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German Pages 921 Year 2015
Lesen
Lesen Ein interdisziplinäres Handbuch
Hrsg. von Ursula Rautenberg und Ute Schneider
ISBN: 978-3-11-027551-3 e-ISBN (PDF): 978-3-11-027553-7 e-ISBN (ePub): 978-3-11-038128-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Redaktion: Elke Flatau, Lorsch Datenkonvertierung/Satz: Satzstudio Borngräber, Dessau-Roßlau Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany www.degruyter.com
Grußwort Wer kaum lesen kann, hat schlechte Chancen in unserer Gesellschaft, denn Lesen ist ein wichtiger Schlüssel für Bildungsfähigkeit. Eine umfassende Lesekompetenz ist daher eine wesentliche Voraussetzung für die persönliche Entwicklung, den Erfolg im Berufsleben und die Möglichkeit, gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen und mitzugestalten. Allerdings zeigen PISA-Studien und OECD-Berichte seit Jahren in vielen Ländern für die Lesekompetenz von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen große Defizite auf. In Deutschland verfügen 14,5 % der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler nur über eine geringe Lesekompetenz (PISA 2012). Rund 7,5 Millionen Erwachsene sind hierzulande laut »leo. – Level-One Studie« 2011 funktionale Analphabeten. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, alle gesellschaftlichen Kräfte zu mobilisieren, damit jedes Kind und jeder Erwachsene über die notwendige Lese- und Medienkompetenz verfügt und Lesemotivation und Lesefreude entwickelt. Die Stiftung Lesen setzt sich seit fast drei Jahrzehnten mit einer Vielzahl von Partnern dafür ein, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene, z. B. in der Rolle als Eltern, einen Zugang zum Lesen finden und Freude an Lesemedien und ihren Inhalten entwickeln. Programme auf lokaler, regionaler, bundesweiter und internationaler Ebene tragen dazu bei, Deutschland zum Leseland zu machen. Dafür engagieren sich viele Tausend Akteure aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung und allen gesellschaftlich relevanten Bereichen in Netzwerken. Wer das Lesen fördert, benötigt solide Grundlagen: Was bedeutet Lesen und wie vollziehen sich Prozesse des Lesenlernens und der Lesesozialisation? Was geschieht auf neurologischer, kognitiver, emotionaler oder auch interpersonaler Ebene beim und durch das Lesen? Wie haben sich Lesemedien entwickelt, wie verändern sie sich im Zuge der Digitalisierung mit welchen Implikationen für das Leseverhalten? Was motiviert Leser und warum lesen Nichtleser nicht? Solche grundlegenden Fragen hat die Stiftung Lesen bereits 1999 gemeinsam mit der Deutschen Literaturkonferenz aufgegriffen und dazu Erkenntnisse und Perspektiven relevanter wissenschaftlicher Disziplinen in einem Handbuch Lesen gebündelt, das zu einem Standardwerk für wissenschaftlich interessierte und praktisch engagierte Akteure geworden ist. Die völlig neue Ausgabe Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch kommt zum richtigen Zeitpunkt, denn die Lesegegenwart befindet sich in grundlegendem Wandel. Kontroverse und nicht selten kulturpessimistische Diskussionen um die Zukunft des Lesens erfordern eine wissenschaftlich basierte Diskussion und eine Versachlichung der Perspektiven: Dazu bietet das Handbuch die Grundlage. Allen voran gehört die Digitalisierung zu den größten Herausforderungen für das Lesen, die Vermittlung von Lesekompetenz und die Leseförderung – und sie birgt zugleich ein Höchstmaß an Potenzialen. Die Nutzung digitaler Medien ist ohne Lesen nicht denkbar und sie führt faktisch zu einer Erhöhung der Lesezeit – wenn auch auf digitalen Endgeräten zu anderen Zwecken und mit anderen Funktionen gelesen wird als im gedruckten Buch oder der gedruckten Zeitung. Wir tun gut daran, den
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Grußwort
Lesebegriff angesichts der Chancen digitaler Angebote inhaltlich zu erweitern und alle Trägermedien einzuschließen, um leseferne und -ungeübte Personengruppen zu erreichen. Es ist zu hoffen, dass die im vorliegenden Handbuch vorliegenden Ansätze zum digitalen Lesen Impulse für die Praxis und Anstöße zu weiteren interdisziplinären Forschungsvorhaben geben. Ob als Wissenschaftler oder Praktiker in der Vermittlung oder Förderung von Lesekompetenz und Lesemotivation, als Verlags- oder Medienhaus, als Akteur mit politischer, unternehmerischer oder anderer gesellschaftlicher Verantwortung, als Autor oder an den Grundlagen interessierter Leser: Entscheidend ist ein Bewusstsein für die Notwendigkeit und Bedeutsamkeit des Lesens als Bildungsvoraussetzung für jeden Einzelnen und einer kontinuierlichen Förderung aller. Vor dem Hintergrund der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen sind die Verzahnung und Integration der unterschiedlichen Fachdisziplinen untereinander sowie zwischen Forschung und Praxis unabdingbar für einen ungehinderten Wissenstransfer, den Austausch von Expertise und Erfahrung sowie die optimale Nutzung von Synergien. Das neue Handbuch bildet in seiner Neuauflage eine in seiner fachlichen und thematischen Breite gute Grundlage für die weitere Forschung. Mainz, August 2015
Dr. Jörg F. Maas Hauptgeschäftsführer Stiftung Lesen
Vorwort der Herausgeberinnen Lesen ist eine der wichtigsten traditionellen Kulturtechniken und war die wesentliche Voraussetzung für die kulturelle Entwicklung des Menschen und die Formierung von Gesellschaften. In der modernen Informations- und Wissensgesellschaft hat das Lesen einen hohen Stellenwert, gilt Lesekompetenz doch als Schlüssel zu Bildung, Wohlstand und politisch-gesellschaftlicher Teilhabe und Mitsprache. Der Kommunikationswissenschaftler Ulrich Saxer (1931–2012) hat daher – in Anlehnung an den französischen Soziologen Marcel Mauss – pointiert vom ›Lesen als Totalphänomen‹ gesprochen. In der medialen Agenda und damit der Öffentlichkeit, aber auch in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik, hat das Thema in den letzten Jahren nochmals an Bedeutung gewonnen. Angesichts des ›PISA-Schocks‹, 2001 ausgelöst von einer ersten international vergleichenden Leistungsbewertung von Schülern (Programme for International Student Assessment der OECD) mit unterdurchschnittlichen Ergebnissen zur Lesekompetenz deutscher Schüler, aber auch angesichts von ca. 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten im erwerbsfähigen Alter zwischen 18 und 64 Jahren, die die »leo. Level-One Studie« der Universität Hamburg für Deutschland 2011 errechnet hat, ist dies nicht weiter verwunderlich. Hinzu kommt ein Weiteres: die Veränderungen von Lesemedien und Lesekultur durch Digitalmedien. In der Alltagswelt besonders sichtbar wurde das Diskursphänomen ›digitales Lesen‹ durch den Markteintritt der rasch erfolgreichen Lesegeräte, Sony Reader (2008) und Kindle (Amazon, 2009), sowie die Tablets, mit denen das mobile Lesen von E-Books auf dem deutschen Publikumsmarkt Fuß fassen konnte, und weiter mit den sog. Social Media, die über alle Arten von Endgeräten, besonders aber die mobilen, ständige Begleiter vieler meist jüngerer Nutzer sind. Im Rahmen digitaler schriftbasierter Medien wie E-Mails, Weblogs, Wikis und Foren etc. entstehen neue Kommunikationsformen, die Lese- wie Schreibkompetenz erfordern,1 auch wenn im teils kulturpessimistischen medialen Rauschen vor einer Digitalen Demenz – so der Titel eines 2012 erschienenen Buchs des Psychiaters Manfred Spitzer – gewarnt wird.2 Das vorliegende Handbuch versucht dem ›Totalphänomen Lesen‹ aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven gerecht zu werden; es trägt daher den Titel Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Vor mehr als vierzig Jahren (1973) ist unter dem Titel
1 Vgl. den Beitrag 3.3.4 Nutzergenerierte Texte in digitalen Medien in diesem Band. 2 Vgl. Manfred Spitzer: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München 2012; zur Kritik vgl. Kuhn, Axel / Mahling, Marina: Macht digitales Lesen dumm? In: Ursula Rautenberg (Hrsg.): Jahresbericht der Erlanger Buchwissenschaft 2012. Erlangen 2013, S. 34–39. URL: http://www.buchwissenschaft.phil.uni-erlangen.de/uploads/tx_bwe/BuWi_Erlangen_Jahresbericht_2012.pdf [eingesehen am 01.09.2015]. – Zu den Chancen des digitalen Lesens in der Mediengesellschaft vgl. hingegen Kap. 2.1.4 Leseverstehen komplexer Texte in diesem Band, bes. Abschnitt 4.
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Vorwort der Herausgeberinnen
Handbuch Lesen eine erste Ausgabe publiziert worden, die das Phänomen ganz im Sinne sozialgeschichtlicher und kulturpolitischer Strömungen der 1970er Jahre aufgriff. 1999 folgte eine zweite Ausgabe, die angesichts des damals noch recht ungeübten Umgangs mit den gerade aufkommenden neuen Online-Medien noch keine befriedigenden Erkenntnisse zur Basiskompetenz Lesen im neuen Medienzeitalter aufzeigen konnte. Die nun 2015 vorliegende Ausgabe hat weder hinsichtlich der beteiligten Autoren – Ausnahmen sind Heinz Bonfadelli und Ursula Christmann – noch hinsichtlich der Konzeption maßgebliche Schnittstellen zur vorhergehenden, zweiten Ausgabe. Sie bietet einen breiten interdisziplinären, konzeptionellen und thematischen Zugriff auf das komplexe Thema. Vertreten sind die Fachgebiete Neurobiologie, Kognitionspsychologie, Künstliche Intelligenz, Psycholinguistik und Linguistik; Kommunikationswissenschaft, Publizistik und Pädagogik; Buchwissenschaft, Typographie und Bibliothekswissenschaft; Philologie und Literaturwissenschaft, Geschichte und Jura. Die hier publizierten Originalbeiträge wurden von 30 Autoren und Autorinnen für das Handbuch neu verfasst. Diese sind in ihren jeweiligen Fachgebieten ausgewiesene Wissenschaftler, aber auch der jüngere wissenschaftliche Nachwuchs wurde einbezogen. Der Fokus liegt auf dem Lesen im deutschsprachigen Raum: Zu unterschiedlich ist die Ausgangssituation in anderen Sprachen, Ländern und Kontinenten, als dass in einem einbändigen Handbuch das Gesamtphänomen international abgehandelt werden könnte. Es versteht sich allerdings von selbst, dass bei der Auswahl der Forschungsliteratur die jeweils internationale Sicht einbezogen wurde. Lesen und Schreiben gehören unterschiedlichen Forschungstraditionen an und haben getrennte Forschungskonzepte entwickelt. Dem folgt auch die Konzeption dieses Handbuchs, das ›Schreiben‹ nur am Rande berücksichtigt.3 Das Handbuch ist in vier umfangreiche Hauptkapitel untergliedert. Das erste Kapitel Forschungsperspektiven zeigt die wichtigsten Zugriffe über Forschungsfragen, Methoden und Theorien in unterschiedlichen Perspektiven auf. Insgesamt kommen Vertreter aus fünf Disziplinen zu Wort: Kognitive Neurowissenschaften und Kogni tionspsychologie gehen von den hirnphysiologischen Vorgängen beim Lesen und kognitiven Konzepten aus, wie visuelle Informationen und graphische Zeichenfolgen verarbeitet und verstanden werden. Die Künstliche Intelligenz untersucht die Informationsverarbeitung des maschinellen Lesens, unterstützt aber auch Methoden, mit denen menschliche Leseprozesse automatisiert analysiert werden können. Sozialund kommunikationswissenschaftliche Ansätze konzeptionieren ›Lesen‹ im Hinblick auf die Lesegegenstände, aus der Forschungssituation bedingt noch meist das ›Buchlesen‹, und die Funktionen des Lesens für Individuum und Gesellschaft. Die historische Perspektive der ›klassischen‹ Geisteswissenschaften und der Buchwissenschaft
3 Hervorzuheben ist allerdings Kap. 2.1.5, in dem Zusammenhänge zwischen Schreibstrategien und Leseverstehen beleuchtet werden.
Vorwort der Herausgeberinnen
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weitet den Gegenstand in die Geschichte aus und fragt nach den Lesern der Vergangenheit, ihren Leseinteressen, Leseweisen und Lesemodi. Diese einführenden Beiträge haben nicht die Aufgabe eines Forschungsberichts. Die Forschungsergebnisse im Einzelnen werden in den drei folgenden Hauptkapiteln vorgestellt. Das zweite, umfangreiche Hauptkapitel Leseprozess und Lesemedien greift die Forschungsperspektiven aus Kapitel 1 auf und vertieft diese. In drei Unterkapiteln wird das Leseverstehen aus der Perspektive des Individuums untersucht. Am Beginn von Lesen und Verstehen (2.1) werden zunächst aus neurobiologischer Sicht die wichtigsten Prozesse vorgestellt, die beim Lesen und Lesenlernen im Gehirn ablaufen. Dimensionen der Verarbeitung geschriebener Sprache und des Textverstehens bzw. der Textrezeption werden aus linguistischer bzw. psycholinguistischer Sicht beigetragen. Im Folgenden wechselt die Perspektive auf die Textebene mit Beiträgen zum Leseverstehen komplexer Sachtexte, wissenschaftlicher und literarischer Texte sowie den Zusammenhang von Schreibstrategien und Lesen. Der abschließende Beitrag stellt typographische Lesbarkeitskonzepte und Lesearten vor. Die Perspektive ist nun nicht mehr die Sprache-Text-Leser-Beziehung, sondern der gestaltete Text und seine Leseanreize. Damit weist der Artikel voraus auf das folgende Unterkapitel Lesen in unterschiedlichen Lesemedien (2.2), das die wichtigsten Lesemedien von der Antike bis zur Gegenwart beschreibt: die Buchrolle und weitere Lesemedien der Antike wie Wachs- und Bleitäfelchen, Ostraka und Inschriften auf Stein. Das Buch in der Codexform in Mittelalter und Neuzeit, die Handschrift und das gedruckte Buch behandelt das folgende Kapitel; darüber hinaus werden aus der Vielfalt der Schriftmedien einige wenige spezialisierte Formen dieses Zeitraums, wie die mittelalterliche Buchrolle, das Blockbuch und Blindenmedien, vorgestellt sowie einblättrige Medien, besonders Einblatthandschrift und Flugblatt. Zeitung und Zeitschrift sind neben dem Buch wichtige Medien der Frühen Neuzeit und werden in einem eigenen Beitrag behandelt. In die unmittelbare Gegenwart führt das abschließende Kapitel über die digitalen Lesemedien. Leitfrage dieser Beiträge ist durchgängig das Verhältnis von Medientechnik und Materialität der Leseobjekte, ihrer Gestaltung und der Leserezeption.4 Beim Lesen in sozialen Beziehungskonstellationen (2.3) kann analytisch nach zwei Ebenen unterschieden werden, nämlich danach, ob in sozialen Beziehungen Interaktionen von Personen im Vordergrund stehen, bei denen gelesen wird, oder ob das gemeinsame Lesen erst die sozialen Interaktionen bzw. gemeinsames Handeln hervorruft. Lesen ist in verschiedenen sozialen Institutionen ein Ausdruck alltagskulturellen Handelns mit je unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Funktionen. Zu den Institutionen gehören Instanzen der Lesesozialisation wie die Familie, die für den Erwerb der Lesekompetenz hohe Bedeutung hat, oder die Peergroups und soziale
4 Vgl. zur theoretischen Grundlegung Kap. 1.5 Historisch-hermeneutische Ansätze der Lese- und Leserforschung, bes. Abschnitt 3.1 und 3.2 in diesem Band.
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Vorwort der Herausgeberinnen
Netzwerke. Schließlich ist die geschlechtsspezifische Textrezeption ein Produkt der allgemeinen Sozialisation. Die soziale Dimension der Kulturtechnik Lesen geht weit über das Decodieren von Zeichen als Bedeutungsträger hinaus, sie konstituiert soziale Situationen z. B. im Akt des Vorlesens und wird zu einem Integrationsfaktor in sozialen Gemeinschaften. ›Anschlusskommunikation‹ ist in allen Fällen der wichtige soziologische Schlüsselbegriff. Die Gestaltung der Anschlusskommunikation während oder nach dem Leseprozess kann für einen gelungenen Integrationsprozess in soziale Gemeinschaften unterstützend wirken. Dies gilt auch für Migranten, deren Identitätsbezüge sich neben anderen Kommunikationsinstrumenten auch über die von ihnen genutzten Lesemedien konstruieren lassen. Das dritte Hauptkapitel thematisiert die Makro-Ebene der Kulturtechnik Lesen: Die soziale Perspektive betrachtet über die persönlichen Beziehungskonstellationen hinaus die Lenkungsprozesse von Organisationen und Institutionen, die auf Lesen als soziales Handeln in der Gesellschaft einwirken. Dazu gehören die juristischen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, in denen Lesemedien entstehen und verbreitet werden können, angefangen bei der Kodifikation des Urheberrechts, über Zensurmaßnahmen und die Regulierung der Presse bis hin zum gebundenen Ladenpreis für Bücher und einem reduzieren Mehrwertsteuersatz. Die äußeren politischen und juristischen Rahmenbedingungen nehmen somit unmittelbar auf die Bereitstellungsorganisationen der Lesemedien Einfluss. Die Bereitstellungsorganisationen haben daher besondere Aufgaben bei der Entfaltung der Lesekultur einer Gesellschaft. Der herstellende und vertreibende, in der Regel privatwirtschaftlich kommerziell agierende Buchhandel und das öffentliche und wissenschaftliche Bibliothekswesen profitieren einerseits von der Wertschätzung der Kulturtechnik Lesen in der Gesellschaft, sind allerdings andererseits verpflichtet, mit ihren Serviceund Dienstleistungsangeboten selbst eine kultur- und bildungspolitische Aufgabe zu übernehmen. Bildungs- und kulturpolitische Einflussnahmen und Lenkungsprozesse sind zwar historisch wandelbar, aber stets wirkmächtig. Schließlich sind die Institutionen ins Blickfeld gerückt, deren Verdienste in der Lese- und Leserforschung nach 1945 liegen, wie z. B. das Institut für Demoskopie in Allensbach. Ihre Studien und empirischen Erhebungen des Leseverhaltens, der Lesemotivation und Lesefrequenz sind in vielen Fällen Ausgangsbasis für die schulische und außerschulische Förderung der Lesekompetenz geworden. Das vierte und letzte Hauptkapitel Funktionen und Leistungen des Lesens beginnt mit einem Überblick über die Geschichte des Lesers (4.1), in dem Lesestoffe, Lesergruppen und Leserschichten sowie die Diffusion von Lektüre ebenfalls von der Antike bis zur Gegenwart vorgestellt werden. Dieses Unterkapitel bildet das Gegenstück zur Übersicht über die verschiedenen Lesemedien (2.2). Im Unterkapitel 4.2 über Funktionale Differenzierung des Lesens wird deutlich gemacht, dass neben sehr praxisund lebensweltlich orientierten Bedeutungsebenen im Alltag der Lesepraxis weitere Leistungen zugeschrieben werden, die sich sowohl auf kollektive gesellschaftliche Ziele wie sozialpolitische Implikationen als auch auf die individuelle Ausprägung
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der Persönlichkeit beziehen. Die Vermittlung von verbindlichen Normen und Werten einer Gesellschaft durch Lesemedien betrifft alle Mitglieder einer Gesellschaft und ist Teil des allgemeinen Sozialisationsprozesses. Hier berührt die Leserforschung den Bereich der Medienwirkungsforschung. Der Annahme von kollektiven Werten und Zielen einer Gemeinschaft durch Individuen als Resultat von Leseprozessen korrespondiert das individuelle Leseverhalten, das der aktiven Konstruktion der Identität dient. Habituelles Lesen, das soziale Integration oder Desintegration auslösen kann, wird hier aus der Perspektive des symbolischen Interaktionismus diskutiert. Ein Blick auf die Inszenierung von Leseakten im öffentlichen Raum, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als literarische Vermittlungsform fungieren, rundet schließlich die Kategorien der funktionalen Ausdifferenzierung ab. Gezeigt werden die Entwicklungsschritte der öffentlichen Lesung vor dem Hintergrund der technisch-medialen Rahmenbedingungen. Die Herausgabe des neuen Handbuchs wurde den Herausgeberinnen 2011 vom Verlag De Gruyter angetragen. Vom 21. bis 23. Juni 2012 fand an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) am Institut für Buchwissenschaft eine interdis ziplinäre Tagung unter dem Titel Buchkultur(en) im Umbruch statt, ausgerichtet von den Herausgeberinnen und Axel Kuhn (Erlangen). Viele der Beiträgerinnen und Beiträger des vorliegenden Handbuchs referierten und diskutierten das Konzept des Handbuchs. Ursprünglich war der Erscheinungstermin für 2014 geplant. Dieser ließ sich jedoch wegen des Ausfalls einiger weniger Beiträger zu einem recht späten Zeitpunkt nicht einhalten. Unser Dank gilt zuvörderst allen Beiträgerinnen und Beiträgern, die zum Gelingen von Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch beigetragen haben, und besonders denjenigen, die zu einem späten Zeitpunkt noch Artikel übernommen haben, weil diese von den vorgesehenen Autorinnen und Autoren nicht realisiert wurden. Zu besonderem Dank sind wir Ulrich Saxer (Zürich) verpflichtet, dem ›Altmeister‹ der Lese- und Buchforschung, der 2012 leider überraschend starb. Er war an dem anfänglichen Gesprächen über die Konzeption dieses Handbuchs maßgeblich beteiligt. Für ihn ist Heinz Bonfadelli (Zürich) mit Rat und Tat und der Übernahme von Saxer zugedachten Artikeln eingesprungen. Die externe Redaktion hat zuverlässig und mit großer Geduld mit Texten sowie Autoren und Autorinnen Dr. Elke Flatau (Kopfnote. Wissen und Worte im Einklang, Lorsch) übernommen. Dr. Jonathan Green (USA) hat freundlicherweise deutsche Zusammenfassungen ins Englische übersetzt und bereits vorliegende englische Abstracts überprüft. Beiden sei sehr herzlich gedankt. Das Manuskript wurde im Mai 2015 redaktionell abgeschlossen. Alle Autorinnen und Autoren, deren Beiträge zum Teil seit Jahren oder Monaten vorlagen, hatten die Gelegenheit, ihre Artikel zu aktualisieren. Bei Artikeln, die von zwei Autoren oder Autorinnen geschrieben wurden, sind bei alphabetischer Reihe beide zu glei
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chen Teilen beteiligt, bei vom Alphabet abweichender Folge ist der erstgenannte der Hauptautor. In nicht allen Artikeln ist konsequent die geschlechterspezifische Form umgesetzt worden; in diesen Fällen sind selbstverständlich beide Geschlechter einbezogen. Im September 2015 Ursula Rautenberg (Erlangen / Leipzig) und Ute Schneider (Mainz)
Inhaltsübersicht Grußwort (Jörg F. Maas) — V Vorwort der Herausgeberinnen (Ursula Rautenberg / Ute Schneider) — VII
1 Forschungsperspektiven 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Ansätze der Kognitiven Neurowissenschaften (Silvia Brem / Urs Maurer) — 3 Kognitionspsychologische Ansätze (Ursula Christmann) — 21 Informationswissenschaftliche und computerlinguistische Ansätze (Andreas Dengel / Marcus Liwicki) — 47 Sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze (Heinz Bonfadelli) — 63 Historisch-hermeneutische Ansätze der Lese- und Leserforschung (Ursula Rautenberg / Ute Schneider) — 85
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Leseprozess und Lesemedien
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6
Lesen und Verstehen — 115 Lesen als neurobiologischer Prozess (Silvia Brem / Urs Maurer) — 117 Leseverstehen und Sprachverarbeitung (Markus Bader) — 141 Lesen als Sinnkonstruktion (Ursula Christmann) — 169 Leseverstehen komplexer Texte (Werner Graf) — 185 Schreibstrategien und Leseverstehen (Maik Philipp) — 207 Typographische Lesbarkeitskonzepte (Ralf de Jong) — 233
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4
Lesen in unterschiedlichen Lesemedien — 257 Die Buchrolle und weitere Lesemedien in der Antike (Christine Luz) — 259 Das Buch in der Codexform und einblättrige Lesemedien (Ursula Rautenberg) — 279 Zeitung und Zeitschrift (Astrid Blome) — 337 Digitale Lesemedien (Axel Kuhn / Svenja Hagenhoff) — 361
2.3 2.3.1 2.3.2
Lesen in sozialen Beziehungskonstellationen — 381 Lesen und Familie (Bettina Muratović) — 383 Peers und Lesen: Lesesozialisatorische und lesedidaktische Perspektiven (Maik Philipp) — 401 Lesen in digitalen Netzwerken (Axel Kuhn) — 427 Geschlecht und Lesen (Maik Philipp) — 445 Lesen und Migration: Identitätsrelevanz und Funktionen medialer Texte für die Diaspora (Laura Sūna) — 469
2.3.3 2.3.4 2.3.5
3
Institutionen und Organisationen des Lesens
3.1 3.1.1
Politische und rechtliche Rahmenbedingungen — 491 Geschichte staatlich-rechtlicher und politischer Einflussnahmen auf das Lesen (Isabella Löhr) — 493 Staatlich-rechtliche und politische Lenkungsprozesse des Lesens in der Gegenwart (Eva Ellen Wagner) — 509
3.1.2
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Inhaltsübersicht
3.2 3.2.1
Bildungspolitische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen — 529 Entstehung und Entwicklung der modernen Lese- und Leserforschung im 20. Jahrhundert (Heinz Bonfadelli) — 531 Lesen und Schule (Marina Mahling) — 547 Außerschulische Leseförderung (Simone C. Ehmig) — 567
3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4
Bereitstellungsorganisationen des Lesens — 597 Bibliotheken als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre (Konrad Umlauf) — 599 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre (Svenja Hagenhoff) — 623 Literaturvermittlung (Günther Fetzer) — 653 Nutzergenerierte Texte in digitalen Netzwerken (Axel Kuhn / Susanne Kraus) — 679
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Funktionen und Leistungen des Lesens
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5
Geschichte des Lesers — 701 Antike und Spätantike (Benjamin Hartmann) — 703 Mittelalter (Sabine Griese / Nikolaus Henkel) — 719 Frühe Neuzeit (Ute Schneider) — 739 Moderne (Ute Schneider) — 765 Lesen und Medien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Hans-Dieter Kübler) — 793
4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3
Funktionale Differenzierungen des Lesens — 813 Politische Implikationen des Lesens (Heinz Bonfadelli) — 815 Lesen als Identitätskonstruktion und soziale Integration (Axel Kuhn) — 833 Inszenierungen des Lesens: Öffentliche literarische Lesungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (Sandra Rühr) — 853
Personenregister — 883 Sachregister — 889 Herausgeber- und Autorenverzeichnis — 905
1 Forschungsperspektiven
Silvia Brem / Urs Maurer
1.1 Ansätze der Kognitiven Neurowissenschaften Zusammenfassung: Menschen handeln, nachdem sie Information aufgenommen und verarbeitet haben. Diese Verarbeitung von Information wird in der Kognitiven Psychologie mit Experimenten untersucht. Die Kognitiven Neurowissenschaften kombinieren Experimente mit Messungen von Hirnfunktionen. Die am weitesten verbreiteten Methoden zur Hirnfunktionsmessung sind das EEG (Elektroenzephalographie) und die fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie). Diese Me- thoden kommen auch im Bereich der Leseforschung zur Anwendung und werden hier kurz vorgestellt. Abstract: Humans act after having received and processed information from the environment. Research in the field of cognitive psychology investigates how information is processed by conducting experiments. Research in cognitive neuroscience combines this experimental approach with measures of brain function. The two most widely used methods of measuring brain functions are electroencephalography (EEG) and functional magnetic resonance imaging (fMRI). These two methods are also applied in research on reading and are therefore introduced in this chapter.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 3 2 Experimentelle Methoden der Kognitiven Psychologie — 4 3 Neurobiologie der Kognition — 6 3.1 Einführung — 6 3.2 Aufbau des Gehirns — 7 3.3 Funktionelle Kartierung des Gehirns — 8 4 Elektroenzephalographie (EEG) — 10 5 Magnetresonanztomographie (MRT) — 14 5.1 Grundlagen der Magnetresonanztomographie — 14 5.2 Biologie der funktionellen Magnetresonanztomographie — 15 5.3 Netzwerke im Gehirn — 17 6 Diskussion und Ausblick — 18 7 Literatur — 19
1 Einleitung Lesen und Schreiben gehören zu den wichtigsten Kulturtechniken und haben wesentlich zur kulturellen Entwicklung der Menschheit beigetragen. Das Lesen unterliegt deshalb auch starken kulturellen Einflüssen. Das Lesen hat aber auch eine biologische Basis, da das menschliche Gehirn überhaupt in der Lage sein muss, aus dem Geschriebenen den Sinn zu erfassen.
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Silvia Brem / Urs Maurer
Welche neurobiologischen Vorgänge das Lesen ermöglichen, wird unter anderem im Fachgebiet der Kognitiven Neurowissenschaften untersucht.1 Im Gegensatz zu anderen mehr physiologisch orientierten Teilgebieten der Neurowissenschaften befassen sich die Kognitiven Neurowissenschaften mit den neurobiologischen Grundlagen der Kognition, oder mit anderen Worten, mit der Informationsverarbeitung eines Organismus (vgl. Gazzaniga u. a. 2009; Rösler 2011). Entsprechend setzt sich auch dieses Kapitel aus zwei Hauptteilen zusammen: In einem ersten Teil wird der experimentelle Ansatz der Kognitiven Psychologie eingeführt,2 der zweite Teil widmet sich der Vorstellung der beiden geläufigsten bildgebenden Methoden der Kognitiven Neurowissenschaften im Zusammenhang mit einigen neurobiologischen Grundlagen.
2 Experimentelle Methoden der Kognitiven Psychologie Das Fachgebiet der Psychologie hat sich im 19. Jahrhundert sowohl aus den Geisteswissenschaften als auch Naturwissenschaften heraus entwickelt und sich im Laufe der Zeit mehrfach gewandelt (vgl. Lück 2009). Ganz in der Tradition der Philosophie war die Psychologie anfänglich stark durch die Innenschau, die Introspektion, geprägt, was dieser Richtung auch den etwas spöttischen Namen ›Lehnstuhlpsychologie‹ eingetragen hat (vgl. Anderson 2007). Unter dem Eindruck der enormen Fortschritte in den Naturwissenschaften am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die introspektive Methode als unbefriedigend empfunden. Die Innenschau hängt naturgemäß vom Betrachter ab und ist deshalb nicht objektivierbar. Eine wissenschaftliche Theorie sollte aber empirisch überprüfbar sein, damit sie verworfen oder angepasst werden kann. Nur so ist wissenschaftlicher Fortschritt überhaupt möglich (vgl. Popper 1994). Als Folge dieser Kritik wurde in den 1920er Jahren der sog. Behaviorismus die dominante Richtung in der Psychologie. Der Behaviorismus betrachtet das Innenleben eines Menschen oder eines Tiers, als ›black box‹, als schwarze Box, zu deren Funktionieren keine gültigen Aussagen gemacht werden können (siehe Abb. 1: Spalte 2). Wissenschaftlich zugänglich ist nur, was auch beobachtbar ist. Dies sind Ereignisse
1 Die wichtigsten Grundlagen und Methoden dieser Disziplin werden in diesem Kapitel vorgestellt, die Ergebnisse aus den Kognitiven Neurowissenschaften zum Lesen in Kap. 2.1.1 Lesen als neurobiologischer Prozess in diesem Band beschrieben. Das methodische Wissen aus dem vorliegenden Kapitel soll helfen, diese Ergebnisse besser verstehen und einordnen zu können. 2 Vgl. auch Kap. 1.2 Kognitionspsychologische Ansätze in diesem Band.
1.1 Ansätze der Kognitiven Neurowissenschaften
Kognitive Neurowissenschaften
Kognitive Psychologie
Behaviorismus
Reiz (Experiment) Banane Esel
Verarbeitungsprozesse
Verhaltensantwort
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Statistik %
100
50
Banane Esel
%
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Banane Esel
%
100
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Abb. 1: Behaviorismus, Kognitive Psychologie und Kognitive Neurowissenschaften. Alle drei Methoden verwenden Experimente (1. Spalte), um Verhaltensantworten (3. Spalte) zu erheben, die sie statistisch auswerten (4. Spalte). Während beim Behaviorismus Vorgänge im Organismus nicht von Interesse sind (›black box‹, 2. Spalte), versucht die Kognitive Psychologie, diese Vorgänge mittels komplexer Experimente zu untersuchen. Die Kognitiven Neurowissenschaften messen und analysieren zusätzlich noch Hirnfunktionen und versuchen, diese mit den Kognitiven Prozessen zu verbinden.
in der Umwelt, die als Reize (Stimuli) bezeichnet werden, und das Antwortverhalten (›response‹), welches sich messen lässt. Unter der Einbeziehung von Lernprinzipien der positiven und negativen Verstärkung konnte der Behaviorismus erfolgreich erklären, wie einfache Verhaltensweisen entstehen. Diese Lernprinzipien kommen auch heute noch in der Tierdressur oder in der Behandlung von gewissen psychischen Störungen, wie etwa bei Phobien, häufig zur Anwendung. Für komplexere Verhaltensformen, wie z. B. für das Erlernen von Sprache, waren diese Modelle aber unzureichend, weshalb sich ab den 1950er Jahren zunehmend die Kognitive Psychologie als dominierende Richtung der Psychologie etablierte. In der Kognitiven Psychologie wird angenommen, dass ein Reiz zuerst innerhalb des
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Silvia Brem / Urs Maurer
Organismus verarbeitet wird, bevor eine Reaktion oder eine Handlung zu beobachten ist. In Anlehnung an die Computerwissenschaften kann man auch sagen, dass das Gehirn Information verarbeitet. Zu dieser Verarbeitung gehören die Wahrnehmung und das Speichern von Information sowie das Erinnern, die Entscheidungsfindung und die Planung von Handlungen. Bevor eine Verhaltensantwort auftritt, kann eine ganze Kette von parallelen und seriellen Verarbeitungsschritten stattfinden. In der Kognitiven Psychologie werden für diese Prozesse Modelle angenommen, die empirisch zu überprüfen sind. Da sich diese Prozesse aber nicht direkt beobachten lassen, versucht man Experimente zu entwickeln, die diese Prozesse isolieren. Durch Messen der Reaktionszeit und der Antwortgenauigkeit können die isolierten Prozesse der Prüfung unterzogen werden. Ein typisches Experiment enthält demnach zwei oder mehr Bedingungen, die sich idealerweise in jeweils einem einzigen Merk mal unterscheiden. Bei der Erforschung des Lesens kann z. B. die Verarbeitung von Wörtern mit der Verarbeitung von Symbolreihen verglichen werden (siehe Abb. 1: Spalte 2). Dabei sollen alle anderen Merkmale dieser Bedingungen möglichst ähnlich sein, wie etwa die Anzahl der Buchstaben bzw. Symbole oder die Schriftgröße. Findet man dann Unterschiede in der Reaktionszeit oder in der Genauigkeit, so schließt man daraus, dass dieses unterscheidende Merkmal die Verarbeitung beeinflusst. In einem ähnlichen Experiment mit Wörtern und einzelnen Buchstaben ergibt sich z. B., dass Versuchspersonen einen bestimmten Buchstaben besser erkennen, wenn er innerhalb eines Worts präsentiert wird, als wenn er isoliert erscheint (vgl. Reicher 1969). Dieser ›word superiority effect‹ bedeutet, dass Menschen beim Lesen nicht nur einzelne Buchstaben wahrnehmen, sondern sich Buchstaben in der Wahrnehmung zu Wortbildern zusammenfügen. Wie ausgeführt, war die Entstehung der Kognitiven Psychologie eine Antwort auf Grenzen des Behaviorismus. Dass kognitive Prozesse nicht direkt beobachtbar sind, ist aber auch in der Kognitiven Psychologie der Fall. Dies stellt dann ein Problem dar, wenn sich gewisse kognitive Prozesse allein durch Unterschiede in Reaktionszeit oder Genauigkeit der Verhaltensantwort nicht auseinanderhalten lassen. Eine Kombination experimenteller Methoden und der Messung von Hirnfunktionen hat deshalb das Potenzial, hier weitere Klärung zu bringen.
3 Neurobiologie der Kognition 3.1 Einführung Das Gehirn ist die zentrale Steuereinheit unseres Verhaltens. Einfache und komplexe Verhaltensweisen, wie z. B. Laufen, Denken, Sprechen, Lesen, Erinnern und Emotionen, werden letztlich durch die koordinierte Aktivität einer großen Anzahl Nervenzellen bestimmt und ermöglicht. Wie das Nervensystem aufgebaut ist und auf molekula
1.1 Ansätze der Kognitiven Neurowissenschaften
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rer, zellulärer und systemischer Ebene funktioniert, erforscht die Neurobiologie. Die Kognitiven Neurowissenschaften ergründen dagegen die neuronalen Mechanismen und erarbeiten neurobiologische Modelle, die unserer Kognition zugrunde liegen. Wie wir im vorherigen Abschnitt gesehen haben, sind kognitive Funktionen mentale Prozesse, die uns helfen, unser Verhalten zu steuern. Durch die Kombination der neurobiologischen Forschung und den experimentellen Methoden der Kognitiven Psychologie werden kognitive Modelle verbessert, um auch individuelle Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten der Menschen während der Entwicklung oder bei Krankheiten und Störungen besser zu verstehen: »Die größte Herausforderung der Neurowissenschaften besteht darin, zu verstehen, wie das Gehirn die bemerkenswerte Individualität hervorbringt, die für menschliches Verhalten typisch ist« (Kandel u. a. 1995, S. 3).
3.2 Aufbau des Gehirns Das menschliche Gehirn hat sich über Jahrmillionen entwickelt und ist einzigartig in Komplexität und Funktion. Geschätzte 100 Milliarden (vgl. Kandel u. a. 1995) Nervenzellen (Neuronen) und ein Vielfaches von Verbindungen sorgen dafür, dass Sinneseindrücke verarbeitet und komplexe Handlungen ausgeführt werden können. Die Neuronen können als »Signalübertragungseinheiten der Verhaltensreaktion« (Kandel u. a. 1995, S. 28) bezeichnet werden, die Informationen erhalten, integrieren und über ihre Fortsätze weiterleiten. Sie bestehen in der Regel aus einem Zellkörper mit vielen kurzen (Dendriten) und normalerweise einem langen Fortsatz (Axon). Die Dendriten nehmen Signale von anderen Zellen auf, während das Axon Signale zu benachbarten oder auch entfernten Zellen weiterleitet. Dadurch kommunizieren Neuronen untereinander und bilden komplexe, ausgedehnte funktionelle Netzwerke. Die meisten Nervenzellkörper befinden sich in Schichten an der Oberfläche des Gehirns, in der Hirnrinde (Kortex) des Groß- und Kleinhirns, oder sammeln sich in klar abgegrenzten Kernen weiter in der Tiefe. Aufgrund der Graufärbung bei Präparaten spricht man auch von der ›grauen Substanz‹. Die Nervenfasern (Axone), die auf Präparaten weiß erscheinen und das gesamte Gehirn durchspannen, bilden das Mark bzw. die ›Weiße Substanz‹. An den Kontaktstellen der Neuronen, den sog. Synapsen, werden Signale meist durch chemische Botenstoffe weitergegeben. Gliazellen unterstützen die Neuronen bei ihrer Arbeit. Während man ursprünglich der Meinung war, dass die Gliazellen vor allem als ›Leim‹ oder Stützgerüst für die Neuronen agieren, weiß man heute, dass Gliazellen eine Vielzahl von weiteren Aufgaben haben. Unterschiedliche Gliazelltypen garantieren den Neuronen ein optimales Milieu, indem sie Stoffwechsel (Nährstoffe und Botenstoffe) und Transportprozesse regulieren sowie Nervenfasern isolieren und dadurch bei der Weiterleitung und Verarbeitung von Reizen mitwirken. Schädelknochen, Hirnhäute und Zerebrospinalflüssigkeit umgeben das Gehirn und dienen unter anderem als Schutz vor mechanischer Beschädigung. Ein dichtes
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und fein verästeltes Netzwerk von Blutgefäßen sorgt dafür, dass das Gehirn ausreichend mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt wird. Vereinfacht kann das Gehirn in die vier Bereiche Hirnstamm, Kleinhirn (lat. cerebellum), Zwischenhirn und Großhirn (lat. ›cerebrum‹) unterteilt werden. Letzteres ist von besonderer Bedeutung für höhere kognitive Funktionen wie das Lesen. Aufbau und Funktion des Großhirns werden später in diesem Kapitel detaillierter beschrieben. Die Funktionen der anderen Bereiche seien hier kurz erwähnt: Die verschiedenen Strukturen des Hirnstamms und des Zwischenhirns sind vor allem für unbewusste Funktionen wichtig. Dazu gehören lebenswichtige Funktionen, wie z. B. Atmung, Verdauung, Herzschlag, Reflexe (z. B. Schluck- und Niesreflex) sowie SchlafWachrhythmus, Wachheit und Temperaturregulation. Das Kleinhirn ist mitunter beim Erlernen von Bewegungen von Bedeutung. Das Zwischenhirn schlussendlich beherbergt einige Kerne, welche durch die Produktion von Hormonen die Funktionen des vegetativen Nervensystems und damit lebenswichtige Funktionen steuern. Speziell erwähnt werden soll der Thalamus, der als Schaltstelle für die Weiterleitung von sensorischer und motorischer Information an die Großhirnrinde dient und als Filter in kognitiven Netzwerken kritisch involviert ist. Für weitergehende Informationen wird auf die Lektüre der einschlägigen Literatur verwiesen (vgl. Purves u. a. 2013; Gazzaniga u. a. 2009). Das Großhirn steuert höhere kognitive Funktionen wie Denken, Handeln, Assoziieren, Emotionsverarbeitung, soziales Verhalten, aber auch die Verarbeitung von Sprache und Schrift. Es ist in zwei Hälften (Hemisphären) geteilt, die durch Querbahnen von Fasersträngen, wie z. B. dem Balken, verbunden sind. Die Großhirnrinde zeichnet sich durch Furchen (lat. ›sulci‹), Spalten (lat. ›fissurae‹) und Windungen (lat. ›gyri‹) aus, welche der Oberflächenvergrößerung dienen. Aufgrund der charakteristischen Spalten und Furchen wird die Großhirnrinde in vier Lappen unterteilt (siehe Abb. 3: E). Die Zentralfurche trennt den Frontallappen (Stirnlappen) vom angrenzenden Parietallappen (Scheitellappen), während die Sylvische Fissur den Temporallappen (Schläfenlappen) vom Parietallappen und Frontallappen abgrenzt. Der Okzipitallappen (Hinterhauptslappen) deckt den posterioren Teil der Gehirns ab und grenzt an den Temporal- und den Parietallappen. Weiter zählen zum Großhirn auch einige tiefer liegende Strukturen und Kerne wie das limbische System, die Insel und die Basalganglien.
3.3 Funktionelle Kartierung des Gehirns Schon Ende des 18. Jahrhunderts gab es erste Versuche, bestimmte geistige Fähigkeiten und Charaktereigenschaften einzelnen Regionen des Gehirns zuzuordnen. Der Neuroanatom Franz Joseph Gall begründete die Lehre der Phrenologie, in welcher er einen Zusammenhang zwischen der Schädelform und der Persönlichkeit eines Menschen herstellte (vgl. Purves u. a. 2013). Dieser aus heutiger Sicht etwas kurios
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anmutende Versuch wurde allerdings einige Jahrzehnte später durch die Äquipotenzialtheorie abgelöst, wonach das gesamte Gehirn gleichermaßen für geistige Fähigkeiten zuständig ist. Ende des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts fand aber die funktionelle Gliederung des Gehirns wieder Akzeptanz, unter anderem durch die Befunde des Arztes Paul Broca, der bei einem seiner Patienten eine Läsion in einem klar abgegrenzten Bereich des linken, inferioren Frontallappens mit einer Störung des Sprechens, aber nicht des Sprachverständnisses, in Verbindung brachte. Dieses Areal wird noch heute als ›Broca-Areal‹ bezeichnet und gilt als motorisches Sprachzentrum. Etwas später beschrieb der Neurologe und Psychiater Carl Wernicke ein Areal im linken, posterioren, dorsalen Temporallappen, welches bei einer Läsion das Sprachverständnis beeinträchtigt (vgl. Kandel u. a. 1995). Auch dieses Areal trägt noch heute oft die Bezeichnung ›Wernicke-Areal‹ und ist eine Schlüsselregion in der Sprachverarbeitung. Weitere Befunde zugunsten der Lokalisationstheorie wurden in der Folge durch Tierversuche oder Beobachtungen bei Patienten mit Hirnverletzung untermauert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erarbeitete der Anatom Korbinian Brodmann eine Kartierung der Funktionen der Großhirnrinde (vgl. Brodmann 1909). Dabei stützte er sich auf Unterschiede in der Form und Anordnung der Zellen in den verschiedenen Schichten der Großhirnrinde. Der ›Brodmann-Atlas‹ zählte insgesamt 52 Areale. Heutige Erkenntnisse mit modernen bildgebenden Methoden, wie z. B. der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT), weisen darauf hin, dass auch die ›Brodmann-Felder‹ nur begrenzt spezifischen Funktionen zugeteilt werden können. Dennoch wird eine etwas verfeinerte Nummerierung der ursprünglichen Felder auch in der heutigen Literatur noch häufig benutzt. Einige Hauptfunktionen der wichtigsten Großhirnbereiche seien nachfolgend kurz zusammengefasst. Der Frontallappen gilt als Zentrum für höhere kognitive Funktionen wie die Planung von Handlungen und Handlungskontrolle. An der Grenze zum Parietallappen befinden sich die motorischen Zentren zur Auswahl und Steuerung von Bewegungen. Empfindungen wie Berührung, Druck, Schmerz, Temperatur und Lage werden im angrenzenden somatosensorischen Kortex des Parietallappens verarbeitet. Im Weiteren ist der Parietallappen aber auch beim räumlichen Denken, Rechnen und Lesen involviert. Der Temporallappen beherbergt das Hörzentrum und ist zentral für die Erkennung von auditorischen und visuellen Reizen (z. B. Gesichtern). Der Okzipitallappen schließlich verarbeitet hauptsächlich die von den Augen zum Sehzentrum geleitete visuelle Information. Für Emotionen, Gedächtnis und Motivation ist vor allem das limbische System zuständig, während die Basalganglien an der Koordination und Auswahl komplexer motorischer und kognitiver Funktionen beteiligt sind. Die Insel verarbeitet Geschmack, ist in die Wahrnehmung der inneren Organe (z. B. Hunger und Durst) und empathischen Fähigkeiten involviert und beeinflusst ebenso Homöostase und Emotionen. Durch die Erkenntnis, dass insbesondere höhere kognitive Funktionen nicht durch eine einzige Region, sondern durch ein Zusammenspiel verschiedener Hirnregionen in sog. Netzwerken ermöglicht werden, ist die funktionelle Kartierung des Gehirns (›brain mapping‹) nicht mehr das
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Hauptziel der Kognitiven Neurowissenschaften. Das Augenmerk liegt heute vermehrt darauf, diese Netzwerkorganisation besser zu verstehen. Netzwerke entstehen im Laufe der Hirnreifung und durch Erfahrungen mit der Umwelt. Insbesondere Lernprozesse formen diese Netzwerke ein Leben lang, die sich stetig dem Verhalten und den Bedürfnissen anpassen. Die Methoden, die in den Kognitiven Neurowissenschaften angewendet werden, sind vielfältig. Einerseits wird das Hirn studiert, wenn bestimmte Funktionen gestört sind. Dazu gehören Studien von Patienten mit klinischen Läsionen (z. B. nach Hirnschlag), Tierversuche mit induzierten Läsionen, aber auch Methoden, welche durch Pharmazeutika oder durch elektrische (Transkranielle Gleichstromstimulation – TDCS) bzw. magnetische (Transkranielle Magnetstimulation – TMS) Impulse eine kurzzeitige Störung der Hirnfunktionen erlauben (vgl. Purves u. a. 2013). Andererseits kommen Methoden zum Einsatz, mit denen die Hirnaktivität bei der Bearbeitung kognitiver Aufgaben verfolgt werden kann. Beispiele dafür sind die Elektroenzephalographie (EEG), die Magnetenzephalographie (MEG), die Positronenemissionstomographie (PET), die Nahinfrarotspektroskopie (NIRS) und die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Um die Ergebnisse von bildgebenden Studien besser verstehen und einordnen zu können, sind nachfolgend kurze Einführungen zu den beiden am häufigsten verwendeten bildgebenden Verfahren gegeben.
4 Elektroenzephalographie (EEG) Während das Gehirn arbeitet, erzeugt es elektrische Aktivität. Ein Teil dieser Aktivität ist auf der Kopfhaut messbar. Setzt man zwei Elektroden auf die Kopfoberfläche, so wird ein elektrisches Spannungspotenzial abgeleitet, das sich über die Zeit rasch verändert. Dieses Potenzial ist äußerst klein und muss mit hochentwickelten technischen Geräten für die Aufzeichnung verstärkt werden. Die Aufzeichnung dieses Potenzials wird Elektroenzephalographie (EEG), genannt und digital gespeichert. Schon der Entdecker des EEG beim Menschen, Hans Berger, hatte in den 1920er Jahren beobachtet, dass sich das EEG je nach mentalem Zustand der untersuchten Person verändert (vgl. Berger 1929). Wie wir weiter unten sehen werden, ergibt sich durch diese funktionsabhängige Veränderung die Möglichkeit, in Kombination mit den experimentellen Methoden der Kognitiven Psychologie die Arbeitsweise des Gehirns genauer zu untersuchen. Das elektrische Potenzial auf der Kopfoberfläche wird im Gehirn erzeugt, wenn Nervenzellen miteinander kommunizieren. Diese Kommunikation erfolgt durch verschiedene elektrochemische Prozesse. Nicht alle diese Vorgänge tragen aber zum EEG bei, sondern hauptsächlich die sog. postsynaptischen Potenziale. Diese treten auf, wenn eine Nervenzelle (Neuron) mittels Botenstoffen (Transmitter) Information an eine andere Nervenzelle weitergibt. Bei länglichen Neuronen wie den Pyramidenzel
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len entsteht dabei eine Polarisation im extrazellulären Raum. Damit sich diese Polarisation bis zur Kopfoberfläche fortpflanzen und dort gemessen werden kann, müssen die lokalen Potenziale groß genug sein. Das ist der Fall, wenn nicht nur einzelne Neurone, sondern viele Neurone polarisiert, diese Neurone gleich orientiert und zeitgleich aktiv sind (vgl. Michel u. a. 2009). Das auf der Kopfoberfläche gemessene, kontinuierliche EEG zeigt schnellere und langsamere Schwingungen über die Zeit. Diese Wellen können in verschiedene Frequenzen unterteilt werden, die wiederum zu sog. Frequenzbändern gehören. Je nach mentalem Zustand treten bestimmte Frequenzbänder gehäuft auf. So ist z. B. der entspannte Ruhezustand mit geschlossenen Augen meist von Alphawellen (8–12 Hz) dominiert. An die Stelle von Alphawellen treten schnellere Wellen, sobald die Augen geöffnet werden. Die Zusammensetzung der verschiedenen Frequenzanteile (›Frequenzspektrum‹) ist nicht nur vom Zustand, sondern auch vom Alter abhängig und kann bei bestimmten Krankheiten vom Normalzustand abweichen. Die Amplituden des EEG befinden sich im Mikrovolt-Bereich (meist ca. 10–50 Mikrovolt, selten über 80 Mikrovolt). Zusätzlich zur Hirnaktivität zeigen sich im EEG aber auch Artefakte, die beispielsweise auf Blinzeln, Muskelanspannungen oder Bewegungen zurückzuführen sind. Zudem können sich auch technische Einflüsse wie Einstreuungen vom Stromnetz als Artefakte abzeichnen. Um solche Artefakte möglichst schon bei der EEG Messung zu minimieren, werden die Aufnahmen oft in abgeschirmten EEG-Messkabinen durchgeführt. Aber auch nachträglich kann durch entsprechende Datenaufbereitung ein Großteil der Artefakte eliminiert werden, etwa durch die Anwendung von bestimmten Filtern oder durch das Ausschließen von artefaktbehafteten EEGStücken. Wenn Artefakte erfolgreich reduziert wurden, zeigt das EEG die Tätigkeit des Gehirns, genauer gesagt, des gesamten Gehirns. Das EEG spiegelt deshalb viele verschiedene Prozesse wider, die gleichzeitig im Gehirn ablaufen. Dementsprechend ist die Interpretation der Daten oft schwierig. Sie wird vereinfacht, wenn man berücksichtigt, in welchem Umfeld die Hirnaktivität stattfindet. Das Umfeld kann man gezielt in einem Experiment manipulieren, indem man beispielsweise verschiedene Arten von Reizen präsentiert, wodurch verschiedene experimentelle Bedingungen entstehen. Wenn man nun viele Reize, z. B. Wörter, präsentiert und den Zeitpunkt der Präsentation im EEG zeitlich markiert, kann man nachträglich die durchschnittliche Antwort des Gehirns auf diesen Reiztyp berechnen (siehe Abb. 2). Dazu schneidet man sozusagen das kontinuierliche EEG, das mehrere Minuten lang sein kann, um die Markierung der Reizpräsentation herum in kleine Stücke (z. B. 1 s). Der Zeitpunkt der Präsentation wird als Nullpunkt definiert, auf den sich die nachfolgende Verarbeitung bezieht. Hat man eine große Anzahl solcher Stücke (z. B. von 60 Wortpräsentationen), wird die Mittelung der Aktivität im EEG in einen festen zeitlichen Bezug zum präsentierten Reiz gesetzt. Das gemittelte EEG wird als ereignis-korreliertes Potenzial (›event-related Potential‹, ERP) bezeichnet. Es zeigt die Verarbeitung eines Reizes im Gehirn mit millise
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Abb. 2: Ereigniskorrelierte Potenziale des EEG Jedesmal, wenn ein Wort präsentiert wird, reagiert das EEG. Nachträglich werden bei einer Versuchsperson die EEG-Stücke mit einer Markierung gemittelt (im Beispiel 55 Stücke), was ein ereigniskorreliertes Potenzial (›event-related potential‹, ERP) als Antwort auf Wörter ergibt (linke Seite unten). Ein ERP kann an einer Elektrode (hier links occipito-temporal) über einen Zeitbereich (hier 1 Sekunde) oder als topographische Karte zu einem bestimmten Zeitpunkt (hier P1-, N1-, P2-Komponenten) dargestellt werden. Für Illustrationen werden in der Regel die ERPs von mehreren Versuchspersonen gemittelt (rechte Seite), da die statistische Auswertung auf Gruppenebene erfolgt.
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kundengenauer Auflösung. Ein ERP kann in Wellenform aus positiven und negativen Gipfeln dargestellt werden, die aufeinanderfolgen. Diese Gipfel, auch Komponenten genannt, verdeutlichen eine bestimmte Funktion, wie z. B. visuelle P1: Verarbeitung basaler visueller Reizeigenschaften wie etwa visueller Kontrast oder visuelle N1: Verarbeitung von vertrauten Mustern wie etwa Schrift. Moderne EEG Systeme verwenden meist eine Vielzahl von Elektroden (bis 128 oder gar 256 Stück). Diese Elektroden werden gleichmäßig über die Kopfhaut verteilt und erlauben eine kontinuierliche Messung der elektrischen Potenzialverteilung über die Zeit. Diese Art von Daten kann als Abfolge von Karten dargestellt werden, in denen Gradientenlinien (Höhenlinien) – ähnlich wie in Landkarten – die Topographie anzeigen (siehe Abb. 2). Da die Topographie einer Karte direkt von der Quelle der Aktivität im Gehirn abhängt, ist der topographische Ansatz sehr geeignet, um die große Datenmenge für die Analyse auf biologisch sinnvolle Weise zusammenzufassen. Die Stärke des EEG und somit auch die der ERPs liegt aber in der hervorragenden zeitlichen Auflösung (normalerweise 1–4 ms). Die räumliche Auflösung ist dagegen eher gering, da die elektrischen Potenziale nur auf der Kopfoberfläche gemessen werden. Auch wenn es manchmal genügt, zu erfahren, in welchem Zeitbereich verschiedene Reize zum ersten Mal unterschiedlich verarbeitet werden, interessiert oft auch, wo diese Verarbeitung stattfindet. Mittels mathematischer Einschränkungen (z. B. die Anzahl der vermuteten Quellen), kann die Quelle der Hirnaktivität geschätzt werden, die einer gemessenen Topographie zugrunde liegt. Die Güte dieser Schätzung hängt aber maßgeblich davon ab, ob die getroffenen Annahmen und Einschränkungen in den Modellrechnungen auch wirklich stimmen, was man selten mit Sicherheit weiß. Die Quellenlokalisationen von EEG oder ERP Daten sind deshalb mit entsprechender Vorsicht zu behandeln und zu interpretieren. Es soll noch erwähnt werden, dass EEG-Daten häufig nicht nur zur Berechnung von ereigniskorrelierten Potenzialen verwendet, sondern oft auch die Frequenzanteile des EEG analysiert und zwischen verschiedenen Bedingungen oder verschiedenen Gruppen verglichen werden. Als besonders aufschlussreich gelten hier die Zeit-Frequenz-Analysen, da sie erlauben, die verschiedenen Frequenzspektren mit der zeitlichen Verarbeitung eines Reizes in Verbindung zu setzen. Interessant sind auch Methoden, die überprüfen, wie stark zwei gemessene Signale zusammenhängen. Damit sind Aussagen über ähnliche Aktivierungsmuster in zwei Hirnregionen möglich. Jedoch bleiben diese wegen der schlechten räumlichen Auflösung des EEG unsicher. Auch wenn EEG-Daten noch auf weitere Arten analysiert werden können, ist die ERP-Technik wegen der hohen zeitlichen Auflösung und der Einfachheit des zugrunde liegenden mathematischen Prinzips der Mittelung zu einer der am weitesten verbreiteten Methoden in den Kognitiven Neurowissenschaften geworden.
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5 Magnetresonanztomographie (MRT) Im Unterschied zum EEG ist die Magnetresonanztomographie (MRT) eine relativ neue Methode. Zwar wurden die physikalischen Grundlagen der Technologie bereits im Jahre 1945 durch die beiden Physiker Felix Bloch und Edward M. Purcell unabhängig voneinander entdeckt, doch dauerte es noch drei Jahrzehnte, bis die neue Technik durch Weiterentwicklungen für medizinische Zwecke einsatzfähig wurde. Die MRT, oft auch Kernspintomographie (engl. ›Magnetic Resonance Imaging‹ – MRI oder ›Nuclear Magnetic Resonance‹ – NMR) genannt, erlaubt einen detaillierten und hochaufgelösten Einblick in die Struktur von Organen, beispielsweise des Gehirns. Als äußerst vielseitige, nicht-invasive und schmerzfreie Bildgebungsmethode kann sie vom Säugling bis zum betagten Menschen, beim Gesunden und Kranken eingesetzt werden. Aus diesen Gründen nimmt diese Methode sowohl im klinischen Alltag wie auch in der Forschung eine zentrale Rolle ein. Für die Kognitiven Neurowissenschaften ist die MRT besonders wertvoll, weil nicht nur statische Bilder von der Gehirnanatomie, sondern auch dynamische Bilder der Hirnfunktion und von Stoffwechselvorgängen gemacht werden können.
5.1 Grundlagen der Magnetresonanztomographie Die MRT nutzt die magnetischen Eigenschaften von Teilchen (vorwiegend die Kerne der Wasserstoffatome) in Geweben und Körperflüssigkeiten, um Schichtbilder zu erzeugen. Im Gegensatz zur Computertomographie (CT) und Positronenemissionstomographie (PET) werden zur Bilderzeugung weder Röntgenstrahlung noch radioaktive Sonden verwendet. Ein starkes Magnetfeld (z. B. 3 Tesla [T], ca. 60.000mal stärker als das Erdmagnetfeld [~0,00005 T]; vgl. Huettel u. a. 2004), ein Sender und ein Empfänger für Energiepulse im Radiofrequenzbereich erlauben die Aufnahme von Bildern. Das starke Magnetfeld bewirkt, dass sich bestimmte Atomkerne entlang dem Magnetfeld ausrichten. Die hochfrequenten Pulse (magnetische Wechselfelder im Radiofrequenzbereich) veranlassen diejenigen Atomkerne, die resonant (im Gleichtakt) zum Puls schwingen, durch die kurzzeitige Aufnahme von Energie in einen energiereicheren Zustand zu kippen. Sobald der Puls endet, nehmen die Atomkerne den Ursprungszustand wieder ein und geben dabei wieder Energie ab, die von einem Empfänger detektiert wird. Je nach Gewebe, in dem sich die Atomkerne befinden, wird der Ursprungszustand unterschiedlich schnell wieder eingenommen. Dadurch variiert das gemessene MRSignal. Der Computer stellt die gemessenen MR-Signale als Grauwertbilder dar. Die in der klinischen Routine üblicherweise verwendeten MRT-Geräte (1,5 T bis 3 T) erreichen eine Auflösung von unter einem Millimeter. Anatomische MRT-Aufnahmen liefern einen detaillierten Einblick in die Struktur von Organen. So können die unterschiedlichen Gewebe im Gehirn wie die ›weiße Sub
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stanz‹, die ›graue Substanz‹ und die Zerebrospinalflüssigkeit im Detail unterschieden und quantifiziert werden. Das MRT erlaubt aber auch eine hochaufgelöste Darstellung der Blutgefäße (›MR-Angiographie‹), der Faserbündel (›Diffusionsgewichtete MR‹) oder eine Quantifizierung von wichtigen Stoffwechselprodukten in verschiedenen Hirnregionen (›MR-Spektroskopie‹).
5.2 Biologie der funktionellen Magnetresonanztomographie Eine der wichtigsten Anwendungen der MRT im Bereich der Kognitiven Neurowissenschaften ist allerdings die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Diese Methode gewährt Einblicke in die Aktivität des Gehirns, während bestimmte Aufgaben ausgeführt oder Zustände (z. B. Ruhezustand) eingenommen werden. Der fMRT liegen hauptsächlich zwei Prinzipien zugrunde. Erstens benötigen Hirnbereiche, in denen Neuronen aktiv sind, mehr Sauerstoff als Hirnbereiche, in denen diese nicht aktiv sind. Aktiven Hirnbereichen wird deshalb mehr sauerstoffreiches Blut zugeführt, wodurch lokal der Blutfluss und das Blutvolumen zunehmen. Zweitens, besitzen sauerstoffreiches (oxygeniertes) und sauerstoffarmes (deoxygeniertes) Blut unterschiedliche magnetische Eigenschaften. Ändert sich der Sauerstoffgehalt und folglich die Magnetisierung des Bluts in bestimmten Regionen, ändert sich auch das gemessene MR-Signal: Eine Überversorgung mit Sauerstoff in aktiven Regionen führt dazu, dass das Verhältnis von oxygeniertem zu deoxygeniertem Hämoglobin zunimmt und ein stärkeres MR-Signal beobachtet wird als in inaktiven Regionen. Dieser Effekt wird auch als BOLD (›blood oxygenation level-dependent‹)Signal bezeichnet. Das BOLD-Signal widerspiegelt immer eine Veränderung und ist deshalb ›nur‹ ein relatives Signal. Grauwertbilder stellen die Signale für jeden gemessenen Bildpunkt (Voxel) im Gehirn dar. Die Abbildung 3 zeigt schematisch, wie die Hirnaktivität bei einer Aufgabe mittels fMRT detektiert werden kann. Ein geeignetes Experiment wird gewählt, um bestimmte Verarbeitungsprozesse im Gehirn zu untersuchen. Im gezeigten Experiment werden in Blöcken von 30 Sekunden Dauer in kurzer Abfolge verschiedene Wörter visuell präsentiert (siehe Abb. 3: A). Zwischen den Blöcken mit Stimulation steht jeweils ein leerer Bildschirm für dieselbe Zeitdauer (Ruhe). Diese Versuchsanordnung entspricht einem klassischen Blockdesign-Experiment und erlaubt den Vergleich der Hirnaktivität während einer experimentellen Kondition (Wörter) zu derjenigen während einer Ruhe- oder Kontrollkondition. Hirnbereiche, welche in die Verarbeitung der experimentellen Kondition und somit beim Lesen von Wörtern involviert und deshalb aktiv sind, werden stärker mit sauerstoffreichem Blut versorgt als nicht aktiv an der Verarbeitung beteiligte Hirnbereiche (Abb. 3: C). Folglich ändert sich die Oxygenierung des Bluts und damit das MR-Signal in ›aktiven‹ Regionen (Abb. 3: D, grüne Kurve) jeweils mit einer kleinen
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Zeit (Sekunden) 30
A) Experiment
0
60
90
120
Baum
Hund
Esel
Tag See
Sand Meer
Kamm
Stimulation
Ruhe
Stimulation
Vo xe
tiv
-
tiv
lO-a k
-
Parietallappen
n
e pp lla
ta on Fr
n pe ap all r po
m Te
Vo xe
lOin ak
Okzipit allappen
E) Statistik, Aktivierungskarte
D) BOLD Signal, Modell
C) Biologie
B) Aufnahme
Ruhe
....
llum
ebe
Cer
Abb. 3: Funktionelle Magnetresonanztomographie: Von der Biologie zum gemessenen Signal. – A) Experiment im klassischen Blockdesign mit Stimulations- und Ruhephasen. – B) Kontinuier liche Aufnahme der funktionellen Bilder: Alle 2–3 Sekunden werden Schichten des gesamten Gehirns aufgenommen. – C) Hämodynamische Veränderungen in einer Hirnregion, die während der Verarbeitung der Wörter aktiv ist. Gezeigt sind die Veränderung im Blutfluss, Blutvolumen und der Oxygenierung des Blutes in Abhängigkeit zur Stimulation. – D) Die erwartete hämodynamische Antwortkurve (blau) und der tatsächlich gemessene MR-Signalverlauf in einem aktiven (grün) und einem inaktiven (grau) Voxel. – E) Statistische Aktivierungskarte: Eingefärbt sind diejenigen Hirnbereiche, die während der Stimulation aktiv sind.
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Verzögerung in Bezug zur Präsentation der Reize. Das MR-Signal in ›nicht aktiven‹ Regionen verändert sich durch die Stimulation nicht (Abb. 3: D, graue Kurve). Der Magnetresonanztomograph misst die Änderungen im BOLD-Signal kontinuierlich über die gesamte Experimentdauer, indem alle 2–3 Sekunden Schichtbilder des Gehirns aufgezeichnet werden (Abb. 3: B). Für die Analyse der gemessenen Daten ist ein geeignetes Modell notwendig, das den erwarteten Signalverlauf von aktiven Hirnregionen modelliert (Abb. 3: D, blaue Kurve). Weil die Blutzufuhr der aktiven Hirnbereiche und die damit verbundene Veränderung des MR-Signals Zeit in Anspruch nimmt, wird das Modell mit einer durchschnittlichen ›hämodynamischen‹ Antwortkurve verrechnet. Die statistische Auswertung zeigt, in welchen Voxeln (gemessene Bildpunkte im Gehirn) das gemessene MR-Signal sich möglichst ähnlich der vorgegebenen Modellaktivitätskurve verhält. Aktive Voxel werden zur Illustration eingefärbt und auf anatomische Schichtbilder oder ein dreidimensionales Bild eines Gehirns projiziert (Abb. 3: E). Die statistischen Bilder zeigen uns, welche Hirnbereiche während der experimentellen Kondition (Lesen) stärker aktiv sind als während der Kontrollkondition (z. B. Ruhe). Beim Lesen arbeiten viele Hirnareale zusammen, die mehrheitlich in der linken Hirnhälfte liegen.3 Neben dem in der Graphik dargestellten Experiment, in welchem die Konditionen blockweise präsentiert werden, kommen heutzutage häufig auch Experimente zum Einsatz, bei denen verschiedene Reiztypen (z. B. Wörter und Gesichter) durcheinander dargeboten werden (›event-related design‹). Bei solchen Experimenten wird die hämodynamische Antwort auf jeden einzelnen Reiz modelliert. Aufgrund der Verzögerung und Trägheit der hämodynamischen Antwort nach der Reizpräsentation liegt die zeitliche Auflösung der funktionellen Aktivität im Sekundenbereich. Diese im Vergleich zu EEG geringe zeitliche Auflösung ist gleichzeitig einer der Hauptnachteile der fMRT.
5.3 Netzwerke im Gehirn Die neurowissenschaftliche Forschung hat gezeigt, dass das Gehirn in funktionellen Netzwerken organisiert ist. Gerade höhere kognitive Leistungen erfordern die koordinierte Zusammenarbeit verschiedener Hirnbereiche. Diese können benachbart, aber auch weit entfernt voneinander liegen. Die Erforschung solcher funktionellen Netzwerke ist deshalb von ebenso großem Interesse. Strukturelle Verbindungen zwischen Hirnregionen können durch bestimmte MRT-Aufnahmetechniken sichtbar gemacht werden. Die diffusionsgewichtete Bildgebung z. B. eignet sich, um den Verlauf von Faserbündeln zu analysieren und zu erschließen, welche Hirnbereiche anatomisch verbunden sind. Raffinierte Datenanalysen wiederum gewähren Einblicke in die
3 Dies wird in Kap. 2.1.1 Lesen als neurobiologischer Prozess in diesem Band ausführlich erläutert.
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Organisation funktioneller Netzwerke. Funktionelle Konnektivitätsanalysen verdeutlichen, welche zum Teil weit entfernten Hirnregionen zeitlich hochkorrelierte Aktivitätsverläufe zeigen. Kausale Aussagen darüber, ob sich Regionen eines funktionellen Netzwerks direkt beeinflussen (›effektive Konnektivität‹), werden durch modellabhängige Analyseverfahren ermöglicht (vgl. Poldrack u. a. 2011; Friston 1994). Wie aus dieser kurzen Einführung hervorgeht, ist die MRT eine äußerst vielseitige Bildgebungsmethode. Für die Hirnforschung im Bereich Lesen, Lesenlernen und Lesestörungen sind Erkenntnisse über die Integrität der Hirnstruktur, funktionelle Spezialisierung bestimmter Hirnregionen sowie die Netzwerkorganisation von großer Bedeutung.
6 Diskussion und Ausblick Bildgebende Verfahren, wie EEG oder fMRT, bieten Einsicht in die Arbeit des Gehirns und bringen damit etwas Licht in die ›black box‹ der kognitiven Verarbeitungsprozesse. Hirnphysiologische Vorgänge und kognitive Konzepte sind allerdings verschiedene Aspekte, mit denen ein Phänomen beschrieben werden kann. Es ist deshalb Vorsicht geboten, wenn von Hirnfunktionen direkt auf kognitive Vorgänge geschlossen wird (›reverse inference‹; vgl. Poldrack 2011). Andererseits können die beiden Sichtweisen einander bereichern. So sind kognitive Modelle nötig, und sei es nur als Grundlage der experimentellen Manipulation, um physiologische Parameter zu interpretieren. Ebenso können neurobiologische Befunde helfen, kognitive Modelle weiterzuentwickeln und zu verfeinern. Die Verknüpfung von Psychologie und technologischen Analysemöglichkeiten führt dazu, dass sich das Gebiet der Kognitiven Neurowissenschaften ständig weiterentwickelt. Während das EEG bereits eine ältere Technik ist, hat sich die fMRT erst in den letzten 20 Jahren zu einem der wichtigsten bildgebenden Verfahren entwickelt. In der ersten Phase wurde vor allem versucht, bestimmte kognitive Funktionen im Gehirn zu lokalisieren, d. h. bestimmten Hirnregionen zuzuschreiben. Bei einfacheren Funktionen scheint das möglich zu sein. Bei höheren kognitiven Funktionen zeigt sich immer mehr, dass meist viele Hirnareale zusammenarbeiten. Die künftige Forschung wird sich deshalb stärker diesem Zusammenspiel widmen. Dabei hilft auch das Wissen um die zeitliche Abfolge des Informationsaustauschs. Nachdem die fMRT im letzten Jahrzehnt die Kognitiven Neurowissenschaften dominiert hat, wenden sich deshalb wieder mehr Forscher dem EEG zu, das Aussagen zur zeitlichen Verarbeitung von Information ermöglicht. Um die Vorteile der vorhandenen Methoden optimal nutzen zu können, wurden unterschiedliche Methoden kombiniert. Dabei bietet es sich besonders an, Methoden mit hoher zeitlicher und hoher räumlicher Auflösung, wie EEG und fMRT, gemeinsam anzuwenden. Da das EEG bei gleichzeitiger (simultaner) Messung innerhalb eines MR-Geräts durch die starken Veränderungen des Magnetfeldes massiv gestört wird,
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war die Anwendung von simultanen EEG-fMRT-Untersuchungen lange Zeit nicht möglich. Neuere Methoden zur Artefaktbereinigung sowie spezielle, MR-kompatible EEG-Systeme machen nun aber Studien mit solch simultanen Messungen möglich. Es ist zu erwarten, dass Weiterentwicklungen von Technik und Analysemethoden auch in Zukunft weitere wichtige Erkenntnisse für die Erforschung der neurokognitiven Mechanismen des Lesens liefern.
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Ursula Christmann
1.2 Kognitionspsychologische Ansätze Zusammenfassung: Lesen stellt einen hochkomplexen kognitiven Vorgang dar, der sich in mehrere miteinander interagierende Teilprozesse untergliedern lässt: Die Erforschung dieser Teilprozesse und die Erklärung ihres Zusammenspiels stehen im Mittelpunkt der kognitionspsychologischen Leseforschung. Am Anfang wird zunächst ein kurzer Abriss der historischen Entwicklung dieser Forschung gegeben (1), bevor theorienübergreifende Modelle des Lesens vorgestellt werden (2), die den Rahmen für die Entwicklung differenzierterer Prozessmodelle des Lesens auf Wort-, Satz- und Textebene (3) abgeben. Anschließend werden die wichtigsten kognitionspsychologischen Methoden zur Erforschung des Leseprozesses skizziert (4) und abschließend die anwendungsbezogene Frage nach der Diagnose von Lesekompetenz (5) angesprochen. Abstract: Reading is a highly complex cognitive process which can be divided into several mutually interacting subprocesses. The investigation of these subprocesses and the explanation of their interaction are the present focus of cognitive reading research. The following will first sketch the historical development of this research (1) before presenting the most important global models of reading (2), which constitute the framework for more differentiated process models of reading at the word, sentence and text level (3). Subsequently the most important methods of reading research will be presented (4), and a final section will address the practical question of diagnosing reading competence (5).
Inhaltsübersicht 1 Kognitionspsychologische Leseforschung: Entwicklung und Standortbestimmung — 21 2 Globale Modelle des Lesens — 23 3 Teilprozesse des Lesens — 23 3.1 Prozesse auf Buchstaben- und Wortebene — 24 3.2 Prozesse auf Satzebene — 28 3.3 Prozesse auf Textebene — 31 4 Kognitionspsychologische Methoden zur Erfassung des Lesens — 34 5 Anwendungsperspektive: Diagnose des Leseverstehens — 37 6 Ausblick und Entwicklungstrends — 40 7 Literatur — 40
1 Kognitionspsychologische Leseforschung: Entwicklung und Standortbestimmung Die Beschäftigung mit dem Gegenstand ›Lesen‹ hat in der empirisch-experimentellen Psychologie eine sehr lange Tradition. Zu den Pionieren auf dem Gebiet gehören M. Lamare (1893), Emile Javal (1878) sowie Benno Erdman und Raymond Dodge (1898), die sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit der Analyse von Blickbewe-
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gungen beim Lesen beschäftigt haben. Edmund Huey (1908; Neuauflage 1968) fasst deren Erkenntnisse sowie eine Fülle weiterer empirischer Befunde zum Lesen aus dieser frühen Zeit im ersten bedeutsamen Lehrbuch zur Psychologie des Lesens zusammen (ausführlicher systematisch-historischer Überblick bei Günther 1996). Allein die Tatsache, dass ein wissenschaftliches Lehrbuch 60 Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung neu aufgelegt wird, zeigt, wie aktuell die Befunde aus der Zeit um die Jahrhundertwende auch im Jahre 1968 noch waren (vgl. Kolers 1968, S. XIV; zit. nach Günther 1996, S. 918) – und zwar deshalb, weil die psychologische Leseforschung während der Blütezeit des Behaviorismus (1920–1960) mit seiner Konzentration auf beobachtbares Verhalten praktisch zu einem Stillstand gekommen war (vgl. Rayner u. a. 2012). Diese Situation änderte sich erst, als im Zuge der sog. Kognitiven Wende der Behaviorismus zu Beginn der 1970er Jahre durch eine neue Theorierichtung, die Kognitionspsychologie, abgelöst wurde. Ihr Hauptziel war die Erforschung der im Behaviorismus vernachlässigten Gegenstandsbereiche, nämlich jener Prozesse und Strukturen, die üblicherweise mit dem Begriff ›geistig‹ versehen werden. Dazu gehören neben dem Wahrnehmen, Denken, Erinnern, Schlussfolgern und Problemlösen nicht zuletzt auch das Sprechen, Sprachverstehen und Lesen (vgl. Christmann 1999). Geistige bzw. kognitive Prozesse werden dabei zumeist als Informationsverarbeitungsprozesse aufgefasst, die sich auf die Aufnahme, Bearbeitung, Speicherung, Aktivierung und Verwendung von Informationen beziehen. Gemäß dieser Bestimmung wird Lesen heute nicht mehr wie zu Beginn des Jahrhunderts als primär visueller Wahrnehmungsprozess aufgefasst, sondern als Fähigkeit, visuelle Informationen aus graphischen Zeichenfolgen zu entnehmen und deren Bedeutung zu verstehen (vgl. Rayner / Pollatsek 1989, S. 23). Hinter dieser relativ einfachen Definition verbirgt sich ein hochkomplexer kognitiver Vorgang, an dem nach aktueller Auffassung mehrere Systeme (insbesondere die Sprachverarbeitung, das Gedächtnis, das Lernen und das Problemlösen) beteiligt sind und der sich nach der Komplexität der Teilprozesse in mehrere Ebenen untergliedern lässt: von der Buchstaben- und Worterkennung über die syntaktische und semantische Analyse von Wortfolgen und Sätzen sowie dem Aufbau einer kohärenten Textbedeutungsstruktur bis hin zum Erkennen rhetorischer Stilmittel und zur kog nitiv-ästhetischen Bewertung / Interpretation des Gelesenen (vgl. van Dijk / Kintsch 1983). Die Erforschung dieser Teilprozesse und deren Zusammenspiel stehen im Zentrum der heutigen kognitionspsychologischen und psycholinguistisch ausgerichteten Leseforschung.
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2 Globale Modelle des Lesens Kognitionspsychologische Lesemodelle lassen sich dabei in einem ersten Zugriff global danach unterscheiden, ob der Leseprozess eher datengesteuert (bottom-up), wissensgeleitet (top-down) oder interaktiv modelliert wird (vgl. Rayner / Pollatsek 1989; Rayner u. a. 2012; zusammenfassend: Christmann 2004). ›Datengesteuerte Modelle‹ (vgl. Gough 1972; Rayner / Pollatsek 1989) postulieren, dass die unterschiedenen Ebenen des Lesens, beginnend mit den hierarchieniedrigen Teilprozessen, seriell nacheinander von unten nach oben durchlaufen werden, dass sie autonom sind und grundsätzlich unabhängig voneinander arbeiten. Das bedeutet, dass höhere Teilprozesse erst dann einsetzen, wenn die Verarbeitung auf den niedrigeren Ebenen abgeschlossen ist. Diese Modelle betonen die Bedeutsamkeit einer schnellen und automatischen Verarbeitung für das effiziente Lesen (vgl. Perfetti 1985). Umgekehrt gehen ›wissensgesteuerte Modelle‹ (vgl. Goodman 1967) davon aus, dass die Verarbeitung auf allen Ebenen von höheren kognitiven Teilsystemen wie dem allgemeinen Weltwissen, dem Vor- und Kontextwissen kontrolliert und beeinflusst wird. Lesen wird als ein Prozess des Hypothesentestens (›psycholinguistic guessing game‹) aufgefasst, bei dem auf der Grundlage der anfänglich aufgenommenen visuellen Information Erwartungen über die nachfolgende Information aufgebaut und überprüft werden. ›Interaktive Modelle‹ schließlich (vgl. Just / Carpenter 1980, 1987; McClelland / Rumelhart 1981) postulieren, dass die von den Leser/ innen konstruierte Bedeutung das Resultat einer Interaktion von daten- und erwartungsgesteuerten Prozessen darstellt. Die unterschiedenen Teilprozesse des Lesens können dabei parallel oder in zeitlicher Überlappung durchlaufen werden, wobei höhere Verarbeitungsprozesse bereits einsetzen können, bevor die Verarbeitung auf den unteren Ebenen abgeschlossen ist (vgl. Verhoeven / Perfetti 2008). Alle drei Modelltypen haben die empirische Leseforschung in den letzten 30 Jahren in hohem Maße stimuliert und vorangetrieben. Dabei ist allerdings auch deutlich geworden, dass der Leseprozess hochgradig flexibel ist und in Abhängigkeit von Bedingungen der Lesesituation und Leseaufgabe sowie den individuellen leserseitigen Voraussetzungen sowohl datengesteuerte als auch erwartungsgesteuerte und interaktive Teilprozesse auf allen Ebenen des Lesens auftreten können. Insgesamt weisen allerdings ›interaktive Modelle‹ den höchsten Integrationswert auf (vgl. Verhoeven / Perfetti 2008).
3 Teilprozesse des Lesens Für die heutige kognitionspsychologische Leseforschung ist die Aufsplittung des Leseprozesses in mehrere aufeinander aufbauende hierarchische Stufen charakteristisch. Dabei wird üblicherweise zwischen hierarchieniedrigen Teilprozessen auf Wort- und Satzebene und hierarchiehöheren Teilprozessen auf Textebene unterschieden (vgl. Christmann / Groeben 1999; Christmann 2010).
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3.1 Prozesse auf Buchstaben- und Wortebene Lesen beginnt mit der Identifikation von Buchstaben und Wörtern sowie dem Erkennen ihrer Bedeutung. Die Zuordnung von Bedeutungen zu visuell wahrgenommenen Buchstabenfolgen bezeichnet man als ›lexikalischen Zugriff‹. Die vielfältige Forschung in diesem Bereich fragt danach, wie der Zugriff auf das mentale Lexikon erfolgt und durch welche Variablen er gesteuert wird (Überblick: Rastle 2007; Rayner u. a. 2012). Dabei wurde eine Reihe von Effekten identifiziert, die die Worterkennung charakterisieren (Überblick: Lupker 2005). Als gut gesichert gilt der bereits von James McKeen Cattell (1886) beschriebene und von Gerald Reicher (1969) experimentell replizierte Wortüberlegenheitseffekt, nach dem Buchstaben leichter erkannt werden, wenn sie in Wörter eingebunden sind, als wenn sie isoliert verarbeitet werden. Das bedeutet, dass Buchstaben parallel und nicht seriell verarbeitet werden und dass daher die Wortidentifikation bereits einsetzen kann, bevor die Buchstabenerkennung abgeschlossen ist. Als relativ stabil gelten auch der Worthäufigkeitseffekt (häufige Wörter werden schneller erkannt als seltene), der semantische Priming-Effekt (semantisch assoziierte Wörter werden schneller erkannt als semantisch nicht-assoziierte Wörter), der Wortlängeneffekt (die Verarbeitung längerer Wörter ist zeitaufwändiger als die von kurzen Wörtern) und der Nachbarschaftseffekt (Wörter mit vielen Nachbarn, d. h. anderen Wörtern, die sich nur in einem Buchstaben unterscheiden wie MAUS und RAUS, werden schneller erkannt als solche mit wenigen Nachbarn; vgl. Lupker 2005). Schließlich ist gut gesichert, dass die Identifikation von isolierten Wörtern ca. 200–250 ms benötigt und dass die Schnelligkeit der Wortidentifikation vor allem vom Kontext abhängt. Die Wort erkennung läuft schneller, wenn der Kontext und die Bedeutung des betreffenden Worts zusammen passen (vgl. zum semantischen Priming-Effekt: Meyer / Schvaneveldt 1971). Das zentrale Forschungsparadigma ist dabei das Lesen von mehrdeutigen Wörtern (z. B. Bank: Geldinstitut und Sitzgelegenheit). Blickbewegungsstudien (Überblick: Rayner u. a. 2012, S. 157–160) und eine Fülle von Priming-Studien (vgl. Lupker 2007) belegen, dass stets die zum Kontext passende Bedeutung schneller identifiziert wird. Dabei wurde auch versucht zu klären, ob dieser Effekt durch einen Selektions- (alle Bedeutungen werden aktiviert; der Kontext engt die Selektion ein) oder einen Aktivierungsprozess (nur die zum Kontext passende Bedeutung wird aktiviert) zustande kommt. Die Befunde sprechen heute überwiegend dafür, dass es sich um einen Selektionsprozess handelt, wobei der Druck des Kontexts sehr schnell arbeitet (vgl. Lupker 2007). Zur Beschreibung und Erklärung des lexikalischen Zugriffs ist eine Fülle von hochgradig differenzierten Modellen entwickelt worden (Überblick: Balota u. a. 2006; Lupker 2005), die man danach unterscheiden kann, ob sie den Wortidentifikationsprozess eher als seriellen Suchprozess oder als interaktiven Aktivierungsvorgang auffassen. Ein Beispiel für ein klassisches autonomes Suchmodell ist das Modell von Kenneth Forster (1976; 1994). Es unterscheidet drei Zugriffsdateien (ortho
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graphisch, phonologisch und syntaktisch-semantisch) und ein Master-Lexikon. Beim Lesen eines Worts wird der perzeptuelle Input mittels einer seriellen Suche mit den Einträgen des orthographischen Zugangsfiles verglichen, wobei der Vergleich nach absteigender Häufigkeit der Einträge erfolgt. Bei Übereinstimmung wird das MasterLexikon aktiviert. Das Modell kann den Worthäufigkeitseffekt gut erklären (häufige Wörter werden schneller verarbeitet, weil sie zeitlich vor seltenen Wörtern in der Zugriffsdatei aufgefunden werden), nicht aber den Wortüberlegenheitseffekt. Wie kann die Existenz einer lexikalischen Einheit die Verarbeitung der Buchstabeninformation beeinflussen, wenn das Wort erst dann verfügbar ist, wenn die Buchstaben identifiziert sind? Dies stellt ein Problem für alle Autonomie-Modelle dar. Auch der bekannte ›jumbled-words-Effekt‹, nach dem Wörter auch ohne nennenswerte Pro bleme erkannt werden können, wenn außer dem Anfangs- und dem Endbuchstaben alle anderen Buchstaben durcheinandergewirbelt sind, lässt sich mit diesem Modell nicht erklären, sondern erfordert den Rückgriff auf den Kontext, der im Rahmen interaktiver Ansätze der Spracherkennung modelliert wird. Interaktive Aktivierungsmodelle sind konnektionistische Modelle, d. h. sie beschreiben kognitive Prozesse nicht auf symbolischer, sondern auf subsymbolischer Ebene in Form von neuronalen Netzen, deren Knoten sich wechselseitig aktivieren und hemmen (vgl. Strube 1990). Als Basismodell, das auch heute noch den Ausgangpunkt für weitere Modellentwicklungen abgibt, gilt das interaktive Aktivationsmodell von James McClelland und David Rumelhart (1981; Weiterentwicklung: Seidenberg / McClelland 1989; Plaut u. a. 1996). Das Modell unterscheidet drei Verarbeitungsebenen, die bei der Wortidentifikation beteiligt und durch Rückkoppelungen miteinander verbunden sind: eine Merkmals-, eine Buchstaben- und eine Wortebene. Der Identifikationsprozess beginnt mit der Aufnahme graphischer Elemente, die auf das Vorliegen bzw. Fehlen bestimmter Merkmale hin analysiert werden. Je mehr Merkmale einem bestimmten gedächtnismäßig gespeicherten Buchstaben entsprechen, desto stärker wird dieser aktiviert, während Buchstaben, die diese Merkmale weniger enthalten, gehemmt werden. Erreicht die Aktivierung auf Buchstabenebene einen bestimmten Schwellenwert, dann erfolgt im nächsten Schritt eine Aktivierung derjenigen Wörter, in denen diese Buchstaben enthalten sind; Wörter, die diese Buchstaben nicht aufweisen, werden gehemmt. Durch Rückkoppelungsprozesse erhöht sich gleichzeitig die Aktivationsstärke für die betreffenden Buchstaben. Der Wortidentifikationsprozess erweist sich demnach als (bottomup und top-down gesteuertes) Zusammenspiel von Hemmung und Aktivierung von Merkmalen, Buchstaben und Wörtern. Ein Wort ist dann aktiviert, wenn das Aktivationsniveau einen bestimmten Schwellenwert übersteigt. Das Modell kann den Wortüberlegenheitseffekt gut erklären: Bei in Wörtern eingebetteten Buchstaben erfolgt die Aktivierung sowohl auf Buchstaben- als auch auf Wortebene, während isolierte Buchstaben eine Aktivierung nur auf Buchstabenebene erfahren. Dadurch erklärt sich auch der Häufigkeitseffekt: Häufige Wörter erreichen schneller die Aktivierungsschwelle als seltene Wörter. Eine Begrenzung des Modells liegt darin,
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dass es nicht berücksichtigt, dass bei der Worterkennung auch das phonologische System beteiligt sein kann. Eine Berücksichtigung phonologischer Prozesse erfolgt in den sog. Zwei-WegeModellen der Worterkennung. Sie postulieren, dass es neben dem direkten visuellen Zugang für im Lexikon bereits gespeicherte Wörter für die Identifikation neuer Wörter zusätzlich einen direkten phonologischen Zugang zur Worterkennung gibt (vgl. Colt heart 1978). Danach können Wörter erkannt werden, indem ein Eintrag im mentalen Lexikon entweder direkt über den visuellen Weg aktiviert oder die graphemische Struktur eines Worts mit Hilfe von Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln zunächst in eine lautliche Struktur übersetzt wird. Bevorzugt wird immer der schnellere bzw. effizientere Weg. Der direkte visuelle Weg findet bei häufigen und vertrauten Wörtern sowie bei Wörtern mit irregulärer Aussprache Verwendung, der indirekte Weg über die phonologische Recodierung bei unvertrauten, seltenen und Pseudowörtern, für die es keinen Eintrag im mentalen Lexikon gibt, die aber regulär ausgesprochen werden. Der Weg über das phonologische System ist langsamer und mühsamer und wird vor allem von ungeübten Leser/innen eingeschlagen. Beim schnellen und automatisierten Lesen wird üblicherweise die direkte visuelle Route gewählt (empirisch: Jared u. a. 1999). Eine Weiterentwicklung des Zwei-Wege-Modells bietet das Dual-RouteCascaded-Modell (DRC-Modell; vgl. Coltheart u. a. 2001). Kaskadiert bedeutet dabei, dass die Aktivierung einer Einheit auf einer Ebene zur nächsten Ebene weitergehen kann, ohne dass die Verarbeitung von Buchstaben oder Wörtern auf der vorangegangenen Ebene abgeschlossen sein muss. Im Unterschied zum klassischen Zwei-WegeModell ist die lexikalische Route in zwei Subrouten aufgeteilt (eine mit und eine ohne Beteiligung des semantischen Systems), und das Modell ist in der Lage, die unterschiedlichen Wege der Worterkennung im Computer zu simulieren. Die Zwei-Wege-Modelle haben die Leseforschung stark stimuliert (vgl. ausführlich: Costard 2007). Unter Rückgriff auf die verschiedenen Routen der Worterkennung können Teilsysteme des Lesens systematisch untersucht und auch verschiedene Formen von Dyslexien und gehirnorganischen Störungen voneinander abgegrenzt werden (vgl. Christmann 2010; zusammenfassend: Eysenck / Keane 2010, S. 340–345). Außerdem ist das Modell in der Lage, eine Reihe von Effekten auf der Wortebene zu erklären (z. B. neben dem Häufigkeitseffekt auch den Regelmäßigkeitseffekt: Irregulär ausgesprochene Wörter werden langsamer ausgesprochen als reguläre Wörter; vgl. die systematische Zusammenstellung bei Treutlein 2011). Daher sind Zwei-Wege-Modelle besonders intensiv im Kontext der Entwicklung von Lesefertigkeit diskutiert worden. Ein Beispiel stellt das Konzept der phonologischen Bewusstheit dar, das sich auf die Fähigkeit bezieht, die lautliche Struktur einer Sprache zu erkennen (z. B. die Zerlegung von Wörtern in Silben). Die Bedeutsamkeit der phonologischen Bewusstheit für den Erwerb von Lesefertigkeiten konnte dabei metaanalytisch gesichert werden (vgl. Bus / Ijzendoorn 1999; Ehri u. a. 2001), und das Training phonologischer Bewusstheit stellt eine weitgehend akzeptierte und gut evaluierte Maßnahme zur vorschulischen Sprachförderung dar (vgl. Marx 2007; Schneider / Marx 2008).
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Allerdings weisen Zwei-Wege-Modelle auch Schwächen auf. Dazu gehört in erster Linie, dass diese Modelle den sog. Konsistenzeffekt nicht erklären können. Danach werden regulär ausgesprochene Pseudowörter (nicht-lexikalische Route) schneller ausgesprochen als irreguläre Pseudowörter (lexikalische Route), wenn ihre orthographischen Nachbarn in allen Wörtern, in denen sie auftauchen, gleich ausgesprochen werden (vgl. Eysenck / Keane 2010). Die konsistente Aussprache eines Worts ist für die Benennungsschnelligkeit wichtiger als die Regelmäßigkeit der Aussprache und damit zugleich wichtiger als die Verarbeitungsroute (empirisch: Jared 2002; Harley 2008). Kritisch ist darüber hinaus, dass das phonologische System schneller arbeitet, als dies von dem Modell unterstellt wird (vgl. Rastle / Brysbaert 2006), und dass das System nicht lernfähig ist, da es mit einem begrenzten Satz von Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln operiert (vgl. ausführliche kritische Darstellung bei Eysenck / Keane 2010; Harley 2010; Treutlein 2011). Gewichtiger noch erscheint die fehlende Generalisierbarkeit: Das Modell ist primär auf die englische Sprache zugeschnitten, die sehr viele Wörter mit unregelmäßiger Aussprache enthält; es versagt daher bei Sprachen, die weniger unregelmäßige Wörter aufweisen. Und auf Sprachen, die strukturell völlig von dem Englischen verschieden sind (wie das Chinesische oder Japanische), kann es schon gar nicht angewendet werden (vgl. Eysenck / Keane 2010). Solche Probleme versuchen neuere konnektionistische PDP-Modelle (parallel distributed models) zu überwinden. Sie gehen davon aus, dass bei der Worterkennung immer (auch beim Erkennen von Pseudowörtern) auf subsymbolischer Ebene phonologische, orthographische und semantische Informationen parallel verarbeitet werden. Sie werden daher auch als Triangel-Modelle bezeichnet (vgl. Plaut u. a. 1996). Die Worterkennung basiert danach auf dem Zusammenspiel von Neuronenaktivierungen auf allen drei Ebenen. Im Unterschied zu den Zwei-Wege-Modellen wird auf die Annahme eines mentalen Lexikons, in dem die Merkmale von Wörtern gespeichert sind, ebenso verzichtet wie auf die Annahme, dass es verschiedene Routen der Worterkennung gibt. Die Schnelligkeit der Worterkennung hängt nach diesen Modellen nicht davon ab, ob ein Wort regulär oder irrregulär, sondern ob es konsistent oder inkonsistent ausgesprochen wird (der Wortstamm wird in unterschiedlichen Wörtern immer gleich oder unterschiedlich ausgesprochen). Dies wird damit erklärt, dass bei inkonsistenten Wörtern, die langsamer ausgesprochen werden als konsistente, das semantische System stärker involviert ist als bei konsistenten Wörtern. PDP-Modelle können zudem den Leseprozess erwachsener Leser in vielerlei Hinsicht erfolgreich simulieren und bieten Erklärungen für verschiedene Formen der Dyslexie (vgl. ausführlich Eysenck / Keane 2010). Ihre Schwächen liegen darin, dass sie deutlich enger sind als die Zwei-Wege-Modelle, da sie lediglich mit einsilbigen Wörtern arbeiten und verschiedene Formen der Oberflächen- und Tiefendyslexie nicht erklären können (vgl. Eysenck / Keane 2010; Harley 2010). Insgesamt verdeutlicht die Vielfalt der in der Forschung entwickelten Modelle zur Wortidentifikation sowie die z. T. uneinheitliche Befundlage eindrucksvoll, dass das
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Lesen bereits auf Wortebene ein sehr viel flexiblerer Prozess ist, als dies von den jeweiligen Modellen abgebildet wird. Kein Modell ist offensichtlich in der Lage, alle experimentellen Befunde auf Wortebene zu erklären. Aus diesem Grund liegt in Zukunft wohl vermehrt der Schwerpunkt auf der Entwicklung von Hybridmodellen, die die besten Merkmale verschiedener Modelle zusammenfassen (vgl. Perry u. a. 2007).
3.2 Prozesse auf Satzebene Wörter werden üblicherweise nicht isoliert gelesen, sondern immer in einem größeren Satzzusammenhang. Zum Verstehen der Bedeutung eines Satzes reicht die Wortidentifikation allein nicht aus. Vielmehr müssen die Wörter mit Hilfe der semantischen und syntaktischen Analyse in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden. Bei der semantischen Analyse werden die Wörter eines Satzes auf der Grundlage ihrer semantischen Relationen aufeinander bezogen und zu Bedeutungseinheiten in Form von Prädikat-Argument-Strukturen (Propositionen) integriert. Prädikat-Argument-Strukturen sind Einheiten der semantischen Tiefenstruktur, die aus einem Prädikat (Zustände, Ereignisse, Eigenschaften) und den von ihm implizierten Argumenten (Objekte, Personen, Sachverhalte) bestehen. Die psychologische Relevanz dieser ursprünglich aus der linguistischen Kasusgrammatik stammenden Einheiten (vgl. Chafe 1970; Fillmore 1968; psychologische Ausarbeitung: Kintsch 1974; van Dijk / Kintsch 1983) wurde in einer Fülle von Experimenten belegt, die zeigen, dass die Lesezeit und die Verarbeitungsgüte bei oberflächengleichen Sätzen von der Anzahl der Propositionen der Tiefenstruktur abhängen und dass bei Sätzen mit gleicher Anzahl von Inhaltswörtern die Verarbeitungszeit mit der Anzahl der Satzpropositionen sowie der Propositionsargumente steigt (Überblick: Christmann 1989, 2000). Übereinstimmend wird heute davon ausgegangen, dass bei der semantischen Analyse Propositionen gebildet werden und dass sie die Einheiten des Satzverstehens sind (vgl. ausführlich: Engelkamp / Zimmer 2006, S. 180–183). Ebenfalls besteht Einigkeit darüber, dass bei der Extraktion von Propositionen auch syntaktische Informationen genutzt werden. Noch nicht abschließend geklärt ist hingegen die Frage, zu welchem Zeitpunkt im Verarbeitungsprozess die syntaktische Information für die Decodierung der Satzbedeutung herangezogen wird. Zur Analyse der syntaktischen Struktur (Überblick: Hemforth / Konieczny 2008; Hemforth / Strube 1999) müssen Wörter und Wortgruppen identifiziert werden, denen eine syntaktische Funktion (z. B. Subjekt, Prädikat, Objekt) zugewiesen wird und die bestimmten Abfolgeregeln genügen. Dazu greifen wir auf unser implizites grammatikalisches Wissen zurück, das uns z. B. sagt, dass im Deutschen das Subjekt in der Regel am Satzanfang, das Verb in der Mitte und das Objekt am Ende des Satzes steht. Eine solche einfache Strategie reicht in vielen Fällen aus, um zu einer eindeutigen Satzinterpretation zu gelangen (vgl. Herrmann 1990). Bei komplexeren Sätzen müssen u. U. weitere syntaktische Informationen analysiert werden, wie z. B. die Bestimmung
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von Funktionswörtern (Artikel, Präpositionen und Konjunktionen), die Flexion von Inhaltswörtern sowie die Gruppierung von Wörtern zu Satzphrasen. Wie und welche Wörter zu Phrasen gruppiert werden, bestimmen spezifische Phrasenstrukturregeln. Zur vollständigen syntaktischen Analyse eines Satzes hat die neuere kognitive Psycholinguistikforschung eine Fülle von Segmentierungsvarianten entwickelt, die den Prozess der syntaktischen Analyse (auch: ›parsing‹) modellieren (Überblick: Van Gompel / Pickering 2007). Dabei stellt sich grundsätzlich die Frage, welcher Stellenwert der syntaktischen Analyse für den Leseprozess insgesamt zukommt. Um Aufschluss darüber zu erhalten, haben sich Experimente mit syntaktisch mehrdeutigen Sätzen als ein besonders geeignetes Forschungsparadigma erwiesen. Entscheidend ist dabei, ob die syntaktische Analyse zunächst isoliert oder unter Beteiligung des semantischen und pragmatischen Wissens erfolgt. Diese Frage der Modularität vs. Interaktivität bei der Satzverarbeitung wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Modulare Theorien postulieren, dass die syntaktische Analyse seriell erfolgt, d. h. zunächst nur eine syntaktische Lesart gewählt wird, die zeitlich vor der semantischen Analyse und unabhängig von dieser durchgeführt wird (vgl. Frazier / Rayner 1982). Die syntaktische Analyse unterliegt dabei zwei Parsing-Prinzipien (vgl. zusammenfassend Irmen 2006): minimale Anbindung (›minimal attachment‹: die strukturell einfachste Phrase wird gewählt) und späte Schließung (›late closure‹: bei mehreren syntaktischen Alternativen erfolgt gemäß dem RecencyPrinzip die Anbindung eines neuen Worts an die zuletzt verarbeitete Phrase). Dieser Theorieansatz wird zum einen durch das Auftreten von sog. Holzwegeffekten (›garden path effect‹; vgl. Ferreira / Clifton 1986) bei syntaktischer Mehrdeutigkeit gestützt. Danach muss eine im ersten Anlauf präferierte, aber falsche syntaktische Analyse korrigiert werden (z. B.: Der Polizist beobachtet den Spion mit dem Fernglas; Polizei erschießt 19jährigen mit Samuraischwert: Beispiele nach Hemforth / Strube 1999). Außerdem sprechen auch neuere elektrophysiologische Studien mit ereigniskorrelierten Potenzialen (EKP) dafür, dass zwar nicht alle, aber zumindest einige Arten syntaktischer Informationen zunächst unabhängig von semantischen Prozessen analysiert werden (Überblick: Engelkamp / Zimmer 2006). Auch für die psychologische Relevanz der beiden ParsingPrinzipien bei der Verarbeitung ambiger Sätze liegen positive Evidenzen vor (vgl. Ferreira / Clifton 1986). Allerdings ist die Befundlage insgesamt uneinheitlich, denn es gibt z. B. auch Befunde, die zeigen, dass das Prinzip der späten Schließung nicht immer angewendet wird (z. B. müsste bei später Schließung der Satz ›The spy shot the daughter of the colonel on the balcony‹ so gelesen werden, dass der Colonel auf dem Balkon steht; im Englischen gibt es aber keine Präferenz und im Spanischen wird sogar die Lesart präferiert, dass die Tochter auf dem Balkon steht; vgl. Carreiras / Clifton 1993). Auch weiß man inzwischen aus EKP-Studien, dass die semantische Information die Satzverarbeitung bereits in einem sehr frühen Stadium beeinflusst (vgl. Hagoort u. a. 2004) und der Kontext entgegen den Annahmen modularer Theorien einen Einfluss auf das Parsing haben kann (vgl. Nieuwland / Berkum 2006); dass außerdem Parsing-Präferenzen sprachabhängig sind (z. B. präferieren das Französische und das Spanische eine
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frühe und keine späte Schließung) und sogar die Zeichensetzung einen Einfluss auf die syntaktische Segmentierung hat (zusammenfassend: Eysenck / Keane 2010). Im Unterschied zu modularen Theorien gehen interaktive Theorien (sog. con straint-satisfaction models) davon aus, dass syntaktische, semantische und pragmatische Informationen weitgehend parallel verarbeitet werden und dass die Wahl einer syntaktischen Lesart bereits im ersten Schritt sowohl durch den semantischen und pragmatischen Kontext als auch den vorangegangenen Diskurskontext eingeschränkt (daher: constraint) wird (vgl. MacDonald u. a. 1994). Beispielsweise wird in dem Satz ›The evidence examined by the lawyer turned out to be unreliable‹ eine Interpretation von ›examined‹ als Hauptverb sofort verworfen, weil diese Lesart wegen des unbelebten Subjekts ›evidence‹ unplausibel ist (vgl. Ferreira / Clifton 1986). Interaktive Theorien sind konnektionistische Modelle und nehmen an, dass von den verschiedenen gleichzeitig aktivierten syntaktischen Lesarten diejenige präferiert wird, die am stärksten durch Einschränkungen gestützt ist und daher die meiste Aktivierung erhält (vgl. Eysenck / Keane 2010). Nach Gerry Altmann und Mark Steedman (1988) ist dabei das Prinzip der referenziellen Unterstützung leitend: Die Wahl fällt auf diejenige syntaktische Lesart, die durch den vorangegangenen Kontext referenziell Unterstützung erfährt (vgl. zusammenfassend: Irmen 2006). In der Tat liegen Befunde vor, nach denen bei einem vereindeutigenden Kontext der Holzwegeffekt ausbleibt (z. B. Spivey u. a. 2002; Tanenhaus u. a. 1995; Trueswell u. a. 1994). Außerdem wurde nachgewiesen, dass das Auftreten bzw. Ausbleiben des Effekts von weiteren Faktoren wie der Art des Verbs und der Arbeitsgedächtniskapazität abhängt (vgl. Irmen 2006; Meta-Analyse: MacDonald u. a. 1994). Zum diesem frühen und schnellen Einfluss von semantischen Informationen, Häufigkeitsinformationen und pragmatischen Informationen auf die syntaktische Satzanalyse liegt mittlerweile eine Fülle positiver Evidenzen vor (Überblick: Van Gompel / Pickering 2007). Insgesamt werden empirisch zwar eher die interaktiven als modularen Theorieansätze gestützt, aber die Befundlage ist nicht ganz einheitlich (Überblick: Eysenck / Keane 2010). Das lässt vermuten, dass die Syntax bei einem schwachen semantischen Kontext eher seriell, bei einem eher eindeutigen Kontext hingegen parallel verarbeitet wird. In den meisten Ansätzen wird allerdings übereinstimmend unterstellt, dass Leser/ innen den syntaktischen Input tatsächlich möglichst vollständig und korrekt analysieren. Dabei ist es nach wie vor umstritten, ob dies im natürlichen Leseprozess überhaupt der Fall ist. Nach Fernanda Ferreira, Karl Bailey und Vittoria Ferraro (2002) ist es durchaus möglich, dass in natürlichen Lesesituationen die syntaktische (aber auch die semantische) Analyse einem ›Good-enough-Prinzip‹ folgt, bei dem wir uns auf simple Heuristiken (wie die Subjekt-Verb-Objekt-Heuristik) stützen, die uns dazu verleiten kann, auch syntaktisch falsche Analysen als plausibel zu akzeptieren (›The man was visited by the woman‹ wurde z. B. interpretiert als ›The man visited the woman‹; vgl. Ferreira 2003). Insgesamt ist auch bei der syntaktischen Satzverarbeitung (ebenso wie bei der Wortverarbeitung) eine Tendenz zu Hybrid-Modellen zu erkennen, die die besten Merkmale von modularen und interaktiven Theorieansätzen integrieren sollen (z. B.
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das ›unrestricted race model‹ von Van Gompel u. a. 2000, 2005). Die Frage, ob die Satzverarbeitung modular oder interaktiv erfolgt, ist allerdings nach wie vor offen und wird weiterhin kontrovers diskutiert. Und auch hier zeigt die Uneinheitlichkeit der Befunde, dass ein einziges Modell die grundsätzliche Flexibilität des Leseprozesses offensichtlich nicht abbilden kann. Der empirische Befund, dass ambige Sätze schneller gelesen werden als parallele eindeutige Sätze, wenn ein leichter, nicht aber ein schwerer Verstehenstest erwartet wird (vgl. Swets u. a. 2008), unterstreicht dies eindrucksvoll. Schließlich ist als wichtiges Ergebnis dieser Forschung festzuhalten, dass die Sprachverarbeitung beim Lesen inkrementell ist, d. h. sie ist zu jedem Zeitpunkt so vollständig wie möglich.
3.3 Prozesse auf Textebene Beim Lesen zusammenhängender Texte müssen nach der Extraktion von Propositionen auf der nächst höheren Stufe des Verarbeitungsprozesses Propositionsfolgen miteinander verknüpft, die Inhalte von Sätzen und Textabschnitten aufeinander bezogen und zu einer kohärenten Textbedeutung integriert werden. Dies geschieht auf lokaler Ebene zwischen einzelnen Sätzen, auf globaler Ebene zwischen einzelnen Textteilen und erfordert, dass in der Regel in Form von Inferenzen und Elaborationen über den gegebenen Text hinausgegangen wird (Überblick: Christmann 2006, 2010). Zur Herstellung lokaler Kohärenz nutzen die Leser/innen in der Regel die Hinweise, die ihnen der Text selbst gibt. Dazu gehören in erster Linie verschiedene Formen von Koreferenzen, bei denen in aufeinanderfolgenden Sätzen auf denselben Referenten Bezug genommen wird, sowie kausale, temporale, adversative und additive Konnektiva. Empirisch hat sich immer wieder gezeigt, dass Texte mit solchen Angaben schneller und reibungsloser gelesen werden als Texte ohne diese Relationen (Überblick: Christmann 2008). Beim Lesen längerer Texte muss auch auf globaler Ebene Kohärenz hergestellt werden, indem z. B. Propositionssequenzen und Textabschnitte hinsichtlich ihrer Funktion im Gesamttext (Definition, Erklärung, Beispiel etc.) verbunden und zu sog. Makropropositionen verdichtet werden (vgl. van Dijk 1980). Dies geschieht in der Regel unter Rückgriff auf sog. Signale der Textoberfläche wie z. B. Überschriften, Hervorhebungen, Überblicke etc., aber natürlich auch unter Beteiligung von Lesezielen, Vorkenntnissen und Interessen der Leser/innen (Überblick: Christmann 2008). Als weitere Möglichkeit zur Verbindung von Satzfolgen steht dem/der Leser/in die sog. Thema-Rhema-Strategie (auch: Topic-Comment-Strategie) zur Verfügung, nach der neue Satzinformationen (Rhema) stets an alte, bereits im Arbeitsgedächtnis gespeicherte Satzinformationen (Thema) angebunden werden (vgl. Haviland / Clark 1974). Darüber hinaus können auch konzeptuelle Relationen zwischen Propositionen (z. B. Konzept-Evidenz, Konzept-Beispiel, Konzept-Begründung), die nicht notwendigerweise sprachlich signalisiert sein müssen, genutzt werden, um Sätze aufeinander zu beziehen (vgl. Sanders u. a. 1992). Weist ein Text Kohärenzbrüche auf, dann müssen die Lücken leserseitig durch Inferen
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zen und Elaborationen geschlossen werden. Die Frage, welche Formen von Inferenzen üblicherweise beim Lesen gebildet werden – textnahe oder auch textferne, elaborative Inferenzen – wird in der Forschung kontrovers diskutiert.1 Der Aufbau einer kohärenten Textbedeutungsstruktur stellt zweifelsohne den Kernprozess des sinnorientierten Lesens dar. Als Rahmentheorie für diesen komplexen Vorgang wird heute übereinstimmend der bereits von Frederic Bartlett (1932; vgl. auch Bransford u. a. 1972) begründete Konstruktivismus angesetzt, nach dem die Verarbeitung sprachlichen Materials keine passive Bedeutungsentnahme, sondern einen konstruktiven Akt der Sinngebung darstellt, bei dem Rezipienten/innen aktiv auf der Grundlage ihres Sprachwissens, ihrer inhaltlichen Vorkenntnisse und ihres Weltwissens Textinhalte aufeinander beziehen. Am Ende des Lesevorgangs hat der/die Leser/in im Optimalfall ein mentales Modell des im Text vermittelten Sachverhalts entwickelt, in dem Text- und Weltwissen integriert enthalten sind (Überblick: Christmann 2010). Demzufolge unterstellen sämtliche in der Literatur entwickelten Modelle des Lesens zumindest bei den hierarchiehöheren Verarbeitungsprozessen eine kognitiv-konstruktive Aktivität der Leser/innen (vgl. Christmann 2004; Eysenck / Keane 2010).2 Eine unmittelbare Konsequenz aus der kognitiv-konstruktiven Erklärung des Sprachverstehens ist die Konzeptualisierung des Lesens und Textverstehens als Interaktion zwischen vorgegebenem Text und der Kognitionsstruktur der Rezipienten/ innen, d. h. deren Vorwissen, Ziele, Erwartungen und Interessen (vgl. Groeben 1982). Kennzeichnend für die Entwicklung der kognitionspsychologischen Forschung ist, dass sie sich zunächst auf die Textseite dieses Wechselwirkungsprozesses konzentriert hat (vgl. das erste propositionale Beschreibungsmodell von Kintsch 1974), im Zuge ihrer Entwicklung aber zunehmend die Rezipientenseite berücksichtigt und danach explizit und differenziert das Zusammenspiel von Text- und Leserinstanz behandelt hat (historisch-systematischer Überblick bei Christmann 1989; vgl. auch Christmann 2006). Die Bedeutsamkeit rezipientenseitig vorhandenen Wissens für den Leseprozess wurde dabei ansatzweise bereits im Modell der zyklischen Verarbeitung (vgl. Kintsch / van Dijk 1978) berücksichtigt: Das Modell geht davon aus, dass zunächst in aufeinanderfolgenden Zyklen versucht wird, innerhalb und zwischen eingelesenen Gruppen von Textpropositionen Kohärenz herzustellen. Nur wenn dies nicht gelingt, werden mit Hilfe von vorwissensgestützten Inferenzen und Umstrukturierungen diese Lücken geschlossen. Damit hat das Vorwissen lediglich eine Reparaturfunktion, was in Nachfolgemodellen wie dem sog. Strategie-Modell (vgl. van Dijk / Kintsch 1983) sowie dem KonstruktionsIntegrations-Modell (vgl. Kintsch 1988, 1998) überwunden wird. Das Strategie-Modell, das den Textverstehensprozess am elaboriertesten von allen Modellen beschreibt, unterscheidet fünf Arten von Teilprozessen (propositionale Strategien, lokale Kohärenzstrategien, Makrostrategien, Schemastrategien und pragmatische Strategien.), die
1 Vgl. ausführlicher hierzu Kap. 2.1.3 Lesen als Sinnkonstruktion in diesem Band. 2 Vgl. im Einzelnen hierzu Kap. 2.1.3 Lesen als Sinnkonstruktion in diesem Band.
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beim Lesen eines Texts eine Rolle spielen, miteinander interagieren und stets vom Vorwissen und den Zielsetzungen der Leser/innen beeinflusst sind. Derzeit gilt das Konstruktions-Integrations-Modell als das bedeutsamste kognitionspsychologische Prozessmodell, das eine Integration von Textinformation und Vorwissen anstrebt und dafür zwei Prozessphasen unterscheidet: In der ersten Phase, der Konstruktionsphase, wird mit Hilfe von text- und einigen vorwissensbasierten Inferenzen eine reichhaltige, aber ungenaue propositionale Repräsentation des Ausgangstexts erstellt, die viele überflüssige Informationen enthält; in der zweiten Phase, der sog. Integrationsphase, wird diese interne Repräsentation unter Rückgriff auf das Weltwissen hinsichtlich Kohärenz sowie Passung zum situativen Kontext geprüft und entsprechend reduziert. Als Ergebnis dieses Prozesses werden Repräsentationen auf drei miteinander verbundenen Ebenen aufgebaut: eine Repräsentation der Textoberfläche (z. B. exakter Wortlaut, grammatikalische Wortarten, Satzsyntax etc.), eine Repräsentation der propositionalen Textbasis, die Textbedeutungsstruktur abbildet, und eine Repräsentation in Form eines mentalen Modells (auch: Situationsmodell), das die im Text beschriebenen Sachverhalte oder Situationen in Verbindung mit dem Vor- und Weltwissen weitgehend losgelöst von sprachlichen Strukturen enthält. Empirisch ließ sich nachweisen, dass beim Lesen Informationen auf den drei Ebenen repräsentiert und unterschiedlich gut behalten werden: Im Zeitverlauf von mehreren Tagen gehen Informationen der Textoberflächenrepräsentation am meisten und solche auf der Situationsmodellebene am wenigsten aus dem Gedächtnis verloren (vgl. Kintsch u. a. 1990). Insgesamt gilt das Modell als empirisch gut gestützt (vgl. die ausführliche und kritische Diskussion bei Richter 2003; Eysenck / Keane 2010; Gerlach 2010). Das zentrale Problem besteht allerdings in der exakten Beschreibung des Vorwissens, weshalb nur für routinisierte, eng umschriebene Wissensbereiche verlässliche Vorhersagen möglich sind. Zudem erscheint es wenig plausibel, dass die Konstruktionsphase zunächst fast ausschließlich textgeleitet ist und Leseziele erst in der Integrationsphase wirksam werden. Eher ist davon auszugehen, dass Leseziele den Verstehens prozess bereits in sehr frühen Phasen beeinflussen (empirisch: Kaakinen / Hyönä 2007). Daher ist das Modell nur begrenzt in der Lage, die Flexibilität des Leseprozesses adäquat zu beschreiben und als zielbezogenen, aktiv-konstruktiven Vorgang zu erklären (vgl. Richter 2003). Gleichwohl hat die Forschung in diesem Bereich deutlich gemacht, dass Leser/ innen in Abhängigkeit von Zielen, Aufgaben, Rezeptionsbedingungen und Interessen eine Vielzahl unterschiedlicher Wissensteilmengen flexibel einsetzen (können). Der Versuch, diese Flexibilität angemessen zu berücksichtigen, kennzeichnet die wissensgeleiteten Ansätze wie z. B. Schema-Theorien, die Theorie mentaler Modelle, Situations- und Dokumentenmodelle etc.3
3 Zur ausführlichen Darstellung vgl. Kap. 2.1.3 Lesen als Sinnkonstruktion in diesem Band.
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4 Kognitionspsychologische Methoden zur Erfassung des Lesens Zur empirischen Erforschung des Lesens steht eine Fülle von kognitionspsychologischen Methoden zur Verfügung (Überblick: Christmann 2010). Welche Methode letztlich gewählt wird, hängt immer von der Forschungsperspektive, dem Erkenntnisinteresse und dem Auflösungsgrad ab, mit dem der Lesevorgang untersucht werden soll. Die vorliegenden Verfahren kann man grob danach unterscheiden, ob der Lesep roze s s oder das Leseprodukt im Vordergrund steht. Methoden zur Erfassung von Leseprozessen werden primär bei der Untersuchung hierarchieniedriger Verarbeitungsvorgänge auf Buchstaben-, Wort- und Satzebene eingesetzt, während mit produktorientierten Methoden das Leseverstehen auf der hierarchiehöheren Textebene erfasst wird. Grundsätzlich gehen alle prozessorientierten Methoden davon aus, dass von der gemessenen Lesezeit auf die Verarbeitung zurückgeschlossen werden kann; längere Verarbeitungszeiten sind entsprechend ein Indikator für höheren Verarbeitungsaufwand (vgl. Mitchell 2004). Nachfolgend können nur die wichtigsten Typen von Methoden benannt werden. Die älteste und zugleich wichtigste Methode zur Erfassung des Leseprozesses ist die Blickbewegungsmessung (umfassend: Liversedge u. a. 2011), die wegen ihres hohen Auflösungsgrads und der mittlerweile erreichten Präzision aus der gegenwärtigen kognitionspsychologischen Leseforschung nicht mehr wegzudenken ist (Überblick: Radach 1996; Rayner / Pollatsek 2006). Das heißt, Blickbewegungsmessungen kommen bevorzugt in Studien zum Einsatz, bei denen Wörter oder kurze Sätze zu lesen sind. Allerdings werden neuerdings Blickbewegungsmuster auch beim Lesen längerer Texte erfasst und in Beziehung zu verschiedenen Leser/innen-Merkmalen gesetzt (vgl. Kaakinen / Hyönä 2007, 2011). Die Blickbewegungsmessung basiert auf basalen visuellen Wahrnehmungsprozessen. Sie nutzt die Tatsache, dass das Auge während des Lesens nicht kontinuierlich Zeile für Zeile über den Text gleitet, sondern für Bruchteile von Sekunden verharrt, bevor es zum nächsten Haltepunkt springt. Die Haltepunkte werden als Fixationen (Dauer: 200–250 ms), die Sprünge als Sakkaden (Dauer: 20–40 ms) bezeichnet. Wird im Text zurückgegangen, treten Rücksprünge oder sog. Regressionen auf, die zur Reanalyse problematischer Textstellen genutzt werden. 10–15 % aller Fixationen sind dabei Regressionen. Die Verarbeitung visueller Zeichen erfolgt nur während der Fixationen. Fixationen, Sakkaden und Regressionen sind die zentralen Größen, mit denen die Blickbewegungsmessung arbeitet (Überblick: Günther 1989; Radach / Kennedy 2004; Rayner / Pollatsek 2006; Rayner u. a. 2012). Aus ihrer Dauer und Abfolge werden verschiedene Maße abgeleitet. Bedeutsam ist insbesondere die Fixationsdauer, wobei die Summe aller Fixationen auf ein Wort als Indikator für den kognitiven Verarbeitungsaufwand gilt; daneben finden aber auch die Sakkadenlänge sowie die Relation zwischen Sakkadenlänge und Fixationsdauer Berücksichtigung.
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Regressionen bzw. regressive Sakkaden gelten als Indikator für Verstehensprobleme (Überblick und operationale Definitionen gebräuchlicher räumlicher und zeitlicher Maße: Radach / Kennedy 2004, S. 6 f.). Sämtliche Größen können in Abhängigkeit von der Wortart, der -länge, -häufigkeit, -vorhersagbarkeit, dem Satzkontext, der Textschwierigkeit, dem Vorwissen und den Zielsetzungen der Leser/innen beträchtlich variieren. Die klassische Blickbewegungsforschung geht von zwei zentralen Annahmen aus, der sog. immediacy- und der eye-mind-Annahme (vgl. Just / Carpenter 1980). Die ›immediacy‹-Annahme besagt, dass ein Wort während der Fixation vollständig und unmittelbar verarbeitet wird und die Blickdauer (Summe der Fixationen auf das Wort) ein Indikator für die Verarbeitungszeit des betreffenden Worts ist; die ›eye-mind‹-Annahme postuliert, dass Fixationen und die Verarbeitung des fixierten Worts im Gehirn eng verknüpft sind. Die Forschung hat allerdings gezeigt, dass beide Annahmen nicht ganz zutreffend sind. So ist z. B. die Fixationszeit nicht notwendigerweise ein Indikator für die Zeit, die zum Erkennen eines Worts benötigt wird. Dafür sprechen sowohl der ›spillover-effect‹ (beim Lesen eines seltenen Worts verlängert sich die Fixationszeit für das nachfolgende Wort) als auch das Auftreten von Regressionen. Neben der Messung von Blickbewegungen stellt die Registrierung von Lesezeiten eine weit verbreitete Methode zur ›on-line‹-Erfassung des Leseprozesses dar. Auch sie beruht auf der Annahme, dass die gemessene Zeit ein Maß für den kognitiven Aufwand beim Lesen ist. Als valideste Methode zur Erfassung von Lesezeiten gilt die ›Moving-Window-Technique‹ (vgl. Hemforth 2006). Dabei wird den Versuchspersonen der zu lesende Text portionsweise auf dem Bildschirm dargeboten. Auf Tastendruck verschwindet der gelesene Satz und der nächste erscheint auf dem Bildschirm. Im Prinzip handelt es sich dabei um ein einfaches und ökonomisches Verfahren, das in der Leseforschung allein oder in Kombination mit anderen Methoden auf Wort-, Satz- und Textebene eingesetzt wird. Allerdings können Lesezeiten nicht verlässlich Auskunft darüber geben, ob und in welcher Weise der gelesene Text auch verstanden wurde; hier sind zusätzliche Verfahren zur Kontrolle des Verstehens notwendig (z. B. Online-Fragen zum Gelesenen). Zur Messung der Schnelligkeit des lexikalischen Zugriffs werden bevorzugt Priming-Techniken sowie lexikalische Entscheidungsaufgaben eingesetzt. ›Priming‹ (auch Bahnung oder Voraktivierung) bedeutet, dass die Verarbeitung eines Worts (Prime) zu einer Voraktivierung eines anderen, nachfolgenden Worts (Target oder Zielreiz) führt, sofern die beiden Wörter z. B. semantisch aufeinander bezogen, phonetisch ähnlich oder hoch assoziiert sind. Stets wird der Zielreiz beurteilt (z. B. Wort vs. Nicht-Wort; semantische Nähe zum Prime-Wort), die dafür benötigte Reaktionszeit erfasst und mit einer Kontrollbedingung verglichen. Die Zeitdifferenz zwischen den beiden Bedingungen stellt den Priming-Effekt dar, der in der Regel umso größer ausfällt, je enger die Beziehung zwischen Prime und Target ist. Die Reaktionszeit gilt dabei als Indikator für den Verarbeitungsaufwand.
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Das Priming-Paradigma beruht auf dem Gedanken, dass das semantische Gedächtnis als Netzwerk von Konzepten aufgebaut ist (vgl. Collins / Loftus 1975). Wird ein Konzept aktiviert, so breitet sich diese Aktivierung auf alle mit ihm assoziierten Konzepte aus – je stärker die assoziativen Verbindungen zwischen den Konzepten, desto intensiver die Aktivierung (vgl. Engelkamp / Zimmer 2006, S. 166–170). Auf demselben theoretischen Modell basieren auch lexikalische Entscheidungsaufgaben, bei denen die Versuchsperson zunächst einen Satz oder einen kurzen Text liest und dann so schnell wie möglich entscheidet, ob ein nachfolgendes Item ein ›Wort‹ oder ein ›Nicht-Wort‹ ist. Gemessen wird die Latenzzeit zwischen dem Einblenden eines Stimulus-Worts und der Reaktion (vgl. Meyer / Schvaneveldt 1971). Schließlich gehört auch das Wiedererkennungsparadigma zu den prozessorientierten Methoden. Dafür wird ein Zielwort während oder kurz nach dem Lesen einer Textpassage eingeblendet. Es handelt sich dabei um positive Targets, die im Text vorkamen, oder negative Targets, die nicht im Text enthalten waren. Geprüft wird die Wiederkennungslatenz (ja/nein) bei korrekten Antworten, korrekten Zurückweisungen und falschen Alarmen (vgl. Haberlandt 1994). In jüngster Zeit kommen verstärkt auch neurophysiologische Untersuchungstechniken zur Erforschung der Vorgänge beim Lesen zum Einsatz. Sie haben den Anspruch, den Leseverarbeitungsprozess in einem noch höheren Auflösungsgrad abzubilden, als dies mit den bisher vorgestellten Methoden möglich ist.4 Allerdings sind diese Methoden nur bei eng umschriebenen Fragestellungen einsetzbar und extrem störanfällig. Produktorientierte Methoden werden primär verwendet, wenn das Leseverstehen auf hierarchiehohen Verarbeitungsebenen erfasst werden soll. In der Literatur findet man eine Fülle solcher Methoden, von denen immer wieder neue Varianten entwickelt werden (ausführliche Zusammenstellung in Alderson 2000; Überblick: Christmann 2009). Daher will ich mich hier auf vier klassische Verfahren beschränken. Prominent und weitverbreitet sind Multiple-Choice-Aufgaben. Dabei werden Fragen zum Text in Form von Antwortmöglichkeiten gestellt, wobei die richtige Antwort wiederzuerkennen bzw. anzukreuzen ist. Bei der Konzipierung solcher Tests werden verschiedene Teilfähigkeiten des Leseverstehens (mindestens: Kenntnis der Wortbedeutungen, Textgliederung, Schlussfolgerungen und Bewertungen) durch mehrere Aufgaben abgedeckt. Bei der Konstruktion von Multiple-Choice-Items ist zu berücksichtigen, dass gute Antwortmöglichkeiten möglichst wenig »von Faktoren wie Weltwissen, Intelligenz und Testerfahrung abhängen« sollten (Rost / Sparfeldt 2007, S. 313), da sonst die Gefahr besteht, dass nicht das Leseverstehen, sondern das schlussfolgernde Denken und die verbale Intelligenz gemessen wird (vgl. Groeben 1982).
4 Vgl. Kap. 1.1 Ansätze der Kognitiven Neurowissenschaften in diesem Band.
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Eine klassische Methode zur Erfassung des Leseverstehens ist auch die Beantwortung von Fragen mit offener Antwortmöglichkeit. Mit solchen Fragen können sowohl erworbenes Faktenwissen, Überblickswissen und Zusammenhangswissen erhoben (wissensorientierte Fragen) als auch das tiefere Textverständnis geprüft werden (verständnisorientierte Fragen oder Fragen, die Inferenzen erfordern). Will man wissen, in welchem Ausmaß und in welcher Intensität die Leser/innen den gesamten Textinhalt repräsentiert und verstanden haben, sind freie Wiedergabeverfahren die Methode der Wahl. Bei den drei gängigsten handelt es sich um die freie Reproduktion (möglichst genaue und vollständige Wiedergabe des Texts), die gelenkte Reproduktion (Vorgabe von Wörtern oder Satzanfängen, die von den Leser/ innen ergänzt werden müssen) und Zusammenfassungen (um zu überprüfen, ob das Wesentliche eines Texts verstanden wurde). Und will man das textstrukturelle Wissen erfassen, also Wissen darüber, wie spezifische Textsorten (Erzähltexte, Märchen, wissenschaftliche Texte etc.) üblicherweise aufgebaut sind, bieten sich Sortier- oder Ordnungsaufgaben an, bei denen die Reihenfolge der Sätze oder besser von Abschnitten des Ursprungstexts zerstört wird. Aufgabe der Leser/innen ist es, die korrekte Reihenfolge wiederherzustellen. Bei allen produktorientierten Methoden besteht das Problem darin, dass es schwierig ist zu entscheiden, ob korrekte Antworten tatsächlich auf dem Verstehen des Gelesenen oder auf bloßer Merkfähigkeit beruhen. Auch kann man nie sicher sein, ob korrekte Antworten tatsächlich auf einer Repräsentation des Gelesenen beruhen oder im Nachhinein durch Schlussfolgerungsprozesse generiert werden (vgl. Cain / Oakhill 2006). Darüber hinaus ist grundsätzlich zu berücksichtigen, dass die Wahl der Methode davon abhängen sollte, welcher Aspekt des Leseverstehens bei welcher Textsorte überprüft werden soll. Da keines der Verfahren in der Lage ist, alle Aspekte des Leseverstehens abzubilden, erfordert eine möglichst valide Erfassung den Einsatz multipler Erhebungsmethoden, bei denen prozess- und produktorientierte Verfahren miteinander kombiniert und sowohl das Textmaterial als auch das Antwortformat variiert werden (vgl. Fletcher 2006).
5 Anwendungsperspektive: Diagnose des Leseverstehens Leser/innen unterscheiden sich in aller Regel darin, wie effizient sie die unterschiedenen Teilprozesse des Lesens bewältigen (vgl. ausführlich: Richter / Christmann 2006). Die Diagnostik von Lesefähigkeiten sollte sich daher auf alle Teilkomponenten des Leseprozesses beziehen. Dies ist umso bedeutsamer, als eine genaue und verlässliche Identifikation von Lesedefiziten im gesamten Bildungsbereich die Voraussetzung für eine zielgerichtete Leseförderung darstellt.
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Obgleich kognitionspsychologische Lesemodelle bereits in den 1980er Jahren entwickelt wurden, haben sie erst in den letzten 10 bis 15 Jahren die Lesediagnostik beeinflusst (vgl. Schneider 2009). Während vor der Jahrtausendwende im deutschsprachigen Raum nur einige wenige und veraltete Instrumente vorlagen, kann man heute auf eine Fülle von Verfahren zurückgreifen, die die Komponenten der Leseleistung zuverlässig, valide und ökonomisch erfassen (vgl. Schneider 2009). Im Folgenden möchte ich abschließend auf Instrumente eingehen, die theoriegeleitet und mit Bezug auf die oben dargestellten Teilprozesse des Lesens entwickelt wurden. Eine konsequente diagnostische Umsetzung kognitionspsychologischer Ansätze des Lesens impliziert, dass sowohl die Qualität (Produktkomponente) als auch die Zeit (Prozesskomponente) erfasst wird, mit der die unterschiedenen Teilprozesse des Lesens (von der Wortidentifikation bis hin zur Bildung von Situationsmodellen) bewältigt werden (vgl. Richter u. a. 2012). Die oben getroffene Unterscheidung zwischen prozess- und produktorientierter Erhebung (vgl. Abschnitt 4) erstreckt sich also auch auf die Instrumente zur Erfassung der Lesekompetenz. Viele Testverfahren sind dabei ausschließlich auf die Produktkomponente konzentriert und erfassen das Leseverstehen nach oder während der Lektüre eines mehr oder minder langen Texts meist mit Hilfe von Mehrfachwahlaufgaben. Wie bei den produktorientierten Methoden bleibt auch hier unklar, welche Teilleistungen und Bedingungsfaktoren für die unterschiedliche Qualität der Aufgabenbewältigung ausschlaggebend sind (vgl. Abschnitt 4 sowie Richter / Holt 2005). Instrumente, die sowohl Produkt- als auch Prozesskomponenten berücksichtigen, messen meist basale Teilfähigkeiten des Lesens. Die Prozesskomponente wird dabei entweder durch die Vorgabe von Lesezeitbegrenzungen oder durch die Messung von Antwortlatenzen realisiert. Beispielsweise misst der Ein-Minuten-Leseflüssigkeitstest (vgl. Landerl / Willburger 2009), der auf dem Salzburger Lese- und Rechtschreibtest aufbaut (vgl. Landerl u. a. 2006), die Lesegenauigkeit und die Lesegeschwindigkeit (Anzahl von Wörtern und Pseudowörtern, die innerhalb einer Minute korrekt vorgelesen werden können) und ist theoretisch in den Zwei-Wege-Modellen des Lesens verankert. Normierungen liegen für den Grundschulbereich vor; für den Sekundarbereich und für Erwachsene sind weitere Normierungen in Vorbereitung. Die Würzburger Leise-Leseprobe stellt ebenfalls eine Möglichkeit dar, die Lesegeschwindigkeit, die als ein wichtiger Faktor der Leseleistung gilt, zu erfassen (vgl. Küspert / Schneider 2000). Dabei wird ein Wort mit vier bildlichen Repräsentationen vorgegeben, von denen die zu dem Wort passende auszuwählen ist; gemessen wird die Anzahl der Items, die innerhalb von fünf Minuten korrekt gewählt werden. Beim Salzburger Lese-Screening hingegen geht es um die Beurteilung der Korrektheit einfacher Aussagen sowie die Schnelligkeit des Lesens (vgl. für Klassenstufe 1–4: Mayringer / Wimmer 2003; für Klassenstufe 5–8: Auer u. a. 2005). Auch für die Klassen 6–12 liegt ein Lesegeschwindigkeits- und Verständnistest vor (vgl. Schneider u. a. 2007), bei dem ein Fließtext zu lesen ist, der an mehreren Stellen unterbrochen ist. Zur Füllung der Leerstellen werden unterschiedliche Optionen zur Vervollständigung angeboten. Der Testwert
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setzt sich aus einer Kombination der Anzahl von gelesenen Wörter und der Anzahl von richtigen Auswahlentscheidungen zusammen. Im Unterschied zu den bislang genannten Verfahren versucht der Lesetest ELFE 1–6 (›Ein Leseverständnistest für Elementarschüler‹; vgl. Lenhard / Schneider 2006; Lenhard u. a. 2009) möglichst viele Komponenten des Leseverstehens zu erfassen. Dabei werden Leseleistungen auf Wort-, Satz- und Textebene erfasst. Beim Subtest ›Wortverständnis‹ muss das passende Bild zu einem Wort gewählt werden, beim Subtest ›Satzverstehen‹ ist aus mehreren vorgegebenen Satzteilen der passende auszuwählen und beim Subtest ›Textverstehen‹ sind nach dem Lesen eines kurzen Texts inhaltliche Fragen zu beantworten und Inferenzen zu bilden. Der Test kann auch am Computer durchgeführt werden und bietet dann die Möglichkeit, die Worterkennungsgeschwindigkeit und Lesezeitmaße in den Gesamtwert einzubeziehen. Noch mehr Teilfähigkeiten als ELFE berücksichtigt der neue Test ProDiL (›prozessorientierte Diagnostik von Lesefähigkeit‹), der Antwortrichtigkeit und Reaktionszeiten bei Aufgaben auf verschiedenen Prozess-Stufen des Lesens erfasst und theoretisch auf den relevanten Befunden zum Lesen auf Wort-, Satz- und Textebene basiert (vgl. Richter u. a. 2012). ProDiL unterscheidet drei hierarchieniedrige Subtests (phonologische Codierung, orthographischer Vergleich und Zugriff auf Wortbedeutungen) sowie drei hierarchiehohe Subtests, die sich auf das Verstehen von Sätzen und Propositionsfolgen beziehen (syntaktische Integration, semantische Integration und lokale Kohärenzbildung). Bei der Aufgabenbearbeitung wird sowohl die Antwortrichtigkeit als auch die Reaktionszeit registriert. Die Kombination dieser beiden Testwerte führt dabei zu stabileren Zusammenhängen mit den als Kriterium angesetzten Verstehensmaßen als die Einzelwerte. Wegen dieser Trennung von Teilfähigkeiten ist ProDiL besonders für eine gezielte Förderdiagnostik geeignet. Ein theoriegeleitetes Verfahren zur Erfassung des Leseverstehens bei geübten Erwachsenen ist ELVES (›Effizienz des Leseverstehens bei Erwachsenen nach dem Strategiemodell‹; vgl. Richter / Holt 2005). Es handelt sich um ein computergestütztes Instrument, das auf dem Strategiemodell von Teun van Dijk und Walter Kintsch (1983) basiert und folgerichtig Subtests zu hierarchieniedrigen Teilprozessen (Satzverifikationsaufgabe, Sinnhaftigkeitsurteile bezogen auf Satzfolgen, Wortschatztest) sowie zu hierarchiehohen Teilprozessen einbezieht (Unterscheidung von Fakten und Meinungen, Beurteilung der Korrektheit zusammenfassender Aussagen, Identifikation von Textimplikationen). Erfasst wird auch hier wieder die Korrektheit der Antwort sowie die Antwortlatenzzeit als Maß für die Ressourcenbeanspruchung beim Lesen. ELVES ist das einzige Instrument im deutschsprachigen Raum, das dezidiert auf die Zielgruppe der Erwachsenen zugeschnitten ist; es ist bislang insbesondere als Forschungsinstrument in pädagogischpsychologischen Experimenten eingesetzt worden (vgl. z. B. Naumann u. a. 2008). Insgesamt ist die diagnostische Situation noch nicht befriedigend. Es fehlen weitere Verfahren zur Erfassung von hierarchiehohen Komponenten des Leseprozesses und zwar insbesondere für die Sekundarstufe II. Allerdings gibt es hier das Dauerproblem, dass es schwierig sein dürfte, Testaufgaben für die höheren Stufen des
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sinnorientierten Lesens zu entwickeln, die nicht mit leseübergreifenden Fähigkeitskomponenten (Vorwissen, Intelligenz, Arbeitsgedächtniskapazität) konfundiert sind. Gleichwohl erfordert eine effiziente Leseförderung auf allen Stufen des Bildungssystems auf Dauer noch passgenauere diagnostische Instrumente, die es erlauben, genau zu identifizieren, an welchen Punkten des Verstehensprozesses welche Art von Förderung notwendig ist (vgl. Schröder 2010).
6 Ausblick und Entwicklungstrends Die kognitionspsychologische Leseforschung hat mit ihren vielfältigen Modellen und Befunden auf Wort-, Satz- und Textebene deutlich gemacht, dass Lesen ein hochgradig flexibler Prozess ist, der von den Bedingungen der Lesesituation, der Leseaufgabe sowie den individuellen Voraussetzungen des Lesers (mit) abhängt. Deutlich wurde auch, dass keines der Modelle in der Lage ist, die Flexibilität dieses Prozesses vollständig zu modellieren. Dies zeigt sich insbesondere an der Vielfalt der Modelle, die entwickelt wurden, aber auch an der Uneinheitlichkeit der Daten. In Zukunft sollten daher vermutlich vermehrt Hybrid-Modelle ausgearbeitet werden, die die Vorzüge verschiedener Modelle zusammenfassen und den höchsten Integrationswert erreichen können. Aus demselben Grund sollten in Zukunft Lesephänomene mit verschiedenen unterschiedlich hoch auflösenden Methoden sowohl auf Produkt- als auch Prozessebene untersucht werden, wie das ansatzweise bereits in Studien der Fall ist, die Reaktionszeitmessungen mit Verstehensprodukten kombinieren (vgl. Christmann u. a. 2011).
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1.2 Kognitionspsychologische Ansätze
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Andreas Dengel / Marcus Liwicki
1.3 Informationswissenschaftliche und computerlinguistische Ansätze Zusammenfassung: Aufgrund der hohen Komplexität des Lesevorgangs ist das Computerlesen, d. h. die computerbasierte Imitation des Lesevorgangs, ein sehr intensiv bearbeitetes Forschungsfeld, vor allem in der Künstlichen Intelligenz (KI), die sich mit dem Design und der Realisierung von Agenten mit intelligentem Verhalten beschäftigt. Dieser Beitrag beschreibt zunächst die für computerbasiertes Lesen relevanten Verarbeitungsschritte von der gedruckten Zeichenkette bis hin zur automatisch verstandenen Information. Im zweiten Teil werden neue Forschungsansätze vorgestellt, die den menschlichen Leseprozess unterstützen oder computerbasiertes Lesen in alltägliche Workflows einbinden. Abstract: Due to its high complexity, machine reading – that is, the machine-based imitation of the reading process – is a topic of intensive investigation in computer science, especially in the field of artificial intelligence (AI), which envisages designing agents with intelligent behavior. This chapter first describes the processing chain from printed characters to extracted and automatically understood information. The chapter then focuses on new research perspectives that support the human reading process or find applications for computer-based reading in the daily workflow.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 48 1.1 Repräsentation von Bild und Schrift im Computer — 48 1.2 Repräsentation von Wissen: Ontologien in der Informatik — 49 1.3 Semantisches Web und RDF — 49 2 Computerlesen — 52 2.1 Subsymbolische Verarbeitung: Vom gedruckten oder geschriebenen Text bis zur erkannten Buchstabenfolge — 53 2.2 Symbolische Verarbeitung: Von der erkannten Information zum verstandenen Wissen — 55 3 Computergestütztes Lesen — 57 3.1 Verwendung der Blickinformation — 57 3.2 Automatisches Erkennen des Leseverhaltens — 58 4 Aktuelle Trends — 59 4.1 Integriertes Computerlesen in Apps — 59 4.2 Unterstützung des Lese- und Verstehens-Prozesses im Semantic Web — 60 5 Literatur — 61
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Andreas Dengel / Marcus Liwicki
1 Einleitung Mit der Aufgabe, Maschinen das Lesen beizubringen, haben sich Forscher schon vor mehr als 100 Jahren beschäftigt – lange bevor es die ersten digitalen Computer gab. So stellte Edmund Edward Fournier d’Albe bereits 1914 eine Maschine vor, die Buchstaben anhand der Schwarz-Weiß-Verteilung in Laute umwandelte, um Blinden das Lesen zu ermöglichen.1 Heutzutage gehört eine Lesesoftware (engl. Optical Character Recognition oder kurz: OCR) zur Standardausrüstung eines Bürocomputers, sei es eine kommerzielle Software wie ABBY Finereader (vgl. Mendelson 2009) oder eine kostenlose OpenSource Variante wie OCRopus (vgl. Breuel 2008), sowie die in jedem Windows-Computer eingebundene Handschrifterkennung (vgl. Pittman 2007). Doch wie funktioniert das Computerlesen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zuerst das Ziel des Computerlesens in unserer Zeit genauer definieren. Es geht nicht nur darum, die Bildinformation einer Buchstabenfolge in ein anderes Format umzuwandeln. Auch die Semantik des Texts soll verstanden werden, indem die im Text angelegten Informationen extrahiert werden. Im Forschungsfeld der Sprachverarbeitung (NLP), einem Teilgebiet der KI, werden dem Prozess des Verstehens verschiedene Verarbeitungsschritte vorangestellt. Bevor diese Verarbeitungsschritte nun genauer erläutert werden können, müssen die Vorbedingungen durch einige Begriffsdefinitionen klargestellt werden.
1.1 Repräsentation von Bild und Schrift im Computer Als Eingabe erhält ein typisches OCR-System ein Bild, das durch Einscannen oder Abfotografieren eines Texts entstanden ist. Unabhängig vom Dateiformat (sei es jpg, bmp oder gif) codieren Bilddateien ein Raster von Bildpunkten (Pixeln). Mathematisch gesehen entspricht dies einer Matrix von numerischen Werten, welche die Farbe an jeder Stelle repräsentieren. Ziel einer einfachen OCR ist es nun, dieses Eingabebild in eine computerlesbare Zeichenkette (Buchstabenfolge) umzuwandeln. Üblicherweise werden Buchstaben im erweiterten ASCII-Code repräsentiert. Formatierungselemente wie Schriftart und Effekte werden hier außer Acht gelassen, da sie auf die in diesem Kapitel behandelten Prozesse des Computerlesens keinen Einfluss haben.
1 Zu Lesemedien der Blinden vgl. Kap. 2.2.2 Das Buch in der Codexform und einblättrige Lesemedien, Abschnitt 3.4 in diesem Band.
1.3 Informationswissenschaftliche und computerlinguistische Ansätze
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1.2 Repräsentation von Wissen: Ontologien in der Informatik Während Datenbanksysteme in der Computerwelt schon sehr verbreitet sind, setzte sich erst in den letzten Jahrzehnten eine formale Wissensrepräsentationsform für Computer durch, die Ontologien. Für dieses Konzept spielen die Begriffe Daten, Informationen und Wissen eine wichtige Rolle. Daten sind Einheiten jeglicher Art, beim Lesen also Buchstaben, Zahlen, Wörter oder Texte. Als Beispiel nehmen wir die Zahl ›18‹. Erst durch die Strukturierung der Daten bzw. durch das Hinzufügen einer Bedeutung werden Daten zu Informationen. Beispielsweise wären ›Alter zur Volljährigkeit in Deutschland‹ und ›Treibstoffverbrauch eines Sprinters pro 100 km‹ zwei unterschiedliche Kontexte, die aus dem Datenwert ›18‹ Informationen generieren. Die Verarbeitung von Daten zu Informationen wird dabei als Anwendung von Wissen bezeichnet. »Wissen ist also die Fähigkeit Daten im Kontext zu interpretieren« und »Das Verhalten, gespeichertes Wissen zu verarbeiten und anfallende Daten zu interpretieren kann als ›intelligentes‹ Verhalten betrachtet werden« (Dengel 2012, S. 4 u. 5). In der KI-Forschung werden Programme (Inferenzmechanismen) realisiert, die intelligentes Verhalten simulieren, um Wissen nutzbar zu machen und neues Wissen zu generieren. Damit die Programme auf das Wissen zugreifen können, muss es in formalen Strukturen repräsentiert werden. Als Begriff für diese Formalisierung hat sich in der Informatik u. a. der Begriff ›Ontologie‹ durchgesetzt, der – abweichend vom Forschungsfeld der theoretischen Philosophie, aus dem er stammt – in der Informatik formal spezifiziertes Domänenwissen bezeichnet. Die gängigsten informatischen Definitionen von ›Ontologie‹ sind: –– »An ontology is an explicit specification of a conceptualization.« (Gruber 1993, S. 1) –– »[An ontology is a] shared understanding of some domain of interest.« (Uschold / Gruninger 1996, S. 5) –– »Eine Ontologie [in der Informatik] ist eine formale, explizite Spezifikation einer gemeinsamen Konzeptualisierung.« (Dengel 2012, S. 65)
1.3 Semantisches Web und RDF Die in Abb. 1 dargestellte visuelle Repräsentation von Wissen ist sehr hilfreich für den menschlichen Informationsaustausch, für Computer hingegen noch nicht ausreichend, um den semantischen Kontext genau zu erschließen, da nicht eindeutig spezifiziert wird, was der Begriff ›Person‹ meint. Für Menschen aus dem deutschsprachigen Raum ist dies klar, doch lassen sich die Probleme im Feld des Computerlesens am ehesten anhand der Probleme nachvollziehen, die sich auch in der menschlichen Kommunikation zuweilen durch Mehrdeutigkeiten ergeben. Mit ›Maus‹ könnte z. B. das Tier ›Maus‹, die ›Computermaus‹ oder eine Person mit dem Nachnamen ›Maus‹
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Andreas Dengel / Marcus Liwicki
Organisation
Forschungsinstitut Person arbeitet-für
Verlag
http://www.dfki.de
http://www.dfki.de/~dengel
Ort http://www.dfki.de/~liwicki http://www.kaiserslautern.de
ist-ein(e)
Handbuch Lesen
Buch
http://www.degruyter.com http://www.degruyter.com/view/product/180934?rskey=7Rql42&result=1
Abb. 1: Grafische Visualisierung einer Ontologie
gemeint sein. Es ist also wichtig, jedem Ding (Ressource) einen eindeutigen Bezeichner (Identifier) zu geben. In der Informatik werden Ressourcen durch einen eindeutigen URI (Uniform Resource Identifier) identifiziert, der auch von Internet-Adressen her bekannt ist. Mit Hilfe eines Vokabulars, das eine Domäne oder ein Anwendungsgebiet beschreibt, lassen sich so Informationsklassen festlegen. In Abb. 1 sind dies die blau und oval umrandeten Klassen ›Person‹, ›Ort‹, ›Buch‹, ›Verlag‹, ›Forschungsinstitut‹, wobei letztere wieder zu einer allgemeineren Klasse Organisation zusammengefasst werden können. Jede Klasse hat sog. Instanzen, die rot umrandet und mittels ihrer URI jeweils eindeutig zuweisbar sind. Semantik als Bedeutung wird einerseits mittels der Relation ›ist-ein(e)‹ beschrieben, die angibt, zu welcher Klasse eine Instanz gehört bzw. welcher allgemeineren Klasse (Oberklasse) speziellere Klassen (Unterklassen) zugeordnet sind. Andererseits verdeutlichen domänenspezifische Relationen (in roter Farbe) die bestehenden Beziehungen zwischen Instanzen oder Klassen. Es gibt bereits gängige Informationssammlungen, die ein ›semantifiziertes‹ Vokabular auf Grundlage von URIs zugänglich machen. Ein Beispiel ist DBpedia, eine ›Ontologie‹, in der das in Wikipedia vorhandene Wissen semantisch abgebildet ist. So erhält beispielsweise auch der Begriff ›Person‹ eine maschinenlesbare Semantik und ist über das URI http://dbpedia.org/ontology/Person greifbar. Die DBpedia ist also Teil des Semantischen Webs.
1.3 Informationswissenschaftliche und computerlinguistische Ansätze
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Forschungsinstitut
Andreas Dengel liwicki:DFKI
...
Abb. 2: Auszug der RDF-Notation zu Abb. 1
Das Semantische Web zeichnet sich dadurch aus, dass Informationen sowohl für Computer als auch für Menschen verständlich dargestellt werden. Dabei wird der auf XML aufbauende, vom World Wide Web Consortium (W3C) standardisierte RDFFormalismus (RDF Core Working Group 2004) zur semantischen Beschreibung von Dingen verwendet. Mit RDF (dem Resource Description Framework) lassen sich beliebige Dinge (Ressourcen) repräsentieren, die im Semantischen Web, wie oben dargelegt, eindeutig identifiziert werden können. Ressourcen enthalten Eigenschaften oder Relationen (Properties), die wiederum Werte besitzen. Dadurch können, wie in Abb. 1 gezeigt, Aussagen (Statements in Form einfacher Tripel: Subjekt-Eigenschaft / Relation-Objekt) über Ressourcen aufgebaut, miteinander verknüpft und durch einen formalen Graphen visualisiert werden. In RDF-Notation sieht der konzeptuelle RDF-Graph von Abbildung 1 wie in Abbildung 2 dargestellt. Es handelt sich hier um die gängige XML-Syntax, die im oberen Teil Definitionen einiger Abkürzungen aufweist. So soll z. B. an jeder Stelle, an der ›foaf:‹ steht, die URI http://xmlns.com/foaf/0.1/# eingesetzt werden. Als nächstes folgt die Klasse ›liwicki:Forschungsinstitut‹, die als Unterklasse der bereits im Semantischen Web vorhandenen Klasse ›org:Organization‹ beschrieben wird. Die als ›foaf:Person‹ gefinierte Person ›Andreas Dengel‹ ist als Mitglied (›org:memberOf‹) vom DFKI geführt. Durch diese Kontextualisierung ist für den Computer klar, welche Eigenschaften für die Ressourcen ›liwicki:Forschungsinstitut‹ und ›liwicki:AndreasDengel‹ gelten, da alle Eigenschaften der Oberklassen mit übernommen werden.
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Andreas Dengel / Marcus Liwicki
Der Prozess des computerbasierten Lesens kann somit als Identifizieren von Dingen im Text, die in einer (RDF-)Ontologie beschrieben sind, aufgefasst werden. Das Ziel dabei ist, den (RDF-)Graphen zu erweitern. Dies kann analog zur Extraktion von Propositionen und zum Aufbau der kohärenten Textbedeutung gesehen werden.2
2 Computerlesen Wie die Beschreibung des kognitiven Vorgangs3 ist auch der Prozess des computerbasierten Lesens in mehrere Verarbeitungsschritte aufgeteilt. Die typische Verarbeitungskette ist in Abbildung 3 dargestellt. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen der subsymbolischen Verarbeitung, bei der die Elementareinheiten (Pixel, Merkmale) nicht durch einen Bezeichner gekennzeichnet sind, und der symbolischen Verarbeitung mit sprachlichen fassbaren Elementareinheiten (Wörter, Textsegmente). In den nächsten beiden Abschnitten werden Teilaspekte beider Verarbeitungsschritte genauer erläutert. In der subsymbolischen Verarbeitung geht es darum, die Buchstabenfolge zu erkennen, während in der symbolischen Verarbeitung die Informationen extrahiert werden sollen. Da computerbasierte Verfahren algorithmisch vorgehen, kann man oft die Güte (Performanz) der einzelnen Verarbeitungsschritte auf großen Testdatenmengen messen. Dazu ermittelt man die erzielten Resultate eines Teilschritts und zählt die Anzahl der korrekten Ergebnisse und die Anzahl der falschen Ergebnisse. Als Ergebnis erhält man die Erkennungsrate (recognition rate) und die Fehlerrate (error rate).
Abb. 3: Typische Verarbeitungsschritte beim computerbasierten Lesen
2 Für weiterführende Informationen zu diesen Themen vgl. Dengel 2012. Die kohärente Textbedeutung wird in Kap. 2.1.3 Lesen als Sinnkonstruktion in diesem Band beschrieben. 3 Vgl. hierzu Kap. 1.2 Kognitionspsychologische Ansätze in diesem Band.
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Bei der Informationsextraktion wird der Anteil der resultierenden Informationen gemessen, die auch tatsächlich im Text angelegt waren (precision) und der Anteil der korrekt gefundenen Informationen von allen im Text angelegten Informationen (recall). Ein perfektes Computerlesesystem würde eine Fehlerrate von 0, eine Preci sion von 100 % und einen Recall von 100 % erreichen.
2.1 Subsymbolische Verarbeitung: Vom gedruckten oder geschriebenen Text bis zur erkannten Buchstabenfolge Als Eingabedaten erhält ein maschinelles Leseprogramm ein Bild vom Text. Zunächst werden Bildverarbeitungsoperationen durchgeführt, die Störungen aus dem Textbild entfernen. Morphologische Glättungen beseitigen beispielsweise dunkle Stellen, die durch Verschmutzungen auf dem Papier oder der Linse entstanden sind. Oftmals wird auch ein Schwellwert für die Farben bestimmt, der den Vordergrund vom Hintergrund trennt. Im nächsten Schritt erfolgt die Lokalisierung des Texts und die Bereinigung des Bilds von anderen graphischen Elementen (Fotos, Zeichnungen). Dies geschieht üblicherweise durch eine globale Layout-Analyse, die Bereiche sucht, deren Pixelverteilungen (Histogramme) einer Zeilenstruktur entsprechen. Die gefundenen Texte werden weiter in Textzeilen, oft auch in Worte und Buchstaben segmentiert. Ein übliches Verfahren hierzu ist die Trennung bei lokalen Minima im Zeilen- bzw. Spaltenhistogramm, also an Stellen mit wenigen schwarzen Pixeln. Die oben beschriebenen Verfahren funktionieren sehr gut bei der Segmentierung von gedruckten Texten (vgl. Impedovo u. a. 1991; Schantz 1982; Srihari u. a. 2003). Bei handgeschriebenen Texten (vgl. Plamondon 2000) ist die Wort- und Buchstabensegmentierung jedoch nicht immer eindeutig möglich, ohne den Inhalt des Texts bereits zu kennen. So lässt sich bei vielen Schreibern z. B. nicht klar entscheiden, ob man die Buchstabenfolgen ›m‹, ›nn‹ oder ›un‹ vor sich hat. Darum verzichten neuere computerbasierte Leseverfahren auf die Buchstabensegmentierung und wenden ein Klassifikationsverfahren für ganze Textzeilen an. Bei handgeschriebenen Texten wird oft auch die Schräglage der Buchstaben normalisiert, d. h. das Leseprogramm ermittelt die durchschnittliche Neigung der Linien und stellt im Anschluss alle Buchstaben durch eine mathematische Scherungsoperation aufrecht (siehe Abb. 4). Auch die Größe der Schrift wird durch Einbeziehung der Gesamthöhe der Buchstaben vereinheitlicht. Aus den so vorverarbeiteten Textbildern berechnen (extrahieren) sich nummerische Merkmale (Features), die bestimmte Eigenschaften des Bilds repräsentieren. Dies ist nötig, da für mathematische Klassifikationsverfahren nummerische Werte als Eingabe erforderlich sind. Merkmale können aus dem gesamten Bild extrahiert werden (globale Merkmale) oder aus Teilbereichen des Bilds (lokale Merkmale), z. B. aus jenen, die durch ein sich in Leserichtung bewegendes Fenster entstehen (siehe
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Abb. 4). Globale Merkmale sind für die Einzelbuchstabenerkennung üblich, für Textzeilenerkennung dagegen eine Folge von lokalen Merkmalen. Gängige Merkmale sind z. B. Grauwertverteilungen, die Positionen des höchsten / niedrigsten schwarzen Pixels oder mathematische Funktionen, die die Pixelverteilung beschreiben. Da mehrere (n) Merkmale verwendet werden, spannen sie einen n-dimensionalen Vektorraum auf.
Abb. 4: Normalisierung der Schriftneigung (links) und Merkmalsextraktion (rechts)
Um die Merkmale zu klassifizieren, d. h. die Eingabewerte einem Buchstaben zuzuordnen, werden automatische Lernverfahren angewendet, in denen der Computer ›lernt‹, bestimmte Buchstaben wiederzuerkennen. Dazu wird zunächst eine große Menge von Trainingsdaten benötigt, eine Menge von Beispielbuchstaben, bei denen bekannt ist, um welchen Buchstaben es sich handelt. In solchen Trainingsdaten müssen möglichst alle vorkommenden Schriftarten vertreten sein. Für das Trainieren der Microsoft Handschrifterkennung wurden z. B. handschriftliche Texte von mehreren tausend Personen verwendet. Ist ein Buchstabenerkennungssystem trainiert, so kann es im praktischen Einsatz Buchstaben auf gegebenen Bildern wiedererkennen. Die einfachste Buchstabenerkennung basiert auf der Methode der k nächsten Nachbarn (k-NN). Dabei wird der (euklidische) Abstand der gegebenen Merkmale zu allen Merkmalen der Trainingsdaten berechnet und die k nächsten Trainingsbeispiele bestimmt. Die Klasse, zu der die meisten dieser k Trainingsbeispiele gehören, wird dann als Ergebnisbuchstabe ausgegeben. Die k-NN-Methode funktioniert häufig gut, benötigt aber viel Rechenzeit, v. a. wenn mehrere Millionen Trainingsbuchstaben existieren. Darum ist es vorteilhaft, die Verteilung der Klassen im Merkmalsraum anhand der Trainingsmerkmale zu lernen. Dafür werden statistische Lernverfahren verwendet. Gängige Vertreter sind versteckte (hidden) Markov Modelle (HMM) und neuronale Netze (NN). HMM approximieren die Verteilung der Merkmale für jeden Buchstaben mit Gaußfunktionen, während neuronale Netze die Klassen im Merkmalsraum bestmöglich voneinander trennen. Während HMM lange Zeit als Standardverfahren für die Erkennung von Texten anerkannt waren, wurden im letzten Jahrzehnt Erweiterungen von NN entwickelt, die bessere Erkennungsgenauigkeiten erzielen (vgl. Graves 2009). Der letzte Schritt zur Erkennung der Buchstabenfolge ist eine sprachliche Nachbearbeitung. Dieser Schritt könnte auch der symbolischen Verarbeitung zugeordnet werden, da die Buchstaben ja bereits Symbolen entsprechen. Jedoch handelt es sich bei den Ergebnissen noch nicht zwangsläufig um sprachlich fassbare Worte, da bei
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der Buchstabenerkennung Fehler entstanden sein könnten. Durch Verwendung von Wörterbüchern (dictionaries) können kleinere orthographische Fehler korrigiert werden, indem das erkannte Wort seinem nächsten Nachbarn im Wörterbuch zugeordnet wird. Erweiterte Verfahren beziehen noch weitere sprachliche Informationen mit ein, z. B. statistische Wortübergangswahrscheinlichkeiten, die aufgrund großer Textcorpora ermittelt werden. Der neuste Trend ist, auch den semantischen Kontext mit einzubeziehen, wobei Methoden der symbolischen Verarbeitung zum Einsatz kommen, um bessere Erkennungsraten in der Nachverarbeitung zu erzielen (vgl. Liwicki u. a. 2012). Zurzeit befassen sich mehrere hundert internationale Forschungsgruppen mit der Erkennung von gescannten, abfotografierten und handgeschriebenen Texten, wobei vermehrt immer komplexere Fälle untersucht werden. Zum Beispiel stellen mittelalterliche Handschriften aufgrund von kalligraphischen Zierelementen oder Abkürzungen eine besondere Herausforderung dar. Auch Texte in Fotos, etwa Beschriftungen von Schildern im urbanen Raum, benötigen spezielle Vorverarbeitungsschritte, die ständig verbessert werden. Auf klar lesbaren Dokumenten, die mit hoher Auflösung eingescannt werden, kann man mit State-of-the-Art-Erkennungsmethoden OCRErgebnisse von über 99,5 % erzielen. Bei handgeschriebenen Texten liegen die Fehlerraten noch höher (> 5 %), jedoch können automatische Erkenner in eingeschränkten Kontexten bereits sehr gut eingesetzt werden, v. a. wenn da das System sich an den Schreiber anpassen kann.
2.2 Symbolische Verarbeitung: Von der erkannten Information zum verstandenen Wissen Die Voraussetzung für die symbolische Verarbeitung ist das Vorliegen des Texts im computerlesbaren (ASCII) Format. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Text durch eine vorangeschaltete OCR erkannt wurde oder direkt von einem digitalen Medium (OfficeDokument, Textdatei oder HTML-Seite) stammt. Weiterhin ist es hilfreich, wenn bereits eine ›Ontologie‹ existiert, die das ›Hintergrundwissen‹ des computerbasierten Lesers formalisiert. Um aus einem gegebenen Text die in ihm angelegten Informationen zu extrahieren, werden zunächst syntaktische Segmente und Strukturen im Text erkannt und diese formal mit sprachlichem Wissen angereichert. Die Segmentierung auf der Ebene von Worteinheiten ist in europäischen Sprachen relativ einfach, da immer ein Satz- oder Leerzeichen zwischen den Wörtern zu finden ist. Die Segmentierung auf Satzebene erfolgt nach mehreren Regeln nacheinander, wobei auch Abkürzungsverzeichnisse Berücksichtigung finden (vgl. Dengel 2012). State-of-the-Art-Satzsegmentier-Systeme erreichen dabei eine Erkennungsrate von über 95 %. Zur Anreicherung der Textsegmente mit sprachlichem Wissen werden Part-ofSpeech-Tagging (POS-Tagging)-Verfahren angewandt, die den Wörtern Informationen
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über ihre Bedeutung innerhalb von Satzgrenzen in Form von Wortarten zuordnen. Für die deutsche Sprache existiert eine umfassende Beschreibung von deutschen Wortarten im Tigerkorpus (vgl. Brants u. a. 2004). POS-Tagger verwenden häufig HMM oder andere statistische Lernverfahren. Auch POS-Tagger erreichen eine Erkennungsrate von über 95 %. Der nächste Schritt ist die semantische Analyse der erkannten Segmente und Phrasen auf ihren eigentlichen Bedeutungsinhalt hin. Dabei werden zunächst benannte Entitäten (named entities), wie z. B. Namen von Personen oder Organisationen, durch den Vergleich von Textsegmenten mit Wortlisten ermittelt, die aus den Textelementen der ›Ontologie‹ bestehen. Die semantische Analyse erfasst auch strukturierte Entitäten (structured entities), die dann erkannt werden, wenn sie einer regelmäßigen Syntax entsprechen. Strukturierte Entitäten sind z. B. E-Mail-Adressen oder Geldbeträge. Weitere Entitäten finden sich in Pronomen und generischen Begriffen, die durch maschinelle Lernverfahren den benannten oder strukturierten Enti täten zugeordnet werden, auf die sie sich beziehen. Die Auflösung sprachlicher Mehrdeutigkeiten stellt eine große Herausforderung für computerbasiertes Lesen dar. Oft werden die Synonyme und Oberbegriffe einer betrachteten Entität durch Verwendung eines Thesaurus bestimmt. Dazu eignet sich z. B. der linguistische Thesaurus WordNet (vgl. Fellbaum 2010). Zusätzlich können Informationen über die Beziehungen zwischen den Entitäten in der zugrunde liegenden ›Ontologie‹ helfen, die wahrscheinlichste Auflösung der Mehrdeutigkeit zu bestimmen. »Der letzte Schritt, [d]as Erkennen von Beziehungen zwischen den erkannten Entitäten im Text (relation extraction) ist im Bereich der Informationsextraktion eine Art Königsdisziplin« (Dengel 2012, S. 215), da die sprachliche Vielfalt eine sehr hohe Komplexität darstellt. Generell existieren zwei unterschiedliche Ansätze zur automatischen Extraktion von Fakten. Zum einen sind es überwachte Lernverfahren, bei denen für jeden Beziehungstyp ein Klassifikator trainiert wird, der entscheidet, ob dieser Beziehungstyp im Text vorkommt, zum anderen halb überwachte Lernverfahren, bei denen im Vorhinein ein Experte einen Regelsatz formuliert, der automatisch erweitert wird.4 Sobald die Beziehungen im Text gefunden wurden, können die Triples mit den zugehörigen Entitäten zu Erweiterung der Ontologie verwendet werden. Die Güte von Informationsextraktionssystemen ist je nach Anwendungsgebiet sehr unterschiedlich. Oftmals sind Werte von 60 % für Precision und Recall bereits als sehr gut zu betrachten. Trotz dieser relativ niedrigen Werte eignen sich Informationsextraktionssysteme bereits für den praktischen Einsatz, z. B. in spezifischen, klar umrissenen Bereichen oder zur Vorfilterung von Fakten, die danach durch einen menschlichen Experten kontrolliert und korrigiert werden. Ein prominentes Beispiel dafür ist der
4 Weiterführende Informationen zur Informationsextraktion sind in Dengel 2012 zu finden.
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Supercomputer Watson, der im IBM Watson Laboratory entwickelt wurde (vgl. Ferrucci 2010). Precision und Recall der Informationsextraktion lagen bei unter 15 %, jedoch konnte durch eine geschickte Kombination von Regeln und Prozessen eine Maschine gebaut werden, die in der Lage war, die bisherigen menschlichen Champions im Jeopardy-Spiel zu besiegen.
3 Computergestütztes Lesen Neben der Zielsetzung, computerbasiertes Lesen zu ermöglichen, beschäftigen sich Computerwissenschaftler mit der Aufgabe, den menschlichen Leseprozess automatisch zu analysieren. Dabei wird das Leseverhalten durch den Einsatz von Muster erkennungsverfahren klassifiziert und die sich daraus ergebenden Informationen genutzt, um den Leser in bestimmten Anwendungskontexten zu unterstützen.
