nicht an der bloßen S y n o n y m i e orientieren kann. D i e R e l e v a n z des Vorsehungsbegriffs f ü r Lessings Denken ist dabei unbestritten: wenn die Geschichte als Ü b e r g a n g von O f f e n barungs- zu Vernunftwahrheiten bestimmt w i r d , muß >Vorsehung< jedoch etwas anderes meinen als die biblisch-christliche Providentia Dei, muß also >säkularisiert< sein; darüber hinaus besitzt der Terminus >Vorsehung< ein besonderes Gewicht in der Wirkungsgeschichte, genauer der an Lessing sich anknüpfenden »Urteilsgeschichte«, 2 2 die auf theologischer Seite, w o h l begünstigt durch die bei Schlegel wiedergegebene Ansicht, » N A T H A N sei ein Panegyrikus auf die Vorsehung, gleichsam eine dramatisierte Theodizee der Religionsgeschichte«, 2 3 zu der Behauptung eines nun wieder christlich-transzendent verstandenen Providenzglaubens bei Lessing geführt hat. D a ß die Sprache meinen B e g r i f f e n nicht vollkommen entspricht (vgl. § 73), die Worte also einen B e g r i f f oftmals nicht so ausdrücken, »daß andre durch die Worte vollkommen eben denselben B e g r i f f bekommen, den ich dabey habe«, 2 4 gehört zur Grundüberzeugung des historisch denkenden A u f k l ä r e r s Lessing, der damit der rationalistisch überspitzten These des 49. Literaturbriefs - »Die Sprache kann alles ausdrücken, was w i r deutlich denken« 2 5 — entgegentritt. U m gemäß dieser Voraussetzung die Spannung zwischen dem traditionalen Bedeutungsgehalt v o n V o r s e hung* und der dem Lessingschen Wortgebrauch zugrunde liegenden Intention sichtbar zu machen und mittels der am repräsentativen Beispiel dargestellten Geschichte des B e g r i f f s den Wandel und die K o n s t a n z der Wortbedeutung zu erfassen, w i r d im folgenden der systematische A n spruch des (christlichen) Vorsehungsbegriffs gegen die aufklärerischen Modifikationen der heilsgeschichtlichen Sinndeutung abgehoben, die auch Lessings Verständnis bestimmen. 26 D i e E x e m p e l f ü r den historischen

22 23 24 25

26

H . Steinmetz in: Lessing - ein unpoetischer Dichter. S. 1 1 . Fr. Schlegel, Über Lessing. S. 1 2 2 . Ernst und Falk ( L M X I I I , S. 3 4 5 ) . L M V I I I , S. 1 3 2 . - Lessing bemerkt allerdings einschränkend, daß die Sprache nicht »alle N ü a n c e n der E m p f i n d u n g « (S. 1 3 3 ) ausdrücken kann. Zur Methode der begriffsgeschichtlichen Forschung vgl. Kosellecks E i n leitung« in: Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1, S. X I X f f . D e r Lessingkenner K . stellt seine Einführung bezeichnenderweise unter das oben zitierte Diktum aus >Ernst und FalkVorsehung< werden zweckmäßigerweise der unter dem Einfluß der natürlichen Theologie stehenden Literatur entnommen, deren avancierteste Position ja dem Herausgeber der Fragmente dazu diente, der historischen Offenbarung und damit der gesamten - orthodoxen wie neologischen - Apologetik den Prozeß zu machen. Das >Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft liefert folgende Definition von >VorsehungVorsehung< seinen genuin christlichen Bedeutungsgehalt und wird zur Chiffre für die zweckmäßige Einrichtung des Weltenbaus. In der offenbarungskritischen theologia naturalis hat aber die Vorsehungsidee auch eine Schutzfunktion: Reimarus, der die >Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion . . . auf eine begreifliche Art erkläret< haben möchte und der für sein eigenes Vernunftsystem den altchristlich-patrologischen Titel einer >Apologie< beansprucht, preist den von den Materialisten verworfenen Vorsehungsglauben als Leitfaden auf dem Weg zur Tugend und Glückseligkeit und als Voraussetzung für die Zufriedenheit des Gemüts. 27 2S

R G G V I (J. K o n r a d ) , Sp. 1 4 9 6 . Sämtliche Zitate: R G G V I , Sp. 1 4 9 7 ( A r t . >VorsehungIrdischen Vergnügen in GottSchutzschrift< nahm, den Charakter moralischer Behäbigkeit und mikrologischer Tüftelei aufweist, braucht hier kaum in Erinnerung gebracht zu werden. Reimarus etwa betont in seinen Abhandlungen über die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, daß sich die Vorsehung Gottes nicht nur auf den Makrokosmos, sondern im besonderen auch auf die »allerkleinsten Theile und Begebenheiten«80 der Schöpfung erstrecke. Gottes Ratschluß manifestiert sich im Unscheinbarsten, das Brennglas des Botanikers oder Zoologen wird zum Beweismittel für die Existenz der allwaltenden Vorsicht: Reimarus, der doch in den Kernstücken der >Apologie< seine offenbarungs- und religionskritischen Zweifel bis an die äußerste Grenze vorantreibt, beschäftigt sich in dem Buch über die natürliche Religion eingehend und ernsthaft mit der von Maupertuis aufgeworfenen Frage, ob es läppisch sei, die dicken Hautfalten des Rhinozeros als Werk der weisen Vorsehung zu verehren! 31 Dieselbe Verdinglichung des Teleologiebegriffs kennzeichnet auch das Hauptwerk von Brockes: in seinem Dialog-Essay >Barthold Heinrich Brockes, oder Nichts ist mir zu klein< glossiert deshalb Arno Schmidt das platte Christentum des gleichwohl realistischen Schriftstellers, der - wie alle seine Zeitgenossen - von einem behaglichen Zutrauen zu einem »Baukastengott« erfüllt sei, den man »mit hausbesitzerhafter Sicherheit«82 verehre. Schon Jean Paul hatte — freilich aus immanent ästhetischen Gründen - das >Irdische Vergnügen in Gott< zusammen mit den Romanen von Hermes als »Beispiele von unpoetischen Repetierwerken der großen Weltuhr« 38 kritisiert. Und auch Schillers Xenion geißelt den >TeleologenDer HerbstRoß-Käfer< läßt sich der Verfasser durch den käferbedeckten Misthaufen zwar zur Gleichsetzung von >Mist< und >Geld< anregen - aber nur im Blick auf den »geitzigen Chrysander« (S. 298), der mit seinem Gelde nichts Gutes schafft und sich nicht, wie der auffliegende Mistkäfer, erhöht, um zu schauen, »wie die Welt, des Schöpfers Werck, so schön!« (S. 300). Zueignung an den Herrn Albrecht Wolffgang Grafen zu Schaumburg, Lippe und Sternberg (unpag.). - Daß der >Frömmigkeit< von Brockes auch ein solides Selbstgefühl zum Grunde lag, betont der Mitherausgeber des >Auszugs< von 1738, Hagedorn, wenn er sich über dessen »törichte Eigenliebe und Irdisches Vergnügen in Sich selbst und seinen Schriften« (zit. nach Dietrich Bodes >Nachwort< zum >AuszugErziehung des Menschengeschlechts< läßt sich das prospektive Gemeinwohl als die Summe der einzelnen Glückseligkeiten weder unter die Kategorie der durch rationale Arbeit beherrschbaren »großen Weltuhr« noch unter den Begriff der heilsökonomisch prädestinierenden, im Christusglauben gegründeten, die Geschichte lenkenden, aber selbst übergeschichtlichen Providentia D e i subsumieren. Was den christ-

lich-transzendenten noch mit dem natürlich-immanenten Vorsehungsglauben der Physikotheologen verbindet, nämlich die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele - bei Reimarus als Hoffnung auf eine »höhere und unaufhörlich wachsende Vollkommenheit und Glückseligkeit« 39 verstanden - , erscheint indessen auch bei Lessing als Moment eines binnenweltlichen Erziehungs- und Entwicklungsplans, in dem die Perspektive der >ewigen DauerEwigkeit< an die Stelle des Dualismus von Immanenz und Transzendenz getreten ist. Das Bild vom » n e u e n 37

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Spartacus ( L M III, S. 471). - Z u Reimarus vgl. L M X I I , S. 328, S. 3 3 2 f. Reimarus kannte wohl die berühmte Schrift des Bartolomé de Las Casas über die Verwüstung der Westindischen Länder, die durch die Enzyklopädisten zu neuem Ansehen gelangt w a r . - Auch Lessings Kritik der christlichen Sklavenhalterei in § 10 der Erziehungsschrift dürfte vom Bericht des Las Casas inspiriert sein. Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. I X , § 8, S. 639 f. Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. I, § 1, S. 1.

e w i g e n E v a n g e l i u m « (§ 86), als Entwicklungsziel der Menschheitsgeschichte von einer merkwürdigen Unbestimmtheit, leitet sich doch von einem Fortschrittsbegriff her, der streng an der Ausbildung der geoffenbarten in Vernunftwahrheiten bemessen wird und dessen rationale Linearität sich im Widerspruch zur Rechtfertigung einer nicht immer der kürzesten Linie folgenden >ewigen Vorsehung< zu befinden scheint.40 Die Dialektik von Wahrheit und Falschheit, Vernunft und Offenbarung, zwischen dem willentlich oder unwillentlich eingeschlagenen Irrweg und dem >wahren Wegontologischen< Entbehrlichkeit, d. h. aber auch der geschichtlichen Notwendigkeit solcher elementarer Erziehungsmittel, verkünden können, ist bei Lessing durchgehend geschichtlich gefaßt, ist begriffene oder noch zu begreifende Sinndeutung des Weltgeschehens und nicht aus der Offenbarung geglaubte Heilserweisung. >FortschrittWegmetapher< (S. 44 f f . ) bleiben an der Oberfläche. Der Verfasser verkennt, daß Lessing in seinen Spätschriften die positiven Religionen gerade nicht mehr - wie in dem Fragment über die Entstehung der geoffenbarten Religion - als »Ausprägungen einer natürlichen Religion« (S. 56) darstellt - dies ist der Standpunkt des Reimarus! Schade auch, daß Göbel auf eine Interpretation der Erziehungsschrift verzichtet, da sie mit Thielickes Lessing-Buch »bereits in ausgezeichneter Weise vorliegt« (S. JJ, A n m . 93). Z u r Definition v o n >Fortschritt< v g l . J . Mittelstrass, N e u z e i t und A u f k l ä rung. S. 3 4 3 f f . A r t . >Vorsehung< in: R G G V I , Sp. 1 4 9 8 .

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. . . die wahren Thaten der Freymäurer sind so groß, so weit aussehend, daß ganze Jahrhunderte vergehen können, ehe man sagen kann: das haben sie gethan! Gleichwohl haben sie alles Gute gethan, was noch in der Welt ist, - merke wohl: in der W e l t ! - Und fahren fort, an alle dem Guten zu arbeiten, was noch in der Welt werden wird, - merke wohl, in der W e 1 t.4S

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Weltgeschichte sind geprägt vom Widerspruch zwischen dem >Wesen des Menschen< und dem gesellschaftlich-kirchlich organisierten - und zwar notwendig organisierten! - >Bürgerb!oßen< Menschen und >solchen< Menschen. Falks Wunsch, »daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die dem Vorurtheile ihrer angebohrnen Religion nicht unterlägen; nicht glaubten, daß alles nothwendig gut und wahr seyn müsse, was sie für gut und wahr erkennen«, 44 findet seine Parallele in Nathans gelassen-toleranter Zurechtweisung des selbstgerechten Tempelherrn, der mit dem Eifer des Überzeugten - »Jud' ist Jude« - die conditio humana am Willkürlichen von Farbe, Kleidung und Gestalt bemißt: . . . Wir haben beyde Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind Wir unser Volk? Was heißt denn Volk? Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, Als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch Gefunden hätte, dem es gnügt, ein Mensch Zu heissen!45

Falk und Nathan, einig darin, daß das Opus supererogatum auf die prospektive Uberwindung der gesellschaftlichen und religiösen Trennungen der Menschen ausgerichtet sein müsse, machten sich freilich der Schwärmerei und der Gesinnungstyrannei schuldig, wollten sie für ihr eigenes erzieherisches Wissen das in Anspruch nehmen, was prinzipiell mit menschlichen Mitteln unvereinbar ist; »was sie von göttlichen unfehlbaren Mitteln unterscheidet«,48 also das im theologischen Denken verankerte Axiom der >UnfehlbarkeitJude< sei,47 verfehlt die durchgehende, die pädagogische Tätigkeit des Protagonisten bestimmende Historizität sowie die der religiösen Aufklärung eignende Spannung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Gebrauch der Vernunft: ließ sich das maurerische Arkanwissen LM XIII, S. 349, " LM XIII, S. 360. 45 II, j (LM III, S. 63); vgl. I, 6 (LM III, S. 38). 46 Ernst und Falk (LM XIII, S. 3 $4). 47 Vgl. - neben der oben zitierten Stelle - noch II, 3 (LM III, S. J4 f.), III, $ (LM III, S. 88), III, 6 (LM III, S. 89), III, 7 (LM III, S. 89 ff.), IV, 4 (LM III, S. i 2 j f.), IV, 7 (LM III, S. 139), V, 3 (LM III, S. 148). 43

2J8

als antizipierte Öffentlichkeit definieren, so wird auch im >Nathan< die strukturelle Identität von geheimer und öffentlicher Prozeßführung gerade dort sichtbar, wo, an der Nahtstelle zwischen dramatischer Fabel und tautologisch-heuristischem Geschichtchen, die scheinbar exklusive >Wahrheit< des Wissenden nur in der traditionell-geselligen Erzählform des Märchens erscheint - »Nicht die Kinder blos, speist man / Mit Mährchen ab« 48 - , der Öffentlichkeitscharakter der Literatur also auch hier als

die

entwicklungspädagogische

Introduktionsweise

der

kritischen

Wahrheit fungiert. Daß das öffentliche Bekenntnis der >Wahrheit< freilich weder zu Zeiten der Kreuzzüge, die für Lessing ja »in ihrer Anlage ein politischer Kunstgriff der Päbste waren«, 4 " noch im Zeitalter der Aufklärung sich des Märtyrertodes verlohnte, gehört ebenfalls zur Weisheit Nathans, der sich mit sanfter Ironie vom Enthusiasmus des Sultans distanziert: S a1adin. . . . Du bist zu Rande Mit deiner Ueberlegung. - Nun so rede! Es hört uns keine Seele. Nathan. Möcht doch auch Die ganze Welt uns hören. S a1a din. So gewiß Ist Nathan seiner Sache? H a ! das nenn' Ich einen Weisen! Nie die Wahrheit zu Verhehlen! für sie alles auf das Spiel Zu setzen! Leib und Leben! Gut und Blut! 48

I I I , 6 (LM I I I , S. 89). - Lessings Hinweis auf Boccaccios Geschichte vom Juden Melchisedech als »Schlüssel« zum >Nathan< (Brief an Elise Reimarus, 6. 9. 1778 - L M X V I I I , S. 287) besitzt also nicht nur quellengeschichtliche Bedeutung: denn die »hundert Geschichten oder Fabeln oder Parabeln oder Historien«, die von einer »ehrsamen Gesellschaft von sieben Damen und drei jungen Männern« (Giovanni Boccaccio, Das Dekameron. Deutsch von Albert Wesselski. Einleitung von André Jolles. 2 Bde. 1972. [insel taschenbuch 7 + 8] Bd. I, >VorredeNathanNathanrührende< Realität des familiären Schlußtableaus einmündet, alles Religiöse sich also nur »in der W e l t « , dem natürlichen Tätigkeitsbereich des Menschen, äußern kann. Das >Rührende< gehört aber nach Lessing zu den Eigenschaften jener wahren Komödien, die »ihrem Originale, dem menschlichen Leben, am nächsten kommen«,53 einer Gattung also, die Diderots »comédie sérieuse, qui a pour objet la vertu et les devoirs de l'homme«,54 verwandt ist. Über >NathanNathan< das Irdische der >himmelbrütenden< Schwärmerei entgegengesetzt ist, so begreift Lessing auch das Weinen- und Lachen50 51 52 53

54

55 58

260

I I I , 7 ( L M I I I , S. 89 f.). L M X V I , S. 4 4 7 . N a t h a n der Weise, I I I , 1 ( L M III, S. 76), I I I , 7 ( L M I I I , S. 95). Abhandlungen v o n dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele ( L M

VI,

S-51). D e la poésie dramatique. I n : Diderot, Oeuvres Esthétiques. Textes établis, avec introduction, bibliographies, notes et relevés de variantes, par Paul Vernière. Garnier [ 1 9 5 9 ] . S. 1 9 1 . Brief an K a r l Lessing, 2 0 . 1 0 . 1 7 7 8 ( L M X V I I I , S. 289). L M X X I , S. 2 5 6 .

können als die psychologische Signatur eines Begriffs von Humanität, zu dessen Bestimmungen die vernünftig-moralische Perfektibilität wie auch die Fehlbarkeit und der Irrtum zu zählen sind und dessen >Realismus< in klarer Opposition zu den konventionellen Gattungshierarchien und den Charaktertypen der Verlachkomödie, des höfisch-heroischen und des christlichen Märtyrerdramas steht. Die Assoziation von >Weinen< und >LachenNathan dem WeisenPhilotasSelbstquälers< »das fast pädagogisch zu nennende Anliegen, die neue, bei Menander entdeckte Humanitätsidee zu exemplifizieren.« 59 Auch das >NathanAttischen Nächten< überliefert, erhält erst aus der Diesseitigkeit des Geschehens als dem Bezugshorizont von Humanität seinen Sinn. Das Motto, in einem Schreiben an Herder als Ermunterung für diejenigen Leser bezeichnet, die der »Fingerzeig«60 auf Boccaccio unmutig gemacht habe, verweist nämlich auf jene Vermischung der >oberen< und der >unteren< Sphäre, der absoluten und der relativen Wahrheit, derzufolge der erkennende Mensch selbst zum >Gott< wird und das Reich der Natur, die »ordentliche Kette der Dinge«, das Reich der Gnade, die »ausserordentlichen Wege«' 1 der Vorsicht, entbehrlich macht. Schon Aristoteles, der in seiner Lehrschrift über die Teile der Tiere den später bei Gellius tradierten Satz als Ausspruch Heraklits mitteilt, bezieht sich 57

58

59 60 61

L M II, S. 3 7 3 . - Aridäus erweist sich hier als der im >Laokoon< charakterisierte »gesittete Grieche«, der »zugleich weinen und tapfer seyn« kann ( L M I X , S. 9). - Vgl. auch Lessings Briefe an Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn vom 13. 1 1 . 1 7 j 6 ( L M X V I I , S. 67, S. 69 f.), in denen er die Verwandtschaft von Weinen und Lachen betont. Terenz, Heauton Timorumenos, V . 77, zit. nach: Terence. With an English Translation by John Sargeaunt. 2 Bde. 1964/65. Bd. I, S. 124. Richard Mellein in: Kindlers Literatur Lexikon im dtv. Bd. io, S. 4 3 1 5 . Brief vom 10. 1. 1779 (LM X V I I I , S. 302). Hamburgische Dramaturgie, 12. St. ( L M I X , S. 2 3 1 ) . - Vgl. auch das 2. St., wo Lessing sich gegen die »unmittelbaren Wirkungen der Gnade «(LM I X , S. 188) auf dem Theater wendet. 261

auf das denkwürdige Wort durchaus in einer an Lessing erinnernden Weise, indem er für ein emotionsloses Studium der Natur und ihrer Geschöpfe plädiert. Gerade auch die Betrachtung der minder geschätzten Tiere bereitet Freude und besitzt einen beträchtlichen Erkenntniswert, weil diese Geschöpfe »uns auch näher stehen und im Wesen verwandter sind und dadurch den Vergleich aushalten mit der Weisheit über die göttlichen Dinge.« Aristoteles fährt dann fort: Man soll sich also nicht kindisch sperren gegen die Betrachtung der minder geschätzten Tiere. Denn in allem Natürlichen stecken Wunder. Und nach dem Wort, das Herakleitos jenen Fremden zugerufen haben soll, die ihn besuchen wollten und nach ihrem Eintritt überrascht stehen geblieben waren, als sie ihn sich am Ofen wärmen sahen - sie sollten nur kommen, rief er, auch hier seien Götter! - , so sollte man auch an die Betrachtung eines jeden Tieres herantreten, ohne ein Gesicht zu ziehen, weil man sich sagen muß, daß in jedem ein Stück Natur und Vollkommenheit steckt. Denn nicht Willkür, sondern Zweck waltet ja in der Natur ganz besonders.82

Daß in allem Natürlichen Wunder stecken, das Wunderbare nicht im Übernatürlichen, sondern im Diesseitigen beruht, die Zweckmäßigkeit des Ganzen besonders aus der immanenten Teleologie der Natur spricht - das Göttliche also auch im Diesseits angesiedelt ist - , verbindet die Heraklit-Deutung des Aristoteles mit der Kritikposition Lessings, die - bei völlig veränderten historischen Voraussetzungen - doch gerade auch gegen die Verabsolutierung der >Idee< und gegen den Dualismus von >Irdischem< und >Überirdischem< zielt. So insistiert Nathan gegenüber Recha auf einem natürlich-alltäglichen Begriff von >Wunderhöheren Wesen< Menschen sind, für die der Mensch immerhin — wie sogar Daja zugesteht - etwas t u n kann, ist auch das Menschliche göttlich - und zwar in dem erhabenen Sinn, in dem Lessing schon das undogmatische und apokryphe, aber humane Testament des Johannes als »göttlich« bezeichnete! Der johanneische Liebesgruß und die »Ergebenheit in Gott« gehören zum Index der Humanität. Daß im Wechselspiel von Selbstverleugnung und freier Menschlichkeit in >Nathan dem Weisem auch Spinozas Lehre von der allgemeinen Menschenliebe durchscheint, hatte Dilthey mit 62

83

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Aristoteles, Die Lehrschriften. Hg., übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Dr. Paul Gohlke. Über die Glieder der Geschöpfe. 1959. S. 42 f. - Der aristotelische Grundtext ist leicht zugänglich in: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch von Hermann Diels. Zehnte Auflage hg. von Walther Kranz. Bd. I, S. 146 (Herakleitos). I, 1 (LM III, S. 12).