3.1 Verwendung der Blickinformation Die Blickbewegungsmessung mit Hilfe von Blicksensoren (Eye-Trackern) ist eine sehr verlässliche Methode, um die Augenbewegungen des Lesenden nachzuvollziehen, da die Präzision der Geräte sehr hoch ist (Winkelabweichung von weniger als 0,5°).5 Bereits in den 1990er Jahren wurden die ersten zuverlässigen automatischen Verfahren entwickelt, um festzustellen, ob es sich bei der Augenbewegung des Lesenden um eine Fixation oder um eine Sakkade handelt (vgl. Jacob 1991; Rayner 1998). Diese Informationen dienten anfangs für einfache Aufgaben wie etwa dem Bewegen von Objekten, dem Scrollen von Texten oder dem Auswählen von Menüpunkten. Die Verwendung der Augeninformationen für solche Interaktionen mit den Bildschirminhalten ist jedoch langsamer und aufwändiger als der Einsatz anderer Eingabegeräte wie Maus, Keyboard oder Touch-Pads. Es erweist sich aber dennoch als sinnvoll, Blickdaten aufzunehmen, da sie für die Analyse von Interaktionsprozessen sehr hilfreich sein können. Besonders im Zusammenhang der automatischen Analyse des Surfverhaltens wurden Blickdaten bereits eingesetzt (vgl. Granka u. a. 2004). Auch bei der Analyse des Leseprozesses können sie zur Anwendung kommen.6 Da die Augenbewegungen beim menschlichen Leseprozess einem bestimmten Muster entsprechen (horizontale Bewegung mit Abfolge von Fixationen in ähn lichen Abständen), lässt sich auch durch Anwendung von statistischen Lernverfahren erkennen, ob eine Person einen Text liest. So verwendet eine Studie von Georg
5 Vgl. Kap. 1.2 Kognitionspsychologische Ansätze, insb. Abschnitt 4, in diesem Band. 6 Vgl. Kap. 1.2 Kognitionspsychologische Ansätze in diesem Band.
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Buscher, Andreas Dengel und Ludger van Elst (2008) die Information, dass eine Seite tatsächlich gelesen wird, um Google-Suchergebnisse neu zu sortieren. Bei der Suche nach ›Maus‹ lässt sich z. B. feststellen, dass nur Seiten gelesen werden, die sich mit dem Tier ›Maus‹ beschäftigen. In der Folge werden entsprechende Seiten höher gewichtet und Seiten zum Thema ›Computermaus‹ bzw. zu Personen mit dem Namen ›Maus‹ ausgeblendet. Als Ergebnis sind unter den ersten Suchergebnissen im Schnitt doppelt so viele relevante Einträge zu finden wie bei der Standard-Suche. Der Kontext der Suche wird also erkannt und zur Verfeinerung der Suchergebnisse verwendet. In einem anderen Kontext, wie etwa der Vorbereitung eines Meetings mit einer Person mit dem Namen ›Maus‹ am Folgetag, würden entsprechend andere Ergebnisse angezeigt werden.
3.2 Automatisches Erkennen des Leseverhaltens In der KI-Forschung geht es aber nicht nur um die Frage, ob ein Text überhaupt gelesen wird. Es gibt auch Möglichkeiten einer automatischen Klassifikation, wie ein Text gelesen wird (vgl. Campbell / Maglio 2001). In einer beispielhaften Studie werden zu diesem Zweck die Augenbewegungen analysiert und aufgrund dieser Daten ermittelt, ob es sich um einen intensiven Leseprozess oder um einen Schnellleseprozess (Skimming) handelt, bei dem der Leser nur die wichtigsten Worte fixiert (vgl. Biedert u. a. 2010).
VS
Abb. 5: Fixationen beim normalen Lesen (oben) und Skimming (unten).
Die automatische Klassifikation des Leseverhaltens basiert auf vielen Parametern. Zu nennen sind z. B. die Länge und die Anzahl der Fixierungen, die Länge der Sakkaden und die Häufigkeit von Rücksprüngen. Je nach Leser variiert das Zusammenspiel dieser Werte, jedoch weisen bestimmte Konstellationen im Allgemeinen auf ein bestimmtes Leseverhalten hin. Sobald viele Daten einer Person vorliegen, kann das Verfahren an das spezifische Leseverhalten einer Person adaptiert werden, so dass die Klassifikation des persönlichen Leseverhaltens zuverlässiger (fast 100 % korrekt) analysiert wird. Im zweiten Teil des nächsten Abschnitts werden verschiedene Anwendungsmöglichkeiten dieser Technologie vorgestellt.
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4 Aktuelle Trends Obwohl das Maschinenlesen, besonders das Lesen von gedruckten Texten, in der Informatik oft als gelöstes Problem bezeichnet wird, beschäftigen sich immer mehr Forscher damit, da immer neue Problemfelder auftauchen. Durch neue Technologien und schnellere Hardware – gekoppelt mit der Entwicklung neuer automatisierter Verfahren – ergibt sich eine Vielzahl neuer Forschungstrends. Im Rahmen dieses Kapitels können nicht alle in den letzten Jahren erfolgten Neuerungen detailliert behandelt werden, die sich durch Verbesserungen der automatischen Leseverfahren, Erweiterungen der Funktionalität und Komplexität, die Einbindung neuer Hardware, die Integration der Leseverfahren in sämtliche HCI (Human Computer Interaction)Szenarien ergeben haben. Deshalb wird im Folgenden auf zwei Trends fokussiert, die gerade in den letzten Jahren eine große Verbreitung gefunden haben.
4.1 Integriertes Computerlesen in Apps Inzwischen hat Google Books (http://books.google.com/) als fester Bestandteil des Google Produktportfolios einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht. Der Service stellt eine Schlagwortsuche nicht nur im Internet, sondern auch in Printmedien als WebSuche zur Verfügung. Somit kann Google Books auch als prominentester Vertreter von Anwendungen automatischen Lesens gesehen werden: Die Bücher (inzwischen über 20 Millionen) werden automatisch eingescannt oder abfotografiert, mit OCR-Techniken analysiert und die erkannten Texte somit durchsuchbar. Damit schlägt Google Books eine Brücke zwischen der Welt der gedruckten (auch älteren) Bücher und dem Internet. Man kann auf spezifischeres Wissen und ältere Originaltexte zugreifen und schnell gesuchte Textstellen auffinden. Um eine hohe Erkennungsrate zu erzielen, sind hochauflösende Bilder der Buchseiten notwendig. Der Wunsch der Benutzer geht jedoch in die Richtung, Texte auf allen Bildern und Fotos durchsuchbar zu machen. In vielen mobilen Geräten (SmartPhones, iPod, Tablets) ist eine Kamera integriert, wodurch täglich Millionen von Bildern und Videos entstehen, in denen oft auch Texte vorkommen. Die ersten erfolgreichen Produkte, die Informationen aus solchen Fotos extrahieren, waren Programme zur Erkennung der Kontaktdaten von abfotografierten Visitenkarten (vgl. Luo u. a. 2004). Für eine einfache Texterkennung reicht die Prozessorleistung der mobilen Geräte bereits aus. Bei komplizierteren Analyseprozessen werden die Bilddaten an einen Internet-Service-Provider gesendet, der die Daten analysiert und die Ergebnisse nachher an den Benutzer zurückschickt. Entsprechende Apps (Applikationen / Software) lassen sich für moderne Smartphones erwerben. Der Funktionsumfang dieser Apps geht jedoch weit über das Einlesen von Kontaktdaten hinaus. Auch ganze Buchseiten können eingelesen, URLs geöffnet und abfotografierte Texte in eine andere Sprache übersetzt werden.
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Das Ziel der Mustererkennungsforschung ist es, in allen aufgenommenen Bildern und Videos Texte erkennen und maschinell lesen zu können. Die Anwendungsbereiche dieser Analyse-Software sind von großer Diversität. So kann computerbasierte Texterkennung und Informationsextraktion etwa dazu dienen, sehbehinderte Personen zu unterstützen, im Straßenverkehr autonomes Fahren und Navigieren von Autos zu ermöglichen oder mnemotechnische Hilfen anzubieten. Letzteres setzt z. B. das japanische Projekt ›Reading-Lifelog‹ um, bei dem sämtliche von einer Person gelesenen Texte wiederauffindbar gemacht werden. Dies lässt sich durch eine in einer Brille befindliche Kamera realisieren, die alle Augenbewegungen des Benutzers aufzeichnet und die in den entstandenen Bildern enthaltenen Texte erkennt, maschinell liest und als extrahierte Information abspeichert. Die so gewonnenen Informationen können dem Benutzer helfen, nur teilweise erinnerte Informationen rasch aufzufinden oder sich vergangene Situationen zu vergegenwärtigen. Ein ähnliches Projekt ist das Google-›Project Glass‹, in dem eine Brillenkamera in Kombination mit einem kleinen Monitor in der Brille dazu dient, Informationen zu den gesehenen Objekten einzublenden oder den Benutzer auf interessante Informationen aufmerksam zu machen. Dazu werden die Objekte und Texte auf den Videodaten der Brillenkamera erkannt und entsprechende Zusatzinformationen aus dem Semantic Web bereitgestellt, die dem Benutzer eingeblendet werden können. Zu beachten ist, dass die Technologien bereits sehr fortgeschritten sind, jedoch müssen sinnvolle Einsatzszenarien noch weiter erforscht und auch die möglichen Konsequenzen für die Anwender analysiert werden.
4.2 Unterstützung des Lese- und Verstehens-Prozesses im Semantic Web In Abschnitt 3.2 wurde beschrieben, dass das Leseverhalten des Lesers automatisch erkannt werden kann. Neue Trends verknüpfen diese Möglichkeiten mit neuen Formen multimedialer Medien. Wenn der entsprechende Text z. B. online verfügbar ist bzw. in einem interaktiven Kontext steht, kann die Analyse des Leseverhaltens für weitere, interaktive Anwendungen verwertet werden: Wenn der Text weiß, dass er gelesen wird – so ein Buchtitel (Saße 2010) –, ergeben sich viele Möglichkeiten.7 So kann das Lesen in gewissen Anwendungsbereichen z. B. im Entertainment-Sektor durch Einspielen von Multimedia-Effekten zum Zeitpunkt der Lektüre einer bestimmten Textstelle für gewisse Lesergruppen attraktiver gemacht werden.
7 Die in diesem Artikel beschriebenen Technologien wurden im DFKI im Rahmen des Text-2.0-Projekts entwickelt (http://text20.net) und 2010 als Megatrend von TrendOne ausgewählt und auf der Google-Zeitgeist-Konferenz vorgestellt.
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Doch auch für das persönliche Wissensmanagement kann der Einsatz von Blickinformationssensoren hilfreich sein. Prototypisch steht bereits ein ›Semantic Desktop‹ zur Verfügung, bei diesem handelt es sich um einen Computerarbeitsplatz, bei dem auch Wissen über Projekte, Dokumente, Personen, Terminen und ihren Beziehungen digital auf dem Computer in Form von (RDF-)Ontologien vorhanden ist. Auch Bücher und Papierdokumente werden beim Lesen automatisch eingescannt und digital verfügbar gemacht. Wenn der Benutzer z. B. Dokumente wiederfinden möchte, kann beim Sortieren der Suchergebnisse die Zusatzinformation verwendet werden, welche Textteile intensiver gelesen und welche nur überflogen wurden. Eine weitere Funktion ist die Möglichkeit, dem Leser Zusatzinformationen zu einem Begriff (Bedeutung, Übersetzung) einzublenden, wenn der Leser über diesen Begriff stolpert. Jedoch gibt es gerade im persönlichen Wissensmanagement noch viele offene Forschungsfragen. Woran erkennt man, warum eine Person eine Texteinheit länger fixiert? Ist der Lesekontext8 automatisch erkennbar? Inwiefern sollte man die technischen Möglichkeiten nutzen, um die Prozesse zu unterstützen, und wann könnten die Technologien eher hinderlich sein? Solche Forschungsfragen müssen in interdisziplinären Projekten untersucht werden.
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8 Das heißt die Umstände des Lesens, z. B. für welches Projekt der Text relevant ist, warum der Leser diesen Text liest, welches Wissen er in diesem Text finden möchte.
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1.4 Sozial- und kommunikations wissenschaftliche Ansätze Zusammenfassung: Der Beitrag analysiert und strukturiert in einem ersten Schritt das Medium ›Buch‹ und das ›(Buch-)Leseverhalten‹ als Forschungsgegenstand der empirischen Leseforschung. In einem zweiten Schritt werden wichtige sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze, gegliedert nach Mikro-, Meso- und Makro-Ebene sowie Phasen der Zuwendung, Rezeption und Effekte, vorgestellt und diskutiert, die als theoretische Perspektiven der empirischen Leseforschung unterliegen. Abstract: This chapter first analyzes and investigates the structure of the medium ›book‹ and ›(book-) reading behavior‹ as topics in empirical research on reading. In a second step, important approaches of social science und communication studies, which provide the theoretical framework for empirical readership research, are discussed and differentiated at the micro, meso and macro levels as well as the phases of exposure, reception and effect.
Inhaltsübersicht 1 Medium ›Buch‹ und Lesen als Forschungsgegenstand — 64 1.1 Material- vs. Formalobjekt — 64 1.2 Perspektiven, Ebenen und Dimensionen der Analyse — 65 1.2.1 Perspektiven — 65 1.2.2 Ebenen — 65 1.2.3 Dimensionen — 66 1.3 Neun Felder der Buch- bzw. Leseforschung — 66 1.3.1 Mikro-Ebene — 67 1.3.2 Meso-Ebene — 68 1.3.3 Makro-Ebene — 68 2 Theoretische Ansätze — 69 2.1 Mikro-Ebene — 69 2.1.1 Medienzuwendung als bedürfnisbasierte Selektion — 70 2.1.2 Medienrezeption: Aneignung, Erleben, Parasoziale Interaktion — 72 2.1.3 Medieneffekte: Agenda-Setting, Wissensklüfte, Framing / Kultivierung — 74 2.2 Meso- und Makro-Ebene — 76 2.2.1 Sozialisationstheorie — 76 2.2.2 Konzepte des Medien- und Gesellschaftswandels — 77 3 Fazit: Integraler Ansatz als theoretische Herausforderung — 78 4 Literatur — 79
Im Zentrum des Beitrags stehen sozialwissenschaftliche Perspektiven, Fragestellungen und Forschungsmethoden, die in der empirisch orientierten Buchwissenschaft und der Leseforschung zur Analyse des Lesens benutzt werden, und zwar aus den zum Teil überlappenden Disziplinen der Sozialpsychologie, Soziologie sowie Kom-
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munikationswissenschaft, aber auch der qualitativ orientierten Medien- und Kulturwissenschaft (vgl. Bonfadelli 1998b, 1999, 2004; Schön 2000; Kuhn / Rühr 2010). Und je nach Disziplin wird enger auf den Umgang mit dem Medium ›Buch‹ als Buchlesen fokussiert oder der Gegenstand im Sinne des Lesens von Texten in Printmedien weiter gefasst.
1 Medium ›Buch‹ und Lesen als Forschungsgegenstand 1.1 Material- vs. Formalobjekt Das alltagsweltliche Materialobjekt ›Zuwendung zu, Rezeption und Nutzung sowie Lesen von Büchern, aber auch Zeitungen und Zeitschriften‹ wird disziplinenspezifisch je anders als Formalobjekt konstituiert. Dies betrifft sowohl die Fragestellungen als auch die zu deren Beantwortung formulierten theoretischen Perspektiven sowie die verwendeten Forschungsmethoden und die daraus resultierenden empirischen Befunde. Es gibt also verschiedene Antworten auf die Frage: Was ist Lesen? bzw. Was ist der Gegenstand der Leseforschung in einem weiten und der Buchleseforschung in einem engeren Sinn? Die Psychologie beschäftigt sich mit der Frage, wie der Mensch als Leser Texte versteht und sich die darin enthaltene Information aneignet. Fokussiert wird auf kognitive und affektive Prozesse während des Lesens von Texten. Im Unterschied analysieren Sozialpsychologie und Soziologie das Lesen als eine Form des sozialen Handelns und fragen, wieso das Lesen von Büchern, aber auch Zeitungen und Zeitschriften in bestimmten sozialen Segmenten mehr oder weniger wichtig ist bzw. intensiv ausgeübt wird? Welche Ursachen hat das und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Wissensverteilung und Partizipation in der Gesellschaft? In der Medien- und Kulturwissenschaft wiederum stehen die thematischen Inhalte und ästhetische Qualitäten von (Buch-)Texten als Bestandteil der Kultur im Zentrum, zusammen mit Fragen nach der Aneignung und Weitergabe von Hoch-, Populär- und Trivialkultur. Schließlich werden die Selektion, Nutzung und Wirkungen von Printmedien vorab in einem breiten Sinn (Buch, Zeitung, Zeitschriften) in der Kommunikationswissenschaft aus einer interdisziplinären Perspektive analysiert und erklärt. Als Integrationswissenschaft wird der Anspruch erhoben, das Leseverhalten gegenstandsbezogen transdisziplinär durch Rückgriff auf die vorhandenen theoretischen Perspektiven der Sozial-, Medienpsychologie, Soziologie und Medien- bzw. Kulturwissenschaft analytisch verfahrend, hypothesen-basiert und empirie-orientiert zu untersuchen, wobei Theorien mittlerer Reichweite im Zentrum stehen.
1.4 Sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze
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1.2 Perspektiven, Ebenen und Dimensionen der Analyse In einem ersten Schritt wird vor dem Hintergrund der verschiedenen disziplinären theoretischen Zugriffe das Forschungsfeld ›Buchlesen‹ nach forschungsleitenden Perspektiven, Ebenen und Dimensionen systematisch strukturiert (vgl. Bonfadelli 2004).
1.2.1 Perspektiven Die Erforschung des Leseverhaltens als Formalobjekt (vgl. Griswold u. a. 2011) kann aus einer medien-technischen Perspektive der Kommunikationswissenschaft erfolgen, welche auf menschliche Artefakte, Apparate und Übertragungskanäle fokussiert, welche materielle Zeichen über Zeit zu speichern und über räumliche Distanzen zu transportieren vermögen. Im Kontext der Leseforschung interessiert der Umgang mit und die Nutzung von spezifischen Medientechnologien. In Abgrenzung dazu fokussieren semiotisch-zeichentheoretische Perspektiven der Kultur- und Literaturwissenschaft stärker auf die durch materielle Zeichen transportierten Bedeutungsgehalte und fragen nach dem im Leseprozess konstruierten Sinn von Texten. Schließlich betont die sozial-institutionelle Perspektive, dass die Produktion, aber auch Konsumption von Medientexten immer in sozialen Organisationen integriert sind, welche für die Gesellschaft auf Dauer gestellte Leistungen erbringen.
1.2.2 Ebenen In der Soziologie, aber auch der Kommunikationswissenschaft werden gängigerweise drei Ebenen auseinandergehalten, welche für die funktionale Differenzierung von gesellschaftlichen Systemen typisch sind (vgl. Saxer 2010): Der Umgang mit Medien und das Lesen von Büchern, aber auch Zeitungen und Zeitschriften gehören als soziales Handeln von Menschen zur Mikro-Ebene. Zur Meso-Ebene zählen soziale Organisationen und Institutionen, welche das Buchlesen fördern wie Verlage, Buchhandlungen und Bibliotheken einerseits und andererseits Familie, Schule und Peers. Meso-Analysen fokussieren auf die Strukturen und Leistungen dieser Instanzen im Prozess der Sozialisation zum Buchlesen. Schließlich bezieht sich die Makro-Ebene auf gesamtgesellschaftliche Strukturen und darauf bezogene politische, ökonomische und kulturelle Fragestellungen wie beispielsweise Verlagsund Buchhandelsstrukturen oder die Kultur- und Buchpolitik im Zeit- und Ländervergleich.
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1.2.3 Dimensionen Das Leseverhalten wird immer nach Zeit und Raum einerseits, andererseits in einer Sach- und Sozialdimension analysiert. In zeitlicher Hinsicht kommen Untersuchungen zu Veränderungen im Leseverhalten als Trends hinzu: Nimmt das Buchlesen zu oder geht es zurück? Zukunftsorientiert interessieren Prognosen und in räumlicher Hinsicht der Vergleich zwischen Ländern. In sozialer Hinsicht erfolgt die Analyse zu Unterschieden nach Geschlecht (vgl. Garbe 2002), Bildung (vgl. Bonfadelli 1994, S. 140–148; Neuman / Celano 2001; Schweiger 2007, S. 275–279), Migrationshintergrund (vgl. Bonfadelli 2008) und Lebensstil bzw. Habitus (vgl. Schweiger 2007, S. 286–290; Kochhan / Bannert 2009, S. 61–64) im Zugang zu und im Umgang mit dem Medium Buch. Zusätzlich bezieht sich die Sachdimension auf Unterschiede nach Buchgattungen oder informierendem vs. unterhaltungsorientiertem Lesen von dokumentarischen bzw. fiktionalen Texten.
Sachdimension
Buchgattungen wie Doku vs. Fiction
Dimension: Zeit
Trends & Prognostik im Leseverhalten
Medium ›Buch‹
Zugang, Nutzung, Rezeption, Effekte
Dimension: Raum Vergleich zwischen Stadt-Land, Ländern
Sozialdimension
Gender-Differenzen, Bildungs-Klüfte
Abb. 1: Systemische Analyse. Dimensionen des Gegenstands ›(Buch-)Lesen‹
1.3 Neun Felder der Buch- bzw. Leseforschung Die Verknüpfung von Analyse-Perspektiven und Analyse-Ebenen konstituiert idealtypisch neun Felder der Leseforschung. Und jedes Feld kann wiederum aufgrund der darauf bezogenen Fragestellungen und der unterliegenden theoretischen Perspektiven sowie Analyse-Dimensionen inhaltlich konkretisiert werden, wie dies in Abbildung 2 exemplarisch illustriert wird.
AnalysePerspektiven
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Analyse-Ebenen Mikro
Meso
Makro
medien-technisch Besitz, Kauf, Schenken, Leihen von Büchern; Frequenz und Intensität der Nutzung von Medien
Innovation und Diffusion neuer Produkte: Print-on-Demand, Tablets, E-Book
Historische Entwicklung, Zukunftsprognosen und Szenarien zum Medium Buch
semiotisch
Lesen von Texten: Motive, Kompetenzen, Rezeption, Wissen
Wandel von Texten bzw. Hypertexten in Bildung und Arbeit
Stellenwert und Funktion des Mediums Buch in der Wissensgesellschaft
organisatorischinstitutionell
Instanzen und Prozesse der Lesesozialisation in Familie, Schule, Peers
Funktionen von Buchhandel Schule, Bibliotheken als Stützsysteme
Kultur- und Buchpolitik, Strukturen und Wandel des Buchmarkts
Abb. 2: Analyseraster für Fragestellungen der (Buch-)Leseforschung
1.3.1 Mikro-Ebene Auf der Mikroebene operiert die empirische Leseforschung, welche auf einem eher technisch orientierten Medienbegriff basiert. Untersucht werden einerseits Besitz, Kauf, Schenken und Leihen von Büchern sowie weiteren Printmedien und andererseits Frequenz sowie Intensität der Nutzung von Printmedien aufgrund von sozialstatistischen Kontakt-Indikatoren, operationalisiert als Anzahl oder Häufigkeiten pro Zeitperiode, meist gemessen mittels mehr oder weniger repräsentativen Befragungen von Erwachsenen oder Kindern und Jugendlichen (vgl. Bonfadelli 1999; Kuhn / Rühr 2010). Qualitative Aspekte wie die Bedeutung von Lesemotivation in Familie (vgl. Klauda 2009) und Schule (vgl. Guthrie u. a. 2007), Lesemodalitäten und Lesestrategien etwa im Kontext des Medienwandels wie ›Lese-Zapping‹ oder ›Häppchen-Lektüre‹ (vgl. Franzmann 2001) ergänzen diese quantitativen Dimensionen. Eine Analyse-Perspektive kann erst dann semiotisch bzw. zeichentheoretisch genannt werden, wenn der Buchkontakt als intentionaler Leseakt, verstanden als sinnorientierter Umgang mit Texten, operationalisiert und analysiert ist (vgl. Sandvoss 2011; Pfaff-Rüdiger 2011). Dies ist dann der Fall, wenn die hinter dem Lesen stehenden Motive beispielsweise mit jenen des Fernsehens verglichen oder die Lesekompetenzen hinsichtlich des Verstehens von Texten und der Vermittlung von Wissen untersucht wurden (vgl. Bonfadelli / Saxer 1986). Schließlich analysieren empirische Lesestudien aus einer organisatorisch-institutionellen Perspektive den Einfluss von Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule und Peers auf das Leseverhalten von Heranwachsenden. Als Beispiele stehen hier
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die klassischen Studien von Renate Köcher (1988) oder Bettina Hurrelmann, Michael Hammer und Ferdinand Nieß (1993) zum Einfluss des familiären Leseklimas auf das Lesen der Kinder oder die qualitative Studie von Petra Wieler (1997) zur Funktion des Vorlesens (vgl. Bus u. a. 1995), die Analysen jugendlicher Lesebiographien von Erich Schön (1993) oder Kontinuität und Brüche in Lesekarrieren (vgl. Köcher 1993), aber auch Studien zum Stellenwert von Schule und Bibliothek (vgl. Rosebrock 2003; Bucher 2004; Fritzsche 2004; Rupp u. a. 2004) oder von Peergroups (vgl. Rosebrock 2004; Philipp 2011) im Prozess der Lesesozialisation (vgl. Wieler 2010).
1.3.2 Meso-Ebene Auf der Meso-Ebene interessieren die Strukturen und Prozesse in Organisationen und Institutionen, die zur Produktion und Diffusion von Büchern und Lesestoffen beitragen (vgl. Saxer 2010). In einer historischen Perspektive ist beispielsweise die familiale Lesesozialisation im Wandel wichtig (vgl. Hurrelmann u. a. 2006). In einer zukunftsorientierten Perspektive geht es um die Invention und Diffusion neuer Produktions-, Distributions- und Rezeptionstechnologien wie Books-on-Demand, Online-Buchhandel, Tablets oder E-Books (vgl. Pflug 2002; Heinold / Spiller 2004; Güntner 2009; Huemer 2010; Glazer / Clark 2011; Vogel 2011), auf semiotischer Ebene um den Wandel von klassisch linearen Texten zu Hypertexten (vgl. Christmann u. a. 2004; Hickethier 2003, S. 116–121) und auf organisatorisch-institutioneller Ebene um die sich wandelnden Funktionen von Instanzen der Lesesozialisation (vgl. Groeben / Hurrelmann 2004; Philipp 2011).
1.3.3 Makro-Ebene Fragestellungen auf der Makro-Ebene befassen sich mit der historischen Entwicklung des Buchs und zukunftsorientiert mit dessen Wandel in der Mediengesellschaft (vgl. Bonfadelli / Bucher 2002; Rager / Werner 2004) bzw. der Wissensgesellschaft (vgl. Rötzer 2002), in einer semiotischen Perspektive mit dem Stellenwert und der Funktion von Literalität in Kultur sowie Gesellschaft (vgl. Hepp 2010) und in einer organisatorisch-institutionellen Perspektive mit dem Interventionsbedarf und den Interventionschancen und -strategien der Förderung der Lesekultur (vgl. Haller 2009) oder den stattfindenden Veränderungen beispielsweise der Kultur- und Buchpolitik (vgl. Neiger / Trappel 2002; Saxer 2002).
1.4 Sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze
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2 Theoretische Ansätze In einem zweiten Schritt werden sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze vorgestellt und anwendungsorientiert exemplifiziert, welche die empirische Leseforschung in Bezug auf Fragestellungen, Hypothesen und Erklärungen strukturieren. Lesen wird dabei meist weit gefasst als Umgang mit Printmedien wie Buch, Zeitung und Zeitschrift.
2.1 Mikro-Ebene Auf der Mikro-Ebene befasst sich die Leseforschung in einer ersten Phase mit der Medienzuwendung zum Buch und weiteren Printmedien aufgrund von Selektionsprozessen, in einer zweiten Phase mit Prozessen der Medienrezeption der ausgewähl-
Ebene
Ansatz
Fokus
Medienzuwendung
Uses-and-Gratifications
Gesuchte und erhaltene Gratifikationen
Rational-Choice
Medienselektion als Niedrigkostensituation
Soziale Distinktion
Medienumgang als sozialer Habitus / Lebensstil
Involvement und Experience Sampling
Medienbegleitende Emotionen wie Aktivierung, Affekt, intrinsische Motivation, Flow-Erleben
Mood Management
Stimmungsregulierung durch Mediennutzung
Affective-Disposition-Theory
Erleben von Unterhaltungsangeboten
Medienrezeption
Strukturanalytische Rezeptions- Aktive Sinnkonstruktion in aktiver Leserforschung / Cultural Studies Text-Interaktion als soziale Praxis (Coping-Strategie)
Medienwirkung
Medien-Interaktion
Identifikation und parasoziale Interaktion
Anschlusskommunikation
Lese-Gespräche als Ko-Konstruktion von Sinn
Agenda-Setting
Medien machen Themen dringlich
Wissensklüfte
Medien verstärken bestehende Wissensklüfte
Framing & Kultivierung
Medien-Frames kultivieren Realitätsvorstellungen
Abb. 3: Mikro-Theoretische Perspektiven der Medien- und (Buch-)Leseforschung
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ten Lesestoffe und in einer dritten Phase mit den Effekten bzw. Wirkungen der rezipierten Bücher bzw. Lesestoffe.
2.1.1 Medienzuwendung als bedürfnisbasierte Selektion Die akademische Mediennutzungsforschung fokussiert auf Medienzuwendung, indem Medienselektion durch Medienpublika analysiert und erklärt wird. Nach wie vor dominiert eine funktionalistische Perspektive, welche auf Bedürfnisse als Motive zurückgreift, welche der Medienzuwendung zugrunde liegen und die Selektion der Medien bestimmen bzw. als erklärende Faktoren im Zentrum stehen (vgl. Saxer 1991; Schweiger 2007, S. 60–92; Bonfadelli / Friemel 2011, S. 53–63). Die wichtigste Theorie ist der Uses-and-Gratifications-Ansatz. Weitere theoretische Perspektiven erklären Mediengewohnheiten als habitualisierte Entscheidungen in Niedrigkostensituationen ökonomisch (vgl. Jäckel 1992). Soziologische Ansätze in der Tradition von Pierre Bourdieu betrachten Mediennutzung demgegenüber als sozial geprägten Lebensstil bzw. Habitus als Ausdruck von kulturellem Kapital (vgl. Michel 2010) und erklären diesen durch die Zugehörigkeit zu bzw. die Distinktion gegenüber sozio-kulturellen Gruppen. Die Nutzung spezifischer Medien wie TV-Serien, aber auch anspruchsvolle Belletristik erfolgt zur Selbststilisierung und ist Ausdruck von Fan-Kulturen, aber auch einer bestimmten Identität (vgl. Hall 1996). Der Uses-and-Gratifications-Ansatz (U&G) betrachtet Mediennutzung als sozia les Handeln (vgl. Rubin 2000; Schweiger 2007, S. 60–92; Bonfadelli / Friemel 2011, S. 79–91). Die zentrale Frage lautet: Was machen Menschen mit Medien? Dahinter steht die Prämisse eines aktiven Medien- bzw. Lesepublikums, das sich den Medien mehr oder weniger aktiv, zielgerichtet und sinnhaft zuwendet. Die Medienselektion erfolgt in Abhängigkeit von bestehenden Bedürfnissen und Problemen einerseits und den darauf bezogenen kommunikationsrelevanten Erwartungen andererseits in Form von symbolischen Gratifikationen bzw. Problemlösungen, die bestimmte Medien bzw. deren Angebote und Inhalte versprechen. Während frühe Ansätze von dichotomen Bedürfnissen wie Information vs. Unterhaltung ausgegangen sind, arbeiten spätere U&G-Studien mit multifunktionalen Bedürfnistypologien: (1) Kognitive Bedürfnisse nach Information, Orientierung, Lernen und Wissenserweiterung; (2) Affektive Bedürfnisse nach Stimmungskontrolle wie Spannung oder Entspannung, aber auch Rekreation und Imagination und nicht zuletzt auch Ablenkung oder gar Verdrängung (sog. Eskapismus); (3) Sozial-interaktive Bedürfnisse basieren auf dem Wunsch nach Geselligkeit und sozialem Kontakt, den Medien als Lieferant von Gesprächsthemen zu erfüllen vermögen.
1.4 Sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze
71
Medienfiguren ermöglichen darüber hinaus auch in Form von sog. Parasozialer Interaktion stellvertretende und symbolische Identifikation. Schließlich erfüllen Medien wie Fernsehen, Buch oder Zeitung aber auch (4) integrativ-habituelle Bedürfnisse, welche auf dem Wunsch nach Vertrauen, Geborgenheit, Sicherheit und Stabilität basieren. Medien befriedigen diese Bedürfnisse in Form von habituellen und ritualisierten Inhaltsstrukturen. Vor diesem theoretischen Hintergrund postuliert der U&GAnsatz, dass ein bestimmtes Medium (z. B. Buch oder Zeitung) durch ein anderes Medium (z. B. Fernsehen oder Internet) konkurrenziert bzw. verdrängt werde, wenn es dasselbe oder ein erweitertes Gratifikationspotenzial quasi ›besser‹ und/oder ›kostengünstiger‹ anbiete. Der U&G-Ansatz ist aber auch kritisiert worden, einerseits weil sein Bedürfniskonzept zu wenig theoriebasiert verankert sei, andererseits weil die tatsächliche Qualität der Bedürfnisbefriedigung nicht thematisiert werde. Auch über die (längerfristigen) Konsequenzen der bedürfnisorientierten (z. B. Eskapismus) Nutzung sagt der Ansatz wenig aus, ebenso zur Entstehung von medienrelevanten Bedürfnissen im Sozialisationsprozess. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die empirische Messung von Erwartungen bzw. Gratifikationen meist standardisiert nur auf Selbstauskünften der Befragten basiere, wobei es sich um nachträgliche Rationalisierungen der Medienzuwendung der Befragten handeln könne, aber auch um Prestigeantworten (z. B. beim Buchlesen). Und nicht zuletzt wurde betont, dass Medienzuwendung nicht immer aktiv-intendiert erfolge, sondern vielfach auch habitualisiert sei. – Trotz vielfältiger Kritik war und bleibt der U&G-Ansatz die wichtigste Perspektive zur Erklärung von Medienselektion und Buchnutzung. Empirisch umgesetzt wird der U&G-Ansatz vorab in Form standardisierter Befragungen, wobei Bedürfnis- und/oder Gratifikations-Items meist im Vergleich verschiedener Medien (z. B. Fernsehen, Radio hören, Buchlesen, Zeitungslesen) den (jugendlichen) Befragten vorgelegt werden. Im deutschen Sprachraum wendeten Mitte der 1970er Jahre Hans-Jürgen Weiß (1976) in der sog. KtK-Studie in Deutschland und Ulrich Saxer, Heinz Bonfadelli und Walter Hättenschwiler (1980) in der sog. Zürcher-Studie sowie Bonfadelli und Saxer (1986) den U&G-Ansatz als erste an, indem sie das Funktions- bzw. Gratifikationspotenzial u. a. der Medien ›Buch‹ und ›Fernsehen‹ im Altersverlauf (2750 9-, 12- und 15-jährige Schüler im Kanton Zürich) miteinander verglichen. Es zeigte sich, dass beide Medien multifunktional sind und sowohl kognitive, affektive und soziale Funktionen erfüllen. Beim Buchlesen dominierten die kognitiven Funktionen ›Information & Lernen‹ vor ›allein sein‹, während beim Fernsehen die soziale Integrationsleistung ›darüber sprechen‹ neben dem affektiven Motiv ›spannend‹ an der Spitze standen. Überraschend war, dass beim Medium ›Buch‹ im Widerspruch zu gängigen Vorstellungen die Eskapismus-Funktion sogar stärker ausgeprägt war als beim Fernsehen. Konsonant dazu zeigte Janice Radway (1984) in einer qualitativen Studie, dass Frauen mit Mittelklassehintergrund in einer amerikanischen Kleinstadt Liebesromane lasen, um dem Stress und der wahrgenommenen Überforderung durch ihre Familien zu entfliehen. Zudem zeigte die ›Zürcher-Studie‹, dass die Funktionen
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des Buchlesens im Altersverlauf zwischen neun und zwölf Jahren zunahmen, sich dann aber abschwächten, geschlechtsspezifisch bei Mädchen stärker ausgeprägt waren und auch durch den Sozialisationskontext der Familie bzw. deren Bildungs-/ Schichtstatus positiv geprägt wurden.
2.1.2 Medienrezeption: Aneignung, Erleben, Parasoziale Interaktion Die kommunikationswissenschaftliche Rezeptionsforschung (vgl. Rössler u. a. 2001, 2002; Schweiger 2007, S. 196–221; Bonfadelli / Friemel 2011, S. 115–135) befasst sich mit den kognitiven, affektiven und parasozialen Prozessen während der Mediennutzung. Auf der kognitiven Ebene handelt es sich um Fragen nach Aufmerksamkeit und kognitivem Aufwand. Auf der affektiven Ebene geht es um Rezeption als Erleben. Schließlich stehen auf der sozialen Ebene Fragen nach der Identifikation und der Parasozialen Interaktion mit den fiktionalen Personen im Zentrum. Robert Kubey und Mihaly Csikszentmihalyi (1990) haben zur Erhebung und Erforschung des Erlebens von Emotionen im Kontext von Alltagsaktivitäten wie Lesen und Fernsehen methodisches Neuland erschlossen. Ihr Experience-Samplings-Ansatz erlaubt es, Fernsehen und Lesen miteinander und mit anderen Tätigkeiten zu vergleichen. Interessant ist, dass die Medienaktivitäten ›Fernsehen‹ und ›Lesen‹ offenbar recht ähnliche Emotionen erzeugen, wobei Lesen als aktivierender und als mit mehr Affekt verbunden, aber auch als stärker intrinsisch motiviert erlebt wird als Fernsehen. Die beiden amerikanischen Forscher wandten sich vor diesem Hintergrund später der Frage zu, was Menschen glücklich macht, und haben dazu das Konzept des Flow-Erlebens konzipiert und erforscht, das als ein ›der Welt entrückter‹ immersiver Zustand beschrieben wird. Dabei befinden sich, wie oft beim Lesen auch, die beiden Faktoren Anforderungen eines (Medien-)Texts und die zur Rezeption erforderlichen Fertigkeiten in einem Gleichgewicht (vgl. Früh 1980). Die Mood-Management-Theorie von Dolf Zillmann (vgl. Bonfadelli / Friemel 2011, S. 132 f.; Schweiger 2007, S. 114–119) untersucht auf empirischer Basis, wie Mediennutzer die Medien und deren spezifische Inhalte aktiv und selektiv auswählen und dazu benutzen, um ihre momentane affektive Befindlichkeit zu beeinflussen. Prämisse ist der hedonistische Rezipient, der stets eine angenehme Stimmungslage sucht bzw. aufrecht zu erhalten bestrebt ist: Unterstimulierte und gelangweilte Personen wenden sich solchen Lesestoffen bzw. TV-Angeboten zu, die ein hohes Erregungspotenzial besitzen, also spannend und aufregend sind, während Personen in Situationen von Stress oder Überstimulation eher ruhige und entspannende Medienangebote bevorzugen. Weil sich sowohl das Arousal-Konzept als auch die Mood-Management-Theorie kaum mit den Inhalten der Medienangebote befassen, hat Zillmann (1988) die sog. Affective-Disposition-Theory (vgl. Friemel / Bonfadelli 2011, S. 133–135) formuliert, die prozessorientiert das kognitiv-affektive Erleben der Mediennutzer während der
1.4 Sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze
73
Rezeption von Unterhaltungsangeboten zu beschreiben und zu erklären versucht. Zentral ist die Überlegung, dass Zuschauer etwa von Spielfilmen die Handlungen der Protagonisten wahrnehmen und moralisch bewerten, wobei zwei Pfade unterschieden werden: positiv-billigende vs. negativ-missbilligende Bewertung. Im weiteren Rezeptionsverlauf bildet sich auf der Basis der Bewertung der Protagonisten eine positiv bzw. negativ gefärbte affektive Stimmungslage heraus und dazu konsonante Erwartungen in Bezug auf den erhofften positiven oder befürchteten negativen Ausgang des Dramas. Während der amerikanischen Rezeptionsforschung eine medienpsychologische und meist experimentell-behavioristische Perspektive unterliegt, gibt es eine reiche Tradition von qualitativ orientierter medienwissenschaftlicher Rezeptionsforschung, welche aus einer handlungstheoretischen bzw. konstruktivistischen Perspektive den Rezeptionsprozess analysiert (vgl. Rössler u. a. 2001). Das ethnographische Konzept Domestizierung fragt danach, wie Menschen Medien in ihren Alltag integrieren (vgl. Röser 2007). Weitere Perspektiven fokussieren stärker auf die Leser-Text-Interaktion und analysieren, wie Mediennutzer bzw. als Leser in Auseinandersetzung mit dem Medientext aktiv Sinn konstruieren und im Alltag als soziokulturelle Praxis aneignen und umsetzen. Im deutschen Sprachraum ist die Strukturanalytische Rezeptionsforschung von Michael Charlton und Klaus Neumann-Braun (1986) bekannt geworden und hat weite Verbreitung gefunden, während im angloamerikanischen Raum das Cultural-Studies-Paradigma dominiert. Die Strukturanalytische Rezeptionsforschung untersucht mittels qualitativer Methoden das Rezeptionsgeschehen als mehrstufigen Prozess, wobei davon ausgegangen wird, dass Rezipienten (z. B. Kinder und Jugendliche) sich (unterhaltenden) Medienangeboten thematisch voreingenommen zuwenden und in ihnen nach ihren handlungsleitenden Lebensthemen suchen, die sie wiederum zur Bewältigung ihrer aktuellen Lebensaufgaben verwenden (vgl. Charlton 1997). Die unterschiedlichen Ansätze der Cultural Studies postulieren, dass Medientexte wie TV-Serien polysem, d. h. prinzipiell offen für unterschiedliche Interpretationen sind. Allerdings betont etwa Stuart Hall, dass vielen Medientexten wie beispielsweise den Beiträgen in TV-Nachrichten eine sog. (ideologisch) bevorzugte Leseart (engl. preferred reading) enthalten sei. Zuschauer werden nach ihrem ideologischen Hintergrund und ihrer sozialen Umwelt diese bevorzugte Leseart tendenziell (unkritisch) übernehmen. Allerdings ist auch eine distanziert ablehnende Leseart (engl. oppositional reading) möglich. In vielen Fällen kommt es freilich zur ausgehandelten Synthese (engl. negotiated reading) von eigenen Erfahrungen und Wissensbeständen und den im Medientext vertretenen Standpunkten und Argumenten. Identifikation und Parasoziale Interaktion sind weitere theoretische Konzepte aus der Kommunikationswissenschaft, welche zur Analyse des Rezeptionsprozesses entwickelt und in mittlerweile vielen empirischen Studien angewendet und überprüft worden sind (vgl. Schweiger 2007, S. 121–129; Hartmann 2010; Bonfadelli / Friemel 2011, S. 121–124). Das ältere Konzept der Identifikation bezeichnet die Gefühlsbin
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dung an eine andere Person. Auf die Rezeptionssituation einer realistischen TV-Serie übertragen bezeichnet das Konzept den Wunsch der Rezipienten, so zu sein wie die Medienhelden. Nach der Theorie findet vor allem dann Identifikation statt, wenn das Identifikationsvorbild Bedürfnisse und Wünsche des Rezipienten stellvertretend zu befriedigen vermag. Durch Identifikation mit dem Vorbild vermag der Rezipient bzw. der Zuschauer, die mit dem Vorbild verbundenen positiven Eigenschaften und Gefühle teilnehmend und in Stellvertretung selbst mitzuerleben. In der empirischen Forschung wurde gezeigt, dass Identifikation beim Fernsehen bei Kindern häufig vorkommt und tendenziell mit Medienfiguren gleichen Geschlechts, gleichen Alters und gleicher Nationalität stattfindet. Mädchen lesen nicht nur mehr, sondern bei ihnen kommt Identifikation häufiger vor als bei Knaben (vgl. Andringa 2004) und angebotsbezogen ist die perzipierte Realitätsnähe relevant (vgl. Schreier 2008). Das Konzept der Parasozialen Interaktion PSI wurde seit Mitte der 1990er Jahre in der deutschen Kommunikationswissenschaft rezipiert und empirisch umgesetzt (vgl. Hartmann 2010). Ausgangspunkt war, dass sich Zuschauer beim Fernsehen weniger stark mit den TV-Helden identifizieren, sondern sich ihnen gegenüber eher wie zu Freunden verhalten, also Personen, die man aus dem Alltag kennt. Das Fernsehen erweckt demnach bei den Zuschauern das Gefühlt der Realität als Illusion der persönlichen Nähe und Intimität, was Rollenübernahme erleichtert, obwohl die Zuschauer letztlich immer nur interpretierende und reagierende Beobachter bleiben; allerdings auch mit dem Vorteil verknüpft, dass die TV-Personen nicht auf das Verhalten der Zuschauer reagieren wie in der konkreten Alltagsinteraktion. Empirisch untersucht worden ist das Phänomen der Parasozialen Interaktion etwa bei Reality-Shows oder Daily-Talkshows (vgl. Paus-Haase u. a. 1999). Schließlich können Tischgespräche über Fernsehsendungen (vgl. Keppler 1994) oder mehrdeutige Texte (vgl. Charlton / Sutter 2007) schon dem Bereich der Medien wirkungen zugeordnet werden, weil solche Gespräche als Anschlusskommunikation über Medienangebote und Medieninhalte durch die Mediennutzung ausgelöst oder stimuliert werden. Dabei werden in sozialen Interaktionssituationen nach der Medienrezeption subjektive Lesearten von Medientexten sichtbar und in gegenseitiger Auseinandersetzung mit Familienmitgliedern, Freunden oder Arbeitskollegen kommunikativ angeeignet und ausgehandelt. Die Offenheit medialer Texte und die Pluralität möglicher Lesearten und Bedeutungen werden in gemeinsamen Diskursen bewertet, gegenseitig erklärt oder kooperativ aufgearbeitet.
2.1.3 Medieneffekte: Agenda-Setting, Wissensklüfte, Framing / Kultivierung Die empirische Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich vorab mit den Wirkungen der medienvermittelten Kommunikation. Seit den 1970er Jahren sind neue Ansätze wie Agenda-Setting, Wissensklüfte, Framing und Kultivierung formuliert und empirisch umgesetzt worden, die auch für die Leseforschung von Relevanz sind.
1.4 Sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze
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Explizit mit den Wirkungen des Lesens hat sich die Kommunikationswissenschaft eher wenig beschäftigt (vgl. Kerlen 2000). Der wichtigste Ansatz der modernen Medienwirkungsforschung ist die AgendaSetting-Theorie (vgl. Jäckel 2008, S. 169–197; Bonfadelli / Friemel 2011, S. 181–195). Durch die Häufigkeit und Prominenz von gesellschaftlichen Themen in der Medienberichterstattung (Medien-Agenda) bestimmen Presse, Fernsehen, Radio darüber, welche Themen von der Bevölkerung (Publikums-Agenda) als subjektiv relevant betrachtet werden. Obwohl die Agenda-Setting-Theorie nicht direkt auf den Bereich des Buchlesens angewendet worden ist, kann die Wirkung von kulturellen Events wie beispielsweise die Veröffentlichung der Harry-Potter-Romane mit der Agenda-SettingTheorie erklärt werden: Die intensive Berichterstattung über die Autorin, die Bücher selbst und Harry Potter als Romanfigur setzen das Thema auf die subjektive Agenda der Leser und beeinflussen nicht zuletzt auch das Kauf-, Schenk- und Leseverhalten. Schließlich initiieren dominante Themen der Medien-Agenda auch thematische Anschlusskommunikation. Im Unterschied zur Agenda-Setting-Forschung hatte die Wissenskluft-Perspektive (vgl. Jäckel 2008, S. 287–306; Bonfadelli / Friemel 2011, S. 243–260) einen direkteren Zusammenhang mit der Leseforschung. Die Basis-Hypothese postuliert, dass bei wachsender Berichterstattung über ein Thema sich die Wissenskluft zwischen den verschiedenen sozialen Segmenten der Gesellschaft (Bildung und sozialer Status) tendenziell verstärke. Damit wurde dem Optimismus eine Absage erteilt, dass die durch moderne Medien massenhaft verbreiteten Informationen zu einer Homogenisierung des Wissens führen würden. Als verursachender Faktor kommt u. a. in Frage, dass Mediennutzer mit steigender Bildung mehr Vorwissen haben und vermehrt die informationsreichen Printmedien nutzen. Allerdings können Printmedien wie Zeitung und Buch auch wissensausgleichend wirken, wenn sie von den weniger Gebildeten tatsächlich auch genutzt werden (vgl. Bonfadelli 1994, S. 186). Weitere Drittfaktoren, welche homogenisierend wirken können, sind einerseits ein bestehender sozialer Konflikt, andererseits interpersonale Kommunikation. – Kritisiert wurde, dass vielfach bildungsaffine Wissenstests (sog. Schulbuchwissen) zum Einsatz kamen; auch wurde der Ansatz als Defizit-Perspektive charakterisiert und diesem eine DifferenzPerspektive mit Betonung der Motivation, Informationen zu einem Thema zu suchen, gegenübergestellt. Seit den 1990er Jahren hat die Framing-Perspektive stark an Bedeutung gewonnen (vgl. Matthes 2007; Bonfadelli / Friemel 2011, S. 196–205). Vor einem konstruktivistischen Hintergrund geht sie davon aus, dass Massenmedien die Welt nicht quasi realitätsgetreu ›eins zu eins‹ abbilden, sondern die (politische) Medienberichterstattung immer aus einer spezifischen Perspektive ›gerahmt‹ erfolgt bzw. interpretiert wird, den sog. Medien-Frames, indem als wichtig erachtete Aspekte hervorgehoben und anderes in den Hintergrund gerückt oder sogar weggelassen wird. Prozessorientiert versuchen außermediale Instanzen als Stakeholder durch Frame-Building auf die Medien-Frames der Journalisten Einfluss zu nehmen, während in der Wir
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kungsforschung die Frage zentral ist und empirisch untersucht wird, inwiefern die dominanten Medien-Frames einen Einfluss auf die Entstehung und Ausprägung von Rezipienten-Frames haben (vgl. Matthes 2007). – Kritisiert wird vorab die theoretisch uneindeutige und empirisch variable Verwendung des Frame-Konzepts.
2.2 Meso- und Makro-Ebene Im Vergleich zur Mikro-Ebene ist die Verwendung und empirische Umsetzung von sozial- und kommunikationswissenschaftlichen Theorien der Meso- und MakroEbene in der Leseforschung seltener erfolgt, mit Ausnahme der Sozialisationsperspektive, welche vor allem in der Leseforschung bei Heranwachsenden weite Verbreitung gefunden hat (vgl. Graf 2007; Philipp 2011). Jüngstens haben auch Studien basierend auf der Kohorten-Perspektive bzw. dem Konzept der Mediengenerationen an Popularität gewonnen (vgl. Peiser 2003; Jäckel 2010). Sie betonen, dass das zur Zeit des Aufwachsens dominante Leitmedium auch später das genutzte Medienensemble präge.
2.2.1 Sozialisationstheorie Die Sozialisationsperspektive geht von der Prämisse aus, dass heranwachsende Individuen zu Mitgliedern der Gesellschaft als soziale Wesen, welche ihr Handeln an sozialen Rollen, Normen und gesellschaftlichen Werten orientieren, sozialisiert werden müssen. Dies gilt ebenso für das Leseverhalten bzw. für den Erwerb von Literalität: Als (Buch-)Leser wird man nicht geboren, sondern zum Leser wird man in komplexen Prozessen der Lesesozialisation geformt, wobei gesellschaftliche Institutionen wie die Familie, Organisationen wie die Schule und soziale Netzwerke wie Peer-Gruppen eine wichtige Rolle spielen. Während die klassische Sozialisationstheorie den Einfluss der diversen Sozialisationsinstanzen im Prozess der Sozialisation in Kindheit und Jugend thematisiert (vgl. Hurrelmann 2002; Hurrelmann / Ulich 2008), benutzen neuere Ansätze, speziell auch im Bereich der Mediensozialisation (vgl. Hoffmann / Mikos 2010), in Abgrenzung zur Fremdsozialisation verstärkt das Konzept der Selbstsozialisation im Sinne einer aktiven, lebenslangen und mehr oder weniger selbstgesteuerten Realitätsverarbeitung (vgl. Geulen 2002). In der empirischen Forschung dominieren Querschnittstudien mittels standardisierten Befragungen von Schülern, wobei der Einfluss von Familie, Schule und Kameraden auf deren Leseverhalten (vgl. Kraaykamp 2003; Bucher 2004; Clark u. a. 2008) bzw. den Umgang mit Literatur (vgl. Eggert / Garbe 2001) untersucht wird. Longitudinale Studien im Altersverlauf mit Panel-Designs zur Bestimmung der Kausalitätsrichtung sind die Ausnahme geblieben (vgl. McElvany u. a. 2009; Kloosterman u. a. 2011). In der Lesesozialisationsforschung ist der Einfluss familiärer Faktoren wie Bildungsnähe der
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Eltern, Buchangebot in der Familie, Vorlesen und Buchgespräche, elterliches Leseverhalten als Vorbild u. a. m. auf das (Buch-)Leseverhalten der Kinder empirisch sowohl mittels quantitativer wie auch qualitativer Studien gut bestätigt (vgl. Köcher 1988, 1993; Hurrelmann u. a. 1993; Wieler 1997; Baker 2003; Wollscheid 2008). Etwas weniger Studien und Befunde gibt es zum Einfluss der Sozialisationsinstanz Schule (vgl. Bucher 2004; Pieper u. a. 2004) bzw. des Deutsch- oder Literatur unterrichts (vgl. Gattermaier 2003; Rupp u. a. 2004), etwa was die Lektüreauswahl, literarische Lesepraxis, Buchgespräche, den Bibliotheksbesuch oder das Vorbildverhalten und die explizite Leseförderung der Lehrer anbelangt. Im Entwicklungsverlauf ist beispielsweise der Einfluss von Lesemotivation, Leseselbstkonzept und Leseverhalten auf die Herausbildung der Lesekompetenz von Relevanz (vgl. McElvany u. a. 2008; Retelsdorf / Möller 2008). Jüngeren Datums sind Studien zum Einfluss der Peer-Gruppen (vgl. Rosebrock 2004; Philipp 2010a, 2010b) und (Bücher-)Fan-Kulturen (vgl. Garbe / Philipp 2006), aber auch von Buch-Clubs (vgl. Griswold u. a. 2011) im Prozess der Lesesozialisation etwa im Kontext von Ko-Orientierung, Wettbewerb und Buchgesprächen mit anderen (auch lesenden) Peers. Die Rolle der Peers ist im Vergleich zum Einfluss der Familie auf Lesemotivation und Leseverhalten noch wenig erforscht. Nach der empirischen Studie von Maik Philipp (2010b, S. 126) sagte beispielsweise die allgemeine Lese orientierung der Clique von Schülern der 5. Klasse deren spätere Lesemotivation in der 6. Klasse voraus, während Gespräche über Gelesenes, also Anschlusskommunikation, Prädiktoren des Leseverhaltens waren. Im Vergleich zur klassischen Sozialisationstheorie fokussiert die ökologische Sozialisationsforschung (vgl. Vollbrecht 2010) auf die sozial-räumlichen Umwelten, in denen Kinder aufwachsen. Susan Neuman und Donna Celano (2001) studierten in einer medienökologischen Perspektive den erstaunlich ausgeprägten differenziellen Zugang zu gedruckten Texten in je zwei Nachbargemeinden mit niedrigem und mittlerem Einkommen.
2.2.2 Konzepte des Medien- und Gesellschaftswandels Auf der Makro-Ebene wird zur Erklärung des Wandels des Mediums Buch und des (Buch-)Lesens zum einen auf eher medien-zentrierte Ansätze des Medienwandels zurückgegriffen und zum anderen mit unterschiedlichen Theorien und Konzepten des Gesellschaftswandels gearbeitet wie Ökonomisierung und Globalisierung einerseits oder Mediengesellschaft und Medialisierung andererseits. Medientechnologische Ansätze erklären und prognostizieren die Zukunft des Mediums Buch vorab durch mediale Spezifika des Internets wie Interaktivität und freier Zugriff oder das sog. Long Tail-Phänomen (vgl. Glazer / Clark 2011, S. 69), das den Erfolg von ›Low-Sellern‹ und ›Print-on-Demand‹ zu erklären vermag. Die Konzepte ›Ökonomisierung‹ und ›Globalisierung‹ wiederum werden zur Erklärung von
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Phänomenen wie kulturelle Homogenisierung der Buchproduktion durch sog. Branding, aber auch zum Wachstum von international tätigen Buchverlagen und großen Buchhandelsketten benutzt. Zusammenfassend bewertet postulieren die meisten makrotheoretischen Per spektiven tendenziell den Niedergang des Mediums Buch bzw. die Konkurrenzierung des Lesens als kulturell prägende Medientechnik. Lesen als Grundlage der Gesellschaft wird danach zunehmend von anderen Informationsaneignungstechniken verdrängt (vgl. Kuhn / Rühr 2010, S. 559). Allerdings findet dabei zu wenig Berücksichtigung, dass das Internet und speziell auch das Web 2.0 im Gefolge der wachsenden Medienkonvergenz neue Möglichkeiten des aktiven Umgangs mit Literalität eröffnen (vgl. Kreibich / Schäfer 2009) wie die direkte Bereitstellung und Verbreitung von Büchern durch Autoren im Internet als sog. Online-Distribution (vgl. Meyer / Treutler 2009), aber auch das aktive Verfassen und Lesen von Blogs im Social Web im Sinne von neuen Formen des Ausdrucks von Literalität, welche durch die Leseforschung noch zu wenig zur Kenntnis genommen worden ist.
3 Fazit: Integraler Ansatz als theoretische Herausforderung Die Sozialwissenschaften im Allgemeinen und die Kommunikations- und Medienwissenschaft im Speziellen stellen eine breite Palette an theoretischen Perspektiven zur Analyse des Mediums Buch und des Lesens zur Verfügung. Allerdings ist die empirische Leseforschung noch zu wenig theoriebasiert. Der aktuelle Stand der Leseforschung muss darum als disparates »Konglomerat verschiedener Theorien und Perspektiven« (Kuhn / Rühr 2010, S. 560) bezeichnet werden, denen unterschiedlichste Fragestellungen zugrunde liegen. Was erst in Ansätzen erkennbar ist, sind disziplinen-übergreifende integrale theoretische Perspektiven, welche die zentralen strukturellen Kontextbedingungen, Einflussfaktoren und -prozesse sowohl der Mikro- als auch der Meso- und Makroebene auf stringente Weise miteinander zu verbinden vermögen. Solche Modelle sind in visualisierter Form von Angela Fritz (1989, S. 14), Bonfadelli (1998b, S. 86; 1999, S. 107; 2004a, S. 99) oder von Philipp (2010a, S. 52) vorgelegt worden (siehe Abb. 4). Zukunftsorientiert müssten sie noch stärker zur theoretischen Basis der empirischen Leseforschung werden. Diese wiederum sollte vor dem Hintergrund der verstärkten Medienkonvergenz ihr Gegenstandsverständnis ausweiten und auch neue Formen des aktiven Verfassens von literalen und multimedialen Texten im Internet stärker mitberücksichtigen.
1.4 Sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze
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Makro-Ebene: Einflussfaktoren von Gesellschaftswandel und Medialisierung als (medien-)ökologische Kontexte mit je spezifischen Normen & Werten, aber auch Ressourcen Meso-Ebene: Kontexte (Alter, Geschlecht) / Sozialisationsinstanzen Familie, Schule, Peers Mikro-Ebene: Einflussfaktoren / -prozesse des (Buch-)Lesens als persönliche Lesekultur
Leseverhalten Modalitäten Interpretationen
LeseErwartungen Gratifikationen
Lesekompetenz Literacy Skills Intrinsische vs. extrinsische Lesemotivation
Abb. 4: Visualisiertes Mehrebenen-Modell des (Buch-)Lesens
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Heinz Bonfadelli
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Ursula Rautenberg / Ute Schneider
1.5 Historisch-hermeneutische Ansätze der Lese- und Leserforschung Zusammenfassung: Der Beitrag thematisiert in historischer wie systematischer Perspektive verschiedene Zugangsweisen und Forschungsansätze, die in der historischen Leserforschung seit den 1960er Jahren entwickelt und in größerem Rahmen rezipiert wurden. Die chronologische Entwicklung innerhalb der historischen Leserforschung zeigt den Wandel von Forschungsinteressen, methodischen Vorgehensweisen und theoretischen Ansätzen, die von sozialgeschichtlichen und rezeptionstheoretischen Perspektiven hin zu einer an der Materialität von Lesemedien orientierten Forschung führen, die aus den Artefakten Rückschlüsse auf Leseprozesse und Lesemodi zieht. In systematischer Perspektive folgt die Anlage des Beitrags den inhaltlich vielfältigen und unterschiedlich eingesetzten operationalen Leserbegriffen, die je nach Forschungsdesign und Erkenntnisinteresse variieren. Die terminologische Vielfalt lässt eine Vergleichbarkeit der verschiedenen Ansätze kaum zu; die wichtig sten bzw. häufig genutzten Leserbegriffe dienen jedoch der Gliederung des Beitrags. Abstract: This chapter examines historical and systematic perspectives on various approaches and research methods that have been developed in historical reader studies since the 1960s and have found acceptance in a broader context. The chronological development within historical reader studies illuminates the shift in research interests, methods, and theoretical frameworks from sociohistorical and reception-theoretical perspectives to research that is oriented around the materiality of reading media and draws conclusions about processes and modes of reading from material artefacts. The structure of this chapter systematically follows the semantically diverse and variously applied operational concepts of ›readers‹, which vary according to research design and goals. The terminological variety hardly permits a comparison of the different approaches; the most important or commonly used notions of ›readers‹ do however serve as the structural principle of this chapter.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 86 2 Der potenzielle und der reale Leser im sozialen Kontext — 87 2.1 Sozialgeschichtliche Ansätze — 87 2.2 Literatursoziologische Ansätze und empirische Rezeptionsforschung — 91 3 Der konzeptionelle Leser — 92 3.1 Von der Leserforschung zur Leseforschung, vom Text zum Lesemedium — 92 3.2 Die Gestaltung und Rezeption der Lesemedien: Zeichentheoretische, kognitionspsychologische und sprachhistorisch-buchwissenschaftliche Ansätze — 98 3.3 Der implizite Leser in der Literaturwissenschaft — 101 4 Der reale, empirisch fassbare historische Leser — 103 4.1 Marginalienforschung und private Lektüre — 103 4.2 Provenienzforschung und Buchbesitz — 105 4.3 Bilder des Lesens als historische Quelle — 106 4.4 Lesebiographien — 107 4.5 Quantitativ-statistische Leserforschung — 108 5 Schluss — 110 6 Literatur — 110
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1 Einleitung Die Fülle der Ansätze zur Lese- und Leserforschung aus den verschiedenen, an der Buchforschung beteiligten geisteswissenschaftlichen Disziplinen, und besonders der literatur- und kulturhistorischen Beiträge, ist im Rahmen dieses Artikels nicht darzustellen. Wie auch im Fall der anderen disziplinären Beiträge des Handbuchkapitels Forschungsperspektiven liegt der Schwerpunkt auf einflussreichen Forschungsparadigmen.1 Es bietet sich daher an, von den operativen Leserbegriffen ausgehend die wichtigsten Forschungsansätze vorzustellen. Die historische Leserforschung untersucht das Lesen als Kulturtechnik und soziale Praxis im historischen Wandel. Dabei werden – abhängig von den zur Verfügung stehenden Quellen – die Entwicklung von Alphabetisierungsraten, das Leseverhalten von sozialen Gruppen oder Schichten sowie deren Bildungsvoraussetzungen, bevorzugte Texte und Lesemedien sowie die Praktiken der Lektüre, wie Leseweisen, Lesesituationen und Lesemodi, analysiert (vgl. auch den Überblick über entsprechende Forschungsfelder bei Towheed u. a. 2011). Die Rekonstruktion des Lesepublikums und der Lesepraktiken vergangener Epochen wurzelt in mehreren Disziplinen. Zielsetzung, methodischer Zugriff und die jeweils ausgewerteten Quellen historischer Studien über Lesen und Lesepublikum unterscheiden sich in der Regel je nach Forschungsinteresse und disziplinärem Kontext durch ihren spezifischen operationalen Leserbegriff. Zu den gängigen Kategorien gehören seit den 1960er Jahren der implizite oder intendier te Leser, der als theoretisches Konstrukt vorwiegend in der Rezeptionsästhetik analytisch genutzt wird. Gegenstand der Rezeptionsg eschichte hingegen ist einerseits der reale Leser, der empirisch messbar und nachweisbar ist und der weiter systematisiert werden kann, beispielsweise in der Hinsicht, ob es sich um nur dürftig alphabetisierte Leser oder regelmäßig Lesende oder habituell Lesende handelt. Andererseits steht der potenzielle Leser im Fokus, der aufgrund seines formalen Bildungsgrads rezeptionsfähig ist, aber nicht zwingend liest. Der potenzielle und der reale Leser werden vor allem in der Sozialgeschichtsforschung seit den 1960er Jahren, der Buchwissenschaft und der empirischen Literaturwissenschaft behandelt.
1 Ein Forschungsbericht, der alle Ergebnisse im Detail referiert, ist hier nicht intendiert. Wir verweisen hier auf die Artikel zur Geschichte der Lesemedien (Kap. 2.2 Lesen in unterschiedlichen Lesemedien) und des Lesens (Kap. 4.1 Geschichte des Lesers) in diesem Band.
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2 Der potenzielle und der reale Leser im sozialen Kontext Den historischen Leser bzw. das Lesepublikum sozial zu fassen, kann in zwei Dimensionen perspektiviert werden. Die erste beruht auf der Annahme, dass die Kulturtechnik Lesen sozial überformt und der Grad ihrer Beherrschung abhängig ist von den sozialen Einflüssen, die auf das Individuum wirken, wie z. B. Elternhaus, Peergroups und Schule sowie Klasse, Stand oder Schicht.2 Diese Perspektive schließt meist die Fragen nach der Lektürewahl, den Lesestoffen, ein. In einer zweiten Dimension wird das Lesepublikum in seiner Funktion im literarischen Leben und als Konsument auf dem Buchmarkt untersucht. Auch hierbei wird der Blick auf Lesestoffe gelenkt, allerdings meist aus kulturanalytischer und/oder ökonomischer Sicht.
2.1 Sozialgeschichtliche Ansätze Die bis Ende der 1980er Jahre vorherrschenden Studien zur Lesergeschichte sind in ihren Forschungsdesigns und ihren Fragestellungen oft der Sozialgeschichte verpflichtet. Entsprechend den soziologischen Merkmalen, die bis in die 1990er Jahre der vertikalen Strukturierung von (modernen) Gesellschaften nach sozialen Schichten dienten,3 wurden in den Leserstudien objektiv messbare Kriterien wie formaler Bildungsgrad, Beruf, ökonomische Situation, aber auch subjektive Kriterien wie Prestige sowie zusätzliche Eigenschaften wie Alter oder Geschlecht als maßgebliche Differenzierungskategorien für die Lesefähigkeit, die Lesefrequenz und die Lektüre wahl von Individuen und/oder Gruppen angenommen. Gemeinsam ist allen sozialgeschichtlichen Ansätzen, dass soziale Merkmale mit Zuschreibungen von ästhetischer Urteilskraft, mit Leseinteressen und habituellem Leseverhalten korreliert wurden, stets basierend auf der Grundannahme, die soziale Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Schicht präge den jeweils spezifischen Umgang mit Lesestoffen und trage zur Entfaltung literarisch-ästhetischer Werte bei. Dabei sind zwei Vorgehensweisen typisch: Entweder werden von der sozialen Schicht bzw. dem Stand oder der sozialen Klasse ausgehend Lesestoffe und Leseverhalten sozial zugeordnet (vgl. z. B. Engelsing 1960, 1974) oder die Lesestoffe selbst sind der Ausgangspunkt. Ihnen wurden aufgrund ihrer inhaltlichen Qualität (Hochliteratur vs. populäre Unterhaltung oder
2 Vgl. hierzu im Einzelnen z. B. Kap. 3.2.2 Lesen und Schule sowie Kap. 2.3.2 Peers und Lesen in diesem Band. 3 Seit den 1990er Jahren wird zur Beschreibung von Gesellschaften mehr und mehr von diesen Merkmalen abgesehen und die Sozialforschung geht in Abgrenzung zur sozialen Schicht über zur Formulierung von sozialen Milieus, die nicht zwingend vertikal angeordnet sein müssen, sondern auch nebeneinander angeordnet sein können.
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Trivialliteratur) oder materiellen Beschaffenheit (Prachtausgaben, Heftchenliteratur etc.) Lesergruppen oder -schichten nach sozialen Merkmalen zugewiesen (vgl. z. B. Schenda 1970; Schneider noch 2004). Je nach Quellenlage wird ein potenzieller oder realer Leser erforscht. Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Rolf Engelsing war einer der Ersten, der (hier lokal beschränkt auf Bremen) eine spezifische Schicht in ihrem Leseverhalten untersuchte: den Bürger als Leser (1960, erweitert 1974). Es folgte Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft (1973). Engelsings Quellen bildeten Statistiken zur Buchproduktion, Alphabetisierungsraten, Inventare von privatem Buchbesitz sowie Aussagen von bürgerlichen Schriftstellern über ihre eigenen Lektüregewohnheiten und Leseerlebnisse. Engelsings vorwiegend analysierte Lesergruppe gehört der protestantischen, bürgerlich gebildeten Schicht an, deren Lektürekonsum er vor dem Hintergrund des sich wandelnden Buchmarkts beleuchtete. In den Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit (1970) grenzte Engelsing zwei Epochen gegeneinander ab: eine Phase der intensiven Wiederholungslektüre, die vorwiegend durch Lektürestoffe christlicher Prägung gekennzeichnet war, bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts; dann die Phase der extensiven Lektüre, die charakterisiert war durch neue Publikationsformen und Lesestoffe wie Zeitschriften, Romane, Schauspiele, Gedichte und Reise beschreibungen. Schichtenspezifisch zugeordnet wurde dieser Lektürewahl das städtische Bürgertum sowie Literaten bzw. Dichter. Andere Lesergruppen untersuchte Engelsing nicht. Die Dichotomisierung von intensiver und extensiver Lektüre wurde in nachfolgenden Untersuchungen als zu schematisch kritisiert, da bestimmte Lesestoffe, wie z. B. die Bibel, auch weiterhin intensiv gelesen wurden und andere Lesepraktiken, wie z. B. gelehrtes Lesen, bereits vor der Aufklärung extensiv sein mussten (vgl. zur Kritik Schön 1987, Chartier 1990a, Darnton 1998). Das seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert kulturell und sozial aufstrebende Bürgertum war ab den 1960er Jahren bis in die 1990er Jahre hinein in seinem Leseverhalten und in der Wahl seiner Lektürestoffe ein Hauptuntersuchungsgegenstand im sozialhistorischen Kontext. Hierzu gehören vor allem die vielfältigen Analysen organisierten Lesens in den bürgerlichen Lesegesellschaften der Aufklärung. Insbesondere die Überblicksarbeiten von Marlies Prüsener (1972) und Hans-Otto Dann (1981) lösten weitere Einzeluntersuchungen zu Lesegesellschaften aus. Die vergleichsweise gute Quellenlage mit erhaltenen Mitgliederlisten, Statuten und Bestandslisten einzelner Lesegesellschaften erlauben Aussagen über den realen (bürgerlichen) Leser während der Aufklärung.4 Den Weg vom Lesestoff zum sozial identifizierbaren Leser wählte 1970 Rudolf Schenda, aus der Kulturanthropologie kommend. Er legte mit seiner Habilitationsschrift unter dem Titel Volk ohne Buch (1970) eine der ersten großen sozialhistori-
4 Vgl. dazu ausführlich Kap. 4.1.3 Frühe Neuzeit in diesem Band.
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schen Überblicksstudien zum Lesepublikum im ausgehenden 18. und langen 19. Jahrhundert vor. Anders als Engelsing interessierte er sich weniger für das Leseverhalten und die exklusive Lektürewahl der Bildungsoberschicht und der Eliten, sondern verfolgte in einem sozialgeschichtlichen Ansatz den Versuch »anzufangen mit einer Sozialgeschichte massenhaft verbreiteter Literatur« (Schenda 1970, S. 9). Aus der Kritik an der bis dahin nur wenig ins Blickfeld gerückten Trivialliteraturforschung stellte er Lesergruppen und ihre Lektüre ins Zentrum seines Interesses, die in der literaturgeschichtlichen Forschung weitgehend ignoriert wurden. Dies waren vorwiegend Kleinbürger und Arbeiter (vgl. Schenda 1976). Schendas literatursoziologische Prämisse lautete, »die mit dem Phänomen Buch verbundenen Interaktionen von Produzenten, Vermittlungsinstanzen und Konsumenten, die sozialpsychologischen Funktionen und die Effekte der Kommunikation – zumal die der gesellschaftlich manipulierten« (Schenda 1970, S. 22) müssten zwingend in einer leserhistorischen Untersuchung einbezogen werden. Er griff somit die auch in der Buchwissenschaft lange vorherrschende klassische Trias der Analyse von Buchproduktion, Distributionsinstanzen und Rezeption auf und integrierte in seine Forschungsfragen die Formen und Gattungen der populären Lesestoffe, um diese »nicht ästhetisch, so doch sozialgeschichtlich zu bewerten« (Schenda 1970, S. 31). Als Quellen diente ihm folgerichtig eine Auswahl von populären Lesestoffen zwischen 1770 und 1910, um die Frage ›Wer las was?‹ zu beantworten. Schendas Untersuchung ging zunächst nicht vom Leser und seinen Bildungsvoraussetzungen selbst aus, sondern vom Lesestoff und er zog daraus Rückschlüsse auf das Publikum, dem er sich anschließend bildungsgeschichtlich näherte. Massenhaft vertriebene Lektürestoffe und Publikationsformen wie Kolportageromane, Heftchenliteratur und Jugendschriften wurden einer inhaltlichen Analyse unterzogen und mit soziokulturellen Kriterien in Beziehung gesetzt. Darüber hinaus lieferte Schenda Daten zur potenziellen Lesefähigkeit, indem er einen Zusammenhang zwischen »schulischen, erziehungspolitischen, buchtechnischen und nationalökonomischen Entwicklungen« (Schenda 1970, S. 494) herstellte. Der Literaturwissenschaftler Jost Schneider ist ebenfalls von weit verbreiteten Lesestoffen ausgegangen, allerdings mit einer anderen Zielsetzung als Schenda. Sein Ziel war die deutsche Literaturgeschichte als Lesergeschichte nach »gesellschaftlichen Zeitaltern und innerhalb dieser Zeitalter nach den einzelnen sozialen Schichten« (Schneider 2004, S. 7) zu gliedern, um mit Hilfe dieses einfachen Gerüsts Aussagen über die Haupttypen literarischer Kommunikation im historischen Längsschnitt treffen zu können und auf die bisherigen Defizite der Literaturgeschichtsschreibung aufmerksam zu machen. »Als ›literarische Kultur‹ wird dabei eine institutionalisierte, epochen- und schichtenspezifische Praxis der literarischen Kommunikation verstanden.« (Schneider 2004, S. 8) Sozialgeschichtlichen Strukturanalysen methodisch folgend, bildet Schneider konsequenterweise Typen, wobei »jede literarische Kultur als eine eigene Institution aufgefaßt [wird], die […] Normen und Konventionen im Hinblick auf ein bestimmtes Publikumssegment definiert und hierarchisiert« (Schneider 2004, S. 20). Es geht also um die soziale Funktion von literarischen Texten, deren
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Lektüre von unterschiedlichen sozialen Gruppen normativ als soziale Distinktionsleistung bewusst oder unbewusst instrumentalisiert wird oder werden kann. Schneider filterte überindividuelle Lesekulturen heraus, in denen bestimmte soziale Schichten im Vergleich mit ihrem Anteil an der Gesamtgesellschaft überrepräsentiert sind. Historisch wurden ›vier Haupttypen literarischer Kommunikation‹ identifiziert: Kompensationsliteratur der Unterprivilegierten, Unterhaltungsliteratur des Mittelstands, gelehrte Kultur der Bildungseliten und Repräsentationskultur der gesellschaftlichen Führungsschichten (vgl. Schneider 2004, S. 14 und wieder aufgriffen im Fazit S. 438). In den Kontext der Sozialgeschichte der Literatur und des Lesers gehört auch die Erforschung der Nutzer von Leihbibliotheken oder anderen öffentlichen Bibliotheken. Hierzu wurden Quellen wie Bibliothekskataloge und Ausleihbücher mit Nutzerdaten analysiert, was eine klassische Methode der historischen Leserforschung darstellt. Die umfangreichste Studie auf der Grundlage von Ausleihbüchern legte Mechthild Raabe (1989) über die Nutzer der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vor. Sie hat die in den Registraturbüchern enthaltenen Titelfragmente zu den zwischen 1714 und 1799 entliehenen Büchern entschlüsselt und die entsprechenden überlieferten Leihscheine mit Angaben zu den Lesern nach verschiedenen Kriterien empirisch ausgewertet. Diese Quellen wurden als »direkte historische Zeugnisse, aus denen man über Leser, Leserschichten, Leserinteressen, Lektürekanon und Lesegewohnheiten Verläßlicheres«5 als aus anderen Quellengattungen erfährt, gedeutet.6 Weitere umfangreiche Studien sind vor allem innerhalb der Leihbibliotheksforschung zum 19. Jahrhundert durchgeführt worden (vgl. stellvertretend für viele Arbeiten Martino 1990). Oft entliehene und beliebte Autoren und Lektürestoffe lieferten zwar Erkenntnisse über den herrschenden literarischen Geschmack, gaben jedoch weniger Auskunft über die soziale Zusammensetzung der Leserschaft. Aus Ausleihbüchern rekonstruierte Zuordnungen von sozialem Status der Nutzer und bevorzugten Lesestoffen lesersoziologische Rückschlüsse zu ziehen, ist zumindest problematisch und bisweilen kaum zutreffend. Nicht immer können Entleiher und Leser als identisch angenommen werden, denn es muss davon ausgegangen werden, dass z. B. Dienstboten und Hausangestellte im Besitzbürgertum und im Adel entsprechende Botengänge in die Bibliothek für ihre Herrschaften unternommen haben, die nicht zwingend als Entleiher verzeichnet waren. Im 20. Jahrhundert etablierte sich dann die zeitgenössische Nutzerforschung in Bibliotheken als Methode der aktuellen Leserforschung. Dies geschah zunächst in den 1920er Jahren, als der Bibliothekar Walter Hofmann
5 Paul Raabe im Vorwort zu Mechthild Raabe 1989, S. viii. 6 Die Ergebnisse der Studie sind jedoch stark kritisiert und in Frage gestellt worden, und zwar insbesondere die bibliographisch sehr fehlerhafte Erschließung der ausgeliehenen Bücher, vgl. die umfassende, höchst kritische Rezension von Martino, Alberto: Lektüre und Leser in Norddeutschland im 18. Jahrhundert. Zu der Veröffentlichung der Ausleihbücher der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Amsterdam 1993 (Chloe. Beiheft zum Daphnis. 14).
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die Entleiher in den Leipziger Bücherhallen nach soziodemographischen Aspekten analysierte.7
2.2 Literatursoziologische Ansätze und empirische Rezeptionsforschung Reale Leser als Akteure auf dem Buchmarkt8 bzw. im Literaturbetrieb finden in der Literatursoziologie Berücksichtigung. Die gesellschaftliche Bedingtheit von Literatur wurde bereits 1923 von Levin Schücking in seiner Soziologie der literarischen Geschmacksbildung untersucht. Er hatte für die Dimension ›Lesepublikum‹ die Mechanismen der gesellschaftlich überformten literarischen Geschmacksbildung offengelegt sowie nach den Vermittlern und Selektionsinstanzen von Literatur gefragt. Auch historische Wandlungsprozesse im literarischen Geschmack erklärte Schücking durch sozialen Wandel (vgl. Schücking 31961 [Erstaufl. 1923], S. 76–105). Seine Arbeiten blieben lange Zeit ohne Resonanz; erst in den 1960er Jahren wurden seine Perspektiven innerhalb der Literaturwissenschaft aufgegriffen und die Literatursoziologie etabliert, deren »Gegenstand […] die Interaktion der an der Literatur beteiligten Personen« (Fügen 1964, S. 14) ist. Impulse erhielt die Soziologie des Publikums insbesondere durch die Arbeiten des französischen Literatursoziologen Robert Escarpit über die »Arten des Publikums« (Escarpit 1966 [franz. 1958], S. 104–112), durch die theoretischen und historisch-empirischen Studien Hans Norbert Fügens (1964, 1972, 1994) und die Kritik Hans Robert Jauß’ an den tradierten literaturwissenschaftlichen Sichtweisen auf die Literaturgeschichte (vgl. Jauß 1970). Autor und Leser werden als kommunikationstheoretische Kategorien modelliert, die zwei Pole eines Kommunikationsprozesses bilden (vgl. Link 1980, S. 26). Die Öffnung der Literaturwissenschaft hin zur Rezeptionsgeschichte und -forschung führte zunächst zum Plädoyer, eine »Literaturgeschichte des Lesers« zu schreiben, die die »typischen Leseerfahrungen einer Lesergruppe oder eines solchen Lesers, der repräsentativ für eine Gruppe ist« (Weinrich 1971, S. 28), berücksichtigt, und später zu Strukturanalysen des sog. ›literarischen Felds‹ nach Pierre Bourdieu (vgl. Bourdieu 1992). Als Ziel der historischen Rezeptionsforschung innerhalb der Literaturwissenschaft formulierte Gunter Grimm 1977 eine sozialhistorisch fundierte Rezeptionsgeschichte, die auf einer empirisch betriebenen Leserforschung aufbaut (vgl. Grimm 1977).
7 Vgl. die Ergebnisse in Kap. 4.1.4 Moderne in diesem Band. 8 Die ökonomische Dimension wird hier nicht weiter verfolgt. Den Erfolg oder Misserfolg literarischer Texte als Indiz für den jeweils zeitgenössischen Lesergeschmack zu deuten, ist allerdings eine gängige Methode in der historischen Leserforschung, die vor allem zur Anwendung kommt, wenn die Quellensituation keine anderen Nachweise zulässt. Davon zu unterscheiden ist die moderne Buchmarktforschung; vgl. Kap. 3.2.1 Entstehung und Entwicklung der modernen Lese- und Leserforschung im 20. Jahrhundert in diesem Band.
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Klassischerweise konzentriert sich die Literatursoziologie auf strukturelle Überlegungen zum Buch-Konsum oder Werk-Konsum. Die Fokussierung auf das literarische Werk blendet die unterschiedlichen Facetten der Lektüre ebenso wie unterschiedliche Lesemedien meist aus. Die Soziologie der literarischen Rezeption unterscheidet somit verschiedene analytische Ebenen: (1) die sozialstrukturelle Ebene, auf der danach gefragt wird, wer das Geld, die Zeit und durch Bildung die nötige Lesekompetenz erworben hat; (2) die kulturelle Ebene, auf der der Stellenwert der Lesekultur eines Landes, eines Milieus oder einer Subkultur untersucht wird; (3) auf der Ebene des institutionellen Kontexts, auf der nach schulischer, professioneller und privater Lektüre unterschieden wird und (4) die Ebene situativer Bestimmungsgründe, auf der die Lesemodi in bestimmten Situationen ergründet werden (vgl. diese Ebenen mit Fragestellungen bei Dörner / Vogt 1994, S. 86).
3 Der konzeptionelle Leser Empirischen Studien aus der Sozialgeschichte und der Rezeptionsforschung, der Literatursoziologie sowie der Buchmarktforschung, die den potenziellen oder realen Leser zum Untersuchungsgegenstand haben, stehen Studien gegenüber, in denen ein theoretisch basierter Leserbegriff in unmittelbarem Bezug zum Lesemedium und/oder zum (literarischen) Text Anwendung findet. Dazu gehören seit den 1980er Jahren sowohl buchwissenschaftliche Ansätze zur Materialität der Kommunikation als auch schon seit den 1970er Jahren literaturwissenschaftliche Theorien, denen eine Verschiebung des Forschungsinteresses innerhalb der Literaturgeschichte hin zur Perspektive des Rezipienten literarischer Werke vorausging (vgl. Weinrich 1971).
3.1 Von der Leserforschung zur Leseforschung, vom Text zum Lesemedium In den 1980er Jahren setzt ein Paradigmenwechsel in der französischen Buchforschung ein, der von einer Kritik der sozialgeschichtlichen Leserforschung der 1960er Jahre ausgeht. Programmatisch ist der Aufsatzband von Roger Chartier Lectures et lecteurs dans la France de l’Ancien Régime (1987; dt. Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit, 1990). Chartier formuliert in der Einleitung (Chartier 1990a) ein Ungenügen an der französischen Buchgeschichte. Zu sehr sei die Erforschung der Lesergeschichte der Frühen Neuzeit auf eine starre Zuordnung von Lesen und Buchbesitz zu gesellschaftlichem Status und formaler Bildung fixiert worden, zu sehr einer quantitativ-statistischen Auswertung von Katalogen und seriellen Quellen verpflichtet gewesen, die die kulturellen Unterschiede von gesellschaftlichen Gruppen und ihres Umgangs mit Buch und Lektüre eingeebnet hätten (vgl. Chartier 1990a, S. 9 f.). An anderer Stelle bezeichnet er dies als »Frenchness« in der Buchforschung und dia
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gnostiziert eine »Vorherrschaft der Sozialstudie« (Chartier 1990b, S. 28); die statistische Methode wird als »scheinbare Gewißheit der Zahl und Reihe«, als Reduktion von »intellektuellen und kulturellen Erscheinungen auf zählbare Objekte« (Chartier 1990b, S. 31) kritisiert. Stellvertretend für diese Richtung kann das seinerzeit bahnbrechende Werk La révolution du livre (1965; dt. 1987) des Literatursoziologen Robert Escarpit stehen, in dem Verlagswesen und Buchproduktion auf der Grundlage statistischer Daten behandelt werden. Ähnlich wie Chartier kritisiert Escarpit ein Vierteljahrhundert später in biographischer Rückschau eine scheinbare Sicherheit der Zahlen, die durch die Unzufriedenheit mit ›weichen‹, impressionistischen Kommentaren über literarische Werke hervorgerufen wurde: […] if I look back twenty five years and try to recall what was the main motivation which launched me on the trail of what I then recalled the sociology of literature, I must recognize that it was the desire to measure things instead of simply making impressionistic comments about literary works. There is no doubt I was trying to make myself secure. […] I was seeking intellectual safety in numbers, i.e. in quantification and mesurement. (Escarpit 1991, S. 2)9
Trotz dieser einhellig vollzogenen Abkehr10 von der Sozialgeschichte hat die ältere französische Buchforschung wirtschaftshistorischen Fragen und den quantitativen Dimensionen der Buchproduktion erst Geltung verschafft, eine Forschungsrichtung, die in der deutschen Buchforschung aufgenommen wurde (vgl. Abschnitt 2) und die seit einigen Jahren mit Instrumenten der ›Digital Humanities‹ wie elektronischen Katalogen, Datenbanken und komplexen statistischen Methoden zwar keine Renaissance, aber eine methodisch reflektierte Weiterentwicklung erlebt (vgl. Rautenberg 2013, S. 476–479). Verkürzt lässt sich die von Chartier und anderen verfolgte neue Richtung der Buchgeschichte als eine von der Leserforschung zur Leseforschung oder von einer ›äu ß e re n ‹ zu einer ›inneren‹ Geschichte des Lesens beschreiben. Lesen wird als Bedeutungskonstruktion eines aktiven (historischen oder gegenwärtigen) Lesers im Leseakt eines konkreten Lesemediums modelliert (vgl. bes. Chartier 1985a, S. 251). Der klassische Kanon einer Sozialgeschichte des Lesens ›Wer liest was (seit) wann und wo?‹ – korreliert mit einer möglichst stringenten Zuordnung von Lesestoffen zu fest umrissenen sozialen Schichten und Gruppen, Alphabetisierung, Bildungsgrad
9 Vgl. auch Darnton 1998, S. 116; Chartier 1985a, S. 250: »Aber die Zählungen der gedruckten oder besessenen Bücher verfehlen vor allem eine zentrale Frage, die nach dem Gebrauch, den Handhabungen, Aneignungsformen und nach der Art des Lesens dieses gedruckten Materials.« 10 Chartier 2000, S. 27: »Die Geschichte des Buches entlieh ihre Konzepte und Werkzeuge der Wirtschaftsgeschichte und beabsichtigte, die Konjunktur des Druckwerks in seinen langen Bewegungen und kurzen Zyklen, seinen Wachstumsperioden und Zeiten der Rezession akribisch aufzuzeigen.«
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und beruflicher Stellung – wird erweitert durch ›Wie (wird gelesen) und warum?‹.11 Diese Fragen richten sich auf die Modalitäten des Lesens, individuelle und kollektive Lektürepraktiken, die kulturell, funktional und historisch variieren und weitaus schwieriger zu erfragen sind. Zugänge bieten externe Quellen wie zeitgenössische Zeugnisse in der Literatur, Lektüreerfahrungen in Autobiographien und Briefen oder bildliche Darstellungen des Lesers und des Lesens. Sie ermöglichen uns »mehr über die Ideale und Voraussetzungen zu erfahren, die dem Lesen in der Vergangenheit zugrunde lagen« (Darnton 1998, S. 117). Aussagekräftig sind diese Quellen aber nur im begrenzten Rahmen. Sie spiegeln reale Lesesituationen gebrochen wider, da die Darstellungen von den kulturell geprägten Vorstellungen ihrer Urheber beeinflusst sind, diese normativ affirmieren, überhöhen oder polemisch kritisieren. Werden sie aber quellenkritisch hinterfragt, geben sie Auskunft über herrschende Lesediskurse. Wissenschaftsgeschichtlich ist die Lesegeschichte als Geschichte der Lesepraktiken (vgl. u. a. Chartier 1985b) eng verbunden mit der Mentalitätsgeschichte (›histoire des mentalités‹), einer sozial- und kulturgeschichtlichen (anthropologischen) Richtung aus der Historiker-Schule der Annales. Die Monographie L’apparition du livre (1958) von Lucien Febvre und Henri-Jean Martin gilt als Gründungsbuch12 der französischen Buchgeschichte: quantifizierbare, serielle Daten zum Buchbesitz aus Nachlassinventaren, Testamenten etc. werden genutzt, um die private Bibliothek und den individuellen Buchbesitz zu erschließen (vgl. Chartier 1997). Die vierbändige Histoire de l’édition française (Chartier / Martin 1983–1986), deren Anfänge in die frühen Diskussionen um eine Lesegeschichte fallen (vgl. auch Martin 1977), berücksichtigt noch quantitative, serielle und statistische Zugänge zur Buchproduktion und zum Buchhandel, bezieht diese und die daraus erwachsenen Zweifel aber in die neuen Überlegungen zur Materialität der Buchkommunikation ein: À partir de là peut être construite une histoire des formes du livre, à la fois technicienne et esthétique, attentive aux innovations typographiques, à l’architecture de la page, aux pratiques de relieures. […] L’étude de l’objet, loin d’enfermer l’histoire du livre dans une érudition descriptive
11 Zum Frageraster vgl. auch Gauger, Hans-Martin: Geschichte des Lesens. In: Hartmut Günther / Otto Ludwig (Hrsg): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Writing and its use. An interdisciplinary handbook of international research. 1. Halbband. Berlin / New York 1994 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 10,1), S. 65–84, hier S. 69 f. 12 Vgl. bes. den wissenschaftsgeschichtlichen Aufriss von Barbier 2009 zur ›nouvelle historie du livre‹ (Barbier, Frédéric: Henri-Jean Martin et l’invention de la »nouvelle histoire du livre«. In: Frédéric Barbier / István Monok (Hrsg.): Cinquante ans d’histoire du livre. De »L’Apparition du livre« (1958) à 2008. Bilan et projects. Budpest 2009, S. 7–26) sowie die Forschungsübersicht bei Claerr, Thierry: Bilan der cinquante ans d’histoire du livre pour la France. In: Frédéric Barbier / István Monok (Hrsg.): Cinquante ans d’histoire du livre. De »L’Apparition du livre« (1958) à 2008. Bilan et projects. Budpest 2009, S. 26–39.
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un peu vaine, introduit en fait à une compréhension meilleure des pratiques du livre et des variations historiques de l’acte de lecture. (Chartier / Martin 21989, Bd. 1, S. 11 f.)13
Die beiden Bände Mise en page et mise en texte du livre manuscrit (Martin / Vezin 1990) und La naissance du livre moderne (Martin 2000) schließlich schreiben die Geschichte des (französischen) Buchs und seiner Erscheinungsformen entlang der Buch- und Seitengestaltung (›mise en page‹) und im Zusammenhang mit kulturellen und geistesgeschichtlichen Veränderungen.14 Die Kritik an der Sozialgeschichte und die Fokussierung auf das Konzept der ›Materialität der Texte‹ bzw. das Interesse am Materialojekt wurde nicht zuletzt ausgelöst durch die ›Analytical bibliography‹ angloamerikanischer Prägung: »It is rather that the field of Bibliography deals with the text and cultural history than with the reader« (Chartier 1997, S. 5; vgl. auch Chartier 1990a, S. 13; Chartier / Cavallo 1999, S. 13 f.). Als Kronzeuge wird der Bibliograph und Textkritiker Don F. McKenzie aufgerufen. Dieser setzt sich mit der älteren angloamerikanischen Theorie der ›Analytical bibliography‹ auseinander, die an Druckwerken der Handpressenzeit (16.–18. Jahrhundert) entwickelt wurde und sowohl deren materielle Erscheinungsformen (›physical, material object‹, ›material evidence‹) als auch den Druckprozess umfassend und detailliert beschreibt. McKenzie (Bibliography and the sociology of texts, 1986) kritisiert dies als ›blinden‹ bibliographischen Positivismus: Die Historizität der Textgestalt jeder einzelnen Ausgabe ist konstitutiv für die Textbedeutung (vgl. dazu Littau 2006, S. 24–29).15 Es gibt kein Werk bzw. keinen Text außerhalb seiner Repräsentationen in den wechselnden Textgestalten der Ausgaben, die jeweils neue Bedeutungen hervorbringen: By abandoning the notion of degressive bibliography and recording all subsequent versions, inclusiveness, bibliography, simply by its own comprehensive logic, its indiscriminate inclusive-
13 Übersetzung: »Auf dieser Basis kann eine Geschichte der verschiedenen Erscheinungsformen des Buchs entworfen werden, die sowohl technisch als auch ästhetisch angelegt ist und ihr Augenmerk auf typographische Innovationen, die Gestaltung der Seite und die Arbeit des Buchbinders richtet. Die Untersuchung des Objekts Buch, weit davon entfernt, die Buchgeschichte auf eine nur beschreibende Gelehrsamkeit zu beschränken, entpuppt sich dann als ein Zugang zu einem besseren Verständnis der Praktiken um das Buch, sowie der historischen Formen, die der Akt des Lesens erfahren hat.« Vgl. auch Chartier 1990, S. 32. 14 »Ce que j’espère donc […] d’abord montrer que les textes ne sont jamais désincarnés, que l’objetlivre s’offre pour en suggérer les diverses portées et que son analyse est indispensable à qui veut en comprendre la conception comme la reception.« (Martin 2000, Einleitung [S. III, nicht paginiert]); Übersetzung: »Was ich also vor allem hoffe zu zeigen, ist, dass die Texte immer Rückschlüsse darüber erlauben, dass das Objekt Buch geeignet ist, die Tragweite der Texte anzudeuten, und dass ferner die Analyse des Buchs als Objekt unerlässlich wird für jeden, der dessen Konzept und Rezeption zu verstehen möchte.« 15 McKenzie äußert sich ähnlich wie Chartier / Martin (vgl. Fußnote 13).
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ness, testifies to the fact that new readers of course make new texts, and that their new meanings are a function of their form. (McKenzie 1986, S. 20)
In McKenzies Texttheorie steht die Textgestalt im Zentrum, nicht die Buchgestalt. Ungeachtet dessen integriert die Leseforschung McKenzies Theorie in eine ›Bibliographie matérielle‹ (vgl. Petit 1983), eine universelle Hypothese vom Zusammenhang zwischen Lesemedien und Lektürepraktiken. In der Einleitung zum Sammelband Die Welt des Lesens (Chartier / Cavallo 1999; ital. 1995) liest sich dies pointiert so: Diese Leser setzen sich nie mit abstrakten, idealen, von jeglicher Materialität losgelösten Texten auseinander: Sie befassen sich mit Gegenständen und hören Wörter, die in ihrer Beschaffenheit das Lesen und Hören leiten und dadurch das mögliche Textverständnis formen. Gegen eine rein semantische Definition des Textes […] muss man sich vor Augen halten, dass die Formen Sinn erzeugen und dass ein Text eine neue Bedeutung und einen neuen Status erhält, wenn die Träger wechseln, die ihn der Lektüre darbieten. Jede Geschichte der Lesepraktiken ist daher zwangsläufig eine Geschichte der Gegenstände und der Lesewörter. (Chartier / Cavallo 1999, S. 12)
Diese Hinwendung zum Akt der Lektüre (des Lesens) und zum Lesemedium, die in nicht wenigen Publikationen eher deskriptiv formuliert wurde, hat zahlreiche Standardwerke und Einzelstudien hervorgebracht. Die Forschungsliteratur kann hier nicht annähernd behandelt werden; leider fehlt ein umfassender Forschungsbericht der deutschsprachigen Leseforschung ebenso wie im internationalen Vergleich.16 Problematisch ist, dass eine trennscharfe Abgrenzung wichtiger Begriffe fehlt und eine konsistente Begriffsverwendung nicht immer gegeben ist. Gründe dafür sind das Fehlen einer ausformulierten Theorie, aber auch die unbefriedigenden Lösungen der Übersetzung französischer Termini, wie z. B. ›pratique de la lecture‹ oder ›pratiques du livre‹. Als zentrale Fragestellung der neueren Leseforschung hat sich die Rekonstruktion von sog. Leseweisen, Lesesituationen oder Lesemodi herausgebildet. In der deutschsprachigen Literatur scheint sich folgender Konsens etabliert zu haben:
16 Eine Übersicht in Grundzügen bieten die Beiträge in Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm (Chartier / Cavallo 1999; ital. 1996) sowie Kap. 2.2 Lesen in unterschiedlichen Lesemedien in diesem Band. Genannt seien weiter folgende Sammelpublikationen: Chartier, Roger (Hrsg.): Histoire de la lecture, un bilan des recherches. Actes du colloque des 29 et 30 janvier 1993. Paris 1995; Messerli, Alfred / Chartier, Roger (Hrsg.): Lesen und Schreiben in Europa 1500–1900. Vergleichende Perspektiven. Basel 2000; Messerli, Roger: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900. Untersuchung zur Durchsetzung der Literalität in der Schweiz. Tübingen 2002; Messerli, Alfred / Chartier, Roger (Hrsg.): Scripta volant, verba manent. Schriftkulturen in Europa zwischen 1500 und 1900. Basel 2007. – Vgl. auch Glauch / Green (2010) Schlieben-Lange1990 sowie Messerli, Alfred: Leser, Leserschichten und -gruppen, Lesestoffe in der Neuzeit (1450–1850). Konsum, Rezeptionsgeschichte, Materialität. In: Ursula Rautenberg (Hrsg.): Buchwissenschaft in Deutschland. 2 Bde. Berlin / New York 2010, Bd. 1, S. 443–502.
1.5 Historisch-hermeneutische Ansätze der Lese- und Leserforschung
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Les e we i s e n bezeichnet die Techniken,17 mit denen sich die Leser die Lesemedien aneignen. Untersucht werden alle habituellen Inszenierungsformen der stimmlichen oder nicht-stimmlichen Repräsentation von Texten und ihre historischen Ausprägungen: lautes Lesen (rhetorisch geschulter Vortrag, Lesung und Vorlesen) oder leises bzw. subvokalisierendes Lesen (meditatives, ›ruminatio‹ und memorierendes Lesen). Weiter gehören dazu die Parameter der Intensität und Schnelligkeit des Lesens, die teilweise mit laut oder leise korrelieren, das langsame oder überfliegende Lesen, das einmalige Lesen oder die Wiederholungslektüre sowie das selektive Lesen. Lese s i tua t i o n e n bezeichnen die näheren Umstände des Leseakts, das Für-Sich-Lesen, das gesellige oder kollektive Lesen, die Zeiten des Lesens (Tageszeiten, rituell wiederkehrende tägliche Lektüre im Jahresverlauf) und die Lesehaltung (stehend, sitzend, liegend) sowie die Orte des Lesens. Der Begriff Lesemodus, der aus der modernen Leseforschung stammt,18 hat sich noch nicht allgemein durchgesetzt, entsprechende Forschungsfragen werden meist unter Leseweisen subsummiert. Unter Lesemodi sind unterschiedliche Funktionen des Lesens, entsprechend der individuellen Informationsbedürfnisse der Leser zu verstehen: in der historischen Leseforschung z. B. das monastische (meditierende) oder erbauliche Lesen als geistliche Übung, das analysierende, wissenschaftliche Lesen (u. a. scholastisches Lesen), das einfache, ungeleitete Lesen populärer Literatur etc. Für die Frühe Neuzeit unterscheidet Helmut Zedelmaier (2001b) auf der Grundlage von Leseinstruktionen die Lesemodi frommes (häusliches) Lesen, gelehrtes und enzyklopädisches Lesen sowie aufgeklärtes oder politisches Lesen (vgl. auch Schlieben-Lange 1990). Das gelehrte oder wissenschaftliche Lesen bzw. die Aneignung gelehrter Wissensbestände seit der Frühen Neuzeit ist in den letzten Jahren einerseits im Zuge der Studien zur populärwissenschaftlichen Vermittlung komplexer Inhalte und andererseits in der Wissenssoziologie und der Wissenschaftsgeschichte als Untersuchungsgegenstand aufgegriffen worden (vgl. stellvertretend die Arbeiten von Adrian Johns über naturwissenschaftliche Bücher der Frühen Neuzeit und ihre Rezeption 1998a, 1998b, 2000). »How and why does knowledge circulate?« (Secord 2004, S. 655) ist in diesem Kontext eine der erkenntnisleitenden Fragen, und zwar sowohl in Bezug auf die wissenschaftlichen Eliten (»reading and the practice of science«, Topham 2004, S. 432) als auch auf die nichtwissenschaftliche Umwelt (»reading and the history of science in popular culture«, Topham 2004, S. 436). Bei der Analyse der Lesepraktiken und der Aneignung gelehrter bzw. wissenschaftlicher Inhalte ist im angelsächsischen Raum insbesondere auf die Arbeiten von Roger Chartier zurückgegriffen worden, der
17 Vgl. dazu die zusammenfassende Übersicht bei Littau 2006, S. 13–22; Chartier 1985; Messerli, Alfred: Passives Lesen, aktives Schreiben. Neues aus der Leseforschung, und was Historiker daran interessieren kann. In: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag 11 (2003), S. 206–304; Zedelmaier 2001b, S. 11f. sowie ders. (kritisch) 2001a. 18 Vgl. dazu Kap. 2.1.4 Leseverstehen komplexer Texte in diesem Band.
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darauf aufmerksam gemacht hat, dass der Sinn eines Texts von seiner Repräsentationsform und der Textorganisation abhängig ist. Über die Untersuchung der konkreten Textgestalt hinausgehend wird Wissenschaft als gelehrte kommunikative Praktik verstanden, in der durch den Leseakt die Trennung von Wissensproduktion und Wissensaneignung aufgehoben wird.19 Der britische Wissenschaftshistoriker James E. Secord hat den Begriff von den ›geographies of reading‹ geprägt (vgl. Secord 2000, S. 155–298). Am Beispiel der 1844 anonym publizierten Abhandlung Vestiges of the natural history of creation hat er gezeigt, dass die Rezeption von wissenschaftlichen Erkenntnissen, Theorien und Praktiken an unterschiedlichen Orten different ausfallen kann, denn der untersuchte Text wurde in London anders gelesen als in Liverpool, Cambridge, Oxford oder Edinburgh (vgl. auch Ogborn / Withers 2010, S. 21). Die Differenz hat Secord mit den lokalen Gegebenheiten des literarischen Lebens begründet, die wiederum von der jeweiligen industriellen Struktur, der damit verbundenen sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung und der lokalen Tradition geprägt wurden. David N. Livingstone spricht in Anlehnung an Secord von der ›geography of reading‹, zu der er die Buchproduktion, den Vertrieb, das Bücherkaufen sowie die Bibliotheksnutzung zählt, und stellt die These auf: »The argument is that where scientific texts are read has an important bearing on how they are read.« (Livingstone 2005, S. 391) Er unterscheidet vier analytische Ebenen: (1) »spaces of textual circulation«, (2) »sites of textual hybridity«20, (3) »cartographies of textual reception« und (4) »cultural geography of reading« (Livingstone, S. 392–394). Mittels dieser Ebenen kann die Textbedeutung in unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Rezeptionsprozessen eruiert werden, »because the coming together of texts and readers is a creative hermeneutic event, one in which meaning is made and remade« (Livingstone 2005, S. 395).
3.2 Die Gestaltung und Rezeption der Lesemedien: Zeichentheoretische, kognitionspsychologische und sprachhistorisch-buchwissenschaftliche Ansätze Bereits 1985 hatte Chartier auf skripturale und formelle ›Dispositive‹ der Typographie hingewiesen (vgl. Chartier 1985a, S. 266), die mitverantwortlich sind für den »Aufbau des historisch oder gesellschaftlich variablen Sinns« (Chartier 1990b, S. 50) im Lektüreprozess. Diese rechnet er der Buchgestaltung zu, von der implizite oder explizite Anweisungen des Autors an den Leser als Teil der Textgestaltung zu unterscheiden
19 »It means eradicating the distinction between the making and the communicating of knowledge.« (Secord 2004, S. 661) 20 »Every space of knowledge is a site of textual hybridity in which texts and theories interweave in altogether promicuous ways.« (Livingstone 2005, S. 393)
1.5 Historisch-hermeneutische Ansätze der Lese- und Leserforschung
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sind. ›Impliziter Leser‹ und ›implizite Lektüre‹ sind demnach Konstrukte des Autors oder Vorstellungen des Verlegers von seinem Publikum, die aus den »typographischen Gegenständen« (Chartier 1985a, S. 266 f.) selbst zu rekonstruieren sind. Wie stark die französische Buchgeschichte auch als Lesegeschichte der Sozialgeschichte verpflichtet ist, zeigt Chartiers Forderung, man müsse versuchen, »das Soziale im gedruckten Gegenstand zu erfassen«, die »Formanalyse« (d. i. Layoutanalyse) müsse an dem überprüft werden, was »Leser aus dem Volk über ihre Art zu lesen gesagt haben« (Chartier 1985a, S. 209). Als Beispiel wird die volkstümliche, populäre Literatur wie die Reihe Bibliothèque bleue herangezogen. Dem stehen Forschungsansätze gegenüber, die Textgestaltung und Texterschließung einen eigenständigen Erkenntniswert jenseits eines sozial definierten Lesepublikums beimessen. Ein wichtiger neuerer Ansatz geht von einer zeichentheoretischen Fundierung der Typographie aus. Die Studie von Susanne Wehde Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung (2000) ist leider ohne Resonanz im nicht-deutschen Sprachraum geblieben. Wehde unterscheidet zwischen der Schrift als primärem Zeichensystem (Inhaltsseite der Schrift), das kognitiv entschlüsselt wird (Bedeutung, Interpretant) und der Typographie als sekundärem visuellem System (Ausdrucksseite der Schrift). Im semiotischen Dreieck (nach Charles S. Pierce) wird der Zeichenträger (das Repräsentamen als Vehikel der Semiose) genauer betrachtet. Das Kommunikationssystem Schrift basiert auf Skriptographie bzw. Typographie und damit den vielen unterschiedlichen gestalterischen wie historisch aktualisierten Möglichkeiten, Schriftzeichen darzustellen. Schrift und Schriftfläche codieren Reize, die bestimmte Empfindungen und Vorstellungen meist unbewusst hervorrufen. Diese Ausdruckswirkung der Zeichen ist sprachunabhängig; sie beruhen auf kulturell und zeittypisch geprägten Assoziationen und Wertungen des Lesers. Diese Zuschreibungen an Schrift und Gestaltung sind auch historisch zu rekonstruieren, so z. B. die wechselnden kulturellen Zuschreibungen an Fraktur und Antiqua oder die Kunsttypographie der Avantgarde am Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Wehde 2000, Tl. 3: Geschichte). Die Unterscheidung zwischen typographischem Zeichenmaterial und den unterschiedlichen Ausdruckswirkungen im semiotischen Prozess in kulturellen und sozialen (nach Umberto Eco) Kontexten klärt die – auch begriffliche – Indifferenz zwischen der Gestaltung des Lesemediums und den möglichen (assoziativen) Bedeutungszuschreibungen der Leser. Die Leerstelle zwischen visueller Repräsentation und konnotativer Semantik lässt sich in zeichentheoretischer Modellierung überbrücken. Ein weiterer Ansatz nimmt Thesen der kognitionspsychologischen Leseforschung auf: wie visuelle Informationen aus graphischen Zeichenfolgen zu entnehmen und deren Bedeutung zu verstehen ist.21 Exemplarisch kann hier die breit rezipierte These von Paul Saenger stehen, die, nach Vorstudien in den 1970/80er Jahren, 1997 mono-
21 Vgl. dazu Kap. 1.2 Kognitionspsychologische Ansätze in diesem Band.
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graphisch unter dem Titel Space between words. The origins of silent reading vorgelegt wurde (vgl. dazu ausführlich Glauch / Green 2010, Bd. 1, S. 384–386, 397–399). Ausgangspunkt ist die Forschungsdiskussion um lautes oder leises Lesen in der Antike und im Frühmittelalter. Die ›Scriptio continua‹, die Aufzeichnungsform eines nicht durch Spatien segmentierten Zeichenbands, die in antiken und frühmittelalterlichen Manuskripten üblich ist, wird seit dem 8. Jahrhundert durch Worttrennung mit eingefügten Leerräumen abgelöst. Nach Saenger erleichtert dies das leise Lesen und eine schnellere Bedeutungserschließung, da die visuelle Wahrnehmung der Wortgrenzen die kognitiven Prozesse der Worterkennung unterstütze. Der gegenwärtige Forschungsstand der Kognitionspsychologe bevorzugt jedoch andere Prozessmodelle für den lexikalischen Zugriff und die Identifikation von Buchstaben und Wörtern als die ältere Wortüberlegenheitstheorie, so dass von dieser Seite Saengers These zu relativieren ist. Die Analyse von Mikro- und Makrotypographie22 und Leserezeption hat die Produzenten der Schriftmedien näher in den Blick gerückt, die Schreiber, Setzer und Drucker sowie die Verleger, aber auch den Herstellprozess in der Offizin. Ein sprachhistorischer Ansatz untersucht den Einfluss der Setzer im 16. Jahrhundert auf Vereinheitlichungstendenzen in Orthographie und Zeichensetzung. Anja Voeste spricht in ihrem Aufsatz Den Leser im Blick von einer »orthographischen Wendezeit« (Voeste 2013, S. 152). Hintergrund ist eine geänderte Verschriftungspraxis, die sich nicht primär auf die Encodierung von Sprache in Schrift im Lesemedium richtet, sondern auf den Decodierungsprozess von gedruckter Sprache durch den Leser (vgl. Voeste 2013, S. 158). Die Setzer sind die zentrale Schaltstelle für lesefreundliche Vereinheitlichungstendenzen, z. B. in der Konstantschreibung von Wörtern (Varianten in der Schreibung werden reduziert), der klassifizierenden Großschreibung (Majuskeln zur Kennzeichnung von Nominalphrasen), der Zeichensetzung (Abgrenzung von Satzeinheiten) und der Einführung von Dehnungsgraphien (Buchstabe h zur Kennzeichnung von langen Vokalen). Voeste geht von Rationalisierungstendenzen aus, resultierend aus einer Steigerung der Effizienz im Druckerhandwerk. So bewirken zahlreiche technische Innovationen an den Pressen eine Leistungssteigerung des täglichen Ausstoßes von Druckbögen. Dies bringt die Setzer in zeitlichen Zugzwang, auch das Setzen zu vereinfachen und zu beschleunigen. Ligaturen oder Abkürzungen werden aus dem Setzkasten aussortiert. Diese noch aus der Manuskriptkultur stammenden Typen waren für die Setzer ein Mittel, den rechten Randausgleich im Blocksatz über variantenreiche Schreibung oder Verdoppelungen von Konsonanten zu erzielen. Der reduzierte Zeichenvorrat des Setzkastens führt zu einer Konstantschreibung von Wörtern und Morphemen, eine Vereinfachung für den wenig geübten Leser, da die Mustererkennung erleichtert wird (vgl. Voeste 2008, S. 375). Zwei gegenläufige Tendenzen sind zu beobachten: einmal zu einer Effizienzsteigerung und Kostenre-
22 Vgl. Kap. 2.1.6 Typographische Lesbarkeitskonzepte in diesem Band.
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duktion, andererseits wird durch die Planung von zahlreichen Lesehilfen der Satzprozess aufwändiger. Die Verleger haben die Kostensteigerung – die Leistungslöhne der Setzer waren in Vergleich zu denen der Drucker hoch – in Kauf genommen, um einer neuen Zielgruppe, den wenig geübten, volkssprachlichen Lesern, besonders den Frauen als großer Lesergruppe, entgegenzukommen (vgl. Voeste 2013). Detaillierte Layoutanalysen zeigen, dass die orthographische Wende von typographischen Strukturierungshilfen wie Absätzen, Leerzeilen und großzügigem Zeilendurchschuss begleitet wird (vgl. Rautenberg 2015). In eine ähnliche Richtung geht die Analyse des Laut- und Formenwandels und der Graphie in den Schreibsprachen der Offizinen, für die wesentlich auch die Setzer verantwortlich sind (vgl. bes. Behr 2014). Langzeituntersuchen von Textkorpora in interdisziplinärer Perspektive zeigen, dass Vereinheitlichungstendenzen in Orthographie und Sprachwandel, Typographie und Layout nicht zuletzt den Leseweisen sich ausdifferenzierender Zielgruppen in der Volkssprache angepasst werden.23 Neben der typographischen Gestaltung sind die bucherschließenden Ordnungsmittel und Verweissysteme implizit leserleitend: Titelblätter, Register, Kolumnentitel, Tabellen sowie Widmungsbriefe und Verlegervorreden etc.24
3.3 Der implizite Leser in der Literaturwissenschaft Zunächst lösten in den 1960er und Anfang der 1970er Jahre kontroverse theoretische Diskussionen über die Aufgabe und Funktion der Literaturwissenschaft eine neue Sichtweise auf die Wechselbeziehung zwischen Literatur und Gesellschaft aus. Impulse erhielt die historische Leserforschung vom literaturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel, der den werkimmanenten Ansatz wirkungsgeschichtlicher Fragestellungen überwindet und sich unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten am Leser und seinen Leseerlebnissen orientiert. Der Leser als sozial Handelnder wurde zum Ausgangspunkt der Analysen. Damit verbunden wurde eine Kategorisierung des Lesers vorgeschlagen, nach der Forschungsansätze differenziert werden können. In der Literaturwissenschaft kamen die Impulse für einen hermeneutischen Zugang zum Leser einerseits aus der Rezeptionsgeschichte (vgl. Abschnitt 2.1) und andererseits aus der Rezeptionsästhetik. Für beide Forschungsbereiche sind in den 1970er Jahren Konzepte entwickelt worden, in denen eine Vielfalt von Leserbegriffen zur Anwendung gelangt ist. Nur die gängigsten Begriffe können hier vor-
23 Vgl. bes. Künast, Hans-Jörg / Rautenberg, Ursula (in Verbindung mit Martin Behr und Mechthild Habermann): Text, Bild, Buch und die Leser. Die »Melusine« des Thüring von Ringoltingen in der frühneuzeitlichen Drucküberlieferung. Berlin / Boston 2015. 24 Die Gestaltung und Erschließung der Lesemedien im historischen Überblick wird im Einzelnen in Kap. 2.2 Lesen in unterschiedlichen Lesemedien in diesem Band behandelt.
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gestellt werden können (vgl. den Überblick über Lesertypologien bei Grimm 1975, S. 75–76). Untersuchungsgegenstand der Rezeptionsästhetik ist der ›Textadressat‹, der als impliziter Leser textintern vom Autor bei der Lektüre gelenkt wird, oder der intendierte Leser, der vom Autor als Konstrukt beim Schreibprozess als Leser angenommen wird (vgl. Schmid 2007, S. 171).25 Bereits 1971 hatte Erwin Wolff den Begriff des ›intendierten‹ Lesers eingeführt (vgl. Wolff 1971). Beide Typen sind theoretische Modelle, die heuristisch fruchtbar gemacht werden. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser beschrieb den Leser als »Systemreferenz« für Texte, die ihren vollen Sinngehalt »erst in den von ihnen ausgelösten Verarbeitungsprozessen gewinnen« (Iser 1984, S. 60). Folglich müssen je nach wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse in rezeptionsästhetischen Studien »Vorentscheidungen darüber [getroffen] werden, ob Wirkungsstrukturen verdeutlicht oder erfahrene Wirkung belegt werden sollen« (Iser 1984, S. 51). Entscheidend ist, dass der implizite Leser als ›Textadressat‹ nicht als realer Leser aufgefasst werden darf, sondern »er verkörpert die Gesamtheit der Vor orientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet« (Iser 1984, S. 60). Impliziter und intendierter Leser sind reine Kon struktionen, die der »Formulierung von Erkenntniszielen dienen« (Iser 1984, S. 51). Die literaturwissenschaftliche Rezeptionsästhetik operiert also mit theoretischen Leserkonzepten. Jüngst ist jedoch von Marcus Willand eine Studie zu diesen traditio nellen literaturwissenschaftlichen Lesermodellen vorgelegt worden, die den realen Leser in den Mittelpunkt rückt und einen theoretisch fundierten Vergleich aller aus der Rezeptionsforschung und -theorie hervorgegangenen Lesermodelle rekonstruiert, um sie »hinsichtlich ihrer Funktionalisierbarkeit für eine historisierende Literaturwissenschaft« (Willand 2014, S. VII) zu überprüfen. Willand unterscheidet ontologische, funktionalistische und epistemologische Modelle in der Literaturwissenschaft, denen je nach theoretischem Zugriff spezifisch konstruierte Lesertypen zugeordnet worden sind. In der kritischen Zusammenschau der traditionellen Modelle plädiert Willand in seinem Ergebnis dafür, den realen Leser als einzige Leitkategorie einer empirisch vorgehenden historisierenden Rezeptionsanalyse operationalisierbar zu machen (vgl. die theoretischen und praxeologischen Ergebnisse mit Anwendungsvorschlägen bei Willand 2014, S. 249–313).26
25 Schmid 2007 (S. 171) nennt außer dem intendierten und dem impliziten Leser auch den abstrakten Leser und den Modell-Leser, die als Textadressaten bezeichnet werden; bei Schmidt 2007 (S. 172 f.) findet sich auch die Forschungsgeschichte zum Textadressat. 26 Zur positiven Kritik und Weiterentwicklung des Modells von Willand vgl. die ausführliche Besprechung von Norbert Groeben: Der wiedergefundene Leser? Zur Dys-/Funktionalität bisheriger Lesermodelle für eine historisierende Rezeptionsanalyse. In: IASLonline [eingestellt am 24.12.2014]; URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3852 [eingesehen am 06.02.2015].
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4 Der reale, empirisch fassbare historische Leser Die klassische Alphabetisierungsforschung versucht, den empirisch konkret fassbaren Leser durch Untersuchung von Bildungseinrichtungen wie Schulen und anderen Instanzen der Lesesozialisation sichtbar zu machen. Darüber hinaus ist die Dimension der Alphabetisierung in regionalen und lokalen Fallstudien z. B. durch die Untersuchung der Signierfähigkeit in Heiratsregistern etc. quantifiziert worden (vgl. Bödeker / Hinrichs 1999). Der reale, historisch nachweisbare Leser ist jedoch auch in anderen Quellengattungen präsent.
4.1 Marginalienforschung und private Lektüre Die Marginalienforschung (vgl. Glauch / Green 2010, S. 386–390)27 befasst sich mit konkreten Zeugnissen des individuellen Lesers, seiner Lesestrategie und wie dieser die Inhalte kommentiert.28 Marginalien sind in mittelalterlichen Handschriften und Drucken der Frühen Neuzeit häufig zu finden und unabhängig davon, ob es sich um ein Gebrauchsbuch, ein wissenschaftliches Werk oder eine teure, überdurchschnittlich ausgestattete Ausgabe handelt. Das Buch ist für die Leser ein Arbeitsinstrument, Lesen und Schreiben (ins Buch) sind eng aufeinander bezogen. Marginalien gehören zu den exemplarspezifischen Besonderheiten. Es handelt sich um punktuell fassbare Zeugnisse, die es ermöglichen, die Bedeutungskon struktion eines individuellen Lesers zu einem Text zu erschließen. Bemerkungen am Blattrand oder sonstige Lesespuren, die die Leser im jeweiligen Lesemedium verschriftet haben, treten in unterschiedlichen Formen auf. Häufig sind flüchtige Lesezeugnisse wie Unterstreichungen von Sätzen bzw. Satzteilen und einzelnen Wörtern, Einklammerungen oder Wiederholungen von Wörtern am Rand und Ausrufezeichen. Sie deuten eine Lesestrategie an, die das Gelesene strukturiert, das Wiederauffinden von Stellen erleichtert, und dokumentieren darüber hinaus ein besonderes Leseinteresse an einer bestimmten Stelle. Diese Funktion hat auch ein sehr geläufiges graphisches Zeichen, eine Zeichnung oder das gedruckte Symbol einer Faust mit ausgestrecktem Zeigefinger (Nota-bene-Zeichen). Für eine gelehrte Lektüre sprechen Literatur- und Quellenverweise oder Zitate. Ausführliche Stellungnahmen oder die Veranschaulichung argumentativer Strukturen mit Hilfe von Strichen und Klam-
27 Vgl. auch Jackson 2001 sowie bes. Sherman, William H.: Used books. Marking readers in Renaissance England. University of Pennsylvania Press 2008, der Methoden der Annotierung und eine Systematisierung von Anmerkungen auf der Grundlage eines umfangreichen Korpus von Büchern der englischen Renaissance (1475–1640) erstellt. 28 Vgl. zu den Kognitiven Strategien des Textverstehens mithilfe von Unterstreichungen, Annotierungen etc. Kap. 2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen, Abschnitt 3.2.1 in diesem Band.
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mern oder Baumstrukturen bilden die Ausnahme. In seiner Studie zu den Leserspuren in der Schedel’schen Weltchronik – untersucht wurden ca. 4000 Leserspuren in 112 Exemplaren von fünf Ausgaben des 15. Jahrhunderts – ermittelt Jonathan Green (2006, S. 217 f.) 80 % einfache Markierungen, 20 % Ergänzungen zum Text und nur 2 % ausgearbeitete Kommentare. Besonders die ausführlichen Randbemerkungen sind Ausdruck einer vertieften, analysierenden und kommentierenden Lektüre. Marginalien sind besonders aufschlussreich, wenn sich diese einer historisch zu ermittelnden Person oder einer Berufsgruppe zuordnen lassen, z. B. über Besitzvermerke (vgl. Abschnitt 4.2). Sind diese mit einer Jahresangabe o. ä. versehen, lässt sich die Marginalie über den sozialen Kontext hinaus zeitlich einordnen. Die große Menge der Leser, die Spuren im Buch hinterlässt, bleibt allerdings anonym. Die Bedeutung einer systematischen Sammlung und qualitativen Erforschung von Leserspuren, die über eine punktuelle Interpretation anekdotischen Charakters hinausreicht, ist erst in jüngerer Zeit erkannt worden. Wolfgang Milde (1995, S. 29 f.) hat am Beispiel von mittelalterlichen Handschriften eine dreistufige methodische Analyse vorgeschlagen: Entzifferung und Interpretation der Annotation, Ermittlung von biographischen Daten und Erschließung des kulturellen Kontexts des Buchs. In besonderen Fällen kann die Marginalie selbst zum historischen Quellenzeugnis werden (vgl. Milde 1995, S. 30 f. mit Beispielen). Neuere Studien zeigen, dass die Marginalienforschung ein wichtiger Ansatz ist, um die Lesermeinungen zu einem Werk über verschiedene Ausgaben und Jahrhunderte hinweg zu ermitteln, wie z. B. in der exemplarischen Studie zur Schedel’schen Weltchronik (vgl. Green 2006; insb. die Übersicht S. 190 f.). Einen anderen Weg geht die Marginalienforschung, die die Praxis von Annotationen einer bekannten Persönlichkeit, eines Autors oder Wissenschaftlers erforscht. Anthony Grafton verweist in Der Humanist als Leser (1999, S. 306 f.) auf die literarische und künstlerische Sorgfalt der Humanisten, mit denen diese ihre Interpretationen auf Ränder und Leerseiten schrieben. Diese systematischen Annotationen können Grundlage eigener Publikationen werden, sind im humanistischen Diskurs aber auch für den Freundeskreis gedacht. Ein extensiv in seinen Büchern annotierender Leser war auch der elisabethanische Gelehrte Gabriel Harvey, der seine Anmerkungen thematisch mit speziellen Symbolen kennzeichnete und umfangreiche Exzerpte in seine Bücher schrieb, um diese für eigene Publikationen zu verwenden (vgl. Stern 1979). Die Philologen und Altertumskundler Jacob und Wilhelm Grimm nutzten ihre Studienbibliothek gemeinsam als Grundlage ihrer Forschungen und Publikationen. Zahlreiche Bände sind mit Annotationen versehen, die heute eine wertvolle Quelle für die Wissenschaftsgeschichte der frühen Germanistik sind.29 Seit dem 16. Jahrhundert zeigt sich die Praxis der extensiven wissenschaftlichen Annotierung an der Sonderform der ›durchschossenen Exem-
29 Ca. 6000 Bände der Privatbibliothek befinden sich im Grimm-Zentrum der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin.
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plare‹: Buchblöcke, in die vor dem Binden vom Buchbinder unbedruckte Papierbögen zwischen die bedruckten gelegt wurden (vgl. Brendecke 2005). Diese freien Seiten bildeten außer den Seitenrändern Platz für ausführliche Kommentare und Tabellen.
4.2 Provenienzforschung und Buchbesitz Während die Marginalienforschung als exemplarspezifische Methode die konkreten Lesemedien untersucht, lassen sich Provenienzen im Lesemedium selbst, aber auch aus externen Quellen ermitteln. Die Provenienzforschung erschließt idealerweise die Besitzgeschichte einer Handschrift, eines Drucks bzw. einer buchbinderischen Einheit lückenlos. Sie ist wie die Marginalienforschung für die qualitative Leserforschung von großer Bedeutung, allerdings nur unter der Vorannahme, dass Buchbesitzer auch in ihren Büchern lesen bzw. der Kauf auf ein Leseinteresse an einem Werk deutet. Die Provenienzanalyse ergänzt die Sozialgeschichte der Literatur um die Erforschung realer historischer Leser. Herkunfts- und Besitzvermerke treten als handschriftliche Einträge des Namens eines privaten Besitzers oder einer Bibliothek an Schlüsselstellen im Buch wie dem Vorsatzblatt, dem Titelblatt oder am Ende des Buchs auf; auch Exlibris, Widmungen und Schenkungsvermerke führen zu einem Besitzer und potenziellen Leser. Zu den externen Quellen gehören Nennungen von Buchtiteln in (historischen) Bibliotheksund Bücherkatalogen, Akzessionsjournalen, Antiquariatskatalogen, Testamenten, Archivalien etc. Besonders bei privaten Besitzern ist die Identifizierung einer konkreten Person, ihrer Lebensdaten, Berufszugehörigkeit oder sozialen Einordnung, die für die Leserforschung von Interesse ist, oft nur über die aufwändige Recherche biographischer Nachschlagewerke und archivalischer Quellen möglich – und häufig gar nicht. Vor allem die ›einfachen‹ Leser sind über den Namenseintrag hinaus nur sozial einzuordnen, wenn eine Berufsbezeichnung hinzukommt. Wie bei der Marginalienforschung lassen sich Aussagen größerer Reichweite erst auf der Basis systematisch erhobener Daten und einer breiten Quellengrundlage treffen. In den letzten Jahrzehnten sind verschiedene Provenienzdatenbanken entstanden. Beispielhaft sind die zum Inkunabelbesitz wie der Inkunabelkatalog deutscher Bibliotheken (INKA), der den umfangreichsten Bestand für die Provenienzforschung anbietet, oder das noch im Aufbau befindliche Projekt Material Evidence in Incunabula database (MEI) auf internationaler Ebene. Aber auch online-Kataloge von Bibliotheken enthalten Provenienzbeschreibungen und retrospektiven Nationalkataloge, wie das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke im 17. Jahrhundert, die in einer gemeinsamen Datenbank zusammenzuführen sind (vgl. Scheibe 2010).
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4.3 Bilder des Lesens als historische Quelle In den 1990er Jahren gerieten Bildzeugnisse als historische Quellen in den Blick der deutschen Leseforschung, die Personen beim Lesen oder in anderen Interaktionen mit Lesemedien darstellen. Das Interesse richtete sich auf zweidimensionale ästhetische Artefakte der bildenden Kunst seit der Antike, nur punktuell auf skulpturale oder plastische Bildwerke. Mit den technischen Innovationen der Bildreproduktion im 19. Jahrhundert wurden Bilder des Lesens und des Lesers Teil einer populären Massenkultur in Zeitungen oder Zeitschriften, als Wandschmuck oder Bildpostkarten (vgl. Assel / Jäger 1999, S. 639). Bilder sind »geschichtliche Dokumente sui generis« (Schulz 2014, S. 185) der materiellen Kultur und nicht ausschließlich Forschungsobjekte der Kunstgeschichte bzw. der Kunstwissenschaften. Über die ikonographische Analyse hinaus geben die Themen, Motive und Bildinhalte Hinweise zur Geschichte des Lesens, wobei der Quellenwert der Bilder kritisch diskutiert werden sollte. Selbst eine scheinbar ›einfache‹ Abbildung, die Leser und Lesen realitätsnah darstellt, ist Produkt einer künstlerischen Absicht. Bilder stehen in ikonographischen Traditio nen, deren Kenntnis Voraussetzung für eine Interpretation ist. Zu beachten sind weiter die Bildfunktionen, z. B. im religiösen Zusammenhang der christlichen Heilsgeschichte, als Mittel der Selbstrepräsentation sozialer Gruppen (Porträt etc.) oder als symbolische Darstellung gesellschaftlicher Zuschreibungen an Buch, Leser und Lesen. Leserbilder sind besonders aufschlussreich für die Lesegeschichte, da Lesemedien, Lesesituationen und die dargestellten Personen und Dinge interagieren und in den Kontext einer umfassenden Bildaussage gestellt werden. Das Ikonographische Repertorium zur Europäischen Lesegeschichte (Nies / Wodsak 2000) verzeichnet 3661 Einträge von Leserbildern vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, sortiert nach Künstlern mit knappen Angaben zur Lesesituation, den abgebildeten Personen und den Lesemedien und Lesestoffen. Historische Personen und Buchtitel sind, soweit sich diese ermitteln lassen, in Registern zusammengestellt. Fritz Nies (1991) interpretiert das Material nach Genres der Lesemedien und Leserprofilen in Epochen seit dem Mittelalter. Der Überblick von Jutta Assel und Georg Jäger (1999) stellt Bildmotive nach ›Mann und Buch‹, ›Frau und Buch‹ und den Sozialformen des Lesens dar. Die genannten Forschungsansätze gehen von den Erkenntnissen der Leseforschung aus, so dass die Lesebilder in den Kontext von Leseweisen, Lesesituationen und Lesemodi gestellt werden. Schenda (1987) befragt aus der Perspektive der Volkskunde Lesebilder nach der Bild-Lesefähigkeit ungebildeter (Analphabeten) und gebildeter Leser. Abschließend ist jedoch festzustellen, dass die kunstgeschichtliche Literatur zu einzelnen Lesebildern und Künstlern den großen Teil der Forschung bestreitet. Eine tiefer gehende Analyse, die über eine Sammlung von Motivkreisen oder Lesesituationen und ihrer Bezüge zur Lesegeschichte hinausgeht, ist ohne kunstgeschichtliche Kenntnisse und Methoden jedoch nur schwer denkbar. Lesemöbel, wie spezielle Sitzgelegenheiten, Tische oder Pulte oder Vorrichtungen wie das Bücherrad30, sind Teil der materiellen Alltagskultur. Sie sind als reale
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Objekte erhalten, aus deren technischer Konstruktion sich ihre Funktion für die Haltung des Lesers (sitzen, stehen, liegen) und den Lektürezweck (annotierendes Lesen am Pult, enzyklopädisches, wissenschaftliches Lesen mit Hilfe des Leserads, Lesen zur Unterhaltung auf dem Lesesessel oder der Leseliege etc.) erschließt. Aber auch die Lesebilder, auf denen Lesemöbel und Interieurs mit Lesesituationen interagieren, bilden einen reichen Fundus, wie der Lesende das Lesemedium positioniert und welche Haltung er beim Lesen einnimmt (vgl. Hanebutt-Benz 1985).30
4.4 Lesebiographien Der reale Leser wird in seinem Lektüreverhalten auch historisch konkret fassbar in autobiographischen Zeugnissen, in denen er über seine Lesesozialisation, ihre Umstände und Instanzen Auskunft gibt. Die biographische Methode wird in der qualitativen Medienforschung zur Rekonstruktion von Faktoren und Aspekten der individuellen Lesesozialisation genutzt. In der Regel werden aus Fallstudien Rückschlüsse zur Beantwortung von Fragen aus der aktuellen Leserforschung und zur Analyse von Lesesozialisationsverläufen bei Kindern und Jugendlichen gezogen.31 Die Lektüreautobiographie wird dabei als »methodische Variante des narrativen Interviews«32 verstanden. Autobiographische Zeugnisse gelten allerdings als pro blematische Quellen, da sie oft retrospektiv soziale Erwartungshaltungen, kulturelle Wertmuster und normative Praktiken bedienen und somit die eigene Biographie idealisierend beschreiben. Schwerpunkt der Auswertung autobiographischer Zeugnisse ist meist die literarische Sozialisation im engeren Sinn.33 Diese Methode findet auch in der historischen Leserforschung Anwendung. Alfred Messerli beispielsweise rekonstruierte insbesondere Lesepraktiken und Lesesituationen aus Lebenserinnerungen, hier regional konzentriert auf die Schweiz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (vgl. Messerli 2002), und konnte daraus unterschiedliche Erwartungen an das und Vorstellungen vom Lesen ableiten. Die historische Leserforschung profitiert
30 Vgl. zu den Lesemöbeln auch Kap. 2.2.2 Das Buch in der Codexform und einblättrige Lesemedien in diesem Band. 31 Vgl. den Überblick bei Graf, Werner / Kaspar, Martin: Lektüreautobiographien als Erhebungsinstrument der qualitativen Leseforschung. In: Siegener Periodicum zur internationalen empirischen Literaturwissenschaft 18 (1999), Heft 1, S. 72–85. 32 Graf / Kaspar 1999 (s. o.), S. 74. 33 Vgl. für die aktuelle Rezeptionsforschung Graf, Werner: Fiktionales Lesen und Lebensgeschichte. Lektürebiographien der Fernsehgeneration. In: Cornelia Rosebrock (Hrsg.): Lesen im Medienzeitalter. Biographische und historische Aspekte literarischer Sozialisation. Weinheim / München 1995, S. 97– 125; Graf, Werner: Das Schicksal der Leselust. Die Darstellung der Genese der Lesemotivation in Lektüreautobiographien. In: Christina Garbe v. a. (Hrsg.): Lesen im Wandel. Probleme der literarischen Sozialisation heute. Lüneburg 1997 (didaktik diskurse. 2), S. 101–124.
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dabei auch von den Ergebnissen der biographischen Methode in anderen disziplinären Kontexten. Der Siegener Literaturwissenschaftler Hermann Korte beispielsweise hat im Zuge der historischen Kanonforschung 51 Autobiographien von Schriftstellern und Künstlern aus dem 19. und 20. Jahrhundert untersucht, um »die Strategie der autobiographischen Selbstdarstellung und Selbstinszenierung von Leserinnen und Lesern [...] [aufzudecken], literarische Kanonwerke als Medien der individuellen wie der kollektiven Identitätskonstruktion zu nutzen und eigene Kanonbiographien zu entwerfen« (Korte 2007, S. 7). Hier wird die Problematik der autobiographischen Quellen positiv genutzt, um sozial überformte Idealvorstellungen vom Lesen und der ›richtigen‹ Lektüre zu analysieren (zur intensiven Diskussion der Quellengattung, ihrer Leistungen und Probleme vgl. Korte 2007, S. 11–24). Der Zugang zum historisch realen Leser über autobiographische Zeugnisse lässt pauschale Einschätzungen, die über das Einzelfallbeispiele hinausgehen, nur begrenzt zu, denn historisch können weitgehend nur schriftliche Zeugnisse, bisweilen auch Zeichnungen, ausgewertet werden. Damit ist der Kreis der analysierbaren Fallbeispiele auf soziale Eliten und Einzelfälle in unteren Gesellschaftsschichten eingeschränkt.
4.5 Quantitativ-statistische Leserforschung Quantitative statistische Verfahren sind in der Leserforschung auf breiter Grundlage mit den großangelegten Katalogisierungsprojekten retrospektiver Nationalbibliographien möglich geworden, die zudem den Vorteil der elektronischen Recherche und Auswertung bieten. So lassen sich anhand der quantitativen Buchtitelproduktion Rückschlüsse auf die Buchverfügbarkeit und damit indirekt auf Leser und Leseinteresse ziehen. Für die deutsche Buchtitelproduktion sind an erster Stelle die retrospektiven Gesamtverzeichnisse für das 16., 17. und 18. Jahrhundert zu nennen;34 die Drucke des 15. Jahrhunderts sind international im Incunabula Short Title Catalogue (ISTC) verzeichnet. Vorteil dieser Datenbanken ist, dass sie ständig aktualisiert, erweitert und verbessert werden und die elektronische Recherche und Auswertung für die unterschiedlichsten Fragestellungen möglich ist. Allerdings sagt das in absoluten Zahlen und Zahlenreihen erfasste quantitative Angebot der für den Buchmarkt produzierten Literatur, zumindest seit der Einführung des Buchdrucks, wenig über die tatsächlich gelesenen Bücher und ihre Rezeption aus. Dies bleibt Detailstudien vorbehalten, die die Statistik qualitativ und interpretierend flankieren.
34 Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16); Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (VD 17); Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 18. Jahrhunderts (VD 18).
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Der methodische Zugriff beschränkt sich meist noch auf einfache Analyseverfahren deskriptiver Statistik. Ein grundlegendes Problem historischer Statistik ist die Qualität der verfügbaren Daten aufgrund einer oft ungleichen Datenbasis und inhomogener Quellen. Wie die zugrunde gelegten Aufzeichnungen zustande kamen und was genau diese erfassen, bleibt vor allem in älteren und irreführenden Untersuchungen unklar.35 Zudem sind verwertbare Quellen umso seltener und weniger verlässlich, je weiter sie in die Geschichte zurückreichen. Einer statistischen Auswertung muss eine sorgfältige Quellenkritik vorausgehen, nämlich welcher Art die Daten sind, welche Fragen an die Datenbasis gestellt werden können bzw. wie valide die Ergebnisse sind. Beispielhaft soll hier die neuere, umfangreiche Studie von Uwe Neddermeyer Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (1998) vorgestellt werden. Die Forschungsfrage, die im Titel genannt ist, richtet sich auf ein zentrales Thema der Buchgeschichte: inwieweit der Buchdruck die Buchproduktion verändert hat. Bereits die umfassende Formulierung deutet die Schwierigkeit präziser Hypothesenbildung an. ›Schriftlichkeit‹ wird definiert über die Gesamtzahl von Drucken bzw. Handschriften und deren Themen werden einem ›Leseinteresse‹ zugeordnet. Mit empirisch erhobenen Daten und methodisch nachvollziehbaren Statistiken soll die Handschriften- und Buchproduktion ermittelt werden (vgl. Neddermeyer 1998, Kapitel Methodik, S. 47–162). Diese Daten beruhen auf einer stark variierenden, inhomogenen Quellenbasis (u. a. zahlreiche moderne und historische Bibliothekskataloge, unterschiedliche historische Quellenarten). Quantitative Angaben zur Manuskriptproduktion sowie der Auflagenhöhe der Inkunabelausgaben beruhen auf Hochrechnungen mit geschätzten Verlustraten, wobei die zugrunde liegenden Faktoren nach hypothetischen Annahmen bestimmt werden. Zedelmaier hat in einer ausführlichen Rezension die Probleme eines solchen methodischen Vorgehens dargestellt. Trotz interessanter Einzelergebnisse ist Zedelmaiers Resümee skeptisch: »Die Antwort auf die gestellte ›Leitfrage‹ lautet einfach: verläuft die Wachstumskurve steil und kontinuierlich nach oben, dann beginnt eben das Buchzeitalter.« (Zedelmaier 2000, S. 298) Die kulturellen und sozialen Veränderungen und Lesepraktiken sind nicht erfasst (vgl. Abschnitt 3.1). Abschließend lässt sich jedoch feststellen, dass statistischen Methoden in der historischen Leserforschung zukünftig mit dem neuen Forschungsfeld der ›Digital Humanities‹ eine große Bedeutung zukommen wird, das sich mit Methoden der Datenerhebung, der Datenauswertung und deren visueller Darstellung befasst.
35 Vgl. beispielhaft die Kritik von Horst Meyer (Ders.: Buchhandel. In: Werner Arnold u. a. [Hrsg.]: Die Erforschung der Buch- und Bibliotheksgeschichte in Deutschland. Wiesbaden 1987, S. 189–260) an der statistisch-geographische Auswertung der Frankfurter und Leipziger Meßkataloge 1564–1846 durch Gustav Schwetschke.
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5 Schluss Die historische Lese- und Leserforschung ist ein jüngeres Forschungsgebiet, das durch eine Vielfalt unterschiedlicher Ansätze, disziplinärer Zugänge und Methoden gekennzeichnet ist. Neben älteren, traditionell in der Druck- und Buchgeschichte (Buchkunde), der Bibliographie (Analytical bibliography) sowie der Materialitäts forschung verorteten Forschungsrichtungen sind innovative, theoriebasierte Konzepte in den 1970er Jahren verfolgt worden: Zu nennen sind hier besonders die mentalitäts- und sozialgeschichtliche Lese- und Leserforschung. Bei allem anregenden Potenzial weisen die einschlägigen Untersuchungen aber eine wenig konsistente Begriffsverwendung auf. Kommunikations- bzw. medienwissenschaftliche Konzeptio nierungen befinden sich noch in den Anfängen. Als wichtige Desiderate sind weiter zu benennen: erstens eine mangelnde Operationalisierung des Lesens in Bezug auf die unterschiedlichen Lesemedien und eine Präferenz für einen allgemeinen Begriff der ›Lektüre‹ sowie zweitens eine vor allem in der sozialgeschichtlichen deutschen Forschung zu beobachtende Verengung auf literarische Stoffe. In dieser Hinsicht vorbildlich sind die Bände La naissance du livre moderne (Martin 2000) und Mise en page et mise en texte du livre manuscrit (Martin / Vezin 1990), die von Lesemedien und Buchtypen ausgehen und für die es in der deutschen Buch- und Lesegeschichte kein Pendant gibt.
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Ursula Rautenberg / Ute Schneider
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2 Leseprozess und Lesemedien 2.1 Lesen und Verstehen
Silvia Brem / Urs Maurer
2.1.1 Lesen als neurobiologischer Prozess Zusammenfassung: Im Laufe der Kindheitsentwicklung lernt das Gehirn, Ketten von abstrakten, graphischen Zeichen mit Wortklang und Sinn zu verbinden und so sprachliche Information in hohem Tempo zu erschließen. Ermöglicht wird dies durch die Plastizität des Gehirns. Abermillionen von Neuronen kommunizieren miteinander und bilden funktionelle Netzwerke, welche eine schnelle und effiziente Art der Informationsverarbeitung erlauben. Ein spezielles funktionelles Netzwerk wird aufgebaut, wenn Kinder in der Schule das Lesen und damit die Verknüpfung der gesprochenen und geschriebenen Sprache erlernen. Hauptsächlich Gehirnareale der linken Hirnhälfte sind an der Verarbeitung von Schrift und Sprache beteiligt. In diesem Kapitel werden die wichtigsten Prozesse, welche beim Lesen im Gehirn ablaufen, genauer beleuchtet. Studien mit bildgebenden Methoden, wie z. B. Elektroenzephalographie (EEG) oder (funktionelle) Magnetresonanztomographie ((f)MRT) zeigen auf, an welchen Orten, in welcher Abfolge und Geschwindigkeit im Gehirn bestimmte Leseprozesse ablaufen. Sie geben uns auch einen Einblick, wie sich funktionelle Netzwerke im Laufe der Entwicklung und bei Lernprozessen ausbilden. Schließlich macht die Bildgebung Unterschiede in der Hirnstruktur und Hirnaktivität bei Menschen mit guten und schlechten Lesefertigkeiten (z. B. Legasthenie) sichtbar. Abstract: The enormous plasticity of our brain makes it possible for children to learn to connect strings of abstract graphical characters to speech sounds and meaning and thus to acquire linguistic information at a high rate. Millions of neurons in our brains communicate with each other and form functional networks that allow information to be processed in a highly efficient manner. A specialized neural network develops when schoolchildren learn to read and thereby associate spoken and written language. Brain regions involved in language and print processing are mainly located in the left hemisphere of the brain. Neuroimaging studies, such as electroencephalography (EEG) and (functional) magnetic resonance imaging ((f)MRI) provide insight into where, in what sequence, and at what speed particular reading processes take place in the brain. Furthermore, they shed light on how functional networks develop as children learn to read. Finally, neuroimaging studies make visible differences in brain structure and function between good and poor readers (e. g., people with developmental dyslexia).
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 118 2 Kognitive Modelle des Lesens — 118 3 Neurobiologie des Lesens — 122 3.1 Von der Schrift zur Bedeutung: das funktionelle Lesenetzwerk im Gehirn — 122 3.1.1 Orthographie: visuelle Verarbeitung von Wörtern — 124 3.1.2 Phonologie: Verarbeitung der Lautstruktur — 127 3.1.3 Semantik: Verarbeitung der Wortbedeutung — 128 3.1.4 Syntax: Verarbeitung der Satzstruktur — 129 4 Neurobiologie des Leseerwerbs — 130 4.1 Strukturelle Entwicklung und Reifung des Gehirns — 130 4.2 Spezialisierung für Schrift beim Lesenlernen — 131 5 Neurobiologie der Dyslexie — 132 5.1 Strukturelle Veränderungen bei Dyslexie — 132
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Silvia Brem / Urs Maurer
5.2 Räumliche Veränderung in der Wortverarbeitung bei Dyslexie — 133 5.3 Veränderung in der zeitlichen Verarbeitung von Wörtern bei Dyslexie — 133 6 Zusammenfassung und Schlussfolgerung — 134 7 Literatur — 135
1 Einleitung Das Lesen hat als Kulturtechnik und Kommunikationsmedium in unserer modernen Gesellschaft eine überragende Bedeutung. Umso wichtiger ist es, dass das Gehirn eine effiziente Verarbeitung von Schrift erlaubt. Aus Sicht der Evolution ist das Lesen jedoch eine sehr neue Fertigkeit. Erste Zeugen für die Nutzung graphischer Formen durch den Menschen sind prähistorische Höhlenmalereien. Doch dauerte es noch einige tausend Jahre, bis sich über Piktogramme das alphabetische Prinzip der Schrift entwickelte und sich schließlich als Kommunikationsmittel für die breite Bevölkerung durchsetzte (vgl. Dehaene 2009). Wegen der evolutionsgeschichtlich sehr kurzen Zeitspanne, in welcher der Mensch das Lesen als Form der Kommunikation einsetzt, ist nicht anzunehmen, dass bestimmte Areale im Gehirn ausschließlich für die Verarbeitung von Schrift entstanden sind (vgl. Dehaene u. a. 2005). Deshalb ist es besonders interessant zu erforschen, wie das Gehirn mit dieser neuen Anforderung umgeht. Der Schulbildung ist es zu verdanken, dass in den meisten hochentwickelten Ländern über 80 % der Menschen das Lesen ohne größere Pro bleme erlernen und in ihrem Alltag nutzen können (vgl. Notter u. a. 2006). Die Plastizität des Gehirns erlaubt, dass das Lesen meist in relativ kurzer Zeit während der ersten Schuljahre erlernt wird. Die bildgebende Forschung hat wesentlich zum Verstehen der neuronalen Grundlagen des Lesens und des Lesenlernens beigetragen, indem sie die Informationsverarbeitung im Gehirn sichtbar macht. So bedingt das Lesen, ähnlich wie andere, komplexe kognitive Fertigkeiten, eine koordinierte und effiziente Zusammenarbeit der verschiedenen beteiligten Hirnregionen. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts erreicht jedoch ein hoher Prozentsatz der Erwachsenen lediglich ein Lesekompetenzniveau, das in unserer Gesellschaft als ungenügend gilt (vgl. Notter u. a. 2006). In diesem Beitrag werden einerseits die neurobiologischen Grundlagen erläutert, die dem Lesenlernen und Lesen zugrunde liegen und andererseits die wichtigsten neuronalen Befunde zur Lese- und Rechtschreibstörung (LRS, Legasthenie, Dyslexie) zusammengefasst.
2 Kognitive Modelle des Lesens Eine besondere Herausforderung beim Lesen ist das Erkennen und Verstehen von einzelnen Wörtern. Die Kognitive Psychologie beschäftigt sich intensiv mit dem
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119
Lesen einzelner Wörter und schafft damit die Grundlage für Modelle des Lesens. Die beiden einflussreichsten Modelle sind das Konnektivistische Triangelmodell (vgl. Seidenberg / McClelland 1989) und das Zwei-Wege-Kaskadenmodell (vgl. Coltheart u. a. 1993). Unabhängig vom theoretischen Modell zeigt sich, dass drei Dimensionen beim Lesen einzelner Wörter eine besonders wichtige Rolle spielen: Orthographie, Phonologie und Semantik. Dabei meint Orthographie, wie ein Wort in geschriebener Form aussieht, Phonologie, wie es in gesprochener Form klingt, und Semantik, was es bedeutet. Die beiden Modelle unterscheiden sich in der Auffassung, wie diese drei Faktoren zusammenspielen. Das Zwei-Wege-Kaskadenmodell wurde in der Neuropsychologie entwickelt, in der aufgrund von Hirnverletzungen bei Patienten (z. B. durch Hirnschlag) und den damit verbundenen Funktionsausfällen auf die kognitive Verarbeitung im Gehirn geschlossen wird (vgl. Seidenberg 2012). So gibt es Patienten, die Wörter zwar noch recht gut lesen können, wenn diese häufig vorkommen und sie die Aussprache vom vertrauten Wortbild erschliessen können. Dies ist bei seltenen Wörtern erschwert, und die Patienten sind besonders stark beeinträchtigt, wenn sie Pseudowörter lesen sollen, die man zwar lesen und aussprechen kann, die aber keine Bedeutung haben (z. B. ›Spotze‹). Das weist auf eine phonologische Dyslexie hin, was bedeutet, dass die Betroffenen Schwierigkeiten bei der Anwendung von Regeln der Graphem-Phonem-Konversion haben, wie das beim Lesen von unbekannten oder sehr seltenen Wörtern notwendig ist (vgl. Seidenberg 2012). Andere Patienten hingegen sind besonders beeinträchtigt beim Lesen von Ausnahmewörtern (z. B. ›have‹), aber weniger beim Lesen von regelmäßigen Wörtern (›save‹) oder von Pseudowörtern. Dieser Fall tritt vor allem in der englischen Sprache auf, in der die Graphem-Phonem-Verbindungsregeln inkonsistent sind, weshalb es viele Ausnahmewörter gibt. Solche Patienten haben eine Oberflächendyslexie, da sie zwar Graphem-Phonem-Verbindungsregeln korrekt anwenden können, aber beim direkten Erschließen der Aussprache durch das vertraute Wortbild, dem lexikalischen Benennen, scheitern. Diese Unterscheidung legt nahe, dass es beim Lesen zwei verschiedene Wege gibt, die selektiv durch Läsionen betroffen sein können (vgl. Seidenberg 2012). Diese beiden Wege bilden die Grundlage des Zwei-Wege-Kaskadenmodells (siehe Abb. 1). Der eine ist der lexikalische Weg, bei dem ein geschriebenes Wort im Gehirn einen Eintrag im orthographischen Lexikon aktiviert, der wiederum den entsprechenden Eintrag im phonologischen Lexikon auslöst. Das kann mit oder ohne Aktivierung der Bedeutung des Worts geschehen. Die andere Route ist der nichtlexikalische Weg der Graphem-Phonem-Konversion. Hierbei werden Ketten von Buchstaben (Graphemen) nach bestimmten Regeln in Ketten von Sprachlauten (Phonemen) umgewandelt. Das Konnektivistische Triangelmodell, hat sich aus dem Ansatz der Modellsimulationen in der Psychologie entwickelt. In der konnektivistischen Ausprägung dieses
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Konnektivistisches Triangelmodell
Kontext Semantik
Orthographie
Phonologie
Schrift
Aussprache Zwei-Routen Kaskadenmodell
Semantisches System
Orthographisches Input Lexikon
Orthographische Analyse
Schrift
Phonologisches Output Lexikon
Graphem-Phonem Regelsystem
Phonem System
Aussprache
Abb. 1: Das Konnektivistische Triangelmodell (oben) und das Zwei-RoutenKaskadenmodell (unten) enthalten beide orthographische, phonologische und semantische Verarbeitungsschritte. Das Zwei-Routen-Modell enthält zusätzlich eine zweite Route, die von der Orthographie zur Phonologie über die entsprechenden Lexika führt.
Ansatzes geht man davon aus, dass Verhalten durch ein Zusammenspiel einer großen Anzahl von einfachen Modulen entsteht, die eingehende Information verrechnen und weiterleiten. Solche Module im Modell funktionieren ähnlich wie Nervenzellen im Gehirn und können sich gegenseitig verstärken oder hemmen und dabei ganze Netzwerke bilden, was in Computerprogrammen simuliert wird. Bei dieser Art von Simulationsmodellen spricht man auch von parallel verteilter Verarbeitung, da die Informationsverarbeitung im gesamten Verteilungsmuster der Aktivierung aller Einheiten repräsentiert ist. Wissen ist in den Stärken der hemmenden oder verstärkenden Verbindungen gespeichert, die sich beim Lernen verändern. Solche künstlichen
2.1.1 Lesen als neurobiologischer Prozess
121
neuronalen Netzwerke werden trainiert, d. h. sie ›lernen‹ und passen die Verbindungen innerhalb des Netzwerks laufend an, bis ein stabiler Zustand erreicht ist. Das Endprodukt dieser Berechnungen ist das simulierte Verhalten, das mit dem tatsächlichen Verhalten von Versuchspersonen verglichen werden kann (vgl. Seidenberg 2012). Um das Lesen zu simulieren, integrierten Mark S. Seidenberg und James L. McClelland (1989) die Verarbeitungsstufen Orthographie, Phonologie und Semantik, in das Konnektivistische Triangelmodell. Zusätzlich fügten sie einen Knoten ›Kontext‹ hinzu, der im Modell die semantische Verarbeitung beeinflusst, da bestimmte Wörter je nach Satzkontext etwas anderes bedeuten können. Mit diesem einfachen Modell konnten die Autoren verschiedene Phänomene im Bereich des Lesens simulieren, wie unterschiedliche Schwierigkeiten beim Lesen von häufigen und weniger häufigen Wörtern, oder zwischen regelmäßigen (z. B. ›must‹, ›bang‹) und unregelmäßigen (z. B. ›have‹, ›lose‹) Wörtern. Während sowohl das Zwei-Wege-Kaskadenmodell als auch das Konnektivistische Triangelmodell die Elemente Orthographie, Phonologie und Semantik enthalten, unterscheiden sie sich in wesentlichen Elementen. Das Zwei-Wege-Kaskadenmodell beschreibt zwei grundsätzlich verschiedene Wege, wie Wörter gelesen werden können. Das Konnektivistische Triangelmodell dagegen weist nur einen Weg von der Orthographie zur Phonologie auf, wobei die Umwandlung von einzelnen Buchstaben, Buchstabenketten und ganzen Wörtern in die Aussprache nach den grundsätzlich gleichen Prinzipien stattfindet. Während das Konnektivistische Triangelmodell bereits als Computersimulation konzipiert war, war das Zwei-Wege-Model ursprünglich weniger formalisiert, ist mittlerweile aber ebenfalls in einem computerbasierten Simulationsprogramm implementiert. Die Simulationsprogramme der beiden Modelle unterscheiden sich darin, dass die Verbindung zwischen den Einheiten im Konnektivistischen Modell gelernt werden, während sie im Zwei-Wege-Kaskadenmodell von Hand eingestellt werden müssen. Das Konnektivistische Modell kann daher unerwartete Eigenschaften zu Tage bringen, während das Zwei-Wege-Kaskadenmodell mit dem Problem des ›OverFitting‹ zu kämpfen hat, da es anhand eines bestimmten Datensatzes gebildet wird, was wiederum die Generalisierbarkeit einschränkt (vgl. Seidenberg 2012). Welches der beiden Modelle eine bessere Abbildung des Wortlesens darstellt, ist noch offen. Im Moment sieht es so aus, als ob das Zwei-Wege-Kaskadenmodell gemessene Daten aus Leseexperimenten besser nachbildet (vgl. Seidenberg 2012). Allerdings scheint das Konnektivistische Modell ein realistischeres Abbild für das Funk tionieren des Gehirns darzustellen. Interessant sind deshalb auch neuere Ansätze, die Eigenschaften der beiden Modelle vereinen, indem z. B. die beiden Pfade des Zwei-Wege-Modells mit Eigenschaften des Konnektivistischen Netzwerkmodells verbunden werden (vgl. Perry u. a. 2007).
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3 Neurobiologie des Lesens Der Hauptunterschied zwischen der Verarbeitung von gesprochener Sprache und Schrift liegt in der Eingangsmodalität, die im Falle der gesprochenen Sprache auditorisch, im Falle der Schrift visuell ist. Ein zentraler Punkt beim Lesen stellt deshalb die Verarbeitung des visuellen Inputs, d. h. des geschriebenen Worts dar. Die ›neuronale Recycling-Hypothese‹ von Stanislas Dehaene (vgl. Dehaene u. a. 2005) erachtet das Lesen als eine entwicklungsgeschichtlich zu neue Fertigkeit, als dass sich im Laufe der Evolution bestimmte Hirnstrukturen spezifisch für die Funktion des Lesens hätten entwickeln können. Vielmehr geht man davon aus, dass das Gehirn für diese Fertigkeit Regionen einsetzt, die im Laufe der Evolution für andere, z. T. ähnliche Funktionen entstanden sind. So übernehmen Regionen, die sich ursprünglich für die Objektverarbeitung entwickelt haben, im Laufe des Lesenlernens zumindest teilweise gewisse Funktionen der Schriftverarbeitung und Aufbereitung (vgl. Dehaene / Cohen 2007; Dehaene u. a. 2005). Diese Regionen kommunizieren mit Arealen, welche für die Verarbeitung der Phonologie, der Semantik, der Syntax und der Sprachmotorik wichtig sind und bilden funktionelle Netzwerke (Lesenetzwerk).
3.1 Von der Schrift zur Bedeutung: das funktionelle Lesenetzwerk im Gehirn Lesen ist ein komplexer Prozess mit mehreren Verarbeitungsstufen, die entweder seriell oder parallel ablaufen. Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) ist heute die meist gewählte Methode, um detaillierte Informationen über den Ort der Verarbeitung von Schrift und Sprache zu untersuchen, während die Elektroenzephalographie (EEG) und die Magnetenzephalographie (MEG) die zeitliche Verarbeitung aufzeigen.1 Entsprechend der Komplexität ist nicht nur eine eng umschriebene Region im Gehirn während des Lesens aktiv, sondern ein ausgedehntes, funktionelles Netzwerk (Lesenetzwerk). Erst die koordinierte Zusammenarbeit der verschiedenen Areale im Lesenetzwerk ermöglicht schlussendlich, aus einer Kette von abstrakten graphischen Einheiten (Buchstaben) den Wortlaut und die Bedeutung zu erschließen. Die meisten Areale des Lesenetzwerks sind dabei nicht nur spezifisch beim Lesen aktiv, sondern spielen auch bei der Verarbeitung von gesprochener Sprache oder bei der Verarbeitung von Objekten eine wichtige Rolle. Weil bei über 90 % der Rechts- und rund 70 % der Linkshänder vor allem Areale der linken Hirnhälfte bei der Sprachverarbeitung involviert sind (vgl. Rasmussen / Milner 1977; Satz 1979), bezeichnet man die linke Hemisphäre als sprachdominant. Die meisten Areale,
1 Vgl. Kap. 1.1 Ansätze der Kognitiven Neurowissenschaften in diesem Band.
2.1.1 Lesen als neurobiologischer Prozess
123
parietal frontal
temporal
okzipital
vOT
Orthographie
[uV] 6 4
Phonologie Semantik
Visuell
Syntax
2 0
P1
N1
0yyyyyyyyyyy100yyyyyyyyy200yyyyyyyyy300yyyyyyyyyy400yyyyyyyyy500yyyyyyyyy600yyyyyyyy700yyyyyyyyyy800yyy[ms]
Abb. 2: Schematische Darstellung des Lesenetzwerks im Gehirn (oben) und der zeitlichen Verarbeitung von Schrift (unten) anhand der globalen Feldstärkekurve des ereigniskorrelierten Potentials (ERP). Eingefärbt sind Regionen in der linken Hirnhälfte, welche bei den verschiedenen Verarbeitungsprozessen wie Orthographie (rot-violett), Phonologie (grün), Semantik (hellblau) und Syntax (dunkelblau) aktiv sind. Die Zeitbereiche mit korrespondierender EEG-Aktivität sind in der unten dargestellten Kurve entsprechend eingefärbt. Die Abbildung fasst stark vereinfacht die Resultate von fMRT- und ERP-Studien zusammen. Je nach Aufgabe und Schwierigkeit variiert die Aktivität in den verschiedenen Regionen des Lesenetzwerks und den verschiedenen Zeitbereichen der Verarbeitung beträchtlich. Phonologische, semantische und syntaktische Prozesse laufen oft parallel ab und erlauben deshalb weder zeitlich noch räumlich eine klare Trennung.
welche zum Lesen wichtig sind (siehe Abb. 2), befinden sich im Großhirn. Der Beitrag der verschiedenen Areale zum Lesen scheint je nach Strategie und Aufgabenstellung individuell zu variieren. Neue Befunde aus der Bildgebungsliteratur zeigen z. B., dass zur Verarbeitung desselben Worts verschiedene Routen / Strategien benutzt werden können und dementsprechend die Aktivität unterschiedlicher Areale bedingen (vgl. Price 2012; Richardson u. a. 2011; Seghier u. a. 2008).
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3.1.1 Orthographie: visuelle Verarbeitung von Wörtern Die orthographische Verarbeitung von Schrift ist spezifisch für das Lesen und tritt bei gesprochener Sprache nicht auf. Die visuelle Information wird über die Augen aufgenommen und in den primären visuellen Kortex im Okzipitallappen geleitet. Bei diesem ersten Teil der visuellen Verarbeitung von Wörtern werden die basalen Eigenschaften der visuellen Information analysiert. Dazu gehören Kontraststärke, räumliche Frequenz sowie Ausrichtung und Verbindungen von Linien. Die Verarbeitung dieser Eigenschaften findet sehr schnell statt, das heißt in den ersten 100–120 ms nach der Präsentation eines Worts, was sich in der okzipito-temporalen P12 Komponente in den ERPs (›event-related potentials‹ des EEG) zeigt. Im Bereich des Lesens ist z. B. die P1 für lange Wörter höher als für kurze Wörter (vgl. Hauk / Pulvermuller 2004), was auf eine stärkere Verarbeitung der langen Wörter wegen des größeren visuellen Inputs schließen lässt. Nach der basalen visuellen Verarbeitung im primären visuellen Kortex, findet die weitergehende Verarbeitung der Wörter in angrenzenden Gebieten statt, insbesondere im ventralen3 Teil des Okzipital- und Temporallappens (vOT). Dieser Bereich des Gehirns wird in der Literatur deshalb häufig als ›Visuelles Wortformsystem (VWFS)‹ bezeichnet (vgl. Cohen u. a. 2000; Dehaene u. a. 2002; Vinckier u. a. 2007). Studien haben gezeigt, dass sich die Aktivität zwischen Wörtern und Ketten von unbekannten, graphischen Symbolen im posterioren vOT kaum unterscheidet. Im anterioren vOT hingegen sind deutliche Unterschiede zwischen der Verarbeitung von geschriebenen Wörtern und Symbolketten und zwischen vertrauter und unvertrauter Schrift zu erkennen (vgl. Baker u. a. 2007; Brem u. a. 2009; Vinckier u. a. 2007). Ähnliche Unterschiede findet man in Studien mit der Elektroenzephalographie (EEG). Die okzipito-temporale N14 Komponente ist bei Wörtern größer als bei Kontrollreizen wie Symbolketten (vgl. Maurer u. a. 2005b; Brem u. a. 2005; siehe Abb. 3). Dies bedeutet, dass das Gehirn im Bereich von etwa 150–250 ms nach der Präsentation von Wörtern diese bereits auf eine andere Weise verarbeitet als Reize, die zwar ähnliche visuelle
2 Der Name okzipito-temporale P1 folgt der Nomenklatur, wonach Komponentennamen aus dem Kürzel der Polarität (P für positiv, N für negativ) zusammen mit einer Ordnungszahl (oder dem Zeitpunkt des Auftretens in Millisekunden) gebildet wird. In diesem Fall ist dies die erste Komponente an okzipito-temporalen Elektroden, die einen positiven Peak zeigt. 3 Die Bezeichnungen ›ventral‹ und ›dorsal‹ werden benutzt, um den Ort bestimmter Strukturen genauer zu definieren. Ventral bedeutet näher zum Bauch liegend, d. h. im Gehirn weiter unten liegend. Dorsale Strukturen liegen weiter oben. 4 Analog zur P1 bedeutet N1, dass dies die erste Komponente an okzipito-temporalen Elektroden ist, die einen negativen Peak zeigt. Bei Erwachsenen wird diese Komponente oft auch N170 genannt, da sie bei etwa 170 ms den Gipfel erreicht. Da diese Latenz bei Kindern aber größer ist (je nach Alter über 200 ms), wäre die Bezeichnung N170 verwirrend, weshalb N1 vorgezogen wird.
2.1.1 Lesen als neurobiologischer Prozess
Wörter Symbole
10 µV
Banane Esel
Erwachsene
-5
-10
Kontrollgruppe (n=22)
A
B 20 µV
20 µV
10
10
0
0
-10
-10
Gruppe mit Dyslexie (n=15)
C
E
-12
0
200
0 µV
400
12
ms
-20
D
20 µV
20 µV
10
10
0
0
-10
-10
-20
-12
0
200
P2
0
Zeit
-20
P1
5
0 µV
400
Kindergarten (6.5 Jahre)
12
ms
-20
F
N1 0
200
0
200
0
200
-6
0 µV
400
-12
0 µV
ms
12
ms
400
-12
6
0 µV
400
12
ms
2. Klasse (8.3 Jahre)
Abb. 3: Die Spezialisierung für Schrift zeigt sich bei Erwachsenen als stärkere Aktivität für Wörter verglichen mit Symbolen ab etwa 150 ms. Die ERP-Kurven sind an der okzipito-temporalen Elektrode O1 dargestellt. Die Differenzkarten zeigen den Unterschied zwischen Wörtern und Symbolen an allen Elektroden zum Zeitpunkt des N1-Peaks (Erwachsene: 156 ms, Kinder: 211 ms). Neben generellen Entwicklungsunterschieden in Amplitude und Latenz zeigt sich wortspezifische Aktivität in Abhängigkeit vom Leseerwerb.