Recht in seinem Lessing-Aufsatz konstatiert.' 4 A n keiner Stelle wird die Korrelation von Diesseitigkeit und humanem Liebesgebot aber deutlicher als dort, w o die Dialektik von menschlicher Annihilation und Apotheose in der dramenanalytischen Motivierung von Nathans >Güte< in ihrer existentiellen Dimension ausgelotet wird. Dies ist der Fall, als Nathan dem Klosterbruder von seinem Hiobschicksal und dem Judenpogrom zu Gath berichtet: Als Ihr kamt, hatt' ich drey Tag' und Nächt' in Asch' Und Staub vor Gott gelegen, und geweint. Geweint? Beyher mit Gott auch wohl gerechtet, Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht; Der Christenheit den unversöhnlichsten Haß zugeschworen —85 Das verzweifelte Rechten mit Gott mündet jedoch in ein Wiederbegreifen des längst Begriffenen, in die Erkenntnis der Rechtmäßigkeit des Widersinnigen, dessen >Vernünftigkeit< sich im Dialog zwischen der V e r nunft des Menschen und der Vernunft Gottes erschließt und die dem richtigen Handeln, der praktischen Vernunft also, die Richtung weist: 64

Vgl. Dilthey, Gotthold Ephraim Lessing, S. 95, S. 99 und S. 104. - Die >Menschenliebeunfehlbaren< theologia revelata entfalten. Dies ist schon die Lehre der >JudenPhilotas< wendet sich Aridäus gegen den menschenverachtenden Heroismus: »Was ist ein Held ohne Menschenliebe!« (LM II, S. 372); für Nathan ist inhumanes Heldentum »Groß und abscheulich!« (II, 5 - L M III, S. 59); auch für Lessing selbst ist wahre Größe ohne Menschenliebe undenkbar: in der Rezension (17. 2. 1753 in der berlinischen privilegirten ZeitungDie wahren Pflichten des Soldaten und insonderheit eines Edelmanns, welcher sein Glück in Kriegsdiensten zu machen sucht, nebst dem Bilde eines vollkommenen Officiers, eines ehrlichen Mannes, und eines wahren Christen< - eine Rezension, die nach J . Schröder (Gotthold Ephraim Lessing. S. 230 f.) bereits auf den Konflikt in >Minna von Barnhelm< hindeutet - schreibt der junge Kritiker über den Verfasser: »Er wagt verrätherische Blicke in die Herzen der Helden. Er zeigt den Unterschied zwischen ihrer wahren und falschen Größe. E r gründet ihre Ehre auf die Empfindung der Großmuth und Menschenliebe« (LM V, S. 155). • 5 I V , 7 (LM III, S. 139). 263

D o c h nun kam die Vernunft allmählig wieder. Sie sprach mit sanfter Stimm': >und doch ist G o t t ! D o c h w a r auch Gottes Rathschluß das! W o h l a n ! K o m m ! übe, was du längst begriffen hast; W a s sicherlich zu üben schwerer nicht, A l s zu begreifen ist, wenn du nur willst. Steh auf!< - Ich stand! und rief zu G o t t : ich w i l l ! Willst du nur, daß ich will! - 6 6

Im Wiedererwachen der Vernunft, d. h. der am Hiobschicksal dargestellten Läuterung des Instinkts zur Erkenntnis fügen sich - um in der Sprache des achtzehnten Jahrhunderts zu bleiben - >unteres< und >oberes< Erkenntnisvermögen, passio und ratio zum Bewußtsein der personalen Einheit, dem Ich (»Ich stand!«; »ich will!«) zusammen, das im dialogischen Sprechen — dem Modus der humanen Wahrheitsfindung - sich des göttlichen Ratschlusses als einer >Rechtfertigungsinstanz< auch der grausamsten Irrwege der Geschichte zu versichern sucht. Der Feststellung Rohrmosers: »Wenn die Offenbarungsreligion für Nathan auch nur die geringste Bedeutung hätte, dann wäre es in dieser Situation deutlich geworden«, 67 ist vorbehaltlos zuzustimmen. Denn das Organ, mit dem Nathan das Begreifen Gottes vollzieht, ist die Vernunft, nicht eine historisch-religiöse Mittlergestalt. An die Stelle der Kluft zwischen historischer und vernünftiger Wahrheit tritt die dem Gesetz der Stetigkeit und der universalen Korrespondenz verpflichtete Vernünftigkeit, die - wie Lessing im >Christenthum der Vernunft< formulierte - den Begriff Gottes als des uneingeschränkt vollkommenen Wesens mit der bedingten Vollkommenheit der einfachen Wesen, der »gleichsam eingeschränkten Götter«, verbindet und aus deren Harmonie alles zu erklären ist, was »in der Welt vorgehet.«' 8 Auch die Breslauer Spinozisterei hatte ja Les66 67

68

264

I V , 7 ( L M I I I , S. 1 3 9 ) . G . Rohrmoser, Lessing und die religionsphilosophische Fragestellung der A u f k l ä r u n g . S. 1 2 8 . - In der Auslegung der im >Nathan< entfalteten M e n schengeschichte als »eines letztlich bedeutungslosen Spiels des Wahns und der Verblendung« (S. 1 2 9 ) beruft sich Rohrmoser dann allerdings gerade wieder auf eine unbegreiflich-souveräne P r o v i d e n t i a Dei. - V g l . auch Rohrmosers >NathanChristenthum der Vernunft< - auf die Grundgedanken der Leibnizschen Philosophie (für Leibniz ist ja der Mensch ebenfalls ein >kleiner Gott< - vgl. Die Theodizee, § 1 4 7 , S. 2 1 0 ; Monadologie, § 83, S. 6 4 / 6 5 ) , die zusammen mit dem spinozistischen Immanenzprinzip die Disposition der A u f k l ä r u n g bestimmt. Die Spannung, die dem Bewußtsein der >menschlichen G ö t t l i c h k e i t eignet, kennzeichnet übrigens auch die Geschichte von Lessings Oeuvre: im

sing in der Überzeugung bestärkt, daß eine Wirklichkeit der Dinge außer Gott schlechthin undenkbar sei.69 Das Bekenntnis des Autors, »Nathans Gesinnung gegen a l l e positive Religion ist von jeher d i e m e i n i g e gewesen«,70 bedeutet keinen Widerspruch zu einem hypothetischen »Wiederholen weggeworfener Wahrheiten, besagt es doch nur, daß Nathans Religiosität die ihr eigene Konsistenz aus der selbstbewußten Abgrenzung der Vernunft gegen jeglichen heteronomen Offenbarungsanspruch gewinnt, darin also vergleichbar der von Lessing in der Menschlichkeit Jesu verankerten »Religion Christi«, die dieser als Mensch erkannte und übte und die jeder Mensch mit ihm gemein haben kann. Die notwendige, von Lessing bereits in dem Fragment >Ueber die Entstehung der geoffenbarten Religion< erkannte Positivität (Historizität) von Religion, d. h. das durch einen Stifter sanktionierte und auf Treu und Glauben basierende »Conventionelle derselben«71 oder den faktischen Gegensatz von Vernunft und Geschichte als Beweistitel für einen »im Horizont der Providentia Dei«72 gründenden Lessingschen Glauben in Anspruch zu nehmen, hieße die dezidierte Diesseitigkeit des in den Spätschriften vertretenen Geschichtsbegriffs gänzlich verkennen. Diesseitigkeit ist aber die Voraussetzung für die Genesis der modernen Geschichtswissenschaft, die, wie Walter Schulz betont, aus dem Widerspruch zur christlichen Geschichtsauffassung und der im Christentum weiterwirkenden griechischen Ontologie heraus entstanden ist: Lehrgedicht >Die Religion< und im Herrnhuter-Fragment ein krasser Dualismus von Einsicht und Moral (»Der Erkenntniß nach sind wir Engel, und dem Leben nach Teufel« - L M X I V , S. 160), der freilich mit der Lösung von der Väterreligion überwunden w i r d ; am E n d e erkennt Lessing dann in Goethes >PrometheusNathan dem Weisen< ( L M X V I , S. 4 4 4 ) . L M X I V , S. 3 1 3 . V g l . dazu die jüngste theologische Lessingliteratur: H a r a l d Schultze, Lessings Toleranzbegriff. Eine theologische Studie. 1969. (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie. H g . von E d m u n d Schlink. Bd. 20) K a p . V I : »Toleranz im Horizont der Providentia DeiParadoxie< (vgl. etwa Schilsons Hinweis auf M . D u r z a k , S . 1 4 6 , A n m . 7 ) rechtfertigen läßt! 265

. . . eine wirklich reale Möglichkeit, von der Geschichte her einen Gegenbegriff gegen den griechischen Wissenschaftsbegriff zu konzipieren, ersteht erst dort, w o der christliche Grundansatz überhaupt aufgehoben und damit die Idee der Transzendenz als u n g e s c h i c h t l i c h beiseite gelassen wird. 7 ® D e r Charakter der Diesseitigkeit verbindet die Menschlichkeit

Na-

thans mit dem auf die weltlichen O p e r a supererogata gerichteten Blick des maurerischen Erziehers wie mit der Entwicklungshypothese des privilegierten Individuums, das mit der Vergeschichtlichung

der V e r n u n f t

dem ungeschichtlichen

Transzendenz,

Dualismus v o n

Immanenz

und

empirischer und platonischer Vernunftgestalt, Weltgeschichte und Heilsgeschichte ein Ende bereitet. D e r Eigenart eines solchen

Umwertungs-

prozesses entspricht es, daß die A u f l ö s u n g des traditionellen Religionssystems weithin als >immanente< U m p o l u n g der Wertehierarchie verläuft, W o r t und Begriff also -

wie Lessing insbesondere in >Ernst und Falk
Moralität< zurückgerufene N a t h a n einen Beg r i f f v o n Humanität vorbereitete, der »in jeder geschichtlichen Erscheinung den menschlichen Kern erfaßte«, 7 4 die Geschichte v o m weisen J u den somit nicht als ein »Panegyrikus«, ein »herrliches Lobgedicht auf die Vorsehung«, 7 5 sondern als ein 73

74 76

76

266

»Drama

der

Verständigung«7®

W. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt. 1972. S. 480. - H . Thielickes Buch über >Offenbarung, Vernunft und Existenz< liefert übrigens die unmittelbare wissenschaftsgeschichtliche Bestätigung f ü r die Richtigkeit der Schulzschen Aussage: seine auf die »aktuelle Transzendenz< ausgerichtete Interpretation der Erziehungsschrift beruht auf dem angenommenen Gegensatz von »geschichtlichen und >transzendentaler< Vernunftgestalt, einem »tiefen Dualismus« also, »der an das platonische Weltbild« (S. 136) erinnere! Dilthey, Gotthold Ephraim Lessing. S. 90. M. Mendelssohn, Morgenstunden, oder Vorlesungen über das Dasein Gottes X V . In: Mendelssohn, Gesammelte Schriften. B d . II, S. 366. - Mendelssohn ist also einer jener Meister der Weltweisheit, deren >NathanNathanNathan< ist als D r a m a der Verständigung Sinnbild eines Erziehungsplans, in dem die >Vorsehung< der menschlichen Vernunft entspricht, die Wahrheit Gottes also menschlich geworden ist. In >Nathan dem WeisenWort< und >Begriff< wieder rückgängig; vgl. auch die ausführliche Analyse der Gesprächsform in »Nathan dem Weisen< durch Horst Türk (Dialektischer Dialog. Literaturwissenschaftliche Untersuchung zum Problem der Verständigung. 1975. S. 181-257), der die Subjektivität der Theologie, die »Rückführung des absoluten Wollens in die Immanenz des Begreifens« (S. 232) bei Lessing betont. Nathans Aufgabe ist damit »praktizierte Theodizee vom Standpunkt einer bereits in die Selbsterziehung übergegangenen, moralisch sich frei bestimmenden Menschheit aus« (S. 257). Spinoza, Die Ethik. II. Teil. Lehrsatz 10, Folgesatz, S. 58. Leibniz, Metaphysische Abhandlung, § 9, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Bd. II, S. 144; Monadologie, § 83, S. 64 ( » . . . chaque Esprit étant comme une petite divinité dans son département«). Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III ( X X , S. 194). 267

G o t t schuf den Menschen nach seinem Bilde, Mensch schuf G o t t nach dem seinigen. 80

das heißt vermutlich

der

Die Devise, das »Individuum ist Gott expliziert in besonderer Weise«, von Hegel als eine mögliche Deutung der spinozistischen Philosophie akzeptiert, verbindet die Epoche der religiösen Aufklärung mit dem Humanitätsprogramm der Weimarer Klassik wie mit der im Gegenzug zur >Kunstperiode< konzipierten Revolutionsprognose Heinrich Heines. Daß die Formel von der Göttlichkeit des Menschen von Lessings Plan einer vernunftbestimmten Menschenerziehung bis hin zu den frühsozialistischkommunistischen Gesellschaftstheorien des neunzehnten Jahrhunderts zur Rechtfertigung eines oppositionellen Denkens dient, ist ein schlagender Beweis für die Geschichtsmächtigkeit des neuzeitlichen Immanenzprinzips, bezeugt aber zugleich auch die entschieden religiöse Verhaftung des deutschen Denkens und dadurch die kardinale Bedeutung der Kritik der Religion, die ja auch für den jungen Marx »die Voraussetzung aller Kritik« 81 darstellt. Heine, der von der führenden Rolle der Kommunisten bei der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft überzeugt war, umreißt noch in den radikalen >Briefen über Deutschland< das kommunistische Revolutionsziel mit der berühmten Metapher von der »Demokratie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter« - eine Zukunftsvision, die sich für Heine nicht zuletzt aus der säkularen Befreiungstat der »providentiellen Männer« Luther, Spinoza und Lessing herleitet! Die revolutionäre Aszetik des Saint-Just ist deshalb >religiös< zu modifizieren: D a s große W o r t der Revolution, das Saint-Just ausgesprochen: le pain est le droit du peuple, lautet bei uns: le pain est le droit divin de l'homme. W i r kämpfen nicht f ü r die Menschenrechte des Volks, sondern für die Gottesrechte des Menschen. 8 2

80

Lichtenberg, Schriften und Briefe. I. B d . : Sudelbücher, S. 2 6 1 . - V g l . II. Bd.: Sudelbücher I I , Materialhefte, Tagebücher, S. 1 9 7 : »Wenn die W e l t noch eine unzählbare Zahl v o n Jahren steht, so w i r d die Universalreligion geläuterter Spinozismus sein. Sich selbst überlassene V e r n u n f t führt auf nichts andres hinaus, und es ist unmöglich, daß sie auf etwas andres hinausführe.«

81

M a r x , Z u r Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung. Zit. nach: M a r x , Frühe Schriften. Erster Band. H g . von H a n s - J o a c h i m Lieber und Peter Furth. 1 9 6 2 . S. 4 8 8 . Heine, Z u r Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (Bd. V , S. 2 3 4 ) ; vgl. S. 2 0 1 , S . 225 und S. 2 5 0 f f . sowie B d . V I I , S. 3 0 7 ; dazu M . Bollacher, >Aufgeklärter PantheismusZur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschlands in: D V j s 49, 1 9 7 5 . S. 2 6 5 - 3 1 4 ; die politische Relevanz des >Deus-seu-Na-

82

268

Die Göttlichkeit der Welt gehört auch zum Vorstellungsbereich der Weimarer Klassik, in deren Humanitätslehre die Relativierung des christlichen Transzendenzdenkens als Voraussetzung für den Vollzug der menschlichen Selbstbestimmung erscheint. Goethes >Zahmes Xeniono »Je mehr du fühlst ein Mensch zu sein, Desto ähnlicher bist du den Göttern« 83 beschreibt prägnant die nachchristliche, am Prometheussymbol inspirierte Humanreligion, für die der Mensch nie Mittel, sondern immer Zweck ist und die den Menschen zu einer Bestimmung emporhebt, die ihn der Sphäre der Götter angleicht: also ist es - so läßt etwa Schiller in den frühen, in Weimar überarbeiteten lyrisch-dramatischen Szenen >Semele< Zeus den Apollo zitieren - für die Götter selbst »Entzücken, / Mensch unter Menschen sein . . . « , und die Sehnsucht, einen Freund, einen wahren Menschen zu finden, bewegt auch den Tyrannen Philipp in >Don Carlos< - ein thematisches Präludium der großen, noch ganz aufklärerisch geprägten Ideenkonfrontation zwischen >Menschenglück< und f a l scher VergötterungEssay on ManGöttlichkeit< als Modus der seiner irdischen Bestimmung folgenden Menschheit erscheint. Bei aller Spannung zum Übersinnlichen ist der »Ruf zur Diesseitigkeit«90 gerade auch bei Herder der vorherrschende Grundzug seiner Humanitätsphilosophie, die sich wie Lessings Kritik der theologia revelata am Bild des Menschensohns, der humanen Religion Christi orientiert und durch welche die Menschheit, die ihr Ziel ausschließlich jenseits des Grabes gesetzt hat, wieder auf ihr hiesiges Dasein zurückgeführt werden soll: Es scheint, daß wir diesen Umriß eines menschlichen Daseyns ziemlich aus den Augen verlohren haben, indem wir statt dieser Schranken so gern das Unendliche im Sinn haben und glauben, d a ß die Vorsehung immer nur dazu mit uns beschäftigt seyn müße, um uns aus unsern Grenzen zu rücken, unsre Schranken unendlich zu erweitern und uns die Ewigkeit in der Zeit d. i. den Ocean in der Nußschaale zu genießen zu geben. 9 1

Die Philosophie Spinozas, in deren Geist Herder den Dualismus zwischen der extramundanen göttlichen Vorsehung und dem Umriß eines menschlichen Daseins aufzulösen sucht, verleiht auch der Konfession der >GottSelbstheit< abzielenden Theologie, zu deren Zubehör und Gerüste weder der Inspirationsglaube noch der Glaube an Wunder und eine übernatürliche Vorsehung gehören, wohl aber eine umfassende Kenntnis der historisch-exegetischen W i s s e n s c h a f t und der b i b l i s c h e n K r i t i k . Menschlich ist die Bibel gerade als älteste Urkunde, als Dokument der Geschichtlichkeit des Menschen, als Buch, von Menschen für Menschen geschrieben: Es bleibt dabey, mein Lieber, das beste Studium der Gottesgelehrsamkeii ist Studium der Bibel, und das beste Lesen dieses göttlichen Buchs ist m e n s c h l i c h . Ich nehme dies W o r t im weitesten U m f a n g e und in der andringendsten Bedeutung. Menschlich muß man die Bibel lesen: denn sie ist ein Buch durch Menschen für Menschen geschrieben: menschlich ist die Sprache, menschlich die äussern Hülfsmittel, mit denen sie geschrieben und aufbehalten ist; menschlich endlich ist ja der Sinn, mit dem sie gefaßt werden kann, jedes Hülfsmittel, das sie erläutert, so wie der ganze Z w e c k und Nutzen, zu dem sie angew a n d t werden soll. Sie können also sicher glauben, je humaner (im besten Sinne des Worts) Sie das W o r t Gottes lesen, desto näher kommen Sie dem Z w e c k seines Urhebers, der Menschen zu seinem Bilde schuf, und in allen Werken und Wohlthaten, w o er sich uns als G o t t zeigt, für uns menschlich handelt. 8 4

Das prägnanteste und bedeutsamste Beispiel für ein m e n s c h l i c h e s Lesen des göttlichen Buchs bietet aber die >Erziehung des Menschengeschlechts^ die ja aus Lessings Absicht erwuchs, gegen das vierte Fragment des Reimarus, in dem der Offenbarungscharakter des Alten 9S 84

Herder, G o t t ( X V I , S. 5 7 3 , S. $ 7 5 [ 2 . Ausgabe]). Herder, Briefe, das Studium der Theologie betreffend. Erster Theil. Erster Brief ( X , S . 7 f f . ) .

271

Testaments geleugnet wurde, die Wege Gottes mit dem israelitischen Volk entwicklungspädagogisch, also gerade im Blick auf die Initiationsfunktion des Elementarbuchs zu rechtfertigen. Im menschlichen Lesen des göttlichen Buchs erschließen sich die Kategorien aufklärerischen Geschichtsdenkens - Vernunft, Natur, Fortschritt - , die aber in einer zur >Kunstlehre des Verstehens< erhobenen geschichtsphilosophischen Reflexion des zukunftorientierten Individuums die Sprach-Signaturen ihrer Vergangenheit noch an sich tragen. Dies erklärt, weshalb die Geschichtlichkeit der Vernunft an derjenigen Urkunde exemplifiziert werden kann, die nach Meinung der einen als Dokument höherer Weisheit sich dem menschlichen Wähnen entzieht, nach Meinung der anderen aber gerade die gültigen Zeichen göttlicher Einwirkung - die Wahrheiten der Vernunft — vermissen läßt. Wieder verfolgt Lessing — gemessen an den Extrempositionen Warburtons und Reimarus' - eine mittlere Bahn: ist die Bibel ein Zeugnis der Menschheitsgeschichte, so muß eine als Erziehungslehre konzipierte Geschichtstheorie die Interferenzen von göttlicher Offenbarung und menschlichem Sinn, >Wort Gottes< und einem auf freie moralische Einsicht hinzielenden menschlichen Reden mitberücksichtigen. >Vorsehung< und >Selbstbestimmung< nähern sich somit über das tertium comparationis ihrer Geschichtlichkeit einander an. Bei der Beschreibung der Weltgeschichte — repräsentiert durch den Alten Bund, die Epoche des Christentums und die »Zeit eines n e u e n e w i g e n E v a n g e l i u m s « - rekurriert Lessing mit den Begriffen von der » O e k o n o m i e d e s H e i l s « , der »nehmlichen Oekonomie des nehmlichen Gottes« und der »ewigen Vorsehung« auf Kategorien, deren Bedeutungsgehalt jahrhundertelang fast ausschließlich durch ihre Zugehörigkeit zum christlichen Lehrgebäude bestimmt war. Vor allem seit Karl Löwiths schulbildender Abhandlung über >Weltgeschichte und Heilsgeschehen< hat man eine solche >Projizierung< des Heilsgeschehens auf die Ebene der Weltgeschichte, eine »Verwirklichung und Verweltlichung des christlichen Geistes«,95 wie sie paradigmatisch Hegels Ge95

272

Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Dritte Auflage. 1 9 5 3 . (Urban-Bücher 2) S. 60. Amerikanische Ausgabe Chicago 1949. - Zu Löwiths Einfluß speziell auf die amerikanische Lessing-Forschung vgl. beispielsweise die stark verkürzende Darstellung bei Wilm Pelters, Lessings Standort. Sinndeutung der Geschichte als Kern seines Denkens. 1972. (Literatur und Geschichte Bd. 4) S. 14 f. und Leonard P. Wessells Aufsatz >Lessing's Eschatology and the Death of God< im Lessing Yearbook V I , 1974, S. 5 9 - 8 2 : Lessing erscheint dort als »a spiritual descendant of Joachim«, der - so die vage formulierte These - zwischen einer philosophischen und einer theologischen Deutung der Philosophie vermittle (S. 65).

schichtsphilosophie repräsentiere, als S ä k u l a r i s i e r u n g begreifen wollen. Für Löwith übernimmt gerade Lessings Erziehungsschrift eine entscheidende Funktion in diesem Säkularisierungsprozeß, indem sie das christliche Geschichtsschema und vor allem Joachims theologiegeschichtliche Konstruktion den Saint-Simonisten, Comte und den Philosophen des deutschen Idealismus vermittele, die »mögliche Ableitung der weltlichen Irreligion des Fortschritts von ihrem theologischen Modell« also exemplarisch demonstriere. Den Zusammenhang von >Fortschritt< und >SäkularisierungÜbersetzung< der christlichen Religion in Philosophie konstatiert: Geschichtsphilosophie kann man erklären »als einen Angriff auf die christliche Theologie, oder als deren Verteidigung in der Sprache der Philosophie.« 97 Löwiths Säkularisierungsthese, die hier nur im Blick auf Lessings Erziehungsschrift diskutiert werden kann, hat nicht nur Zustimmung, sondern vor allem auch lebhaften Widerspruch erfahren, obgleich es angesichts der scheinbaren Zweideutigkeit der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie (-theologie) nicht immer leicht sein mag, sich — so das Urteil des Aufklärungsforschers Werner Krauss - der »Suggestion einer so maßlos vereinfachten Erklärung zu erwehren.« 98 Suggeriert wird durch die Er96 97 88

K . L ö w i t h , Weltgeschichte und Heilsgeschehen. S . 194 (beide Zitate). K . Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. S . 1 9 1 . W . Krauss, Z u r Konstellation der deutschen A u f k l ä r u n g . I n : Krauss, Perspektiven und Probleme. Z u r französischen und deutschen A u f k l ä r u n g und andere Aufsätze. 1 9 6 5 . S. 2 2 0 . - J . Mittelstrass, der ebenfalls die genetische V e r k n ü p f u n g von Vorsehung und Fortschritt kritisiert, versteht beide Kategorien als »Varianten expliziter Z u k u n f t s e r w a r t u n g « (Neuzeit und A u f klärung. S. 348) - eine Formel, die die Authentizität des neuzeitlichen G e schichtsbewußtseins freilich nicht klar herausstellt. A u c h W . Schulz lehnt die Kategorie der Säkularisierung, die als äußerliche Etikettierung nicht falsch sein mag, als f ü r ein genuines Verständnis der neuzeitlichen G e -

273

klärung des neuzeitlichen Bewußtseins ja mit der »Ableitung der weltlichen Irreligion des Fortschritts v o n ihrem theologischen Modell« zugleich die Illegitimität des Fortschrittsgedankens, der als »Kategorie des geschichtlichen U n r e c h t s « " f ü r den Prozeß der >VerweltlichungEmanzipation< und f ü r den Z e r f a l l der Werte verantwortlich gemacht wird. Säkularisierung erscheint somit als Usurpation geistlicher Rechte. D a ß sich aber der Merkmalskatalog f ü r die Übertragung des >Enteignungsmodells< auf die Ebene der Geschichte nirgends zweifelsfrei nachweisen läßt, hat Blumenberg überzeugend dargestellt: einer Ableitung der Fortschrittsidee aus der christlichen Eschatologie stehen der formale Dualismus v o n Immanenz und Transzendenz, die genetische D i f f e r e n z v o n rationaler Geschichtskonzeption und Vorsehungsglauben, die N i c h t Identifizierbarkeit der theologischen >Substanz< im Prozeß der Ableitung sowie die dem Enteignungsvorwurf widersprechende authentische R a t i o nalität des Geschichtsbewußtseins entgegen. L ö w i t h s These einer strukturellen Zweideutigkeit der modernen Geschichtstheorien verdeckt, daß die Methodenvernunft in Gestalt der Philosophie auf prinzipiell

anderen

Voraussetzungen beruht als die christliche Theologie, eine apologetische Philosophie also notwendig das zu rettende Theologumenon in seiner

•9

2

74

schichtsproblematik unangemessen ab (Philosophie in der veränderten Welt. S. 480 f.). V g l . dagegen R. Koselleck, der die Bedeutung der christlichen Eschatologie »in ihrer abgewandelten Form als säkularer Fortschritt« (Kritik und Krise. S. 108) bei der Genese des geschichtsphilosophischen Bewußtseins betont - K . s Studie wurde allerdings auch in der N e u a u f l a g e von 1973 nur geringfügig gegenüber der ursprünglichen Dissertation (1954) verändert. H . Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. S. 9 f f . - Blumenbergs Thesen haben auch in der Literaturwissenschaft zu einem Überdenken des Säkularisierungsproblems geführt. So beruft sich Albrecht Schöne in der Neuauflage seiner Habilitationsschrift insoweit auf Blumenberg, als er den sprachlichen Säkularisierungsvorgang von der ursprünglichen Bedeutung des Enteignungsterminus her zu verstehen, in der Herauslösung sprachlicher Elemente aus dem religiösen Sprachbereich also den von Blumenberg geforderten »historischen Aufschlußwert« (S. 22) des Säkularisierungsbegriffs nachzuweisen sucht (Säkularisation als sprachbildende K r a f t . Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne. Zweite, überarbeitete und ergänzte Auflage. 1968. [Palaestra Bd. 226] S. 24 f f . ) . Vgl. auch Gerhard Kaisers aus einer kritischen Auseinandersetzung mit Blumenbergs Studie erwachsende Bestimmung der Säkularisation als >Stilwille< in der Neuauflage von: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation. Zweite ergänzte Auflage. 1973. (Wissenschaftliche Paperbacks. Literaturwissenschaft) S. X I I I f f . und die ausführliche Kritik eines »wertfreien, enthistorisierten und funktionslosen B e g r i f f s « von Säkularisierung bei Dorothee Solle, Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung. 1973. (Reihe Theologie und Politik. H g . von Hans-Eckehard Bahr, Bd. 6) S. 62-87 (Zitat S. 8$).

Funktion verändert. Auch für Lessing gründet die Religion Christi nicht mehr in der christlichen Religion, die Offenbarung nicht in der theologia revelata. Heine, einer der scharfsichtigsten, nur scheinbar popularisierendem Fortschrittstheoretiker, hat in seiner Analyse des Übergangs von der Religion zur Philosophie Deutschlands dieses in der Konsequenz irreligiöse Moment aller philosophischen Apologetik gerade in Hinsicht auf den Aufklärer und Deisten Lessing hervorgehoben. Im zweiten Buch seiner Abhandlung, das die Wechselverhältnisse von Religion und Philosophie untersucht und das mit der Würdigung Lessings, des nach Luther zweiten Befreiers der Deutschen, abschließt, kommentiert Heine Wolfis Versuch einer mathematischen Demonstration der christlichen Religion, damit zugleich überleitend zur theologischen Aufklärung, die unter Lessings Zugriff sich zur Aufklärung der Theologie wandelt: Von dem Augenblick an, wo eine Religion bei der Philosophie H ü l f e begehrt, ist ihr Untergang unabwendlich. Sie sucht sich zu verteidigen und schwatzt sich immer tiefer ins Verderben hinein. Die Religion, wie jeder Absolutismus, darf sich nicht justifizieren. Prometheus wird an den Felsen gefesselt von der schweigenden Gewalt. J a , Äschylus läßt die personifizierte Gewalt kein einziges Wort reden. Sie muß stumm sein. Sobald die Religion einen räsonierenden Katechismus drucken läßt, sobald der politische Absolutismus eine offizielle Staatszeitung herausgibt, haben beide ein Ende. 1 0 0

Heines Urteil über die sich entfremdete Religion trifft sich mit Lessings Verdikt über die Neologie, die philosophierende Theologie, die Vernunft und Offenbarung verzerrt, Omphale sich der Insignien des Herkules bedienen läßt und ihre weltlich-geistliche Macht von der Zustimmung des gebändigten Prometheus abhängig machen will. Der Grundtendenz des Lessingschen Kritikprogramms, das die Selbständigkeit der Vernunft gegen die theologischen Absolutismen verteidigt, entspricht folglich auch die Unabhängigkeit seiner Fortschrittsidee von der religiösen Geschichtsdeutung, da sie bei aller Rehabilitierung der Religionsgeschichte sich an der Leistungsimmanenz des Entwicklungsziels orientiert, die Frage also, ob der Mensch dieses Ziel »durch die Anstrengung seiner eigenen K r a f t erreichen kann oder ob er dazu auf eine nicht verdienbare Gnade angewiesen ist,« 101 im Sinne der menschlichen Selbständigkeit beantwortet. Der Plan einer Erziehung zur vernünftigen Moralität setzt eine authentische Vernünftigkeit des Menschen voraus, die freilich zum menschheitsgeschichtlichen Ganzen in einem Verhältnis der Disproportion stehen kann. Nicht der Gnade bedarf der nach Mün100

101

Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (Bd. V, S. 242). H . Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. S. J7.

*75

digkeit strebende Mensch, sondern der Erziehung: »Der Mensch«, so resümiert Kant in seiner Schrift >Über Pädagogik< das Bildungsethos seiner Epoche, »kann nur Mensch werden durch Erziehung.«102 Daß auch Lessing in der >Erziehung des Menschengeschlechts< nicht die christliche Eschatologie >verweltlichtNathanlibido sciendi< und ihrer Urteilsinstanz, der begründenden Vernunft. Die neuzeitliche Theodizee ist forensisch-prozessuale Wahrheitsfindung, ein laizistischer Rechtshandel, der »vor dem Gerichtshofe der Vernunft anhängig gemacht« wird und der ausschließt, daß der Kläger vom Verfasser der Theodizee durch einen »Machtspruch der UnStatthaftigkeit des Gerichtshofes der menschlichen Vernunft« 1 0 6 abgewiesen und unter Berufung auf die höchste Weisheit des Welturhebers abgefertigt werden könne. Die philosophische Theodizee, im Gegensatz zur christlichen Theodizee primär an der Zuverlässigkeit Gottes interessiert, gehört »zum P r o t e s t d e r A u f k l ä r u n g g e g e n d e n W i l l e n s g o t t u n d s e i n e p o t e n t i a a b s o l u t a « und ist damit als » i n d i r e k t e Vertretung des humanen Interesses« 107 zu verstehen. Auch in der Erziehungsschrift dient der Gesichtspunkt des humanen Interesses, nämlich die dem Menschengeschlecht helfende Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten, als Wertmaßstab, der die Unterscheidung von biblischer und profaner Theodizee, einer Rechtfertigung des Gottes Abrahams und Hiobs und des Gottes der Philosophen erst ermöglicht. So entspricht auf der ersten Entwicklungsstufe des Menschengeschlechts, dargestellt in der Erziehung des kindlichen Israel, die Offenbarung zwar dem auf das Diesseits beschränkten Gesichtskreis des jüdischen Volks, aber da Gott in ihm die künftigen Erzieher des Menschengeschlechts erzieht, darf das biblische Elementarbuch »schlechterdings nichts enthalten, was den Kindern den Weg zu den zurückbehaltnen wichtigen Stücken versperre oder verlege« (§ 26). Ist Offenbarung kollektive Erziehung, dann bestimmt sich die Angemessenheit und der Wert eines religiösen Erziehungsbuchs allein nach den Krite105 108

107

Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (XII, S. 540). Kant, Ober das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee ( I X , S. I O J ) . H . Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. S. 39 f.

277

rien der Pädagogik: außer der p o s i t i v e n Vollkommenheit, den Vorübungen, Anspielungen und Fingerzeigen auf die noch zurückbehaltenen Wahrheiten der Unsterblichkeit der Seele und der künftigen Vergeltung, gehört deshalb zur Vollständigkeit des alttestamentlichen Elementarbuchs auch eine n e g a t i v e Vollkommenheit. Daß in den Schriften des Alten Testaments, die ja die Unsterblichkeit der Seele und die künftige Vergeltung nicht lehren, doch auch nichts zu finden ist, was das jüdische Volk »auf dem Wege zu dieser großen Wahrheit auch nur verspätet hätte« (§ 27), ist für Lessing Beweis ihrer hohen pädagogischen Funktionalität. Auf einen Zweifel, ob die alttestamentliche Offenbarung nicht doch Elemente einer Retardierung enthalte und damit gegen die pädagogische Grundregel der Zeitigkeit verstoße — in Lessings geschichtsphilosophischer Konstruktion eine notwendige Voraussetzung für die Rechtfertigung Gottes in der Religionsgeschichte — deuten aber die Überlegungen der §§ 27-30. Scheint nicht der Verfasser des Buchs Hiob sich einer solchen pädagogischen Verspätung schuldig zu machen? Hat er doch Hiob, der für den rechtgläubigen Juden der Cardanus-Schrift von 1754 das Schicksal des auch im Elend unter Gottes Hand gestellten Volkes Israel symbolisiert,108 als einen Mann geschildert, der die göttlichen Versprechungen und Androhungen, die den gesamten Staat betreffen, auf sich selbst bezieht und in dem festen Glauben steht, »daß wer fromm sey auch glücklich seyn müsse, und wer unglücklich sey, oder werde, die Strafe seiner Missethat trage, welche sich sofort wieder in Segen verkehre, sobald er von seiner Missethat ablasse« (§ 29). Lessings pädagogisch-didaktischer Kommentar zu diesem Vergeltungsglauben lautet folgendermaßen: . . . unmöglich durfte die tägliche Erfahrung diesen Glauben bestärken: oder es war auf immer bey dem Volke, das diese Erfahrung hatte, a u f i m m e r um die Erkennung und Aufnahme der ihm noch ungeläufigen Wahrheit geschehen. Denn wenn der Fromme schlechterdings glücklich war, und es zu seinem Glücke doch wohl auch mit gehörte, daß seine Zufriedenheit keine schrecklichen Gedanken des Todes unterbrachen, daß er alt und 1 e b e n s s a t t starb: wie konnte er sich nach einem andern Leben sehnen? wie konnte er über etwas nachdenken, wornach er sich nicht sehnte? Wenn aber der Fromme darüber nicht nachdachte: wer sollte es denn? Der Bösewicht? 108 Vgl. L M V, S. 324. - Mit der Frage des Hiob scheint sich Lessing ansonsten bis in die siebziger Jahre hinein kaum ernsthaft beschäftigt zu haben; die sporadischen Anspielungen auf das böse Weib Hiobs und ihr unfrommes Wort »Segne Gott und stirb« (vgl. Lessings Ubersetzungsvorschlag in den Anmerkungen zu den >Gedichten von Andreas Scultetus< - LM X I , S. 1 7 J ) haben ihren Ursprung ganz in der traditionellen Charaktertypologie (vgl. LM I, S. 2 7 ; II, S. 30 und Logaus >Sinngedichte< L M VII, S. 134, S. 143 und S. 177). 278

der die Strafe seiner Missethat fühlte, und wenn er dieses Leben verwünschte, so gern auf jedes andere Leben Verzicht that? (§ 30)

Eine solche Deutung des Hiobbuchs, dessen Fragestellung die Aufklärung im besonderen beschäftigen mußte und das auch den 1774 verstorbenen Leipziger Freund Johann Jacob Reiske zu einem kritischphilologischen Kommentar veranlaßt hatte, wie er — so Lessings Urteil »nicht gelehrter und kühner seyn könnte«, 109 mag in ihrer >optimistischen< Tendenz überraschen, orientiert sie sich doch eher am versöhnlichen Ausgang der Leidensgeschichte und dem Glück und der Zufriedenheit des Frommen als an der bis zur Auflehnung gegen Gott sich steigernden Klagerede Hiobs und der Frage nach dem Sinn des Unglücks. Die äußerst komplizierten entstehungsgeschichtlichen, literarischen und damit verbundenen theologischen Probleme, auf die die Hiob-Forschung aufmerksam gemacht hat - wie das Verhältnis von Prosageschichte und Gedicht, die unklare Konzeption des Vergeltungsgedankens, die Funktion des Dialogs, Hiobs und der Freunde Antwort auf den Sinn des Leidens 110 brauchen freilich hier nicht erörtert zu werden: wenn Lessing sich auf Hiobs restitutio durch Jahwe beruft und folglich auf die »erbauliche, schlichte Volkserzählung mit dem Thema: Bewährung und Belohnung des Frommen«, der nach langem Leben »alt und l e b e n s s a t t « starb, die »jahweergebene«111 Haltung des Hiob aber in ungewohnt apodiktischem Ton als Keim einer unpädagogischen Verspätung kritisiert, dann deshalb, weil ein s o verstandener Plan des Hiobbuchs, hätte die tägliche Erfahrung der Juden sie in diesem Verständnis bestärkt, tatsächlich die negative Vollkommenheit der Elementarschriften zunichte gemacht hätte. Auf der Behauptung einer >negativen Vollkommenheit beruht aber Lessings Distinktion gegenüber Reimarus, für welchen der Unterschied zwischen der Antwort der Schrift auf Hiobs Frage nach dem Unglück des Frommen und der Widerlegung dieser Antwort durch die Erfahrung ein eindeutiges Beispiel für die Widersprüchlichkeit, mithin >Ungöttlichkeit< des Alten Testaments darstellt: Es ist oft die Frage in der Schrift, insonderheit in Hiobs, Davids, und Salomons Büchern, warum es denen Frommen gehe wie den Gottlosen? warum es diese oft gut, und jene böse haben? wie dieses mit göttlicher Güte und 109