125
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Eigenschaften haben, aber nicht aus Buchstaben zusammengesetzt sind. Da die N1 auch bei Gesichtern erhöht ist oder bei Objekten, mit denen jemand sehr vertraut ist (z. B. wenn Vogelexperten Vögel und Autoexperten Autos anschauen; vgl. Tanaka / Curran 2001; Gauthier u. a. 2003), nimmt man an, dass geübte Leser eine Art visuelle Expertise für das Wahrnehmen von Schrift entwickelt haben (vgl. Rossion u. a. 2003). Anders als bei Gesichtern und Objekten ist die N1 bei Wörtern aber links lateralisiert, was zudem auf einen sprachlichen Einfluss auf die orthographische Verarbeitung hindeutet (vgl. Maurer / McCandliss 2007). Im vOT-Gebiet findet man aber nicht nur Unterschiede zwischen Wörtern und Symbolreizen, sondern auch zwischen Wörtern und zufälligen Buchstabenketten (›QOADTQ‹) und zwischen vertrauten (richtige Wörter, z. B. ›Taxi‹) und unvertrauten Wortformen (Pseudohomophone, z. B. ›Taksi‹, Pseudowörter, z. B. ›Tatti‹) (vgl. Baker u. a. 2007; Brem u. a. 2009; Vinckier u. a. 2007; van der Mark u. a. 2009; Kronbichler u. a. 2004). Diese Verarbeitungsschritte scheinen früh stattzufinden, da ähnliche Effekte auch in EEG-Studien ab etwa 150 ms nach der Wortpräsentation zu finden sind. So werden häufige Wörter5 im Bereich der N1 Komponente anders verarbeitet als seltene Wörter, wobei unklar ist, ob das auf unterschiedliche Häufigkeiten der Buchstabenkombinationen (Bigramm-, Trigramm- oder Quadrigramm-Frequenzen6) zurückzuführen ist, oder ob es tatsächlich die Aktivierung einer visuellen Wortform in einem orthographischen Lexikon widerspiegelt. Vergleiche in der N1 zwischen der Aktivierung für Wörter und Pseudowörter sind uneinheitlich (vgl. Maurer u. a. 2005a, 2005b), was wahrscheinlich auf Einflüsse durch unterschiedliche Aufgaben oder linguistische Merkmale der untersuchten Sprachen zurückzuführen ist. Die Stärke der Aktivierung im vOT in Abhängigkeit von der Wortähnlichkeit (vgl. Vinckier u. a. 2007) lassen auf einen Gradienten in der Verarbeitung von schriftspezifischer Information entlang der posterioren-anterioren Achse im vOT schließen. Dabei erfolgt die Extraktion grober visueller Merkmale im posterioren Teil nahe dem primären visuellen Kortex. Die Erkennung der Wortform und damit die wortspezifische, lexikalisch-orthographische Verarbeitung des Wortbilds findet indessen im anterioren Teil statt (vgl. Brem u. a. 2009; Kronbichler u. a. 2007; Vinckier u. a. 2007). Obwohl allgemein akzeptiert ist, dass der vOT für die Verarbeitung von Schrift zentral ist, ist die Bezeichnung VWFS dennoch irreführend, da sie suggeriert, dass diese Region ausschließlich für die Verarbeitung von geschriebenen Wörtern zuständig ist. Dies stimmt jedoch nicht mit den Resultaten von diversen Studien überein, die in
5 Die Worthäufigkeit wird anhand eines Textkorpus bestimmt, indem erhoben wird, wie oft ein bestimmtes Wort verwendet wurde. 6 Die Bigramm-Frequenz wird ebenfalls anhand eines Textkorpus bestimmt und bezeichnet, wie häufig alle Zweibuchstabenkombinationen eines Worts innerhalb des Korpus auftreten. Trigrammund Quadrigramm-Frequenzen werden analog bestimmt.
2.1.1 Lesen als neurobiologischer Prozess
127
denselben Regionen auch Aktivität für Objektverarbeitung und Bilder nachgewiesen haben (vgl. Kherif u. a. 2011; Moore / Price 1999). Ob und inwiefern bestimmte Teile des vOT sich im Laufe der Leseentwicklung ausschließlich auf die Verarbeitung von geschriebenen Wörtern spezialisieren, ist deshalb Gegenstand intensiver Diskussion (vgl. Cohen / Dehaene 2004; Price / Devlin 2003). Ein neues interaktives Modell versucht die spezielle Rolle des anterioren vOTs in der Schriftverarbeitung eher durch Interaktionen verschiedener Hirnregionen zu erklären. Dabei wird die schriftspezifische Funktion des anterioren vOT durch die Synthese von ›bottom-up‹-Wirkung visueller Information und der ›top-down‹-Vorhersage phonologischer und semantischer Repräsentationen erklärt (vgl. Price / Devlin, 2011; Woodhead u. a. 2012). Mit anderen Worten hilft das gespeicherte Wissen über die gesprochene Sprache dem Gehirn, Buchstaben und Wörter überhaupt erst als solche wahrzunehmen.
3.1.2 Phonologie: Verarbeitung der Lautstruktur Unter dem Begriff ›phonologische Verarbeitung‹ werden verschiedenste Prozesse vereint, die mit der Verarbeitung der Lautstruktur und der Sprachlaute zu tun haben. Dazu gehören Gedächtnisprozesse, aber auch Prozesse, die bei Wahrnehmung und Artikulation auftreten, und solche, die der Graphem-Phonem-Decodierung zugrunde liegen. Die meisten dieser phonologischen Prozesse treten sowohl bei der Verarbeitung von gesprochener als auch von geschriebener Sprache auf. Die Konvertierung des Schriftbilds in das Lautbild (Graphem-Phonem-Decodierung) allerdings ist ein phonologischer Prozess, der nur bei der Verarbeitung von Schrift erfolgt und insbesondere beim Lesenlernen eine überragende Bedeutung einnimmt. Dieser Schritt der Graphem-Phonem-Konversion beginnt vermutlich schon in den mit orthographischer Verarbeitung assoziierten temporo-okzipitalen Bereichen (vgl. Dietz u. a. 2005). Hauptsächlich wird die Phonemanalyse und die Graphem-Phonem-Konversion aber dem posterioren Temporallappen zugeschrieben (vgl. Tan u. a. 2005). Die Graphem-Phonem-Konversion und die damit verbundene phonologische Verarbeitung finden im Zeitbereich von etwa 250–350 ms nach Stimuluspräsentation statt. Dies legen audiovisuelle Experimente nahe, in denen Buchstaben nur visuell, nur auditiv oder audiovisuell präsentiert werden. Anfänglich werden audiovisuelle Reize gleich verarbeitet wie die unimodalen Reize zusammengenommen. Ab 280 ms zeigen sich aber Unterschiede, die darauf schließen lassen, dass sich die visuelle und die auditorische Verarbeitung gegenseitig beeinflussen (vgl. Raij u. a. 2000). Weitere phonologische Verarbeitungsprozesse erfolgen bei alphabetischen Sprachen (Deutsch, Englisch etc.) hauptsächlich im ventralen und posterioren Teil des Frontallappens (vgl. Bach u. a. 2013; Bokde u. a. 2001; Poldrack u. a. 1999), im posterioren Temporallappen und am Übergang des Temporal- und des Parietallappens zum Okzipitallappen (vgl. Jobard u. a. 2003; Tan u. a. 2005; Vigneau u. a. 2006).
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Stärkere Aktivität aufgrund anspruchsvollerer phonologischer Verarbeitung in posterior frontalen Arealen konnte z. B. gezeigt werden, wenn das Lesen von Pseudowörtern (›Tati‹) mit dem normaler Wörter (›Taxi‹) verglichen wurde (vgl. Dietz u. a. 2005; Kronbichler u. a. 2007; Mechelli u. a. 2003) oder wenn Aufgaben gezielt phonologische Manipulationen verlangten (vgl. Bach u. a. 2013). Die frontalen Regionen werden darüber hinaus mit phonologischen Gedächtnisprozessen wie dem aktiven inneren Nachsprechen (engl. ›subvocal rehearsal‹) assoziiert. Solche phonologischen Prozesse treten typischerweise ab etwa 300 ms nach Stimuluspräsentation auf. So zeigen aussprechbare Wörter und Pseudowörter um 320 ms eine stärkere Aktivierung als Buchstabenketten aus Konsonanten (z. B. ›rtgdsf‹), die nicht ausgesprochen werden können (vgl. Bentin u. a. 1999). Die phonologische Verarbeitung zeigt sich auch bei Wortpaaren, die sich reimen. Um 350 ms löst ein Wort, das sich mit dem vorangehenden Wort reimt, eine geringere Aktivierung aus, als ein Wort, das sich nicht reimt (vgl. Kramer / Donchin 1987). Dies ist vermutlich auf phonologisches Priming zurückzuführen. Das heißt, die Verarbeitung eines Worts wird dadurch beeinflusst, dass ein vorangehendes Wort implizit phonologische Gedächtnisinhalte aktiviert (Beispiel: ›die Biene summt, der Schädel brummt‹). Diese Bahnung im phonologischen Netzwerk erleichtert die Verarbeitung des sich reimenden Worts.
3.1.3 Semantik: Verarbeitung der Wortbedeutung Verschiedene Prozesse und damit verschiedene Hirnregionen tragen dazu bei, dass die Bedeutung eines geschriebenen Worts erfasst werden kann (vgl. Binder u. a. 2009; Graves u. a. 2010; Price 2012). Die Wortbedeutungen sind im semantischen Gedächtnis gespeichert und können dadurch sowohl beim Lesen als auch bei der Verarbeitung von gesprochener Sprache schnell und effizient abgerufen werden. Ähnlich wie bei der phonologischen Verarbeitung laufen viele semantische Prozesse unabhängig von der Modalität der eingehenden Information ab. In sog. supramodalen Konvergenz zonen wird Information modalitätsunabhängig gespeichert. Solche Konvergenzzonen befinden sich hauptsächlich im inferioren Parietallappen und dem Temporallappen (vgl. Binder / Desai 2011). Die modalen semantischen Repräsentationen sind hingegen in der Nähe der jeweiligen primären perzeptuellen (z. B. visuell, auditorisch) bzw. motorischen Areale gespeichert. Eine besonders wichtige Rolle bei der semantischen Verarbeitung übernimmt der Angulare Gyrus im Parietallappen. Diese Struktur ist z. B. stärker aktiviert, wenn in Experimenten häufige Wörter (z. B. engl. ›might‹, dt. ›Macht‹) mit seltenen Wörtern (engl. ›wilt‹, dt. ›welken‹) (vgl. Graves u. a. 2010), Wörter (›Taxi‹) und Pseudohomophone (›Taksi‹) mit Pseudowörtern (›Tati‹) (vgl. Kronbichler u. a. 2007; van der Mark u. a. 2009) oder inhaltlich sinnvolle mit sinnlosen Sätzen verglichen werden (vgl. Schulz u. a. 2008). Des Weiteren werden anteriore und posteriore Areale des Temporallappens involviert, welche Zugang zu semantischen Assoziationen erlauben (vgl.
2.1.1 Lesen als neurobiologischer Prozess
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Price 2012). Schlussendlich trägt auch der ventrale Teil des inferior frontalen Kortex seinen Teil zur semantischen Verarbeitung bei: Eine deutlich stärkere Aktivität wird in diesen Regionen hervorgerufen, wenn semantisch inkongruente Satzendungen (›Der Himmel ist fett.‹) inhaltlich korrekten Satzendungen (›Der Himmel ist blau.‹) gegenüber gestellt werden (vgl. Schulz u. a. 2008). Inhaltlich korrekte Satzendungen werden aufgrund der vorhergehenden Satzteile erwartet. Fehlt bei inkorrekten Satzendungen das semantische Priming, verstärkt sich die semantische Verarbeitung. Dieser semantische Priming-Effekt zeigt ein Maximum bei etwa 400 ms nach der Wortpräsentation (vgl. Kutas / Hillyard 1980), wobei die semantische Verarbeitung anfänglich mit der phonologischen zeitlich überlappen kann. Ähnliche Effekte des semantischen Primings finden sich bei Wortpaaren mit verwandter Bedeutung (vgl. Bentin u. a. 1985) sowie bei entsprechenden Bildpaaren (Barret / Rugg 1990). Diese Art semantischer Verarbeitung scheint modalitätsunabhängig zu sein, da ähnliche Effekte in der auditorischen Modalität auftreten, z. B. bei Sätzen mit passenden und unpassenden Satzendungen, die gesprochen dargeboten werden (vgl. Holcomb / Neville 1991). Weil der inferior frontale Kortex insbesondere dann aktiv ist, wenn Experimente lexikalische Mehrdeutigkeiten oder konkurrierende semantische Informationen hervorrufen, wird ihm eine übergeordnete Rolle zugeschrieben. So scheint er als Kontrollinstanz zu agieren und die Auswahl der in anderen Regionen gespeicherten Information zu steuern (vgl. Binder / Desai, 2011; Wagner u. a. 2001).
3.1.4 Syntax: Verarbeitung der Satzstruktur Zur Erforschung der Verarbeitung der Syntax wurden Experimente durchgeführt, die entweder die Struktur oder die Komplexität von Sätzen manipulieren. Der Vergleich von Sätzen (mit syntaktischer Struktur: ›Die hungrige Katze jagt die flinke Maus.‹) mit Wortlisten (ohne syntaktische Struktur: ›Der Koch stumm Kater Geschwindigkeit doch Ehre.‹) wies darauf hin, dass der anteriore Temporallappen in die Verarbeitung der syntaktischen Struktur involviert ist (vgl. Friederici 2011; Friederici u. a. 2000). Diese zeigt sich um etwa 300–500 ms nach der Wortpräsentation (vgl. Kutas / Hillyard 1983; Friederici u. a. 1996), wobei dieser Verarbeitungsschritt in manchen Studien noch früher gefunden wurde (vgl. Friederici u. a. 1993). Meist folgt später, etwa 500–800 ms, bei Verletzungen der Syntax eine weitere Phase mit erhöhter Aktivität, die vermutlich auf den Versuch einer syntaktischen Reanalyse zurückzuführen ist (vgl. Van Petten / Luka 2012). Um die syntaktische Komplexität zu manipulieren, wurden experimentell Satzfragmente verschoben und vertauscht (tiefe Komplexität: ›Heute hat der Opa dem Jungen den Lutscher geschenkt.‹ vs. hohe Komplexität: ›Heute hat dem Jungen den Lutscher der Opa geschenkt.‹; vgl. Friederici u. a. 2006). Mit solchen Experimenten konnte gezeigt werden, dass die Aktivität in bestimmten Teilen des Broca Areals im inferior frontalen Kortex mit der syntaktischen Komplexität korreliert.
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4 Neurobiologie des Leseerwerbs Wenn Kinder Lesen lernen, verbinden sie bereits bekannte Laute der gesprochenen Sprache mit abstrakten Schriftzeichen – den Buchstaben. Im Gegensatz zur gesprochenen Sprache wird die Verarbeitung von Schrift erst relativ spät in der Kindsentwicklung, in der Regel mit Beginn der Einschulung erlernt. Der Prozess des Lesenlernens fällt somit in eine Periode, in welcher das Gehirn wichtige Entwicklungs- und Reifungsprozesse durchläuft.
4.1 Strukturelle Entwicklung und Reifung des Gehirns Obwohl die strukturelle Entwicklung und Reifung des menschlichen Gehirns hauptsächlich in den ersten zwei Lebensjahrzehnten stattfindet, entspricht das Gehirnvolumen bereits im Alter von sechs Jahren zu 95 % dem eines Erwachsenen. Die Reifung der Hirnstruktur und -funktion dauert allerdings wesentlich länger an (vgl. Lenroot / Giedd 2006). Dies ist z. B. daran ersichtlich, dass sich die Menge der Grauen Substanz7 im Verlaufe der Kindheit und bis ins junge Erwachsenenalter stark ändert. Nach dem Prinzip ›use it or loose it‹ werden oft benutzte Nervenzellen und Verbindungen zwischen Nervenzellen gefestigt. Solche, die selten gebraucht werden, werden eliminiert, so dass effiziente funktionelle Netzwerke entstehen. Diese Reifungsprozesse sind dafür verantwortlich, dass die Menge der Grauen Substanz in den ersten Lebensjahren bis in die Pubertät stetig zunimmt, danach jedoch kontinuierlich zurückgeht (vgl. Gogtay / Thompson 2010; Huttenlocher 1979, 1990). Die Menge der Weißen Sub stanz hingegen gipfelt erst im Alter von ca. 40 Jahren. Interessant ist, dass die Entwicklungskurven der Grauen und Weißen Substanz im Gehirn regional unterschiedlich verlaufen: Grundsätzlich reifen evolutiv ›alte‹ vor den ›neueren, moderneren‹ Hirnstrukturen. Zu den evolutiv älteren Strukturen gehören z. B. primär motorische und sensorische Areale, wie der okzipitale Kortex, in welchem visuelle Information verarbeitet wird. Eine besonders späte Reifung zeigen der präfrontale Kortex8 und Teile des superior temporalen Kortex (vgl. Gogtay u. a. 2004; Gogtay / Thompson 2010). Diese Regionen sind in die Handlungskontrolle oder die Integration von Informationen verschiedener sensorischer Kanäle (z. B. visuell, auditorisch) involviert und spielen bei der Sprachverarbeitung eine wichtige Rolle. Die Plastizität des Gehirns, die bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt, erlaubt es, neue Fertigkeiten zu erlernen und neue funktionelle Netzwerke auszubilden.
7 Vgl. Kap. 1.1 Ansätze der Kognitiven Neurowissenschaften in diesem Band. 8 Der präfrontale Kortex umfasst den anterioren Teil des Frontallappens.
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4.2 Spezialisierung für Schrift beim Lesenlernen Das Lesenlernen verlangt, dass Schrift und Schriftzeichen besonders verarbeitet werden. Die Verknüpfung von Buchstaben und Sprachlauten ermöglicht den Kindern neue Wörter zu decodieren und den Sinn zu erschließen. Der okzipito-temporale Bereich in der linken Hirnhälfte durchläuft in dieser Zeit eine wichtige Entwicklung. Bereits vor der Einschulung sind zwischen Wörtern und Symbolen gewisse Unterschiede in der Hirnaktivität zu finden (vgl. Bach u. a. 2013; Brem u. a. 2010, 2013; Maurer u. a. 2005b, 2007; Specht u. a. 2009; Yamada u. a. 2011). Kinder mit guten Vorläuferfertigkeiten9 für das Lesen zeigen zu Beginn des Kindergartens eine stärkere Aktivität in phonologischen Arealen für Wörter als Kinder, mit schwachen Vorläuferfertigkeiten (vgl. Yamada u. a. 2011). Ebenfalls wurde bei Vorschulkindern, welche sich zu schlechten Lesern entwickeln, eine atypische Spezialisierung für Schrift im ERP gefunden (vgl. Brem u. a. 2013; Maurer u. a. 2007). Solche Ergebnisse lassen vermuten, dass sich eine gewisse visuelle Vertrautheit durch den tagtäglichen Kontakt der Vorschulkinder mit Schrift in ihrem Umfeld auch ohne explizite Instruktion allmählich entwickelt. Obwohl demnach möglicherweise bereits vor dem eigentlichen Lesenlernen Schrift für einige Kinder eine spezielle Bedeutung hat, ist es wohl dennoch die erste explizite Phase der Leseinstruktion in der Schule, welche die beginnende Spezialisierung des linken okzipito-temporalen Kortex für Schrift maßgeblich vorantreibt. EEG-Studien z. B. finden im ereigniskorrelierten Potenzial (ERP), um 150–250 ms kaum Unterschiede in der Aktivität, wenn Vorschulkindern Wörter und Symbolketten gezeigt werden (vgl. Brem u. a. 2013; Maurer u. a. 2005b, 2006). Sobald die Kinder allerdings Buchstaben-Laut-Verknüpfungen erlernen, wird Schrift im vOT speziell verarbeitet, was sowohl im ERP als auch in der fMRT als Aktivität erkennbar ist (vgl. Brem u. a. 2010). Bei Kindern der zweiten Klasse ist bereits ein deutlicher Unterschied in der Verarbeitung von Wörtern und Symbolketten ersichtlich (vgl. Brem u. a. 2010, 2013; Maurer u. a. 2006). Interessant ist auch, dass der deutliche Aktivitätsunterschied im vOT zwischen Wörtern und Symbolketten bei Leseanfängern besonders ausgeprägt ist (vgl. Brem u. a. 2009). Erwachsene und Jugendliche zeigen zwar in der Regel ebenfalls Unterschiede in der Aktivität des linken okzipito-temporalen Kortex und des korrespondierenden ERP, allerdings ist dieser Unterschied oft weniger klar. Dies weist darauf hin, dass die Aktivität einen Prozess widerspiegelt, der beim Beginn des Lernprozesses besonders wichtig ist und z. B. bei der Übersetzung der Schriftzeichen in Lauteinheiten involviert ist. Obwohl die markantesten Veränderungen bei der Verarbeitung von Schrift im Gehirn während des Lesenlernens zu finden sind, entwickelt sich das Lesen und damit
9 Wichtige Vorläuferfertigkeiten des Lesens sind z. B. die Buchstabenkenntnis, die phonologische Bewusstheit und die Geschwindigkeit beim Nennen von einfachen Objekten (z. B. Buchstaben, Zahlen, Bilder).
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die Effizienz und Expertise im Laufe des Kindes- und Jugendalters laufend weiter (vgl. Brem u. a. 2006; Brown u. a. 2005; Schlaggar u. a. 2002). Dies kann anhand der Aktivität im Lesenetzwerk in fMRT-Studien beobachtet werden, welche Kinder, Jugendliche und Erwachsene bei Leseaufgaben vergleichen. Im linken Temporal- und Frontallappen erhöht sich die Aktivität mit Zunahme des Alters und somit der Expertise, während sie im rechten Temporal- und Okzipitallappen sinkt. Solche Veränderungen weisen darauf hin, dass sich die Strategien beim Lesen mit zunehmenden Fertigkeiten ändern (vgl. Brown u. a. 2005; Turkeltaub u. a. 2003).
5 Neurobiologie der Dyslexie Dyslexie (Legasthenie, Lese- und Rechtschreibstörung) ist eine Störung des Schriftspracherwerbs, die sich in fehlerhaftem oder verlangsamtem Lesen zeigt und häufig von fehlerhafter Rechtschreibung begleitet ist (vgl. Schulte-Körne 2007). Auch wenn verschiedene Ursachen diskutiert werden, gilt eine Schwäche in der phonologischen Verarbeitung als Kerndefizit der Dyslexie (vgl. Ramus u. a. 2003). Eine Dyslexie tritt in manchen Familien gehäuft auf, was auf eine genetische Komponente hindeutet (vgl. Schulte-Körne 2007). Bei einer Dyslexie zeigen sich Veränderungen auf neuronaler Ebene sowohl in der Hirnanatomie als auch in bestimmten Hirnfunktionen.
5.1 Strukturelle Veränderungen bei Dyslexie Mehrere Studien haben gezeigt, dass Kinder und Erwachsene mit Dyslexie in bestimmten Hirngebieten eine Verminderung der Grauen Substanz aufweisen. Zu diesen Gebieten gehören das ventrale okzipito-temporale Gebiet in der linken Hemisphäre sowie temporo-parietale Regionen und Gebiete des Cerebellums in beiden Hemisphären (vgl. Linkesdörfer u. a. 2012). Daneben finden sich Unterschiede in der Weißen Substanz, d. h. bei den Faserbündeln, die verschiedene Hirnregionen miteinander verbinden. Konsistent über verschiedene Studien hinweg zeigte sich, dass die Nervenfasern in einem links temporo-parietalen Gebiet reduziert waren (vgl. Vandermosten u. a. 2012). In diesem Gebiet verlaufen zwei verschiedene Faserbündel: Einerseits sind subkortikale Gebiete, wie der Thalamus, mit Regionen der Hirnrinde verbunden; andererseits werden verschiedene temporale, parietale und frontale Gebiete durch einen Fasertrakt vernetzt, die allesamt bei der Sprachverarbeitung eine Rolle spielen. Es wird vermutet, dass die verminderten Faserverbindungen mit den reduzierten phonologischen Fähigkeiten bei einer Dyslexie zusammenhängen (vgl. Vandermosten u. a. 2012).
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5.2 Räumliche Veränderung in der Wortverarbeitung bei Dyslexie Strukturelle Veränderungen im Gehirn können nur indirekt mit funktionellen Defiziten, wie einem phonologischen Defizit, in Zusammenhang gebracht werden. Dies gelingt besser, wenn Hirnfunktionen direkt untersucht werden können. Studien mit fMRT haben so neuronale Korrelate des phonologischen Defizits identifiziert. Wenn Kinder mit Dyslexie entscheiden sollen, ob sich die Namen von zwei Buchstaben (z. B. ›g‹ und ›p‹) reimen, weisen sie in einem temporo-parietalen Gebiet in der linken Hemisphäre eine vergleichsweise verminderte Aktivierung auf (vgl. Hoeft u. a. 2006). Diese Minderaktivierung tritt auch auf, wenn man die dyslexischen Kinder mit jüngeren Kindern vergleicht, die ihrem Alter entsprechend normal lesen, aber gleich viele Fehler machen wie die dyslexischen Kinder. Dies bedeutet, dass es sich bei der Minderaktivierung um ein neuronales Korrelat des phonologischen Defizits handelt und nicht mit langsamem und fehlerhaftem Lesen gleichzusetzen ist (vgl. Hoeft u. a. 2006). Beim Lesen selbst aber zeigt sich eine Dyslexie vor allem im ventralen okzipitotemporalen Kortex der linken Hemisphäre (vgl. Richlan u. a. 2009). Die geringere Aktivierung in diesem Gebiet tritt bei einer Dyslexie besonders dann auf, wenn die Wörter oder die Aufgaben die phonologische Verarbeitung beanspruchen (z. B. Unterscheiden zwischen vertrauten Wörtern und unvertrauten Pseudowörtern; vgl. van der Mark u. a. 2009). Zudem ist die Diskriminierung von Wörtern und schriftähnlichen Kontrollreizen beeinträchtigt (Maurer u. a. in Vorbereitung). Da die Verarbeitung in diesem Gebiet mit der orthographischen Verarbeitung zusammenhängt, also der visuellen Erscheinungsform der Wörter, deutet die Minderaktivierung darüber hinaus auf ein Defizit in der orthographischen Verarbeitung hin. Inwieweit dieses orthographische Defizit durch das phonologische Defizit mitbedingt ist, ist im Moment noch Gegenstand weiterer Untersuchungen. Die verminderte Aktivität in den ventralen okzipito-temporalen und den temporoparietalen Gebieten geht oft einher mit einer weiteren Minderaktivierung in frontalen Gebieten, die vermutlich ebenfalls in die phonologische Verarbeitung involviert sind (vgl. Richlan u. a. 2009). Daneben finden sich aber auch frontale Gebiete mit einer erhöhten Aktivierung, insbesondere Gebiete, die an der Artikulation beteiligt sind, was auf kompensatorische Strategien beim Lesen hindeutet (vgl. Richlan u. a. 2009).
5.3 Veränderung in der zeitlichen Verarbeitung von Wörtern bei Dyslexie Hinweise auf ein orthographisches Defizit bei der Dyslexie zeigt sich nicht nur in fMRT-Studien, sondern auch in EEG-Studien. So ist die Spezialisierung für Schrift, die bei normalen Lesern um etwa 150–250 ms nach Wortpräsentation auftritt, bei Kindern und Erwachsenen mit Dyslexie vermindert (vgl. Maurer u. a. 2007; Helenius u. a. 1999;
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siehe Abb 3). Quellenberechnungen zeigen, dass der Ort dieser mangelnden Spezialisierung im okzipito-temporalen Cortex liegt, in der Nähe des visuellen Wortform areals im vOT (vgl. Maurer u. a. 2007). Inwieweit auch bei dieser frühen orthographischen Verarbeitung bereits phonologische Aspekte, und im Falle der Dyslexie zudem phonologische Defizite, eine Rolle spielen, ist ebenfalls Gegenstand weiterer Untersuchungen. Auch wenn die Ergebnisse der ERP-Studien zu phonologischen Defiziten etwas weniger klar sind, scheinen sie zu bestätigen, dass solche Defizite um etwa 300– 400 ms nach Wortpräsentation zu Tage treten. So zeigen dyslexische Kinder mit phonologischen Defiziten nach etwa 300 ms einen geringeren Effekt des phonologischen Primings als normal lesende Kinder (vgl. McPherson u. a. 1998).
6 Zusammenfassung und Schlussfolgerung Die sprachdominante linke Hirnhälfte ist maßgeblich an der Verarbeitung von Schrift beteiligt. Flüssiges Lesen bedingt eine außerordentlich schnelle Verarbeitung der visuellen Information, welche über die Sehbahnen in den visuellen Kortex gelangt. Die weitere Verarbeitung findet in spezialisierten Regionen des Gehirns statt, wobei diese aber ständig miteinander kommunizieren und so ein funktionelles Netzwerk bilden. Diejenigen Regionen im ventralen okzipito-temporalen Kortex, welche später beim Lesen eine Schlüsselrolle einnehmen, übernehmen gewisse schriftspezifische Funktionen während des Lesenlernens. Zu diesem Zeitpunkt lernt das Gehirn, die abstrakten Ketten von graphischen Symbolen (geschriebene Wörter) mit bereits gespeicherten Sprach- und Wortlauten und schlussendlich dem Sinn zu verbinden. Es ist zu erwarten, dass technische und methodische Weiterentwicklungen in den Neurowissenschaften in Zukunft noch genauere Einblicke erlauben, wie Schrift und gesprochene Sprache im Gehirn verbunden werden. Während die allermeisten Kinder das Lesen ohne Probleme erlernen, zeigen einige Kinder dabei unerwartet große Schwierigkeiten. Bildgebende Methoden machen die Unterschiede in der Hirnfunktion und Hirnstruktur zwischen guten und schlechten Lesern sichtbar und geben Hinweise, welche Teilprozesse des Lesens beeinträchtigt sind. Unterschiede im Gehirn, die zum Teil schon bei Vorschulkindern und anhand ihrer Vorläuferfertigkeiten des Lesens zu beobachten sind, können möglicherweise in Zukunft wichtige Indizien zur Vorhersage der Leseentwicklung liefern.
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Markus Bader
2.1.2 Leseverstehen und Sprachverarbeitung Zusammenfassung: Erfolgreiches Leseverstehen setzt die automatische grammatische Analyse von Sätzen voraus. Die Erforschung der dabei ablaufenden mentalen Prozesse beruht im Wesentlichen auf zwei Phänomenen: syntaktischer Mehrdeutigkeit und syntaktischer Komplexität. Neuere linguistische Untersuchungen großer Korpora geschriebener Sprache erlauben einen Einblick in die Vielfalt, Häufigkeit und Komplexität der Strukturen, die beim Lesen erfolgreich analysiert werden müssen. Um die mentalen Prozesse der syntaktischen Analyse erfassen zu können, müssen Einsichten der Linguistik und der Kognitiven Psychologie zusammengebracht werden. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage, welchen Einfluss Kapazitätsbeschränkungen des menschlichen Arbeitsgedächtnisses auf die syntaktische Analyse beim Sprachverstehen haben. Abstract: Successful reading comprehension presupposes the automatic grammatical analysis of sentences. Two phenomena have been central for research into the mental processes of syntactic ana lysis: syntactic ambiguity and syntactic complexity. Recent linguistic investigations of large corpora of written language reveal the variability, frequency and complexity of the structures that must be successfully analysed during reading. In order to account for the mental processes of grammatical analysis, insights from linguistics and cognitive psychology must be combined. A major question in this regard is how capacity constraints of human working memory influence the processes of syntactic analysis during language comprehension.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 142 2 Lesen und Sprachverarbeitung im Kontext der modernen Linguistik — 144 3 Syntaktische Eigenschaften geschriebener Texte — 145 4 Syntaktische Ambiguitäten — 148 4.1 Das Garden-Path-Phänomen — 148 4.2 Die Auflösung syntaktischer Ambiguitäten — 149 4.3 Sprachübergreifende Untersuchungen — 150 4.4 Das Endprodukt der syntaktischen Verarbeitung — 151 5 Arbeitsgedächtnis und Satzkomplexität — 152 5.1 Zentraleinbettung — 152 5.2 Die Lokalität der syntaktischen Verarbeitung — 153 5.3 Antilokalität — 155 5.4 Individuelle Variation hinsichtlich der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses — 156 6 Sprachverstehen und Langzeitgedächtnis — 161 7 Lesen und Prosodie — 162 8 Ausblick — 164 9 Literatur — 165
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1 Einleitung Im Gegensatz zur gesprochenen Sprache nimmt die geschriebene Sprache innerhalb der theoretischen Linguistik eine untergeordnete Rolle ein. Der wichtigste Grund dafür ist, dass die gesprochene Sprache sowohl phylo- als auch onto-genetisch primär ist im Vergleich zur geschriebenen Sprache. Ganz anders sieht es aus, wenn man die psycholinguistische Forschung zum menschlichen Sprachverstehen betrachtet.1 Hier spielt das Verstehen geschriebener Sprache, das Lesen, eine mindestens ebenso große Rolle wie das Verstehen gesprochener Sprache. Für das Verstehen von sprachlichen Einheiten jenseits der Wortebene, d. h. für das Satzverstehen und das Textverstehen, lässt sich sogar ein deutliches Übergewicht von Studien zum Leseverstehen feststellen. Diese Dominanz der geschriebenen Sprache bei der Erforschung des menschlichen Sprachverstehens spiegelt zum einen den Stellenwert des Lesens in unserer Kultur wider. Noch wichtiger aber sind technische und methodische Gründe, die das Lesen zum präferierten Untersuchungsgegenstand einer experimentell orientierten Psycholinguistik gemacht haben. Für Lesestudien stehen verschiedene experimentelle Methoden zur Verfügung, die es erlauben, den Verarbeitungsaufwand kontinuierlich für jedes Wort eines fortlaufenden Texts zu messen. Die genaueste Messung erfolgt mittels des Einsatzes eines Blickbewegungsmessapparats (vgl. Rayner / Pollatsek 2006).2 Dasselbe lässt sich, wenn auch mit reduzierter Auflösung, durch die Methode des selbstbestimmten Lesens erreichen (vgl. Günther 1989). Hierbei lesen Versuchspersonen einen Text am Computer, wobei sie sich durch Tastendruck sukzessive die einzelnen Teile des Texts (z. B. Wörter oder Sätze) auf den Bildschirm holen. Da die Methode des selbstbestimmten Lesens nicht mehr erfordert als einen handelsüblichen Computer, ist sie trotz ihrer etwas eingeschränkten Genauigkeit eine der am häufigsten eingesetzten Methoden im Bereich der Sprachverstehensforschung. Für Studien zum auditiven Sprachverstehen existiert zwar eine analoge Methode des selbstbestimmten Hörens (vgl. Ferreira u. a. 1996). Diese Methode hat sich aber nie breiter etablieren können, was nicht zuletzt an einer gewissen Unnatürlichkeit liegt.3 Etwas Analoges zur Messung von Blickbewegungen gibt es im Bereich des auditiven Sprachverstehens gar nicht. Kontinuierliche Komplexitätsprofile für das
1 Vgl. Kap. 1.2 Kognitionspsychologische Ansätze sowie Kap. 2.1.3 Lesen als Sinnkonstruktion in diesem Band. 2 Vgl. Kap. 1.1 Ansätze der Kognitiven Neurowissenschaften sowie Kap. 2.1.1 Lesen als neurobiologischer Prozess in diesem Band. 3 Zusätzlich ist die Segmentierung im Falle der gesprochenen Sprache wesentlich aufwändiger als im Falle der geschriebenen Sprache. Einen geschriebenen Satz beispielsweise in Wörter zu segmentieren, ist auf der Basis von Leer- und Satzzeichen eine größtenteils triviale Aufgabe. Da die Wörter in der gesprochenen Sprache nicht in entsprechender Weise voneinander getrennt sind, ist ein exaktes Segmentieren gesprochener Sätze in Wörter nicht immer möglich.
2.1.2 Leseverstehen und Sprachverarbeitung
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Verstehen gesprochener Text lassen sich deshalb nicht erstellen, so dass es wesentlich schwieriger ist, zu gesicherten Erkenntnissen über den Verlauf des auditiven Sprachverstehens zu kommen.4 Experimentelle Studien zur Worterkennung sind fast immer explizit Studien zum auditiven oder zum visuellen Worterkennen. Experimentelle Studien zum Satz- oder Textverstehen untersuchen dagegen häufig ›Verstehen an sich‹, auch dann, wenn sie ausschließlich auf Methoden basieren, die das Lesen von Sätzen oder Texten involvieren. Solchen Studien liegt die implizite Annahme zugrunde, dass die höheren Prozesse des Sprachverstehens, die der Worterkennung folgen und die einzelnen Wörter zu größeren Einheiten zusammensetzen, im Wesentlichen über die Modalitäten hinweg identisch ablaufen. Dies kann aber durchaus nicht als ausgemacht gelten, da es eine Reihe von nicht-trivialen Unterschieden zwischen gesprochener und geschriebener Sprache gibt. Erstens ist die typische Verwendungsweise der gesprochenen Sprache der Dialog, während geschriebene Sprache typischerweise als Monolog verwendet wird. Zweitens fehlt der geschriebenen Sprache ein wesentliches Merkmal der gesprochenen Sprache, nämlich die Prosodie. Beim Lesen muss diese vom Leser selbst hinzugefügt werden. Die Zeichensetzung kann dabei zwar hilfreiche Hinweise liefern, sie bildet aber prosodische Eigenschaften nur partiell ab. Drittens zeichnen sich geschriebene Texte häufig durch eine größere Komplexität als gesprochene Texte aus, insbesondere in Form erhöhter syntaktischer Komplexität auf der Satzebene. Von diesen drei Unterschieden hat nur der zweite – das Fehlen der Prosodie in schriftlichen Texten – zu Forschungsliteratur in größerem Umfang geführt, während die anderen beiden Unterschiede nur sporadisch Beachtung gefunden haben. Für den folgenden Abriss der Forschung zum Thema Sprachverstehen und Sprachverarbeitung hat dies zur Konsequenz, dass die diskutierten Theorien Aussagen über Sprachverstehen unabhängig von der verwendeten Modalität machen, obwohl sie größtenteils auf der Evidenz aus Leseexperimenten beruhen. Lediglich bezüglich der Rolle der Prosodie beim Sprachverstehen wird der Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache explizit thematisiert werden. Der Schwerpunkt dieses Beitrags wird auf der grammatischen Analyse beim Sprachverstehen liegen, da dies den Kernbereich der sprachwissenschaftlich orientierten Leseforschung darstellt und da mit dem Beitrag Kognitionspsychologische Ansätze von Ursula Christmann andere Teilprozesse des Lesens bereits ausführlich diskutiert werden.5
4 Eine gewisse Abhilfe schafft hier die Messung elektrischer Aktivität im Gehirn durch sog. ereigniskorrelierte Potentiale (vgl. Kutas, Marta / Van Petten, Cyma K. / Kluender, Robert: Psycholinguistics electrified II (1994–2005). In: Matthew Traxler / Morton Gernsbacher (Hrsg.): Handbook of psycholinguistics. 2. Aufl. New York 2006, S. 659–724). 5 Vgl. Kap. 1.2 Kognitionspsychologische Ansätze in diesem Band.
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2 Lesen und Sprachverarbeitung im Kontext der modernen Linguistik Die moderne Linguistik hat ihren Ursprung in den Arbeiten von Noam Chomsky (Chomsky 1957), der in den 1950er Jahren die Generative Grammatik begründete. Diese war eine der maßgeblichen Kräfte, die zur sog. Kognitiven Revolution beitrugen (vgl. Gardner 1989). Die moderne Psycholinguistik entstand im selben Zeitraum (vgl. Miller / Chomsky 1963). Dabei stand zunächst die Frage nach der ›psychologischen Realität‹ des von der Generativen Grammatik postulierten sprachlichen Wissens im Vordergrund: Liefern Daten, die die Prozesse der Sprachverarbeitung (›Performanz‹) betreffen, Evidenz für die abstrakten Regeln und Strukturen, die unser sprachliches Wissen (›Kompetenz‹) ausmachen? Als Anfang der 1970er Jahre Bilanz gezogen wurde, ergab sich ein zwiespältiges Bild (vgl. Fodor u. a. 1974). Einerseits gab es zahlreiche Belege für die psychologische Realität der grammatischen Strukturen, die die Generative Grammatik postuliert hatte, andererseits erwies sich das zugrunde liegende Regelwerk, das diese Strukturen erzeugen sollte, als ungeeignet, was seine Anwendung in einem Modell der Sprachverarbeitung betrifft. Dieses Paradox – die postulierten Strukturen sind psychologisch real, nicht aber die Regeln, die die Strukturen erzeugen – führte zu unterschiedlichen Reaktionen. Eine Reihe von Autoren schlug vor, dass die Kompetenzgrammatik beim Sprachverstehen bestenfalls eine minimale Rolle spielt und stattdessen oberflächenorientierte Heuristiken (z. B. ›Die erste Nominalgruppe im Satz ist der Handelnde‹) sowie semantische Beschränkungen (z. B. ›Eine belebte Entität ist ein Handelnder‹) dazu benutzt werden, Sätzen ohne vorherige Berechnung einer syntaktischen Struktur eine Bedeutung zuzuordnen (vgl. Bever 1970).6 Allerdings vollzogen sich seit Anfang der 1970er Jahre auch wichtige Entwicklungen im Bereich der theoretischen Linguistik, die zu erheblichen Vereinfachungen des zugrunde gelegten Grammatikmodells führten (vgl. Chomsky 1973). Die neueren Modelle der Syntaxtheorie wurden bald auch in der Psycholinguistik aufgegriffen. Beginnend mit John Kimball (1973) wurden neue Modelle des menschlichen Sprachverstehens entwickelt, die sich zwar weiterhin stark an Konzepten der theoretischen Linguistik orientierten, die aber als ihr primäres Ziel nicht mehr den Nachweis der psychologischen Realität der Kompetenzgrammatik ansahen. In den Fokus des Inter esses rückte jetzt vielmehr die interne Arbeitsweise des menschlichen Sprachverstehenssystems. Statt zu fragen, ob die Kompetenzgrammatik psychologisch real ist, wurde jetzt gefragt, wie die Prozesse beschaffen sind, die das sprachliche Wissen, das in der Kom-
6 Eine moderne Version dieses Ansatzes bieten Townsend, David J. / Bever, Thomas G.: Sentence comprehension. The integration of habits and rules. Cambridge (Mass.) 2001.
2.1.2 Leseverstehen und Sprachverarbeitung
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petenzgrammatik spezifiziert ist, anwenden, um sprachliche Äußerungen in Echtzeit zu analysieren. Bezüglich der syntaktischen Analyse, dem sog. Parsen, etablierte sich zu dieser Zeit die Frage nach der Auflösung syntaktisch mehrdeutiger Sätze als eine für die folgende Forschung maßgebliche empirische Domäne. Eine für das Deutsche typische syntaktische Ambiguität wird in (1) gezeigt. (1) Das Halbfinale in der Champions League prägte Robert Lewandowski, […]7 Der Satz in (1) ist mehrdeutig, da die erste Nominalgruppe (›Das Halbfinale in der Champions League‹) das Subjekt und die zweite Nominalgruppe (›Robert Lewandowski‹) das Objekt sein könnte, aber ebenso gut könnte es auch andersherum sein. In Übereinstimmung mit experimentellen Befunden zum Verstehen derartiger SubjektObjekt-Ambiguitäten (vgl. mehrere Beiträge in Hemforth / Konieczny 2000) wird Satz (1) intuitiv so verstanden, dass die satzinitiale Nominalgruppe das Subjekt und die folgende Nominalgruppe das Objekt ist. Tatsächlich intendiert ist aber die umgekehrte Reihenfolge von Subjekt und Objekt. Die Frage, wie das menschliche Sprachverstehenssystem mit syntaktischen Ambi guitäten umgeht, hat in den 1980er und 1990er Jahren die psycholinguistische Forschung zur Satzverarbeitung stark dominiert. Dadurch trat eine Frage, die bereits in den Anfangstagen der modernen Psycholinguistik diskutiert worden war (vgl. Miller / Chomsky 1963), in dieser Zeit in den Hintergrund – die Frage, warum manche Sätze schwieriger zu verstehen sind als andere und warum bestimmte syntaktische Strukturen zu einer Überlastung der Sprachverstehensmechanismen führen. Die Frage nach der Verarbeitungskomplexität von Sätzen hat zwar vereinzelt immer wieder Inter esse auf sich gezogen (z. B. Frazier 1985), doch erst in den letzten 15 Jahren zu einer intensiven und kontinuierlichen Forschungstätigkeit geführt. Die beiden zentralen Fragen bezüglich der Analyse von Sätzen beim Lesen – wie werden syntaktische Ambiguitäten aufgelöst und was determiniert die Verarbeitungskomplexität von Sätzen – werden den Hauptteil der folgenden Ausführungen ausmachen. Zuvor gibt ein kurzer Exkurs in die Korpuslinguistik einen Einblick in besondere syntaktische Eigenschaften geschriebener Texte.
3 Syntaktische Eigenschaften geschriebener Texte Parallel zur Entwicklung der Computertechnik sind Korpora geschriebener und, in geringerem Maße, gesprochener Sprache als mehr oder weniger stark linguistisch aufbereitete digitale Textsammlungen in zunehmenden Maße verfügbar geworden
7 Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 25. April 2013.
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(vgl. Lemnitzer / Zinsmeister 2010). Dies hat zu einer Vielzahl von korpuslinguistischen Untersuchungen geführt, die gerade für die psycholinguistische Leseforschung von großem Interesse sind. Erstens geben derartige Studien einen Einblick in die tatsächliche Komplexität von geschriebenen Texten. Sie erlauben damit, besser abzuschätzen, inwieweit experimentell gewonnene Daten über das psycholinguistische Labor hinaus von Relevanz sind. Des Weiteren kann durch den Vergleich von experimentellen Ergebnissen und korpusbasierten Frequenzauszählungen überprüft werden, welche Rolle Frequenzeigenschaften bei der Sprachverarbeitung spielen. Im Bereich der Worterkennung ist schon seit langem bekannt, dass die Wortfrequenz mit der Lesegeschwindigkeit korreliert: Je häufiger ein Wort im aktuellen Sprachgebrauch vorkommt, umso schneller wird es gelesen (vgl. Coltheart u. a. 2001). Im Bereich der Satzverarbeitung war dagegen lange Zeit die vorherrschende Meinung, dass Entscheidungen – beispielsweise über die syntaktische Struktur eines Satzes – auf der Basis struktureller Eigenschaften getroffen werden, nicht auf der Basis von Frequenzeigenschaften. Mit Douglas Roland, Frederic Dick und Jeffrey L. Elman (2007) liegt für die englische Sprache ein breit angelegter Überblick über die syntaktischen Strukturen vor, die in psycholinguistischer Hinsicht von besonderem Interesse sind. Für die deutsche Sprache fehlt ein entsprechender Überblick, doch einzelne Teilbereiche der deutschen Syntax sind bereits Gegenstand intensiver korpuslinguistischer Untersuchungen gewesen. Im Zusammenhang mit den Prozessen der Sprachverarbeitung, die beim Lesen ablaufen, sind hier insbesondere zwei Bereiche zu nennen. Der erste betrifft die Abfolge der einzelnen Satzglieder, insbesondere die relative Abfolge von Subjekt und Objekt(en). In mehreren Korpusstudien wurde gezeigt, dass – wie zu erwarten – das Subjekt in den meisten Fällen dem Objekt vorangeht. Ein Satz wie der oben diskutierte mehrdeutige Satz (1), dessen intendierte Bedeutung der Abfolge Objekt vor Subjekt entspricht, ist folglich eher die Ausnahme. Eine einfache Regel wie ›Platziere das Subjekt vor dem Objekt‹ scheint den Regularitäten im Deutschen dennoch nicht gerecht zu werden. Vielmehr hat sich als ebenso wichtige Regel ergeben, dass belebte Satzglieder vor unbelebten Satzgliedern anzuordnen sind (vgl. Hoberg 1981; Bader / Häussler 2010). In den meisten Fällen ist, wie in Beispiel (2), das Subjekt belebt und das Objekt unbelebt. In solchen Fällen wird die Abfolge Subjekt vor Objekt in (2a) sehr stark präferiert, während die umgekehrte Abfolge Objekt vor Subjekt in (2b) weitaus weniger gebräuchlich ist. (2) a. Anscheinend hat der Gelehrte den Vortrag genossen. b. Anscheinend hat den Vortrag der Gelehrte genossen. In den selteneren Fällen, in denen das Subjekt unbelebt und das Objekt belebt ist wie in (3), drehen sich die Verhältnisse dagegen um. In diesen Fällen ist die bevorzugte Abfolge nicht mehr Subjekt vor Objekt wie in (3a), sondern Objekt vor Subjekt wie in (3b).
2.1.2 Leseverstehen und Sprachverarbeitung
147
(3) a. Anscheinend hat der Vortrag dem Gelehrten imponiert. b. Anscheinend hat dem Gelehrten der Vortrag imponiert. Zusätzlich zur Belebtheit von Subjekt und Objekt beeinflussen eine Reihe weiterer Faktoren, welche Abfolge im Einzelfall gewählt wird, insbesondere Agentivität, Definitheit und Satztyp. Des Weiteren spielt die Form von Subjekt und Objekt eine große Rolle. Sind sowohl Subjekt als auch Objekt volle lexikalische Nominalgruppen wie in den bisher betrachteten Beispielen, so treten Sätze mit Objekt-vor-Subjekt-Wortstellung mit einer Rate von ca. 5 % auf. Ist das Objekt aber ein Pronomen, so erhöht sich die Rate auf ca. 60 % (vgl. Kempen / Harbusch 2005). Ein zweiter Teilbereich der deutschen Syntax, zu dem sowohl korpus- als auch psycholinguistische Studien vorliegen, betrifft die Positionierung von Relativsätzen. Wie Beispiel (4) zeigt, gibt es zwei Positionen für einen Relativsatz: wie in (4a) unmittelbar nach dem Bezugsnomen und damit vor dem satzfinalen Verb oder wie in (4b) nach dem satzfinalen Verb, das damit Bezugsnomen und Relativsatz voneinander trennt. (4) a. Jemand hat das Buch, das Peter so gerne gelesen hätte, verstellt.
b. Jemand hat das Buch verstellt, das Peter so gerne gelesen hätte.
Wie durch die Linien in (4) illustriert wird, ist keine der beiden Stellungen optimal. In (4a) ist die Distanz zwischen Bezugsnomen und Relativsatz minimal (durchgezogene Linie). Dafür ist die Distanz zwischen Verb und Bezugsnomen, das ja das Objekt des Verbs ist, relativ groß (gestrichelte Linie). In (4b) dagegen ist die Distanz zwischen Bezugnomen und Verb minimal, dafür ist die Distanz zwischen Bezugsnomen und Relativsatz verlängert. Korpusstudien haben gezeigt, dass in schriftlichen Texten Relativsätze präferiert hinter dem Verb platziert werden, wenn Bezugsnomen und Relativsatz dadurch nur durch wenig Material voneinander getrennt werden (vgl. Hawkins 1994; Uszkoreit u. a. 1998). Sätze vom Typ (4b) sind damit viel häufiger in schriftlichen Texten anzutreffen als Sätze vom Typ (4a). Sobald aber die Distanz zwischen Bezugsnomen und Relativsatz durch Herausstellen nach rechts verlängert wird, dreht sich die Präferenz um. In Beispiel (5) wird deshalb die Stellungsvariante (5a) präferiert, da in der konkurrierenden Variante (5b) zu viel Material zwischen Bezugsnomen und Relativsatz steht. (5) a. Man hat das Buch, das Peter so gerne gelesen hätte, ins falsche Regal gestellt.
b. Man hat das Buch ins falsche Regal gestellt, das Peter so gerne gelesen hätte.
Da Sätze wie (4), in denen das Objekt direkt vor dem Verb steht, in schriftlichen Korpora deutlich überwiegen, folgt, dass, insgesamt betrachtet, die am häufigsten vorkommende Stellung eines Relativsatzes diejenige hinter dem satzfinalen Verb ist.
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Wie sich in den folgenden Abschnitten zeigen wird, waren die in diesem Abschnitt diskutierten syntaktischen Konstruktionen auch Gegenstand zahlreicher psycholinguistischer Untersuchungen des Lesens. Insbesondere für Sprachen außer dem Englischen sind aber erst wenige Konstruktionen das Ziel korpuslinguistischer Forschung gewesen, so dass in diesem Bereich noch viele Fragen offen sind.
4 Syntaktische Ambiguitäten 4.1 Das Garden-Path-Phänomen Wenn wir etwas lesen oder hören, stehen wir permanent vor der Aufgabe, Mehrdeutigkeiten aufzulösen. Dass dem so ist, ist uns in den allermeisten Fällen gar nicht bewusst. Liest man beispielsweise den Satz in (6), so wird man ihn mit großer Wahrscheinlichkeit so verstehen, dass ›die Mutter‹ das Subjekt und ›die Lehrerin‹ das Objekt ist. (6) Die Mutter informiert die Lehrerin. Anstatt mit Subjekt-Objekt-Abfolge kann der Satz aber auch mit Objekt-SubjektAbfolge verstanden werden, da feminine Nominalgruppen nicht zwischen Nominativ und Akkusativ unterscheiden. Im Falle maskuliner Nominalgruppen wäre dagegen keine Mehrdeutigkeit vorhanden (Der Vater informierte den Lehrer. vs. Den Vater informierte der Lehrer.). Sätze, die nur initial mehrdeutig sind, können dagegen zu bewusst wahrnehmbaren Schwierigkeiten führen. Liest man beispielsweise Satz (7), so stellt sich leicht der Eindruck ein, der Satz wäre ungrammatisch; statt ›die Lehrerin‹ müsse es ›der Lehrerin‹ heißen. (7) Peter hilft die Lehrerin. Dieser Satz ist aber nicht ungrammatisch, sondern hat eine syntaktische Struktur, in der ›Peter‹ das Dativobjekt und ›die Lehrerin‹ das Subjekt ist. Dass diese Möglichkeit existiert, wird klar, wenn man den Eigennamen ›Peter‹, der überhaupt nicht kasusmarkiert ist, durch eine kasusmarkierte Nominalgruppe ersetzt (Dem Schüler hilft die Lehrerin.). In Anlehnung an die englische Redewendung ›to lead someone down the gardenpath‹ (dt.: jemanden in die Irre führen) werden Sätze wie in (7) als ›Garden-Path-Sätze‹ bezeichnet. Solche Sätze führen den menschlichen Parser in die Irre, da sie zunächst eine Analyse nahe legen, die sich anschließend als falsch herausstellt. Syntaktisch mehrdeutige Sätze im Allgemeinen und ›Garden-Path-Sätze‹ im Speziellen haben seit den einflussreichen Arbeiten von John Kimball (1973) sowie Lyn Frazier und Janet D.
2.1.2 Leseverstehen und Sprachverarbeitung
149
Fodor (1978) als das wichtigste Werkzeug zur Erforschung des menschlichen Parsers gedient (vgl. Pickering / Van Gompel 2006). Als weiteres Beispiel wird in (8a) der wohl berühmteste ›Garden-Path-Satz‹ gezeigt (aus Bever 1970, S. 316). (8) a. The horse raced past the barn fell. a’. The horse that was raced past the barn fell. b. The horse raced past the barn and fell. Das Verb ›raced‹ wird präferiert als Hauptverb verstanden, so dass man erwartet, der Satz werde wie in (8b) zu Ende geführt. Tatsächlich ist ›raced‹ in (8a) aber ein Passivpartizip in einem reduzierten Relativsatz. Wird anstatt eines reduzierten dagegen ein vollständiger Relativsatz verwendet, wie in (8a’), wird die initiale Mehrdeutigkeit beseitigt und der resultierende Satz ist nicht länger schwer zu verstehen.
4.2 Die Auflösung syntaktischer Ambiguitäten Die wichtigste Frage, die mit Hilfe des ›Garden-Path-Phänomens‹ untersucht worden ist, betrifft das Zusammenspiel unterschiedlicher Informationstypen beim Sprachverstehen, insbesondere hinsichtlich der Rolle der Bedeutung für die syntaktische Analyse. Die erste Theorie, die zur Beantwortung dieser Frage ›Garden-Path-Sätze‹ untersucht hat und die dementsprechend auch unter dem Namen ›Garden-PathTheorie‹ bekannt geworden ist, stammt von Frazier und Keith Rayner (1982). Diese Theorie postuliert, dass syntaktische Mehrdeutigkeiten allein unter Bezug auf syntaktische Information aufgelöst werden, ohne Berücksichtigung der mit einem Satz verbundenen Bedeutung. Die Idee, dass die syntaktische Analyse beim Sprachverstehen ohne Rücksicht auf die Bedeutung stattfindet, ist allerdings höchst umstritten. Theorien, die eine Interaktion unterschiedlicher Informationstypen zulassen, sind die ›Referentielle Theorie‹ (vgl. Altmann / Steedman 1988) sowie die Theorie des ›beschränkungsbasierten Parsings‹ (vgl. MacDonald u. a. 1994; Tabor u. a. 1997). Letztere Theorie ist zugleich ein Beispiel für den erfahrungsbasierten Ansatz, der auf Vorschläge von Fernando Cuetos und Don C. Mitchell (1988) zurückgeht und der mittlerweile die Forschung zum Sprachverstehen dominiert. Entsprechend dem erfahrungsbasierten Ansatz entscheidet man sich im Falle eines mehrdeutigen Satzes stets für die Option, die einem zuvor schon am häufigsten begegnet ist. Der Beispielsatz in (8a) ist unter dieser Annahme deshalb ein ›Garden-Path-Satz‹, weil das Verb ›raced‹ viel häufiger in Hauptsätzen als in reduzierten Relativsätzen vorkommt. Ein neuerer erfahrungsbasierter Ansatz, der seinen Ursprung im Bereich der Computer- und Korpuslinguistik hat, ist die Theorie des erwartungsgeleiteten Par
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sings (vgl. Levy 2008). Entsprechend dieser Theorie lässt man sich beim Sprachverstehen von Erwartungen über den Rest des Satzes leiten. Diese Erwartungen werden auf der Grundlage der Häufigkeit unterschiedlicher sprachlicher Strukturen im Input geformt. Für Zwecke der Modellierung werden Erwartungen durch Korpusanalysen ermittelt. Experimentelle Evidenz für frequenzbasierte Erwartungen wurden für eine Reihe unterschiedlicher Konstruktionen gefunden (vgl. z. B. Lau u. a. 2006; Staub / Clifton 2006). Es gibt aber auch die gegenteilige Evidenz, die darauf hindeutet, dass in manchen Fällen syntaktische Kriterien wichtiger sind als frequenzbasierte Präferenzen (Staub u. a. 2006).
4.3 Sprachübergreifende Untersuchungen Im Gegensatz zur theoretischen Linguistik, deren Theorien auf der Untersuchung einer Vielzahl von Sprachen basieren, ist die Psycholinguistik stark auf die englische Sprache fokussiert. Zum größten Teil basieren Theorien darüber, wie Sätze verstanden werden, auf experimentellen Untersuchungen mit englischen Stimuli. Es ist aber nicht ausgemacht, dass die am Sprachverstehen beteiligten syntaktischen Prozesse über alle Einzelsprachen hinweg identisch funktionieren. Eine der wichtigsten Forschungsfragen ist deshalb, auf welche Weise Theorien, die ursprünglich auf der Basis des Englischen entwickelt wurden, auf andere Sprachen generalisiert werden können. Für eine Reihe anderer Sprachen liegen Untersuchungen zur syntaktischen Verarbeitung beim Sprachverstehen vor, darunter Japanisch (Mazuka / Nagai 1995), Italienisch (Vincenzi 1991), Spanisch (Cuetos / Mitchell 1988), Französisch (Pynte / Prieur 1996) und Hindi (Vasishth / Lewis 2006). Angesichts der Existenz von mehreren tausend Sprachen ist dies aber nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Deutsche ist eine der wenigen Sprachen (außer dem Englischen), für die eine relativ breite Forschungsliteratur existiert.8 Die größte Aufmerksamkeit haben dabei die beiden grammatischen Eigenschaften erhalten, die das Deutsche am stärk sten vom Englischen unterscheidet. Das ist zum einen die Wortstellungsfreiheit, die bereits oben anhand der Ambiguität zwischen Subjekt-Objekt- und Objekt-SubjektStruktur diskutiert worden ist (vgl. die Beispiele [1], [6] und [7]). Hierbei zeigt sich typischerweise eine Präferenz für die Subjekt-Objekt-Struktur. Zur Erklärung dieser Präferenz gibt es verschiedene Vorschläge (vgl. z. B. Bader / Bayer 2006; Bornkessel / Schlesewsky 2006, 2009). Umstritten ist insbesondere, inwieweit die gefundenen Präferenzen beim Verstehen durch Frequenzeigenschaften gesprochener und geschriebener Texte erklärt werden. Eine weitere Eigenschaft des Deutschen, die es vom Englischen unterscheidet, betrifft die Stellung des Verbs. Außer in einer Unterklasse von Hauptsätzen
8 Ein repräsentativer Überblick über die Literatur bis 2000 findet sich in Hemforth / Konieczny 2000.
2.1.2 Leseverstehen und Sprachverarbeitung
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steht das Hauptverb im Deutschen satzfinal, während es im Englischen zwischen Subjekt und Objekt steht. Verbspezifische Information wird deshalb im Englischen typischerweise früher verfügbar. Wie Beispiel (9) zeigt, kann dies für die korrekte Auflösung einer Ambiguität von entscheidender Bedeutung sein (vgl. Konieczny u. a. 1997). (9) a. Der Detektiv muss den Mann mit dem Fernglas belauschen. b. The detective has to eavesdrop the man with the binoculars. Welche Konsequenzen die finale Stellung des Verbs hat, ist umstritten. Shravan Vasishth u. a. (2010) argumentieren beispielsweise, dass dies in bestimmten Fällen zu unterschiedlichen Verarbeitungseffekten führt. Die Gegenposition wird von Markus Bader (1996) vertreten.
4.4 Das Endprodukt der syntaktischen Verarbeitung In der Literatur zur syntaktischen Verarbeitung beim Sprachverstehen wird normalerweise davon ausgegangen, dass beim Lesen oder Hören eines Satzes eine vollständige syntaktische Struktur erstellt wird, die dazu dient, die korrekte Bedeutung des Satzes zu berechnen. Im Falle von syntaktischer Ambiguität kann der Weg, der zur korrekten Bedeutung führt, zwar manchmal etwas steinig sein und auch ein Scheitern der gelegentlich notwendigen Korrekturprozesse ist nicht ausgeschlossen. Wenn die Analyse aber gelingt, dann – so die gängige Annahme – liefert sie auch das korrekte Ergebnis. Im Gegensatz zu dieser weitverbreiteten Annahme nimmt die Theorie des sog. good-enough parsing, die von Fernanda Ferreira und Kollegen entwickelt wurde, an, dass Sprachverstehen weitaus fehleranfälliger ist als gemeinhin gedacht (vgl. Bailey / Ferreira 2003). Eine schon seit längerem bekannte Illustration der Fehleranfälligkeit unserer Sprachverstehensprozesse liefert die folgende Frage. (10) How many animals of each kind did Moses take on the Ark? Wie Thomas D. Erickson und Mark E. Mattson (1981) gezeigt haben, beantworten Versuchspersonen diese Frage häufig mit ›zwei‹ anstatt mit ›keine‹, obwohl sie vor Beginn des Experiments darauf hingewiesen wurden, dass manche Fragen irreführend sein könnten. Dieses als ›Moses-Illusion‹ bekannt gewordene Phänomen deutet auf eine gewisse Oberflächlichkeit der aus dem Input gewonnenen Satzbedeutung hin. Ein ähnliches Phänomen, das allerdings entscheidend von der syntaktischen Struktur der Sätze abhängt, wird von Ferreira (2003) berichtet. Versuchspersonen mussten u. a. Fragen bezüglich unplausibler Sätze wie in (11) beantworten.
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(11) a. The man bit the dog. b. The dog was bitten by the man. Während es bei Aktivsätzen nur sehr selten zu Fehlern kam, wurden Fragen nach dem Urheber oder dem Betroffenen der Handlung relativ häufig falsch beantwortet, wenn der Satz im Passiv stand. Statt dem tatsächlichen Urheber (›the man‹) wurde der plausiblere Urheber (›the dog‹) genannt. Weitere unerwartete Effekte zeigten sich im Falle von ›Garden-Path-Sätzen‹ (vgl. Christiansen u. a. 2001). Bedeutungen, die bei der ersten Analyse von Sätzen berechnet worden waren, bestanden fort, auch wenn die erste Analyse verworfen und durch eine neue ersetzt werden musste. Ferreira und Kollegen ziehen aus derartigen Befunden den Schluss, dass Sprachverstehen vielfach nicht auf einer vollständigen syntaktischen Analyse beruht, sondern dass stattdessen einfache Heuristiken (›Die erste Nominalgruppe im Satz ist der Handelnde‹) benutzt werden, die in den meisten Fällen – und insbesondere für Sätze mit kanonischer Wortfolge (Aktivsätze) – für ein erfolgreiches Verstehen ausreichend sind.9 Als Fehlerquelle werden damit die Prozesse der Satzanalyse identifiziert. Genauso gut könnte es aber sein, dass Fehler erst dann auftreten, wenn zur Beantwortung der Frage eine Gedächtnisrepräsentation des Satzes konsultiert werden muss. Hier ist weitere Forschung notwendig, um zwischen den potenziellen Fehlerquellen unterscheiden zu können.
5 Arbeitsgedächtnis und Satzkomplexität 5.1 Zentraleinbettung Seit den Anfängen der modernen Psycholinguistik zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand die Frage auf der Tagesordnung, inwieweit syntaktische Eigenschaften von Sätzen die Komplexität der Sprachverarbeitung determinieren. Im Mittelpunkt des Interesses standen dabei insbesondere Sätze mit doppelter Zentraleinbettung. Ein Satz S2 ist in einen übergeordneten Satz S1 zentraleingebettet, wenn sich sowohl links als auch rechts von S2 Teile von S1 befinden. Das vermutlich berühmteste Beispiel dieser Art ist der folgende Satz von George A. Miller und Chomsky (1963, S. 286). (12) The rat the cat the dog chased killed ate the malt.
9 Wie in Abschnitt 2 diskutiert, wurden Heuristiken dieser Art bereits Anfang der 1970er Jahre postuliert.
2.1.2 Leseverstehen und Sprachverarbeitung
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Sätze mit zweifacher Zentraleinbettung sind relativ schwer zu verstehen. Verschiedentlich ist sogar die Ansicht vertreten worden, solche Sätze überstiegen die Kapazität der menschlichen Sprachverarbeitung. Korpusstudien haben aber gezeigt, dass Sätze dieser Komplexität schriftlich durchaus gelegentlich produziert werden, während sie in der mündlichen Sprachproduktion praktisch nicht vorkommen (vgl. Karlsson 2007). Ein authentisches deutsches Beispiel wird in (13) gezeigt.10 (13) Der Heimbeirat weist die Unterstellung, die Bewohner, die sich ein Glas Bier mittags wünschen, seien abhängig vom Bierkonsum, als grob diffamierend zurück.
5.2 Die Lokalität der syntaktischen Verarbeitung Im Laufe der psycholinguistischen Forschung wurden unterschiedliche Komplexitätsmetriken vorgeschlagen, mittels derer für jedes Wort eines Satzes berechnet werden kann, wie komplex die Verarbeitung momentan ist (z. B. Frazier 1985). Die derzeit einflussreichste Theorie der Satzkomplexität beim Sprachverstehen ist die ›Dependency Locality Theorie‹ (DLT) von Edward Gibson (2000). Die DLT ist eine Weiterentwicklung der ›Syntactic Prediction Locality Theory‹ (Gibson 1998), die maßgeblich dafür verantwortlich war, dass sich die Frage nach der Komplexität von Sätzen als gleichberechtigt neben der Frage nach der Auflösung syntaktischer Ambiguitäten etabliert hat. Eine Beobachtung, auf der diese Theorie basiert, betrifft Sätze mit doppelter Zentraleinbettung. Wie Beispiel (12) gezeigt hat, können solche Sätze so komplex sein, dass sie kaum noch zu verstehen sind. In der einschlägigen Literatur wurden aber mehrfach Beispiele angeführt, die zwar genau die gleiche komplexe syntaktische Struktur besitzen, die aber trotzdem wesentlich einfacher verstanden werden können. Ein solches Beispiel wird in (14) gezeigt (aus Bever 1974, S. 189). (14) The reporter [ everyone [ I met ] trusts ] said the president won’t resign yet. Wie experimentelle Untersuchungen gezeigt haben (vgl. Warren / Gibson 2002), ist der entscheidende Unterschied zwischen praktisch unverständlichen Sätzen wie in (12) und immer noch relativ leicht zu verstehenden Sätzen wie in (14) im am tiefsten eingebetteten Relativsatz zu finden. In (12) enthält dieser die definite Nominalgruppe ›the dog‹ als Subjekt, in (14) dagegen das Personalpronomen der ersten Person ›I‹. Definite Nominalgruppen und Personalpronomen der ersten Person unterscheiden sich hinsichtlich ihrer semantischen Komplexität. Für eine definite Nominalgruppe muss bestimmt werden, auf welche außersprachliche Entität sich die Nominalgruppe
10 Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 10. Juli 2014.
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bezieht. Diese außersprachliche Entität wird mental durch einen sog. Diskursreferenten repräsentiert. Für eine definite Nominalgruppe muss zunächst ein neuer ›Diskursreferent‹ postuliert werden und anschließend muss dieser mit einem bereits im vorangehenden Kontext eingeführten ›Diskursreferenten‹ gleichgesetzt werden. Für das Personalpronomen der ersten Person steht dagegen jederzeit der Sprecher bzw. Schreiber als ›Diskursreferent‹ zur Verfügung, das Postulieren eines neuen ›Diskursreferenten‹ entfällt in diesem Fall also. Aufbauend auf dieser Beobachtung postuliert die DLT das Konzept der Integrationskosten.11 Zur Illustration dieses Konzepts werden in (15) und (16) zwei Sätze von Tessa Warren und Gibson (2002) gezeigt. Satz (15) mit einem Personalpronomen der ersten Person im innersten Relativsatz ist leichter zu verstehen als Satz (16) mit einem Eigennamen an der entsprechenden Position. (15) The student who the professor who I collaborated with had advised copied the article. (16) The student who the professor who Jen collaborated with had advised copied the article. Wenn das Verb ›copied‹ gelesen wird, muss es in den zuvor eingelesenen Teil des Satzes integriert werden. Dabei ist das Verb mit seinem Subjekt ›the student‹ zu verbinden, was in (15) und (16) durch die Verbindungslinie zwischen ›the student‹ und ›copied‹ verdeutlicht wird. Die grundlegende Hypothese der DLT ist es, dass die Herstellung einer solchen Verbindung umso kostenintensiver ist, je größer die Distanz zwischen den zu verbindenden Elementen ist. Distanz heißt dabei aber nicht Anzahl an dazwischenliegenden Wörtern – diese ist ja in (15) und (16) identisch. Vielmehr wird Distanz mit der Komplexität der semantischen Verarbeitung gleichgesetzt, die in (16) größer ist als in (15), da, wie oben ausgeführt, die Interpretation eines Personalpronomens der ersten Person quasi kostenfrei ist, während die Interpretation eines Eigennamens ähnlich wie eine definite Nominalgruppe die Einführung eines neuen ›Diskursreferenten‹ erfordert und somit Kosten verursacht.
11 Zusätzlich zu den Integrationskosten postuliert die DLT Speicherkosten, die anfallen, wenn Strukturen im Arbeitsgedächtnis zwischengespeichert werden. Experimentelle Evidenz für die Unterscheidung von Integrations- und Speicherkosten liefern Chen, Evan / Gibson, Edward / Wolf, Florian: Online syntactic storage costs in sentence comprehension. In: Journal of memory and language 52 (2005), S. 144–169.
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5.3 Antilokalität Die DLT von Gibson beruht auf der lange Zeit breit akzeptierten Generalisierung, dass nicht-lokale Beziehungen zwischen Elementen das Verstehen von Sätzen erschwert. Die Gültigkeit dieser Generalisierung wurde durch den Antilokalitätseffekt erschüttert, den erstmals Lars Konieczny (2000) berichtete. Konieczny hat unter anderem Sätze wie die Folgenden in einem Lesezeitexperiment untersucht. (17) a. Er hat die Rose, die auffällig schön und farbenprächtig war, auf den Tisch gelegt, und ... b. Er hat die Rose auf den Tisch gelegt, die auffällig schön und farbenprächtig war, und ... Das Hauptergebnis dieses Experiments war, dass das satzfinale Verb (kursiv markiert) schneller gelesen wurde, wenn der Relativsatz (recte) vor dem Verb stand, als wenn der Relativsatz hinter dem Verb stand. Eine lokalitätsbasierte Theorie wie die DLT hätte genau das Gegenteil erwarten lassen, da bei interner Stellung des Relativsatzes die Distanz zwischen Subjekt und Objekt einerseits und Verb andererseits erheblich verlängert ist. Die am weitesten verbreitete Erklärung für diesen überraschenden Effekt postuliert, dass das Verb durch zusätzliches vorangehendes Material vorhersagbarer wird, was die anschließende Verarbeitung erleichtert. Zusätzliches Material kann die Vorhersagbarkeit auf zweierlei Weise erhöhen (vgl. Konieczny 2000; Vasishth / Lewis 2006; Levy 2008). Zum einen bleibt dadurch mehr Zeit, Vorhersagen zu formen, zum anderen können zusätzliche Hinweise die Genauigkeit der Vorhersagen erhöhen. Der Antilokalitätseffekt reiht sich damit ein in eine Entwicklung innerhalb der letzten ca. 15 Jahre, die dem Konzept der erwartungsgeleiteten Verarbeitung (vgl. Jurafsky 2003) eine zentrale Rolle beim Verstehen natürlicher Sprache zuweist. Wie Roger Levy und Frank Keller (2013) zeigen, schließt die Existenz von Antilokalitätseffekten nicht aus, dass in einer Sprache zugleich auch Lokalitätseffekte auftreten. Der Antilokalitätseffekt ist auch deshalb von besonderem theoretischen Interesse, weil er auf eine Diskrepanz zwischen Sprachproduktion und Sprachverstehen hinweist. Wie in Abschnitt 3 diskutiert wurde, haben korpuslinguistische Studien ergeben, dass Relativsätze präferiert hinter dem Verb in satzfinaler Position auftreten. Dies ist aber genau die Konfiguration, die beim Lesen zu längeren Lesezeiten für das Verb führt. Insofern der Antilokalitätseffekt bestätigt werden kann, gibt es also syntaktische Konfigurationen, die beim Schreiben bevorzugt werden, obwohl sie das Sprachverständnis erschweren. Dies steht im Widerspruch zu einer der wichtigsten Theorien zum Verhältnis von Kompetenzgrammatik und Sprachverarbeitung, der Effizienztheorie von John Hawkins (1994, 2004). Laut Hawkins (1994) werden in den Sprachen der Welt Wortabfolgen präferiert, die eine möglichst effiziente syntaktische Analyse ermöglichen. Dem Sprachproduzenten wird damit ein erhebliches Maß an Altruismus zugeschrieben, da angenom
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men wird, dass sich die Auswahl zwischen Wortstellungsalternativen bei der Sprachproduktion nach den Bedürfnissen des Sprachverstehens richtet. In Hawkins (2004) wird diese Position insofern abgeschwächt, als Sprachproduktion und Sprachverstehen als gleichberechtigte Determinanten der Wortstellungsvariation betrachtet werden. Der Antilokalitätseffekt ist mit keiner dieser beiden Positionen vereinbar. Vielmehr scheint in diesem Fall beim Schreiben Lokalität auch dann bevorzugt zu werden, wenn der Leseprozess durch Antilokalität erleichtert würde. Es scheint also, dass der Schreiber zuerst an sich denkt (vgl. auch Wasow 1997). Da es andererseits eine Vielzahl von Wortstellungsregularitäten gibt, bei denen Sprachproduktion und Sprachverstehen zu identischen Präferenzen führen, ist es eine offene Frage, welche theoretischen Konsequenzen aus der Existenz von Antilokalitätseffekten zu ziehen sind.
5.4 Individuelle Variation hinsichtlich der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses Die bislang vorgestellten Theorien der Satzkomplexität versuchen zu erklären, wieso sich unterschiedliche Satztypen hinsichtlich ihres Verarbeitungsaufwands voneinander unterscheiden. Typisch für solche Theorien ist, dass sie in der einen oder anderen Form auf Gedächtnisbeschränkungen rekurrieren, ohne dabei die zugrunde gelegten Annahmen hinsichtlich des menschlichen Gedächtnissystems genauer zu explizieren. Insbesondere wird davon abstrahiert, dass sich nicht nur Sätze hinsichtlich ihrer Komplexität unterscheiden, sondern auch, dass Leser unterschiedlich gut mit Komplexität umgehen können. Eine Theorie, die – im Gegensatz zum Großteil der psycholinguistischen Forschung – nicht darüber hinwegsieht, dass sich Leser in ihren individuellen Fähigkeiten unterscheiden, ist die von Marcel A. Just und Patricia A. Carpenter (1992) vorgeschlagene Kapazitätstheorie der Sprachverarbeitung. Neben der expliziten Modellierung des Zusammenhangs zwischen Arbeitsgedächtnis und Sprachverstehensprozessen war diese Theorie auch insofern wegweisend, als sie die Frage nach der Ursache individueller Unterschiede in der Lesefähigkeit als eine zen trale psycholinguistische Frage etabliert hat. Als Grundlage dafür diente der ›Lesespannen-Test‹, der von Meredyth Daneman und Carpenter (1980) entwickelt wurde. Dieser Test unterscheidet sich von einfacheren Gedächtnistests wie dem seriellen Listenlernen (z. B. Wiedergabe einer kurzen Ziffernfolge in der korrekten Reihenfolge) dahingehend, dass er eine Gedächtnisaufgabe mit einer Sprachverarbeitungsaufgabe kombiniert. Versuchspersonen müssen Sätze laut vorlesen und sich das jeweils letzte Wort jedes Satzes merken. Nach einer gewissen Anzahl von Sätzen muss die Versuchsperson die gesamte Liste der satzfinalen Wörter in der korrekten Reihenfolge reproduzieren. In der Originalversion des Tests wurden zunächst dreimal hintereinander zwei Sätze präsentiert, dann dreimal drei Sätze, usw., bis eine Versuchsperson bei allen drei Durchgängen für eine ge
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gebene Satzmenge Fehler gemacht hat. Die Lesespanne einer Versuchsperson wurde anschließend definiert als die größte Satzmenge, für die zwei der drei Durchgänge fehlerfrei waren. Die Versuchspersonen von Daneman und Carpenter (1980) erreichten Lesespannen von 2 bis 5. Zusätzlich zum Lesespannen-Test mussten die Versuchspersonen mehrere Lesetests absolvieren, die das Lesesinnverständnis messen, sowie einen traditionellen Gedächtnistest, der das Merken von kurzen Wortlisten ohne weitere Zusatzaufgabe erforderte. Die Ergebnisse des Experiments zeigten starke und signifikante Korrelationen zwischen den Werten des Lesespannen-Tests und den Werten der Lesetests, aber nur schwache und nicht-signifikante Korrelationen zwischen Werten des einfachen Wortlistentests und den Werten der Lesetests. Daraus haben Daneman und Carpenter (1980) geschlossen, dass der Lesespannen-Test ein geeignetes Instrumentarium darstellt, um die individuelle Kapazität der Sprachverarbeitungsprozesse zu messen. Der Lesespannen-Test hat eine Vielzahl von weiteren Untersuchungen zu individuellen Unterschieden beim Lesen nach sich gezogen.12 Von besonderer Bedeutung für die weitere Forschung war eine Studie von Jonathan King und Just (1991), in der Versuchspersonen Sätze mit eingebetteten Relativsätzen wie in (18) lesen mussten. (18) a. The reporter [that attacked the senator] admitted the error. b. The reporter [that the senator attacked] admitted the error. Wie andere Studien zum Verstehen von Relativsätzen im Englischen (vgl. Überblick in Gordon / Lowder 2012) fanden auch King und Just, dass Sätze wie in (18b), wo das Relativpronomen dem Objekt entspricht, schwieriger zu verstehen sind als Sätze wie in (18a), wo das Relativpronomen dem Subjekt entspricht. Zusätzlich fanden King und Just aber auch eine Interaktion zwischen syntaktischer Struktur und der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses. Mittels des oben beschriebenen Lesespannen-Tests von Daneman und Carpenter (1980) wurden die Versuchspersonen eingeteilt in eine Gruppe mit niedriger und eine Gruppe mit hoher Lesespanne. Für die Gruppe mit niedriger Lesespanne waren die Lesezeiten generell erhöht im Vergleich zur Gruppe mit hoher Lesespanne. Dabei gab es einen erheblichen Unterschied zwischen den beiden Arten von Relativsätzen. Während für die syntaktisch einfacheren Subjektsrelativsätze nur ein moderater Lesezeitnachteil für die Versuchspersonengruppe mit
12 Der von Daneman / Carpenter 1980 entwickelte Lesespannen-Test ist später generalisiert worden zu einer ganzen Familie von Tests, die sich durch eine Kombination von Gedächtnis- und Verarbeitungsleistung auszeichnen, wobei das Arbeitsgedächtnis in ganz unterschiedlichen Domänen (z. B. Rechnen, räumliche Vorstellung) getestet wird. Einen Überblick über Tests dieser Art geben Conway, Andrew R. / Kane, Michael J. / Bunting, Michael F. / Hambrick, David Zach / Wilhelm, Oliver / Engle, Randall W.: Working memory span tasks. A methodological review and user’s guide. In: Psychonomic bulletin & review 12 (2005), Heft 5, S. 769–786.
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niedriger Lesespanne zu beobachten war, zeigte sich für die syntaktisch komplexeren Sätze ein ziemlich massiver Nachteil. Auf der Grundlage von Studien wie der von King und Just (1991) haben Just und Carpenter (1992) die sog. Kapazitätstheorie als eine umfassende Theorie des menschlichen Sprachverstehens vorgeschlagen. Die zentrale Annahme dieser Theorie besagt, dass jedem Menschen ein bestimmter Pool von Ressourcen für das Verstehen von Sprache zur Verfügung steht. Diese Ressourcen werden für zwei Aufgaben benötigt: zum einen für das Ausführen der verschiedenen Operationen, die den sprachlichen Input analysieren, und zum anderen für das Zwischenspeichern der Strukturen, die durch die Analyseoperationen sukzessive aufgebaut werden. Die für die Zwecke des Sprachverstehens zur Verfügung stehenden Ressourcen variieren laut Kapazitätstheorie von Individuum zu Individuum. Zur Erfassung dieser Art der individuellen Variation gilt der Lesespannen-Test als besonders geeignet, da er, im Gegensatz zum einfachen Listenlernen, erhöhte Anforderungen sowohl hinsichtlich der Verarbeitung als auch hinsichtlich des Speicherns sprachlichen Materials stellt. Wie Just und Carpenter mit Hilfe von Computersimulationen nachgewiesen haben, ist die Kapazitätstheorie des Sprachverstehens in der Lage, einige grundlegende Befunde hinsichtlich des Unterschiedes zwischen guten und weniger guten Lesern zu modellieren. Dies gilt insbesondere für das Muster, das sich bereits in der Studie von King und Just (1991) gezeigt hat. Für weniger komplexe Sätze zeigen sich nur geringe Unterschiede in Abhängigkeit von der Lesefähigkeit (operationalisiert als Lesespanne). Für komplexe Sätze gehen die Verstehensleistungen guter und weniger guter Leser dagegen deutlich auseinander. Dieses Muster wird von der Kapazitätstheorie wie folgt erklärt. Sowohl gute als auch weniger gute Leser verfügen über die Kapazität, die zur erfolgreichen Verarbeitung von weniger komplexen Sätzen notwendig ist. Für solche Sätze zeigen sich deshalb bestenfalls geringfügige Unterschiede. Komplexe Sätze dagegen überschreiten die Kapazität weniger guter Leser, während gute Leser auch für solche Sätze über ausreichend Kapazität verfügen. Für komplexe Sätze zeigen sich deshalb substanzielle Effekte in Abhängigkeit von der Lesefähigkeit. Die Kapazitätstheorie von Just und Carpenter (1992) ist von verschiedener Seite stark kritisiert worden. David Caplan und Gloria Waters (1999) wenden sich insbesondere gegen die Annahme, dass der Lesespannen-Test eine Kapazität misst, die dem Sprachverstehenssystem als Ganzem zur Verfügung steht. Stattdessen postulieren Caplan und Waters (1999), dass das Sprachverstehen zwei Arten von Prozessen involviert. ›Interpretative Prozesse‹ umfassen die syntaktische Analyse sowie die Berechnung der wörtlichen Bedeutung eines Satzes. Diese Prozesse laufen völlig automatisch und ohne jegliche bewusste Kontrolle ab. ›Post-interpretative Prozesse‹ setzen am Ergebnis der interpretativen Prozesse an und reichern dieses um kontextabhängige, nicht-wörtliche Bedeutungselemente an. Im Gegensatz zu interpretativen Prozessen werden post-interpretative Prozesse als der bewussten Kontrolle zugänglich angesehen.
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Laut Caplan und Waters (1999) verfügen die interpretativen und die post-interpretativen Prozesse über je eigene Gedächtnisressourcen. Individuell variierende Kapazitätsunterschiede betreffen primär die nicht-automatischen post-interpretativen Prozesse, und diese sind es auch, die dem Lesespannen-Test zugrunde liegen. Um ihre These der selektiven Kapazitäten zu stützen, haben Caplan, Waters und Kollegen eine Vielzahl von Experimenten durchgeführt, sowohl mit sprachgesunden Probanden als auch mit Probanden, die aufgrund von Gehirnläsionen an Sprachstörungen leiden (vgl. Überblick in Caplan / Waters 2013). Dabei hat sich wiederholt gezeigt, dass syntaktische Verstehensleistungen nicht oder wenig mit den Werten korrelieren, die Versuchspersonen im Lesespannen-Test erzielen (vgl. aber Daneman / Merikle 1996). Eine weitaus fundamentalere Kritik, die nicht nur die Kapazitätstheorie von Just und Carpenter (1992) selbst betrifft, sondern auch die Theorie von Caplan und Waters (1999), stammt von Maryellen C. MacDonald und Morton H. Christiansen (2002). MacDonald und Christiansen nehmen die Kritik von David Navon (1984) am Konzept der Gedächtniskapazität als Ausgangspunkt für ihre eigene Theorie. In Übereinstimmung mit Navon verwerfen MacDonald und Christiansen das Konzept der Kapazität, da es theoretisch leer sei. Individuelle Unterschiede bezüglich der Lesefähigkeit werden stattdessen im Wesentlichen darauf zurückgeführt, dass Leser mehr oder weniger viel lesen. Mit dieser Hypothese wird der erfahrungsbasierte Ansatz, der bereits im Zusammenhang mit der Ambiguitätsauflösung diskutiert wurde, auf den Bereich der Satzkomplexität und der individuellen Unterschiede erweitert. Gute Leser sind entsprechend des erfahrungsbasierten Ansatzes Leser, die viel lesen, während weniger gute Leser wenig lesen. Ein zusätzlicher Faktor, der nicht erfahrungsabhängig, sondern biologisch determiniert sein soll, betrifft die Qualität der phonologischen Repräsentationen. Gute Leser zeichnen sich gegenüber weniger guten Lesern dadurch aus, dass sie über differenziertere phonologische Repräsentationen und ein hohes Maß an phonologischer Bewusstheit verfügen. Mit dieser Annahme folgen MacDonald und Christiansen allgemein akzeptierten Einsichten der Leseerwerbsforschung (vgl. z. B. Ziegler / Goswami 2005). MacDonald und Christiansen (2002) untermauern ihre Theorie der erfahrungsbasierten individuellen Unterschiede durch konnektionistische Simulationen, die nachweisen sollen, dass experimentelle Befunde wie die oben diskutierten Ergebnisse von King und Just (1991) auf die schiere Menge an Leseerfahrung zurückgeführt werden können. Zwischenzeitlich liegt auch direkte experimentelle Evidenz für den erfahrungsbasierten Ansatz vor. In einer Langzeitstudie konnten Justine B. Wells u. a. (2009) zeigen, dass die Verarbeitungsschwierigkeiten, die mit Objektsrelativsätzen wie in (18b) verbunden sind, deutlich kleiner werden, wenn Versuchspersonen über einen längeren Zeitraum hinweg wiederholt Sätze dieses Typs lesen. Die Kritik von MacDonald und Christiansen (2002) an kapazitätsbasierten Theo rien ist nicht unwidersprochen geblieben (vgl. Just / Sashank 2002; Caplan / Waters 1999). Die Frage, was gute von weniger guten Lesern unterscheidet, ist weiterhin Gegenstand intensiver Debatten (vgl. z. B. Acheson / MacDonald 2009; Caplan / Waters
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2013). Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass immer noch kontrovers diskutiert wird, wieso die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses überhaupt so drastisch beschränkt ist. Für den Befund, dass nur eine relativ geringe Menge an Information im Arbeitsgedächtnis gehalten werden kann, werden im Wesentlichen zwei Mechanismen verantwortlich gemacht. Dies ist zum einen der spontane Zerfall von Gedächtnisspuren über die Zeit hinweg und zum zweiten die gegenseitige Überlagerung von Gedächtnisspuren durch Interferenz. Die bekannteste Theorie des Arbeitsgedächtnisses – das Mehrkomponenten-Modell von Alan D. Baddeley (vgl. z. B. Baddeley 1986) – postuliert beide Mechanismen als Ursache für das schnelle Vergessen von Information. Der spontane Zerfall von Gedächtnisspuren wird dafür verantwortlich gemacht, dass im Falle von Wort- und Zahlenlisten Elemente, die länger als ca. 2–3 Sekunden zurückliegen, nicht mehr zuverlässig erinnert werden (außer sie wurden durch internes Nachsprechen aufgefrischt). Interferenz wird als Erklärung dafür herangezogen, dass Wortlisten, die aus ähnlich klingenden Elementen bestehen, schlechter zu merken sind als Wortlisten, die aus lautlich distinktiven Elementen bestehen. In der Kognitiven Psychologie (vgl. z. B. Lewandowsky u. a. 2004) hat sich in letzter Zeit mehr und mehr die Ansicht durchgesetzt, dass das kurzfristige Vergessen von Information primär durch Interferenz verursacht wird. Ein typischer Befund, der diese Ansicht stützt, stammt von Peter C. Gordon, Randall Hendrick und Marcus Johnson (2001). Wie bereits oben diskutiert wurde, führen Relativsätze im Englischen zu erhöhter Verarbeitungskomplexität, wenn das Relativpronomen das Objekt des Relativsatzes ist. Wie Gordon, Hendrick und Johnson (2001) zeigen, variiert der genaue Komplexitätsgrad solcher Sätze in Abhängigkeit von der Ähnlichkeit der beteiligten Satzglieder. So ist beispielsweise Satz (19b) einfacher zu verstehen als Satz (19a). (19) a. The banker who the barber praised climbed the mountain. b. The banker who Ben praised climbed the mountain. Der schwieriger zu verstehende Satz (19a) enthält zwei sehr ähnliche Nominalgruppen, die beide aus einem Artikel und einem belebten Nomen bestehen (›the banker‹, ›the barber‹). In dem einfacher zu verstehenden Satz (19b) wurde die zweite Nominalgruppe durch einen Eigennamen (›Ben‹) ersetzt, was die Ähnlichkeit der beiden Nominalgruppen reduziert. Welche Konsequenzen aus Befunden dieser Art zu ziehen sind, ist momentan Gegenstand intensiver Debatten (vgl. Van Dyke / Johns 2012). Fortschritte sind hier insbesondere durch formal spezifizierte Computersimulationen zu erwarten. Beispiele hierfür sind das konnektionische Modell von MacDonald und Christiansen (2002) und das Modell von Richard Lewis und Vasishth (2005), das im Rahmen des kognitionspsychologischen ACT-R-Modells (vgl. Anderson u. a. 2004) spezifiziert wurde.
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6 Sprachverstehen und Langzeitgedächtnis Zu diskutieren bleibt noch die Frage, was man sich eigentlich merkt, wenn man einen Satz gelesen hat. Lange Zeit war hierzu die Standardsicht (vgl. z. B. Fletcher 1994; Kintsch u. a. 1990), dass die Oberflächenform eines Satzes nur für kurze Zeit im Gedächtnis behalten wird. Dies ermöglicht die wortwörtliche Wiedergabe von Sätzen, wenn zwischen Lesen und Wiedergabe keine oder nur eine minimale Verzögerung besteht. Längerfristig dagegen wird nur die Bedeutung von Sätzen gespeichert. Dies hat den Effekt, dass Sätze bei späterer Wiedergabe paraphrasiert und nicht mehr wortwörtlich wiedergegeben werden. Diese Standardsicht – kurzfristige Wiedergabe auf der Basis der Oberflächenform, langfristige Wiedergabe auf der Basis der Bedeutung – hat sich in beiden Richtungen als zu vereinfacht herausgestellt. In einer Reihe von Veröffentlichungen haben Mary C. Potter und Linda Lombardi (Potter / Lombardi 1990; Lombardi / Potter 1992) dafür argumentiert, dass Sätze stets auf der Grundlage ihrer Bedeutung reproduziert werden, unabhängig davon, wie viel Zeit zwischen Lesen und Reproduzieren vergangen ist. Dass bei kurzfristiger Wiedergabe dennoch eine wortwörtliche Reproduktion möglich ist, solange die Sätze nicht allzu komplex sind, erklären Potter und Lombardi dadurch, dass sich direkt nach Verstehen eines Satzes die einzelnen Wörter in einem Zustand erhöhter Aktivierung befinden. Deshalb werden bevorzugt dieselben Wörter benutzt, wenn der Satz ausgehend von der Bedeutung noch einmal generiert werden muss, so dass mit hoher Wahrscheinlichkeit die Wiedergabe in wortwörtlicher Form erfolgt. Normalerweise werden aber nicht nur dieselben Wörter bei der Reproduktion eines Satzes verwendet, sondern auch die gleiche syntaktische Form, auch wenn ein und dieselbe Bedeutung unterschiedlich ausgedrückt werden kann (z. B. Peter gave Mary the book. vs. Peter gave the book to Mary.). Deshalb gehen Potter und Lombardi zusätzlich davon aus, dass sich ähnlich wie Wörter auch syntaktische Regeln nach dem Lesen eines Satzes in einem erhöhten Aktivierungszustand befinden. Bei der Reproduktion eines Satzes werden diese Regeln präferiert noch einmal benutzt, so dass der Satz nicht nur dem Sinn, sondern auch der Form nach mit dem Originalsatz übereinstimmt. Die Annahme, dass oberflächliche Eigenschaften von Sätzen, und insbesondere ihre phonologische Repräsentation, keine Rolle bei der kurzfristigen Speicherung von Sätzen spielen, kann durch neuere Befunde allerdings als widerlegt gelten. So haben beispielsweise Judith Schweppe und Ralf Rummer (2007) gezeigt, dass die phonologische Ähnlichkeit einen entscheidenden Einfluss darauf hat, ob bei der Wiedergabe eines Satzes aus dem Kurzzeitgedächtnis Wörter irrtümlicherweise durch Wörter mit ähnlicher Bedeutung ersetzt werden. Dies kann nur dadurch erklärt werden, dass eben nicht nur die Bedeutung eines Satzes gespeichert wird, sondern auch seine phonologische Form für eine gewisse Zeit im Gedächtnis verfügbar bleibt. Auch die Annahme, dass Oberflächeneigenschaften von Sätzen nur für eine sehr kurze Zeitspanne im Gedächtnis behalten werden – außer in speziellen Fällen wie
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beispielsweise Werbeslogans –, ist in letzter Zeit in Frage gestellt worden. So zeigen Experimente von Olga Gurevich, Matthew A. Johnson und Adele E. Goldberg (2010), dass Oberflächeneigenschaften wie beispielsweise die Abfolge von Satzgliedern die Reproduktion von Sätzen beeinflussen, auch wenn mehrere Tage zwischen Lesen eines Texts und seiner Wiedergabe liegen und die Versuchspersonen nicht instruiert wurden, speziell auf Oberflächeneigenschaften zu achten.
7 Lesen und Prosodie Wenn wir etwas lesen, haben wir häufig den Eindruck, das Gelesene auch zu hören. Das Umgekehrte gilt dagegen nicht. Wenn wir einen sprachlichen Ausdruck hören, haben wir nicht den Eindruck, das Gehörte auch zu sehen. Diese Asymmetrie zwischen dem Verstehen geschriebener und dem Verstehen gesprochener Sprache belegt eindrucksvoll die Abhängigkeit der geschriebenen von der gesprochenen Sprache. Insbesondere zeigt die Existenz der sog. inneren Stimme beim Lesen, dass Lesen keine rein visuelle Angelegenheit ist. Die lautsprachliche Verankerung der menschlichen Sprachfähigkeit scheint derart stark zu sein, dass wir beim Lesen den fehlenden akustischen Input kompensieren, indem wir auf Grundlage des orthographischen Inputs eine interne auditive Repräsentation – die ›innere Stimme‹ – erzeugen. Die dabei ablaufenden Prozesse bezeichnet man als phonologische Recodierung. Die größte Aufmerksamkeit hat die Frage, welche Rolle phonologische Repräsentationen beim Lesen spielen, im Bereich der Worterkennung erhalten. Es gibt zwei grundlegende Strategien, um von einem geschriebenen Wort zum lexikalischen Eintrag zu gelangen, der mit dem Wort im mentalen Lexikon assoziiert ist. Erstens kann beim Lesen der Zugriff ins mentale Lexikon direkt mittels eines orthographischen Codes erfolgen und zweitens indirekt über einen dazwischengeschalteten phonologischen Code. Dieser phonologische Code wird vom orthographischen Input abgeleitet, indem reguläre Beziehungen zwischen Orthographie und Phonologie ausgenutzt werden. In den letzten Jahren hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass beim geübten Lesen stets beide Strategien – direkter und indirekter Zugriff – zum Einsatz kommen (vgl. z. B. Coltheart u. a. 2001). Auf der Ebene des Worts wird die Zuweisung einer phonologischen Repräsentation an einen orthographischen Input dadurch erleichtert, dass es nur wenige Wörter gibt, die trotz identischer Schreibweise unterschiedlich ausgesprochen werden (z. B. TEnor vs. TenOR, UMfahren vs. umFAHren).13
13 In Sprachen, in denen die Beziehung zwischen Orthographie und Aussprache weniger regulär ist, wie insbesondere im Englischen, gibt es zwar eine größere Zahl solcher Fälle von unterschiedlicher Aussprache bei gleicher Schreibweise, aber auch hier ist der prozentuale Anteil vergleichsweise gering. Konsequenzen dieser Art von Ambiguität für das Lesen werden untersucht in Duffy, Susan A. /
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Auf der Ebene ganzer Sätze dagegen besteht das grundsätzliche Problem, dass die Hervorhebung bestimmter Teile eines Satzes durch das Mittel der Betonung in der Regel orthographisch nicht markiert wird. Ein Beispiel, das dieses Problem besonders prägnant illustriert, wird in (20) gezeigt.14 (20) Keiner gibt mehr Kindern ein Zuhause. In Abhängigkeit von der Betonung bedeutet dieser Satz ganz Unterschiedliches. Trägt das Wort ›mehr‹ die Hauptbetonung im Satz, kann die Bedeutung von (20) paraphrasiert werden als ›Kindern gibt keiner mehr ein Zuhause‹. Bleibt ›mehr‹ dagegen unbetont und ›Zuhause‹ trägt stattdessen die Hauptbetonung, ergibt sich als Bedeutung ›Mehr Kindern gibt keiner ein Zuhause‹. Eine experimentelle Untersuchung dieser Ambiguität findet sich bei Gerrit Kentner (2012). Ein derart offensichtlicher Zusammenhang zwischen Betonung und Bedeutung wie in (20) stellt eher die Ausnahme dar. Dass die implizite Betonung, die wir beim Lesen zuweisen, aber auch in weniger offensichtlichen Fällen unser Verstehen beeinflusst, ist in zahlreichen Experimenten nachgewiesen worden (vgl. z. B. Bader 1996; Fodor 1998; Stolterfoht u. a. 2007). Beispielhaft sei hier auf Befunde von Britta Stolterfoht und Kollegen (2007) verwiesen. Solange kein spezieller Kontext vorangeht, wird in einem Satz wie (21) aufgrund der Betonungsregeln des Deutschen dem Nomen direkt vor dem Verb (›Schüler‹) die Hauptbetonung zugewiesen. (21) Am Dienstag hat der Direktor den Schüler getadelt. Liest man den Satz mit dieser Betonung, hat man anschließend keine Probleme, wenn, wie in (22a), der Satz so fortgeführt wird, dass ein Kontrast zu dem zuvor betonten Wort hergestellt wird. Gibt es im Anschluss dagegen einen Kontrast zu dem vorangehenden Wort ›Direktor‹, wie in (22b), muss die ursprüngliche Betonung von ›Schüler‹ zugunsten der Betonung von ›Direktor‹ revidiert werden. (22) a. Am Dienstag hat [der Direktor] [den SCHÜLER] getadelt, und nicht [den LEHRER]. b. Am Dienstag hat [der DIREKTOR] [den Schüler] getadelt, und nicht [der LEHRER].
Morris, Robin K. / Rayner, Keith: Lexical ambiguity and fixation times in reading. In: Journal of memory and language 27 (1988), S. 429–446. 14 Beispiele dieses Typs wurden in den 1990er Jahren als Werbeslogans einer Bausparkasse verwendet.
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Markus Bader
Wie Stolterfoht u. a. (2007) zeigen, führt die Revision der Betonung, die beim Lesen von Sätzen wie (22b) notwendig wird, zu experimentell nachweisbaren Verarbeitungsschwierigkeiten. Dies ist ein klarer Beleg dafür, dass die einem Satz implizit zugewiesene Prosodie das Verständnis des Satzes beeinflussen kann. Abschließend bleibt noch die Frage, welche Funktion die implizite Prosodie beim Lesen hat. Wäre es angesichts der Schwierigkeiten, die durch das Fehlen prosodischer Markierungen in der Orthographie entstehen können, nicht besser, beim Lesen einfach auf die innere Stimme zu verzichten? Zum einen scheint dies nur sehr schwer möglich zu sein. Wie beispielsweise Experimente von Guy C. van Orden (1987) zeigen, läuft die phonologische Recodierung, d. h. die Assoziation von schriftlich präsentiertem Material mit phonologischen Repräsentationen, völlig automatisch ab, auch dann, wenn dies zu erhöhten Fehlerraten führt. Zum anderen ist argumentiert worden, dass gelegentliche Verstehensprobleme aufgrund von mehrdeutigen phonologischen Repräsentationen durch positive Effekte der phonologischen Recodierung mehr als aufgewogen werden. Ein Vorteil der phonologischen Recodierung scheint zu sein, dass das Gelesene dadurch in den phonologischen Speicher gelangt, der das wichtigste System für das Speichern verbaler Information im MehrkomponentenModell von Baddeley (1986) ist. Noch wichtiger aber könnte sein, dass durch phonologische Recodierung prosodische Strukturen erzeugt werden, die für das vollständige Verstehen von Sprache essenziell sind, da die Intonation beispielsweise eine wichtige Verbindung zwischen syntaktischer Struktur und Bedeutung darstellt (vgl. Slowiaczek / Clifton 1980; Fodor 1998).
8 Ausblick Die Zuweisung syntaktischer Strukturen beim Lesen von Sätzen ist ein integraler Bestandteil der Prozesse, die zum erfolgreichen Verstehen geschriebener Texte führen. Eine Reihe von Entwicklungen der letzten 15 Jahre haben zu einem vertieften Verständnis der sprachlichen Prozesse geführt, die beim Lesen vom geschriebenen Text zur mentalen Repräsentation der Textbedeutung führen. Korpuslinguistische Untersuchungen liefern wichtige Einsichten in die strukturellen Eigenschaften geschriebener Texte. Dadurch existiert heutzutage ein realistischeres Bild dessen, was die Sprachverstehensprozesse zu leisten haben. Neuere Entwicklungen in der theoretischen Linguistik trugen entscheidend dazu bei, die Faktoren zu identifizieren, die Sätze mehr oder weniger komplex machen. Gleichzeitig führten neuere Entwicklungen innerhalb der kognitiven Psychologie dazu, besser zu verstehen, warum es individuelle Unterschiede im Umgang mit sprachlicher Komplexität gibt. Keine dieser Entwicklungen kann als abgeschlossen gelten. Eine wesentliche Aufgabe der zukünftigen Forschung wird es sein, die Ergebnisse der unterschiedlichen Forschungsrichtungen noch stärker zu integrieren, als dies bisher schon der Fall ist.
2.1.2 Leseverstehen und Sprachverarbeitung
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Ursula Christmann
2.1.3 Lesen als Sinnkonstruktion Zusammenfassung: Lesen stellt einen aktiven Prozess der Bedeutungs- bzw. Sinnkonstruktion dar, bei dem die Leser/innen auf der Grundlage ihres Vor- und Weltwissens über die unmittelbar im Text gegebene sprachliche Information hinausgehen. Rahmentheorie für die Sinnkonstruktion beim Lesen ist die Hypothese der kognitiven Konstruktivität bei jeder menschlichen Informationsverarbei- tung (1), aus der sich die Manifestationen von Sinnkonstruktion beim Aufbau einer kohärenten Textbedeutungsstruktur und bei der Integration mit dem Vorwissen (2) ergeben. Den Motor der Sinnkonstruktion stellen dabei Inferenzen dar (3), mit denen die Leser/innen über den unmittelbar vorliegenden Textinhalt hinausgehen. Diese Schlussfolgerungen spielen eine prominente Rolle beim Aufbau von Situationsmodellen (4), die das oberste Ziel des sinnorientierten Lesens darstellen, da in ihnen Text- und Vorwissen der Leser/innen integriert werden. Abschließend wird die Frage nach den Möglichkeiten einer Steuerung von Sinnkonstruktion beim Lesen thematisiert (5). Abstract: Reading is an active process of meaning construction during which readers go beyond the information given in the text by drawing on their prior knowledge and their world knowledge. The framework for meaning construction in reading is the hypothesis of cognitive constructivity (1) which underlies every act of information processing. Instances of meaning construction become evident when readers build a coherent text structure during reading (2). The driving force of meaning construction are inferences (3), by which readers go beyond the immediate contents of the text. Inferences play an important role in building situation models, which are the ultimate goal of meaning oriented reading, as they combine text information and readers’ prior knowledge in an integrative form (4). Finally, the possibility of directing the meaning construction process during the act of reading is discussed (5).
Inhaltsübersicht 1 Kognitive Konstruktivität als Basis der Sinnkonstruktion beim Lesen — 169 2 Der Aufbau einer satzübergreifenden Sinnstruktur — 171 3 Inferenzen als Motor der Sinnkonstruktion — 174 4 Sinnkonstruktion als Aufbau von Situationsmodellen — 177 5 Ausblick: Steuerung von Sinnkonstruktion — 179 6 Literatur — 181
1 Kognitive Konstruktivität als Basis der Sinnkonstruktion beim Lesen Ausgangspunkt für die Theoriebildung und Forschung im Bereich des Leseverstehens und des sinnorientierten Lesens ist die Kernannahme der kognitiven Konstruktivität des sprachverarbeitenden Subjekts. Danach ist – entgegen der Alltagsintuition – das Lesen eines Texts kein passiver Vorgang der Bedeutungsabbildung, sondern ein aktiver Prozess der Bedeutungskonstruktion, bei dem die Leser/innen die Textinhalte
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Ursula Christmann
unter Rückgriff auf ihre Erwartungen, Zielsetzungen und Interessen filtern, sie mit dem Vorwissen verbinden und aktiv-konstruktiv aufeinander beziehen sowie in ihre Wissensstruktur einfügen. In den klassischen Worten von Hans Hörmann: »Wir erfassen im Vorgang des Verstehens nicht nur Informationen, wir schaffen auch Informationen, die wir brauchen, um eine Äußerung in einen sinnvollen Zusammenhang stellen zu können.« (Hörmann 1980, S. 27) Die Konstruktivitätstheorie wurde erstmals von Frederic Bartlett (1932) im Rahmen von gedächtnispsychologischen Untersuchungen zur Verarbeitung narrativer Texte aufgestellt. In Studien zur schriftlichen Reproduktion einer nordamerikanischen Indianergeschichte (Krieg der Geister) mit für europäische Leser/innen unvertrauten Inhalten, stellte Bartlett fest, dass seine (englischen) Versuchspersonen die Textinhalte in charakteristischer Weise veränderten, indem sie drei Strategien anwandten: ›Assimilieren‹ (Inhalte an die eigenen Erfahrungen anpassen), ›Rationalisieren‹ (neue Inhalte einbringen, um Unverständliches verständlich zu machen) und ›Vereinfachen‹. Solche Veränderungen von Textinhalten gemäß eigener Erwartungen und Vorstellungen wurden dabei im Rahmen der späteren schematheoretischen Ansätze des Textverstehens häufig nachgewiesen (Überblick: Christmann / Groeben 1999). Für die zu Beginn der 1970er Jahre einsetzende kognitionspsychologische Erforschung von Sprach- und Textverarbeitungsprozessen1 wurde die Konstruktivitätshypothese zur beherrschenden Rahmentheorie. Dabei zeigte sich sehr schnell, dass der konstruktive, informationsschaffende Charakter des Sprach- und Textverstehens keineswegs auf die Reproduktionsphase beschränkt, sondern bereits ein integraler Bestandteil des Auffassungsvorgangs ist. Das ›Sinnhaft-Sein‹ eines Satzes oder die sog. Sinnkonstanz ist sowohl für die Sprachproduktion als auch -rezeption ein ›vorgegebenes Kriterium‹, das den Analyseprozess steuert (vgl. Hörmann 1978, S. 179–212). Bahnbrechend waren in diesem Zusammenhang die Arbeiten von John D. Bransford und Mitarbeiter/innen, die beim Lesen und Verstehen von kurzen Satzfolgen nachweisen konnten, dass Leser/innen bereits bei der Darbietung des Materials über den unmittelbaren linguistischen Input hinausgehen und auf der Grundlage ihres Wissens von Welt und mit Hilfe von Schlussfolgerungsprozessen semantische Beschreibungen von Situationen aufbauen (Bransford u. a. 1972; vgl. Christmann 1989). Dabei werden nicht Bedeutungen individueller Sätze, sondern »ganzheitliche Repräsentationen semantischer Ereignisse« gespeichert (Bransford / Franks 1971, S. 348). Eine unmittelbare Konsequenz aus der kognitiv-konstruktiven Erklärung des Sprachverstehens ist die Konzeptualisierung des Lesevorgangs als Sinnverstehen in Form einer Wechselwirkung zwischen den Merkmalen des vorgegebenem Texts (z. B. Syntax, Struktur, Inhalte, Verständlichkeit, Anregungsgehalt) und der Kognitionsstruktur der Rezipienten (z. B. Vorwissen, Erwartungen, Zielsetzungen und Interessen). Entsprechend wird der Leseprozess heute überwiegend als Text-Leser-Interak-
1 Vgl. Kap. 1.2 Kognitionspsychologische Ansätze in diesem Band.
2.1.3 Lesen als Sinnkonstruktion
171
tion aufgefasst (vgl. Groeben 1982) und als Zusammenspiel von textgeleiteter (auch: ›bottom-up‹ oder datengeleiteter) und erwartungsgeleiteter (auch: ›top-down‹ oder konzeptgesteuerter) Verarbeitung beschrieben. Solche kognitiv-konstruktiven Akte des Rezipierens kann man bei jedem Lesevorgang dingfest machen (vgl. Christmann 2004). Dabei ist es relativ unstrittig, dass literarische Texte diese kognitive Konstruktivität der Textrezeption zumeist noch in umfassenderem Ausmaß erfordern als nicht-literarische Texte und zwar deshalb, weil sie eine größere Bedeutungsvielfalt aufweisen und von den Leser/ innen daher im Normalfall auch mehr und intensivere Prozesse der Bedeutungsgenerierung fordern, als dies Sachtexte tun. Auch dürfte sich bei literarischen Texten der Leserfaktor in Form von Rezeptionseinstellungen des Lesers (Erfahrungshintergrund, Wünsche, Ziele und Werthaltungen), aber auch in Form von Faktoren wie Genrewissen, Unsicherheitstoleranz, sprachliche Sensibilität und Genussfähigkeit in stärkerem Ausmaß auswirken (Überblicke bei Groeben / Landwehr 1991; Christmann / Schreier 2003). Die grundsätzliche Struktur des Lesens als kognitiv-konstruktive Interaktion zwischen Textinformation und Lesermerkmalen ist aber bei allen Textsorten gleich. Kognitiv-konstruktive Akte des Rezipierens kann man in Form von Schlussfolgerungen unabhängig von der Textsorte auf allen Ebenen des Leseprozesses, von den basalen, hierarchieniedrigen Wahrnehmungsprozessen bis zu den globalen Prozessen der Strukturierung und Verdichtung des Gelesenen, nachweisen. So sind z. B. bereits beim automatisierten Lesen minimale Inferenzen beim Verstehen mehrdeutiger Wörter oder bei der Auflösung syntaktischer Ambiguitäten erforderlich (vgl. Christmann 2010). Prototypische Manifestationen findet man allerdings eher auf den hierarchiehohen Ebenen, bei denen sämtliche in der Literatur unterschiedenen Modelle des Lesens eine kognitiv-konstruktive Aktivität der Leser/innen unter stellen. Im Folgenden werde ich mich daher auf Manifestationen von Sinnkonstruktion bei den hierarchiehöheren Verarbeitungsprozessen konzentrieren. Die vorliegenden Befunde basieren dabei überwiegend auf Untersuchungen zum Lesen nichtliterarischer Texte. Empirische Studien zum sinnkonstruierenden Lesen speziell bei literarischen Texten sind nach wie vor rar, werden aber soweit als möglich einbezogen.
2 Der Aufbau einer satzübergreifenden Sinnstruktur Der Aufbau einer zusammenhängenden semantischen Sinnstruktur beim Lesen beginnt mit der Extraktion von Propositionen aus dem zugrunde liegenden Text. Auf der nächst höheren Stufe des Verarbeitungsprozesses müssen Verknüpfungen zwischen Propositionen (grundlegende Bedeutungseinheiten in Form von Prädikat
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Ursula Christmann
Argument-Strukturen)2 und aufeinanderfolgenden Sätzen hergestellt, Inhalte von Sätzen und Textabschnitten aufeinander bezogen werden, d. h. es muss satzübergreifend eine kohärente Bedeutungsstruktur konstruiert werden. Das Leitprinzip für die Herstellung von Kohärenz ist das konstruktivistische Prinzip der ›Suche nach Bedeutung‹ (›search-[or effort]-after-meaning‹; vgl. Graesser u. a. 1994). Die Konstruktion einer solchen Bedeutungsstruktur erfordert im ersten Schritt die Herstellung von Kohärenz auf lokaler Textebene, d. h. zwischen Propositionen und Sätzen. Dabei nutzen die Leser/innen üblicherweise die Hinweise, die ihnen der Text mehr oder minder explizit selbst gibt. Die einfachste Form eines solchen Hinweises ist die Koreferenz, bei der in aufeinanderfolgenden Sätzen auf denselben Referenten Bezug genommen wird (z. B. durch Wortwiederholungen, pronominale Wiederaufnahmen, Rückverweise, Vorverweise, Wiederaufnahme von Satzsequenzen durch Proformen, aber auch durch sog. Kontiguitätsrelationen, mit denen auf temporal, lokational oder strukturell verbundene Ereignisse, Situationen, Handlungen verwiesen wird (vgl. Dressler 1972; Gernsbacher 1997). Eine globale Strategie des Koreferierens stellt die sog. Thema-Rhema-Strategie dar (auch Topic-Comment- bzw. Given-New-Strategie; vgl. Haviland / Clark 1974), nach der neue Satzinformationen (Rhema) stets an alte, bereits im Arbeitsgedächtnis gespeicherte Satzinformationen (Thema) angebunden werden. Dies gelingt dann besonders gut, wenn sowohl die Beibehaltung eines Topic (z. B. durch Demonstrativpronomen, unbestimmte Artikel) als auch der Wechsel eines Topic (z. B. syntaktische Akzentuierungen wie Spaltsatzkonstruktionen) sprachlich markiert werden (zusammenfassend zu verschiedenen Graden der Topik-Markierung: Schnotz 1994). Neben der Koreferenz sind es insbesondere kausale, temporale, adversative und additive Konnektiva, die auf lokaler Ebene zur Konstruktion einer kohärenten Textbedeutung genutzt werden können (vgl. Sanders u. a. 1992). Darüber hinaus können auch Relationen zwischen Konzepten (z. B. Konzept – Evidenz, Konzept – Beispiel, Konzept – Begründung) genutzt werden, um Sätze aufeinander zu beziehen.3 Empirisch hat sich dabei gezeigt (Überblick: Christmann 2008), dass insbesondere Texte mit koreferenziellen Hinweisen und kausalen Konnektiva gegenüber Texten ohne diese Relationen zu einem schnelleren und reibungsloseren Lesen, zu einer besseren Beantwortung von Textfragen und zu einer besseren Behaltensleistung führen (vgl. Lorch / O’Brien 1995; Degand / Sanders 2002). Fehlen solche Hinweise im Text oder sind sie nur implizit enthalten, dann müssen die Rezipienten/innen die fehlenden Verknüpfungen durch eigene Schlussfolgerungen (Inferenzen) aktiv konstruieren. Dies gelingt insbesondere dann gut, wenn die Leser/innen ausreichende Vorkenntnisse in einem Wissensbereich haben und die Kohärenzlücken problemlos durch Rückgriff auf das eigene Vorwissen schließen
2 Vgl. Kap. 1.2 Kognitionspsychologische Ansätze in diesem Band. 3 Ein Klassifikationssystem für solche Relationen geben Sanders u. a. 1992.
2.1.3 Lesen als Sinnkonstruktion
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können (empirisch: McNamara / Kintsch 1996; Verhoeven / Graesser 2008). Die sinnkonstruierende Aktivität beim Lesen manifestiert sich also bereits auf der Ebene der lokalen Kohärenzherstellung, indem Lücken im Text durch Inferenzen aufgefüllt und Texte stimmig gemacht werden. Dabei können im Prinzip bereits auf dieser Ebene ganz unterschiedliche Inferenztypen auftreten: von logischen Inferenzen (die weitgehend automatisiert ablaufen), über textnahe Brückeninferenzen bis hin zu textfernen elaborativen Inferenzen (vgl. Abschnitt 3). Sinnkonstruierende Akte manifestieren sich selbstverständlich gerade auch beim Lesen längerer Texte, wenn es also darum geht, den gesamten Textzusammenhang zu erfassen. Dazu müssen längere Propositionssequenzen und Textabschnitte mitein ander verbunden, integriert und auf globaler Ebene Kohärenz hergestellt werden. Das Ergebnis dieses Organisations- und Verdichtungsvorgangsvorgangs wird als Makrostruktur bezeichnet (vgl. van Dijk 1980). Makrostrukturen werden während des Lesens gebildet, indem mit Hilfe bestimmter Makroregeln (Auslassen, Selegieren, Generalisieren und Konstruieren) Propositionssequenzen zu Makropropositionen verdichtet werden. Die Bildung einer Makrostruktur kann auch hier durch Hinweise durch den Text gestützt werden (Überblick: Christmann 2008). Dazu gehören in erster Linie sog. Signale, d. h. Hinweise an der Sprachoberfläche, die die zentralen Themen des Texts und deren Interrelationen hervorheben (z. B. Titel, Kapitelüberschriften und -unterüberschriften, Wiederholungen, Zusammenfassungen, Kapitelüberblicke und -einleitungen, Hinweise auf die Relevanz bestimmter Inhalte, numerische Aufzählungen von zentralen Gedanken, typographische Hinweise; vgl. Lorch 1989). Ähnlich können auch sog. rhetorische Relationen (vgl. Meyer 2003), die die Teilthemen eines Texts auf globaler Ebene verknüpfen (z. B. Problem / Problemlösung, Ursache / Folge, Vergleich) und durch bestimmte Signalwörter kenntlich gemacht werden, den Leser/ innen Hinweise auf die zugrunde liegende thematische Struktur des Texts geben. Auf Makrostrukturebene gilt dabei ebenso wie auf Mikrostrukturebene: Relationen, die im Text nicht explizit auftauchen, müssen eigenaktiv von den Leser/innen konstruiert werden. Dabei erschweren Kohärenzlücken auf globaler Ebene das Verstehen in der Regel mehr als solche auf lokaler Ebene (vgl. Albrecht / O’Brien 1993). Trotz solcher Hinweise erfolgt die Erstellung einer globalen Textrepräsentation grundsätzlich immer unter Beteiligung von Text- und Vorwissen, Zielsetzungen, Kohärenzstandards und Interessen der Leser/innen. Die Beteiligung des Vorwissens kann dabei so stark sein, dass die Textinhalte überschrieben oder neue Inhalte eingeführt werden, die zwar Bestandteil des Vorwissens sind, im Text selbst aber nie genannt wurden (vgl. Sulin / Dooling 1974; Brewer / Treyens 1981). Dies wurde eindrucksvoll im Rahmen der schematheoretischen Ansätze des Textverstehens (vgl. z. B. Rumelhart / Ortony 1977) belegt. Schemata, also Vorwissensstrukturen, die das Wissen über die typischen Zusammenhänge eines Realitätsbereichs (z. B. ›Universität‹ oder ›Neue Medien‹) repräsentieren und nach dem Allgemeinheitsgrad der Konzepte hierarchisch organisiert sind, steuern dabei die Informationsaufnahme beim Lesen und den Abruf bei der Textwiedergabe.
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Sowohl bei der Makrostrukturbildung als auch bei der schemageleiteten Verarbeitung kommt es zu sinnstiftenden Aktivitäten, mit denen über den gegebenen Text hinausgegangen wird. Motor dieser Sinnkonstruktion beim Lesen sind Schlussfolgerungen (Inferenzen), die einen integralen Bestandteil des Lesens sowohl auf lokaler als auch globaler Ebene darstellen.
3 Inferenzen als Motor der Sinnkonstruktion Inferenzen sind Verstehensprozesse, mit denen die Leser/innen über die unmittelbar im Text enthaltene Information hinausgehen. Sie führen zu einer Anreicherung oder Verdichtung des Texts und sind in der aus dem Lesevorgang resultierenden Textrepräsentation integriert enthalten (vgl. Singer / Ferreira 1983; Richter 2003). Im Leseprozess können die unterschiedlichsten Arten von Inferenzen auftreten, die von der Herstellung referentieller Bezüge bis hin zu Hypothesen über Emotionen von Protagonisten oder die Erschließung von Autorintentionen reichen (ausführlich: Richter 2003; Singer 2007). Arthur C. Graesser, Murray Singer und Tom Trabasso (1994) unterscheiden z. B. 13 Inferenztypen, die sie nach dem Grad ihrer Unverzichtbarkeit für das Leseverstehen in folgende Rangreihe bringen: (1) Referenz, (2) Kasusrolle, (3) kausale Ursache, (4) Handlungsziel, (5) Thema, (6) Emotionen von Akteuren, (7) kausale Folge, (8) Konzeptkategorien, (9) Instrument, (10) Teilhandlung, (11) nichtkausale Merkmale von Personen und Objekten, (12) Emotionen der Rezipienten/ innen eines Texts, (13) kommunikative Intention des Autors. Unabhängig davon, dass es noch andere Inferenzarten und Klassifikationsmöglichkeiten gibt (vgl. z. B. Singer 1994, 2007), kann man die unterschiedenen Typen nach ihrer Inferenzweite zu drei globalen Gruppen zusammenfassen: (1) logisch zwingende, ›enge Inferenzen‹, die für das Verständnis des Texts unabdingbar sind, auf logischen Implikationen beruhen und weitgehend automatisch ablaufen; (2) ›Brücken-Inferenzen‹, die Einzelinformationen verbinden (z. B. Beziehungen zwischen zwei Sachverhalten herstellen wie bei pronominalen oder kausalen Inferenzen); (3) ›elaborative Inferenzen‹, die den Textsinn explizit mit dem bereits verfügbaren (Vor-)Wissen verbinden (z. B. Erklärungen, Beispiele, Generalisierungen, Hypothesen, Erwartungen und assoziative Anreicherungen) und deutlich über den vorgegebenen sprachlichen Input hinausgehen (vgl. Singer 2007). Inferenzen sind immer ein Teil der Verstehensleistung beim Lesen und zwar deshalb, weil grundsätzlich kein Text alle Inhalte und Relationen explizit macht (vgl. Richter 2003; Singer 2007). Die Inferenzforschung fragt danach, welche Inferenzen beim gewöhnlichen Lesen üblicherweise auftreten. Dabei lassen sich zwei extreme Positionen unterscheiden: die minimalistische Inferenztheorie und die konstruktivistische Inferenztheorie. Die minimalistische Inferenztheorie postuliert, dass während des Lesens nur textnahe, logisch zwingende Inferenzen ›on-line‹ gebildet werden
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mit dem Ziel lokale Kohärenz herzustellen, während elaborative Inferenzen erst nach dem Lesen, bei der Reproduktion der Textinhalte (›off-line‹) gezogen werden (vgl. McKoon / Ratcliff 1992). Hingegen geht die konstruktivistische Inferenztheorie davon aus, dass textferne, elaborative Inferenzen auch bereits während des Leseprozesses (›on-line‹) auftreten, soweit er den Rückgriff auf das Vor- und Weltwissen erforderlich macht (vgl. Graesser u. a. 1994). Die bisherige empirische Forschung hat dies relativ konsistent aber nur für kausale Brücken-Inferenzen (z. B. ›Die Sonne scheint. Der Schneemann schmilzt.‹) nachweisen können. Diese erfordern zwingend den Rückgriff auf das Vorwissen; sie werden außerdem während des Verstehensvorgangs (also ›on-line‹) gebildet, sind Teil der Textrepräsentation und bleiben auch erhalten (Überblick: Singer 2007). Für elaborative Inferenzen ist der Nachweis, dass sie während und nicht erst nach dem Lesen gebildet werden, deutlich schwerer zu erbringen. Allerdings liegen Studien vor, die zeigen, dass bei narrativen Texten Ziele von Protagonisten bereits während des Lesens inferiert werden (vgl. Poynor / Morris 2003) und dass durchaus auch prädiktive Inferenzen (Voraussagen über den Fortgang der Geschichte) gezogen werden können (vgl. Campion 2004; Casteel 2007). Dabei könnte die Instruktion eine wichtige Rolle spielen. Personen, die explizit instruiert werden, sich beim Lesen eines Texts vorzustellen, was wohl als nächstes geschehen wird, generieren z. B. mehr elaborative (prädiktive) Inferenzen als Personen, die den gleichen Text auf Verständnis lesen sollen (vgl. Calvo u. a. 2006). Insgesamt ist die empirische Befundlage allerdings uneinheitlich (vgl. Eysenck / Keane 2010). Dies lässt vermuten, dass die Inferenztätigkeit sowohl minimal als auch maximal sein kann und zwar in Abhängigkeit von den Lesezielen und -ansprüchen der Rezipienten/innen (z. B. Überfliegen oder eher gründliches Lesen) und den Textarten und -eigenschaften (vgl. Christmann / Groeben 1999). Entsprechend postuliert die ›konstruktivistische Inferenztheorie‹ (vgl. Graesser u. a. 1994; Diskussion in Richter 2003), dass Schlussfolgerungen während des Lesens in erster Linie vom Rezeptionsziel gesteuert werden (›reader goal assumption‹) sowie von dem Bedürfnis der Leser/innen, auf lokaler und globaler Ebene Kohärenz herzustellen (›coherence assumption‹), und schließlich auch von dem Versuch, sich die im Text erwähnten Handlungen und Ereignisse zu erklären (›explanation assumption‹). Empirisch wird dieses Modell z. B. durch Befunde gestützt, nach denen ohne Vorgabe von Lesezielen weniger Inferenzen gebildet werden als mit Vorgabe (vgl. McCrudden u. a. 2005; Calvo u. a. 2006). Auch haben Leseziele einen Einfluss darauf, welche Kohärenzstandards (d. h. implizite oder explizite Kriterien, welche Ebene des Verstehens angestrebt werden soll; vgl. Broek u. a. 2011) Leser/innen bei der Textrezeption ansetzen. Ein hoher Kohärenzstandard impliziert auch eine tiefe Verarbeitung und damit eine hohe Inferenztätigkeit (empirisch: Clinton / Broek 2012). Nicht zuletzt wird das Ausmaß der Inferenzbildung jedoch auch vom inhaltlichen Vorwissen (vgl. Noordman / Vonk 1992), der individuellen Lesekompetenz (vgl. Murray / Burke 2003) sowie der Arbeitsgedächtniskapazität (vgl. Calvo 2005) mitbestimmt. Insgesamt scheint die Schlussfolgerung berechtigt, dass eine minimale Inferenztätigkeit beim schnellen Lesen, beim
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Lesen von Texten, die eine geringe globale Kohärenz aufweisen, sowie bei Leser/ innen mit geringen Vorkenntnissen zu erwarten ist; bemüht sich der/die Leser/in hingegen darum, den Text zu verstehen und hat er/sie ausreichend Vorkenntnisse, werden mehr Inferenzen gebildet.4 Inferenzen sind primär bei Sachtexten und kurzen narrativen Textausschnitten untersucht worden. Zu Inferenzen beim Lesen literarischer Texte liegen nur wenige Studien vor, obgleich hier Inferenzen als ein integraler Bestandteil des Verstehens literarischer Charaktere gelten (vgl. z. B. Bortolussi / Dixon 2003). In der Tat ist davon auszugehen, dass das Verstehen literarischer Sprache, die formal durch »poten tielle Mehrdeutigkeit, assoziative Aufladung sowie Loslösung von der alltagssprachlichen Syntax« gekennzeichnet ist (Christmann / Groeben 1996, S. 1538) und die die Leser/innen häufig mit alternativen Weltmodellen konfrontiert, ein höheres Ausmaß an Sinnkonstruktion erfordert als die Alltagssprache (vgl. Christmann / Schreier 2003). Relevant sind dabei insbesondere elaborative Inferenzen, mit deren Hilfe Leser/innen die sog. Leerstellen eines Texts auffüllen (vgl. Groeben / Christmann 2014). Die bisherigen Studien bestätigen, dass literarische Texte zumindest qualitativ andere Inferenzen auslösen als nicht-literarische Texte (z. B. Inhaltselaborationen mit alternativem Referenzrahmen, metatextuelle Elaborationen mit literaturspezifischen Signalen sowie polyvalente Elaborationen; vgl. Meutsch 1987, S. 84). Joseph L. Magliano, William B. Baggett und Arthur C. Graesser (1996) vermuten in ihrem Forschungsüberblick, dass vier Arten von Inferenzen beim Verstehen literarischer Texte von besonderer Bedeutung sind: Inferenz kausaler Konsequenzen (Vorhersage künftiger Ereignisse), Inferenzen zu Akteuren (Zielen, Handlungen, Motiven), Inferenzen von Zuständen (Überzeugungen literarischer Figuren) und thematische Inferenzen (z. B. Textdeutungen, Emotionen). Empirisch hat sich in einer großangelegten Studie (N = 406 Studierende) gezeigt, dass elaborative Inferenzen beim Lesen von Novellen bei allen Leser/innen unabhängig vom Geschlecht, Alter und Bildungsgrad auftraten, dass es sich dabei allerdings immer um Konkretisierungen von Persönlichkeitsmerkmalen der Charaktere handelte (vgl. Nemesio u. a. 2011). Die Autoren schließen aus diesen Befunden, dass konstruktive Prozesse ein zentrales Moment literarischen Verstehens darstellen. Unabhängig davon, welche Typen elaborativer Inferenzen beim Lesen literarischer Texte regelmäßig auftreten, ist der Zeitpunkt, zu dem sie gebildet werden, unklar. Das liegt daran, dass der Nachweis elaborativer Inferenzen bislang nur mit
4 Überblick über empirische Befunde zur Integration von minimaler und konstruktivistischer Inferenztätigkeit: Broek, Paul van den / Rapp, David N. / Kendeou, Panayiota: Integrating memory-based and constructionist processes in accounts of reading comprehension. In: Discourse processes 39 (2005) Heft 2/3, S. 299–316; Long, Debra L. / Lea, R. Brooke: Have we been searching for meaning in all the wrong places? Defining the ›search-after-meaning‹ principle in comprehension. In: Discourse processes 39 (2005), Heft 2/3, S. 279–298.
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Methoden erbracht wurde, die auf Gedächtnisleistungen basieren (z. B. Zusammenfassungen, Fragen beantworten etc.). Um die kognitive Aktivität während des Leseprozesses zu erfassen, müssten zusätzlich Methoden wie z. B. die Blickbewegungsmessung eingesetzt werden.5 Zu vermuten ist aber, dass kognitiv anspruchsvollere Inferenzen nicht während des Leseprozesses, sondern erst bei der Reflexion über das Gelesene sowie über den eigenen Rezeptionsprozess gebildet werden (vgl. Christmann / Schreier 2003). Inferenzen stellen zweifellos den Kernprozess des sinnorientierten Lesens dar und werden deshalb in sämtlichen in der Literatur entwickelten Modellen des Lesens berücksichtigt. Eine prominente Rolle spielen sie in dem bedeutsamsten kognitionspsychologischen Lesemodell, dem sog. Konstruktions-Integrations-Modell von Walter Kintsch (1998). Danach wird im Leseprozess im ersten Schritt mit Hilfe von Inferenzen eine reichhaltige Repräsentation des Ausgangstexts erstellt, die im zweiten Schritt unter Rückgriff auf das Weltwissen auf Kohärenz geprüft und reduziert wird.6 Als Ergebnis dieses Prozesses resultiert im Optimalfall ein Situationsmodell, das die im Text beschriebenen Sachverhalte oder Situationen in Verbindung mit dem Vor- und Weltwissen weitgehend losgelöst von sprachlichen Strukturen enthält.
4 Sinnkonstruktion als Aufbau von Situationsmodellen Das oberste Ziel des sinnorientierten Lesens ist der Aufbau eines Situationsmodells, in dem Text- und Vorwissen der Leser/innen integriert enthalten sind (vgl. dazu umfassend: Tapiero 2007). Das erstmals von Teun van Dijk und Kintsch (1983) eingeführte Konzept des Situationsmodells basiert auf dem Gedanken, dass Texte nicht nur sprachlich-symbolisch repräsentiert werden, sondern dass zusätzlich eine analoge Repräsentation des im Text beschriebenen Sachverhalts/Geschehens aufgebaut wird.7 Der Aufbau eines Situationsmodells wird dabei durch die propositionale Repräsentation aktiviert und im Zuge des Rezeptionsprozesses unter Rückgriff auf Vor- und Weltwissensbestände schrittweise angereichert, verfeinert oder modifiziert. Dabei handelt es sich um einen aktiven Prozess der Sinnkonstruktion unter Heranziehung wissensbasierter Inferenzen.
5 Zum Überblick über Methoden des Lesens vgl. Kap. 1.2 Kognitionspsychologische Ansätze in diesem Band. 6 Vgl. ausführlicher Kap. 1.2 Kognitionspsychologische Ansätze in diesem Band. 7 Vgl. dazu auch das zeitgleich explizierte Konstrukt des mentalen Modells bei Johnson-Laird, Philip: Mental models. Cambridge (Mass.) 1983; die Begriffe Situationsmodell und mentales Modell werden heute weitgehend synonym verwendet (vgl. Kelter, Stephanie: Mentale Modelle. In: Gert Rickheit u. a. (Hrsg.): Psycholinguistik – Psycholinguistics. Berlin / New York 2003, S. 505–517).
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Die empirische Forschung zum Aufbau von Situationsmodellen hat in der Tat nachweisen können, dass beim Lesen von Texten mentale Repräsentationen gebildet werden, die mehr enthalten als der zugrunde liegende Text (Überblick: Dutke 1998; Zwaan u. a. 1998). Besonders intensiv wurden dabei die Repräsentationen beim Lesen von Texten untersucht, die sich mit räumlichen Gegebenheiten befassen (vgl. Rinck 2005). Diesbezüglich wurde z. B. nachgewiesen, dass Objekte, die räumlich mit der Hauptfigur eines Texts assoziiert sind (z. B. ›he put on his sweatshirt and went jogging‹), besser verfügbar sind als Objekte, die räumlich von der Hauptfigur getrennt sind (›he took off his sweatshirt and went jogging‹) (vgl. Glenberg u. a. 1987). Dies wird als Beleg gewertet, dass ein räumliches Modell der im Text beschriebenen Situation aufgebaut wird. Die zugrunde liegende Annahme, dass der/die Leser/in den Handlungen der Hauptperson in einem räumlichen Situationsmodell folgt, konnte in einer Reihe weiterer Untersuchungen belegt werden, die zeigen, dass der Zugriff auf Gegenstände, die sich in räumlicher Nähe eines Akteurs befinden, schneller erfolgt als der Zugriff auf räumlich entfernte Gegenstände. Überraschenderweise tritt dieser Distanzeffekt sogar dann auf, wenn die Gegenstände im Text nicht explizit erwähnt werden, was einen starken Indikator für den Aufbau eines räumlichen Situationsmodells und natürlich der sinnkonstruierenden Aktivität der Leser/innen darstellt (vgl. Morrow u. a. 1987; Rinck u. a. 1996). In Situationsmodellen können jedoch nicht nur räumliche, sondern ganz unterschiedliche Arten von Informationen einbezogen werden. Dazu gehören zeitliche Aspekte ebenso wie Handlungsabläufe und Eigenschaften von Protagonisten sowie deren Ziele und Emotionen (vgl. Rinck 2000; Zwaan / Rapp 2006). Einen theoretischen Rahmen für diese vielfältigen Aspekte bildet das sog. Event-Indexing-Modell (vgl. Zwaan u. a. 1995a; Zwaan 1999), das speziell für Erzähltexte entwickelt wurde und fünf Informationsdimensionen unterscheidet: (1) Raum (z. B. Lokationen), (2) Zeit (Abfolge von Ereignissen, Dauer von Ereignissen), (3) Kausalität, (4) Protagonisten (z. B. Handlungen der Charaktere) und (5) Intentionalität/Motivation (z. B. Ziele der Charaktere) (vgl. Zwaan u. a. 1995a). Während des Verstehensprozesses werden diese Dimensionen überwacht und es wird geprüft, ob das bisher während des Lesens aufgebaute Situationsmodell durch die neu eingelesene Information aktualisiert werden muss. Das wäre z. B. dann der Fall, wenn in einer Erzählung ein neuer Protagonist eingeführt wird oder Ort und Zeit des Geschehens wechseln (Überblick über die empirische Forschung zu den fünf Dimensionen: Zwaan / Rapp 2006). Die Aktualisierung eines Situationsmodells beansprucht kognitive Ressourcen, die dann besonders hoch sind, wenn Inkonsistenzen (Dimensionswechsel, Widersprüche etc.) im Text auftreten und die gerade eingelesene Information nicht problemlos in das bereits aufgebaute Modell aufgenommen werden kann. Unter Zugrundelegung eines solchen Inkonsistenzparadigmas konnte vielfach nachgewiesen werden, dass Veränderungen auf den genannten Informationsdimensionen verarbeitungsaufwändig sind, was sich empirisch durch eine Erhöhung von Lesezeiten belegen lässt (vgl. Rinck / Weber 2003). So wurde z. B. gezeigt, dass Leser/innen ihr Lesetempo
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drosseln, wenn eine Handlung nicht zur Persönlichkeit des Protagonisten passt (vgl. Albrecht / O’Brien 1993), wenn die Zeitdauer für eine Handlung unplausibel ist (vgl. Therriault / Raney 2007) oder die kausalen Beziehungen zwischen Ereignissen unstimmig sind (Überblick: Therriault / Rinck 2007). Umgekehrt lassen sich eine höhere kognitive Verfügbarkeit und kürzere Lesezeiten für solche Informationen nachweisen, die zu dem im Text beschriebenen Geschehen passen (vgl. Zwaan / Madden 2004). Die Verarbeitung von Inkonsistenzen betrifft auch die Frage, wie die Leser/innen inkonsistente Textinformationen bewerten, ob sie diese erkennen, ablehnen oder zusammen mit dem Vorwissen zum Aufbau eines epistemologischen Situationsmodells nutzen (epistemologische Einschätzungen: Richter 2003). Neuere Untersuchungen zeigen, dass Leser/innen Konsistenzprüfungen während des Einlesens der neuen Informationen vornehmen; hat die inkonsistente Information aber einmal Eingang in das bereits aufgebaute Situationsmodell gefunden, wird sie eher als korrekt akzeptiert (vgl. Schroeder u. a. 2009). Neue Textinformationen werden dann so interpretiert, dass sie zur bisher aufgebauten Repräsentation passen; Textaussagen, bei denen dies nicht möglich ist, bleiben eher unberücksichtigt (empirisch am Beispiel der Rezeption der Riester-Rente: Becker / Klein, 2008). Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass (entgegen der ursprünglichen Vermutung) im Verstehensprozess nicht alle Dimensionen gleich gewichtet werden: Informationen über den Protagonisten und den zeitlichen Ablauf des Geschehens sind z. B. für die Aktualisierung des Situationsmodells wichtiger als räumliche Informationen (vgl. Zwaan u. a. 1998; Rinck / Weber 2003). Welche Aspekte des aktuell gelesenen Texts in das Situationsmodell aufgenommen werden, hängt aber letztlich von der subjektiv erlebten Bedeutsamkeit, den Zielsetzungen und insbesondere auch den Leseperspektiven der Rezipienten/innen ab. So wurde z. B. nachgewiesen, dass bei der Rezeption von Kurzgeschichten in der Tat mehrere Dimensionen berücksichtigt werden, diese jedoch in Abhängigkeit von der Anzahl der Lesedurchgänge und der individuellen Leseperspektive unterschiedlich gewichtet werden (vgl. Zwaan u. a. 1995b). Grundsätzlich stellt sich schließlich die Frage, ob die fünf Dimensionen des Event-Indexing-Modells für das Lesen und Verstehen gerade auch von natürlichen (und längeren) Erzähltexten überhaupt ausreichend sind oder ob weitere mögliche Dimensionen wie emotionale Zustände von Charakteren oder Perspektivenübernahme zu berücksichtigen wären (vgl. Groeben / Christmann 2012).
5 Ausblick: Steuerung von Sinnkonstruktion Ausmaß und Art der Sinnkonstruktion beim Lesen hängen von einer Vielzahl von moderierenden Einflussgrößen ab. Auf der Textseite sind das insbesondere der lokale und globale Kohärenzgrad, die Strukturiertheit, das Ausmaß syntaktischer und semantischer Mehrdeutigkeit sowie der assoziative Gehalt; auf Leser/innen-Seite
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gehören das Vorwissen, das den Rahmen für die Sinnkonstruktion absteckt, aber auch die Arbeitsgedächtniskapazität, die Interessen und die epistemologischen Überzeugungen zu den bedeutsamsten Merkmalen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die für jede pädagogische Einflussnahme (in Schule und Hochschule) relevante Frage, ob und wie dieser Prozess der Sinnkonstruktion beeinflussbar oder sogar steuerbar ist. Man kann bereits an der eigenen Leseaktivität erkennen, dass man in Abhängigkeit von Zielen und Zwecken unterschiedlich liest: Einen Krimi zur Unterhaltung liest man anders als ein Lehrbuch zur Vorbereitung auf eine Prüfung und einen Reisebericht anders als einen wissenschaftlichen Artikel (Überblick über die empirische Forschung: Linderholm u. a. 2011). Das heißt, Leser/innen passen ihr Lesen den unterschiedlichen Bedingungen und den unterschiedlichen Zwecken des Lesens an. Dieser in der Leseforschung seit Langem bekannte und als ›adaptives Lesen‹ bezeichnete Sachverhalt (vgl. Groeben 1982; Christmann / Groeben 1999) hat einen neuen Aufschwung erfahren und wurde in den letzten Jahren intensiv beforscht. Der grundlegende Gedanke besteht darin, dass Leser/innen die Textinformation danach verarbeiten, wie relevant sie für ein selbst- oder fremdgesetztes Leseziel ist (vgl. McCrudden u. a. 2011). Dieser Prozess, der sich selbstverständlich auch auf Art und Ausmaß der Sinnkonstruktion auswirkt, lässt sich von außen durch sog. Relevanzinstruktionen steuern. Relevanzinstruktionen sind spezielle oder globale Leseaufgaben, d. h. explizite Angaben darüber, wie die Leser/innen einen Text verarbeiten sollen. Beispiele sind das Stellen spezifischer oder elaborativer Fragen zum Text (vgl. Graesser / Lehmann 2011), die das zielbezogene Lesen steuern, oder die Vorgabe globalerer Aufgaben, wie den Text unter einer bestimmten Perspektive zu lesen, eine Zusammenfassung zu erstellen, einen Essay zu schreiben etc. (vgl. McCrudden u. a. 2011). Zur Effektivität von Relevanzinstruktionen auf die Verarbeitungstiefe und -qualität auch in Abhängigkeit von Lesermerkmalen wie die Arbeitsgedächtniskapazität liegt mittlerweile eine kaum noch überschaubare Fülle empirischer Arbeiten vor. Darunter finden sich dann auch Studien, die den Einfluss der Relevanzinstruktion auf die Sinnkonstruktion nachweisen. Dazu gehört in erster Linie die häufig replizierte Arbeit von Jennifer Wiley und James F. Voss (1999), in der gezeigt wurde, dass die Instruktion, einen argumentativen Essay zu schreiben, bei Studierenden zu mehr elaborativen Inferenzen und neuen inhaltlichen Verknüpfungen führte als die Instruktion, eine Narration, eine Zusammenfassung oder eine Erklärung zu verfassen (ähnlich: Le Bigot / Rouet 2007; zusammenfassend: Bråten u. a. 2011). Vor diesem Hintergrund ist zu vermuten, dass die Inferenztätigkeit von Leser/innen, die das Herzstück der Sinnkonstruktion beim Lesen darstellt und zu einem tieferen Verstehen führt, durch entsprechende Instruktionen gezielt aufgebaut und gefördert werden kann.
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Werner Graf
2.1.4 Leseverstehen komplexer Texte Zusammenfassung: Dieser Beitrag diskutiert verschiedene theoretische und methodische Ansätze (Hermeneutik, textanalytische Techniken, Lesestrategien, Lesemodi), die helfen, anspruchsvolle, komplexe Texte und Hypertexte lesen und verstehen, interpretieren und erläutern zu können. Lesekompetenz – die Fähigkeit geschriebene Sprache zu nutzen und zu reflektieren –, insbesondere linguistische, philologische und kommunikative Kompetenzen und Medienkompetenz sind notwendig, um die Bedeutung schwer zu lesender Fiktion und Sachtexte zu interpretieren. Historisches und kulturelles Wissen muss explizit in den Verstehensprozess integriert werden. Abstract: This article discusses different theoretical and methodological approaches (hermeneutics, techniques in analysing texts, reading strategies, modes of reading) that aid in reading, understanding, interpreting and explaining complex and demanding texts and hypertexts. Reading competence – the ability to use und to reflect on written language – especially linguistic, philological and communicative skills and multimedia literacy, are necessary to interpret the meaning of difficult fiction and non-fiction. Historical and cultural knowledge must be explicitly integrated into the process of understanding.
Inhaltsübersicht 1 Komplexe Texte — 185 1.1 Text- und Rezeptionsstruktur — 186 1.2 Komplexität wissenschaftlicher und literarischer Texte — 188 1.3 Textanspruch und Lesekompetenz — 189 2 Dimensionen der Lesekompetenz — 190 2.1 Probleme des Verstehens — 190 2.2 Textformate und Textanalyse — 191 2.3 Kontextualisierung — 193 2.4 Lesestrategien — 195 3 Lesemodi — 196 3.1 Partizipation — 196 3.2 Interessenorientierter Wissenserwerb — 198 3.3 Literarästhetische Rezeption — 199 3.4 Diskursive Erkenntnis — 200 4 Funktion der Literatur, Wirkung des Lesens in der Mediengesellschaft — 201 5 Literatur — 203
1 Komplexe Texte Texte werden als sprachliche Äußerungen definiert, im Unterschied zu einem umfassenden Textbegriff, der alle zeichenhaften Äußerungen umfasst. Die Texttheorie beschreibt Text, seine Textualität, durch das Merkmal Kohärenz, also den Zusammenhang, die thematische Einheit, die durch die (strukturale) Analyse der sprachlichen Mittel (syntaktische, semantische, pragmatische), der Kohäsion, hergestellt werden
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kann (vgl. van Dijk 1980). Das Interesse am Leseverstehen konzentriert sich auf schriftlich fixierte Sprache, berücksichtigt also die mündliche Rede nur am Rande. Trotz der Schriftform des Textgewebes aus fixierten sprachlichen Zeichen werden Texte in semantischer Perspektive nicht statisch, sondern dynamisch aufgefasst, weil sich im literarischen Kommunikationsprozess von Text und Leser die Bedeutungskonstruktion prinzipiell als unabschließbarer Prozess erweist.1
1.1 Text- und Rezeptionsstruktur In der Praxis der Vermittlung von Literatur im weiten Sinn herrscht Konsens darüber, zwischen schwer verständlichen und leicht verständlichen ›Büchern‹ zu unterscheiden. Akteure des Literaturbetriebs in Bibliotheken, Medien, Buchhandel oder Schule beziehen erfahrungsgemäß Verstehensanforderungen auf die Komplexität, also auf die Vielschichtigkeit der Formmerkmale und Bedeutungspotenziale von Texten (vgl. Franzmann u. a. 1999). Trotz ungeklärter Definitionsfragen hat sich der Begriff Komplexitätsgrad zur Beschreibung von Texten auch wissenschaftlich etabliert, weil er es ermöglicht, die Komplexität der Elemente und Verknüpfungen einer Textstruktur begründbar und nachvollziehbar in ein Kontinuum ansteigender Komplexität einzuordnen. Mit dem Begriff ›komplexer Text‹ sind Texte bzw. Hypertexte mit einem relativ hohen bzw. höheren Komplexitätsgrad gemeint im Unterschied zu einfach strukturierten, konventionellen Texten, die Inhalte leicht zugänglich darbieten. Diese nicht nur formale Unterscheidung nimmt die Abgrenzungsproblematik in Kauf, hat aber den Vorteil, wertende Bezeichnungen wie z. B. ›anspruchsvolle Literatur‹ vs. ›Trivial literatur‹ oder ›wissenschaftliches Niveau‹ vs. ›populäres Sachbuch‹ oder schlicht ›gutes Buch‹ vs. ›Schmutz und Schund‹ zu vermeiden, ohne auf die insbesondere für die Lesekompetenzdiskussion nötige sachlich begründbare Differenzierung zu verzichten. Komplexität von Texten ist hinsichtlich mehrerer Dimensionen zu explizieren, so ist zwischen intratextuellen und extratextuellen Relationen und Befunden zu unterscheiden: Intratextuell ist auf der Formebene der grammatikalische Befund komplexitäts relevant, also z. B. Vokabular, Syntax und textstrukturelle Elemente. Auf der inhaltlichen Ebene sind insbesondere das ausgewählte Thema und die Art seiner Behandlung relevant für den Komplexitätsgrad. Die formalen und inhaltlichen Textstrukturen zeichnen sich durch Differenziertheit und Kohärenz aus, realisiert durch interne Bezüge und Verweise, durch Gliederung und Aufbau, durch die Stringenz der Gedanken- oder Motiventwicklung, durch die Stimmigkeit der Begrifflichkeit oder der
1 Vgl. Kap. 2.1.3 Lesen als Sinnkonstruktion in diesem Band.
2.1.4 Leseverstehen komplexer Texte
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Sprachbilder, so dass aus Wörtern und Sätzen ein nachvollziehbarer Textzusammenhang rekonstruiert werden kann. Das intertextuelle Beziehungsgeflecht beeinflusst die Komplexität von Texten nicht selten erheblich, beachtet werden müssen insbesondere die mehr oder weniger modifizierte Übernahme von Formaten sowie die expliziten oder impliziten informatorischen Verweise auf andere Texte. Grundsätzlich ist die Komplexität eines Texts nicht unabhängig von seiner Verortung in Diskursen zu diskutieren. Komplexität ist kontextabhängig zu modellieren, weil der historische und soziale Kontext, vermittelt über textuelle Bezüge, das Bedeutungspotenzial beeinflusst. Insbesondere kann die Rolle des Autors, der Autor- und der Textintention trotz der postmodernen Kritik nicht ausgeklammert werden, da sie durch bewusste, aber auch unbewusste Effekte erheblich zur Vielschichtigkeit nicht nur von fiktionalen Texten beitragen kann. Im Unterschied zur drucktechnischen oder handschriftlichen, meistens papierbasierten Fixiertheit des traditionellen Texts bringen die elektronischen Medien nicht nur neue Speicher- und Präsentationsformen hervor, die als Bildschirmlesen die Lesesituation und das Leseverhalten modifizieren, sondern sie produzieren ein qualitativ anderes Textformat, insofern Hypertextstrukturen wirksam werden, die den Lese- und Verstehensprozess verändern (vgl. Porombka 2001; Boesken 2010). Beim Hypertext gewinnt die aktive Konstruktionsleistung des Nutzers an Gewicht, da er den Bildschirmtext, den er rezipiert, mehr oder weniger selbst produziert, indem er ihn aus Teilen montiert oder generiert. Die Komplexität eines Hypertexts im Internet hängt also nicht nur von der verlinkten Textdatei ab, sondern in hohem Maß auch von der produktiven Aktivität des Lesers bzw. Nutzers. Schließlich ist die für das Leseverstehen insgesamt konstitutive Interaktion von Leser und Text in die Analyse einzubeziehen, denn nach der konstruktivistischen Auffassung kann Komplexität nicht nur als Texteigenschaft definiert werden, vielmehr ist sie als Interaktionsprodukt aufzufassen. Komplexität von Texten gerät für alle Kommunikationsmodelle der Textrezeption konstitutiv in ein Wechselverhältnis zur Lesekompetenz der Nutzer, so dass der Grad realisierter bzw. realisierbarer Komplexität als Prozessgröße erscheint. Einer vollständigen interaktiven Auflösung des Komplexitätsbegriffs, tendenziell einer Subjektivierung des Leseverstehens, widerspricht jedoch die Aufmerksamkeit für die fixierte Textform, die beansprucht, im Leseprozess zur Geltung zu kommen. Durch die textbezogene Analyse der Komplexität, durch die intratextuelle, intertextuelle und kontextbezogene Beschreibung der Textqualität kann diese zur Diskussion und Bewertung des Leseverstehens herangezogen werden, z. B. zur Beantwortung der Frage, inwiefern ein Leser durch seine Bedeutungskonstruktion die Komplexität eines Texts realisiert, inwiefern er sie reduziert oder inwiefern eine Interpretation sogar neue Dimensionen eines Texts zeigt, die Komplexität im Verstehensprozess sogar steigert. Ein komplexer Text zeichnet sich in der Regel durch einen hohen Grad intra- und intertextueller formaler und inhaltlicher Qualitäten aus, seine für das Leseverstehen
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relevante Komplexität erweist sich jedoch im literarischen Kommunikationsprozess als Interaktionsprodukt, als Komplexitätskonstrukt.
1.2 Komplexität wissenschaftlicher und literarischer Texte Die skizzierte Erfassung allgemeiner Komplexitätsdimensionen ist textsorten- bzw. gattungsbezogen zu spezifizieren, denn trotz eines vergleichbaren Komplexitäts niveaus unterscheiden sich die prototypischen Formen des wissenschaftlichen und des ästhetischen Texts insbesondere auf semantischer und funktionaler Ebene gravierend. Die prinzipiell unterschiedlichen Formen der Bedeutungskonstruktion begründet die Rezeptionsästhetik mit dem fiktionalen Charakter der Literatur, aus dem sie deren spezifische Unbestimmtheit (vgl. Iser 1970) ableitet, wogegen alle expositorischen Texte auf Grund ihres Wirklichkeitsbezugs grundsätzlich Bestimmtheit einfordern können. Trotz der berechtigten kritischen Diskussion des Fiktionalitätsbegriffs in der Literaturwissenschaft, der so z. B. der Dokumentarliteratur nicht gerecht wird, und auch trotz der überzeugenden Problematisierung eines Wahrheitsanspruchs, der sich auf ›die Wirklichkeit‹ beruft, als ob ein Sachtext diese prinzipiell nicht auch als ein sprachliches Konstrukt erfassen würde, obwohl die erkenntniskritische Diskussion zur Reflexion der üblichen Gegenüberstellung von ›fiction‹ und ›non-fiction‹ mahnt, ist ihr ein orientierender Wert im Rahmen der Textsortenunterscheidung nicht ganz abzusprechen. Auf der Ebene der Sprachverwendung unterscheiden sich wissenschaftliche und ästhetische Texte auf eine je eigene Art von der alltäglich gebrauchten Form der Sprache, der sie gleichwohl angehören. Wissenschaftliche Texte zeichnen sich durch die Verwendung einer fachwissenschaftlich definierten Begrifflichkeit aus, sie sind der Schreibintention verpflichtet, einen Gegenstand wissenschaftlich exakt, eindeutig darzustellen, eine schlüssige Argumentation aufzubauen und Aussagen zu begründen in einer Form, die es jedem Experten (also nicht jedem Leser) erlaubt, den Text kognitiv nachzuvollziehen. Die Komplexität literarästhetischer Texte erweist sich auf sprachlicher Ebene im Unterschied zur wissenschaftlichen Fachsprache bekanntlich durch Merkmale wie bildliche Sprache oder die Betonung der Konnotation, also durch Vieldeutigkeit oder Ambivalenz, um Assoziationen und Emotionen auszulösen. Während der wissenschaftliche Begriff Informationen vermitteln soll, möchte ästhetische Sprache auch durch ihre Materialität wirken, also z. B. durch Klang und Rhythmus. Während jener dem Ideal rationaler Durchstrukturiertheit folgen soll und die kognitive Informationsverarbeitung mobilisiert, regt diese auf verschlungenen narrativen Pfaden, in dramatischen Situationen oder mit lyrischen Ich-Aussagen die sprachliche Sensibilität und die emotionale Intelligenz an.
2.1.4 Leseverstehen komplexer Texte
189
1.3 Textanspruch und Lesekompetenz Die Charakterisierung gemeinsamer und differierender Merkmale komplexer Texte aus dem Spektrum des Sachtexts und aus dem der schönen Literatur zeigt spezifische Ansprüche, die solche Texte an die Lektüre stellen. Offenbar erheischt eine der komplexen Textstruktur angemessene Lektüre eine entsprechende Lesequalifikation (vgl. Garbe u. a. 2009). Grundsätzlich setzt das Leseverstehen die Bereitschaft zu einer genauen, oft auch anstrengenden Lektüre voraus, da der Text für die Interaktion Vorgaben setzt, die eine adäquate Kompetenz und Motivation des Lesers fordern. Er muss sogar zu Vorleistungen bereit sein, er muss den Text so ernsthaft bearbeiten oder sich emotional so öffnen, als ob er bereits davon überzeugt wäre, in der Kommunikation mit dem Text im Interaktionsprozess einen Sinn konstruieren zu können, der seine Erwartungen einlöst und der schließlich seine Mühe belohnt (vgl. Graf 2007b). Der Anspruch von Texten an die Verstehbarkeit darf kritisch hinterfragt werden, Komplexität von Texten muss im Leseprozess ihre Berechtigung erweisen. Wenn sich also lesend bestätigt, dass die Komplexität eines Texts seinem differenzierten bzw. vielschichtigen Sinnangebot geschuldet ist, das beeinträchtigt würde durch eine auf einfachere Verstehbarkeit zielende Formulierung, dann ist der Komplexitätsgrad als gegenstandsadäquat zu werten, wogegen schwer verständliche Texte, bei deren genauer Lektüre auch kompetente Leser keine Bedeutung konstruieren können, die sich nicht auch einfacher sagen ließe, der Kritik als pseudokomplex verfallen müssten. Lesen und Verstehen von komplexen Texten stellen folglich besondere Anforderungen an die Leser, aber sie versprechen auch, dass ihr Bedeutungsangebot nicht ohne diesen Formulierungsaufwand zu vermitteln und deshalb die Rezeptionsanstrengung unvermeidlich ist. Als textseitige Voraussetzungen sind im Interaktionsmodell Leser – Text daher die differenzierten bzw. speziellen Anforderungen an die Leser zu berücksichtigen, die ein hoher Komplexitätsgrad stellt. Ein mit dem Textniveau korrespondierendes Lesekompetenzniveau ist deshalb als notwendige Bedingung für das Leseverstehen als interaktive Bedeutungskonstruktion anzusetzen, da die Chancen, schriftlich fixierte Bedeutungspotenziale umfassend produktiv zu erschließen, von der Leistungsfähigkeit der subjektiven Rezeptionsvoraussetzungen abhängen. Diese ambitionierte Kompetenzkonstellation hat Auswirkungen auf die Lesemotivation, so verursacht sie regelmäßig Motivationsprobleme, und sie verweist nachdrücklich auf die Notwendigkeit umfassender Leseförderung. Der Erwerb einer literarischen Rezeptionskompetenz, die das Lesen komplexer Texte erlaubt, erweist sich im Rahmen der literarischen Sozialisation – wie die Lesebzw. Lektürebiografieforschung zeigt – als eine anspruchsvolle Entwicklungsaufgabe der Jugendphase, die oft die entwicklungstypischen Lesekrisen verursacht (vgl. Schön 1999; Eggert / Garbe 2004; Graf 2007a; Pieper 2010). Während die Kinderlektüre und die funktional vergleichbare Lektüre beliebter Jugendbücher signifikant seltener
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Leseprobleme aufwerfen, weil erstens das Niveau von Form und Inhalt der einschlägigen Bücher keine unlösbaren Anforderungen an die Lesekompetenz stellen und weil zweitens der Wunsch erfüllende, phantasieorientierte intime Lesemodus eine befriedigende Gratifikation gewährt, stellen in der späteren Jugendphase regelmäßig sog. anspruchsvolle Bücher der Erwachsenenliteratur, mit denen Jugendliche oft durch die Schule konfrontiert werden, dieses Lesemodell in Frage, weil Verstehens- und Motivationsprobleme das gewohnte Leseerlebnis beeinträchtigen oder ganz verhindern (vgl. Graf 1997). Nicht selten resultiert aus dieser Enttäuschung eine Lesepause oder sogar der Abbruch der Lesekarriere, wenn nicht eine sekundäre literarische Initiation gelingt, die es erlaubt, eine ›erwachsene‹ Leserolle zu erwerben, die die kompetente Lektüre komplexer Sachtexte und ästhetischer Texte in einer befriedigend wahrgenommenen Weise ermöglicht. Diese Aufgabe der Leseförderung hat die Schule, insbesondere der Deutschunterricht noch nicht befriedigend gelöst, freilich erschweren eine Lösung auch Kurzschlüsse, die alleine die Praxis des Unterrichts (Textauswahl, Interpretationsmethoden) als Ursache des Problems anprangern. Auch die postmoderne Aufhebung der Differenz zwischen Trivialliteratur als Popkultur und ästhetischer Literatur als Kunst unterläuft das nötige Problembewusstsein der Schwierigkeiten beim Erwerb einer differenzierten literarischen Rezeptionskompetenz, deren Beschreibung die Anforderungen (hoch-)komplexer Texte reflektiert.
2 Dimensionen der Lesekompetenz Lesekompetenz als Vermögen und Bereitschaft, einen interaktiven Leseprozess zu konstituieren und durchzustehen, setzt sich zusammen aus kognitiven und emotio nalen Teilfähigkeiten, aus der Fähigkeit zur Reflexion und (Anschluss-)Kommunikation (vgl. Sutter 2002) sowie aus der Lesemotivation. Kompetentes Leseverstehen umfasst auch den reflektierten Umgang mit grundlegenden Verstehensproblemen, die Kenntnisse zur Kontextualisierung sowie textanalytische und lesestrategische Fähigkeiten.
2.1 Probleme des Verstehens Generell fordern komplexe Texte hohe Aufmerksamkeit für ihre sprachliche und formale Gestalt, die Textkohärenz, sowie interessierte Aufgeschlossenheit für die thematisierten Inhalte, also ein langsames, gründliches, ein analysierendes bzw. interpretierendes Lesen, zum Teil ein philologisch genaues textkritisches Vorgehen. Grundsätzliche Probleme des Textverstehens, die neuralgischen Punkte der Interaktion und der Sinnproduktion im konstruktivistischen Verstehensmodell, lassen sich beschreiben mit Einsichten einer dynamisch aufgefassten Hermeneutik
2.1.4 Leseverstehen komplexer Texte
191
wie auch mit dem Modell der von Michail Bachtin vorgeschlagenen Dialogizität (vgl. Bredella 2010). So erweist sich die Erwartungsstruktur auf der Leserseite als Verstehensproblem, weil sie dazu tendiert, dem Text projektiv Bedeutungen zu geben, die das Andere seiner Bedeutungsangebote verfehlt oder vereinfacht. Gerade für einen reflektierten Leseprozess, der einerseits im Text nicht nur die subjektiven Vorurteile bestätigt finden will und der andererseits nicht unbesehen übernehmen will, was der Text als Aussage oder intendierte Botschaft anbietet, scheint der Eintritt in den berühmten hermeneutischen Zirkel unvermeidlich; denn durch die so möglich werdende wechselseitige Beeinflussung von textseitigem Bedeutungsangebot und leserseitiger Bedeutungserwartung kann es gelingen, dass ein Text interaktiv Vorurteile abbaut und so eine Bedeutungskonstruktion unterstützt, die dem Leser eine Erfahrung mit dem Text erlaubt. Aktuell an der texthermeneutischen Tradition erscheint also weniger die These der ›Horizontverschmelzung‹ (Gadamer 1960) als die Überführung jener objektiven und subjektiven Momente in einen tendenziell nicht abschließbaren interaktiven Leseprozess einer unendlichen Bedeutungskonstruktion. Analog kann auch die zweite prominente Figur des hermeneutischen Zirkels aktualisiert werden; denn gerade bei komplexen Textstrukturen ist es unvermeidlich, Bedeutungsannahmen zu einzelnen Textstellen immer wieder korrigierend abzustimmen mit Interpretationsthesen zum Textganzen und umgekehrt, um in diesem unabschließbaren Prozess zu möglichst textnahen Sinnkonstruktionen zu gelangen, die sich dialogisch dem polyphonen Charakter des Romans annähern.
2.2 Textformate und Textanalyse Methodische Konzepte der Textanalyse setzen für Fiktion und Sachtext jeweils unterschiedliche Akzente. Konzentriert auf die sprachliche Gestalt stellt die formalistische Methodentradition der Literaturwissenschaft erprobte Instrumente und Strategien zu einer möglichst objektiven Textbeschreibung bereit. Untersucht werden bei unterschiedlichen fiktionalen Textsorten z. B. die rhetorischen Mittel, der Sprachstil oder die Bauformen, dann Gattungsspezifisches wie narrative Strukturen oder die Erzählperspektive in der Prosa; Reim, Metrum oder das lyrische Ich in der Lyrik; geschlossene oder offene Form beim Drama. Auf der Ebene der Genres werden Formmerkmale herausgearbeitet wie der Aufbau einer klassischen Tragödie oder die Erzählstruktur und die Figurenkonstellation des Volksmärchens oder Formen moderner Lyrik. Ein weiteres Analysefeld ist die Epochentypik z. B. des Dramas im Sturm und Drang oder des Bildungsromans oder expressionistischer Gedichte. Die Beispiele sollen genügen, um das weite Feld literaturgeschichtlicher und gattungstheoretischer Systematisierungsversuche abzustecken, die für das Textverstehen produktiv werden, wenn sie als Rekonstruktion der sich historisch verändernden ästhetischen Erwartungshorizonte (vgl. Jauß 1970) dazu dienen, das Besondere und das Neue eines bestimmten Einzelwerks plausibel zu machen.
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Auf der Subjektseite gehören Formbewusstsein, Kenntnisse der Literaturgeschichte und Gattungswissen zu den bestimmenden Faktoren des literarischen Rezeptionsprozesses, wobei es für die Qualität der literarischen Lesekompetenz darauf ankommt, »wie mit einem solchen Gattungswissen umgegangen wird, auf einer Skala unreflektiert-restriktiv über formalisiert-schemaorientiert hin zu flexibelhistorisch« (Eggert 2002, S. 189). Das analytische Lesen von Sachliteratur setzt ebenfalls die Unterscheidung von Textsorten voraus. Sachtexte sind nach ihrer Zielsetzung, nach der intendierten Funktion in Gruppen einteilbar, und zwar in instruierende, didaktische, wertende und wissenschaftliche Texte. Da Instruktionstexte primär auf den Transfer von Informationen in Handlung zielen, ist für die Rezeption von Handlungswissen der pragmatische Zusammenhang konstitutiv. Dieser und die Rezeptionssituation legen ein lernendes Lesen nahe, zumal bei Lehrtexten, die der Darstellung von (Fach-)Wissen verschrieben sind. Persuasionstexte intendieren Meinungsbildung bzw. Einstellungsveränderung (oder -bestätigung), sie legen eine wertende Textbehandlung nahe (vgl. Christmann / Groeben 2002, S. 150). Wissenschaftliche Publikationen zeichnen sich durch ihre Erkenntnisdimension aus, sie fordern ein von Erkenntnisinteressen getragenes exaktes Textstudium. Die Sachtextlektüre insgesamt konzentriert sich auf den Informationsgehalt eines Texts, wobei sie auf dieser Ebene, wie auch die Konstruktion des pragmatischen Lesekompetenzbegriffs von PISA (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 80) belegt, bis zu einem gewissen Grad mit Verstehensproblemen konfrontiert ist, die den Interpretationsschwierigkeiten bei Fiktion vergleichbar sind (vgl. Graf 2002). Mit der Komplexität von kontinuierlichen und diskontinuierlichen Texten steigt nämlich, besonders für das Lesen auf wissenschaftlichem Textniveau der Konstruktionsaufwand, weil die Information nicht einfach wörtlich ›entnommen‹ werden kann: Vielmehr müssen ›verschiedene, tief eingebettete‹ Einzelinformationen lokalisiert und aufeinander bezogen werden. Zum ›Informationen ermitteln‹ muss das sog. textbezogene Interpretieren kommen, umschrieben als »vollständiges und detailliertes Verstehen eines Texts, dessen Format und Thema unbekannt sind« (Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 89). Die dritte Subskala ›Reflektieren und Bewerten‹ fordert Hypothesenbildung, wozu über formales und allgemeines externes Wissen hinaus ›spezielles‹ Kontextwissen nötig ist. Mit der Wendung, vom Leser werde der »Umgang mit Konzepten, die der Erwartung widersprechen« (Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 89), gefordert, ist technokratisch vereinfacht ein weiteres Moment der Hermeneutik reimportiert. Auch das analytische Lesen wissenschaftlicher Texte muss bereits auf der Ebene der Informationsermittlung Einzelinformationen bewerten und die Gesamtinformation eines längeren Texts interpretierend erschließen, wobei der Begriff ›Interpretation‹ nicht im literaturwissenschaftlichen Sinn verwendet wird. Der methodischen Diskussion zur Sachtextanalyse gilt das Erfassen des übergreifenden Themas bzw. der Fragestellung, deren Relevanz ohne Kontextkenntnis kaum zu beurteilen ist, als grundlegend für den Textzugang. Komplizierter als die Informations
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verarbeitung im engen Sinn stellt sich die Erfassung der Gedankenentwicklung und der Argumentationsstruktur dar, deren Verständnis nötig ist, um Definitionen, Prämissen, Implikationen, Schlussfolgerungen, Begründungen und Thesenbildung nachvollziehbar rekonstruieren und bewerten zu können. Erhebliches gegenstands- bzw. fachspezifisches Kontextwissen und fachliche Kompetenzen gehören selbstverständlich zu den Voraussetzungen eines angemessenen Leseverstehens wissenschaftlicher Texte, aber in bescheidenerem Umfang auch bereits zu den Verstehensvoraussetzungen für jede Sachliteratur. Beispielhaft sei an die Anforderungen erinnert, Statistiken seriös zu interpretieren bzw. in den Medien präsentierte Interpretationen kritisch zu rezipieren. Die Kenntnis von Textformaten und Textsorten (Nachricht, Lehrbuch, Ratgeber, E-Mail, Brief, SMS, Gebrauchsanweisung, Lexikonartikel, Kommentar, politische Rede, Essay, wissenschaftliche Abhandlung, Forschungsbericht, Urteilsbegründung, Regierungserklärung, Geschäftsbericht, Hypertext, Werbung usw.) ist nötig für das Verstehen und das Bewerten des konkreten Texts. Erst wenn die Analyse Thema, Argumentationsstruktur und Form transparent gemacht hat, können gezielt Fragen an den Text gestellt und Alternativen erwogen werden. Zur Vorbereitung von begründeten und nachvollziehbaren Bewertungen sind die Quellen des Texts, sein vermittelter Bezug auf Empirie und auf Theorie kritisch zu würdigen.
2.3 Kontextualisierung Für den Verstehensprozess ist neben der unverzichtbaren textanalytischen Bearbeitung der Textoberfläche und der Text(tiefen)struktur besonders bei komplexen Texten die Berücksichtigung des Kontexts von Produktion und Rezeption angezeigt. Wird der Kontext als Gesamtheit der Sekundärliteratur aufgefasst, ihm also ebenfalls Textform gegeben, kann konsequenterweise die Text-Kontext-Beziehung in eine Text-Text-Beziehung überführt werden. Der intertextuelle Ansatz wirkt besonders in der Literaturwissenschaft attraktiv. Für den Sachtext ist der Bezug zur Wirklichkeit (sicher auch in Form anderer Sachtexte) konstitutiv, zum Verstehen und zur Bewertung von Aussagen sind selbstverständlich neben intertextuellen auch empirische Kontextrelationen zu überprüfen. Prinzipiell zwingt im Leseprozess die Einsicht in die Vermitteltheit von Literatur und Gesellschaft im Medium der Sprache zu einer Reflexion dieses Verhältnisses, die einerseits die Kritik der Autonomiekonzeption und anderseits die der Determiniertheitsthese einschließt. Von den methodischen Ansätzen der Literaturwissenschaft, die explizit Kontexte zur Interpretation heranziehen, sollen generalisierend zwei Richtungen benannt werden, die sozialgeschichtliche / soziologische und die psychologische / psychoanalytische: – Die Berücksichtigung von Wissen über den historischen und gesellschaftlichen Kontext für die Bedeutungskonstruktion im Leseprozess ist keineswegs nur für Sachtexte oder einen Teil fiktionaler Literatur notwendig oder förderlich für
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das Verständnis, um z. B. Texte engagierter Literatur – oft ihrer Intention entsprechend – als Quelle für Informationen und Erkenntnisse über die sozialhistorische Realität zu nutzen oder um den bisherigen Kenntnisstand zu erweitern und zu reflektieren. Vielmehr sind literarästhetische Texte ohne Kenntnisse des historischen Kontexts nur unzureichend zu deuten, und zwar nicht nur, weil sie durch sozialhistorische Einflüsse geprägt sind oder weil sie explizit oder implizit zu geschichtlichen bzw. politischen Sachverhalten Stellung beziehen, sondern auch – worauf Peter Szondi hinweist – weil die »Geschichte im Kunstwerk« (Szondi 1970, S. 22) sichtbar gemacht werden soll. – Psychologische oder psychoanalytische Kenntnisse können hilfreich sein für das Leseverstehen, und zwar in produktionsästhetischer und in rezeptionsästhetischer Perspektive: Texte können erstens transparenter werden, wenn sie als Verarbeitung einer psychischen Situation oder eines Konflikts mit Hilfe einer geeigneten Begrifflichkeit analysiert werden, ein prominentes Beispiel wäre Franz Kafka, dessen Werk zugleich überzeugend dagegen protestiert, z. B. auf die Bearbeitung eines Vaterkomplexes reduziert zu werden. Das Textverstehen kann zweitens objektiviert und reflektiert werden, wenn psychische Funktionen des Lesens auf der Rezipientenseite, also z. B. Wunscherfüllung in der Phantasie (vgl. Freud 2000) oder das Lösen von Entwicklungsaufgaben, mitbedacht werden als Ursache möglicher Vereinfachungen komplexer Texte. Literaturpsychologie kann also bereichernde Deutungsthesen generieren, und sie kann vor verarmender Funktionalisierung von Texten bewahren. Die Diskussion über historische, gesellschaftliche und psychologische Dimensionen der Literatur schärft die Aufmerksamkeit dafür, dass auch scheinbar formale Fragen oft nicht ohne Kontextualisierung lösbar sind. Stilistische Textmerkmale ästhetischer Texte wie Ironie und Satire setzen in der Regel extratextuelles Wissen voraus und sind deshalb oft nicht formal textintern, sondern nur durch Kontextualisierung zu verstehen und zu genießen. Auch die Sachtextrezeption erfordert es, entgegen vereinfachender Vorstellungen der ›Informationsentnahme‹ Kontexte einzubeziehen. Gerade Texte mit vielschichtiger Außenreferenzialität sind ohne umfassendes Kontextwissen kaum angemessen zu würdigen. Auch ein einfacher Satz, »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich« (GG Artikel 3 [1]), kann zu Verstehensproblemen führen wie ein hochkomplexer Text, wenn seine Bedeutungsvielschichtigkeit durch unterschiedliche Diskurse angereichert wird. Diese an fiktionale Texte erinnernde Interpretationsbedürftigkeit betrifft sogar einen Gesetzestext, dessen normierendes Verhältnis zur Wirklichkeit streng definiert zu sein scheint. Was ›gleich‹ in diesem Satz heißt oder heißen soll, lässt sich nicht einfach lexikalisch klären, die umfangreichen juristischen Grundrechtskommentare und die gerichtlichen Urteilsbegründungen belegen den Einfluss der Rechtsgeschichte, des historischen und sozialen Kontexts und der politischen Rah
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menkonstellation auf den Bedeutungswandel und den Auslegungsspielraum (vgl. Lämmert 1992). Umfassendes Leseverstehen erfordert also Aktivierung und Reflexion von externem Kontextwissen, um textinterne Informationen horizontal (synchron, gleichzeitig, interdisziplinär) und vertikal (diachron, fach-, ideen-, motiv-, stoff-, sprach-, gattungs- und mediengeschichtlich) vernetzen zu können.
2.4 Lesestrategien Die Analyse der zum Leseverstehen nötigen interpretatorischen Lesehandlungen arbeitet mit dem Begriff ›Lesestrategie‹ und beschreibt die Funktion von empirisch beobachtbaren Lesestrategien im Rezeptionsprozess (vgl. Charlton / Pette 1999). Als Beispiele für Lesestrategien während der Lektüre dienen: Untersteichungen, Zeichen oder Markierungen am Rand anbringen, das Lesetempo variieren, Stellen überspringen oder wiederholt lesen, (bis zum Ende) vorausblättern, ein Handlungsschema entwickeln, die Figurenkonstellation aufzeichnen, nach Erklärungen suchen für unklare Stellen, lautes Vorlesen, Lesepausen, intratextuelle / intertextuelle Beziehungen herstellen, bewerten, mit der Realität vergleichen, auf sich beziehen, das Involvement regulieren durch Distanzieren oder Identifizieren, Aufdecken von Konstruktionsmerkmalen, Zustimmung oder Ablehnung äußern und vieles mehr (vgl. Pette 2001). Auch vor und nach der Lektüre sind Lesestrategien in Gebrauch, z. B. Inhaltsverzeichnis studieren, Umschlag und Titel würdigen, sich eigene Erwartungen bewusst machen, Interessen formulieren, Vorfreude empfinden; und nach der Lektüre: nachdenken, kommunizieren, kritisieren oder Notizen machen, wichtig auch das Vergleichen mit anderen Büchern (des Autors). Corinna Pette hat Lesestrategien bei der Romanlektüre beobachtet, aber offenbar sind einige davon für die wissenschaftliche Lektüre fast noch wichtiger, dazu kommen weitere, z. B. das Exzerpieren, Fachtermini klären, Definitionen vergegenwärtigen, mit Quellen bzw. Sekundärliteratur vergleichen usw. Ebenfalls für die Romanlektüre hat Pette Gruppen von Lesestrategien Funktionen zugewiesen wie Verstehenssicherung, Überbrückung von Verständnislücken, Erhöhung der Lesemotivation, Selbstvergewisserung, Identitätssicherung (Reflexion über Normen, eigene Erfahrungen, Wertmaßstäbe). Bei der Lektüre wissenschaftlicher Texte übernehmen Lesestrategien Funktionen wie Klärung des methodischen Vorgehens, Verortung im fachwissenschaftlichen Diskurs, Isolierung und Bewertung der Thesen und Begründungen, Kritik der Quellen und Belege und andere mehr. Die Analyse und Beschreibung von Lesestrategien macht transparent, in welche konkreten Lesehandlungen der Rezeptionsprozess zwischen den Polen methodisch angeleiteter Textanalysearbeit und subjektiv intuitiver Lektüre zerlegt werden kann, sie dient auch der Konzeptionalisierung gezielter Leseförderung, denn die Übung von Lesestrategien verspricht den Erwerb konkreter Handlungsfähigkeit für die Praxis eines anspruchsvollen, text- und wissensbasierten Rezeptionsprozesses.
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3 Lesemodi Die Empirie des Leseprozesses zeigt ein breites Spektrum individueller Konstellationen der Interaktion unterschiedlich kompetenter Leser und unterschiedlich komplexer Textformate, so dass der Leseforschung die Aufgabe gestellt ist, übergreifende handlungsrelevante Rezeptionsweisen als Formen des Leseverstehens begrifflich zu unterscheiden und empirisch zu beschreiben. Unter Lesemodi sind Handlungsdispositionen zu verstehen, die spezifische Rezeptionsweisen ermöglichen, um Texte subjektbezogen nutzen zu können, um also z. B. Wissen zu erwerben, Interessen zu realisieren, Erkenntnisse zu gewinnen oder Kunst zu genießen. Für die Lektüre komplexer Texte unterschiedlicher Formate sind insbesondere fünf Lesemodi relevant, einmal die Pflichtlektüre und dann als freiwillige Leseweisen das Lesen als Partizipation, das Konzeptlesen, der ästhetische Lesemodus und das Lesen als Form diskursiver Erkenntnis (vgl. Graf 2001). Dagegen ist der instrumentelle Lesemodus gefragt, wenn einem wenig komplexen Text meistens in pragmatischen Zusammenhängen einzelne Informationen entnommen werden sollen. Der intime Lesemodus ist besonders geeignet für die emotional geprägte Unterhaltungslektüre, zu der z. B. Trivialromane einladen. Kompetente Leser sollten möglichst flexibel über alle Lesemodi verfügen, um die jeweilige LeserText-Interaktion optimal inszenieren zu können (vgl. Graf 2004, S. 131). Der Modus Pflichtlektüre hat seinen Ort in institutionellen Zusammenhängen, typisch ist die üblicherweise auch so benannte Pflichtlektüre im Deutschunterricht. Eine weitaus größere Rolle spielen alle die Sachtexte, die für Bildung, Aus- oder Weiterbildung gelesen werden müssen. In der literarischen Sozialisation der Jugendphase ist der Pflichtmodus beim Erwerb einer literarischen Rezeptionskompetenz, die komplexen Texten gewachsen ist, oft die erste und einzige Form der Rezeption von Textformaten, die in der Privatlektüre bisher nicht ausgewählt worden waren. Diese von außen vorgegebene Textauswahl und die höheren Anforderungen an die Lesekompetenz werfen nicht selten Motivationsprobleme auf. Trotzdem darf die Leseförderung keinesfalls das Kompetenztraining (vgl. Rosebrock / Nix 2008) vernachlässigen, denn diesbezügliche Fortschritte, das belegt die biografische Leseforschung, sind die notwendige Bedingung dafür, später in den dann erworbenen anderen Lesemodi ohne Motivationsprobleme auch komplexere Texte lesen zu können. Die besonders schwer zu lösende Aufgabe der Leseförderung besteht in der Transformation der Motivationsgrundlage, so dass komplexe Texte nicht nur sachlich verstanden werden, sondern dass sie auch freiwillig gelesen werden können, weil sich ihre Bedeutung für das lesende Subjekt erschließt.
3.1 Partizipation Lesen als Partizipation – ein Rezeptionsmodus überwiegend für die Nutzung von Sachtexten – zeigt die zwei Dimensionen Kommunikation (private und öffentliche)
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und Transfer. Als prototypisch für die Teilnahme an der politischen und kulturellen Öffentlichkeit gilt traditionell die Zeitungslektüre,2 für die Etablierung literarischer Privatheit konstitutiv ist jene Lektüre, die in literarische Geselligkeit eingebettet ist bzw. kommunikative Kontakte anregt. Beim Transfer ist an Instruktionstexte, z. B. Ratgeberliteratur, Lehrwerke, zu denken, die Handlungsfähigkeit intendieren, indem sie zum Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten anleiten. Der Lesemodus der Partizipation gewinnt durch die aktuelle Medienentwicklung an Dynamik und an Komplexität, Stichwörter zur Rezeption der neuen Textformate lauten Bildschirmlesen, Hypertext, E-Mail, SMS oder mobiler Internetzugang. Insbesondere die mit dem Smartphone eröffneten mobilen Partizipationsmöglichkeiten revolutionieren diesen Lesemodus durch die gesteigerte Aktualität und Dichte der Kommunikation und der Information. Motivationsprobleme werden nicht beobachtet, die Attraktivität der Internetnutzung scheint so hoch zu sein, dass in Einzelfällen vor Suchtgefahren gewarnt wird. Ein Teil der Internetbegeisterung scheint jedoch neben überwiegend visuellen Spielaktivitäten auch das Lesen von Hypertexten zu motivieren. Hypertexte können erhebliche, bisher kaum erforschte Kompetenzprobleme aufwerfen, weil auch einfache Textformate, wenn sie elektronisch quasi zu einem Lesetext zusammengeklickt werden, in eine neue Form textueller Komplexität übergehen. Eine der üblich gewordenen Recherchen im Netz zu einem interessanten, aktuellen Thema oder Stichwort fördert bekanntlich eine Vielzahl diverser Textformate auf den Bildschirm, die buntgemischte Informationen anbieten, die sich nicht selten gegenseitig dementieren: Meinungsäußerungen, aus ihrem Zusammenhang gerissene Zitate aus Büchern, Selbstdarstellungen von Institutionen, Werbung, sachkundige oder einseitige Beiträge von Experten oder Querulanten, Listen, Dissertationen, Rankings, subjektive Erlebnisschilderungen, amtliche Mitteilungen und vieles mehr stehen unverbunden nebeneinander und selbst lexikonartige Beiträge verändern ihre Aussage und Tendenz je nach der Aktivität ihrer selbstinitiativen Bearbeiter. Ein solches diffuses Textangebot – auffällig sind Defizite hinsichtlich Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptanz und Situationsbezug – wirft objektiv erhebliche Verstehensprobleme auf, die freilich subjektiv oft nicht realisiert werden, wie mit zahlreichen unqualifizierten Chatbeiträgen belegt werden könnte. Unverzichtbar für qualifiziertes Bildschirmlesen sind Kenntnisse zu neuen Formaten und veränderten Funktionen von Texten sowie inhaltliches Vorwissen als Voraussetzung für die Fähigkeit, in einer ersten Orientierungslektüre filtern zu können, welche Beiträge überhaupt aussagekräftig zum Thema sind. In der zweiten, genaueren Lektüre des reduzierten, weniger widersprüchlichen und zusammenhanglosen Textkonglomerats muss zwischen fiktionalen und sachhaltigen Textteilen unterschieden werden, Aussagen müssen quellenkritisch analysiert werden, ihre Intention muss ideologiekri-
2 Vgl. Kap. 4.2.1 Politische Implikationen des Lesens in diesem Band.
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tisch transparent gemacht, ihr methodischer Ansatz reflektiert werden, schließlich folgt wie bei jedem Text interpretierend eine Konstruktion des möglichen Sinns und dessen Bewertung bezogen auf das eigene Interesse oder Bedürfnis. Solche seriösen Verstehensanforderungen muss das sog. Surfen freilich nicht immer einlösen, es kann auch als unterhaltende Sichtung diverser Textsequenzen die partizipierende Funktion erfüllen. Auch die massenhafte Teilnahme an sozialen Netzwerken, die tendenzielle Expansion privater in öffentliche Kommunikation wird keineswegs durch Lesekompetenzschwellen gehemmt.
3.2 Interessenorientierter Wissenserwerb Die Informationsfunktion des Lesens, die über die instrumentelle Beschaffung von isolierten Informationen für pragmatische Zwecke hinausgehend den Erwerb von differenzierten Kenntnissen über ein Thema umfasst, erfordert eine spezifische Leseweise, um insbesondere komplexe Sachtexte, speziell wissenschaftliche Literatur nutzen zu können. Qualitative empirische Erhebungen belegen den Lesemodus eines an Wissensinteressen orientierten Konzeptlesens (vgl. Graf 2004, S. 91). Dieses Lesen ist im Unterschied zu anderen Lesemodi durch ein theoretisches Konzept bestimmt, das aus thematischen Interessen und mehr oder weniger umfangreichem Vorwissen zu dem entsprechenden Sachthema zusammengesetzt wurde. Wenn sich solche Interessen und solche Vorkenntnisse zu einer subjektiven Lesetheorie verbinden, bestimmt diese ein konzeptionelles Lesen, das darauf zielt, lesend Kenntnisse zu einem Fachgebiet zu erwerben, indem geeignete Texte gesucht, ausgewählt und genutzt werden. Das Lesekonzept bestimmt also die Präferenz, die Motivation und die Form der informatorischen Textbearbeitung, und es lenkt die Integration der neuen Informationen in die vorhandenen vernetzten Wissensbestände. Der Modus des Konzeptlesens greift Prozessbeschreibungen der Schematheorie und der Theorie der mentalen Modelle auf. Er bestätigt die Beobachtung, dass vorhandene Wissensschemata Aufmerksamkeit sowie Informationsaufnahme und -integration steuern, dass also ein interessenorientiertes, wissensbasiertes Lesekonzept die konkrete Lektüre hinsichtlich der Dimensionen Sinnkonstruktion, Textwirkung und Motivation strukturiert. Die in diesem komplexen Leseprozess erfolgende ständige Differenzierung und Veränderung des Lesekonzepts in der Interaktion mit dem Text ist analog zur Bildung interner mentaler Modelle und ihrer Modifikation konzipiert (vgl. Schiefele 1996; Christmann / Groeben 2002). Für die Qualität des Konzeptlesens kommt es entscheidend auf die Fähigkeit an, Texten die Chance zu geben, durch ihren Informationsgehalt das vorhandene Wissen nicht nur zu bestätigen und zu vermehren, sondern in der reflektierenden Rezeption möglicherweise zu modifizieren oder zu revidieren. Ziel dieses Lesemodus ist Expertenwissen in einem Interessensgebiet, er ist also relevant für alle selbstbestimmten Lernprozesse bis hin zum wissenschaftlichen Arbeiten. Auf der Ebene der Rezep
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tion wissenschaftlicher Literatur können die fachspezifischen Anforderungen an das Lesekonzept erheblich sein, aber erst vor dem subjektiven Lesehorizont auf dem Niveau der Fachliteratur kann erkennbar und damit lesbar werden, welches Bedeutungspotenzial ein wissenschaftliches Werk anbietet. Und die angemessene Reflexion des Gelesenen setzt ebenfalls einen vergleichbar differenzierten theoretischen Rahmen des Konzeptlesens voraus. Die interaktive Bedeutungskonstruktion erfolgt theorievermittelt, denn die Begrifflichkeit eines Texts muss mit der oft abweichenden Begrifflichkeit des Lesers bzw. der konkurrierender Texte abgestimmt werden, damit er das aktuell Gelesene nicht unverbunden und unproduktiv neben dem früher Gelesenen abspeichert. Über die Inhaltsebene hinaus haben komplexe Texte das Potenzial, durch die Beeinflussung des Lesekonzepts sogar die Form des Verstehensprozesses zu differenzieren, im gelingenden Fall kann also die intensive Auseinandersetzung mit einem gut formulierten Text die subjektiven Verstehensvoraussetzungen verbessern.
3.3 Literarästhetische Rezeption Typischer Gegenstand literarästhetischer Lektüre sind fiktionale Texte, die sich durch ihre besondere Sprache von der Alltagssprache unterscheiden. Neben polyvalenten literarischen Werken kann dieser Lesemodus jedoch auch für essayistische oder philosophische Texte produktiv sein, wenn diese besonderen Wert auf sprachliche Eleganz und verbale Prägnanz legen. Ästhetische Texte teilen den Charakters eines Kunstwerks, das sich von anderen Gegenständen der Betrachtung durch das Potenzial auszeichnet, durch seine Materialität etwas Geistiges zu vergegenwärtigen, das sich einer »begrifflich bestimmten Festlegung« entzieht (Seel 2003, S. 186). Entscheidend ist nicht der Nutzen oder der Informationsgehalt des Texts, sondern das Erscheinen des Schönen, und deshalb erfordert die kompetente Lektüre solcher Schriften einen eigenen Lesemodus, der mit einer besonderen Sensibilität für Sprache ausgestattet ist. Literarästhetische Wahrnehmungsprozesse, die nicht nur kognitiv bestimmt sind, sondern auch emotional und sinnlich, können feste Wahrnehmungskonventionen, mechanische Deutungsschemata und eingeschliffene Vorurteile lockern und so den Horizont der Wahrnehmung erweitern. Eine solche Wirkung setzt, wie auch die motivierende Freude am Schönen, eine entsprechende Disposition voraus. Die Erscheinung des Ästhetischen in der Literatur steht in Wechselwirkung zur Bereitschaft zu ästhetischer Wahrnehmung. Leser benötigen eine formbewusste Aufmerksamkeit für symbolisch angesprochene Sinndimensionen, die die wörtliche Textbedeutung transzendieren (vgl. Nordhofen 2003). Für ästhetisches Verstehen ist die Kenntnis von dem Text zugrunde liegenden literarischen Normen und Regeln relevant, die Literaturwissenschaft unterscheidet die deskriptive Poetik, die Normen und Regeln beschreibt, die implizite Poetik, die Regelhaftigkeit rekonstruiert, und die normative Poetik, die Regeln vorgibt.
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Textstatus und Leserolle tarieren sich in der literarästhetischen Kommunikation nachhaltig anders aus als in Modellen einer pragmatisch instrumentellen oder informatorischen Textnutzung, die den Text als Mittel eines Informationszwecks funktionalisiert. Zweckfreiheit als traditioneller oder Autofunktionalität als (post-)moderner Begriff heben einen gewissen Selbstwert des ästhetischen Texts hervor, der sich trotz der berechtigten Kritik am Autonomiepostulat der Kunst behauptet. Damit Literatur ästhetisch wirken kann, fordert die Kunstphilosophie so »etwas wie Selbstverneinung des Betrachtenden« (Adorno 1970, S. 514). Die Gewichtung des Texts in der Interaktion ist begleitet von der Mahnung an den Leser, sich zurückzunehmen, um die Entfaltungsmöglichkeit von Sinnangeboten nicht durch Ich-Dominanz zu unterbinden. »Das SichMessen am Text in seinem Eigenrecht ist auch die für den Leser fruchtbarste Lektüreweise.« (Kaiser 2005, S. 116) Dieses Akzeptieren eines eigenen Rechts des Texts als Zugangsvoraussetzung geschieht in der ästhetischen Anschauung, wenn der Text als schön empfunden wird. Die literarästhetische Kunstwahrnehmung lässt sich umschreiben als Erscheinen des Schönen in der Imagination, die auf der Textlektüre beruht und an den Text gebunden ist. Von einem subjektiven Kunsterlebnis unterscheidet sich dieser Prozess der ästhetischen Erfahrung durch die Reflexion der Kontexte, die das Kunstwerk und den Rezipienten beeinflussen. Von einer literarästhetischen Erfahrung wäre dann zu sprechen, wenn dem Leser als Subjekt der Erfahrung in der Interaktion mit dem Text durch die reflektierende Interpretationsarbeit ein Sinn evident wird, der nicht vom Text abzulösen ist und der die bisherigen Vorstellungen des Subjekts verändert. Um mit literarischen Texten solche ästhetischen Erfahrungen machen zu können, muss das Lesesubjekt über die oben schrittweise entwickelte literaturästhetische Rezeptionskompetenz verfügen. »Eine hohe ästhetisch-literarische Rezeptionskompetenz wird in der Regel attestiert, wenn das Gattungswissen im Verhältnis zum Einzelwerk flexibel gehandhabt wird und zur intersubjektiven Textwahrnehmung und Sinnkonstitution beiträgt.« (Eggert 2002, S. 189) Sind diese Bedingungen gegeben, kann literarästhetisches Lesen die Wahrnehmung verändern und die Erfahrung des Anderen ermöglichen (vgl. Bredella 2010, S. XXIX).
3.4 Diskursive Erkenntnis Erkenntnisorientierte Lektüre, man könnte sie als philosophisches Lesen apostrophieren, erfordert hohe intellektuelle Aufgeschlossenheit, denn die Bereitschaft, sich auf Texte einzulassen, sollte mit der Fähigkeit verschwistert sein, sich reflektierend auch wieder von der verhandelten Sache distanzieren zu können. Die lesende Wahrheitssuche, z. B. in der Interaktion mit einem philosophischen Werk, trifft nämlich auf die Eigenart eines solchen Texts, dass dieser nicht nur Mitteilungen über einen Gegenstand anbietet, sondern selbst Ausdruck dieses Gegenstandes ist, der folglich nur am Text nachvollzogen und reflektiert werden kann. Das erkenntnisorientierte Textstudium macht Texte zum Medium sprachlicher Reflexion und begrifflicher
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Erkenntnis. Dieser Lesemodus diskursiver Erkenntnis unterscheidet sich von der ästhetischen Leseerfahrung, die sich durch die Wahrnehmung begrifflich nicht fassbarer Gegenstandsaspekte auszeichnet, durch die Konzentration auf die begriffliche Erkenntnis von Gegenständen der Wahrnehmung. Den Unterschied zum Konzeptlesen markiert die Differenz zwischen interessenorientiertem Wissenserwerb und interessenreflektiertem Erkenntnisprozess. Dieser kognitiv bestimmte Leseprozess zielt darauf, dass dem Leser eine neue, eigene Erkenntnis gelingt, dass er durch die Lektüre einen Gegenstand anders verstehen kann und dass diese Erkenntnis auch begrifflich formulierbar ist. Eine solche Erkenntnis erweitert nicht nur das Wissen, sondern strukturiert das Vorwissen um, weil es Teile der vorliegenden Wissensstruktur negiert oder modifiziert. Idealtypisch kultiviert diese Leseweise der Forscher, der durch wissenschaftliche Textarbeit neue Einsichten formulieren kann. Voraussetzung sind spezifische wissenschaftliche Textanalysekompetenzen, um die Logik des textgebundenen Denkens und Argumentierens nachvollziehen und produktiv reformulieren und kritisieren zu können. Wenn sich der Leseprozess zum diskursiven Erkenntnisprozess steigert, wenn durch den Text ein Gegenstand der Erkenntnis begrifflich erfasst werden kann, dann kann für Leser, die Erkenntnisgewinne auf sich selbst beziehen können, dieses Lesen auch Selbsterkenntnis durch Texte anregen. Wenn Leser in Texten beispielsweise eine treffende Begrifflichkeit entdecken für Erlebtes, für Erinnerungen oder Einstellungen, dann kann ein solches Auf-den-Begriff-Bringen ihre Vorurteilsstruktur klären oder modifizieren. Allerdings benötigen Leser im Dialog auch selbstgewisse Distanz, um sich kritisch mit Texten auseinander zu setzen und um die Gefahr unreflektierter Übernahme von Aussagen zu vermeiden. Wenn dann in einer solchen erkennenden Interaktion lesend eine diskursive (Selbst-)Erkenntnis gelingt, kann diese Befriedigung in seltenen Fällen sogar ein Glücksgefühl (vgl. Muth 1996, S. 62) gewähren und so die Lesemotivation sichern. Der diskursive Lesemodus präferiert zwar wissenschaftliche Texte auf hohem Abstraktionsniveau, prinzipiell kann aber jeder Text zum Gegenstand von Erkenntnis mit Wahrheitsanspruch werden. Das angestrebte Ziel der Lektüre wäre hier Aufklärung bzw. Selbstaufklärung. Psychoanalytisch inspirierte Lesekonzepte bestehen bei der aufklärerischen Lesefunktion auf dem Aspekt der Bewusstmachung, sie erwarten vom Leseprozess, für Desymbolisiertes Symbole anzubieten, also Unbewusstes bewusst zu machen (vgl. Schönau 1991; Anz 1998).
4 Funktion der Literatur, Wirkung des Lesens in der Mediengesellschaft Auch in der Mediengesellschaft in Konkurrenz mit den expandierenden neuen Medien geben Experten der Literatur eine unverzichtbare Funktion im Prozess der
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Sozialisierung und Individualisierung sowie für die Identitätsfindung und -sicherung.3 Informiertheit sowie Aus- und Weiterbildung sind ohne Texte undenkbar, literarästhetische und wissenschaftliche Werke behaupten ihren kulturellen Stellenwert, weiterhin wird der Literatur ihre traditionelle Bildungsfunktion zugeschrieben (vgl. Dawidowski 2009). Allerdings verändern sich in der Gegenwart Funktion und Wirkung von Texten, weil die Literaturgeschichte und Geschichte des Lesens nicht isoliert von der Entwicklung der Medien und der Mediennutzung verlaufen. Außer der Erfassung von quantitativen Verschiebungen im Verhältnis alter und neuer Medien ist insbesondere die Beobachtung qualitativer Veränderungen der Produktion und Rezeption vordringlich, nicht zuletzt weil Texte auch in elek tronischen Medien gelesen werden und weil damit der Anteil der Hypertexte expandiert. Wenn die traditionell für Literatur (Drucke und Handschriften) konstitutive Fixiertheit beim Bildschirmlesen (teilweise) aufgehoben ist, dann gehört auch die vertraute Situation des Lesers, der selbstbestimmt jederzeit eine bestimmte Stelle in einem bestimmten Buch konsultieren kann, der Vergangenheit an. Das Lesen von Hypertexten erfordert einerseits eine modifizierte Lesekompetenz, für die es kennzeichnend ist, Teilkompetenzen der Medienkompetenz zu übernehmen wie medientechnisches Wissen, Bedienungs- und Nutzungskompetenz bezogen auf Hard- und Software, Kritikfähigkeit (besonders zur Bewertung von Informationen) und schließlich eine (produktive) Schreibkompetenz, um das Lesen in einen interaktiven Kommunikationsprozess überführen zu können. Andererseits hat diese modifizierte Lesekompetenz einen erheblichen Stellenwert als Teil der Medienkompetenz, um den umfangreichen textgebundenen Teil des medialen Angebots nutzen zu können. Um Sachtexte im Internet zur Information (im Partizipations- oder im Konzeptmodus) zu rezipieren, ist neben dem thematischen Vorwissen immer mehr Medienwissen notwendig, besonders zu erfolgversprechenden Suchstrategien (vgl. Schreier / Rupp 2002, S. 257). Dieses informatorische Lesen, das neben Printmedien die elektronischen Texte der neuen Medien nutzt, expandiert in der Mediengesellschaft, die deshalb auch Informationsgesellschaft genannt wird, während das traditionelle Sachbuch an Bedeutung verliert. Beim literarischen Lesen fiktionaler Texte stellte sich die aktuelle Entwicklung in der Medienkonkurrenz schon seit dem Aufstieg des Fernsehens zum Leitmedium und verstärkt durch die Attraktivität der elektronischen Spiele anders dar, weil Narrationen, das Erzählerische, nicht nur durch Texte, sondern auch visuell präsentiert werden können. Insbesondere phantasievolle Unterhaltungsfunktionen können Filme oder Videospiele übernehmen. Bezogen auf die literarische Lesekompetenz nennen Margrit Schreier und Gerhard Rupp dennoch vier exklusive Funktionen: »die emotionale Funktion des Leseerlebnisses selbst sowie die kognitiven Funktionen einer Förderung der Sprach-, der Konzentrationsfähigkeit
3 Vgl. Kap. 4.2.2 Lesen als Identitätskonstruktion und soziale Integration in diesem Band.
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und der primären Fantasie« (Schreier / Rupp 2002, S. 265). Während das Leseerlebnis bei der Lektüre unterhaltender Texte im intimen Modus im Zentrum steht, sind für das literarische Lesen komplexer Textformate im ästhetischen und im diskursiven Modus sprachästhetische Erfahrung und begriffliche Erkenntnis als Lesefunktionen zu ergänzen. In der Zukunft lässt die verstärkte Nutzung neuer Textformate die Rezeption komplexer Texte unübersichtlicher und anspruchsvoller werden, so dass die potenzielle Wirkung des Lesens in Verbindung mit der Mediennutzung, als literarische Intellektualität (Eggert u. a. 2000) beschrieben, sicher nicht einfach zu realisieren sein wird, weil die Anforderungen an die literarische Rezeptionskompetenz hinsichtlich Auswahl, Bewertung und Interpretation auf der Ebene komplexer Textformate eher steigen werden. Für diejenigen, die die Kompetenzvoraussetzungen erfüllen, verbessern sich die Chancen, bedürfnisorientiert am literarischen Leben teilnehmen und interessenorientiert Zugang zum kulturellen Wissen finden zu können, weil das textbasierte Angebot insgesamt schnell wächst. Diejenigen dagegen, deren Erwerb einer medientauglichen Lesekompetenz nicht optimal gefördert wird, werden die potenziell vorhandene Vielfalt unterschiedlicher Inhaltsformate nur unzulänglich nutzen können.
5 Literatur Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1970. Boesken, Gesine: Literarisches Handeln im Internet. Schreib- und Leseräume auf Literaturplattformen. Konstanz 2010. Bredella, Lothar: Das Verstehen des Anderen. Kulturwissenschaftliche und literaturdidaktische Studien. Tübingen 2010. Charlton, Michael / Pette, Corinna: Lesesozialisation im Erwachsenenalter. Strategien literarischen Lesens in ihrer Bedeutung für die Alltagsbewältigung und Biografie. In: Norbert Groeben (Hrsg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Schwerpunktprogramm. Tübingen 1999 (IASL. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft 10), S. 103–118. Christmann, Ursula / Groeben, Norbert: Anforderungen und Einflussfaktoren bei Sach- und Informationstexten. In: Dies. (Hrsg.): Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim / München 2002, S. 150–173. Dawidowski, Christian: Literarische Bildung in der heutigen Mediengesellschaft. Eine empirische Studie zur kultursoziologischen Leseforschung. Frankfurt a. M. 2009. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen 2001. Dijk, Teun van: Textwissenschaft. München 1980. Eggert, Hartmut: Literarische Texte und ihre Anforderungen an die Lesekompetenz. In: Groeben / Hurrelmann 2002 (s. u.), S. 186–194.
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Werner Graf
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2.1.4 Leseverstehen komplexer Texte
205
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Maik Philipp
2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen Zusammenfassung: Leseverstehen und Textverständlichkeit basieren auf der kognitiven Auseinandersetzung von Personen mit einem entweder vorhandenen oder noch entstehenden Text. Dieses Zusammenspiel basiert auf Regeln, die zum Teil als Strategien bezeichnet werden. Das Kapitel widmet sich aus theoretischer und empirischer Perspektive dem Zusammenhang von kognitiv anspruchsvollen Lese- und Schreibfähigkeiten. Dabei handelt es sich um ein dringend zu bearbeitendes Forschungsdesiderat in Theorie und Empirie. Abstract: Both the comprehension and the comprehensibility of texts are based on a cognitive engagement with either a complete text or a developing text. This interplay between the text and information stored in the person’s memory is based on rules that can be designated as strategies. This chapter addresses the context of cognitively demanding reading and writing competencies from a theoretical and empirical perspective. Both strands of research urgently need theoretical clarification and empirical validation.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 207 2 Lesen und Schreiben: zur Evolution verschiedener Konzeptionen — 208 3 Einige theoretische Perspektiven auf das Lesen und Schreiben — 210 3.1 Literalität, Kompetenz, Selbstregulation: zur Konvergenz unterschiedlicher Konzepte — 210 3.2 Ein Blick auf Lese- und Schreibprozesse — 212 3.2.1 Lesen und Schreiben: ein Zusammenspiel von Fertigkeiten und Strategien — 212 3.2.2 Prozesse des Lesens — 217 3.2.3 Prozesse des Schreibens — 219 3.3 Zur gemeinsamen Erwerbslogik des Lesens und Schreibens — 222 4 Einige empirische Perspektiven auf das Lesen und Schreiben — 224 4.1 Zur Trennbarkeit von Lesen und Schreiben — 225 4.2 Die Förderperspektive: Wie welches Schreiben dem Lesen hilft — 226 5 Fazit und Ausblick — 229 6 Literatur — 230
1 Einleitung Wer sich mit dem Verhältnis von Lesen und Schreiben befasst, den beiderseits so augenfällig mit Schriftsprache verbundenen Aktivitäten, wird irgendwann bei der Frage nach der theoretischen und empirischen Nähe oder Distanz im rezeptiven und produktiven Umgang mit Schrift landen – und damit vor der schwierigen Aufgabe stehen, möglicherweise wechselseitige Beziehungen über den Zeitverlauf zu rekonstruieren. Dieses Kapitel will dies zumindest für einen Teil – die Lese- und Schreib-
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strategien – eine gemeinsame Bestandsaufnahme wagen, ohne dabei allein aus Platzgründen einem Anspruch auf Vollständigkeit gerecht werden zu können. In diesem Beitrag steht das regelgeleitete Vorgehen beim Lesen und Schreiben im Vordergrund, das sich sowohl im rezeptiven als auch im produktiven Umgang mit Schriftsprache zeigt. Dabei lassen sich sowohl theoretische als auch empirische Perspektiven einnehmen, und das soll – freilich mit einem notgedrungen größeren Anteil der Theorie, weil es wenig Forschung dazu gibt – in diesem Kapitel geschehen. Der Aufbau des Beitrags ist folgender. Zunächst geht es um den Blick zurück in die Konzeptionen, was Lesen und Schreiben sind (Abschnitt 2). Beide Forschungsfelder sind relativ unverbunden, haben aber vergleichbare Paradigmenwechsel erlebt. Im Anschluss daran ist eine theoretische Perspektive leitend (Abschnitt 3). Nach einer kurzen Konsultation von verschiedenen gegenwärtig gebrauchten theoretischen Konzepten (Literalität, Kompetenz und Selbstregulation) stehen die Prozesse und Prozessebenen des Lesens und Schreibens im Vordergrund. Direkt danach wird ein allgemeines Modell des Kompetenzerwerbs vorgestellt, das sich sowohl auf das Lesen als auch Schreiben beziehen lässt. Danach ändert sich die Perspektive; sie wird empirischer Natur (Abschnitt 4). Hier geht es um die Frage, wie sich Produkte und Prozesse des Lesens und Schreibens in den zugegeben wenig vorhandenen Studien ähneln. Dann stehen erste metaanalytische Befunde zur Förderung des Lesens durch schreibbezogene Maßnahmen im Zentrum. Das abschließende Fazit bündelt die wichtigsten Inhalte und stellt die grundsätzliche Problematik eines unübersehbaren Desiderats dar (Abschnitt 5).
2 Lesen und Schreiben: zur Evolution verschiedener Konzeptionen Die Forschung zum Lesen und Schreiben kennt – jeweils für sich – eine recht lange Tradition. Erst in letzter Zeit wird nicht zuletzt unter dem erstarkenden Interesse an dem umfassenden Konzept ›Literalität‹ der integrativen Sicht auf das Lesen und Schreiben mehr Beachtung geschenkt. Dies vermag allerdings die sehr unterschiedlichen Forschungsstände und ‑traditionen insgesamt nicht zu nivellieren. Obwohl es wegen der gemeinsamen Basis des Lesens und Schreibens – den Texten und der Schriftsprache – und einigen konzeptionellen Übereinstimmungen zunächst gerechtfertigt zu sein scheint, beide Aktivitäten als verwandt zu betrachten, sind Art und Grad des Verwandtschaftsverhältnisses noch genauer zu bestimmen. Wie schon erwähnt sind die Forschungstraditionen beim Lesen und Schreiben unterschiedlich. Dennoch folgen sie einer im Kern ähnlichen wissenschaftshistorischen Evolution, indem sich zu verschiedenen Zeitpunkten spezifische Sichtweisen auf das Lesen und Schreiben infolge von Paradigmenwechseln und Diskursveränderungen ergeben haben. Diese Sichtweisen sollen hier in aller Kürze skizziert werden.
2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen
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Historisch betrachtet ergeben sich seit den 1950er Jahre mindestens fünf Hauptströmungen, wie Lesen konzipiert wird: (L1) Lesen als konditioniertes Handeln (eine Sichtweise in der Tradition des Behaviorismus), (L2) Lesen als natürliches Lernen (Tradition der Universalgrammatik), (L3) Lesen als Informationsverarbeitung (Primat der Kognitionspsychologie und Psycholinguistik), (L4) Lesen als soziokulturelles Lernen (Primat des Sozialkonstruktivismus) und (L5) engagiertes Lesen (unter starkem Einfluss der Motivationspsychologie; vgl. Alexander / Fox 2004). Auch beim Schreiben liegen unterschiedliche Konzeptionen vor, die ähnlich wie beim Lesen unterschiedlichen theoretischen Positionen geschuldet sind. Hier lassen sich ebenfalls mindestens fünf solcher Diskurse zum Schreiben rekonstruieren: Schreiben als (S1) Beherrschung basaler Fähigkeiten, (S2) Ausdruck angeborener, individueller Kreativität, (S3) rein kognitiver Prozess, (S4) Berücksichtigung genrebezogener Konventionen oder (S5) soziale Praxis (vgl. Ivanic 2004). Sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben ergaben sich aus historischer Sicht markante Verschiebungen bei der Vorstellung, was Lesen und Schreiben ist – und entsprechend auch, wie es vermittelt werden soll. Grundsätzlich lassen sich Gemeinsamkeiten und Differenzen in der Betrachtung der Lese- und Schreibkonzeptionen finden. Eine erste Gemeinsamkeit besteht darin, dass es Auffassungen gibt, die im Sinne eines ›skill drill‹ basale Lese- und Schreibfähigkeiten fokussieren, die mit expli ziter Instruktion vermittelt werden. Das sind beim Lesen beispielsweise das genaue, ausreichend automatisierte Decodieren (Leseflüssigkeit) und beim Schreiben graphomotorische Fähigkeiten und sprachformale Aspekte wie Rechtschreibung und Grammatik (L1, S1). Eine weitere Überschneidung liegt auf einer zugegeben sehr abstrakten Ebene jenen Konzeptionen zugrunde, die von einem angeborenen Potenzial ausgehen, das sich entfalten kann. Dabei besteht die Besonderheit, dass beim Lesen andere Aspekte als beim (narrativen) Schreiben fokussiert werden (L2, S2). Ähnlich ist jedoch, dass nach dieser Vorstellung das Lernen implizit, d. h. eher über das Bereitstellen einer anregenden Umgebung erfolgt. Eine nächste Parallele besteht ferner in Ansätzen, die auf Wissensbestände fokussieren. Diese Ansätze beziehen sich auf Vorwissensbestände, die im Langzeitgedächtnis vorhanden sind (L3–5, S1, S3, S4). Zu guter Letzt werden in einigen Ansätzen sehr stark die kognitiven Prozesse betont (L3–5, S3). Daneben treten markante Differenzen zwischen den Konzeptionen zutage. Die Konzeptionen divergieren z. B. darin, ob sie situative oder auch kontextuelle Merk
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male berücksichtigen (L2, L4, L5, S3–5) oder nicht (L1, L3, S1, S2). Auch wenn die Bezeichnung ›soziokulturelles Lernen‹ beim Lesen (L4) und ›soziale Praxis‹ beim Schreiben (S5) auf soziale Aspekte verweisen, so ist die Bedeutung nicht identisch. Die entscheidende Differenz liegt jedoch darin, dass es beim soziokulturellen Lernen immer noch um das Lernen geht, bei der sozialen Praxis hingegen eher um Bedeutungszuweisungen in puncto Schreiben (und auch Lesen) innerhalb sozialer, meist außerschulischer Kontexte. Grundsätzlich differieren die Ansätze auch dahingehend, ob sie von impliziten Vermittlungsformen ausgehen (L2, S2, teilw. S5) oder das Schriftlernen durch explizite Instruktion fördern (L1, L3, L4, S1, S3, S4). Auffällig ist schließlich, dass die Motivation im Umgang mit Schriftsprache vor allem beim Lesen explizit genannt wird, wenn auch nicht bei allen Ansätzen (L5). Beim Schreiben ist der Faktor Motivation eher implizit (S2, S5). Allgemein haben die verschiedenen theoretischen Strömungen zu einer Vielzahl von Konzepten geführt. In diesen Konzepten werden kognitive und motivationale Prozesse, Wissensbestände, aber auch zum Teil die soziale Umgebung berücksichtigt. Dadurch ist das Verständnis für die Komplexität des Gegenstandsbereichs erweitert worden, zugleich macht dieser Umstand das Feld unübersichtlich. Für dieses Kapitel ist vor allem die Betonung der kognitiven Prozesse zentral, die absichtsvoll ablaufen.
3 Einige theoretische Perspektiven auf das Lesen und Schreiben 3.1 Literalität, Kompetenz, Selbstregulation: zur Konvergenz unterschiedlicher Konzepte Gegenwärtig sind diverse Begrifflichkeiten im Umlauf, um den versierten Umgang mit Schriftsprache zu bezeichnen. Als übergreifendes Rahmenkonzept gilt die sog. Literalität. Dieser Begriff hat viel zu tragen, umfasst er doch – je nach Verwendung – eine sowohl gesellschaftliche als auch individuelle Perspektive auf die schriftsprachlichen Fähigkeiten (vgl. Hurrelmann 2009). Demgegenüber bezeichnet Kompetenz nur die individuellen, mehrheitlich kognitiven Leistungsdispositionen einzelner Personen. Kompetenzen werden häufig – nicht zuletzt in Zeiten der empirischen Bildungsforschung im großen Stil – an ihrem Ergebnis gemessen, über das dann auf die Fähigkeiten geschlossen wird. Unter einer Prozessperspektive, also dem Blick auf günstige Prozesse beim Lesen und Schreiben, die überhaupt erst zu der Leistung führen, ist ein drittes Konzept bedeutsam: die Selbstregulation beim Lesen und Schreiben. Wegen ihrer inhaltlichen Nähe, aber auch Distanz ist es sinnvoll, diese drei derzeit wirkungsmächtigen Konzepte zu definieren und ihre Schnittmenge zu bestimmen.
2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen
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Häufig werden Lesen und Schreiben derzeit unter dem Begriff ›Literalität‹ diskutiert. Diese Begrifflichkeit stammt aus dem angelsächsischen Kontext, wo von ›Literacy‹ gesprochen wird. Dort hat der Begriff eine eigene Tradition und ist mit der Übersetzung ›Literalität‹ nicht präzise genug übersetzt. Allerdings lässt sich mit einem Blick aus der allgemeinen europäischen und der besonderen deutschen Perspektive (Stichwort hier: Bildung; vgl. Hurrelmann 2009) konstatieren, dass Literalität eine Art Zwischenstellung einnimmt. Sie umfasst laut Stephan Sting »mehr als Lesen und Schreiben und zugleich weniger als eine auf bestimmte Bereiche und Inhalte bezogene Bildung. Sie bezeichnet kulturunabhängige und inhaltsneutrale kognitive Kompetenzen, die in verschiedenen Wissensgebieten und Lernbereichen zur Anwendung kommen sollen« (Sting 2003, S. 322). Wenn man sich diese Definition genauer betrachtet, fällt fünferlei auf. Erstens geht es um mehr als das basale Lesen und Schreiben, es reicht also nicht, technisch lesen und schreiben zu können. Zweitens ist es aber auch nicht angedacht, sich auf die Subjektwerdung in verschiedenen, kulturell präformierten Bereichen zu beschränken. Stattdessen steht – drittens – die angemessene Anwendung der eigenen Fähigkeiten in verschiedenen Kontexten und Situationen im Mittelpunkt. Und viertens spielt auch noch die Erwünschtheit eine Rolle, da das Hilfsverb ›sollen‹ Gegenstand der Begriffsbestimmung ist. Literalität hat damit einen normativen Charakter. Hierin schließt sich – fünftens – das Wechselspiel von Individuen und Gesellschaft an: Individuen sollen Kompetenzen haben, damit sie für die Anforderungen einer historisch variabel verfassten, sich stetig entwickelnden literalen Gesellschaft gerüstet sind. Aber was sind denn die ›kognitiven Kompetenzen‹, die in der Definition von ›Literalität‹ so prominent auftauchen? Darunter versteht man – im Sinne von Franz Weinert – »alle individuellen mentalen Ressourcen, die dafür verwendet werden, anspruchsvolle Aufgaben in verschiedenen Domänen zu meistern, notwendiges deklaratives und prozedurales Wissen zu erwerben und gute Leistungen zu erzielen.« (Weinert 2001, S. 46) Weinert führt außerdem aus, dass Kompetenzen (wie jene beim Lesen oder auch Schreiben) sich durch vier weitere Kriterien bestimmen lassen. Erstens ergeben sich Kompetenzen aus den Anforderungen, die jemand erfüllen soll. Je komplexer diese sind, desto höher sind die Fähigkeiten, die jemand dafür benötigt. Zweitens braucht es dazu nicht nur kognitive, sondern häufig auch motivationale, volitionale (= die Handlungssteuerung betreffende) sowie soziale Fähigkeiten. Drittens muss nicht alles, was als einigermaßen komplexe Anforderung entsprechende Kompetenzen erfordert, mit großem und bewusstem Aufwand verbunden sein. Auch automatisierte Fertigkeiten kann man – ausgehend von den Anforderungen – als Kompetenz betrachten. Zu guter Letzt sind Kompetenzen nicht angeboren. Menschen erwerben sie vielmehr aktiv. Und noch ein drittes theoretisches Konzept kann man in diesem Zusammenhang anführen: Selbstregulation. Mit diesem Begriff bezeichnen Barry Zimmerman und Dale Schunk im schulischen Kontext jene »Prozesse, in denen Lernende eigenständig Kognitionen, Motivationen und Verhaltensweisen aktivieren und erhalten, die
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systematisch mit dem Erreichen persönlicher Ziele zusammenhängen.« (Zimmermann / Schunk 2011, S. 1) Indem sich Personen Ziele setzen – etwa einen längeren Text verstehen bzw. verfassen zu wollen –, können sie deren Erreichen überwachen und bei Problemen Reparaturen vornehmen. Weil das anspruchsvoll und mitunter anstrengend ist, bedarf es eines hohen Maßes an Motivation. Die Fähigkeit zur Selbstregulation ist gerade beim Schreiben ein prominent untersuchter Bereich (vgl. Graham / Harris 2000), erfährt aber inzwischen auch beim Lesen mehr Beachtung (vgl. Massey 2009; Philipp 2012a). Wendet man sich der Schnittmenge zwischen Literalität, Kompetenzen im Lesen bzw. Schreiben sowie der Selbstregulation zu, fällt eines auf: Im Kern aller drei theo retischen Konzepte geht es um kognitive Prozesse in der Auseinandersetzung einer Person mit Schriftsprache. Neben diesen zunächst deskriptiven Aspekt tritt ein weiterer normativer: Es handelt sich um wünschenswerte Fähigkeiten. Diese Erwünschtheit hat mit gesellschaftlichen Anforderungen zu tun, die aus der historisch begründeten Durchtränkung des Alltags von und (Massen-)Kommunikation mit Schriftsprache resultieren. Dadurch werden schriftsprachliche Fähigkeiten – Lese- und Schreibkompetenz bzw. das selbstregulierte Lesen und Schreiben – notwendig, damit Personen zu gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekten werden (vgl. Hurrelmann 2009). Hierfür genügen laut den Konzepten Kompetenz und Selbstregulation rein kognitive Prozesse nicht; es bedarf der (bewussten) Handlungssteuerung, die wiederum genügend Motivation voraussetzt, solch anspruchsvolle Tätigkeiten mit Erfolg auszuführen. All das sind Merkmale von Strategien, die für gelingende Lese- und Schreibprozesse gleichermaßen essenziell sind (vgl. Abschnitt 3.2).
3.2 Ein Blick auf Lese- und Schreibprozesse Lese- und Schreibaktivitäten lassen sich auf verschiedene Weisen modellieren. In diesem Abschnitt stehen zunächst die Fertigkeiten und Strategien als zwei grundsätzlich beteiligte kognitive Teilprozesse im Vordergrund (Abschnitt 3.2.1). Danach werden die grundsätzlichen Prozesse des Lesens (3.2.2) und Schreibens (3.2.3) anhand eines exemplarischen Modells beleuchtet.
3.2.1 Lesen und Schreiben: ein Zusammenspiel von Fertigkeiten und Strategien Damit Lesen und Schreiben gelingen, bedarf es nach Auffassung der Forschung sowohl kognitiv hierarchiehoher als auch ‑niedriger Fähigkeiten, die im Lese- bzw. Schreibprozess miteinander zusammenspielen (vgl. van Dijk / Kintsch 1983; Graham / Harris 2000; Richter / Christmann 2002). Die hierarchieniedrigen Fähigkeiten werden häufig als Fertigkeiten bezeichnet. Im Falle des Lesens ist damit vor allem die Leseflüssigkeit gemeint. Unter Leseflüssigkeit versteht man ein schnelles und gleichzeitig genaues
2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen
213
Decodieren auf Buchstaben-, Wort- und Satzebene. Beim lauten Lesen kommt noch die angemessene Betonung und Phrasierung hinzu (vgl. Rosebrock / Nix 2006). Das Pendant zur Leseflüssigkeit bildet bei der Textproduktion die Schreibflüssigkeit. Dieser Begriff bezeichnet die Fertigkeit, zügig und sprachformal korrekt (das beinhaltet sowohl Rechtschreibung, Grammatik, Groß- und Kleinschreibung, Syntax und Zeichensetzung) einen Text zu produzieren, wobei die Qualität des Texts nachrangig ist (vgl. Graham u. a. 1997). Damit bilden sowohl die Lese- als auch die Schreibflüssigkeit die elementare Basis für Textverstehen bzw. ‑verständlichkeit. Aus temporaler Perspektive unterscheiden sie sich darin, dass beim Lesen das schnelle und genaue Erkennen und Prozessieren von Buchstaben, Wörtern und Sätzen den ersten Schritt bildet, während beim Schreiben das zügige, formal korrekte Verschriften dem Planen folgt und dem Überprüfen vorausgeht. Freilich sind das idealtypische Gegenüberstellungen, da Lese- und Schreibprozesse erheblich komplexer sind. Die hierarchiehöheren Fähigkeiten beim Lesen und Schreiben nennt man Strategien. Strategien haben aus Sicht der Forschung gleich mehrere zentrale Merkmale. Sie – bezeichnen überwiegend mentale Aktivitäten, die zielgerichtet sind; – werden aktiviert, wenn es Probleme im Schreib- oder Leseprozess gibt; – sequenzieren und entschleunigen den Lese- und Schreibprozess; – stehen im Sinne einer Heuristik für eine typische oder auch bevorzugte Herangehensweise, werden aber nicht rigide, sondern flexibel genutzt; – sind im Ergebnis (Textprodukt bzw. Textverständnis) nicht mehr direkt sichtbar; – setzen basale Lese- und Schreibfertigkeiten voraus; – müssen von Lernenden aktiv erworben, automatisiert und vielfältig geübt sowie hinsichtlich ihrer Wirkung beurteilt werden (d. h. sie sind nicht Ergebnis eines natürlichen Reifungsprozesses oder angeboren); – stützen sich auf das günstige Zusammenspiel von Wissensbeständen, nämlich deklarativem (Wissen, dass), prozeduralem (Wissen, wie) und konditionalem Wissen (Wissen, wann und warum man Strategien anwendet); – entfalten dann den größten Nutzen, wenn Lernende sie für persönlich bedeutsame Ziele nutzen, sie als nützlich und effektiv empfinden und diese Lernenden Strategien selbstreguliert nutzen; – sind für den Kompetenzerwerb in einem Bereich wie dem Lesen oder Schreiben zwingend erforderlich (vgl. Paris u. a. 1983; van Dijk / Kintsch 1983; Alexander u. a. 1998; Graham / Harris 2000; Alexander 2005). Die Begriffe ›Fertigkeiten‹ und ›Strategien‹ werden im alltäglichen Sprachgebrauch, zum Teil auch in der wissenschaftlichen Literatur nicht immer eindeutig oder auch auf gleiche Weise verwendet. Die entscheidende Differenz zwischen Fertigkeiten und Strategien besteht in der bewussten Steuerbarkeit. Strategien auf der einen Seite sind zielgerichtete, absichtsvolle Aktivitäten beim Lesen oder Schreiben. Fertigkeiten auf der anderen Seite zeichnen sich durch Automatisierung aus – man nutzt sie in aller
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Regel, ohne dass man sie kontrolliert oder bewusst aktiviert. Diese konzeptionelle Differenz zwischen Strategien und Fertigkeiten ist allerdings keine rigide und unveränderliche Opposition. Unter der Erwerbsperspektive kann eine identische Handlung sowohl eine Strategie als auch eine Fertigkeit sein (vgl. Graham 2006; Afflerbach u. a. 2008). Beginnende Leser, die sich bewusst und mühsam Wörter erlesen, bzw. beginnende Schreiber, welche ein Wort unter großer kognitiver Anstrengung aufschreiben, handeln zielgerichtet und absichtsvoll. Sie gehen damit strategisch vor. Wenn sie durch vielfältige Anwendungen und Übungsvorgänge Wörter flüssig lesen und schreiben, haben sie dadurch die ursprüngliche Strategie in eine Fertigkeit transformiert, die sie automatisch und scheinbar mühelos nutzen. Im Lese- und Schreibprozess können sie dann die nötigen Fertigkeiten und Strategien gleichermaßen in Anspruch nehmen. Strategien lassen sich nach verschiedenen Gesichtspunkten klassifizieren. Häufig trifft man in der Forschungsliteratur auf die Untergliederung nach dem Zeitpunkt, zu dem jemand eine Strategie ausführt, d. h. vor, während oder nach dem Lesen bzw. Schreiben. Mehr Gewinn verspricht aber eine sachlogische Taxonomie der Strategien. Es gibt zwar keine verbindliche Klassifikation, aber immerhin zeichnet sich ein Konsens im Sinne einer Dreiteilung ab. In der Forschung werden grob drei Arten von Strategien unterschieden, die verschiedenen Zwecken dienen: kognitive, metakognitive und Stützstrategien (vgl. Zimmerman / Risemberg 1997; Friedrich / Mandl 2006; Philipp 2012a). Kognitive Strategien dienen dazu, bei der unmittelbaren Auseinandersetzung mit der Schriftsprache bzw. den durch sie transportierten bzw. zu transportierenden Inhalten einen Fortschritt zu erzielen. Darüber laufen die metakognitiven Strategien, die dazu dienen, den Fortschritt zu überwachen (vgl. Flavell 1979). Mit dem Begriff Metakognition, der auf John Flavell zurückgeht, werden umfassende Wissensbestände bezeichnet, die sich auf die eigenen kognitiven Prozesse und Produkte beziehen. Konkret geht es um die aktive, konsequente und im Dienst eines konkreten Ziels stehende Überwachung und Regulation der kognitiven Prozesse (vgl. Flavell 1976). Diese aktive Steuerung macht Metakognition wiederum zu einem zentralen Konstrukt der Selbstregulation (vgl. Dinsmore u. a. 2008). Wie im Abschnitt 3.1 schon in der Definition der Selbstregulation deutlich wurde, kann sich die Regulation auch auf die Motivation und Verhaltensweisen beziehen. Diese beiden Bereiche gehören sachlogisch zu den Stützstrategien. Sie bilden ein Sammelbecken für sehr unterschiedliche Strategien, die nicht zu den kognitiven Strategien zählen, aber trotzdem dienlich für den Erfolg beim Lesen oder Schreiben sind, indem diese Strategien günstige Rahmenbedingungen schaffen bzw. nutzen. Darunter fallen die Nutzung interner Ressourcen (Beispiele: Zeitmanagement, Belohnungen in Aussicht stellen) ebenso wie externer Ressourcen (Beispiele: andere fragen, Datenbanken nutzen). Bei den Stützstrategien und den metakognitiven Strategien gibt es strukturell gesehen große Gemeinsamkeiten zwischen Lesen und Schreiben: Es geht darum,
2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen
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Lese- und Schreibprozesse zu planen, zu überwachen und zu regulieren. Dabei helfen im besten Falle Stützstrategien, interne und externe Ressourcen gezielt zu nutzen. Hinsichtlich der kognitiven Strategien ist noch auf eine Differenz zwischen dem Lesen und Schreiben hinzuweisen, die deutlich der Domänenspezifik geschuldet sind. Diese Differenz hat mit zweierlei zu tun. Zum einen bezieht sie sich auf die Funktion bzw. das Ziel der Strategien. Zum anderen lassen sich beim Lesen kognitive Strategien aus analytischer Sicht besser von den metakognitiven Strategien trennen. Das hängt damit zusammen, dass beim (geübten) Schreiben vermutlich permanent eine implizite oder explizite Überwachung der kognitiven Prozesse und damit auch der Strategien stattfindet (vgl. Hacker u. a. 2009). Beim Lesen werden kognitive Elaborations- und Organisationsstrategien unterschieden. Organisationsstrategien dienen dazu, die Struktur des Texts und der in ihm enthaltenen Informationen zu erkennen. Dies geht in aller Regel mit erheblichen Verknappungen einher. Beispiele für diese Form der Strategien sind das Unterstreichen von zentralen Begriffen, das Anfertigen von Zusammenfassungen, Notizen und Schaubildern oder auch die Darstellung einer Argumentationsstruktur. Elaborationsstrategien dienen dem Ziel, über die eigentlichen Textinhalte hinauszugehen (sie zu elaborieren), um die Textinhalte ins Langzeitgedächtnis zu integrieren. Hierfür sind die Wissensbestände einer lesenden Person zentral. Eine solche Person aktiviert beispielsweise ihr Vorwissen vor dem Lesen, stellt offene Fragen an den Text, kommentiert ihn, klärt unbekannte Wörter oder versucht, den weiteren Textinhalt zu prognostizieren (vgl. Friedrich / Mandl 2006; Philipp 2012a). Auch das Schreiben über Gelesenes gehört zu den kognitiven Lesestrategien (allerdings ist dabei nicht auszuschließen, dass beim Schreiben nicht auch meta kognitive Strategien zum Einsatz kommen; vgl. Hacker u. a. 2009). Dabei ist die Funktion bzw. genauer das Ziel des Schreibens dafür entscheidend, ob das Schreiben dem Organisieren oder Elaborieren des Gelesenen dient. Dafür kann die Metaanalyse von Steve Graham und Michael Hebert (2011) als Beispiel dienen, die in Abschnitt 4.2 nochmals zur Sprache kommen wird. In besagter Metaanalyse ging es darum, wie schreibbezogene Fördermaßnahmen das Leseverstehen verbessern. Die beiden Forscher klassifizierten hierfür die Primärstudien zu fünf Gruppen mit jeweils unterschiedlichen Funktionen: (1) Notizen anfertigen; (2) Zusammenfassungen schreiben; (3) schriftlich Fragen zum Text beantworten oder generieren; (4) ein kurzes Schreiben nach dem Lesen, z. B. eine Analogie, Metapher oder einen Gegenüberstellung (dies wurde aber mangels genügend vieler Einzelstudien statistisch nicht ausgewertet); (5) ausführliches Schreiben nach dem Lesen, das sich vor allem auf die persönlichen Reaktionen auf das Gelesene bezog – hierunter fallen auch Analyse, Interpretation sowie Anwendung des Gelesenen und schließlich das Erklären von Textinhalten für andere.
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Das Anfertigen von Notizen und das Zusammenfassen von Texten tragen deutliche Züge der Organisationsstrategien. Die anderen drei Schreibaktivitäten, die wiederum sehr vielfältig sind, weisen einen deutlichen Elaborationscharakter auf, da die individuellen Wissensbestände zum Tragen kommen. Hinsichtlich der Schreibstrategien werden vor allem drei Strategiefamilien unterschieden: Planungs-, Verschriftungs- und Überarbeitungsstrategien (vgl. Graham 2006). Das Planen ist eine (meta-)kognitiv anspruchsvolle, absichtsvolle und zielgerichtete Aktivität, die sich in verschiedene und interagierende Teilprozesse zerlegen lässt (vgl. Alamargot / Chanquoy 2001). Zum Planen gehört das Klären des Schreibziels, der Adressaten, das Bereitstellen von Informationen, das Klären von Produktmerkmalen und die Aktivierung von mentalen Prozessen etc. Alles in allem sind damit sowohl kognitive als auch metakognitive Prozesse angesprochen. Da vom Planen allein noch kein Text entsteht, sondern nur die Hauptinhalte und ein mögliches Vorgehen geklärt sind, kommen nun die Verschriftungsstrategien zum Zug, die Züge sowohl von Strategien als auch von Fertigkeiten aufweisen. Mittels ihrer wird der allgemeine Plan hinsichtlich der Textinhalte konkretisiert und mögliche Inhalte aus dem Gedächtnis in eine sprachliche Form überführt. Dabei unterscheidet man vier Phasen: (1) die Elaborationsphase, (2) die Linearisierungsphase, (3) die Formulierungsphase und (4) die Ausführungsphase. Hierbei geht es darum, (1) aus dem Gedächtnis mögliche Inhalte abzurufen, (2) diese Inhalte in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen, (3) in eine sprachliche Form auf Satzebene zu überführen und (4) diesen Text mittels Stift, Tastatur oder Touchscreen graphomotorisch zu erstellen (vgl. Alamargot / Chanquoy 2001). Auch hierin deutet sich wieder eine grundsätzliche Verbindung kognitiver und metakognitiver Prozesse an. Dasselbe gilt für die Überarbeitungsstrategien, denen die Überwachung vorausgeht. Wie auch beim Planen kann sich die Überwachung auf das Textprodukt oder den Schreibprozess und hier auf größere oder kleinere Textteile oder Schreibprozesse beziehen sowie an jeder Stelle im gesamten Schreibprozess auftauchen (vgl. Fitzgerald 1987). In der Differenz der kognitiven Strategien beim Lesen und Schreiben wird zugleich die Komplementarität bei der Bedeutungskonstruktion deutlich (vgl. Spivey 1990). Die Organisationsstrategien des Lesens helfen dabei, zentrale Elemente und ihre hierarchische Verknüpfung untereinander zu erkennen. Planungsstrategien beim Schreiben dienen dazu, diese markanten Informationen zunächst überhaupt zu generieren. Hieran setzten die Verschriftungsstrategien an, die dem groben Plan einen konkreten Text folgen lassen. Diese Schreibstrategien reichern den Text an – im Gegensatz zu den reduktiven Organisationsstrategien beim Lesen. Die Verschriftungsstrategien bilden zugleich auch das Pendant zu den Elaborationsstrategien, da es um die Interaktion von entstehendem Text und Vorwissensbeständen geht. Beim Lesen ist der Text schon vorhanden, hier steht nicht die Integration eigener Wissensbestände aus dem Gedächtnis in einen Text im Vordergrund, sondern die Überführung textseitiger Informationen in das eigene Gedächtnis. Den Überarbeitungsstrate
2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen
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gien beim Schreiben fehlt ein entsprechendes Pendant beim Lesen, allerdings ist das Lesen des eigenen oder fremden Texts Teil dieser Schreibstrategie-Familie.
3.2.2 Prozesse des Lesens Eines der bedeutendsten Modelle zum Textverstehen stammt von Walter Kintsch und Teun van Dijk.1 Ihr Modell entstammt einer Zusammenarbeit von Psychologie und Linguistik: Es handelt sich um das ›Construction-Integration-Model‹ (CI-Modell) von Walter Kintsch (1998), das zunächst als ›Model of Discourse Comprehension‹ entwickelt wurde (vgl. van Dijk / Kintsch 1983). Dieses Modell umfasst eine große Bandbreite hierarchisch ablaufender, regelgeleiteter kognitiver Prozesse, von denen an dieser Stelle ein paar zentrale vorgestellt werden sollen. Seinen Namen trägt das CI-Modell wegen der beiden beteiligten, konstitutiven Prozesse: der Konstruktion einer (zunächst unvollständigen) Repräsentation von Textinhalten auf der Basis von textlichem Input zum einen und der Integration von stimmigen Elementen zu einer umfassenden und kohärenten mentalen Textrepräsentation zum anderen, für die leserseitige Ziele und Wissensbestände nötig sind. Mit diesen beiden Prozessen bemühen sich Leser, Texte zu verstehen. Dabei kommt es zu einem Wandel dessen, was Leser mental repräsentieren: (1) von der Textoberfläche (Sätze und Wörter; Oberflächenrepräsentation – beispielsweise wenn man ein Gedicht wie den Erlkönig auswendig lernt) (2) zur Struktur der bedeutungstragenden Einheiten (propositionale Repräsentation – etwa die beteiligten Hauptakteure [Vater und Knabe als menschliche Akteure, der Erlkönig als ein Gespenst]; Ort: Wald, Zeit: Abend) (3) hin zur Vorstellung der im Text beschriebenen Inhalte (Situationsmodell – die umfassende Vorstellung eines beängstigenden nächtlichen Pferderitts, bei der sich bei einem Jungen eine Halluzination zu so starker Panik steigert, dass er stirbt). Das Modell von van Dijk und Kintsch hat nicht zuletzt deshalb so breite Akzeptanz erlangt, weil sich mit ihm besonders gut erklären lässt, wie Vorwissen und Textinhalte im Leseverstehensprozess zusammenspielen. Um diesen Prozess des Textverstehens zu modellieren, bedient sich Kintsch (1998) vier verschiedener Begrifflichkeiten. Die ersten beiden sind die Mikro- und Makrostruktur des Texts, die anderen beiden die Unterscheidung von Textbasis und Situations- bzw. mentalem Modell. Die Mikrostruktur eines Texts bezeichnet die lokale Textstruktur in Form der sog. Propositionen. Mit dem Ausdruck ›Propositionen‹ werden die vielen bedeutungstragenden
1 Hinsichtlich anderer Modelle des Lesens vgl. Kap. 1.2 Kognitionspsychologische Ansätze und 2.1.3 Lesen als Sinnkonstruktion in diesem Band.
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Einheiten benannt, die untereinander mehr oder minder stark verknüpft sind. Eine Proposition besteht aus einem relationalen Begriff (dem Prädikat) und einem oder mehreren zugehörigen Begriffen (den Argumenten). Dafür ein Beispiel (nach Kintsch 1998, S. 38): ›Mary gibt John das Buch.‹ Hier wäre ›geben‹ das Prädikat und ›Mary‹, ›John‹ und ›Buch‹ bilden die zugehörigen Argumente. Dieses Beispiel ist vergleichsweise einfach, und mit jeder Information, z. B. die Farbe des Buchs, würde die propositionale Struktur schon auf Satzebene erheblich komplexer. Sämtliche bedeutungstragenden Elemente formieren die Mikrostruktur eines Texts. Untereinander sind die bedeutungstragenden Einheiten hierarchisch organisiert. Es gibt also Propositionen, die anderen übergeordnet sind (Makropropositionen). In der Terminologie Kintschs (1998) wird damit die Makrostruktur des Texts bezeichnet. Die Hierarchie kann ausdrücklich signalisiert werden (z. B. mit Überschriften, Aufzählungen oder Aussagen wie ›zum Beispiel‹). Aber nicht alle Texte enthalten diese Signale, so dass die lesende Person dann selbst aktiv werden muss, die Makropropositionen zu finden oder zu bilden. Zusammen bilden die Mikro- und die Makrostruktur die Textbasis. Diese umfasst nur die bedeutungstragenden Elemente und ihre Verbindungen untereinander, die direkt aus dem Text stammen. Die Textbasis ist das Resultat einer semantischen und syntaktischen Analyse, die eine lesende Person vornimmt. Man kann sich die Textbasis wie ein sehr komplexes Schaubild vorstellen, in dem die Propositionen und ihr Verhältnis untereinander dargestellt werden. Zum Situationsmodell wird die Textbasis erst, wenn die Leser aufgrund ihrer vielfältigen domänenspezifischen und allgemeinen Wissensbestände die Textbasis anreichern. Sie organisieren dabei die explizit gegebenen Informationen, stellen text- und vorwissensbasiert Schlussfolgerungen (Inferenzen) an, elaborieren Textinhalte und entwickeln eine genaue Vorstellung über die Textinhalte, die weit über das hinaus gehen kann, was der Text an vorhandenen Propositionen anbietet. Entsprechend kann das Situationsmodell stark von der Textbasis abweichen. Wie eine lesende Person unter Rückgriff auf text- und leserseitige Merkmale von der Textoberfläche zum Situationsmodell gelangt, haben Kintsch und van Dijk (1983) in einer Reihe von Regeln formuliert, die sich auf sehr unterschiedliche Einheiten (einzelne Sätze, mehrere Sätze, größere Textteile, ganze Texte) beziehen und eine ansteigende Schwierigkeit aufweisen. Diese umfangreichen Prozesse sind kaum in den zur Verfügung stehenden Platz dieses Handbuchartikels zu überführen und werden daher hier auch nicht weiter thematisiert. Wichtig ist aber, dass Kintsch und van Dijk davon ausgehen, dass die lesebezogenen Prozesse beim Schreiben in genau entgegengesetzter Reihenfolge ablaufen.
2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen
219
3.2.3 Prozesse des Schreibens Ähnlich wie beim Lesen gibt es auch beim Schreiben verschiedene Modelle, die sich auf die einzelnen – meist kognitiven und metakognitiven – Prozesse beziehen und sie zu fassen versuchen. Diese Modelle sind in aller Regel sehr komplex, obwohl sie sich teilweise nur auf einzelne Teilprozesse des Schreibens beziehen: das Planen, das Verschriften und/oder das Überarbeiten (für einen Überblick: Alamargot / Chanquoy 2001). Die Komplexität beim Schreiben ergibt sich aus der Vielzahl einzelner Teiloperationen, die teils parallel, teils sequenziell und teils iterativ ablaufen. Die große Herausforderung für eine schreibende Person besteht darin, dass sie all dies konzertieren, überwachen und bei Störungen regulieren muss. Es ist entsprechend kein Wunder, dass das Schreiben nachgewiesenermaßen so viel mentale Energie absorbiert wie das, was erfahrene Schachspieler tun, wenn sie in einer Partie einen Zug planen (vgl. Kellogg 1986). Eines der einflussreichsten Modelle für den Schreibprozess hat John Hayes in den 1980er Jahren vorgelegt. In dieser frühen Fassung umfasst es jene Prozesse und
Zielsetzungen Motivation Planen Schreiben Schreibschemata Überarbeiten
aktueller Plan
Ebene der Kontrolle
Evaluator
Schreibprozesse
Vorschlager Kooperateure/ Kritiker
Übersetzer
Technologie Aufgabenmaterial
bislang verfasster Text
Ebene der Prozesse Aufgabenumgebung
Langzeitgedächtnis
Aufmerksamkeit Arbeitsgedächtnis
Verschrifter
Lesen
Ebene der Ressourcen
Abb. 1: Modell des Schreibprozesses in einer Mehrebenen-Darstellung (Quelle: Hayes 2012, S. 371 und Chenoweth / Hayes 2001, S. 84)
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Komponenten beim Schreiben (von Erwachsenen), die auch heute noch eine Rolle spielen: Planen, Verschriften und Überarbeiten. Dieses Modell ist in den drei Jahrzehnten seines Bestehens mehrfach überarbeitet und verfeinert worden. In seiner aktuellsten Variante ist es in Abbildung 1 dargestellt. Das Modell trennt insgesamt drei Ebenen. Auf der Ebene der Kontrolle stehen die Motivation, Zielsetzungen, der gegenwärtige Plan fürs Schreiben sowie Schreibschemata. Schreibschemata sind nichts anderes als Wissensbestände hinsichtlich Textkonventionen und Vorgehensweisen bei bestimmten Schreibanlässen. Zwischen diesen genannten Elementen auf der Kontrollebene besteht eine Verknüpfung: Aus der Motivation speisen sich allgemeine Zielsetzungen, die – basierend auf Schreibschemata – in einen aktuellen Schreibplan transformiert werden. Unterhalb der Kontrollebene befindet sich im Modell jene Ebene, auf der sich die Schreibprozesse abspielen. Hier werden die Schreibumgebung und die ‑prozesse analytisch voneinander getrennt. Beide Bereiche hängen beim Schreiben jedoch zusammen und beeinflussen einander, wie es die Pfeile verdeutlichen. Zunächst zu den Schreibprozessen, die sich innerhalb der schreibenden Person selbst abspielen. Dem Modell zufolge werden die einzelnen Teilprozesse wie bei einem Arbeitsteam mit vier Spezialisten ausgeführt. Der ›Vorschlager‹ generiert mögliche Inhalte, aus denen die schreibende Person dann auswählen kann. Der ›Übersetzer‹ sorgt dafür, dass die selegierten Informationen in eine linearisierte Form überführt werden. Die Inhalte sind – entsprechend der Funktionsweise des menschlichen Gehirns – in Form von Netzwerken organisiert. Für Texte aber ist ihre Übertragung in die Logik der Sprache notwendig, die sequenziell funktioniert. Dann erst erfolgt das eigentliche Aufschreiben mittels graphomotorischer Fähigkeiten – der ›Verschrifter‹ schreitet zur Tat. All das wird vom ›Evaluator‹ überwacht. Das ist gleichsam der Chef des Arbeiterteams, der die richtige Durchführung bewusst überwacht und im Falle von ungünstigen Abweichungen vom Schreibplan regulierend eingreift. Die eben kurz skizzierten Aktivitäten hängen ihrerseits wiederum mit der Schreibumgebung zusammen. So geben die Aufgabenmaterialien (Arbeitsauftrag und etwaige Quellen) dem Vorschlager Anregungen. Dasselbe gilt für Rückmeldungen von anderen Personen oder Mitschreibern bei kooperativen Schreibprojekten. Und natürlich ist auch der bisher verfasste Text für den Vorschlager bedeutsam, z. B. wenn der schreibenden Person auffällt, dass ein Aspekt eines Themas noch nicht im Text vorhanden ist, den der Verschrifter produziert hat. Die Aktivitäten des Verschrifters wiederum hängen davon ab, mit welcher Schreibtechnologie (Stift und Papier, Tastatur oder Touchscreen) jemand schreibt. Die letzte Ebene umfasst die kognitiven Ressourcen, ohne die die Schreibprozesse nicht funktionieren würden. Laut dem Modell ist zunächst das Langzeitgedächtnis anzuführen, in dem im Übrigen auch die Schreibschemata gespeichert sind, die aus sachlogischen Gründen jedoch auf der Kontrollebene auftauchen. Hinzu kommen die Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses, welche dem Schreibprozess allgemein Grenzen setzen. Ein dritter Bestandteil der Ressourcen ist die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit
2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen
221
zu lenken und aufrechtzuerhalten. Zu guter Letzt wird im Modell auch die Fähigkeit zu lesen als eine wichtige Ressource für den gelingenden Schreibprozess betrachtet. Das soeben skizzierte Modell mit seinen verschiedenen Ebenen bildet nur diejenigen Komponenten ab, die beim gegenwärtigen Wissensstand als bedeutungsvoll für das Schreiben gelten. Was das Modell nicht erklärt (und auch nicht erklären will), ist das komplexe Zusammenspiel der Komponenten im Schreibprozess (temporalsachlogische Perspektive). Allerdings lassen sich dafür systematisch die beteiligten Komponenten benennen und auf den jeweiligen Ebenen verorten (systematisch-klassifizierende Perspektive). Dadurch ist es möglich, jene Komponenten zu benennen und zu betrachten, die bei den Teilprozessen des Schreibens (Planen, Verschriften und Überarbeiten) beteiligt sind. Hayes’ Modell verdeutlicht, wie wichtig das Lesen auch fürs Schreiben ist. Einerseits bildet es eine wichtige Ressource. Andererseits kommt es dann zum Tragen, wenn eine schreibende Person den Schreibauftrag und etwaige Materialien liest, die wiederum externe Quellen des Schreibprozesses sind. Das gilt ebenso, wenn Rückmeldungen von anderen schriftlich erfolgen. Auch ein Überarbeiten eines Texts bzw. gewünschte Rückmeldungen zu Entwürfen lassen sich nicht sinnvoll ohne die Fähigkeit denken, Texte zu verstehen. Dies spiegelt sich in ersten Studien wider, die die Schreibprozesse in den Blick nehmen: Das Lesen der Aufgabe zu Beginn des Schreibens geht mit einer besseren Textqualität einher, während es im späteren Schreibprozess eher qualitätshinderlich ist. Wichtiger ist in der letzten Phase des Schreibprozesses, dass man den eigenen Text liest (vgl. Breetvelt u. a. 1994). Nachdem nun die grundsätzlichen Teilprozesse und Komponenten beim komplexen Schreibprozess skizziert worden sind, soll noch einmal das Modell von Kintsch und van Dijk (1983) konsultiert werden. Obwohl es sich primär um ein Modell der Rezeption und Verarbeitung von sprachlichen Informationen handelt, haben die Autoren auch einige Hinweise zur Produktion von Texten beigesteuert. Grundsätzlich lässt sich der Prozess des Schreibens nach ihrer Auffassung als die Umkehr des Lesens begreifen. Beim Lesen geht es gemäß der Ausführungen im Abschnitt 3.2.2 darum, Texte zunächst hinsichtlich ihrer Oberfläche mental zu repräsentieren, dann die bedeutungstragenden Einheiten (Propositionen) in ihrer Struktur zu verarbeiten und diese dann in ein mentales Modell der Textinhalte zu überführen. Kennzeichnend für diesen Prozess ist die Verknappung der im Text enthaltenen Informationen, die unter Rückgriff auf die Vorwissensbestände erfolgt. Anders beim Schreiben: Hier formulieren van Dijk und Kintsch ein Set von Strategien, mit denen Schreiber einerseits die Mikrostruktur des Texts schaffen sowie lokale Kohärenz herstellen. In puncto der Prozesse, die zur Makrostruktur führen, ist das CI-Modell auffällig mitteilungsarm. Vermutlich spielt hierfür die Kenntnis von Textsortenwissen hinsichtlich der tradierten Aufbauformen (z. B. Geschichtengrammatiken oder auch Elemente einer Argumentation) eine besondere Rolle.
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3.3 Zur gemeinsamen Erwerbslogik des Lesens und Schreibens Obwohl der versierte Umgang Heranwachsender mit Schriftsprache insbesondere seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts durch national und international installierte Schulleistungsstudien (vor allem im Lesen) allgemeines Interesse erfährt, wissen wir aus der Erwerbsperspektive allgemein noch wenig. Das gilt auch und gerade bei der theoretischen Modellierung des Erwerbs schriftsprachlicher Fähigkeiten. Konsens besteht immerhin bei der Annahme, dass so komplexe Fähigkeiten wie das Lesen und Schreiben nicht angeboren sind, sondern diese Kompetenzen im Rahmen der Lese- und Schreibsozialisation erworben werden. Die Frage ist nun, wie dieser Weg zur Kompetenz und zur umfassenden Selbstregulation zu modellieren ist. Mittlerweile liegen einige Skizzen zu Erwerbsmodellen des Lesens (vgl. z. B. Alexander 2005) und des Schreibens vor (vgl. z. B. Kellogg 2008; Berninger / Chanquoy 2012). Eine integrative Sicht ist jedoch ausgesprochen selten (vgl. Fitzgerald / Shanahan 2000). In allen Fällen sind die Überlegungen sehr häufig als erste Versuche bezeichnet worden, welche zwar brauchbare, aber eben doch sehr vorläufige Ansätze darstellen, den Erwerb schriftsprachlicher Fähigkeiten zu systematisieren. Der Mangel an zufriedenstellenden Theorien mag damit zu tun haben, dass eine Integration der Erwerbsperspektive aus zwei unterschiedlichen Fähigkeiten wie dem Lesen und Schreiben schon allein deshalb so schwer ist, weil derzeit weder beim Schreiben noch beim Lesen eine konsensfähige Theorie zum Erwerb in Aussicht steht (vgl. Abschnitt 2). Das wiederum hat damit zu tun, dass man Lese- und Schreibkompetenz sehr eng (also auf die rein kognitiven Aspekte beschränkend) fassen kann oder auf weitere selbstregulatorische oder sogar soziale Aspekte ausweiten kann (vgl. Lenhard 2013). Es gibt nicht nur gerade in diesem letztgenannten breiten Verständnis durchaus sehr unterschiedliche und theoretisch nicht immer völlig kompatible Konzeptionen, es mangelt auch an Studien, die methodisch angemessen Erwerbsprozesse erfassen. Außerdem benötigt eine umfassende Theorie des Erwerbs auch Vorläuferfähigkeiten wie die Kenntnis von Buchstaben oder die phonologische Bewusstheit, die bei dem geglückten Erwerb des Lesens und Schreibens relativ prozessfern sind, aber aus Sicht der Leseforschung als wichtige und frühe Vorläufer gelten (vgl. Shanahan / Lonigan 2010). Ein weithin akzeptiertes Modell – das ›Modell des Lernens in Domänen‹ – hat Patricia Alexander vorgelegt. Es ist bereits fürs Lesen spezifiziert worden (vgl. Alexander 2005) und lässt sich grundsätzlich auch mit den Theorien und Befunden zur gelingenden Entwicklung beim Schreiben vereinen (vgl. Graham 2006; Kellogg 2008). Dieses Modell unterscheidet in einem langfristig angelegten Prozess drei Phasen auf dem Weg zur Expertise bzw. umfassenden Kompetenz, die den Endzustand darstellt und in der Personen im Umgang mit Schrift neue Erkenntnisse generieren. Wichtig ist, dass das Modell aus Abbildung 2 nicht so zu verstehen ist, dass es nur die Schulzeit in den Blick nimmt. Im Gegenteil entkoppelt es den Erwerb von Expertise bzw. Kompetenz vom biologischen Alter und postuliert, dass man an praktisch jedem Zeit
2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen
Situatives Interesse
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Vor- und Weltwissen auf tiefe Verarbeitung abzielende Strategien
Oberflächenstrategien Individuelles Interesse
Domänenwissen
Akklimatisierung/ Basaler Kompetenzerwerb
Fortgeschrittene Kompetenz
Expertise
Abb. 2: Modell der Entwicklung im Domänenlernen (Quelle: Übersetzung von Alexander 2005, S. 423)
punkt des Lebens in einer der drei Phasen stecken kann. Weniger entscheidend ist das biologische Alter, vielmehr geht es um eine ausreichend lange Auseinandersetzung mit einer Domäne wie dem Lesen oder Schreiben. Auf dem Weg zur Lese- und Schreibkompetenz kommt es zu Veränderungen in Kognition und Motivation. Der beginnende Leser bzw. Schreiber weist nur wenige, unsystematische Wissensbestände auf, sei es zu den Prozessen, den Zwecken oder den Zielen des Lesens und Schreibens (Domänenwissen), sei es zum Thema von zu lesenden und schreibenden Texten (Vor- und Weltwissen). Diesen für die weitere Entwicklung essenziellen und immer größer und systematischer werdenden Wissensbeständen steht ein zunächst schmales Repertoire an Lese- und Schreibstrategien gegenüber, mit denen Informationen schriftlich bzw. schriftliche Information tief gehend verarbeitet werden können. Allenfalls oberflächliche Strategien wie Wiederholungen von Prozeduren stehen den noch wenig geübten Personen zur Verfügung. Damit korrespondiert ein noch recht unstetes Interesse am Textinhalt: Sich mit Texten zu beschäftigen hängt deutlich mit der ganz konkreten Situation zusammen (situatives Interesse) und weniger mit einem stabilen motivationalen Anreiz in Form eines individuellen Interesses. Gerade in dieser Phase benötigen Schriftsprachaspiranten Lese- und Schreibmodelle, die über ein breites Strategierepertoire und eine individuelles Interesse, aber auch profundes Welt- und Domänenwissen verfügen (vgl. Alexander 2005). Je mehr der Erwerb der schriftsprachlichen Kompetenzen fortschreitet, desto wichtiger wird eine stabile motivationale Basis. In dem Modell ist das Interesse prominenter Bestandteil. Es ist aber nur eines von vielen theoretischen Konzepten der
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Motivationspsychologie (vgl. Murphy / Alexander 2000; Wentzel / Wigfield 2009; Philipp 2013), die für das Lernen als relevant betrachtet werden. Deshalb fungiert es auch eher als exemplarisches Konstrukt. In dem Modell verändert sich das Interesse. Zunächst tritt es vereinzelt auf (eine Person bekommt ein Buch über Wikinger, das sie neugierig macht) und stabilisiert sich dann allmählich (nach der Erstlektüre eines Buchs über Wikingerkriege liest die Person weitere ähnliche Bücher). Dadurch entsteht ein sich allmählich verfestigendes individuelles Interesse (Wikinger werden für eine Person ein Feld, in dem sie sich auskennen möchte), das zu einem stabilen Merkmal einer Person avanciert (passionierte Suche nach Texten und systematisches Anhäufen von Wissen). Deutlich wird an diesem Modellverlauf, dass der Prozess langfristig erfolgt und dem Zuwachs beim situativen eine Abnahme des individuellen Interesses gegenübersteht. Das heißt auch, dass die Texte bzw. die Schreibaufgaben immer weniger darauf angewiesen sind, von sich aus interessant zu sein. Parallel dazu erfolgt auch eine Transformation bei den Strategien. Die zu Beginn noch oberflächlichen Strategien weichen zunehmend elaborierten Strategien, mit denen Inhalte von Texten bewusst und auch bis in die Tiefenstruktur hinein rearrangiert werden (vgl. Alexander 2005; Graham 2006). Es fließen also auf dem Weg zur Leseund Schreibkompetenz mehrere Stränge ineinander: Wissen, Motivation und die Fähigkeit, immer stärker strategisch vorzugehen.
4 Einige empirische Perspektiven auf das Lesen und Schreiben Wenngleich immer wieder aus theoretischer Sicht vermutet wird, dass sich zwischen der Entwicklung des Lesens und des Schreibens Zusammenhänge ergeben (vgl. Fitzgerald / Shanahan 2000), steckt die empirische Forschung noch in den Kinderschuhen. Da sich Aussagen über die gemeinsame Entwicklung von Lese- und Schreibfähigkeiten nur durch Längsschnittstudien angemessen treffen lassen, ist der Mangel an solchen Studien noch bedauernswerter. Hinzu kommt, dass oftmals Aspekte wie Rechtschreibung stärker in den Blick geraten als die Textqualität oder Strategien. Auch die in Abschnitt 2 angesprochene Evolution von Konzeptionen hat dazu geführt, dass sich Moden bei der Erforschung ergeben haben, die ein systematisches empirisches Ergründen der längsschnittlichen Entwicklung von Lese- und Schreibfähigkeiten erschwert haben. Dabei wurden vor allem Studien durchgeführt, in denen Leseund Schreibprodukte fokussiert wurden; die Prozessperspektive ist deutlich seltener.
2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen
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4.1 Zur Trennbarkeit von Lesen und Schreiben Über die Zusammenhänge bei der Entwicklung beim Lesen und Schreiben ist derzeit noch wenig bekannt. In einer Studie mit Achtklässlern konnte aber immerhin gezeigt werden, dass komplexe Lese- und Schreibfähigkeiten bei Sachtexten substanziell korrelieren (vgl. Parodi 2007). In dieser Studie, die sich explizit auf das CI-Modell stützt (vgl. Abschnitte 3.2.2 und 3.2.3), ergab sich ein Muster. So korrelierten Leistungen, die sich sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben auf die Herstellung lokaler Kohärenz beschränkten, weitaus weniger stark untereinander als solche mit dem Bezugspunkt globaler Kohärenz bzw. der Struktur der Texte. Insgesamt ließen sich über alle Maße so starke Zusammenhänge finden, dass man die Hälfte der Schreibleistungen über das Lesen aufklären konnte bzw. umgekehrt. Dies scheint für die von van Dijk und Kintsch (1983) postulierten grundsätzlich ähnlichen Prozesse bei sprachlicher Produktion und Rezeption zu sprechen. Diese Ähnlichkeiten finden sich auch in anderen Studien, in denen neben dem Schreiben und Lesen weitere sprachliche Fähigkeiten erfasst werden. Ein Teil solcher Studien versucht mit elaborierter Statistik die Frage zu klären, ob sich hinter einzelnen sprachlichen Fähigkeiten allgemeinere Kompetenzen verbergen bzw. eine allgemeine Sprachkompetenz verbirgt. Zwar sind dazu erst recht wenige Studien durchgeführt worden. Sowohl im Primarschulalter als auch am Ende der Pflichtschulzeit in Klasse 9 ließ sich aber übereinstimmend feststellen, dass das Schreiben eine eigene Kompetenz zu sein scheint. Es zeigte sich nämlich, dass sich produktive schriftsprachliche Fähigkeiten entweder nicht oder im Vergleich mit anderen Variablen schlechter in die postulierte Struktur einpassten (vgl. Mehta u. a. 2005; Jude 2008). Damit geht einher, dass anspruchsvollere Lese- und Schreibleistungen mitunter auch nur moderat miteinander statistisch zusammenhängen (vgl. Webster / Ammon 1994), was die Frage danach aufwirft, ob die (fehlenden) Zusammenhänge statistische Artefakte sein könnten. In Einzelstudien mit US-amerikanischen Kindern und Jugendlichen der Klassenstufen 1–7 wurde überprüft, ob sich bei einmaligen Befragungen oder den seltenen Längsschnittstudien ebenfalls Unterschiede im Lesen durch das Schreiben erklären lassen oder umgekehrt (vgl. Berninger u. a. 2002; Abbott u. a. 2010). In den besagten Studien waren Indikatoren der Textqualität seltener vorhersagestark fürs Textverstehen, umgekehrt jedoch die Leseleistungen häufiger prädiktiv für Schreibleistungen. Diese Studien zeigten, dass sich anspruchsvollere Fähigkeiten im Lesen und Schreiben relativ unabhängig voneinander zu entwickeln scheinen. Wenn es längsschnittliche Effekte gibt, so sprechen sie eher dafür, dass ein besseres Textverständnis zu verbesserten Texten beim Schreiben führt. Enger hingegen scheint die wechselseitige Beeinflussung von Rechtschreibung und Wortlesefähigkeiten zu sein; hierarchieniedrige Fähigkeiten entwickeln sich anscheinend stärker interdependent (vgl. Abbott u. a. 2010). Bislang war die Perspektive aufs Produkt leitend. Wenig ist indes über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei den Prozessen bekannt. Hier bildet die Studie von
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Judith Langer (1986) eine Ausnahme. In der Untersuchung lasen bzw. verfassten Dritt-, Sechst- und Neuntklässler jeweils einen narrativen bzw. beschreibenden Text. Bei einem Teil der Befragten konnten statistische Analysen zum Zusammenhang des Lese- und Schreibprozesses durchgeführt werden. Das bedeutet, dass es möglich war, Prozesse des Lesens und Schreibens zu vergleichen. Hierbei stellte die Forscherin sowohl Unterschiede als auch Differenzen im Vorgehen fest. Besonders erwähnt seien an dieser Stelle aber Korrelationsanalysen, bei der das Lesen und Schreiben eines narrativen bzw. beschreibenden Texts verglichen werden konnten. Die stärksten Zusammenhänge ergaben sich bei einem Vorgehen, das sich allgemein als ein stark auf die Textbedeutung abzielendes Vorgehen bezeichnen lässt. Dieses Vorgehen trägt sehr deutliche Züge einer metakognitiven Bewusstheit zum einen und eines planvollen Vorgehens zum anderen. Wenig verwunderlich ist, dass dieses planvolle, überwachende Vorgehen sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben in einer angemessenen Regulation der Prozesse mündete. Dabei war das Gesamtverständnis bzw. die Gesamtverständlichkeit die Richtschnur. Entsprechend tauchten sowohl die aktive (Re-)Konstruktion der Textinhalte als auch eine Konzentration auf dessen Oberflächenmerkmale (Syntax, Wortschatz, kohäsionsstiftende Mittel) vergleichsweise konsistent auf. Wer ein solches Vorgehen bei einer Schreibaufgabe häufiger wählte, tat dies auch bei einer Leseaufgabe. Dasselbe gilt auch in die umgekehrte Richtung: Je planloser jemand bei der einen Aufgabe vorging, desto wahrscheinlicher tat er es auch bei der anderen. Der Vollständigkeit halber sei bei der Studie von Langer (1986) noch erwähnt, dass es nicht nur konsistente Muster zwischen den Domänen gab, sondern auch Abweichungen. Beispielsweise korrelierten beim Lesen bzw. Schreiben einer Geschichte die bewusste Überprüfung der Textbedeutung schwach negativ miteinander. Beim Schreiben eines Sachtexts hingegen war die Korrelation positiv und relativ stark. Auch ergaben sich zum Teil unterschiedlich starke Zusammenhänge innerhalb einer Domäne, was auf verschiedene Anforderungen beim Lesen bzw. Schreiben unterschiedlicher Textsorten verweist.
4.2 Die Förderperspektive: Wie welches Schreiben dem Lesen hilft Wenngleich Lese- und Schreibforschung noch weit davon entfernt sind, gemeinsame Wege zu gehen, gibt es aus der Sicht der Förderung erste Hinweise, wie das Lesen vom Schreiben profitieren kann. Hierfür sind zwei Metaanalysen nützlich, die von einer Arbeitsgruppe rund um Steve Graham durchgeführt wurden. In der ersten Metaanalyse, die in zwei Publikationen mit spezifischen Analysen und Fragestellungen veröffentlicht wurde (vgl. Graham / Hebert 2010, 2011), ging es um die Frage, ob Lesefördermaßnahmen mit Schreiben gegenüber solchen ohne Schreiben überlegen sind. Das kann z. B. der Vergleich des schriftlichen Zusammenfassens mit einem
2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen
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anderen Förderansatz ohne Schreiben sein (zu den fünf Gruppen von Ansätzen vgl. Abschnitt 3.2.1). In der zweiten Metaanalyse (vgl. Hebert u. a. 2013) wurde vertiefend untersucht, ob sich in Studien mit zwei verschiedenen Schreibförderansätzen (z. B. Zusammenfassen vs. Notizen anfertigen) ein Ansatz im Vergleich mit einem anderen als überlegen erweist. Damit ging die erste Metaanalyse einer grundsätzlichen Frage zur Wirksamkeit nach, während die zweite Sekundärauswertung darauf aufbaute und zu klären versuchte, was sich besonders bewährt. In Metaanalysen werden durchschnittliche Effekte berechnet und häufig mit dem Koeffizienten d als Effektstärke angegeben. Dieser Wert steht für die Differenz zwischen zwei Gruppen und ergibt sich aus der Mittelwertdifferenz, die um Streuungsmaße korrigiert wurde. Wenn man diesen Wert mit 100 multipliziert, erhält man einen Wert, der wie die Punktedifferenz auf der PISA- oder auch IGLU-Skala zum Leseverstehen zu denken ist. Je höher dieser Wert ist, desto stärker sind die Verbesserungen, die sich durch eine Maßnahme über mehr oder weniger Studien im Schnitt bei den untersuchten Heranwachsenden ergeben haben. Bei der ersten Metaanalyse, die sich auf 95 Studien mehrheitlich mit Jugendlichen der Klassenstufen 6–12 sowie Sachtexte als Übungsmaterial bezieht, werden aus Gründen der Übersicht- und Einheitlichkeit die Werte aus der 2011 veröffentlichten Publikation vorgezogen. Spezifische Analysen aus dem Jahr 2010 flankieren diese Werte und werden an den entsprechenden Textstellen explizit eingeführt. Hinsichtlich des Leseverstehens ermittelten Graham und Hebert (2011) Zuwächse im Leseverstehen von d = ,50 bei Lesetests, die die Forscher selbst entwickelt haben, bzw. d = ,37 bei normierten Tests. Fürs Leseverstehen war das ausführliche Schreiben (d = ,68) gefolgt vom Zusammenfassen (d = ,54) am effektivsten. Auch das Anfertigen von Notizen verbesserte das Textverstehen (d = ,45). Weniger effektiv, aber immer noch wirksam sind zusätzliche Schreibzeit (d = ,35) und das schriftliche Beantworten oder Generieren von Fragen (d = ,28). Damit zeichnet sich ab, dass das Textverstehen gerade vom umfangreichen Schreiben über Gelesenes profitiert. Vertiefende Analysen in der 2010 erschienenen Publikation ergaben, dass beim Zusammenfassen Kinder aus der Primarstufe stärker als solche aus der Sekundarstufe profitierten (d = ,79 vs. ,33). In der Metaanalyse aus dem Jahr 2011 waren die Werte bei den Mittelstufenschülern (Kl. 6–8) um d = ,32 höher als die der Jugendlichen aus den Klassenstufen 9–12. Generell profitierten Mittelstufenschüler auch bei weiteren Förderansätzen – mit welcher schriftlichen (Weiter-)Verarbeitung auch immer – stärker als die älteren Jugendlichen. Dabei ergab sich noch eine wichtige Umkehrung dieses Musters: Wurden die Schüler gezielt trainiert, waren die Effekte bei den älteren Jugendlichen größer als bei den jüngeren. Ein solches Muster fand sich in der veröffentlichung aus dem Jahr 2010 auch beim Notizen-Machen, das mit einer expliziten Vermittlung zu stärkeren Verbesserungen im Leseverstehen führte. Das verweist auf die Bedeutung der Vermittlung, die sich noch bei einer speziellen Schülergruppe zeigten: den schwachen Lesern. Unter ihnen ergaben sich Vorsprünge von d = ,63 im Leseverstehen, wenn sie – auf welche Art auch immer – schriftlich auf
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Texte reagierten. Dieser Effekt war aber an eine Bedingung geknüpft: Die Fähigkeiten zum Schreiben mussten explizit vermittelt werden, also den Schülern direkt beobachtbar demonstriert und danach ausreichend geübt werden, ehe die leseschwachen Heranwachsenden selbst die Fähigkeiten erfolgreich anwendeten. War bislang vor allem von hierarchiehohen Fähigkeiten die Rede, kommen nun die hierarchieniedrigen Fertigkeiten ins Spiel (vgl. Graham / Hebert 2011). In einigen Originalstudien wurde nämlich auch untersucht, ob sich die Förderung von Rechtschreibung und der Fähigkeit, Sätze bzw. Absätze zu konstruieren, die Vermittlung von Textstrukturwissen und zum Teil Maßnahmen des Prozessansatzes als günstig fürs Lesen erwiesen. Diese im Kern basale Fertigkeiten adressierenden Ansätze wirkten sich vor allem bei der Leseflüssigkeit (Klassenstufe 1–7) und Wortlesefähigkeiten (Klassenstufe 1–5) aus (d = ,66 bzw. ,62). Dem Leseverstehen (Klassenstufe 4–12) verhalfen sie zu deutlich geringeren Verbesserungen (d = ,22 bzw. ,27). Das verweist darauf, dass die schriftliche Weiterverarbeitung zu den effektiveren Maßnahmen zählt, wenn man das Textverstehen fördern will. Hierfür sind anscheinend jüngere Schüler empfänglicher als ältere, aber es bedarf der expliziten Vermittlung und des angeleiteten Trainings. All diese Befunde zeichnen sich prinzipiell nicht nur in dieser einen Metaanalyse ab, sondern in einer Vielzahl von Sekundärauswertungen (vgl. Philipp 2012b). Von besonderem Interesse ist nun, ob sich die Schreibförderansätze untereinander als unterschiedlich erwiesen. Hier ist die zweite Metaanalyse anzuführen, in der 19 Originalstudien ausgewertet werden. Die Datenbasis ist also erheblich dünner als bei der ersten Metaanalyse. Das führte auch dazu, dass nicht sämtliche angestrebten Vergleiche durchgeführt werden konnten. Einschränkend ist auch zu sagen, dass die Studien sich vorrangig auf die Klassenstufe 5–12 bezogen und wiederum primär Sachtexte verwendet wurden (vgl. Hebert u. a. 2013). In der zweiten Metaanalyse wurden vier Vergleiche angestellt und auf das Textverstehen bezogen, und zwar die des Fragenstellens/-beantwortens, des Zusammenfassens und des Anfertigens von Notizen jeweils im Vergleich mit den anderen beiden Alternativen. Zusätzlich kam noch der Vergleich zwischen dem ausführlichen schriftlichen Weiterverarbeiten und den Fragen hinzu. Die Ergebnisse waren: Im direkten Vergleich sind das Zusammenfassen und das Anfertigen von Notizen als wichtige Organisationsstrategien des Lesens ähnlich effektiv (d = ,05). Dasselbe gilt für den Vergleich von Fragen mit dem ausführlichem Schreiben (d = ,01). Vergleicht man hingegen das schriftliche Bearbeiten von Fragen mit dem Zusammenfassen bzw. Notizen anfertigen, ergeben sich leichte Vorsprünge für die beiden Organisationsstrategien (d = ,24 bzw. ,20). Wurde das Textverstehen dadurch getestet, dass die Versuchspersonen so viel wie möglich vom erinnerten Textinhalt aufschreiben sollten, verdoppelte sich der Effekt in aller Regel. Damit ergibt sich ein Vorteil der Organisationsstrategien Zusammenfassen und Notizen anfertigen, der sich insbesondere bei der freien Wiedergabe der Textinhalte zeigt. Deshalb scheint das aktive schriftliche Organisieren von Textinhalten dem Transfer des Gelesenen in das Gedächtnis besonders zuträglich zu sein.
2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen
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5 Fazit und Ausblick In diesem Beitrag war der Blick auf das zielgerichtete, regelgeleitete, absichtsvolle und (mindestens partiell) bewusste Vorgehen beim Lesen und Schreiben leitend. Dieses strategische Vorgehen ist nach allem, was derzeit bekannt ist, ein günstiges Vorgehen, mit dem man beim Lesen und Schreiben Erfolg hat. Entsprechend zählen Lese- und Schreibstrategien zum Kern der Selbstregulation und der Kompetenz im Umgang mit der Schriftsprache, die wiederum in einer literal geprägten Gesellschaft nötig sind. Dabei lassen sich verschiedene Formen der kognitiven Lese- und Schreibstrategien unterscheiden (kognitive und metakognitive), wobei die Schreibstrategien genuin deutlich stärker von einem Zusammenspiel kognitiver und metakognitiver Strategien gekennzeichnet zu sein scheinen. Hierfür mag die grundsätzlich größere Komplexität des Schreibens anzuführen sein, die sich auch in Experimenten gezeigt hat. Grundsätzlich lässt sich das strategische Vorgehen nach Auffassung eines prominenten theoretischen Modells – des ›Construction-Integration-Model‹ – als grundsätzlich komplementär begreifen: Während beim Lesen eine Person den bestehenden Text unter Rückgriff auf eigene Wissensbestände und die Textorganisation sukzessive reduziert, geschieht beim Schreiben das Gegenteil in Form einer Anreicherung und Organisation des entstehenden Texts. Beim Lesen bilden einige Schreibaktivitäten wie das Verfassen von Stichwörtern, Schaubildern oder Zusammenfassungen eigene Strategien. Umgekehrt ist das Überprüfen von Texten und der Einfluss des bestehenden Texts auf den weiteren Textinhalt ohne die Fähigkeit zu lesen nicht sinnvoll zu denken. Deshalb wird in den wenigen theoretischen Erwerbsmodellen, die dezidiert als Skizzen bezeichnet werden, eine grundsätzliche Zunahme von Wissensbeständen attestiert. Zugleich vollzieht sich nach solchen Modellen eine Ausweitung und auch Automatisierung von Strategien, die zu Fertigkeiten werden und dadurch mehr Ressourcen für andere kognitive Prozesse freigeben. Zur selben Zeit scheint eine Transformation zu immer günstigeren motivationalen Merkmalen einer Person stattzufinden. Das klingt insgesamt plausibel, dennoch fehlt es nach wie vor an umfassenden theoretischen Modellierungen der integrativen Lese- und Schreibentwicklung. Das mag damit zu tun haben, dass trotz aller Bemühungen in jahrzehntelanger Forschung (mit teils extremen Umschwüngen in den Foki und theoretischen Prämissen) Entwicklungsmodelle jeweils nur fürs Lesen oder fürs Schreiben üblich sind. Wendet man sich der Empirie zu, so fällt zunächst das grundsätzliche Desiderat von Studien auf, die sich gerade den anspruchsvolleren Lese- und Schreibfähigkeiten widmen. Das mag mit der grundsätzlich aufwändigeren Versuchsanlage zu tun haben, wenn man das im Vergleich forschungsökonomisch weniger aufwändige Leseverstehen mit der bei der Erfassung und Auswertung ungleich anspruchsvollere Messen von Schreibfähigkeiten erfassen will. Deshalb sind groß angelegte Schreibleistungsstudien Mangelware und Studien mit gleichberechtigtem Fokus auf Leseund Schreibleistungen sowieso. In der Grundlagenforschung ergeben sich mal mehr
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und mal minder starke Zusammenhänge. Je theoretisch näher das Lesen und Schreiben konzipiert werden und je paralleler die Lese- und Schreibaufträge in den Aufgaben der Studien operationalisiert sind, desto straffer scheinen auch die empirischen Zusammenhänge zu sein. Generell ist aber die Forschungslage noch unbefriedigend, da abgesehen von vereinzelten Studien keine systematisch erhobene Datenbasis vorhanden ist. Teilweise sind die Stichproben auch so klein, dass dadurch die Gefahr besteht, dass Forschungsergebnisse statistische Artefakte darstellen. Auch über längsschnittliche Zusammenhänge wissen wir nach wie vor viel zu wenig. Immerhin aber scheinen sich aus der anwendungsorientierten Grundlagenforschung – sprich Interventionsstudien – einigermaßen konsistente Befunde abzuzeichnen, nach denen das umfassende Schreiben über Gelesenes dem Leseverstehen zuträglich ist. Damit lässt sich abschließend konstatieren, dass die Zusammenhänge von Schreibstrategien und Leseverstehen intuitiv nachvollziehbar erscheinen, aber einerseits kaum ausreichend theoretisch modelliert und andererseits auch kaum empirisch abgesichert sind. Damit ist allen in diesem Kapitel berichteten Zusammenhängen zum Trotz ein grundsätzliches Desiderat auf allen Ebenen angesprochen. Umfassende Lese- und Schreibfähigkeiten gelten zwar als erwünschte Grundkompetenzen, aber wie sie sich gemeinsam entwickeln und zusammenhängen, ist bisher nur spärlich erforscht. Hier mögen die Befunde aus der Interventionsforschung aber ein erstes Einfallstor für weitere Studien sowohl in der Grundlagen- als auch in der angewandten Forschung bilden, denn offenkundig gelingt es ja, Leseleistungen durch Schreibinterventionen positiv zu beeinflussen, die deutlich ein strategisches Vorgehen fördern.
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2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen
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2.1.6 Typographische Lesbarkeitskonzepte Zusammenfassung: Es muss überraschen, dass die typographische Praxis in der Vergangenheit kaum von wissenschaftlichen Lesbarkeitskonzepten beeinflusst worden ist. Lesbarkeitskonstituierende Faktoren sind in typographischen Fach- und Lehrbüchern jedoch früh benannt worden. Die weitgehende Konventionalisierung der typographischen Gestaltung garantierte bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein Lesbarkeit. Erst der enorme Zuwachs an Satzschriften, die zunehmende Ausdifferenzierung der typographischen Formen und, später, die Mechanisierung und Digitalisierung des Satzes machten eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema notwendig. Lesbarkeit und lesbarkeitskonstituierende Faktoren werden heute unter Berücksichtigung unterschiedlicher Lese arten und Lesemedien betrachtet. Daraus ergeben sich differenzierte Empfehlungen für die Anlage lesefreundlicher Textgestaltungen. Abstract: It may come as a surprise that in the past, the practice of typography was barely influenced by scientific research on legibility. The factors that affect legibility nevertheless make an early appearance in typographic reference works and textbooks. Up to the early 19th century, legibility was guaranteed by fairly strict conventions of typographical design. Only the enormous increase in the variety of typefaces, the growing range of different typographical forms, and later on the mechanization and digitalization of typesetting systems have made it necessary to study the subject more deeply. When considering legibility and the factors responsible for it today, different forms of reading and reading media are brought into consideration. This results in differentiated guidelines for how to create clearly legible text layouts. Inhaltsübersicht 1 Zum Lesbarkeitsbegriff in der Typographie — 234 1.1 Begriffsklärung — 234 1.2 Historische Ansätze — 236 2 Lesbarkeitskonstituierende Faktoren — 238 2.1 Erkennbarkeit — 238 2.1.1 Formensprache — 239 2.1.2 Kontrastprinzip — 239 2.1.3 Endstrichbehandlung — 240 2.1.4 Schriftproportionen — 241 2.2 Leserlichkeit — 241 2.3 Lesbarkeit — 243 3 Praktische Hinweise — 244 3.1 Schriftwahl — 244 3.2 Schrifteinrichtung — 244 3.2.1 Schriftgröße — 244 3.2.2 Laufweite — 245 3.2.3 Wortzwischenräume — 246 3.2.4 Zeilenabstand — 246 3.2.5 Sonstige Einstellungen — 247 3.3 Satzarten — 247 3.3.1 Rauhsatz — 247
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3.3.2 Flattersatz — 248 3.3.3 Ausgefüllter Satz — 248 3.4 Zeilen- und Seitenumbruch — 248 3.5 Texthierarchisierung und -auszeichnung — 249 3.5.1 Textebenen — 250 3.5.2 Textanfänge — 250 3.5.3 Absätze und stärkere gedankliche Zäsuren — 251 3.5.4 Überschriften — 251 3.5.5 Integrierte und aktive Textauszeichnungen — 252 3.6 Layout — 252 4 Lesearten — 252 4.1 Lineares Lesen — 253 4.2 Informierendes Lesen — 253 4.3 Differenzierendes Lesen — 253 4.4 Konsultierendes Lesen — 254 4.5 Selektierendes Lesen — 254 4.6 Betrachtendes Lesen — 254 5 Medialer Wandel — 254 6 Literatur — 255
1 Zum Lesbarkeitsbegriff in der Typographie 1.1 Begriffsklärung Im allgemeinen Sprachgebrauch kann mit dem Begriff Lesbarkeit sowohl eine Text eigenschaft als auch die im typographischen Kontext relevante visuelle Umsetzungsqualität gemeint sein.1 In diesem Sinne wird Lesbarkeit in der Praxis auf drei Ebenen realisiert: Während der typographische Gestalter selten am Schriftentwurf selbst beteiligt ist, ist er für die Auswahl einer angemessenen Schrift verantwortlich. Mikrotypographie als »Satzgestaltung zwischen den Buchstaben und Zeichen, Wörtern und Zeilen« umfasst die Beziehungen aller Zeichen innerhalb der Textkolumne zueinander. Die übergeordnete Makrotypographie beschreibt »typographische Anlage, Layout, Konzeption« (Willberg / Forssman 1997, S. 10) typographischer Gestaltungen, in denen sich das konnotative Potenzial verdichtet, das in Schriftformen und mikrotypographischer Durcharbeitung bereits angelegt ist. Die DIN 1450
1 Lesbar ist nach Grimms Deutschem Wörterbuch (Bd. 12, Sp. 771 f.) »in bezug auf deutlichkeit der schrift« oder »in bezug auf den inhalt« zu verstehen, leserlich hingegen ausschließlich »in bezug auf deutlichkeit der schrift oder des druckes« (Grimm Bd. 12, Sp. 788). Die Duden-Website bietet die Bedeutungen »für die Augen zu entziffern und sich lesen lassend« sowie »verständlich geschrieben« an (URL: http://www.duden.de/rechtschreibung/lesbar [eingesehen am 04.06.2015]).
2.1.6 Typographische Lesbarkeitskonzepte
235
Schriften – Leserlichkeit schlägt für die lesbarkeitsrelevanten Aspekte der Textgestaltung auf den beschriebenen drei Ebenen folgende Bezeichnungen vor: – Erkennbarkeit: »Eigenschaft von Einzelzeichen, die es ermöglicht, die Zeichen zu erfassen und zu unterscheiden«; – Leserlichkeit: »Eigenschaft einer Folge erkennbarer Zeichen, die es ermöglicht, diese Zeichen im Zusammenhang zu erfassen«; – Lesbarkeit: »Eigenschaft erkennbarer Zeichen und leserlich angeordneter Zeichenfolgen, die es ermöglicht, die Information zweifelsfrei zu verstehen« (Deutsches Institut für Normung 2013, S. 4). Obwohl die hier getroffenen Bedeutungszuweisungen kaum mit dem allgemeinen Sprachgebrauch2 korrelieren, die Definitionen unter praktischen Gesichtspunkten wenig hilfreich und hinsichtlich aktueller semiotischer und lesephysiologischer Positionen und Erkenntnisse (vgl. Wehde 2000) kaum zu verteidigen sind,3 reflektiert die dreistufige Darstellung des Gesamtphänomens Lesbarkeit berufspraktische Probleme (die in den folgenden Ausführungen behandelt werden sollen) ebenso wie wissenschaftlich-theoretische Debatten. Die Semiotik widmet sich der Untersuchung der Formationsregel (dem Typus), die der Schriftgestalter in den Einzelzeichen grafisch ausformuliert. Die resultierende Erkennbarkeit der Zeichenereignisse (Zeichenexemplare) schafft die Voraussetzungen für den eigentlichen Lesevorgang als Gegenstand lesephysiologischer Untersuchungen. Hier hat der typographische Gestalter durch Einrichtung und Anordnung der Schriftzeichen den störungsfreien Ablauf des Leseprozesses und damit die Leserlichkeit des Texts sicherzustellen. Lesbarkeit weist über die bisher beschriebene »Korrelation von Schriftzeichen und lautlichen bzw. lexikalischen Einheiten von Sprache« (Wehde 2000, S. 86 f.) hinaus: Typographie wird im Kontext der Lesbarkeit um eine zusätzliche Dimension »als sprachunabhängiges visuelles Ausdrucks- und Bedeutungssystem« mit einer eigenen »Konnotationssemiotik« erweitert. In der englischsprachigen Fachliteratur wird dieses praxisorientierte Verständnis von Lesbarkeit mit den Begriffen ›perceptibility‹, ›legibility‹ und ›readability‹4 ausgedrückt.
2 Eine ausführliche Darstellung des Lesbarkeitsbegriffs in der Allgemeinsprache und den jeweiligen Disziplinen bei König 2004, S. 18–35. 3 Erkennbarkeit ist kein Zeichenattribut sondern kontextabhängig. Das Textverständnis hängt in hohem Maße von individuellen Faktoren ab und eignet sich somit kaum für eine Definition von Lesbarkeit. 4 Ebenso wie im Deutschen herrscht im Englischen Unsicherheit über die genaue Bedeutung der Begriffe und die Beziehungen der bezeichneten Sachverhalte untereinander.
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1.2 Historische Ansätze Die Technik des typographischen Drucks setzt Lesbarkeit geradezu voraus: Ein typographischer Druck richtet sich an eine anonyme Gruppe potenzieller Käufer, während beim handschriftlichen Text im Extremfall Schreiber und Leser in einer einzigen Person zusammenfallen können. In den frühesten schriftlichen Zeugnissen der typographischen Praxis aus dem 17. Jahrhundert wird Lesbarkeit als gestalterisches Ziel weder explizit genannt noch werden mögliche Wege dorthin diskutiert. Lesbarkeitskonstituierende Faktoren werden unter dem Gesichtspunkt der guten handwerklichen Praxis, der »good Workmanship« (Moxon 1683, S. 215) zusammengefasst. Dies gilt insbesondere für die Ebene der Mikrotypographie. Während Stempelschnitt und Typenguss (Schriftgestaltung und Schrifttechnik) bereits als eigenständige Gewerbe betrieben wurden, waren makrotypographische Fragen der Textgestaltung weitgehend vorgegeben und so der Entscheidungsgewalt des Setzers entzogen. Erst durch die technischen und ökonomischen Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts wurde die Ausbildung konkurrierender typographischer Konzepte möglich und gleichzeitig auch notwendig. Verbesserungen in Stempelschnitt und Druck5 sowie ganz besonders die Erfindung des glatten, pergamentähnlichen Velin-Papiers durch John Baskerville um 1750 (vgl. Wolf 1990, S. 131) ermöglichten eine höhere Detailgenauigkeit in der Druckwiedergabe und damit feinere Nuancierungen in der Schriftgestaltung. Die zunehmende Spezialisierung der Druckereien (und damit auch der angeschlossenen Setzereien) auf Zeitungs-, Buch- oder Akzidenzdruck sowie die wachsende Bedeutung der Werbedrucksachen zogen eine vermehrte Nachfrage nach neuem und betont modischem Schriftmaterial nach sich. Nicht nur im Bereich der Display-Schriften (vgl. Gray 1938) entstanden mitunter extreme, schwer leserliche Formausprägungen. Übertrieben starke Kontraste zwischen Grundstrichen und Haarlinien gefährdeten auch im Bereich der Textschriften die Leserlichkeit.6 Auf der Suche nach besser lesbaren Textschriften wurde man in älteren Drucken fündig: Caslons inzwischen außer Gebrauch geratene Schriften7 machten 1843 den Anfang bei der Wiederbelebung des schrifthistorischen Erbes.8 Bis zum Ende des
5 Vgl. zum Stempelschnitt Carter / Mosley 1995, Bd. 3, S. 28–39, zur Entwicklung der Druckpresse im 19. Jahrhundert Rummonds 2004, Bd. 1, S. 112–121 sowie Moran 1978, S. 54. 6 »Upon comparing the books of the time of the celebrated William Caslon with those of the present day [1825], it will be seen that a complete change in the shape and style of types has taken place. […] In fact, the book-printing of the present day is disgraced by a mixture of fat, lean, and heterogeneous types, which to the eye of taste is truly disgusting« (Hansard 1825, S. 355). 7 »As early as 1805 the Caslons ceased to show in their specimen the original types cut by the first William Caslon.« (Updike, Daniel Berkeley: Printing types. Their history, forms, and use. A study in survivals. 2 Bde. Cambridge (Mass.) 1922, Bd. II, S. 196, Anm. 1) 8 Vgl. Beilenson 1938, S. 254 und Reed 1974, S. 249: »In 1843 a revival of the Caslon old-style letter took place […]. Then followed a demand for old faces, which has continued up to the present time.«
2.1.6 Typographische Lesbarkeitskonzepte
237
ersten Drittels des 20. Jahrhunderts wurden zahlreiche historische Schriften überarbeitet und an die neuen Techniken angepasst. Bemerkenswert sind insbesondere die Anstrengungen der britischen Monotype Corporation unter ihrem typographischen Berater Stanley Morison (vgl. Morison 1973, insb. S. 35). Die parallele Verfügbarkeit zeitgenössischer und historischer Formen zwang zur vergleichenden Bewertung und zu konzeptionellen Überlegungen. Ungefähr zu dieser Zeit etablierte sich die wissenschaftliche Lesbarkeitsforschung. Sie übte jedoch keinen nennenswerten Einfluss auf die typographischen Fach- und Lehrbücher aus. Bis heute hat sich daran nichts geändert.9 Die Gründe für diese faktische Missachtung sind zahlreich und betreffen mehrere Problemfelder. Schriftproben bzw. Textmuster als Basis aller empirischen Untersuchungen haben eine grundsätzliche Schwäche: Abhängig von Satzsystem, Ausgabeeinheit und Textträger führen identische bzw. gleichnamige Schriften unter Umständen zu völlig unterschiedlichen, nicht miteinander vergleichbaren Ergebnissen. Dazu kommen methodische Schwierigkeiten der Untersuchungen, die deren Aussagekraft beeinträchtigen und eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse verhindern. Die Studienergebnisse selbst, verstreut publiziert in psychologischen Fachzeitschriften, sind für typographische Praktiker nicht oder nur schwer erreichbar.10 Die Vielzahl der zu berücksichtigenden, teilweise in Abhängigkeit zueinander stehenden Parameter verhindert zudem die Formulierung praxistauglicher Empfehlungen. Der Stellenwert der Lesbarkeit für die typographische Gestaltung wird seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kontrovers diskutiert. Insbesondere Designer (im Gegensatz zu den stärker handwerklich geprägten typographischen Gestaltern) argumentieren, dass durch das Überangebot an lesbaren Inhalten die Aufmerksamkeitswirkung der Textgestaltung wichtiger sei als die Geschwindigkeit und der Komfort der tatsächlichen Lektüre.11 Der stilbildende US-amerikanische Designer David Carson hat sich mit seinen breitenwirksamen Arbeiten im Feld des EditorialDesign, der Buchgestaltung und der Werbung konsequent gegen den Primat der Lesbarkeit gewehrt. Inhalte werden kommuniziert »on a level beyond words. On a level that bypasses the logical, rational centers of the brain and goes straight to the part that understands without thinking«. (Blackwell 1995, o. S.) Die visuelle Konnotation eines Texts, seine Zuordnung zu einer (Sub-)Kultur, einer historischen Epoche oder
9 Eine Analyse der deutschsprachigen Publikationen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert liefert König 2004, Kap. III.3. Eine bemerkenswerte Ausnahme unter den jüngeren Fachbüchern stellt Kapr / Schiller 1983 dar. 10 Instruktiv hierzu Foster 1980: Der Autor analysiert 413 Forschungsberichte aus sechs Jahren und arbeitet deren methodische Vielfalt heraus. 11 Auf eine theoretische Basis gestellt wurde diese Haltung an der Cranbrook Academy of Art. Vgl. McCoy 1990, S. 14: »If design is about life, why shouldn’t it have all the complexity, variety, contradiction, and sublimity of life?«
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einer geographischen Region, gewinnt an Bedeutung. Bildhafte Qualitäten typographischer Strukturen treten verstärkt in den Vordergrund.
2 Lesbarkeitskonstituierende Faktoren 2.1 Erkennbarkeit Die Erkennbarkeit eines Buchstabens liegt nach dem bedeutenden schweizerischen Schriftgestalter Adrian Frutiger im Übereinstimmungsgrad des »skeletthaften Grundstrichs« mit seiner »archetypischen Grundform« (Frutiger 1991, S. 200). Diese Grundform ist keine ideale, gedachte Form, sondern das visuelle Mittel aller verbreiteten, bekannten Satzschriften (siehe Abb. 1). Die Erkennbarkeit von Buchstabenformen ist damit – in geringem Maße – zeitabhängig und unterliegt der individuellen Leseerfahrung.
Abb. 1: Der ›skeletthafte Grundstrich‹ als visuelles Mittel der verbreiteten, bekannten Satzschriften. Hier: Garamond, Baskerville, Bodoni und Gill Sans
Um den ›skeletthaften Grundstrich‹ herum wird der eigentliche ›Charakter‹ des Buchstabenbilds modelliert, der die ›archetypische Grundform‹ nicht überlagern darf. Dieser ›Charakter‹ unterscheidet die Schriftarten voneinander und prägt ihre individuelle Ausstrahlung.12 Insbesondere bei Textschriften sind hierbei Formdetails weniger bedeutsam als die Mengenwirkung: Diese begründet Grauwert (hell oder dunkel), Textur (gleichmäßig oder ungleichmäßig) und Rhythmus (ruhig oder unruhig) der Textkolumne. Die Textkolumne wird vielleicht stärker von der Schrifteinrichtung geprägt als von der Schrift selbst.13 Wichtige, für die Leserlichkeit ent-
12 »Atmosphere-value of a type face we call those properties by which it excites feelings within the reader. The reader receives an impression by the mere aspect of the printed type […]. Another aspect to this is presented by the proved fact that affects (like or dislike) have influence on the speed of apperception (and speed of reading), and on the strength of associations (and therefore the memory value of an object).« (Ovink 1938, S. 127) 13 So meint Bruce Rogers zur Bedeutung der Schriftwahl: »At any rate it isn’t so vitally important as other things.« (Rogers 1943, S. 16)
2.1.6 Typographische Lesbarkeitskonzepte
239
scheidende Unterscheidungsmerkmale zwischen den Schriften sind Formensprache, Kontrastprinzip, Endstrichbehandlung und Schriftproportionen.
2.1.1 Formensprache Satzschriften werden nach ihrer Formensprache14 in dynamische, statische oder konstruierte Schriften unterteilt (siehe Abb. 2).15 Seinen deutlichsten Ausdruck findet das Formprinzip in den Minuskeln (den Kleinbuchstaben).
dynamisch
statisch
konstruiert
a c a c ac
Abb. 2: Dynamische, statische und konstruierte Formen. Hier: Gill Sans, Univers und Futura
Dynamische Schriften mit ihren horizontal ausgerichteten An- und Abstrichen produzieren in Leserichtung geöffnete Binnenräume. Mit ihren anschlussfreudigen Einzelformen bilden sie starke Wortbilder und unterstützen die Zeilenbildung. Die lichten, gleichmäßigen Binnenformen begünstigen einen freundlichen Grauwert und ruhigen Rhythmus. Bei den statischen Schriften sind die An- und Abstriche vertikal ausgerichtet; die Formen sind in sich beschlossen. Die schwächer ausgeprägte horizontale Zeilenbildung und die Betonung der Vertikalen stehen im Gleichgewicht und resultieren in einer gleichmäßigen Textur. Bei konstruierten Schriften greifen die Teilformen der Buchstaben auf elementargeometrische Formen zurück. Betonte Übereinstimmungen zwischen einander entsprechenden Teilformen behindern evtl. die eindeutige Erkennbarkeit der Buchstaben. Stark ausgeprägte, auf der Kreisform basierende Binnenräume reißen das Wortbild auf und beeinträchtigen den uniformen Grauwert.
2.1.2 Kontrastprinzip Das Kontrastprinzip einer Schrift beschreibt den relativen Kontrast zwischen Grundstrichen und Haarlinien, die Strichstärkenmodulation in den Kurvenverläufen sowie
14 Diese morphologische Unterteilung folgt ausdrücklich nicht der historisch-morphologischen Schriftklassifikation nach DIN 16518. 15 Ausführlicher zur Differenzierung der Satzschriften de Jong 2008. Zur Formensprache siehe S. 32 f.
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die Stellung der Kontrastachse (siehe Abb. 3). Da die Formdetails der Druckschriften prinzipiell auf geschriebenen Formen beruhen, basieren die drei Kontrastprinzipien auf Schreibwerkzeugen: der Wechselzugfeder, der Spitzfeder und der Schnurzug feder.
ooo Wechselzugfeder
Spitzfeder
Schnurzugfeder
Abb. 3: Die drei Kontrastprinzipien in der Gegenüberstellung (Garamond, Bodoni und Futura)
Die Wechselzugfeder zeichnet sich aus durch einen moderaten Strichstärkenkontrast, der die Unterscheidbarkeit von Teilformen (und damit die Zeichendifferenzierung) begünstigt. Die leicht geneigte Kontrastachse betont die Leserichtung und unterstützt die Zeilenbildung. Bei der Spitzfeder ist der Kontrast stärker ausgeprägt und die DickDünn-Übergänge sind weniger stark vermittelt. Die Kontrastachse steht senkrecht zur Schriftlinie. Die Schnurzugfeder mit ihrer runden Spitze erzeugt richtungsunabhängig Striche von gleichbleibender Stärke. Die fehlende Unterscheidung zwischen horizontalen, vertikalen und diagonalen Strichen nivelliert Unterschiede zwischen den Teilformen und den Zeichenformen.
2.1.3 Endstrichbehandlung Schriften, deren Strichenden nach unten und oben glatt auslaufen bezeichnet man als Serifenlose (oder Sans Serif). Bei Serifenschriften (oder Serifs) werden die Strich enden durch horizontale Striche, sog. Serifen, akzentuiert. Diese können einseitig aus dem Strich herauswachsen (insbes. die Kopfserifen) oder zweiseitig sein. Sie greifen i.d.R. die Stärke der Haarlinien auf und betonen die Schriftlinie. Sie unterstützen die Zeilenbildung. Schriften, deren Serifen in der Strichstärke annähernd den
Serif
Serifenbetont
Serifenlos
Abb. 4: Ausgerundete Serifen in der Stärke der Haarlinien der Schrift (Garamond); winkelig angesetzte Serifen entsprechend der Stärke der Grundstriche (Rockwell); unvermittelt endender Grundstrich (Futura)
rasen
2.1.6 Typographische Lesbarkeitskonzepte
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Grundstrichen entsprechen, bezeichnet man als serifenbetont (oder Clarendon bzw. Egyptienne). Die Überzeichnung der Serifen kann zeichendifferenzierende Formdetails überlagern und damit die Leserlichkeit einschränken.
2.1.4 Schriftproportionen Vertikal unterteilt sich die maximale Ausdehnung der Minuskeln (Kleinbuchstaben) in die Oberlänge (den Bereich oberhalb der Mittellänge), die Mittellänge (oder die x-Höhe der Minuskeln) und die Unterlänge unterhalb der Schriftlinie. Für die Zeichenerkennung ist die Mittellänge von besonderer Bedeutung, hier insbesondere der obere Bereich (siehe Abb. 5). Buchstaben mit ausgeprägter Mittellänge (in Relation zu Oberund Unterlänge) sind, speziell in kleinen Schriftgrößen, besonders gut erkennbar.
Abb. 5: Der obere Bereich der Mittellänge ermöglicht – anders als der untere Bereich – die eindeutige Zuordnung der Teilformen
In der Vertikalen trägt die typische Dicktenrelation der Zeichen zur Erkennbarkeit bei. Bei besonders schmal bzw. besonders breit laufenden Schriften tritt dieses Unterscheidungsmerkmal ebenso zurück wie bei Schriften, deren Einzelzeichen identische Dickten haben (Monospace-Schriften).
Abb. 6: Fehlende Strichstärkenunterschiede und identische Zeichendickten behindern die Zeichenerkennung (Garamond und Interstate Mono)
2.2 Leserlichkeit Damit Zeichen im Zusammenhang – gemeint sind das Wortbild und die Zeile – erkannt werden, müssen sie als zusammengehörig wahrgenommen werden. Voraussetzung dafür sind strukturelle Ähnlichkeit und räumlicher Bezug. Ähnlichkeit entsteht durch
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die einheitliche formale Durcharbeitung aller Zeichen (Formensprache, Kontrastprinzip, Endstrichbehandlung, Proportionen, Charakter). Den räumlichen Bezug gewährleistet bei einheitlicher Schriftlinie die Festlegung der typographischen Weißräume. Buchstabenzwischenräume werden bei digitalen Schriften von drei Parametern definiert. Zwei davon sind in der Schriftprogrammierung festgelegt und einer ist im Satzprogramm wählbar. Jedes Zeichen steht auf einem sog. virtuellen Schriftkegel, der einen schmalen Weißraum auf beiden Seiten des eigentlichen Zeichenbilds definiert, das Vor- bzw. Nachweiß. Die Positionierung des Zeichens auf dem virtuellen Schriftkegel bezeichnet man als Zurichtung. Nachweiß und Vorweiß des Folgezeichens addieren sich zum Zeichenzwischenraum. Dieser errechnete Zwischenraum wird ggf. korrigiert: Die Kerningdatei einer Digitalschrift weist mehrere Hundert Zeichenkombinationen aus, deren rechnerischer Weißraum jeweils um einen individuellen Wert erhöht oder reduziert wird. Der tatsächliche Zwischenraum ergibt sich in diesem Fall aus Nach- und Vorweiß, korrigiert um den im Kerning für diese spezielle Zeichenfolge festgelegten Wert. Zurichtung und Kerning können im Satzprogramm nicht beeinflusst werden. Der typographische Gestalter bestimmt die Laufweite der Schrift: Der Laufweitenwert erhöht oder reduziert die sich aus Zurichtung und Kerning ergebenden individuellen Zwischenräume global (siehe Abb. 7). Er modifiziert auch die Wortzwischenräume. Die Einstellung der Laufweite erfolgt in Abhängigkeit von den Binnenformen der Schrift: Ziel ist ein harmonisches Zusammenspiel der Buchstabenbinnenräume mit den Buchstabenzwischenräumen. Schriften mit ausgeprägten Binnenräumen benötigen dementsprechend größere Zwischenräume – und umgekehrt. Ebenso wie die Buchstabenzwischenräume orientieren sich auch die Wortzwischenräume an den Zeichenformen bzw. deren Binnenformen. Bei schmalen Schriften ist der Wortzwischenraum geringer als bei breit laufenden. Da die Wortzwischenräume auch von der Zeilenlänge und dem Zeilenabstand abhängen, können sie im Satzprogramm modifiziert werden.
Abb. 7: Positionierung des Buchstabenbilds auf dem virtuellen Schriftkegel: Weißräume zwischen den Kegeln deuten die globale Erhöhung der Laufweite an
Neben den horizontalen Abständen sind die vertikalen Abstände entscheidend für die Leserlichkeit. Sie sorgen für eine klare Differenzierung der Zeilenbänder und sichere Blickführung. Der Zeilenabstand wird in Abhängigkeit von der Zeilenlänge festgelegt.
2.1.6 Typographische Lesbarkeitskonzepte
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2.3 Lesbarkeit Erkennbarkeit setzt die sichere Identifikation der typographischen Einzelzeichen voraus, Leserlichkeit deren Wahrnehmung im Bedeutungszusammenhang. Lesbarkeit bezieht sich auf das zweifelsfreie Verständnis der Textinformation. Während Erkennbarkeit und Leserlichkeit auf der Grundlage lesephysiologischer Erkenntnisse betrachtet werden können, fehlt für die Beschreibung der Lesbarkeit eine auf dem Wissen um den Leseprozess gegründete Basis. Das Verständnis der Textinformationen ist auf zweierlei Weise mit typographischen Mitteln zu befördern: – Typographische Leseanreize erzeugen eine positive Grundhaltung dem Text gegenüber, während die typographische Konnotation der inhaltlichen Kontextualisierung dient. Die Beeinflussung der Erwartungshaltung fördert mittelbar das Textverständnis. – Textstruktur und Textgliederung werden mit typographischen Mitteln sichtbar gemacht und wirken unmittelbar verständnisfördernd. Als Leseanreize wirken gestalterische Elemente, die eine sorgfältige, inhaltsbezogene Durcharbeitung des Texts visuell kommunizieren. Darüber hinaus kann der Leser durch den gezielten Umgang mit typographischen Konventionen auf die Textart eingestimmt werden. Schriftwahl und Raumnutzung können eine besondere Wertigkeit andeuten. Historische oder regionale Anspielungen verorten den Text in Zeit und Raum. Eine klare Hierarchisierung der Textebenen und die Gliederung innerhalb einer Ebene unterstützen die inhaltliche Argumentation. Zwischenüberschriften eröffnen zusätzliche Einstiegsmöglichkeiten in die Lektüre. Innerhalb eines Absatzes schaffen Textauszeichnungen Orientierung. Sie brechen den einheitlichen Grauton der Kolumne auf und bilden visuelle Anreize.16
16 Eine umfassende theoretische Aufarbeitung der »graphisch-formalen Aspekte typografischer Bearbeitung der Ausdruckssubstanz […] als potentiell bedeutungshafte[r] Ausdrucksdimension« nimmt Susanne Wehde vor: »Konnotative Semantik kann«, wie sie überzeugend darlegt, »auf allen Ebenen des Denotationssystems aufbauen«. Wichtiger als die »materiellen und graphischen Merkmale an den Buchstabenexemplaren« ist im Kontext der Leserlichkeit jedoch sicherlich die »komplexe flächensyntaktisch-relationale Gesamtgestalt eines Textes« (Wehde 2000, S. 88). Vgl. dazu auch Kap. 2.2.2 Das Buch in der Codexform und einblättrige Lesemedien in diesem Band, bes. Abschnitt 2.3.2 und 2.4 über Mittel der Leserlenkung in systematischer und historischer Perspektive.
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3 Praktische Hinweise 3.1 Schriftwahl »Die bekannten klassischen und modernen Textschriften können ungefähr gleich gut gelesen werden. Die meisten Leser nehmen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schrifttypen nicht wahr.« (Kapr 1971, S. 265) Ausgenommen sind ausdrücklich die sog. Display-Schriften, die sich generell nicht für den Satz längerer Texte eignen. Innerhalb der Gruppe der Textschriften ist die Wahl (unter Berücksichtigung der in Abschnitt 2.1 diskutierten Unterschiede) frei. Textkonnotation und die geplante bildhafte Anmutung des Texts müssen jedoch berücksichtigt werden. Alle Sonderzeichen (z. B. Akzentzeichen, Ziffernformate und ggf. griechische oder kyrillische Schriftzeichen) sollten verfügbar sein ebenso wie die benötigten Auszeichnungsschnitte (Kursive, Kapitälchen, fette Schriftschnitte etc.). Das Ausgabemedium ist ein weiteres Auswahlkriterium: An Schriften für die Bildschirmwiedergabe bzw. für die Ausgabe an Office-Druckern müssen andere Anforderungen gestellt werden als an solche für den Offsetdruck. Im Office-Bereich werden deshalb häufig Schriften eingesetzt, deren kräftige Grundstriche bei niedrigem Kontrast und geringer Detailzeichnung auch im Zusammenspiel mit geringauflösenden Ausgabemedien noch annehmbare Resultate erzielen. Teilweise sind spezielle Schriftschnitte erhältlich, deren Programmierung für die Bildschirmwiedergabe optimiert wurde. Gut ausgebaute professionelle Satzschriften sind im Entwurf, in der Zeichnung und in der Programmierung sehr aufwändig und entsprechend teuer. Sie sind hinsichtlich der typographischen Gestaltungsmöglichkeiten nicht mit den Schriften vergleichbar, die als Bestandteile von Soft- oder Hardwarepaketen vorinstalliert sind. Anwender, die sich auf ihre Systemschriften oder kostenfreie Schriftsoftware verlassen, werden damit keine professionellen Ergebnisse erzielen.17
3.2 Schrifteinrichtung 3.2.1 Schriftgröße Digitale Satzschriften sind für einen bestimmten Schriftgrößenkorridor optimiert – regelmäßig sind das die Textgrade von 9 bis 14 pt. Abhängig von Strichstärke, Kontrast
17 So hat z. B. die Adobe Garamond Premier Pro allein 34 OT-Schriftschnitte (mit integrierten Kapitälchen) mit jeweils bis zu 2734 Einzelzeichen. Eine einfache digitale Version der Garamond im TT- oder PS-Format kennt hingegen nur die drei Schriftschnitte Regular, Italic und Bold mit jeweils max. 223 Zeichen (bei der Mac-OS-Roman-Codierung).
2.1.6 Typographische Lesbarkeitskonzepte
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und Proportionen werden sie in kleineren Schriftgrößen schwer leserlich, während sie in großen Schriftgrößen ästhetisch unbefriedigende Resultate erzeugen. Gut ausgebaute Schriftfamilien mit speziell gezeichneten Schriftschnitten für besonders kleine oder große Anwendungen schaffen hier Abhilfe. Diese Schriften verfügen über mehrere Designgrößen (optical sizes). Schriftgrößen zwischen 6 und 8 pt (für Fuß- bzw. Endnoten oder Marginalien) werden als Konsultationsgrade oder Caption-Schnitte bezeichnet. Schriftgrößen für den Satz längerer, fortlaufend gelesener Texte (9 bis 14 pt) heißen Textgrade. Größere Schriften ab 16 pt – sog. Schaugrade (oder Display-Schnitte) – werden überwiegend für Überschriften, Titel etc. eingesetzt.
Caption
Regular
Subhead
Display
Abb. 8: Vier Designgrößen einer Schrift (Adobe Garamond Premier Pro). Die Schriftgröße ist jeweils identisch
Die Wahl der Schriftgröße hängt ab vom Leseabstand, der an einem Stück kontinuierlich zu lesenden Textmenge und der Lesemotivation. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die in Punkt angegebene Schriftgröße nur der groben Orientierung dienen kann. Abhängig von der Positionierung auf dem virtuellen Schriftkegel sowie der Mittellänge in Relation zu Ober- und Unterlänge können Schriften derselben Schriftgröße in Punkt optisch unterschiedlich groß wirken.
3.2.2 Laufweite Die Laufweiteneinstellung muss für jede Schrift in jeder Schriftgröße neu gewählt bzw. überprüft werden: Die Buchstabenzwischenräume sollen eine deutliche Differenzierung der Einzelzeichen zulassen. Keinesfalls dürfen sich angrenzende Buchstaben berühren. Die Geschlossenheit des Wortbilds muss gewahrt bleiben. Schriftgrößen unter 12 pt benötigen häufig eine Erhöhung der Laufweite, während diese bei darüberliegenden Schriftgrößen regelmäßig reduziert werden kann. Die Laufweiteneinstellung ist in Abhängigkeit vom Ausgabemedium zu treffen: Geringauflösende Ausgabemedien (Bildschirm, Office-Drucker) erfordern ggf. eine bedeutend höhere Laufweite.
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3.2.3 Wortzwischenräume Wortbilder müssen optisch klar getrennt werden. Unter Berücksichtigung dieser Prämisse werden Wortabstände heute so knapp wie möglich bemessen.18 Das Zeilenband gewinnt dadurch an Geschlossenheit. Traditionell entspricht der Wortzwischenraum der Dickte des Minuskel-i, des schmalsten Buchstabens. In der Regel kann der Wortzwischenraum wie in der Schriftprogrammierung festgelegt verwendet werden. Ausnahmen stellen sehr kleine oder sehr große Schriftgrößen dar, bei denen sich allerdings die Laufweitenkorrektur auch entsprechend auf die Wortzwischenräume auswirkt. Nur im Rauh- und Flattersatz entsprechen die tatsächlichen Wortzwischenräume dem in der Schriftprogrammierung festgelegten und ggf. im Satzprogramm modifizierten Wert: Im ausgefüllten Satz (Blocksatz) wird die bündige rechte Satzkante durch die gleichmäßige Verteilung des Leerraums am Zeilenende auf alle Wortzwischenräume innerhalb der Zeile erreicht. Entsprechend weichen die tatsächlichen Wortzwischenräume in einem definierten Korridor ab vom idealen Wortzwischenraum.
3.2.4 Zeilenabstand Ober-19 und Unterlängen übereinanderstehender Zeilen dürfen sich nicht berühren. Überlagerungen stören die Umrisslinie des Wortbilds. Helle Schriften (mit offenen Binnenräumen, großzügigen Buchstabenzwischenräumen und weiten Wortzwischenräumen) verlangen nach weitem Zeilenabstand; dunkle, kompakte Zeilenbänder werden mit geringerem Abstand gesetzt. In jedem Fall muss der vertikale Abstand zwischen den Zeilen die horizontalen Weißräume zwischen den Wörtern dominieren. Der Weißraum zwischen den Zeilen dient der optischen Trennung der Zeilen und gewährleistet die sichere Blickführung vom Ende der einen zum Anfang der nächsten Zeile. Entsprechend kann er bei kurzen Zeilen geringer ausfallen als bei langen Zeilen. Zeilen mit mehr als 90 Anschlägen je Zeile (inkl. Wortzwischenräume) sind problematisch: Der sichere Zeilenwechsel kann bei überlangen Zeilen nur durch einen extremen Zeilenabstand gewährleistet werden, der den Zusammenhalt und den einheitlichen Grauwert der Kolumne gefährdet.
18 Die historischen Bezeichnungen Drittel- bzw. Viertelsatz beziehen sich auf das Drittel- bzw. Viertelgeviert als den angestrebten idealen Wortzwischenraum. 19 Tatsächlich überragen die Versalakzente häufig noch die Oberlängen.
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3.2.5 Sonstige Einstellungen Zeitgemäße digitale Satzschriften werden im plattformunabhängigen OpenType-Format (OT) angeboten. Gegenüber dem PostScript- (PS) und dem TrueType-Format (TT) zeichnet es sich durch eine stark ausgebaute maximale Zeichenmenge sowie durch eine überlegene Funktionalität aus.20 Folgende Einstellungen können bei gut ausgestatteten OT-Schriften getroffen werden: – Ziffernformat: Im Textsatz sollten proportionale Mediaevalziffern (mit Ober- und Unterlängen) gewählt werden, im Gegensatz zu den häufig als Standard voreingestellten dicktenkompatiblen Versalziffern für den Tabellensatz. – Ligaturen dienen einem geschlossenen Wortbild. Die Standardligaturen (fi, fl, ffi, ffl und ff – soweit vorhanden) kann das Satzprogramm automatisiert setzen. Trotzdem muss der Satz anschließend manuell kontrolliert werden, da in der deutschen Sprache nicht überall dort Ligaturen gesetzt werden dürfen, wo sie gesetzt werden können.21 – Sofern Kapitälchen zu Auszeichnungszwecken benötigt werden, sollte eine Entscheidung getroffen werden zwischen reinem Kapitälchensatz und gemischtem Satz (Kapitälchen und Majuskeln unter Beibehaltung von Groß- und Kleinschreibung).
3.3 Satzarten Von den bekannten Satzarten sind nur der linksbündige Rauh- und Flattersatz sowie der ausgefüllte Satz für längere Texte geeignet. Symmetrischer Satz, Formsatz und rechtsbündiger Satz sind ungeeignet. Die Wahl einer Satzart hängt von der Zeilenlänge ab: Während Rauhsatz auch in schmalen Textkolumnen problemlos realisierbar ist, setzen Flattersatz und ausgefüllter Satz breitere Kolumnen voraus. Literarische Texte werden im Allgemeinen stärker mit ausgefülltem Satz in Verbindung gebracht, während informierende Texte eher mit Rauh- und Flattersatz assoziiert werden.
3.3.1 Rauhsatz Beim Rauhsatz ist die Zeile so weit wie möglich gefüllt, die rechte Satzkante wird nicht ausgeglichen. Worttrennungen am Zeilenende unterliegen keinen besonderen
20 Im Gegensatz zur ASCI-Codierung mit 256 Zeichen (inkl. interner Steuerzeichen) umfasst die OpenType-Codierung 1.114.112 Speicherplätze. Die wichtigsten Sprachen der Welt sind auf den ersten 65.536 Speicherplätzen abgelegt, dem ›Basic Multilingual Plane‹ (BMP). 21 Zum korrekten Satz von Ligaturen siehe z. B. Forssman / de Jong, S. 194 f. Abweichende Regeln gelten für den Fraktursatz. Siehe hierzu Kapr 1993, S. 212 f.
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Einschränkungen. Manuelle Eingriffe in den Zeilenfall sollen unerwünschte Formbildungen an der rechten Satzkante verhindern. Rauhsatz lässt sich auch in sehr schmalen Textkolumnen realisieren.
3.3.2 Flattersatz Beim Flattersatz wird die rechte Satzkante ebenfalls nicht ausgeglichen. Auf eine kurze Zeile folgt möglichst eine lange Zeile, so entsteht die charakteristische flatternde rechte Satzkante. Worttrennungen am Zeilenende sind selten. Getrennt wird nach Möglichkeit in den Wortfugen. Die Flatterzone (der Bereich des Zeilenumbruchs) ist entsprechend deutlich größer als beim Rauhsatz. Flattersatz kann nur bei längeren Zeilen gelingen (um die 45 bis 60 Anschläge inkl. Wortzwischenräume sind ideal) und ist sehr arbeitsaufwändig.
3.3.3 Ausgefüllter Satz Im ausgefüllten Satz wird der Raum am Ende jeder Zeile gleichmäßig auf die Wortzwischenräume verteilt. Die Form der Textkolumne wird dadurch beruhigt. Irritationen durch stark unregelmäßige Wortzwischenräume werden durch sorgfältigen Zeilenumbruch verhindert. Bei Zeilen mit weniger als 45 Anschlägen kann ein gleichmäßiger ausgefüllter Satz nicht gelingen; die zwangsläufig stark unterschiedlichen Wortzwischenräume aufeinander folgender Zeilen sind zumindest für literarische Texte inakzeptabel.
3.4 Zeilen- und Seitenumbruch Beim Zeilenumbruch wird der Text auf die einzelnen Zeilen der Textkolumne verteilt. Um gleichmäßig ausgefüllte Textzeilen zu erhalten (im ausgefüllten Satz) oder unerwünschte Formbildungen an der rechten Satzkante zu vermeiden (im Rauhoder Flattersatz) muss jedes Zeilenende bearbeitet werden. Gelegentliche Worttrennungen am Zeilenende sind unvermeidlich und beeinträchtigen die Lesbarkeit nicht. Idealerweise wird in Wortfugen getrennt; keinesfalls dürfen Trennungen sinnentstellend sein. Vor und nach jeder Trennung sollte eine Wortsilbe von mindestens drei Buchstaben stehenbleiben. Mehr als vier oder fünf Trennungen in Folge sind zu vermeiden. Das letzte Wort eines Absatzes sollte möglichst intakt bleiben. Eine Worttrennung über das Kolumnenende hinweg gilt als unglücklich. Zwei oder mehr identische Zeilenanfänge oder -enden werden mit Rücksicht auf mögliche Irritationen beim Zeilenwechsel vermieden.
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Jede Textkolumne sollte mit einer vollen Textzeile beginnen: Eine halbleere erste Zeile zieht ungewollte Aufmerksamkeit auf sich. Solche sog. Hurenkinder gilt es unbedingt zu vermeiden. Weniger störend (aber unter Typographen ebenso gering angesehen) ist die Anfangszeile eines neuen Absatzes am Fuß einer Textkolumne, ein sog. Schusterjunge. Vor dem Textende (oder vor einer Zwischenüberschrift) sollten mindestens drei zusammenhängende Textzeilen am Kopf der Kolumne stehenbleiben.
3.5 Texthierarchisierung und -auszeichnung Die vom Autor vorgegebene Textstruktur mit ihren jeweiligen gedanklichen Zäsuren bestimmt die Gestaltungsmittel. Einerseits soll die Konzentration nicht durch unnötige Ablenkungen gestört werden. Andererseits kann die visuelle Klärung komplexer Textzusammenhänge dem Verständnis dienen. Daher sollen Auszeichnungen nicht stärker sein als nötig. Originär typographische Gestaltungsmittel sind gegenüber den nicht-typographischen zu bevorzugen: – Weißräume: Geschickt proportionierte Weißräume können eine erheblich stärkere Signalwirkung entfalten als alle anderen Auszeichnungsmittel. Leerzeilen betonen den abgesetzten Text. Einzüge heben neue Absätze bzw. kurze Textpassagen besonders hervor. – Schriftgrößenwechsel: Größenunterschiede markieren eine Bedeutungshierarchie. Sie sollten sparsam eingesetzt werden (und zurückhaltend bemessen sein), da sie leicht die Textharmonie stören. – Auszeichnungsschnitte: Die Verwendung der traditionellen Auszeichnungsschnitte (Kursive und Kapitälchen) ist stark konventionalisiert. Fette Schriftschnitte besitzen eine stärkere Auszeichnungswirkung. – Schriftmischung: Die Mischung über die Grenzen der Schriftfamilie hinaus (aufrechte Grundschrift, Kursive, Kapitälchen und ggf. alternative Fetten und Weiten) schafft zusätzliche Differenzierungsmöglichkeiten. Sie gefährdet jedoch die Einheit des Textkörpers. – Typographische Sonderzeichen: Nicht-alphabetische Zeichen wie Alinea-Zeichen, Paragraphenzeichen, Pfeil, Asterisk, Aldusblatt oder die Hand als Verweiszeichen sind seit langer Zeit fest integriert in den typographischen Kanon. Ihre Verwendung schafft Aufmerksamkeit, ohne fremd zu wirken (siehe Abb. 9).
Abb. 9: Alinea-Zeichen, Paragraphen-Zeichen, Pfeil, Asterisk, Aldusblatt, Hand
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Linien, Rahmen und farbliche Hervorhebungen: Im fortlaufenden Text sind diese Elemente überflüssig. Sie dienen der Trennung bzw. Auszeichnung unterschiedlicher Textebenen.
Nicht-typographische Auszeichnungen wie farbige Unterlegungen, Unterstreichungen oder andere Signal-Zeichen haben nur in besonders stark strukturierten Texten eine Berechtigung.
3.5.1 Textebenen Untergeordnete Textebenen werden am wirksamsten durch ihre räumliche Anordnung getrennt: Marginalien seitlich vom Haupttext, Fußnoten unterhalb der Textkolumne – ggf. abgetrennt durch eine Notenlinie – und Endnoten am Ende des Haupttexts. Ein kleinerer Schriftgrad ist nicht nur unter pragmatischen Gesichtspunkten hilfreich: Er visualisiert auch die untergeordnete Bedeutung der Texts. Gleichrangige Textebenen werden durch die Wahl des Schriftschnitts (z. B. die Kursive zur aufrechten Grundschrift), den Wechsel der Satzart (z. B. Rauh- oder Flattersatz zum ausgefüllten Satz) und die Spaltigkeit (z. B. Wechsel von ein- zu mehrspaltigem Satz) ausgezeichnet. Mehrere dieser Auszeichnungen können kombiniert werden. Wo der Schriftwechsel innerhalb der Schriftfamilie nicht ausreichend erscheint, kann zur Schriftmischung mit einer eigenen Auszeichnungsschrift gegriffen werden. Dabei ist zu beachten, dass die gewählte Auszeichnungsschrift Gemeinsamkeiten mit der Grundschrift aufweisen sollte (z. B. können zwei Schriften mit dynamischen Formen gewählt werden), sich aber andererseits deutlich abheben muss (z. B. durch die Kombination einer Serifenschrift mit einer serifenlosen Schrift). Die Schriftgröße der Auszeichnungsschrift wird so angepasst, dass sich die Mittellängen beider Schriften entsprechen. Übergeordnete Schriftebenen werden der Grundschrift gegenüber – abhängig von der Textmenge – durch einen größeren Schriftgrad oder ein bedeutend dunkleres Schriftbild hervorgehoben, durch einen fetteren Schnitt der Grundschrift oder der Auszeichnungsschrift.
3.5.2 Textanfänge Textanfänge werden in einer neuen Kolumne abgesetzt. Zusätzlicher Weißraum am Kopf der Kolumne (eine sog. Textabsenkung) modifiziert die Proportionen und hebt den Textanfang hervor. Die Betonung des Anfangsbuchstabens dient demselben Zweck. Traditionell verwendet man ein- oder mehrzeilige, auf der Zeile stehende oder versenkte Initialen. Das erste Wort oder eine ganze Wortgruppe wird mitunter – um den Übergang zwischen Initiale und Fließtext zu erleichtern – durch Versal- oder Kapitälchensatz ausgezeichnet. Im Versalsatz müssen die Zeichenabstände immer
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manuell korrigiert werden; im Kapitälchensatz ist dies abhängig von der Zurichtung der Kapitälchen und der gewählten Laufweite. In der modernen Textgestaltung, insbesondere bei Sachtexten, verwendet man zur Auszeichnung von Textanfängen auch fette Schriftschnitte oder eine eigene Auszeichnungsschrift.
3.5.3 Absätze und stärkere gedankliche Zäsuren Textabsätze werden im Regelfall durch Einzüge gekennzeichnet. Die erste Zeile eines neuen Absatzes wird dabei durch einen deutlich sichtbaren Einzug markiert. Richtwert für diesen Absatz ist ein optisches Geviert (im Gegensatz zum typographischen Geviert bezieht sich das optische Geviert nicht auf die Schriftgröße, sondern den Zeilenabstand). Eine andere Möglichkeit den Absatz zu kennzeichnen bietet das AlineaZeichen: Es markiert den Beginn eines neuen Absatzes. Es wird entweder am Zeilenanfang oder, wenn der neue Absatz angeschlossen gesetzt wird, innerhalb der Zeile zwischen den Absätzen gesetzt. Auch längere Zitate können mit einem durchgehenden Einzug gesetzt werden, der dem Einzug der ersten Textzeile eines neuen Absatzes entspricht. Besonders in literarischen Texten verwenden Autoren gelegentlich Leerzeilen für Zäsuren, die über einen bloßen Absatzwechsel hinausgehen, jedoch keine eigene Überschrift rechtfertigen. Damit die Leerzeile auch dann sichtbar bleibt, wenn sie im Umbruch als letzte (oder erste) Zeile einer Textkolumne zu stehen kommt, wird sie häufig durch eine Folge von drei Asterisken gekennzeichnet.
3.5.4 Überschriften Für die Auszeichnung von Überschriften ist der umgebende Weißraum ebenso bedeutend wie Schriftart und -größe: Die Textschrift bzw. der Textschriftgrad ist auch für Überschriften ausreichend und wirkt besonders harmonisch. Die Wahl des passenden Schriftschnitts hängt ab von der Länge der Überschriften wie von der Anzahl der notwendigen Hierarchieebenen. Bei mehr als drei Überschriftenebenen schwindet die intuitive Orientierung im Text. Für kurze Überschriften mit wenigen Worten bietet sich der Versalsatz an. Längere Überschriften (in jedem Fall zweizeilige Überschriften) werden aus Kapitälchen gesetzt. Bei zwei- und mehrzeiligen Überschriften kann der kursive Schriftschnitt Verwendung finden. Alternativ bietet sich die Textschrift im gemischten Satz an, abgesetzt durch hinreichend Weißraum. In absteigender Reihenfolge kann diese Hierarchie auch bei mehreren Überschriftenebenen angewandt werden. Wenn erforderlich, können Überschriften auch durch die Verwendung einer Auszeichnungsschrift hervorgehoben werden.
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3.5.5 Integrierte und aktive Textauszeichnungen Mit Textauszeichnungen können unterschiedliche Ziele verfolgt werden: Aktive Auszeichnungen heben sich deutlich ab und fallen bei der Betrachtung der Kolumne ins Auge. Integrierte Auszeichnungen fügen sich ein und werden erst während der Lektüre registriert. Hierfür eignen sich insbesondere kursive Schriftschnitte und Kapitälchen der Textschrift mit eigenem Duktus und eigener Helligkeitswirkung. Die erhöhte Aufmerksamkeitswirkung der aktiven Auszeichnungen wird durch fette Schriftschnitte oder eine kontrastierende Auszeichnungsschrift erreicht. In der klassischen Buchtypographie werden die Titel von Büchern, periodisch erscheinenden Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen, Theaterstücken, Filmen und Kunstwerken sowie Schiffsnamen kursiviert. Redensarten und feste Ausdrücke in Fremdsprachen werden ebenfalls kursiviert. Eigennamen (sofern es ein Personenverzeichnis gibt) und Registereinträge werden in Kapitälchen gesetzt (häufig nur beim ersten Textvorkommen).
3.6 Layout Leserlichkeit und Lesbarkeit im engeren Sinne mögen von Fragen der Gesamtanlage einer typographischen Arbeit unberührt bleiben. Das Layout versucht, eine Erwartungshaltung dem Text gegenüber zu begründen und dadurch die Interpretation der Textinhalte zu beeinflussen. Im Layout wird die Positionierung des Texts auf dem Format festgelegt, aus der sich die Formatränder ergeben. Satzart und Anzahl der Textspalten werden bestimmt. Bei komplexen Anlagen mit eingeschalteten Kästen, textbegleitenden Abbildungen oder Grafiken wird unter Umständen ein Gestaltungsraster definiert, das die Organisationsprinzipien für die einzelnen Elemente spezifiziert. Auch der Umgang mit untergeordneten oder verschachtelten Textebenen wird geklärt. Während die bisherigen Überlegungen und Anregen mit geringen Einschränkungen unabhängig vom Textmedium sind, gilt dies nicht für Fragen des Layouts. Einzelseiten werden anders behandelt als Doppelseiten, fixe Formate anders als solche, die größenveränderlich sind und die gescrollt werden oder sich erst aufklappen. Liquid Layouts, deren Ausrichtung sich durch eine Bewegung des Lesegeräts von vertikal zu horizontal ändert (und umgekehrt), lassen sich nicht mit statischen Layouts vergleichen.
4 Lesearten Verschiedene Textarten werden unterschiedlich gelesen. Daraus ergeben sich jeweils unterschiedliche gestalterische Anforderungen an Texthierarchisierung, Textgliederung und Auszeichnungen. Visuelle Aussage und Textinhalt müssen übereinstim
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men, um Irritationen zu vermeiden. Hans Peter Willberg, Friedrich Forssman und Jost Hochuli haben die Lesearten systematisiert (vgl. Willberg / Forssman 1997, S. 14–65 bzw. Hochuli 1989 S. 25–50; Hochuli bezieht sich direkt auf die Klassifikation bei Willberg / Forssman 1997). Hier werden die wichtigsten Lesearten im Kontext der typischen Mittel der Textgestaltung dargestellt.
4.1 Lineares Lesen Lineares Lesen bezeichnet die Lektüre umfangreicher, gering strukturierter Texte. Lineares Lesen verbindet sich vorwiegend mit literarischen Texten in (analogen wie digitalen) Büchern. Einspaltiger Satz lässt hier auch längere Zeilen zu. Im deutschsprachigen Raum entspricht der ausgefüllte Satz der Norm. Die Überschriftenhierarchie ist einfach und bedarf keiner starken Betonung. Textauszeichnungen sind selten und werden integriert gesetzt.
4.2 Informierendes Lesen Der Leser überfliegt das Format mit dem Ziel, relevante Inhalte schnell zu identifizieren, um an ausgewählten Stellen zum linearen Lesen überzugehen. Dies setzt, neben stark gegliederten Texten, eine besonders übersichtliche Textgestaltung voraus: Deutlich abgesetzte Überschriften schaffen Orientierung, während aktive Auszeichnungen einen raschen inhaltlichen Überblick ermöglichen. Kurze Zeilen und mehrspaltiger Satz erleichtern die schnelle Erfassung der Textinhalte.
4.3 Differenzierendes Lesen Beispielhaft sind Sachtexte bzw. wissenschaftliche Texte, die von erfahrenen Lesern mit hoher Eigenmotivation genutzt werden. Während durch die typographische Gestaltung der Überschriften deren Stellung innerhalb der mitunter komplexen Überschriftenhierarchie kommuniziert wird, dienen die Auszeichnungen innerhalb der Kolumne eher der Differenzierung unterschiedlicher Bedeutungsebenen als deren Hierarchisierung. Auch wenn zahlreiche Differenzierungen erforderlich sind, können die Gestaltungsmittel zurückhaltend gewählt werden: Sie sollen dem Leser nicht ins Auge springen, sondern sich erst bei der Lektüre erschließen. Für die angemessene typographische Gestaltung sind gut ausgebaute Satzschriften mit mehreren, deutlich voneinander unterschiedenen Fetten sowie kursiven Schnitten und Kapitälchen unentbehrlich. Auch kann die Kombination von Schriftschnitten mit und ohne Serifen innerhalb der ausgedehnten Familie (man spricht in diesem Fall von einer Schriftsippe) hilfreich sein.