110

111

Brief an Johann Joachim Eschenburg, 12. 4. 1777 (LM X V I I I , S. 235). Reiskes >CONIECTVRAE IN IOBVM ET PROVERBIA SALOMONIS CVM EIVSDEM O R A T I O N E DE STVDIO A R A B I C A E LINGVAE< erschienen 1779 in Leipzig, doch Lessing hatte schon 1774 in den nachgelassenen Kommentar seines Freundes Einblick nehmen können (vgl. Brief an Theophilus Lessing, 8. 11. 1774 - LM X V I I I , S. 122). Vgl. Art. »Hiobbuch. in: R G G III, Sp. 355 ff. (C. Kühl). RGG III, Sp. 3J 6. z

79

Gerechtigkeit übereinstimme? Was antwortet die Schrift hierauf? entweder nichts, oder höchstens dieses, daß Gott es doch zuletzt dem Frommen und seinem Saamen in der Welt wohl, und dem Gottlosen, oder wenigstens seinem Saamen, in der Welt werde übel gehen lassen. Also wird die ganze Comödie der menschlichen Begebenheiten in diesem Leben beschlossen. D a widerlegt es aber die Erfahrung, daß es so allezeit gehe. 112 Lessing leugnet also auch hier dem Ungenannten die Folge -

die

These von der Ungöttlichkeit des Alten Testaments - , begreift aber den Plan des Hiobbuchs genauso wie Reimarus, für den Hiob, welcher wie Abraham »alt und lebenssatt« (x. Mose 2 5 , 8; Hiob 42, 1 7 ) starb, den T y p u s des jahweergebenen Frommen repräsentiert, der von der neutestamentlichen Unsterblichkeitshoffnung nichts weiß und dessen Gesichtskreis sich vollständig auf sein irdisch-individuelles Leben beschränkt. Die Unsterblichkeitshoffnung, für Reimarus gleichsam unverzichtbare Präfiguration der christlichen Lehre, ist dabei für Lessing - dies schon ein Grundgedanke des Breslauer Fragments >Ueber die Elpistiker< - gerade »kein unterscheidendes Kennzeichen des Christenthums«, sondern notwendiges Prinzip einer

jeden

Religion: ohne den Glauben an eine

zukünftige Belohnung und Strafe »kann keine Religion bestehn; W a r burton würde hinzusetzen: selbst keine bürgerliche Gesellschaft, kein Staat kann ohne ihn bestehn.« 113 Das im Hiobbuch dargestellte besondere Verhältnis von Bewährung und Belohnung erinnert den Fragmentisten an ein gänzlich untragisches Schauspiel, eine »Comödie der menschlichen Begebenheiten«,

in der

»Gott, wie in den Comödien der Alten zu geschehen pflegte, tanquam Deus ex machina, erscheinet, und dem Hiob alles Gute verspricht und widerfahren lässet.« 114

Die unmittelbaren

Wirkungen

der

göttlichen

112

Reimarus, Daß die Bücher A. T. nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren (LM X I I , S. 374). - Wie unlutherisch Reimarus hier denkt, zeigt ein Blick auf Luthers » V O R R E D E V B E R D A S B U C H H I O B c Luther betont Hiobs Sünde gegen Gott, seine anmaßende Rechtfertigungsrede, seine Todesangst und seine Furcht vor einem Gott, der »nicht Gott / sondern eitel Richter vnd zorniger Tyrann sey / der mit gewalt fare / vnd frage nach niemands gutem leben. Dis ist das höhest stück in diesem Buch / Das verstehen alleine die / so auch erfaren vnd fülen was es sey / Gottes zorn vnd vrteil leiden / vnd seine Gnade verborgen sein« (D. Martin Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 154$. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe. Hg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke. Textredaktion Friedrich Kur. 2 Bde mit einem Beiheft. 1973. [Sonderausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft] Bd. I, S. 916).

113

L M X I V , S. 3 1 0 ; S. 298. L M X I I , S. 387 (Reimarus). - Im Herrnhuter-Fragment wendet Lessing das Bild des >Gottes aus der Maschine« auf Christus an (LM X I V , S. 157) doch auch der Neue Bund muß ja »a n t i q u i r e t« (§88) werden!

114

280

Gnade wie die der menschlichen Perfektibilität entgegengesetzte irdische Glückseligkeit des Frommen sind aber auch f ü r Lessing gerade jene A t tribute, durch welche die >Diesseitigkeit< ihres humanen Interesses entkleidet und das im >Nathan< formulierte Erziehungs- und Entwicklungsziel einer vernünftig-tätigen »Ergebenheit in Gott« wieder zur Glaubenssache einer rational nicht zu begründenden >Jahweergebenheit< umgeformt würde. Lessing unterscheidet damit wie K a n t zwischen einer Theodizee als »Glaubenssache«, die in der allegorischen Erzählung von Hiob, der die göttliche Weisheit »vornehmlich von Seiten ihrer Unerforschlichkeit« 1 1 5 erfahre, am vollkommensten dargestellt sei, und einer Theodizee als Sache der Vernunft, ist jedoch als spekulativer Denker freilich nicht vom Mißlingen aller philosophischen, die Schranken der Vernunft verkennenden Versuche in der Theodizee überzeugt. Dadurch, daß Hiob als Angehöriger des rohen, im Denken ungeübten israelitischen Volks, als Repräsentant des Alten Bundes und der menschheitsgeschichtlichen K i n d heit sich der unergründlichen Weisheit Gottes, die »verhohlen vor den Augen aller Lebendigen« (Hiob 28, 2 1 ) ist, anempfiehlt, damit aber als »sinnlicher Jude« (§ 93) sich dem universellen Ziel der Vervollkommnung verweigert, stört er das rechte Zeitverhältnis von individuellem und kollektivem Entwicklungsplan und folglich die von Lessing angestrebte Theodizee der Religionsgeschichte. M a g auch die implizite Reimarus-Kritik der §§ 29 f f . von einer Tendenz zur Harmonisierung nicht frei sein - im § 3 1 wird das »Leugnen eines Einzeln« in Umkehrung der Reimarusschen Position gar als Beweis dafür angesehen, »daß das V o l k nun einen großen Schritt der Wahrheit näher gekommen war«, ein Schluß, der den Gedanken aus dem Elpistiker-Fragment: »Aus der Freidenkerei eines einzeln Mannes folgt auf die Rechtgläubigkeit des ganzen Volks nichts« 116 noch pointiert so dient Lessings Argumentation doch auch hier jener humanen Ökonomie, die Nathan sich über sein Hiobschicksal erheben läßt und die die Bahn eröffnet, auf welcher der Instinkt zur Vernunft geläutert, die dunkeln lebhaften Empfindungen in deutliche Ideen aufgeklärt und die geoffenbarten Wahrheiten in begriffene Wahrheiten überführt werden sollen. Lessing hätte seine Hiob-Deu115

116

K a n t , Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee ( I X , S. 1 1 8 f.). - Die Theodizee als »Glaubenssache« kann man nach K a n t - im Gegensatz zur »doktrinalen« Theodizee - auch eine authent i s c h e nennen: denn sie ist nicht »Auslegung einer v e r n ü n f t e l n d e n (spekulativen), sondern einer m a c h t h a b e n d e n praktischen Vernunft, die, so wie sie ohne weitere Gründe im Gesetzgeben schlechthin gebietend ist, als die unmittelbare Erklärung und Stimme Gottes angesehen werden kann, durch die er dem Buchstaben seiner Schöpfung einen Sinn gibt« (S. 1 1 6 ) . L M X I V , S . 309. 2S1

tung auch mit jenem Laktanz-Wort überschreiben können, das sein gelehrter Freund Reiske den philologischen Erläuterungen seiner >Coniecturae in Iobum et proverbia Salomonis cum eiusdem oratione de studio arabicae linguae< als Motto voranstellte und das der aufklärerischen Zielsetzung des Fortschreitens und Bessermachens, des Lernens und Erziehern so sehr entgegenkam: Q u i d ergo impedit, quin a maioribus sumamus exemplum, vt quomodo illi, quae falsa inuenerant, posteris tradiderunt, sie nos, qui verum inuenimus, posteris meliora tradamus. 1 1 7

Der autorbiographische Aspekt des Theodizee-Gedankens kann hier nur angedeutet werden: der Befund, daß die neuzeitliche Theodizee nicht eine Fortsetzung der Theologie mit andern Mitteln oder eine Verteidigung der christlichen Theologie in der Sprache der Philosophie meint, dürfte jedenfalls auch schon für das unvollendete, wohl Ende der vierziger Jahre entstandene Lehrgedicht >Die Religion< Gültigkeit haben, das, wie Matthijs Jolles erkannte, der Problemstellung und Argumentationsstruktur nach aufs engste mit den späteren Werken verbunden ist. 118 Bereits in der >Vorerinnerung< des auf sechs Gesänge angelegten, selbstbiographisch gefärbten Gedichts, das Gedanken Louis Racines, Hallers und Klopstocks aufgreift, umreißt Lessing den Plan zu einer Theodizee, in der die Zweifel, »welche wider alles Göttliche aus dem innern und äussern Elende des Menschen gemacht werden können«, gehoben werden müssen, ja in der das Elend des Menschen selbst »der Wegweiser zur Religion werden muß.« 119 Die Instanz, die die Rechtfertigung der Religion übernehmen soll, ist die Selbsterkenntnis, für den jungen Apologeten allezeit der sicherste und nächste Weg zur Religion, also jener Grundsatz des >Erkenne dich selbstNeuen A p o l o gie des Sokrates< (vgl. K . A n e r , D i e Theologie der Lessingzeit. S. 2 7 3 f.).

m

schichte statuiert. Der höhere Ursprung des Begriffs vom einigen Gott auf der Stufe der Kindheit bedeutete geradezu, da es sich ja nicht um einen »erworbenen« Begriff handelte, einen Verstoß gegen das Gesetz der Akkomodation, wäre also bei Gott nichts anderes gewesen, »als der Fehler des eiteln Pädagogen, der sein K i n d lieber übereilen und mit ihm prahlen, als gründlich unterrichten will« (§ 17)! Die Neologie wird durch das natürliche Geschehen widerlegt, denn die Geschichte selbst revidiert eine solch unpädagogische Übereilung durch die retardierende Einwirkung der sich selbst überlassenen, noch rohen menschlichen Vernunft: und so »entstand natürlicher Weise Vielgötterey und Abgötterey« (§ 7)Auch der neue Richtungsstoß, den Gott der menschlichen Vernunft verleiht, durchbricht als die dem schlummernden Vernunftpotential eines kindischen Volkes entsprechende zeitige Maßnahme des Erziehers nicht den mit der Gleichung >Offenbarung ist Erziehung< hergestellten Bezugsrahmen von Natur, Vernunft und Fortschritt. D a Offenbarung sich auf Vernunft, Vernunft sich auf Offenbarung bezieht, unterstehen mitgeteilter und erworbener Begriff der richtenden Instanz der Ratio, die allein und autonom über den Fortschrittscharakter noch unerhellter Begriffe befindet. Darum ist der ebenfalls von Thielicke als Argument für die aktuelle Transzendenz Gottes gewertete » M a c h t g e s i c h t s p u n k t« 19 — J a h w e offenbart sich den Juden als der mächtigste, nicht weiseste Gott - qualitativ nicht anderer Natur als das »Facit, welches der Rechenmeister seinen Schülern voraus sagt, damit sie sich im Rechnen einigermaassen darnach richten können« (§ 76), da gerade die Gewöhnung der Kinder Israel an die Vorstellung vom mächtigsten Gott im Verhältnis zum wahren transzendentalen Begriff des Einigen das nur Vorläufige, also >FalscheEthikVon GottErziehung des Menschengeschlechts^ als »Schicksalsfrage« und »Krisis im Ansatz des Lessingschen Denkens« bereits Hinweis auf die »transzendente Begründung« 2 5 des Erziehungsmodells. Lessing unterscheide zwischen einem geschichtlich-konkreten und einem transzendentalen, >platonischen< Vernunftbegriff, welcher im § 4 zu Recht der Offenbarung gleichgestellt werde. Eine solche platonische Idee der Vernunft - der »sich selbst überlassenen« Vernunft also existiere jedoch nur »endgeschichtlich«, als bloßes »Postulat«, trete f a k tisch aber stets als »von der Geschichte gebrochene Vernunft« in E r scheinung. Deshalb betone der § 77 die geschichtliche »Unfähigkeit der Vernunft« 2 6 zur Selbstentfaltung, zur Selbständigkeit. Der Dualismus der in der Erziehungsschrift vorwaltenden Vernunftbegriffe (das platonische Weltbild) sowie die faktische Prävalenz der historischen Vernunft sind aber die Voraussetzungen f ü r die Behauptung einer aktuellen Transzendenz, folglich auch einer »Irrationalität der Geschichte« 27 in Lessings Erziehungshypothese: . . . da f ü r Lessing die V e r n u n f t in erster Linie ein geschichtlicher B e g r i f f ist, d. h. da er von dem konkreten Gegebensein der V e r n u n f t und nicht von dem ungeschichtlich transzendentalen Urbild ihrer selbst her denkt - ohne daß er dieses aber als regulativen B e g r i f f entmächtigen könnte - , w i r d für ihn der Deus ex machina der O f f e n b a r u n g schlechthin unvermeidlich, wenn die Dualität der beiden V e r n u n f t b e g r i f f e (und ihre religiöse Funktion) die einheitliche Sinnstruktur des Daseins nicht sprengen soll. 28

Die Behauptung einer dualistischen Vernunftkonzeption - gerade sie sprengt ja das Sinngefüge des Erziehungsmodells - dürfte jedoch auf 25 26 27 28

H. H. H. H.

Thielicke, Thielicke, Thielicke, Thielicke,

Offenbarung, Offenbarung, Offenbarung, Offenbarung,

Vernunft Vernunft Vernunft Vernunft

und und und und

Existenz. Existenz. Existenz. Existenz.

S. S. S. S.

6 j f. 134. 139. 135.

299

einem Lesefehler beruhen. Schon Jacobi hatte übrigens in einem Schreiben an Hamann, der Lessings Scharfsinn als »bösen Dämon« 2 9 exorzierte, von der grimmigen Reaktion des Verfassers auf die verchristlichende Interpretation der Erziehungsschrift bei einigen Zeitgenossen berichtet, ein Hinweis auch darauf, daß der Fingerzeig der >GegensätzeOrthodoxie< Lessings zu nehmen ist: Als seine Erziehung des Menschengeschlechts von einigen als eine nicht unchristliche Schrift, beynah als eine Palynodie angesehen wurde, stieg sein Aerger über die Albernheit der Nation bis zum Ergrimmen. 31 Die Kernstelle, welche die im Erziehungstopos gemeinte logische Interdependenz von Vernunft und Offenbarung der potentia absoluta des Deux ex machina zu unterwerfen und damit die Repristination des O f fenbarungsglaubens zu belegen scheint, ist freilich nicht Ausdruck einer weltanschaulichen Krisis, sondern konstantes, bereits zu Beginn der fünfziger Jahre behauptetes Moment der Lessingschen Kritikposition. Der offenkundige Problemzusammenhang eines Denkens, das sich im Ansatz um die Grenzbestimmung zwischen geoffenbarter und natürlicher Religion, christlicher Religion und Religion Christi, zwischen dem historischen Christentum und dem >Christenthum der Vernunft< bemüht, steht der theologischen Deutung von Lessings >ResultatlosigkeitFragecharakter< seiner Aussagen entgegen. 32 So ist Lessings auf dem Implika29

30 31

32

Johann Georg Hamann an Johann Gottfried Herder, 1 4 . 4 . 1 7 8 5 (J. G. Hamann, Briefwechsel. Bd. V, S. 418). LM X I I , S. 446. Friedrich Heinrich Jacobi an Johann Georg Hamann, 30. 12. 1784 (J. G. Hamann, Briefwechsel. Bd. V, S. 301). Daß H . Thielicke diejenigen, die sich seinen Thesen nicht fügen, als unaufgeklärten »Schwärm der Interpreten« (Offenbarung, Vernunft und Existenz. S. 136) diskreditiert, zeigt, daß er für sein eigenes Erkennen den Fragecharakter nicht in Anspruch nimmt. Den einem solchen Dogmatismus zugrunde liegenden Zusammenhang von Wahrheits-Absolutismus und spezifischer Fachgelehrsamkeit hat Lessing zu Beginn seines im zweiten Wolfenbütteler Beitrag (1773) erschienenen Aufsatzes über >Ehemalige Fenstergemälde im Kloster Hirschau* treffend glossiert. Was dort gegen den möglichen Einwand der Unerheblichkeit (>vitrea fractaAtheisten< genommen wird. Cardanus braucht die Vernunft nicht unter das Joch des Glaubens zu zwingen; aber der Vergleich der Naturphilosophie mit den praecepta Christi — hier wendet sich Lessings Kommentar deutlich an die Zeitgenossen - rechtfertigt doch nicht die theologia naturalis des achtzehnten Jahrhunderts: Man sage nicht, daß er dadurch auf einer andern Seite ausgeschweift sey, und unsrer Religion ihre eigenthümlichen Wahrheiten, auf welche die Vernunft, vor sich allein, nicht kommen kann, absprechen wolle. Wenn dieses seine Meinung gewesen wäre, so würde er sich ganz anders ausgedrückt haben; die Lehre Christi, hätte er sagen müssen, enthält nichts anders, als was die Moral und natürliche Philosophie enthält; nicht aber: was sie enthält, harmonirt mit diesen. Zwey ganz verschiedne Sätze! 3 3 Die »flüchtigen Seitenblicke« 34 auf den Zusammenhang des Lessingschen Denkens zeigen also, daß die Frage des § 7 7 und der darin artikulierte Gedanke, die christliche Religion besitze ihr eigentümliche, von der sich selbst überlassenen Vernunft nicht auffindbare Wahrheiten, die Religion selbst könne den Zögling mithin auf Begriffe hinleiten, »auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre«, schon eh und je zum Erkenntnisinteresse dessen gehören, der prüfen möchte, »quid liquidum sit in causa Christianorum.« Nicht der unter die Offenbarung sich stellende »greise Kämpfer« 3 5 spricht hier, sondern der es, daß der Gelehrte, der unartig genug ist, einen andern einen Mikrologen zu nennen, selbst der erbärmlichste Mikrolog ist: aber freylich, nur in seinem Fache. Ausser diesem ist ihm alles klein: nicht weil er es wirklich als klein sieht, sondern weil er es gar nicht sieht; weil es gänzlich ausser dem Sehwinkel seiner Augen liegt. Seine Augen mögen so scharf seyn, als sie wollen: es fehlt ihnen zu guten Augen doch noch eine grosse Eigenschaft. Sie stehen ihm eben so unbeweglich im Kopfe, als dieser Kopf ihm unbeweglich auf dem Rumpfe steht. Daher kann er nichts sehen, als wovor er gerade mit dem ganzen vollen Körper gepflanzt ist. Von den flüchtigen Seitenblicken, welche zur Ueberschauung eines grossen Ganzen so nothwendig sind, weiß er nichts. Es gehören Maschinen dazu, den schwerfälligen Mann nach einer andern Gegend zu wenden: und wenn man ihn nun endlich gewandt hat, so ist ihm die vorige schon wieder aus dem Gedächtnisse. - « (LM X I I , S. 38 f.). 33 34 35

Rettung des Hier. Cardanus (LM V , S. 322). Vgl. Anm. 32. H . Thielicke, Offenbarung, Vernunft und Existenz. S. 136. - Die Suggestivformel (vgl. Thielickes Deutung des Spinoza-Gesprächs und seine Stellungnahme zu Mendelssohns Insinuation von Lessings Altersschwäche S. 10 j ff.) 301