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4.4 Konsultierendes Lesen Konsultierendes Lesen setzt die zielgerichtete Suche nach einem speziellen Textabschnitt in einem umfangreichen Textkorpus voraus, wie er für die Benutzung von Nachschlagewerken typisch ist. Trotz der insgesamt großen Textmenge bezieht sich die tatsächliche Lektüre meist auf kurze Passagen. Hier können ggf. kleinere Schriftgrößen (Konsultationsgrade) bei reduziertem Zeilenabstand gesetzt werden. Mehrspaltiger Satz bietet sich an. Ausgefüllter Satz kann die Kolumnen beruhigen und Ablenkungen reduzieren. Die Suchbegriffe werden durch stark auffallende aktive Auszeichnungen markiert.
4.5 Selektierendes Lesen In sich abgeschlossene, aber deutlich aufeinander bezogene Textebenen bieten unterschiedliche Zugänge zu einem Thema an. Sie können jeweils für sich oder auch im Zusammenhang gelesen werden. Zwischen den einzelnen Texten besteht ein deutlicher inhaltlicher Zusammenhang, nicht aber eine eindeutige Hierarchie. Diese Art der inhaltlichen Aufbereitung findet sich vielfach in Schulbüchern oder populären Sachbüchern. Wichtig ist die gestalterische Ausdifferenzierung der Ebenen durch unterschiedliche Schriftgrößen, Schriftmischungen, Linien, Kästen, Unterlegungen etc. Die Vielfalt der eingesetzten Mittel darf den Zusammenhang nicht stören.
4.6 Betrachtendes Lesen Der betrachtende Leser möchte zunächst gar kein Leser sein: Er muss durch die ansprechende, aktivierende visuelle Qualität der Textgestaltung erst gewonnen werden. Durch die Betrachtung findet er zur Textwahrnehmung. Für diese kunstvolle Art der typographischen Gestaltung gelten keine Regeln: Erlaubt ist, was gefällt – und was funktioniert. Beispiele finden sich in der Werbung ebenso wie in der bildenden Kunst oder in experimentellen literarischen Formaten.
5 Medialer Wandel Die typographische Praxis – und mit ihr langfristig auch die typographischen Konventionen – entwickelt sich mit der Technik und den Menschen, die sie bedienen. Seitdem professionelle Textverarbeitungssoftware mit integrierten Satzfunktionen auf jedem PC installiert werden kann (und auf beinahe jedem PC installiert ist!), wird Schriftsatz von Laien und ausgebildeten Fachleuten gleichermaßen betrieben. Dies
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führt zu einer wahrnehmbaren Erosion der tradierten Regeln des typographischen Handwerks. Parallel dazu wachsen gestalterische Freiräume. Neue Formen finden Eingang in den Kanon. Die zunehmende Bedeutung digitaler Lesemedien übt einen starken Einfluss auf die typographische Praxis aus. Statische Typographie (für analoge Medien) setzt einen Entwurf voraus, der in seiner konkreten Umsetzung fixiert wird. Typographie für digitale, dynamische Medien kennt keinen Entwurf in diesem Sinne: Schriftart, Schriftgröße, Textfarbe, Hintergrund und Ausrichtung des Layouts können – soweit die Programmierung dies vorsieht – vom Leser frei gewählt werden und bleiben veränderlich. Jeder Leser realisiert seinen eigenen Entwurf, gestaltet ein individuelles Textbild. Der Programmierer trifft keine absoluten Entscheidungen: Er definiert Parameter, legt wechselseitige Abhängigkeiten fest und bestimmt Grenzwerte, die das relative Verhältnis aller Layout-Elemente zueinander kontrollieren. Einzelfallentscheidungen (z. B. im Zeilen- und Seitenumbruch) entfallen. Die typographische Gestaltung im engeren Sinne weicht der typographischen Programmierung. Mit dem Bedeutungsverlust der statischen Typographie geraten insbesondere diejenigen Handwerksregeln und Konventionen unter Druck, die in der dynamischen, parametrisch gesteuerten Typographie nicht (mehr) forciert werden können: Details der mikrotypographischen Durcharbeitung ebenso wie Feinheiten im Textumbruch. Mit der Schwächung typographischer Konventionen zwingend verbunden ist die abnehmende Signalwirkung konnotativer Marker in der typographischen Gestaltung, wie sie sich, ausgehend von der Buchtypographie, über Jahrhunderte gefestigt haben. Nachdem im 20. Jahrhundert die Buchgestaltung von der Magazingestaltung als Motor des formalen Wandels abgelöst worden ist, gehen die Impulse nun von der digitalen Textgestaltung aus.
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2.2 Lesen in unterschiedlichen Lesemedien
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2.2.1 Die Buchrolle und weitere Lesemedien in der Antike Zusammenfassung: Das Hauptlesemedium der Antike ist die Buchrolle aus Papyrus, bis sie um ca. 500 n. Chr. vom Codex abgelöst wird. Die Buchrolle wird in ›scriptio continua‹ in fortlaufenden Kolumnen beschrieben. Dadurch wird der Leseprozess von einer Kontinuität geprägt, in die der Leser selbst durch Segmentieren und Gruppieren des Buchstabenmaterials zu Sinneinheiten eine Struktur einbringen muss. Lesen in der Buchrolle ist also ein Gliederungsprozess nicht nur auf gedanklichkognitiver, sondern auch auf formal-struktureller Ebene. Mit dem Aufkommen einer literarischen Lesekultur im Laufe des 5. und 4. Jh. v. Chr. beginnt das Format der Buchrolle Einfluss auf die Literaturkonzeption zu nehmen. Literarische Werke werden in Büchern konzipiert, die sich nicht nur durch einen festgesetzten Umfang, sondern vermehrt durch eine komplexe Binnenstruktur auszeichnen. Das Rollenformat begünstigt das Erkennen und Nachvollziehen derartiger Kompositionen, da der Leser eine beliebig große Menge an Text ausrollen und simultan überblicken kann. Neben der Buchrolle sind in der Antike vor allem in nichtliterarischen Kontexten auch weitere Lesemedien in Gebrauch, deren materielle, funktionale und ökonomische Eigenschaften ihren Verwendungskontext bestimmen. Abstract: The book roll made of papyrus was the most important medium for reading in antiquity until it was superseded by the codex around 500 AD. Texts were written in ›scriptio continua‹ and in a linear sequence of columns. The hallmark of the reading process is a continuity in which the reader had to determine the sense structure by recognizing letter segments and clusters. Reading a book roll was thus a process of dividing and grouping not only on the cognitive level but also on the formal and structural level. With the rise of a reading culture in the course of the 5th and 4th centuries BC, the format of the book roll began to influence the structure of literary works. Literary works were designed as books that had not only a fixed length, but increasingly a complex internal structure of intratextual references as well. The format of the book roll encourages the tracing and discovery of such compositions by allowing the reader to unroll and survey any chosen amount of text. In addition to the papyrus roll, other reading media were used in antiquity, most commonly in non-literary contexts. Their usage was determined by their material properties, by their function, and by the costs of their production and transport.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 260 2 Die Buchrolle — 260 2.1 Die Überlieferung der Buchrolle — 260 2.2 Die Herstellung der Buchrolle — 261 2.3 Format und Beschriftung der Buchrolle — 262 3 Der Leseprozess in der Buchrolle — 263 4 Die Buchrolle und die Entstehung einer Kultur der Schriftlichkeit — 266 5 Der Einfluss des Buchrollenformats auf die Konzeption, Produktion und Rezeption von Literatur — 267 6 Weitere Lesemedien — 270 6.1 Steininschriften — 271
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6.2 Wachstäfelchen — 271 6.3 Tonscherben — 272 6.4 Bleitäfelchen — 272 7 Der Übergang von der Buchrolle zum Codex — 273 8 Literatur — 275
1 Einleitung In der Antike waren eine Vielzahl von Lesemedien in Gebrauch, die sich in funktionaler, ökonomischer und soziokultureller Hinsicht voneinander unterschieden. Beschrieben werden konnte grundsätzlich jedes Material, das für die Aufnahme von Schrift geeignet war: Weiche und saugfähige Stoffe wie Leder, Leinen, Holz, Palmblätter und Papyrus wurden mit Tinte beschriftet, in Wachs, gebrannten Ton und Metallplättchen, selten auch Elfenbein oder Knochen, ritzte man, Stein wurde mit Hammer und Meißel bearbeitet. Unter all diesen Medien nimmt die Buchrolle aus Papyrus den prominentesten Platz ein, bis sie etwa um die Mitte des ersten nachchristlichen Milleniums vom Codex verdrängt wird. Die Papyrusrolle zeichnet sich gegenüber den anderen Materialien und Formaten durch ihr Fassungsvermögen, ihre Dauerhaftigkeit und ihre einfache Handhabung aus. Aufgrund dieser Eigenschaften wird die Papyrusrolle für mehr als tausend Jahre zum Hauptlesemedium der griechisch-römischen Antike.
2 Die Buchrolle 2.1 Die Überlieferung der Buchrolle Nachweisbar sind Buchrollen seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. in Ägypten (vgl. Pöhlmann 1994, S. 5), wo vereinzelte Funde insbesondere in Gräbern ihre Verwendung bestätigen. Im antiken Griechenland findet man seit dem 5. Jh. v. Chr. Abbildungen von Schriftrollen als Lesemedien auf Vasenbildern, die nicht nur den Gebrauch, sondern auch ein gesellschaftliches Interesse an der Buchrolle belegen. Naheliegend scheint jedoch, dass die Papyrusrolle als Schreibmedium etwa zeitgleich mit der Einführung des griechischen Silbenalphabets im Laufe des 8. Jh. v. Chr. in Erscheinung trat, das als eine Adaptation des Phönizischen aus der Levante nach Griechenland importiert wurde.1
1 Vgl. Wachter 2001, Sp. 237 f. Für den Gebrauch von Papyrus bereits in der mykenischen und minoischen Kultur vgl. Turner 1980, S. 1 f.
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Die ältesten erhaltenen Griechisch beschriebenen Papyrusrollen stammen aus dem 4. Jh. v. Chr.: Ein Papyrus aus Ägypten überliefert das einzige längere Fragment des Dithyrambendichters Timotheos von Milet, der insbesondere für seine innovative Musik bekannt war. Die älteste in Europa gefundene Papyrusrolle wurde in einem Grab in Derveni in Nordgriechenland gefunden. Sie enthält einen Kommentar zu einer orphischen Theogonie von hohem philosophisch-religionsgeschichtlichem Interesse, deren Darstellung der Weltentstehung von der besser bekannten und als normativ geltenden hesiodeischen abweicht (vgl. Kouremenos u. a. 2006, S. 19–44). Die überwiegende Mehrzahl der bis heute erhaltenen Papyri stammt aus Ägypten, wo sich das im trocken Wüstensand gelagerte vergängliche Material gut erhalten konnte. Durch Papyrusfunde sind nicht nur zahlreiche verloren geglaubte Texte der antiken Literatur wieder zum Vorschein gekommen, wie z. B. der oben genannte Timotheos, die Komödien des Menander, der Aristoteles zugeschriebene Staat der Athener und vieles andere mehr; sie liefern auch wertvolle Informationen über das antike Sozial-, Wirtschafts- und Alltagsleben. Besonders reichhaltig sind die Funde aus der oberägyptischen Stadt Oxyrhynchos, deren Leben dank der Papyri bis hin zu einzelnen Details rekonstruiert werden konnte (vgl. Parsons 2007). Die wenigen Papyrusfunde in Europa sind jeweils besonderen Umständen zu verdanken. So konnte der genannte Derveni-Papyrus im feuchten europäischen Klima nur überleben, weil er während der Bestattung im Feuer des Scheiterhaufens karbonisiert wurde. Auf dieselbe Weise sind außerdem über hundert Papyri aus Herculaneum erhalten geblieben, die während des Vesuvausbruchs verkohlten.
2.2 Die Herstellung der Buchrolle Papyrus wurde in der Antike vor allem in Ägypten hergestellt und von dort in die ganze bekannte Welt exportiert. Das Nildelta Unterägyptens bietet geeignete Bedingungen für das Gedeihen der bis zu drei Meter hohen schilfartigen Papyruspflanzen, die in Sümpfen und an Flussufern in warmem Klima wachsen. Zur Schreibstoffherstellung werden die Stängel der Pflanze geschält, danach wird die direkt unter der Schale liegende fasrige Schicht sorgfältig abgetrennt und die dadurch entstehenden Streifen werden mit der Innenseite nach oben auf eine harte Oberfläche nebeneinandergelegt. Darüber legt man eine zweite Schicht dieser Faserstreifen im rechten Winkel dazu und klopft die beiden Schichten mit einem schweren flachen Gegenstand ineinander. Der Pflanzensaft verklebt die Fasern miteinander, ohne dass ein zusätzlicher Klebestoff beigegeben werden muss (illustriert bei Turner / Parsons 1987, S. 30 f ). Das dadurch entstehende Blatt wird getrocknet und mit einem Bimsstein glattpoliert. Der fertige Papyrus ist beigefarben, glatt, geschmeidig, relativ reißfest, jedoch empfindlich gegen Feuchtigkeit und Wasserschäden. Seine Textur ist durch die deutlich erkennbaren Papyrusfasern geprägt.
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Zur Herstellung einer Rolle werden die einzelnen Blätter zusammengefügt, indem am Blattrand die beiden Faserschichten wieder getrennt werden und die eine davon entfernt wird. Die verbleibende Faserschicht wird darauf mit dem gleichartig präparierten Rand des nächsten Blatts wieder verklebt. Dabei ergibt sich also an der Nahtstelle ein ca. 2 cm breiter Streifen, an dem die beiden Blätter sich überschneiden. Auf diese Weise kann eine beliebig lange Rolle hergestellt werden, wobei davon ausgegangen werden muss, dass es eine Standardlänge gab, die für den individuellen Gebrauch zugeschnitten oder durch Anfügen weiterer Blätter verlängert werden konnte.
2.3 Format und Beschriftung der Buchrolle Die Normlänge von Buchrollen ist umstritten, da nur wenige ganze Rollen aus der Antike erhalten sind. Plinius der Ältere (Naturalis Historia 13. 68–81) berichtet im 1. Jh. n. Chr., dass Papyrusrollen standardmäßig aus 20 Einzelblättern zusammen gesetzt waren, was einer Länge von 3 bis 4 Metern entspricht (vgl. Skeat 1982, S. 170; dagegen Van Sickle 1980, S. 7). Die durchschnittliche Höhe von Papyrusrollen liegt zwischen 20 und 30 cm (vgl. Johnson 1993, S. 49 f.). Zum Schreiben verwendete man in Ägypten ursprünglich Pinsel, später für griechische und lateinische Texte Rohrfedern sowie Tinte, die aus Ruß, Wasser und Gummi Arabicum hergestellt wurde. Der ägyptische Schreiber saß beim Schreiben im Schneidersitz und legte den Papyrus auf sein zwischen den Knien gespanntes Gewand; später, in der römischen Kaiserzeit, belegen Reliefdarstellungen auch das Schreiben auf tischartigen Unterlagen. Beschrieben wurden Buchrollen in der Regel mit Textkolumnen, die senkrecht zur Laufrichtung der Rolle stehen (Ausnahmen dazu sind die sog. ›rotuli‹, nach Turner 1978, S. 27–34). Dabei wurde oben und unten ein Rand freigelassen; auch die einzelnen Kolumnen wurden durch leere Zwischenräume getrennt. Zur Beschriftung wurde die Innenseite der Rolle vorgezogen, auf der die Fasern parallel zur Schreibrichtung verlaufen.2 Aus ökonomischen Gründen wurden Papyrusrollen oft wiederverwendet, indem man zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der Text der Erstbeschreibung nicht mehr gebraucht wurde, auch die Außenseite beschrieb bzw. die Rolle in Einzelblätter zerschnitt und diese auf der Rückseite beschrieb. Antike Texte werden ohne Leerstellen zwischen den Wörtern geschrieben, d. h. die Buchstaben werden in sog. ›scriptio continua‹ lückenlos aneinandergereiht. Interpunktionszeichen kommen erst im Laufe der Zeit auf und werden uneinheitlich und inkonsequent gebraucht. Häufiger sind diakritische Zeichen, die Textabschnitte, wie z. B. Neuanfänge von Gedichten oder Sprecherwechsel im Drama, kennzeichnen
2 Zur Beschreibung quer zu den Fasern vgl. Turner 1978.
2.2.1 Die Buchrolle und weitere Lesemedien in der Antike
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Abb. 1: Papyrusfragment mit einem historiographischen Prosatext aus dem 2. Jh. n. Chr. (P.Oxy. 2264). Der obere Rand der Rolle sowie der obere Teil mehrerer Kolumnen sind erhalten. (© The Egypt Exploration Society)
oder auf Besonderheiten im Text verweisen; Zeilenumbrüche im Sinne des modernen Absatzes sind unüblich. Da Papyrusrollen von Hand geschrieben werden, kann das Layout je nach Gestaltungswillen des Schreibers bzw. Auftraggebers und der Sorgfalt der Ausführung sehr unterschiedlich aussehen. Dabei sind literarische Texte oft in standardisierten, nach der Mode und dem Geschmack einer bestimmten Epoche stilisierten Handschriften geschrieben, deren Erscheinungsbild inschriftlichen Texten nachempfunden ist: Die Buchstaben werden, wie auf Stein gemeißelt, einzeln nebeneinander geschrieben; es kommen kaum Ligaturen oder Abkürzungen vor. Urkundliche Texte, wie Briefe, Rechnungen, Verträge etc., werden dagegen in den individuellen Kursiven der Schreiber geschrieben, was ihre Entzifferung für den modernen Leser oft nur dank des formelhaften Wortlauts solcher Dokumente möglich macht. In antiken Buchrollen stehen Werktitel und Autorenangaben in der Regel am Ende des Texts. Gelegentlich werden außen an der Rolle Täfelchen mit der Inhaltsbezeichnung angebracht. Zum Schutz vor Beschädigung können Papyrusrollen in besonderen Behältern aufbewahrt werden.
3 Der Leseprozess in der Buchrolle In der unbenutzten Buchrolle ist der Text in ihren Windungen verborgen. Erst im Leseprozess offenbart er sich dem Auge des Lesers, indem ihn dieser durch das Abwickeln der Rolle in Erscheinung treten lässt. Zum Lesen wird die Rolle in beide Hände gelegt. Während die rechte Hand die Rolle abwickelt, so dass jeweils eine oder mehrere Kolumnen sichtbar sind, wickelt die linke Hand den bereits gelesenen
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Teil wieder auf.3 Nach dem Lesen muss die Rolle wieder zurückgerollt werden. Der Leser einer Papyrusrolle hat damit eine kontinuierliche Abfolge von verhältnismäßig homogenen Textblöcken vor sich, die er durch das Abwickeln des noch ungelesenen Teils der Rolle aufdeckt und durch das Wiederaufwickeln des bereits gelesenen Abschnitts verschwinden lässt. Durch das Auf- und Zurollen bestimmt der Leser selbst, wie viel Text er gleichzeitig ins Auge fassen will, anders als beim Buchformat, wo die Menge des sichtbaren Texts auf die geöffnete Doppelseite beschränkt ist. Dies ermöglicht ein simultanes Überblicken einer größeren Textpassage, bringt aber gleichzeitig den Verlust der Kleinstruktur mit sich, den das Buch durch seine Seiteneinteilung gewährt. Die einzelnen Kolumnen der Papyrusrolle gleichen einander und sind kaum je nummeriert.4 Der Leser erhält also keine vom Format des Lesemediums vorgegebene Hilfe, sich im Text zu orientieren bzw. eine Stelle wiederzufinden, die er bereits gelesen hat. Die fortlaufende Abfolge der Kolumnen wirkt sich auf den Leseprozess aus: Dieser gleicht durch das sukzessive Vorwärtsrollen einem steten, gleichmäßigen Fortschreiten im Text, das nicht wie im Buch durch die formatbedingten Pausen des Umblätterns unterbrochen wird. Durch die ständige Rollbewegung sowie den ununterbrochenen Textablauf wird das Lesen in der Buchrolle also von einer besonderen Dynamik geprägt. Da sich die Buchrolle automatisch wieder zurollt, wenn sie auf eine Unterlage gelegt und nicht festgehalten wird, sind in der Regel beide Hände am Leseprozess beteiligt. Dies bringt nicht nur einen unvermeidlichen Körperkontakt mit dem Medium mit sich, es verhindert oder erschwert zumindest auch, dass der Leser gleichzeitig einer anderen Beschäftigung nachgeht. Der Leser wird also durch das Rollenformat angehalten, ›nur‹ zu lesen; sogar exzerpieren, abschreiben und ähnliche mit dem Lesen einhergehende Tätigkeiten sind nur mit speziellen Vorrichtungen, wie etwa durch das Beschweren der Rolle mit einem Gegenstand etc., möglich. Dieselbe Kontinuität, die im Großen den Ablauf der Kolumnen prägt, bestimmt den Leseprozess auch im Kleinen: Durch die Praxis der ›scriptio continua‹ werden die Zeilen jeder Kolumne aus lückenlos aneinandergereihten Buchstaben gebildet. Diese Art der Textdarstellung hat den optischen Effekt eines quasi homogenen Blocks,5 der sich vom leeren Hintergrund abhebt, und scheint dem ästhetischen Geschmack der Zeit entsprochen zu haben. Gleichzeitig könnte sich darin das Erbe eine Epoche wider-
3 Dies ist der Leseprozess bei Schriften, die von links nach rechts verlaufen, wie das Griechische oder das Lateinische. Bei Sprachen, wie den semitischen, in denen die Leserichtung umgekehrt ist, wird natürlich auch die Rolle umgekehrt gelesen, d. h. die linke Hand wickelt ab und die rechte wieder auf. 4 Gelegentlich kommen sog. stichometrische Zeichen vor, d. h. Zahlen, die angeben, wie viele Zeilen der Schreiber bereits geschrieben hat. Diese sind jedoch nicht für die Bequemlichkeit des Lesers gedacht (vgl. Roberts / Skeat 1983, S. 50), sondern haben eine technische Bedeutung: Der Schreiber wird nämlich nach der Menge geschriebenen Texts entlohnt. 5 Dies gilt für Prosatexte; Dichtung wird ca. seit dem 3. Jh. v. Chr. in Zeilen geschrieben, die der Länge des Verses entsprechen. Die Kolumne kann also am rechten Rand etwas ausgefranst sein.
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spiegeln, in der die mündliche Kommunikation vorherrschend war. Auch die gesprochene Sprache besteht nämlich aus einer linear fortlaufenden Lautkette, die nicht nach jedem Wort unterbrochen wird. Aus heutiger Sicht scheint diese Darstellungsform den Leseprozess zu erschweren, da der Leser selbst die Buchstaben zu Wörtern verbinden muss: Lesen ist also zuerst einmal das Abtrennen und Gruppieren von kontinuierlich aufeinanderfolgenden Lautträgern zu semantischen Einheiten, die einen sinnvollen Zusammenhang ergeben. Anders als in heutigen Texten mit Worttrennung geschieht das Aufnehmen des Texts also nicht in vorgeformten Häppchen, sondern der Text muss vom kleinsten Baustein, dem Buchstaben, her beginnend zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt werden. Nicht von ungefähr lautet das griechische Wort für ›lesen‹, ›anagignoskein‹, ›wiedererkennen‹. Beim Lesen ›erkennt‹ man den Sinn wieder, der durch die Buchstaben verschlüsselt wurde. Das lateinische ›legere‹, ›sammeln‹, beschreibt vergleichbar den Prozess des ›Sinn-Sammelns‹. Der antike Leser scheint sich an der Praxis der ›scriptio continua‹ nicht gestört zu haben; zumindest gibt es keine Bestrebungen, Lesehilfen wie Worttrennungen einzuführen.6 In der modernen Forschung gibt es Ansätze zur Erklärung, auf welche Hilfen der antike Leser bei der Einteilung der Buchstaben zu Sinneinheiten zurückgriff. William Johnson (2000) beispielsweise stellt die These auf, dass der Leser von ›scriptio continua‹ jeweils eine ganze Zeile auf einmal ins Auge fasst anstelle eines Worts oder einer Wortgruppe, und geht dabei von Prosatexten aus, die in schmalen Kolumnen von nur 15 bis 25 Buchstaben pro Zeile geschrieben sind. Dies ist jedoch nur für wenige der überlieferten Papyri der Fall (vgl. Blanck 1992, S. 76). Johnsons These ist also nur, falls überhaupt, für eine geringe Anzahl von Texten stichhaltig. Plausibler scheint der Ansatz von Alessandro Vatri (2012), der gestützt auf die heutige Lesepraxis des Thailändischen vermutet, dass sich der Leser unbewusst an der Häufung bestimmter Buchstabenkombinationen am Wortanfang oder -ende orientiert und auf diese Weise Worttrennungen vornimmt. Das Lesen in der Buchrolle ist also sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene von Kontinuität geprägt, in die der Leser selbst eine ihm für das Erfassen des Gesagten dienliche Struktur einbringen muss. Dies macht das Lesen zu einem Gliederungsprozess, nicht nur auf einer gedanklich-kognitiven, sondern auch auf einer formal-strukturellen Ebene.
6 In kaiserzeitlichen Inschriften werden Wörtergrenzen oft durch einen Hochpunkt gekennzeichnet. Diese Praxis findet jedoch keine Entsprechung in den Papyri.
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4 Die Buchrolle und die Entstehung einer Kultur der Schriftlichkeit Die Bedeutung der Buchrolle für die kulturelle Entwicklung der griechisch-römischen Antike muss vor dem Hintergrund dessen betrachtet werden, was von der vorschriftlichen Kultur noch greifbar ist. Spuren davon findet man noch in den ältesten schriftlich erhaltenen Werken der abendländischen Literatur, den homerischen Epen Ilias und Odyssee. Diese tragen das Erbe einer Jahrhunderte langen Phase der mündlichen Literaturtradition in sich, die der schriftlichen Produktion von Texten und ihrer Rezeption durch Lesen vorausging. Besonders bemerkenswert sind aus dieser Zeit mündliche narrative Langdichtungen in Hexametern, die der Dichter aus einem umfangreichen Repertoire an Stoffen und Erzählstrukturen mit Hilfe von verbalen Versatzstücken und formelhaften Bausteinen aus dem Stegreif schafft und ›ad hoc‹ vorführt. Diese Form der Literatur weist zwei Merkmale auf, durch die sie sich grundsätzlich von einem schriftlichen Text unterscheidet. (1) Sie ist linear: Der Rezipient nimmt immer nur genau den Augenblick wahr, an dem sich die Erzählung gerade befindet. Was schon erzählt wurde, ist unwiederbringlich verloren (außer in der Form, in der es das Gedächtnis bewahrt), und was noch nicht erzählt wurde, existiert noch nicht. Es ist also nicht möglich, in der Erzählung vor- oder zurückzuspringen. (2) Da jede einzelne Produktion eine Improvisation des Augenblicks ist, ist sie ein Unikum, das in genau derselben Form nie wieder rekonstruiert werden kann. Der Rezipient ist also an eine Form der Dichtung gewöhnt, in der er bestimmte Bausteine, wie die metrische Struktur, wiederkehrende Formulierungen, Beschreibungstypen und Erzählstrukturen sowie generell die Handlung, wiedererkennen kann, in der aber auf den genauen Wortlaut keinen Wert gelegt wird. Dieses durch die Mündlichkeit geprägte Erleben von Text bleibt über Jahrhunderte verbreitet, während sich daneben allmählich eine andere Textwahrnehmung etabliert, bei der neue Aspekte in den Vordergrund treten. Zum einen erhält der Text durch die Verschriftlichung eine optische Dimension: Sprache kann bildlich dargestellt werden. Auf frühen Vasenbildern erscheinen plötzlich ›sprechende‹ Figuren, denen Buchstaben vor den geöffneten Mund gemalt werden (vgl. Gerleigner 2012). Ebenso wird eine ästhetische Komponente wichtig: In Papyrusrollen sorgt ›scriptio continua‹ für die Ebenmäßigkeit der Textkolumnen; klare, epigraphisch anmutende Schrift wird teuer bezahlt, ebenso ein breiter Rand. Sprache erhält also eine optischästhetische Komponente: Fürs Auge wahrnehmbare Sprache wird zum Kunstobjekt. Zum Zweiten gewinnt die Person des Autors an Bedeutung. Während die Ilias und die Odyssee unter dem Namen des halbmythischen Homer zirkulieren, dessen Existenz als Individuum von der heutigen Forschung überwiegend für unwahrscheinlich gehalten wird, tritt bereits der nahezu zeitgleiche Hesiod persönlich in seinen beiden Lehrgedichten auf, indem er im Proömium seiner Theogonie seine Weihung zum Dichter durch die Musen beschreibt und in den Werken und Tagen auf biographi-
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sche Ereignisse anspielt. Bereits ein gutes Jahrhundert später versieht Theognis von Megara seine Elegien mit einem Siegel, einer ›sphragis‹, um Diebstahl und Plagiat zu vermeiden (Theognis 1. 19–30); Theognis’ Gedicht kann als frühester Beleg für das Konzept des Copyrights gelten. Der Dichter ist also nicht mehr ein momentaner Vermittler eines allgemein verfügbaren Kulturguts; vielmehr hält der Leser mit der Buchrolle die Schrift eines Individuums in den Händen, eines Dichters mit einer Persönlichkeit in Raum und Zeit, der etwas zu sagen hat, das sich von den Äußerungen anderer unterscheidet. Literatur ist nicht mehr ephemer, variabel und anonym, sondern wird personalisiert, hat einen festgelegten und beständigen Wortlaut und erhebt den Anspruch, als konstituierender und dauerhafter Bestandteil einer kulturellen Welt ernst genommen zu werden. Zum Dritten erhält der Text mit seiner schriftlichen Fixierung eine Wirkung über den unmittelbaren Entstehungsort hinaus. Dies hat einen Einfluss auf den Inhalt, den ein Text vermitteln kann: Intellektueller Diskurs über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg wird möglich. Dieser Umstand begünstigt die Entstehung von Wissenschaft in der Form der vorsokratischen Naturphilosophie im 6. Jh. v. Chr. Der Buchrolle kommt in diesem Paradigmenwechsel insbesondere dadurch eine fundamentale Bedeutung zu, dass es mit ihr erstmals möglich wird, längere Texte permanent festzuhalten und von einem Ort zum anderen zu transportieren. Dadurch wird sie über die praktische Funktion, die die schriftliche Fixierung von Daten im Bereich der Wirtschaft und des Handels einnimmt, hinaus interessant und eröffnet neue Perspektiven für die Bewahrung und Verbreitung von Kulturgut. Die Papyrusrolle bildet also in einer Gesellschaft, in der der geschriebene Text nur allmählich Fuß fasst, die Voraussetzung für das Entstehen einer Kultur der Schriftlichkeit, in welcher das Lesen nicht nur in begrenzten Anwendungsbereichen als Mittel zum Zweck dient, sondern für ganze Bevölkerungsschichten ein zentrales Element der kulturellen Identität wird.
5 Der Einfluss des Buchrollenformats auf die Konzeption, Produktion und Rezeption von Literatur Seit dem 5. Jh. v. Chr. mehren sich die Zeugnisse dafür, dass das Lesen als Rezeptionsform in der Literatur reflektiert wird. Insbesondere die Komödie ist reich an solchen Anspielungen (etwa Aristophanes Vögel 974–976; 1024; 1288; Frösche 52 f., 1114; Eupolis fr. 327 Kassel-Austin; vgl. dazu Pfeiffer 1968, S. 27–29.). Dies ist besonders bemerkenswert, da die Komödie als dramatische Gattung in erster Linie zur Rezeption auf der Bühne gedacht war. Berühmt ist auch Thukydides’ Bezeichnung seines Geschichtswerks als eines ›ktema eis aei‹, eines Besitzes für immer (Historiae 1. 22. 4),
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womit der Historiker nur einen Text meinen kann, der gelesen werden kann. Einher mit dieser Entwicklung geht die vermehrte Darstellung von Lesern und – obwohl die Frauen von Bildung weitgehend ausgeschlossen waren – Leserinnen auf Vasenbildern (vgl. Lissarrague 1999, S. 59; Bérard 1985, S. 129). Einfluss nicht nur der Lesegewohnheit, sondern auch des Formats der Buchrolle selbst auf die Konzeption und damit die Produktion von literarischen Texten lässt sich seit dem 3. Jh. v. Chr. feststellen. An den im Zuge der Eroberungen Alexanders des Großen neu entstandenen kulturellen Zentren, allen voran an der berühmten Bibliothek von Alexandria, bildet sich ein ideologisch motiviertes Interesse an griechischer Literatur heraus: Das kulturelle Erbe soll erschlossen, bewahrt und verbreitet werden. Zu diesem Zweck werden systematisch literarische und wissenschaftliche Texte gesammelt, transkribiert, kritisch ediert und kommentiert. Bei dieser philologischen Tätigkeit tragen die alexandrinischen Gelehrten dem Rollenformat Rechnung, d. h. einzeln kursierende Werke früherer Dichter werden zu Werkausgaben vereint und in Bücher zusammengestellt, die einen Umfang von 1000 bis 2000 Versen bzw. Zeilen aufweisen. Dies scheint eine Menge an Text gewesen zu sein, die sich nicht nur leicht in einer Papyrusrolle unterbringen ließ, sondern die auch für den Leser bequem zu handhaben war (vgl. Van Sickle 1980, S. 7 f.). Dieser Umstand wird entscheidend für die Konzeption des literarischen Buchs und wirkt sich infolgedessen auch auf die Literaturproduktion aus. Seit dem 3. Jh. v. Chr. werden nämlich dichterische Werke von Anfang an auf den Umfang von 1000 bis 2000 Versen konzipiert, so etwa Arats Phaenomena oder Lykophrons Alexandra (später, um die Zeitenwende, verkürzt sich diese Standardlänge in der römischen Literatur noch weiter auf 500 bis 700 Verse). Längere Texte wie z. B. Epen werden in mehreren Büchern dieses Umfangs verfasst; so bestehen beispielsweise die Argonautica des Apollonios von Rhodos aus vier Büchern mit Verszahlen zwischen 1285 (2. Buch) und 1781 (4. Buch). Wer kürzere Gedichte schreibt, gliedert diese in Sammlungen, in denen nicht mehr nur der Umfang eine Rolle spielt. Vielmehr ist die Anordnung der Gedichte ebenfalls Teil der Gesamtkomposition: Programmatische Gedichte werden an den Anfang gestellt, das Schlussgedicht verbindet sich mit dem Beginn der Sammlung zu einer Ringkomposition, dazwischen weisen die einzelnen Gedichte untereinander Bezüge thematischer, metrischer oder lexikalischer Art auf. Das Buch ist die Einheit, das Format, in dem der Dichter denkt und schafft. Einer der ersten Dichter, von dem wir dieses Gestaltungsprinzip kennen, ist Kallimachos von Kyrene aus dem 2. Jh. v. Chr., der gleichzeitig als Philologe an der Bibliothek von Alexandria tätig war. Dessen Aitia spiegeln diese Praxis exemplarisch wider mit einem programmatischen Eingangsgedicht und einer Ringkomposition des 3. und 4. Buchs (zu den Iambi des Kallimachos vgl. Kerkhecker 1999, S. 282–290). Vervollkommnet wird dieses Verfahren dann in der römischen Dichtung der augusteischen Zeit, etwa bei Vergil (zu dessen Eklogen vgl. Van Sickle 2004). Auch bei der Herausgabe von Gedichten früherer Autoren verfahren die alexandrinischen Philologen in dieser Weise. So steht z. B. die oben genannte ›sphragis‹Elegie des Theognis nicht am Anfang der Sammlung seiner Werke, weil er sie zuerst
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geschrieben hätte, sondern weil sie von den Editoren als programmatisches Gedicht an den Anfang gestellt wurde. Diese neue Form des Dichtens in Büchern bestimmt auch die Wahrnehmung von Dichtung durch den Leser und somit sein Leseverhalten. Die Buchrolle, die er in den Händen hält, ist nicht mehr nur ein beliebig langes Medium zur Vermittlung eines Texts, sondern enthält ein in sich abgeschlossenes Werk, dessen Format mit dem der Rolle übereinstimmt. Zudem weist der Text eine Binnenstruktur auf, die des Lesers Aufmerksamkeit bedarf. Er wird also die einzelnen Gedichte oder Abschnitte mit einander vergleichen, Zusammenhänge zwischen ihnen suchen, um den Aufbau des ganzen Werks mitzuverfolgen. Das Lesen in einer solchen Rolle ist damit nicht mehr ein lineares Voranschreiten im Text, sondern ein dynamischer Prozess des Vor und Zurück, des Springens, Innehaltens, nochmal Beginnens und Weiterfahrens. Dabei ist dem Leser die Eigenschaft der Buchrolle dienlich, dass er sie beliebig weit ausrollen und so viele Textkolumnen, wie er will, gleichzeitig aufdecken kann, wodurch ihm das Überblicken einer längeren Textpassage bzw. das Nebeneinanderhalten einer größeren Anzahl von Gedichten vereinfacht wird. Es ist also nicht das Rollenformat allein, welches das Leseverhalten bestimmt, sondern mit ihm verbunden ist es die Art und Weise, wie jenes das Textverständnis und das dichterische Schaffen beeinflusst. Mit anderen Worten, es ergibt sich eine Art Zirkel: Das Format der Buchrolle schafft neue Möglichkeiten der literarischen Produktion und Konzeption und damit eine veränderte Textauffassung; durch diese wird eine neue Art des Lesens notwendig, die wiederum vom Format der Buchrolle begünstigt wird. Nicht nur das Format der Rolle spiegelt sich im Bewusstsein der Dichter wider, auch das Medium des Buchs selbst wird immer wieder thematisiert. Beispielsweise geht im 1. Jh. v. Chr. der lateinische Dichter Catull so weit, in seinem Widmungsgedicht an den Schriftsteller und Biographen Cornelius Nepos den Beschreibstoff mit dem Text selbst zu identifizieren. Das Gedicht beginnt mit der rhetorischen Frage (Vv. 1–2): Cui dono lepidum novum libellum Wem widme ich dieses feine neue Büchlein, arida modo pumice expolitum? gerade erst mit trockenem Bimsstein poliert? ›Pumice expolitum‹, mit dem Bimsstein poliert, wurde natürlich der Papyrus, so dass er fein und glatt zur Beschriftung wurde; was Catull aber gleichzeitig sagt, ist, dass er seine Gedichte aufs Höchste ausgefeilt hat, so dass sie einem gebildeten und anspruchsvollen Leser gefallen können. Das physische Objekt, die Papyrusrolle, wird also seinem immateriellen Gehalt, den Gedichten, gleichgesetzt. Es sind aus der Antike kaum Zeugnisse dessen erhalten, wie Individuen das Lesen erleben bzw. mit Buchrollen umgehen (einige Hinweise können bei Hutchinson 2008, S. 1–41, gefunden werden). Ganz selten gibt es jedoch Spuren von Lesern, aus denen ein persönliches Verhältnis zum Text, den sie vor sich haben, entnommen werden kann. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist ein Papyrus aus dem frühen 2. Jh. v. Chr., der eine astronomische Abhandlung enthält. Auf der Rückseite einer Kolumne, die
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der Bewegung der Fixsterne gewidmet ist, steht in derselben Handschrift, in der die Abhandlung niedergeschrieben ist, ein Gedicht in zwölf iambischen Trimetern. Das Gedicht stellt sich als astronomische Lehre in nuce dar, indem es den ägyptischen Kalender abbildet, der aus zwölf Monaten an dreißig Tagen und fünf Schalttagen am Jahresende aufgebaut ist. Tatsächlich entspricht jeder der zwölf Verse einem Monat, denn er enthält genau dreißig Buchstaben, von denen jeder einen Tag repräsentiert; nur der letzte Vers besteht aus 35 Buchstaben und schließt also die Schalttage mit ein. Da im Gedicht ebenso die Bewegung der Fixsterne erwähnt wird, passt es thematisch gut zu der Stelle der Abhandlung, auf deren Rückseite es steht, ohne jedoch wirklich Teil davon zu sein. Der Schreiber des Papyrus muss also während der Niederschrift des Traktats den Papyrus umgedreht und das Gedicht auf die Rückseite notiert haben. Er machte sich dabei eine Eigenschaft der Papyrusrolle zunutze, nämlich dass diese auch auf der Rückseite beschrieben werden kann, um seinem Haupttext einen zweiten Text hinzuzufügen, an dem ihm persönlich lag, ohne dass er dadurch den Textfluss des ersteren hätte unterbrechen müssen. Diese kleine Freiheit, die er sich genommen hat, deutet darauf hin, dass er die Abhandlung zu seiner eigenen Verwendung kopierte. Wir haben es also mit einem Leser zu tun, der, da er gleichzeitig der Schreiber seines Buchs war, sich dieses nach seinem persönlichen Geschmack zusammenstellte und gestaltete, was ihm durch das Format der Buchrolle möglich wurde (vgl. Luz 2010, S. 58–63).
6 Weitere Lesemedien Während die Papyrusrolle in nahezu allen Bereichen des öffentlichen und privaten, des kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Lebens der Antike in Erscheinung tritt, sind die Anwendungsbereiche der anderen Lesemedien mehr oder weniger beschränkt. Ihre Verwendung hängt von der Verfügbarkeit des Materials, seiner Eignung für den Bestimmungszweck und nicht zuletzt von den ökonomischen Möglichkeiten der Benutzer ab. Dazu kommt, dass die Überlieferungslage unser Bild der Verbreitung von Lesemedien stark beeinflusst: Während Steininschriften in der ganzen durch die Feldzüge Alexander des Großen und später durch die römischen Eroberungen erschlossenen Welt, d. h. von Spanien bis Afghanistan und von Nord afrika bis auf die britischen Inseln, von antiker Schreib- und Lesetätigkeit zeugen, sind von anderen, insbesondere von organischen Materialien wenig oder kaum Spuren erhalten geblieben. Einige Ausnahmen sind auf besondere Umstände zurückzuführen, die ihre Überlieferung ermöglicht haben: So verdanken wir dem klimatisch günstigen Ägypten und in geringerem, doch nicht zu unterschätzendem Maße, dem Ausbruch des Vesuvs eine beachtliche Anzahl antiker Papyri. Beschriftete Holztäfelchen wurden an vereinzelten Fundstellen zu Tage gebracht, darunter muss in erster Linie das im britischen Northumberland gelegene Vindolanda, eine Militärstation am Hadrianswall, genannt werden, außerdem das helvetische Vindonissa. Andere Lese
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medien kennen wir vor allem durch ihre Erwähnung in antiken Texten wie etwa die sog. ›libri lintei‹, Leinenbücher, von denen nur ein größeres, etruskisch beschriebenes Exemplar in einer Mumienbandage in Zagreb erhalten ist. Die folgende Auswahl bespricht die außer der Papyrusrolle am besten bezeugten Lesemedien der Antike.7
6.1 Steininschriften Steintafeln mit Inschriften prägen das Bild der antiken Stadt: Gesetzestafeln werden öffentlich errichtet, Weih- und Besitzinschriften zieren Gebäude, Denkmäler und Statuen, Inschriften schmücken Grabmonumente und gedenken der Verstorbenen. Das Aufstellen solcher Inschriften ist aufwändig und teuer: Der Stein muss abgebaut, herbeigeschafft und bearbeitet werden; die Beschriftung wird von einem Spezialisten ausgeführt. Als Gegenwert sind Inschriften prestigeträchtig und haben eine ästhetische Wirkung. Das Material selbst sorgt für Dauerhaftigkeit, nicht nur des Monuments, sondern auch des Texts, denn die Schrift kann nicht leicht ausgelöscht oder verändert werden. Inschriften weisen in der Regel eine lokale Bindung auf, da sie sich auf den Ort beziehen, an dem sie angebracht sind. Dort sollen sie sichtbar sein und Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Texte auf Stein richten sich an eine Gemeinschaft: Lesen von Steininschriften ist öffentliches Lesen. Im Gegensatz dazu werden die meisten anderen Lesemedien in der Regel für privates, individuelles Lesen gebraucht.8
6.2 Wachstäfelchen Ein verbreitetes Schreibmedium in der Antike waren Täfelchen, in der Regel aus Holz, die mit einer Wachsschicht bedeckt waren, in welche die Schrift eingeritzt wurde. Als Instrument dafür verwendete man den ›stilus‹, einen Stift mit einem spitzen und einem abgeplatteten, spachtelähnlichen Ende, mit dem das Wachs nach Gebrauch wieder geglättet werden konnte. Zwei oder mehr Wachstäfelchen konnten wie ein Buch zusammengebunden werden zum ›diptychon‹ bzw. dem ›polyptychon‹, so dass der Text im Inneren geschützt war; in dieser Form kann das Wachstäfelchen als ein Vorläufer des Codex gelten. Benutzt wurden die Täfelchen für Briefe, Notizen aller Art, Rechnungen, geschäftliche Dokumente, aber auch für Schreibübungen im Schulunterricht. Charakteristisch für dieses Textformat ist, dass der Text leicht ausgelöscht
7 Generell zu den verschiedenen Lesemedien vgl. Blanck 1992, S. 40–63; Bülow-Jacobsen 2009; Cavallo 1997, S. 810. 8 Öffentliches Vorlesen aus z. B. einer Papyrusrolle stellt dazu keinen Widerspruch dar, da auch dabei nur eine oder wenige Personen in den Text schauen, der vielleicht zum Vorlesen individuell präpariert wurde.
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und die Fläche neu beschrieben werden konnte. Diese Eigenschaft wird zum literarischen ›topos‹: Ovid lässt in seinen Amores den ›poeta amator‹ seiner Geliebten eine Botschaft auf einem Wachstäfelchen senden und sich ausmalen, wie die Geliebte die Nachricht liest und das Täfelchen neu beschrieben zurückschickt (Ovid, Amores 1. 11). Der Umstand, dass der Text ausgelöscht werden muss, damit das Täfelchen neu beschrieben werden kann, erfüllt geradezu eine Voraussetzung der elegischen Liebesbeziehung, denn nur so kann die Botschaft geheim bleiben. Der Text auf einem Wachstäfelchen ist also relativ kurz und nicht als dauerhaft gedacht. Das Wachstäfelchen ist als Medium beständiger als der Text, den es enthält. Es ist ein Stück persönlichen Besitzes, das seinen Eigentümer begleitet, während die Texte darauf wechseln. Dadurch unterscheidet es sich von anderen Lesemedien, beispielsweise von der Papyrusrolle, deren Zweck es geradezu ist, Trägerin eines bestimmten Texts zu sein. Dieser ist wiederum nicht an einen bestimmten Leser gebunden; außerdem kann seine Lebensdauer diejenige des Mediums um ein vielfaches überschreiten, wenn er zur Überlieferung auf einen neuen Papyrus übertragen wird.
6.3 Tonscherben Scherben von Tongefäßen, sog. ›ostraka‹, wurden in der Antike als Schreibmaterial verwendet, indem man Buchstaben in sie einritzte oder mit Tinte darauf schrieb. Besonders bekannt geworden ist diese Praxis durch das Athener Scherbengericht, den ›ostrakismos‹, der dazu diente, missliebige Politiker aus der Stadt zu verbannen. Dabei ritzte man den Namen der betreffenden Person auf eine Tonscherbe, worauf derjenige, der die meisten Stimmen erhielt, verbannt wurde (vgl. Rhodes 2000). Gegenüber allen anderen Lesemedien, die eigens hergestellt werden müssen, haben Tonscherben einen bedeutenden ökonomischen Vorteil: Sie sind ein Abfallprodukt, das in jedem Haushalt anfällt und somit leicht verfügbar ist. Dieser ›Wegwerfcharakter‹ hat einen Einfluss auf ihre Verwendung: Texte auf ›ostraka‹ sind zweckmäßig und ohne ästhetische Komponente. Die meisten überlieferten ›ostraka‹ enthalten Texte, die nicht zum Aufbewahren gedacht sind, d. h. Notizen oder Schreibübungen, bzw. aus Athen belegen zahlreiche Tonscherben mit eingeritzten Namen den ›ostrakismos‹. Selten gibt es Tonscherben, die längere oder wichtigere Texte aufweisen, etwa Briefe oder Abrechnungen (vgl. Bülow-Jacobsen 2009, S. 14–17). Ein Einzelfall ist ein Gedichtfragment der frühgriechischen Dichterin Sappho von Lesbos (fr. 2 Lobel-Page).
6.4 Bleitäfelchen Häufige Verwendung dürften in der Antike beschriebene Metallplättchen gefunden haben, insbesondere Bleitäfelchen, die sich aufgrund ihrer weichen Konsistenz zur
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Beschriftung durch Einritzen gut eigneten. Erhalten sind davon jedoch nur wenige, da gerade Edelmetalle gern wieder eingeschmolzen und weiterverwendet wurden. In einem bestimmten Kontext ist die Verwendung von Blei als Schreibmedium jedoch ausreichend bezeugt: in der Magie. ›Defixiones‹ oder Verwünschungen, eine in der Antike geläufige Form von Schadenzauber, der zur Schädigung eines Gegners in einer Konkurrenzsituation dienen sollte (vgl. Faraone 1991), wurden oft auf Blei täfelchen geschrieben und an einem erdverbundenen Ort wie einer Quelle, einem Grab oder einem chthonischen Heiligtum verborgen; dort blieben sie liegen und wurden zu Schätzen für die moderne Archäologie. Das Material scheint wegen seiner Schwere und Kälte mit dem darauf angebrachten Fluch assoziiert worden zu sein; in einer Anzahl der erhaltenen Fluchtäfelchen wird es sogar in Formulierungen wie »ich binde x in bleierne Banden« oder »wie dieses Blei nutzlos und kalt ist, soll x nutzlos und kalt werden« explizit in die Fluchformel eingebunden (übersetzt nach Wünsch 1897, Nr. 45, 96, 97, 105b, 106b). Gewisse Eigenschaften des Materials bestimmen also seinen Verwendungszweck und verleihen dem darauf angebrachten Text eine bestimmte Konnotation. Dadurch wird gleichzeitig eine Erwartungshaltung des Lesers aufgebaut, der antizipiert, was für eine Art von Text er vor sich hat, und sich noch vor der Lektüre darauf einstellt. Auch während des Leseprozesses kann sich das Material in sein Bewusstsein drängen, besonders wenn es in der Fluchformel genannt wird. Das Medium wird also Teil des Textinhalts: Der Leser liest quasi das Blei mit.9 Diese Integration des Mediums in den Text ist in dieser Form einzigartig und dürfte auf den besonderen Kontext der Magie zurückzuführen sein, in dem jede Handlung und jedes Element eines Rituals genau vorgeschrieben ist, damit es Erfolg haben kann.
7 Der Übergang von der Buchrolle zum Codex Im Laufe der ersten nachchristlichen Jahrhunderte trat die Codexform allmählich in Erscheinung und begann ab ca. 300 n. Chr. die Buchrolle zu verdrängen, bis sie schließlich im Laufe des 5. Jahrhunderts zum etablierten und generell verwendeten Buch wird. Dabei scheint das neue Format am Anfang insbesondere von Christen bevorzugt worden zu sein. Während nur 2 % der aus dem 2. Jh. n. Chr. erhaltenen
9 Die Verwendung von Bleitäfelchen im Kontext der Magie könnte ursprünglich eine Frage der Verfügbarkeit gewesen sein, da Blei als Nebenprodukt des Silberbergbaus leicht zu beschaffen war (vgl. auch Baratta 2012). Erst im Laufe der Zeit scheint sich das Material als Bestandteil des Fluchrituals zu etablieren. Daneben wurden andere Materialien verwendet, z. B. Wachs, wovon aber kaum Spuren erhalten sind. Papyrustexte magischen Inhalts sind aus der Antike ebenfalls überliefert, doch handelt es sich dabei nicht um eigentliche Fluchtexte, sondern um Sammlungen von Zauberrezepten, die z. B. aus der Bibliothek eines praktizierenden Magiers stammen könnten (vgl. Preisendanz 1973/1974).
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nicht-christlichen Literaturzeugnisse Codexform aufweisen, haben beinahe alle aus derselben Zeitspanne erhaltenen christlichen Texte dieses Format (vgl. Roberts / Skeat 1983, S. 72 f., auch S. 40 f.; für das 3. bis 6. Jh. n. Chr. vgl. Schipke 2013, S. 144–146). Es drängen sich im Zusammenhang mit diesem Medienwechsel drei Fragen auf, die bisher jedoch nur spekulativ beantwortet werden können: (1) Warum hat sich die neue Form des Codex überhaupt etabliert? (2) Warum dauerte es so lange, bis sie sich gegenüber der Buchrolle durchsetzen konnte? Und (3) Welche Rolle spielte dabei das Christentum? Die erste und die zweite Frage gehören zusammen, da sie ein und denselben Prozess aus entgegengesetzter Perspektive beleuchten. Für die Überhandnahme des Codexformats sprechen mehrere Vorteile, die der Codex aus der Retrospektive des modernen Lesers gegenüber der Buchrolle aufweist. Darunter wäre an erster Stelle die Kapazität zu nennen: Nicht nur kann der Codex umfangreicher sein, d. h. mehr Laufmeter umfassen, so dass ein Text, der auf mehrere Buchrollen verteilt werden muss, in einem einzigen Codex untergebracht werden kann. Das Codexformat ist außerdem platzsparend, da die einzelnen Blätter in der Regel beidseitig beschrieben werden. Dies führt zu einem weiteren entscheidenden Vorteil: Durch die bessere Ausnutzung des Materials ist der Codex ökonomischer, was gerade in der wirtschaft lichen Krisenzeit des 3. Jh. n. Chr. eine Rolle gespielt haben könnte. Ferner bietet der Codex dank seiner robusten Buchdeckel besseren Schutz des Texts vor Beschädigung. Und schließlich lässt sich beobachten, dass in Codices Glossen zum Text am Rand der entsprechenden Seite notiert werden, während Buchrollen nur selten Marginalia aufweisen; allenfalls verweisen Zeichen am Textrand auf Lemmata in separaten Rollen. Der Codex scheint also Möglichkeiten der Leserannotierung zu bieten, die in der Buchrolle nicht üblich waren. Diese und vielleicht auch weitere Gründe dürften letzten Endes zur Verdrängung der Buchrolle durch den Codex geführt haben. Dennoch ist es auffällig und aus moderner Sicht eher überraschend, dass sich der Medienwechsel so lange hingezogen hat. Die genannten Vorteile wurden also vom antiken Leser offenbar nicht zwingend als solche empfunden. Die Erklärung dafür sucht man in der Annahme eines Konservativismus der gebildeten Oberschicht, für welche Bildung und kulturelle Tradition eng mit dem Format der Buchrolle verbunden waren. Gleichzeitig weisen beide Medien in der Handhabung Vor- und Nachteile auf, die je nach den Ansprüchen des Lesers unterschiedliches Gewicht haben konnten: Während der Codex die Orientierung im Text erleichtert und beim Lesen nicht festgehalten werden muss, kann es als Pluspunkt der Buchrolle empfunden werden, dass eine größere Menge Text auf einmal ins Auge gefasst werden kann (vgl. Abschnitt 3; Skeat 1990). Da es jedoch kaum Zeugnisse von antiken Lesern gibt, die ihr Verhältnis zum einen oder anderen Buchformat äußern, kann der Prozess nicht durch deren Augen betrachtet und verstanden werden. Ebenso schwierig ist die dritte Frage zu beantworten. Die Vorliebe christlicher Leser und Schreiber für die Form des Codex dürfte zu seiner endgültigen Überhandnahme
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beigetragen haben. Warum aber die Christen von Anfang an dieses Format bevorzugten, konnte bisher nicht zufriedenstellend erklärt werden. Soziale und ideologische Gründe könnten eine Rolle gespielt haben: Während die Buchrolle das Schriftmedium einer gebildeten Oberschicht war, dürften niedrigere schreibkundige Bevölkerungsschichten wie etwa Handwerker, aus denen die frühen Christen mehrheitlich stammten, eher ›polyptycha‹ oder einfache Notizbüchlein aus Papyrus oder Pergament verwendet haben, von denen der Schritt zum Codex nicht weit war (so Cavallo 1999, S. 126 f.; vgl. aber auch Roberts / Skeat 1983, S. 54–66; Blanck 1992, S. 100 f.). Im Zusammenhang mit dem Übergang vom Buchrollen- zum Codexformat steht auch der Materialwechsel vom Papyrus zum Pergament. Während im 2. und 3. Jh. n. Chr. die Mehrheit der Codices noch aus Papyrus besteht, tritt das Pergament in den folgenden Jahrhunderten allmählich immer häufiger in Erscheinung und wird schließlich zum üblichen Beschreibstoff. Auch dieser Übergang vollzieht sich langsam: Papyrusindustrie und -export sind ein eingespielter und gut funktio nierender Handelszweig, neben dem sich das viel schwieriger herzustellende Pergament nur langsam etablieren kann. Gleichzeitig hat jedoch Letzteres den Vorteil, dass es überall hergestellt werden kann. Es entfällt also die Abhängigkeit vom Import aus Ägypten, der nach der Zuteilung der Provinz zu Ostrom im Jahre 395 n. Chr. und besonders nach der arabischen Eroberung 640 n. Chr. immer schwieriger wird (vgl. Roberts / Skeat 1983, S. 5–10; Schipke 2013, S. 133–139). Der Übergang von der Buchrolle zum Codex stellt einen Medienwechsel dar, der mit dem Verlust von hergebrachtem Kulturgut verbunden war: Nur die Texte überstanden den Entwicklungsschritt, die in das neue Medium übertragen wurden. Es ist also anzunehmen, dass im Laufe dieses Prozesses Werke der antiken Literatur verloren gingen, an denen zum betreffenden Zeitpunkt nur ein geringes Interesse bestand. Dennoch darf dieser Sachverhalt nicht übergewichtet werden: Wenn man bedenkt, wie viel an heute verlorener antiker Literatur beispielsweise der byzantinische Gelehrte Photios im 9. Jh. n. Chr. noch zusammenfassen und in seine Bibliotheke aufnehmen konnte, zu einer Zeit, in der sich der Medienwechsel von der Rolle zum Codex bereits vor Jahrhunderten vollzogen hatte, wird deutlich, welch weit wichtigere Bedeutung andere Faktoren wie etwa die schulische Kanonbildung für das Überleben antiker Werke hatten. Und nicht zuletzt dürfte wohl in unzähligen Fällen der bloße Zufall seine Hand im Spiel gehabt haben.
8 Literatur Baratta, Giulia: Il piombo e la magia. Il rapporto tra l’oggetto e il materiale a proposito degli specchi plumbei. In: Marina Piranomonte / Francisco Marco Simón (Hrsg): Contesti Magici. Contexos Mágicos. Rom 2012, S. 23–27. Bérard, Claude: Das Reich der Frauen. In: Claude Bérard u. a. (Hrsg): Die Bilderwelt der Griechen. Schlüssel zu einer »fremden« Kultur. Mainz 1985, S. 127–154.
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Blanck, Horst: Das Buch in der Antike. München 1992 (Beck’s Archäologische Bibliothek). Bülow-Jacobsen, Adam: Writing materials in the ancient world. In: Roger Bagnall (Hrsg): The Oxford handbook of papyrology. Oxford 2009, S. 3–29. Cavallo, Guglielmo: Buch. In: Hubert Cancik / Helmuth Schneider (Hrsg): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 2. Stuttgart / Weimar 1997, Sp. 809–816. Cavallo, Guglielmo: Vom Volumen zum Kodex. Lesen in der römischen Welt. In: Roger Chartier / Guglielmo Cavallo (Hrsg): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt a. M. / New York 1999, S. 97–133. [ital. Orig. 1997] Faraone, Christopher: The agonistic context of early Greek binding spells. In: Christopher Faraone / Dirk Obbink (Hrsg): Magika Hiera. Ancient Greek magic and religion. Oxford 1991, S. 3–32. Gerleigner, Georg: Writing on archaic Athenian pottery. Studies on the relationship between images and inscriptions on Greek vases. Diss. masch. Cambridge 2012. [Publikation in Vorbereitung (De Gruyter)]. Hutchinson, Gregory: Talking books. Readings in Hellenistic and Roman books of poetry. Oxford 2008. Johnson, William: Pliny the Elder and standardized roll heights in the manufacture of papyrus. In: Classical philology 88 (1993), S. 46–50. Johnson, William: Toward a sociology of reading in classical antiquity. In: The American journal of philology 121 (2000), S. 593–627. Kerkhecker, Arnd: Callimachus’ Book of Iambi. Oxford 1999. Kouremenos, Theokritos / Parássoglou, George / Tsantsanoglou, Kyriakos: The Derveni Papyrus. Edited with introduction and commentary. Florenz 2006 (Studi e testi per il »Corpus dei papiri filosofici greci e latini«. 13). Lissarrague, François: Vases Grecs. Les Athéniens et leurs images. Paris 1999. Luz, Christine: Technopaignia. Formspiele in der griechischen Dichtung. Leiden 2010 (Mnemosyne Supplement. 324). Parsons, Peter: City of the sharp-nosed fish. Greek papyri beneath the Egyptian sand reveal a long-lost world. London 2007. Pfeiffer, Rudolf: History of classical scholarship from the beginnings to the end of the Hellenistic age. Oxford 1968. Pöhlmann, Egert: Einführung in die Überlieferungsgeschichte und in die Textkritik der antiken Literatur. Darmstadt 1994. Preisendanz, Karl: Papyri Graecae Magicae. 2 Bde. 2. Aufl. Stuttgart 1973/1974. Rhodes, Peter: Ostrakismos. In: Hubert Cancik / Helmuth Schneider (Hrsg): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 9. Stuttgart / Weimar 2000, Sp. 103–104. Roberts, Colin / Skeat, Theodore: The birth of the codex. London 1983. Schipke, Renate: Das Buch in der Spätantike. Herstellung, Form, Ausstattung und Verbreitung in der westlichen Reichshälfte des Imperium Romanum. Wiesbaden 2013. Skeat, Theodore: The length of the standard papyrus roll and the cost-advantage of the codex. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 45 (1982), S. 169–175. Skeat, Theodore: Roll versus codex. A new approach? In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 84 (1990), S. 297–298. Turner, Eric: The terms recto and verso. The anatomy of the papyrus roll. Actes du XVe congrès international de papyrologie. Première partie. Brüssel 1978 (Papyrologica Bruxellensia. 16) Turner, Eric: Greek papyri. An introduction. 2. Aufl. Oxford 1980. Turner, Eric / Parsons, Peter: Greek manuscripts of the ancient world. London 1987 (Bulletin of the institute of classical studies supplement. 46).
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Van Sickle, John: The book-roll and some conventions of the poetic book. In: Arethusa 13 (1980), S. 5–42. Van Sickle, John: The design of Virgil’s Bucolics. 2. Aufl. Bristol 2004. Vatri, Alessandro: The physiology of ancient Greek reading. In: The classical quarterly 62 (2012), S. 633–647. Wachter, Rudolf: Schrift III: Klassische Antike. In: Hubert Cancik / Helmuth Schneider (Hrsg): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 11. Stuttgart / Weimar 2001, Sp. 237–240. Wünsch, Richard (Hrsg): Inscriptiones Atticae aetatis Romanae, pars 3.3: appendix continens defixionum tabellas in Attica regione repertas. Berlin 1897.
Ursula Rautenberg
2.2.2 Das Buch in der Codexform und einblättrige Lesemedien Zusammenfassung: Im Zentrum des Beitrags stehen die (mittelalterliche) Handschrift und das (neuzeitliche) gedruckte Buch, denen die Codexform gemeinsam ist. Weitere Lesemedien werden in Auswahl vorgestellt: die Buchrolle in ihren mittelalterlichen Formen, die auch nach der Umstellung von der Rolle auf den Codex in der Spätantike in speziellen Gebrauchssituationen fortlebt, sowie das spätmittelalterliche illustrierte Blockbuch zwischen Handschrift, Xylographie und Typographie, zwischen Einblattdruck und gedrucktem Buch. Mit den modernen Lesemedien für Blinde öffnet sich der Beitrag für Schriftmedien, die nicht visuell erschlossen werden. Für die Vielfalt einblättriger bzw. kurzer Lesemedien im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, die öffentlich bzw. teilöffentlich sind, stehen Urkunde, Schrifttafel und textiertes Tafelbild, textierte, gedruckte (xylographische) Einblattgraphik, Einblattdruck und illustriertes Flugblatt. Ziel ist es, Funktionen und Leistungen von Schriftmedien im Kontext neuer gesellschaftlicher Anforderungen an Lesemedien in der Medien- und Lesegeschichte zu bestimmen. Ausgangspunkt ist das Medium als Artefakt und Objekt der Alltagskultur. Beschrieben werden für die jeweiligen Lesemedien – zentral aber für den Codex –, deren Materialität (Herstellung und Format des Material objekts) und Gebrauch (Handhabung) in unterschiedlichen Lese- und Gebrauchssituationen. Der Beitrag konzentriert sich auf die typographischen Mittel der Leserlenkung, die systematisch und in ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt werden. Abstract: At the center of this chapter are the (medieval) manuscript and the (modern) printed book, which have in common the codex form. Additional reading media will be introduced selectively: the book roll in its medieval forms that lived on in specific uses even after the transition from the roll to the codex in late antiquity, and the late medieval illustrated block book at the intersection of the manuscript, xylography and typography, between the broadside and the printed book. With modern reading media for the blind, the chapter broadens its perspective to include written media that are not accessed visually. Official documents, writing tablets, panel paintings with text, printed (xylographic) single sheet images with text, broadsides, and illustrated handbills represent the variety of public and semipublic single-sheet and short reading media of the Middle Ages and Early Modern periods. The goal of this chapter is to situate in media history and the history of reading the functions of and services performed by written media in the context of new social demands placed on reading media. The point of departure in this investigation is always the medium as artefact and object of everyday life. The materiality (production and format of the material object) and usage (operation) of each form of reading media – particularly the codex – will be described in various situations of reading and use. The chapter concentrates on the typographic means of directing readers, which will be described systematically and in their historical development.
Inhaltsübersicht 1 Das Codexbuch als Artefakt und im Gebrauch — 280 1.1 Das Codexbuch als materielles Objekt — 280 1.1.1 Der Buchblock: Beschreib- und Bedruckstoffe, Buchformat — 282 1.1.2 Das Äußere des Codexbuchs: Einband und Umschlag — 287 1.2 Der Codex im Gebrauch — 290
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1.2.1 Die Wahrnehmung des Codex — 290 1.2.2 Die Handhabung des Codex — 292 2 Lesen im Codexbuch — 294 2.1 Lesefläche und Lesen auf der Doppelseite — 294 2.2 Skriptographie, Typographie und Leseverstehen — 295 2.3 Leserlenkung: Auszeichnen, Gliedern, Erschließen und Kommentieren — 297 2.3.1 Einleitung — 297 2.3.2 Die graphischen Mittel der Leserlenkung in systematischer Sicht — 298 2.4 Die Mittel der Leserlenkung in der Buch- und Lesegeschichte — 300 2.4.1 Einleitung — 300 2.4.2 Innovationen von der Spätantike zum frühmittelalterlichen Codex — 301 2.4.3 Das Layout des wissenschaftlichen Buchs der Scholastik — 305 2.4.4 Der Buchdruck und die Entstehung des ›modernen‹ Buchs — 307 2.4.5 Zwanzigstes Jahrhundert und Gegenwart: Lesetypographie — 318 2.5 Zusammenfassung und Ausblick — 320 3 Weitere, spezialisierte Lesemedien in Auswahl — 321 3.1 Einleitung — 321 3.2 Die mittelalterliche Buchrolle — 322 3.3 Das Blockbuch — 323 3.4 Lesemedien für Blinde — 324 4 Einblättrige Lesemedien — 325 4.1 Einleitung — 325 4.2 Die mittelalterliche Urkunde — 326 4.3 Die Schrifttafel und das textierte Tafelbild — 327 4.4 Textierte, gedruckte Einblattgraphik — 327 4.5 Der Einblattdruck und das Flugblatt — 329 5 Zusammenfassung — 332 6 Literatur — 333
1 Das Codexbuch als Artefakt und im Gebrauch 1.1 Das Codexbuch als materielles Objekt Wie alle Schriftmedien ist das Codexbuch1 Teil der materiellen Kultur und in die Lebenswelt der Menschen eingebunden. Das Buch als Objekt der Sachkultur hat einen Sonderstatus, indem es Inhalte über Sprachzeichen (auch: Bildzeichen) im Zeichensystem der Skriptographie und Typographie kommuniziert, als Objektzeichen selbst zugleich anderen semiotischen Regeln als denen der Sprache folgt: Im semiotischen Konzept der materiellen Kultur resultiert die Bedeutung von Objekten
1 Vgl. Rautenberg, Ursula: Buch. In: Rautenberg 2015a, S. 65–68; Hanebutt-Benz, Eva-Maria: Technik des Buches. In: Leonhard u. a. 1999 (s. u.), S. 390–421.
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nicht (nur) aus ihrer Materialität, sondern aus dem Kontext ihrer Verwendungen in einer Gesellschaft.2 Der Zugang zu Lesemedien erfolgt daher nicht ausschließlich über die primäre Funktion der kognitiven Entschlüsselung von Sprachzeichen – Lesen im engeren Sinn –, sondern berücksichtigt darüber hinaus ihren Gebrauch, die Umstände der Buchnutzung und des Leseakts.3 In der Verbindung von materiellem Schriftträger und den eingeschriebenen Sprach- und Bildzeichen entstehen unterschiedliche Schriftmedien, die den zu erbringenden Kommunikationsleistungen angepasst sind. Das Buch als materielles Objekt ist das Ergebnis eines handwerklichen, manufakturmäßigen oder industriellen Herstellungsprozesses. Kennzeichen des Codexbuchs sind der Aufbau des rechteckigen Buchblocks aus Lagen, der durch eine Bindung zusammengehalten und mit einem Einband oder Umschlag bedeckt wird. Der Codex hat sich im 4./5. Jahrhundert n. Chr. gegenüber der Rollenform durchgesetzt4 und bleibt bis in die Gegenwart die herrschende physische Buchform; erst seit jüngerer Zeit steht das gedruckte Buch in Konkurrenz zu digitalen Texten, die auf elektronischen Geräten gelesen werden.5 In diesen langen Zeitraum von mehr als anderthalbtausend Jahren abendländischer Geschichte des Buchs in der Codexform fallen drei wichtige Zäsuren, die von technischen Innovationen ausgehen: der schnell wachsende Einsatz von Papier als neuem Beschreibstoff neben Pergament in der mittelalterlichen Handschrift seit ca. der Mitte des 14. Jahrhunderts, die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen und vielfachen Lettern, in deren Folge das gedruckte Buch wichtige Funktionen der Buchhandschrift übernimmt, und die industrielle Buchproduktion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die mit Papierproduktion, Satz-, Druck- und Illustrationstechnik sowie Einbandherstellung die Massenproduktion von Büchern einleitet. Mit diesen zunächst technologieinduzierten Innovationen sind weitreichende sozioökonomische und kulturelle Veränderungen verbunden. Das Lesemedium Codexbuch verändert seine Gestalt und Gestaltung – und damit das Lesen. Die physischen Formen entstehen in Abhängigkeit vom Beschreib- und Bedruckstoff, den für die Pergament- und Papierproduktion verfügbaren Rohstoffen und ihrer möglichen Weiterverarbeitung. Der materielle Träger nimmt Schrift- und Bildzeichen auf, diese werden geschrieben, gezeichnet, gemalt oder gedruckt. Die Anordnung
2 Vgl. bes. Eggert, Manfred K. H.: Kultur und materielle Kultur. In: Stefanie Samida u. a. (Hrsg.): Handbuch materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart / Weimar 2014, S. 22–31, hier S. 27 f., nach Hahns Konzept der Materialität als Zeichensystem. Zur Geltung dieses Konzepts ebd. S. 28: »Man darf davon ausgehen, dass die von Hahn vertretene semiotische Auffassung Materieller Kultur heutzutage für die gesamten Kultur- und Sozialwissenschaften verbindlich ist, in denen dieses Konzept eine Rolle spielt.« 3 Vgl. Kap. 1.5 Historisch-Hermeneutische Ansätze der Lese- und Leserforschung in diesem Band. 4 Vgl. Kap. 4.1.1 Antike und Spätantike in diesem Band. 5 Vgl. Kap. 2.2.4 Digitale Lesemedien in diesem Band.
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der Text- und Bildeinheiten, also die Konfiguration der Zeichen auf der Schriftfläche, folgt Layout-Konventionen von der Schriftwahl bis hin zu komplexen typographischen Dispositiven.6 Die Herstellung und Gestaltung übernehmen professionelle Organisationen, z. B. die Schreib- und Buchbindewerkstatt in Kloster und Stadt, die Papiermühle und Papierfabrik, die Schriftgießerei, Druckwerkstatt und der Verlag sowie ihre Akteure: Schreiber, Setzer, Drucker, Korrektoren und Typographen, Buchmaler und Illustratoren.
1.1.1 Der Buchblock: Beschreib- und Bedruckstoffe, Buchformat Im Gegensatz zur Rolle aus Papyrus oder seltener aus Pergament, die aus einem aufgerollten Streifen unterschiedlicher Länge entsteht, wird der Buchblock des Codex in der Regel aus mehreren Lagen zweiseitig beschriebener oder bedruckter und einmal oder mehrmals gefalteter (gefalzter) Bogen zusammengestellt. Mit dem Wechsel der Buchform ist auch ein Materialwechsel verbunden. Im 2. und 3. Jh. n. Chr. bestand die Mehrheit der Codices noch aus lose gehefteten Papyrusblättern; in den folgenden Jahrhunderten wird Pergament zum üblichen Beschreibstoff,7 der wiederum vom Papier abgelöst wird. In Mittelalter und Neuzeit legen sowohl Pergament als auch Papier über die Blattbildung im Herstellungsprozess – Pergament wird aus Tierhäuten geschnitten, der Bogen des handgeschöpften Papiers entspricht der Größe des rechteckigen Schöpfsiebs – den Aufbau des i. d. R. hochrechteckigen Codexbuchs in Lagen zum Buchblock nahe. Zumindest ein Falzbruch des Bogens muss beim Beschreiben oder Bedrucken eingeplant werden, damit für die Einbandtechnik des gebundenen Buchs der Heftfaden durch den Falz des Doppelbogens geführt und die Lagen über die Bünde miteinander verbunden werden können.8 Pergament wurde im lateinischen Westen bereits seit dem 1. Jh. n. Chr. für Notizen, Verbrauchsliteratur und Reisebücher verwendet, aber erst das Christentum machte den in der antiken Welt des Westens wenig geschätzten Beschreibstoff zum Ausstattungsmerkmal ersten Rangs, zunächst für die Bibel und dann generell für den handschriftlichen Codex (vgl. Schipke 2013, S. 132 f.). Papyrus ist als Beschreibstoff vor allem für Urkunden, Archivalien (bes. in der päpstlichen Kanzlei in Rom) und Briefe noch nach dem 4. Jahrhundert sowie als Papyruscodex bis um die Mitte des 6. Jahrhunderts belegt (vgl. Schipke 2013, S. 125, 131).
6 Vgl. Kap. 2.1.6 Typographische Lesbarkeitskonzepte in diesem Band. 7 Vgl. Kap. 2.2.1 Die Buchrolle und weitere Lesemedien in der Antike, Abschnitt 7 in diesem Band. 8 Vgl. Goerke, Jochen: Buchblock, Buchdecke, Buchformat, Falzart, Falzen, Papierformat. In: Rautenberg 2015a, S. 47 f., 69 f., 156 f., 157 f., 303 f.
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Pergament wird in einem langwierigen mehrstufigen Bearbeitungsprozess aus Häuten von Kälbern, Schafen und Ziegen hergestellt.9 Je nach Größe und Qualität der Ausgangshaut und Sorgfalt der Bearbeitung entstehen gröbere und dunklere oder feinere und hellere Pergamentbögen. In Nordfrankreich, England und im deutschsprachigen Raum überwiegt Pergament aus Kalbshaut, seit dem 13. Jahrhundert wird ein feines und glattes Pergament bevorzugt. Anders als der spröde Papyrus lässt sich der Pergamentbogen falzen; dadurch wird die Lagenbildung möglich. Die Maße der Codices bzw. der einzelnen Lage sind durch die Größe des Tiers und der individuellen Hautgröße vorgegeben. Standardformate scheinen sich bereits für den Pergament codex aus dem Maß des aufbereiteten und gefalzten Pergamentbogens abhängig von der Hautgröße der Tiere zu ergeben: Bei Ziegen 44 × 30 cm, bei Kälbern bis 80 × 56 cm (vgl. Schneider 2014, S. 105–109; Wolf 2013, S. 153). In der mittelalterlichen Pergament handschrift besteht eine Lage aus mehreren heftförmig ineinander geschobenen Doppelblättern.10 Als Beschreibstoff eignet sich Pergament für die Buchproduktion gegenüber dem Papyrus durch die Möglichkeit der Lagenbildung, die lange Haltbarkeit, die glatte Schreibfläche und als guter Untergrund für Buchmalerei, besonders mit Deckfarben. Mit einem steigenden Bedürfnis nach Schriftlichkeit und einem wachsenden Lesepublikum setzte sich das preiswertere sowie leichter und in größeren Mengen zu beschaffende Papier als Beschreibstoff durch. Im 14. Jahrhundert betrug der Anteil der Pergamentcodices 69 %, im 15. Jahrhundert nur noch 30 % (vgl. Schneider 2014, S. 110, nach Paul Needham). Buchhandschriften aus Papier mit wissenschaftlichen und literarischen Texten in lateinischer Sprache wurden seit den 1340er Jahren rasch häufiger, deutschsprachige Papiercodices lassen sich um die Mitte des 14. Jahrhunderts nachweisen. Papier wurde in seiner für Europa typischen Herstellungstechnik in der Papiermühle vor 1230 zunächst in Mittel- und Oberitalien hergestellt.11 Es besteht aus meist pflanzlichen Fasern, die aus Lumpen (Hadern), einem Abfallprodukt, gewonnen wurden. Diese wurden in mehreren Arbeitsgängen zum Faserbrei verarbeitet und mit einen Schöpfsieb aus der Bütte gehoben. Aus den sich durch Schütteln des Siebs ver-
9 Vgl. Eisenlohr, Erika: Die Kunst, Pergament zu machen. In: Uta Lindgren (Hrsg.): Europäische Technik im Mittelalter. 800 bis 1400. Tradition und Innovation. Ein Handbuch. 3. Aufl. Berlin 1998, S. 420−434; Rück, Peter (Hrsg.): Pergament. Geschichte, Struktur, Restaurierung und Herstellung heute. Sigmaringen 1991 (Historische Hilfswissenschaften. 2). 10 2 Doppelblätter bilden ein Binio (8 Seiten), 3 Doppelblätter ein Ternio (12 Seiten), 4 Doppelblätter ein Quarternio (16 Seiten), 5 Doppelblätter ein Quinternio (20 Seiten) und 6 Doppelblätter ein Sexternio (24 Seiten). Ein Folio besteht aus einem Doppelblatt (4 Seiten). Der Codex setzt sich meist aus regelmäßigen Lagen zusammen, wobei im frühen und hohen Mittelalter Quaternionen, im späteren Mittelalter auch umfangreichere Lagen vorkommen (vgl. Schneider 2014, S. 120). 11 Zur Papierherstellung und -geschichte vgl. bes. Tschudin, Peter F.: Grundzüge der Papiergeschichte. 2., erg. Aufl. Stuttgart 2012 (Bibliothek des Buchwesens. 23).
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filzenden Fasern entsteht ein Papierbogen in der Größe der inneren Abmessungen des Schöpfsiebs. Je nach Art der verwendeten Lumpen, der geschöpften Fasermenge und der Feinheit des Drahtgeflechts im Schöpfsieb erhielt man unterschiedliche Papierqualitäten. Handgeschöpftes Papier wurde in vier Standardgrößen gehandelt. Seit dem 14. und 15. Jahrhundert waren die vier gebräuchlichen Bogengrößen: ›Imperialis‹, ›Regalis‹, ›Mediana‹ und das Kanzleipapier (Schreibpapier) jeweils mit weiteren Unterklassen. Die Haltbarkeit des Hadernpapiers war hoch, da es – durch die Aufbereitung der Lumpen in einem alkalischen Bad – anders als die späteren holzhaltigen Papiere nicht säurehaltig ist. Damit stand für den Buchdruck (Hochdruck), dem neuen technischen Verfahren des ›mechanischen Schreibens‹, ein widerstandsfähiger, zweiseitig verwendbarer Bedruckstoff zur Verfügung. Eine der zahlreichen Folgen der neuen Buchproduktionstechnik war, dass durch den Auflagendruck – eine Vielzahl von identischen Druckbogen konnten aus einer Form unter der Presse abgezogen werden – die Menge der Exemplare einer Ausgabe und auch die Zahl der gedruckten Titel zunahm, wodurch der Papierbedarf stark anstieg. Für spezielle Zwecke wurde in seltenen Fällen auf Pergament gedruckt. Frühestes Beispiel ist die Teilauflage von 35 Exemplaren der 42zeiligen Bibel des Johannes Gutenberg auf Pergament. Auch Bibeln und liturgische Bücher, die ein hohes Ausstattungsniveau sowie die Illustrierung mit Zierinitialen und Miniaturen in Deckmalerei fordern, wurden noch im 16. Jahrhundert auf Pergament gedruckt. Bis in die Gegenwart wird für Vorzugsausgaben, bibliophile Bücher und Pressendrucke, aber auch für Faksimiles zur Reproduktion von Pergamenthandschriften, auf Pergament zurückgegriffen. Der kostspielige Beschreib- und Bedruckstoff soll die Luxusausgabe aus dem industriellen Gebrauchs- und Massenbuch herausheben. Die Größe des Buchblocks richtet sich nach der Größe des bedruckten Papierbogens (Druckbogen) und der Anzahl der Falzbrüche. Gesetzt wurde in Formen (wobei eine Seite i. d. R. einer Form entsprach), so dass die Anzahl der Formen pro Druckbogen auf der Vorderseite (Schöndruck) wie auf der Rückseite (Widerdruck) bestimmte, wie oft der Druckbogen gefalzt werden musste, damit eine mehrblättrige Lage entstehen konnte.12 Die Vielfalt der möglichen Buchformate in der Handpressenzeit spiegelt die Formatlehre für den Setzer in Formatbüchern, die im deutschsprachigen Raum seit der Mitte des 17. Jahrhunderts erscheinen (vgl. Wilkes u. a. 2010, S. 144 f.; Gaskell 1995, S. 78–107). Mit dem wachsenden Lesepublikum stieg seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert der Bedarf an Lesestoffen und Büchern. Dem großen Papierbedarf stand der begrenzte
12 Die gebräuchlichsten Formate sind: Folio (2°, 2 Blätter bzw. 4 Seiten pro Falzbogen, je 2 Formen für die Vorder- und Rückseite, 1 Falzung; heutige standardisierte Größenangabe: Buchhöhe bis ca. 50 cm), Quart (4°, 4 Blätter bzw. 8 Seiten; Buchhöhe bis ca. 35 cm), Oktav (8°, 8 Blätter, 16 Seiten; Buchhöhe bis ca. 25 cm), Duodez (12°, 12 Blätter, 24 Seiten; Buchhöhe bis ca. 17,5 cm) und Sedez (16°, 16 Blätter, 32 Seiten; Buchhöhe bis ca. 17,5 cm).
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Rohstoff der Hadern gegenüber. Dieser Engpass wurde durch Holzstoff bzw. Zellstoff als Grundstoff der industriellen Papierproduktion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überwunden. Die Lösung der Rohstofffrage arbeitete der Produktion mit der Papiermaschine zu. Die in der Langsiebmaschine entstehende, endlose Papierbahn bedeutete die Ablösung von der Bogengröße des Papiersiebs. Mit der industriellen Papiererzeugung und Buchproduktion seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Vielfalt der für den Druck eingesetzten Papierformate ab. Dies hing zum einen damit zusammen, dass ein immer größerer Anteil der Papierproduktion als Rollenware hergestellt wurde. Diese Papierrollen dienen bis heute der Konfektionierung der Bogenware, so dass die Vielfalt unterschiedlicher Papiersiebe aus der handwerklichen Fertigung überflüssig wurde. Zum anderen richtet sich das Druckformat nicht mehr nach den Buchformaten, sondern nach den Formatklassen, die den Bogenoffsetmaschinen zugrunde liegen. Sie bestimmen das maximale Druckformat und damit die Formatgrenze eines Buchs, welches auf der jeweiligen Maschine gedruckt werden soll. Zudem werden Bücher aber auch – wie Zeitungen und Zeitschriften – im Rollenrotationsverfahren auf die von der Rolle ablaufende Papierbahn gedruckt und in einem weiteren Arbeitsgang zerschnitten und zum Buchblock zusammengestellt.13 Schließlich muss auch der Digitaldruck erwähnt werden, der, meistens auch als Rollendruck, in der Buchproduktion einen immer größeren Marktanteil einnimmt. So werden die Buchformate heute nicht mehr nach Größen-Kategorie und Anzahl der Seiten pro Druckbogen eingeteilt, sondern als konkretes Maß in der Reihenfolge Breite × Höhe angegeben. Zusätzlich werden bisweilen nur noch die Formatbezeichnungen Hochformat (Höhe mehr als 20 mm größer als Breite), Querformat (Breite mehr als 20 mm größer als Höhe), Quadratisches Format (Breite und Höhe weichen nicht mehr als 20 mm voneinander ab) und Schmalformat (Höhe mindestens doppelt so groß wie Breite) genannt. Sie informieren aber nicht mehr über die Größe des Produkts, sondern nur noch über das Seitenverhältnis. Vor dem Hintergrund der Vielzahl von Druckerfordernissen stehen heute unterschiedlichste Druckpapiere und Papierformate zur Verfügung, die durch Rohstoffund Stoffaufbereitung, den Zusatz von Hilfsstoffen wie Füllstoffen, Leimung, Farben und optische Aufheller, die maschinelle Verarbeitung sowie die Veredelung und Ausrüstung erzeugt werden. In der Buchproduktion kommen vor allem Werkdruckpapiere zum Einsatz, also Naturpapiere, die für den Textdruck und Strichabbildungen geeignet sind. Geglättete Naturpapiere lassen sich im Offsetdruck auch mit Bildern bedrucken, während für den anspruchsvollen Farbbilddruck meist glänzend oder matt gestrichene Papiere, wie Bilderdruckpapiere oder Kunstdruckpapiere, gewählt werden. Die Optik des Papiers beeinflusst die Leserezeption erheblich, da sie auf die Lesbarkeit positiv oder negativ einwirken kann. Zum Beispiel reflektieren glänzende, gestrichene Papiere das Licht bis zur Unleserlichkeit des Lesemediums.
13 Vgl. Goerke, Jochen: Druckform, Rollendruck. In: Rautenberg 2015a, S. 139 f., 338.
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Die Wahl des Buchformats wird durch zahlreiche Faktoren bestimmt: den Umfang des Texts bzw. Werks und die Art und Anzahl der einzubringenden Illustrationen, die Textsorte und den geplanten Buchtyp. Hinzu kommen die technischen Möglichkeiten der Buchproduktion und ökonomischer Vorgaben für die Herstellungskosten im Zusammenhang mit dem Buchpreis. Die Formatwahl steht in engem Zusammenhang mit dem Layout des Buchs. Für die Planung eines Buchs durch den mittelalterlichen Schreiber im Kloster oder in der weltlichen Schreibwerkstatt, den neuzeitlichen Setzer in der Offizin und den modernen Buch- bzw. Mediengestalter und Typographen stehen der Lesezweck und die Lesesituation am Beginn der Planung eines Buchprojekts. E x ku r s: Am Beispiel der Vielfalt von Bibelausgaben lässt sich die Bedeutung von Buchformat, (Vor‑)Lesezweck und Publikum nachvollziehen: Das Bibelwort wurde (vor-)gelesen, gehört und die Buchseite und die Bilder betrachtet. Dem entsprechen die Buchformen: die Bibel im großen Format zum Studium für das Lesepult, Lektionar und Evangelistar für die Inszenierung in der Liturgie14, die Bibel als handliches ›Hausbuch‹ für die tägliche und im Jahresablauf wiederkehrende erbauliche Lektüre und zum Vorlesen in der Familie, als wissenschaftliche Ausgabe oder die Studienbibel mit Verszählungen, Marginalien und Kommentaren für den Schreibtisch oder das Lesepult, als preiswerte Ausgabe und Taschenbuch für viele Leser. Die lateinische Bibel des Mittelalters war vom 6. bis zum 16. Jahrhundert in der Vulgata in vielen Buchformen und Buchformaten verbreitet (vgl. hier und im Folgenden Kelber 1999, Liere 2014, Kap. 2: The bible as book, Mirwald-Jacobi 2004, S. 72–74). In karolingischer und romanischer Zeit war die großformatige einbändige (unkommentierte) Bibel als repräsentatives Buch mit hohem Ausstattungsniveau die Regel, illustriert mit Schmuckinitialen und Miniaturen, und nur einer kleinen Schicht von Vermögenden und Gebildeten zugänglich. Sie diente vor allem als Vorlesebuch, auch im Gottesdienst. Im 12. und 13. Jahrhundert wurden glossierte einbändige Bibeln in großen Formaten (›Riesenbibeln‹) und mehrspaltigem Layout produziert. Im Umkreis der Pariser Universität entstand im 13. Jahrhundert schließlich die einbändige, transportable Taschenbibel im kleineren Format und mit kleinerer Schrift (Perlschrift), zweispaltig auf dünnem Pergament geschrieben, mit Kolumnentiteln, Kapitelüberschriften und farbigen Initialen. Sie entsprach den Bedürfnissen eines leisen, gelehrten Studiums. Das späte Mittelalter kennt eine Fülle von kleinformatigen Bibeltexten in der Gotischen Kursive und auf Papier für den Gebrauch von Laienlesern. Die frühen gedruckten Bibeln gehen auf eine standardisierte Fassung der Pariser Bibel des 13. Jahrhunderts zurück, variieren aber in Format und Umfang erheblich. Die erste aus der Offizin des Johannes Gutenberg um 1452 ist eine monumentale zweibändige Bibel in der großen, feierlichen Textura. Glossierte Vollbibeln sind noch
14 Vgl. Heinzer, Felix: Die Inszenierung des Evangelienbuchs in der Liturgie. In: Stephan Müller u. a. (Hrsg.): Codex und Raum. Wiesbaden 2009 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien. 21), S. 43–58.
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umfangreicher und größer, wie z. B. die Bibel mit der ›Glossa ordinaria‹ von Johannes Rusch (nicht nach 1480) in Straßburg, das größte gedruckte Buch des 15. Jahrhunderts. Rusch orientierte sich nicht am Layout der glossierten Bibel-Handschriften, sondern dem der gedruckten juristischen Kommentare.15 Der Buchdruck ist in der Folgezeit der Katalysator für die visuell gegliederte Textseite mit konsequent umgesetzten text- und bucherschließenden Mitteln. Luthers deutsche Übersetzung des Neuen Testaments, mit Holzschnitten von Lucas Cranach gedruckt bei Melchior Lotter in Wittenberg 1522 im Quartformat, ist der Ausgangsund Höhepunkt der leserfreundlich gestalteten Reformationsbibel. Daneben stehen die illustrierten, in Frankfurt, Lüneburg und Nürnberg gedruckten Folioausgaben der Luther-Bibel für die gemeinschaftliche Lektüre, während die Calvinisten Bibeln auch in kleinen Formaten benutzen. Die kleinen Luther-Bibeln als Volksbibeln gehen auf die neue, innerliche Frömmigkeit des Pietismus und den Gedanken der Mission zurück: Beispielhaft ist die von August Hermann Francke 1710 auf Initiative von Hildebrand von Canstein gegründete, erste Bibelanstalt der Welt, die Cansteinsche Bibelanstalt in Halle. In der Verlagsbuchhandlung des Waisenhauses entstanden zahlreiche Ausgaben der Luther-Bibel in kleinen Formaten, die erste Vollbibel 1713, ab 1717 vom stehenden Satz schnell und preiswert gedruckt.16
1.1.2 Das Äußere des Codexbuchs: Einband und Umschlag Grundsätzlich ist für das Buch in der Codexform der feste (Buch-)Einband von einer Bindung mit einem flexiblen Umschlag (Broschur) zu unterscheiden (vgl. grund legend Mazal 1997). Die wichtigste Funktion des Einbands ist es, den Buchblock zusammenzuhalten, zu schützen und den Gebrauch des Buchs zu unterstützen; demgegenüber sind die Einbanddekoration oder die Gestaltung des Umschlags zunächst sekundär. In der Wahrnehmung des Codex als Lesemedium gehören beide Funktionen – buchbinderische Technik und Einbandgestaltung – zusammen. Der Einband ist wesentlicher Teil der optischen und haptischen Annäherung an das Codexbuch: Der erste Blick auf das Buch, die erste Berührung mit ihm erfolgt über den Einband. Was Buchbenutzer zuerst sehen und anfassen, sind Buchrücken und Buchdeckel. Diese Feststellung gilt für die industrielle Massenware heutiger Druckerzeugnisse genauso wie für die mühevoll produzierten Bände mittelalterlicher Skriptorien. (Ganz 2015, S. 10)
15 Vgl. Wagner, Bettina: Das größte gedruckte Buch des 15. Jahrhunderts. In: Als die Lettern laufen lernten. Medienwandel im 15. Jahrhundert. Inkunabeln aus der Bayerischen Staatsbibliothek München (Ausstellungskataloge. 81). [Hrsg. von Bettina Wagner]. Wiesbaden 2009, Nr. 48 sowie Liere 2004, S. 49 f. 16 Vgl. Klosterberg, Britta: Die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen. Halle 2007, S. 88.
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Darüber hinaus signalisieren Bindeart und verwendete Materialien die ›Wertigkeit‹ des materiellen Objekts, die sich auf den Inhalt überträgt. Zur Erläuterung sollen hier zwei unterschiedliche Beispiele herausgegriffen werden: der Prachteinband und das Taschenbuch. Für den frühmittelalterlichen Prachteinband17 wurden Materialien wie Edelmetalle, Edelsteine, Email, Elfenbein oder kostbare Gewebe und Stickereien verwendet und die Buchdeckel mit Reliefs aus geschnitztem Elfenbein oder getriebenen Edelmetallen bildkünstlerisch verziert. Die Buchhülle entsprach der Bedeutung der ›heiligen‹ Texte und ihrem Wahrheitsanspruch; sie machte das Buch zu einem »sakramentalen Objekt« (Ganz 2015, S. 343). Die Bibel und die liturgischen Bücher hatten in der Hierarchie der Inhalte Anspruch auf das höchste Ausstattungsniveau, künstlerische Durchgestaltung, besondere Sorgfalt beim Schreiben sowie Fülle und Qualität der Dekoration bzw. Illustration forderte. Ludwig spricht von der »sakralen Konzeption von Schreiben« (Ludwig 2005, S. 121). Das so eingekleidete Evangelienbuch wurde in den kirchlichen Ritus eingebunden, während des Gottesdiensts herumgetragen, geküsst und den Gläubigen zur Schau gestellt (vgl. Ganz 2015, S. 13–22; Ludwig 2005, S. 119–121). Ein anderes Extrem stellt das moderne Taschenbuch dar, dessen Aufstieg als ›Massenbuch‹ in hohen Auflagen in den 1950er Jahren in Deutschland begann. Bei den Buchhändlern hatte es das zunächst als ›minderwertig‹ angesehene Taschenbuch in den 1950/60er Jahren schwer, gegenüber dem Buch in festem Einband anerkannt zu werden. Die Nachteile des kleinen Formats, des platzsparenden Satzes und der schmalen Randstege sowie die anfangs geringe Strapazierfähigkeit der Klebebindung wurden in den Augen des Lesers durch den geringen Preis und die nachgefragten Inhalte ausgeglichen. Fe s te Bucheinbände wurden angefertigt, seit die Materialqualität des Beschreibstoffs Pergament eine Lagenbildung und die neue Bindetechnik das Heften auf Bünde möglich machte; sie waren bereits seit dem 6. Jahrhundert üblich. Die grundlegenden Arbeitsvorgänge der handwerklichen Buchbinderei sind: Die einzelnen Lagen mit den beschriebenen oder bedruckten Seiten werden gefalzt, in der richtigen Reihenfolge zusammengetragen, am Bund mit Fäden geheftet (Fadenheftung), der Buchblock wird beschnitten und die Buchdecke direkt auf den Buchrücken gearbeitet (fester Einband ohne sog. hohlen Rücken). Die Buchdecke entsteht aus der vorderen und hinteren Deckeleinlage und dem Bezugsmaterial: Als Einlage werden im mittelalterlichen Handeinband Holzbretter unterschiedlicher Dicke verwendet, seit dem 16. Jahrhundert überwiegend feste Pappe. Der Heftfaden wird mit mehreren Stichen wechselweise innen und außen durch den Falz einer jeden Lage geführt, wobei er außen mehrere quer zum Buchrücken laufende Pergament- oder Lederstreifen oder Hanfschnüre, die sog. Bünde, umschlingt; die lang überstehenden Enden
17 Zum Prachteinband des 9.–12. Jahrhunderts vgl. bes. Ganz (2015) unter Verweis auf den Einband als ›Gewand‹ und unter Rückgriff auf die Körpermetaphorik des Buchs.
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der Bünde werden direkt an den Deckeln befestigt (vgl. Biesalski 1999, S. 424; Mazal 1997, S. 10–28). Bezugsmaterial war im Mittelalter meist Leder, in der Frühen Neuzeit auch preiswerteres Pergament oder Pergamentmakulatur. Während der Bucheinband des Codex seit dem Mittelalter im Auftrag des Buchkäufers, der einen Buchtitel in Rohbogen erwarb, individuell vom Handbuchbinder gefertigt wurde, wuchs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem wachsenden Lesepublikum und Buchkonsum die Nachfrage nach bereits fertig gebundenen, preiswerten Büchern (vgl. Biesalski 1999, S. 428). Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden für die einzelnen Arbeitsgänge nach und nach spezielle Maschinen eingesetzt (vgl. zur historischen Entwicklung und Technik der industriellen Buchbinderei Biesalski 1999, S. 428–434). Heute werden Bucheinbände in der sog. ›Buchstraße‹ gefertigt. Der dauerhafte und strapazierfähige feste Einband mit hohlem Rücken und gutem Aufschlagverhalten hat seine Bedeutung als ›wertige‹ Buchform bei Autoren und Lesern bis in die Gegenwart behalten. Leder und echtes Leinen finden als Bezugsmaterial nur noch für bibliophile Produkte und künstlerische Handeinbände Verwendung, während in der industriellen Produktion heute Mischgewebe aus natürlichen und synthetischen Fasern vorherrschen. Die Ursprünge des flexiblen Einbands liegen im frühen Mittelalter – Exemplare haben sich seit dem 8. Jahrhundert erhalten – beim Kopertband, in den vermutlich ein großer Teil des Schriftguts in Mittelalter und Früher Neuzeit als Interimseinband oder für den dauerhaften Gebrauch gebunden wurde. Kennzeichen des Kopertbands ist der flexible, nicht durch einen Holzdeckel oder eine feste Pappe versteiften Deckel. Buchblock und flexibler Einband aus Leder, Pergament, Papier oder Textilien werden in unterschiedlichen Hefttechniken mit Hanfschnüren oder den überstehendenden Bünden am Rücken fest mit dem Umschlag verbunden.18 Eine Sonderform bilden Koperte mit Rückeinlage und hohlem Rücken. Mit einer überstehenden Klappe am hinteren Umschlag kann das Buch fest verschlossen werden. Der Kopertband war gegenüber dem festen Einband einfacher herzustellen, billiger und mobiler. Verwendet wurde er für Aufzeichnungen für den privaten Gebrauch, für Archivalien sowie Schultexte der Artes Liberales (sog. ›Scholareneinbände‹), Predigttexte, literarische Gebrauchstexte etc. (vgl. Mau-Pieper 2005, S. 63; Schneider 2014, S. 176). Mit dem Aufkommen von Pappen gingen in der Zeit des Buchdrucks die Texte in andere Einbandformen über; für Handschriften blieb die Umschlagtechnik des Kopert weiterhin in Gebrauch und das Material wechselte von Pergament zu Papier und Karton (vgl. Mau-Pieper 2005, S. 89). Als die Klebebindung nach dem Zweiten Weltkrieg zur Marktreife entwickelt worden war, stand eine deutlich kostengünstigere Bindeart gegenüber der Fadenhef-
18 Zur den Bindetechniken vgl. ausführlich Scholla, Agnes: Libri sine asseribus. Zur Einbandtechnik, Form und Inhalt mittelalterlicher Koperte des 8. bis 14. Jahrhunderts. Diss. masch. Leiden 2001; zu Funktion und Gebrauch im Mittelalter vgl. Mau-Pieper 2005.
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tung zur Verfügung. Dabei wird der Broschuren- oder Buchblock entweder mit einer besonders dünnen und damit flexiblen Buchdecke verklebt oder mit einem Umschlag aus Karton. Letztere Technik wird heute besonders zur Herstellung von Broschuren verwendet und hat eine marktbeherrschende Stellung gegenüber dem festen Einband.19 Der Bucheinband hatte von Beginn an nicht nur eine schützende Funktion, sondern auch eine dekorative.20 Seit Beginn des 20. Jahrhunderts und mit dem Aufkommen des maschinell hergestellten Verlagseinbands wird der S chutzumschlag üblich, der lose um das gebundene Buch gelegt wird, wobei die überstehenden Klappen um den vorderen und hinteren Deckel geschlagen werden. Der Broschurenumschlag wird am Rücken fest mit dem Buchblock verklebt. Bei Schutzumschlag und Klappenbroschur stehen vier Flächen zur Verfügung, die Angaben zu Buch und Autor sowie besonders werbende Texte, den Klappentext, aufnehmen. Farbig bedruckt, illustriert und typographisch ins Auge fallend gestaltet,21 wirbt der Umschlag um Käufer und Leser. Seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts treten buchästhetische Überlegungen hinter das Buchmarketing zurück; das Cover soll bei der Präsentation im Buchhandel die Kaufentscheidung beeinflussen. Es ist wichtiger Teil der Buchwerbung und wird in Onlinemedien und Bestellkatalogen gezeigt. Das Cover übernimmt mehr und mehr die Funktionen des Titelblatts, das nicht mehr illustriert wird, und nur noch sachlich-informierend ist.
1.2 Der Codex im Gebrauch 1.2.1 Die Wahrnehmung des Codex Das Buch wird vom Buchnutzer und Leser im Gebrauch als dreidimensionales Objekt begriffen und benutzt. Der erste Zugang geschieht mit allen Sinnen, mit denen Buchblock, Einband und die verwendeten Materialien wahrgenommen werden. Visuelle Wahrnehmung und Haptik sind die wichtigsten Sinneswahrnehmungen im Umgang mit dem Codexbuch. Sie erschließen Größe, Umfang und Gewicht, Papierqualität und Einbandmaterial, und sie steuern die Motorik bei der Handhabung. Das Buchobjekt wird mit den Händen auf der Unterlage bewegt, gehalten und durchgearbeitet, geöffnet, geschlossen, die Seiten einzeln umgeblättert oder mit Hilfe des Daumens vom Schnitt her schnell durchblättert. Letzteres macht sich das sog. Prinzip des ›Daumenkinos‹ (Abblätterbuch) zunutze: Der schnelle Durchlauf durch eine Folge von Pha-
19 Vgl. Goerke, Jochen: Bucheinband. In: Rautenberg 2015a, S. 70 f. 20 Vgl. die Übersicht über die Epochen der Einbandgestaltung bei Mazal 1997. 21 Vgl. beispielhaft Holstein, Jürgen: Georg Salter. Bucheinbände und Schutzumschläge aus der Berliner Zeit 1922–1934. Stuttgart 2003.
2.2.2 Das Buch in der Codexform und einblättrige Lesemedien
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senbildern auf jeder Seite erzeugt die Illusion eines bewegten Bilds.22 Das Blättern ist generell eine schnelle und unkomplizierte Möglichkeit, sich einen Überblick über den Inhalt zu verschaffen. Finger oder Daumen werden als Lesezeichen in den Buchblock geklemmt, wenn der Leseakt nur kurzzeitig unterbrochen wird.23 Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, als Sammelbände, bestehend aus mehreren Werken oder Ducken noch häufig sind, bringt der Buchnutzer am rechten Blattrand kleine überstehende Pergament- oder Papierstreifen und auch Lederknötchen an die erste Seite der neu beginnenden Einheit an. Am Buchschnitt entsteht so eine überstehende ›Treppe‹, die das Auffinden der einzelnen Werke erleichtert. Das Daumen- oder Griffregister aus vertieften, stufenförmigen Ausschnitten am Vorderschnitt von Wörterbüchern und anderen Nachschlagewerken folgt noch heute mitunter diesem Prinzip. Hinzu kommt die olfaktorische Wahrnehmung, die Gerüche, die die Materialien ausströmen, das Papier und die Druckfarben, Klebstoffe oder Einbandmaterial wie Leinen und Leder. Das alte oder gebrauchte Buch hat vielfältige Gerüche, die besonders das Papier durch den Alterungsprozess oder aus der Umgebung angenommen hat.24 Erinnerungen und Emotionen werden durch Gerüche ausgelöst (›Flashback‹). Der Gehörsinn (Akustik) ist über die Geräusche, z. B. ein Knarren des Einbands, den Klang des Papiers, an der Wahrnehmung des Buchs beteiligt. Keine Aufgabe hat der Geschmackssinn, es sei denn, das Buch wird ›einverleibt‹, gegessen, ein Motiv, das in Literatur und Kunst geläufig ist.25 Die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung des Buchkörpers über Haptik, Akustik und Olfaktorik prägt die Erwartungshaltung des Buchnutzers an das Lesemedium, noch bevor er sich der primären Funktion des Buchs zuwendet, dem Lesen, für das der Sehsinn zuständig ist.26 Die vielen Nutzungsformen und Handhabungen über den Buchkörper, die sich in den vielen Jahrhunderten der Geltung der Codexform entwickelt haben, stehen neben anderem der alleinigen Akzeptanz von E-Books als Lesemedien entgegen.
22 Vgl. Fölsch, Wiebke K.: Buch Film Kinetiks. Zur Vor- und Frühgeschichte von Daumenkino, Mutoskop & Co. Berlin 2011. 23 Vgl. dazu Schmidt, Peter: Die Finger in der Handschrift. Vom Öffnen, Blättern und Schließen von Codices auf spätmittelalterlichen Bildern. In: Stephan Müller u. a. (Hrsg.): Codex und Raum. Wiesbaden 2009 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien. 21), S. 85–125 (mit zahlreichen Abbildungen). 24 Ein Kunstprojekt widmet sich Gerüchen von Büchern: http://www.eyeheartbrains.org/index. php?/2010ongoing/smelling-the-books/ [eingesehen am 18.06.2015]. – Der Steidl-Verlag in Göttingen publizierte 2012 in Zusammenarbeit mit dem Magazin Wallpaper ein Parfüm mit dem Namen »Paper Passion«, das nach frisch gedruckten Büchern riechen soll. Die Umverpackung besteht aus einer nobel von Karl Lagerfeld gestalteten Buchattrappe; der ausgestanzte Buchblock enthält die Parfumflasche. 25 Vgl. Ott, Christine: Feinschmecker und Bücherfresser. Esskultur und literarische Einverleibung als Mythen der Moderne. München 2011. 26 Vgl. Kap. 2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen und Kap. 2.1.6 Typographische Lesbarkeitskonzepte in diesem Band.
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1.2.2 Die Handhabung des Codex Format, Umfang und Gewicht eines Buchs in der Codexform bestimmen die möglichen Körperhaltungen im Leseprozess. Der Typograph Jost Hochuli (1990, S. 14 f.) unterscheidet beim modernen Gebrauchsbuch grundlegend zwischen dem Buch für die Hand und dem Buch für den Tisch. Leichte und schlanke Bücher im Hoch- und Schmalformat können mit nur einer oder in beiden Händen gehalten werden und im Gehen, Stehen, Knien, Sitzen oder Liegen im gewünschten Abstand zum Auge gehalten werden. Diese Buchform ist wünschenswert für längeres, fortlaufendes Lesen, z. B. für Literatur, unterhaltende Texte oder populäre Sachbücher. Schaubücher mit Abbildungen hingegen haben ein größeres Hochformat oder ein Querformat: Häufige Buchtypen sind das wissenschaftliche Buch, das Fach- und Sachbuch, das Lehrbuch und der Fotoband; sie sind für den Tisch gedacht. Das Lesen kann auch von Schreibakten begleitet sein, um Anmerkungen ins Buch zu schreiben, zum Exzerpieren und Verfassen neuer Texte etc. Anne-Rose König weist darauf hin, dass der Akt des Lesens und die Positionierung vom Buch zum Auge vor allem auf individuellen Voraussetzungen beruht – z. B. durch das Sehvermögen – und durch Gewohnheit bestimmt wird: »Jede Lesesituation ist […] einzigartig und beeinflusst die Lesbarkeit auf spezifische Art und Weise« (König 2004, S. 118). DIN-Normen oder sonstige normative Empfehlungen, welchen Abstand ein Lesemedium zum Auge haben soll, also zur optimalen Positionierung, sind willkürlich. Einer der wichtigsten Einflussfaktoren auf eine optimale Rezeptionssituation ist die Intensität (Tageslicht oder künstliches Licht) und Richtung (direkt oder indirekt) der Beleuchtung. Ungünstige Voraussetzungen können neben störenden Einflüssen der Umwelt auch im Lesemedium selbst liegen: schlechtes Aufschlagverhalten des Buchs mit geringem Öffnungswinkel, Krümmungen des Papiers und bei hellem Licht stark reflektierende Papiere (vgl. König 2004, 119 f.). Lesebilder27 und Lesemöbel als Objekte der Sachkultur geben Aufschluss darüber, wie der Codex in der Lesegeschichte in unterschiedlichen Lesesituationen gehandhabt wurde. Viele Lesebilder zeigen mittelalterliche (männliche) Leser am Lesepult. Die großformatigen und – durch einen Ledereinband über Holzdeckeln – sehr schweren Bücher wurden auf einer schräg gestellten, planen Fläche studiert. Dies entsprach der natürlichen Haltung des Kopfs, auch das Tageslicht konnte so gut genutzt werden, um kleinere Schriften und Kommentare zu lesen (vgl. Hanebutt-Benz 1989, S. 24). Die Bedeutung des Lesepults für den Leseakt zeigen die unterschiedlichen Typen von Pultmöbeln: das seit der Antike verwendete einbeinige Schaftpult nur zum Lesen, Kastenpulte zum Lesen und (Ab-)Schreiben seit dem 9. Jahrhundert,
27 Zur Aussagekraft von Lesebildern für die Realienkunde vgl. Kap. 1.5 Historisch-hermeneutische Ansätze der Lese- und Leserforschung, Abschnitt 4.3 in diesem Band. Im genannten Artikel auch weitere Literatur.
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Setzpulte sowie die späteren mobilen, auch zusammenklappbaren Pulte für die Buchablage auf dem Arbeitstisch. Bewegliche Konstruktionen von Schreib- und Lesepulten im 15. Jahrhundert konnten Kopf- und Armbewegungen angepasst werden (vgl. den historischen Überblick bei Hanebutt-Benz 1989, S. 27–31). Das Lesepult überdauerte die Jahrhunderte, wenn auch meist als Stehpult im Gegensatz zum üblichen sitzenden Lesen an einem Tisch, der besonders im 18. Jahrhundert als Lesemöbel an Bedeutung gewann. Das im späten Mittelalter gebräuchliche Beutelbuch wurde mit einem Überstand des Leders an der Unterkante des Buchs gefertigt und zusammengeknotet; so konnte das Buch, meist kleinformatige religiöse Gebrauchsliteratur, an der Kleidung oder am Gürtel befestigt und gelesen werden, ohne dass es abgenommen werden musste. Weibliche Leserinnen des Mittelalters halten kleinformatige Stunden- und Gebetbücher für die private, erbauliche Lektüre oder Andacht auf dem Schoß, auch eingeschlagen in ein Tuch zum Schutz des Einbands. Leseräder sind eine Erfindung der Ingenieurskunst des 16. Jahrhunderts, erstmals vorgestellt in einer Konstruktionszeichnung von Agostino Ramelli (Le diverse et artificiose maschine, Paris 1588). Schräg gestellte Pulte kreisen um eine drehbare Achse, so dass in mehreren aufgeschlagenen, nebeneinander gelegten Büchern gelesen werden kann. Leseräder waren bis ins 18. Jahrhundert im Gebrauch (vgl. Hanebutt-Benz 1989, S. 89–92). Seit dem 18. Jahrhundert entstehen mit der Verfeinerung der bürgerlichen Wohnkultur Verwandlungsmöbel zum Lesen, die mehrere Funktionen vereinen, z. B. Lese- und Schreibtische, Sitzmöbel für längeres Lesen im Arbeitszimmer, gepolsterte Lesesessel und Liegestühle mit an der Lehne angebrachten beweglichen Lesetabletts. Dem Wechsel der Lesehaltungen – im Sitzen am Schreibtisch, Lesen am Stehpult oder im Sessel in entspannter Körperhaltung – trägt auch die Vielfalt der Lesemöbel im 19. Jahrhundert Rechnung (vgl. Hanebutt-Benz 1989, S. 109–112, S. 147 f.). Format und Gewicht der Bücher waren zwar nach wie vor wichtige Faktoren für die Lesehaltung, allerdings erlaubte unterhaltende Lektüre im kleinen Format (Oktav oder Duodez), z. B. Taschenbuch und Kalender, viele Lesehaltungen. Lesemöbel wurden für private Räume, wie das Damenzimmer oder die Bibliothek des Hausherrn, geschaffen. Lesepult und Lesen im Stehen spielen heute nur eine untergeordnete Rolle. Das studierende Lesen (mit gleichzeitigem Schreiben von Hand oder auf einer Tastatur) ist an den Schreibtisch gebunden. Privat wird in vielen individuellen Lesepositionen gelesen. Mobile, digitale Lesemedien28 werden heute vielfältig in alltägliche Situationen und Umgebungen eingebunden, nicht zuletzt auch im Gehen und beim Fahrradfahren, genutzt.
28 Vgl. Kap. 2.3.3 Lesen in digitalen Netzwerken in diesem Band.
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2 Lesen im Codexbuch 2.1 Lesefläche und Lesen auf der Doppelseite Die Organisation des Lesens im Codexbuch unterscheidet sich grundlegend von dem in der Buchrolle (vgl. Abschnitt 3.1), in einblättrigen (vgl. Abschnitt 4) und digitalen Lesemedien29. Für die Codexform ist charakteristisch, dass die Seiten um die Symmetrieachse des Bunds bewegt werden. Die Doppelseite des zweiseitig beschriebenen oder bedruckten Codexbuchs bildet den Rahmen für das visuelle Abtasten der Lesefläche mit den Augen, wobei die Aufmerksamkeit zunächst auf die rechte Seite gerichtet ist. Linke und rechte Seite sind aufeinander bezogen, so dass die Gestaltung in Handschrift und Druck stets von der Doppelseite ausgeht. Die Position des Schriftund Satzspiegels und die Breite der Randstege, die die Lesefläche rahmen und von der Umgebung trennen, sind in aller Regel auf der Doppelseite spiegelsymmetrisch aufeinander bezogen und damit deckungsgleich. Für die Anordnung der einzelnen Textblöcke und der Abbildungen gilt das Prinzip der Spiegelsymmetrie nicht, allerdings nehmen sie räumlich und gestalterisch aufeinander Bezug. Einige Textteile sind regelhaft der rechten Seite zugordnet: der Werkbeginn, der Beginn von Hauptkapiteln oder eigenständigen Einheiten in Sammelwerken. Das Titelblatt steht immer am Anfang des Buchs und auf einer rechten Seite. Neben die Raumbezeichnungen ›rechts‹ und ›links‹ treten ›oben‹ und ›unten‹, ›vorn‹ und ›hinten‹. Überschriften von Hauptkapiteln stehen am Beginn der Seite, ebenso wie Kolumnentitel. Wichtiges steht oben, weniger Wichtiges unten, wie die Fußnote, die auch überlesen werden kann. Das Prinzip von ›wichtig‹ und ›weniger wichtig‹ in der Wahrnehmung liegt auch der Differenzierung von Schriftgrößen und Auszeichnungen zugrunde: Je größer die Schrift, je mehr Raum sie beansprucht und je mehr sie durch Fettung / Schwärze oder Farbigkeit (rot) hervorgehoben wird, umso wichtiger wird der Inhalt eingeschätzt. Die räumliche Anordnung von Inhalten auf der Seite bewirkt einen ›Memory-Effekt‹: Der Leser findet Inhalte, Sätze oder Textpassagen wieder, weil er sich an deren räumliche Positionierung erinnert (vgl. Gross 1994, S. 63 f.). Im abendländischen alphabetischen Schriftsystem verläuft die Leserichtung von links nach rechts und zeilenweise von oben nach unten, d. h. sie folgt der Abfolge der Buchstaben und der Syntax: »Die Alphabetschrift ordnet die Zeichen in Reih und Glied. Mit ihr, so scheint es, hat sich die Linearität und Sequentialität der Schrift unanfechtbar durchgesetzt.« (Gross 1994, S. 61) Lesen geschieht auf der Fläche und in der Zeit. Neben die Raumdimensionen – Dreidimensionalität des Buchobjekts und
29 Vgl. Kap. 2.2.4 Digitale Lesemedien in diesem Band.
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die Zweidimensionalität der Lesefläche – tritt die Dimension der Abfolge, die Zeit. Der Typograph Jost Hochuli schreibt: Viel entscheidender [als die Symmetrie in der Buchgestaltung; Einfügung der Verf.] ist […], daß mit dem Einsetzen des Leseprozesses eine zeitliche Abfolge entsteht, daß zu den beiden Flächendimensionen und zur Dimension des Raumes – denken wir an den Buchkörper! – als vierte jene der Zeit tritt. Ein wesentliches Merkmal der Zeit beststeht aber darin, daß sie in ihrer Bewegungsrichtung nicht umkehrbar ist. (Hochuli 1991, S. 6)
Lineares Lesen bedeutet also nicht, dass die Leserichtung im gesamten Lesemedium ›linear‹ von vorn nach hinten verläuft, sondern die zeitliche Abfolge der Erfassung und Verarbeitung der Informationen ist unumkehrbar. Nur wenige Texte mit fortlaufender Handlung, in der Regel fiktionale Texte, geben diese Leserichtung vor, wobei auch hier ein Vor- und Zurückspringen oder Überspringen möglich ist. Für die einzelnen ausgewählten ›Lesepakete‹, Ausschnitte aus der räumlichen Abfolge im Buch, gilt, dass auch diese stets linear gelesen werden, aber zeitlich beliebig gereiht werden können. Für den größten Teil der Buchtypen ist diese Informationsentnahme vorherrschend, selbst wenn – wie in wissenschaftlichen Büchern, Fach- und Sachbüchern – die Inhalte i. d. R. aufeinander aufbauend präsentiert werden. Alle Arten von Nachschlagewerken in alphabetischer oder thematischer Reihung sind von vornherein auf die selektive Informationsentnahme ausgerichtet.
2.2 Skriptographie, Typographie und Leseverstehen Die meisten Leser müssen über eine umfangreiche typographische Erfahrung und Kenntnis verfügen, denn sie können eine Vielzahl an verschiedenen Schriften und typographischen Variationen erkennen. […] Alles spielt eine Rolle: auch Materialien wie Papier, Karton oder die Oberflächen von Bildschirmen. Dazu kommen Formate und Farben, Falz- und Bindetechniken und vieles mehr. In diesem Dickicht finden sich die meisten Leser gut zurecht. Das typographische Unterscheidungsvermögen des Durchschnittslesers muss also groß und detailreich sein. (Unger 2009, S. 15, 17)
So beschreibt der niederländische Typograph Gerard Unger in seinem Buch Wie man’s liest eine ›praktische Theorie‹, von der jeder Buch- und Schriftgestalter ausgeht, wenn er dem Leser ein Buch nahezubringen versucht. Zum Gestaltungsprozess rechnet Unger neben Schriftwahl und Layout auch die Entscheidung über Materialien und Bindearten. Denn das Codexbuch wird als materielles Objekt wahrgenommen, das die Erwartungen des Lesers und die Leserezeption beeinflusst. Wie ist die Entstehung dieses von Unger (und anderen) postulierten typographischen Wissens zu erklären, das zwar »hinter Schloss und Riegel« (Unger 2009, S. 15) liegt, aber offensichtlich von Lesern im Umgang mit dem Buch aktiviert werden kann? Wolfgang Raible (1991) und Barbara Frank (1994) haben, ausgehend von semiotischen Theorien zu den Funktionen geschriebener Sprache, einige Überlegungen in
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historischer Perspektive formuliert. Diese gelten für Handschriften ebenso wie für gedruckte Bücher, für Skriptographie wie Typographie.30 Ausgangspunkt ist der Übergang von gesprochener Sprache in Schrift. Im Lautkontinuum der Rede (Redekette) folgen Laut auf Laut, Wort auf Wort und Satz auf Satz. Wenn das flüchtige Wort in die Gegenständlichkeit des geschriebenen Texts übergeht, wird der eindimensionale lineare Zeitablauf, das Nacheinander des Sprechens, durch die Zweidimensionalität des Schriftträgers erweitert: »Die große Chance des geschriebenen Textes ist also seine Zweidimensionalität.« (Raible 1991, S. 6; vgl. auch Frank 1994, S. 14 f.) Ein Text, der über die einfache Aufzeichnung des Lautkontinuums hinausgeht, wird zum gestalteten Text, wenn mit graphischen Mitteln die innere Textstruktur sichtbar gemacht wird. Es entstehen skriptographische Mittel zur Textgliederung, Textauszeichnung und Texterschließung, die Teil eines gemeinsamen Erfahrungswissens der Leser werden: Die Aufzeichnungsfunktion von Schrift verändert sich zur Erfassungsfunktion (vgl. Frank 1994, S. 16). Frank betont, dass Texte »›Akte‹ oder Handlungen sind, die in konkreten Kommunikationssituationen auftreten. […] Für das Gelingen der schriftsprachlichen Kommunikation ist es daher nötig, daß der Schreiber während der Textproduktion die Rezeptionssituation, das Vorwissen, die Leseerwartungen und spezifischen Informationsbedürfnisse des Lesers ›vorhersieht‹.« (Frank 1994, S. 19) Schreiber und Leser müssen über ein Mindestmaß gemeinsamen Wissens verfügen: kognitive Konzepte31 und Konventionen. Erworben werden diese Kenntnisse ›beiläufig‹ mit dem Erlernen des Lesens und Schreibens, das in der Regel an Institutionen wie Schulen gebunden ist (vgl. Frank 1994, S. 13), sowie im habituellen Umgang mit Büchern, freilich auf individuell sehr unterschiedlichen Kompetenzstufen. Die professionelle Gestaltung von Schriftmedien hingegen erfordert eine spezialisierte Ausbildung, die zum Handwerk bzw. Beruf des Schreibers, Setzers und Typographen führt. Dieses Spezialwissen wurde stets in Schreibmeisterbüchern oder Lehr- und Fachbüchern für das Druckerhandwerk aufgezeichnet und weitergegeben.32 Zahlreiche Aufsätze, Monographien und Handbücher zur typographischen
30 In der Literatur wird missverständlich gelegentlich der Begriff ›Typographie‹ für das Layout der mittelalterlichen Handschrift verwendet, so Gumbert 1992. 31 Frank (1994, S. 21) unter Berufung auf Handlungstheorie und Psycholinguistik: »Eine wichtige Basis des gemeinsamen Wissens von Schreiber und Leser sind Konventionen, die sich innerhalb einer Kulturgemeinschaft für Formen sozialen Handelns herausgebildet haben. Die Kenntnis dieser Konventionen ist in Form bestimmter kognitiver Konzepte, die im Vorstellungsrahmen (Frames) mit einander verknüpft sind, im Gedächtnis der Angehörigen einer Kulturgemeinschaft vorhanden.« Vgl. auch Kap. 1.2 Kognitionspsychologische Ansätze in diesem Band. 32 Seit dem späten Mittelalter entstehen Schreibmeisterbücher; vgl. Doede, Werner: Bibliographie deutscher Schreibmeisterbücher von Neudörffer bis 1800. Hamburg 1958. Das erste Fachbuch für den Druckerlehrling ist Geßner, Christian Friedrich: Der in der Buchdruckerei wohl unterrichtete Lehrjunge bei der löblichen Buchdruckerkunst. Leipzig 1791; vorbildlich für die Fachliteratur des 19. Jahr-
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Gestaltung (neuerdings: Mediengestaltung) fassen seit dem 19. Jahrhundert Anwendungswissen aus auch sehr unterschiedlichen gestalterischen Positionen zusammen.
2.3 Leserlenkung: Auszeichnen, Gliedern, Erschließen und Kommentieren 2.3.1 Einleitung Jeder zu lesende Text, der dem Lesevorgang zugrunde liegt, enthält zahlreiche Signale der Lese- bzw. Leserlenkung. Betrachtet man das Phänomen ›Lesen‹ im interdisziplinären Kontext als Bedeutungskonstruktion aus schriftsprachlichen Symbolketten, stellt sich die Frage nach dem Ort und der Bedeutung gestalteter Schrift bzw. gestalteter Texte in diesem Prozess. Zunächst handelt es sich bei der Nutzung graphischer und visueller Reize für das Textverstehen um eine Kompetenz, die offensichtlich zusammen mit dem Lesen erworben wird: als Teil einer ›Literalität‹ im Umgang mit Schriftmedien, die über basales Lesen und Schreiben hinausgeht und in unterschiedlichen Graden beherrscht wird.33 Allerdings ist festzuhalten, dass bisher keine Modelle oder Untersuchungen, z. B. aus der Kognitionspsychologie oder Psycholinguistik dazu vorliegen, welchen Einfluss ein so oder anders gestalteter und erschlossener Text auf den Leseprozess hat.34 Semiotisch basierte Theorien, wie z. B. die von Susanne Wehde (Typographische Kultur 2000) oder die oben kurz vorgestellten von Wolfgang Raible und Barbara Frank, arbeiten zwar die Differenz von Schrift und Gestaltung – Skriptographie bzw. Typographie – auf der Zeichenebene heraus, ermöglichen aber nur implizite Rückschlüsse auf die Bedeutung konventionalisierter Textgestaltung für die Rezeption des Lesers und den konkreten Leseprozess. Ungeachtet dessen hat die historische Lese- und Leserforschung seit Langem – seit den 1990er Jahren unter dem Schlagwort ›Materialität der Kommunikation‹ – die gestalterischen Eigenschaften der Lesemedien in ihrer geschichtlichen Entwicklung beschrieben und die einzelnen skriptographischen und typographischen Ins-
hunderts ist u. a. Täubel, Christian Gottlob: Allgemeines theoretisch-praktisches Wörterbuch der Buchdruckerkunst und Schriftgießerei. 3 Bde. Wien 1805–1809; vgl. Wilkes u. a. 2010, S. 144 f. 33 Vgl. ausführlich zu kognitiven Konzepten von ›Literalität‹ Kap. 2.1.5 Schreibstrategien und Leseverstehen, Abschnitt 3.1 in diesem Band. 34 Vgl. den Hinweis zur Verarbeitung vertrauter und unvertrauter Schrift in Kap. 2.1.1 Lesen als neurobiologischer Prozess, Abschnitt 3.1.1, sowie zu empirischen Forschungen zur Lesbarkeit Kap. 2.1.6 Typographische Lesbarkeitskonzepte, Abschnitt 1.2 in diesem Band.
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trumente heraus präpariert.35 Auf dieser Basis werden in den folgenden Kapiteln explizite Mittel (u. a. Auszeichnen, Gliedern, Erschließen und Kommentieren) der Leserlenkung36 in systematischer und historischer Perspektive vorgestellt. Vorauszuschicken ist erstens, dass hier auf der Grundlage der vorhandenen Forschungsliteratur nur ein Ausschnitt vorgestellt werden kann, und zweitens nicht angestrebt wird, eine feste Korrelation zwischen Buchtypen bzw. einzelnen Schriftmedien und Leserlenkung herzustellen. Fast alle der im Folgenden vorgestellten Mittel, mit denen Schreiber und Setzer bzw. Lektoren einen Text einrichten, sind allgemeiner Art und nicht an bestimmte Textsorten gebunden, sondern werden für den jeweiligen Zweck gewählt, kombiniert oder kumuliert.
2.3.2 Die graphischen Mittel der Leserlenkung in systematischer Sicht Für das Leseverstehen im Codex sind besonders die expliziten Mittel der Leserlenkung von Bedeutung. Sie lassen sich folgenden Gruppen37 zuordnen: (1) Te x t au sz eichnu ngsm it tel , die an die geschriebene Sprache (Semantik, Syntax) gebunden sind: Hervorhebung von Wörtern und Textteilen durch Unterstreichung, Kursivieren und Fetten, Hinterlegen durch Rasterung und Farbe (»aktive Auszeichnungen«, Willberg / Forssman 2010, S. 134 f.); weiter Sperrung, Schriftgröße, Schriftmischung und Auszeichnungsschriften (von der Grundschrift abweichende Schriften); zu dieser Gruppe werden auch sprachstrukturelle Mittel wie die Worttrennung durch Spatien, die Gliederung syntaktischer Einheiten durch Interpunktion und Groß- und Kleinschreibung gerechnet. (2) Te x tgliederu ngsm it tel ; diese gliedern den Aufbau des Texts und erschließen die textinterne Makrostruktur; die wichtigsten sind Absätze und Absatzeinzüge (historisch: Paragraphen- bzw. Rubrikzeichen); Initialen (auch: Schmuck initialen), die über ihre Gestaltung und Größe Texthierarchien ankündigen, Überschriften und Unterüberschriften (Zwischenüberschriften). Hinzu kommen Gliederungsmittel, die nicht sprachlich gebunden sind und zum dekorativen Buchschmuck gehören: Linien und Zierlinien (historisch: Randleisten), Vignetten und weitere symbolische Formen (historisch: drei Sterne, Kreuze oder sonstige besonders im 17./18. Jahrhundert beliebte typographische Zierstücke etc.;
35 Vgl. Kap. 1.5 Historisch-hermeneutische Ansätze der Lese- und Leserforschung, Abschnitt 3.2 in diesem Band. 36 Vgl. Kap. 2.1.6 Typographische Lesbarkeitskonzepte in diesem Band zu Mikrotypographie und Schriftwahl etc. unter dem Aspekt der Lesbarkeit sowie ebd. Abschnitt 4. 37 Die hier vorgestellte Systematisierung erhebt keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit; sie ist für diesen Beitrag konzipiert. Vgl. auch die Systematik bei Frank 1994, S. 26–29; Wehde 2000, Teil II; Willberg / Forssman 2010; der inzwischen häufig und unspezifisch verwendete Begriff des ›Paratexts‹ wird vermieden.
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modern: Dingbats38) zur Hervorhebung, zur Teilung und zum Abschluss von Kapiteln und Textteilen etc. Linien trennen z. B. Kolumnentitelstrich und Fußnotenstrich vom Werktext. (3) Te x te r s ch li eßu ngs- u nd Bu cher schließungs mittel; zu den Texterschließungsmitteln gehören alle sprachlich gebundenen ›Metatexte‹, die sich auf einzelne Textstellen richten, wie z. B. Register; Bucherschließungsmittel beziehen sich auf Buch und Buchaufbau, wie Titelblatt (stets am Beginn des Buchs), Inhaltsverzeichnis (am Beginn oder Schluss des Buchs), Kolumnentitel sowie die auf Zahlzeichen beruhende Foliierung und Paginierung (in Kopf- oder Fußzeile). (4) Ko m m e n t i e r ung; den vielfältigen Formen der Kommentierung ist gemeinsam, dass Kommentar und kommentierter Text sich möglichst eindeutig und mühelos aufeinander beziehen sollen. Die Zuordnung auf der Seite geschieht über die Flächenaufteilung (Flächensyntax): Kürzere Glossen stehen am Seitenrand nahe der kommentierten Stelle (Marginalie) oder zwischen den Zeilen (Interlinearglosse); Text und Kommentar können durch Zuordnungszeichen wie Zahlen und Symbole (u. a. Kreuz, Stern, weisende Hand) verbunden werden. Die Fußnote steht am Ende der Seite und wird durch eine Fußnotenziffer zugeordnet. Für umfangreichere Kommentare, die parallel zum kommentierten Text gelesen werden sollen, eignen sich mehrstufige, komplexe Layouts: Text und Kommentar laufen in eigenen Kolumnen nebeneinander. Wenn die fortlaufenden Textmengen unterschiedlich groß sind, kann die Spaltenbreite variiert werden, so dass ein simultanes Lesen möglich bleibt. Die Kommentarspalte kann auch wie eine Klammer den kommentierten Text umschließen. Am Ende des kommentierten Kapitels, Aufsatzes oder Gesamtwerks steht die Endnote; sie muss durch Blättern und/oder Kolumnentitel mühsam aufgesucht werden. Der umfangreiche (kritische) Apparat befindet sich am Ende der Seite oder am Ende des Werks. (5) S o n d e r f o r m en der Textergänzung: Hier sind eigenständige Informationsmittel zu nennen, die den Text ergänzen und seine Inhalte strukturieren. Zu nennen ist die Tabelle, eine listenförmige Zusammenstellung, die der Übersicht und der Zusammenfassung komplexer Inhalte und deren strukturierter Darstellung dient. Eine Tabelle ist eine zweidimensionale Matrize, die verbale oder mathematische Informationen erschließt. Vorstufen sind logisch-begriffliche Baumstrukturen (›figurae‹), in denen Begriffe mit Hilfe von Linien oder geschweiften Klammern zergliedert werden (vgl. Raible 1991, S. 15 f.). Ebenso zu nennen sind alle Arten von Diagrammen. Zu den wichtigsten, nicht-sprachlichen Textergänzungen gehört die bildliche Darstellung. Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, die Text-Bild-Beziehungen auch nur annähernd systematisch zu beschreiben, auch wenn das Bild stets ein
38 Vgl. Weichselbaumer, Nikolaus: Zierrat. In: Rautenberg 2015a, S. 436.
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wichtiger Teil des Buchs war und ist und Text und Bild als sprachliche und ikonische Zeichen sich mit ihren medialen Möglichkeiten ergänzen.39 Neben der buchkünstlerischen Illustration fiktionaler Inhalte ist die (Sach-)Darstellung medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Inhalte hervorzuheben. Für die letztere ist für die Informationsentnahme durch den Leser entscheidend, dass bildliche Information und sprachliche Erläuterung exakt aufeinander bezogen werden können, entweder über die räumlich nahe Einschaltung der Abbildungen in den Text oder durch Verweissysteme wie Bildunterschriften, Zuordnung von Bildelementen mit Hilfe von Zahlen und Buchstaben oder sonstigen Symbolen.
2.4 Die Mittel der Leserlenkung in der Buch- und Lesegeschichte 2.4.1 Einleitung Die folgenden Ausführungen stellen die wichtigsten Mittel der Leserlenkung in knappen Grundzügen in ihrer geschichtlichen Einwicklung dar. Zunächst ist festzuhalten, dass das Auftreten und die immer weitere Verfeinerung des Systems von leseleitenden Gliederungs-, Auszeichnungs- und Erschließungsmitteln, das wie eine zweite Ebene über dem in Schrift (und Bild) codierten ›Inhalt‹ liegt, von verschiedenen Faktoren bestimmt wird. Da ist zunächst das Trägermedium, dessen Materia lität und Herstellungstechnik die Aufzeichnungstechniken beeinflusst, weiter der Buchtyp (wissenschaftliches Buch, Fach- und Sachbuch, Nachschlagewerk, Literatur und Belletristik, illustriertes Buch etc.).40 Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass einzelne leserlenkende Mittel sich nach ihrem Erscheinen mit oft erheblicher zeitlicher Verzögerung und abhängig von Buchtypen durchsetzten: je nach Region, Sprache und Schreibzentren. Geänderte soziokulturelle Rahmenbedingungen tragen neue Ansprüche an Lesemedien heran.41 Die Geschichte des Lesens und Lesers und die Epochen der Lese(r)geschichte spiegeln sich in den Lesemedien und ihrer Gestaltung. Neue, innovative Techniken der Buchherstellung entstehen mit neuen Ansprüchen, nicht selten aber sind die konkreten Veränderungen ›technikinduziert‹, da die technischen Möglichkeiten die Art und Weise vorgeben, wie bestimmte Probleme gelöst werden. Prominentes Beispiel ist der Hochdruck mit beweglichen Lettern, der den handschriftlich einfachen Schriftfarbenwechsel – Tinte und Schreibwerkzeug werden ausgetauscht –
39 Vgl. den Überblick von Mirwald-Jacobi 2004, S. 194–221. 40 Vgl. Honemann 2000 zum historischen Buch; für das moderne Buch eignet sich Pohl, Sigrid / Umlauf, Konrad: Warenkunde Buch. Strukturen, Inhalte und Tendenzen des deutschsprachigen Buchmarkts der Gegenwart. 2., erneuerte Aufl. Wiesbaden 2007. 41 Vgl. dazu Kap. 4 Funktionen und Leistungen des Lesens in diesem Band.
2.2.2 Das Buch in der Codexform und einblättrige Lesemedien
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in Druckerschwärze und durch Leerräume in Flächenhierarchien umsetzt. Der folgende Überblick kann lediglich die wichtigsten Stationen skizzieren.
2.4.2 Innovationen von der Spätantike zum frühmittelalterlichen Codex In der Spätantike bildete die Seite der Handschrift eine »unauflösliche Einheit« (Frank 1994, S. 7), die im Übergang zum frühmittelalterlichen Codex nach und nach graphisch und mit leserlenkenden Mitteln erschlossen wurde. Besonders zwei folgenreiche Veränderungen sind zu nennen: die (Wieder‑)Einführung der Trennung semantischer Einheiten durch Spatien und eine individuell gegliederte Seitengestaltung. In der lateinischen Antike war die Handschrift ein Schriftspeicher, der vor allem die Funktion hatte, die mündliche Rede wieder aufleben zu lassen: In Antiquity the written word was regarded as a record of the spoken word, and texts were usually read aloud. But from the 6th century onwards attitudes to the written word changed: writing came to be regarded as conveying information directly to the mind through the eye […]. The written medium developed as a separate manifestation of language with a status equivalent to, but independent of that of any spoken counterpart. (Parkes 1992, S. 1)
In der spätantiken Schreibpraxis der ›scriptio continua‹42 wurden Wörter und Sätze nicht segmentiert und in nur einer Schrift, in Majuskeln oder Minuskeln, geschrieben. Die Bedeutungserschließung aus dem gleichförmigen Schriftband erfolgte über eine Reoralisierung. Paul Saenger bindet nun das leise Lesen an die Einführung der Wor ttre n n ung mit einem Spatium (1982, 1997). Seit dem ausgehenden 7. Jahrhundert wurde die Praxis der Worttrennung zunächst von irischen Mönchen geübt, die Latein über die Schrift und die Grammatik wie eine Fremdsprache lernen mussten, während den Latein sprechenden Römern und den mehrsprachig, auch Latein Lesenden der römischen Provinzen die Segementierung leicht fiel (vgl. u. a. Voeste 2016). Saengers Thesen werden in der Forschung kontrovers diskutiert,43 denn auch in der Antike war der Lesemodus des leisen Lesens nicht ausgeschlossen, selbst wenn der Vortrag vorherrschte. Ungeachtet der Kritik besteht aber großer Konsens darüber, dass mit
42 Vgl. Voeste 2016; danach hat sich das durchgehende Schreiben im 1. Jahrtausend v. Chr. im syrischpalästinensischen Raum entwickelt und ging mit der Übernahme des griechischen Alphabets im 2. Jh. n. Chr. an die Römer über. Zur Einordnung der ›scriptio continua‹ in den Leseprozess vgl. bes. Kap. 2.2.1 Die Buchrolle und weitere Lesemedien in der Antike, Abschnitt 2.3 in diesem Band. 43 Vgl. die Zusammenfassung sowie die Kritik der Thesen bei Glauch / Green 2010, S. 384–386; Ment zel-Reuters (2010, S. 417) weist darauf hin, dass nicht, wie von Saenger behauptet, die angelsäch sische Mission die ›scriptio discontinua‹ auf den Kontinent gebracht habe. Er verweist auf karolingische Handschriften des frühen 9. Jahrhundert und wirft Saenger eine »erschreckende Unkenntnis des kontinentalen Handschriftenerbes« vor. – Vgl. auch Kap. 4.1.2 Mittelalter in diesem Band.
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dem frühmittelalterlichen Codex eine neue visuelle Kultur des Lesens beginnt und ein neuartiges Lesemedium entsteht. Malcom B. Parkes (1992) untersucht die Geschichte der Interpunktion und der verwendeten Symbole. In der Spätantike hatte danach die Interpungierung der ›scriptio continua‹ vor allem die Funktion, das mühsame Entziffern zu erleichtern und rhetorische Pausen anzuzeigen; nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs und als Latein außerhalb Roms zur nicht mehr gesprochenen Schriftsprache wurde, erleichterten Interpunktionszeichen das (stille) Lesen (»Grammar of legibility«). Parkes’ Darstellung krankt leider daran, dass er zwei verschiedene Untersuchungsstränge getrennt führt: die Entwicklung der Symbole und ihrer Funktion innerhalb der Schrift und der Rezeption durch den Leser, ohne dass diese durch Forschungsfragen verbunden werden.44 Beobachtungen, die weitgehend auf paläographischen Befunden beruhen, bedürfen der Ergänzung durch methodisch abgesicherte sprachhistorische Untersuchungen. So ist für die Handschrift zu konstatieren, dass »interpungierende, orthographische und hervorhebende Mittel zu Repäsentationssystemen werden, die […] funktionell auf Makrostrukturen wie Kapitel, Absätze und Abschnitte und auf syntaktische Kategorien wie Gesamtsätze, Teilsätze und Satzgliedteile verweisen« (Simmler 2003, S. 2473). So kann Franz Simmler an einer Untersuchung von Handschriften der Bendiktinerregeln zeigen, dass die innere Organisation von Texten in Absätze und Abschnitte wesentlich älter ist als das 12. Jahrhundert und mit Kombinationen unterschiedlicher Markierungszeichen wie Initiale, Majuskel, Ziffer, Farbauszeichnung etc. erfolgt (vgl. Simmler 2003, S. 2473). Interpungierungszeichen sind nicht monofunktional, sondern in ein Merkmalbündel von Repräsentationsformen integriert. In althochdeutscher Zeit können diese Systeme syntaxrelevant sein und stehen im Zusammenhang mit der karolingischen Minuskel und den Schriftreformen Karls des Großen (vgl. Simmler, 2003, S. 3477). Eng mit der Entstehung des Codex als Lesemedium ist auch die semantische Aufladung der Flächeneinteilung und Flächenhierarchie auf der Seite verbunden. Gegenüber der waagerechten, endlosen Reihung von Kolumnen in der Buchrolle bekam die Seitengestaltung einen festen Rahmen: das rechteckige Format der separaten Seite mit einem Schriftspiegel, umgeben von leeren Randstegen. So entstanden mehrspaltige Seitenlayouts, wobei die (schmalen) Stege zwischen den Kolumnen diese räumlich voneinander trennen. Ein- oder zweispaltige Layoutvarianten dominieren zunächst, aber im Laufe des Mittelalters setzt sich, abhängig von Buchtyp – besonders zu nennen ist der Kommentar – und (großem) Buchformat, der zwei- und mehrspaltige Schriftspiegel durch, wobei der Zeilenabstand bei großer Textmenge
44 Vgl. bes. die Rezension von Ralph Hanna. In: Huntington library quarterly 57 (1994), Heft 4, S. 377– 382.
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verringert wird (vgl. Wolf 2013, S. 154). Nach Wolf ist aber das »typische Buch des Mittelalters […] die einfache klein- bis mittelformatige, einfach gestaltete ein- bis zweispaltige, anfangs locker, später dicht bis eng beschriebene Gebrauchshandschrift« (Wolf 2013, S. 158). Dieser Buchtyp, der für die verschiedensten Inhalte und Informationsbedürfnisse offen ist, spiegelt eine ›Normalität‹ des Lesens wider, die sich jenseits des repräsentativen Schaubuchs und des wissenschaftlichen Studienbuchs vollzieht. Die Dekoration ist sparsam: mit der Feder ausgeführte Initialen oder Lombarden und rote Tinte zur Kennzeichnung von Überschriften und Textbeginn. Kapiteltitel und Inhaltsverzeichnisse sind in der Buchrolle die »großen lesetechnischen Neuerungen« (Frank 1994, S. 66), die ihr Vorbild in der juristischen Epigraphik haben. Spätantike Pergamentcodices des 4./5. Jahrhunderts haben nahezu ausnahmslos fortlaufende Seiten- und Kolumnentitel (vgl. Frank 1994, S. 6). Bereits in vorkarolingischer Zeit werden Buchstaben am Beginn einer syntaktischen Einheit groß geschrieben oder Eigennamen hervorgehoben (vgl. Gumbert 1992, S. 290). Initialwörter und Initialzeilen werden durch Großschreibung oder Farbe markiert. Erst der frühmittelalterliche (lateinische) Codex entwickelt dauerhaft ein System der Schrift- und Textgestaltung und der Gliederung, dessen Grundformen im geschriebenen und gedruckten Buch bis heute andauern. Die wichtigsten Neuerungen werden im Folgenden kurz aufgeführt. Im »Grenzbereich zwischen Skript und Text« (Ludwig 2005, S. 107) bewegt sich die h i e r a rch i s che Gliederung des mittelalterlichen Werks in die Makrostrukturen Buch, Kapitel und Abschnitt, die auf gestalterische Entscheidungen des Schreibers oder den Autor (als Teil des Werks) zurückgehen. In der Übergangszeit von der Spätantike zum frühen Mittelalter entstehen mehrstufige Gliederungssysteme, die durch Überschriften, Zählung, Initialen, Paragraphenzeichen (Rubrikzeichen) markiert werden; sie sind im gesamten Mittelalter geläufig (vgl. Palmer 1989, S. 56) und werden modifiziert in das gedruckte Buch übernommen. Nigel Palmer hat die Gliederungsprinzipien mittelalterlicher lateinischer und volkssprachlicher Handschriften systematisch untersucht. Er kommt zu folgender Unterscheidung: (1) Werk als Einheit, (2) gezählte Büchereinteilung, (3) gezählte Büchereinteilung mit weiterer Untergliederung durch Initialen ohne oder (4) mit Kapitelüberschriften. Inhaltsregister am Anfang oder am Ende des Buchs (Gesamtregister) beziehen sich auf Überschriften und Kapitelzählungen (Palmer 1989, S. 53). Die Präsentation von Kommentar und Text auf einer Seite kommt im 8. Jahrhundert zunächst vereinzelt vor und setzt sich in der Karolingerzeit als Interlinearund Marginalglosse durch. Seit dem frühen Mittelalter ist es ein didaktisches Bedürfnis, Text und Auslegung auf einer Seite darzubieten: Mit der Scholastik entsteht ein ausgeklügeltes System für Studium und Unterricht (vgl. Abschnitt 2.4.3). Mit der Entwicklung der karolingischen Minuskel um 780 trat an die Stelle der bisherigen Verwendung von nur einer Schrift eine einheitliche Verwendung und Hier a rch i s i e r ung mehrerer S chriften, die an die Textstruktur gebunden war: »Für Buch-, Kapitel- und Textbeginn und Kolophone bildete sich die feste Rangfolge Capi
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talis Quadrata, Unziale und Halbunziale heraus.« (Frank 1994, S. 78)45 Dies ist der Anfang einer skriptographischen und typographischen Konvention, in der Schriftmischung und unterschiedliche Schriftgrößen für Schlüsselstellen im Buch – Buch- und Werkbeginn, Kapitelüberschriften und Kapitelbeginn, Schlussschrift, im Buchdruck auch das Titelblatt – in den vielfältigsten Varianten eingesetzt werden. Die I nit iale ist an Schlüsselstellen wie Buchbeginn und Werkbeginn, Kapitel beginn und Kapitelüberschrift gebunden. Bis zum 9. Jahrhundert entstanden in Frankreich und Großbritannien alle später noch gebräuchlichen (künstlerischen) Formen der Initiale, zur Markierung von Großabschnitten, wie Werk und Buch, und Textabschnitten wie Kapitel (vgl. Mirwald-Jacobi 2004, S. 171–187, mit weiterer Literatur). Die künstlerisch ausgeführte, besonders die historisierte (belebte) Initiale, steht im Grenzbereich zwischen Gliederungselement und Bilderzählung. Das antike Buch ist nur sehr selten mit Illustr ationen ausgestattet, Buchrollen seltener als der frühe Codex. Die frühesten bedeutenden Beispiele sind aus der Zeit um 400 erhalten. So steht das Aufkommen der bildhaften Elemente, die nicht wie in der Rolle häufig an den Rand verlegt, sondern in den Text eingeschaltet sind, ebenfalls in Zusammenhang mit den Innovationen des frühmittelalterlichen Codex und der gegliederten Seite (vgl. Ludwig 2005, S. 101 f.) zu sehen. Der Codex ist gegenüber der Papyrusrolle in besonderer Weise zur Aufnahme von Buchillustration geeignet: durch die plane und glatte Oberfläche von Pergament für die Deckmalerei im repräsentativen Buch oder der Prachthandschrift, später der kolorierten Federzeichnung auf Papier, weiter den Seitenrahmen, der eine enge Bindung der (gerahmten) Illustration an die Fläche der Schriftkolumne oder der einzelnen Spalte bietet, und schließlich die Möglichkeit des Vor- und Zurückblätterns im Buch. Narrative Illustrationen können textbegleitend erzählen oder sich auf eine konkrete Textstelle beziehen; zudem hat die Illustration die Funktion, den Text zu gliedern und bietet Haltepunkte für das Auge (vgl. Mirwald-Jacobi 2004, S. 224).46
45 Vgl. auch Ludwig 2005, S. 116 f.; zur den mittelalterlichen Schriften vgl. Schneider 2014, S. 13–86. 46 Zur Geschichte der westeuropäischen Buchmalerei vgl. zur Einführung besonders Mirwald-Jacobi 1994, S. 223–278 (mit weiterführender Literatur), sowie (umfangreicher) die bisher erschienenen einschlägigen Bände (1, 3, 4 und 6) der Reihe Geschichte der Buchkultur (Graz 1999 ff.). Zu nennen ist das Standardwerk von Kurt Weitzmann: Illustrations in roll and codex. A study of the origin and method of text illustration. Princeton 1947. Zum Text-Bild-Verhältnis in der mittelalterlichen Handschrift s. die Literaturangaben bei Lutz (2010, S. 21 f., Anm. 40, 41) sowie zur Text-Bild-Forschung der mittelalterlichen volksspachlichen Handschrift Glauch / Green (2010, S. 394–396).
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2.4.3 Das Layout des wissenschaftlichen Buchs der Scholastik Im 12. Jahrhundert trat das analysierende (wissenschaftliche) Lesen neben die bisherige, subvokalisierende ›ruminatio‹ der klösterlichen Lektüre als geistliche Übung.47 Dies gilt als eine der bedeutendsten Zäsuren in der Geschichte des Lesens. War die ›lectio‹ in der Antike eine sorgfältige Lektüre von Texten als Grundlage für die Urteilsbildung, bezeichnet sie nun das kommentierende Vorlesen im Lehrbetrieb (vgl. Weichselbaumer 2013, S. 63). Das neue scholastische Lesen ist an Schule und Universität gebunden, an akademische Leser, Lehrende und Studierende. Die Wiederentdeckung der Aristotelischen Logik im 13. Jahrhundert (vgl. Parkes 1976, S. 119) initiierte eine neue Methode der Analyse und Strukturierung von Argumenten und der Kommentierung, die sich in Textgliederung und Seiteneinrichtung niederschlug. Das lineare, ununterbrochene Lesen löste sich auf in ein gleichzeitiges Lesen von Text und Kommentar und brachte eine neue intellektuelle Sensibilität für Gliederung und logische Argumentationsschritte mit sich. Hinzu traten Kompilationen, ›Summen‹ großer Wissensbestände, in denen Themengebiete zusammengefasst und aufbereitet wurden, um die Fülle des Wissens zu bewältigen. Parkes hat bereits 1976 in einem längeren Aufsatz The influence of the concepts of Ordinatio and Compilatio on the development of the book diese Veränderungen dargestellt. Um den oft komplexen und ausgeklügelten Argumenten folgen zu können, verlangte der Leser nach Hilfen, mit denen er Struktur und Gliederung, die innere Organisation der Lektüre, nachvollziehen konnte. »To think became a craft« (Parkes 1976, S. 117). Bereits im frühmittelalterlichen Codex sind zahlreiche Mittel eingeführt worden, die nun übernommen und verfeinert wurden. In spätantiken Pergamentcodices gab es Kolumnentitel, die zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten waren, aber im 13. Jahrhundert von Schreibern und Rubrikatoren weiterentwickelt und durch blaue und rote Farbe hervorgehoben wurden. Kolumnentitel wurden nun standardmäßig für alle möglichen Textsorten verwendet. Hinzu kamen alle Arten von Verzeichnissen: Kapitelüberschriften wurden zusammengefasst, Sachregister nach der Reihenfolge der Themen, alphabetische Indices und Konkordanztabellen erstellt (vgl. Parkes 1976, S. 122 f.; vgl. auch Frank 1994, S. 92). Die Initiale zeigte in abgestimmten Größen Texthierarchien an (vgl. Frank 1994, S. 86 f.). Kommentar und Glosse nahmen in der Scholastik einen weitaus größeren Stellenwert ein als noch im frühen Mittelalter. Dies schlägt sich auf der Seite in einer ausgefeilten Mehrspaltigkeit als »buchtechnische Aufgabe« nieder:
47 Diese These wurde von Ivan Illich (1991) popularisiert, vgl. Abschnitt 2.3.1. – Zum Konzept der scholastischen Lektüre vgl. u. a. Hamesse 1999, zu scholastischen Leseformen nach Quellen Weichselbaumer 2013, zum Schreibbetrieb Ludwig 2005, S. 141–146. – Vgl. auch Kap. 4.1.2 Mittelalter in diesem Band, bes. Abschnitt 3.1.
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Unabhängig davon hat die Unterrichtspraxis, hat die nie erlahmende gelehrte Kommentararbeit des Mittelalters stets aufs neue nach Formen einer unmittelbaren Gegenüberstellung von Text und Kommentar gesucht. Hier wird das Problem der literarischen Technik zur buchtechnischen Aufgabe. Je strenger der Charakter eines Stellenkommentars (Apparatus) gewahrt bleibt, umso stärker verlangt der Textbezug nach der synoptischen Anordnung, nach der Darbietung des Doppeltextes etwa in Parallelspalten oder in gleichwertigen Formen, die geeignet sind, das visuelle Erfassen des Zusammenhanges zwischen Textstelle und Interpretament zu unterstützen. (Powitz 1979, S. 80)
Nach Gerhard Powitz (1979, S. 87) sind die sechs hauptsächlichen Einrichtungsformen von Text- und Kommentarspalten im hohen und späten Mittelalter: Zwei- und DreiSpalten-Typ (auch mit Einschüben von Kommentar in der Textspalte), GlossenbibelTyp (charakteristisch für die französische Glossenbibel des 13. Jahrhunderts, Text und Glosse werden zu einem einheitlichen Block zusammengefügt), Vier-Spalten-Typ (als Klammerform charakteristisch für Bologneser Rechtshandschriften des 13./14. Jahrhunderts48), alternierender Typ (Text- und Kommentar wechseln einander in kleinen Leseeinheiten ab) und Marginalglosse (Kommentar auf Seitenrändern, charakteristisch für die spätmittelalterliche Studienhandschrift). Diese Arbeit am schriftlichen Text, soweit sie nicht vom Autor vorgegeben war, war die Aufgabe der Produzenten der Handschriften, den Schreibern, die als geistliche wie auch als Laienschreiber während des gesamten Mittelalters in den kirchlichen Institutionen ausgebildet wurden (vgl. Frank 1994, S. 91). Wenn Parkes (1979, S. 116) einleitend auf das fortdauernde Abschreiben bzw. Umschreiben von Werken verweist und darauf, dass von Jahrhundert zu Jahrhundert die Präsentation von Texten verbessert und ihre Organisation für neue Leseansprüche klarer herausgearbeitet wurde, zeigt dies die Fähigkeiten der Schreiber. Anders als im frühen Mittelalter, als Schreiber und Leser meist dem gleichen klösterlichen Umfeld angehörten und die Kommunikationssituationen ritualisiert vorgegeben waren, sind seit dem hohen Mittelalter die Gebrauchskontexte von Handschriften nicht mehr vorauszusehen. Die Seiteneinrichtung für den akademischen, still studierenden Leser muss den unterschiedlichen Leseweisen durch möglichst allgemeine Verwendungsmöglichkeiten entgegenkommen. Der Leser entscheidet nun, wie er einen Text rezipiert (vgl. auch Frank 1994, S. 93 f.).
48 Dolezalek (2009) hat juristische Handschriften des römischen und kanonischen Rechts im 12. und 13. Jahrhundert auf ihre Kommentarpraxis genauer untersucht. Standardisiert wurde nicht nur die Seiteneinrichtung, sondern auch die Aufteilung der Blattränder (vgl. Dolezalek, Gero R.: Raumgestaltung auf Blatträndern juristischer Studientexte im 12. Jahrhundert. In: Stephan Müller u. a. [Hrsg.]: Codex und Raum. Wiesbaden 2009 [Wolfenbütteler Mittelalter-Studien. 21], S. 185–194, hier S. 187 f.) Als Arbeitshilfen dienen sieben unterschiedliche Apparate, die einen eigenen Raumbereich auf den Seitenrändern hatten. Ab dem 13. Jahrhundert werden die Glossenapparate vereinfacht, da die ›Glossa ordinaria‹ des Accursius sich durchgesetzt hat (vgl. Dolezalek 2009, 193 f.).
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2.4.4 Der Buchdruck und die Entstehung des ›modernen‹ Buchs Die spätmittelalterliche Handschrift unterscheide sich stärker vom frühmittelalter lichen Codex als vom frühen gedruckten Buch: Diese These Parkes’ (1976, S. 135) ist nachvollziehbar, wenn man sie – wie Parkes es tut – auf den Codex als Lesemedium fokussiert. Zwischen handschriftlichem Schreiben und Drucken mit beweglichen und vielfachen Lettern besteht auf den ersten Blick eine große Ähnlichkeit: Beispiele sind die 42-zeilige Bibel als erstes ausgereiftes Codexbuch in der neuen Technik sowie generell frühe Drucke bis ca. 1480. Diese lehnten sich noch naturgemäß an zeitgenössische handschriftliche Vorlagen an, nach denen der Satz eingerichtet wurde: Das Urteil über die vermeintliche ›Nachahmung‹ ist nur aus der Rückschau typographischer Tradition möglich.49 Die frühen Drucker kannten die umlaufenden Handschriften, ihnen war das implizite Wissen über Buch- und Schriftgestaltung im Einklang mit Buchtyp und Ausstattungsniveau geläufig; auf dieses Wissen hin wurde die technische Umsetzung modelliert. Es ist kaum anzunehmen, dass im Nukleus der Mainzer Werkstatt Gutenbergs und Schöffers bereits alle ökonomischen Folgen und soziokulturellen Folgen der Erfindung absehbar waren. Die Buchproduktion verschiebt sich von der Bedarfsdeckung auf die Bedarfsweckung, ein ökonomischer Wettbewerb entsteht. Unter diesen Bedingungen setzten Rationalisierungsmaßnahmen in Typen, Schrift und Satz ein, die skripturale Traditionen entschlackten und vereinfachten. Viele dieser Veränderungen hin zu Vereinfachung und Standardisierung erwiesen sich nachträglich als ›leserfreundlich‹ (vgl. auch Saenger 1996, S. 243). Die Menge der Exemplare und die größere Buchverfügbarkeit gingen Hand in Hand mit einer seit dem späten Mittelalter steigenden Lesefähigkeit und der Entstehung neuer Leserschichten in den Städten unterhalb des Adels und Großbürgertums.50 Spätestens im 16. Jahrhundert richteten sich Layoutkonventionen in volkssprachlichen Drucken auch auf die neuen Leser aus. Ebenso wie die Schreiber scholastischer Handschriften bei der Seitengestaltung das akademische Lesepublikum im Sinn hatte, lernten die Setzer mit den ihnen vorhandenen Mitteln Layouts an unterschiedliche Lesergruppen anzupassen (vgl. Rautenberg 2015b). Die Ähnlichkeit zwischen Handschrift und frühem Druck wurde stets am Beispiel fertig ausgestatteter Exemplare konstatiert. Dies täuscht jedoch darüber hinweg, dass die frühen gedruckten Buchexemplare, wie sie Presse und Offizin verließen, Halbfertigprodukte waren, die in Handarbeit komplettiert wurden. Räume für Initialen und Illustrationen blieben leer, ebenso Zeilen für rote Kapitelüberschriften oder rote Initien sowie Spatien, in die farbige Rubrikzeichen zur Untergliederung eingezeichnet werden sollten. Der Rubrumstrich, mit dem seit dem frühen Mittelalter Schäfte von Großbuchstaben rot nachgezeichnet wurden, ist nur handschriftlich zu verwirk
49 Zum Problem der ›Nachahmung‹ vgl. die erhellenden Ausführungen von Smith (1994). 50 Vgl. Kap. 4.1.3 Frühe Neuzeit in diesem Band.
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Abb. 1: Thüring von Ringoltingen: Melusine. Basel: Bernhard Richel, 1473/74. 2°, Bl. 26r (Darmstadt, Hessische Landes- und Hochschulbibliothek, Inc. IV, 94): Druckseite mit roten und blauen Auszeichnungen eines Rubrikators
lichen. Dies alles ließ ein einträgliches Arbeitsfeld für den Rubrikator übrig. Abbildung 1 zeigt, wie ein Rubrikator im Auftrag der fränkischen Adelsfamilie von Lentersheim wohl kurz nach dem Erscheinen des Buchs eine ungegliederte schwarz-weiße Druckseite mit roter und blauer Farbe nach handschriftlichen Konventionen auszeichnet: rote Lombarde D zur Kennzeichnung des Kapitelbeginns, Unterstreichung der folgenden Buchstaben »er künig«; Rubrumstriche, Virgeln zur syntaktischen Kennzeichnung von Satzteilen, Unterstreichungen von Eigennamen jeweils in Rot oder Blau; zudem eine Fehlerkorrektur: das versehentlich doppelt gesetzte »vnd« wird rot durchgestrichen (vierte Zeile von unten). Die mechanische Reproduktion der Buchillustration über den Abdruck von Holzstöcken, die in die typographische Druckform eingebunden werden konnten, setzte
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bereits 1461 in der Druckerei Albrecht Pfisters in Bamberg mit dem Druck von Boners Edelstein ein; Ulm und Augsburg wurden zu frühen bedeutenden Zentren der Buch illustration. Der Holzschnitt steht in der Tradition der spätmittelalterlichen, kolorierten Federzeichnung (vgl. bes. Ott 1999). Nur die Umrisslinien wurden gedruckt, die Kolorierung erfolgte nach wie vor von Hand. Erst die künstlerische Weiterentwicklung des Holzschnitts gegen Ende des 15. Jahrhunderts, als Schraffuren dem Bild Tiefe gaben, machte nach und nach die Kolorierung überflüssig. Der kolorierte Holzschnitt oder Kupferstich blieb in der Folgezeit Kennzeichen hochrangiger Buchprojekte, wie z. B. topographischer und naturkundlicher Werke, in denen eine möglichst ›realistische‹ Darstellung, also auch farbige Abbildungen, gewünscht war. So war das gedruckte Buch der ersten Druckergeneration ein nur halbfertiges Produkt, das den Text reproduzierte. Die Fertigstellung blieb dem Käufer der Rohbogen überlassen, der Rubrikator, Illuminator und Buchbinder beauftragen musste, wollte er ein seinen Vorstellungen entsprechendes Buch auf das Lesepult legen.51 Die so entstehenden exemplarspezifischen Besonderheiten verbinden ein gedrucktes Buch, das eigentlich mit allen Exemplaren der Auflage identisch ist, mit dem handschriftlichen Unikat. Die Lösung des Problems der farbig ausgezeichneten Schrift52 musste aus dem System der Typographie heraus neu gedacht werden, denn der Aufwand für roten oder gar mehrfarbigen Druck war zu aufwändig. Rote Überschriften wurden durch Auszeichnungsschriften ersetzt und für die Gestaltung des Kapitelbeginns entstand ein bis ins 19. Jahrhundert verwendetes typographisches Dispositiv: Satz von umfangreichen Kapitelüberschriften in abgestufter Typographie, d. h. Mischungen von Auszeichnungsschriften und evtl. Grundschrift in Abstimmung von großer zu kleiner Schriftgröße von Zeile zu Zeile, meist angeordnet in Dreiecksform. Die Gestaltung des ersten Buchstabens bzw. ersten Worts des Kapitels folgt häufig dem Muster: typographische Initiale plus Majuskel. Textbegleitende Illustrationen wurden in erzählenden, nicht-technischen und naturkundlichen Werken, besonders auch in Bibeln, fest an den Kapitelbeginn gebunden. Abbildung 2 zeigt den Beginn der Melusine im Buch der Liebe, das von Sigmund Feyerabend in Frankfurt am Main 1587 verlegt wurde.
51 Vgl. bes. Ott (1999) zur Handschriftentradition des Leitmediums Holzschnitt; Augustyn, Wolfgang: Zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck in Deutschland. Versuch einer Skizze aus kunsthistorischer Sicht. In: Gerd Dicke / Klaus Grubmüller (Hrsg.): Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck. Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien. 16), S. 5–47; zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck aus kunsthistorischer Sicht sowie zur nachträglichen Aufwertung eines gedruckten Missale von 1515 in Anlehnung an illuminierte Prachthandschriften: Rautenberg, Ursula: Medienkonkurrenz und Medienmischung. Zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Druck im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts in Köln. In: Dicke / Grubmüller 2003 (s. o.), S. 166–202. 52 Vgl. auch Smith (2005), die frühe Unterschiede im Design von Handschrift und Druck im Zusammenhang mit den technischen Lösungen der Typographie herausarbeitet, sowie Smith (1994, S. 3–6); Rautenberg (2003).
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Abb. 2: Das Buch der Liebe. Frankfurt a. M.: Sigmund Feyerabend, 1587. 2°, S. Bl. 262 (Staatsund Universitätsbibliothek Hamburg, Scrin. C / 248): Werkbeginn und Beginn des ersten und zweiten Kapitels mit Kapitelzählung
Rotdruck wurde in juristischen Drucken mit komplexen Text-Kommentar-Synopsen bis ins 16. Jahrhundert, und in liturgischen Büchern noch länger, von spezialisierten Druckern praktiziert. Im Gebrauchsbuch verblieb Rotdruck seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert und bis ins 18. Jahrhundert vor allem auf dem Titelblatt. Auch das in der Scholastik entstandene komplexe Text-Kommentar-Layout wird mittelfristig vereinfacht. Oliver Duntze (2005) hat exemplarisch an ausgewählten Drucken der Institutiones des Corpus Iuris Civilis vom 15. bis ins 17. Jahrhundert die Gestaltung juristischer Ausgaben untersucht. Bis ca. 1530 wird das Layout der handschriftlichen Vorbilder beibehalten, im 16. Jahrhundert setzte eine Vereinfachung ein. Die Klammerglosse entfällt, der Kommentartext folgt dem kommentierten Text
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abschnittsweise, auch unterstützt durch unterschiedliche Schriften für Text und Kommentar: Der gleichzeitige Zugriff auf Text und Kommentar wird dadurch erschwert; stattdessen unterstützt das vereinfachte Layout eine durchgehende Lektüre des Textes, die nur nach längeren Sinnabschnitten durch den Kommentar durchbrochen wird. Damit impliziert das veränderte Layout eine neue Lektürepraxis: Baudouins Ausgabe dient nicht mehr der scholastischen Lektüre, in der jeder Satz bzw. jedes Wort zergliedert wird, sondern orientiert sich an einer nach Sinnabschnitten geordneten Rezeption, für die der Kommentar lediglich eine ergänzende Funktion hat. (Duntze 2005, S. 33)
Die Marginale, die im gedruckten Buch nicht vor 1480 erscheint (vgl. Connors 1998, S. 8) spielt weiterhin eine große Rolle in allen wissenschaftlichen Büchern, Fachbüchern und Lehrbüchern sowie in Bibelausgaben. Sie hat jedoch nicht mehr den Rang eines ausführlichen Kommentars, sondern enthält Quellenangaben und Verweise auf Parallelstellen oder kurze Erläuterungen und entspricht so weitgehend der heutigen Fußnote. In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts begann die Umwandlung der Marginalie in die Fußnote, um 1740 ist die Fußnote Standard (vgl. Connors 1998, S. 32 und 35). Die leserunfreundliche Endnote, die zum Blättern zwingt und zur längeren Unterbrechung des Lesetexts, geht auf das mit der Schreibmaschine hergestellte Typoskript und wenig ausgereifte Satzmaschinen zurück. Erst seit der Mitte der 1980er Jahre kommen Textverarbeitungsprogramme auf, die dem Schreiber eine am Bildschirm sichtbare Fußnotenverwaltung möglich machten.53 Als Vorteil der Endnote gilt eine elegantere Seitengestaltung als die mit Fußnotenstrich und kompaktem Fußnotentext; sie findet sich aus diesem Grund noch in bibliophilen (auch: wissenschaftlichen) Büchern oder dann, wenn die Kolumnenzeile mit Pagina vom Beginn der Seite in die Fußzeile verlegt wird. Eine der wichtigsten Innovationen des Buchdrucks gegenüber der Handschrift ist eine veränderte ästhetische Wahrnehmung des Weißraums innerhalb des Schriftspiegels. An der handschriftlichen Seitengestaltung des mittelalterlichen Codex lässt sich so etwas wie ein ›horror vacui‹ selbst vor kleinen Weißräumen, wie beim nicht ganz gefüllten Zeilenende einer Überschrift etc., beobachten. Zwischenräume zur Kennzeichnung von Abschnitten kamen in aller Regel nicht vor. Das Ideal ist die geschlossene Seite, aufgelockert durch Farbe. Erst im 15. Jahrhundert finden sich Beispiele eines freieren Umgangs mit der leeren Fläche. Typisch sind hier die volkssprachlichen Handschriften aus den 1430er bis in die 1450er Jahre aus der sog. Lauber-Werkstatt in Hagenau (grundlegend Saurma-Jeltsch 2001). Charakteristisch für viele dieser elsässischen Handschriften sind die ausgreifenden kolorierten Federzeichnungen, die nicht mehr von einem Rahmen begrenzt werden, sondern bis an die Ränder in lockeren Schwüngen ausgreifen. Die strenge Raumverteilung der Handschriftenseite
53 Für diesen Hinweis danke ich Dr. Nikolaus Weichselbaumer, Mainz.
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in Text- und Bildblöcke wird hier aufgelöst. Mit dem Buchdruck, dessen technische Grundlage die fixierte Kolumne der Druckform ist, kehrt das starre Rahmenprinzip zurück, in der Buchillustration noch verstärkt durch den mit Linien gerahmten Holzschnitt oder die Umrisse der Kupferplatte. Ein bewusster Umgang mit nun bedeutungstragendem Weißraum vollzieht sich innerhalb des Satzpiegels erst in der späteren Inkunabelzeit, als die folgenden Gliederungsmittel entstehen: Leerzeile zur Abschnittskennzeichnung, eingezogener Ab- satz mit oder ohne folgende Leerzeile, Trennung von Zwischenüberschriften vom vorhergehenden und nachfolgenden Text durch Weißraum (vgl. Smith 2005, S. 7–9). Frans Janssen (2005) hat die Entstehung und Verwendung des ›typographischen‹ Absatzes (›indented paragraph‹) – ein Absatz steht stets am Beginn einer Zeile, die eingezogen wird – verfolgt. In diesen Ausgaben wird der Absatz manchmal mit einer folgenden Leerzeile doppelt markiert (vgl. Janssen 2005, S. 13). Der leere Raum am Zeilenbeginn markiert einen Einschnitt in der Textstruktur und kann nachträgliche mit einem farbigen Rubrikzeichen gefüllt werden. Bereits in Handschriften und in Inkunabeln erscheinen vereinzelt Absätze, die Texte werden aber nicht konsequent durchgearbeitet. Das erste Buch, das unterhalb der Kapitelebene konsequent in Textabschnitte (Absätze) gliedert, publiziert Aldus Manutius in Venedig 1499: den Roman Hypnerotomachia Poliphili von Francesco Colonna (vgl. Janssen 2005, S. 14). Obwohl die Aldus-Ausgaben in ganz Europa begehrt und stilbildend waren, setzten sich Absatz und Absatzgliederung nur sehr zögernd durch. Deutschsprachige protestantische Bibeln und insbesondere Luther-Bibeln sind in Absätze gegliedert, z. B. die Zürcher Froschauer-Bibel (1531) oder die bei Hans Lufft in Wittenberg gedruckte Bibel von 1531 (vgl. Janssen 2005, S. 21). Es ist zu vermuten, aber nicht untersucht, dass aus den protestantischen Bibeln der Absatz in den Druck populärer volkssprachlicher Literatur übergeht. So zeigt die diachrone Layoutanalyse aller Ausgaben der Melusine des Thüring von Ringoltingen, dass erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Absatzgliederung in Ausgaben der Offizin Gülfferich / Han einsetzt (vgl. Rautenberg 2015b). Neben der Abschnittsgliederung hat der Absatz auch die Funktion, aus Aufzählungen Listen zu bilden. Die beiden Doppelseiten zeigen zwei Melusine-Ausgaben im Vergleich. Abbildung 3 zeigt eine ungegliederte, geschlossene Seite aus der Offizin Egenolff-Erben von 1578, Abbildung 4 eine ein Jahr zuvor erschienene Ausgabe, gesetzt von Paul Reffeler für Kilian Han, mit aufgelichtetem Satzbild und konsequenter Ver wen dung von Absätzen, die den Handlungseinheiten der Erzählung folgt. Die Absatzgliederung in dieser Ausgabe eines populären und preiswerten Romans, der seine Leser auch in den unteren städtischen Schichten und in der Gruppe der lesenden Frauen fand, zeigt, dass sie auf eine Verbesserung des Leseverstehens auch einfacher und ungeübter Leser zielt. Ein weiteres Beispiel ist das Buch der Liebe (Frankfurt: Sigmund Feyerabend, 1587), eine Ausgabe, die einem vermögenden Käuferkreis vorbehalten war (s. o. Abb. 2).
2.2.2 Das Buch in der Codexform und einblättrige Lesemedien
Abb. 3: Melusine. [Frankfurt a. M.: Christian Egenolff Erben, ca. 1578]. 8°, Bl. T2b/T3a (Krakau Jagiellonen Bibliothek, Yu 841): Doppelseite ohne Absatzgliederung
Abb. 4: Melusine. Frankfurt a. M.: Paul Reffeler für Kilian Han, 1577. 8°, Bl. N8b/O1a (Göttingen Staats- und Universitätsbibliothek, 8 Fab III 2028 Rara): Doppelseite mit Absatzgliederung
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Die Gliederung von Texten in Abschnitte dürfte eine der wichtigsten Innovationen der internen Textgliederung sein: Auf der Inhaltsebene strukturiert die Absatzgliederung Handlung und Argumentation in sinnvolle Einheiten und berücksichtigt rhetorische Strukturen; auf der Ebene der graphischen Textgestaltung bildet der Absatz dem Auge Haltepunkte in der fortlaufenden Kolumne. Dass sich der Textabsatz im Laufe des 16. Jahrhunderts nur zögerlich verbreitet (vgl. Janssen 2005, S. 18), dürfte mehrere Gründe haben. Einmal erforderte er einen erheblichen Eingriff in oft jahrhundertealte Werktraditionen auf der inhaltlichen Ebene; zum anderen mussten diejenigen, die diese Strukturierung an fremden und älteren Texten vornahmen, diese verstehen und entsprechend auszeichnen und gliedern. Wenn keine Absatzgliederung durch den Autor, etwa im Autormanuskript, vorlag, wie dies erst im Laufe der Frühen Neuzeit der Fall gewesen sein dürfte, war eine Bearbeitung durch einen geschulten Lektor nötig. In einfacheren Texten wie dem Prosaroman, den das Melusine-Beispiel repräsentiert, könnte dies durchaus der Setzer gewesen sein. In der Moderne sind jedenfalls unterhalb der Kapitelebene gegliederte Texte in allen Buchtypen und Textsorten unerlässlich. Der Absatz ist eine der bedeutendsten Innovationen des Buchdrucks für das Leseverstehen. Rolle und Einfluss der Setzer sind bisher kaum erforscht, obwohl sie vermutlich wesentlichen Anteil an einer leserfreundlichen Einrichtung von Gedrucktem haben. Wie sprachgeschichtliche Untersuchungen, bes. von Anja Voeste (im Druck) zeigen, gehen Vereinheitlichungstendenzen in Orthographie und Zeichensetzung im 16. Jahrhundert von den Setzern aus.54 Betrachtet man Neuerungen des Buchdrucks, so muss die Reduktion der Vielzahl von Schriften genannt werden. In der Inkunabelzeit ist realistisch von ca. 5000–5500 Satzschriften auszugehen, die von Druckern verwendet werden.55 Die einzelnen Typen einer Schrift wurden in der Offizin nach individuellen Matrizen, beruhend auf einem Schriftentwurf, gegossen, so dass diese hohe Zahl zu erklären ist; die Schriftformen innerhalb einer Schriftklasse unterschieden sich oft nur minimal. Dennoch haben die Schriftgestalter der Inkunabelschriften ein Vielzahl von Schriftarten und Schriftstilen aus den Handschriften übernommen; sie speisen sich aus der gotischen Minuskel, der gotischen Kursive und der humanistischen Schrift (grundlegend Steinmann 1995). Je aufwändiger eine geschriebene Schrift ist, wie z. B. die Textura als feierliche Buchschrift, die die Gutenberg-Werkstatt für die 42-zeilige Bibel gießt, umso größer der Aufwand in der Offizin, das Vorbild in eine Druckschrift umzusetzen. Tendenzen einer Normierung und Vereinheitlichung von Schriftstilen und Schriftformen sind bereits in die Inkunabelzeit zu beobachten (Corsten 1995, S. 181), aber erst im 16. Jahrhundert setzte ein Wandel ein, der gegen Ende des Jahrhunderts abgeschlossen war:
54 Vgl. Kap. 1.5 Historisch-hermeneutische Ansätze der Lese- und Leserforschung in diesem Band, Abschnitt 3.2. 55 Für diese Angabe danke ich Dr. Oliver Duntze, Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Berlin.
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Auch am Ende des 15. Jh. waren noch unübersehbar viele Typen im Gebrauch, und neben den bereits genannten Schriftarten standen lokale Varianten und Mischformen. Ein Wandel kündigte sich aber insofern an, als sich die überregional wichtige Buchproduktion auf wenige Orte zu konzentrieren begann: allen voran Venedig und Paris, dann einige deutsche und italienische Städte, Antwerpen und Lyon. (Steinmann 1995, S. 243)
Hingegen wurden bereits in der frühen Inkunabelzeit die einzelnen Zeichen, die Typen, die für eine Schrift gegossen wurden, nach und nach reduziert. Der Satz der Gutenberg-Bibel zeigt 276 verschiedene Lettern, denen jeweils eine Matrize zugrunde lag. Damit waren neben den Klein- und Großbuchstaben des Alphabets die gebräuchlichsten Abbreviaturen (Abkürzungen) und Ligaturen (Buchstabenverschleifungen) und Satzzeichen vorhanden (vgl. Corsten 1995, S. 170 f.). Das System der Abkürzungen, das sich im späten Mittelalter für wissenschaftliche Texte entwickelt hatte, war zunächst auch in den Offizinen für lateinische Druckwerke verbindlich, während die volkssprachlichen Handschriften nur sehr wenige, einfache Kürzungszeichen kannten, die folglich auch im Druck kaum eine Bedeutung hatten. Für den Latein Lesenden dürfte die aus ökonomischen Gründen – Reduktion der Kosten für die Anfertigung von Matrizen und bei der Vorratshaltung von gegossenen Lettern, Vereinfachung des Arbeitsaufwands für den Setzer – vorgenommene Reduktion eine Erleichterung gewesen sein, denn die Symbole waren nicht immer einheitlich oder ihre Bedeutung variabel. Dem Leser im deutschsprachigen Raum begegneten im Zuge der Schriftspaltung nach der Mitte des 16. Jahrhunderts vor allem Buchschriften aus den beiden großen Schriftklassen, der Antiqua für die lateinische Sprache und der Fraktur für den deutschen Textsatz. Da seit Beginn des 16. Jahrhunderts der Schriftguss von der Offizin mehr und mehr in Schriftgießereien ausgelagert wurde, bei denen die Verleger die Schriften einkauften, trat nochmals eine Standardisierung ein. In der Folge verfestigten sich Lesererwartungen und Lesehaltungen an eine ›neutrale‹ Typographie, die nur sehr schwer zu durchbrechen sind. Der Streit um Antiqua oder Fraktur zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist dafür nur ein prominentes und viel beforschtes Beispiel (vgl. u. a. Wehde 2000, S. 216–245). Nach den Veränderungen in Schrift und Gestaltung ist noch der weite Bereich der Bucherschließungsmittel zu beachten. An erster Stelle steht hier die Entstehung des Titelblatts (grundlegend: Rautenberg 2008), neben dem Absatz eine der Innovationen, die keine Tradition im handschriftlichen Codex hatte. Ein Titelblatt enthält in der Regel die wichtigsten Metadaten über den inhaltlichen und materiellen Urheber und den Titel des enthaltenen Werks. Es folgt einer dispositiven Flächenhierarchie: Autor bzw. Herausgeber im oberen Drittel, gefolgt vom Werktitel (Sachtitel); die Buchproduktionsdaten (Druckort, Verlag, Druckjahr) stehen im unteren Drittel. Die Einrichtung einer separaten Seite oder eines Blatts, die diesen Informationen vorbehalten ist, setzt zögernd und über Vorstufen in den 1470/80er Jahren ein. Bis 1490 haben fast ein Viertel aller Inkunabeldrucke ein Titelblatt, zwischen 1490 und Ende 1500
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bereits knapp 90 %. Erst in den 1530er Jahren wurde das Titelblatt Standard, das alle Metadaten enthält. Es entstand zunächst aus dem Bedürfnis der Druckerverleger nach einen sehr einfachen Buchkennzeichnung für den durch viele Hände gehenden Vertrieb über den Buchhandel, übernahm aber bald und mit wachsender Komplexität der Informationen und der Titelblattgestaltung, z. B. mit der Titelillustration, Funktionen für den Käufer und Leser zur ersten Orientierung. Für das frühneuzeitliche System der Wissensverwaltung wurde das Titelblatt zur Adresse für den Bücherkatalog, die Quellenangabe und den Verweis. Eine der wichtigsten Errungenschaften des gedruckten Buchs ist auch ein funktionelles System der Texterschließung, das auf der Seitenzählung und, spezieller, der Zeilenzählung fußt. Damit ist für alle möglichen Verzeichnisse und Register eine punktgenaue Auffindung von Stellen gegeben. Blattzählung findet sich vereinzelt im handschriftlichen Codex seit dem 12. Jahrhundert bekannt und kommt seit der Mitte des 14. Jahrhunderts, vor allem aber im 15. Jahrhundert in lateinischen Handschriften häufig vor (vgl. Schneider 2004, S. 160). Wie die Parenthese – ein Einschub in runden Klammern zur Gliederung der Satzstruktur – geht die Foliierung von deutschen Druckern in Köln (seit dem Beginn der 1470er Jahre), Augsburg, Ulm und Speyer aus und verbreitete sich weiter nach Straßburg, Paris und Italien (vgl. Saenger 1996, S. 275). Die Paginierung bleibt dem Buchdruck vorbehalten (vgl. bes. Saenger 1996, S. 256– 279). Sie geht – wie der typographische Absatz – auf Aldus Manutius zurück, der erstmals im Jahr 1499 die Foliierung in eine Paginierung umwandelte.56 Aldus benötigte die regelmäßige Foliierung oder Paginierung vor allem für seine zahlreichen Register, die den kommentierten Klassikerausgaben im Anhang beigegeben wurden. Seine Ausgaben griechischer und römischer Autoren boten einen glatten Text auf der Seite. Abbildung 5 zeigt eine Seite eines Verzeichnisses der einer griechischen LucianusAusgabe (Venedig 1503). Indices zu den Werken von Philostrat (d. Ä. und d. J.) und Kallistratos, die ebenfalls in dieser Ausgabe enthalten sind, werden in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Buch foliiert. Buchindices gibt es seit dem frühen Mittelalter; sie verweisen aber nicht auf Blätter oder Seiten, sondern auf einzelne Bücher und Kapitel, und dieser Praxis folgt noch Konrad Gessner mit dem Argument, dass nur der Nachweis von Kapiteln und Paragraphen ein ausgabenunabhängiges Verweisnetz garantiere (vgl. Zedelmaier 2004, S. 195 f.). Auf Aldus Manutius geht auch die Zeilenzählung auf der Seite zurück, erstmals 1488 (vgl. Saenger 1996, S. 265). Die Klassiker-Ausgaben aus der Venezianischen Offizin bündeln um 1499 einige für die wissenschaftliche Textausgabe eminent bedeutende Neuerungen. Aldus war
56 Erstmals in einer Neuausgabe von Niccolo Perottis Cornucopiae linguae latinae, einem grammatischen Referenzwerk (vgl. Saenger 1996, S. 276).
2.2.2 Das Buch in der Codexform und einblättrige Lesemedien
Abb. 5: Lucianus: Opera. Venedig: Aldus Manutius, 1503. 2° (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke, 4° Ald. Ren. 39,3): Registerseite mit Seitenverweisen
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zuvörderst ein humanistischer Gelehrter, der erst spät zum Verleger wurde.57 Man weiß nicht, ob diese Entwicklungen auf seine Person zurückgehen, aber es ist zu vermuten, denn die Erschließungmittel stehen zunächst im Kontext der neuen Präsentation der Klassiker. Johann Froben in Basel, der bedeutendste humanistische Drucker nördlich der Alpen, für den die Aldus-Ausgaben vorbildlich waren, übernimmt diese Neuerungen. Für Edition und Fachbuch ist die Paginierung bald unerlässlich, aber populäre volkssprachliche Drucke kommen noch sehr lange ohne Paginierung aus. Eine diachrone Untersuchung58 aller deutschen Textausgaben der Melusine zeigt, dass Seitenzahlen erst um 1800 aufgenommen werden, ohne Übergang über eine Foliierung. Die Kopfzeile enthält seit der Mitte des 16. Jahrhunderts nur einen Kolumnentitel. Zusammenfassend sind die beiden folgenden Tendenzen festzuhalten. Im gedruckten Buch des letzten Jahrzehnts der Inkunabelzeit und der ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts entsteht eine aus der Typographie heraus gedachte, schwarzweiße Buchseite. Viele Veränderungen, die zunächst aus technischen Zwängen geboren sind, gehen Hand in Hand mit einer fortschrittlichen, bald auch standardisierten Leserlenkung. Seit dem 16./17. Jahrhundert steht die Ordnung der enzyklopädischen Wissensfülle im Vordergrund, nicht mehr die Ordnung auf der Seite. Die Ausgabe ist ein Teil eines Wissenssystems, basierend auf Katalogen, Bücherverzeichnissen und Bibliotheken (vgl. Zedelmaier 1992, 2004, 2010).
2.4.5 Zwanzigstes Jahrhundert und Gegenwart: Lesetypographie Die Typographie des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart steht weitgehend in der Kontinuität der leserlenkenden Mittel – Auszeichnen, Gliedern, Erschließen und Kommentieren –, wie sie seit dem hohen Mittelter kontinuierlich entwickelt und verfeinert wurden. Allerdings ermöglichen die neuen Drucktechniken, ausgehend vom maschinell kostengünstig umsetzbaren Farbendruck, neue Gestaltungsmöglichkeiten, die sich im farbigen Bild im Buch, aber selten in farbiger Schrift äußern. Das Gebrauchsbuch bleibt weitgehend schwarz-weiß. Farbige Schrift wird im Schul- und Lehrbuch und in Nachschlagewerken häufiger eingesetzt, um Diagramme, Tabellen oder Kästen farbig auszuzeichnen und zu hinterlegen. Die expressionistische Typographie vom Beginn des 20. Jahrhunderts, die Farben und Formen plakativ gegeneinandersetzte, blieb eine Episode im Buch, wurde aber prägend für die Werbetypographie. Ebenso sind experimentelle Formen wie Figu-
57 Grundlegend: Lowry, Martin: The world of Aldus Manutius. Business and scholarship in Renaissance Italy. Blackwell 1979. 58 Vgl. Künast, Hans-Jörg / Rautenberg, Ursula: Die Überlieferung der ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen. Quellenbibliographie und interdisziplinärer Kommentar (in Vorbereitung).
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rengedichte Spielfeld für literarische Überraschungen und semiotische Analysen. Eine sachlich-zweckorientierte Typographie wie die des Bauhauses seit den 1920er Jahren ist die prägende Chiffre der Buchtypographie des 20. Jahrhunderts. Die Rastertypographie, in der Zürcher Gestaltungsschule in den 1930/40er Jahren entwickelt, ist eine der wesentlichen Innovationen des 20. Jahrhunderts, Die Buchseite wird mit einem Gitternetz überzogen, das unterschiedliche Bild- und Textgrößen proportional in Beziehung setzt, aber viele Variationen bei geordnetem Gesamteindruck erlaubt.59 Das Prinzip der ›Ordinatio‹ in Rahmen und Gliederung hat über Jahrhunderte Bestand. Als Grundzug lässt sich eine enge Bindung der gestalterischen Aufgaben an vorgegebene Buchtypen und eingeführte typographische Dispositive ausmachen, wie sie sich im ökonomischen Rahmen, den Verlage und Buchmarkt setzen, bewährt haben. Die Erwartungen der Buchkäufer und Leser werden erfüllt, experimentelle Lösungen verbleiben in Nischen, wie die (selbstreferentielle) Gestaltung von Design- und Typographie-Büchern, Bildbänden und Künstlerbüchern. Das bibliophile Buch bleibt abseits und auch die Prämierungen der Stiftung Buchkunst, die die Sensibilität für die angemessene Gestaltung des Gebrauchsbuchs beim Publikum schärfen sollen, bewegen sich im Rahmen eines materiellen und gestalterischen Aufwands, der nicht alltäglich ist. Das Ideal des gut gestalteten Gebrauchsbuchs ist das lesbare Buch: eine möglichst neutrale, ›unsichtbare‹ Gestaltung – allerdings in handwerklicher Perfektion –, die den Leser nicht von seinem primären Ziel ablenkt, den Inhalt zu erfassen. Diese Position ist modernen Lesbarkeitskonzepten und »lesefreundliche[n] Textgestaltungen« verpflichtet, die je nach Textsorten, Lesemedien und Leseweisen variieren.60 Niedergelegt ist diese Auffassung im Konzept der Lesetypographie (Willberg / Forssman, 2010), einer Systematik der Buchtypographie nach Leseweisen, die das Buch als »Transportmittel für den Inhalt« (Willberg / Forssman S. 15) versteht.61 Typographische Positionen und Kontroversen62 setzten seit jeher, ob reflektiert oder nicht, im Spannungsfeld zwischen Aufzeichnen (Gestalten) und Erfassen (Lesen) ein; sie begleiten die skripturalen und typographischen Ausprägungen des Lesemediums ›Buch‹ seit der Erfindung des Codex. Herausragende (elitäre) Buchgestaltungen entstanden, wenn nicht primär Lesen das Ziel war, sondern Schauen und Prunken, die kostbare Einkleidung eines sakralen Texts oder – in säkularisierten Zeiten – der bibliophile ›Klassiker der Weltliteratur‹.
59 Vgl. Bosshard, Hans Rudolf: Das typographische Raster. Sulgen 2000. 60 Vgl. Artikel Kap. 2.1.6 Typographische Lesbarkeitskonzepte in diesem Band. 61 Vgl. bes. Kap. 2.1.6 Typographische Lesbarkeitskonzepte, Abschnitt 4 in diesem Band. 62 »Im 20. Jahrhundert gab es deswegen mehrere heftige Auseinandersetzungen: Typographen warfen Regeln und Konventionen über Bord oder erhoben sie zum Dogma.« (Unger 2009, S. 14)
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2.5 Zusammenfassung und Ausblick In den vorhergehenden Kapiteln standen die leserlenkenden Mittel im Codex bzw. auf der Buchseite im Zusammenhang mit dem Leseverstehen im Mittelpunkt. Generell ist zu konstatieren, dass Literatur dazu nur sehr punktuell vorhanden ist: Die Erforschung der leserlenkenden Mittel und ihrer Funktionen ist noch in den Anfängen. Rückschlüsse aus paläographischen oder typographischen Fallbeobachtungen sind nicht zu verallgemeinern und eine Funktionsanalyse auf dieser Grundlage kann immer nur von intendierten, ›möglichen‹ Wirkungen beim Leser ausgehen. Dennoch werden relativ weitreichende Thesen über Leseweisen und Lesemodi aus der Seitengestaltung abgeleitet und Epochen der Lesegeschichte konstruiert. Diese sind auf der Grundlage des jetzigen Forschungsstands nur bedingt valide. So sind z. B. an Sprache und Textstrukturen unmittelbar anknüpfende Mittel im Verbund mit sprachgeschichtlichen Befunden zu deuten. Schon eine punktuelle Gegenüberstellung einiger Aussagen in Parkes’ Pause and effect mit sprachhistorischen Forschungen zeigen erhebliche Diskrepanzen auf. Wünschenswert wäre auch eine Vertiefung mit rezeptionspsychologischen Ansätzen, die für die Lesegegenwart empirisch ermittelt werden können. Es scheint jedoch nur bedingt sinnvoll, vorliegende Theorien der Psycholinguistik auf historische Leser zurück zu projizieren: Zumindest in Teilen beruht Saengers Interpretation zur Worttrennung und zum leisen Lesen auf älteren Annahmen der Sprachpsychologie, die heute in Frage gestellt sind. Andererseits berücksichtigen empirische Versuchsanordnungen zum Lesen viel zu wenig die Bedeutung des Lesemediums und seiner Gestaltung für die zu erhebenden Befunde. Insgesamt wird die Bedeutung skripturaler und typographischer Anordnungen unterschätzt: Es ist als ›implizites‹ Wissen vorhanden ist, wird aber nicht problematisiert. Ergebnisse aus Layoutanalysen – für die ein Kriterienkatalog noch zu entwickeln wäre –, sind in Zusammenhang mit Ergebnissen zur Sozialgeschichte des Lesens zu sehen und weiter mit den materiellen Bedingungen der Produktion von Lesemedien und ihrer Produzenten in Beziehung zu setzen. Viel zu wenig ist die Rolle der Schreiber, Setzer und Korrektoren thematisiert worden und welche Aufgaben und auch Freiheiten sie im langen Prozess der Entwicklungsgeschichte einer ›mise en text‹ und ›mise en page‹ hatten. Folgende Grundzüge lassen sich festhalten: Die Einführung der Codexform war auf der Basis der Materialität ihrer unterschiedlichen Ausformungen eine entscheidende Voraussetzung für die fortschreitende Ausdifferenzierung von Hilfen für den Leser und das Leseverständnis.63 Die karolingischen Reformen des Schriftwesen initiierten eine frühe Gliederung der Schriftseite auf der Basis von Textstrukturen, die Scholastik visualisierte das simultane Lesen von Text und Kommentar und stellte
63 Vgl. Frank 1994, S. 88: »Insgesamt verläuft diese Entwicklung von einer schreiberorientierten […] zu einer immer stärker leserorientierten Textgestaltung […].«
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der linearen Darstellung eine analytische an die Seite. Renaissance und Humanismus lösten die überkommene und erstarrte Kommentierungspraxis auf. Dies zeigt sich an wissenschaftlichen Ausgaben, die das Werk vom Kommentar separieren und auf Ordnungen des Wissens über Erschließungsmittel wie Verzeichnis, Register und Seitenzählung vertraut. Buchschmuck und Illustration, die in der Buchhandschrift stets auch als künstlerische Erzeugnisse Texthierarchien signalisierten, wurden im Zeitalter der mechanischen Reproduzierbarkeit zurückgenommen. Die Abbildung wird zum Medium der Darstellung naturkundlicher Beobachtungen, technischer und architektonischer Konstruktionen sowie topographischer Gegebenheiten im Fachbuch. Mehr und mehr traten ›glatte‹, aber deutlich sichtbar gegliederte Buchseiten in den Vordergrund. Aufbauend auf den Mitteln des handschriftlichen Codex stellt der Buchdruck ein ausgereiftes Instrumentarium von Textauszeichnung und Textgliederung, Textund Bucherschließung zur Verfügung, das in mehr oder weniger komplexen Kombinationen für unterschiedliche Buchtypen und Leseerfordernisse zusammengestellt werden kann. Dieser standardisierte Katalog ist bis heute für das Codexbuch uneingeschränkt von dispositiver Bedeutung; lediglich ästhetische Varianten sind möglich. Vorrang im Gebrauchsbuch hat das unterstützte und möglichst – von gestalterischen Experimenten ebenso wie von handwerklich fehlerhafter Typographie – ungestörte Leseverstehen.
3 Weitere, spezialisierte Lesemedien in Auswahl 3.1 Einleitung Im Umfeld des Codex treten zahlreiche Lesemedien auf, die sich an die Buchtechnik der Codexform – ein aus Lagen aufgebauter Buchblock in einem Einband oder Um- schlag – anlehnen. Die große inhaltliche und kommunikative Vielfalt der geschriebenen und gedruckten Medien in der Codexform vom Mittelalter bis zur Gegenwart kann hier nicht umfassend behandelt werden. Im Folgenden werden daher nur drei spezia lisierte Lesemedien aus Mittelalter und Neuzeit herausgegriffen: die Rollenform, die im mittelalterlichen Rotulus im Medienverbund in einigen gebrauchsfunktionalen ›Nischen‹ fortlebt, und das Blockbuch als Medium des Übergangs zwischen manueller, xylographischer und typographischer Vervielfältigung von Bildern und Texten. Das Blindenbuch als neuzeitliches Lesemedium – die Wahl mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen – wurde gewählt, da es ein prominentes Beispiel für nichtvisuelles, sondern taktiles Lesen ist, das die Codexform aufnimmt.
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3.2 Die mittelalterliche Buchrolle Der Rotulus lebte im Mittelalter in unterschiedlichen, stark spezialisierten Gebrauchskontexten weiter fort (grundlegend Studt 1995 mit weiterer Literatur; Stork 2010; passim Wolf 2013, S. 160 f.). Birgit Studt (1995, S. 331 f.) verweist darauf, dass die mittelalterliche Pergamentrolle gegenüber der antiken Rolle ein schmaleres Format hat und in einer einzigen fortlaufenden Kolumne parallel zur Schmalseite beschrieben wurde. Gelesen wird in der Rolle der Länge nach von links nach rechts. Ein Vorteil der Rollenform ist, dass diese – anders als der in einen festen Einband gebundene, abgeschlossene Codex – durch Kleben, Anheften oder Annähen weiterer Stücke erweitert werden kann. Diese variable Form kam politischen, rechtlichen und administrativen Aufzeichnungszwecken, z. B. bei Rechnungen, Zins- und Güterverzeichnissen, Bibliothekskatalogen, prosopographischen Schriften wie Totenroteln (Totenbücher) etc. entgegen. Auf Pergamentstreifen und -rollen geschrieben, konnte das Dokument im zeitlichen Verlauf der Aufzeichnungen nach Bedarf durch Anstückelung von Beschreibmaterial erweitert werden (vgl. Studt 1995, S. 325; Stork 2010, S. 45 f.). Eine bedeutende Gruppe von Werken, die neben der Codexform auch in Rollen überliefert sind, sind chronikalische Darstellungen, u. a. zur Genealogie Christi, zur Bibel oder zu Päpsten und weltlichen Herrschern (vgl. Stork 2010, S. 46 f.). Eine große, gut erforschte Gruppe machen liturgische Texte in Rollenform aus, z. B. der Lorscher Rotulus, im Kloster Lorsch entstanden zwischen 843 und 876, oder die Gruppe der Beneventanischen Exultet-Rollen des 10. bis 12. Jahrhunderts. Diese wurden während der Feier der Osternacht vom Pult hängend abgerollt; die für die Zuhörer sichtbaren, aus der Sicht des Vorlesers kopfständig eingemalten Bilder ergänzten den mündlichen Vortrag des Diakons (vgl. Studt 1995, S. 329; Stork 2010, S. 49). Rollen literarischen und/oder zur Aufführung bestimmten Inhalts lassen sich anhand ihrer spezifischen Gebrauchsfunktionen unterschiedlichen Nutzergruppen zuordnen, wobei hierbei die Vorteile der Rollenform gegenüber dem Codex aufschlussreich sind: Der Rotulus ist leicht transportierbar und ein bestimmter Ausschnitt der Rolle öffnet sich präzise durch Auf- und Abrollen an beiden Seiten, so dass nur der in der jeweiligen Situation benötigte Inhalt zu sehen ist. Text-Bild-Verbindungen zeigen auch Rollen mit didaktischen oder katechetischen Schultexten; bildliche oder graphische Darstellungen werden in die Lehrsituation eingebunden. Ohne großen Aufwand hergestellte und schmucklose Rollen waren die spätmittelalterlichen Pilgerführer der Sehenswürdigkeiten der Stadt Rom oder die weit verbreiteten Indulgentiae urbis Romae, die auf die Reisesituation abgestimmt waren und auch in Heftform überliefert sind (vgl. Studt 1995, S. 329–333). Da die einzelnen Zeilen im schmalen Rollenformat relativ kurz waren und damit der rasche und sichere Textanschluss zur Folgezeile gegeben war, eignete sich die Rolle besonders für Aufführungssituationen geistlicher Spiele (z. B. das Osterspiel von Muri, zwischen 1240 und 1260, und die Frankfurter Dirigierrolle mit einem Passionsspiel, 1. Hälfte 14. Jahrhundert). In der Frankfurter Dirigierrolle sind Regieanweisen und die Rede- und Gesangsanfänge in deutscher und lateinischer Sprache aufge
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zeichnet (vgl. Studt 1995, S. 333). Auf Rotuli geschriebene lyrische Texte und Lieder waren ebenfalls für die Aufführung bzw. zur Lesung bestimmt, bevor diese, in Liederhandschriften in Codexform zusammengestellt, in ein dauerhaftes Speichermedium eingingen; so zeigen Dichterbilder im Codex Manesse Autoren zusammen mit langen oder kürzeren Pergamentstreifen (vgl. Studt 1995, S. 336). Im späten Mittelalter finden sich in unterschiedlichen Themenbereichen graphische Schemata, die komplexe Zusammenhänge visualisieren, wie Genealogien oder historische Ereignisstränge (z. B. Weltchroniken). Diese kurzen Rotuli wurden ausgerollt aufgehängt und präsentieren dem Betrachter die gesamte Darstellung (vgl. Studt 1995, S. 337, bes. 339 ff.). Die mittelalterliche Buchrolle auf Pergament, seltener auf Papier, hat in den skizzierten Beispielen verschiedene Funktionen, die sich u. a. aus den Vorteilen der Rollenform im Gegensatz zum Codex ergeben. So ist die Buchrolle weniger Medium der dauerhaften Aufzeichnung und Benutzung in Archiven, Bibliotheken und Studierzimmern, sondern in oft mündliche ›Inszenierungen‹ und Gebrauchssituationen eingebunden: im Gottesdienst, im Unterricht, in Spielsituationen und Lesungen oder als Hilfsmittel auf der Reise. In Rollenform überlieferte spätmittelalterliche Gebetbücher (Stundenbücher, Gebetsrotuli und Arma-Christi-Rollen sowie Heiligenviten) hat Hans-Walter Stork (2010) zusammengetragen (vgl. den Katalog von 19 bekannten, erhaltenen Rollen bei Stork 2010, S. 53–63). Diese wurden im 15./16. Jahrhundert überwiegend für gebildete Laien gefertigt und sind teils aufwändig illuminiert. Hinweise auf konkrete Gebrauchskontexte lassen sich aus der zeitgenössischen Buch- und Tafelmalerei erschließen (vgl. Stork 2010, S. 63–70). Allerdings wird – wie Stork abschließend betont – nicht deutlich, aus welchen Gründen die Form der Rolle gewählt wurde, eine Entscheidung, die bewusst gegen die Codexform getroffen wurde.
3.3 Das Blockbuch Wie der mittelalterliche Rotulus ist auch das Blockbuch (vgl. bes. Gutenberg-Gesellschaft / Gutenberg-Museum 1991; Wagner 2012) als Schrift- und Lesemedium ein Phänomen des Übergangs. Blockbücher erscheinen um die Mitte des 15. Jahrhunderts – das erste bekannte datierte Blockbuch stammt aus dem Jahr 1470 –, die meisten Blockbücher sind im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts entstanden, also parallel zu den ersten Jahrzehnten des typographisch gedruckten Buchs. Etwa 600 Exemplare von 33 Werken in lateinischer, deutscher und niederländischer Sprache sind erhalten. Ihre Besonderheit liegt in der Herstellungstechnik. Die einzelnen Doppelblätter wurden von Holztafeln auf Papier im Reiberdruck oder mit Hilfe einer einfachen hölzernen Presse abgezogen und zu Lagen von maximal 40 Blatt zusammengestellt. Man unterscheidet anopistographische Blockbücher, für deren Herstellung einmal nach innen gefalzte Bogen mit den unbedruckten Seiten aufeinander geklebt werden, und
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zweiseitig bedruckte opistographische Blockbücher. Die Texte können ebenso wie die Bilder xylographisch aus der Holzplatte geschnitten und zum Drucken mit brauner bis schwarzbrauner Tinte eingefärbt werden, seltener sind Blockbücher mit Holzschnitten und nachträglich typographisch gedrucktem Text. Die Bilder werden mit Wasserfarben handkoloriert. Blockbücher vermitteln meist religiös-erbauliche Stoffe, wie die Biblia pauperum (Armenbibel) oder das Speculum humanae Salvationis (Heilsspiegel), aber auch profane Texte wie Kalender und Almanache. Einfache Glaubenstatsachen und pragmatisches Alltagswissen werden anschaulich gestaltet. Als ›Bilderbücher‹ in der Codexform und preiswerte Gebrauchsbücher, die über Jahrmärkte und im Wanderhandel verbreitet wurden, richteten sie sich an ein großes, aber auch gebildetes Publikum, wie die lateinischen Blockbücher nahe legen. Blockbücher sind Bücher zum Lesen und zum Anschauen in privatem Besitz. Der Text ist häufig in das Bild integriert und unmittelbar auf den jeweiligen Bildteil bezogen, so dass Schauen und Lesen (oder Hören) Hand in Hand gehen. Entsprechend dem illustrierten Einblattdruck übt dieses Lesemedium in das gleichzeitige Text- und Bildlesen jenseits des textierten spätmittelalterlichen Tafelbilds im Kirchenraum oder der nur Wenigen verfügbaren illustrierten Handschrift ein.
3.4 Lesemedien für Blinde Auch Blinde und sehbehinderte Menschen ›lesen‹, wenn auch nicht mit den Augen, sondern mit den Händen und den Ohren (vgl. Eberenz 2008). Schriftmedien für Blinde64 gibt es seit der Erfindung eines blindengerechten Schriftsystems, der Punktschrift, entwickelt von Louis Braille in Paris in den 1830er Jahren. Die einzelnen Schriftzeichen bestehen aus bis zu sechs tastbaren, in zwei senkrechten Zeilen unterschiedlich angeordneten Punkten, die sich mit Leerflächen (Zeichenzwischenräumen) abwechseln. Die Blindenschrift hat Schriftzeichen für Kleinbuchstaben. Großbuchstaben und Zahlen werden durch vorgesetzte Sonderzeichen angekündigt. Weiterentwicklungen der Vollschrift sind eine Kurzschrift und die Stenographie sowie eine Blindennotenschrift und Spezialschriften für Mathematik, Chemie und Physik. Die Braille-Zeichen werden in starkes Blindendruckpapier maschinell eingeprägt und die einzelnen Seiten zusammengeheftet oder mit einer Spiralbindung versehen. Häufigstes Format ist DIN A4. Die Punktschriftzeile hat eine Höhe von 10,4 mm, damit die Zeichen für das Abtasten nicht zu klein werden; eine Seite enthält 25 Zeilen zu je 28 Zeichen. Ein Band wiegt zwischen 1 bis 1,5 Kilogramm und ist bis zu 10 cm dick. Am Leseprozess sind das Leseorgan, die Lesehaltung und die Lesebewegungen beteiligt. Die Fingerspitzen beider Hände, meist Zeige- oder Mittelfinger, tasten die
64 Vgl. Rautenberg, Ursula: Punktschriftbuch. In: Dies. 2015a, S. 323.
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Braille-Zeilen von links nach rechts und oben nach unten ab. Das Punktschriftbuch liegt wegen seiner Größe und Schwere auf einer festen Unterlage, selten auf den Knien. Die Lesegeschwindigkeit eines Blinden liegt durchschnittlich zwischen 60 und 80 Wörtern pro Minute, bei einem geübten Leser zwischen 100 bis 150 Wörtern, und ist damit etwa zwei Drittel bis halb so schnell wie beim visuellen Lesen. Informationen, die für Sehende über Bildschirmmedien ausgegeben werden, können Blinde mit Hilfe eines Screenreaders erfassen, der die Schriftzeichen in gesprochener Sprache ausgibt oder in eine sog. Braille-Zeile umwandelt. Die BrailleZeile ist ein spezielles Gerät, das mit einem Computer verbunden wird, wobei bewegliche kleine Stifte, elektrisch gesteuert, gehoben oder gesenkt werden und so die Braille-Zeichen bilden. Schwarzschriftbücher und Zeitungen sind für Blinde über diese Technik zugänglich, wenn sie gescannt und mittels ›Optical Character Recognition‹ (OCR) in Text übersetzt werden. Diese Lesemedien dienen der Vermittlung von Schrift. Bilder sind im Blindenbuch nicht oder nur in einfachen Umrisslinien im Relief darstellbar. Auch Tabellen lassen sich, wenn sie komplex sind, nur schwer übertragen. Hinzu kommt, dass Geburtsblinden das räumliche Vorstellungsvermögen fehlt. Ein wichtiges akustisches Lesemedium für Blinde und Sehbehinderte ist neben dem kommerziellen Hörbuch seit wenigen Jahren vor allem das Digital-TalkingBook65 oder DAISY-Buch, das das analoge Blindenhörbuch abgelöst hat. Der weltweit durchgesetzte Standard ›Digital Accessible Information System‹ wandelt Druckwerke in gesprochene Sprache und Hörbücher strukturiert um. Trägermedium ist eine CD-ROM im DAISY-Format mit einer Speicherkapazität von 40 Stunden Laufzeit oder ca. 800 Buchseiten, die über ein spezielles Gerät abgespielt wird. Der Nutzer kann gezielt nach Informationen suchen, zwischen Hierarchieebenen wechseln, im Inhaltsverzeichnis ›blättern‹, eine Seite gezielt ansteuern, Lesezeichen setzen, die Sprechgeschwindigkeit verändern etc. Dieses digitale Lesemedium ermöglicht gegenüber den vorhergehenden taktilen und akustischen Blindenmedien eine Navigation, die erstmals Lesestrategien im Schwarzschriftbuch simuliert.
4 Einblättrige Lesemedien 4.1 Einleitung Die historische Vielfalt der einblättrigen, in der Regel einseitig von Hand beschriebenen oder bedruckten – häufig illustrierten – Lesemedien ist groß. In diesem Rahmen kann nur ein Ausschnitt geboten werden. Berücksichtigt werden Lesemedien, die
65 Vgl. Rautenberg, Ursula: Punktschriftbuch. In: Dies. 2015a, S. 121.
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sich über ihre Zugänglichkeit im öffentlichen Raum, ihre Verbreitung und ihre Inhalte an viele Rezipienten richten oder explizit für die Öffentlichkeit bzw. Teilöffentlichkeiten bestimmt sind. Privates Schrifttum wie Briefe und Korrespondenzen, Notizen etc. werden nicht behandelt, auch das moderne werbende Plakat ist ausgeschlossen. Der Schwerpunkt liegt auf den historisch wirkmächtigsten Formen: das mittelalterliche handschriftliche Einblatt, textierte graphische Blätter des 15. Jahrhunderts und typographische Einblattdrucke der Frühen Neuzeit, unter denen das illustrierte Flugblatt eine große und bedeutende Gruppe bildet. Weitaus mehr als für das Codexbuch gilt für diese ›kleinen‹ Medien, die für unterschiedlichste Inhalte offen sind, dass Rezeptionsweisen zwischen Lesen, Hören und Anschauen, Zeigen und Sehen changieren.
4.2 Die mittelalterliche Urkunde Die Urkunde ist seit ihren Anfängen im frühen Mittelalter ein einseitig beschriebenes Pergament- oder Papierblatt im Querformat; sie weist ein eigenes Layout auf. Peter Rück (1991, grundlegend; vgl. auch Honemann 2000, S. 6) hat am Beispiel der lateinischen deutschen Königs- und Kaiserurkunden aus der »normalen Kanzleiproduktion« der Ottonenzeit auf deren »bildhaften Charakter« (Rück 1991, S. 313) aufmerksam gemacht. Die »visuelle Rhetorik« von Urkunden als gängiges »Medium der Herrschaftsrepräsentation« (Rück 1991, S. 311) ist bisher kaum erforscht worden. Rück nennt vier Kriterien: von Buchschriften abweichende Urkundenschriften, die durch eine Betonung der Ober- und Unterlängen und Schmuckelemente wirken – Rück spricht von »heraldisch inszenierte[n] Schriften« –, die »plakative Funktion der Urkundenfläche« (Rück 1991, S. 316 u. 313), die mit Siegeln, graphischen Symbolen, Signets und Monogrammen den Inhalt beglaubigt, die Aufteilung der Schriftfläche in hierarchische Zonen, die den Blick auf die an der Beurkundung beteiligten Personen lenkt, sowie das Format, das den urkundlichen Text »auf einem Plateau serviert« (Rück 1991, S. 313). Die Urkunde wurde öffentlich gezeigt und feierlich verlesen, sie war weniger zum Lesen als zum Anschauen bestimmt (vgl. Rück 1991, S. 313). Damit rückt die Urkunde nach Volker Honemann in die Nähe des Anschlags. Im späten Mittelalter lässt sich die Zurschaustellung der Urkunde an eine große Öffentlichkeit besonders für die Ablassverkündigung nachweisen (vgl. Honemann 2000, S. 6). Die Ablassbullen wurden vor Publikum vorgelesen, gezeigt und angeschlagen, so dass der interessierte Gläubige sich ›mit eigenen Augen‹ von der Wahrheit der Verkündigung überzeugen konnte. Der Erwerb eines Ablasses wurde im Ablassbrief mit Name, Ort und Datum beurkundet. Die Ablassbullen und die Briefformulare mussten der Nachfrage entsprechend in vielen formal und inhaltlich identischen Exem plaren in kurzer Zeit hergestellt werden. Die handgeschriebene Massenproduktion wurde bereits in den ersten Jahren des Buchdrucks vom Typendruck abgelöst. Die ersten gedruckten Ablassbriefe (1454/55) sind mit den Typen der Gutenberg-Werkstatt gedruckt: »Die Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern führte hier zu einer
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sehr erheblichen Arbeits- und Kostenersparnis bei gleichzeitiger Verbesserung der Kommunikationsleistung.« (Honemann 2000, S. 40)
4.3 Die Schrifttafel und das textierte Tafelbild Bildtafeln und reine Texttafeln sowie textierte Tafelbilder des 15. Jahrhunderts unterscheiden sich von den mobilen Einblattmedien durch ihre dauerhafte Anbringung im öffentlichen Raum.66 Sie erreichen ein großes Publikum, obwohl sie in der Tafelform nur unikal existieren (vgl. die Übersicht bei Honemann 2000, S. 11–26; zu lehrhaften Bildtafeln bes. Slenczka 1998). Eine Schrift- und Bildtafel entsteht, indem ein einseitig beschriebenes, auch bedrucktes, Pergament- oder Papierblatt auf einer Holztafel fixiert wird. Die Tafeln dienen unterschiedlichen Kommunikationszwecken: Es finden sich Bibliothekskataloge, Texte zur Glaubensunterweisung, zur Anbetung Gottes und der Heiligen, Ablasstexte, amtliche Schriftstücke und chronikalische Texte. Das textierte Tafelbild ist Teil der spätmittelalterlichen Tafelmalerei und überwiegend religiösen Themen vorbehalten. Kürzere Texte finden sich in den Bildraum auf Spruchbändern integriert oder als Textblöcke unterhalb des Bilds bzw. der Einzelbilder von Bildserien, z. B. den Tafeln, die die Legende eines Heiligen darstellen. Als Schrift bzw. Schrift- und Bildkombinationen in öffentlichen Räumen brachten Tafel und Tafelbild Menschen aller Schichten in Kontakt mit Schriftlichkeit. Diese immobilen Schriftmedien dienen dem Anschauen und wurden vorgelesen, zeugen aber auch von einer im 15. Jahrhundert gesteigerten Lesefähigkeit (vgl. Honemann 2000, S. 25).
4.4 Textierte, gedruckte Einblattgraphik Die textierte Einblattgraphik (grundlegend und mit Forschungsbericht Griese 2011) ist wie das Blockbuch (vgl. Abschnitt 3.2) ein Phänomen des ausgehenden Mittelalters und des Übergangs der Text- und Bildproduktion in die neuen Vervielfältigungstechniken. Wie beim Blockbuch und den Tafelbildern handelt es sich um ein Schriftmedium, das eng mit dem ›Lesen‹ von Bildern verbunden ist, die nicht selten dominant sind. Textierte Einblattgraphiken liegen als geschlossene Text-Bild-Ensembles seit den 1420er Jahren vor, als neue Bilddrucktechniken wie Holzschnitt und Metallschnitt aufkamen; das Corpus umfasst ca. 800 Blätter mit Texten in deutscher, niederländischer und lateinischer Sprache vom kleinen Zettel bis zu großen Blattformaten (vgl.
66 Zur Tafel als Wandschmuck in privaten Räumen vgl. Griese, Sabine: Gebrauchsformen und Gebrauchsräume von Einblattdrucken des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. In: Volker Honemann u. a. (Hrsg.): Einblattdrucke des 15. und 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien. Tübingen 2000, S. 179–208.
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Griese 2011, S. 46). Die Texte sind in der Regel in der Technik des Bilddruckverfahrens hinzugefügt, aus einer Weichmetallplatte mit dem Grabstichel oder aus dem Holzstock mit dem Hohleisen als erhabene Linien herausgearbeitete Schriftlinien. Text und Bild konnten in einem Druckgang von der Druckform abgezogen werden. Mit dem Aufkommen des Typendrucks wurden Holzstöcke mit typographisch gesetzten Textblöcken kombiniert, beides Hochdrucktechniken, so dass auch hier die gleichzeitige Vervielfältigung möglich war. Die Themen der Blätter speisen sich aus der zeittypischen Frömmigkeitsliteratur, aus Didaxe und pragmatischer Schriftlichkeit (z. B. volksmedizinische Texte, historischer Ereignisdruck). Griese betont die enge Verbindung der Text- und Bildthemen mit der Überlieferung im Codex. Mit dem Wechsel in eine ›exklusive‹,67 separate Publikationsform ändern sich die Gebrauchsformen und Gebrauchsräume: Als technisch vervielfältigtes Medium liegt das Einblatt in vielen identischen Exemplaren vor, es ist mobiler und preiswerter als der handschriftliche Codex. Der Separatpublikation steht die massenhafte Verbreitung eines Text-BildMediums gegenüber, das nun auch individuell genutzt werden kann, z. B. in der intimen Schau des religiösen Bilds beim Lesen oder Sprechen der beigefügten Gebete und Meditationen (vgl. Griese 2011, S. 109, 123). Lateinische Texte und teils dominanter Einsatz von Schrift bei Parallelüberlieferung im Codex und Einblatt zeigen, dass die textierte Graphik sich an ein Publikum richtet, das mit den Grundzügen der Schrift vertraut ist und bis zur literaten Oberschicht reicht (vgl. Griese 2011, S. 30 f.). Charakteristisch für die gedruckte Einblattgraphik ist, dass eine enge Text-BildGemeinschaft in die individuelle und private Nutzung übergeht, wie sie wenig später für das illustrierte Flugblatt konstitutiv werden wird. Voraussetzung für das gleichzeitige Bild- und Text-Lesen sind die neuen preiswerten Bilddruckverfahren, die – anders als das unikale gemalte Andachtsbild des 15. Jahrhunderts – die Blätter einem breiten Publikum zur Verfügung stellten. Jenseits der aus dem illustrierten Codex eingeübten Text-Bild-Verbindungen entsteht eine konzentrierte Form von Lesen und Bilderlesen.68
67 Dazu auch Griese, Sabine: Exklusion und Inklusion. Formen der Überlieferung und des Gebrauchs von Literatur im 15. Jahrhundert. In: Felix Heinzer / Hans-Peter Schmit (Hrsg.): Codex und Geltung. Wiesbaden 2015 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien. 30), S. 175–190, hier S. 176: »Das bedeutet, dass Texte und Bilder aus einem bestimmten Kontext und Codex heraustreten, der bislang ihre Überlieferung dominierte, und exklusiv auf den Markt gebracht werden. Durch eine Publikationsform, die sich durch eine gewisse Auflage und vielleicht auch durch eine Text-Bild-Synopse Werbewirksamkeit und Sichtbarkeit verschafft, wird Exklusivität produziert.« 68 Vgl. auch Kap. 4.1.2 Mittelalter in diesem Band.
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4.5 Der Einblattdruck und das Flugblatt Der typographische Einblattdruck des 15. Jahrhunderts ist ein in der Regel einseitig bedrucktes Blatt unterschiedlicher Größe, das einen vollständigen, abgeschlossenen Text enthält und von einem Bild begleitet sein kann. Vorläufer sind die Einblatthandschriften im engeren Sinn, deren Zahl im 14. und 15. Jahrhundert anstieg. In einigen Fällen ist ein enger textlicher Zusammenhang zwischen Einblatthandschrift und Einblattdruck zu beobachten (vgl. die Übersicht bei Honemann 2000, S. 36–43). Auch wichtige Kennzeichen des Mediums sind bereits ausgebildet, Einblättrigkeit, einseitige Beschriftung und ein vorab geplantes Layout (vgl. Honemann 2000, S. 43 f.). Der typographische Textdruck hat den Vorteil, dass größere Textmengen auf der zur Verfügung stehenden Fläche untergebracht werden können, als dies mit den relativ großen Buchstaben im Metall- oder Holzschnitt technisch möglich war. Zum Ende des 15. Jahrhunderts hat der Einblattdruck im System der gedruckten Kommunikation einen wichtigen Platz eingenommen: Die Fülle und die weite inhaltliche Streuung des Materials lassen erkennen, daß es gegen Ende des 15. Jahrhunderts kaum einen Bereich menschlicher Existenz gab, der sich nicht in den Einblattdrucken und ihren Texten wiederfinden ließe. (Honemann u. a. 1999, S. 342)
Thematische Schwerpunkte liegen auf der Frömmigkeitsliteratur, der Heiligenverehrung und Gebetstexten, der Didaxe und lebenspraktischer Literatur sowie Ratgebern. Eine große Gruppe machen Almanache aus, Kalender, die auf Sonnen- und Mondfinsternisse und Aderlasstage etc. hinweisen, ebenso amtliche Ausschreibungen, wie z. B. Warnungen vor minderwertigen Münzen, und Erlasse oder Ablassschrifttum. Einblattdrucke, mit denen Professoren ihre Vorlesungen ankündigen oder Ärzte ihre Niederlassungen, gehen von Privatpersonen aus. Eine kleine, aber bedeutende Gruppe machen die Bücheranzeigen aus, die die reisenden Buchhändler an frequentierten Plätzen ihrer jeweiligen Aufenthaltsorte anschlugen. Im engeren Sinn literarische Texte sind weltliche und geistliche Lieder und das historische Ereignislied. Die frühen Formen einblättriger illustrierter Medien werden auch als ›Flugblatt‹ bezeichnet. Diese unscharfe Bezeichnung entsteht im 18. Jahrhundert nach dem französischen ›feuille volante‹ (fliegendes Blatt) und hebt den Aspekt der raschen und weiten Verbreitung an ein großes Publikum hervor. Dies trifft aber erst auf die Flugblattproduktion der Reformation zu, in der es zum Agenda-setzenden Diskus sionsmedium wird. Nach Michael Schilling (1990, grundlegend)69 unterscheidet sich das Flugblatt von den frühen Einblattmedien durch die Standardisierung des Layouts
69 Vgl. bes. auch Brückner, Wolfgang: Populäre Druckgraphik Europas. Deutschland. Vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. 2. Aufl. München 1975; Paas, J. R.: The German political broadsheet 1600–1700. 11 Bde. Wiesbaden 1985–2012.
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seit den 1530er Jahren (vgl. Schilling 1990, S. 3). Das Flugblatt zielt auf Gewinn; sein Warencharakter fordert eine »marktgerechte Gestaltung«, um möglichst viele Käufer (und Leser) zu erreichen: »[…] je größer und anonymer der Markt der Bildpublizistik wurde, desto wichtiger war eine auf Wirkung bedachte plakative Aufmachung« (Schilling 1990, S. 60). Typisch ist ein mittel- bis großformatiges Blatt mit einem dreiteiligen Aufbau (siehe Abb. 6). Der mehrzeilige Titel wird zeilenweise abgestuft vom großen zum kleineren Schriftgrad gesetzt. Darunter folgt das satzspiegelbreite Bild im Holzschnitt oder seltener im Kupferstich, das ein Viertel bis die Hälfte der Blattgröße ausmachen kann. Die untere Hälfte besetzt der Text in Versen oder Prosa in meist zwei oder mehreren Kolumnen und in kleinem bis sehr kleinem Schriftgrad, wenn viel Schrift untergebracht werden musste. Vielfach werden Trennlinien oder Holzschnittleisten verwendet, die den Satzspiegel rahmen und die Textblöcke abteilen. Damit wird eine kompakte, geschlossene Lesefläche erzielt, die den Stellenwert einer dispositiven Anordnung erreicht. Die Flächenaufteilung in Überschrift, Bild und Text lenkt ungeübte wie geübte Leser gleichermaßen, da diese Elemente stets zuverlässig in gleicher Position und Gewichtung erscheinen. Die Bilder vieler Flugblätter greifen ältere, eingeführte Bildmuster auf, die den Sehgewohnheiten des Publikums entgegen kamen (vgl. Schilling 1990, S. 70, in Bezug auf William A. Coupe). Überschrift und Text stellen viele explizite und implizite Bezüge zum Bild her. Eine besonders enge Verzahnung ergibt sich, wenn auf dem Bild dargestellte Personen oder Dinge mit Zahlen bezeichnet werden, die in den Erläuterungen Stück für Stück erklärend abgearbeitet werden. Die aus dem medizinisch-naturwissenschaftlichen und technischen Buch bekannte Methode der Text-Bild-Verknüpfung wird auf ein populäres Medium übertragen. Das hier vorgestellte Beispiel (Abb. 6) zeigt sechs Bildfelder im Kupferstich, die den Verlauf einer unglücklichen Ehe schildern. Über die Buchstaben bei einzelnen Bildszenen ist der Beginn thematisch passender protestantischer Kirchenlieder im Typendruck zu finden. Bereits der Titel verweist auf die alphabetische Gliederung als Schlüssel der Text-Bild-Zuordnung. Dieses Blatt hat eine unterhaltende ebenso wie eine erbauliche Funktion: Die unglückliche Ehe ist spätestens seit der spätmittelalterlichen Märendichtung ein Thema, das in Literatur und Kunst, z. B. am Motiv des ungleichen Paars, viel bearbeitet wird. Das 1616 erschienene Blatt, mit fein gearbeiteten Kupferstichen hochwertig ausgestattet, verbindet Komik, städtische Sozialdisziplinierung und protestantische Didaxe. Das illustrierte Flugblatt eignet sich durch seine Kürze, seine Erschwinglichkeit, den Vertrieb durch Wanderhändler (Kolportage) und nur eingeschränkt mögliche Zensur dazu, Neuigkeiten aller Art schnell an ein größeres Publikum zu bringen. Es richtet sich an den ›gemeinen Mann‹ (»alle rechts-, aber nicht herrschaftsfähigen Mitglieder einer städtischen und dörflichen Gemeinde«; Schilling 1990, S. 52), der über geringe Lesekenntnisse in der Volkssprache verfügte. Dass auch Gelehrte und Gebildete oder Herrscher zum Publikum des Flugblatts gehören, lässt sich aus lateinischen Blättern und solchen mit medizinisch-naturwissenschaftlichen Themen schließen, die auf der Höhe des Kenntnisstandes der Zeit sind. Besonders
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Abb. 6: [Rupert von Costenhof:] Bericht: wie es gehe / Gar nach dem ABC … Nürnberg: Peter Isselburg, 1616 (Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, A II 8 (366 × 262): Flugblatt mit Verweisen von Bildelementen zu Texten
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für die ereignisgebundenen, polemisch-agitierenden Blätter, Wunderzeichenblätter und solchen mit ungewöhnlichen Naturereignissen sowie alle Arten von Nachrichtenblättern (›Neue Zeitungen‹) zu politischen oder sonst aufsehenerregenden Ereignissen ist mit einer mehrstufigen Rezeption zu rechnen, die neben Sehen und Lesen oder Vorlesen die öffentliche Diskussion einschließt. Neben den genannten Inhalten übermitteln die Flugblätter weiterhin erbauliche und religiöse Themen und im engeren Sinn kurze literarische Texte wie Lied, Spruchdichtung, Fabel und Schwank. Herausragend sind die illustrierten Blätter des Nürnberger Autors Hans Sachs, der in enger Zusammenarbeit mit Nürnberger Kleinmeistern und Druckern stark am städtischen Publikum orientierte Layoutformen entwickelte. Die Illustrationen sind eigens für die Texte des Autors angefertigt und die Zahl der Verse an das geplante Layout angepasst. In vielen Fällen sind die Blätter beispielhaft für das standardisierte Layout. Als meinungsbildendes und meinungsbeeinflussendes Medium wurde das illu strierte Flugblatt von der Reformation bis ins 18. Jahrhundert eingesetzt, während es als Nachrichtenmedium mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts Konkurrenz durch die periodische Presse bekam. Diese übernahm im Laufe des 18. Jahrhunderts Funktionen des Flugblatts.70 Höhepunkte der Flugblattproduktion lagen in der Reformation und im Dreißigjährigen Krieg, der Französischen Revolution, im Vormärz und in den Revolutionsjahren 1848/49. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts trat der Bilderbogen als Massenprodukt für unterhaltende und satirische Genres hinzu; Produktionszentren waren Épinal, Augsburg und Nürnberg. Die Bilderbogen enthielten in der Normalform seit dem 18. Jahrhundert eine Geschichte, die in acht bis zwölf Bildern erzählt wird; Text konnte die Bildfolgen begleiten. Die Bilddrucktechnik der Lithographie ermöglichte seit dem 19. Jahrhundert den preisgünstigen Mehrfarbendruck, so dass spezialisierte Verlage einen großen Markt für Kinder und Erwachsene bedienten.71 In der Moderne entfällt der Warencharakter des Flugblatts: Es wird zum kostenlos verteilten Medium der politischen und religiösen Propaganda, der Werbung und der Ankündigung von Ereignissen (vgl. Bangerter-Schmidt 1999).
5 Zusammenfassung Die einblättrigen Lesemedien bilden seit dem Mittelalter im Medienverbund eine bedeutende Gruppe großer formaler und inhaltlicher Vielfalt, deren Bedeutung sich vor allem für die frühe Zeit nur in Umrissen erschließt. Vom Codex unterscheidet sich das Einblattmedium durch Abgeschlossenheit auf knappem Raum, rasche und
70 Vgl. Kap. 2.2.3 Zeitung und Zeitschrift in diesem Band. 71 Vgl. Weichselbaumer, Nikolaus: Bilderbogen. In: Rautenberg 2015a, S. 55 f.
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unaufwändige Produktion, einen günstigen Preis, genaue Abstimmung auf Publika, mehrstufige Rezeption und die Funktion des Agenda-Settings in der öffentlichen Diskussion. Es zeigt sich auch, dass von den Anfängen an das Bild konstitutiv ist: als Blickfang, zur Unterstützung von Andacht und Meditation, zur Beglaubigung der Nachricht, zur Darstellung komplexer Inhalte und Zusammenhänge oder einfach zur Schau von und zum Schaudern über exotische, außerordentliche und fremde Ereignisse. Innovationsschübe entstehen in der Folge neuer Bildreproduktionstechniken. Die vielfältigen Beziehungen zwischen Bild und Text üben auf kleinstem Raum das ›Lesen‹ von Medienverbünden ein, wobei für die Menge der Leser das Bild der Anlass und Ausgangpunkt der Rezeption gewesen sein dürfte.
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Ursula Rautenberg
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Astrid Blome
2.2.3 Zeitung und Zeitschrift Zusammenfassung: Der Beitrag bietet einen chronologisch-systematischen Überblick über den formalen Aufbau der Zeitung und ihre Vermittlungsqualitäten. Im Mittelpunkt stehen deutsche Zeitungen, mit vertiefenden Einblicken in die Entwicklung der internationalen Presse und die ausdifferenzierten Zeitschriftenlandschaften des 18. bis 21. Jahrhunderts. Analysiert werden die Auswirkungen technologischer Entwicklungen, einer zunehmenden Informationsdichte und neuer Präsentationsformen im Hinblick auf die Rezeptionsmöglichkeiten der Leser. Abstract: This article provides a chronological and systematic summary of the formal structures of a newspaper and its qualities as an information medium. It focuses on German newspapers, with some more expansive consideration also of the development of the international press and the multifaceted range of periodical literature of the 18th – 21st centuries. This article analyses the impact of technological developments, an increasing information density, and new forms of presentation as they affect the potential for reader response.
Inhaltsübersicht 1 Zeitungsdesign — 337 2 Erscheinungsbild der periodischen Presse im 17. und 18. Jahrhundert — 338 2.1 Frühe deutschsprachige Presse — 338 2.2 Inhalt, Gliederung und Lesebedingungen — 339 2.3 Die ersten niederländischen Zeitungen — 341 2.4 Englische Zeitungen im 17. und 18. Jahrhundert — 342 2.5 Zeitschriften im 17. und 18. Jahrhundert — 343 2.6 Produktionsökonomie und Zeitungslayout im 18. Jahrhundert — 345 2.7 Leserführung in der Lokalpresse des 18. Jahrhunderts — 346 3 Zeitungsdruck im 19. Jahrhundert — 347 3.1 Technische Entwicklungen und ihre Auswirkungen — 347 3.2 Wandel der Zeitungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts — 348 3.3 Illustrationen: Magazine und Familienzeitschriften — 349 3.4 Illustrierte Zeitungen — 350 4 Die Zeitung im 20. Jahrhundert — 351 4.1 Nachrichtenumfang und Rezeptionshilfen — 351 4.2 Tendenzen der Zeitungsgestaltung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts — 352 4.3 Zeitungen und Magazine unter dem Einfluss der visuellen Kultur — 354 5 Modernes Zeitungsdesign: Aufgaben, Ansprüche, Umsetzung — 355 6 Literatur — 357
1 Zeitungsdesign Bis heute konzentrieren sich Untersuchungen zu den materiellen und insbesondere zu den funktionalen Qualitäten von Druckprodukten auf das Buch. Eine systematische Betrachtung der Ebenen von Text und Design in der periodischen Presse
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als Einheit findet erst in den letzten Jahrzehnten angesichts der Krise der gedruckten Zeitung statt, die die Notwendigkeit der Profilschärfung in Konkurrenz zu den (mobilen) Onlinemedien zeigt. Sie wird angeführt von Zeitungsdesignern im Hinblick auf eine praktische grafische und journalistische Umsetzung.
2 Erscheinungsbild der periodischen Presse im 17. und 18. Jahrhundert 2.1 Frühe deutschsprachige Presse Als Johann Carolus 1605 mit der Relation Aller Fürnemmen vnd gedenckwürdigen Historien die erste Zeitung druckte – definiert durch die Kriterien Aktualität, Universalität, Periodizität und Publizität –, führte er zwei etablierte Gewerbe zusammen: den Buchdruck und den professionellen Informationshandel mit handschriftlichen Nachrichtenbriefen, den geschriebenen Zeitungen (vgl. Weber 1992, 1999, 2005; Welke 2008). Dabei übernahm die gedruckte wöchentliche Zeitung die inhaltliche und formale Struktur des Nachrichtenbriefs, die unkommentierte Aneinanderreihung von Ereignisberichten aus verschiedenen Korrespondenzorten, und setzte sie mit den technischen Mitteln des Buchdrucks um. So konnten die Leser vertraute Lesestrategien der Buch- bzw. Nachrichtenlektüre auf das neue Medium übertragen, und der Inhalt der geschriebenen Zeitungen erreichte eine größere Öffentlichkeit als zuvor (vgl. Droste 2011; Böning 2008, 2011). Bis weit in das 18. Jahrhundert erschienen die deutschsprachigen Zeitungen in der Regel im Format bzw. Umfang eines halben Bogens von vier Quart- oder acht Oktavseiten. Der einspaltige Druck von rund 3000 bis 3500 Schriftzeichen in kleinem Schriftgrad (Petit, 8 bis 10 Punkt) umfasste meist 30 bis 40 kompress gesetzte Zeilen im Blocksatz. Jahrestitelblätter unterstrichen die Funktion der Zeitungen als fortlaufende Jahreschronik: Sie zeichneten die Zeitgeschichte auf und wurden als Quelle der zeitgenössischen Geschichtsschreibung genutzt. Solche Titelblätter zeigten Schmuckrahmen und allegorische Darstellungen und listeten die geografische Nachrichtenherkunft auf, sie verwiesen auf besondere ›Merkwürdigkeiten‹, auf die ›Denckwürdigkeit‹ der Nachrichten und deren genaue, unverfälschte Wiedergabe. Diese Formulierungen unterstrichen die Bedeutung der Informationen ebenso wie die ›Objektivitiät‹ des Mediums Zeitung als unbeteiligter Nachrichtentransporteur. Die Titel der Einzelzeitungen und deren Informationsgehalt variierten erheblich. Stücktitel, Erscheinungsdatum und Ausgabenummer waren vom Textblock durch meist einfache Trennlinien abgesetzt. Einige Zeitungen waren durchlaufend paginiert als Grundlage zur Orientierung für nachgelieferte Register. Manche Titel illustrierten mit kleinen Holzschnitten und tradierten Bildmotiven, wie Postreiter, Fama, Merkur
2.2.3 Zeitung und Zeitschrift
339
oder Bote, die mediale Funktion der Zeitung, die Regelmäßigkeit der Nachrichtenübermittlung und die Nähe zur Post, die ihr prinzipiell Glaubwürdigkeit verlieh (vgl. Bogel / Blühm 1971/1985). Wappen oder stilisierte Stadtansichten waren selten, denn die Individualisierung durch den Verweis auf den Ausgabeort setzte sich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch. Die ersten überlieferten Zeitungen zeigten deutliche Unterschiede. Die Straßburger Relation war nur von einer ornamentalen Schmuckleiste geziert, sonst folgte sie mit ihrem kompressen Satz dem Erscheinungsbild der geschriebenen Zeitungen. Der 1609 in Wolfenbüttel gegründete Aviso. Relation oder Zeitung knüpfte hingegen an die Gestalt der ›Neuen Zeitungen‹ an mit ganzseitigem Titel, einer Auflistung der Nachrichtenorte sowie einem großflächigen Titelholzschnitt. Die wöchentlich aktualisierte Aufzählung der Nachrichtenorte hatte werbende Funktion. Sie spiegelte die Vielfalt des Inhalts wider, bot als Textgliederungshilfe Orientierung und informierte über die Abfolge der Nachrichten. Eine selektive Lektüre war dadurch möglich, jedoch aufgrund des geringen Umfangs, der Exklusivität des Mediums, der Relevanz des Inhalts für die Leser und der Kosten für den Erwerb unwahrscheinlich.
2.2 Inhalt, Gliederung und Lesebedingungen Die inhaltliche Gliederung der Zeitungen folgte dem ›Korrespondenzprinzip‹ (vgl. Schröder 1995, S. 58–68), der Sammlung aktueller Nachrichtenzusammenstellungen aus verschiedenen Korrespondenzorten. Die Nachrichtenabfolge war durch die Reihenfolge ihres Eintreffens beim Drucker vorgegeben, abhängig von der Ankunft der Post am Erscheinungsort. Typographisch wurden alle Informationen gleich behandelt und gleichwertig vermittelt. Die Textblöcke waren einheitlich in Fraktur gesetzt, Fremdworte oder herausgehobene, fremdländische Ortsangaben in Antiqua, der Standardschrift für Latein und die romanischen Sprachen. Zentrierte Überschriften mit Ort und Datum der Korrespondenz gliederten den Text, gaben jedoch nur Auskunft über den Sammelpunkt und das Alter der Informationen. Der Leser war zur Lektüre der vollständigen Korrespondenzen gezwungen, um die für ihn interessanten Informationen herauszufiltern, da die Einzelnachrichten außer durch die Satzzeichen optisch nicht voneinander getrennt waren. Keine Meldung war wegen ihres Inhalts hervorgehoben, die Beurteilung ihrer Relevanz wurde an den Leser delegiert. Bereits im 17. Jahrhundert mahnte der erste ›Zeitungstheoretiker‹ Kaspar Stieler daher eine ordnende Hand und einen einleitenden Vorspann an (vgl. Stieler 1695, 160 f.). Der Satzspiegel konnte abhängig vom Umfang des vorhandenen Nachrichtenmaterials insbesondere auf den letzten Seiten variieren, indem z. B. kleinere Schriften verwendet wurden, wenn wichtige Meldungen eintrafen und noch zusätzlich gedruckt werden sollten. Unter einer Trennlinie abgesetzt fanden sich nach Bedarf weitere Informationen wie das Impressum, Hinweise auf Verlagsangebote, Anzeigen oder auch Erklärungen zum Ausbleiben der Nachrichten.
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Astrid Blome
Abb. 1: Wöchentliche Zeitung auß mehrerley örther. Hamburg. Nr. 27 aus dem Jahr 1623. (Reproduktion: Bremen, Institut Deutsche Presseforschung: Z 9)
2.2.3 Zeitung und Zeitschrift
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Gestalterische Unterschiede im Erscheinungsbild von Buch und Zeitung sind auf die spezifischen Anforderungen des Zeitungsdrucks zurückzuführen. Aus Gründen der Zeitersparnis mussten die Arbeitsabläufe rationalisiert und vereinfacht werden. Im Zeitungsdruck wurde weniger Mühe auf das Spationieren verwendet als im Buchdruck. Das Papierformat war geringfügig kleiner, das Anfeuchten des Papiers vor dem Druck entfiel, weshalb oftmals geringerwertiges, jedoch saugfähigeres Papier als im Buchdruck verwendet wurde. Dadurch konnte eine dünnflüssigere und weniger stark haftende Druckfarbe benutzt werden, so dass die Lettern beim Farbauftrag mit den Ballen seltener haften blieben und sich die Gefahr der Unterbrechung des Druckens verminderte (vgl. Welke 2000). Zeitungen wiesen dadurch öfter ein weniger sauberes Druckbild als eine Buchseite auf, und auch die Gefahr des Durchschlagens war größer. Abbildungen wurden den Zeitungen nur äußerst selten beigegeben, da die Herstellung von Bilddruckstöcken zeit- und kostenintensiv war. Die Anforderungen an den Leser eines Buchs oder einer Zeitung waren im 17. Jahrhundert jedoch insofern ähnlich, als sich der Zeitungsdruck der gleichen technischen Mittel bediente wie der Buchdruck. Aufbau und Erscheinungsbild einer Zeitungsseite waren dem einer Buchseite vergleichbar und implizierten das lineare Lesen. Die Überschriften als Gliederungshilfen bereiteten jedoch die Möglichkeit der selektiven Rezeption vor, des informierenden Lesens, das nach einer Einteilung des Texts in überschaubare Einheiten verlangt (vgl. Willberg / Forssman 2010, S. 22–27). Die leicht verminderte Druckqualität bei kleineren Schriftgrößen konnte das Aufnehmen und Verarbeiten der Informationen für einen weniger geübten Leser ebenso erschweren wie die inhaltlichen Anforderungen (Sprachstil, Kontextualisierung etc.). Der einspaltige Satz in breiten Zeilen bei kleiner Schrifttype stellte zudem hohe Anforderungen an das Ultrakurzzeitgedächtnis des Lesers (vgl. Meissner 2007, S. 51). Für die Rezipienten handschriftlicher Nachrichten verbesserte der Übergang zur gedruckten Zeitung das Informationsangebot im Hinblick auf den Umfang und die Vielfalt der Nachrichten sowie auf den Preis. Allerdings verloren die gedruckten Informationen durch den größeren Leserkreis an Exklusivität. Die neue, größere Öffentlichkeit der gedruckten Zeitung erweiterte das Lesepublikum und die kontinuierliche Rezeption und Diskussion aktueller Zeitereignisse deutlich. Die Leserzahl pro Exemplar wird erheblich höher als heute geschätzt, Zeitunglesen bedeutete für viele Rezipienten Zeitung hören (Wirtshaus, Familie, Zeitungsbuden).
2.3 Die ersten niederländischen Zeitungen Während im deutschen Sprachraum das traditionelle Format und Layout des Buchdrucks die Gestaltung der frühen gedruckten Zeitungen für das Lesepublikum ebenso prägten wie die Form der geschriebenen Zeitungen, wählten die ersten Drucker in den Niederlanden zunächst andere Lösungen. Die frühesten Amsterdamer Zeitungen, Courante uyt Italie und Tydinghen uyt Verscheyde Quartieren, erschienen 1618
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als großformatige Blätter in Folio, einseitig in zweispaltigem Satz mit Trennlinie gedruckt, und brachten pro Spalte etwa doppelt so viele Zeilen auf der Seite unter wie die deutschen Nachrichtenblätter. Die Textgliederung erfolgte wie bei den deutschen Zeitungen durch Angabe des Korrespondenzorts, im Weekelycke courante van Europa hingegen durch die geografische Einordnung mit Ländernamen, jedoch meist in der gleichen Schriftgröße wie die Nachrichtenblöcke. Diese Überschriften strukturierten den Text deutlich weniger, da der einseitige Druck aus Platzgründen keine Leerzeilen zuließ. Auch Einrückungen zu Beginn neuer Textblöcke waren kleiner. Die für die nationalsprachigen Zeitungen verwendete niederländische Textura hatte eine engere Laufweite, das Schriftbild war kompress, der Durchschuss geringer, der Grauwert höher. Die Textstruktur war weniger gegliedert und langsamer zu erfassen, so dass an die Konzentration der Leser höhere Ansprüche gestellt wurden (vgl. Hillgärtner 2013). Die Lektüre knüpfte stärker an das klassische, aus dem Buchdruck vertraute lineare Lesen (vgl. Willberg / Forssman 2010, S. 16–21) an als bei den deutschen Zeitungen. Das größere Format, der kompresse Satz und die Gliederungshilfen werden als Indizien für Funktionsunterschiede der deutschen und der ersten niederländischen Zeitungen mit abweichenden Rezeptionsformen gedeutet. So schließt Jan Hillgärtner aufgrund des größeren Formats die Möglichkeit eines öffentlichen Aushangs in Wirtshäusern, Werkstätten oder Handelshäusern nicht aus (vgl. Hillgärtner 2013, S. 66). Das öffentliche Auslegen und gemeinschaftliches Lesen bzw. Hören ist jedoch ebenso für die kleinformatigere deutsche Presse belegt und war eine traditionelle Form der Kollektivlektüre. Da man auch in den Niederlanden bereits 1620 begann, beidseitig zu drucken, waren Einzelausgaben für einen Aushang ungeeignet, und bei den folgenden Zeitungsgründungen des 17. Jahrhunderts war das Quartformat verbreitet.
2.4 Englische Zeitungen im 17. und 18. Jahrhundert Im englischen Sprachraum entwickelte sich im 17. Jahrhundert neben dem viersei tigen Nachrichtenblatt im Quart- und dem zweiseitigen Zeitungsblatt im Folioformat das von den Zeitgenossen sog. ›News-Book‹ (vgl. Raymond 1996). Diese wöchent lichen Nachrichtenblätter im Umfang von acht bis sechzehn Seiten im Quartformat fassten mit dem Titel summarisch den Bereich der Nachrichten (z. B. Inland, Ausland, Hof) sowie den Berichtszeitraum zusammen und gaben dem Leser vorab eine Orientierung über die Inhalte. Die Angabe des Berichtszeitraums, bei dem das Enddatum den Erscheinungstag vorgab, und die fortlaufende Paginierung waren Hinweise auf die intendierte Doppelfunktion der Zeitung als aktuelles Informationsmedium und Archiv der Gegenwart. Der einspaltige Satz in Antiqua und die Strukturierung der Inhalte und Textblöcke folgten bei den News-Books mit auswärtiger Berichterstattung dem kontinentalen Zeitungsvorbild und ermöglichten eine geografische Selektion. Hingegen waren die langen, zusammenhängenden Textblöcke in den News-Books mit Hof- und Regierungsnachrichten wenig strukturiert und deutlicher auf ein line
2.2.3 Zeitung und Zeitschrift
343
ares Lesen ausgerichtet. Orientierung boten hier einzig Absätze bei inhaltlich neuen Themenkomplexen, während die Binnenstruktur der Textblöcke unauffällig war. Im Druckbild hervorgehoben durch Kursive waren Orts- und Personennamen, Institutionen oder wörtliche Zitate, so dass ein rascheres, informierendes Lesen möglich wurde. Die Aufmachung und die intendierte Archivfunktion der News-Books führten im Verlauf des 17. Jahrhunderts zur Entwicklung von Monats- und Vierteljahresschriften, die die Nachrichten des jeweiligen Berichtszeitraums zusammenfassten, und zur Aufnahme von monatlichen Pressespiegeln in Zeitschriften wie The Gentleman’s Magazine oder The London Magazine (vgl. Winkler 2008, S. 141). Ebenfalls weit verbreitet war in der englischen Presse des 17. Jahrhunderts das Folioformat mit zwei Textspalten, geprägt ab 1665 durch The Oxford Gazette (1666: The London Gazette). Der Satzspiegel wies nur eine schwache Binnengliederung auf. Hervorhebungen von Orts- und Personennamen oder institutionellen Bezeichnungen sowie wörtlicher Rede erfolgten ebenfalls in Kursive, jedoch nicht als sachbezogene Auszeichnungen. Insgesamt waren auch diese Zeitungen auf die lineare Lektüre ausgerichtet, auf die gleichmäßige und gleichberechtigte Aufnahme aller Informationen. Im Vergleich zu den frühen niederländischen Zeitungen dieses Formats boten sie jedoch mit einer größeren Laufweite der Schrift, größerem Durchschuss und durch die Verwendung der Antiqua einen deutlich höheren Lesekomfort. Außerdem trennte The London Gazette durch die Anordnung der Informationen die redaktionellen Inhalte und die Inserate, so dass sie »den Anzeigenraum auf einen Blick zum Charakteristikum einer Zeitung werden« ließ (Winkler 2008, S. 142). In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wurden fiskalische Erwägungen prägend für die Gestalt der englischen Nachrichtenblätter. Flugschriften von mindestens anderthalb Bogen Umfang waren geringer besteuert als Zeitungen, so dass die Zahl der Wochenzeitungen im Umfang von sechs Seiten im Folioformat bei zweispaltigem Druck wuchs. Das Bogenformat vergrößerte sich stetig, und ab 1725 setzten sich vierseitige Blätter mit dreispaltigem Layout auf einem halben Bogen mit redaktionellem und anschließendem Anzeigenraum durch (vgl. Winkler 1993, 2008). Das dreispaltige Layout wurde kennzeichnend für englische Zeitungen.
2.5 Zeitschriften im 17. und 18. Jahrhundert Noch stärker als die Zeitungen waren die frühen Zeitschriften dem gedruckten Buch vergleichbar, galten doch für sie die gleichen technischen Voraussetzungen. Die ersten wissenschaftlichen Zeitschriften, das Journal des Sçavans und die Philosophical Transactions, beide erschienen ab 1665, zeigten sich im Erscheinungsbild wie ein in einzelnen Lieferungen herausgegebenes Buch mit Jahrestitelblatt, fortlaufender Seitenzählung, Kopfzeile (Journal des Sçavans, Nouvelles de la République des Lettres) und gelegentlichen Marginalien. Einzige Abweichung war die Kennzeichnung der Ausgaben durch Stücktitel, Datumsangabe und Herausgeber (Journal des Sçavans).
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Die innere Textgliederung des einspaltigen Drucks in Antiqua, in deutschsprachigen Zeitschriften in Fraktur, war durch Überschriften in größeren Lettern oder Kursiven vorgegeben, die jeweils neue Sachverhalte (Rezensionen, Aufsätze usw.) einleiteten, sowie durch Absätze. In denjenigen historisch-politischen Zeitschriften, die im 18. Jahrhundert die Form des Gesprächs als literarisches Mittel wählten (Gespräche In dem Reiche Derer Todten, Politische Gespräche im Reiche der Todten u. a.), erfolgte die Textgliederung z. B. durch Namensnennung der fiktiven Gesprächspartner als Über-
Abb. 2: Wiennerisches Diarium. Nr. 151 vom 10.–13.1.1705. (Wien, ÖNB: 1005524-D)
2.2.3 Zeitung und Zeitschrift
345
schrift. Das wöchentliche oder monatliche Erscheinen machte einen erheblich größeren Umfang möglich, der bei den historisch-politischen oder literarischen Journalen zwischen 80 und 120 Seiten pro Ausgabe umfassen konnte. Die Zeitschriften im Quart- oder Oktavformat wiesen einen höheren Lesekomfort auf als die Tagespublizistik. Laufweite und Durchschuss waren größer und das Druckbild insgesamt einheitlicher und oftmals sauberer als bei den Zeitungen. Auch Abbreviaturen waren aufgrund des zur Verfügung stehenden Platzes seltener. Zeitschriften waren auf eine intensive, lineare Lektüre ausgerichtet. Orientierung boten die Jahrestitel, die teils aufwändig gestaltet und inhaltsbeschreibend, mit Impressum und ergänzenden Angaben zum Autor versehen waren. In den einzelnen Ausgaben gaben Überschriften und Kopfzeilen den Zusammenhang vor. Oftmals wurden im Nachhinein Jahresregister ausgegeben, die als Aufsatz-, Autoren- oder Sachregister das Auffinden der einzelnen Beiträge eines Jahrgangs erleichterten und nachträglich ein konsultierendes Lesen ermöglichten (vgl. Willberg / Forssman 2010, S. 34–39). Größere Erscheinungsintervalle und höhere Verkaufspreise machten es möglich, insbesondere in monatlich erscheinenden Zeitschriften auch Abbildungen zu veröffentlichen. Verbreitet waren wie im Buchdruck Titelkupfer und Frontispiz, das Personen oder allegorische Darstellungen zeigte. Eine Besonderheit waren Eberhard Werner Happels (1647–1690) populärwissenschaftliche Grösseste Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genandte Relationes curiosae (1683–1691), die als achtseitige, zweispaltig gesetzte Zeitungsbeilage zum Hamburger Relations-Courier herausgegeben wurden (vgl. Egenhoff 2008; Schock 2011). Fortlaufend paginiert, sollte die Zeitschrift in wöchentlichen Lieferungen zu einem umfassenden Kompendium des Wissens zusammengefügt werden mit einem ausführlichen Bandtitel, Dedikation, Vorrede, Einleitung, Sachregister sowie einer Anweisung zum Einbinden der Kupfer. Die Einzelbeiträge konnten durch hervorgehobene Überschriften leicht gefunden werden. Zudem zeichneten sich die Relationes curiosae durch einen hohen Anteil an Kupfern aus, die der ergänzenden Information und Visualisierung der beschriebenen Persönlichkeiten, Orte oder Ereignisse dienten und zugleich parallele Informationsträger werden konnten.
2.6 Produktionsökonomie und Zeitungslayout im 18. Jahrhundert Die im 17. Jahrhundert ausgebildeten, grundsätzlichen Tendenzen der Zeitungs- und Zeitschriftengestaltung, der Informationsaufbereitung und der Leserführung hatten bis in das 19. Jahrhundert hinein Bestand. Sie waren nicht von Leserorientierung, sondern von der Produktionsökonomie bestimmt. Die periodische Presse musste sich weiterhin derselben mechanischen Mittel wie der Buchdruck bedienen. Daher waren nur vergleichsweise marginale Veränderungen z. B. bei der Bogengröße, beim ein- oder mehrspaltigen Satz, in der Typographie oder in der Auszeichnung durch größere und neue Schrifttypen und zusätzliche Symbole möglich. Redaktio
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nelles Prinzip war das Sammeln und die Wiedergabe von Informationen, Textgliederungen setzten sich erst allmählich durch. In der bedeutendsten deutschen Zeitung des 18. Jahrhunderts, der ab 1712 bzw. 1721 erschienenen Sta(a)ts- u. Gelehrten Zeitung des Hollsteinischen / Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, fanden sich Ansätze einer Rubrikeneinteilung sowie eine Vorstufe des Feuilletons mit Nachrichten über Das Neueste in Kunst- Natur und gelehrten Sachen. Die Augsburger Allgemeine Zeitung führte im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ein knappes Inhaltsverzeichnis unter dem Titelkopf ein, um dem Leser die Übersicht über die oft mehrere Spalten langen Artikel zu erleichtern. Inhaltlich blieb in den deutschen Zeitungen des 17. und 18. Jahrhunderts der Faktenbericht bestimmend. Ausführlichere Ereignisberichte wurden insbesondere mit den Geschehnissen der französischen Revolution erforderlich, so dass sich seit dem späten 18. Jahrhundert vereinzelt Berichtsformen ergaben, in denen die Überschriften bereits Auskunft über den Inhalt gaben oder aber der Text mit einer kurzen Zusammenfassung des Inhalts eingeleitet wurde.
2.7 Leserführung in der Lokalpresse des 18. Jahrhunderts Während in den Zeitungen erst im späten 19. Jahrhundert die Strukturierung und Auszeichnung der Beiträge durch inhaltbezogene Überschriften selbstverständlich wurde, fanden sich in der Pressegattung der Anzeige- oder Intelligenzblätter bereits im 18. Jahrhundert starke Elemente der Leserführung. Sie erschienen unter Titeln wie ›Frag- und Anzeigungs-Nachrichten‹, ›Intelligenz-Blatt‹, ›Wöchentliche Anzeigen‹, ›Gemeinnütziges Wochenblatt‹ ab 1722 (Franckfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten) ein- bis zweimal wöchentlich im Umfang von zunächst meist vier Seiten im Quartformat als lokale Wochenblätter und enthielten neben redaktionellen Inhalten vor allem private Anzeigen und amtliche bzw. halbamtliche Veröffentlichungen. Die redaktionellen Beiträge waren mit inhaltlichen Überschriften ausgezeichnet, die Inserate in wiederkehrenden Rubriken wie Käufe / Verkäufe, Vermietungen / Verpachtungen, Stellenangebote / -gesuche usw. geordnet. Die Bezeichnungen wiederholten sich in den ersten Jahrzehnten als werbendes Inhaltsverzeichnis allwöchentlich auf dem Titel bzw. im Untertitel der Anzeigeblätter. Die differenzierte Rubrizierung signalisierte eine Ordnungsleistung, die dem Leser, sei er potenzieller Inserent oder Käufer, eine kompetente Bewertung und Bearbeitung seiner Interessen versprach. Die kurzen Texteinheiten der Anzeigen wurden bei verfügbarem Raum deutlich voneinander abgesetzt. Die redaktionellen Artikel, die durchaus auch aus Kurzbeiträgen bestehen konnten, hoben sich durch den kompakteren Satz vom Serviceteil ab. Die Anzeigeblätter setzten ihre selbstdefinierte Aufgabe, dem ›gemeinen Nutzen‹ zu dienen, mit den Mitteln des übersichtlich strukturierten Wochenblatts um, sie stellten lokale und regionale Öffentlichkeiten her und brachten Menschen mit einander ergänzenden Bedürfnissen zusammen. Voraussetzung war die adäquate Vor- und Aufbereitung des
2.2.3 Zeitung und Zeitschrift
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Informationsaustauschs, die mit typographischen Mitteln und Auszeichnungen das konsultierende Lesen des Wochenblatts vorsah.
3 Zeitungsdruck im 19. Jahrhundert 3.1 Technische Entwicklungen und ihre Auswirkungen Seit dem 18. Jahrhundert zählte der Zeitungsdruck, der ein großes Maß an Energie und Rohstoffen erforderte, zu den Impulsgebern wie zu den größten Profiteuren der Entwicklung des Druckgewerbes. Die technologischen Neuerungen des 19. Jahrhunderts schufen neue Grundlagen, so dass sich Gestalt und Layout der Tagespresse stetig veränderten. Der Übergang von der hölzernen zur eisernen Buchdruckerpresse (Stanhope-Presse, Columbia-Presse) erhöhte die Stabilität der Pressen und senkte den benötigten Kraftaufwand bei einem größeren Druck auf den Tiegel, so dass größere Druckbögen verwendet werden konnten. Die Stanhope-Presse kam bald bei den englischen Tageszeitungen wie der Londoner Times zum Einsatz, die aufgrund des größeren Formats im Vierspaltendruck erschien. Zur besseren Leserorientierung waren Spalten und Einzelbeiträge, beginnend mit den Inseraten auf der ersten Seite, durch Linien getrennt, mit Überschriften meist in Versalien sowie Initialen zu Beginn des Texts versehen und offizielle Veröffentlichungen durch Kursive hervorgehoben. Die Langsieb-Papiermaschinen von Nicolas-Louis Robert (1761–1828) und die Verbesserungen durch Henry Fourdrinier (1766–1854) und Bryan Donkin (1768–1855) ermöglichten die Herstellung von Papier in neuen Größen und von Endlospapierrollen. Die Typographie erlebte einen Aufschwung, die Auswahl an Stilen und Schriftgraden nahm rapide zu. Das Problem des hohen Papierbedarfs löste schließlich Friedrich Gottlob Keller (1816–1895). Das Intelligenz- und Wochenblatt für Frankenberg mit Sachsenburg und Umgegend erschien 1845 als erstes periodisches Druckwerk auf Holzschliffpapier. Ein Meilenstein in der Geschichte des Zeitungsdrucks war die Erfindung der dampfgetriebenen Zylinderschnellpresse durch Friedrich Koenig (1774–1833) und Andreas Bauer (1783–1860), auf der am 29. November 1814 als erste Zeitung in London The Times gedruckt wurde und die seit den 1820er Jahren bei den großen Zeitungen in Berlin, Augsburg, Hamburg, Stuttgart, Köln usw. zum Einsatz kam. Sie ermöglichte nicht nur eine erhebliche Beschleunigung des Druckvorgangs, sondern auch eine Vergrößerung der Druckformate und steht am Beginn der Entwicklung zur Massenpresse. Mit den Rotationsdruckmaschinen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die auf Endlospapier druckten, wurden die Grundlagen zur Standardisierung der Zeitungsformate gelegt, eine Entwicklung, die den gemeinsamen ökonomischen Interessen von Papierherstellern, Druckmaschinenfabriken und Verlagen entgegenkam. Typographische Neuerungen wie die serifenlosen oder Groteskschriften kamen vom englischen Sprachraum ausgehend in der periodischen Presse zunächst zur Auszeich
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nung in Anzeigen oder auch in Untertiteln zum Einsatz. In der Satztechnik machten es Ottmar Mergenthalers (1854–1899) Erfindung der Linotype, die er 1886 bei der New York Tribune vorstellte, und die ein Jahr später von Tolbert Lanston (1844-1913) zum Patent angemeldete Monotype möglich, die Satzleistung gegenüber dem Handsatz erheblich zu steigern. Die Setz-Gieß-Maschinen kamen hauptsächlich für den Standardsatz im Zeitungsdruck zum Einsatz, während Bücher aufgrund des höheren Anspruchs an die Druckqualität und der größeren Auswahl an Schriften weiterhin im Handsatz gesetzt wurden.
3.2 Wandel der Zeitungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Die Neuerungen in der Druck- und Satztechnik, im Verkehrswesen und der Übertragungstechnik, wie z. B. der Telegraphie, die Professionalisierung des Nachrichtengeschäfts beispielsweise durch die Gründung von Agenturen, neue presserechtliche Voraussetzungen, gesellschaftliche Veränderungen und die steigende Lesefähigkeit führten insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu grundlegenden Veränderungen der Presse. Sie entwickelte sich zur Massenpresse und musste in den Zeitungen in kürzeren Frequenzen mehr Informationen in neuen publizistischen Formaten an ein größeres und divergierendes Publikum vermitteln. Die inhaltlichen Grenzen zwischen Lokal- und politischer Tagespresse fielen mit der Pressefreiheit von 1848. Die ›wöchentliche Informationsmenge‹ eines Zeitungslesers war vom ersten Viertel des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf mehr als das Dreißigfache gestiegen, wie ein Vergleich der Zeilenanschläge ausgewählter Hamburger Periodika der Jahre 1622 und 1856 zeigte (vgl. Wilke 1984, S. 97–101). Der Umfang des verfügbaren Nachrichtenmaterials zwang die Redaktionen zur Auswahl und machte es für die Leser zunehmend schwieriger, sämtliche Informationen bei überschaubarem Zeitaufwand aufzunehmen. Die Zeitungsformate wurden größer, in der Folge der Revolution von 1848 oftmals politisch begründet und auch als Reaktion auf den Zeitungsstempel, der nach Bogenzahl berechnet wurde und den Umfang je nach Format auf vier bis zwölf Seiten ohne Anzeigen begrenzte. Das Druckbild im Mehrspaltensatz wurde enger, die Typen kleiner, die Zeilenabstände geringer, auf fette Auszeichnungsschriften verzichtet und der Titelkopf reduziert, um Platz zu sparen. Die Strukturierung der erweiterten Zeitungsinhalte durch kurze, fett gesetzte Überschriften in größerem Schriftgrad und durch Spartenunterscheidung (Überschriften, Trennlinien, Verwendung unterschiedlicher Schriftgrade) wurde notwendig, um dem Leser in den entstehenden ›Bleiwüsten‹ der Tagespresse eine Orientierung zu bieten. Telegraphische Depeschen erschienen unter einer gesonderten Überschrift, oftmals direkt zu Beginn der ersten Spalte unter dem Titelkopf. Sie ließen die Presse ereignisbezogener werden und förderten »eine schlagzeilenartig verknappte Faktenorientierung, […] die vor allem die globale Aktualität der Zeitungen unterstreichen«
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sollte (Bösch 2011, S. 132 f.). Getrennt wurde in ›Amtlichen‹ und ›Nichtamtlichen‹ Teil mit den politischen und allen weiteren Nachrichten sowie in Feuilleton und Unterhaltungsteile ›unter dem Strich‹. Die knappen Überschriften ermöglichten eine Vor selektion der Informationen, beschränkten sich jedoch zunächst auf generalisierende geografische und inhaltliche Angaben, denen lange, oftmals mehrere Spalten umfassende und nur durch Absatzbildung unterbrochene Beiträge folgten. Die Strukturierung und inhaltliche Auszeichnung der Informationen durch die Redaktionen setzte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte erst allmählich durch.
3.3 Illustrationen: Magazine und Familienzeitschriften Bereits seit den 1830er Jahren fanden in der periodischen Presse Illustrationen größere Verwendung, zunächst in den wöchentlich oder vierzehntäglich erscheinenden Magazinen. Zeitschriften vom Typ des 1832 gegründeten Londoner Penny Magazine entstanden in kurzer Folge in vielen europäischen Ländern (vgl. Gebhardt 1989). Sie erschienen in hoher Auflage mit einem Umfang von meist acht Seiten im Quartformat, zweispaltig gedruckt, zu einem vergleichsweise niedrigen Preis und zeichneten sich durch die große Zahl der im Text gedruckten Abbildungen aus, die oftmals ganzoder halbseitig die Titelseite dominierten und bis zu einem Viertel ihres Umfangs ausmachten. Mit universellen Inhalten waren sie auf eine selektive Lektüre ausgerichtet, die von den Abbildungen gefördert wurde. Sie brachten Aktualität, Authentizität und Emotionalität in die Berichte. Sie dienten der Veranschaulichung der beschriebenen Sachverhalte und stellten in Bildfolgen und Reportagen mit variierenden Bildgrößen und Darstellungsformen eine Einheit von Text und Bild her, die im engen Zusammenwirken der Belehrung und Unterhaltung zugleich diente, wenn z. B. Arbeitsprozesse auf diese Weise dargestellt wurden. Die Illustrationen machten die Leser insbesondere mit der modernen Technik vertraut, führten die bürgerliche Öffentlichkeit an neue Techniken heran und konnten zugleich der Werbung für den Einsatz der gezeigten Maschinen dienen. Die Pfennig-Magazine bedienten sich moderner publizistischer Elemente, um Allgemeinbildung zu vermitteln und eine aktive Rezeption durch die Leser zu bewirken. Sie befriedigten ein in vielen europäischen Ländern zugleich verbreitetes Bedürfnis, wie zum einen ihre parallele Entstehung zeigte, zum anderen der internationale Handel mit Druckstöcken und Klischees. Zwei Jahrzehnte nach dem Leipziger Pfennig-Magazin (vgl. Abschnitt 3.4) wurde 1853 mit der Gartenlaube ein weiterer illustrierter Zeitschriftentyp begründet: die Familienzeitschrift, in der der Textanteil gegenüber den Abbildungen stärker überwog. Die Familienzeitschriften wandten sich nicht nur an das bürgerliche Publikum, sie sprachen insbesondere auch Frauen an und waren in Lesehallen und Volksbibliotheken weit verbreitet. Die wöchentlichen Hefte im Umfang von 16 Seiten waren zweispaltig gedruckt in einem mittelgroßen Format. Sie wurden nach Bedarf um mehrseitige Beilagen ergänzt und boten den Lesern neben einem breiten Themenspektrum zur
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Unterhaltung, Belehrung und Aufklärung Novellen und Romane in Fortsetzungen. Der Erfolg der Familienblätter gründete auf der universellen Themenwahl ebenso wie auf dem Zusammenspiel von Text und Illustrationen mit den Angeboten für eine selektive wie für eine lineare Lektüre.
3.4 Illustrierte Zeitungen Den endgültigen Durchbruch erlebte die Illustration als bestimmendes Element der periodischen Publizistik im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Bereits 1843 hatte der Verleger des Pfennig-Magazins Johann Jacob Weber (1803–1880) mit der Leipziger Illustrirten Zeitung einen neuen Pressetyp begründet, der zwar zu den Zeitschriften zählte, sich aber im Erscheinungsbild mit seinem großen Format und dem dreispaltigen Satz den Zeitungen annäherte. Anregungen erhielt er aus London und Paris (Illustrated London News, L’Illustration). Die bekanntesten deutschen Beispiele waren die Leipziger und ab 1892 die Berliner Illustrirte Zeitung. Die Illustrierten Zeitungen erschienen wöchentlich im Umfang von zunächst 16 (Leipzig), später 28 bis 48 Seiten (Berlin). Sie waren an der Jahrhundertwende reich illustriert mit einem seitenfüllenden Titelbild als ›Eyecatcher‹, das werbende Qualität hatte und nicht auf den Inhalt bezogen sein musste. Der Bildanteil machte zwischen 20 und 50 % des Umfangs aus (vgl. Gebhardt 1983). Der Inhalt war auf vielen Seiten mit themenunabhängigen Bildzusammenstellungen auf eine selektive, punktuelle Rezeption ausgerichtet, die sich an den Abbildungen orientierte und die erläuternden Unterschriften zur sekundären Informationsebene werden ließ. Die Illustrierten Zeitungen luden zum Blättern durch das aktuelle Weltgeschehen statt zur intensiven Lektüre ein, so dass Kritiker einen Zusammenhang von Illustration und ›Volksverdummung‹ herstellten (vgl. Gebhardt 1983, S. B50 f.). Sie boten ein breites Themenspektrum, bei dem Personen und Porträts im Vordergrund standen, und hatten einen hohen Aktualitätsanspruch. Die »innige Verbindung des Holzschnitts mit der Druckerpresse« sollte der »Anschaulichkeit der Gegenwart« dienen, Interesse wecken und das Verständnis ebenso wie das Erinnern erleichtern (Illustrirte Zeitung No. 1 vom 1. Juli 1843, Was wir wollen). Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Xylografie das verbreitete Verfahren der Pressebild-Reproduktionstechnik (vgl. Hanebutt-Benz 1984), doch war seit der Erfindung der Autotypie durch Georg Meisenbach (1841–1912) im Jahr 1881 auch die Wiedergabe von Fotografien möglich (vgl. Peters 2007). Bereits 1880 war das erste Pressefoto in New York in The Daily Graphic abgedruckt worden, Meisenbach veröffentlichte das erste gerasterte Foto 1883 in der Illustrirten Zeitung. In den 1920er Jahren konnte die Illustrirte Zeitung berühmt gewordene Beispiele der ›candid photography‹ ihres ›Erfinders‹ Erich Salomon (1886–1944) drucken. Es dauerte jedoch mehrere Jahrzehnte, bis sich in einem langsamen und stetigen Prozess die Autotypie als Illustrationsverfahren durchsetzte, so dass die Auswirkungen des Meisenbach schen Rasterverfahrens auf die Produktion und Rezeption der illustrierten Presse kei
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nesfalls überbewertet werden dürfen. Die nach Holzstichen gefertigten Abbildungen waren in den 1880er und 1890er Jahren qualitativ meist besser als die Autotypien. Es gab erst wenige professionelle Pressefotografen, während die Pressezeichner einen hohen Grad an Professionalität erreicht hatten. Es fehlte an reproduktionsfähigen Vorlagen, die Drucktechnik musste an die neuen Erfordernisse angepasst werden und im Zusammenwirken mit den Xylografen konnten selbst großformatige Abbildungen in der gleichen Geschwindigkeit hergestellt werden, die man zum Abdruck von Fotografien brauchte (vgl. Gebhardt 1983). Auch wenn die Fotografie erst mit dem Offsetdruckverfahren des 20. Jahrhunderts zum regelmäßigen Bestandteil der Berichterstattung wurde, verliehen die zahlreichen großformatigen Abbildungen den Illustrierten Zeitungen unabhängig von der Technik eine neue Qualität: Authentizität. Die Fotografien erzeugten die Illusion der persönlichen Anwesenheit, Personen der Zeitgeschichte und aktuelle Ereignisse wurden durch die Visualisierung real, der Leser konnte als Augenzeuge am Geschehen teilnehmen. Die öffentliche Präsenz prominenter Persönlichkeiten stieg und festigte ihre gesellschaftliche Stellung. Monarchen und Regierende nutzten die Medien, um sich als ›begreifbare‹ Herrscher zu stilisieren und z. B. in volkstümlichen Inszenierungen ihres Privatlebens durch gezielt veröffentlichte Familienbilder ihre ›civic publicness‹ zu fördern. Die »Fotos der Royals ebneten den Weg für den Siegeszug der Fotografie« (Bösch 2011, S. 122; vgl. auch Plunkett 2002; Geisthövel 2001). Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fanden Illustrationen in geringer Zahl auch Verwendung in der Tagespresse, vornehmlich in Gestalt der Zeichnung auf Grundlage der Strichätzung, die bei der Reproduktion im Rotationsdruck auf grobem Zeitungspapier die besten Ergebnisse lieferte. 1904 stellte der Daily Mirror als erste Zeitung die Bildwiedergabe auf Autotypiedruck um. Großes Aufsehen erregte im Jahr 1910 die Freiburger Zeitung, als sie erstmals Sonderbeilagen mit Abbildungen im Rotations-Kupfertiefdruckverfahren innerhalb des im Hochdruck gedruckten Texts brachte. Das Verfahren wurde bald vom Hamburger Fremdenblatt, der Illustrated London News und der Frankfurter Zeitung übernommen, war jedoch aufgrund der hohen Herstellungskosten auf auflagenstarke Zeitschriften und Beilagen begrenzt. Erst die Berliner Zeitung Tempo veröffentlichte Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre auf mehreren Seiten tagesaktuelle Fotos.
4 Die Zeitung im 20. Jahrhundert 4.1 Nachrichtenumfang und Rezeptionshilfen Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich das Phänomen der Massenpresse vollends entfaltet. Für Zeitungen hatten sich Folioformat und Vierspaltendruck durchgesetzt, während die Anzeigenseiten oftmals in sechs oder sieben Spalten gesetzt wurden,
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um die große Zahl der Annoncen unterschiedlichen Umfangs besser aufnehmen zu können. Bis zu sechs Tagesausgaben erschienen mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten, der Umfang variierte abhängig vom Anzeigenaufkommen. Im Vergleich zur Jahrhundertmitte hatte sich die ›wöchentliche Informationsmenge‹ eines Zeitungslesers nochmals mehr als verdreifacht, gegenüber einer Ausgabe von 1622 sogar um mehr als das Hundertfache gesteigert, auch wenn sich die Zahl der Beiträge einer Zeitung aus dem Jahr 1906 gegenüber einer Ausgabe des 17. Jahrhunderts ›nur‹ verdreifachte (vgl. Wilke 1984, S. 98–101). Der Wandel in der Berichterstattung vollzog sich auf mehreren Ebenen: Sowohl die Gesamtzahl der Nachrichten als auch Umfang und Ausführlichkeit der Einzelnachricht hatten deutlich zugenommen, ebenso wie ihre Komplexität. Formale und thematische Seitengliederungen durch inhaltliche Rubrizierung, Haupt- und Zwischenüberschriften sowie Schlagzeilen, unterschiedliche Schriftgrößen, Fettdruck und Trennstriche wurden notwendige Selektionshilfen für den Leser in der täglichen Stoffmenge. Die Journalisten nahmen dem Leser durch Platzierung und Aufmachung der Einzelnachricht die traditionellen Aufgaben der Einordnung und Bewertung der Relevanz einer Nachricht und ihres Inhalts ab und erleichterten es, das individuell Relevante und Interessante aufzufinden. Die selektive Zeitungslektüre und das konsultierende Lesen einzelner Zeitungsteile wurden zur Regel. Aktualität und Tempo bestimmten zunehmend die Nachrichtenrezeption. Waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts 89 % der Nachrichten älter als einen Tag, waren es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur noch 5 % (vgl. Stöber 2005, S. 182). Als erster Berliner Verleger erkannte Louis-Ferdinand Ullstein (1863–1933) die Marktlücke zwischen den Morgen- und Abendausgaben der Zeitungen und brachte 1904 nach amerikanischem Vorbild mit der B.Z. am Mittag eine dritte Tagesausgabe der Berliner Zeitung auf den Markt. Sie war die erste deutsche Boulevardzeitung, die ausschließlich im Straßenverkauf zu erhalten war, und konnte als ›schnellste Zeitung der Welt‹ bereits eine halbe Stunde nach Redaktionsschluss gelesen werden. Die B.Z. am Mittag war an großen Schlagzeilen unter ihrem charakteristischen Titelkopf erkennbar, die von den Zeitungsjungen ausgerufen wurden, und bot den Lesern in kurzen Beiträgen unter groß gesetzten Überschriften komprimierte Informationen, die während der Mittagspause selektiv gelesen werden konnten. Sie gehörte zu den ersten Zeitungen, die dem Sport als eigener Rubrik mehr Raum bot.
4.2 Tendenzen der Zeitungsgestaltung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die Tendenzen zur Standardisierung der Zeitungsformate setzten sich fort, die Textgliederung in Rubriken und die Textauszeichnung durch Schlagzeilen, fettgesetzte Überschriften oder die Verwendung verschiedener Schriften wurde zur Regel. Linotype u. a. entwickelten spezielle Zeitungsschriften, und Stanley Morrison (1889–1967) entwarf für die Londoner The Times die ›Times New Roman‹. 1932 wurde die Times
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erstmals in der neuen Schrift gesetzt, die eine der am häufigsten genutzten Schriften des 20. Jahrhunderts werden sollte. Im Textlayout setzte sich der modulare Umbruch durch, in dem die Artikel nach dem Baukastenprinzip angeordnet wurden. Als Gestaltungsprinzip war diese Form der Informationsanordnung bereits im 19. Jahrhundert auf den Anzeigenseiten aufgrund der unterschiedlichen Annoncengrößen verbreitet. Einen Aufschwung erlebten Fotografie und Bildberichterstattung in Zeitungen und Zeitschriften als Propagandamittel in der Zeit des Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus. Bildberichte über die politische Elite, über die Aufbruchstimmung, die politischen Inszenierungen und die modernen Errungenschaften der Diktaturen sollten positive Identifikationsmuster schaffen und die Verbrechen überdecken, so dass der Fotohistoriker Rolf Sachsse die staatlich gelenkte Propagandafotografie als Mittel der Erziehung zum Wegsehen charakterisierte (Sachsse 2003). Während des Zweiten Weltkriegs wurden Soldaten als »Facharbeiter des Krieges« dargestellt (Paul 2004, S. 237), und die ab 1940 in Zusammenarbeit von Vertretern der Wehrmacht und des Auswärtigen Amts herausgegebene Illustrierte Signal transportierte in mehr als zwanzig Sprachen in Reportagen mit hochwertigen Farbaufnahmen Bilder von heldenhaften Soldaten, Familienidyllen und hübschen deutschen Frauen in das europäische Ausland (vgl. Bösch 2011, S. 175 f.; Rutz 2007). Auch Informationsgrafiken mit geografischen Kartenausschnitten des Frontverlaufs und Einzeichnungen von Truppenbewegungen gewannen an Bedeutung. Sie dienten zur Visualisierung komplexer militärischer Situationen, die in der Abbildung leichter zu erfassen waren als in der Textbeschreibung. Einen grundlegenden Wandel der deutschen Typographie bewirkte der ›Schrift erlass‹ vom 3. Januar 1941, ein »[n]icht zur Veröffentlichung« bestimmtes »Rundschreiben« Martin Bormanns,1 in dem die gebrochene Schrift als sog. ›Schwabacher Judenlettern‹ diskriminiert und die international gebrauchte Antiqua zur deutschen ›Normal-Schrift‹ erklärt wurde. Wissenschaftliche Zeitschriften und Fachbücher waren bereits zuvor, teils seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, in Antiqua gesetzt worden, die auch als Auszeichnungsschrift in Überschriften und in der Werbung benutzt wurde. Die Umstellung sollte zuerst in amtlichen Drucksachen, Schulbüchern und der Presse umgesetzt werden, insbesondere in Presseprodukten, die im Ausland und in den besetzten Gebieten Verbreitung fanden, um eine bessere Rezeption deutscher Texte zu gewährleisten. Obwohl etliche Zeitungen der Vorgabe bald folgten, verlief die Umsetzung insgesamt nicht konsequent (vgl. Willberg 2000; Kapr 1993). Im weiteren Verlauf des Zweiten Weltkriegs führten Materialknappheit und Personalmangel dazu, dass die Zeitungen nur noch wenige Seiten Umfang hatten. Für die von den Alliierten herausgegebenen und die lizensierten Zeitungen der Nachkriegsjahre standen aufgrund der Kriegsfolgen nur begrenzte technische
1 Abrufbar z. B. unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schrifterlass_Antiqua1941.gif [eingesehen am 18.06.2015].
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Mittel und Ressourcen zur Verfügung. Papierkontingentierungen und die allgemeine Notlage nach dem Krieg ließen in den ersten Nachrichtenblättern nur eine komprimierte Wiedergabe von Informationen auf begrenztem Raum zu. Die Verwendung der Frakturschrift als »Schrift des deutschen Nationalismus« (Kapr 1993, S. 85) wurde bei der Lizenzvergabe untersagt. Auszeichnungen konnten durch rote Druckfarbe erfolgen (Berliner Zeitung). Raumgreifende Schlagzeilen und Abbildungen wurden hingegen aus Platzgründen sparsam verwendet. Der Satz erfolgte in vier bis sechs Spalten und war auf den Kleinanzeigenseiten so kompress in kleiner Schrifttype gesetzt, dass manche Zeitungen dies selbstironisch karikierten. Als ab 1949 auch die sog. ›Altverleger‹ wieder Zeitungen herausgeben konnten, knüpften sie oftmals mit in Fraktur gesetzten Titelköpfen an die Tradition ihrer eingestellten Nachrichtenblätter an, um einen Wiedererkennungseffekt zu erzielen.
4.3 Zeitungen und Magazine unter dem Einfluss der visuellen Kultur Bessere Papierqualitäten und die Veränderungen der Druckplattenherstellung im Hochdruck machten in den 1950er Jahren eine feinere Rasterung im Druck möglich, so dass die Fotografie die Zeichnung als Illustrationstechnik endgültig ablöste. Die BILD-Zeitung knüpfte 1952 an die britische Boulevardpresse wie den Daily Mirror an und setzte zugleich die Tradition der großen Illustrierten Zeitungen fort, indem sie in der Anfangszeit auf den Außenseiten großformatige Fotografien ohne direkten inhaltlichen Zusammenhang abdruckte, nur mit Bildunterschriften versehen, und den Text auf den Innenseiten unterbrachte. Die BILD-Zeitung war auch eine Reaktion auf die neue Bilderwelt des Fernsehens. Die kurzen Texte, die große Zahl an Fotografien und die inhaltliche Schwerpunktsetzung auf ›Human interest‹-Themen waren auf eine schnelle, einfache und selektive Lektüre ausgerichtet. Die BILD wird bis heute als Kaufzeitung vertrieben und hat ein Layout mit starkem Wiedererkennungseffekt entwickelt: Die Schlagzeile beherrscht die Titelseite, die Farben Schwarz, Rot und Weiß dominieren. Nichtzusammengehöriges wird durch typographische Mittel in Beziehung gesetzt, um Emotionen zu wecken. Kurze, knappe Formulierungen, emotionale Appelle und eine starke visuelle Wirkung setzen Kaufanreize und dienen der Leserbindung. Die Pop- und Jugendkultur der 1960er Jahre, die neuen medialen Bildwelten in Fernsehen und Comics waren immer stärker auf Visuelles ausgerichtet und bestimmten ein neues Verhältnis von Text und Bild. Avantgardistische Zeitschriften wie twen setzten nicht nur durch ihre Themen Maßstäbe, die Kultur und ›Lifestyle‹ umfassten, vor allem aber auch sexuelle Themen, die Studentenbewegung und den Umgang mit der NS-Vergangenheit kritisch behandelten. Die Hefte wurden von Willy Fleckhaus »nach ähnlichen dramaturgischen Regeln wie im Film […] durchkomponiert«, Doppelseiten mit Hilfe von Bildern und Bildreportagen so gestaltet, dass die Abbildungen
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eine eigene Suggestionskraft entfalteten. Schrift wurde häufig so plakativ eingesetzt, dass sie über das inhaltliche Informieren hinaus selbst »bildhafte Qualitäten mit assoziativen und suggestiven Komponenten entwickelte« (Eisele 2012, S. 26). Der Fotojournalismus wandte sich in Anlehnung an das Life-Magazin verstärkt der ›Human Interest Photography‹ zu. Der Fotosatz und seit den 1980er Jahren das computergesteuerte Desktop-Publishing machten das stufenlose Vergrößern, Verkleinern, Verformen von Buchstaben möglich. Satzspiegel, Zeilen und Kolumnen konnten zugunsten ästhetischer Kriterien aufgelöst werden. Nicht mehr Drucker und Setzer wie in den ersten Jahrhunderten des Zeitungswesens, sondern Grafikdesigner, aber auch Journalisten und Redakteure bestimmten das Layout einer Zeitung. In den 1970/80er Jahren kam die Auseinandersetzung mit der Typographie zu der Überzeugung: »Neutrale Typografie gibt es nicht« (Willberg 1984, S. 81); die typographische Gestaltung galt als Einflussfaktor auf die Sinnkonstruktion. Nachrichteninhalt und Design wurden als Einheit aufgefasst, die dem Leser auch als Einheit dargeboten werden muss mit dem Ziel, Informationen möglichst funktionell zu vermitteln (vgl. Rehe 1986).
5 Modernes Zeitungsdesign: Aufgaben, Ansprüche, Umsetzung Unter dem Konkurrenzdruck der Medienvielfalt, die in den letzten Jahren erneut ein ›Zeitungssterben‹ eingeleitet hat – zu den prominenten ›Opfern‹ zählen die Frankfurter Rundschau, die Financial Times Deutschland oder die amerikanische Newsweek, die inzwischen nur noch als Online-Version erhältlich ist –, muss sich die Zeitung als Informationsmedium mit einer Strategie aus Individualität und Anpassung behaupten. Die Zeitungsgestaltung gründet seit den 1980er Jahren verstärkt auf der systematischen Betrachtung von Text und Design als Einheit, um das Profil gedruckter in Abgrenzung zu den Online-Medien zu schärfen. Individualität, Leserbindung und die Betonung des Visuellen sind einige Stichworte, die Zeitungsdesigner bei der grafischen und journalistischen Neugestaltung etablierter Printprodukte leiten. Das individuelle Zeitungslayout muss den redaktionellen Stil zum Ausdruck bringen und das angesprochene Lesepublikum repräsentieren. Seriöse, konservative Blätter wie z. B. die Frankfurter Allgemeine Zeitung bieten mit vergleichsweise hohem Textanteil, wenigen Abbildungen und kleineren Überschriften umfangreiche Informationen für ein regelmäßiges, intensives und vertiefendes Lesen, während Boulevardblätter wie die BILD-Zeitung mit geringem Umfang, hohem Bildanteil, großen Schlagzeilen und kurzen Texten auf das schnelle, kursorische Überblickslesen eines deutlich anderen und flüchtigeren Leserkreises ausgerichtet sind. Zeitungsinhalte werden heute selektiv wahrgenommen. Hans-Jürgen Bucher und Peter Schumacher (2007) z. B. unterscheiden in der Lesertypologie zwischen ›textorientierten Durchlesern‹ und ›eher visuell orientierten Scannern‹. Ausgewählte Artikel
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werden vollständig oder zumeist nur noch auszugsweise konsultiert. Die Leserführung durch optische und hierarchisch gegliederte Gestaltungselemente auf verschiedenen Textebenen wird zur Notwendigkeit. Als grundlegend für ›gutes‹ Zeitungsdesign werden Ordnung und Übersichtlichkeit ebenso wie Einfachheit, Ausgewogenheit und Einheitlichkeit auch der einzelnen Ressorts (Titelkopf, Farben u. a.) gesehen. Jede Einzelseite soll einen eindeutigen Schwerpunkt bekommen, der dem Leser einen Einstieg vorgibt. Blickaufzeichnungsstudien haben erwiesen, dass visuelle Elemente wie großformatige Fotos und Schlagzeilen als Blickpunkte die Aufmerksamkeit der Leser anziehen und damit die wichtigsten Einstiegselemente einer Zeitungsseite sind (vgl. Küpper 1989, 2011; Garcia / Stark 1991; Relativierung durch Bucher / Schumacher 2007, S. 526). Farbfotos bewirken nicht unbedingt mehr Aufmerksamkeit, können jedoch großdimensioniert und ausdrucksstark selbst unter dem Bruch zum Blickfang werden. Überschriften müssen auffallen und richtungsweisend sein, sie sollen Interesse wecken, informativ, verständlich und sachlich korrekt sein. Begleitende Dachund Unterzeilen dienen der kurzen Erläuterung, dürfen jedoch keine Redundanzen aufweisen. Weitere Einstiegshilfen in Textbeiträge sind Vorspann, Zitate und Ergänzungskästen. Der Vorspann hat eine Brückenfunktion, er informiert und strukturiert die Lektüre des Artikels, ohne den Inhalt vorwegzunehmen. Kürzere Texte werden intensiver rezipiert als längere Textblöcke, die weitere Rezeptions- und Einstiegselemente wie Zwischenüberschriften oder großflächige Abbildungen als Einleitung brauchen, um das Leserinteresse zu wecken. Visuelle Elemente wie Informationsgrafiken werden – in den USA häufiger als in deutschen Zeitungen – als Lesehilfen eingesetzt. Sie versetzen den Leser ›an Ort und Stelle‹ oder bereiten komplexe Sachverhalte verständlich auf. Sie helfen, Informationen besser zu memorieren, als dies durch Text möglich wäre (vgl. Hingst 1992; Küpper 1989; Garcia / Stark 1991; Blum / Bucher 1998; Küpper 2011). Schrift und Auszeichnungen sollen dem Charakter der Zeitung entsprechen und nicht vorübergehenden Trends folgen. Gute Zeitungstypographie zeichnet sich dadurch aus, dass sie »nicht bemerkt, sondern beinahe unbewußt aufgenommen und erkannt« wird (Rehe 1986, S. 42). Eine Ausnahme bildet der Titelkopf, der als Bestandteil der ›corporate identity‹ die Identität einer Zeitung zum Ausdruck bringt und einen hohen Wiedererkennungswert haben muss (vgl. Rehe 1986, S. 59). Gegenüber dem Schachtelumbruch haben sich der modulare Umbruch mit einem Baukastenprinzip, das aus rechteckigen Blöcken besteht, und der Blockumbruch durchgesetzt (vgl. Küpper 2004; Feuß 2013). Standardisiert sind die Zeitungsformate, seit 1973 nach DIN. Unausgesprochen gilt in Deutschland noch immer die Korrelation von hohem Anspruch und großem Format, das ein größeres Informationsangebot bereithält für das vertiefende im Gegensatz zum Überblickslesen (relativierend jedoch Bucher / Schumacher 2007). Das größte, Nordische Format (57 × 40 cm, geschlossen) wählen daher neben lokalen die überregional rezipierten Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder die Süddeutsche Zeitung. Das Rheinische Format (51–53 × 35–36 cm) ist bei regionalen und lokalen Tageszeitungen verbreitet, ebenso wie das Berliner Format (47 × 31,5 cm), in
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dem z. B. die taz erscheint. Für das handliche, in vielen europäischen Ländern bereits standardisierte Tabloid-Format (31,5 × 23,5 cm) entschied sich 2007 die Frankfurter Rundschau, die seitdem mehrere Auszeichnungen für die Gestaltung von Titel- und Sektionsseiten sowie für die iPad-Ausgabe erhielt. Im Tabloid-Format werden zwei gegenüberliegende Zeitungsseiten wie in Magazinen als Einheit behandelt. Mit dem formal und inhaltlich kompakteren Format sollen vor allem junge Leser angesprochen werden. Vorbildliches Zeitungsdesign muss heute funktional gestaltet sein, eine klare Leserführung von großen zu kleinen Elementen vorweisen und ein besonders hohes inhaltliches wie formales Niveau beim Umgang mit Bildern erreichen. Die typographischen Elemente müssen auf allen Seiten stringent verwendet werden und optimal zusammen funktionieren (vgl. Küpper 1999). Zeitungsdesigner wie Mario R. Garcia, Norbert Küpper oder Hans Peter Janisch geben deutschen und internationalen Blättern ein neues Layout, das einer Symbiose von Text und Design verpflichtet ist und zunehmend Anregungen aus dem Internet übernimmt, um den Lesern das ›Navigieren‹ zu erleichtern. Die aktuelle Debatte um die Zukunft der Zeitung setzt auf ein Zusammenspiel von Print- und (kostenpflichtigen) Online-Angeboten, in dem sich das Printprodukt durch Entschleunigung und online nicht verfügbare Inhalte auszeichnet, visuelle Anreize bietet und dem Leser mehr Mitwirkungsmöglichkeiten einräumt.
6 Literatur Blum, Joachim / Bucher, Hans-Jürgen: Die Zeitung: Ein Multimedium. Textdesign – ein Gestaltungskonzept für Text, Bild und Grafik. Konstanz 1998 (Edition Sage & Schreibe. 1). Böning, Holger: »Gewiß ist es / daß alle gedruckte Zeitungen erst geschrieben seyn müssen«. Handgeschriebene und gedruckte Zeitungen im Spannungsfeld von Abhängigkeit, Koexistenz und Konkurrenz. In: Gerhild Scholz Williams / William Layher (Hrsg.): Consuming news. Newspapers and print culture in early modern Europe (1500–1800). Amsterdam 2008 (Daphnis. 37), S. 203–242. Böning, Holger: Handgeschriebene und gedruckte Zeitung im Spannungsfeld von Abhängigkeit, Koexistenz und Konkurrenz. In: Volker Bauer / Holger Böning (Hrsg.): Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit. Bremen 2011 (Presse und Geschichte. Neue Beiträge. 54), S. 23–56. Bösch, Frank: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen. Frankfurt a. M. 2011 (Historische Einführungen. 10). Bogel, Else / Blühm, Elger: Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverzeichnis mit historischen und bibliographischen Angaben. 2 Bände. Bremen 1971; und Band III, bearb. von Elger Blühm / Brigitte Kolster / Helga Levin. Bremen 1985 (Studien zur Publizistik. Bremer Reihe. Deutsche Presseforschung. 17). Bucher, Hans-Jürgen / Schumacher, Peter: Tabloid versus Broadsheet. Wie Zeitungsformate gelesen werden. In: Media perspektiven (2007), Heft 10, S. 514–528.
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Axel Kuhn / Svenja Hagenhoff
2.2.4 Digitale Lesemedien Zusammenfassung: Der Beitrag stellt die Medialität digitaler, primär schriftlich codierter Inhalte und deren Bedeutung für das Lesen in den Mittelpunkt. Die durch digitale Codierungsprozesse vorhandenen Möglichkeiten der Bereitstellung von Texten werden als Eigenschaftsausprägungen der Textanordnung, Textgestaltung und des Textzugangs skizziert, deren konkrete Ausgestaltung unterschiedliche digitale Lesemedien und Textformen erzeugt und die Einfluss auf das Leseverhalten und den Leseprozess haben können. Abstract: The article focuses on the mediality of digital, primarily written content, and its relevance to reading. The possibilities for publishing texts through digitalization processes are outlined in terms of textual layout, design and accessibility. The concrete arrangement of these characteristics results in different digital reading media and text forms, and influences reading behaviour and the reading process.
Inhaltsübersicht 1 Materialität und Digitalisierung — 361 2 Digitale Lesemedien — 362 2.1 Forschungsperspektiven — 362 2.2 Lesen, Lesemedien und digitale Technologie — 363 3 Digitale Lesemedien als dynamische Eigenschaftsbündelung — 365 3.1 Textanordnung und Textgestaltung — 366 3.2 Textzugang — 368 4 Lesen mit digitalen Lesemedien — 371 4.1 Lesen und dynamische Textgestaltung und Textanordnung — 372 4.2 Digitaler Textzugang und Lesen — 375 5 Desiderate — 377 6 Literatur — 378
1 Materialität und Digitalisierung Digitale Lesemedien sind seit einigen Jahren als Teil schriftsprachlicher Kommunikation etabliert. Sie bestimmen in einer einfachen, weiten Definition als schriftlich dominierte Digitalmedien insbesondere die Internetnutzung in Form von Websites, Weblogs, Wikis, Foren, E-Mails und Chats, werden zunehmend aber auch in Form von elektronischen Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, meist auf mobilen Endgeräten wie Smartphones, Tablet-PCs oder E-Readern, genutzt. Die zunehmende Verbreitung der meist über Mobilfunk internetfähigen Geräte führt in der Gegenwart dazu, dass digitale Lesemedien ubiquitär zum Lesen von schriftlich codierten Informationen und Texten aller Art genutzt werden.
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Lesen als kommunikative Praktik vollzieht sich dabei von jeher über spezifische technische Lesemedien, welche auf Basis ihrer Eigenschaften Schriftzeichen darstellen, zu Texten anordnen und zum Lesen bereitstellen. Die technologisch bedingten Möglichkeiten und Begrenzungen einzelner Lesemedien prägen die zeitgeschichtlichen Lesepraktiken und die Rezeption von schriftlich codierten Informationen maßgeblich. Bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts waren Lesemedien durch ihre Materialität und statische Eigenschaften geprägt. Die Lese- und Leserforschung setzte deshalb das Lesen mit gedruckten Büchern, Zeitschriften und Zeitungen gleich und konstruierte ihre Modelle mit Hilfe der so eindeutig beschreibbaren Objekte. Mit der Verbreitung von Computertechnologie und der damit verbundenen digitalen Codierung von Informationen wurden derartige Modelle von objektivierten Lesemedien jedoch in Frage gestellt, weil die Einheit von Zeichencodierung und materiellem Objekt aufgelöst wird und die Zeichencodierung einen flexibleren Charakter erhält. Mit der Veränderung der Bereitstellung von schriftlichen Informationen entstehen neue Formen schriftbasierter Kommunikation und über Jahrtausende entwickelte Lesepraktiken werden im digitalen Raum fortgesetzt, dabei unter den Bedingungen digitaler Technologie transformiert oder neu definiert (vgl. Gervais 2007, S. 193).
2 Digitale Lesemedien Die Beschreibung des Einflusses des Mediums auf den Leseprozess wird dadurch erschwert, dass die materiellen Leseobjekte von den Zeichen getrennt sind, über die sie dargestellt werden: Statt einer objektbezogenen Definition als E-Book (Elektronisches Buch), Website oder Weblog ist es zur Bestimmung von Veränderungen des Lesens stattdessen notwendig, digitale Lesemedien als Bündelung gestalterischer und nutzungsorientierter Eigenschaftsausprägungen zu definieren, die in Kombination das Leseverhalten beeinflussen, den Leseprozess strukturieren und Auswirkungen auf Wahrnehmung und Verstehen während des Lesens haben.
2.1 Forschungsperspektiven Die Erforschung des Lesens in digitalen Medien und Texten basiert gegenwärtig noch auf keinem allgemein akzeptieren Wissensbestand, theoretischem Grundkonzept oder methodischem Standard. Mit der Dynamik der Entwicklung digitaler Medien und den sie integrierenden kulturellen Nutzungspraktiken verändern sich die Forschungsgegenstände in hoher Frequenz. Hinzu kommt, dass Lese- und Leserforschung interdisziplinär unter unterschiedlichen Fokussierungen erfolgt, was sich auch für digitale Medien fortsetzt.
2.2.4 Digitale Lesemedien
363
Erkenntnisse zu digitalen Lesemedien sind zunächst in den Literaturwissenschaften entstanden, die, hauptsächlich im Rahmen der ›Hypertext-Theorie‹, digitale Text- und Erzählstrukturen in Abhängigkeit digitaler Darstellungsmöglichkeiten erforschen. Im Mittelpunkt stehen dabei ›Digital Narratives‹ fiktionaler Texte und ›Digital Storytelling‹ als Selbsterzählungen im Internet (vgl. Siemens / Schreibman 2007; Lundby 2008; Ryan 2004, 2005, 2009). Im Fokus der Medien- und Kommunikationswissenschaften steht der Einfluss digitaler Technologie auf Kommunika tionsprozesse, z. B. die Wechselwirkung zwischen menschenlesbaren digitalen Texten und ihrer dahinter stehenden digitalen Logik in Form von Programmiersprachen (vgl. Heilmann 2012). Allgemeinere Forschung bezieht sich auf die Folgen digitaler Codierung und Vernetzung für die Rezeption und Nutzung medialer Inhalte über digitale Technologie (vgl. Bolter / Grusin 2000; Kuhn 2009) oder die damit einhergehenden Veränderungen von Medienkultur (vgl. Jenkins 2006). In weiteren Disziplinen stehen digitale Lesemedien in einem engeren Fokus: Die kognitiven Neurowissenschaften erforschen Veränderungen der Wahrnehmung von Schriftzeichen und der Bedeutungskonstruktionen beim Lesen mit digitalen Lesemedien, bisher stehen vornehmlich unterschiedliche Bildschirmtechnologien im Vergleich mit Papier im Mittelpunkt (vgl. Kretzschmar u. a. 2013). In der Informatik wird die Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle unter dem Schlagwort der ›Gebrauchstauglichkeit (Usability)‹ erforscht, deren Erkenntnisse für die physische Handhabung auf digitale Lesemedien übertragen werden können (vgl. Nielsen / Budiu 2013). In den Wirtschaftswissenschaften sind digitale Lesemedien in ihren konkreten Formen als Produkte Teil von Geschäftsmodellen (vgl. Wirtz 2012; Schumann u. a. 2014). Allgemein werden Produkte als Bündel von Eigenschaften zur Bedürfnisbefriedigung aufgefasst. Je näher die Eigenschaften des Produkts an der Präferenz des Kunden ausgerichtet sind, desto größer ist die Kauf- oder Nutzungswahrscheinlichkeit (vgl. Homburg / Weber 1996). Die Erziehungswissenschaften schließlich beschäftigen sich mit der Beziehung von Textverstehen und digitalen Lesemedien (vgl. Muratović 2014), insbesondere im Bereich der Leseförderung und im Unterricht.
2.2 Lesen, Lesemedien und digitale Technologie Die Bestimmung digitaler Lesemedien erfolgt deshalb interdisziplinär im grundlegenden Spannungsverhältnis des Lesens als kommunikativem Prozess und der dafür notwendigen Medien, die in diesem Fall durch digitale Technologie bestimmt sind. Lesen kann in vereinfachter Weise als Prozess des Wahrnehmens und Erkennens von Schriftzeichen sowie der anschließenden Bedeutungskonstruktion auf Wort-, Satzund Textebene betrachtet werden. Die Bereitstellung der zeichensystemspezifischen Schriftzeichen erfolgt als codierte, intendierte Bedeutung in einer spezifischen Textstruktur eines oder mehrerer Kommunikatoren, welche vom Leser in dessen indivi
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duellen Kontexten aus Vorwissen, Sprachkompetenz, Motivation und emotionaler Aktivierung decodiert wird und eine individuelle Bedeutungskonstruktion auslöst. Neben dem Einfluss der Kommunikatoren auf beiden Seiten nimmt der Kontext der Lesesituation Einfluss auf den Leseprozess, z. B. die Lichtverhältnisse oder der konkrete physische Raum, in dem gelesen wird. Zum situativen Kontext des Leseprozesses zählt nicht zuletzt das technische Medium, über das die Schriftzeichen vermittelt werden. Die Eigenschaften des Mediums bestimmen die Darstellung und Anordnung der Schriftzeichen und damit die Möglichkeiten und Grenzen von Wahrnehmung und Bedeutungskonstruktion auf Wort-, Satz- und Textebene. Weiterhin definiert das Medium ganz konkret, welche physischen Handlungen der Leser während des Leseprozesses ausführen kann und muss. Dabei wird das Medium selbst zum Teil der Bedeutungskonstruktion, weil es nicht nur die kommunizierten Zeichen verändert, sondern selbst eine Bedeutung erhält, welche Einfluss auf den Leseprozess nehmen kann. Die technischen Eigenschaften digitaler Lesemedien sind von analogen Lesemedien insofern zu unterscheiden, weil vormals statische Zeichensysteme zum einen in elektronische Impulse codiert und andererseits nur flüchtig auf Bildschirmen angezeigt werden. Die digitale Codierung jeglicher Information über Bits und die Form der Darstellung jedes visuellen Zeichens über Pixel führt zur Schlussfolgerung, dass digitale Technologien universelle Medientechnologien sind, die alle medialen Informationen abbilden und darstellen können. Dabei sind der digitale Code und der darauf basierende Programmcode selbst schriftbasiert, verweisen aber nur in ihrer eigenen Logik auf menschenlesbare Schriftzeichensysteme. Um derartige Medien nutzen zu können, benötigt man Hard- und Software. Über die Hardware werden Daten physisch gespeichert und können wieder ausgelesen werden, außerdem bedingt sie als Gerät die physischen Medienhandlung. »Die Tatsache […] ist […] bedeutsam, weil sie uns daran erinnert, dass diese neue und scheinbar abstrakte Form der Aufzeichnung eine materielle Basis hat« (Bolter 2005, S. 453), wenngleich diese nicht mehr medienspezifischer, sondern universeller Natur ist. Die Software interpretiert die eingelesenen Daten und erzeugt über Algorithmen die Darstellung der Daten und die nutzungsrelevante Funktionalität über den Bildschirm und die Bedienungselemente der Hardware. Sie macht die Daten somit für den Menschen wahrnehmbar, verständlich und zum Gegenstand kommunikativer Handlungen (vgl. Bunia 2013a, S. 212). Medien auf Basis digitaler Technologie lassen sich deshalb nicht als statische Objekte definieren und können nur mit einem breiten Medienbegriff gefasst werden: »Kommunikationsmedien konstituieren sich selbst mit der Hilfe einer Unterscheidung von Medium und Form« (Luhmann 1997, S. 195). Luhmann unterscheidet das mediale Substrat als alle möglichen Eigenschaften des Mediums in deren möglichen Ausprägungen sowie die mediale Form, welche spezifische Eigenschaften mit definierter Ausprägung kombiniert. Formen sind deshalb Selektionen aus dem medialen Substrat, welche in konkreten Kommunikationen genutzt werden (vgl.
2.2.4 Digitale Lesemedien
365
Luhmann 1997, S. 190–202). Die entstehenden Formen werden im Rahmen der technischen Möglichkeiten derart gestaltet und genutzt, dass die Mitteilung von Informationen durch Kommunikatoren beim Rezipienten Verstehen auslösen kann. Sie sind deshalb darauf ausgelegt, die Wahrnehmung und Bedeutungskonstruktion des Rezipienten im Rahmen der kulturell bedingten medialen Praktiken optimal zu unterstützen. Es kann daher nicht jedes Element in jeder Ausprägung sinnvoll verknüpft werden, denn mediale Formen lösen spezifische kommunikative Pro bleme und befriedigen spezifische Bedürfnisse der Rezipienten und Zielsetzungen der Anbieter medialer Inhalte. Digitale Lesemedien sind somit auf der einen Seite alle auf Schriftzeichen bezogenen Eigenschaften in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, welche digitale Technologie ermöglicht und Einfluss auf den Leseprozess haben, sowie auf der anderen Seite die konkreten Formen unterschiedlicher Eigenschaftskombinationen. Eine Definition digitaler Lesemedien bezüglich ihres Einflusses auf das Lesen im Allgemeinen macht allerdings nur über das mediale Substrat Sinn, da die Formen vergänglich sind und in technischen und sozialen Kontexten entstehen, vergehen oder sich verändern (vgl. Kuhn 2009, S. 56–84).
3 Digitale Lesemedien als dynamische Eigenschaftsbündelung Digitale Technologien bedingen einen dynamischen Ausgestaltungsraum digitaler Lesemedien, welcher über zwei miteinander verbundene Ebenen systematisiert werden kann: der elektronisch-materiell bedingten und digital organisierten Form der Textanordnung und Textgestaltung sowie der elektronisch-materiell bedingten und digital organisierten Form des Textzugangs. Die Repräsentation von Texten in digitalen Lesemedien erfolgt somit über zwei unterschiedliche Eigenschaftsbündel: erstens Eigenschaften, die sich direkt auf den Text und dessen Eigenschaften beziehen (Rezeptionsobjekt), und zweitens Eigenschaften, die sich auf den funktionalen Zugang zum Text durch Software beziehen (Nutzungsobjekt). Dabei sind Texte in digitalen Lesemedien zunächst linear notierte, formale Beschreibungen der darzustellenden Zeichen (Daten) und der Funktionen (Anweisungen), wie diese Zeichen flüchtig über den Bildschirm dargestellt werden können. Erst über Rechenprozesse werden diese Daten technisch ausgeführt und lösen eine spezifische, über den Bildschirm flüchtig dargestellte Repräsentation der Daten als für die menschliche Wahrnehmung geeigneten Text aus (vgl. Schäfer 2013, S. 485). Dabei entsteht ein dynamisches Verhältnis zwischen kohärentem Text in den abgespeicherten Daten und der operationalen Logik der Software, wie diese Daten letztlich angezeigt werden: Der digitale Text ist lediglich ein virtuelles, flüchtiges Abbild der elektronisch gespeicherten Daten.
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Das elektronisch-materielle Objekt (Hardware) definiert über beide Ebenen hinweg Datenspeicherung, Datenverarbeitung, die Einbindung in technische Netzwerke, physische Handlungen und Repräsentationen von Zeichen über Computertechnologie, Bildschirmtechnologie und Bedienelemente. Mit derartigen, physisch wenig limitierten Lesemedien ändern sich die Darstellungsmöglichkeiten von Texten, und die ehemals festen Verbindungen von materiellem Leseobjekt, Textoberfläche und Text werden entkoppelt. Das materielle Leseobjekt wird zum universellen Zugang zu allen möglichen Textoberflächen und Texten, und die Textoberflächen können mittels Software ständig verändert werden. Digitale Texte selbst erhalten einen temporären Charakter, besitzen keine räumlich definierte Organisation und Verankerung und werden erst im Moment des Lesens zu einem konkreten Textobjekt, wenn das mediale Substrat für den Zeitraum des Leseprozesses ein temporäres Medienobjekt ausdifferenziert. Digitale Lesemedien sind darüber hinaus durch die überspannende Eigenschaft des intermedialen Bezugs auf historisch etablierte Printmedien geprägt, deren Eigenschaften sie entweder simulieren oder sich von diesen abgrenzen. Gegenwärtig kann man noch nicht von eigenständigen Formen der Textanordnung, Textgestaltung und des Textzugangs in digitalen Lesemedien sprechen, stattdessen werden analoge Printmedien imitiert und in Ansätzen transformiert. Dies zeigt sich besonders deutlich bei elektronischen Büchern, welche die kommunikative Struktur des gedruckten Texts nicht nur in dessen Gestalt, sondern auch im Zugang imitieren (vgl. Drucker 2007, S. 216). Die Referenz auf Printmedien beruht dabei vor allem auf der Nutzung vorhandenen Erfahrungswissens und den Erwartungen der Leser im Umgang mit gedruckten Medien und erhöht die Akzeptanz digitaler Lesemedien (vgl. Bolter 2005, S. 456).
3.1 Textanordnung und Textgestaltung Die Anordnung und Gestaltung von Texten in digitalen Lesemedien kann über verschiedene Eigenschaften definiert werden, die jeweils unterschiedliche Ausprägungen erreichen können. Eine erste Eigenschaft bezieht sich auf die verwendeten Kommunikationskanäle. Eine digitale Codierung erlaubt es, unterschiedliche Kanäle miteinander zu kombinieren und neben statischen Kanälen, wie Schrift und Bild, beispielsweise auch dynamische Kanäle, wie Audio- und Videosequenzen oder Animationen, in Texte zu integrieren. Konkrete Formen von Lesemedien, für die eine multimediale Ausprägung der Kommunikationskanäle prägend ist, sind beispielsweise ›interactive (enhanced)‹ E-Books oder Online-Zeitungen. Weiterhin können Texte über unterschiedliche Kommunikationskanäle zugänglich gemacht werden, beispielsweise über eine Vorlesefunktion. Das Spektrum der Darstellung von Texten in digitalen Lesemedien reicht deshalb von monomedialen Texten unter der ausschließlichen Verwendung von Schriftzeichen bis zu multimedialen Texten, in denen gleichberechtigt mehrere Kanäle genutzt und ineinander überführt werden.
2.2.4 Digitale Lesemedien
367
Eine weitere zentrale Eigenschaft von Lesemedien ist die typographische Gestaltung der über sie vermittelten Texte (vgl. Rautenberg 2015). Die Typographie eines Texts zielt dabei auf die optimale Wahrnehmbarkeit der Schrift- und Bildzeichen und stimmt Gestaltung und Anordnung der Zeichen auf eine optimale Lesbarkeit ab (vgl. Goerke 2015). Digitale Lesemedien ermöglichen analog zu Printmedien feste, durch den Bereitsteller eines Texts kontrollierte, typographische Formen, die auch technisch keine automatischen oder manuellen Adaptionen des Lesers zulassen, was insbesondere bei Digitalisaten gedruckter Texte die gängige Darstellungsform ist. Digitale Lesemedien können aber auch in Abhängigkeit von der verwendeten Technologie eine andere als die vom Bereitsteller gedachte Gestalt annehmen, wenn der Leser über die entsprechende Software Attribute der Darstellung wie Schriftart, Schriftgröße, Zeilenlänge, Farben und Kontraste verändern kann. Aus der veränderten Mikrotypographie ergibt sich so zwangsläufig eine veränderte Makrotypographie. Digitale Lesemedien, die über ein ›responsives Webdesign‹ (vgl. Zillgens 2012) realisiert werden, passen die Makrotypographie zudem automatisch der Größe und Ausrichtung des Bildschirms an, indem sie beispielsweise Elemente nebeneinander oder untereinander anordnen. Die Grundlage fester oder variabler Typographie wird dabei über die Struktur der hinterlegten Daten gelegt (vgl. Bunia 2013b, S. 169): Sind Textdaten in einer abstrakten Struktur gespeichert, ermöglicht dies eine maximale Varianz der visuellen Darstellung, was gegenwärtig durch verschiedene ›Extensible Markup Language‹-Derivate (.XML) umgesetzt wird. Werden Textdaten dagegen in einer Struktur gespeichert, die keine Varianz zulässt, wird die Darstellung unabhängig von Hard- und Software einheitlich, beispielsweise im ›portable document format‹ (.PDF). Daneben existieren standardisierte Zwischenformen mit unterschiedlichen Graden an Varianz, beispielsweise der Standard für ›electronic publication‹ (.EPUB). Als weitere Eigenschaft aller Lesemedien lässt sich deren Möglichkeit der Modularisierung von Texten nennen, da diese aus mehreren Einheiten wie Absätzen, Kapiteln oder Artikeln bestehen. Sind diese Einheiten in sich geschlossen und semantisch voneinander unabhängig, spricht man von logischen Einheiten (ähnlich vgl. Rawolle 2002, S. 15). Lesemedien können als Monolith eine logische Einheit bilden, wenn alle Textteile semantisch eng in Verbindung stehen und nur als Ganzes eine narrative oder informierende Wirkung beim Leser entfalten können (z. B. als belletristischer Roman). Sie können sich als Komposition logischer Einheiten ergeben, die mehr ist als die Summe prinzipiell unabhängig voneinander nutzbarer logischer Einheiten (z. B. als Handbuch oder Fachlexikon) oder sie können sich aus logischen Einheiten additiv zusammensetzen (z. B. Zeitung, Sammelband). Digitale Lesemedien ermöglichen eine vereinfachte Zusammenführung und Trennung von separaten Texteinheiten, weil diese einzeln oder in unterschiedlicher Kombination aus den Daten abgerufen und angezeigt werden können: Texte können als in sich geschlossene, lineare Texteinheiten unter Kontrolle des Bereitstellers abgerufen und dargestellt werden oder durch Eingaben des Lesers dynamisch und individuell für jede zu lesende Textrepräsentation kombiniert werden.
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Mit den Ausprägungen der typographischen und inhaltlichen Gestaltung ergibt sich, dass digitale Lesemedien entweder vollendete Texte bereitstellen können oder permanente Mutationen der Textanordnung und Textgestaltung als Darstellungsprinzip integrieren: »Das Werk stellt kein geschlossenes Objekt dar, sondern es erscheint vielmehr als eine prozessierende Relation zwischen Code und Darstellung.« (Schäfer 2013, S. 485) Im Extremfall manifestiert sich ein Text nur einmal in seiner konkreten Form in einem einzelnen Leseakt. Daneben ermöglichen digitale Lesemedien die inhaltliche Bereitstellung in Vollendung oder Mutation. Während Printmedien nur über komplexe, nacheinander geschaltete Prozesse verändert, erweitert oder aktualisiert werden können, beispielsweise durch neue Auflagen, Reihendrucke oder Fortsetzungsbände, können digitale Lesemedien sehr viel einfacher auch nach deren Speicherung verändert und fortgesetzt werden, indem vorhandene Daten bearbeitet, ergänzt oder ersetzt werden. Inhalte können somit einfacher in Teilen publiziert werden, auch bevor das Gesamtwerk vollendet wird.
3.2 Textzugang Neben den textbezogenen Eigenschaftsausprägungen ermöglichen digitale Lesemedien über die Software die Ausgestaltung des Textzugangs. Neben die Lesbarkeit tritt die Nutzbarkeit des Texts über das Medium, die im Unterschied zu Printmedien vielfältigere Formen annimmt. Relevante Aspekte werden unter dem Begriff ›Mensch-Computer-Interaktion‹ erforscht und über das ›Schnittstellendesign (Interfacedesign)‹ umgesetzt. Für digitale Lesemedien ist der Gestaltungsbereich der ›Gebrauchstauglichkeit (Usability)‹ des Textzugangs wichtig. Unter ihr versteht man das Ausmaß, »in dem ein Produkt durch bestimmte Benutzer in einem Nutzungskontext genutzt werden kann, um bestimmte Ziele effektiv, effizient und zufriedenstellend zu erreichen« (EN ISO 9241-11, 1998). Digitale Lesemedien sind dann gebrauchstauglich, wenn Nutzer dieser Medien Texte in bestimmten Situationen derart rezipieren können, dass ihre Erwartungen an den Textzugang (›Effektivität‹) unter einem adäquaten Zeitaufwand (›Effizienz‹) erfüllt werden können. Die Gebrauchstauglichkeit eines digitalen Lesemediums hängt von den subjektiven Erwartungen des Lesers und der Lesesituation ab, weshalb für unterschiedliche Leseprozesse verschiedene Eigenschaften des Mediums eine Rolle spielen und diese entsprechend unterschiedlich gestaltet sein müssen. Zur Förderung der Gebrauchstauglichkeit einer Mensch-System-Schnittstelle haben sich sieben verschiedene Grundsätze etabliert: Aufgabenangemessenheit, Selbstbeschreibungsfähigkeit, Steuerbarkeit, Erwartungskonformität, Fehlertoleranz, Individualisierbarkeit und Lernförderlichkeit (vgl. EN ISO 9241-110, 2006). Darüber hinaus definiert die Norm EN ISO 14915-1 Grundsätze zur multimedialen Gestaltung von Informationen (vgl. EN ISO 14915-1, 2002). Die ersten Ausprägungen einer Eigenschaft digitaler Lesemedien hinsichtlich ihrer Nutzung beziehen sich übergeordnet auf die Präsentationsumgebung des
2.2.4 Digitale Lesemedien
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Textzugangs. Eine Ausprägung der Präsentationsumgebung ist die nicht trennbare Verbindung eines einzigen Texts mit der funktionalen Präsentationsumgebung, beispielsweise in Form einer monolithischen Applikation, die als Leseobjekt auf einem Endgerät installiert wird. Diese Realisierungsform findet sich gegenwärtig häufig bei ›interactive (enhanced)‹ E-Books. Auf der anderen Seite des Spektrums finden sich universelle Präsentationsumgebungen wie der Webbrowser, der zur Darstellung vielfältiger Texte und Textformate genutzt werden kann. Dazwischen finden sich derzeit vor allem spezifische Applikationen, die auf dem Endgerät installiert werden oder implementiert sind und den Textzugang und dessen Funktionalität bereitstellen, ohne Texte selbst zu integrieren. Texte werden für solche Präsentationsumgebungen in einzelnen Dateien bereitgestellt, die mit Hilfe der Applikationen geöffnet werden können. Diese Präsentationsumgebung ist somit eine ›Zwei-Schichten-Architektur‹, bei der Präsentations- und Nutzungsfunktionen und Daten der Texte auch physisch voneinander getrennt sind. Die Präsentationsumgebung definiert darüber hinaus den Grad an Interaktivität, den der Leser als Eigenleistung zur Repräsentation der Daten aufbringen kann oder muss (vgl. Kuhn 2009, S. 72), also welche Möglichkeiten der individuellen Textanordnung und Textgestaltung bestehen. Eine weitere Eigenschaft digitaler Lesemedien ist deren Einbindungsmöglichkeit in technische und soziale Netzwerke über das Internet. Dabei sind Online- von Offline-Lesemedien zu unterscheiden: Digitale Lesemedien sind heute oft noch OfflineLesemedien, die in der Regel als Download aus dem Internet angeboten werden, dann aber ohne die Notwendigkeit einer aktiven Internetverbindung als lokal gespeicherte Programme und Daten ausgeführt und gelesen werden können. Dabei werden OnlineMedien genutzt, um einen möglichst ubiquitären Zugang zu Texten zu gewährleisten, z. B. wird ermöglicht, dass Leser ihre Lesemedien und Texte übergreifend auf mehreren Geräten nutzen können und Bearbeitungen, Einstellungen und Fortschritte im Text zwischen diesen synchronisiert werden. Auf der anderen Seite gibt es digitale Lesemedien, die ausschließlich online verfügbar sind und eine aktive Internetverbindung erfordern. Dabei werden Programme in einer Server-Client-Architektur auf über das Internet zugänglicher Hardware ausgeführt und von dort lediglich die Repräsentationen der Präsentationsumgebung und des Texts auf das Endgerät des Lesers übertragen (›Cloud-Computing‹). Solche Lesemedien sind seit der Etablierung des World Wide Web verfügbar und werden gegenwärtig auf digitale Bücher und Zeitschriften erweitert. Hybridmedien kombinieren Online- mit Offline-Elementen, z. B. indem sie in Offline-Medien auf Online-Inhalte in digitalen Netzwerken verweisen oder OfflinePräsentationsumgebungen nur online verfügbare Texte abrufen. Diese Vernetzungsmöglichkeiten digitaler Lesemedien lassen sich zusätzlich auf einen individuellen oder sozialen Leseakt erweitern.1
1 Vgl. Kap. 2.3.3 Lesen in digitalen Netzwerken in diesem Band.
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Eine dritte Eigenschaft des Textzugangs über digitale Lesemedien sind unterschiedliche Ausprägungen der Navigationsarchitektur. Den möglichen Freiheiten der Länge, Anordnung und Ansteuerung des Texts durch den Leser stehen dabei zum einen technologische Beschränkungen im Wege, z. B. (noch) die Zweidimensionalität und Flächenbegrenzung des Bildschirms, zum anderen Nutzungsgewohnheiten der Leser, z. B. die gewohnte Einteilung von Texten in Seiten. Eine erste Differenzierung der Navigation kann über deren Dimensionen erfolgen: Texte können in digitalen Lesemedien unterschiedlich angeordnet werden, was für die vollständige Erfassung eines Texts unterschiedliche Navigationsrichtungen bedingt. Sie können auf der Längsachse des Bildschirms angeordnet werden, was eine Ansteuerung des sichtbaren Texts durch Auf- und Ab-Verschieben erfordert (z. B. Webseiten), oder sie können auf der Querachse des Bildschirms angeordnet werden, was eine Ansteuerung des sichtbaren Texts durch ein Rechts- und Links-Verschieben erfordert (z. B. iBooks). Nutzen digitale Lesemedien nur eine Navigationsrichtung, sind sie in ihrer Ausprägung eindimensional, kombinieren sie beide Richtungen, z. B. das Blättern von Artikel zu Artikel in der Horizontalen und die Anzeige des einzelnen Texts in der Vertikalen, sind sie in ihrer Navigation mehrdimensional. Mit den Dimensionen der Navigation ist die sichtbare Fläche des Texts verbunden, die durch die Größe und Umrandung des Bildschirms begrenzt wird und zur Herausforderung der Abfolge von Repräsentationen des Texts und seiner Teile für die Navigationsarchitektur wird. Möglich sind dabei Formen zwischen der Darstellung des kompletten Texts als stetiger Raum oder als Kombination diskreter Einheiten. Erstere Darstellung ist das von Webseiten bekannte ›Scroll-Modell‹: Die Texte laufen aus dem Sichtbereich des Lesers heraus und werden durch Scrollen stetig in diesen hineingebracht. Der Text ist also als räumliche Einheit vorhanden, der Bildschirm wird wie ein Fenster über den Text bewegt. Mit neuen Technologien und Endgeräten ist weiterhin das ›CardModell‹ entstanden: Für dieses wird der Text in seiner Gestaltung und Anordnung in diskreten Einheiten aufbereitet, die abschnittsweise genau auf die Größe des Bildschirms angepasst sind. Durch interaktive Funktionen können die diskreten Einheiten gewechselt werden, das ›Blättern‹ erfolgt über festgelegte Sprungmarken. Die dritten Ausprägungen der Navigation beziehen sich dann auf die Form des Zugriffs auf konkrete Textteile durch den Leser: Mit der fehlenden Materialität des Textkörpers existieren keine physischen Navigationsmöglichkeiten wie das Aufschlagen einer bestimmten Seite an einer bestimmten Stelle. Stattdessen sind digitale Lesemedien oft sequenziell zugänglich, d. h. man kann nur alle Texteinheiten als stetige Abfolge anzeigen. Mit Werkzeugen der Softwareumgebung können Texteinheiten aber auch gezielt und damit wahlfrei durch den Leser angesteuert werden. Die gängige Form ist der Hyperlink, der entweder in Form von Verzeichnissen oder direkt im Text als Sprungmarke zu anderen Textstellen dient und auch über freie Texteingaben realisiert werden kann, z. B. als Suchmaschine. Die Möglichkeiten des wahlfreien Zugangs müssen durch den Bereitsteller in den Anweisungen und Daten des digitalen Lesemediums definiert und festgelegt werden.
2.2.4 Digitale Lesemedien
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Insgesamt lassen sich digitale Lesemedien deshalb nur beschreiben, wenn einzelne Formen über die Ausprägung der in folgender Tabelle abgebildeten Eigenschaften beschrieben werden: Tab. 1: Systematischer Überblick der Eigenschaften digitaler Lesemedien und der Gegensatzpaare der Eigenschaftsausprägungen. Materielle Objekteigenschaften der Zugangstechnologie (Datenverarbeitung, Bildschirmtechnologie, Eingabegeräte) simulierend ------ eigenständig
Intermedialer Bezug zu Printmedien
Textanordnung und Textgestaltung (Rezeptionsobjekt) Kommunikationskanal
monomedial ------ multimedial
Typographie
fest ------ variabel
Modularisierung
keine ------ hoch
Abgeschlossenheit
vollendet ------ mutierend Textzugang (Nutzungsobjekt)
Präsentationsumgebung
einzigartig ------ universell geringe Interaktivität ------ hohe Interaktivität
Vernetzung
offline ------ online individuell ------ sozial
Navigation
eindimensional ------ mehrdimensional stetig ------ diskret sequenziell ------ wahlfrei
4 Lesen mit digitalen Lesemedien Die beschriebenen Eigenschaften digitaler Lesemedien in ihren unterschiedlichen Ausprägungen erschweren eine Analyse der Auswirkungen dieser Medien auf das Lesen. Anhand des ausgeführten Schemas kann aber abgeleitet werden, welche Eigenschaften in welchen Ausprägungen das Leseverhalten und den Leseprozess beeinflussen. Dabei gehen Eigenschaften der Textanordnung, Textgestaltung und des Textzugangs in konkrete Formen über, deren Eigenschaftsausprägungen in Kombination das Leseverhalten (Nutzung) und den Leseprozess (Rezeption) prägen. Zusammenfassend erscheint nicht die Frage wichtig, ob ein Individuum vernetzte [digitale Lese-] Medien nutzt oder deren Inhalte rezipiert, sondern vielmehr, inwiefern sich die Durchdringung der Aneignung eines medialen Inhalts mit Nutzungs- und Entscheidungsprozessen bezüglich des dargebotenen Inhalts und aktive Eingabehandlungen auf das Erleben des Rezipienten auswirkt […]. (Kuhn 2009, S. 134)
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Die konkreten Formen digitaler Lesemedien werden nach der ›Theorie der Medienwahl‹ nach rationalen, sachlichen und sozialen Anforderungen, individuellen Kompetenzen und nach sozialen Normen vom Leser ausgewählt: nach der Effizienz, mit der sie ein Kommunikationsbedürfnis umsetzen, nach dem Aufwand, mit dem Leser das Kommunikationsbedürfnis über das Lesemedium befriedigen können (Effektivität), und unter Einfluss sozialer Zuschreibungen an Effizienz und Effektivität. »Im Sinne des Nutzenansatzes sind Rezipienten bestrebt, diejenigen Angebotsalternativen auszuwählen, die in Anbetracht ihrer jeweiligen Nutzungsmotive das höchste Maß an Gratifikation oder Bedürfnisbefriedigung bieten« (Schweiger 2002, S. 52). Da die Bedürfnisse eines Lesers in Abhängigkeit von den Eigenschaften des digitalen Lesemediums mehr oder weniger gut befriedigt werden können, ist es wahrscheinlich, dass bestimmte Formen für bestimmte Lesesituationen, Leseweisen und Lesemotivationen besser geeignet sind als andere. Wenn Eigenschaften und Bedürfnisse dagegen zu weit auseinandergehen, werden Eigenschaftsausprägungen eines Lesemediums im besten Fall ignoriert und stehen im schlechtesten Fall der Nutzung des konkreten Lesemediums entgegen (vgl. Weigand / Lehmann 1997, S. 477). Dabei kommt zum Tragen, dass einzelne Eigenschaften oder Eigenschaftsausprägungen je nach Leseziel durch den Leser mehr oder weniger gewichtet sind und ggf. fehlende oder mangelhafte Eigenschaften ausgleichen. Diesen Aspekt machen sich Bereitsteller zunutze, die mit wenigen, standardisierten Lesemedien ›Durchschnittsleser‹ ansprechen und so eine günstige Kostenposition erreichen wollen (vgl. Mayer 1993, S. 89 f.). Mit digitalen Lesemedien (und den weiter genutzten Printmedien) entsteht deshalb eine ausdifferenzierte Medienumgebung für das Lesen, die unterschiedliche Passungen von technischer Funktionalität an spezifische Lesesituationen, Leseweisen und Leseziele ermöglicht und unterschiedliche Textanordnungsmöglichkeiten, Textgestaltungsmöglichkeiten und Textzugänge zugrunde legt.
4.1 Lesen und dynamische Textgestaltung und Textanordnung Die Textgestaltungsmöglichkeiten digitaler Lesemedien wirken sich insbesondere auf die Wahrnehmung des Lesers und damit indirekt auch auf Bedeutungskonstruktionen während des Lesens aus. Die Nutzung mehrerer Kommunikationskanäle ist für die Kombination aus Schrift- und Bildzeichen in Printmedien bereits erforscht. Dabei wird herausgestellt, dass ein derartiges multimodales Lesen keine diskontinuierlichen oder fragmentierten Leseweisen auslöst. Stattdessen führen Schrift- und Bildzeichen zu einem kompositorischen Lesen von schriftlichen und bildlichen Informationen, in dem zwar Aufmerksamkeitssprünge vorkommen, Bedeutungskonstruktionen aber auf der ganzheitlichen Wahrnehmung der Schrift-Bild-Komposition erzeugt werden. Dabei ist relevant, dass sowohl Schrift- als auch Bildzeichen statische Zeichen in fester Anordnung sind, die Bildzeichen als Paratexte den Schriftzeichen in ihrer Bedeutung untergeordnet sind und diese Art des Lesens historisch entwickelt ist sowie während
2.2.4 Digitale Lesemedien
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der Lesesozialisation tradiert wird. Mit der Erweiterung der Kommunikationskanäle auf Videosequenzen, Animationen und Tonspuren werden die Anforderungen an ein kompositorisches Lesen jedoch um ein Vielfaches erhöht, Wahrnehmung und Bedeutungskonstruktion können insbesondere aufgrund des Spannungsfelds zwischen statischen und dynamischen Zeichen nur unter erhöhtem kognitivem Aufwand vollzogen werden. Der Aufmerksamkeitswechsel zwischen multiplen Kommunikationskanälen erfolgt nicht nur öfter, sondern auch in kürzerer Abfolge, um die mediale Gesamtkomposition erfassen zu können. Die kürzeren Aufmerksamkeitsspannen auf Texteinheiten können als selektives, springendes Leseverhalten interpretiert werden. Mit der gleichzeitigen flüchtigen und dynamischen Anordnung von Schriftzeichen verschiebt sich der Leseprozess von der Wahrnehmung eines statischen schriftlichen Texts mit Paratexten zu einer Wahrnehmung des Texts als Figuration unterschiedlicher Zeichensysteme, welche die Wahrnehmung und die Bedeutungskonstruktionen assoziativ über das Gesamtbild beeinflussen können (vgl. Gervais 2007, S. 184). Weiterhin unterstützt eine variable Typographie die Anpassung des Rezeptionsobjekts an die individuelle Wahrnehmungsleistungsfähigkeit des Lesers, was die Lesegeschwindigkeit und Genauigkeit des Verstehens von Zeichen, Sätzen und Texten erhöhen kann. Sie wirkt sich insgesamt auf visuelle Orientierungs- und Navigationsprozesse der Wahrnehmung über die Textoberfläche aus und steuert die Aufmerksamkeit, die Zeichen und Textteilen zuteil wird. Typographische Konzepte von Bereitstellern sind dabei bereits auf die durchschnittliche Wahrnehmungsleistung und physischen Voraussetzungen ausgelegt. Die Veränderung der typographischen Darstellung kann für Durchschnittsleser deshalb auch zu einer Verringerung der Wahrnehmungsleistung und Orientierung im Text führen. Daneben begleiten das Lesen ästhetische Ansprüche an die Darstellung eines Texts, die mit einer variablen Typographie nicht immer erfüllt werden können. Vorteile bietet eine variable Typographie deshalb vor allem dann, wenn physische Bedingungen die ästhetischen Bedürfnisse überlagern und veränderte Anforderungen an die Textdarstellung gestellt werden. Die Möglichkeiten der individuellen Anpassung von Schriftgröße, Kontrast oder Vorlesefunktionen helfen besonders Menschen mit schwächer werdender visueller Wahrnehmung, eine optimale Lesbarkeit des Texts zu erreichen. Daneben können durch variable Darstellungsmöglichkeiten auch individuelle ästhetische Vorlieben befriedigt werden, was den Leseprozess positiv beeinflussen kann. Weiterhin verändern die digitalen Möglichkeiten der Textanordnung den Leseprozess und das Textverstehen. Erklärungen hierfür liefert ein Modell, welches Lesen als Abfolge von Selektions- und Rezeptionssequenzen darstellt: Dabei wird das Lesen über die Aufmerksamkeit der Wahrnehmung auf Abfolgen aus Schriftzeichen, Wörtern und Sätzen gesteuert, die dann einzeln rezipiert werden, bevor eine neue Selektion stattfindet (vgl. Carusi 2006, S. 166–169). Dieses Modell des analogen Lesens gilt auch für digitale Lesemedien (vgl. Hoffmann 2010, S. 47). Lesen ist auch in Printmedien kein lineares Lesen, sondern in statischen Repräsentationen ebenfalls an Aufmerksamkeitssprünge des Lesers gebunden (vgl. Segeberg 2005, S. 14). Mit einer
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hohen Modularisierung von Texteinheiten, wie sie in digitalen Lesemedien möglich ist, entstehen allerdings mehr und einfacher zugängliche Selektionsmöglichkeiten, die Abfolge der Sequenzen erhöht sich. Wenn die Textteile im digitalen Lesemedium zudem direkt verlinkt sind, entsteht ein zusätzlicher Selektionsdruck auf den Leser, der schneller entscheiden muss, ob die Rezeptionsphase fortgeführt oder doch zu einem anderen Textteil gewechselt werden soll (vgl. Schweiger 2002, S. 57). Die Wechselhaftigkeit der gesamten Textrepräsentation verschiebt das Verhältnis von Bereitsteller und Rezipient in der Bedeutungskonstruktion damit in Richtung des Lesers: Die vom Autor intendierte Reihenfolge des Lesens verliert an Bedeutung, die eigenen Kontexte und Selektionen des Lesers werden über die gewählte Anordnung des Texts wichtiger. Dabei ist von keiner völlig freien Textanordnung auszugehen, da Bedeutung trotzdem an semantische Zusammenhänge zwischen Texteinheiten gebunden ist. Allerdings entstehen durch nutzerzentrierte Anordnungsmöglichkeiten größere Netzwerke aus Texteinheiten, die Linearität des Sinns kann stärker aufgebrochen werden (vgl. Carusi 2006, S. 169). Die Möglichkeiten einer freieren Kohärenzbildung aus Texteinheiten erfordert aber gleichzeitig eine hohe Lesekompetenz, da die Bedeutungskonstruktionen stärker als bei geringer Modularisierung eigenverantwortlich stattfinden muss. Das heißt, die kognitive Aktivität des Lesers wird durch eine stark modulare Struktur aus Texteinheiten erhöht, weil der Leser vor bewusste Entscheidungen gestellt werden kann, welche Wahrnehmungsanordnungen und Bedeutungskonstruktionen bereits durch die Notwendigkeit der Entscheidung verändern können. Die Möglichkeiten einer hohen Modularisierung von Texten führen zu Interpretationen, welche das Lesen in digitalen Lesemedien als überfliegend und suchend und daher als diskontinuierlich beschreiben und diesen Medien kontinuierliche Leseweisen absprechen (vgl. Vandedorpe 2007, S. 206). Insgesamt verändern die Möglichkeiten der digitalen Textgestaltung und Textanordnung den Leseprozess: Variable Typographie, multiple Kommunikationskanäle und hohe Modularisierung eines Texts sind besser für Texte geeignet, die in sich diese Merkmale bereits unterstützen, also vor allem sachbezogene, nicht-fiktionale Texte, die mittels eines informationsorientierten Lesens in Form zielgerichteter Suche nach spezifischen Informationseinheiten bereits weniger als Gesamtobjekt wahrgenommen werden. Die Möglichkeiten der Mutation von Texten durch Aktualisierungen, Erweiterungen und Fortsetzungen schließlich beeinflussen Motivationen und Wirkungen des Lesens: Aktualisierungen können zu wiederholtem Textzugriff führen, die Veränderungen des Texts dagegen können Irritationen aus lösen, wenn erinnerte Informationen eines vergangenen Leseprozesses nicht mehr mit den neu gelesenen Informationen übereinstimmen. Die Konstruktion der mentalen Repräsentationen und damit die Kohärenzbildung von Bedeutung benötigen dann mehr kognitiven Aufwand.