Religionskritiker, der die neologische Grundthese von der Vernünftigkeit der theologia revelata — die, zum dogmenfeindlichen Argument umgemünzt, ja auch die >Apologie< des Reimarus bestimmt — im Namen des >gesunden Menschenverstandes< und eines selbständigen, aber seiner Schranken bewußten Philosophierens verwirft. Unter der doppelten Voraussetzung einer Implikation der Vernunftwahrheiten in der Offenbarung - »Die geoffenbarte Religion setzt im geringsten nicht eine vernünftige Religion voraus: sondern schließt sie in sich«36 - und einer nur durch die Erziehung des Menschengeschlechts zu erreichenden Explikation der noch unbegriffenen Wahrheiten erkennt die spekulativ über die Geschichte sich erhebende privilegierte Einzelvernunft in der Eigentümlichkeit der religiösen Wahrheiten den Nutzen und die Notwendigkeit einer >göttlichen< Kondeszendenz, die gerade dadurch, daß in ihr »eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maaß« ( § 5 ) gehalten werden muß, auf ihren humanen Zweck voraus weist: als die Wahrheiten der Religion »geoffenbaret wurden, waren sie freylich noch keine Vernunftswahrheiten; aber sie wurden geoffenbaret, um es zu werden« (§ 76). Im Begründungszusammenhang der §§ 70-77 fügt sich der scheinbare Selbstwiderspruch Lessings dem Rahmen stringenter Beweisführung: Offenbarung ist früher als Vernunft, schließt die Wahrheiten der vernünftigen Religion ein, kann also nicht - dies die bereits aus eigenen pädagogischen Erfahrungen gespeiste Kritik Lessings an Reimarus - aus der Vernunft h e r g e l e i t e t werden; Sinn der Geschichte und Aufgabe der sich entwickelnden menschlichen Vernunft ist die Ausbildung geoffenbarter in Vernunftwahrheiten; für die Epoche des Alten Bundes ist diese Ausbildung bereits vollzogen (§ 70); aber auch die Lehren des Neuen Bundes sollen antiquiert (§§ 71 ff.) und infolgedessen die in den §§ 73 bis 75 genannten Glaubenswahrheiten in Vernunftwahrheiten überführt werden: besteht aber der Nutzen solchen Erkenntnisfortschritts in der >Demonstrierbarkeit< (§ 72), d. h. in der vernünftigen Fundierung übervernünftiger Wahrheiten, dann liegt kein Widerspruch zu § 4 vor, wenn die Erziehung des Menschengeschlechts zu Offenbarungswahrheiten führt (Dreieinigkeit, Erbsünde, Genugtuung), »auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre.« Wäre das Gegenteil der Fall, so hätte Lessings Offenbarungsbegriff, nämlich die »Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht« (§ 2), keinen

36

302

ist unangebracht: der »greise K ä m p f e r « w a r 1 7 7 7 (>Gegensätze< mit den ersten 53 Paragraphen der Erziehungsschrift) 48, 1 7 8 0 dann J I J a h r e alt ein auch im achtzehnten Jahrhundert nicht biblisches A l t e r ! Gegensätze des Herausgebers ( L M X I I , S. 4 3 4 ) .

Sinn. Der Erziehungsgedanke, der seinen Impuls aus der geschichtlichen Differenz zwischen >positiver< und >reiner< Wahrheit hernimmt, vermittelt die philosophische Wahrscheinlichkeit der Hypothese des höheren Unterrichts mit der historischen Wahrscheinlichkeit der biblisch-religiösen Tradition, erfüllt damit also die Voraussetzungen jener von Lessing intendierten »inneren Wahrscheinlichkeit«, die eine Philosophie der Geschichte erst ermöglicht, indem sie die vertikalen Bilder göttlicher Synkatabasis als entwicklungsgeschichtlich notwendige Antizipationen einer sich selbst ergreifenden Universalvernunft durchschaubar macht. >Bild< und >Begriff< leisten sich einen wechselseitigen Dienst: und »dem Urheber beyder ist ein solcher gegenseitiger Einfluß so wenig unanständig, daß ohne ihm eines von beyden überflüssig seyn würde« (§ 37).

2. Das Ziel der aufgeklärten Vernunft Lessing stellt in seinen Anmerkungen zu Jerusalems SprachursprungsErklärung die Hypothese des höheren Unterrichts als Vereinigung von rationalem und historischem Geist den antagonistischen Positionen von dogmatischem Naturalismus und theologischem Supranaturalismus entgegen. Daß dieser Hypothese die Sicherheit transzendentaler Vernunftschlüsse nicht zuerkannt, das philosophisch-historische Erziehungsmodell also nur >wahrscheinlich< gemacht werden kann, ist freilich nicht fragloser Glaube des Erbsohns, der die christliche Uberlieferung als Geschenk der Vorsehung und als faszinierendes Geheimnis, über das hinaus »höhere Vernunftbestimmung nicht gedacht werden kann«, 1 akzeptiert, sondern selbst begründbare Einsicht des durch die göttlichen Richtungsstöße zum Selbstdenken befähigten menschlichen Verstands:

1

H . Timm, G o t t und die Freiheit I. S. 86. - Timms Deutung des Lessingschen Vernunftbegriffs erinnert stark an Thielickes Argumentation: hier wie dort mündet die Annahme eines zerrissenen Weltbilds - Timm spricht von der »Zweideutigkeit« (S. 88) der zwischen Traditionalismus und Atheismus schwankenden Erziehungsschrift, von einer »Aporie« (S. 88), ja » A u s w e g losigkeit« (S. 90) Lessings - in die Restitution von Theologie: Lessing arbeite - so T i m m - »auf die theologische Überhöhung des Freiheitsbegriffs hin« (S. 89), ö f f n e sich - »in seiner Ausweglosigkeit gezwungen« und in einer »Flucht nach vorn« - dem fascinosum et tremendum des dreieinigen Gottes, der »alles W a r u m und Wieso grundlos erübrigt« (S. 90). Schon eher komisch w i r k t es dann, wenn über die Zöglinge der göttlichen Erziehungsveranstaltung gesagt w i r d : »Sie sollen theologische Genies w e r d e n , . . . « (S. 84) - ein Bildungsziel, das den Erziehungsgedanken Lessings w o h l ins G e genteil verkehrt!

303

O b eine O f f e n b a r u n g seyn kann, und seyn muß, und welche von so vielen, die darauf Anspruch machen, es wahrscheinlich sey, kann nur die V e r n u n f t entscheiden. 2

Die Hypothese des >DrittenIrrtum< gehört zu den Bewegungsgesetzen der individuellen wie kollektiv-historischen Vernunft, die damit als Autorität der Tradition durchaus eine »Wahrheitsquelle« 5 sein kann. Indem Lessing Geschichte auf Vernunft, Vernunft auf Geschichte bezieht, gelangt er freilich nicht zu einer »mystischen coincidentia oppositorum.« 6 Weder bleibt er bei der bloßen Bejahung und Anerkennung eines naturwüchsigen Erbschaftsverhältnisses stehen, noch überwindet er schon dadurch alle Aufklärung, daß er nicht schlechthin die christliche Tradition diffamiert. Die Aufklärung ist nicht mit dem Bild identisch, das sich ihre Gegner von ihr gemacht haben. Lessing geht auch in der Erziehungsschrift einen zwischen der Bewahrung und Negation aller Überlieferung verlaufenden >mittleren WegAnti-Goeze< aktualisiert er die von der kirchenoffiziellen Geschichtsschreibung verweigerte und verkannte Fortschrittsfunktion des Offenbarungsgeschehens, durch dessen pädagogisches Geleit alleine die völlige Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten 2 3 4 5

6

304

Gegensätze des Herausgebers ( L M X I I , S. 4 3 2 ) . Gegensätze des Herausgebers ( L M X I I , S. 4 3 2 ) . Ehemalige Fenstergemälde im Kloster Hirschau ( L M X I I , S. 39). V g l . H . - G . Gadamers Aufklärungskritik in: Wahrheit und Methode, 2 5 6 f f . (Zitat S. 2 6 3 ) . H . T i m m , G o t t und die Freiheit I. S. 7 5 .

S.

dem Verfügungsbereich der Zöglinge überantwortet werden kann. W i r d somit die Idee des Goldnen Zeitalters dem humanen und zivilisatorischen Interesse einer in der Geschichte sich vervollkommnenden Vernunft unterstellt und das Märchen vom Paradies zum lehrreichen Exempel für die kindliche Unmündigkeit der » e r s t e n

und

niedrigsten

Stu-

fe« (§ 74) der Menschheit umgedeutet, so verweigert sich Lessing doch gleichfalls der »Schwärmerei der Zukunftbeglücker«, 7 die gerade dadurch sich an der Aufklärung versündigen, daß sie ihre Zeitgenossen »ohne Aufklärung« (§ 89) auf die höchste Stufe des dritten Zeitalters hinaufführen wollen. Der triadischen Struktur der analog zum individuellen Reifungsprozeß gedachten Menschheitserziehung entsprechen die intellektuellen und moralischen Entwicklungsgrade

einer dem jüdisch-christlichen

Offen-

barungsgeschehen assoziierten Vernunft. Der Einsatz der partikularen, gleichwohl in ihrer Exemplarität für das Menschengeschlecht verbindlichen Erziehungsphasen wird jeweils markiert durch einen die irrende Vernunft korrigierenden göttlichen Richtungsstoß, der auf der Stufe der menschheitsgeschichtlichen Kindheit mit dem Beginn der nationalen Geschichte Israels - dem Auszug aus Ägypten - und in der Epoche der 7

Heine, Verschiedenartige Geschichtsauffassung (Bd. V , S. 379). - Heines revolutionär-emanzipative Einschätzung des >Befreiers< Lessing dürfte im übrigen ein Hinweis darauf sein, daß die von Wilfried Malsch (>EuropaOffenbarungVernunftvernünftig< offenbart« (S. 176) - eine Perspektive, die sich in der Nachfolge Malschs eher wieder verliert (vgl. z. B. Diana Behler, Lessing's Legacy to the Romantic Concept of the Poet-Priest, in: Lessing Yearbook IV, 1972. S. 67-93). Den wirkungsgeschichtlichen Gegensatz zwischen dem romantischen (Schlegel) und dem revolutionär-emanzipativen (Heine) Lessing-Bild sieht dann Anita Liepert in der Differenz von bürgerlicher und sozialistischer Lessingforschung prolongiert (Lessing-Bilder. Zur Metamorphose der bürgerlichen Lessingforschung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 19, 1 9 7 1 . S. 1 3 1 8 - 1 3 3 0 ) .

305

A d o l e s z e n z mit der Niederschrift und Ausbreitung der Lehre Christi durch die Evangelisten zusammenfällt. D i e v o n Richtungsstöße b e w i r k e n eine A k z e l e r a t i o n

des

>außen< kommenden Erziehungsgeschehens,

aber in der universalen Heilsökonomie tritt diese innerhalb des jeweiligen Weltzeitalters einmalige Autoritätshandlung

hinter die D i a l e k t i k

von

regulativer und historischer V e r n u n f t z u r ü c k . In der K o n s t r u k t i o n der Erziehungshypothese bringt die externe, an deistische Vorstellungen erinnernde Ursprungshandlung Gottes den natürlichen L a u f

der

Dinge

nach unendlichen Stockungen in G a n g , hebt sich also in der causa immanens der e i n e n

Wirklichkeit selbst auf. D a ß die W i r k l i c h k e i t unter

dem doppelten Gesichtspunkt der ruhenden G o t t - S u b s t a n z (natura naturans) und der zerteilten Vollkommenheiten (natura naturata)

gedacht

w e r d e n müsse, w a r bereits die Lehre des >Christenthums der VernunftChristenthum der Vernunft< prognostizierte Erkenntnisziel — die Einsicht in den Zusammenhang

von

O f f e n b a r u n g und vernünftiger N a t u r - zugleich einlöst und überwindet. D e m Verfasser des frühen E n t w u r f s erscheint eine solche Synthese von Geist- und Naturphilosophie noch als U t o p i e : Bis hieher w i r d einst ein g l ü c k l i c h e r C h r i s t das G e b i e t h e der N a t u r l e h r e e r s t r e c k e n : d o c h erst nach langen J a h r h u n d e r t e n , w e n n m a n alle Erscheinungen in der N a t u r w i r d e r g r ü n d e t h a b e n , so d a ß nichts m e h r ü b r i g ist, als sie auf ihre w a h r e Q u e l l e z u r ü c k z u f ü h r e n . 8

In der Erziehungsschrift ist der Bewußtseinsstand des glücklichen, d. h. »geistigen« (§ 93) Christen, dessen erleuchtete V e r n u n f t die christlichen Glaubenssätze der Trinität, der Erbsünde und der G e n u g t u u n g als Wahrheiten der V e r n u n f t zu begreifen lernt, selbst nicht mehr Z i e l p u n k t des P ä d a g o g i k - P r o g r a m m s : die Perspektiven der Überlieferung werden umgestürzt durch den Blick in die unermeßliche Ferne. D a s M ü n d i g w e r d e n des Menschengeschlechts, d. h. die in der Überlieferung sich herstellende Emanzipation des Zöglings aus dem G ä n g e l w a g e n des Instinkts, k a n n zuvörderst an der progressiven Autonomisierung der menschlichen V e r n u n f t abgelesen w e r d e n : göttlicher Richtungsstoß, Z u s a m m e n t r e f f e n v o n Erziehung und O f f e n b a r u n g , wechselseitiger Dienst v o n V e r n u n f t und O f f e n b a r u n g sind die wiederholten Stationen einer Bildungsveranstaltung, die selbst sich im Ü b e r g a n g v o n der geschehenen z u r geschehenden Geschichte, v o n der Vergangenheit und G e 8

306

D a s C h r i s t e n t h u m der V e r n u n f t , § 21 ( L M X I V , S. 1 7 7 ) .

genwart zur Zukunft befindet. Die geschichtliche Überlieferung fungiert so als Lehrbuch und Beweismittel der im Selbstdenken sich ergreifenden Vernunft. Ein dialektischer Bezug von Idee und Erfahrung, Lehre und Phänomen kündigt sich bei Lessing insofern an, als in der Erziehungsschrift die Korrelation des » d a m a l i g e n « und des » k ü n f t i g e n « (§ 23) Menschenalters in der deiktisch-figuralen Struktur des PädagogikPlans aufscheint, dessen in sich >vollkommene< Phasen eine an den Stilmerkmalen elementardidaktischer >Negativität< und >Positivität< (§ 47) geschulte Vernunft unschwer als Vorstufen der prognostizierten Selbstbefreiung interpretieren kann. Der Dialektik dieser Zielhypothese entsprechend wird aber die Erfüllung der Zeit nur möglich sein mittels einer >Antiquierung< jener historischen »Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in der Kürze geschehen soll« (Off. 1, 1) und der die reifende Vernunft nun die Verkündigungsrede vom »ewigen Evangelium« (Off. 14, 6) entnimmt. Die Antizipation des Zukünftigen im Damaligen erschließt sich der die Geschichte überschauenden privilegierten Seele< auf einer doppelten, gleichsam noch inhaltlosen, Ebene, die die Signaturen des Kommenden in einem sozialpädagogischen Widerspiel von Menge und Individuum sowie einem die Erziehungshypothese prinzipiell übergreifenden Konkurrenzverhältnis zwischen dem erzogenen Kind und dem sich selbst überlassenen Kind der Natur beispielhaft vorspiegelt: Die zeichenhafte Funktion der Ungleichzeitigkeit von allgemeiner und einzelner Verstandesentwicklung, bereits im >Vorbericht des Herausgeb e r evoziert, gehört für Lessing zum empirischen Befund seines Geschichtsbildes: so hätte sich die menschliche Vernunft in der Epoche der Vielgötterei und Abgötterei wohl noch lange auf Irrwegen herumgetrieben, »ohngeachtet überall und zu allen Zeiten einzelne Menschen erkannten, daß es Irrwege waren: wenn es Gott nicht gefallen hätte, ihr durch einen neuen Stoß eine bessere Richtung zu geben« (§ 7); die allmähliche Ausbildung des wahren Begriffs des Einzigen bei den Besseren des jüdischen Volks verhindert nicht den wiederholten Abfall Israels von seinem Gott (§ 15); hätte sich der im Hiob-Buch dargestellte Gedanke einer individuellen Vergeltung bei Gott durch tägliche Erfahrung auch im Bewußtsein des Volkes durchgesetzt, wäre es » a u f i m m e r um die Erkennung und Aufnahme der ihm noch ungeläufigen Wahrheit geschehen« (S 3°); das »Leugnen eines Einzeln« hingegen kann »den Fortgang des gemeinen Verstandes« nicht aufhalten (§ 3 1 ) ; der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele konnte »nie der Glaube des gesammten Volks werden. Er war und blieb nur der Glaube einer gewissen Sekte desselben« (§ 43); die Besseren des Volks ließen sich schon vor dem Auftreten Christi durch 3°7

edlere Bewegungsgründe (als zeitliche Belohnung und Strafen) regieren (§ 56); Appell des Verfassers an das fähigere Individuum, die schwächeren Mitschüler nicht zu übereilen und nicht die ermöglichende Bedingung des moralischen Selbstbewußtseins, das historische Bezugsverhältnis von Erziehung, Offenbarung und Vernunft, in Frage zu stellen (§§ 68-71 [71 f f . ] ) ; wiederholte Beschwörung der Analogie von Einzel- und Kollektiverziehung, menschlicher »Kunst« und »Natur« (§ 82, § 84); die Schwärmer taten oft »sehr richtige Blicke in die Zukunft«, verstießen aber gegen das Gebot der Geduld (§§ 87-90); das »große langsame Rad« der Gattungsgeschichte wird nur durch »kleinere schnellere Räder in Bewegung gesetzt . . . « (§ 92); die Differenz zwischen kollektiver und individueller Vervollkommnung hebt sich in der ältesten Hypothese des menschlichen Verstands (§§ 93—100). Der diachrone Schnitt durch die sozialpädagogischen Differenzpunkte individueller und kollektiver Erziehung bestätigt die Lehre der Hypothese: wenn Offenbarung Erziehung bedeutet, »die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht«, Erziehung aber »Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht« (§ 2), konnte weder die Offenbarung noch die Vernunft zur alleinigen Triebfeder der Perfektibilität werden; das Leugnen einzelner wie auch das fortgeschrittene Bewußtsein der Besseren stehen nicht im Widerspruch zur Notwendigkeit des pädagogischen Geleits: die theoretische »Neugierde« (§ 28) des Volks wiederum wäre als Fortschritts-Stimulans zu schwach gewesen. Die selbst privilegierte Vernunft des Verfassers, dessen Demonstration einer vernünftigen Geschichte an der Nahtstelle von Gegenwart und Zukunft in eine pädagogische Anweisung an das »fähigere Individuum« (§ 68) zur Einsicht in das Mehrere des Elementarbuchs übergeht, kann zwar im Bewußtsein jener, »die aus eignen Kräften über die Sphäre ihrer Zeitverwandten hinausdachten, dem größern Lichte entgegen eilten«,9 das Vorzeichen eines höheren Zeitalters erkennen, verläßt aber an keiner Stelle die Ruhelage gelassenen Erwartens. Einer Aufopferung des Individuums zugunsten kollektiver Ansprüche redet Lessing nirgends das Wort. Auch das Konkurrenzverhältnis zwischen der erzogenen und der sich selbst überlassenen Vernunft kann die geschichtliche Korrelation von Offenbarung, Erziehung und Vernunft nicht ernsthaft bedrohen: die separate Progression der nicht zur Erziehung erwählten »andern Völker des Erdbodens« (Ägypter, Perser, Chaldäer, Griechen, Römer) »bei dem Lichte der Vernunft« (§ 20) deutet auf keinen Widerspruch zur Notwendigkeit des Pädagogik-Programms hin, ja bestätigt dieses insofern, als 9

308

Gegensätze des Herausgebers ( L M X I I , S. 445).