2.2.4 Digitale Lesemedien
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4.2 Digitaler Textzugang und Lesen Ob in einer spezifischen Situation überhaupt ein digitales Lesemedium genutzt wird, hängt von der konkreten Lesesituation und den damit assoziierten Bedürfnissen des Lesers ab. Dabei bestimmt die Hardware wesentlich, ob ein digitales Lesemedium für ein bestimmtes Leseziel in einer konkreten Lesesituation die Bedürfnisse des Lesers befriedigen kann. Dabei spielen technische (z. B. die Abhängigkeit von einer Stromquelle), funktionale (z. B. das Mitführen mehrerer Texte in einer mobilen Situation) und emotionale Faktoren (z. B. die individuelle Bewertung der Haptik) eine Rolle. Gerade die Materialität der Hardware beeinflusst dabei den Leseprozess über die physische Bedienung (z. B. über Eingabegeräte wie Keyboard, Maus oder Touchscreen), die Ästhetik der verarbeiteten Materialien, die Bildschirmqualität sowie die Haptik (Material, Gewicht, Größe, Verarbeitung) und erzeugt somit einen Paratext der Rezeption, der die Wahrnehmung der Zeichen beeinflusst. Der Leseprozess im digitalen Lesemedium wird auch durch die Präsentationsumgebung beeinflusst, welche beim Lesen ein optimales Involvement ermöglicht, solange sie unbewusst genutzt werden kann und keine Fehler aufweist. Softwarebasierte Präsentationsumgebungen digitaler Lesemedien betonen aufgrund ihrer digitalen Form die interaktive Nutzungsebene der Medien stärker, weil sie nicht standardisiert sein müssen und einen hohen Grad an Komplexität der Nutzung erreichen können. Die Aufmerksamkeit des Lesers kann sich deswegen von der Textebene in Richtung der Präsentationsumgebung verschieben. Je mehr interaktive Elemente eine Präsentationsumgebung hat, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Leser weniger in den Text eingebunden wird (vgl. Hillesund 2010). Die beim Lesen erzeugten mentalen Repräsentationen in der Vorstellungskraft der Leser werden dann von physischen Handlungen der Nutzungsumgebung überlagert (vgl. Mangen 2008, S. 406). Diese können dabei eine eigene Form der Einbindung entwickeln, weil sie spielerische Aspekte hervorheben (›Immersion‹). Vergleicht man einzigartige und universelle Präsentationsumgebungen, kommt man zu einem ambivalenten Ergebnis: Einzigartige Präsentationsumgebungen führen auf der einen Seite zu einer stärkeren Wahrnehmung des Texts als ganzheitliches Objekt und damit zu einer höheren Einbindung des Lesers in eine konkrete Nutzungssituation, auf der anderen Seite betonen sie meist eine wenig standardisierte Funktionsoberfläche und führen zu einem spielerischen Erleben (z. B. ›interactive (enhanced) E-Books‹). Universelle Präsentationsumgebungen dagegen erleichtern auf der einen Seite den Wechsel des angezeigten Texts und verringern die Einbindung in einen konkreten Text, auf der anderen Seite wird die Präsentationsumgebung unbewusster genutzt und lenkt weniger vom eigentlichen Text ab (z. B. Texte im Webbrowser). Der Grad der intertextuellen und sozialen Vernetzung von Texten beeinflusst zusätzlich den Kontext des Lesens und damit den Leseprozess. Die universelle Technologie digitaler Lesemedien ermöglicht es, Texte auch während des Lesens schnell zu wechseln. Dabei sind die zur Verfügung stehenden Texte über ein digitales Lese
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medium zahlreich und leicht zugänglich, aber während des Lesens nur als blinder Fleck des gerade gelesenen Texts im Bewusstsein des Lesers: Es entstehen Bedürfnisse, den Text zu wechseln, weil etwas anderes Greifbares die Lesebedürfnisse eventuell besser befriedigen könnte und nur ›einen Klick weit weg‹ ist (vgl. Mangen 2008, S. 410). Die permanente Anwesenheit anderer Lesemöglichkeiten im Bewusstsein erhöht die Ungeduld des Lesers, die perfekt seinen Bedürfnissen angepasste Information zu finden, und so zu einer Beschleunigung des Leseprozesses, in dem Selektion und Wechsel von Texten zu einem zentralen Merkmal wird. Diese fragmentierte Form des Lesens, auch als ›browsing‹ oder ›skimming‹ bezeichnet, steht dabei Bedeutungskonstruktionen entgegen, die auf ein langsames Tiefenverstehen ausgelegt sind, z. B. bei wissenschaftlichen oder fiktionalen Texten (vgl. Gervais 2007, S. 194 f.; Hillesund 2010; Mangen 2008, S. 413). Sie ist dagegen als spezifische Leseweise ausgesprochen effektiv, wenn die Bedürfnisse des Lesers darauf ausgelegt sind, eine spezifische passende Information zu finden. Eine weitgehende Vernetzung von Texten in digitalen Lesemedien betont während der Rezeption somit technische Interaktionen des Lesers, den permanenten Wechsel zwischen Text- und Medienebene und den Raum zwischen den einzelnen gelesenen Texteinheiten (vgl. Idensen 1996, S. 84 f.). Eine soziale Vernetzung von Lesern über einen Text verändert darüber hinaus nicht nur den Leseprozess, sondern vor allem auch Bedeutungskonstruktionen durch deren soziale Aushandlung.2 Repräsentationsumgebung und Vernetzung spiegeln sich direkt in den Möglichkeiten der Navigation, die digitale Lesemedien bereitstellen. Mehrdimensionale, diskrete und wahlfreie Navigationsmöglichkeiten unterstützen insbesondere instrumentelle, zielgerichtete Leseweisen des Suchens und Selektierens in modularisierten Texten variabler Anordnung. Sie fokussieren damit das Lesen ›kleiner‹ statt ›großer‹ Erzählungen (vgl. Vandendorpe 2007, S. 206). Dabei spielen Anzahl und Gestaltung der interaktiven Elemente, die auf Textabschnitte, zusätzliche Kommunikationskanäle oder andere Texte verweisen, eine zentrale Rolle: Durch sie wird definiert, welche Ebene des Leserbewusstseins die Nutzungsoberfläche erreicht und welches Verhältnis spielerischer Immersion in das Lesemedium zum imaginären Involvement in den Text entsteht. Mit universeller Computertechnologie werden dabei bereits an sich spielerische Aspekte verstärkt. So wird z. B. erklärbar, warum E-Reader mit ihrer weitgehenden funktionalen Begrenzung als Lesemedium für fiktionale Texte genutzt werden, während Tablet-PCs, die bereits in sich als spielerischer Zugang zu einer Vielzahl an medialen Funktionen und Inhalten aufgebaut sind, eher für nicht-fiktionale Kurztexte genutzt werden (vgl. Bläsi / Kuhn 2011). Navigations konzepte in digitalen Lesemedien legen den Schluss nahe, dass Bedeutungskon struktionen von Texten anders verlaufen, wenn diese mehrdimensional, diskret und
2 Für eine ausführliche Betrachtung sozialer Leseprozesse in digitalen Lesemedien vgl. Kap. 2.3.3 Lesen in digitalen Netzwerken in diesem Band.
2.2.4 Digitale Lesemedien
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wahlfrei angelegt sind. Optionen des Textzugangs erreichen in derartigen Konzepten im Bewusstsein des Lesers dieselbe Ebene wie der eigentliche Text, beide verschmelzen zu einer räumlichen Vorstellung des Texts, in dem einzelne Punkte über die Navigationselemente zugänglich sind (vgl. Miall / Dobson 2001). In der Vorstellung des Lesers entsteht eine neue Form des Textzugangs, der sich von der Textoberfläche von Printmedien grundlegend unterscheidet und Leseverhalten, Leseweisen und Leseverstehen beeinflusst.
5 Desiderate Bisher gibt es keine allgemein anerkannten Nachweise, dass digitale Lesemedien Leseprozesse nachhaltig und vollständig verändern. Indizien in Vergleichsstudien zwischen dem Lesen gedruckter und digitaler Texte lassen jedoch darauf schließen, dass sich mit digitalen Medien einzelne Aspekte des Lesens geändert haben müssen. Betont werden dabei immer wieder Veränderungen der Aufmerksamkeitsspannen, der Informationsselektion, des Tiefenverstehens und der Konzentration beim Lesen. Die Erforschung des Lesens digitaler Texte steht dabei vor verschiedenen Problemen: Zunächst ist die Definition digitaler Lesemedien, wie aufgezeigt wurde, nicht in Form von Leseobjekten möglich, sondern muss als dynamische Ausprägung unterschiedlicher Eigenschaften erfolgen. Das erfordert ein Umdenken von Forschungsmodellen und -methoden, die erst in Ansätzen erfolgt. Besonders die empirische Forschung steht hier vor der Herausforderung, den Einfluss digitaler Lesemedien für unterschiedliche Variablen des Leseverhaltens und des Leseprozesses zu operationalisieren. Hierfür gibt es bislang zu wenige überzeugende Lösungen. Daneben setzen sich die Problemfelder der Lese- und Leserforschung aus dem Bereich der Printmedien fort: Digitale Lesemedien sind direkt mit Lesestoffen, Lesesituationen, kulturellen Zuschreibungen, individuellen Persönlichkeitsmerkmalen usw. verwoben, die nur schwer getrennt erfasst werden können. Weiterhin sind Formen digitaler Lesemedien und Nutzungspraktiken gegenwärtig noch in stetigem Wandel und orientieren sich stark an Printmedien. Das hat auch Folgen für die Erforschung dieser neuen Medien: Bislang wird vor allem das Lesen in digitalen und gedruckten Medien verglichen, wobei insbesondere die neuen Medien an den Standards der gedruckten Medien gemessen und im Vergleich kritisiert werden (vgl. Dobson 2007, S. 268). Mit einem zunehmend gewohnten Umgang mit derartigen Medien wird dieser Vergleich jedoch hinfällig, stattdessen entstehen Nutzungspraktiken für unterschiedliche Lesemedien, die sich an konkreten Lesezielen orientieren. Die Erforschung digitaler Lesemedien sollte deshalb weniger auf Vergleiche mit gedruckten Lesemedien abzielen, sondern sie als eigenständige Lesemedien mit spezifischer Kommunikationsfunktion betrachten. Dabei sollte sie nicht auf die Gesamtheit der digitalen Lesemedien abzielen, die sie aufgrund der Ausprägungs-
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vielfalt kaum empirisch überprüfen kann. Stattdessen sollte sie einzelne Aspekte des medialen Substrats oder einzelne Kombinationen der Eigenschaften und Ausprägungen in den Mittelpunkt stellen.
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2.3 Lesen in sozialen Beziehungskonstellationen
Bettina Muratović
2.3.1 Lesen und Familie Zusammenfassung: Die bedeutendste Beziehungskonstellation, die den Erwerb der Lesekompetenz beeinflusst, ist die Familie. In diese werden zukünftige Leser hineingeboren und sammeln grund legende Erfahrungen, die ihre zukünftige Leserbiographie bestimmen. Die elterliche Gestaltung familiärer Alltagsinteraktionen sowie spezieller (Vor-)Lesegespräche spielt, neben weiteren Faktoren, die entscheidende Rolle für den Verlauf des Lesenlernens. Abstract: The most important constellation of relationships that influences the acquisition of reading is the family. Future readers are born into families and acquire the fundamental experiences that determine their reading-biographies. The parental direction of everyday interaction within the family as well as specific conversations about reading (or reading aloud), among other factors, plays a decisive role for the course of reading acquisition.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 383 2 Forschungsgeschichte — 384 3 Forschungsstand — 385 3.1 Vorlesen und Anschlusskommunikation — 387 3.2 Aktuelle Formen des Vorlesens — 393 4 Zukünftige Entwicklungen und Desiderate — 396 5 Literatur — 397
1 Einleitung Im Mittelpunkt vieler Überlegungen zu familiären Beziehungskonstellationen im Zusammenhang mit dem Thema Lesen steht ein Ungleichgewicht zwischen den Beteiligten. So sind erwachsene Bezugspersonen gegenüber ihren Kindern – versteht man Familie in diesem allgemeinen Sinn – in der Lage, Texte zu rezipieren, während sich die Heranwachsenden dem Lesen erst noch annähern. Der Erwachsene verfügt in der Regel über eine ausgeprägtere Lesekompetenz, während das Kind bis zum Zeitpunkt eigenständiger Textrezeption darauf angewiesen ist, von seinen Eltern unterstützt zu werden. Als elterliche Hilfestellungen ist neben einem kindgerechten Aufbereiten von Textinhalten ebenso der eigentliche Zugang zu Schriftmedien zu verstehen.
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2 Forschungsgeschichte Der Fokus der Lesesozialisationsforschung liegt seit jeher auf der fehlenden Lesefähigkeit der Heranwachsenden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird diese Fähigkeit erstmals bedeutsam, da sich eine gesellschaftliche Situation herauskristallisiert, in der nicht mehr nur manche Teile der Bevölkerung das Lesen und Schreiben beherrschen (müssen). Zunehmend ist das gesellschaftliche Leben durch Formen schriftlicher Kommunikation bestimmt (vgl. Hurrelmann u. a. 2006, S. 68), so dass der Umgang mit Schriftlichkeit hinsichtlich beruflicher Standards sowie als Moment kultureller Identität für alle Gesellschaftsmitglieder bedeutender wird (vgl. Hurrelmann u. a. 2006, S. 70). Verstärkt durch technische Innovationen des beginnenden 20. Jahrhunderts gelingt eine Steigerung der Text- und Buchproduktion. Dadurch kann der Bedarf eines Massenpublikums gedeckt werden und die Entwicklung eines sich ausbreitenden Lesepublikums wird vorangetrieben. »Aus dem Lesen als ständisch definiertem Privileg einer kleinen sozialen Gruppe wird [also] eine allgemeine Bedingung der Teilnahme am gesellschaftlichen Entwicklungsprozess.« (Hurrelmann u. a. 2006, S. 70) Fortan ist Lesen als Kulturtechnik für eine adäquate Partizipation im privaten und öffentlichen Bereich notwendig. Im Laufe der Zeit entstehen vermehrt Möglichkeiten der Förderung dieser Fähigkeit und es etabliert sich eine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Aufgrund sich wandelnder Bedingungen der Lesesozialisation ist das Interesse an Fragen dieses Forschungsgebiets stets hochaktuell. Gegenwärtig beschäftigt sich das Feld maßgeblich mit sog. neuen Medien, die im Laufe einer gesellschaftlichen Digitalisierung die Basiskultur des Lesens nicht unberührt lassen. So herrscht in den verschiedenen Disziplinen Einigkeit hinsichtlich der Konzentration auf den digitalen Bereich. Die Erkenntnisinteressen hinsichtlich eines kindlichen Lesekompetenzerwerbs existierten einst nur im Bereich des institutionalisierten Lesenlernens. Die Verantwortung für den Erwerb der Lesefähigkeit der Heranwachsenden oblag der Schule, so dass die frühe Lesesozialisationsforschung nur im schulischen Kontext wirkte. Dieser Horizont erweitert sich durch die Erkenntnis bislang vernachlässigter Sozialisationseinflüsse des kindlichen Lesekompetenzerwerbs. Es vollzieht sich ein Umdenken der Lesesozialisationsforschung der Vergangenheit, entscheidend beeinflusst durch die Abkehr der Verortung des Lesebeginns zum Zeitpunkt des Schuleintritts. So wurde der Erwerb von Lesekompetenz nicht mehr ausschließlich im Zusammenhang mit schulischen Einflussfaktoren untersucht, da Heranwachsende, lange bevor sie die Schule besuchen, der Schriftkultur begegnen. Vielmehr ist es die Familie, in der das Kind erste Berührungen mit Lesen und Schreiben erlangt und die nun entsprechend in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen rückt. Ein großes Interesse gegenüber familiären Sozialisationsbedingungen des kindlichen Lesekompetenzerwerbs ist seither ungebrochen.
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3 Forschungsstand Als Basisinstanz des Lesekompetenzerwerbs gilt die Familie, so dass familiäre Interaktionen als grundlegende Voraussetzungen für eine literarische Entwicklung Heranwachsender anzusehen sind. Lesesozialisation, als »Prozeß der Aneignung und Vermittlung von Kompetenzen zur Textrezeption und -verarbeitung« (Groeben u. a. 1999, S. 1; vgl. Hurrelmann 1998, S. 189), entsteht unter kommunikativen Rahmenbedingungen enger Bezugspersonen. Dabei sollen Heranwachsende sukzessive in die Lage versetzt werden, sich aktiv mit Texten auseinander zu setzen und deren Bedeutungen zu (re-)konstruieren (vgl. Garbe 2009, S. 21 zu PISA 2000). In einem Zeitalter digitaler Medien umfasst diese Definition der Lesekompetenz zunehmend auch die Fähigkeit, verschiedenste Textarten zu verstehen, sie kritisch einzuschätzen und für eigene Zwecke und Ziele zu nutzen (vgl. Isler u. a. 2010, S. 10). Ein angemessener Textbegriff wird demnach weit gefasst und umschreibt Kombinationen aus Texten, Bildern, Graphiken, Diagrammen, Videos, Tönen etc. Die daraus entstehenden neuartigen Medienformen eröffnen vielfältige Nutzungsoptionen (vgl. Sesink 2008, S. 407), mit denen in Alltags- und Arbeitswelt adäquat umgegangen werden muss. Die durch eine spezifische Form der technischen Informationsübertragung gekennzeichneten Nutzungsmöglichkeiten digitaler Medien beeinflussen die Art und Weise des Lesens im Vergleich zu traditionellen bzw. analogen Medien. Interaktivität, Virtualität, Multimedialität, Vernetzung und Entlinearisierung gelten als zentrale Konstituenten neuer Medien (vgl. Holly 2000, S. 87 f.). Ein aktuell geforderter Umgang mit Texten reicht somit über die reine Decodierung schriftlichen Materials hinaus (vgl. Artelt u. a. 2001, S. 70). Die Vielfalt multimedialer Darstellungsformen und -kombinationen erfordert neben der eigentlichen Fähigkeit des Lesens einen bewussten Medienumgang. Lesen ist in diesem Zusammenhang als Schlüsselkompetenz und Teil einer umfassenden Medienkompetenz zu verstehen (vgl. Hurrelmann 1995, S. 246; Rosebrock 2004, S. 105). Der Grundstock der Kulturtechnik Lesen wird in der Kindheit gelegt, was die Familien als früheste und wirksamste Instanz der Lesesozialisation auszeichnet (vgl. Hurrelmann 2004, S. 169). In diesem Rahmen lernen Heranwachsende die Grundfertigkeiten des Lesens hinsichtlich Wortschatz, Syntax, narrativen Strukturen, metasprachlichen Aspekten der Sprache und Buchstaben, die dem eigentlichen Lesekompetenzerwerb vorausgehen und anhand derer sie sich den Funktionen, Nutzungen, Konventionen und Bedeutungen von Texten zuwenden (vgl. Whitehurst / Lonigan 1998, S. 854). In der Phase des (Klein-)Kind- bzw. Vorschulalters bestimmt das familiäre Umfeld also die Entwicklung späterer Leser und deren Lesekarrieren (vgl. Oerter 1999, S. 27). Als zentrale Einflussgrößen gelten dabei maßgeblich familiäre Interaktionsmuster. Sie sind der entscheidende Faktor, ob und wie die Integration des Lesens in den Familienalltag gelingt. Diese soziale Einbindung der Kulturpraxis bestimmt wiederum den Erfolg der kindlichen Lesesozialisation (vgl. Hurrelmann 1994, S. 33; Hur
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relmann 1998, S. 190). Die Studie Leseklima in der Familie erfasst beispielsweise verschiedene Interaktionsmerkmale der Familie im Zusammenhang mit entsprechenden Lesesozialisationsverläufen (vgl. Hurrelmann u. a. 1993, S. 180–201). Dabei kristallisieren sich in erster Linie das Familienklima, die Gesprächsabläufe sowie das elterliche Erziehungsverhalten als bedeutsame Bedingungen für das kindliche Lesenlernen heraus. Diese Merkmale lassen sich als »innere Lebensbedingungen« (Hurrelmann 1990, S. 191) der Lesesozialisation beschreiben. Innerhalb der Ausgestaltung dieses familiären Alltags erweisen sich Interaktions muster dann als besonders lesesozialisationsfördernd, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen. So ist für einen gelingenden Verlauf der kindlichen Lesesozialisation entscheidend, dass der Heranwachsende unter anderem regelmäßig gemeinsame Lesesituationen sowie Buchhandlungs- oder Bibliotheksbesuche erfährt. Die dadurch geweckte kindliche Aufmerksamkeit auf Lesemedien erhöht sich zudem durch ein gemeinsames Buchinteresse im familiären Zusammenleben. Dabei spielt neben der allgemeinen Konzentration auf Lesemedien gerade auch ein kinderthemenspezifisches Buchinteresse der Bezugspersonen eine entscheidende Rolle. Bestimmen die beschriebenen Interaktionsstrukturen das familiäre Zusammenleben, können sie hinsichtlich des kindlichen Lesekompetenzerwerbs als anregend charakterisiert werden (vgl. Hurrelmann u. a. 1993, S. 180–201). Eltern, die wenige oder gar keine Buch- bzw. Lesesituationen im Familienalltag realisieren, mit ihren Kindern also seltener über Gelesenes sprechen, bieten ihnen ein entsprechend weniger anregendes Elternhaus (vgl. Fritz 1991, S. 92). Eine »aktive (alltagsnahe) Gesprächspraxis« (Hurrelmann 2004, S. 182) bezüglich Bücher im familiären Umkreis sind demnach eine grundlegende Voraussetzung für die Lesebereitschaft von Heranwachsenden. Um Kindern Literalität zu vermitteln bzw. sie mit verschiedenen Lesemedien vertraut zu machen, ist es unumgänglich, sich mit ihnen sowie den rezipierten Inhalten im Verlauf der Lesesozialisation kontinuierlich auseinander zu setzen (vgl. Rosebrock 2009, S. 62). Dabei gilt es, eine forcierte Leseerziehung zugunsten einer ›natürlichen‹ Integration des Lesens in den Familienalltag zu vermeiden, da diese den kindlichen Lesekompetenzerwerb nicht entscheidend anregt. Vielmehr geht es um das ›Verführen‹ zum Lesen, welches das Kind zu einem begeisterten und kompetenten Leser heranwachsen lässt. Die Vorbildfunktion der Eltern spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Nur wenn das Kind seine Bezugspersonen als lesebegeistert erfährt und sie regelmäßig als aktive Leser erlebt, kann seine Lesesozialisation entsprechend positiv verlaufen. Elterlicher Buchbesitz und deren Lesehäufigkeit sind entscheidende Faktoren dafür, ob ein Kind sich zum (Viel-)Leser entwickelt oder nicht (vgl. Köcher 1991; Hurrelmann 1994, S. 34). Die kindliche Lesefreude darf bei den Bemühungen des Lesenlernens niemals aus dem Blick geraten (vgl. Groeben / Schroeder 2004, S. 316; Arnold / Whitehurst 1994, S. 103–106). Nur so kann es gelingen, dass Kinder das Lesen bzw. das Lesenlernen sowie entsprechende Situationen positiv bewerten. Keinesfalls darf sich die Aus einandersetzung mit Büchern und Texten unter Zwang oder gar als Strafe ereignen.
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In diesen Fällen kann von einer erfolgreichen Lesesozialisation nicht ausgegangen werden. Die Identifikation solcher Erfolgsfaktoren erlaubt zudem die Formulierung von Fördermöglichkeiten, so dass zunehmend ›family literacy programs‹ ein großes Potenzial zugesprochen wird (vgl. Edwards / Turner 2009, S. 635). Konzeptionen einer speziellen Didaktik des elterlichen Vorlesens postulieren Erfolge des kindlichen Lesekompetenzerwerbs in allen Bildungsschichten. Konkrete Handlungsvorschläge unterstützen die bewusste Gestaltung lesesozialisatorisch wertvoller Situationen, in denen die Entwicklung der Lesefähigkeit, der Motivation und der Praxis des Lesens zu verorten ist.
3.1 Vorlesen und Anschlusskommunikation Das Vorlesen bzw. das gemeinsame Ansehen von Bilderbüchern hat sich als eine Schlüsselsituation für die kindliche Leseentwicklung in der Familie (vgl. Hurrelmann 1998, S. 189) herauskristallisiert. Gleichzeitig handelt es sich bei diesen Praktiken um die beliebtesten sowie am meisten genutzten Formen familiärer Lesesozialisation (vgl. Bonfadelli / Fritz 1993, S. 104). Vorlesen gestaltet sich konkret in Situationen gemeinschaftlicher (Bilder-)Buchrezeption zwischen einem Kind und seiner Bezugsperson. Diese kooperative Medien nutzung ist aufgrund ungleicher Kompetenzen der Textrezeption der Beteiligten konstitutiv. Der Heranwachsende ist nicht in der Lage, eigenständig den Inhalt eines Lesemediums zu erschließen und somit auf die Hilfestellungen des Erwachsenen angewiesen. Aufgrund des Ungleichgewichts der Lesekompetenzen der Beteiligten konkretisiert sich das Vorlesen oder Bilderbuchansehen also als »dialogischer Prozeß wechselseitiger Bedeutungskonstitution« (Wieler 1997, S. 23). Aus diesem Grund verfolgt der Vorlesende ein kindgerechtes Aufbereiten der Textinhalte, um ein gemeinsames Verständnis des Gelesenen aufbauen und auf diese Weise Anschlussmöglichkeiten der Kommunikation offerieren zu können. Vorlesen ist demzufolge durch wechselseitige Interaktionen zwischen Vorlesendem und Kind gekennzeichnet. Diese »gezielt herbeigeführte Situation dyadischer Interaktion« (Wieler 1997, S. 32) lässt das Vorlesen als soziale Handlung beschreiben, welches sich dadurch auszeichnet, dass es sich »intentional [und] in bestimmter Weise auf andere Subjekte bezieht« (Geulen 2005, S. 173). Dabei gilt es sich dem mittelbaren Ziel des kindlichen Lesekompetenzerwerbs anzunähern. Solange eine angemessene Teilhabe in privaten und öffentlichen Lebensbereichen nur durch die Fähigkeit des Lesens ermöglicht wird, kommt dem Erwerb der Lesefähigkeit in unserer auf Schrift basierenden Gesellschaft immer wieder eine entscheidende Bedeutung zu. Bereits der Wortlaut der ›primären‹ Sozialisationsinstanz beschreibt die essenzielle Besonderheit familiärer Kommunikationserfahrungen für die Entwicklung und Aneignung von Lesekompetenz. Dabei ist die Praxis des Vorle
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sens als früheste Form der Lesesozialisation keinesfalls isoliert zu betrachten. Vielmehr gelten das Vorlesen sowie das Ansehen von Bilderbüchern als Musterbeispiele »prä- und paraliterarische[r] Kommunikationsformen« (Hurrelmann u. a. 1993, S. 140; Hurrelmann 2004, S. 175). Eingebunden in eine Vielzahl buch- und textbezogener Aktivitäten erlangt das Vorlesen zwar eine Sonderstellung lesesozialisatorischer Förderungsaktivitäten, sollte die Wirksamkeit anderer Praktiken jedoch nicht weniger bedeutsam erscheinen lassen. So wird das Vorlesen beispielsweise in vielen Familien ergänzt durch Sprachspiele, Kinderreime oder Kinderlieder sowie das Erzählen von Märchen und Geschichten. Wenngleich sich diese Beschäftigungen mit Texten und Sprache in verschiedenen Aspekten vom reinen Vorlesen unterscheiden, so unterstützen sie dennoch die kindliche Sprachentwicklung und das Geschichts- bzw. Textverständnis (vgl. Isbell u. a. 2004, S. 158) und können ebenfalls als lesesozialisationsförderlich verstanden werden. So kann im Allgemeinen von Formen des mündlichen Umgangs mit ästhetisch vorstrukturierter Sprache (Märchen, Lieder, Gedichte) bzw. des kreativen Umgangs mit Sprache und Erzählfiktionen (Geschichten erfinden, Rollenspiele, Sprachspiele) […] erwartet werden, dass sie wichtige Vorstufen bzw. Begleitformen einer wirksamen Leseerziehung darstellen und dass sie mit einem leseanregenden pädagogischen Klima in der Familie in enger Beziehung stehen (Hurrelmann u. a. 1993, S. 140).
Auf diese Weise unterstützen prä- und paraliterarische Kommunikationsformen – und im Besonderen die Praxis des Vorlesens – den Erwerb sprachlich-kognitiver Kompetenzen der Heranwachsenden. In einer zentralen Entwicklungsphase hilft dieser Austausch dem Kind, seine grundlegenden Einsichten in die symbolische, zunehmend dekontextualisierte Funktion des Sprachgebrauchs und sein Bewusstsein für narrative Strukturen von Geschichten weiterzuentwickeln (vgl. Wieler 1997, S. 24). Literarisches Verstehen und die Verarbeitung alltäglicher Interaktionserfahrungen in Form von Geschichten werden nach und nach vertieft, so dass das Lesenlernen maßgeblich unterstützt wird. Den Erfolg elterlichen Vorlesens für den Erwerb lesekompetenzbezogener Fähigkeiten und des reinen Lesenlernens dokumentiert mittlerweile eine Vielzahl von nationalen wie internationalen Studien (vgl. Bus u. a. 1995; Sénéchal / LeFevre 2002; Lonigan u. a. 2000). Historisch betrachtet ereignet sich eine Anerkennung der dargelegten Potenziale als Bildungsressourcen allerdings erst im geschichtlichen Verlauf der Leseerziehung und im Zusammenhang mit sich veränderten Familienverhältnissen (vgl. Hurrelmann 2006a, S. 406). Erst aufgrund sich wandelnder Eltern-Kind-Beziehungen hin zu weniger hierarchischen Rollenverhältnissen und der Emanzipation der Kindheit werden die beschriebenen Möglichkeiten im Dialog überhaupt realisiert und als genussvolle, spielerische, kindorientierte literarische Interaktion ausgebaut. Zuvor bestimmten traditionelle Vorstellungen mit klaren Rollenverteilungen eines erwachsenen Vorlesers und eines zuhörenden Kindes familiäre Vorlesesituationen. Zudem ermöglicht erst die Schulpflicht zeitliche Freiräume im
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Familienleben, um sich prä- und paraliterarischer Kommunikation zu widmen (vgl. Hurrelmann 2006a, S. 407). Seit Beginn der schwerpunktmäßigen Erforschung des kindlichen Erwerbs literarischer Kompetenzen im Familienkontext in den 1960er bis 1980er Jahren ließen sich in der Ausgestaltung des Vorlesens immer wieder schichtspezifische Differenzen aufzeigen (vgl. Eggert / Garbe 1995, S. 102). Auch von Petra Wieler (1997) beobachtete Vorlesedialoge bestärken diese Erkenntnis, so dass elterliche Rollenzuweisungen des Vorlesens nach Unter- und Mittelschicht zu differenzieren sind. Es polarisiert sich einerseits das Gebot des ›stillschweigenden Zuhörers‹ in Vorlesesituationen von Unterschichtfamilien, andererseits das Angebot eines ›aktiven Rezeptions- und Gesprächspartners‹ in der familiären Vorlesepraxis der Mittelschicht (vgl. Wieler 1995, S. 48; Wieler 1997, S. 318). Das Vorlesen ist entsprechend als ›geschlossen‹ oder ›offen‹ zu charakterisieren. Nur die ›offene‹ Vorlesepraxis optimiert jedoch den kindlichen Lesekompetenzerwerb, da die vom Kind als funktional absichtsvoll zu deutenden Artikulationsversuche in eine gemeinsame Bilderbuchrezeption integriert werden (vgl. Wieler 1997, S. 313; Wieler 1998, S. 69). ›Geschlossene‹ Kommunikationsbedingungen erlauben diesen kindlichen Einbezug und somit eine gemeinsame Mediennutzung nicht. ›Dialogic reading‹ beschreibt diesen mehr oder weniger bewussten und entwicklungsförderlichen Einbezug des Kindes, in dem die Interaktion zwischen den Beteiligten vorrangig gegenüber dem eigentlichen Buchinhalt ist. Dabei dient das Lesemedium in erster Linie als Ausgangspunkt des Vorlesegesprächs. Im Mittelpunkt stehen das Kind und die Aufforderung, Gelesenes in eigenen Worten wiederzugeben. Auf diese Weise entsteht eine kindgerechte Verständnissicherung, da mit Hilfe von offenen Fragen eigene Ideen und Vorstellungen stimuliert werden. Unterstützend wirken in diesem Zusammenhang zudem die von den Erwachsenen gebotenen Wiederholungen und Rückkopplungen. So können die elterlichen Techniken des Fragenstellens, Feedback-Gebens oder auch des Rollenvertauschens durch den GeschichtenErzähler den Lesekompetenzerwerb fördern (vgl. Whitehurst u. a. 1988, S. 552–559; Wasik / Bond 2001, S. 243 f.). Je mehr der Vorlesende in der Lage ist, die Vorlesepraxis auf diese Weise zu gestalten, desto besser realisiert er somit eine kindorientierte Verständnissicherung. Der reflektierte Einsatz dieser Strategien ist nicht unabhängig von den vorherrschenden familiären Kommunikationsstrukturen zu denken und daher ebenso schicht- und bildungsabhängig. Die Konsequenzen unterschiedlicher Vorleseweisen und die Bedeutsamkeit des Gesprächscharakters für den kindlichen Lesekompetenzerwerb erarbeitet auch Catherine E. Snow und verweist zudem auf den Zusammenhang der emotionalen Qualität des Eltern-Kind-Verhältnisses als Grundlage dieser Muster (vgl. Snow 1994, S. 267–272). Auch das National Institute of Child Health and Human Development (1999) stellt fest, dass unterstützende, warmherzige und den Bedürfnissen der Kinder angepasste Eltern-Kind-Interaktionen mit einer positiven Entwicklung der sozialen, kognitiven und linguistischen Fähigkeiten während der frühen und mittleren Kindheit einhergehen. Neben der eigentlichen Entwicklung emotionaler Kompetenzen
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ist dieser Faktor zudem für eine gelingende Lesesozialisation verantwortlich. Das erfolgreichste und effektivste Vorlesen gestaltet sich dabei in Form des ›describer styles‹ oder auch des ›performance-oriented styles‹ (vgl. Reese / Cox 1999, S. 20–28). Während der erste Stil das Beschreiben der Bilder im Verlauf des Vorlesens verfolgt, fokussiert zweiter vielmehr die Auseinandersetzung und Diskussion über den Sinn und die Bedeutung der jeweiligen Geschichte an sich. Beide Varianten bieten vielversprechende Ausgangspunkte erfolgreichen kindlichen Lesenlernens. Der Einsatz dieser Vorleseformen sollte sich zudem an der Altersstruktur sowie Bedürfnislage der Heranwachsenden orientieren. Maßgeblich für den gesamten Prozess des Lesekompetenzerwerbs sind also die Gespräche während und nach dem Vorlesen. Der ›non-immediate talk‹ sowie die eigentlichen Vorlesepausen erlauben erst die entwicklungsförderlichen Angebote an das Kind. Vorrangig elterliche Fragen, Lebensweltbezüge, Erklärungen und Ausführungen sowie Meinungsangebote des Gelesenen erlauben über das reine Vorlesen hinaus den unverzichtbaren Einbezug des Kindes in die gemeinsame Rezeptionssituation (vgl. Arnold u. a. 1994, S. 235–243; Zevenbergen / Whitehurst 2003, S. 177–202). Es wird vermutet, dass diese Art der Gesprächsführung gegenüber dem ›immediate talk‹, der sich rein auf die vorgegebene Inhaltswiedergabe der Geschichte beschränkt, eines komplexeren Spracheinsatzes bedarf, der wiederum für eine bessere Sprachentwicklung des Kindes sorgt (vgl. Snow u. a. 2001, S. 1–25). Im Verlauf der vorschulischen Lesesozialisation kommt es, ebenfalls altersabhängig, zu einem steigenden Einsatz des ›non-immediate talks‹ gegenüber dem des ›immediate talks‹, der noch stark durch Ja/Nein-Fragen geprägt ist. Sukzessive wird sich der kindlichen Sprachfähigkeit angepasst, die den steigenden Einsatz komplexerer Gesprächsführung erlaubt. Somit sind es gerade die ›informal literacy activities‹, die neben den ›formal literacy activities‹, der speziell text- bzw. buchstabenspezifischen Auseinandersetzung, die Erfolge hinsichtlich des kindlichen Lesekompetenzerwerbs ausmachen (vgl. Sénéchal u. a. 1998, S. 109). Auch eine von Michael Charlton vorgeschlagene Charakteristik einer typischen Vorlesesituation nimmt Bezug auf die entscheidenden Gespräche während und nach der eigentlichen Textwiedergabe. So gestalte sich das Vorlesen in folgenden Schritten (vgl. Charlton 1995, S. 113–117): (1) Zu Beginn der Textrezeption wird zwischen den Beteiligten ausgehandelt, ob es zu einer Vorlesesituation kommt und wie diese sich im Konkreten gestaltet. (2) Ist dies entschieden, wird sich auf die Frage eines Textinhalts konzentriert, um diesen nach aktuellen Bedürfnissen bzw. thematischen Wünschen (möglichst des Kindes) auszuwählen. (3) Anschließend wird der nominierte Text vorgelesen, bevor sich die Beteiligten nach dieser Rezeption – sowie bereits währenddessen – (4) im sog. Nachgespräch damit auseinandersetzen. Bedarf es keiner weiteren Vorleseabfolge oder daran anschließender kommunikativer Auseinandersetzung mit dem Textinhalt gilt die Vorlesesituation als beendet. Im Gegensatz zur klassischen Definition der Anschlusskommunikation, als musterhafte Bezeichnung der auf individuelle Rezeption aufbauenden Kommunika
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tionsprozesse mit Anderen (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2007, S. 41), ist das Vorlesen als eine eigene Art der Anschlusskommunikation zu denken. Vor allem als gemeinsame Rezeption mit Anschlussgesprächen erlangt es hinsichtlich lesesozialisationsbezogener Fragestellungen Bedeutung. Diese Begriffserwei terung der Anschlusskommunikation ergibt sich aus der vorliegenden Situation einer primären Lesesozialisation und der fehlenden eigenständigen Rezeptionsfähigkeit des Kindes. Eine aktive Beteiligung des Kindes am Vorlesedialog wird dementsprechend als grundlegende Voraussetzung des ›Leser-Werdens‹ angesehen (vgl. Wieler 1997, S. 319). Hierfür müssen Erwachsene in der Lage sein, vorlesebezogene Interaktionen so zu strukturieren und zu organisieren, dass Kinder in der konkreten Vorlesesituation handelnd lernen (können) (vgl. Bräuer 2010, S. 92). Dies gelingt, indem die in der Vorlesepraxis herrschende Anschlusskommunikation mögliche (Text-)Rezeptionsmuster für das Kind nachvollziehbar präformiert (vgl. Rosebrock 2004, S. 116). Im Dialog wird dem Heranwachsenden aufgezeigt, wie Lesemedien zu begegnen ist, so dass er sich anhand dieser Empfehlungen sowie je nach eigenem aktuellen Entwicklungsstand sukzessive Büchern annähern kann. Auf diese Weise kommt es schrittweise zu einer Internalisierung der durch die Bezugsperson offerierten Rezeptionsweisen. Zusätzlich gestaltet das Kind, je nach sprachlicher Ausdrucksfähigkeit bzw. allgemeiner Entwicklung, eigenen Kommunikationswünschen und vorherrschenden Rollenverständnissen, diese Vorlesegespräche unterschiedlich stark mit. Die durch die Bezugsperson gesteuerte Anpassung des Vorlesedialogs an die kindliche Entwicklung weist die bereits beschriebenen schichtspezifischen Unterschiede auf (vgl. Wieler 1997, S. 23). Diese äußern sich in der jeweiligen Organisation des Vorlesegesprächs (vgl. Wieler 1998, S. 72), so dass sie zu entsprechend systematischer oder aber mangelnder Förderung der Aufwachsenden führen. Als erfolgreich erweisen sich Unterstützungen, die an die Perspektive des Kindes anknüpfen und dessen aktuelles Kompetenzniveau mit entsprechenden Hilfestellungen so weit übersteigen, dass eine gemeinsame Verständigung über den Textinhalt aufrecht erhalten werden kann (vgl. Braun 1995, S. 224). Offeriert der Erwachsene diese Art des Angebots nicht, kann es in der Vorlesesituation nicht gelingen, fehlende text-, verständnis- sowie kommunikationsbezogene Fähigkeiten des Kindes aufzufangen oder gar zur identifizieren, um ein gemeinsames Textverständnis zu erzielen. Im Idealfall wenden Eltern jedoch dem Entwicklungsstand des Kindes angemessene Strategien an, um diese unentwickelten Kompetenzen auszugleichen (vgl. Schneider 1995, S. 22). Dabei sind die Äußerungen vom Heranwachsenden immer als funktional absichtsvoll zu deuten. In der Konzeption der »Zone der nächsten Entwicklung« (Wygotski 1977, S. 242) ist diese Annahme Grundvoraussetzung. In Sinne der ›Zone der nächsten Entwicklung‹ rückt nicht nur die gegebene Verstehensfähigkeit des Kindes in den Vordergrund, sondern zugleich eine noch nicht erreichte, aber angestrebte Bewusstseinsstufe. Diese sollte, als ein Moment der ›Zukunftsorientierung‹, das dialogische Gestaltungsprinzip jeder Vorlesesituation darstellen (vgl. Wieler 1998, S. 83). Nur ein Überschreiten der aktuellen Verstehens- und kommunikativen Handlungsfähigkeit des Kindes in diese ›Zone der
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nächsten Entwicklung‹ hinein, ermöglicht die kindliche Weiterentwicklung dieser Fähigkeiten (vgl. Wieler 1997, S. 16). So wird beim Vorlesen neben dem Erkennen von Buchstaben, dem Verständnis der Wortrepräsentation der gesprochenen Sprache oder dem Umgang mit Büchern und anderen Lesemedien beispielsweise der Erwerb von Vokabeln stimuliert. Der beim Vorlesen vom Erwachsenen verwendete Wortschatz unterscheidet sich – ebenso wie der eines rezipierten Buchs – in der Regel von dem des Heranwachsenden. Wiederum gelingt dem Kind durch den Gebrauch neuer Wörter einer Geschichte und einer anspruchsvolleren Sprache mit den Eltern gegenüber seiner eigenen sukzessive der Umgang damit. Dies vereinfacht das eigene Lesenlernen zu einem späteren Zeitpunkt (vgl. de Jong / Lesemann 2001, S. 389–414; vgl. Sénéchal u. a. 1996, S. 520– 536). Gerade das Wissen über alphabetische sowie phonemische Zusammenhänge, die innerhalb des familiären Vorlesens erworben werden, erleichtert den kindlichen Aufbau eines Leseverständnisses und des eigenen Lesens im schulischen Kontext. Adriana G. Bus und Kollegen postulieren daher schon früh »that interactive reading is a central aspect of a literate environment« (Bus u. a. 1995, S. 17). Das Konzept der ›Zone der nächsten Entwicklung‹ spielt dabei eine entscheidende Rolle. Die interaktive Gestaltung des Vorlesens im Zusammenhang mit frühkindlichem Lernen lesebezogener Fähigkeiten fokussiert auch Silvia Schneider (1995). Untersucht werden Vorlesegespräche in Familien, die die Differenzen familiärer Bilderbuchrezeptionen aufzeigen. Dabei sind Vorlesedialoge von strukturellen Unterschieden bestimmt. Die verschiedenen Interaktionsstrukturen sind die Basis der jeweiligen Entwicklung des Kindes und stellen diverse Ausgangsbedingungen für den Lesekompetenzerwerb dar (vgl. Schneider 1995, S. 252). Als lesekompetenzförderlich ist eine ›flexible‹ Interaktionsstruktur seitens der Erwachsenen einzuschätzen, die maßgeblich durch angemessene Anforderungsanpassungen gegenüber dem Kind gekennzeichnet ist. Flexible oder auch offene familiäre Vorleseinteraktionen werden (1) entsprechend den wachsenden Fähigkeiten des Kindes erweitert, vermögen es, (2) die Anforderungen entsprechend der ›Zone der nächsten Entwicklung‹ anzupassen, (3) die Eigenaktivität des Kindes zu fördern und (4) den Umgang mit dem Bilderbuch relativ frei zu gestalten. Weniger förderlich für das Lesenlernen erweisen sich hingegen ›rigide‹ und ›instabile‹ Vorlesemuster (vgl. Schneider 1995, S. 255–260). So sind die Elemente der Orientierung am Kind, der Verständnissicherung sowie der Förderung kindlicher Eigeninitiative und einer konstruktiv-positiven Feedbackkultur in rigiden oder auch starren bzw. geschlossenen Vorleseinteraktionen weniger gut ausgeprägt und bieten weniger Entwicklungsmöglichkeiten in Bezug auf das Lesenlernen. Diese Interak tionsformen des Vorlesens stehen in engem Zusammenhang mit allgemeinen familieninternen Kommunikationsstrukturen. So unterliegt die Beschaffenheit innerfamiliärer Gespräche in erster Linie Sozialisationseinflüssen, aus denen förderliche und weniger förderliche Gesprächsstrukturen resultieren. Die Interaktionsstrukturierung des Vorlesens bleibt davon nicht unberührt, so dass offenere oder geschlossenere Dialoge der gemeinsamen Bilderbuchrezeption auszumachen sind. In bildungsnahen
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sozialen Schichten findet sich demnach eine höhere Ausprägung der Lesekompetenz gegenüber einer Sozialisation in bildungsfernen Schichten (vgl. Wieler 1997, S. 316). Die grundlegende Voraussetzung der Textrezeption – die Lesekompetenz – wird, je nach Sozialisationsverlauf, daher als gelungen bzw. weniger gelungen beschrieben. Bilderbuchansehen und Vorlesen gelten als wichtige interaktive, dialogische Prozesse zwischen Kind und einem »kompetenten Anderen« (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2007, S. 40). Dieser sollte sich auf die Entwicklungsbedürfnisse eines Kindes einstellen können und entsprechend zur Anschlusskommunikation anregen (vgl. Hurrelmann 2006b, S. 169). Jerome Bruner fasst diese Unterstützungsleistungen kompetenter Interaktionspartner, die dem Kind ein Handeln in der Zone der nächsten Entwicklung erlauben, in dem Konzept des ›scaffolding‹ zusammen (vgl. Bruner 1985). Der kindlichen Entwicklung angemessene literarische Hilfestellungen, die sich entsprechend an der Perspektive des Heranwachsenden orientieren, werden mit dieser Konzeption in den Blick genommen. Es ist entscheidend, die aktuelle Verstehenskompetenz und kommunikative Handlungsfähigkeit des Kindes zu überschreiten, ohne es jedoch dabei zu überfordern. Diese als fördernd geltenden Interaktionen sind unter anderem für die Bedeutungserschließung eines Texts relevant (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2007, S. 40) sowie bei allen Eltern nachzuweisen, wenngleich der Grad der Routinisierung und das Ausmaß an Steuerung der Interaktion sehr stark variieren (vgl. Schneider 1995, S. 251).
3.2 Aktuelle Formen des Vorlesens Der Erwerb der Lesekompetenz befähigt Heranwachsende, sich mit Texten unterschiedlicher Art auseinander zu setzen, um auf diese Weise zu einer »aktive[n] (Re-)Konstruktion der Textbedeutung« (Garbe 2009, S. 21 zu PISA 2000, S. 70 f.) zu gelangen. Hinsichtlich einer sich immer vielfältiger ausgestaltenden Mediengesellschaft wird diese Fähigkeit der Informations- bzw. Sinnentnahme aus Texten (vgl. Gibson / Levin 1989, S. 17) zur grundlegenden Partizipationsmöglichkeit (vgl. Vorderer / Klimmt 2009, S. 217). Die Bedeutung des Lesenlernens bleibt demnach konstant. Die Bedingungen des Lesenlernens verändern sich hingegen aufgrund einer zunehmenden Tendenz zur gesellschaftlichen Digitalisierung sowie der zusätzlichen bzw. andersartigen Rezeptionsanforderungen neuer Medien. So sind beispielsweise Printlesemedien anders zu nutzen als ihre elektronischen Varianten, welche im Verhältnis zu den gedruckten Exemplaren ein entsprechend komplexeres Wissen über medieninhärente Strukturen erfordern. Lesenlernen erweist sich somit als »unerlässliche Grundlage für den Aufbau von Medienkompetenz« (Groeben / Hurrelmann 2004, S. 462) im Allgemeinen. Digitale Medien spielen in einem fortgeschrittenen Medienzeitalter also auch hinsichtlich des kindlichen Lesekompetenzerwerbs eine entscheidende Rolle, so dass es gilt, sie im Sinne einer erweiterten Lesesozialisationsforschung in das jewei
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lige Erkenntnisinteresse zu integrieren. Fragen der Leseentwicklung und des Lesenlernens kann nicht mehr angemessen begegnet werden, fehlt die Berücksichtigung dieser vielseitig ausgestatteten Medienwelt. So erfordert die gegenwärtige sowie die zu erwartende Entwicklung unserer Informationsgesellschaft weiterhin eine ausgebildete Lesefähigkeit (vgl. Hurrelmann 1998, S. 188), die es ermöglicht, sich stetig vervielfältigende Informations- und Unterhaltungsangebote souverän zu nutzen. Der Erwerb entsprechender Fähigkeiten ist daher essenziell (vgl. Snow / Van Hemel 2008) und die Thematik neuer Medien berührt die Lesesozialisation in der Familie. Schon für die nahe Zukunft wird prophezeit, dass mehr Informationen über den Bildschirm als über Printmedien aufgenommen werden (vgl. Kuhlen 2004, S. 14). Eine Ausweitung des Lesens auf digitale bzw. neue Medien ist also längst geschehen. Eine entsprechende begriffliche Ausdifferenzierung scheint demnach angebracht. Die bisherige Konzentration des Lesens auf Printmedien muss zugunsten eines umfassenden Verständnisses der Sinnentnahme aller Medienformen verschoben werden, ein Bewusstsein für den Lesekompetenzerwerb in dieser Hinsicht geschaffen werden. Die Unterscheidungsmerkmale digitaler Textpräsentationen Interaktivität, Virtu alität, Multimedialität, Vernetzung sowie Entlinearisierung (vgl. Holly 2000, S. 86–88) weisen andersartige – wenn nicht sogar erhöhte – Rezeptionsanforderungen der Nutzer auf. Die reine Text-Leser-Interaktion analoger Texte erweitert sich um medienspezifische Aktivitäten, die der Leser bzw. Mediennutzer zusätzlich bewältigen muss. Die Fähigkeit des Lesens wird demzufolge häufig als Basis ›umfassender Medienkompetenz‹ postuliert (vgl. Hurrelmann 1992, S. 262; Hurrelmann 1995, S. 246; Wössner 1997, S. 77–81; Rosebrock 2004, S. 105). Lesen ist sowohl hinsichtlich printmedialer Textdarbietung als auch im Hinblick auf digitale Textangebote eine Schlüsselkompetenz. So ist der »Erwerb der Fähigkeit zu situationsabstrakter, symbolischer Zeichenkommunikation eine unerlässliche Grundlage für den Aufbau von Medienkompetenz« (Groeben / Hurrelmann 2004, S. 462). Nur so ist der kompetente Leser in der Lage, sich darüber bewusst zu werden, welche Optionen ihm das Medium zur Verfügung stellt, um diese hinsichtlich der eigenen Bedürfnisse zu selektieren und zu verarbeiten (vgl. Dalton / Proctor 2009, S. 320). Unabhängig vom Lesemedium bleibt für den Erwerb dieser substanziellen Kulturtechnik die Bedeutung des Lesenlernens bzw. im Speziellen das familiäre Vorlesen zu betonen. Der hohe Stellenwert dieser Praxis wurde immer wieder empirisch aufgezeigt und wird einhellig durch die Lesesozialisationsforschung hinweg bestätigt. Demzufolge betrachtet die Lese(r)forschung maßgeblich die Bedingungen individueller sowie kollektiver Leseentwicklung. Die sich technisch und gesellschaftlich stetig wandelnden Voraussetzungen legitimieren das aktuell steigende Interesse an Fragen des Lesens und Lesenlernens in und mit neuen Medien. Unterschiedliche Studien dieser Thematik konzentrieren sich dabei in erster Linie auf die strukturellen Differenzen zwischen gedruckten und digitalen Textformaten. Jürgen Flender und Ursula Christmann (2002) stellen beispielsweise fest, dass Hypertexte erhöhte Anforderungen an den Lesenden stellen. Mit der Integration unterschiedlicher Informationsein
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heiten verschiedener Präsentationsweisen (z. B. Text, Ton, Video) entsteht eine Struktur entlinearisierter Anordnung der Textelemente (vgl. Weidenmann 2002, S. 45–62), deren Nutzung nur mit der entsprechenden medienspezifischen Rezeptionskompetenz Erfolg verspricht (vgl. Flender / Christmann 2002, S. 219 f.). Nicht-lineare Anordnungen von Textmodulen erfordern die individuelle Sequenzierung, ohne die der ungeübte Leser leicht kognitive Überforderung oder Orientierungsverlust erfährt (vgl. Kuhlen 1991). Andreas Voss (2006) bestätigt die Ergebnisse veränderter Rezeptionsanforderungen hinsichtlich digitaler Texte. Aufgrund andersartiger Textpräsentationen unterscheidet er jedoch zwischen Printtext- und Hypertextlesekompetenz. Zudem ist eine deutliche Abhängigkeit beider Kompetenzen auszumachen (vgl. Voss 2006, S. 155). So übertragen gute Leser ihre Fähigkeiten in der Regel auf das Lesen am Computer (vgl. Blatt / Voss 2004, S. 38). Kinder, die als geübt charakterisiert und von ihren Eltern unterstützt werden, weisen bessere Leseleistungen mit Hypertexten als ungeübte und in ihrer Mediennutzung nicht begleitete Kinder auf (vgl. Voss 2006, S. 157). Dieser Erfolg elterlicher Unterstützungsleistungen in Bezug auf die kindliche Lese- sowie medienspezifische Rezeptionskompetenz gilt es, in Anbetracht einer sich verbreitenden Digitalisierung genauer zu betrachten. Neue Medien spielen heute im Leben von Heranwachsenden eine wichtige Rolle und das Aufwachsen ist von Beginn an durch Medien geprägt und begleitet (vgl. Feierabend / Mohr 2004, S. 461). Diese Tatsache muss anerkannt werden, will man angemessen aktuelle Fragen der Lesesozialisation beantworten. Lesen und Lesenlernen ereignen sich schon seit geraumer Zeit nicht mehr rein printmedial. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels verweist bereits in seiner E-Book-Studie 2011 darauf, dass das gedruckte Buch zwar immer noch eine entscheidende Rolle auf dem deutschen Buchmarkt spiele, sich aber der Anteil derer, die ausschließlich gedruckte Werke kaufen, verringere (vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2011). Diese Veränderung von Buchkaufentscheidungen in einen stärker von digitalen Buchanteilen geprägten Markt berührt auch die Lesesozialisation von Heranwachsenden. Nicht grundlos steigt der Angebotsmarkt spezieller Kinder-E-Books und KinderApps. Immer häufiger integrieren Eltern zusätzlich zu analogen Printmedien digitale Lesegeräte bzw. Kinderbücher in ihre Leseerziehung. Elektronische Medien sind als Ergänzung zu klassischen Printversionen in Familien mehr und mehr akzeptiert (vgl. Stiftung Lesen 2012, S. 2). Zumindest manchmal wird ein digitales Endgerät zum Vorlesen genutzt, wie eine Umfrage zur Medienerziehung ergibt (vgl. Aufenanger 2012, S. 5). Der nur geringe Anteil von 5 % der befragten Eltern, die sich zusätzlich zum gedruckten Buch neuer Medien bedienen, verwundert keineswegs, berücksichtigt man die Tatsache, dass der Großteil der Vorlesenden ihre eigene(n) und somit maßgeblich printmediale(n) Mediensozialisation, -präferenzen und -erlebnisse als Maßstab nehmen, wenn sie Kinder an das Lesen heranführen (vgl. Heidtmann 2000, S. 20). Dennoch ist der steigende Trend zu einem ergänzenden Einsatz digitaler Bilderbücher zu berücksichtigen.
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Da ein »dialogisch strukturierter Prozeß der Bedeutungskonstitution zwischen einer erwachsenen Bezugsperson und dem Kind« (Wieler 1998, S. 65) – als der Vorlesen betrachtet werden kann – maßgeblich von Anschlusskommunikation abhängig ist und dieser Sachverhalt ebenso für vorlesebegleitende Gespräche mit digitalen Medien gilt, konzentriert sich auch eine Untersuchung des Vorlesens mit digitalen Medien auf die Bedeutung lesebezogener Interaktionen für den kindlichen Lesekompetenzerwerb. Gespräche, bei denen die Vorlesesituation mit digitalen Medien begleitet wird, weisen dabei die gleichen Muster auf wie die des Vorlesens mit analogen Medien. Auch hier sind strukturelle Unterschiede von flexibler bis starrer Interaktionsgestaltung inklusive der jeweiligen Ausprägung der Orientierung am Kind, der Verständnissicherung, der Förderung kindlicher Eigeninitiative sowie der Feedbackkultur zu beobachten. Dennoch lassen sich innerhalb dieser stabilen Interaktionsstrukturen des Vorlesens medienspezifische Nutzungsunterschiede ausmachen. Die Integration neuer, maßgeblich technischer, Rezeptionselemente in die bisher bestehenden Vorleseroutinen vollzieht sich stilabhängig und gelingt ›gut‹ bzw. ›weniger gut‹, so dass flexible Vorleser dem Heranwachsenden in besonderem Maße die Neuerungen einer digitalen Bilderbuchrezeption aufzuzeigen vermögen. Auf diese Weise kann im Umgang mit digitalen Lesemedien sukzessive ein entsprechendes Regelwissen erworben werden, das es dem Kind eher erlaubt, sich zu einem kompetenten Leser und Mediennutzer zu entwickeln (vgl. Muratović 2014).
4 Zukünftige Entwicklungen und Desiderate Forschung und Öffentlichkeit diskutieren gegenwärtig das Lesen in Familien hinsichtlich neuer Medien. Dennoch existieren, aufgrund des noch jungen Phänomens des Vorlesens mit digitalen Medien, bisher keine langfristigen empirischen Ergebnisse. Die aktuellen Entwicklungen hin zu einer stetig steigenden Digitalisierung der Gesellschaft lässt diese Thematik jedoch hochpräsent erscheinen. Ob und wie sich Anschlusskommunikationsstrukturen des Vorlesens in Zukunft verändern werden, bleiben am jeweiligen Entwicklungsstand der eingesetzten Endgeräte stetig wiederkehrende und zudem hochspannenden Fragen. Hinsichtlich möglicher Chancen umorganisierten Vorlesens gerade für starre Muster und somit weniger erfolgsversprechende Lesekompetenzentwicklungen gilt jedoch eine erhöhte Aufmerksamkeit. So sind medienspezifische Handlungsoptionen elektronischer Bücher, wie beispielsweise die Nutzung von Animationen […], für Momente erhöhter Orientierung am Kind, verbesserter Verständnissicherung, mehr kindlicher Eigeninitiative und diese anregendes Feedback verantwortlich. (Muratović 2014, S. 157 f.)
2.3.1 Lesen und Familie
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Eine qualitative Steigerung der Dialogführung des Vorlesens ist in Einzelfällen also möglich und sollte es wert sein, hinsichtlich kindlicher Lesekompetenzentwicklung in einer sie umgebenden Welt digitaler Medien, wahrgenommen zu werden (vgl. Muratović 2014, S. 163).
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2.3.2 Peers und Lesen: Lesesozialisatorische und lesedidaktische Perspektiven Zusammenfassung: Peers bilden eine wichtige Ressource der Lesesozialisation und -didaktik. Unter dieser Doppelperspektive gibt das Kapitel einen empirischen Überblick über wichtige Einfluss bereiche schulischer und außerschulischer Peer-Beziehungen auf verschiedene Bereiche des Lesens. Dabei zeigt sich, dass schulische Peers in formalen Beziehungen besonders bedeutsam für die kognitiven Aspekte des Lesens (Leseflüssigkeit, ‑strategien und ‑verstehen) sind. Außerschulische Peers in informellen Beziehungen scheinen hingegen eher wichtig für die Lesemotivation und das ‑verhalten zu sein. Abstract: Peers comprise an important resource for both reading socialization und instruction. This chapter gives an empirical overview of different areas in the domain of reading which are influenced by different types of peers in and out of school. Findings from empirical studies reveal that school peers can enhance cognitive variables of reading (reading fluency, strategies and comprehension). Peers in out-of-school contexts appear on the other hand to be more important for reading motivation and behavior.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 402 2 Peers und Leseforschung: ein kurzer historischer Überblick — 402 3 Peers: eine kurze Begriffsbestimmung und Systematisierung von Beziehungen unter Gleichrangigen — 403 4 Lesen und Peers: einige Überlegungen zu Einflussbereichen und zur Rolle der Anschlusskommunikation — 405 5 Zur Bedeutung der Peers für das Lesen aus empirischer Sicht — 407 5.1 Informelle Peer-Beziehungen und ihre Bedeutsamkeit für Lesemotivation und ‑verhalten: die Perspektive der Lesesozialisation — 407 5.1.1 Der Lesesozialisationskontext Peers in verschiedenen soziodemografischen Gruppen — 407 5.1.2 Peers und Lesemotivation — 408 5.1.3 Peers und Leseverhalten — 411 5.1.4 Peers und Leseverstehen — 412 5.1.5 Peers und ihre Effekte auf Lesemotivation und ‑verhalten: ein Zwischenfazit — 413 5.2 Formale Peer-Beziehungen und ihre nachgewiesene Wirkung für Leseleistungen: die Sichtweise der Lesedidaktik — 414 5.2.1 Peer-Assisted Learning: ein Definitions- und Systematisierungsversuch — 415 5.2.2 Peer-Assisted Learning: ein Überblick über verschiedene exemplarische Förderansätze — 415 5.2.3 Peers und ihre Effekte auf die Lesekompetenz: ein Zwischenfazit — 418 6 Fazit: Vorhandene und ausstehende Forschungsbefunde — 419 6.1 Die wichtigsten Effekte im Überblick — 420 6.2 Forschungsperspektiven — 421 7 Literatur — 422
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1 Einleitung Die Rolle von Peers für das Lesen wird dann besonders offensichtlich, wenn die Fangemeinde von den Harry-Potter- oder Bis(s)-Romanen sich im Internet auf Tausenden von Websites austauscht und Lesestoffe eine starke Präsenz im Leben von Heranwachsenden haben, die mancher Vertreter des Kulturpessimismus für unmöglich gehalten haben mag. Auch in Zeiten von Bildschirmmedien lesen Heranwachsende noch Bücher – sogar mehr als je zuvor (vgl. Johnsson-Smaragdi / Jönsson 2006) – und binden das Lesen bzw. den Austausch über Lektüren in die Beziehungen ein, die für sie ab dem Jugendalter zunehmend an Bedeutung gewinnen: die Freundschaften in Dyaden oder Gruppen. Doch obwohl den Freundinnen und Freunden sowie Freundeskreisen zugestanden wird, spätestens im Jugendalter zur wichtigsten Instanz der Lesesozialisation zu avancieren (vgl. Groeben / Schroeder 2004; Graf 2007), ist im Vergleich mit anderen Lesesozialisationsinstanzen auffällig wenig bekannt (vgl. Philipp 2011). Dieses Kapitel stellt die aktuellen und zum Teil versprengten Befunde zur Bedeutung von Peers für das Lesen vor. Zunächst werden die bisherige Leseforschung zu den Peers kurz aus historischer Sicht skizziert (Abschnitt 2) und die Peer-Beziehungen systematisiert (Abschnitt 3). Im Anschluss folgen je nach Art der Beziehung einzelne Einflussbereiche mit verschiedenen Formen der Anschlusskommunikation (Abschnitt 4). Hierbei ergibt sich eine Doppelperspektive von Lesesozialisation und -didaktik, denn beide Forschungszweige akzentuieren jeweils etwas anderes. Die Le s e s ozi alisat ionsfor schu ng hat ein grundsätzliches Interesse daran, die Beiträge der Peers vor allem außerhalb der Schule für all jene Prozesse zu eruieren, die für den Erwerb und die Art der Lesemotivation, des Leseverhaltens und des Textverstehens günstig bzw. dysfunktional sind. Bei der Lesedidaktik liegt der Schwerpunkt woanders. In dieser stark den Unterricht fokussierenden Forschungstradition mit einem deutlichen methodischen Zugang über quasi-experimentelle Interventionsstudien bilden Leseverstehen und andere leseprozessnahe Variablen den Hauptgegenstand des Interesses. Häufig führen Vertreter der pädagogischen Psychologie diese Studien durch. Die Befunde beider Zweige werden im Abschnitt 5, dem Hauptteil dieses Kapitels, gebündelt dargestellt. Das abschließende Fazit widmet sich vor allem den Forschungsperspektiven und ‑desiderata, die sich in der Doppelperspektive auf den Gegenstand Lesen und Peers ergeben.
2 Peers und Leseforschung: ein kurzer historischer Überblick Die Bedeutung von Peers für eine gelingende Entwicklung von Heranwachsenden ist in der Entwicklungs- und in der pädagogischen Psychologie schon seit vielen Jahrzehnten betont und untersucht worden (vgl. Salisch 2000). Die regen Forschungsak
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tivitäten haben dazu geführt, dass einerseits zwar durchaus schon einiges bekannt, aber andererseits das Feld schnell unübersichtlich geworden ist. Aus Sicht der Lese(sozialisations)forschung ist – zumindest bezogen auf den deutschen Sprachraum – relativ wenig geforscht worden. Prominent wurden die Peers vor allem durch einen Aufsatz von Cornelia Rosebrock (2004), in dem die Peers als zentrale Instanz der Lesesozialisation in der Jugend bezeichnet werden. In besagtem Aufsatz wird überzeugend argumentiert, Lesemotivation und ‑verhalten seien die Haupteinflussbereiche, aber die empirische Basis ist notgedrungen dünn. Abgesehen von wenigen Qualifikationsarbeiten (vgl. Philipp 2010b; Pfaff-Rüdiger 2011; Stalder 2013) hat sich daran wenig geändert. Im amerikanischen Raum hingegen gaben die seit den 1990er Jahren stetig durchgeführten Untersuchungen der Psychologen John Guthrie und Allan Wigfield wichtige Impulse. Die beiden Autoren haben schon früh die soziale peerbezogene Lesemotivation als eine Facette des umfassenden Kon strukts Lesemotivation identifiziert und beforscht. Im Bereich der pädagogischen Psychologie sind Peers deutlich prominenter erforscht worden. Besonders wichtig waren dafür die Publikationen von Annemarie Palincsar und Ann Brown in den 1980er Jahren. Hervorzuheben ist ein wirkmächtiger Aufsatz aus dem Jahr 1984 (Palincsar / Brown 1984), in dem die beiden Forscherinnen ihr Konzept des ›Reziproken Lehrens‹ vorstellen und auf seine Wirksamkeit hin untersucht haben (vgl. dazu Abschnitt 5.2.2). Abgesehen davon haben zahllose weitere Forscher Formate des kooperativen Lernens mit Mitschülern konzipiert und evaluiert, so dass sich hier die Datenlage im Vergleich mit der Lesesozialisationsforschung völlig anders gestaltet. Dabei bildet die Vermittlung von Leseflüssigkeit und ‑strategien einen Hauptschwerpunkt der Forschung. Zunehmend wird auch die Beeinflussung der Lesemotivation durch Förderansätze stärker untersucht.
3 Peers: eine kurze Begriffsbestimmung und Systematisierung von Beziehungen unter Gleichrangigen Der Begriff ›Peer‹ wird häufig mit ›Gleichaltrige‹ übersetzt, doch das trifft nicht dessen Kern. Wichtiger als die Altersgleichheit ist die Gleichrangigkeit als regulatives Prinzip. Das Besondere an Peer-Beziehungen ist, dass sie prinzipiell ›symmetrischreziprok‹ sind – untereinander stellen Peers gleichberechtigte Partner dar, und jeder hat idealtypisch gleich viel Einfluss auf die Interaktionen. Darin unterscheiden sich Peer-Beziehungen vom komplementär-reziproken oder auch hierarchischen Verhältnis von Kindern bzw. Jugendlichen zu Erwachsenen (vgl. Youniss 1982). Das Prinzip Ebenbürtigkeit ermöglicht Peers die gemeinsame Ko-Konstruktion von Wissen, Kultur und Beziehungen. Zugleich verlangt es ihnen hohe soziale Fähigkeiten ab, da sie Mei
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Abb. 1: Arten von Peer-Zusammenschlüssen (eigene Darstellung, basierend auf Oswald / Uhlendorff 2008)
nungen begründen müssen, wenn sie sie durchsetzen wollen, ohne die Beziehung zu beschädigen. Für viele Peer-Beziehungen sind die Freiwilligkeit und die Sanktionsmöglichkeit konstitutiv, die Beziehung jederzeit beenden zu können. Einige weitere Aspekte charakterisieren Peers zusätzlich: Erstens haben sie die gleiche Stellung in Bildungseinrichtungen, sie sind z. B. alle Schülerinnen und Schüler. Zweitens sind Peers in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung in etwa gleich weit und stehen, drittens, vor vergleichbaren Entwicklungsaufgaben, d. h. vor den zu überwindenden Hürden, die jede Lebensphase mit sich bringt, etwa das Ablösen von den Eltern in der Jugend. Viertens haben sie ähnliche Lebensereignisse wie Einschulung oder Schulwechsel hinter sich (vgl. Youniss 1982; Salisch 2000). Unterschiedlich und vielfältig sind die Arten von Beziehungen, die Peers eingehen: von großen Netzwerken wie Szenen oder virtuellen Netzwerken wie Facebook über Vereinsgruppen, Schulklassen, Lerngruppen in Hausaufgabenhilfe, Cliquen, Bekannte, lose und beste Freundschaften, Liebesbeziehungen, aber auch Feindschaften. Jede dieser Beziehungen hat unterschiedliche Funktionen und stellt andere Anforderungen an Heranwachsende (vgl. Salisch 2000). Die Beziehungen lassen sich in der Abbildung 1 danach verorten, ob Erwachsene in institutionellen Zusammenhängen beteiligt sind, ob Heranwachsende die Peer-Assoziationen freiwillig aufsuchen, wie viele Peers sich zusammenschließen, wie lange sie das tun, wie gut sie sich kennen und welchen Grad an psychologischer Intimität die Beziehung aufweist (vgl. Oswald / Uhlendorff 2008). An dieser Systematisierung ist bedeutsam, dass die soziale Umwelt als ein wichtiges strukturierendes Element von Peer-Beziehungen in den Blick gerät. Dies ist deshalb so wichtig, weil der Peer-Einfluss auf verschiedene Bereiche des Lesens stark damit zusammenhängt, von welchen Peers die Rede ist.
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4 Lesen und Peers: einige Überlegungen zu Einflussbereichen und zur Rolle der Anschlusskommunikation Grundsätzlich wird in drei Bereichen des Lesens Peers ein Einfluss unterstellt: Lesemotivation, ‑verhalten und ‑verstehen. Aus lesesozialisatorischer Perspektive ist ein direkter Einfluss der Peers in informellen Beziehungen auf die Lesemotivation und das ‑verhalten anzunehmen, während Effekte auf das Leseverstehen indirekt sind (vgl. Rosebrock 2004). Aus lesedidaktischer Sicht wird vor allem der Einfluss der schulischen Peers auf das Leseverstehen betont und untersucht (vgl. Philipp 2010a). Damit stehen die lesesozialisatorische und die ‑didaktische Perspektive in einem komplementären Verhältnis zueinander. Der einen Seite geht es um die quasi-beiläufigen Effekte in alltäglichen Interaktionen ohne intentionale pädagogische Beeinflussung. Die andere Seite fokussiert auf didaktisch inszenierte Settings des Peer-Assisted Learning (PAL) bzw. des hier synonym verwendeten kooperativen Lernens innerhalb formaler Peer-Beziehungen, die in den Dienst der Leseförderung gestellt werden. Aus le s e s ozi alisatorischer Per sp ekt ive wird bei den direkten Peer-Effekten auf Lesemotivation und ‑verhalten angenommen, dass das Geschlecht und die soziale Herkunft eine moderierende Rolle spielen, also die Art der Interaktionen zwischen Peers rahmen (vgl. Groeben / Schroeder 2004). Dabei lassen sich prototypisch zwei Dynamiken unterscheiden, die in Peer-Beziehungen im Jugendalter mutmaßlich ablaufen. An einem Ende des Spektrums stehen die Dynamiken in Peer-Beziehungen mit männlichen Interaktionspartnern aus bildungsfernen Elternhäusern (Teufelskreis der Peer-Lesesozialisation). Am anderen Ende befinden sich die Peer-Assoziationen mit weiblichen Mitgliedern aus bildungsnahen Elternhäusern (Engelskreis). Grundsätzlich laufen in beiden Peer-Beziehungen Normierungsprozesse ab, die sich über Rückkopplungen selbst verstärken. Im Falle des Teufelskreises führt dies vermutlich dazu, dass sowohl auf der sozialen Ebene der Peers als auch jener der Individuen Lesemotivation und ‑verhalten negativ beeinflusst werden, so dass das Lesen keine Option (mehr) ist. Im Falle des Engelskreises hingegen stabilisieren bzw. erhöhen Peers Lesemotivation und -verhalten (vgl. Groeben / Schroeder 2004). Indem mit dem Geschlecht und der sozialen Herkunft zwei Variablen als bedeutsam erachtet werden, sind verschiedene Kombinationen möglich, die die unterstellten Effekte auf die lesesozialisatorisch bedeutsamen Interaktionen beeinflussen. Im Falle des Engels- bzw. Teufelskreises verstärken sich die Beiträge von Geschlecht und Herkunft positiv bzw. negativ. Denkbar ist aber auch, dass der ›vermeintliche Risikofaktor‹ männliches Geschlecht bei Jungen aus bildungsnahen Elternhäusern nicht oder weniger zum Tragen kommt (vgl. Philipp 2011). Für die Lesesozialisation in der Familie wird vermutet, dass sich Strukturmerkmale wie die soziale Herkunft (Bildungsabschlüsse, ökonomisches Kapital, Prestige des Berufs der Eltern) nicht direkt auf den Nachwuchs, sondern über Prozessmerk
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male, d. h. über Interaktionen auswirken (vgl. Schaffner 2009). Auf die Peer-Lesesozialisation scheint dies ebenfalls zuzutreffen, so dass die lesebezogenen bzw. für das Lesen relevanten sozialen Prozesse einen Transmissionsriemen für Peer-Effekte bilden. Diese Prozesse werden seit gut einer Dekade als ›Anschlusskommunikation‹ bezeichnet. Damit sind sämtliche sprachliche Aushandlungen in puncto Lesen gemeint, die vor, während oder im Anschluss an das Lesen stattfinden (vgl. Sutter 2002). Es lassen sich je nach Funktion diverse Formen der Anschlusskommunikation ausmachen. Tilmann Sutter (2002) differenziert vier Formen, wobei diese Liste nicht abschließend ist. Eine der Formen, die für die Peer-Lesesozialisation besonders einschlägig scheint, bilden Gespräche über Texte, die der ›Unterhaltung‹ und dem ›Genuss‹ dienen. Indem Heranwachsende sich über unterhaltsame Texte austauschen, erhält das Lesen nicht nur eine soziale Präsenz, sondern auch einen Anreiz. Solche Gespräche, über deren genaue Praktiken noch zu wenig aus empirischer Sicht bekannt ist, bilden für die Lesemotivation und das Leseverhalten vermutlich einen Nährboden. Die Art und Weise, wie über das Lesen und Texte in Peer-Konstellationen gesprochen wird, erscheint damit insgesamt die treibende Kraft der Peer-Lesesozialisation und wirkt vermutlich auf die Lesemotivation und -verhalten. Aus Sicht der Lesedidaktik sind neben den unterhaltungsbezogenen Gesprächen als Verfahren der Leseanimation zwei weitere Varianten der Anschlusskommunikation anzuführen. Dabei handelt es sich erstens um Gespräche, die der ›Vermittlung bzw. Festigung der Kulturtechnik Lesen‹ dienen. Zwar reserviert Sutter (2002) diese Form eher für die frühe Lesesozialisation in der Familie. Da jedoch spätestens seit der ersten PISA-Studie die mangelnden basalen Lesefähigkeiten von Heranwachsenden als Probleme offensichtlich wurden, bietet sich das kooperative Lernen an, Leseprozesse im Unterricht zu erlernen (vgl. Philipp 2010a). Die zweite Variante der Anschlusskommunikation konzentriert sich auf Gespräche, in denen das Textverstehen gefördert wird, indem Heranwachsende ›über Textbedeutungen reflektieren‹ (vgl. Sutter 2002). Dies geschieht vor allem bei literarischen Texten, denen die Polyvalenz ihrer Inhalte inhärent ist. Doch auch Sachtexte lassen sich über Peer-Gespräche im Unterricht erschließen. Zusammenfassend gehen also Lesesozialisation und -didaktik gleichermaßen von Peer-Effekten auf verschiedene Bereiche des Lesens aus. Für die Lesesozialis at i o n s forschung sind Lesemotivation und -verhalten zwei Bereiche, welche durch Peers in informellen Beziehungen über (fehlende) Anschlusskommunikationen direkt beinflussbar scheinen. Hierbei wirken vermutlich soziodemografische Faktoren wie Geschlecht und soziale Herkunft als mittelbare Faktoren, so dass sich in Mittelschicht-Peergroups mit weiblichen Angehörigen andere Dynamiken ergeben als in solchen Peer-Beziehungen, in denen sich männliche Heranwachsende aus bildungsfernen Elternhäusern zusammenschließen. Für die Lesedidaktik sind eher Anschlusskommunikationen im Rahmen formaler Peer-Beziehungen während des Unterrichts von Interesse. Nicht nur der Kontext ist anders, sondern auch der
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Einflussbereich: Es geht eher um den direkten Effekt auf das Leseverständnis bzw. weitere kognitive Prozesse beim Lesen. Die Perspektiven von Lesedidaktik und ‑sozialisation sind damit komplementär.
5 Zur Bedeutung der Peers für das Lesen aus empirischer Sicht Im Abschnitt zuvor wurde die Doppelperspektive auf verschiedene Peer-Beziehungen in zwei Forschungstraditionen der Leseforschung herausgearbeitet. Diese Doppelperspektive verfolgt dieses folgende Kapitel konsequent weiter. Zunächst werden lesesozialisatorische Befunde gebündelt dargestellt (5.1), es schließen sich Ergebnisse aus der Lesedidaktik an (5.2).
5.1 Informelle Peer-Beziehungen und ihre Bedeutsamkeit für Lesemotivation und ‑verhalten: die Perspektive der Lesesozialisation Analog zu den vermuteten Einflussbereichen der Peers bilden Lesemotivation und ‑verhalten die am besten erforschten Variablen. In diesem Abschnitt wird zunächst beschrieben, wie sich der Lesesozialisationskontext Peers je nach soziodemografischen Gruppen gestaltet. Danach geht es darum, welche Rolle Peers für die Lesemotivation, das ‑verhalten und das ‑verständnis spielen. Ein Zwischenfazit bündelt die Hauptergebnisse.
5.1.1 Der Lesesozialisationskontext Peers in verschiedenen soziodemografischen Gruppen Im Rahmen der Peer-Lesesozialisation spielen zum einen die lesebezogene Wahrnehmung der Peers und zum anderen die Dynamiken zwischen Peers (darunter verbaler und physischer Austausch über bzw. von Texten) vermutlich eine besonders große Rolle (vgl. Groeben / Schroeder 2004). In diesem Zusammenhang dürften auch das Geschlecht und die soziale Herkunft als Moderatorvariablen der Lesesozialisationsprozesse besonders bedeutsam sein. Betrachtet man das G eschlecht , so verdeutlichen Studien mit Peer-Bezug, dass Mädchen – einen höheren Stellenwert bzw. eine stärkere Wertschätzung des Lesens bei ihren Freundinnen und in ihren Freundesgruppen sowie ein stärkeres Interesse der Peers an ihrem Freizeitlesen wahrnehmen (vgl. Bucher 2004; Meier 2004; Philipp 2010b; Klauda / Wigfield 2012; Wigfield u. a. 2012; Stalder 2013);
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– stärker glauben, dass ihre Freundinnen lesen, als Jungen das tun (vgl. Pfaff-Rüdiger 2011); – untereinander mehr Lesemedien weitergeben (vgl. Philipp 2010b) und – häufiger mit Freundinnen über Lektüren sprechen (vgl. Bucher 2004; Pieper / Rosebrock 2004; Philipp 2010b; Stalder 2013). In eine ähnliche Richtung gehen Befunde zur S chulform als Indikator für die soziale Herkunft. Zwar gibt die Schulform als solche wenig Auskunft über die eigentliche Herkunft der Heranwachsenden, aber große Schulleistungsstudien verdeutlichen stets aufs Neue, dass die besuchte Schulform und Schichtzugehörigkeit systematisch zusammenhängen (vgl. Ehmke / Jude 2010). Bezogen auf die Peers zeigen sich in Untersuchungen Muster in der Form, dass an formal höheren Schulen (Gymnasium) ein günstigeres Peer-Leseklima zu herrschen scheint als an formal niedrigen wie der Haupt- und Gesamtschule (vgl. Bucher 2004; Meier 2004; Philipp 2010b; Pfaff-Rüdiger 2011). Eine dritte Variable, die ebenfalls in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist, ist das A lter. Je älter die Untersuchungspersonen sind, als desto weniger leseaffin beschreiben sie in aller Regel ihr Peer-Leseumfeld (vgl. Bucher 2004; Philipp 2010b; Pfaff-Rüdiger 2011). Dieser Befund tritt allerdings erst dann zutage, wenn man relativ weite Abstände zwischen den Altersgruppen fokussiert bzw. längere Längsschnittstudien unternimmt (vgl. Wigfield u. a. 2012).
5.1.2 Peers und Lesemotivation Lesemotivation bezeichnet die Absicht, einen Text zu lesen, und ist ein komplexes psychologisches Konstrukt. Lesemotivation kann sich auf Anreize innerhalb oder außerhalb der Aktivität des Lesens beziehen (in‑ und extrinsische Motivation), situativ oder habituell auftreten und sich auf verschiedene Kontexte (Schule / Freizeit), Lesemedien (analog, digital, einzelne Lesemedien wie Zeitungen, Comics, Zeitschriften, Internettexte und Bücher) sowie Textsorten (fiktional, non-fiktional) erstrecken (vgl. Philipp 2011). All diese Dimensionen lassen sich auch bündeln, z. B. kann man die habituelle intrinsische Motivation für Sachbuchlektüre in schulischen und außerschulischen Kontexten erfassen (vgl. Wigfield u. a. 2012). Es handelt sich bei der Lesemotivation mithin um ein mehrdimensionales, vielschichtiges Konstrukt (vgl. Philipp 2013). Dieser Vielschichtigkeit trägt beispielsweise die quantitativ arbeitende pädagogisch-psychologische Leseforschung Rechnung. In den 1990er Jahren wurde in den USA ein in vielen Studien verwendetes und weiterentwickeltes Instrument geschaffen: der ›Motivation for Reading Questionnaire‹ (MRQ, vgl. Wigfield / Guthrie 1997). Der MRQ misst die habituelle Lesemotivation und trennt unter anderem zwei intrinsische und fünf extrinsische Formen der Lesemotivation. Zu den intrinsischen Facetten zählt das Lesen wegen der damit verbundenen Erlebensqualitäten (tätigkeitsspezifi
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sche Motivation) und wegen des Themas (gegenstandsbezogene Motivation). Die extrinsische Motivation umfasst das Lesen, weil Erwachsene es in schulischen Zusammenhängen erwarten (Fügsamkeit), für gute Zensuren in der Schule (Noten) oder auch der Anerkennung von anderen wegen. Zwei weitere Facetten der extrinsischen Lesemotivation haben einen expliziten Peer-Bezug: das Lesen, um Teil einer lesenden Gemeinschaft im Familien und Freundeskreis (soziale Motivation) zu sein oder im Wettstreit mit Klassenmitgliedern darum, wer besser lesen kann (Wettbewerb). Bemerkenswert ist am MRQ, dass Peers vor allem bei den extrinsischen Lesemotivationsformen auftauchen und hier auch die oben vorgenommene Trennung zwischen informellen und formalen Peer-Beziehungen wieder anzutreffen ist. Die soziale Lesemotivation ist bei den informellen Peer-Beziehungen zu lokalisieren, und die wettbewerbsbezogenen Anreize bestehen dem Instrument zufolge im Kontext schulischer Peer-Konstellationen. Es gibt also unterscheidbare Dimensionen der Lesemotivation mit Peer-Bezug. In aller Regel weisen Mädchen die höheren Werte bei der sozialen Lesemotivation auf und Jungen tendenziell eine stärkere Wettbewerbsmotivation.1 Wenn man über diverse Studien hinweg betrachtet, wie stark die beiden extrinsischen Lesemotivationsformen mit Peers als Bezugspunkt mit anderen Facetten der Lesemotivation korrespondieren, ergeben sich Unterschiede. Das ist das Ergebnis einer an anderer Stelle vorgenommenen Sichtung diverser Untersuchungen (vgl. Philipp 2013), aus der ein Ausschnitt in Tabelle 1 dargestellt ist. Die Tabelle zeigt, wie stark über 15 Studien hinweg die durchschnittlichen positiven Korrelationen ausgeprägt sind. Gemäß den Konventionen bei der Beurteilung von Korrelationskoeffizienten trennt die Darstellung zwischen geringen (r = .10–.29) und mittleren (r = .40–.59) positiven Zusammenhängen; starke oder straffe Korrelationen bestanden in dem Ausschnitt nicht. Bei Werten, die sich an der Schwelle von schwachen und mittleren Koeffizientenstärken befinden (r = .30–.39), wird in der Tabelle die Kategorie ›gering – mittel‹ gewählt. Tab. 1: Ausprägung der positiven Zusammenhänge von Peer-bezogenen Facetten der extrinsischen Lesemotivation mit weiteren Dimensionen der Lesemotivation in Studien mit MRQ-Skalen bzw. aus dem MRQ weiterentwickelten Instrumenten (Quelle: eigene Darstellung, basierend auf 15 Studien; adaptierte Darstellung von Philipp 2013) Intrinsische Lesemotivation
Extrinsische Lesemotivation
Tätigkeits- Gegenstandsspezifisch spezifisch
Fügsamkeit
mittel
mittel
gering – mittel gering – mittel
mittel
gering
Wettbewerb gering
gering
gering – mittel gering – mittel
mittel
–
Sozial
1 Vgl. Kap. 2.3.4 Geschlecht und Lesen in diesem Band.
Noten
AnerWettbewerb kennung
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Bemerkenswert ist, dass die soziale und die wettbewerbsbezogene Lesemotivation nur schwach miteinander korrelieren. Das verweist darauf, dass beide Facetten relativ unabhängig voneinander bestehen. Es gibt außerdem eine Differenz zwischen dem Ausmaß, in dem die beiden Peer-Lesemotivationsformen mit anderen Lesemotivationsfacetten korrespondieren. Die soziale Lesemotivation hängt deutlich enger mit der intrinsischen Lesemotivation zusammen. Ansonsten bestehen tendenziell mittlere Zusammenhänge mit anderen extrinsischen Motivationsformen. Auch die qualitative Leseforschung beschreibt ein Lesen im Sinne der extrinsischen sozialen Lesemotivation. Dabei bilden der Austausch über Gelesenes und die Überführung des Gelesenen in Peer-Beziehungen die zentralen Anreize. Die lesebiografische Forschung nennt ein Lesen, dem es um die Alltagsrelevanz des Lesens geht, ›partizipatorisches Lesen‹ (vgl. Graf 2007). Eine Variante davon, nämlich das sozialkommunikative Lesen (also ein Lesen, dessen Anreiz in der Anschlusskommunikation besteht), zeichnet sich dadurch aus, dass Heranwachsende mit anderen über Texte diskutieren. Diese Form des Lesens taucht anscheinend in prototypisch positiven Verlaufsformen, die retrospektiv geschildert werden, nahezu durchgängig auf. In einer jüngeren Interviewstudie mit 10- bis 14-Jährigen war die Anschlusskommunikation mit Freundinnen und Freunden ebenfalls ein Anreiz der Buchlektüre (vgl. Pfaff-Rüdiger 2011). Nur wenige Studien haben sich mit Peer-Effekten auf die Lesemotivation beschäftigt und zugleich den Stellenwert anderer Variablen wie den oben schon genannten Moderatorvariablen Geschlecht und Herkunft berücksichtigt. Eine solche Studie stammt aus den USA. In ihr ermittelten Susan Klauda und Allan Wigfield (2012) bei Viert- und Fünftklässlern, dass leseaffine Freundinnen und Freunde über solche Faktoren wie Geschlecht, Leseflüssigkeit, das Lesen unterstützende Eltern und Alter der Befragten hinaus für zwei Lesemotivationsarten ein statistisches Vorhersagegewicht hatten. Dabei handelte es sich zum einen um das Selbstkonzept als lesende Person und zum anderen um die intrinsische gegenstandsspezifische Lesemotivation. In einer Studie mit deutschen Gymnasialjugendlichen der Klassenstufen 5 und 6 hing zwar die Häufigkeit der Anschlusskommunikation mit Freunden positiv mit zwei Facetten der intrinsischen Lesemotivation zusammen. Allerdings ergaben Regressionsanalysen nicht, dass bei Kontrolle von Geschlecht, familialen Merkmalen und schulischer Leseanregung die intrinsische Lesemotivation auf die Peers statistisch rückführbar war (vgl. Schaffner u. a. 2013). In den Studie von Klauda und Wigfield (2012) sowie Ellen Schaffner, Ulrich Schiefele und Meike Schmidt (2013) fußten die Analysen auf einer einmaligen Befragung. Damit ist letztlich nicht zu entwirren, was Ursache und was Wirkung ist. Für die Frage nach (zeitlich vorgelagerter) Ursache und (zeitlich folgender) Wirkung von Peers auf die Lesemotivation eignen sich Längsschnittanalysen besser. Diese sind ausgesprochen rar. Allerdings gibt es erste Hinweise mit Longitudinaldaten, dass Peers die Lesemotivation zu stabilisieren helfen. In einer Studie aus Deutschland war die Art, wie die Befragten in Klasse 5 die Leseorientierung in ihren Cliquen
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beschrieben, bedeutsam für die habituelle, intrinsische tätigkeitsspezifische Lesemotivation am Ende der sechsten Klasse. Dieser Effekt bestand über eigene statistische Beiträge von Variablen aus Klasse 5, darunter Leseleistungsindikatoren, familialem Leseklima, Geschlecht, Schulform und Freude am Deutschunterricht hinaus – und dem Ausgangsniveau der Lesemotivation. Vertiefende Analysen ergaben, dass nur die Jungen und die Kinder aus Haupt- und Realschulen von der Leseorientierung im Freundeskreis in Klasse 5 eineinhalb Jahre später statistisch gesehen profitierten. Ein weiterer Befund bestand darin, dass die Häufigkeit der Gespräche über Bücher an Gymnasien die Lesemotivation positiv beeinflusste: Je häufiger die Kinder in Klasse 5 über Bücher sprachen, desto lesemotivierter waren sie als Sechstklässler (vgl. Philipp 2010b). Zu einem anderen Ergebnis – jedenfalls beim Geschlecht als einer von drei untersuchten Moderatorvariablen – hinsichtlich der Peer-Effekte im Längsschnitt kam eine Schweizer Studie mit Achtklässlern, die zweifach befragt und deren Daten mittels Kreuzpfadanalysen statistisch ausgewertet wurden (vgl. Stalder 2013). Für beide Geschlechter ließen sich unter Berücksichtigung von diversen lesemotivationalen Konstrukten und dem basalen Textverstehen positive Beiträge eines als leseaffin beschriebenen Freundeskreises auf die allgemeine, eher tätigkeitsspezifische intrinsische (Buch-)Lesemotivation feststellen. Nur in der Gruppe der Mädchen wirkte aber auch diese Lesemotivationsfacette zu Beginn der Studie zurück auf die Peer-Wahrnehmung; es gab also wechselseitige positive Effekte. Betrachtet man die soziale Herkunft als Moderator (abgebildet über drei Gruppen des sozioökonomischen Status [SÖS]), gab es in der Schweizer Studie in allen drei Gruppen (niedriger, mittlerer und hoher SÖS) positive Beiträge der wahrgenommenen Peer-Leseaffinität auf die Lesefreude. Daneben wurden auch noch je nach Gruppe spezifische Effekte beobachtet. Jugendliche mit niedrigem SÖS schilderten ihre Peers am Ende der Studie als leseaffiner, wenn sie selbst zu Beginn angaben, sie läsen involviert. Bei Mittelschicht-Angehörigen führte eine verstärkte Aufforderung der Eltern zum Schuljahresbeginn zu einer leicht gesunkenen Wahrnehmung zur Leseaffinität. Und bei Jugendlichen mit hohem SÖS wurde beides beobachtet. Das eben für Jugendliche mit hohem SÖS beschriebene Grundmuster galt außerdem für deutschsprachige Jugendliche ohne Zuwanderungshintergrund. Für Jugendliche mit Migrationshintergrund war nur der Effekt der Peer-Wahrnehmung auf die Lesemotivation feststellbar; die Peer-Wahrnehmung selbst wurde von keiner anderen Variable rechnerisch beeinflusst (vgl. Stalder 2013).
5.1.3 Peers und Leseverhalten Das Leseverhalten ist ähnlich wie die Lesemotivation eine vielschichtige Variable. Darunter fallen die Häufigkeit des Lesens ebenso wie die Zuwendung zu spezifischen Lesemedien und Textsorten in verschiedenen Kontexten (vgl. Philipp 2010b). Am
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häufigsten wird in Studien per Fragebogen die Häufigkeit des Lesens unterschiedlicher Texte (häufig mit einem Schwergewicht auf Buchlektüren) erfasst, auch wenn diese Form der Datengewinnung anderen wie Tagebüchern unterlegen ist (vgl. Nieuwenboom 2008). Trotz dieser methodischen Problematik ergaben sich in den wenigen Studien, die die Peer-Effekte auf das Leseverhalten im Sinne der Frequenz ermittelten, geschlechts- und schulformspezifische Effekte, die aber nicht immer konsistent ausfallen. Zur G e schlecht ssp ez ifik bei Peer-Effekten konnte unter Viert- bis Sechstklässlern einerseits (vgl. Philipp 2010b; Klauda / Wigfield 2012) und bei Neuntklässlern andererseits (vgl. Rager u. a. 2004) festgestellt werden, dass besonders Mädchen von leseunterstützenden Freundinnen bei der Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre statistisch gesehen profitierten. Auch die Frequenz der buchbezogenen Anschlusskommunikation scheint im Längsschnitt wichtig für die Lesefrequenz von Büchern zu sein, allerdings für Jungen und Mädchen in anderer Weise. Je häufiger sich Mädchen mit Freundinnen über Bücher unterhielten, desto mehr belletristische Bücher lasen sie eineinhalb Jahre später. Bei den Jungen war dieser Effekt bei der Sachbuchlektüre zu beobachten (vgl. Philipp 2010b). In den einzelnen S chulformen existieren ebenfalls jeweils unterschiedliche Peer-Effekte. Unter Gymnasialjugendlichen (Klasse 5 und 6) etwa sagt die Häufigkeit der Anschlusskommunikation unter Berücksichtigung diverser individueller und familialer Merkmale die Buchlesehäufigkeit positiv voraus. Diese Variable war sogar die zweitwichtigste in der Analyse (vgl. Schaffner u. a. 2013). Leseaffine Freunde standen in einer weiteren Studie nur bei Neuntklässlern aus formal höheren Schulen in einem positiven Verhältnis zur Zeitungslektüre (vgl. Rager u. a. 2004). Dazu komplementär ist der Längsschnittbefund, nach dem sich Jugendliche aus Haupt- und Realschulen stärker Zeitschriften zuwendeten, wenn sie sich achtzehn Monate zuvor oft mit ihren Freunden über Zeitschriften unterhalten hatten (vgl. Philipp 2010b). Die Häufigkeit der Konversation über Bücher hatte in derselben Untersuchung für Gymnasialjugendliche positive Effekte auf die Buchlesefrequenz und bei den Gleichaltrigen aus Haupt- und Realschulen auf die Zeitschriftenlektüre.
5.1.4 Peers und Leseverstehen Die Forschung der Bedeutung von Peer-Variablen für das Leseverstehen steckt noch in den Kinderschuhen und fördert bislang disparate Ergebnisse zutage. Quantitative Längs- und Querschnittstudien in der frühen Sekundarstufe demonstrieren zum einen keine direkten Effekte der leseaffinen Peers (vgl. Philipp 2010b; Wigfield u. a. 2012). Zum anderen konnten aber auch Zuwächse im Leseverstehen von Klasse 5 bis 8 über schulisch motivierte, gut angepasste Peers erklärt werden (vgl. Fleming u. a. 2002). Auch wechselseitige leichte Effekte zwischen Peers und Leseverstehen wurden schon gefunden (vgl. Stalder 2013).
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Bei PISA 2000 ergaben sich geschlechtsspezifische Effekte bei der (auf querschnittlichen Daten beruhenden) Vorhersage der Leseleistung. Nur für Mädchen, nicht aber für Jungen sagte die Leseorientierung der informellen Peergroup Unterschiede in den Testwerten voraus. Anders gesagt: Je lesefreundlicher der eigene Freundeskreis beschrieben wurde, desto besser war das Ergebnis beim PISA-Lesetest (vgl. Meier 2004). In einer Schweizer Studie mit qualitativem Design wurde passend dazu festgestellt, dass Jugendliche, die trotz ungünstigen soziodemografischen Merkmalen gut lasen, ein eher leseaffines Peer-Umfeld hatten (vgl. Wiesner / Schneider 2011). Insgesamt ist damit die Befundlage alles andere als einheitlich und damit die Frage offen, ob und in welchem Maß Peers Effekte auf das Textverstehen haben. Ob dies methodisch bedingt ist, lässt sich derzeit noch nicht ausreichend abschätzen, doch erscheint es geboten, die Effekte der Peers aus informellen Beziehungen auf das Leseverstehen mit den derzeitigen Kenntnissen nicht zu überhöhen.
5.1.5 Peers und ihre Effekte auf Lesemotivation und ‑verhalten: ein Zwischenfazit Der Lesesozialisationskontext Peers ist zwar noch nicht ausreichend erforscht, aber es scheint, als würde er im Sekundarschul- bzw. Jugendalter eine zentrale Rolle spielen. Dabei unterscheidet sich je nach Alter, Schulform und Geschlecht das wahrgenommene Peer-Umfeld in Bezug auf dessen Leseaffinität und soziale Präsenz des Lesens. Besonders markant werden diese Differenzen beim Geschlecht, das zugleich die bisher am stärksten beachtete Moderatorvariable der Peer-Lesesozialisation bildet. Bei den drei hypothetischen Einflussbereichen – Lesemotivation, ‑verhalten und ‑verstehen – sind zwei klare Forschungsschwerpunkte zu attestieren. Der erste liegt in der Lesemotivation, der zweite beim ‑verhalten. Zunächst zur M otivation : Sowohl in der quantitativen als auch in der qualitativen Leseforschung ist das extrinsisch motivierte Lesen mit Peer-Bezug herausgearbeitet worden. Neben dem Lesen, um Teil einer lesenden Gemeinschaft zu sein (soziale Lesemotivation), gibt es laut dem ›Motivation for Reading Questionnaire‹ auch einen auf einen Wettstreit in der Schulklasse abzielenden Leseanreiz (wettbewerbsbezogene Lesemotivation). Mädchen scheinen stärker aus prosozialen, Jungen stärker aus kompetitiven Gründen zu lesen. Die Leseforschung hat sich zudem mit der Frage nach Peer-Effekten auf die Lesemotivation zu beschäftigen begonnen. Aus den wenigen vorliegenden Untersuchungen zeichnen sich eigenständige Peer-Effekte auf die intrinsische Lesemotivation und das lesebezogene Selbstkonzept ab. Wer seine Peers als leseorientiert beschreibt, scheint davon zu Beginn des Jugendalters in der Lesemotivation zu profitieren. Dabei bestehen ersten geschlechts- und schulformspezifischen Analysen zufolge Differenzen. Schul- und geschlechtsspezifische Effekte scheinen außerdem beim Leseverh a lte n zu bestehen. Mädchen profitieren scheinbar in ihrer Periodika-Nutzungsfre
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quenz stärker als Jungen von lesenden Peers. Bei der Buchnutzung führten in einer Studie häufige Gespräche über Bücher zu einer stärkeren Zuwendung zur Belletristik unter Mädchen und einer stärkeren Sachbuchlektüre unter Jungen. Unklarer ist die Befundlage bei schulformspezifischen Effekten, die je nach Lesemedium und untersuchter Peer-Variable anders ausfallen. Ebenfalls wenig auf breiter empirischer Basis ist gesichert, in welchem Ausmaß die Peers einen Effekt auf das Textverstehen haben.
5.2 Formale Peer-Beziehungen und ihre nachgewiesene Wirkung für Leseleistungen: die Sichtweise der Lesedidaktik Nachdem im Abschnitt zuvor die empirischen Beiträge der Peers in der Lesesozialisation betrachtet wurden, geht es nun um die Wirksamkeit des Lernens mit Peer-Unterstützung in der Lesedidaktik. Mit dem Perspektivenwechsel auf schulische Kontexte und die Peer-Effekte in bewusst inszenierten Lernarrangements ergibt sich zugleich die Notwendigkeit, eine andere Datenquelle als bisher zu konsultieren. Da die Wirksamkeit von Förderansätzen nur in (quasi-experimentellen) Studien mit Kontroll- und Interventionsgruppen angemessen untersucht werden kann, bilden solche Studien den Grundstock für dieses Teilkapitel. Diese Studien folgen dem quantitativen Forschungsparadigma und stammen aus dem Kontext der pädagogisch-psychologischen Forschung. Das ist deshalb entscheidend, weil dadurch literaturdidaktische Ansätze nicht in den Blick geraten werden. Der Grund ist, dass die Wirksamkeitsüberprüfung von Fördermaßnahmen in der Literaturdidaktik (noch) keine Tradition hat. Wendet man sich der pädagogisch-psychologischen Forschung im angelsächsischen Raum zu, fällt auf, wie gut dokumentiert die Effekte des kooperativen Lernens sind. Inzwischen liegen so viele Einzeluntersuchungen vor, dass in Sekundäranalysen (Metaanalysen) statistisch die durchschnittlichen Effekte von didaktischen Maßnahmen mit Peer-Unterstützung bestimmt werden können. Aufgrund einer Vielzahl von Hinweisen konnten in drei Bereichen positive und zum Teil starke Effekte nachgewiesen werden. Im Einzelnen handelt es sich um 1. die Lesemotivation (vgl. Guthrie / Humenick 2004), 2. die kognitiven Leseprozesse wie Leseflüssigkeit (vgl. Therrien 2004) und die Anwendung von Lesestrategien (vgl. Rosenshine / Meister 1994; Davis 2010), 3. das Textverstehen (vgl. Rosenshine / Meister 1994; Swanson 1999; Guthrie / Humenick 2004; Souvignier / Antoniou 2007; Davis 2010; Slavin u. a. 2011). Angesichts dieser breit nachgewiesenen Wirksamkeit spricht einiges dafür, kooperatives Lernen im Leseunterricht systematisch zu verankern. Doch was ist eigentlich kooperatives Lernen bzw. Peer-Assisted Learning (PAL) genau und welche Arten gibt es?
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5.2.1 Peer-Assisted Learning: ein Definitions- und Systematisierungsversuch Das PAL bezeichnet eine Form des Lernens, bei denen mindestens zwei Heranwachsende gemeinsam eine Aufgabe lösen und für den Lernerfolg gemeinsam verantwortlich sind (vgl. Johnson 2003). Seine lerntheoretischen Wurzeln hat das PAL in diversen Traditionslinien. Erstens können Peers anregende kognitive Konflikte im Sinne Jean Piagets austragen und dadurch ihre Kenntnisse erweitern, etwa indem sie eine für alle Beteiligten zufrieden stellende Lösung erarbeiten (vgl. Lisi / Golbeck 1999). Zweitens vermögen in ihren Fähigkeiten etwas überlegene Peers, schwächere Lerner in die ›Zone der nächsten Entwicklung‹ zu führen (vgl. Hogan / Tudge 1999). Daneben kommt drittens das Modelllernen als Wirkmechanismus in Betracht, bei dem ein Peer die zu erlernende Fähigkeit beobachtbar demonstriert und damit den Grundstein für den Erwerb dieser Fähigkeiten legt (vgl. Bandura 1986). PAL kennt – so wie die diversen Peer-Beziehungsarten – viele Formen (vgl. Topping / Ehly 1998). Vier von ihnen scheinen für die Lesedidaktik besonders wichtig zu sein: Peer-Modeling, Peer-Monitoring, Peer-Assessment und Peer-Tutoring. Im Falle des Pe e r- M o d e li ng dient ein schulischer Peer als Modell, das ein erstrebenswertes (Lern-)Verhalten demonstriert, damit die Mitglieder einer Gruppe oder ein Tandempartner das Verhalten später imitieren. Beim Peer-M onitoring überwachen Peers einander dabei, ob der bzw. die Partner ein angemessenes und effektives Verhalten zeigen. Das Pe e r-Assessm ent beinhaltet, dass die Leistungen oder Produkte von anderen Peers bewertet werden. Das Peer-Tutoring ist durch einen Rollenwechsel gekennzeichnet, dabei hat eine Person zu einem Zeitpunkt die Rolle des Tutors inne, während die andere oder die anderen Person(en) als Tutanden agieren. Während die ersten drei Formen den Peers spezifische Tätigkeiten zuweisen (Demonstrieren, Überwachen, Beurteilen), bezeichnet die vierte Variante lediglich einen Wechsel von Rollen bei den beteiligten Peers. Förderansätze in der Lesedidaktik setzen häufig eine Kombination von verschiedenen Facetten des kooperativen Lernens ein.
5.2.2 Peer-Assisted Learning: ein Überblick über verschiedene exemplarische Förderansätze Wie im Abschnitt zuvor schon deutlich wurde, gibt es verschiedene wirksame Varianten des PAL. In diesem Abschnitt sollen einige Förderansätze beleuchtet werden. Das Ziel ist nicht, einen Überblick in extenso zu geben, sondern einen exemplarischen Ausschnitt vorzustellen, um so Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Blick zu nehmen. Dies geschieht in Tabelle 2; in ihr sind Informationen zum Inhalt des Förderansatzes und den Formen des kooperativen Lernens enthalten. Die einzelnen Ansätze werden komprimiert im Folgenden vorgestellt; die Reihenfolge entspricht jener in der Tabelle von rechts nach links.
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Vorangestellt sei noch, dass beim Lesen zwei Förderbereiche besonders viel Aufmerksamkeit erhalten haben. Dabei handelt es sich um hierarchieniedrige und -hohe Prozesse bei der kognitiven Verarbeitung von Texten: Leseflüssigkeit und ‑strategien. Leseflüssigkeit als automatisiertes genaues Decodieren von Texten läuft bei geübten Leserinnen und Lesern weitestgehend unbewusst ab und entzieht sich damit der Steuerung. Lesestrategien hingegen sind mindestens potenziell bewusste und steuerbare (meta-)kognitive Aktivitäten einer lesenden Person, die mit diesen Aktivitäten ein lesebezogenes Ziel verfolgt, nämlich in aller Regel die Optimierung des Textverständnisses (vgl. Afflerbach u. a. 2008).2 Tab. 2: Überblick über verschiedene Förderansätze des PAL beim Lesen (Legende: • = direkter Bestandteil; (•) = indirekter Bestandteil) Reciprocal Teaching (RT) KurzbeschreiIn Kleingrupbung des Förder- pen werden ansatzes im Wechsel absatzweise vier Lesestrategien angewendet. Eine Person fungiert dabei als ›Lehrer‹, eine als ›Schüler‹.
Collaborative Strategic Reading (CSR)
Peer-Assisted Learning Strategies (PALS)
Paired Reading (PR)
Kleingruppen bzw. Tandems wenden vier Lesestrategien mit Teilstrategien an, dabei haben die Personen verschiedene Rollen.
Tandems lesen Texte halblaut und wenden drei Lesestrategien an. Beide Partner wechseln, die Aktivität ist in drei Blöcke geteilt.
Tandems von Schülern lesen Texte halblaut, dabei hat ein besserer Leser die Aufgabe, auf Genauigkeit beim schwächeren Partner zu achten.
Formen des PAL – Modeling
•
•
(•)
(•)
– Monitoring
•
•
•
•
– Assessment – Tutoring
• •
•
•
Re c i p ro c al Teaching (RT): Der RT-Ansatz ist einer der populärsten und ältesten Leseförderansätze und wurde Anfang der 1980er Jahre entwickelt (vgl. Palincsar / Brown 1984). Er hatte eine regelrechte Blüte, denn eine Vielzahl von Studien hat die Wirksamkeit von teilweise adaptierten Versionen dieses Ansatzes untersucht und unter Beweis gestellt (vgl. Rosenshine / Meister 1994; Davis 2010). In seiner Ursprungsvariante umfasst das RT vier Strategien, die bei Texten absatzweise zum
2 Vgl. auch Kap. 2.1.5 Schreibstrategien und Leseverhalten in diesem Band.
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Einsatz kommen. Es handelt sich um (1) das Formulieren von Fragen zum Text, (2) das Zusammenfassen von Absätzen, (3) das Vorhersagen des Textinhalts und (4) das Klären unbekannter Wörter oder Passagen. Beim RT fungiert – eine erfolgreiche Implementierung vorausgesetzt – eine Person als Tutor, der bestimmt, welches Gruppenmitglied bei einem Absatz welche Strategie anwenden soll. Diese Rollen wechseln. Damit sind zugleich verschiedene Rollen angesprochen: Der Wechsel verweist auf das Peer-Tutoring, der Tutor überwacht im Sinne des Peer-Monitoring das Anwenden von Lesestrategien durch den Tutanden, die für die weiteren Gruppenmitglieder in der Anwendung beobachtbar sind. Dieses Beobachten-Können trägt den Charakter des Peer-Modeling. C o llab o r at ive S t r ategic Reading (C SR): Das Programm CSR orientiert sich relativ stark am RT-Ansatz und ist in mehreren Studien erfolgreich getestet worden (vgl. Davis 2010). Vier Hauptstrategien stehen im Fokus, die sich zum Teil in weitere Einzelstrategien untergliedern lassen (vgl. Vaughn u. a. 2001). Vor dem Lesen eines Texts kommt die erste Strategie (Vorschau) zum Einsatz, bei der die Heranwachsenden per Brainstorming und Voraussagen zum Textinhalt ihr Vorwissen aktivieren. Beim Lesen wenden die Schülerinnen und Schüler nach jedem Absatz eine metakognitive Strategie an, indem sie unverstandene Textteile identifizieren und diese klären, z. B. durch erneutes Lesen und Fokussierung auf Einzelwörter bzw. Wortteile (Strategie unbekannte Textteile erkennen und klären). Ebenfalls für jeden Absatz wird die Hauptidee in weniger als zehn Wörtern zusammengefasst (Strategie Zusammenfassen). Die vierte Strategie (Fragen stellen) kommt am Ende zum Einsatz und bezieht sich auf den gesamten Text. Nun sollen die Heranwachsenden nämlich Fragen stellen, worum es in dem Text ging und dabei verschieden schwierige Fragen formulieren. All diese Strategien werden mit einem Lerntagebuch unterstützt, in welches jedes Mitglied der Gruppe seine Ideen einträgt. Das Lerntagebuch dient damit zweierlei: der Dokumentation und der Erinnerung, welche Schritte zu befolgen sind. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten in leistungsheterogenen Kleingruppen mit verschiedenen alternierenden Rollen (vgl. Vaughn / Edmonds 2006). Es gibt die Rolle des Gruppenleiters, der die Einhaltung der Prozeduren überwacht, sowie die des Klärers, welcher den anderen dabei hilft, unbekannte Wörter zu bestimmen. Eine ähnliche Rolle ist für die Person vorgesehen, die für die Hauptideen verantwortlich ist. Prinzipiell können noch weitere Rollen in der Gruppe festgelegt werden, und auch die Gruppengröße kann variieren. Wichtig ist, dass es Rollenwechsel (Peer-Tutoring), die Überwachung von Prozeduren durch Mitschüler (Peer-Monitoring) und in Kleingruppen ferner die Möglichkeit gibt, das richtige Vorgehen bei anderen zu beobachten (Peer-Modeling). Pe e r-As s i s te d Learning S t r ategies (PA LS ): Im PALS-Ansatz geht es um die Förderung von Lesestrategien und ‑flüssigkeit in leistungsheterogenen Tandems. Dieses für verschiedene Altersgruppen wirksame Programm (vgl. Fuchs u. a. 2000; Davis 2010) besteht aus drei Aktivitäten: Zuerst erfolgt ein lautes Lesen mit Fehlerkorrektur bei Verlesungen, nach dem der leseschwächere Leser dem besseren mit
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teilt, was der Inhalt des laut gelesenen Texts ist. Als zweites wird danach geübt, den Hauptgedanken eines Absatzes in maximal zehn Wörtern wiederzugeben. Den dritten Schritt bilden das Vorhersagen des Inhalts vom Text und ein lautes Lesen, nach dem die Vorhersage überprüft wird. Bei PALS beginnt der lesestärkere Tandempartner bei jeder Aktivität, so dass er potenziell als Lesemodell fungiert (weil dies nicht im strengen Sinn des Peer-Modeling erfolgt, ist das Symbol in Tabelle 2 in Klammern gesetzt). Eindeutig Bestandteil des Förderansatzes sind das Peer-Tutoring durch den Rollenwechsel und das Peer-Monitoring durch die Fehlerkorrektur beim lauten Lesen und die Überwachung der Strategieanwendung. In der Originalvariante agieren die Tandems im Rahmen eines klassenweiten Wettbewerbs für eines von zwei Teams und sammeln Punkte für ihr Team. Durch diese Bepunktung kommt das Peer-Assessment als vierte Form des PAL hinzu. P ai re d Reading (PR ): Der Förderansatz PR setzt bei der Leseflüssigkeit an. Dazu werden zwei Heranwachsende mit unterschiedlicher Lesefähigkeit kombiniert und lesen einen Text halblaut. Der bessere Leser dient dabei tendenziell als Modell (Peer-Modeling). Fühlt sich der schwächere Leser sicher genug, gibt er ein Signal und liest selbst, während der stärkere Partner das richtige Lautlesen überwacht (PeerMonitoring) und ggf. einschreitet und selbst wieder laut liest, bis sich der schwächere Partner sicher genug fühlt (vgl. Topping 2006). Dieses Vorgehen ist inzwischen auch für deutsche Verhältnisse erprobt worden (vgl. Nix 2011). Betrachtet man die vier Förderansätze in ihrer Gesamtheit, so ergeben sich Schwerpunkte. Ein Schwerpunkt liegt auf der Vermittlung von Lesestrategien, die in den Ansätzen CSR, PALS und RT auftauchen. Das Zusammenfassen und Prognostizieren des weiteren Textinhalts als zwei wichtigen Strategien ist Bestandteil aller drei genannter Ansätze, daneben ähneln sich CSR und RT stark. Besonders häufig wird dabei bei der Vermittlung von Lesestrategien deren Anwendung von einem Peer überwacht (PeerMonitoring). Ein weiteres geteiltes Merkmal besteht darin, dass die Gruppen- bzw. Tandemmitglieder ihre Rollen häufig tauschen und wenigstens tendenziell die Möglichkeit haben, per Modelllernen die anzuwendenden Prozeduren bei anderen beobachten können. Das Peer-Assessment fehlt bei den vorgestellten Maßnahmen mit Ausnahme von PALS hingegen weitgehend. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Automatisierung von hierarchieniedrigen Leseprozessen (Leseflüssigkeit), die beim PR und PALS geschult und überwacht werden. Diese erfolgt, indem Texte laut gelesen werden und jeweils ein Mitglied des Tandems gefordert ist, die Genauigkeit beim Decodieren zu überwachen. Durch dieses Peer-Monitoring werden Verlesungen sofort korrigiert, die gerade schwach lesenden Heranwachsenden meist gar nicht selbst auffallen.
5.2.3 Peers und ihre Effekte auf die Lesekompetenz: ein Zwischenfazit Die positiven Beiträge von Peers für den Erwerb von Lesekompetenz sind in einer Vielzahl von Interventionsstudien untersucht und recht konsistent bestimmt worden.
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Inzwischen liegen aus diversen Metaanalysen Hinweise darauf vor, dass Heranwachsende mit Peer-Unterstützung sowohl in kognitiven Bereichen des Lesens (Leseflüssigkeit, ‑strategien und ‑verstehen) als auch in der Lesemotivation profitieren. Die Lesemotivation bildet damit einen Bereich, in dem sowohl formale als auch informelle Peer-Beziehungen eigene positive Impulse geben. Um die Effekte von Peers für das Lesen genauer zu bestimmen, ist es sinnvoll, verschiedene Arten des Peer-Assisted Learning (PAL) analytisch zu trennen. PAL zeichnet sich zunächst allgemein dadurch aus, dass mindestens zwei Personen gemeinsam mit demselben Ziel an einer Aufgabe arbeiten und auf die wechselseitige Unterstützung angewiesen sind. Aus der großen Vielfalt wurden vier Arten genauer betrachtet: das Peer-Modeling, das Peer-Monitoring, das Peer-Assessment und das Peer-Tutoring. Heranwachsende können Peers beim Anwenden von Lesestrategien beispielsweise beobachten (Modeling), die Richtigkeit des Vorgehens überwachen (Monitoring) und das Vorgehen oder dessen Resultat beurteilen (Assessment). Häufig tun sie das mit verschiedenen Rollen, um sich wechselseitig zu unterstützen (Tutoring). Aus der Vielzahl von Förderansätzen wurden vier exemplarisch vorgestellt. Alle diese Ansätze haben sich in mehr oder minder vielen Studien als erfolgreich erwiesen und kombinieren in aller Regel verschiedene PAL-Varianten beim Lesen. Ein deutliches Schwergewicht lag auf der Vermittlung von Lesestrategien als absichtsvollen und bewussten mentalen Aktivitäten beim Umgang mit Texten. Besonders häufig kommen Peer-Modeling und ‑Monitoring vor, die sich komplementär gegenüberstehen. Das Modeling gibt Heranwachsenden auf der einen Seite die Chance, den Umgang mit Texten zu beobachten und eine kognitive Repräsentation des Vorgehens aufzubauen (vgl. Bandura 1986). Das Monitoring auf der anderen Seite setzt diese Repräsentation voraus, denn nur so kann korrigiert werden. Diese Form der Überwachung schult die Metakognition beim Lesen und Schreiben, die gerade bei schriftschwachen Heranwachsenden ein Defizit bilden (vgl. Philipp 2012).
6 Fazit: Vorhandene und ausstehende Forschungsbefunde Die Rolle der als ›Peers‹ bezeichneten gleichrangigen Interaktionspartner von Kindern und Jugendlichen für die Lesesozialisation inner- und außerhalb der Schule wird zunehmend als wichtig erachtet. Wichtigstes Merkmal von Peer-Beziehungen, die sich nach diversen Kriterien klassifizieren lassen, ist die symmetrische Reziprozität, also die wechselseitige Abhängigkeit der Interaktion bei gleichzeitiger Gleichrangigkeit. Diese Besonderheit der Beziehungen macht die Peers zu einem ganz speziellen Sozialisationskontext, in dem Heranwachsende gleichermaßen Sozialisanden wie Sozialisationsagentur sind. Dabei scheinen spezifische Peer-Beziehungen spezifische Beiträge zu leisten.
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Für dieses Kapitel war daher eine Doppelperspektive leitend. Zum einen wurde der Beitrag der außerschulischen, informellen Peer-Beziehungen im Rahmen der Lesesozialisation betrachtet. Zum anderen gerieten die Effekte der schulischen Peers in formalen Peer-Beziehungen aus lesedidaktischer Sicht in den Blick. Dies erscheint nicht nur aufgrund verschiedener (methodischer) Zugänge der jeweiligen wissenschaftlichen Bezugsdisziplinen geboten, sondern auch wegen der grundsätzlichen Komplementarität der Forschungsfelder. In diesem Fazit sollen noch einmal die wichtigsten Befunde dargestellt (Abschnitt 6.1) und Forschungsperspektiven (Abschnitt 6.2) skizziert werden.
6.1 Die wichtigsten Effekte im Überblick Die schon erwähnte Komplementarität der lesesozialisatorischen und ‑didaktischen Zugänge zu den Peers und ihrer Rolle für den Erwerb von Lesekompetenz und ‑motivation sowie der Genese des Leseverhaltens spiegelt sich in den Befunden wider. Tabelle 3 nimmt dies auf. Zur Darstellung ist anzumerken, dass sie längst nicht alle Peer-Beziehungen enthält, sondern lediglich zwei Formen von Beziehungen kontrastiert. Tab. 3: Zum Forschungsstand zu Effekten unterschiedlicher Peer-Beziehungen auf Bereiche des Lesens im Kindes- und Jugendalter (Legende: + = belastbare Forschungsbefunde vorhanden; ? = Forschungsdesiderat bzw. unklare Befunde) Bereich des Lesens
Informelle, eher außerschulische Peer-Beziehungen
Formale, unterrichtliche Peer-Zusammenschlüsse
Motivation
+
+
Verhalten
+
?
Kompetenz
?
+
Die Darstellung zeigt, dass gemeinsame Befunde zur Bedeutsamkeit von Peers für das Lesen vor allem für die Lesemotivation bestehen. Leseorientierte Freunde, mit denen Heranwachsende über Gelesenes sprechen können, stehen in einem positiven Verhältnis zur intrinsischen tätigkeitsspezifischen Lesemotivation. Die Zusammenarbeit mit schulischen Peers korrespondiert ebenfalls mit einer höheren Lesemotivation. Auf den allgemeinsten Nenner gebracht ist der Austausch mit Peers über Texte, sei es freiwillig, sei es unterrichtlich vorstrukturiert, anscheinend eine Quelle der Lesemotivation. Die Rolle der Peers für das Leseverha lten ist je nach Art der Peer-Beziehung unterschiedlich gut erforscht. Welche Effekte schulische Peers auf das Lesen haben,
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bildet ein großes Forschungsdesiderat. Bei den informellen Peer-Beziehungen zeigen sich Zusammenhänge zwischen leseaffinen Peers und der Häufigkeit des individuellen Lesens, gerade von Sachtexten und Periodika. Bei der Fähigkeit, Texte zu verstehen, sieht die Datenlage wiederum anders aus. Die Bedeutung informeller PeerBeziehungen für die Lesekom p etenz ist bislang empirisch eher uneindeutig. Das ist deutlich anders bei den schulischen Interventionsstudien mit formalen PeerBeziehungen. Hier ergibt sich als deutliche Schnittmenge, dass sich die Vermittlung von Strategien und die Automatisierung der Leseflüssigkeit in Settings mit kooperativem Lernen günstig auf das Leseverstehen auswirken. Die Leseförderung kennt verschiedene Formen des Peer-Assisted Learning, von denen das Peer-Modeling und das Peer-Monitoring nebst dem Peer-Tutoring anscheinend besonders wichtig sind.
6.2 Forschungsperspektiven Mit den weißen Flecken in der Tabelle 3 ist schon angedeutet, welche Bereiche des Lesens hinsichtlich der Peer-Effekte weiter bzw. überhaupt zu untersuchen wären, und zwar sowohl mit quantitativen und qualitativen Studien. An dieser Stelle soll analog zur inhaltlichen Schwerpunktsetzung des Handbuchs der Fokus eher auf die Lesesozialisation gelegt werden. In Abschnitt 2 wurde die Bedeutung der Anschlusskommunikation als Motor der Peer-Lesesozialisation betont. Wie sich diese vollzieht und gestaltet, ist derzeit noch unbekannt. Die konkrete Praxis und Form der Anschlusskommunikation in verschiedenen soziodemografischen Gruppen wäre einiger qualitativer Studien wert, wie sie beispielsweise in der Kommunikationswissenschaft üblich sind, um die Sinnstrukturen und ‑zuweisungen des Lesens im Peer-Kontext genauer zu verstehen. Weiterhin bedarf es auch der Klärung bei der Frage, in welchem Alter Peers bei welchen Heranwachsenden welche Effekte in der Lesesozialisation haben. Dazu scheinen Längsschnittstudien unumgänglich. Doch selbst die Bereiche, in denen einige gesicherte Befunde vorliegen, sind noch nicht ausreichend erforscht. Das lässt sich besonders gut an der Lesemotivation verdeutlichen. Motivation ist kein homogenes psychologisches Konstrukt, sondern speist sich aus ganz unterschiedlichen Theoriefamilien, die inhaltlich ähnliche, aber nicht deckungsgleiche Konstrukte kennen. Bei vielen von ihnen wird angenommen, dass sie von außen beeinflussbar sind; darunter fallen ex- und intrinsische Motivation, Selbstkonzept, das Interesse, aber auch Zielorientierungen (vgl. Philipp 2013). Nur für einen sehr kleinen Teil dieser motivationalen Konstrukte liegen Ergebnisse zu Peer-Effekten vor. Dasselbe gilt für das Leseverhalten, das primär über die Lesehäufigkeit von Printmedien erfragt wird, wobei das Buch einen immer noch prominenten Forschungsgegenstand bildet, wenngleich es weitaus mehr Lesemedien gibt, von denen anzunehmen ist, dass sie eher von Peers ins Spiel gebracht werden.
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Dazu zählen Online-Lesemedien ebenso wie Sachtexte in Periodika wie Jugendzeit schriften. Den Peer-Effekt sicher abzuschätzen, bedarf ferner erheblichen methodischen Aufwands, um schulische und familiale sowie individuelle Merkmale, die für das Lesen als einflussreich identifiziert wurden (vgl. Schaffner 2009; Philipp 2011), parallel zu den Peer-Variablen zu erfassen. Der methodische Aufwand betrifft auch die Peer-Beziehungen als solche. Wegen der Vielzahl von Peer-Beziehungen ist es nötig, präzise die Analyseeinheit zu bestimmen und angemessen zu erfassen, z. B. durch die wechselseitige Bestätigung bei Freundschaften und die alles andere als einfache Klärung, wer zu einer Freundesgruppe gehört und wer nicht (vgl. Berndt / McCand less 2009; Kindermann / Gest 2009). Erst dadurch lässt sich eruieren, wer die potenziell einflussreichen Peers sind. Trotz aller in diesem Beitrag berichteten Kenntnisse zur Relevanz der Peers für die Lesesozialisation und zum Potenzial im Rahmen der Lesedidaktik erscheint weitere Forschung nötig. Der Fluidität und Vielzahl der Peer-Beziehungen ist dabei ebenso Rechnung zu tragen wie den vielfältigen Bereichen des Lesens, in denen Peer-Effekte aus theoretischer Sicht möglich erscheinen. Es sind also forschungsmethodische Herausforderungen, die es zu überwinden gilt. Die vorliegenden Befunde sprechen jedoch dafür, dass das bislang noch zum Teil wenig bearbeitete Forschungsfeld ergiebig und deshalb dringend weiter zu bearbeiten ist.
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2.3.3 Lesen in digitalen Netzwerken Zusammenfassung: Der Beitrag stellt Formen, Möglichkeiten und Folgen sozialer Interaktionsprozesse zu Texten in den Mittelpunkt, die über digitale Netzwerke realisiert werden können. Aufbauend auf dem Konzept der Anschlusskommunikation werden die Formen der primären und sekundären Thematisierung von Texten unterschieden. Während das gemeinsame Lesen von Texten als fragmentierter Prozess zwischen Phasen des Lesens und des Kommunizierens gefasst werden kann, entsprechen Lesegemeinschaften einer neuen Form des Diskurses um gelesene Bücher im öffentlichen Raum. Beide Formen verändern im Rahmen ihrer technischen Strukturierung Lesemotivationen, Leseweisen und Lesewirkungen, was sich auf erforderliche Lesekompetenzen, Lesestrategien, öffentliche Meinungsbildung und den Literaturbetrieb auswirkt. Abstract: The article focuses on the forms, possibilities and consequences of text-related social interaction processes that can be accomplished through digital networks. Building on the concept of follow-up communication, the modes of primary and secondary thematization must be distinguished from one another. While the joint reading of texts can be seen as a process fragmented between reading and communication phases, reading communities are equivalent to a new form of discourse on books within a public space. Through their technological structures, both forms change the motivations, modes and effects of reading, which in turn affect the required reading competencies and strategies, the shaping of public opinion and the literary enterprise as a whole.
Inhaltsübersicht 1 ›Social Reading‹ — 427 2 Forschungsperspektiven der Nutzung und Rezeption medialer Inhalte in digitalen Netzwerken — 429 3 Anschlusskommunikation in digitalen Netzwerken — 430 4 Gemeinsames Lesen digitaler Texte — 431 4.1 Individuelle Leseprozesse gemeinsamer Texte — 432 4.2 Veränderungen des Lesens unter dem Einfluss primärer Anschlusskommunikation — 433 5 Lesezentrierte Gemeinschaften in digitalen Netzwerken — 436 5.1 Motivationen und Erwartungen der Mitglieder — 438 5.2 Leseidentität unter dem Einfluss digitaler Lesegemeinschaften — 439 6 Anschlusskommunikation und Literaturvermittlung — 441 7 Tendenzen und Desiderate — 442 8 Literatur — 443
1 ›Social Reading‹ Digitale Netzwerke ermöglichen es Menschen, persönliche Informationen, selbst geschriebene Texte, Bilder und Videos mit anderen Nutzern zu teilen. Im Zuge der raschen Verbreitung dieser Nutzungspraktiken thematisieren auch der Buchhandel oder die Feuilletons der großen Zeitungen, welche Formen des Teilens in Bezug
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auf das Lesen möglich sind oder sein sollten. Sie beziehen sich dabei meist auf den Begriff ›Social Reading‹, den die ersten Anbieter von Produkten und Dienstleistungen in diesem Bereich eingeführt haben und als neue, innovative Form des Lesens vermarkten. Zuschreibungen an das ›klassische‹ Lesen gedruckter Texte sind dabei im Vergleich meist eindeutig als ›einsam‹, ›still‹, ›individuell‹ und ›asozial‹ charakterisiert. Die Formen von Social Reading dagegen werden mit Zuschreibungen an das Web 2.0 assoziiert, ihnen werden erstmalig eine soziale Leseerfahrung und die Überführung der einstmals einsamen Beschäftigung in den Raum einer größeren Gemeinschaft zugesprochen. Solche bipolaren Zuschreibungen an das Lesen außerhalb und innerhalb digitaler Netzwerke sind allerdings wenig plausibel. Denn prinzipiell lässt sich historisch wie gegenwärtig jede Mediennutzung genauso als ›einsam‹ wie ›sozial‹ beschreiben. So kann man die neurobiologische Wahrnehmung und kognitive Entschlüsselung von Zeichen als individuellen Prozess betrachten, der in soziale Interaktionsprozesse vor, während oder nach der Rezeption eingebettet sein kann, aber nicht muss. Auch für die Geschichte des Lesens lässt sich nachweisen, dass dieses von den Anfängen bis zur Gegenwart immer in soziale Interaktion integriert war und ist: (Vor-)Lesen als Teil der Erziehung, des Lernens oder zur Unterhaltung sowie Diskussion und Debatte auf der Grundlage gelesener Texte zur politischen Meinungsbildung oder Identitätskonstruktion wurden und werden über unterschiedliche Formen von sozialen Beziehungen und Gemeinschaften, beispielsweise in Familie, Peergroups, Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Buchklubs, Kulturvereinen oder von Privatleuten umgesetzt. In historischen Kontexten variieren die Formen der sozialen Interaktion, auch im Hinblick auf die verfügbaren Kommunikationsmedien, wobei sich grundlegende Strukturen der Kommunikation vor, während und nach dem Lesen nicht ändern, sondern nur deren Umsetzung. Statt von innovativen Leseerfahrungen zu sprechen, ist es deshalb sinnvoller, die Transformationen sozialer Interaktion zum Lesen in digitalen Netzwerken zu analysieren. Diese Transformationen stehen in Verbindung zu basalen Eigenschaften digitaler Netzwerke: erhöhte Reichweite, Netzwerkcharakter, Verschmelzung privater und öffentlicher Informationen sowie Intermedialität von Kommunikationsund Lesemedien. Im Folgenden wird deshalb eine erste Skizzierung der sozialen Interaktionsmöglichkeiten erfolgen. Über das Konzept der Anschlusskommunikation werden zwei grundlegende Formen unterschieden: Zum einen das gemeinschaftliche Lesen digitaler Texte und zum anderen die Kommunikation über Texte in lesezentrierten Gemeinschaften in digitalen Netzwerken.
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2 Forschungsperspektiven der Nutzung und Rezeption medialer Inhalte in digitalen Netzwerken Digitale Netzwerke stellen die Medien- und Kommunikationswissenschaft vor Probleme der Anknüpfung an etablierte Forschungsmodelle, da sich die klassische Unterteilung von massenmedialer und interpersonaler Medienkommunikation in diesen auflöst. Stattdessen werden Aspekte beider Formen in variabler, teilweise dynamischer Form kombiniert. Das führt dazu, dass vormals klare Systematisierungen von Kommunikation als öffentlich oder privat, einseitig oder wechselseitig, indirekt oder direkt, mit dispersem oder präsentem Publikum und unbestimmter oder bestimmter Adressierung nicht mehr universell angewendet werden können. Jede einzelne Kommunikationsform in digitalen Netzwerken muss für sich und unter Abstufungen der genannten Kategorien betrachtet werden. Forschung in diesem Bereich erfordert deshalb einen Perspektivwechsel: Statt allgemeiner Kommunikationsmodelle werden soziokulturelle Nutzungspraktiken in den Mittelpunkt gestellt, welche als Systeme aus Individuen, Gemeinschaften und Technologien charakterisiert werden, in denen Prozesse des Teilens von Informationen, der (kollaborativen) Entstehung von Wissen, der Prägung von Identitäten und der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit realisiert werden. Die mit dem Lesen verbundenen soziokulturellen Praktiken in digitalen Netzwerken sind bislang kaum erforscht. Erkenntnisse ergeben sich bisher hauptsächlich aus der disziplinübergreifenden Erforschung digitaler Vergemeinschaftung (vgl. Boyd / Ellison 2007; Dijck 2013; Döring 2003; Hepp u. a. 2012; Kuhn 2009). Bisher lassen sich zwei Schwerpunkte differenzieren: Erstens stehen die Identität und das Beziehungsmanagement der Mitglieder im Mittelpunkt. Selbstrepräsentationen in digitalen sozialen Netzwerken jeder Art werden hier in ihrer Bedeutung für Identitätskonstruktionen und für individuelles und gemeinschaftliches Informationsmanagement analysiert (vgl. Meise / Meister 2011). Zweitens werden ökonomische und politische Folgen in Bezug auf die über digitale, soziale Netzwerke zugänglichen persönlichen / privaten Daten und damit verbundene rechtliche Problemfelder, z. B. den Datenschutz oder die Wahrung der Privatsphäre, erforscht. Diskutiert werden insbesondere das Sammeln von Daten durch Unternehmen und staatliche Organisationen sowie der dadurch entstehende ›gläserne‹ Nutzer. Zur thematisch auf das Lesen bezogenen Vergemeinschaftung gibt es bisher keine ausdifferenzierte Forschung: Im Kontext der Lese- und Leserforschung gibt es bislang nur erste Definitionsversuche (vgl. Stein 2010; Pleimling 2012), eine Analyse von Literaturplattformen als spezieller Form von Lesegemeinschaften (vgl. Boesken 2010) sowie wenige Experimente zu digitalisierten sozialen Interaktionsprozessen während des Lesens (vgl. Nelson u. a. 2009; Pearson u. a. 2012). Die Konsequenz ist, dass bisherige Begriffsbestimmungen noch nicht etabliert sind, die Ergebnisse nicht verallgemeinert werden können und soziale Nutzungspraktiken nicht typisiert beschreibbar sind.
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3 Anschlusskommunikation in digitalen Netzwerken Sozialen Interaktionsprozessen zum Thema ›Lesen‹ in digitalen Netzwerken kann man sich über das kommunikationstheoretische Konzept der ›Anschlusskommunikation‹ nähern. Anschlusskommunikation definiert sich an der Schnittstelle zwischen massenmedialer und interpersonaler Kommunikation, wenn in sozialer Interaktion massenmediale Inhalte zum Gegenstand dieser Interaktion gemacht werden (vgl. Sommer 2010, S. 16). Das Bedürfnis der Thematisierung rezipierter Medieninhalte resultiert aus der Einseitigkeit der Massenkommunikation. Der fehlende Rückkanal während des Kommunikationsprozesses führt beim Rezipienten zu Unsicherheiten bezüglich des Verstehens der Inhalte und der sozialen Akzeptanz der eigenen Interpretationen. Diese Unsicherheiten werden durch interpersonale Thematisierung gemindert: »Die Kommunikation dient in diesem Kontext weniger der Wissensvermittlung, sondern der Vergewisserung und dem Abgleich von Einstellungen, Werten und Wissen und damit letztlich der Vergemeinschaftung bzw. Differenzierung in der jeweiligen Gruppe.« (Zuber 2012, S. 140) Anschlusskommunikation erfüllt somit die Funktion der Integration von Individuen in Gemeinschaften, Gesellschaft und Kultur. Die Differenzierung von verschiedenen Formen der Anschlusskommunikation erfolgt über die Anzahl der Teilnehmer, die Zielsetzung sowie den Zeitpunkt, an dem sie stattfindet. Hinsichtlich der Teilnehmerzahl reichen die Formen vom wechselseitigen Gespräch zweier Personen bis hin zur Kommunikation innerhalb anonymer (Teil-)Öffenlichkeiten, sofern eine wechselseitige Kommunikation möglich ist. Hinsichtlich der Zielsetzung lassen sich vor allem zwei Formen unterscheiden: Einerseits kann Anschlusskommunikation eine individuelle, interpretierte Rekonstruktion eines medialen Inhalts sein, wenn der Medieninhalt den anderen Teilnehmern unbekannt ist. Andererseits kann sie die Form einer sozialen, ko-memorierenden Rekonstruktion annehmen, wenn der Medieninhalt den anderen Teilnehmern bekannt ist. Und schließlich kann man unterscheiden, ob Anschlusskommunikation während der Medienrezeption im Anschluss an einzelne Teile (primäre Thematisierung) oder nach Abschluss der Rezeption eines Werks (sekundäre Thematisierung) stattfindet. Primäre und sekundäre Thematisierung lassen sich auch als Aspekte der bisherigen Definitionen von ›Social Reading‹ finden, welche entweder eng auf die Möglichkeiten digitaler Texte1 oder weit auf den online stattfindenden Austausch über Texte (vgl. Pleimling 2012) bezogen sind. In Form primärer Thematisierung werden Texte bereits während des Lesens in soziale Interaktionsprozesse eingebunden. Die Anschlusskommunikation entspricht dabei etablierten Prozessen des gemeinsamen Lesens (›collaborative reading‹, ›coreading‹), wie sie bisher üblicherweise in Bildungs- und Erziehungseinrichtungen
1 Eine derart enge Definition findet sich beispielsweise im Social Reading-Projekt Open Bookmarks (http://www.openbookmarks.org/social-reading/).
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stattgefunden haben. Dabei werden Texte abschnittsweise gemeinsam gelesen, rezitiert, kommentiert, interpretiert oder markiert. In digitalen Netzwerken werden diese Formen in den digitalen Raum übertragen und transformiert: Die sozialen Interaktionsprozesse werden über Softwareanwendungen strukturiert, die mit den Texten direkt verknüpft sind. Es ist deshalb nicht mehr notwendig, für ein gemeinsames Lesen am gleichen Ort zu sein oder tatsächlich gleichzeitig zu lesen. Die sekundäre Thematisierung von Texten folgt den etablierten Mustern der persönlichen Diskussion zwischen einander bekannten Personen über gelesene Texte, die entweder physische Anwesenheit oder analoge Medien wie Brief oder Telefon erfordert. Je nach situativem Kontext sowie Art und Anzahl der Teilnehmer lässt sich Anschlusskommunikation fließend in den Dimensionen formell bis informell, oberflächlich bis tiefsinnig, kurz bis lang und synchron oder asynchron beschreiben. Texte werden so zum Gegenstand von Smalltalk, von Interpretationen und Kommentaren, von Diskussionen und Debatten oder von Rezensionen und Empfehlungen. Digitale Netzwerke transformieren diese Form der Kommunikation zu Texten innerhalb ihrer technisch bedingten Möglichkeiten: Der persönliche Smalltalk über Texte kann in Chats schriftsprachlich erfolgen, Gruppendiskussionen zu Texten in Foren stattfinden, Kommentare und Bewertungen können schriftlich über Websites oder Weblogs veröffentlicht werden und soziale Netzwerke können Texte als Schnittstelle für ihre Mitglieder nutzen.
4 Gemeinsames Lesen digitaler Texte Die Möglichkeiten primärer Thematisierung des Lesens von Texten in digitalen Netzwerken sind eng mit der Entwicklung digitaler Bücher und mobiler Lesegeräte verbunden. Digitale Textformen ermöglichen zum einen eine direkte kommunikative Bearbeitung, zum anderen die direkte Anzeige dieser Bearbeitungen bei einem anderen Leser des gleichen Texts. Mobile Lesegeräte wiederum machen es möglich, die Texte und Bearbeitungen in Applikationen einzubinden, über die Leser desselben Texts direkt miteinander verbunden werden: »The slate PC form factor allows users to sit around the same desk while providing them with a personal document view as well as instant updates of all mark-ups (e. g., annotations, bookmarks and highlights) made by other members of the group.« (Pearson u. a. 2012, S. 328 f.) Darüber hinaus verbinden sie gewohnte Lesesituationen mit digitalen Texten und deren Bearbeitung. Anschlusskommunikation erfolgt dabei über eine Ebene der Bearbeitung, die allen weiteren Lesern zugänglich ist2 und in der unterschiedliche Funktionen der
2 Neben der gruppenweiten Bearbeitungsebene wird in der Regel auch eine individuelle Bearbeitungsebene angeboten, die nur dem Leser selbst angezeigt wird, aber jederzeit mit der Gruppe geteilt werden kann.
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sozialen Interaktion realisiert werden können. Eine erste Möglichkeit sind einfache, flüchtige Anzeigewerkzeuge wie Pointer, mit denen Leser anderen Lesern in Echtzeit Hinweise auf Textstellen geben können. Lesefortschrittsanzeigen ermöglichen zudem eine nonverbale Koordination der Teile, zu denen Anschlusskommunikation stattfinden kann. Softwarebasierte Lesezeichen, Markierungen und Annotationen können zudem synchron zu allen vernetzten Texten und Lesern übertragen werden. In der Regel gibt es zu allen Textbearbeitungen auch Kommentierungsfunktionen. Anschlusskommunikation kann somit prinzipiell auf Abschnitts-, Satz- oder Wortebene stattfinden. Eine inhaltliche Einschränkung der Anschlusskommunikation durch die Leser lässt sich nicht feststellen: Markiert werden inhaltliche oder sprachliche Aspekte, kommuniziert werden Ideen und Interpretationen, Kommentare umfassen subjektive Wertungen oder objektive Sachverhalte usw. Durch die Vernetzung der Leser entstehen so nicht nur individuelle Protokolle des eigenen Leseverhaltens, sondern zudem Protokolle des Leseverhaltens anderer Leser desselben Texts. Die Applikationen bedingen gegenwärtig noch, dass alle Teilnehmer das gleiche Lesegerät und / oder das gleiche Dateiformat der Texte benutzen. Eine weitere Transformation im digitalen Raum betrifft die mögliche Reichweite des gemeinsamen Lesens, denn die Vernetzung von Lesern über Texte reicht von Kleingruppen weniger Leser über virtuelle Lesegruppen bis hin zu einer anonymen Gesamtleserschaft eines Texts, je nachdem, welchen Zugangsbeschränkungen Markierungen der Leser durch den Texte oder den Nutzer unterliegen. Gemeinsames Lesen digitaler Texte lässt sich deshalb nach intensiver Textarbeit in Kleingruppen und vereinfachter Textmarkierung in Großgruppen unterscheiden.
4.1 Individuelle Leseprozesse gemeinsamer Texte Auch unter primärer Thematisierung ist das Lesen an sich kein soziales Ereignis. Vielmehr wechseln sich Phasen des individuellen Lesens mit Phasen der Anschlusskommunikation über das Gelesene in schneller Folge ab, was einer Fragmentierung der individuellen Leseerfahrung entspricht. Die Fragmentierung erfolgt dabei entweder selbstbestimmt, wenn der Leser selbst zum gerade Gelesenen Anschlusskommunikation auslöst, z. B. in Form einer kommentierenden Frage zu einem Abschnitt, oder fremdbestimmt, wenn andere Leser Anschlusskommunikation, z. B. in Form einer in Echtzeit erscheinenden Markierung, auslösen und diese beim individuellen Leser im Text erscheint. Gleichzeitig verändern sich die Texte unter diesen Bedingungen, denn selbst neu erworbene Texte erhalten Eigenschaften, die im Analogen nur gebrauchten Texte zugeschrieben wurden: Digital vernetzte Texte enthalten Bearbeitungen anderer Leser, wie sie für ausgeliehene gedruckte Bücher typisch sind. Die Bearbeitungen verändern durch ihren Einfluss auf die Gestaltung des Texts und durch
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ihren Inhalt die Wahrnehmung des Texts und die damit verbundene Sinnkonstruktion durch den Leser. Damit werden digital vernetzte Texte zu dynamischen Texten, welche zu unterschiedlichen Lesezeiten andere Metatexte enthalten können. Der Leseprozess einzelner Leser des gleichen Texts unterscheidet sich somit unter Umständen erheblich, genauso wie der Leseprozess bei wiederholtem Lesen des gleichen Texts. Die Einbindung sozialer Interaktionsprozesse verändert auch Lesemotivationen, Leseweisen und Lesewirkungen der vernetzten Texte. »[I]t’s because the conversation involved […] has moved the book from being a solitary experience in my mind to a social one.«3 Durch die soziale Einbettung erweitert sich das Motivationsspek trum zum Lesen eines Texts, beispielsweise hinsichtlich der Aufregung, seine eigene Meinung mitteilen zu können, Reaktionen auf eigene Interpretationen zu bekommen, etwas gemeinsam zu tun oder durch andere Leser Informationen zu einem Text zu erhalten. Das Wissen um die Bedeutung sozialer Interaktion führt zudem zu veränderten Leseweisen. Leser bemühen sich in sozialen Kontexten stärker, Informationen zu behalten, komplexe Zusammenhänge zu verstehen oder gezielt nach Inhalten für Anschlusskommunikation zu suchen, um innerhalb der Gruppe mehr beitragen zu können. Unter den Bedingungen von Anschlusskommunikation ändern sich darüber hinaus die Wirkungen der Texte, da Sinnkonstruktionen nicht mehr individuell, sondern gemeinsam erarbeitet werden und unterschiedliche Stärken der teilnehmenden Leser einbeziehen können, z. B. verschiedene Wissensbestände, Sprachverständnis, Fähigkeiten der emotionalen Reflexion usw.: »Dieser Prozess ist von Zusammenarbeit geprägt, vom gemeinsamen Erarbeiten textueller Bedeutung, indem individuelle Meinungen, Beobachtungen und Gedanken verglichen und zueinander in Beziehung gesetzt werden.« (Novak 2007, S. 28)
4.2 Veränderungen des Lesens unter dem Einfluss primärer Anschlusskommunikation Die Transformationen des gemeinsamen Lesens durch digitale Netzwerke bergen unterschiedliche Chancen und Risiken. Im Vergleich zum gemeinsamen Lesen gedruckter Texte führt die digitale Vernetzung der einzelnen / individuellen Textbearbeitungen zu einer Reduktion der notwendigen Koordinations- und Kommunikationsprozesse: Wenn nur ›ein‹ Text bearbeitet wird, entfällt der Abgleich der Einzeltexte aller Leser. Es zeigt sich zudem, dass die gemeinsame Bearbeitung eines Texts in Echtzeit dazu führt, dass Annotationen und Kommentare sprachlich aneinander angeglichen werden (vgl. Nelson u. a. 2009), was zu einer effektiveren Kommuni
3 Blog-Eintrag zum gemeinsamen Lesen von Naomi Aldermann am 29.11.2008. In: Golden Notebook Project (http://thegoldennotebook.org/) [eingesehen am 24.06.2015].
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kation und zu einem besseren Verständnis der Leser untereinander führt. Annota tionen und Kommentare anderer Leser können darüber hinaus grundsätzlich das Verstehen von Texten vereinfachen, Texte durch Zusatzinformationen anreichern oder durch subjektive Interpretationen verbessern. Dies trifft insbesondere für komplexe Texte zu. Auf einer weiteren Ebene kann auch eine Verbesserung der Beziehung von Autoren und Lesern angenommen werden. Die in digitalen Netzwerken gesammelten Annotationen und Markierungen können dem Autor veranschaulichen, wie seine Texte gelesen werden, welche Teile besonderen Zuspruch oder Ablehnung erfahren oder wie seine Texte generell verstanden und interpretiert werden. Gleichzeitig erhält der Autor nach Abschluss des Schreibens im Netzwerk selbst eine Stimme und kann direkt mit seinen Lesern in Kontakt treten. Den skizzierten Chancen können mögliche Risiken des Lesens unter permanenter primärer Anschlusskommunikation gegenübergestellt werden. Zunächst entsprechen Markierungen und Annotationen einer Aufmerksamkeitsstörung des Lesers auf den Text, da er zwischen Text und Meta-Text wechseln muss. Für das Verstehen komplexer Langtexte sind kognitive Aufmerksamkeit und Konzentration für ein tiefer gehendes Verstehen jedoch notwendig. Eine Fragmentierung des Lesens durch Unterbrechungen führt beispielsweise zu einem Verlust an Orientierung im Text, welche nur durch erneutes Lesen und erhöhten kognitiven Aufwand wieder ausgeglichen werden kann. Die digital vernetzte primäre Anschlusskommunikation erfordert neue Strategien für diskontinuierliches Lesen und macht neue Lesekompetenzen notwendig. Lesestrategien unter dem Einfluss primärer Anschlusskommunikation sind dabei von der Textsorte abhängig, die für gemeinsame Leseprozesse unterschiedliche Potenziale besitzen: Informative Fach- und Sachtexte, die hochgradig strukturiert und in Teilabschnitte gegliedert sind, erscheinen für diese Form des Lesens besser geeignet als fiktionale Texte. Gleichzeitig ändern sich durch primäre Anschlusskommunikation die Gratifikationen, die Leser erhalten: Immersion, Involvement oder Eskapismus werden durch Unterbrechungen erschwert, Information erleichtert. Die Auflösung des individuellen Leseprozesses kann zudem zu einer wachsenden Bedeutung der sozialen Bewertung des eigenen Leseverhaltens und damit zu einem schwächeren individuellen Erleben des Texts führen. Primär führt dies dazu, dass die Sinnkonstruktionen anderer Leser gegenüber der eigenen einen höheren Stellenwert erhalten. Im schlimmsten Fall kann die permanente soziale Beobachtung des Lesens zum Abbruch des Lesens führen, wenn Leser sich ständig in ihrer Leseidentität einer sozialen Bewertung ausgesetzt fühlen, weil die eigenen Lesekompetenzen, Einstellungen und Interpretationen zu einem Status innerhalb der Lesegemeinschaft verdichtet werden. Dieser soziale Status führt zu einer möglichen Konkurrenzsituation zwischen Lesern um Selektionsmacht, welche Passagen diskutiert werden sollen, sowie um die Deutungshoheit bei Diskussionen und Interpretationen. In besonders kritischen Szenarien wird deshalb davon ausgegangen, dass die Transformationen sozialer Interaktion zum Lesen durch digitale Netzwerke zu
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sinkenden subjektiven Interpretationsspielräumen führen könnte, was eine Vereinheitlichung von Meinungen zu und Folgerungen aus Texten führen könnte. Diese soziale Überformung der Bedeutungskonstruktionen des Lesens wird dabei nicht nur negativ gesehen: Im Hinblick auf die idealistische Vorstellung einer durch digitale Netzwerke ermöglichten kollektiven Intelligenz wird angeführt, dass so Informationen qualitativ gefiltert und die Informationsflut, der sich Menschen heute ausgesetzt sehen, reduziert werden kann. Bisher ist hierfür aber kein Nachweis erbracht worden, auch weil in solchen Betrachtungen zu wenig berücksichtig wird, dass soziale Interaktionsprozesse zu medialen Inhalten gruppendynamischen Einflüssen unterliegen und durch Meinungsführer beeinflusst werden können (vgl. im Überblick Jäckel 2011, S. 125–157). Weitere Risiken entstehen vor allem durch die öffentliche Sichtbarkeit von Leseaktivitäten und den damit verbundenen Möglichkeiten der quantitativen Sammlung und Auswertung von Daten zum Verhalten der Leser: Die Anbieter digitaler Texte und mobiler Lesegeräte haben im Regelfall einen direkten Zugang zu den Spuren, die Leser in den Texten hinterlassen.4 Lesezeiten einzelner Texte, Seiten oder Abschnitte, Struktur des Vor- und Zurückblätterns, Anzahl und Orte von Markierungen, Zitation über soziale Netzwerke, Einbettung des Lesens in andere Handlungen mit dem Lesegerät usw. können so im Rahmen großer Stichproben über Algorithmen ausgewertet werden. Das Leseverhalten wird somit erstmals über Rezensionen und Verkaufszahlen hinaus während des Lesens empirisch messbar. Die Daten könnten von Unternehmen dazu genutzt werden, ökonomische Erfolgswahrscheinlichkeiten besser einzuschätzen und Texte anzupassen, z. B. hinsichtlich der Länge, der Struktur oder der Einbindung interaktiver und multimedialer Elemente. Der damit verbundenen Stärkung der Absatzorientierung steht eine Schwächung der individuellen kulturellen Textproduktion gegenüber: Der Literaturbetrieb umfasst auch kreative und individuelle Publikationen, die weniger marktorientiert und stattdessen eher auf die Vermittlung von Kultur ausgelegt sind. Die Erfassung mikroskopischer Daten zur Berechnung maximalen Markterfolgs könnten zu einer weiteren Reduktion unabhängiger Texte, einer Vereinheitlichung von Lesestoffen im Hinblick auf ertragreiche Käufergruppen und einer Entmachtung des Autors im Hinblick auf die Gestaltung seiner eigenen Texte führen.
4 Beim Erwerb einer Applikation oder eines E-Readers willigt man in der Regel automatisch ein, dass die Nutzungsdaten erhoben und vom Anbieter ausgewertet werden dürfen.
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5 Lesezentrierte Gemeinschaften in digitalen Netzwerken Die sekundäre Thematisierung gelesener Texte im digitalen Raum ist eng an die Formen sozialer Netzwerke geknüpft.5 Gemeinschaften entstehen in diesen Netzwerken aus der strukturierten Nutzung interpersonaler Kommunikation: »[Diese] bringt nicht nur dyadische Beziehungen hervor, die untereinander teilweise zu sozialen Netzwerken verknüpft sind, sondern es entstehen auch größere, binnendifferenzierte und von der Umwelt abgegrenzte soziale Gebilde mit gemeinsamem Kommunikations- und Handlungsbezug.« (Döring 2003, S. 489) Gemeinschaften in digitalen Netzwerken manifestieren sich gegenwärtig hauptsächlich über Plattformen6, welche den Kommunikationsraum der Gemeinschaft technisch strukturieren, was auch als ›platformed sociality‹ (vgl. Dijck 2013, S. 4 f.) bezeichnet wird. Gemeinschaften aus plattformspezifischer interpersonaler Kommunikation entstehen dann, wenn die Teilnehmer über stabile (teil-)öffentliche Profile für andere Teilnehmer in ihren Beziehungen zu anderen Teilnehmern sichtbar sind. Übergeordnet können zwei grundlegende Gemeinschaftsformen differenziert werden: Erstens existieren personenzentrierte Gemeinschaften (›common bound groups‹), die Gemeinschaften als soziale Beziehungsnetzwerke von Personen konstruieren. Aufgrund von Reichweiteneffekten nutzen Personen meist nur eine personenzentrierte Gemeinschaft, diese aber mit hoher Frequenz. Die sekundäre Thematisierung des Lesens findet dagegen hauptsächlich in themenzentrierten Gemeinschaften (›common identity groups‹) statt, die unregelmäßiger, dafür aber bewusst für einen längeren Zeitraum und am Stück genutzt werden (vgl. Joinson 2008, S. 1035). Im Mittelpunkt der sozialen Interaktion solcher Gemeinschaften stehen gemeinsame Ziele, Tätigkeiten, Themen oder Interessen der Nutzer. Sie sprechen somit eine spezifische Teilidentität der Nutzer an. Deswegen können Personen Mitglieder mehrerer themenzentrierter Gemeinschaften sein: »As of this writing, there are hundreds of SNSs [Social Network Sites], with various technological affordances, supporting a wide range of interests and practices. While their key technological features are fairly consistent, the cultures that emerge around SNSs are varied.« (Boyd / Ellison 2007, S. 210) Themenzentrierte Gemeinschaften vernetzen viele einander nicht oder nur teilweise
5 Neben der Anschlusskommunikation zum Lesen in sozialen Netzwerken kann diese auch im Rahmen nutzergenerierter Inhalte, z. B. in Weblogs, Microblogs, Wikis und Foren, stattfinden. Vgl. hierzu Kap. 3.3.4 Nutzergenerierte Texte in digitalen Netzwerken in diesem Band. 6 »Technologically speaking, platforms are the providers of software, (sometimes) hardware, and services that help code social activities into a computational architecture; they process (meta)data through algorithms and formatted protocols before presenting their interpreted logic in the form of user-friendly interfaces with default settings that reflect the platform owner’s strategic choices.« (Dijck 2013, S. 28)
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bekannte Nutzer über lose persönliche Bindungen, die nur auf dem gemeinsamen Interesse beruhen. Lesegemeinschaften in digitalen Netzwerken sind somit Gruppen von Lesern, welche mehr oder weniger regelmäßig an Anschlusskommunikation zu Texten teilnehmen. Diese Anschlusskommunikation läuft aufgrund der technischen Strukturierung der Plattformen weitgehend standardisiert ab. Die Möglichkeiten lassen sich dabei drei Ebenen zuordnen, die fließend ineinander übergehen können: Erstens die Inszenierung der eigenen Leseidentität, zweitens die einseitige Kommentierung gelesener Texte und drittens die wechselseitige Kommunikation zwischen Lesern (vgl. Busemann u. a. 2012, S. 260). Die Inszenierung der eigenen Leseidentität erfolgt über das Profil, welches zunächst standardisierte Informationen wie Name, Alter, Ort, Interessen sowie ein Foto oder einen Avatar des Lesers enthält. Darüber hinaus wird die Einbindung des Lesers in die Gemeinschaft über Vernetzungen mit anderen Lesern oder Lesegruppen angezeigt. Das Profil beinhaltet meistens ein virtuelles Bücherregal, das visualisiert, welche Texte der Leser gelesen hat oder noch lesen möchte. Hier kann man oft auch auf Beiträge der Leser zu Texten zugreifen, z. B. Anmerkungen und Kommentare zu Textstellen, geteilte Textabschnitte oder Rezensionen und Bewertungen. Das virtuelle Bücherregal repräsentiert über die eingestellten Texte Einstellungen, Werte und Vorlieben hinsichtlich des Lesens. Die gleiche Funktion erfüllen ›Pinnwände‹, auf denen die Nutzer das eigene Leseverhalten dokumentieren (können), beispielsweise indem sie Lieblingszitate aus Texten, bevorzugte Genres, aktuelle Leseaktivitäten posten usw. Die Identität als Mitglied der Lesegemeinschaft wird zudem durch technisch oder interpersonal zugewiesene Statusinformationen (Punkte, Ränge) dargestellt, die einen Rückschluss auf das Aktivitätsniveau des Lesers auf der Plattform geben. Die zweite Ebene sozialer Interaktion entsteht durch das Veröffentlichen von Informationen zu Texten, die gängigsten Formen sind Rezensionen, Bewertungen oder Empfehlungen, die entweder über das Profil selbst oder in eigens dafür vorgesehenen Bereichen der Plattform zugänglich sind. Dies kann je nach Plattform auch genutzt werden, um Zusatzinformationen zu verlinken oder gelesene Texte fortzuschreiben, z. B. in Form von ›Fan-Fiction‹. Veröffentlichte Informationen können Ausgangspunkt für wechselseitige Anschlusskommunikation werden, wenn diese durch andere Leser kommentiert werden. Außerdem können Diskussionsräume eröffnet werden, in denen sich Leser über Texte austauschen sowie Annotation oder Zitate teilen können. Hierzu kann auch die primäre Thematisierung als Ausgangspunkt genutzt werden, wenn Texte noch nicht zu Ende gelesen wurden. Zu diesem Zweck können sich Leser zu öffentlich oder eingeschränkt zugänglichen Lesegruppen organisieren, in denen ein synchroner oder asynchroner Austausch zu den Texten stattfindet.
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5.1 Motivationen und Erwartungen der Mitglieder Die Teilnahme an Lesegemeinschaften in digitalen Netzwerken erfordert die Aktivität der Nutzer, die ihr Leseerleben dokumentieren und das Leseerleben anderer zum Gegenstand von Kommunikation machen. Motivationen lassen sich dabei über zwei Ebenen differenzieren. Auf der sachlich-instrumentellen Ebene steht die Information zu Texten im Vordergrund. Informationen anderer Leser zu Texten erleichtern zunächst die individuelle Lektüreauswahl, da Unsicherheiten bezüglich der Qualität eines Texts durch Bewertungen und Empfehlungen gleichgesinnter Leser abgebaut werden können. Weiterhin erweitern Informationen anderer Leser das Verstehen und Interpretieren dieser Texte und damit verbundene Eindrücke, Erfahrungen und Emotionen. Lesegemeinschaften verhelfen Lesern damit zu einer Orientierung, nicht nur informativ über das Textangebot, sondern vor allem im Sinne sozial erwünschter Lesestoffe und deren Interpretationen.7 Die Kommunikation zu bzw. das Teilen von Textwirkungen und Leseerfahrungen können so die kognitive und emotionale Verarbeitung unterstützen. Auf dieser sozio-emotionalen Ebene entstehen Motivationen der Teilnahme direkt aus der Vernetzung bzw. den sozialen Beziehungen mit anderen Lesern. Im Zentrum der damit verbundenen Gratifikationen stehen die Darstellung und Bestätigung der eigenen Leseidentität und des eigenen Leseverhaltens sowie die soziale Interaktion und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft selbst (vgl. Kuhn 2009, S. 188–190). Gelesene Texte sowie zugehörige Anschlusskommunikationen werden in diesem Zusammenhang Symbole des eigenen Status innerhalb der Gemeinschaft, gleichzeitig kann die inszenierte Leseidentität auf ihre soziale Passung hin überprüft werden.8 Positive Gratifikationen und Bindungsmomente entstehen vor allem dann, wenn Leser Informationen und Leseerfahrungen teilen, anderen Lesern Feedback geben und selbst Beiträge einstellen, um den Gesamtinhalt und damit die Qualität der gemeinschaftlich genutzten Plattform zu erhöhen, und die Aktivitäten von den anderen Lesern akzeptiert und positiv bewertet werden. Die sozialen Gratifikationen der Gemeinschaft können für Individuen dabei wichtiger als das Lesen selbst werden, was sich insbesondere zeigt, wenn Mitglieder in Diskussionen um Texte integriert sind, die sie gar nicht gelesen haben. Auch die interaktive Nutzung der Plattform selbst ermöglicht Gratifikationen und kann allein schon Reize zur Teilnahme bieten. Hier spielen mediale Merkmale eine Rolle, so kann man beispielsweise Informationen strukturieren und visualisieren, an Gewinnspielen teilnehmen, seinen Status durch technische Aktivitäten erhöhen oder
7 Soziale Erwünschtheit bezieht sich in dieser Perspektive nicht ausschließlich auf eine kulturelle oder soziale Wertung, sondern auch darauf, was der Großteil der Leser ungeachtet einer ›literarischen Qualität‹ als lesenswert erachtet. 8 Vgl. hierzu Kap. 4.2.2 Lesen als Identitätskonstruktion und soziale Integration in diesem Band.
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einfach nur stöbern. Die interaktive Nutzung bietet dann vor allem Unterhaltung, Entspannung und Zeitvertreib.