die Entwicklungslinien der selbstmächtigen und der geleiteten Vernunft immer wieder konvergieren und der Dienst, den die heidnische Weisheit dem erwählten Volke leistet, nicht anders als die göttliche Offenbarung »an eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maaß« (§ j ) gebunden ist. Die Einwände des Reimarus gegen den Offenbarungscharakter des Alten Testaments sind damit gegenstandslos: der Entwicklungsvorsprung der >reinen< Vernunft vor der Religion Israels wie auch der Mangel natürlicher Wahrheiten im jüdischen Elementarbuch können die >GöttlichkeitVolk< auf seinem Weg zur Seligkeit durch Frömmigkeit und Gehorsam betont schon Spinoza, 12 der dadurch zugleich die Autonomie der Vernunft vor dem Zugriff der Theologie sichert: D a alle Menschen unbedingt gehorchen können und es, verglichen mit der ganzen Menschheit, nur sehr wenige gibt, die durch die bloße Leitung der V e r n u n f t eine tugendhafte Lebensführung erreichen, so müßten w i r an dem Heile fast aller Menschen zweifeln, wenn w i r das Zeugnis der Schrift nicht hätten. 1 3 10

11 12

13

Reimarus, D a ß die Bücher A . T . nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren ( L M X I I , S . 3 9 5 ) . A x i o m a t a ( L M X I I I , S. i n ) . V o m »heroischen Gehorsam« Israels gegen G o t t spricht auch Lessing in den § § 3 2 und 3 3 der Erziehungsschrift. Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat. 1 5 . K a p . , S. 2 7 2 . 309

Unmittelbar konnte Lessing aber an Herder anknüpfen, der selbst sich von der historischen Bibelkritik zu einem m e n s c h l i c h e n Lesen des göttlichen Buchs hatte anregen lassen und dessen berühmte Darstellung der Schöpfung »unter dem Bilde des werdenden Tages« (§ 48), vom Verfasser der Erziehungsschrift als allegorisches Exempel eines guten Elementarbuchs »sowol für Kinder, als für ein kindisches Volk« (§ 50) zitiert, ja den Versuchen über die »Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts< entstammt, einer Schrift, die, >weitstrahlsinnig< die Keime einer neuen Philosophie des Menschengeschlechts enthaltend, 14 Herders Kritik des theologischen Rationalismus mit seiner Absicht, »etwas zur Freiheit der Vernunft beizutragen«, 15 zu verbinden sucht. Der erste Band der Schrift über die älteste und heiligste Urkunde des Altertums, »durch die A n b e g i n n d e r B i l d u n g u n s r e s G e s c h l e c h t s ward«, 18 erschien 1774, drei Jahre vor der Publikation der offenbarungskritischen Reimarus-Fragmente mit den >Gegensätzen des HerausgebersAeltesten Urkunde< ( V I , S. X I I ) . Herder, Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts ( V I , S. 5 0 1 ) . Herder, Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts ( V I , S. 269). Herder, Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts ( V I , S. 2 5 8 ) . Herder, Kapitelüberschrift der >Aeltesten Urkunde< ( V I , S. 2 6 5 ) .

werdenden Tages der Schöpfung« 80 die Bibel als authentische Urkunde nicht Israels, sondern des Menschengeschlechts wieder in ihre aufgegebnen Rechte einzusetzen. Über aller Polemik gegen die »Lasterbrut der neuern Geister, De- und Atheisten, Philologen, Textverbesserer, Orientalisten«21 ist nicht zu vergessen, daß der Gedanke, die Schöpfungsgeschichte unter dem Bild des werdenden Tages vorzustellen, bereits in jenen Entwürfen erscheint, die die Bruchstücke einer >Archäologie des Morgenlandes< mit der Schrift über die >Aelteste Urkunde< verbinden und in denen der Geist der >Leibnitze< und >Newtone< - »So wird überall der Vernunft Raum gemacht, und die Wahrheit bleibt überall nur Eine!«22 immer wieder zur Herrschaft gelangt: kennzeichnend für eine solche die Grenzen der Dogmatik sprengende Theologie des Diesseits ist beispielsweise Herders kühner Versuch, einen Braminen die Hieroglyphe der Schöpfung vor Tagesanbruch auslegen zu lassen und ihn, den heidnischen Morgenländer, zum Dolmetsch des auch von »O ß i a n und K 1 o p s t o c k und M i 11 o n und H o m e r« 23 verkündeten Naturgefühls zu machen. Das bruchstückhafte Gespräch mit dem Braminen ist aber auch ein eindrucksvolles Beispiel für die Wechselwirkung von >Wirklichkeit< und >Literatur< im achtzehnten Jahrhundert: wie seine Zeitgenossen steht Herder hier unter dem Einfluß eines die herkömmlichen Interessenbereiche übergreifenden Wissenschaftsverständnisses, das sich nun auch der Sprache und Weisheit der Inder öffnet und das mit den Untersuchungen Alexander Dows und John Holwells zur Grundlegung der Sanskritforschung geführt hat. 24 So überrascht es nicht, daß auch Lessing in den 20

21

22 23 24

Herder, Fragment aus den U n t e r h a l t u n g e n und Briefen über die ältesten U r k u n d e n ( V I , S. 1 3 2 ) . - D a s Bild des werdenden Tages als Gleichnis der Schöpfungsgeschichte ist übrigens literarischen Ursprungs und entstammt der idyllisch-patriarchalischen Dichtung des 18. Jahrhunderts, nämlich Salomon Geßners Prosaepos >Der T o d Abels«. D o r t heißt es in Abels morgendlichem Lobgesang zu Ehren des Allmächtigen: »Wenn auf seinen Wink die Sonne heraufgeht, und die N a c h t verjagt; wenn dann die N a t u r in verjüngter Schönheit glänzet, und jedes schlummernde Geschöpfe zu seinem L o b erwachet, bist du, thauender Morgen, bist du da nicht ein nachahmendes Bild der Schöpfung, ein Bild jenes Morgens, da der H E r r schaffend über der neuen E r d e schwebte?« (Salomon Geßners Schrifften. Erster, zweiter und dritter Band. 1 7 7 0 / 1 7 7 2 . I, S. 10). - V g l . auch B. Suphans Einleitung zu B d . V I der Herderschen Werke, S. X I I I . Goethe an Gottlieb Friedrich Ernst Schönborn, 1 . 6 . - 4 . 7. 1 7 7 4 (Der junge Goethe. B d . I V , S. 2 3 ) . Zitat aus Herders Nanteser E n t w ü r f e n zur Archäologie ( V I , S. 1 2 7 ) . Herder, [Gespräch mit dem Braminen.] ( V I , S . 1 3 5 ) . H e r d e r kannte sowohl A l e x a n d e r D o w s umfangreiche >History of H i n d o stán. (Vol. I - I I I , M D C C L X V I I I - M D C C L X X I I ) als auch J . Z . Holwells bereits 1 7 7 8 ins Deutsche übersetzten Bericht über >Interesting historical

3 "

>Gegensätzen des Herausgebers< die Schriften der Brahmanen als Dokumente privilegierter Vernunfterkenntnis dem Alten Testament gegenüberstellt: Die heiligen Bücher der Braminen müssen es an Alter und an würdigen V o r stellungen von G o t t mit den Büchern des A . T . aufnehmen können, wenn das Uebrige den Proben entspricht, die uns itzt erst zuverlässige Männer daraus mitgetheilet haben. 25

Die beim Lichte der Vernunft fortschreitenden >Heiden< machen freilich die Erziehung des Menschengeschlechts nicht entbehrlich. Als Ur-

25

3 "

events, relative to the Provinces of Bengal, and the Empire of Indostans Part I u. II, M D C C L X V I / M D C C L X V I I ; der mir nicht zugängliche Part III wird zitiert nach: Holwells merkwürdige historische Nachrichten v o n Hindostán und Bengalen. Aus dem Englischen. Mit Anmerkungen, und einer Abhandlung über die Religion und Philosophie der Indier begleitet v o n J. F. Kleuker. 1778. - V g l . auch B. Suphans Einleitung zu Bd. V I , S. X f., A n m . 2. - Herder ließ sich vor allem vom Mittelteil der Holwell-Arbeit inspirieren - schon dort wird beispielsweise die Lehre des Bramah mit Miltons >Paradise Lost< verglichen: » . . . Bramah and he were both instructed by the same spirit; . . . « (Part II, C h a p . I V , S. 64). - In Herders Hinwendung zur englischen Literatur verflicht sich das Interesse des Aufklärers mit dem des Dichters: so ist daran zu erinnern, daß gerade die in England traditionelle Bindung der Dichtungstheorie an das A l t e Testament (noch bei Milton und Robert Lowth) die im 18. Jahrhundert herrschende Vorliebe für die >Urpoesie< entscheidend beförderte. V g l . dazu Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Vierte A u f l a g e . 1963. S. 243 f. L M X I I , S. 44 j . - Herders und Lessings Interesse an Indien erklärt sich aus dem Prinzip des >tua res agituro sowohl D o w als auch H o l w e l l verstehen sich als Aufklärer, die die Weisheit der Brahmanen vor den üblichen V o r urteilen der Europäer, ihrem Zelotismus und ihrer religiösen Intoleranz, in Schutz nehmen wollen; Holwell brandmarkt v o r allem die Verunglimpfung, die die Inder durch die » P o p i s h authors« (Interesting historical events. Preliminary discourse. S. 6) erfahren haben. Religion und Philosophie der Inder sind - dies beweisen ihre heiligen Schriften, aus denen zahlreiche Proben mitgeteilt werden - sehr hoch entwickelt und der Weisheit des Abendlandes durchaus vergleichbar (»We find that the Brahmins, contrary to the ideas formed of them in the west, invariably believe in the unity, eternity, omniscience and omnipotence of G o d . . . « - D o w , The History of Hindostán. Vol. I, S. L X V I I ) ; für H o l w e l l steht sogar fest, »that the M y t h o l o g y , as well as the C o s m o g o n y of the E g y p t i a n s , G r e e k s and R o m a n s , were borrowed from the doctrines of the Bramins, . . . « (Preliminary discourse. S. 3 f . ) ; vgl. auch Part II, Chap. I V (>The religious tenets of the Gentoos, followers of the Shastah of BramahDie »älteste Hypothese«: Vernunft, G e schichte, MythosNoten u n d A b h a n d l u n g e n z u besserem V e r s t ä n d n i ß des West-östlichen Divans< an, w e n n er in d e m A b s c h n i t t >Hebräer< die B i b e l als älteste S a m m l u n g m o r g e n l ä n d i s c h e r Poesie v o r stellt u n d dabei, H e r d e r s u n d E i c h h o r n s A u f k l ä r u n g s a r b e i t

würdigend,

eines »hohen Genusses, d e m reinen orientalischen S o n n e n a u f g a n g z u v e r gleichen«, 2 8 g e d e n k t . G o e t h e s F a z i t k a n n als K o m m e n t a r z u den § § 64 bis 67 der E r z i e h u n g s s c h r i f t gelesen w e r d e n : Und so dürfte Buch für Buch das Buch aller Bücher darthun, daß es uns deßhalb gegeben sei, damit wir uns daran wie an einer zweiten Welt versuchen, uns daran verirren, aufklären und ausbilden mögen. 27 I n der A n r e g u n g , K l ä r u n g u n d B e f ö r d e r u n g der den M e n s c h e n eigenen P r o d u k t i v k r ä f t e v e r w i r k l i c h t sich der wechselseitige D i e n s t v o n O f f e n b a r u n g u n d V e r n u n f t , E r z i e h u n g u n d E n t w i c k l u n g , so d a ß die G e schichte der B i b e l p ä d a g o g i k u n d Bibelexegese selbst v o n S t u f e z u S t u f e als B e w e i s m i t t e l f ü r die Z i e l h y p o t h e s e des A u f s a t z e s dienen k a n n . D a ß a u c h im F e l d e der G e s c h i c h t e die »gute L o g i k « , ja sogar die » A r t , sie a n z u w e n d e n « , i m m e r »die nehmliche« 2 8 ist, bestätigt die

Korrespondenz

v o n § 37 u n d § 65, in der die »gute L o g i k « der Ü b e r l i e f e r u n g als d i a l e k tisches V e r h ä l t n i s v o n m i t g e t e i l t e r L e h r e u n d S e l b s t d e n k e n a m Beispiel des ersten u n d z w e i t e n E l e m e n t a r b u c h s bestimmt w i r d . H i e r w i e

dort

h ä l t Lessing in der A n w e n d u n g seiner L o g i k a n jenen P r i n z i p i e n fest, die in den >Axiomata< die intellektuelle, moralische u n d p s y c h o l o g i s c h e F u n d i e r u n g eines v e r b i n d l i c h e n B e g r i f f s v o n W a h r h e i t d e m aus sich die d o g m a t i s c h e , theologische H e r m e n e u t i k

ermöglichten,

auf äußerliche Beglaubigung

als W i l l k ü r m e i n u n g u n d geistliches

von

gestützte Gängel-

system f ü r »liebe f r o m m e I d i o t e n « 2 ' abweisen ließ. D a s N e u e T e s t a m e n t als das » z w e y t e beßre E l e m e n t a r b u c h f ü r das M e n s c h e n g e s c h l e c h t « ( § 64) w e n d e t sich aber nicht m e h r an d e n f r o m m e n u n d f u r c h t s a m e n , sondern a n den unterrichteten u n d a u f g e k l ä r t e n , den »geistigen« Christen, 3 0 n i c h t 26 27

28 29 30

Goethe, Noten und Abhandlungen ( W A I, 7, S. 7). Goethe, Noten und Abhandlungen ( W A I, 7, S. 9). - Zu einer ähnlichen Einschätzung der biblischen Dinge gelangt Goethe in seinem Gespräch mit Eckermann vom 1 1 . 3 . 1 8 3 2 (vgl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Mit Einleitung und Anmerkungen hg. von Gustav Moldenhauer. 3 Bde. Reclam [o. J.]. Bd. III, S. 261 bis 2 66). Anti-Goeze. Zweyter (LM X I I I , S. i j i ) . L M X I I I , S. 130. Vgl. Gegensätze des Herausgebers (LM X I I , S. 428). 3i3

an die ihr »undenkendes Leben« hinträumenden Namenchristen, sondern an diejenigen, die den Geist des Christentums und seine letzte Absicht, nämlich die » S e l i g k e i t , v e r m i t t e l s t u n s r e r Erleuchtung« erfaßt haben. Auf die Diskrepanz zwischen einem dumpfen und einem erleuchteten Begriff von Christentum hinzuweisen und dem Naturgesetz der »Bewegung«,82 die Neues nur auf Kosten des Alten hervorbringen kann, auch bei dem » v e r ä c h t l i c h e n Theil der Christen«8® Geltung zu verschaffen, gehört zum Erziehungswerk der historischen Vernunft. >ErleuchtungAufklärungBewegung< nachdenkt, die historische Differenzierung von Wort und Begriff also auf eine zeitgemäße, d. h. >faßliche< und >schickliche< Weise (vgl. § 73) in seinen Entwurf einer Geschichtsdeutung mit hineinnimmt, wird dort nicht ausreichend beachtet, wo die Erziehungsschrift wieder einer >Theologie der Geschichte< und ihren Transzendenzvorstellungen zu dienen hat. Die Aktualisierung des >ErleuchtungsBewegungNaturTiefurter Journal< gehorcht Lessings N a t u r b e g r i f f durchaus d e m ' P r i n z i p der Steigerung«! A n t i - G o e z e . Vierter ( L M X I I I , S. 1 6 4 ) . V g l . die Hinweise bei H . Stuke, A r t . >Aufklärung«, in: Geschichtliche G r u n d begriffe. B d . 1, S. 2 5 0 f f .

dem Liebhaber theologischer Dinge und dem Verfasser einer freimaurerischen Ontologie ja nicht unbekannt gewesen sein dürften, ist jedenfalls nicht nur die in den >Anti-Goeze< angekündigte Probe auf das Exempel, die nur frommen Christen von dem Loch wegzuschieben, »durch welches der bessere Theil zu dem Lichte hindurch will«, 3 5 sondern zugleich auch das sprachlogische Korrelat eines der >Steigerung< verpflichteten Zeitbewußtseins, das selbst sich an dem Widerspruch von Geist und Buchstaben zu schärfen sucht. W o der >ErleuchtungsErleuchtungsGegensätzen des Herausgebers< (»einleuchtend« = begreiflich; die >privilegiertenAnti-Goeze< (»Erleuchtung«, nicht »undenkendes Leben« - L M X I I I , S. 164), im neunten >Anti-Goeze< (Reimarus' Schriften fließen aus einem »erleuchteten Kopfe« - L M X I I I , S. 196), in >Ernst und Falk< (»Erleuchtung« durch das »Studium der Gesellschaft« - L M X I I I , S. 364 f.), in § 40 (»Erleuchtung« = Vernunfterkenntnis) und § 63 (»einleuchtend« = begreiflich) der Erziehungsschrift. Auch an anderer Stelle, beispielsweise der >Hamburgischen Dramaturgien steht der >ErleuchtungsAuf-Klärung< aber als »säkularisierte Teilaspekte einer unter der Werdeepoche sich abzeichnenden ganzheitlichen (doxologischen) Haltung« (Das Werden der Aufklärung. S. 184) verstehen will! 3T5

larisierung), kann von einem unverstellten Blick auf das Lessing eigentümliche, also kritisch-oppositionelle Denken, nicht mehr die Rede sein. Die Weigerung, die im >Durchdenken< und >Nachdenken< zu bestimmende sprachgeschichtliche Bewegung in ihrer pädagogischen Angemessenheit nachzuvollziehen und in der Dialektik von Erleuchtung und Erkenntnis ein Zeichen für den vom Alten zum Neuen Bund geleisteten Entwicklungssprung vom gottesfürchtigen zum geistigen, vom undenkenden zum denkenden Menschen auszumachen, ermangelt der Begründung: die Seinsbestände der >religio perennis< sind - einem Wort Adornos zufolge nur noch »durch verzweifelte Abstraktion« 88 zu halten. Die Reifung des Menschengeschlechts, die Zielhypothese des »zu seiner völligen Aufklärung« (§ 80) gelangenden Verstands konzipiert Lessing in einer triadischen Sequenz moralisch-intellektueller Entwicklungsstadien: dem kindlichen, in einem Zustand der moralischen >Präexistenz< verharrenden Volk Israel läßt der Pädagog eine »Erziehung durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen« (§ 16) angedeihen, führt es also »unter Schlägen und Liebkosungen« (§ 19) durch alle Staffeln einer kindischen Erziehung; am Ende einer ersten Entwicklungsetappe, in der Israel seinen mächtigen Jahwe »als einen eifrigen Gott mehr gefürchtet, als geliebt« (§ 34) hatte, steht der erste wechselseitige Dienst von Offenbarung und Vernunft: die Juden erkennen die Einheit Gottes — für Lessing und seine Zeitgenossen eine fundamentale Wahrheit der Vernunft. Die durch das Zusammentreffen von Erziehung und Offenbarung im Alten Bund beförderte Entwicklung des kindischen Volks läßt dabei erkennen, wie unmittelbar Lessing die Vorstellung von der paidagogia Dei auf das konkrete Muster des auch bei Reimarus besprochenen protestantischen Katechismus-Unterrichts zurückbezieht und den ethisch-intellektuellen Reifungsgrad der Kinder Israel am Ende wie selbstverständlich an dem in Luthers >Kleinem Katechismus< niedergelegten rechten Verständnis der Zehn Gebote zur Anschauung bringt. Denn die Aufforderung, Gott nicht nur zu fürchten, sondern auch zu lieben, gehört nach Luther zum Rüstzeug des christlichen Glaubens, ist die vom »iungen und einfeltigen volck« 40 zu bekennende Antwortformel auf die Frage nach den Zehn Geboten, wie sie in der Erklärung des Kinderlehrers zum ersten Gebot als katechetisches Lehrstück definiert wird:

39

40

316

Adorno, V e r n u n f t und O f f e n b a r u n g , in: Stichworte. Kritische Modelle 2. S. 2 ! . Enchiridion. Der kleine Catechismus fur die gemeine Pfarher und Prediger (Wittenberger Buchausgabe v . J . 1 5 3 1 ) . I n : D . Martin Luthers Werke. K r i tische Gesamtausgabe. 1 8 8 3 f f . Erste Abteilung. 30. Bd., 1 9 1 0 . S. 3 4 7 .

Das Erst. solt nicht ander Götter haben. Was ist das? A n t w o r t . W i r sollen Gott über alle ding fürchten, Lieben und Vertrawen. 4 1 Du

Lessing folgt also zunächst durchaus Luthers Buchstaben: Katechismus ist - wie es in der Vorrede zum >Großen Katechismus< heißt - »ein Unterricht fur die kinder und einfeltigen«, 42 ist - betrachtet man die Zehn Gebote - monotheistische Gesetzeslehre, die sagt, »was man thun vnd lassen soi.«43 Sie wird - dies die didaktische Konsequenz - als unbegriffener Text >mitgeteiltmitgeteilte< Wort eingeschworenen Religiosität. So gibt es für Pascal keinen Glauben ohne »coutume«, ohne die dem nichtgeistigen Wesenszug des Menschen entsprechenden äußerlichen Religionsriten und Formalitäten, ohne die Macht der Gewohnheit: . . . il faut avoir recours à elle quand une fois l'esprit a vu où est la vérité, a f i n de nous abreuver et nous teindre de cette créance, qui nous échappe à toute heure; car d'en avoir toujours les preuves présentes, c'est trop d'affaire. Il faut acquérir une créance plus facile, qui est celle de l'habitude, qui, sans violence, sans art, sans argument, nous fait croire les choses, et incline toutes nos puissances à cette croyance, en sorte que notre âme y tombe naturellement. 45

Aber indem Lessing die menschheitsgeschichtlich amplifizierte Luthersche Kinderlehre, die wohl »sans art, sans argument«, doch sicher nicht »sans violence« praktiziert wurde und die Reimarus als Entwürdigung des vernunftbegabten Menschen gegeißelt hatte, in seinen triadischen Entwicklungsplan integriert, verändert er deren Stellenwert. Der Katechismus formuliert Grundsätze der christlichen Lehre ad usum Delphini - aber diese Grundsätze sind als Glaubenswahrheiten unaufhebbar, auch in der Epoche des Evangeliums und der Gnadenlehre Jesu Christi, 41 42 43

44 45

Luther, Enchiridion. S. 3 5 j f. Luthers Werke, 30. Bd., S. 129. Luther, V O R R E D E A U F F D A S A L T E T E S T A M E N T . In: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Bd. I, S. 9. Luther, Enchiridion. S. 350. Pascal, Pensées. Texte de l'édition Brunschvicg. Introduction et notes par C h . - M . des Granges. 1961. (Classiques Garnier), S. 142 f.

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durch dessen Erscheinen die Zehn Gebote aufhören, freilich nicht »also / das man sie nicht halten noch erfüllen solt / sondern Moses ampt höret drinnen auff / das es nicht mehr durch die zehen Gebot die sünde starck macht / vnd die sünde nicht mehr des tods Stachel ist.«4® Die Erziehungsschrift hingegen beschreibt die Entwicklung Israels am Beispiel des Übergangs von der Vielgötterei zum Monotheismus, von der Gottesfurcht zur Gottesliebe — aber Leitfaden der pädagogischen Ökonomie ist der »wahre transcendentale Begriff des Einigen«, d. h. die in den Glaubenswahrheiten implizierte Vernunftwahrheit, die selbst nicht nur die Antiquierung des Alten, sondern auch des Neuen Bundes vorspiegelt: für Lessing ist auch das Neue Testament nur Epoche, nicht Erfüllung der Zeiten; für Luther jedoch »must ein ander Testament komen / das nicht alt würde / auch nicht auff vnserm thun / sondern auff Gottes wort vnd wercke stünde / auff das es ewiglich wehret.« 4 7 Lessing ist also auch in der Erziehungsschrift der Lutheraner, der nicht »bey Luthers Schriften«, sondern »bey Luthers Geiste« 4 8 geschützt sein will. Indem er das herrschende Luthertum - die Wittenbergische Orthodoxie - in die Schranken verweist, erlöst er seine Zeitverwandten von dem im Vergleich zum »Joche der Tradition« noch »unerträglichem Joche des Buchstabens«, 4 9 das die religiöse Aufklärung als Grundbedingung für den Ausgang der Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit verwehrt. Dies ist der aktuelle Sinn der vom Verfasser der Erziehungsschrift nachgedachten und den Zeitgenossen mitgeteilten alttestamentlichen Pädagogik. U n d »ohne diese Mittheilung im Einzeln, ist kein Fortgang im Ganzen möglich.« 5 0 Der zweite große Schritt in der Erziehung des Menschengeschlechts wird durch die Ankunft Christi und die damit eröffnete Epoche des Neuen Testaments eingeleitet. Christus, den Lessing schon im Herrnhuter-Fragment »nur als einen von Gott erleuchteten Lehrer ansehen« will, ohne freilich »alle schreckliche Folgerungen«, die »die Bosheit daraus ziehen könnte«,®1 zu übernehmen, ward »der erste z u v e r l ä s s i g e , p r a k t i s c h e Lehrer der Unsterblichkeit der Seele« (§ 58). Lessing hat — wie bereits Adolf Stahr betonte - in inhaltlicher und metho48

47

48 49 50 61

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Luther, VORREDE AUFF DAS A L T E T E S T A M E N T . In: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Bd. I, S. 16 f. V O R R E D E A U F F DAS A L T E T E S T A M E N T . In: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Bd. I, S. 19. Anti-Goeze. Erster (LM XIII, S. 143). Das Absagungsschreiben (LM XIII, S. 102). Anti-Goeze. Erster (LM XIII, S. 143). Gedanken über die Herrnhuter (LM XIV, S. 157 f.).

discher Hinsicht die Unsterblichkeitslehre »zum Ausgangspunkte« 52 der Erziehungsschrift genommen, ließ sich doch anhand der Geschichte und >Bewegung< der Unsterblichkeitsvorstellungen sowohl die von Reimarus geleugnete >GöttlichkeitVorbericht des HerausgeberszeitigeVernünftelei< den nun freigesetzten spekulativen Enthusiasmus des Jünglings zur allge52

Adolf Stahr, G . E. Lessing. Sein Leben und seine Werke. Vermehrte und verbesserte Volks-Ausgabe. Dritte Auflage. Teil I u. II. 1864. II, S. 337. - Die theologische Lessing-Deutung insistiert dagegen auf der inhaltlichen Prioritätsstellung des § 73 - so jüngst wieder H . Timm da dort die »Engführung der aufklärerischen Glückseligkeitsreligion« (Gott und die Freiheit I. S. i n f.) durch den christlichen Glauben und ein »umfassenderes religiöses Seinsverständnis« (S. 128) überwunden werde. Es ist aber daran zu erinnern, daß das »Evangelium des Geistes« (S. 95 ff.) nicht die Grenze des Lessingschen Nachdenkens markiert: nicht nur der »sinnliche Jude«, sondern auch der »geistige Christ« muß »überhohlet« (§ 93) werden.

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meinen Theorie des sich aufklärenden Verstandes erhebt - die Dogmen von der Dreieinigkeit, der Erbsünde und der Genugtuung des Sohnes werden deshalb vom Verfasser auch nur als E x e m p e 1 prospektiver Vernunftwahrheiten angeführt dadurch aber zugleich die von Christus gepredigte ethische >Funktionalisierung< des Unsterblichkeitsglaubens als bloße Transition in die Epoche des völlig aufgeklärten Verstandes ausweist. Das andere Testament ist also nicht ewig währende Gnadenlehre und Evangelium der erfüllten Zeit, sondern Vorschule auf die Zielhypothese der »höchsten Stufen der Aufklärung und Reinigkeit« (§ 81) und der »Zeit eines n e u e n e w i g e n E v a n g e l i u m s « (§ 86) - vergleichbar nun nicht mehr dem Katechismus für die »kinder und einfeltigen«, sondern dem Unterricht des Rechenmeisters (§ 76), mithin den mathematischen Wissenschaften als dem Inbegriff des exakten Denkens und dem methodischen Paradigma aller gesicherten Vernunfterkenntnis.63 Christus vollstreckt, indem er den Glauben an eine zukünftige Belohnung und Strafe - ein notwendiges Prinzip jeder Religion und »kein unterscheidendes Kennzeichen des Christenthums«54 — praktisch lehrt, das im »Fingerzeig« umrissene Entwicklungsgesetz des menschlichen Verstands, den das geistige Christentum zu Spekulationen bewegen kann, die zu den » s c h i c k l i c h s t e n Uebungen« (§ 79) gehören, »wenn er zu seiner völligen Aufklärung gelangen, und diejenige Reinigkeit des Herzens hervorbringen soll, die uns, die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, fähig macht« (§ 80). Wird Christi Lehre jedoch zum unbezweifelbaren Dogma verabsolutiert, schlägt sie um in Obskurantismus - in der Sprache der pädagogischen Metaphorik: die Mathematik des Offenbarungsgeschehens degeneriert zur willkürlichen Chiromantie und Astrologie. Die widerspruchslose, im Lessingschen Sinn also inhumane theologische »Versicherung von der Unsterblichkeit der Seele«55 läßt sich mit der hypothetischen Wahrscheinlichkeit des geschichtsphilosophischen Entwurfs nicht vereinen56 und verführt überdies, wie alle autoritäre Schwär-

53

Die Formel v o m »Facit, welches der Rechenmeister seinen Schülern voraus sagt, damit sie sich im Rechnen einigermassen darnach richten können« (§ läßt sich z w a r auch auf die alttestamentliche Lehre von der Einheit Gottes anwenden; aber daß Lessing die zur philosophischen Spekulation befähigte theoretische Neugierde mit einer dem >esprit geom£trique< entsprechenden Erziehungsmetaphorik assoziiert, ist originäre Sprach-Pädagogik der Neuzeit!

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Ueber die Elpistiker ( L M X I V , S. 298). Womit sich die geoffenbarte Religion am meisten weiß, macht mir sie gerade am verdächtigsten ( L M X V I , S. 399).

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V g l . die Ausgangsthese des E n t w u r f s > W o m i t sich die geoffenbarte Religion am meisten weiß, macht mir sie gerade am verdächtigstem: »Die geoffen-

merei, den zukunftssüchtigen Menschen zur Ungeduld. Dies ist der an den ersten >Gegensatz< erinnernde Kerngedanke der wahrscheinlich aus der Zeit des Fragmentenstreits stammenden offenbarungskritischen Entwürfe, die Karl Lessing unter der Überschrift > Womit sich die geoffenbarte Religion am meisten weiß, macht mir sie gerade am verdächtigstem in der Lebensbeschreibung des Bruders mitteilte: Ueber die Bekümmerungen um ein künftiges Leben verlieren Thoren das gegenwärtige. W a r u m kann man ein künftiges Leben nicht eben so ruhig abwarten, als einen künftigen T a g ? Dieser G r u n d gegen die Astrologie ist ein G r u n d gegen alle geoffenbarte Religion. Wenn es auch w a h r wäre, daß es eine Kunst gäbe, das Zukünftige zu wissen, so sollten wir diese Kunst lieber nicht lernen. Wenn es auch w a h r w ä r e , daß es eine Religion gäbe, die uns von jenem Leben ganz ungezweifelt unterrichtete, so sollten w i r lieber dieser Religion kein Gehör geben. 57

Die Grundmotive der Lessingschen Offenbarungskritik sind in diesem Passus versammelt: Destruktion des theologischen Wahrheitsmonopols im Namen der philosophisch-historischen Wahrscheinlichkeit; Abgrenzung der pädagogischen Heilsökonomie von der schwärmerisch-unzeitigen Religions-Astrologie und -Chiromantie und Reduktion des orthodoxen Infallibilitätsanspruchs auf die Willkürlichkeit der >HermeneutikNatur< und denaturierter >KunstSelbstheitVermutung
Mythos< ist die Hypothese der Seelenwanderung nicht nur durch die Wiedererinnerung der urältesten Philosopheme, Vermutungen und Dichtungen, 88 sondern auch in dem bestimmten Sinn einer utopisch-ewigen Wiederholbarkeit individueller Existenz. Das »Prinzip der Immanenz, der Erklärung jeden Geschehens als Wiederholung, das die Aufklärung wider die mythische Einbildungskraft vertritt«, ist ja gemäß dem von Horkheimer und Adorno entwickelten Begriff der >Dialektik der Aufklärung< »das des Mythos selber.«29 Von hieraus wird verständlich, weshalb Lessings Verkündigung des dritten >goldenen< Zeitalters gerade von den Romantikern mit Enthusiasmus aufgegriffen wurde 50 und selbst der Antipode der Aufklärungs-Epoche, Schopenhauer, der die >Erziehung des Menschengeschlechts< in unverkennbar antisemitischem Affekt als »Erziehung des Judengeschlechts«31 abqualifizierte, in zumindest verbaler Übereinstimmung mit den Lessingschen Definitionsversuchen die Seelenwanderung als die - der philosophischen Wahrheit so nah verwandte - »uralte Lehre des edelsten und ältesten Volkes«, ja als jenes »non plus ultra mythischer Darstellung« 32 bezeichnet, das, schon von Pythagoras und Plato mit Bewunderung übernommen, sich als die »natürliche Überzeugung« 33 des unbefangen nachdenkenden Menschen erweise. Auch Herder supponiert der Erziehungsschrift eine mythische Dimension, die ihn in seinen Gesprächen über die Seelenwanderung zum unmittelbaren Widerspruch veranlaßt: das der Seelenwanderung immanente Prinzip der Zeitlosigkeit in der Zeit, der ewigen Wiederholung - »Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin?« (§ 98) - steht für ihn in einem Mißverhältnis zum Naturgesetz des individuellen Werdens und Vergehens, ist ihm ein das menschliche Leben 28

29 30

31

32

33

334

Vgl. dazu Schelling, Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt. In: Schellings Werke. I. Hauptband, S. 3—43. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung. S. 18. Vgl. das Kapitel >Der philosophische Chiliasmus: Lessing und die Romantik e n bei Hans-Joachim Mahl, D i e Idee des goldenen Zeitalters im Werk des N o v a l i s . Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. 1965. (Probleme der Dichtung Bd. 7) S. 2 4 J - 2 5 2 . Parerga und Paralipomena I. In: Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke. Textkritisch bearbeitet und hg. von Wolfgang Frhr. v o n Löhneysen. 5 Bde: Cotta-Verlag/Insel-Verlag o.J. Bd. IV, S. 158. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, 4, § 63 (Sämtliche Werke, Bd. I, S. 487). Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, 4, Kap. 4 1 (Sämtliche Werke, Bd. II, S. 647).

entwertendes »Exempel eines Ixionisch-Tantalischen

Danaiden-Schick-

sals«, 34 ist Negation der menschlichen Diesseitigkeit. So bekennt Theages im zweiten Gespräch: Für mich gestehe ich: ich habe herzlich gnug, Einmal auf der Erde als Mensch gewesen zu seyn und mein Leben durchlebt zu haben: denn wenns köstlich gewesen ist, sagt einer der ältesten Weisen, w a r s M ü h e u n d A r b e i t , und das ist sein ewiger Cirkel. D e r M e n s c h v o m W e i b e gebohren lebt kurze Z e i t und ist v o l l U n r u h : geht auf wie eine Blume und f ä l l e t ab, f l e u c h t wie ein S c h a t t e u n d b l e i b t n i c h t . - Das ist sein Schicksal. 85 Das Deutungsmodell der Erziehungsschrift ist so eindimensional nun aber nicht, läßt sich jedenfalls nicht in die konträren Bereiche linearen und zyklischen Denkens dissoziieren. Das im Augustinus-Motto umrissene Strukturgesetz der semantischen und formalen Bipolarität bildet auch den Auslegungsrahmen für die Zielperspektive der Schlußparagraphen, indem es die scheinbar dysfunktionale Seelenwanderungslehre auf die Binnenperspektive der Erziehungsmetapher zurückbezieht.

Weder

herrscht hier strenge Linearität — »Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade ist« (§ 9 1 ) - , noch behauptet sich dort der ungebrochene Kreislauf des Mythos. Lessing denkt die sich vollendende Zeit nicht als die ewige Wiederkehr des Gleichen, sondern als Weg einer sukzessiven Selbstoffenbarung der sich steigernden individuellen Vernunft. Die Wiederkunft des Menschen knüpft sich an »neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten«, vermittelt das >Sein< mit dem >WerdenGlückwünschungsrede, bey dem Eintritt des i743sten Jahres, von der Gleichheit eines Jahrs mit dem andern< wendet sich Lessing gegen die antike Vorstellung vom vergangenen goldenen Zeitalter (die »hochgepriesenen goldenen Zeiten sind ein bloßes Hirngespinst« - L M X I V , S. 1 3 5 ) und die törichte Einbildung, »als lebten wir jetzt in den eisernen, schlimmsten und elendesten Zeiten, da wir doch ganz offenbar an unsern Jahren mehrere Merkmahle der goldenen Zeiten wahrnehmen, als jene Alten gehabt haben« (S. 136). Der junge Redner ist davon überzeugt, daß er für seine These von der Gleichheit der Jahre »den deutlichsten Ausspruch der gesunden Vernunft, das göttliche Zeugniß der heiligen Schrift, und den unverwerflichen Beifall der Erfahrung auf [s]einer Seite habe« (S. 137). Daß das geschichtsindifferente Prinzip, es geschehe nichts Neues unter der Sonne, bei Lessing vor allem christlich motiviert ist, zeigt auch der Brief an Johann David Michaelis vom 16. 10. 1754, in welchem der Zukunftshoffnung das Vertrauen auf die göttliche Fürsorge entgegengestellt wird: »Was noch kommen soll, habe ich der Vorsicht überlassen. Ich glaube schwerlich, daß ein Mensch gegen das Zukünftige gleichgültiger seyn kann, als ich« (LM X V I I , S. 41).

48

Novalis, Vermischte Bemerkungen, in: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd. II, S. 446.

47

338

Der bei Lessing evozierte Mythos vom goldenen Zeitalter erscheint bei ihm wieder als die in der Poesie überdauernde Freiheitsutopie einer ebenfalls triadisch fortschreitenden, nun freilich revolutionären

Vernunft.

Heine denkt die »glänzende Verheißung« der Lutherschen und Lessingschen Reformation in einer Weise zu Ende, die das Uneingelöste der A u f klärungstradition zeitgemäße,

exemplarisch

aufnimmt und

die gerade durch

in ihrer Besonderheit u n w i e d e r h o l b a r e

die

Aktua-

lisierung des Erbes wegweisend für eine produktiv verwandelnde Lessingrezeption sein könnte: . . . seit Luther hat Deutschland keinen größeren und besseren Mann hervorgebracht als Gotthold Ephraim Lessing. Diese beiden sind unser Stolz und unsere Wonne. In der Trübnis der Gegenwart schauen wir hinauf nach ihren tröstenden Standbildern, und sie nicken eine glänzende Verheißung. J a , kommen wird auch der dritte Mann, der da vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt und dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf der dritte Befreier! — Ich sehe schon seine goldne Rüstung, die aus dem purpurnen Kaisermantel hervorstrahlt, >wie die Sonne aus dem Morgenrot!. 49

48

Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (Bd. V, S. 250). 33 9

Literaturverzeichnis

(Das Verzeichnis enthält nur die im Text und in den Anmerkungen zitierten Werke. Die dort benutzten Siglen entsprechen dem internationalen Gebrauch.)

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. °'

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Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 3., völlig neu bearbeitete Auflage (RGG). Hg. von Kurt Galling. Bd. 1 - 6 u. Registerband. Tübingen 1957-65. Rousseau, Jean-Jacques : Du Contrat Social. Paris 1962. (Classiques Garnier). Rousseau/Brossette: Correspondance de Jean-Baptiste Rousseau et de Brossette. Publiée par Paul Bonnefon. Tome I: 1 7 1 5 - 1 7 2 9 ; Tome I I : 1 7 2 9 - 1 7 4 1 . Paris 1 9 1 0 / 1 1 . Sartre, Jean-Paul: Betrachtungen zur Judenfrage. In: Sartre, Drei Essays. Mit einem Nachwort von Walter Schmiele. 1 9 6 1 . (Ullstein Buch N r . 304) S. 108 bis 190. Schelling, Friedrich Wilhelm: Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung hg. von Manfred Schröter. 6 Hauptbände: München 1927/28 + 6 Ergänzungsbände: München 1943-59 + Nachlaßband: München 1946. Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke in 20 Bänden. H g . von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch. München 1965/66. (dtv-Gesamtausgabe). Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Zweiter Teil. Heilbronn 1884. (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts 18). Schlegel, Friedrich: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. 35 Bde. Hg. von Ernst Behler. Paderborn 1958 f f . — Kritische Schriften. Hg. von Wolfdietrich Rasch. 3., durch ein Namen- und Begriffsregister erweiterte Auflage. München 1 9 7 1 . Schmidt, Arno: K A F F auch Mare Crisium. Frankfurt a. M. 1975. (Fischer Taschenbuch 1080). Scholz, Heinrich (Hg.): Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn. Hg. und mit einer historisch-kritischen Einleitung versehen von Heinrich Scholz. Berlin 1916. (Neudrucke seltener philosophischer Werke. Hg. von der Kantgesellschaft. Bd. VI). Schopenhauer, Arthur: Sämtliche Werke. Textkritisch bearbeitet und hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. 5 Bde. Cotta-Verlag/Insel-Verlag o. J . Schumann, Johann Daniel: Ueber die Evidenz der Beweise für die Wahrheit der Christlichen Religion. Hannover 1778. Semler, Johann Salomo: Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten insbesondere vom Zwecke Jesu und seiner Jünger. Halle 1779. Spinoza, Benedict de: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt. Übersetzung, Anmerkungen und Register von Otto Baensch. Einleitung von Rudolf Schottlaender. Hamburg 1955. (Philosophische Bibliothek 92). - Theologisch-Politischer Traktat. Übertragen und eingeleitet nebst Anmerkungen und Registern von Carl Gebhardt. Fünfte Auflage. Hamburg 1955. (Philosophische Bibliothek 93). Terence: With an English Translation by John Sargeaunt. 2 Bde. London/Cambridge, Massachusetts 1964/65. Tertullianus: Opera. Pars I I : Opera Montanistica. Turnholti M C M L I V . (Corpus Christianorum. A. Sériés Latina II). Thomasius, Christian: Deutsche Schriften. Ausgewählt und hg. von Peter von D ü f f e l . Stuttgart 1970. (Reclam Universal-Bibliothek N r . 8369-71). Ueberweg, Friedrich: Grundriss der Geschichte der Philosophie. 3. Teil: Die Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des X V I I I . Jahrhunderts. 12. A u f lage. Berlin 1924. 346

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I0 7> I 0 9> 1 1 4 . I19> I 2 9> 1 3 7 . 140 f-» 143 f-. !4 6 > 1 5 6 , 1 6 9 , 1 7 3 , I 8 j , 2 3 $ f., 2 4 1 , 2 4 8 fr., 3 0 4 , 3 1 3 ff., 3 1 8 , 3 3 8 Gohlke, iP. 262 Gottsched, J . C . 8 f., 1 1 , 95, 1 3 1 , 1 8 3 , 2 1 2 ff., 2 1 6 f. Goyet, T . 201 Gracian, B. 291 Granges, C.-M. des 3 1 7 Grappin, P. 32, 34 f., 37 Grimm, G . 74 f. Grimm, J . 183 Grimm, W. 183 Gründer, K . 200 Gruenter, R . 37 Guhrauer, G . E. 49 f. Guthke, K . S. X , 49, 80

Haas, G . 242 Habermas, J . 103 f. Hagedorn, F. von 2 j j Haller, A . von 74, 88, 282 f. H a l m $9 Hamann, J . G . V I I I , 3 1 , 35, 1 5 0 , 237, 300

Harich, W. 186 Haug, M . 293 H a y m , R . 186 H a z a r d , P. 163 Hebbel, F. 28$ Hebler, C . 1 J 4 , 1 7 1 , 1 7 3 , 292 Hegel, G . W. F. V I I I , 7, 9, 28 ff., 37, 88, 1 6 8 , 1 8 2 , 2 0 1 , 2 1 8 , 2 2 4 , 2 2 6 f., 229-232, 3 3 6 f.

267 f.,

2 7 2 f.,

277,

297,

Heimsoeth, H . 1 1 2 Heine, H . 2, 88, 223, 268, 275, 305, 3 3 8 f. Heintel, E. 188 Helvétius, C.-A. 283 Hempel, G . $0 Hemsterhuis, F. 234 Henkel, A . 1 5 0 Henning, H . 78 Henrich, D . 168 Hentsch, J . J . 220 Heraklit 261 f. Herder, C . 323 Herder, J . G . 53, 73 f., 76, 80, 98, 1 0 1 , 1 0 5 f., 1 4 9 f., 1 6 5 f., 1 8 6 , 1 8 8 , 2 3 9 , 2 4 1 f., 2 6 1 , 2 7 0 f., 2 8 $ , 2 9 1 , 300, 3 1 0 - 3 1 3 , 3 2 3 , 3 2 5 , 3 3 4 f.

Hermann, R . 293 Hermes, J . T. 254 Herodot 176 Heumann, C. A . 59 Hieronymus 7 1 ff., 1 4 5 , 1 4 7 Hinske, N . 30, 62 Hiob 263 f., 2 7 7 - 2 8 2 , 307 Hirsch, E. 20, 24 f., 1 5 1 ff. Hobbes, T . 100 f., 168 Höllerer, W. 234 Holz, H . H . 89, 122, 18$, 193, 336 Holwell, J . Z. 3 1 1 f., 327 f. Homer 209 ff. Hommel, K . F. [Alexander von J o c h ] 1 8 8 f. H o r a z [Quintus Horatius Flaccus] 1 6 2 , 2 1 1 f. Horkheimer, M . 2 8 - 3 1 , 297, 334

Humboldt, W. von 270 Hume, D . 200 Immisch, O . 78 Iser, W. 9 j Jacobi, F . H . V I I I ,

47 f.,

105,

139,

i j o , 2 0 2 , 2 2 3 - 2 2 7 , 2 3 0 ff., 2 3 4 , 2 4 9 , 300, 330, 336

Jäger, H.-W. 269 J a u ß , H . R . 156 J e a n Paul 234 f., 254 Jens, W. 77 Jerusalem,

K.W.

172,

185-197,

276,

292, 303, 329

357

Jesaia 253 Jesus 1 j, 17-2j, 36 ff., 42 f., 46, 49, 6 1 f., 66, 70, 7 2 , 85, 94, n o , 1 1 9 f., 128,

133,

139,

241. 253> 256>

144-15$,

158,

205,

265> 2 7°, 273> 27J>

280, 285, 289, 2 9 1 , 306 f., 3 1 7 - 3 2 1 , 3 2 8

29J,

300 f.,

Joachim von Floris 272 f., 288 Johannes (Evangelist) 23, 66, 69, 72, 133. 136, I 43 _I 5°> I 5 1 ' 1 $4 f•> 158, 1 9 7 f., 262

Johannes der Täufer 68 Jolles, A. 259 Jolles, M. 282 Joseph (von Nazareth) 147 Joseph (Sohn Jakobs) 176 Judas Ischarioth 45, 228 Jungius, J. 15, 19, 31 Kaiser, G. 267, 274 Kant, I. VII, 7, 20, 27, 29 f., 32 ff., 53, 6 off., 66, 82, 8 j , 88, 99 f., 1 0 3 fr., 107, 1 3 0 f., 144, 169, 179, 182, 2 1 8 , 224, 2 2 7 , 2 4 3 - 2 4 6 , 2 5 0 f., 2 J 4 , 2 7 6 f., 2 8 1 , 3 2 1 ff., 329, 3 3 7

Kantzenbach, F. W. 230 Karl I, Herzog von Braunschweig 42> 7r> 144 Karpokrates 147 Kaufmann, H. 88 Kempski, J. von 19 Kestner, J. G. C. 185 f. Kierkegaard, S. VIII f., $6 f., $9, 79, 84 f., 1 2 0 f., 1 2 5 , 1 2 8 , 156 Killy, W. 298 Kimpel, D. 218 Kindermann, H. 60 Kleuker, J. F. 312 Klopstock, F. G. 46, 282 f., 311 Kluckhohn, P. 107 Knabe, P.-E. 208 f., 211 Knapp, A. 48 Knapp, J. 48 Knigge, A. Frhr. 336 Koch, F. 84 Koppen, F. 47 Körner, S. 29 Kofink, H. 333 Kohlschmidt, W. 237 Konrad, J. 253

358

K o s e l l e c k , R . 60, 1 0 0 - 1 0 3 , 1 6 5 , 2 5 2 ,

274 Kranz, W. 262 Krauss, W. 273 Krings, H. 29 Krüger, G. 182 Kühl, C. 279 Kunisch, H. 51 Kur, F. 2 8 0 Lachmann, K. 1 Lactantius, L. C. F. 282 Lambert, J. H. 74 La Mettrie, J. Offroy de 16, 283 f. Lange, J. 144, 230 Lanson, G. 209 Las Casas, B. de 2 ¡6 Lavater, J. C. 20, 143, 149, 331 L a z a r o w i c z , K . 5 1 - 5 6 , 59

Leibniz, G. W. 2, 8-11, 25, 27, 37, 63, 70, 84, 88 f., 92, 1 1 2 , 1 1 7 , 1 1 9 , 1 2 1 b i s 127, 1 3 0 f . , 1 3 4 , 136, i 3 8 f f . , 159, 1 6 6 ff., 1 7 1 , 1 7 7 , 180, 1 8 2 - 1 8 6 , 1 8 9 b i s 194, 196, 2 0 1 , 2 2 5 , 2 2 9 - 2 3 2 , 2 3 4 , 2 37> 2 45> 2 Ö 4 , 167, 276, 3 1 1 , 3 3 1 ff., 3 3 6 f.

Leisegang, H. 169 f., 195, 335 Leitzmann, A. 270 Lenz, J. M. R. 49 Lessing, J. G. 90 Lessing, K. G. 38, 63 f., 83, 91, 94, 144, i j o , i ? 2 , 2I9> 249> 2o, 321, 3 2 5 f. Lessing, T. 279 Lichtenberg, G. C. 14, 267 Lieber, H.-J. 268 Liepert, A. 305 Linné, C. von 65 Locke, J. 112, 183, 328 Löhneysen, W. Frhr. von 334 Loewenich, W. von 80 Löwith, K. 272 ff. Logau, F. von 278 Longinus (Pseudo-) 213 Lowth, R. 312 Ludwig XIV. 162 f. Ludwig (Dauphin) 199 Lukas 23, 69 Lukian 173 f., 199 f. Lunding, E. IX

Luther, M. I X , 2, 38, 43, 47, 49, 52f., 56. 59> 61. 70-73. 7 8 f -> 9 i . I 0 I > 107,

133,

144,

275, 280, 284

f.,

149, 316

IJ5.

ff.,

23°»

L6G

>

339

Machiavelli, N . 47 Mähl, H . - J . 334 Mahal, G. 78 Malsch, W. 30J Maitzahn, W. von 49 M a n d e l k o w , K. R. 233 Mann, O . 64, 120 f. M a n n , T. J I , 56 f., 176 Marcuse, H . 31 Maria 147 Markschies, H . L. 237 Markus 23 M a r k w a r d t , B. $1, 78 Marx, K . 28, 95 f., 214, 224, 268 Mascho, F. W. 6, 62, 93 f., 135 Masius, H . 78 Mattenklott, G. 99 M a t t h ä u s 22 f., 68 Maupertuis, P.-L. Moreau de 254 Mehring, F. 37, 50, 101, 121, 335 Mellein, R. 261 Menander 261 Mendelssohn, G. B. 164 Mendelssohn, M. 30, 32, $3, 92, 113, 159 f., 1 6 4 - 1 7 0 , 176 f., 215 f., 223 f., 236, 261, 266, 301, 325, 331, 336

Merker, P. 237 Mersenne, M. 209 Michaelis, J. D. 35, 133, 136, I J I , 224. 338 Michel, K . M. 7 Michelsen, P. 215 Miller, N . 234 Milton, J. 311 f. Mittelstrass, J. 78, 179, 208, 232, 257, 273 Moser, J. 245 Mohr, W. 237 Moldenhauer, E. 7 Moldenhauer, G. 313 Molière 69 Montaigne, M. Eyquem de 297 M o n t a n u s 70, 291 Montesquieu, C. de Secondat, baron de 8 7 , 101

Montmort, J. H a b e r t de 209 Mose 44, 113, 134, 149, 201, 280, 318, 327 Muncker, F. 1 Musäus, J. 230 Mylius, C . 183, 214 Nadler, J. 31 N e w t o n , J . 311 Nicolai, F. 37, 44, 99 f., 215, 224, 261

Nietzsche, F. 168 Nigg, W. 70, 84 Nollet, J. A. 142 Novalis 106 f., 305, 334, 338 Oehlke, W. 335 Oelmüller, W. 337 Olshausen, W. von 19, 68, 283, 312 Origenes 72, 117, 131 Overbeck, F. 168 Parmenides 28 Pascal, B. 317 Paulus (Apostel) 6, 47, 61, 69, 79, 8J, 1 1 3 , 1 1 7 , 1 3 3 f., 1 4 6 , 2 8 4 , 2 8 8 , 3 2 J Pelters, W . 272 Petersen, J. 19, 68, 283, 312 Petrus Lombardus 114 Petsch, R . 215 Philipp, W. 19, 88, 315 Picht, G. 28 Pilatus, P. 22 f. Piso, L. C. 211 Planudes, M. 221 Piaton 147, 173, 234, 24$, 247, 266, 270, 289, 299, 325, 327, 334

Plautus, T . M. 212, 214 Plutarch 289 Pons, G. 64, 331 Pope, A. 89, 209, 236, 269 f. Porphyrios 72 Promies, W . 14 Pythagoras 325, 327, 334 Quattrocchi, L. 218 Rabe, H . 60 Racine, L. 282 Ranke, L. von 298 359

Rapin, R. 2 1 1 Rasch, W. 75 Reimarus, E. 38, 52, 92, 10$, 259 f. Reimarus, H.S. 1 f., jff., 11—29, 3 1 bis 38, 4 2 - 4 J , 48, 53,

58 f., 6 1 - 6 7 , 69»

7 2 > 79» 82, 9 0 , 9 2 - 9 J , 113,

115-118,

141, 148,

1 0 7 , 1 0 9 FR.,

127,

131,

134,

i j i f., 1 5 7 ff., 1 6 5 f., 1 6 9 ,

172,

174-178.

204,

2 2 2 f.,

278, 280

120, 189. 228,

195»

197.

253-257,

199.

2 7 1 f.,

f., 2 8 4 , 3 0 2 , 3 0 9 f., 3 1 5 fr.,

319, 325, 328, 330

Reimarus, J. A. H. 88 Reiske, J. J. 279, 282 Remark, P. 247 Reß, J. H. 2 6 , 4 2 , 8 4 Rest, W. V I I I Reventlow, H. Graf 19, 38 Rieck, W. 214 Rilla, P. 37, 67, roi Risse, W. 8 Ritter, J. 200 Ritzel, W. 335 Rochow, F. E. von 87 f. Roedl, U. 63 Röpe, G. R. 50, 53, 55 ff., 79 Rohrmoser, G. 31, 33, 1 1 6 , 264 Roscius, G. Q. 247 Roth, F. 47 Rousseau, J.-B. 209 f. Rousseau, J.-J. 102, 160-166, 168 ff., 1 7 2 f., 1 8 5 f., 1 9 2 , 1 9 9 , 2 4 4 Rüdiger, H. 2 1 1 , 267 Rufinus 7 1 Russell, B. 28 Rychner, M. 233 Sade, D., marquis de 283 Saint-Just, L. de 268 Saint-Simon, L. de Rouvroy, due de 2

73

Salomo 279, 282 Samuel, R. 107 Sargeaunt, J. 261 Sartre, J.-P. 228 Sauer, A. 187 Schelling, F. W. 326, 334 Schertzer, J. A. 230 Schiller, F. 54 f., 254 f., 269 Schilson, A. 125, 1 3 1 , 156, 265, 315

360

Schlechta, K. 168 Schlegel, A. W. V I I I Schlegel, F. X ,

51 ff., 57, 7 3 - 7 7 ,

80,

fr., 1 0 1 , 1 0 5 f., 1 7 1 , 1 8 0 , 2 0 6 f., 2 3 2 fr., 2 4 1 , 2 4 6 , 2 4 9 , 2 5 2 , 2 6 6 , 3 0 5 Schleiermacher, F. E. D. 227 Schlink, E. 265 Schlözer, A. L. i 6 j Schlosser, J. L. 49 Schmidt, A. 297 Schmidt, A[rno] 2 3 1 , 254 Schmidt, E. 2, 25, 37, 54, 144, 214 Schmidt, J. L. 44 ff., 144 Schmidt, K. E. K. 53 Schmiele, W. 228 Schmitt, C. 101 Schneider, H. 1 0 1 , IOJ, 187, 206 Schneider, J. 80, 282 Schönberger, F. X . 98 Schönborn, G. F. E. 310 f. Schöne, A. 274 Scholder, K. 19, 138, 201 Scholz, H. 224 Schopenhauer, A. 334 Schottlaender, R. 139 Schröder, J. 72, 78, 89, 99, 1 1 4 , 1 7 3 , 1 7 8 , 2 3 5 ff., 2 4 0 , 2 6 3 , 2 6 6 Schröter, M. 326 Schultze, H. 265 Schulz, W. 33, 265 f., 273, 285, 288 89

Schumann,

J. D.

58,

116-119,

I2I

1 2 4 - 1 2 8 , 1 3 1 f., 1 4 3 ff., 2 2 1 , 2 9 $

Schwarz, C. 50, 171 Schweitzer, A. I J , 17, 25, 36 f. Scultetus, A. 278 Seeba, H. C. 102 Seignelay, J.-B. Colbert, marquis de 210

Semler, J . S.

2 , 3 5 - 3 8 , 42 f., 45 f.,

4 9 . $ 2 . 64. 8 0 , 1 4 2 ,

151

Seneca, L. A. 166, 283 Sengle, F. 48 Seuffert, B. 49 Shakespeare, W. 291 Sierig, H. 15, 36 Simon, R. 201 Solle, D. 274 Sokrates 164, 194, 282, 295 Soner, E. 191 Sophie von Sachsen 135

>

Sophie Charlotte von Preußen 124 Sophokles 291 Spartacus 256 Spinoza, B. de 11, 13, 19, 47, 100, i38ff., 149 f., 155, 158, 166 ff., 181 f., 185, 200 ff., 218, 223-233, 245, 260, 262 ff., 267 f., 270, 293, 297. 3 0 I > 3°9> 322 f-, 331. 336 fStählin, O. 289 Stahr, A. $0, 318 f. Stammler, W. 237 Steiner, G. 336 Steinmetz, H . 233, 252 Stempel, W.-D. 16$ Stolpe, H . 44 Strähler, D. 230 Straube-Mann, R. 64 Strauß, D . F. 19, 23 f., 26, 28, 37, 110 Strohschneider-Kohrs, I. 78 Stubenrauch, H . 5$ Studniczka, H . 291 Stuke, H . 183, 314 Suarez, F. 166 Süßmilch, J. P. 186 Sulzer, J. G. 74 Suphan, B. 73, 3 1 1 ff. Tannery, P. 9 Teller, W. A. 37 Terenz [Publius Terentius A f e r ] 261 Terrasson, abbé 210 Tertullian 67-70, 85, 126, 291, 296 Tetens, J. N . 165, 168 Thaer, A. 206 Thielicke, H . 56-59, 80, 84 f., 121, 156, 184, 224, 230, 257, 265 f., 293, 295 f., 299 ff., 303 Thimme, H . 230 Thomas von Aquino 230 Thomasius, C. 8 f., 60 f., 112 Thümmig, L. P. 8, 183 Thulstrup, N . V I I I , 84 Timm, H . 13, 25 f., 46, 102, 150, 170 f., 223, 288, 291, 303 f., 319 Timotheus 69 Traub, F. 121, 125, 128 Troeltsch, E. 20, 35 Tschirnhaus [en], E. W. von 9 T ü r k , H . 267

Ueberweg, F. 8, 112, 122 Unger, R . 331, 333 Valentinus 68 Velat, abbé 201 Vernière, P. 260 Voltaire 96, 162 f., 199 ff., 209, 285 Volz, H . 280 Vorländer, K. 1 1 2 Wagenseil, J. C. 72 Walch, C . W . F. 136 f., 289 Waller, M. 80, 333 W a r b u r t o n , W. 204, 272, 280 Wegener, H . 163 Weinrich, H . 98 Weischedel, W. VII, 227 f. Weise, C. 60 Weiß, J. 36 Werner, O . 67 Wessell, L. P. 87 f., 137 f., 272 Wesselski, A. 259 Wieland, C . M. 47 f., 173 f., 179, 183, 186 Wiese, B. von 237, 264, 285 Wild, C. 29 Wilhelm I. 50 Windelband, W. 112, 219 Wissowatius, A. 64, 92, 138, 153, 177 Wölfel, K . 67, 81, 148 Wöllner, J. C. 44, 64, 144 W o l f f , C. 2, 6 - 1 1 , 27 f., 35, 44, 112, 125, 132 f., 143, 156, 172, 182, 196, 213, 216, 218-222, 225, 227, 229 bis 235. 237, 239, 275, 289, 325 W o l f f , H . M. 30 Wren, C. 184 W u n d t , M. 7 Zedier, J. H . 44, 112, 144, 182, 228 f. Zeeden, E. W. 144, 149 Zehbe, J. 20, 30 Ziesemer, W . 150 Zischler, J. 47 Zöllner, J. F. 30 Zscharnack, L. 19, 68 Zuber, R. 210

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