5.2 Leseidentität unter dem Einfluss digitaler Lesegemeinschaften Die Teilnahme an Lesegemeinschaften in digitalen Netzwerken hat für Leser Konsequenzen auf mehreren Ebenen.9 Zunächst verändern sich die individuellen Ziele von Lesern durch die Verknüpfung mit den Zielen, Werten und Erwartungen der Lesegemeinschaft. Dies betrifft zunächst die Lektüreauswahl. Wenn individuelle Lese identitäten in Gruppenidentitäten eingeordnet werden, führt dies zu einer Anpassung der individuellen Identität, weil diese zum Teil die Lesegemeinschaft repräsentieren soll bzw. muss, um Anerkennung als Mitglied der Gemeinschaft zu erhalten. Dies kann dazu führen, dass bestimmte Texte gelesen werden, die ohne den Einfluss der Gemeinschaft nicht gelesen worden wären, oder dass bestimmte Texte nicht mehr gelesen werden, weil diese in der Gemeinschaft negativ bewertet werden. Die Einbindung in Lesegemeinschaften erhöht somit einerseits die Motivation im Hinblick auf bestimmte Leseziele und schränkt andererseits individuelle Leseziele ein, insbesondere wenn der Fortschritt öffentlich dokumentiert wird. Gemeinschaftliche Ziele werden dabei oft höher bewertet als individuelle Vorlieben: »The sheer popularity of these sites suggest that many people desire a social context for their personal goal setting […]« (Burke / Settles 2011, S. 1). In diesem Kontext ändern sich auch Leseweisen, da bereits während des Lesens mögliche Anschlusskommunikationen mitgedacht werden. Das kann dazu führen, dass nach besonders diskussionswürdigen, unlogischen, erwähnenswerten oder ästhetisch wertvollen Stellen gesucht wird und dies andere Ziele wie Informationssuche oder Involvement überlagert. Gleichzeitig werden individuelle Interpretationen durch soziale Sinnkonstruktionen während des Lesens beeinflusst und es verändern sich Bewertungen der Textbestandteile, z. B. ob und inwiefern Charaktere und ihre Handlungen positiv oder negativ bewertet werden. Gleichzeitig kann aber auch ein kritischerer Umgang mit Texten angenommen werden, da nur exakte Informationen und schlüssige Interpretationen zu einer akzeptierten und positiv bewerteten Teilnahme an Anschlusskommunikation führen kann. Mit der dauerhaften Zugehörigkeit zu Lesegemeinschaften verstärken sich die genannten Effekte und die Bindung an die Gemeinschaft wächst durch die investierte Zeit und Mühe, die Leser aufgebracht haben. Bindungen in themenzentrierten Gemeinschaften entstehen, »wenn virtuelle Gemeinschaften langfristig eine Funktion für ihre Mitglieder haben, deren Bedürfnisse nach Selbstwert, Anschluss, Differenzie-
9 Vgl. allgemein für den Einfluss von vernetzten medialen Gemeinschaften auf die Medienrezeption Kuhn 2009.
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rung und Sicherheit befriedigen, sowie wenn von den Usern eine Passung zwischen ihnen und der Gemeinschaft wahrgenommen wird.« (Sassenberg / Scholl 2011, S. 60) Lesegemeinschaften in digitalen Netzwerken werden dann zu einer stabilen, identitätsstiftenden Ressource, welche über habitualisierte Handlungsmuster des Lesens und der damit verbundenen Anschlusskommunikation in die Lebenswelt integriert wird. Die sozialen Beziehungen der Lesegemeinschaft werden zu extrinsischen Motivationen zur weiteren Teilnahme transformiert, weil mit ihnen ein erworbener Status in der Gemeinschaft verbunden wird, den man nicht verlieren möchte. Dies kann als Pflicht zur weiteren Mitgliedschaft und zur ständigen Aktivität in der Gemeinschaft wahrgenommen werden. Veränderungen von Lesezielen, Leseweisen und Leseverhalten basieren dabei auch auf den skizzierten Formen und Möglichkeiten der Lesegemeinschaften in digitalen Netzwerken, die im Rahmen technischer, computerbasierter und weitgehend standardisierter Plattformen realisiert werden. Dies führt zu einer strukturellen Vereinheitlichung der Leseridentitäten hinsichtlich ihrer Profile und Anschlusskommunikationsmöglichkeiten, was zu einer hohen Manipulier- und Kontrollierbarkeit der Leseidentität führt. Personenbezogene Kontexte über das Leseverhalten hinaus, die aber für das Lesen eine Rolle spielen, z. B. persönliche und kulturelle Einstellungen, Sozialisation, Lebenswelt usw., sind anderen Lesern nicht direkt zugänglich und können zu Fehlinterpretationen der Anschlusskommunikation führen. Die Kommunikation über Texte erfährt somit eine starke Reduktion an Komplexität und tiefergehender Interpretation. Stattdessen muss der Leser selbst die eigene Leseidentität reflektieren und über wenige Merkmale inszenieren. Die Gestaltung erfolgt dabei überwiegend so, dass sich Profile der Gruppenidentität anpassen (vgl. Schwämmlein 2012, S. 21). Ob diese Gemeinschaften somit tatsächlich zu einer neuen Sozialität von Lesern führen, kann zumindest hinterfragt werden: »Therefore, the term ›connective media‹ would be preferable over ›social media‹. What is claimed to be ›social‹ is in fact the result of human input shaped by computed output and vica versa […]« (Dijck 2013, S. 13 f.). Bedeutsam erscheinen solche Überlegungen insbesondere dann, wenn man Leseidentitäten als Teil der Lesekultur betrachtet. Wenn die Logik von Software Lese identität sowie soziale Beziehungen und Netzwerke mit Bezug zum Lesen strukturiert, verändert sich die Einbindung des Lesens und von Texten in die Lebenswelt. So könnte eine Schlussfolgerung sein, dass sich Anschlusskommunikation an das Lesen mit digitalen Netzwerken über bisherige Formen, die vor allem in bildungsund einkommensstarken Milieus verortet waren, über alle sozialen Milieus hin ausbreiten kann. Die Zuschreibungen an das Internet beziehen sich auf eine Form der Gleichheit der Nutzer, die unabhängig von soziodemographischen Indikatoren eine Gemeinschaft bilden. Die mit den Möglichkeiten des Internets verbundene neue Vorstellung einer Öffentlichkeit für das Individuum, die nicht durch Organisationen und Institutionen kontrolliert wird, führt dazu, dass Lesen als Handlung und Identitätsbaustein öffentlich sichtbarer und ihm deswegen eine höhere soziale Bedeutung in
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der Öffentlichkeit beigemessen wird: »Plattformen […] tragen dazu bei, das Lesen zu einem aktiven, sozialen Zeitvertreib umzugestalten und bewirken zudem, dass LeserInnen nun selbstbewusster auftreten und ihre Rolle in der Öffentlichkeit neu wahrnehmen.« (Novak 2007, S. 13)
6 Anschlusskommunikation und Literaturvermittlung Die beschriebenen Möglichkeiten und Folgen von Anschlusskommunikation in digitalen Netzwerken haben Auswirkungen auf verschiedene Aspekte der Literaturvermittlung, die an dieser Stelle kurz, aber nicht abschließend skizziert werden sollen. Mit digitaler Vernetzung werden zunächst die Beziehungen zwischen Autoren, Verlagen und Lesern transformiert, weil diese direkt miteinander in Kontakt treten können. Für Autoren bedeutet dies vor allem, dass sie mehr Feedback erhalten und ihre Texte aktiv mit den Lesern diskutieren können. Die mit dem Buchdruck verbundene räumliche und zeitliche Entkoppelung des Schreibens und Lesens wird somit zum Teil wieder auf eine bidirektionale Ebene zwischen Schreiber und Leser zurückgeführt. Die vernetzten Leser bilden dabei eine neue Form der Literaturkritik, die über Selektion und Kommentierung der Texte Einfluss auf das Lese- und Kaufverhalten anderer Mitglieder haben kann. Auch Verlage erhalten über digitale Netzwerke einen direkten Kontakt zu ihren Kunden, der nicht mehr über den verbreitenden Buchhandel vermittelt werden muss. Insbesondere Lesegemeinschaften stellen einen direkten Zugang zu einer definierbaren Zielgruppe mit bekannten Eigenschaften dar, der im Marketing genutzt kann und eine stärkere Wahrnehmung der eigenen Markenidentität sowie verbesserte Umsatzzahlen verspricht. Dieses Potenzial scheint weitgehend erkannt, denn die meisten Lesegemeinschaften werden gegenwärtig direkt oder indirekt, dem Leser bewusst oder unbewusst über den Buchhandel organisiert. Lesegemeinschaften in digitalen Netzwerken sind in diesen Zusammenhängen Teil ausgefeilter Geschäftsmodelle von Intermediären zwischen Anbietern und Nachfragern von Texten: Die Lesegemeinschaften werden zwar als kostenlose Services angeboten, ermöglichen aber verschiedene Formen der Anzeigenwerbung. Verlage können Lesegemeinschaften darüber hinaus gezielt nutzen, um Aufmerksamkeit von Lesern direkt auf eigene Titel oder die eigene Marke zu lenken, oder indirekt virale Marketingstrategien umzusetzen. Gewinnbringend ist dabei die Möglichkeit, positive Rezensionen und Bewertungen außerhalb der Plattform barrierefrei übernehmen oder verlinken zu können, sowie eigene Texte direkt mit Transaktionsangeboten, beispielsweise einem Online-Buchhändler, oder Distributionsangeboten, beispielsweise einem E-Book-Download-Portal, verknüpfen zu können. Durch die Verbindung von individuellen Leserstimmen in einem quasi-öffentlichen Kommunikationsraum entsteht so ein neuer Einflussfak
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tor auf Kauf- und Lesegewohnheiten und eine neue Verknüpfung zwischen Lesen, Anschlusskommunikation, Handel und Meinungsbildung.
7 Tendenzen und Desiderate Anschlusskommunikation zum Lesen in digitalen Netzwerken ist ein aktuelles Phänomen, das bislang nahezu keine wissenschaftliche Reflexion erfahren hat. Das liegt zum Teil daran, dass sich die zugehörigen Modelle und Formen noch im experimentellen Stadium befinden: Zu jeder Buchmesse ist von neuen ›innovativen‹ Geschäftsmodellen und Zukunftsvisionen einer ›Sozialisierung‹ des Lesens im Internet zu hören. Dabei ist weder endgültig geklärt, welche Leser und welches Leseverhalten mit digitalen Formen der Anschlusskommunikation tatsächlich unterstützt werden, noch welche Folgen auf verschiedene Aspekte des Lesens wie Meinungsbildung, Textkonzeption der Autoren, Leseunterricht usw. zu erwarten sind. Darüber hinaus fehlt bislang eine Untersuchung auf breiter empirischer Basis, welche Formen Anschlusskommunikation hauptsächlich annimmt: In welchem Verhältnis stehen oberflächliche Plauderei und tiefgreifende Diskussion zu Texten? Sind Diskussionen strukturiert und zielführend oder chaotisch und auf Nebensächlichkeiten bezogen? Wie wirken sich schriftsprachliche Kommunikationsmittel auf die Diskussionskultur aus? Dabei spielen auch größere Fragestellungen zu Datenschutz, Bildung und Urheberrecht eine Rolle, die im Zusammenhang mit digitaler Vernetzung bislang unzureichend erforscht und in der Praxis nicht gelöst sind. Forschungsdesiderate hängen bei diesem relativ neuen Themengebiet mit ganz unterschiedlichen Problemfeldern zusammen, die in Bezug zum digitalen Lesen entstehen. Zunächst führen wechselnde Konzepte und neue Modelle für Anschlusskommunikation dazu, dass bisher kein standardisiertes Repertoire an Funktionen und Formaten existiert, auf das man zurückgreifen kann. Stattdessen sind insbesondere Modelle primärer Anschlusskommunikation bislang nicht standardisiert, sondern Insellösungen einzelner Anbieter, die untereinander nicht kompatibel sind. Problematisch ist auch, dass bis heute keine kritische Masse an Lesern erreicht wird, die Formen der primären und sekundären Anschlusskommunikation nutzen, und somit keine Grundgesamtheit dieses speziellen Lesertypus definiert werden kann. Hinderlich wirkt sich zudem aus, dass Anschlusskommunikation in digitalen Netzwerken etablierte Organisationsformen des Schreibens und Veröffentlichens von Texten verändert. Dies betrifft auf der einen Seite die Autoren, die sich mit einer verstärkten Stimme der Leser auseinandersetzen müssen, als auch die Verlage, welche im Rahmen ökonomischer Interessen einen neuen Zugang zum Kunden sehen und deshalb ein starkes Interesse an der Kontrolle von Lesegemeinschaften und sozialen Leseinstrumenten besitzen. Im Vordergrund steht dabei eine Debatte, welche unter der Phrase ›Your E-Book is Reading You‹ Eingang in die öffentliche Diskussion gefunden
2.3.3 Lesen in digitalen Netzwerken
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hat. Wenn Verlage Daten zu Büchern sammeln (Was wird wie lange gelesen? Welche Abschnitte werden übersprungen? Welche Begriffe werden gesucht? Was wird annotiert und markiert?), ergeben sich daraus theoretisch Möglichkeiten, Prozesse noch stärker als bisher an ökonomischen Zielsetzungen auszurichten: Über Mehrheiten generierte Vorstellungen der Buchkäufer führen dann nicht nur zu gezielter Werbung und Ansprache der Leser, sondern könnten darüber hinaus dazu genutzt werden, die Kreativität von Autoren weiter einzuschränken, indem diese auf Basis der Daten noch stärker angehalten werden, ›konsumierbarer‹ zu schreiben. Die besonders für den Buchbereich bislang beständige Dualität von Bestsellern und Nischentiteln im Sinne kultureller Vielfalt könnte so in ihrer Balance verändert werden. Eingereichte Manuskripte könnten aufgrund der Daten bewertet und gegebenenfalls abgelehnt werden, weil sie nicht ›massentauglich‹ im Sinne der erhobenen Daten sind. Für Gesellschaft und Kultur könnten Entwicklungen digital vernetzter Anschlusskommunikation Risiken mit sich bringen, die auch für andere soziale und kulturelle Bereiche in Verbindung mit digitalen Kommunikationskulturen beobachtet werden: Statt einer in den Anfängen des Internets prognostizierten Vielfalt an individuellen Identitäten und Meinungen, zeichnet sich gegenwärtig vor allem eine Vereinheit lichung ab. Im Rahmen der Meinungsbildung beispielsweise zeigt sich ein erhöhter sozialer Konformitätsdruck in digitalen Netzwerken, welcher zu einer Vereinheit lichung von Bewertungen medialer Inhalte und damit zu einer populären Meinung führen kann. Dabei ist besonders relevant, wie sich Meinungsführer positionieren. Auf der Metaebene der Forschung über das Lesen schließlich bieten die digitalen Formen der Anschlusskommunikation ein brauchbares Instrument der Lese- und Leserforschung. Die Daten über Leseprozesse und Leser erlauben einen empirischen Einblick in den Leseprozess, der bisher nicht möglich war, gleichzeitig können dauerhafte Leserprofile als Lesebiographien interpretiert werden und Aufschluss über Kontinuitäten und Brüche im Leseverhalten über größere Zeitspannen des Lebens hinweg geben. Die methodische Erhebung, Auswertung und Interpretation der Daten ist bislang aber nicht hinreichend ausgearbeitet worden. Wie in vielen Bereichen verändern die Entwicklungen digitaler Vernetzung auch den Bereich des Lesens in vielen seiner Aspekte. Ob damit aber wirklich eine neue Sozialisierung des Lesens einhergeht, bleibt bisher unbeantwortet.
8 Literatur Boesken, Gesine: Literarisches Handeln im Internet. Schreib- und Leseräume auf Literaturplattformen. Konstanz 2010. Boyd, Danah / Ellison, Nicole B.: Social network sites. Definition, history, and scholarship. In: Journal of computer mediated communication 13 (2007), S. 210–230.
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2.3.4 Geschlecht und Lesen Zusammenfassung: Das Thema Geschlecht und Lesen hat infolge der Leseleistungsstudien wie PISA eine breite Aufmerksamkeit erfahren. Jungen gelten seitdem in der Öffentlichkeit als Risikogruppe. Trotz aller Differenzrhetorik gibt es jedoch wichtige Gemeinsamkeiten beider Geschlechter beim Lesen. In diesem Kapitel werden prototypisch drei Bereiche des Lesens hinsichtlich der Geschlechterspezifika in den Blick genommen: habituelle Lesemotivation, thematische Lektürepräferenzen und literarische Rezeptionsweisen. Die Analysen zeigen, dass mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede bestehen und Forschungsbedarf herrscht. Abstract: Wider attention was first drawn to the issue of gender and reading as a result of large-scale reading assessments such as the PISA studies. Since the first PISA study, boys have been considered as a risk group. Despite the rhetoric of gender differences, there still remain important similarities between males and females in the domain of reading. This chapter will analyze three prototypical topics regarding possible sex- and gender-related effects: habitual reading motivation, thematic preferences of reading materials and modes of literary reception. The analyses show that there are more similarities than differences and that further research is needed.
Inhaltsübersicht 1 Geschlecht und Lesen: zwei Sozialisationsprodukte — 446 2 Lesemotivation und Geschlecht — 448 2.1 Lesemotivation: ein multidimensionales Konstrukt — 448 2.2 Geschlechterspezifika in der habituellen in- und extrinsischen Lesemotivation — 449 3 Leseverhalten der Geschlechter: Thematische Präferenzen bei der Lektüre — 452 3.1 Buchgenrepräferenzen in der Schulzeit — 453 3.2 Buchgenre- und Zeitschriftenpräferenzen bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen — 455 3.3 Buchlesepräferenzen und Geschlecht: Ausdruck unterschiedlich gelagerter Interessen — 456 4 Funktionen und Rezeptionsweisen von literarischen Texten: allgemeine Befunde und unklare Geschlechterspezifika — 457 4.1 Zum (Mehr-)Wert des fiktionalen Lesens — 457 4.2 Identifikation, Empathie, literarisches Geschlecht und Lesen: ein komplexes Feld — 459 5 Fazit: Geschlecht und Lesen – noch viel Forschungsbedarf — 461 5.1 Die Befunde im Überblick — 461 5.2 Ausblick: Forschungsperspektiven — 463 6 Literatur — 464
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1 Geschlecht und Lesen: zwei Sozialisationsprodukte Das Thema Geschlecht und Lesen hat spätestens mit der ersten PISA-Studie aus dem Jahr 2000 in einer breiteren Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erfahren, denn die Jungen in allen teilnehmenden Staaten hatten damals und haben nach wie vor im Leseleistungstest schlechtere Werte als die Mädchen. Dieses Phänomen geschlechtsspezifischer Leseleistungen ist freilich ein historisch relativ junges Phänomen, das insbesondere in den bildungspolitisch einflussreichen PISA-Studien anzutreffen ist (vgl. Philipp 2011a). Damit stellt sich einerseits die Frage nach dem Ausmaß der Differenz der Geschlechter beim Lesen sowie andererseits die Frage nach den Ursachen, zumal die Fähigkeit, Texte zu decodieren und ihren Sinn unter Zuhilfenahme von Vorwissensbeständen aktiv zu konstruieren, nicht angeboren ist. Sie ist vielmehr das Ergebnis der Lesesozialisation, also all jener sozialen und individuellen Prozesse, die Motivation, Verhalten und Kompetenz in der Domäne Lesen beeinflussen (vgl. Philipp 2011b). Von diesem Punkt ist es nicht weit zum Thema Geschlecht, das ebenso wenig wie das Lesen ein rein biologisch determiniertes Merkmal ist. Zwar werden Menschen mit einem mehr oder minder eindeutig feststellbarem biologischen Geschlecht (oftmals in Anlehnung an den angelsächsischen Diskurs ›Sex‹ genannt) geboren. Doch welche biologischen Merkmale eine Person hinsichtlich ihrer primären und sekundären Geschlechtsmerkmale hat, sagt zunächst einmal recht wenig darüber aus, ob sich jemand männlich oder weiblich kleidet, bewegt, benimmt, als Junge / Mädchen bzw. Mann / Frau wahrgenommen, akzeptiert oder unterdrückt wird. Die einflussreiche Gender-Forschung hat eindrucksvoll gezeigt, dass Geschlecht keine biologische Determinante ist, sondern ebenfalls das ›Ergebnis‹ mehr oder minder subtil ablaufender Sozialisationsprozesse inklusive der Ausbildung einer Geschlechtsidentität. In besagten Sozialisationsprozessen werden gegenwärtig kulturell dominierende Vorstellungen darüber, was als männlich oder weiblich gilt, soziogenetisch ähnlich dem Erwerb eines Habitus scheinbar unhinterfragt vererbt (vgl. Faulstich-Wieland 2008; deshalb wird es auch als ›Gender‹ bezeichnet, mithin als soziales Geschlecht). Die Opposition von Junge / Mann und Mädchen / Frau bzw. – besser: – Männlichkeit und Weiblichkeit ist damit eine kulturell überformte, mit Wertungen verbundene und historisch variable Kollektivvorstellung. Gleichzeitig handelt es sich in der gegenwärtigen Phase mit geschlechtsegalitären Auffassungen um eine zu überwindende sozial konstruierte Norm. Die PISA-Leistungsvorsprünge der Mädchen in der Lesekompetenz (hier: SexDifferenzen) sind gegenwärtig ein Problem. Das hat mit der prävalenten Stellung des Lesens als Schlüsselkompetenz zu tun, aber auch mit einem Schwenk in der Bildungsforschung, in dem Jungen als wiederentdeckte Gruppe im Sinne eines »boy turn« (Weaver-Hightower 2003) bzw. als potenzielle »neue« Bildungsverlierer (Diefen-
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bach 2010) betrachtet werden, womit unweigerlich eine Gender-Perspektive Einzug hält, weil die Geschlechtszugehörigkeit nunmehr mit sozialen Nachteilen einherzugehen droht. Die Gender-Perspektive ist in der Leseforschung insgesamt unterbelichtet und methodisch nur selten adäquat umgesetzt worden – was auch mit der besonderen Komplexität des Konstrukts Gender zu tun hat, das man anders als das biologische Geschlecht nicht forschungsökonomisch mit Fragen wie ›Bist du ein Mädchen / ein Junge?‹ erfassen kann. Die Folge ist, dass in der Leseforschung das Geschlecht im Sinne des biologischen Geschlechts bisher faktisch dominant in den Blick geraten ist. Hier wird Geschlecht häufig als unveränderliches bzw. als unabhängiges Merkmal von Personen modelliert, was aus Sicht der Gender-Forschung aber wiederum ausblendet, dass Geschlecht im Sinne des Genders alles andere als natürlich oder unbeeinflussbar ist. Doch selbst wenn man sich – zugegeben notgedrungen – auf das biologische Geschlecht und die Leseforschung dazu konzentriert, kommt man nicht umhin, auch hier Probleme zu erkennen. Eines besteht darin, dass gerade im öffentlichen Diskurs, zum Teil aber auch in der Wissenschaft dichotomisierend von ›den Jungen‹ und ›den Mädchen‹ bzw. ›den Männern‹ und ›den Frauen‹ die Rede ist, als handele es sich um zwei völlig verschiedene Gruppen. Eine solche sprachliche und im Kern auch inhaltliche Homogenisierung verkennt, dass z. B. lesesozialisatorisch gesehen weitere Merkmale (meist jene der Familie wie sozioökonomischer Status oder Migrationshintergrund) von entscheidender und zum Teil entscheidenderer Bedeutung sind (vgl. Philipp 2011b). Anders gesagt: Das Geschlecht ist nur ein Merkmal von Personen, aber es ist nicht das alleinig wichtige (vgl. Hyde 2005 für einen metaanalytischen Überblick). Ein weiteres Risiko bei der Dichotomisierung besteht darin, dass Differenzen viel stärker gewichtet werden, als dies nötig und angemessen zu sein scheint. Nur allzu schnell wirken dann nämlich nolens volens Jungen als im Lesen defizitäre und hilfsbedürftige Gruppe – und zwar unabhängig davon, ob sie aus sozial prekären Schichten stammen oder aus der bürgerlichen Mitte und ein Privatinternat besuchen. Ganz so einfach sind die Zusammenhänge und Befundlagen also nicht, und diesen Umstand will dieses Kapitel gezielt aufnehmen. Es ist Ziel, stellvertretend für viele Themenbereiche einen genauen Blick auf drei Bereiche des Lesens zu werfen und dabei die Befunde der internationalen Forschung einfließen zu lassen. Diese Bereiche sind erstens die habituelle Lesemotivation (Abschnitt 2), zweitens das Leseverhalten im Sinne von Präferenzen für bestimmte Printtexte (Abschnitt 3) und drittens die Rezeptionsweisen und Funktionen des literarischen Lesens (Abschnitt 4). Der Gang durch die Empirie wird zeigen, dass sich plakative und vermeintlich eindeutige Aussagen zu Geschlechtereffekten im Lesen angesichts des komplexen und zum Teil diffusen Musters und der vielen Gemeinsamkeiten von Leserinnen und Lesern im Licht der Befunde nicht (weiter) aufrechterhalten lassen. Einige der sich daraus ergebenden Implikationen für die Forschung werden nach einer Zusammenfassung der Hauptergebnisse am Ende des Beitrags skizziert (Abschnitt 5).
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2 Lesemotivation und Geschlecht 2.1 Lesemotivation: ein multidimensionales Konstrukt Lesemotivation bezeichnet die Absicht, eine Leseaktivität auszuführen. Sie kann einmalig (situativ) oder wiederholt (habituell) auftreten. Traditionell wird in der Forschung zwischen in- und extrinsischer Lesemotivation unterschieden. ›Intrinsisch‹ motiviertes Lesen erfolgt entweder wegen der damit verbundenen positiven Erlebnisqualitäten (Involvement bzw. tätigkeitsbezogener oder erlebnisbezogener Anreiz) oder aufgrund leserseitig attraktiv bewerteten Textmerkmale (Neugier, Interesse, objektbezogene Lesemotivation). Bei dem ›extrinsisch‹ motivierten Lesen liegt der Anreiz für die Auseinandersetzung mit Texten außerhalb der Aktivität bzw. des Texts. Man liest für gute Schulnoten oder Abschlüsse, um im Alltag mitreden zu können bzw. in eine lesende Gemeinschaft integriert zu werden (soziale Lesemotivation), weil andere es von einem erwarten und man dem entsprechen will (Fügsamkeit), weil man im Wettkampf steht, wer besser liest (wettbewerbsbezogene Lesemotivation), oder weil man von anderen für die eigenen guten Lesefähigkeiten Bestätigung und Sympathie möchte (Anerkennung; vgl. Schiefele u. a. 2012). Während die Trennung zwischen situativer und habitueller Lesemotivation auf der einen Seite und in- und extrinsischer Motivation auf der anderen Seite relativ unstrittig ist, steht die Forschung zur Lesemotivation seit geraumer Zeit vor einigen hartnäckigen Problemen. Aus theoretischer Sicht ist z. B. nach wie vor ungeklärt, wie das übergeordnete theoretische Konstrukt Lesemotivation zu untergliedern ist. Wie schon erwähnt gibt es verschiedene Gründe dafür, Texte zu lesen. Dies stellt eine Binnendifferenzierung der Lesemotivation dar. Ein ausreichend trennscharfes und in der Forschungsgemeinschaft konsensfähiges Inventar theoretischer Dimensionen von Lesemotivation ist allerdings noch in weiter Ferne. Ebenso ist nach wie vor unklar, wie Vorläufer der Lesemotivation (wie die lesebezogene Selbstwirksamkeit) oder auch ihre Folgen (wie die Präferenz für anspruchsvolle Texte) von ›genuinen‹ Dimensionen konzeptionell angemessen zu trennen sind (vgl. Schiefele u. a. 2012; Conradi u. a. 2014). Aus empirischer Sicht ist ein weiteres Problem, dass (1) theoretische Konstrukte in vielen quantitativen Studien nicht ausreichend definiert sowie (2) gleiche Kon strukte unterschiedlich benannt bzw. (3) inhaltlich unterschiedliche Konstrukte gleich benannt werden. Dieser Umstand erschwert einerseits studienübergreifende Vergleiche und sorgt andererseits ohne Not für babylonische Verhältnisse in der Kommunikation wissenschaftlicher Befunde. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass Instrumentarien in leicht abgewandelten Varianten verwendet werden, was ebenfalls Vergleiche erschwert (vgl. Schiefele u. a. 2012; Conradi u. a. 2014). Dies ist auch für die Geschlechterthematik ein Problem, weil es alles andere als trivial ist, hinsichtlich welcher Dimensionen man Jungen und Mädchen, Männer und Frauen miteinander vergleicht.
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2.2 Geschlechterspezifika in der habituellen in- und extrinsischen Lesemotivation In- und extrinsische Lesemotivation wird in pädagogisch-psychologisch geprägten Studien häufig als habituelle Motivation mittels Fragebögen erfasst, wobei oftmals unterschiedliche, nicht direkt miteinander vergleichbare Skalen in Studien zum Einsatz kommen. Ein recht häufig verwendetes Instrument ist der ›Motivation for Reading Questionnaire‹ (Fragebogen zur Lesemotivation, MRQ). Dieser Fragebogen erfasst elf verschiedene Konstrukte, von denen sich sieben eindeutig auf Facetten der in- und extrinsischen Lesemotivation beziehen. Der MRQ erfreut sich starker Beliebtheit in der Forschung. So stellte ein US-amerikanisches Forschungsteam fest, dass im Zeitraum 2003–2013 in fast einem Drittel des von ihm gesichteten Korpus empirischer Studien der MRQ verwendet wurde – damit bildet er faktisch das dominierende Instrument (vgl. Conradi u. a. 2014). Trotz seiner Popularität besteht ein beharrliches Problem des Original-MRQ darin, dass seine Struktur bzw. die sog. Dimensionalität teilweise unklar ist (vgl. Abschnitt 2.1). So gibt es gleich mehrere Studien, die mit den Original-Items operierten, die aber in entsprechenden statistischen Analysen nicht auf die ursprünglich elf Dimensionen oder Subskalen stießen, sondern auf zum Teil erheblich weniger, nämlich entweder vier (vgl. Pecjak / Peklaj 2006; Schutte / Malouff 2007) oder acht (vgl. Watkins / Coffey 2004). Andere Studien, die nicht alle Items des MRQ bzw. weiterentwickelte Skalen verwendeten, stellten ebenfalls fest, dass einige Einzelskalen nicht empirisch trennbar sind (z. B. die Studien 10 und 12 in Abb. 1). Diese Einschränkung ist so wichtig, dass sie vor der Konsultierung jener Studien stehen muss, die nach Differenzen zwischen den Geschlechtern gesucht haben. Die Ergebnisse aus 16 Studien (mit über 10.000 befragten Personen) mit insgesamt 109 Vergleichen zwischen Jungen und Mädchen sind in Abbildung 1 dargestellt. Ein paar Worte noch zur Logik der Darstellung: Die Abbildung ist so organisiert, dass das Alter der Befragten (die Klassenstufe) von links nach rechts aufsteigend ist. Zusätzlich wurden die einzelnen Studien danach sortiert, welches Instrument sie verwendeten (so dass Studien mit verwandten Instrumenten nebeneinander stehen) und wie viele Dimensionen der Lesemotivation beim Original-MRQ erfasst wurden. In der Grafik sind horizontal inhaltlich identische bzw. überlappende Dimensionen / Skalen angeordnet und die jeweilige Skalenbezeichnung aus der Studie eingetragen. Die Dimensionen sind außerdem vertikal so sortiert, dass jene mit den größten prozentualen Geschlechterdifferenzen jeweils zuoberst stehen. Die je nach Dimension aufgeschlüsselten Befunde in Abbildung 1 verdeutlichen, dass sich Pauschalaussagen zur geschlechtsspezifischen Lesemotivation streng genommen verbieten, da nur in 41 % – also in nicht einmal der Hälfte – aller vorgenommenen Vergleiche Geschlechterdifferenzen vorzufinden waren. Am ehesten lassen sich Unterschiede noch bei der intrinsischen Lesemotivation feststellen, da sich in fast jedem zweiten Vergleich statistisch auffällig höhere Werte bei
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Abb. 1: Gegenüberstellung von Geschlechterunterschieden in 16 Studien mit Original- bzw. abgeleiteten Skalen des MRQ: 1 = Wang / Guthrie 2004; 2 = Wigfield / Guthrie 1997; 3 = Baker / Wigfield 1999; 4 = Mucherah / Yoder 2008; 5 = Unrau / Schlackman 2006; 6 = Mucherah / Herendeen 2013; 7 = Tercanlioglu 2001; 8 = McGeown u. a. 2012; 9 = McGeown 2015; 10 = Lau 2009; 11 = Schaffner u. a. 2013b; 12 = Schaff ner u. a. 2013a; 13 = Schaffner / Schiefele 2007; 14 = Henschel / Schaffner 2014; 15 = Villiger u. a. 2012; 16 = Möller / Bonerad 2007. Die Dezimalzahlen in der Spalte »Prozentsatz statistisch signifikanter Geschlechterdifferenzen« ergeben sich aufgrund kombinierter Skalen.
den Mädchen zeigten. Dies geht primär auf die Differenzen in der tätigkeitsspezifischen intrinsischen Lesemotivation zurück, da hier in drei von fünf Fällen Mädchen höhere Werte aufwiesen. Das war beim Gegenstück – der auf Interesse oder Neugier basierenden intrinsischen Lesemotivation – nur bei einem knappen Drittel der Vergleiche der Fall. Bei der ext rinsischen Lesem ot iva tio n gab es in etwas mehr als einem Drittel der Vergleiche signifikante Geschlechterunterschiede. Bei einem Viertel aller überzufälligen Differenzen innerhalb der extrinsischen (und zwar nur bei der wett bewerbsbezogenen) Lesemotivation wiesen Jungen eine höhere Motivation auf, in den anderen drei Vierteln traf dies auf die Mädchen zu. Besonders groß sind die Unterschiede bei der sozialen Lesemotivation, ansonsten aber fallen sie bei den anderen Dimensionen der extrinsischen Motivation nicht so stark ins Gewicht. Überblickt man die 16 Studien zur habituellen Lesemotivation, so lassen sich in nicht einmal zwei Fünfteln aller Vergleiche Vorsprünge der Mädchen finden, welche
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sich wiederum besonders konsistent in zwei Dimensionen der in- und extrinsischen Lesemotivation zeigen, die rein rechnerisch für die Hälfte aller überhaupt anzutreffenden statistisch auffälligen Differenzen verantwortlich sind. Anders gesagt: Gerade in der tätigkeitsspezifischen intrinsischen und sozialen extrinsischen Lesemotivation bestehen besonders konsistente Geschlechtereffekte zugunsten der Mädchen. Relativierend muss freilich angemerkt werden, dass praktisch alle Studien keine Zufallsstichproben aufweisen (eine Ausnahme bildet Studie 16), so dass sich Generalisierungen über ›die‹ Lesemotivation ›der‹ Geschlechter seriös nicht anstellen lassen. Somit kann man die hier berichteten Befunde lediglich als eine erste Tendenz interpretieren. Trotzdem ist die Differenz bei der tätigkeitsspezifischen intrinsischen Lesemotivation zugunsten der Mädchen bemerkenswert. Diese Form der Lesemotivation gilt nach allgemeinem Kenntnisstand als besonders wichtig für das Textverstehen, während die extrinsische Lesemotivation nicht bzw. negativ mit Leseverstehensleistungen zusammenhängt (vgl. Schiefele u. a. 2012; Philipp 2013). Vermutlich bildet die mit dem Lesen anspruchsvoller Texte verbrachte Zeit das Bindeglied zwischen Motivation und Kompetenz (vgl. Mol / Bus 2011; Schaffner u. a. 2013b), wobei die genaue Wirkkette längst noch nicht aufgeklärt ist. Eine hinsichtlich der Sex-Gender-Thematik bemerkenswerte Studie stammt schließlich aus Großbritannien (vgl. McGeown u. a. 2012; Studie 8 in Abb. 1). Die Forscherinnen erfassten neben dem biologischen Geschlecht auch Femininität und
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Maskulinität mittels eines Geschlechterrolleninventars. Die Femininität korrelierte mit allen vier untersuchten Dimensionen der Lesemotivation, die Maskulinität nur mit dreien (nämlich allen außer dem Involvement). Weil nur bei einer Dimension der intrinsischen Lesemotivation, dem Involvement, signifikante Geschlechterdifferenzen bestanden, wollten die Forscherinnen prüfen, inwieweit hier biologisches und soziales Geschlecht (im Sinne von Femininität und Maskulinität) prädiktiv waren. Das Ergebnis: Berücksichtigte man diese drei Variablen gleichzeitig, sagten biologisches Geschlecht und ausgerechnet die Maskulinität Differenzen in der Lesemotivation voraus – ein unerwartetes Ergebnis (oder eventuell wegen der mangelnden Korrelation von Maskulinität und Involvement doch nur ein statistisches Artefakt), das verdeutlicht, dass die Zusammenhänge komplexerer Art zu sein scheinen, als man gemeinhin vermutet. Dies verweist auf weiteren Forschungsbedarf. Es ist absolut auffällig, dass es an Studien mit Kindern unter der Klassenstufe 4 einerseits und an Studien mit Erwachsenen mangelt, die die Lesemotivation mehrdimensional erfassen ›und‹ Geschlechterspezifika überprüfen. Eine Ausnahme bildet bei den Erwachsenen eine Studie mit Studierenden, in der aber die ursprünglichen MRQ-Dimensionen nicht repliziert werden konnten. Nur in einer der vier neu gebildeten Skalen – einer Mischung aus Wichtigkeit des Lesens (als Folge der Motivation und deshalb auch nicht in Abbildung 1 dargestellt) und des extrinsisch motivierten Lesens wegen der Anerkennung – ergaben sich statistisch überzufällige Vorsprünge der Frauen (vgl. Schutte / Malouff 2007). Neben das Desiderat der theoriegeleiteten mehrdimensionalen Erfassung der Lesemotivation von jüngeren und älteren Personen tritt ein weiteres. Während aus Abbildung 1 klar hervorgeht, dass die intrinsische Motivation durchgängig und zumeist differenziert erfasst wird, trifft dies nicht auf die extrinsische Motivation zu – teils auch, weil hier noch Klärungsbedarf besteht (vgl. Schiefele u. a. 2012). Das ist erstens aus der Erwerbsperspektive misslich, bei der auch die extrinsische Motivation bedeutend ist (vgl. Ryan / Deci 2000). Zweitens hängen inund extrinsische Motivationsformen sowohl konzeptionell als auch empirisch zum Teil erheblich zusammen (vgl. Ryan / Deci 2000; Philipp 2013). Und drittens ist aus den Befunden qualitativer Studien heraus begründet anzunehmen, dass es durchaus mehr Dimensionen der extrinsischen Lesemotivation gibt, als es die vorliegenden quantitativen Instrumente suggerieren (vgl. Schiefele u. a. 2012). Möglicherweise gibt es hier Geschlechtsspezifika.
3 Leseverhalten der Geschlechter: Thematische Präferenzen bei der Lektüre Das Leseverhalten von Männern und Frauen, von Mädchen und Jungen ist Ausdruck der zugrunde liegenden mobilisierenden Lesemotivation. Das Leseverhalten bildet zugleich ein sehr heterogenes Konstrukt, das – anders als die Lesemotivation und
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453
das Textverstehen – einer umfassenden, konsensfähigen und theoriegeleiteten Definition (und entsprechenden empirischen Operationalisierungen) noch harrt (vgl. Philipp 2010). Beispielsweise berichten Schiefele u. a. (2012) in ihrem Forschungsüberblick von (1) Lesemenge, (2) Einsatz von Lesestrategien und (3) Präferenzen für Genres unter dem Oberbegriff ›Leseverhalten‹. Diese drei Aspekte des Umgangs mit Texten bilden sehr unterschiedliche Bereiche des Leseverhaltens und meinen selbstredend nicht dasselbe. Relativ prominent wird international, aber nicht im deutschsprachigen Raum zudem ein viertes Maß für das Leseverhalten eingesetzt, bei dem über das Erkennen von echten Buch- und Zeitschriftentiteln sowie Autorinnen und Autoren in Listen auf die faktische Lesepraxis ein Rückschluss erfolgt – mithin ein indirektes Maß für das Leseverhalten (›print exposure‹; vgl. Mol / Bus 2011). Zudem dominieren in der Leseforschung Fragen zum Buchleseverhalten, während andere Lesemedien wie Periodika und digitale Medien bislang kaum angemessen untersucht wurden. Das ist insofern ein Problem, weil die Leseforschung damit in eine unnötige Schieflage geraten ist, die den gegenwärtigen Lektüregewohnheiten kaum gerecht wird, nach denen das Buchlesen bei Erwachsenen im Alltag z. B. völlig randständig ist (vgl. White u. a. 2010). Im Folgenden sollen – mangels Studien – vor allem die Buchlesepräferenzen genauer betrachtet werden, über die man im Vergleich mit anderen Lesemedien noch am meisten weiß.
3.1 Buchgenrepräferenzen in der Schulzeit Ein Muster der Genrepräferenzen ergibt sich aus Tabelle 1, in der die Befunde aus 14 Studien versammelt sind, welche sich den thematischen Lesevorlieben bei Büchern gewidmet haben. Lediglich die jeweils fünf am häufigsten genannten Genres in den Originalstudien wurden hierfür berücksichtigt, damit die Übersichtlichkeit nicht unnötig leidet. Die Tabelle umfasst die Klassenstufen 2–10, also den Großteil der Pflichtschulzeit. Neben einem Entwicklungsmuster bei den Lesestoffen deuten sich Geschlechterdifferenzen an. Mädchen lesen in jungen Jahren mehr Tiergeschichten sowie eher Märchen und mit zunehmendem Alter realistische und Problemliteratur. Jungen greifen mehr zum Sachbuch (das thematisch sehr unterschiedliche Schwerpunkte haben kann, was in den Originalstudien und damit in Tabelle 1 leider so nicht berücksichtigt wurde bzw. werden konnte). Jungen lesen zudem im Bereich der fiktionalen Lesestoffe eher Krimis, Fantasy und Science Fiction. Neben diesen Geschlechtsspezifika gibt es aber geschlechterübergreifende Präferenzen, etwa jene bei Abenteuerliteratur und Grusel- oder Horrorgeschichten.
3
,5
4 1
1
Humor
Problemliteratur
3 (8)
Sachbuch
2 (8), 3 (5), 4 (m, 2)
4 (1), 5 (w, 2)
4 (1), 5 (8)
3 (m, 1, 2), 4 (m, 5)
1 (1)
5 (10)
2 (8, 10), 3 (5), 4 (m, 2)
3 (1; w, 13), 4 (w, 10), 5 (w, 2)
2 (5; w 13)
3 (m, 2); 4 (m, 1, 5)
1 (1), 5 (10; m, 13)
(2, 5, 8, 10, 13)
5 (8)
5 (8) (2, 5, 8)
,5 (w, 5)
,
(w, 8, 13)
(w, 8, 10)
2 (1)
(w, 8)
(w, 5)
(2)
2 ,4 5 (w, 1)
4
2 (1)
,
(w, 8)
Realistische Literatur (inkl. Liebesgeschichten)
3 (m, 1)
Krimi
(2)
2 ,3 5 (1)
3
2 (5)
1 (1)
Science Fiction / Fantasy
(1)
Grusel / Horror
1
(8)
Abenteuer
Serien / TV-Serien
4
Märchen / Sagen
(w, 8)
2 (1)
Bilderbuch
,5
(w, 8)
2
2
Klassenstufe
Tiergeschichten
Buchgenre
Tab. 1
(2)
,4 (w, 7)
5 (7)
2 (10), 3 (5), 4 (m, 2)
2 (w, 7), 3 (1), 4 (w, 10), 5 (w, 2)
1 (7), 2 (5)
3 (m, 2, 7, 10), 4 (m, 1, 5)
1 (1, 7), 4 (10)
1
(w, 1)
(2, 5, 10)
5 (w, 5)
2 (1)
2 ,5
5 (w, 13)
4
(6, 9; w, 12)
5 (7; w, 9)
2 (12), 3 (3, 5), 4 (m, 2; 10, 11), 5 (6)
2 (w, 7, 9), 3 (w, 13),4 (3), 5 (w, 2, 10)
1 (7, 11, 12), 2 (5; w, 13), 3 (6)
2 (m, 3, 10; 9, 11), 3 (m, 2, 7), 4 (m, 5)
1 (7, 11; m, 9), 2 (6), 3 (10), 5 (3; m, 12, 13)
1 (2, 3, 5, 6, 10, 13), 3 (11), 4 (w, 7)
3 (12)
,4
(2, 12)
5 (w, 5)
2
6
3 (w, 2)
5 (m, 2)
1 (w, 5), 2 (w, 2)
1 (m, 2), 3 (5)
2 (5), 4 (2)
4 (5)
5 (5)
7 (w, 13)
2
(4)
3 (w, 2; 4)
5 (m, 2; 4)
1 (w, 5), 2 (w, 2), 3 (w, 13)
1 (m, 2; 4), 2 (w, 13),3 (5)
2 (5), 4 (2)
4 (5), 5 (m, 13)
1 (13), 4 (4), 5 (5)
4
8
5
(3)
4 (3)
1 (w, 5), 2 (w, 14), 3 (w, 3)
1 (w, 14), 3 (5)
1 (3), 2 (5)
2 (z. T. m, 14), 4 (5)
2 (3, m, 14), 5 (5)
9
2 (11)
1 (w, 5, 11), 2 (w, 14)
1 (w, 14), 3 (5)
2 (5), 3 (11)
2 (z. T m., 14),4 (5, 11)
2 (m, 14), 5 (5)
10
454 Maik Philipp
2.3.4 Geschlecht und Lesen
455
Tab.1: Buchgenrepräferenzen von Zweit- bis Zehntklässlern anhand der Top 5 gelesenen Genres aus 14 Studien. Die Ziffern geben Platzierungen in den einzelnen Studien an, in Klammern: Geschlechterunterschiede (m = männliche Vorlieben, w = weibliche Vorlieben) sowie Nummern der Studien (1 = Bertschi-Kaufmann 2000; 2 = Böck 2000; 3 = Bucher 2004; 4 = Gattermaier 2003; 5 = Harmgarth 1997; 6 = Ivey / Broaddus 2001; 7 = Philipp 2010; 8 = Richter / Plath 2005; 9 = Rieckmann 2010; 10 = Roe 1998; 11 = Schilcher / Hallitzky 2004; 12 = Worthy u. a. 1999; 13 = Coles / Hall 2002; 14 = Hale / Crowe 20011).1
3.2 Buchgenre- und Zeitschriftenpräferenzen bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen Das Leseverhalten von älteren Jugendlichen und Erwachsenen ist im Vergleich zu dem von Kindern und Jugendlichen seltener untersucht worden.2 Das ist deshalb so erstaunlich, weil aktuelle US-amerikanische Tagebuchstudien für Erwachsene eine durchschnittliche tägliche Lesezeit zwischen 168 und 272 Minuten – also knapp drei bzw. viereinhalb Stunden – nachweisen, aber leider keine Analysen zu Geschlechtereffekten berichten (vgl. Smith 2000; White u. a. 2010). In Deutschland sind insbesondere die Studien der Stiftung Lesen hervorzuheben, welche seit dem Jahr 1992 bislang alle acht Jahre repräsentativ zum Leseverhalten von Personen ab 14 Jahren durchgeführt worden sind. In der letzten Untersuchung aus dem Jahr 2008 wurden mehr als 2500 Personen befragt. Obwohl die Datenlage damit reichhaltig ist, werden leider nur überwiegend deskriptive Befunde im Sinne von Prozentangaben bei Zustimmungshäufigkeiten ausgewiesen, während komplexere statistische Analysen nicht erfolgen. Dies schränkt die Aussagekraft der Studie ein. In der jüngsten Studie – Lesen in Deutschland 2008 (Stiftung Lesen 2009) – wurden die Befragten unter anderem gebeten, die Häufigkeit der Lektüre von knapp 30 unterschiedlichen Periodika und drei Dutzend Arten von Büchern mit verschiedenen inhaltlichen Merkmalen einzuschätzen. Für das Verständnis der nachfolgend berichteten Ergebnisse ist es wichtig zu wissen, dass es sich um Summenwerte der Antwortmöglichkeiten ›häufig‹ und ›gelegentlich‹ handelt. Bei zehn der Periodika ergaben sich auffällige Differenzen. Frauen lasen häufiger als Männer Frauenzeitschriften (76 vs. 12 %), Gesundheitsmagazine (47 vs. 26 %), Rätselzeitschriften (28 vs.
1 Aus dieser Studie wurde aus Gründen der direkten Vergleichbarkeit mit den anderen Studien die Kategorie ›Sport‹ nicht berücksichtigt, obwohl sie die zweithäufigste und besonders für männliche Jugendliche wichtig war. Die Genres ›Abenteuer‹, ›Fantasy‹, ›Science Fiction‹ und ›Liebesgeschichten‹ wurden gleich häufig genannt, so dass sie alle mit dem zweiten Rang in der Tabelle 1 ausgewiesen werden. Die Daten beziehen sich zudem auf das Jahr 1997 (in der Studie werden die Ergebnisse aus drei Studien in den Jahren 1982, 1990 und 1997 berichtet). 2 Vgl. dazu Kap. 3.2.1 Entwicklung und Entstehung der modernen Lese- und Leserforschung im 20. Jahrhundert in diesem Band.
456
Maik Philipp
15 %), Journale zum Thema Ernährung (26 vs. 10 %) sowie Romanhefte (19 vs. 8 %) und Elternzeitschriften (14 vs. 6 %). Männer hingegen griffen häufiger zu Presseerzeugnissen, die zum einen sonntags erscheinen (45 vs. 34 %) und die sich zum anderen thematisch in den Bereichen Sport (44 vs. 10 %), Elektronik (28 vs. 11 %), Wirtschaft (25 vs. 11 %), Motortechnik (25 vs. 3 %) und Wissenschaft (24 vs. 11 %) verorten lassen. Bei Büchern gibt es ähnlich gelagerte Präferenzmuster. Frauen lesen häufiger als Männer Bücher, die sich mit Liebe und Alltag befassen (45 vs. 12 %), sowie moderne Literatur (27 vs. 17 %). Bei Sachbüchern favorisieren sie Lebensbeschreibungen wie Biografien (24 vs. 15 %) und alltagsnahe Bücher rund um die Themen Kochen (40 vs. 10 %), Gesundheit (37 vs. 21 %) und Beziehungsalltag inklusive Erziehung (14 vs. 6 %). Männer greifen hingegen mehr zu Sachbüchern über Computer (28 vs. 13 %), Politik (26 vs. 13 %), Geld (24 vs. 15 %) und Technik (24 vs. 6 %). Entsprechend verwundert es nicht, dass in der Untersuchung Lesen in Deutschland 2008 die Lektüre von Büchern unterschiedlichen Gratifikationserwartungen folgte. Doppelt so viele Frauen wie Männer (37 vs. 20 %) lesen Bücher zur Unterhaltung. Für jene Bücher, die die Personen bevorzugt lesen, gaben mehr Männer als Frauen die Anforderung an, realistische Fakten vermittelt bekommen zu wollen (51 vs. 42 %) und von der Lektüre unmittelbar im Sinne des Lernens profitieren zu können (49 vs. 40 %). Frauen hingegen möchten eher den Alltag eine Zeitlang vergessen (52 vs. 33 %) und in Texten für jedermann mögliche Beziehungsprobleme (39 vs. 12 %) bzw. Lebensprobleme allgemein behandelt haben (38 vs. 20 %). Frauen möchten sich zudem stärker in die Rolle der Figuren (31 vs. 19 %) bzw. eine andere Welt hineinversetzen können (28 vs. 17 %).
3.3 Buchlesepräferenzen und Geschlecht: Ausdruck unterschiedlich gelagerter Interessen Aus den Studien zum Leseverhalten deuten sich Interessenschwerpunkte im Buchleseverhalten, aber auch in der Periodikalektüre an. Frauen präferieren beim Lesen eine deutliche Alltagsnähe und Realismus und greifen zu Texten mit ›human touch‹; Letztgenanntes zeigt sich in den Themenschwerpunkten interpersonale Beziehungen und intrapersonale Zustände. Männer setzen eher auf Spannung bzw. äußere Handlung, instrumentelles Lernen und Technik. Diese inhaltlichen Schwerpunkte sind natürlich sehr grobe Verallgemeinerungen. Zudem dürfen sie nicht über zweierlei hinwegtäuschen: Erstens existiert eine große Schnittmenge zwischen Mädchen und Jungen sowie Frauen und Männern. Denn markante Differenzen tauchen nur in einem kleinen Teil des Spektrums der Lesestoffe auf. Die Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern sind demnach größer als die Unterschiede, und dies kann gerade mit Blick auf Lesefördermaßnahmen gar nicht ausdrücklich genug betont werden. Zweitens ist es nicht zulässig, von der präferierten Textsorte einer großen Gruppe von Personen auf individuelle Lesevorlieben oder gar die falsche Dichotomie von
2.3.4 Geschlecht und Lesen
457
›weiblicher Unterhaltung‹ und ›männlicher Information‹ zu schließen. Die qualitative Leseforschung hat nämlich gezeigt, dass Männer, die ausschließlich Sachtexte lesen, diese durchaus auf ähnliche Weise rezipieren, wie dies Frauen bei literarischen Texten und Kinder in ihrer Viellesephase im Primarschulalter tun (vgl. Graf 2004; Philipp 2011b). Dies führt zur Frage, welche Rezeptionsweisen Personen beim Lesen denn genau aufweisen und ob es hier Geschlechtereffekte gibt.
4 Funktionen und Rezeptionsweisen von literarischen Texten: allgemeine Befunde und unklare Geschlechterspezifika Vermutlich haben die Unterschiede (und natürlich auch die Gemeinsamkeiten) der Geschlechter in der Lesemotivation und dem Leseverhalten mit den Funktionen und Rezeptionsweisen von Texten zu tun. Unverkennbar verläuft die Grenzlinie zwischen den Geschlechtern bei der Zuwendung zu narrativen Texten mit einem hohen Realitätsbezug. Gerade das Lesen von fiktionalen Texten geht vor, während und nach den eigentlichen Leseprozessen (die wegen des Umfangs der Werke oftmals längerfristig angelegt sind) mit vielfältigen Emotionen einher (vgl. Mar u. a. 2011). Deshalb lässt sich begründet annehmen, dass diese affektiven Erlebnisse für die recht konsistenten Geschlechtereffekte bei der tätigkeitsspezifischen intrinsischen Lesemotivation zumindest mitverantwortlich sein könnten (vgl. Abschnitt 2.2), da hier ein besonders enger Zusammenhang zwischen Belletristiklektüre und der tätigkeitsspezifischen Lesemotivation zumindest im Ansatz nachgewiesen werden konnte (vgl. Schiefele u. a. 2012). Damit stellt sich die Frage nach dem (Mehr-)Wert und den Funktionen, die das Belletristiklesen bzw. genauer das Lesen fiktiver Geschichten hat.
4.1 Zum (Mehr-)Wert des fiktionalen Lesens Dem Lesen fiktionaler und non-fiktionaler Texte werden einerseits spezifische und andererseits gemeinsame Funktionen auf der Ebene des unmittelbaren Leseprozesses (Prozessebene), den mittelbaren und unmittelbaren Resultaten auf individueller Ebene (personale Ebene) und mittelbaren Wirkungen auf einer kollektiven Ebene (soziale Ebene) zugeschrieben. Mit Funktionen sind hier zum einen gezielt ansteuerbare unmittelbare Ergebnisse des Lesens gemeint, zum anderen Folgen, die sich nicht direkt einstellen, sondern indirekter und längerfristiger Natur sind (vgl. Groeben 2004). Insbesondere die differenziellen Effekte innerhalb der lesenden Person und ihres individuellen Leseprozesses sind für dieses Kapitel von Interesse. Für das Lesen
458
Maik Philipp
fiktionaler Texte wird z. B. auf der Prozessebene Unterhaltung als Hauptfunktion (neben dem Textverstehen, das diese Folge überhaupt ermöglicht) postuliert. Auf der personalen Ebene gelten als spezifische Funktionen literarischen Lesens (1) die Entwicklung von Phantasie, (2) die Stärkung von Empathie, Moralbewusstsein sowie Identität und (3) die generelle Anerkennung von Andersartigkeit (vgl. Groeben 2004). Dies impliziert wiederum nicht, dass literarisches Lesen grundsätzlich der Lektüre expositorischer Texte überlegen wäre, sondern nur dass es spezifische Funktionen offeriert, so wie dies auch auf nicht-literarische Texte und deren Funktionen zutrifft. Besonders auffällig ist, dass bei den Funktionen literarischer Texte soziale und emotionale Aspekte nebst Imagination stark betont werden. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass aus Sicht der Psychologie fiktive Narrationen eine dreifache Art von Simulation darstellen. Simulationen haben zwei Hauptzwecke: Sie liefern zum einen Informationen zu etwas, zu dem es für Personen keinen direkten Zugriff gibt, und sie offerieren zum anderen die Chance, komplexe Systeme zu verstehen (vgl. Mar / Oatley 2008). Die drei Arten von Simulationen sind die folgenden: – Aus einer ersten, kognitiven Perspektive heraus beschreiben sie mögliche Welten inklusive der Protagonisten, ihrer Zielen und Handlungen sowie derer Resultate. Die lesende Person kann dies beim Lesen rekonstruieren, da sie viele (wenn auch nicht alle) Informationen erhält, um die Schlüssigkeit des Beschriebenen und die Dynamik in der Geschichte rein kognitiv nachzuvollziehen (vgl. Oatley 1999). – Hierbei wirken unterstützend aus einer zweiten Perspektive die zahlreichen Emotionen, die zentral für fiktive Narrationen sind. Die Figuren stehen in Fiktionen vor teils existenziellen, teils für die Figuren nicht vollumfänglich verständlichen Hindernissen, was in zum Teil sehr starken Emotionen der Figuren mündet. Über verschiedene Prozesse (wie Identifikation und Empathie einerseits [vgl. dazu Abschnitt 4.2] und die Erinnerung an ähnliche biografische Erlebnisse im eigenen Leben andererseits) ist es für die lesende Person möglich, eine echte Emotion zu empfinden, die auf einer fiktiven Welt beruht (vgl. Oatley 1999). – Weil fiktive Narrationen autonom und intentional agierende Figuren sowie deren Interaktionen zum Gegenstand haben, liefern sie aus einer dritten Perspektive eine Simulation der sozialen Welt. Die soziale Welt wird in Narrationen nur mit jenen Informationen beschrieben, wie es der Autor bzw. die Autorin für die Kohärenz der Geschichte für nötig befunden hat. Dafür liefern Narrationen aber präzisere Beschreibungen innerer Zustände, die z. B. Konflikte zwischen Handlungsträgern und ihren Aktionen und Reaktionen nachvollziehbarer machen. Dadurch werden abstrakte Prinzipien zwischenmenschlichen Verhaltens am konkreten Beispiel für die lesenden Personen verständlich. Zudem liefern fiktive Narrationen die Möglichkeit, im echten Leben rare Situationen häufig stellvertretend zu erleben und fremde Perspektiven zu übernehmen (vgl. Mar / Oatley 2008). Der eigenständige (Mehr-)Wert des Lesens von Fiktionen und die sich daraus ableitbaren Funktionen lassen sich demnach über drei Formen von Simulationen begründen.
2.3.4 Geschlecht und Lesen
459
Literarisches Lesen wirkt in diesem Licht als ein Refugium, das kognitive Repräsentationen möglicher Welten, erlebbare Emotionen und Einsichten in zwischenmenschliche Interaktionsmuster offeriert. Für Letztgenanntes scheint den einerseits im Text beschriebenen und andererseits von der lesenden Person de facto erlebten bzw. nachvollzogenen Emotionen beim Lesen eine Sonderstellung zuzukommen. Auch für die kognitive Simulation und das bessere Verständnis der Handlungen von Figuren sind Emotionen bedeutsam.
4.2 Identifikation, Empathie, literarisches Geschlecht und Lesen: ein komplexes Feld Ein in der Leseforschung – zumal in der literaturwissenschaftlich geprägten, aber auch jener psychologischen Forschung, die sich dem leserseitigen Umgang mit fiktiven Narrationen widmet – ergiebiger Zweig hat sich mit den Verarbeitungs- und Rezeptionsprozessen befasst. Zentral für das Forschungsfeld ist die mentale Ausein andersetzung der lesenden Person mit der fiktiven Welt inklusive ihrer Figuren, die unter Schlagworten wie ›Identifikation‹ und ›Empathie‹ diskutiert wird. ›Identifikation‹ lässt sich als das Teilen von Qualitäten, emotionalen Erfahrun gen, aber auch Einstellungen sowie anderen Merkmalen einer realen Person und einer fiktiven Figur definieren. Die zugrunde liegende Basis sind Prozesse des Erkennens und Vergleichens der eigenen Merkmale und jener der Figur. Hinsichtlich der Identifikation beim Lesen lassen sich mentale Verschmelzungen zwischen der eigenen Person und der literarischen Figur ebenso beschreiben wie Projektionen der lesenden Personen auf die Figur, aber auch scharfe Grenzziehungen zwischen eigener Person und literarischer Figur (vgl. Hoorn / Konijn 2003; Andringa 2004). ›Empathie‹ wird anhand vierer Merkmale bestimmt: (1) einer Emotion einer ersten Person, welche (2) der Emotion einer anderen, zweiten Person ähnelt und (3) durch Beobachtung oder Vorstellung einer Person und ihrer Emotion hervorgerufen wird, wobei (4) die erste Person weiß, dass die zweite Person die Quelle der eigenen Emotion ist (vgl. Vignemont / Singer 2006). Damit zeichnet sich Empathie durch sowohl kognitive als auch affektive Komponenten aus und bildet – analog zur Lesemotivation (vgl. Abschnitt 2.1) und dem Leseverhalten (vgl. Abschnitt 3) – ein mehrdimensionales Konstrukt (vgl. Davis 1983). Von entscheidender Bedeutung für das Lesen ist das dritte Merkmal, das besagt, dass allein die Vorstellung einer Emotion einer anderen Person oder einer literarischen Figur genügt, um Empathie auszulösen. Es ist in der Forschungsliteratur immer wieder auf den engen Zusammenhang von diversen Emotionen und Empathie beim Verstehen literarischer Texte hingewiesen worden (vgl. Oatley 1995; Mar u. a. 2011), ohne dass die Kausalkette bekannt ist. Tatsächlich finden sich in letzter Zeit Hinweise auf komplexe Zusammenhänge. So ist laut einer Studie mit deutschen Jugendlichen die emotionale Empathie in Fiktionen – in der die Mädchen höhere Werte aufwiesen – ein Prädiktor des Verstehens von lite
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Maik Philipp
rarischen, aber nicht von expositorischen Texten (vgl. Henschel / Roick 2013). Umgekehrt ließ sich aber auch zeigen, dass erwachsene Leser, die sich emotional stark in einen literarischen Text hineinversetzt fühlten, sich kurzfristig durch das literarische Lesen als empathischer beschrieben (vgl. Bal / Veltkamp 2013). Damit ist Empathie anscheinend beides: mögliche Ursache, aber auch Folge des literarischen Lesens. Außerdem demonstrierte eine Reihe von weiteren Experimenten mit Erwachsenen, dass jene Personen, die literarische Texte gelesen hatten, besser in der Deutung von Gesichtsausdrücken abschnitten (womit Empathie operationalisiert wurde), als solche, die nur Sachtexte lasen (vgl. Kidd / Castano 2013). Auch konnten in Studien bereits positive Zusammenhänge zwischen der richtigen Deutung von Gesichtsausdrücken und dem Leseverhalten in puncto fiktionaler, nicht aber expositorischer Texte festgestellt werden (vgl. Mar u. a. 2006, 2009). Dabei scheint die Fähigkeit, sich emotional in Geschichten hineinzuversetzen, ein wichtiger Prädiktor für die korrekte Auslegung von Gesichtsausdrücken zu sein (vgl. Mar u. a. 2009). Hinsichtlich der Geschlechtereffekte ist über alle bisher angeführten Experimentalstudien (und weitere, etwa Odağ 2013) hinweg ein Befundmuster, dass es keine eindeutigen und durchgängigen Vorteile zugunsten der Frauen gab. Allerdings wurde in den bisher berichteten Studien das Geschlecht immer nur über das biologische Geschlecht operationalisiert. Die wenigen Studien, die sich mit dem Zusammenhang von Empathie bzw. Identifikation, Geschlecht und literarischem Lesen befasst haben, geben also erste Hinweise auf die hohe Komplexität des Gegenstandsbereichs. Was sie nicht erklären, sind (geschlechtsspezifische) Entwicklungsdynamiken. Hierüber ist generell noch sehr wenig bekannt, aber eine Studie aus den Niederlanden ist an dieser Stelle instruktiv (vgl. Andringa 2004). In ihr wurde ein Dutzend erwachsene Leserinnen und Leser, die vor allem literarische Texte lasen, gebeten, die eigenen Leseweisen und die individuelle Lesesozialisation möglichst genau zu beschreiben. Bei den Analysen der umfassenden Leseautobiografien interessierte zum einen, womit sich die Personen beim Lesen identifizieren, zum anderen die Art der Identifikation. Vier Identifikationsformen ließen sich ermitteln. Bei der ersten Variante, der ›Wunschidentifikation‹, möchte die lesende Person so sein wie die fiktive Figur und über deren Handlungsmöglichkeiten in der im Text beschriebenen Welt verfügen. Die ›Ähnlichkeitsidentifikation‹ als zweite Form basiert darauf, dass die lesende Person thematische Übereinstimmungen zwischen sich und ihrer realen Welt mit der Figur und deren fiktiver Welt feststellt. Die dritte Form, ›Empathie‹, bezeichnet ein Verständnis für die Situation und den Standpunkt der Figur aufgrund eigener Erfahrungen der lesenden Person. Deutlich anders als Ähnlichkeitsidentifikation und Empathie ist die vierte Variante: die ›Unähnlichkeitsidentifikation‹. Hier geht die Faszination vom Unbekannten, von fremdartigen Welten und Figuren aus. Diese vier Identifikationsformen weisen Spezifika auf. So dominierte im Kindesalter die Wunschidentifikation, während die Ähnlichkeitsidentifikation randständig war. Im Jugendalter war es genau umgekehrt. Neben dieser zeitlichen bzw. lesesozialisatorischen Besonderheit tritt eine weitere, nämlich eine geschlechtsspezifische
2.3.4 Geschlecht und Lesen
461
bei zwei Identifikationsformen: Die Männer in der Studie schilderten häufiger eine Unähnlichkeits- und die Frauen eher eine Ähnlichkeitsidentifikation (vgl. Andringa 2004). Darin deuten sich geschlechtsspezifische Zugänge zu fiktionalen Texten an, die in quantitativen Studien zumindest teilweise bestätigt wurden, nach denen Frauen sich stärker emotional mit Figuren und deren Problemen identifizieren (vgl. Charlton u. a. 2004). Diese emotionalen Zugänge mögen damit zu tun haben, dass Männer tendenziell eine stärkere Trennung von Fiktion und Realität vornehmen, als dies bei Frauen der Fall ist, welche zudem fiktive Texte bzw. Fiktionen stärker zu genießen scheinen (vgl. Schreier / Odağ 2004).
5 Fazit: Geschlecht und Lesen – noch viel Forschungsbedarf 5.1 Die Befunde im Überblick Das Thema Geschlecht und Lesen hat Konjunktur – nicht zuletzt, weil es seit Bekanntwerden der Ergebnisse aus der ersten PISA-Studie eine breite Aufmerksamkeit erfährt. Das ist zwar einerseits erfreulich, weil dieses Thema aus verschiedenen Gründen Aufmerksamkeit verdient. Andererseits hat der Diskurs unübersehbar die Tendenz, mit Rekurs auf die scheinbar eindeutige Empirie die Differenz zwischen den biologischen Geschlechtern zu verabsolutieren und Jungen zu einer Risikogruppe beim Lesen zu stilisieren. Auch in diesem Buchkapitel war mangels Forschung zum sozial(isiert)en Ge- schlecht die Perspektive auf das biologische Geschlecht leitend, das sich in Stu dien methodisch leichter, aber eben nur als binäre Ausprägung erfassen lässt. Drei Bereiche des Lesens wurden genauer konsultiert: die mehrdimensionale habituelle Lesemotivation, die thematischen Präferenzen bei Druckerzeugnissen und die Rezeptionsweisen bei einem Genre, das die Geschlechter besonders trennt, nämlich den fiktionalen Erzählungen mit hohem Realismus. Bei einer Sichtung von internationalen Studien, die auf dem ›Motivation for Reading Questionnaire‹ mit seinen Subskalen zur habituellen in- und extrinsischen Lesemotivation basieren (oder auf Weiterentwicklungen) und Geschlechterdifferenzen statistisch überprüft haben, ergaben sich in zwei Fünfteln der Vergleiche Geschlechterdifferenzen. Diese fielen mehrheitlich zugunsten der Mädchen aus. Besonders auffällig war der Vorsprung der Mädchen bzw. weiblichen Jugendlichen bei der tätigkeitsspezifischen intrinsischen und der sozialen extrinsischen Lesemotivation, denn hier wiesen in mehr als der Hälfte aller Vergleiche zwischen den Geschlechtern die Mädchen eine höhere Lesemotivation auf. Anzumerken ist aus methodischer Sicht, dass die Operationalisierung des Konstrukts tätigkeitsspezifische intrinsische Lese
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Maik Philipp
motivation mehrheitlich über Items erfolgte, in denen mehr oder minder direkt das literarische Lesen angesprochen war. Abgesehen von den beiden Fällen mit großen Unterschieden in der Lesemotivation lagen die Anteile mit Differenzen bei fünf weiteren Skalen zwischen einem und zwei Fünfteln. Am ehesten sind die Differenzen in der intrinsischen Lesemotivation (mit zwei Dimensionen) zu finden, während sie bei der deutlich schlechter untersuchten extrinsischen Lesemotivation geringer ausfallen. Pauschal kann man also nicht von einer allgemein und überall gleichermaßen höheren Lesemotivation der Mädchen sprechen, denn es gibt offenkundig mehr Vergleiche, die auf keine statistisch auffälligen Differenzen stießen, als solche, bei denen dies der Fall war. In eine ähnliche Richtung gehen Befunde aus Studien, die das ebenfalls mehrdimensionale Leseverhalten über Präferenzen von traditionellen Lesemedien und -genres erfassen. Hier sind prinzipiell ebenso mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern zu attestieren, wenngleich diese Aussage nicht auf statistischer Signifikanz, sondern auf der Basis prozentualer Verteilungen basiert. Die wenigen Differenzen scheinen auf unterschiedliche Interessen zurückführbar zu sein. Männer und Jungen lesen tendenziell mehr Spannungsliteratur und solche mit fremden Welten, und sie präferieren die Themen Sport und Technik. Frauen und Mädchen hegen Sympathien für alltagsnahe Themen, etwa nützliche Ratgeberliteratur mit Anwendungscharakter bzw. realistische und Problemgeschichten. Sie äußern zudem – zumindest im Erwachsenenalter –, dass sie mehr zur Unterhaltung lesen und nennen als Kriterium für ihre Lektürewahl eher den Realismus bzgl. interpersonaler Beziehungen und der im Text beschriebenen Problemlagen. Die stärkere Zuwendung des weiblichen Geschlechts zu fiktionalen Geschichten bildet die größte Differenz und hat vermutlich mit den spezifischen Rezeptionsweisen und Funktionen des Lesens dieser Texte zu tun. Die Rezeption solcher Texte weist nämlich die Besonderheit auf, dass sie eine dreifache Simulation (kognitiver, emotionaler und sozialer Provenienz) erlaubt, über die sich spezifische Funktionen jenseits der Unterhaltung auf personaler Ebene erklären lassen. Insbesondere die Perspektivenübernahme und das Sich-Einlassen auf die fiktionalen Welten sowie die vielfältigen Emotionen sind für die Rezeption von fiktiven Inhalten aus Sicht der Forschung zentral und bilden vermutlich für das weibliche Geschlecht attraktive Lektüreanreize. Möglicherweise lassen sich auch die relativ konsistenten Differenzen in der (literaturnah operationalisierten) tätigkeitsspezifischen intrinsischen Lesemotivation über die Emotionen beim Lesen erklären. Allerdings deuten sich auch hier keine einfachen Lösungen an, da die Effekte des biologischen Geschlechts in quantitativen Studien uneindeutig sind bzw. noch gar nicht in den Blick geraten sind. Gerade dieser letzte Umstand verweist auf die Notwendigkeit weiterer Studien.
2.3.4 Geschlecht und Lesen
463
5.2 Ausblick: Forschungsperspektiven Angesichts so vieler ungeklärter Fragen tut man zunächst einmal gut daran, die Differenz zwischen den biologischen Geschlechtern nicht zu überhöhen. Insbesondere kann man nicht pauschalierend von ›den‹ Jungen bzw. ›den‹ Mädchen in Bezug auf das Lesen sprechen. Denn erstens überwiegen eindeutig die Gemeinsamkeiten, so dass sich Jungen und Mädchen, Männer und Frauen im Gros eher ähneln denn stark unterscheiden. Dies gilt nicht nur für das Lesen, sondern auch für viele andere Domänen (vgl. Hyde 2005). Schon deshalb verbietet es sich, das Lesen künstlich in eine angeblich weibliche und eine unterstellt männliche ›Hemisphäre des Lesens‹ zu trennen. Auffällig ist, dass die (quantitativ geprägte) Forschung zum Geschlecht nahezu ausnahmslos Geschlecht als biologisches Geschlecht und damit als sog. ›unabhängige Variable‹ erfasst. Die methodisch aufwändigere Operationalisierung des sozialen Geschlechts (Gender), in welcher das Geschlecht als sozialisatorisch erworbene Mischung von Femininität und Maskulinität verstanden, es als solches angemessen erfasst und als zu erklärende (sprich: ›abhängige‹) Variable modelliert wird, steckt noch in den Kinderschuhen. Erste Versuche deuten darauf hin, dass hier reichhaltige, aber eben nicht immer leicht zu erklärende Befunde in Aussicht stehen (vgl. Odağ 2013; McGeown u. a. 2012; McGeown 2015). Dies führt zu einem weiteren Punkt, der in der Forschung der Bearbeitung harrt, allerdings zunächst aus theoretischer Warte. Die zwei Dilemmata in der integrativen Betrachtung des biologischen und sozialen Geschlechts beim Lesen haben Bettina Hurrelmann und Norbert Groeben (2004) prägnant auf den Punkt gebracht: Das theo retisch nicht zufriedenstellende biologische Geschlecht ist als empirisch dichotome Variable relativ oft auffällig, während sich das theoretisch elaboriertere Konzept Gender bisher empirisch wenig bewährt. Zudem ist gerade im Licht der Befunde aus diesem Kapitel die empirische Aussagekraft des biologischen Geschlechts kein sonderlich belastbares Fundament (mehr). Es sind demnach im Zuge der gegenwärtigen Umwälzungen bei den vermeintlich so großen Differenzen zwischen den Geschlechtern (nicht nur im Lesen; vgl. z. B. Miller / Halpern 2013) elaboriertere lesesozialisatorische Erklärungsansätze nötig als die derzeit vorliegenden (wie etwa Garbe 2007). Diese neuen Ansätze sollten zudem einige hartnäckige Mythen als solche behandeln, etwa dass Lesen im Allgemeinen bzw. unter Jungen im Besonderen als weibliche Tätigkeit gilt (was so nicht stimmt: vgl. Kelly 1986; Sokal 2010) oder dass mehr männliche Lehrer als Rollenvorbilder in Grundschulen mit besser lesenden Jungen zu tun haben (was ebenfalls bereits widerlegt wurde: vgl. Neugebauer u. a. 2011). Auch die derzeit populären auf der Differenzhypothese basierenden Erklärungsansätze, nach der die Unterschiede die Gemeinsamkeiten angeblich überwiegen und theoretisch erklärt werden müssten (vgl. Garbe 2007), benötigen angesichts der vorhandenen Empirie nunmehr dringend eine kritische Neubewertung und -justierung.
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Alles in allem deutet sich bereits aus den vorhandenen Befunden an, dass das Thema Geschlecht und Lesen noch erheblicher Forschungsbemühungen bedarf, um den Gegenstandsbereich besser zu verstehen, als es gegenwärtig der Fall ist. Neben der breiteren Zuwendung zur Variable Gender sollte noch etwas anderes differenzierter in den Blick geraten: der genaue Zusammenhang von Geschlecht, Lesemotivation, Lektürepräferenz und Leseprozess. Hierfür bietet es sich zunächst an, sich in einem ersten Schritt auf literarische Texte zu konzentrieren (ohne dabei freilich Sachtexte und Texte in nicht-traditionellen Medien aus dem Blick zu verlieren) und dabei jüngere Personen als bislang zu untersuchen. Umgekehrt benötigen wir hinsichtlich der Lesemotivation noch mehr Studien im Erwachsenenalter, da hier die Forschungslücke unübersehbar klafft. Die Forschungsagenda ist also beim Thema Geschlecht und Lesen nach wie vor reichhaltig und längst nicht abgeschlossen.
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Laura Sūna
2.3.5 Lesen und Migration: Identitätsrelevanz und Funktionen medialer Texte für die Diaspora Zusammenfassung: Der Beitrag beschreibt Aspekte des Leseverhaltens als Teil der Medienaneignung für Migrantinnen und Migranten. Anhand der Ergebnisse zweier Studien wird exemplarisch gezeigt, inwiefern deutsche, herkunftssprachliche und fremdsprachliche mediale Texte die kulturelle Identität und Vernetzung der lettischen, russischen, türkischen und marokkanischen Diaspora in Deutschland prägen. Abschließend werden allgemeine Funktionen des Lesens für die Diaspora diskutiert und mögliches Integrationspotenzial des mediatisierten Leseverhaltens abgeschätzt. Abstract: The article describes aspects of reading behaviour as a part of migrants’ media appropriation process. The results of two research projects serve as examples how texts and media in German, in the language of origin, and in a foreign language affect the cultural identity and connectivity of the Latvian, Russian, Turkish and Moroccan diasporas in Germany. The article will finally discuss general functions of reading for the diaspora and evaluate the integrative potential of mediatised reading behaviour.
Inhaltsübersicht 1 Migration und Medien — 469 2 Migration in Deutschland — 471 3 Lesen in der Diaspora — 473 3.1 Methodisches Vorgehen: Leseverhalten und kulturelle Identität — 475 3.2 Leseverhalten von herkunfts-, ethno- und weltorientierten Migranten — 478 3.2.1 Brücken zur Heimat: Leseverhalten der ›Herkunftsorientierten‹ — 478 3.2.2 Sich im ›Dazwischen‹ positionieren: Leseverhalten der ›Ethnoorientierten‹ — 480 3.2.3 Transkulturelle Medienwelten: Leseverhalten der ›Weltorientierten‹ — 483 3.2.4 Funktionen des migrantischen Leseverhaltens — 484 4 Fazit: Integration durch Lesen? — 486 5 Literatur — 489
1 Migration und Medien Die Kommunikations- und Medienwissenschaft diskutiert im deutschen Sprachraum Fragen der Mediennutzung (auch das Lesen) und Migration primär im Rahmen einer nationalkulturellen Integration. Während hierbei wichtige Forschungsergebnisse erarbeitet wurden, ist dieser Zugang doch verkürzend, wenn er die nationalintegrative Rahmensetzung als einzigen Bezugspunkt begreift. Mit fortschreitender Globalisierung, die sich u. a. in (Trans-)Migration und grenzüberschreitender
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(digitalisierter) Kommunikation konkretisiert, ist die Lage wesentlich vielschichtiger geworden. Versteht man unter Migration die alltagsweltlich relevante, großräumige Verlagerung des Lebensmittelpunkts durch lokale Mobilität (vgl. Oswald 2007, S. 17 f.), können wir Migration nicht (mehr) als einen linearen Wanderungsprozess von einem Herkunfts- in ein Aufnahmeland begreifen, in das sich Menschen akkulturalisieren bzw. assimilieren. Vielmehr ist Migration selbst hochgradig differenziert. Migranten leben verschiedene Formen von Identitäten und kulturellen Zugehörigkeiten, für deren Artikulation ›traditionelle‹ Massenmedien (Fernsehen, Film, Zeitung, Radio etc.) und ›neue‹ digitale Medien (WWW, Social Web, [Mobilund Internet-]Telefon etc.) eine wichtige Ressource bilden. In der internationalen Forschungsdiskussion hat sich diesbezüglich das Konzept der ›Diaspora‹ etabliert. Mit diesem Konzept wird verbunden, dass Migranten als Gruppe spezifische Vergemeinschaftungen konstituieren, die nicht einfach dem Leben der Identität einer ›Herkunftsnation‹ in der Fremde entsprechen. Das Konzept der Diaspora hebt darauf ab, die Spezifik einer migrantischen, ethnischen Vergemeinschaftungsform zu fassen. Migranten konstituieren dann eine Diaspora, wenn sie ein geteiltes Identitätsverständnis subjektiv gefühlter Zugehörigkeit (vgl. Weber 1984, S. 69) haben. Diese intern vielfältig differenzierten Diasporas sind »deterritorial« (Hepp 2006, S. 282), weil sie sich als Vernetzung verschiedener lokaler Gruppen über unterschiedliche Territorien hinweg erstrecken. Für die Aufrechterhaltung der Diaspora sind Medien wegen ihres deterritorialen Kommunikationspotenzials eine wichtige Stütze. Zudem dürfen Diasporas nicht als harmonische Gebilde begriffen werden, sondern sind wie andere kulturelle Verdichtungen hochgradig konfliktär und vermachtet. Hierbei haben sie durchaus unscharfe Ränder, d. h. Diasporas gehen fließend in andere kulturelle Verdichtungen über – die verschiedenen Kulturen der Herkunft wie auch nicht-diasporische Vergemeinschaftungen beispielsweise politischer oder auch populärkultureller Natur. Solche Überlegungen aufgreifend wird in diesem Beitrag die Medienaneignung im Allgemeinen und das ›Leseverhalten‹ als einen ›Teil des Aneignungsprozesses‹ im Speziellen von Migranten erläutert. Dabei ist es wichtig, nicht starr die Medien der Herkunfts- und der Aufnahmesprache gegenüberzustellen. Ähnlich sollte eine solche Betrachtung jenseits der Vorstellung einer nationalen Integration in die Migrationsgesellschaft und einem linearen Bewertungsblickwinkel einer erfolgreichen oder nicht erfolgreichen Integration verlaufen. Zudem sind für eine übergreifende Analyse »alle Medien« (Leeuw / Rydin 2007, S. 192) – angefangen vom Buch und Fernsehen bis hin zum Internet – einzubeziehen, wenn man die Differenziertheit dieses Kommunikationsraums und des Leseverhaltens angemessen analysieren möchte. Hier schließe ich an Heinz Bonfadelli an,3 der betont, dass die sozialwissenschaftliche Leseforschung sich vermehrt mit dem Leseverhalten in zahlreichen Medien beschäftigen sollte, die
3 Vgl. Kap. 1.4 Sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze in diesem Band.
2.3.5 Lesen und Migration
471
in den heutigen mediatisierten Gesellschaften (vgl. Krotz 2007) das Leben der Menschen durchdringen und prägen. Mediatisierung meint dabei nicht nur die quantitative Zunahme der Medien im Alltagsleben der Menschen, sondern eben eine qualitativ fassbare Durchdringung und Prägung des Alltagslebens durch Medien. In einem solchen Gesamtrahmen sind auch die vielfältigen Kommunikationsbeziehungen von Migranten zu sehen: Mit der fortschreitenden Mediatisierung stehen diese in einem komplexen Gefüge von Face-to-Face-Interaktion, mediatisierter Interaktion und mediatisierter Quasi-Interaktion als sog. Massenkommunikation (vgl. Thompson 1995, S. 85; Hepp u. a. 2011, S. 12). Insbesondere die beiden letztgenannten Kommunikationsformen haben eine hohe Relevanz für Migranten, weil sie ein translokales Erstrecken von Kommunikationsnetzwerken über den aktuellen Lebensort hinaus ermöglichen. Auf diese Weise kann die Migrationsgemeinschaft ›zusammengehalten‹ werden. Insgesamt haben wir es mit komplexen Kommunikationsnetzwerken zu tun, die man bei der Analyse von Medien und Migration berücksichtigen muss. Eine Betrachtung dieser Kommunikationsnetzwerke zielt auf das Herausarbeiten mehr oder weniger dauerhafter Strukturen von Kommunikation (vgl. Hepp u. a. 2011, S. 12 f.). Somit ist das Leseverhalten von Migranten als ein Teil des vielschichtigen Kommunikationsprozesses zu sehen.
2 Migration in Deutschland Wie bereits formuliert, wird hier unter Migration die alltagsweltlich relevante, großräumige Verlagerung des Lebensmittelpunkts durch lokale Mobilität verstanden. Eine solch breite Definition von Migration verweist darauf, dass es sehr unterschiedliche Formen des Migrierens gibt, für deren Beschreibung sich in der soziologischen Migrationsforschung unterschiedliche Ansätze etabliert haben. Bestehende Typologisierungsversuche operieren entlang von vier Achsen, nämlich erstens nach der der räumlichen Aspekte, zweitens der der zeitlichen Aspekte, drittens der des Entscheidungsprozesses und viertens der des Umfangs (vgl. Treibel 2008, S. 20). Im Hinblick auf ›räumliche Aspekte‹ ist der (National-)Staat als wichtige Bezugsgröße in die Betrachtung mit einzubeziehen, wenn interne Migration (Wanderungen innerhalb eines Staats, beispielsweise in Form von Stadt-Land-Mobilität) von externer Migration (kontinentale oder transnationale Wanderungen) unterschieden wird. Im Blick habend, dass historisch gesehen die Grenzen weitaus fließender sind, als die klare Unterscheidung intern / extern es nahe legt, kann bei den räumlichen Aspekten auch offener von einer Unterscheidung bezogen auf die geografische Reichweite von Migration gesprochen werden. Bei ›zeitlichen Aspekten‹ erfolgt eine Differenzierung dahingehend, ob eine temporäre Migration (saisonale Migration, Pendelmigration) bzw. eine permanente Migration (Einwanderung, koloniale Siedlungswanderung) vorliegt.
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Laura Sūna
Typologisierungen im Hinblick auf den ›Entscheidungsprozess‹ setzen bei der grundlegenden Differenzierung von freiwilliger Migration (z. B. Arbeitsmigration, Bildungsmigration zu Studienaufenthalten, Liebesmigration) vs. erzwungener Migration (z. B. Flucht, Vertreibung und Verschleppung) an. Juristisch geht damit zumindest zum Teil die Anerkennung eines bestimmten Migrationsstatus einher, wenn beispielsweise eine Migrantin oder ein Migrant als politischer Flüchtling und damit Asylant anerkannt wird (oder auch nicht). Aber auch hier bestehen Unschärfebereiche, indem selbst bei Flucht eigene Entscheidungen für die Wahl des Migra tionsziels eine Rolle spielen. Schließlich werden Migrationsformen im Hinblick auf deren ›Umfang‹ unterschieden. Endpole sind dabei die Migration Einzelner auf der einen Seite und Massenmi grationen auf der anderen Seite. Gewissermaßen in der Mitte zwischen diesen beiden Polen ist die Kettenmigration zu sehen, bei der sich im Zeitverlauf über bestimmte soziale Netzwerke Gruppen von Migranten bewegen (vgl. Hepp u. a. 2011, S. 28 f.). Solche Überlegungen machen deutlich, dass zwar begriffliche Unterscheidungen der verschiedenen Aspekte von Migration notwendig sind, um bestimmte Einzelphänomene zu fassen. Es ist aber Vorsicht geboten, dabei nicht vereinfachende Schubladen der Beschreibung komplexer Prozesse von Migration zu entwickeln. Betrachtet man Deutschland insgesamt, kann es weit vor dem Inkrafttreten des Einwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 als »informelles Einwanderungsland« (Bade / Oltmer 2007, S. 169) gelten. Mit dieser Formulierung erfassen Klaus Bade und Jochen Oltmer den Umstand, dass zwar keine reguläre Einwanderungsgesetzgebung und Einwanderungspolitik bestand, gleichzeitig aber die Zahl der Zuwanderungen dauerhaft die der Auswanderungen übersteigt – eine Entwicklung, bei der es seit 2008 gegenläufige Tendenzen gibt. Durch die Heterogenität der Gesellschaftsgruppe der Migranten können folglich nur Schätzungen des Umfangs dieser Gruppe in Deutschland abgegeben werden. Insgesamt ist davon auszugehen, dass in Deutschland ca. 20 % der Einwohner einen Migrationshintergrund aufweisen (siehe Abb. 1). Das Statistische Bundesamt zählt zu den Menschen mit Migrationshintergrund alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil.4
4 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2012. URL: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshintergrund2010220127004.pdf?__ blob=publicationFile 2012, S. 6 [eingesehen am 01.12.2014].
473
2.3.5 Lesen und Migration
Migrationshintergrund der Bevölkerung in Deutschland im Jahr 2012
Bevölkerung ohne Migrat ionshint ergrund
80,05%
Bevölkerung mit Migrat ionshint ergrund im engeren Sinn
19,95%
Davon: Deut sche mit eigener Migrat ionserfahrung
30,96%
Davon: Deut sche ohne eigene Migrat ionserfahrung
23,95%
Davon: Ausländer mit eigener Migrat ionserfahrung
35,86%
Davon: Ausländer ohne eigene Migrat ionserfahrung
9,25%
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
Anteil der Bevölkerung Quelle:
Weitere Informationen:
Statistisches Bundesamt © Statista 2014
Deutschland
Abb. 1:. Anzahl der Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund
Nachdem nun die Gesellschaftsgruppe der Migranten theoretisch und auch statistisch gefasst wurde, soll im Weiteren die Frage diskutiert werden, welche Rolle das Leseverhalten in der Alltagswelt der Migranten in der Diaspora einnimmt und welche Aspekte für die Aneignung medialer Texte prägend sein können.
3 Lesen in der Diaspora Bonfadelli (2001, S. 98) spricht von Lesen als Zuwendung zu und Umgang mit Medien im Allgemeinen und mit medialen Texten im Speziellen. Im Weiteren werden beide Aspekte verdeutlicht, wobei der Schwerpunkt auf das Lesen medialer Texte gelegt wird. Der hier folgende Abschnitt widmet sich einer an den Cultural Studies ausgerichteten strukturanalytischen Perspektive. Diese thematisiert das Leseverhalten aus einer kulturellen Perspektive (vgl. Bonfadelli 2001, S. 101).5 Dabei wird vermehrt
5 Vgl. auch Kap. 1.4 Sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze in diesem Band.
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die identitätsstiftende Rolle der Rezeption beleuchtet, die im Rahmen interpretativer Prozesse verläuft. Identität wird im Rahmen der Cultural Studies nicht als etwas Statisches begriffen, sondern als ein fortlaufender Prozess der Identifikation (vgl. Hall 1994; Krotz 2009). Diese Formulierung verweist auf zweierlei: Erstens entsteht im Sinne des symbolischen Interaktionismus Identität in der Interaktion zwischen einem ›Ich‹ und ›der Gesellschaft‹.6 Zweitens kann im Verständnis der Artikulationstheorie von Stuart Hall nicht die Existenz eines dauerhaften ›Ichs‹ oder ›Subjekts‹ als essenzielles Zentrum einer Person angenommen werden. Jedes Subjekt nimmt zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen diskursiven Kontexten andere Identitäten an. Diese lassen sich nicht um ein kontextunabhängiges ›Ich‹ als ›Identitätskern‹ vereinheitlichen. Statt von einer Identität als etwas Abgeschlossenem zu sprechen, erscheint es damit sinnvoller, sich Identität als einen fortlaufenden Prozess der Artikulation zu denken, für den die kommunikative, kontextuell-situative Abgrenzung gegenüber verschiedenen Identifikationsangeboten eine grundlegende Voraussetzung ist. Insbesondere für Migranten gilt, dass die Angebote für solche Identifikationen – die Ressourcen oder Elemente der Artikulation von kultureller Identität – eine erhebliche Varianz haben. Neben der Positionierung in Relation zur (vorgestellten) Herkunft spielen Bezugnahmen zu dem, was als ›Deutsch‹ konstruiert wird, ebenso eine Rolle wie lokale Bezüglichkeiten. Deshalb sind speziell migrantische Identitäten als ›hybrid‹ zu charakterisieren: Sie konstituieren sich in einer Artikulation von Identifikationselementen verschiedenartiger diskursiver Kontexte. Wenn im Weiteren also von der migrantischen Identität gesprochen wird, wird damit nicht Identität in einem essenzialistischen Verständnis verstanden. Es wird damit der Prozess einer fortlaufenden Artikulation von Elementen unterschiedlicher Diskurse im oben beschriebenen Sinne betont. Umgekehrt ist dies aber nicht damit gleichzusetzen, dass Identitäten etwas rein Situatives oder Subjektives wären. Indem sie als Artikulation auf verschiedene kulturelle Diskurse verweisen, sind sie in einem überindividuellen Zusammenhang zu sehen. Kultur ist dabei zunehmend mediatisierte Kultur, durchdrungen von verschiedensten Prozessen der Medienkommunikation. Deshalb wird im Weiteren bewusst der Begriff der kulturellen Identität verwendet. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass es nicht einfach um eine Kultur geht, sondern um die Überlagerung verschiedener kultureller Verdichtungen: die Herkunftskultur, die Kultur der Diaspora, die deutsche Kultur und transnationale Populärkultur. Welche Rolle das Leseverhalten im Rahmen der personalen Kommunikation und der Massenkommunikation für die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer kultu-
6 Vgl. Kap. 4.2.2 Lesen als Identitätskonstruktion und soziale Integration in diesem Band.
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rellen Identität der vorgestellten Gemeinschaft der Diaspora spielt, wird im Folgenden anhand der Forschungsergebnisse zweier Forschungsprojekte diskutiert.7
3.1 Methodisches Vorgehen: Leseverhalten und kulturelle Identität Die hier erfolgende Argumentation basiert auf einer Aneignungstypologie. Eine sol che Typenbildung erscheint als zielführend, wenn individuenübergreifende Muster von zuerst einmal subjektiven Prozessen der Medienaneignung wie auch der Identitätsbildung und der Vergemeinschaftung herausgearbeitet werden sollen (vgl. Kelle / Kluge 2010). Der Typologie liegt eine Mehrebenenuntersuchung zugrunde: In zwei deutschen Großstädten (Berlin und Bremen) und deren Umland wurden mit 122 Personen aus der marokkanischen, russischen, türkischen und lettischen Diasporagemeinschaft qualitative Interviews geführt sowie offene Netzwerkkarten und – wo möglich – zweiwöchige Medientagebücher erhoben.8 Bei den offenen Netzwerkkarten handelt es sich um freie, während des Interviews näher erläuterte Zeichnungen, die darstellen, wie die Interviewten ihr jeweiliges Kommunikationsnetzwerk sehen. Die Auswahl der Interviewpartner erfolgte nach dem Prinzip der Streuung über die Kategorien Alter, Aufenthaltszeit in Deutschland, Bildung und Gender. Dieses Gesamtmaterial wurde in einem an die Grounded Theory (vgl. Glaser / Strauss 1998; Krotz 2005) angelehnten Prozess des Codierens ausgewertet. Leitend dafür war die Beschreibung alltagsweltlich kontextualisierter kultureller Muster der Medienaneignung in den vier Diasporagemeinschaften sowie deren kommunikative Vernetzung im Hinblick auf kulturelle Identitäts- bzw. Gemeinschaftsbildung. Als Ergebnis dieses Codierungsprozesses liegt ein System von insgesamt 96 Kategorien vor. Diese können mittels der Schlüsselkategorien ›kulturelle Identität‹ und ›kommunikative Vernetzung‹ bzw. elf weiteren Subkategorien systematisiert werden. So wurden mit kultureller Identität die Subkategorien Angaben zur Person, Identitätsbild, Migrationserleben und Wohnorte zusammengefasst, worüber dann die identitätsbezogenen Einzelkategorien systematisiert sind. Kommunikative Vernetzung verweist auf die Subkategorien Angebotsformen, Medienausstattung, Kommunikati-
7 Es handelt sich dabei um ein DFG-Projekt, das durch die Autorin und die Projektmitarbeiter Prof. Dr. Andreas Hepp und Cigdem Bozdag unter dem Titel Integrations- und Segregationspotenziale digitaler Medien am Beispiel der kommunikativen Vernetzung von ethnischen Migrationsgemeinschaften (2008–2010) an der Universität Bremen realisiert wurde. Das zweite Projekt mit dem Titel The emigrant communities of Latvia: National identity, transnational relations, and diaspora politics wird durch die Autorin und Kollegen an der Universität Lettlands durchgeführt (finanziert durch den Europäischen Sozialfond, Projektnummer: 2013/0055/1DP/1.1.1.2.0/13/APIA/VIAA/040). 8 Davon waren 32 Fälle der marokkanischen Diaspora, 31 Fälle der russischen Diaspora, 22 der lettischen Diaspora und 37 Fälle der türkischen Diaspora zuzuordnen.
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Abb. 2: Medienaneignungstypen
Abb. 2: Medienaneignungstypen
onsnetzwerk, Inhalte, Nutzungsorte, Medienerfahrung und Vermittlerrollen, die wiederum andere Einzelkategorien erschließen. In Kombination dieser beiden Hauptkategorien – kulturelle Identität und kommunikative Vernetzung – lassen sich über die von uns untersuchten Diasporagemeinschaften hinweg drei Medienaneignungstypen unterscheiden, nämlich herkunftsorientierte, ethnoorientierte und weltorientierte (siehe Abb. 2). Während diese Typen für jede der Diasporagemeinschaften eine spezifische Ausprägung haben bzw. bezogen auf die Diasporas ungleich verteilt sind, bieten sie insgesamt die Möglichkeit, das Potenzial von Medien für Migranten abzuschätzen. Die Namen der drei unterschiedenen Typen sind zuerst einmal anhand der subjektiven Positionierung der eigenen ›kulturellen Identität‹ gebildet, d. h. auf Basis der Selbstzuschreibungen der von uns interviewten Migranten. Hiermit korrespondiert tendenziell die kommunikative Vernetzung, die aus den Interviewangaben zur Medienaneignung und aus den Netzwerkkarten zu bestimmen waren. Dabei kann die Abbildung 2 nur unzureichend fassen, dass sich über die Typen hinweg auch die Qualität der kommunikativen Vernetzung ändert. Vereinfacht formuliert lässt sich sagen, dass ›herkunftsorientierte Migranten‹ eine subjektiv gefühlte Zugehörigkeit zu ihrer Herkunftsregion haben. Ihre kulturelle Identität charakterisieren die interviewten Migranten beispielsweise als »Marokkaner […] egal wo ich […] lebe« (Fatih9, m, 28, marokk.), als die »der sowjetischen [sic!] Kultur«
9 Bei den Namen der Interviewpartnerinnen und -partner handelt es sich ausschließlich um Pseudonyme.
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(Pawel, m, 59, russ.) oder schlicht als »Lettin« (Aivita, w, 47, lett.). Diese kulturelle Orientierung geht mit einer spezifischen kommunikativen Vernetzung einher, die sich als Herkunftsvernetzung bezeichnen lässt. Während eine intensive lokale kommunikative Konnektivität am Lebensort besteht, zumeist mit Mitgliedern der eigenen Diasporagemeinschaft, existieren darüber hinaus umfassende translokale Kommunikationsbeziehungen insbesondere zur Herkunftsregion. Das Medienrepertoire (vgl. Hasebrink / Popp 2006) dieses Typus ist auf eine solche kommunikative Herkunftsvernetzung orientiert. Beispielsweise hält Noureddin (m, 27, marokk.) über das Telefon Kontakt zu seiner Verwandtschaft in seinem Herkunftsland, seinen Geschwistern, seiner Großmutter, seinem Onkel und seinen Eltern. Daneben ist das personale Kommunikationsnetzwerk von ›Herkunftsorientierten‹ vor allem auf lokal lebende Migranten gleicher Herkunft ausgerichtet. Und auch für Massenmedien ist festzuhalten, dass ›Herkunftsorientierte‹ tendenziell Herkunftsangebote nutzen bzw. dass allenfalls das deutsche Fernsehen eine kommunikative Einbettung am aktuellen Lebensort sicherstellt. Anders verhält es sich bei den ›ethnoorientierten Migranten‹. Die Bezeichnung dieses Typus hebt darauf ab, dass dieser seine Zugehörigkeit im Spannungsverhältnis zwischen Herkunft und nationalem Aufnahmekontext (i. e. Deutschland) sieht, er sich also charakteristischerweise Deutschmarokkaner, Deutschtürke oder Russlanddeutscher nennt. Im Zentrum der Zugehörigkeit steht der Teil der jeweiligen Diasporagemeinschaft, der sich im deutschen Kontext konkretisiert. Mahmut (m, 30, türk.) meint, er empfände »genauso Türkei als [s]eine Heimat wie Deutschland«, Amir (m, 57, marokk.) charakterisiert sich als »Mischling […] von beiden Kulturen« und Valerij (m, 68, russ.) sagt: »[I]ch kann mich zu der deutschen Kultur nicht zählen alleine«. Als Charakteristikum besteht somit eine ethnische Orientierung auf das Spannungsverhältnis von Herkunfts- und Migrationsland. Die kommunikative Vernetzung des ›Ethnoorientierten‹ lässt sich als bikulturelle Vernetzung beschreiben: Sie erfolgt lokal wie translokal vor allem im Spannungsverhältnis zwischen zwei Kulturen. Eine nochmals andere kulturelle Identität und kommunikative Vernetzung hat der ›weltorientierte Medienaneignungstyp‹. Die Bezeichnung dieses Typus ist den Interviews entlehnt, in denen sich die Befragten als »Weltmensch« (Gökce, w, 33, türk.) oder als »Europäer« (Danil, m, 24, russ.) bzw. „Europäerin“ (Evija, w, 23, lett.) bezeichnen. Damit rücken sie Formen von Identität ins Zentrum, die jenseits des Ethnisch-Nationalen liegen (ob in Bezug zur Herkunft oder zum aktuellen Lebenskontext). Vorstellungen der Nation – ob der deutschen, der Herkunft oder eines bilateralen Spannungsverhältnisses zwischen beiden – werden durchschritten und das supranationale Europa oder gar das Menschsein als solches zum Bezugspunkt von Zugehörigkeit. Die subjektiv gefühlte Zugehörigkeit geht mit einer transkulturellen Vernetzung einher. Man kann sie auch mit dem Typus des ›Ethnoorientierten‹ vergleichen. Bei den ›Weltorientierten‹ ist die Reichweite kommunikativer Vernetzung aber umfassender und tendiert zum Europäischen oder Globalen. Insgesamt besteht für jeden der drei Grundtypen eine je spezifische wechselseitige Beziehung von kultureller Identität und kommunikativer Vernetzung, die sich
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nicht in einseitige Kausalitäten auflösen lässt. Das heißt, eine herkunfts-, ethno- oder weltorientierte kulturelle Identität hat nicht eine bestimmte kommunikative Vernetzung zur Folge. Ebenso zieht eine Herkunftsvernetzung, eine bikulturelle Vernetzung oder eine transkulturelle Vernetzung keine spezifische kulturelle Identität nach sich. Vielmehr ist die Beziehung zwischen beiden so zu sehen, dass sich eine bestimmte kommunikative Vernetzung und eine bestimmte Form kultureller Identität zusammen artikulieren. Man muss von einer beidseitigen Verstärkung ausgehen: Die Herkunftsvernetzung verstärkt die Artikulation einer herkunftsorientierten kulturellen Identität und damit wiederum eine Ausrichtung auf ein entsprechendes Kommunikationsnetzwerk. Eine bikulturelle Vernetzung verstärkt die Artikulation einer doppelten kulturellen Zugehörigkeit und damit wiederum eine Orientierung auf ein Kommunikationsnetzwerk zwischen Herkunfts- und Migrationsland. Eine transkulturelle Vernetzung verstärkt die Artikulation einer europäischen bzw. globalen Zugehörigkeit und so eine Fokussierung auf ein weitreichendes deterritoriales und transnationales Kommunikationsnetzwerk. Bei all diesen Prozessen greifen Medien der personalen Kommunikation (Telefon, Mobiltelefon, E-Mail, Social Web) und Medien der Massenkommunikation (Fernsehen, Zeitung, WWW) umfassend ineinander.
3.2 Leseverhalten von herkunfts-, ethnound weltorientierten Migranten Das Leseverhalten Migranten wird den Typen von ›Herkunfts-‹, ›Ethno-‹ und ›Weltorientierten‹ zugeordnet. Darüber hinaus ist es notwendig Sprache als ein weiteres Kontextfeld in die Analyse einzubeziehen, da Sprache einen wichtigen Kontextfaktor darstellt. Gleichwohl erscheint es nicht angebracht, diese – wie es immer wieder getan wird – auf den Status von Erklärungsvariablen zu reduzieren. Vielmehr müssen wir Sprache selbst zumindest in Teilen als artikuliert in und durch Medienaneignung begreifen, zumindest dann, wenn wir sie nicht mit formaler Schulbildung und dem Lernen im Unterricht gleichsetzen. Der Ausgangspunkt ist somit, nicht a priori zu sagen, dass eine bestimmte Sprachkompetenz eine bestimmte Nutzung einzelner Medien und konkretes Leseverhalten nach sich zöge. Vielmehr geht es hier darum, offener auf der Basis der durchgeführten Interviews zu beleuchten, wie und in welcher Form sich Sprache kontextualisierend in dem Leseverhalten von Migranten konkretisiert.
3.2.1 Brücken zur Heimat: Leseverhalten der ›Herkunftsorientierten‹ Für die herkunftsorientierten Migranten ist – wie schon beschrieben – eine Identitätsorientierung an das eigene Herkunftsland bzw. an das Herkunftsland der Eltern kennzeichnend. Sie spiegelt sich auch in der Mediennutzung und der Aneignung
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von Medientexten wider. Zudem weist diese Gruppe der Migranten die geringsten Deutschkenntnisse unter den Befragten auf, umgekehrt aber auch die höchsten Kompetenzen in ihrer Herkunftssprache. In den Medienrepertoires der ›Herkunftsorientierten‹ haben ›Herkunftsangebote‹ einen herausgehobenen Stellenwert. Dies können traditionelle Massenmedien wie Fernsehen, Zeitungen und Bücher sein, aber auch ihre Online-Pendants wie WebZeitungen. Vor allem vermitteln diese im Kontinuum der Alltagswelt das Gefühl der unmittelbaren Nähe zum Herkunftsland. Es geht nicht einfach nur darum, Zugang zu Herkunftsinformationen zu haben, sondern um ein Beteiligt-Sein an einem fortlaufenden Kommunikationsfluss. Den ›Herkunftsorientierten‹ geht es konkret darum, sich über die (politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen) Geschehnisse im Herkunftsland fortlaufend zu informieren. Hayrettin (m, 67, türk.) sagt z. B., dass er seit 1958 »verrückt nach [der türkischen Zeitung] Hürriyet« ist. Schon in der Türkei habe er die Zeitung gelesen und sein Interesse an dieser in Deutschland beibehalten. Zudem ist das Herkunftsfernsehen neben Zeitungen für Hayrettin – wie für andere Herkunftsorientierte – eine wichtige Nachrichtenquelle. Zusätzlich zum Fernsehen und Zeitungen nutzen viele Herkunftsorientierte das Internet für Nachrichten aus dem Herkunftsland. Pawel (m, 59, russ.) meint sogar, dass man »in Deutschland mehr darüber wissen [kann], was in der Ukraine passiert, als sie dort, also dank dem Internet.« Salim (m, 43, türk.) liest primär Zeitungen und schaut Fernsehen, um sich regelmäßig über Geschehnisse in der Türkei zu informieren. Vaira (w, 43, lett.) fängt jeden Tag mit der Lektüre lettischer Nachrichtenportale im Internet an. Bezüglich des Zugangs zu den Herkunftsmedien kann man sagen: Über das Fernsehen hinaus werden die Herkunftsmedien in Deutschland vorwiegend über Diasporaläden erworben, z. B. aktuelle Bücher, Presseerzeugnisse, DVDs oder CDs. In der russischen Diaspora ist es üblich, diese per Versandkatalog zu bestellen, wobei diese Kataloge in den russischen Läden ausliegen. Bücher aus dem Herkunftsland werden innerhalb der lokalen Diaspora ausgetauscht. Wadim (m, 42, russ.) berichtet von seinem breiten Netzwerk, auf das er entsprechend seiner Bedürfnisse zurückgreifen kann: »[I]ch leihe [Bücher] von Bekannten aus, wenn sie was Aktuelles haben oder wenn ich eine Gedichtsammlung von Dostojewski lesen möchte, meine Mutter hat sie alle.« Bezüglich der Aneignung der deutschen Angebote wird Folgendes deutlich. Insgesamt ist im Vergleich zu Herkunftsangeboten eine niedrigere Intensität der Nutzung beobachtbar. Auch zeigt sich, dass ›Herkunftsorientierte‹ deutsche Medien zumeist verwenden, um sich allgemein über die Geschehnisse in Deutschland zu informieren, vor allem aber, um zweckorientiert bestimmte (lokale) Informationen zu erhalten. Die interviewten ›Herkunftsorientierten‹ nutzen demnach deutsche und Herkunftsmedien, wenn es um Nachrichten geht. Weitere Medieninhalte – wie Serien, Filme, Magazine – entstammen überwiegend dem Herkunftsland.
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Außer den Herkunftsmedien und deutschen Medien rezipieren die ›Herkunftsorientierten‹ Diasporaangebote – also Medien, die außerhalb des ursprünglichen Herkunftslandes für die Diaspora produziert werden. Betrachtet man die Beziehung von Leseverhalten und Spracherwerb, fällt auf, dass durch die teilweise geringe deutsche Sprachkompetenz nur eine wenig ausgeprägte Bereitschaft zur Nutzung von Medien für das Deutschlernen besteht. Insbesondere bei den von uns interviewten Personen, die aus Marokko und der Türkei migrierten, finden sich allerdings sog. Medienlernspuren in ihren Äußerungen. Hayriye (w, 40, türk.) berichtet, dass sie durch »Reden und Buchlesen« ihre Deutschkenntnisse verbessert hat. Tendenziell geht es bei den ›Herkunftsorientierten‹ beim Wechselverhältnis von Medienaneignung und Sprachkompetenz aber um etwas anderes: Durch ihre kontinuierliche Nutzung verschiedener Herkunftsmedien stützen und fördern sie ihre Kompetenz in der Herkunftssprache. Insgesamt kann man festhalten, dass für die ›Herkunftsorientierten‹ die Zuwendung zu medialen Texten mit ihrer Identitätsorientierung ko-artikuliert. Die Ausrichtung an das Herkunftsland wird durch die Aneignung herkunftsbezogener medialer Texte bestätigt. Für diese Gruppe der Migranten übt das Lesen eine identitätsstabilisierende Funktion im Sinne einer Orientierung an das Herkunftsland aus.
3.2.2 Sich im ›Dazwischen‹ positionieren: Leseverhalten der ›Ethnoorientierten‹ Für die Gruppe der ›Ethnoorientierten‹ ist die kulturelle Zugehörigkeit durch das Spannungsverhältnis zwischen Herkunft und nationalem Migrationskontext geprägt. Exemplarisch dazu sind solche Selbstbilder wie »Deutscher mit türkischem Blut« (Aynur w, 20, türk.) oder »deutscher Russe« (Kiril m, 30, russ.). Bezüglich der Sprachkenntnisse kann man sagen, dass im Vergleich zu den ›Herkunftsorientierten‹ die ›Ethnoorientierten‹ deutlich bessere Deutschkenntnisse aufweisen. Einige Personen der marokkanischen und russischen Diaspora haben etwas schlechtere Deutschkenntnisse, sind aber stark bemüht, diese zu verbessern. Bemerkenswert ist, dass ›Ethnoorientierte‹ neben Deutschkenntnissen ebenfalls gute Kenntnisse der Herkunftssprache anstreben. Bilingualität stellt für ›Ethnoorientierte‹, wenn auch in unterschiedlichem Grad, eine Selbstverständlichkeit dar. Einige sprachen aber auch von Schwierigkeiten mit ihrer Herkunftssprache, auch wenn sie diese als Muttersprache begreifen. Die mit der Identitätsorientierung verbundene Verortung in dem ›Dazwischen‹ prägt auch die Aneignung medialer Texte und Kommunikationstechnologien dieser Gruppe. Man kann diese als bikulturelle Vernetzung charakterisieren. Das bedeutet einerseits eine verminderte Relevanz der Herkunftsmedien in der Identitätsartikulation, andererseits ein in unterschiedlichen Graden zu sehendes, inhaltliches Abarbeiten an den ethnischen Spannungsverhältnissen, in denen man lebt. Die typische Medienaneignung der ›Ethnoorientierten‹ ist durch bikulturelle Einblicke und Ver
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gleiche gekennzeichnet, wobei deren Gewichtung variiert. Viele ›Ethnoorientierte‹ wechseln zwischen deutschen und Herkunftsangeboten selbstverständlich hin und her, bei einer Schwerpunktsetzung auf erstere. Liegt ein Interesse an Herkunftsmedien vor, entsteht es nicht zwangsläufig durch eine Sozialisation im Herkunftsland, sondern kann das Resultat einer intensiven Beschäftigung mit der Herkunftskultur sein. Etwa schaut Layla (w, 20, marokk.), die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, »mehr so arabische« Fernsehsendungen an, um erst einen Bezug zur (vorgestellten) Herkunft aufzubauen. Die Herkunftskultur und -medien sind also nicht zwingend die zentrale Quelle der Identitätsbildung von ›Ethnoorientierten‹. Sie bleiben aber ein wichtiger Referenzpunkt der kulturellen Verortung der ›Ethnoorientierten‹, was sich insbesondere im kontinuierlichen Vergleich von Herkunfts- und Migrationskulturen zeigt. Für solche bikulturellen Vergleiche sind Medieninhalte immer wieder eine relevante Ressource. Insbesondere für die russische Diaspora ist eine starke Literatursozialisation kennzeichnend. Swetlana (w, 52, russ.) beschreibt dies mit folgenden Worten: Zu Hause hatten wir immer viele Bücher, meine Eltern legten da viel Wert darauf. Und jetzt haben wir auch einiges, hab ich bestellt hier, was ich lesen will. Deutsche Bücher lesen wir auch manchmal. Wir haben auch zu Hause natürlich … Ohne Bücher, nee das ist unvorstellbar. (Swetlana, w, 52, russ.)
Auch nach der Migration ist kein Bruch in der Leseverbundenheit festzustellen. Mehrere ›Ethnoorientierte‹, insbesondere der russischen Diaspora, haben Bücher aus dem Herkunftsland nach Deutschland mitgebracht. Einige leihen diese von ihrem Bekanntenkreis aus oder bestellen sie aus dem Katalog. Die Aneignung der Bücher aus dem Herkunftsland übt somit eine Funktion des Verbundenseins mit der Kultur und Religion des Herkunftslandes aus. So berichten mehrere ›Ethnoorientierte‹, religiöse Bücher in der Herkunftssprache zu lesen. Diese Aneignung ist aber in dem Gesamtrepertoire der Medien zu sehen, wo die Herkunftsinhalte den deutschen gegenübergestellt werden und sich somit von der Aneignung der ›Herkunftsorientierten‹ unterscheiden. Layla (w, 20, marokk.) berichtet beispielsweise, den Koran sowohl auf Deutsch als auch auf Arabisch zu lesen. Neben traditionellen Massenmedien wie Satellitenfernsehen, -radio und Zeitung rezipieren viele der interviewten ›Ethnoorientierten‹ massenmediale Herkunftsinhalte, die mittels Internet erreichbar sind. Layla (w, 20, marokk.) schaut arabisches Fernsehen über das Internet und liest marokkanische Online-Zeitungen. Gerade für ›Ethnoorientierte‹ der marokkanischen Diaspora ist das Internet der einzige Zugang zu Herkunftsmedien, wenn sie keinen Satellitenanschluss haben, da marokkanische Medien in Deutschland anderweitig nicht verfügbar sind. Außer Ayman (m, 29, marokk.), der ab und zu arabische Zeitungen im Bahnhof kauft, lesen alle marokkanische Zeitungen online. Aber auch bei ›Ethnoorientierten‹ anderer Migrationsgemeinschaften verlagern sich erhebliche Teile der Herkunftsmediennutzung ins Internet.
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Verschiedene Medien werden für das Auffrischen bzw. Erweitern der eigenen Kenntnisse der Herkunftssprache verwendet. Mittels ausgewählter Herkunftsmedien – insbesondere dem Fernsehen und der Zeitung – versuchen sie, ihre Sprachkompetenz aufrechtzuerhalten bzw. zu steigern. Deniz (w, 19, türk.) liest verstärkt türkische Bücher und Zeitungen, alles um die »eigene Muttersprache noch besser zu beherrschen«. Halim (w, 30, türk.) liest den Koran auf Türkisch, denn »mein Türkisch ist jetzt nicht so gut, dass ich einen Roman lesen könnte, weil da muss ich immer nachschlagen was das ist, aber ich gebe mein bestes.« Festzuhalten bleibt jedoch eines: Deutsche Medien spielen im Alltag der ›Ethnoorientierten‹ eine deutlich zentralere Rolle als Herkunftsangebote. Die Aneignung von deutschen Medien durch ›Ethnoorientierte‹ ist genau wie die Aneignung von Herkunftsmedien in der Tendenz geprägt durch eine Gegenüberstellung von Kulturen und Medienangeboten des Herkunfts- und des Migrationslandes. Auch wenn deutsche Massenmedien in den Vordergrund der Aneignung rücken, geschieht dies aber im (impliziten) Spannungsverhältnis zu Herkunftsmedien. Auffallend ist in diesem Gesamtzusammenhang die Tendenz zum Lokalen. So verfolgen die interviewten ›Ethnoorientierten‹ die Geschehnisse in ihrer Umgebung mehr oder weniger regelmäßig in lokalen Zeitungen, Radios und über entsprechende Webseiten. Mahmut (m, 30, türk.) liest beispielsweise die lokale deutsche Zeitung oder die lokale deutsch-türkische. Viele wie Viktoria (w, 47, russ.) und Erkan (m, 57, türk.) lesen kostenlose deutschsprachige Stadtteilzeitungen oder -anzeiger. Deutsche Medien werden von einigen – insbesondere von denen, die erst seit kurzem in Deutschland sind – als eine Sprachlernhilfe wie auch als Möglichkeit der Annäherung an »deutsche Lebensgewohnheiten« angesehen. So schauen Alla (w, 47, russ.), Arvis (m, 38, lett.) und Viktoria (w, 47, russ.) deutsche Fernsehsendungen, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Darüber hinaus versuchen sie durch Unterhaltungsliteratur Anschluss an die deutsche Sprache zu gewinnen. Ljudmila (w, 45, russ.) berichtet, »Liebesromane« zu lesen, denn diese haben eine »leichte Sprache«, die sie gut verstehen kann. Andere lesen Kinderbücher (Viktoria w, 47, russ.). Mehrere ›Ethnoorientierte‹ der russischen Diaspora sprechen von einem gezielten Verzicht auf russischsprachige Literatur. Alla (w, 47, russ.) begründet dies mit: »Wenn ich nur auf Russisch lesen werde, mein Deutsch entwickelt sich nicht weiter.« Dass deutsche Bücher auch über das Sprachlernen hinaus gelesen werden, illus triert der Ausschnitt aus dem Interview mit Galina (w, 51, russ.) Sie sagt: Erste Zeit, wenn wir nach Deutschland kamen, hab ich überhaupt nicht die russische Bücher gelesen, nur deutsche. Weil die Sprache wollte ich verbessern. Und jetzt ab und zu lese ich auch russische, aber mehr deutsche. (Galina, w, 51, russ.)
Genauso werden digitale Medien wie elektronische Wörterbücher oder das Internet für das Erlernen der deutschen Sprache eingesetzt. Alla (w, 47, russ.) besitzt ein elek tronisches deutsch-russisches Wörterbuch in Taschenrechnerformat, das sie immer
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in ihrer Tasche dabei hat und verwendet, sobald sie ein Wort in der deutschen Zeitung nicht versteht. Betrachtet man die Aneignung medialer Angebote genauer, fällt auf, dass die Fremdpositionierungen letztlich mit vielfältigen bikulturellen Einblicken und Vergleichen konfrontiert sind, d. h. die ›Ethnoorientierten‹ eignen sich sowohl deutsche als auch Herkunftsinhalte mit einer gewissen Distanz des fortlaufenden Vergleichs an. Eine Aushandlung der kulturellen Identität der ›Ethnoorientierten‹ wird gerade über die Frage vermittelt, welchen Status Herkunftsmedien und deutsche Medien in der jeweiligen Alltagspraxis haben: Indem die ethnoorientierten Diasporaangehörigen in ihrer Alltagswelt solche Fragen diskutieren und verhandeln, positionieren sie sich in ihrer eigenen ethnischen Identität.
3.2.3 Transkulturelle Medienwelten: Leseverhalten der ›Weltorientierten‹ Wie ist nun das mediale Leseverhalten der dritten Gruppe, den ›weltorientierten‹ Migranten zu charakterisieren? Wie schon beschrieben, hebt der Begriff des ›Weltorientierten‹ darauf ab, dass die subjektiv gefühlte kulturelle Zugehörigkeit jenseits des Nationalen liegt. Wenn man die allgemeine Sprachkompetenz der ›Weltorientierten‹ betrachtet, zeigt sich, dass diese mit Ausnahme der erst kürzlich migrierten Personen gute bis sehr gute Deutschkenntnisse haben. Die Kompetenzen der ›Weltorientierten‹ in ihrer Herkunftssprache variieren zwar, sind in der Tendenz aber trotz Einzelschwierigkeiten vorhanden. Alle ›Weltorientierten‹ sprechen neben ihrer Herkunftssprache und Deutsch eine weitere Sprache. Hauptsächlich handelt es sich dabei um Englisch oder Französisch bzw. Arabisch (soweit dies nicht die Muttersprache ist). Im Bereich der Herkunftsmedien sind die ›Weltorientierten‹ distanziert-kritisch. Sie sind relativ selektiv, wenn sie mediale Texte aus dem Herkunftsland nutzen. Insbesondere verwenden sie digital zugängliche Blogs und Zeitschriften, von denen sie meinen, sie seien nicht staatlich kontrolliert. Ilias (m, 28, marokk.) ist skeptisch gegenüber allen staatlichen Medien Marokkos, weil sie durch die Regierung kontrolliert werden und entsprechend »gesteuerte Nachrichten« senden. Deswegen informiert er sich u. a. über »Onlinedienst[e]«. Karim (m, 28, marokk.) hingegen liest die linksliberale Zeitung Telquel und »einige linke Blogs«, die sich mit Marokko beschäftigen, vermeidet aber ebenfalls Staatsmedien. Die ›Weltorientierten‹ nutzen eine große Bandbreite von Medien ihres Migrationslandes. Sie kennen sich in der deutschen Medienlandschaft gut aus. Ilias liest verschiedene Webseiten wie »Zeit.de, Spiegelinternetseite« über »aktuelle Themen«. Daneben besucht er mehr oder weniger regelmäßig die Webseite des VDI (Verband deutscher Ingenieure) für »speziell fachliche« Themen. Der Blick der ›Weltorientierten‹ auf deutsche Medien ist aber wiederum transkulturell kontextualisiert.
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Die ›Weltorientierten‹ betonen die Rolle von wissensorientierten Medieninhalten in ihrem Alltag. Ihnen geht es in ihrer Medienaneignung nicht ausschließlich darum, sich zu vergnügen, sondern ebenfalls um das Lernen. Sie suchen Zugang zu weiteren ausländischen Medieninhalten, um sich mit kulturübergreifenden Problematiken zu beschäftigen und über aktuelle Geschehnisse zu informieren. Karim liest aus politischem Interesse die Webseiten verschiedener Menschenrechtsorganisationen in unterschiedlichen Ländern. Hassan (m, 43, marokk.) verfolgt Nachrichten über die Sender Al Jazeera, Al Arabiya und BBC International sowie verschiedene Zeitungen. Der transkulturelle Blick auf weitere ausländische Medieninhalte kann aber auch Literatur betreffen. Cagla (w, 27, türk.) hat »nicht nur deutsche Bücher bis jetzt immer gelesen, sondern auch auf Englisch oder auf Türkisch«. Ihre Sprachkompetenzen machen es den ›Weltorientierten‹ möglich, Zugang zu sehr unterschiedlichen Kommunikationsräumen zu finden und so ihren transkulturellen Blick auf die Welt zu entwickeln bzw. zu stabilisieren. Auch bei den ›Weltorientierten‹ fällt der bereits bei ›Ethnoorientierten‹ betrachtete Zusammenhang auf, dass bestimmte Sprachkompetenzen nicht einfach nur die Voraussetzung für die Nutzung bestimmter Medien sind, sondern gezielt Medien auch zur Entwicklung von Sprachkompetenzen genutzt werden. Hassan hat in der Phase seines deutschen Spracherwerbs gezielt eine deutsche Zeitung »zum Perfektionieren [seiner] Sprachkenntnisse« abonniert. Ähnlich berichtet Danil (m, 24, russ.), sich kein Herkunftsfernsehen angeschafft zu haben, damit dieses seine Deutschkenntnisse nicht »verschlechtert«. Eine polyglotte Orientierung kennzeichnet ebenfalls die Medienaneignung der ›Weltorientierten‹, bei der Herkunftssprache, Deutsch und weitere Fremdsprachen eine Rolle spielen. Ein Beispiel dafür ist Zhanna (w, 24, russ.), die amerikanische Serien auf Englisch präferiert: »Ich gucke auch, wenn, dann lieber auf Englisch, also in der Originalsprache«. Insgesamt kann man sagen, dass Herkunftsmedien eher kritisch rezipiert werden. Die ›Weltorientierten‹ haben einen sehr breiten Blick auf unterschiedliche mediale Inhalte sowohl des Migrationslandes als auch anderer Länder. Ausgehend von den eigenen thematischen Interessen beschäftigen sie sich immer wieder mit einem vergleichenden Blick auf Medieninhalte sehr unterschiedlicher Kontexte, auch mittels Diasporamedien. Sie haben somit einen transkulturellen Blick auf die Geschehnisse der Welt.
3.2.4 Funktionen des migrantischen Leseverhaltens Abschließend werden die Ergebnisse bezüglich der Funktionen der Aneignung medialer Texte für die vier Gruppen gegenübergestellt. Die Analysen der drei unterschiedlichen Aneignungstypen haben gezeigt, dass das Lesen sowohl digitaler als auch
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massenmedialer Texte für das Fortbestehen einer Diaspora unerlässlich ist. Durch diese Lesepraktiken wird erst die Hybridität der kulturellen Identität erfahrbar. Durch das Lesen erreichen Migranten eine kommunikative Integration in verschiedene kulturelle Referenzräume. Bezüglich der ›herkunftsorientierten‹ Migranten sind folgende Funktionen der medialen Texte herauszustreichen: Durch das mediale Lesen von Herkunftsmedien gewinnen sie das Gefühl der unmittelbaren Nähe zum Herkunftsland. Insbesondere gelingt dies durch den Zugang zu sozialpolitischen und kulturellen Informationen über dieses Land, wobei mediale Texte ihnen Beteiligungschancen an einem fortlaufenden Kommunikationsfluss liefern. Die ›Herkunftsorientierten‹ weisen geteilte Lesevorlieben innerhalb des Diaspora-Netzwerks auf: Sie tauschen und leihen Bü- cher und Filme aus dem Kulturraum des Herkunftslandes aus. Dabei greifen sie auf die Möglichkeiten digitaler Medien zurück und verwenden beispielsweise Hörbücher und digitale Bücher als eine Möglichkeit, zeit- und kostengünstig an die neusten Kulturgüter aus dem Herkunftsland zu gelangen. Die Aneignung deutscher Medien wie Zeitungen oder Internet liefert zudem Anschluss an das lokale Geschehen im Migrationsland. Vereinzelt leisten diese Medien Zugang zur deutschen Sprache. Gleichzeitig dienen die Herkunftsmedien, insbesondere Bücher und Fernsehen, der Aufrechterhaltung der Kenntnisse der Herkunftssprache. Durch die beschriebenen Lesepraktiken gewinnen die ›Herkunftsorientierten‹ einen Anschluss an das kulturelle und politische Leben im Herkunftsland und stabilisieren ihre diasporische Identität. Für ›ethnoorientierte‹ Migranten wird deutlich, dass sie durch ihr mediales Leseverhalten bikulturell an ihrer hybriden kulturellen Identität arbeiten. Sie erreichen dies durch die Aneignung eines gemischten Medienrepertoires. Durch den Vergleich der Herkunftsmedien mit den deutschen Medien setzen sie sich mit Fragen der Hybridität ihrer Identität auseinander. Für diese Migranten liefert die Lektüre der Herkunftsmedien den (Erst-)Zugang und die Verbundenheit zum Kulturraum des Herkunftslandes. Zudem wird dieser Herkunftsbezug als ein selbstverständlicher Teil der Identität aufgefasst. Herkunftsmedien und deutsche Medien nutzen die Migranten für Entspannung und Unterhaltung. Des Weiteren gewinnen sie durch deutsche Medien Zugang zum lokalen Leben, zu deutschen Identifikationsmustern und Lebensweisen, die in der Hybridität ausgehandelt werden. Insbesondere deutsche Bücher und Bücher aus dem Herkunftsland dienen dem Spracherwerb in dieser Gruppe. Wiederum andere Funktionen weist das Leseverhalten für die ›Weltorientierten‹ auf. Entsprechend ihrer Identitätsorientierung suchen sie sich ein transkulturelles Medienrepertoire zusammen. Insgesamt liefern die transkulturellen Medien (deutsche, aus dem Herkunftsland, der Diaspora und anderen Ländern) einen Wissenserwerb auf verschiedenen Feldern unterschiedlicher kultureller Kontexte. Das Lesen digitaler Medientexte, insbesondere aus dem Herkunftsland, ermöglicht zudem den ›Weltorientierten‹ eine kritische Auseinandersetzung mit nationalen, ethnischen und kulturellen Bezugsfeldern. Durch die Aneignung der transkulturellen digitalen und
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Tab. 1: Funktionen medialen Leseverhaltens ›Herkunftsorientierte‹
›Ethnoorientierte‹
›Weltorientierte‹
Herkunftsmedien vermitteln das Gefühl der unmittelbaren Nähe zum Herkunftsland
Identitätsarbeit durch bikulturelles Medienrepertoire
Identitätsarbeit durch transkulturelles Medienrepertoire
Beteiligung an einem fortlaufenden Kommunikationsfluss mit dem Herkunftsland
(Erst-)Zugang und Verbundenheit zum Herkunftsland durch Herkunftsmedien
Kritische Auseinandersetzung mit dem Herkunftsland durch Herkunftsmedien
Informationen & Unterhaltung über das Herkunftsland durch Herkunftsmedien
Unterhaltung durch Herkunftsmedien, deutsche Medien
Wissenserwerb in verschiedenen Feldern durch transkulturelle Medien
Geteilte kulturelle (Lese-)Vorlieben innerhalb des lokalen Diaspora-Netzwerks Anschluss an das lokale Geschehen in Deutschland durch deutsche Medien
Zugang zum lokalen Leben und zur deutschen Lebensweise durch deutsche Medien
Sprachförderung durch Herkunftsmedien und deutsche Medien
Sprachförderung durch Herkunftsmedien und deutsche Medien
Sprachförderung durch deutsche Medien
Massenmedien gewinnen diese Migranten Zugang zu Sprachkenntnissen, die auch über Deutsch und Herkunftssprache hinausgehen. Insgesamt wird es sichtbar, dass sich die Aneignungsmuster und die Funktionen der medialen Texte unter den vier Gruppen sich ähneln, die Bedeutung, die den medialen Inhalten zugesprochen wird, ist verschieden und geprägt vorwiegend durch die Identitätsorientierung der Migranten (siehe Tab. 1). Des Weiteren kann man sagen, dass ein großer Teil der medialen Texte, die von den Migranten angeeignet werden, heutzutage digital ist. Dies unterstreicht wiederum das eingangs geäußerte Anliegen, die Aneignung der verschiedenen Medien in ihrer Gesamtheit als Medienrepertoire zu betrachten. Nur so ist das Leseverhalten der Migranten einzuordnen.
4 Fazit: Integration durch Lesen? Ausgangspunkt war eine Kritik an der bestehenden deutschsprachigen Forschung zur Mediennutzung von Migranten im Hinblick darauf, dass diese vorschnell die Beschreibung migrantischer Mediennutzung und somit auch des Leseverhaltens auf
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Fragen der Integration reduziert. Dahinter steht die Vorstellung von (Massen-)Medien als Vermittlungsinstanzen für eine nationale, gesamtgesellschaftliche Integration (vgl. Jäckel 2005; Maletzke 1980). Hierbei lassen sich in der Vielfalt der Argumentationen zumindest zwei Tendenzen erkennen, wie Medien und Integration begrifflich miteinander verknüpft werden: Erstens kann Integration als kommunikative Homogenisierung, zweitens als die Herstellung kommunikativer und damit auch sozialer Relationen verstanden werden. Bei einem Verständnis von Integration als kommunikativer Homogenisierung wird davon ausgegangen, dass eine Integration durch Massenmedien dann zu Stande kommt, wenn ein möglichst einheitliches Medienangebot möglichst einheitliche Themen verhandelt, möglichst einheitlich genutzt wird und so zur Herstellung eines geteilten Normen- und Wertesystems führt (vgl. Vlasic / Brosius 2002). Das Verständnis von Integration als kommunikativer Relation führt dazu, zu erkennen, dass das Bestehen wechselseitiger kommunikativer Referenzen und damit von Kommunikationsfähigkeit entscheidend für gesellschaftliche Beteiligung ist. Dies ist unabhängig davon, ob sich diese Beteiligung konfliktorientiert (vgl. Weßler 2002) konstituiert oder sich in inter-systemischen Relationen (vgl. Sutter 2002) ausdrückt. Trotz solcher Differenzen treffen sich beide Grundverständnisse von Integration und darauf aufbauende Untersuchungen in der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschung zu Medien und Migration in der Annahme, dass (Massen-) Medien deshalb ein Integrationspotenzial besitzen, weil sie über eine gesamte Gesellschaft und Kultur hinweg Kommunikation eröffnen. An diesem Punkt zeigt die vorgestellte Studie, dass eine solche Grundannahme für die Vielfalt heutiger Formen mediatisierter Interaktion und Quasi-Interaktion nicht (mehr) haltbar ist: Die interviewten medialen Migranten zeigten sehr unterschiedliche Kommunikationsbezüge auf, die wie die Typologie von ›Herkunfts-‹, ›Ethno-‹ und ›Weltorientierten‹ zeigt, nicht beliebig sind, aber doch zu komplex, um mit einem einfachen Begriff von kommunikativer Integration als nationaler Integration gefasst zu werden. Es ist notwendig, die Definition kommunikativer Integration zu überdenken. Hierfür bietet sich der Begriff der kommunikativen Vernetzung an (vgl. Hepp u. a. 2011). Kommunikative Integration wird dann als kommunikative Vernetzung und darauf gründende Beteiligungschancen greifbar. Als Kriterium lässt sich die empirisch feststellbare Vernetzung der Individuen und deren subjektive und objektive Bewertung verwenden. Ein breites Maß von kommunikativer Integration ergibt sich, wenn subjektiv aus der Perspektive der Einzelnen positiv zu bewertende Beteiligungschancen zu verschiedenen, möglichst unterschiedlichen kommunikativen Netzwerken und auf diesen basierenden Kommunikationsräumen bestehen und/oder Medien in einer Art angeeignet werden, die eine solche Einbettung erhält bzw. verbreitert. Im Umkehrschluss hierzu ist kommunikative Segregation eine Nichtteilnahme an kommunikativen Vernetzungen oder aber eine kommunikative Vernetzung mit nur einem oder wenigen gleichartigen Kommunikationsräumen, die insbesondere durch negative Abgrenzung gegenüber anderen gekennzeichnet sind.
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Es geht also nicht einfach binär um die Frage, ob national eine Integration oder Des-Integration bzw. Segregation besteht, sondern viel komplexer darum, in welchen kommunikativen Netzwerken und auf diesen basierenden Kommunikationsräumen mediale Migranten sich wie integrieren bzw. von welchen sie sich wie segregieren. Genau diese Aspekte erläutern die dargestellten Ergebnisse der Studie zum Leseverhalten der verschiedenen Diasporas und der drei unterschiedenen Aneignungstypen. Betrachtet man erstens die vier Diasporagruppen insgesamt, fällt auf, dass deren Charakterisierung als medial segregiert – als Mediengetto – eine vollkommene Fehlinterpretation der aktuellen Lage wäre. Wir haben vielmehr eine kommunikative Integration innerhalb der Diaspora: in Teilen getragen von der lesenden Aneignung von Diasporamedien in der Herkunftssprache. Vor allem wird diese diaspora-interne Integration durch die Kommunikationsnetzwerke mediatisierter personaler Interaktion gestützt. Dadurch eröffnen sich den Migranten verschiedene Beteiligungschancen. Jenseits der Diaspora finden sich weitere Formen kommunikativer Vernetzung. Dies betrifft zuerst einmal die kommunikative Integration zur Herkunft. Getragen durch digitale und massenmediale herkunftssprachliche Lesepraktiken im Internet, im Satellitenfernsehen und in der Zeitung gewinnt die Diaspora vielfältige Kommunikationsvernetzungen zur (vorgestellten) Herkunft. Bemerkenswerterweise geht es auch hier um Beteiligungschancen: beispielsweise die Beteiligung an der Kritik der Situation im Herkunftsland oder die Nutzung einer entsprechenden kommunikativen Vernetzung für Chancen der Beteiligung an der (Migrations-)Ökonomie (z. B. für entsprechenden Import-Export von Herkunftsmedien). Die fortlaufende Kommunikationsvernetzung verweist gleichzeitig jedoch auf die Möglichkeit der Erfahrung einer (zunehmenden) Distanz zur (vorgestellten) Herkunft, beispielsweise durch kritische Auseinandersetzung mit gelesenen gesellschaftspolitischen Artikeln aus den Herkunftsmedien. Deutlich fällt die umfassende kommunikative Integration am aktuellen Lebensort auf. Dies betrifft zuerst einmal den Ort im engeren Sinne des Worts, also die Stadt, in der man lebt, deren Geschehnisse man über Lokalmedien verfolgt. Es geht um das Migrationsland, dessen lokale und translokale Medien durch das deutschsprachige Lesen selbstverständlich verfolgt werden und in dem man ebenso selbstverständlich Kontakt zu Deutschen und anderen Migranten unterhält. Durch den Einbezug in verschiedene lokale Kommunikationsnetzwerke erreichen die Migranten unterschiedliche Formen der Beteiligung im Migrationsland. Schließlich können wir über eine kommunikative Integration der Diaspora in eine globalisierte Welt sprechen. Gemeint sind damit die vielfältigen kommunikativen Vernetzungen mit anderen Orten der Welt, die einzelne mediale Migranten unterhalten, aber auch deren Interesse, durch fremdsprachiges Lesen medienvermittelt das Geschehen in verschiedenen anderen Kommunikationsräumen z. B. über Al Jazeera, BBC oder CNN-International zu verfolgen. Auch von weiteren Regionen der Welt ist die Diaspora also alles andere als kommunikativ segregiert. Betrachtet man in diesem Sinne die Diaspora insgesamt, erscheint sie als in sich hoch komplexe und vielschichtige Vergemeinschaftung, die verschiedenste kommu
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nikative Brücken nicht nur zur Herkunft, sondern auch am Lebensort, in Deutschland bzw. in anderen (europäischen) Städten und Ländern herstellen kann. Dabei fördert die Diaspora durch ihre interne wie externe kommunikative Integration verschiedene Beteiligungschancen medialer Migranten. Es geht insgesamt also um sehr multiple Formen medialer Integration und darauf stützender Beteiligung.
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3 Institutionen und Organisationen des Lesens 3.1 Politische und rechtliche Rahmenbedingungen
Isabella Löhr
3.1.1 Geschichte staatlich-rechtlicher und politischer Einflussnahmen auf das Lesen Zusammenfassung: Der Beitrag behandelt die Geschichte des Lesens im Kontext von Recht und Staat im 18. und 19. Jahrhundert. Anhand der englischen und deutschen Entwicklung wird das Zusammenspiel von Gesetzen und (wirtschafts-)politischen Maßnahmen diskutiert, die das Verhältnis zwischen der lesenden Öffentlichkeit, Autoren, Verlegern und dem Staat regelten. Zu diesen Lektüre lenkenden Instanzen gehörten die Kommunikationskontrolle, staatliche sowie privatwirtschaftliche Eingriffe in den Buchmarkt und die im 18. Jahrhundert neu entworfene Institution des geistigen Eigentums. Abstract: The chapter connects the history of reading with the history of copyright law and other measures to control reading practices in the eighteenth and nineteenth centuries. On the basis of English and German developments, attention is drawn to the broader framework for the interaction between the reading public, authors, publishers and the state. This includes political efforts to control lines of communication, private economic policies and the rise of intellectual property rights since the 18th century.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 493 2 Die Regulierung des Lesens in den Rechts-, Sozial- und Kulturwissenschaften — 494 3 Lesen, Kommunikationskontrolle und Autorenrechte bis 1800 — 495 4 Die Verrechtlichung des Zugangs zur Lektüre im 19. Jahrhundert — 499 5 Literatur — 505 5.1 Quellen — 505 5.2 Forschungsliteratur — 506
1 Einleitung Die Geschichte der staatlich-rechtlichen und politischen Einflussnahme auf Schriftkommunikation und Lesen ist seit dem frühen 18. Jahrhundert geprägt von Erlassen und Gesetzen, die das Verhältnis von Autoren, Verlegern und lesender Öffentlichkeit bestimmen. Als soziale Praxis ist Lesen an die Notwendigkeit gebunden, Lesestoffe erreichbar zu machen. Diese Materialität ist Gegenstand der Rechts- und Kulturgeschichte des Lesens. Sie umfasst einerseits staatliche Maßnahmen zur Kontrolle und Lenkung der Lektüre wie gezielte Alimentationen des Buchmarkts oder politische Maßnahmen zur Kontrolle von Kommunikationsflüssen und andererseits das geistige Eigentum, das sich mit der Nationalisierung und Verrechtlichung von Politik und Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in eine Institution verwandelte, die auf nationaler
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Ebene die Beziehungen zwischen den verschiedenen Trägern der nationalen Kultur und Öffentlichkeit regelt. Der Beitrag führt in die Geschichte dieser staatlich-rechtlichen und politischen Einflussnahme auf das Lesen in drei Abschnitten ein: Einer kurzen Forschungsgeschichte folgt ein Blick auf den Zusammenhang zwischen Buchdruck, Kommunikationskontrolle und der sukzessiven Herausbildung der Kategorien Autor, Leser und Verleger in Rechtstheorie und -philosophie bis 1800. Der dritte Abschnitt skizziert anhand der englischen und deutschen Rechtsentwicklung im 19. Jahrhundert das Zusammenspiel von drei Lektüre lenkenden Instanzen: Kommunikationskontrolle, staatliche sowie privatwirtschaftliche Eingriffe in den Buchmarkt und die neue Institution des geistigen Eigentums.
2 Die Regulierung des Lesens in den Rechts-, Sozialund Kulturwissenschaften Lange Zeit hat die Forschung zur Geschichte der staatlichen, rechtlichen oder politischen Beeinflussung des Lesens ihre Aufmerksamkeit auf innovative Drucktechniken, Zensurmaßnahmen, staatliche Eingriffe in den Buchhandel oder die Entstehung eines literarischen Massenmarkts gerichtet, der insbesondere ab der Mitte des 19. Jahrhunderts neue Lesemedien, neue Leserschichten und neue soziale Orte der Lektüre hervorbrachte. Das geistige Eigentum spielte dagegen für die Geschichte des Lesens, der Literaturvermittlung und der Medialität des Buchs bis in die späten 1980er Jahre nur eine untergeordnete Rolle (vgl. Franzmann 1999). Obwohl sich die Geschichte des geistigen Eigentums mit der Entstehung und Verbreitung von Texten, Bildern und Musik beschäftigt und damit einen zentralen Pfeiler staatlicher Kultur- und Bildungspolitik seit dem späten 18. Jahrhundert behandelt, haben die unterschiedlichen disziplinären Traditionen und Erkenntnisinteressen der Rechtsund Kulturwissenschaften dazu geführt, dass sich die Erforschung dieser Themenfelder lange weitestgehend unabhängig voneinander entwickelte. Im Unterschied zur Geschichte des Lesens stellen rechtsgeschichtliche Zugänge Autor und Text ins Zentrum der Betrachtung, während Leser und Lektüre sich im Recht hinter dem Begriff der Öffentlichkeit verbergen und damit nur eine passive Rolle einnehmen (vgl. Zemer 2007). Allerdings hat sich die Geschichte des geistigen Eigentums in den letzten zwei Jahrzehnten einen festen Platz in der Buch- und Mediengeschichte erarbeitet, dies nicht zuletzt wegen der Omnipräsenz des geistigen Eigentums in gegenwärtigen Diskussionen um die Zugänglichkeit von Texten und Büchern im Internet. Im Kontext gegenwärtiger Problemlagen um die staatliche, rechtliche und politische Einflussnahme auf das (digitale) Lesen ist das geistige Eigentum als historisch gewachsenes Instrument ins Bewusstsein getreten, das sich gleichzeitig mit Maßnahmen zur Kontrolle von Leseflüssen und wirtschaftspolitischen Eingriffen in den modernen Buchmarkt seit dem 18. Jahrhundert als drittes zugkräftiges
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Instrument etabliert hat, um das Schreiben, Verbreiten und Lesen von Texten einem strikten Regelwerk zu unterwerfen. Eine Annäherung der rechts- und kulturwissenschaftlichen Forschungen über die Entstehung, Formen und gesellschaftliche Wirkung des geistigen Eigentums begann in den 1980er Jahren. Impulse hierfür kamen von der kritischen Beschäftigung französischer Theoretiker mit den Kategorien Autorschaft und Werk (vgl. Barthes 2000; Foucault 1979). Daran anknüpfend, griffen die angelsächsisch geprägten Cultural Studies die im Urheberrecht zentralen Kategorien Autor, Text und Originalität auf und fragten, in welcher Weise das Rechtssystem das moderne Verständnis von Autorschaft und damit zugleich das Verhältnis von Lesern und Autoren prägte (vgl. Sarat / Kearns 1998). Diese Ansätze historisierten die Hierarchisierung von Autoren und Lesern im Recht und ordneten die Kategorien Autorschaft und Werk sozialen und wirtschaftlichen Interessen zu. So entlarvten sie das moderne Verständnis von Autorschaft, das die Leser den Autoren nachordnet, als romantische Meistererzählung des späten 18. Jahrhunderts, die durch Kodifikation und Verrechtlichung bis heute die Rahmenbedingungen für das Schreiben und Lesen von Texten bestimmt (vgl. Deazley 2004). Befördert durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der kollektiven Autorschaft, das im Gefolge der digitalen Medien zunehmend auf die Tagesordnung rückte, haben diese Studien die sozialen und kulturellen Grundlagen des Urheberrechts sichtbar gemacht und damit das Blickfeld von Rechts-, Sozial- und Geisteswissenschaftlern maßgeblich erweitert.
3 Lesen, Kommunikationskontrolle und Autorenrechte bis 1800 Die tief greifenden sozialen und kulturellen Auswirkungen des Buchdrucks auf die europäischen Gesellschaften hat die Forschung mit Begriffen wie Intensivierung des Lesens, Verwissenschaftlichung und Alphabetisierung vielfach beschrieben. Hinter diesen Begriffen verbirgt sich die Entstehung neuer Kommunikationssysteme (vgl. Giesecke 1991) und die Herausbildung von Gelehrtennetzwerken in der Frühen Neuzeit, die im Zuge der räumlichen Expansion des Buchhandels zu einer wachsenden Verflechtung regionaler Buchmärkte und Wissensbestände führten (vgl. Goodman 1994). Im 18. Jahrhundert entstanden moderne Wissenssysteme in Form von Bibliotheken und Enzyklopädien, die die ständig wachsende literarische und wissenschaftliche Buchproduktion sortierten, verwalteten und zugänglich machten, während im 19. Jahrhundert vor allem die Verwissenschaftlichung der Ausbildungsund Wissenssysteme sowie die Professionalisierung und Nationalisierung von Kunst, Kultur und Wissenschaft stattfand (vgl. Rüegg 1996). Schließlich ist die Alphabetisierung zu nennen, die im Kontext einer signifikant steigenden Produktion und Ver
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breitung von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften zu einer sozialen Diffusion der Lesefähigkeit vorrangig in urbanen Gebieten führte und die besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine große Nachfrage nach preiswerten Büchern schuf (vgl. Vincent 2000). Trotz der im 18. Jahrhundert noch geringen Alphabetisierungsquote stieg die Buchproduktion im letzten Drittel des Jahrhunderts signifikant an und führte zu einer strukturellen Veränderung des Buchmarkts, der den Stellenwert schriftlicher, gedruckter Kommunikation für Bildung und Selbstverständigung der europäischen Gesellschaften veränderte. Buch und Zeitschrift wurden zu »Schlüsselmedien« (Bödeker 2005, S. 499). Der in der Forschung geläufige und zugleich umstrittene Begriff der Leserevolution, der Übergang vom sog. intensiven zum extensiven Lesen, beschreibt die soziale Erweiterung der Leserschichten nach unten und die zunehmende Integration von Frauen in das Lesepublikum (vgl. Stein 2010). Die Erweiterung des Lesepublikums beruhte zu Beginn des 18. Jahrhunderts unter anderem auf der Durchsetzung der deutschsprachigen Literatur gegenüber dem Latein und dem Verlust des Monopols theologischer Literatur zugunsten aufklärerischer Schriften, Enzyklopädien, belletristischer Literatur und populärer Zeitschriften und Zeitungen. Lesegesellschaften und Leihbibliotheken entwickelten sich zu prominenten Aushängeschildern, die die Veränderung des Leseverhaltens und des Stellenwerts des Gedruckten in den gebildeten Schichten anzeigten; zugleich beförderten diese Institutionen die soziale Differenzierung des Lesepublikums (vgl. Jacobs 2003). Die in der Forschung neu entdeckte Relevanz des geistigen Eigentums für die Geschichte des Lesens speist sich nicht zuletzt aus der engen Verzahnung dieses neuen Leseverhaltens mit der rechtlichen Steuerung des Buchhandels. Die quantitative Ausweitung der Buchproduktion, die soziale Ausdifferenzierung des Lesepu blikums und die Vervielfältigung von literarischen Gattungen und Inhalten hob zwar das allgemeine Bildungsniveau, barg aus Sicht der Obrigkeiten allerdings auch die Gefahr des Kontrollverlusts über das, was gedacht, gelesen und diskutiert wurde. Wie schwer und teilweise umfangreich die Verbreitung illegaler, von der Zensur verbotener Bücher war, lässt sich am Phänomen des sog. Geheimbuchhandels ablesen. Das meint die Verbreitung von verbotenen Lesestoffen in einem »semiöffentlichen Kommunikations- und Handelsnetz in Europa« (Haug u. a. 2011, S. 13), das besonders im 18. Jahrhundert und während der Restauration in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts blühte. Zwei prominente Instrumente zur Kontrolle des Lesens neben Einfuhrzöllen auf Gedrucktem und der Vor- oder Nachzensur waren die Vergabe von Druckprivilegien und die Konzessionierung des Buchhandels. Auf der einen Seite waren beide Maßnahmen eine gewerbepolitische Reaktion auf den Buchhandel im frühneuzeitlichen Europa, in dem eine rasch anwachsende Zahl von Druckern und Verlegern Johannes Gutenbergs Erfindung der Druckerpresse für den Nachdruck antiker, mittelalterlicher und zeitgenössischer Schriften nutzte. Konzessionen und Privilegien sollten Verlagen, Druckereien, Zeitschriften oder Zeitungen wirtschaft
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lichen Schutz vor Konkurrenz oder einem übermäßigem Angebot gewährleisten (vgl. Burke 2001). Gleichzeitig bot sich diese zentrale Lenkung der Produktion von Texten vom Drucker bis zum Leser für die inhaltliche Kontrolle von Lesestoffen an. Klassische Instrumente der Vorzensur wie Kataloge indizierter Bücher oder Institutionen wie die kaiserliche Bücherkommission ab 1569, die Vorzensur durch die Landesherren, zielten auf die »präventive Kommunikationskontrolle« (Stein 2010, S. 202). Es galt, die Verbreitung eines missliebigen Buchs bzw. gedruckten Texts zu unterbinden und damit zu verhindern, dass der Inhalt zirkulierte und sich auf diese Weise in eine Art öffentliche Instanz verwandelte. Konzessionen und Druckprivilegien waren Bestandteile dieser strukturellen Kontrolle von Kommunikation, weil durch Entzug oder Verweigerung von Druckerlaubnissen das Programm der Verleger beeinflusst werden konnte. Allerdings hat die jüngere Forschung darauf hingewiesen, dass die Aufsichtsbehörden der rasant wachsenden Medienproduktion im 18. Jahrhundert nicht hinterherkamen und dass Zensur in der Praxis durch politische, konfessionelle oder wirtschaftliche Interessen gebrochen werden konnte. Zensurmaßnahmen wurden je nach Bundesstaat unterschiedlich gehandhabt, sie verstrickten sich immer wieder in innenpolitischen Interessenkonflikten, bei denen politischer Kontrollwille und wirtschaftspolitische Maßnahmen kollidierten, und sie konnten ein Machtinstrument sein im konfessionellen Widerstreit oder in Konflikten zwischen Territorialherren und königlicher bzw. kaiserlicher Autorität (vgl. Haefs 2011). Parallel zur Kontrolle von Kommunikationsflüssen entwickelte sich aus dem Privilegienwesen mit den Autorenrechten ein zweiter Bereich, der das Lesen langfristig beeinflusste. Autorenrechte schreiben die Bedingungen vor, unter denen moderne Gesellschaften Bücher, Texte, Bilder oder Kompositionen herstellen, rezipieren oder in ihren Alltag integrieren. Mit Mitteln des Rechts erlauben, verschließen und begrenzen sie den freien Zugang zu kulturellen Gütern und formulieren klare Regeln, die Verlagen und Lesern die Vervielfältigung, Lektüre oder Aneignung für eigene kreative Zwecke erlauben (vgl. Siegrist 2012). Während Maßnahmen zur Kontrolle von Leseflüssen direkt die Leser adressierten und vor allem den Weg der Lesestoffe aus der Druckerei in die Hände der Leser zu beherrschen versuchten, kreisten die Autorenrechte um die Frage, was Autoren und Verleger voneinander unterscheidet und wie es Autoren möglich gemacht werden könne, von den wirtschaftlichen Erträgen des Verkaufs ihrer Texte zu leben. Diese Frage wurde im 18. Jahrhundert in rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Diskussionen über den gesellschaftlichen und individuellen Stellenwert von Kultur und Kreativität verhandelt. Zur Diskussion stand die Beziehung zwischen den Produzenten von Kultur (Schriftsteller, Komponisten, bildende Künstler), den Kulturvermittlern (Verleger, aufführende Künstler), der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und den juristischen Instanzen wie Gesetzgeber und Rechtsprechung (vgl. Young 1759; Lessing 1783; Pütter 1794). Ausgelöst wurden diese mit viel Vehemenz geführten Auseinandersetzungen durch die nur begrenzte Wirksamkeit von Druckprivilegien. Im 18. Jahrhundert wurde
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der freie Nachdruck zu einem Problem, als die Zahl der Verleger und die der angebotenen Buchexemplare soweit anstiegen, dass der Rückfluss der Investitionskosten in Drucktechnik und Material nicht mehr sichergestellt war. Exklusive Druckprivilegien lösten das Problem des Raubdrucks nur vorübergehend, denn die auf den Einflussund Herrschaftsbereich der Landesherren beschränkte Reichweite der Privilegien konnte das wirtschaftliche Risiko der Drucker nur innerhalb des Herrschaftsgebiets verkleinern, nicht jedoch Nachdrucke in benachbarten oder in anderen europäischen Regionen verhindern. Für die soziale Diffusion von Lesestoffen erwies sich der Nachdruck von Literatur und aufklärerischen Schriften allerdings als fruchtbar. Da Nachdrucke in der Regel preiswerter waren als Originalausgaben, erreichten diese Bücher auch neue Leserschichten, deren geringere Kaufkraft die Lektüre der Originalausgaben unmöglich gemacht hatte. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist die Verbreitung der berühmten Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers des französischen Aufklärers Denis Diderot, deren preiswerte Nachdrucke in der Schweizer Stadt Neuchâtel zur Popularisierung der Encyclopédie beitrugen (vgl. Darnton 1993). Kamen die Druckprivilegien anfänglich nur den Verlegern im Sinne eines Gewerbemonopols zu Gute, zeichnete sich in der Folge des ersten Gesetzes zum Schutz von Urheberrechten, dem englischen Statute of Anne von 1710, eine Verschiebung zu Gunsten der Autoren ab (vgl. Bently u. a. 2010). In langwierigen philosophischen, rechtlichen und publizistischen Auseinandersetzungen gewannen die englischen Autoren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die sog. Werkherrschaft: Sie beanspruchten gegenüber den Verlegern und der Öffentlichkeit das originäre Recht, über den immateriellen Gehalt des Werks und über seine materielle Verwertung zu entscheiden. In diesen Diskussionen bestimmten sie das Verhältnis von Materialität und Immaterialität eines Texts neu. Mit Hilfe moralischer und ästhetischer Argumente rückten sie die spezifische Form und Gestaltung des dargebotenen Inhalts in den Blick und interpretierten ihn als Ausdruck künstlerischer Kreativität und damit als Ausdruck der Individualität und Persönlichkeit des Autors selbst. Diese moralische und rechtliche Emanzipation der Autoren bedeutete im Umkehrschluss eine unwiederbringliche Schwächung der Rechte der Leser. In der Rechtspraxis schlug diese genieästhetische und subjektzentrierte Auffassung von Autor und Werk 1774 mit dem englischen Gerichtsurteil Donaldson v. Beckett durch, das drei Paradigmen in die Diskussion einführte, die bis heute maßgeblich für das kontinentaleuropäische und angloamerikanische Autorenrecht sind. Erstens beendeten die Richter des House of Lords die Annahme eines ewigen, gewohnheitsrechtlich begründeten Verlagseigentums am Manuskript. Stattdessen unterstellten sie die Verwertungsrechte dem Gesetzesrecht des Statute of Anne und verorteten die ursprünglichen Eigentumsrechte an einem Manuskript bei den Autoren, von denen die Verlagsrechte immer nur abgeleitet werden konnten. Diese Entscheidung hatte zur Folge, dass die Verwertungsrechte von Autoren und Verlegern nicht mehr ewig waren, sondern einer zeitlichen Befristung (14 Jahre und die Möglichkeit zur einmaligen Verlängerung
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um weitere 14 Jahre) gemäß den Regeln des Gesetzesrechts unterworfen wurden (vgl. Rose 1988). Diese Befristung begünstigte die Leser, zielte sie doch auf einen Ausgleich privater und öffentlicher Interessen: Die Gesellschaft sollte nach Ablauf der Schutzfrist einen möglichst ungehinderten Zugang zu kulturellen Gütern bekommen und die Bildung auf diese Weise befördert werden (vgl. Davies 1994; Alexander 2010). Zweitens unterschied das Urteil zwischen dem materiellen und dem immateriellen Gehalt eines Werks. Es erkannte den »act of creation« (May / Sell 2006, S. 93) als den alle Autorenrechte begründenden Akt an. Er schaffe eine besondere Beziehung zwischen Werk und Autor, die dem Autor das exklusive Recht verleihe, allein über die materielle Verwertung seines Werks zu verfügen. Wesentlich unterstützt wurde diese Auffassung von der ›Eigenthümlichkeit‹ (vgl. Plumpe 1979) eines Werks durch die gleichzeitige Verbreitung des besitzindividualistischen Denkens. Besonders in den kontinentaleuropäischen Diskussionen beförderten liberalistische Denkfiguren in Kombination mit einer naturrechtlichen Begründung der Werkherrschaft des Autors die Unterstellung von kulturellen Gütern in ein privatrechtliches Eigentumsverständnis (vgl. Klippel 1993). Schließlich führte das Urteil die Öffentlichkeit als eine dritte am Werk interessierte Interessenpartei in das Recht ein. Als »an act for the encouragement of learning« (Statute of Anne 1710) bestimmte der Statute of Anne, dass alle Werke nach Ablauf der Schutzfrist gemeinfrei seien und in öffentliches Eigentum (›public domain‹) der Gesellschaft übergingen (vgl. Deazley 2007). Auf diese Weise sollte die Weiterbildung der Gesellschaft in Wissenschaft, Kunst und Kultur gewährleistet werden.
4 Die Verrechtlichung des Zugangs zur Lektüre im 19. Jahrhundert Der Übergang vom Privileg, das den Druck und die Vervielfältigung eines Manuskripts regelte, zur Kodifikation des geistigen Eigentums als subjektives Recht, das den Autor zum Eigentümer seines Werks erhob, ihm Vermögensansprüche zuwies und ihn konkurrenzfähig auf einem sich liberalisierenden literarischen Markt machte, geschah in England im 18. Jahrhundert und in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert. Auch wenn die Gesetzgeber und Rechtstheoretiker, Richter, Autoren und Verleger in allen europäischen Ländern vor vergleichbaren Problemen standen, bildeten die nationalen Urheberrechtsgesetze sich nach spezifischen Mustern aus. Sie entwarfen nationale Lösungen, die die zeitliche Befristung, die Berücksichtigung öffentlicher Interessen und die Aufteilung der Rechte zwischen Autoren und Verlegern im Sinne eigener kultur-, rechts- und wirtschaftspolitischer Erfordernisse regelten. England war das Pionierland eines werkzentrierten Vervielfältigungsrechts (›copyright‹), das anstelle des ewigen Verlagsrechts eine zeitliche Befristung setzte, den Autor als Rechtssubjekt anerkannte und die geschützten Werke nach Ablauf einer genau definierten Frist als öffentliches Eigentum deklarierte. Im Unterschied zur kon
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tinentaleuropäischen Entwicklung konzipierte der Statute of Anne die Autorenrechte jedoch nicht als ein Eigentumsrecht an immateriellen Gütern. Stattdessen war es ein copy right (Macaulay 1774), das dem Autor zwar exklusive, aber zeitlich befristete Druck- und Vervielfältigungsrechte zugestand. Dahinter verbarg sich ein Kampf um die Liberalisierung des englischen Buchhandels im Gefolge der englischen Revolution. Das Gesetz von 1710 zielte darauf, die unangefochtene Monopolstellung der englischen Verlagszunft, der Stationer’s Company, aufzubrechen und an ihre Stelle ein antimonopolistisches Handels- und Gewerberecht zu installieren. Mit seiner kurzen Schutzfrist von zweimal 14 Jahren und der expliziten Zielsetzung, Kreativität zu stimulieren und geleistete Arbeit durch ein zeitlich befristetes Ausschlussrecht zu belohnen, behielt das englische Recht bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts den Charakter eines Gewerberechts (vgl. Feather 1992). Das änderte sich erst in den 1840er Jahren mit einer kontrovers diskutierten Gesetzesreform, die die Schutzfrist schließlich auf 42 Jahre oder auf die Lebenszeit plus sieben Jahre post mortem auctoris ausdehnte. Bedeutend, und deswegen auch umstritten, war dieses Gesetz, weil es die Aufwertung der Autorperson gegenüber den Verlagen, wie sie in Donaldson v. Beckett geschehen war, von der Ebene der Rechtsprechung auf die der Gesetzgebung verlagerte und damit die antimonopolistische Stoßrichtung des ›copyright‹ abschwächte (vgl. Woodmansee 1998). Die Verlängerung der Schutzfrist auf Lebenszeit und für begrenzte Zeit danach bekräftigte den langsamen Wandel des Autorverständnisses, der seit 1710 stattgefunden hatte. Der Autor war zum Genie und Schöpfer geworden, der das moralisch und ästhetisch begründete Recht hatte, über den Verbleib und die Integrität seines Werks alleine entscheiden zu dürfen (vgl. Earle 1991). Trotz dieser signifikanten Aufwertung der Handlungsrechte der Autoren hielten keine Persönlichkeitsrechte Einzug in das englische Recht. Es blieb ein werkzentriertes Recht, das sich weiterhin durch seinen pragmatischen Impetus auszeichnete, finanzielle Anreize für Autoren zu schaffen und sie für ihre Leistung zu belohnen (vgl. Sherman / Bently 1999). Dieser Gedanke schlug sich auch im Konzept des ›fair use‹ nieder, das auf eine Balance zwischen den Interessen der Autoren und Leser zielt. Bei einem starken allgemeinen Interesse erlaubt diese Klausel, rechtlich geschützte Werke auch ohne Einwilligung des Rechteinhabers den Lesern zugänglich zu machen (vgl. Patterson / Lindberg 1991). In Deutschland verlief der Weg zu einem autorzentrierten Recht, das den Autor und seine kreative Leistung ins Zentrum rückte und ihm Eigentumsrechte an seinem Werk einräumte, weniger geradlinig. Gegenüber England ist die deutsche Entwicklung durch drei Aspekte gekennzeichnet. Erstens gab es bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts intensive rechtsphilosophische Diskussionen über die Frage, ob es ein Eigentum an immateriellen Gütern überhaupt geben könne (vgl. Pahlow 2006; Seckelmann 2006); zweitens führten Autoren und Verleger langwierige und zähe Auseinandersetzungen über das Recht am Manuskript, was die rechtliche Emanzipation der Autoren erschwerte (vgl. Bosse 1981); und schließlich gab es einen relativ spät einsetzenden Gesetzgebungsprozess (vgl. Gieseke 1995). Die größte Hürde für die Kodifikation von Urheberrechten bildeten bis 1871 die vielen einzelstaatlichen
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Gesetzgebungen, die seit dem Westfälischen Frieden Vorrang vor dem Reichsrecht besaßen. Das heißt, Druckprivilegien galten immer nur auf landesherrschaftlichem Territorium. Obwohl dies mit der Expansion des literarischen Markts seit den 1760er Jahren dazu führte, dass die fürstlichen Druckprivilegien die Autoren und Verlage nicht mehr vor Nachdruck schützen konnten, verhinderten wirtschaftspolitische Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Verlagsstandorten eine frühe Einigung der deutschen Staaten auf einen bundesweiten Mindestschutz (vgl. Gergen 2007). Zwischen den Verlagen gab es Streitigkeiten über Usancen des Geschäftsverkehrs, Zahlungsweisen und wegen der regionalen Konzentration der zugkräftigen Verlage in Sachsen und Preußen, die mit ihrem Sortiment schöngeistiger und wissenschaftlicher Literatur der christlich motivierten, sog. Erbauungsliteratur der süddeutschen Verlage gegenüber standen (vgl. Estermann / Jäger 2001). Aber auch das vehemente Eintreten der Autoren für ihre Rechte seit den 1760er Jahren bewirkte keine frühe Verabschiedung eines einheitlichen Urheberrechtsgesetzes. Das verhinderten wirtschaftlich aufstrebende Verlage, die gegenüber den nicht organisierten Autoren dafür sorgten, dass deren Forderung auf Anerkennung ihrer Rechte sich nur langsam durchsetzte. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewannen rechtsphilosophische und ästhetische Argumentationen die Oberhand, die die kreative Leistung des Autors als den eigentlich rechtsbegründenden Akt interpretierten und die Autoren in der Folge als Rechteinhaber einsetzten. Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 bewilligte den Autoren erstmals ein Mitspracherecht bei der Vergabe von Neuauflagen ihrer Werke, hing aber noch der Terminologie des Nachdrucks und dem Gedanken eines ewigen Verlagseigentums an. Wegweisend war das Königlich Preußische Gesetz vom 11. Juli 1837 zum »Schutze des Eigenthums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung«, das als modernstes Gesetz seiner Zeit galt und über lange Zeit Vorbild für die Rechtsentwicklung im mitteleuropäischen Raum blieb (vgl. Vogel 1988). Dieses löste sich allmählich von der Terminologie des Nachdrucks, indem es auch das unveröffentlichte Werk unter Rechtsschutz stellte, ein Veröffentlichungsrecht der Autoren anerkannte und die Schutzfrist auf 30 Jahre nach dem Tod des Autors ausdehnte. Das sog. Klassikerjahr 1867 steht exemplarisch für die Bedeutung des geistigen Eigentums für die Verbreitung von Lesestoffen. Aufgrund der Schutzfrist von 30 Jahren post mortem auctoris, die das Gesetz von 1837 festgeschrieben hatte, liefen am 9. November 1867 die Verlagsrechte der vor 1837 verstorbenen Autoren aus. Im Falle der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung erregte das Auslaufen dieser Schutzfrist bereits Jahre zuvor öffentliche Aufmerksamkeit, da Cotta die Verlagsrechte an den meisten und bedeutendsten Autoren des 18. und frühen 19. Jahrhunderts inne hatte wie Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist, Gotthold Ephraim Lessing oder Christoph Martin Wieland. Da Cotta sich dieses Monopol in den 1850er und 1860er Jahren in Form der preisintensiven und nur im Ganzen erhältlichen Reihe Volksbibliothek deutscher Classiker zunutze gemacht hatte, galt das Auslaufen
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der Schutzfrist für konkurrierende Verlage und das vorwiegend bürgerliche Lesepublikum als lange herbeigesehnter Wendepunkt: Wichtige Texte der klassischen Literatur, Aufklärung und Romantik, die das bürgerliche Selbstverständnis wesentlich geprägt hatten, durften ab 1867 von jedem Verleger gedruckt werden und sollten auf diese Weise in miteinander konkurrierenden Auflagen preiswerter und damit einem nichtbürgerlichen Lesepublikum zugänglich gemacht werden (vgl. Ungern-Sternberg 1987). Obwohl bis heute nicht eindeutig nachweisbar ist, ob die dem Auslaufen der Schutzfrist folgende Flut teilweise nur kurzlebiger Klassiker-Ausgaben jenseits der gebildeten Mittelschichten tatsächlich rezipiert wurde, führte sie zweifelsfrei zur Herausbildung eines nationalen Literaturkanons, dessen handfeste Nachwirkung die bis heute existierende Reihe Universal-Bibliothek des Reclam Verlags ist. Auf Bundesebene einigten die deutschen Staaten sich erstmals 1832 auf ein einheitliches Nachdruckverbot und legten fest, Rechteinhaber aus anderen Bundesländern genauso wie eigene Staatsangehörige zu behandeln. Das änderte jedoch nichts daran, dass die Rechtslage in Deutschland bis zum ersten deutschen Urheberrechtsgesetz 1876 heterogen blieb und der Katalog der geschützten Werke sowie die Dauer der Schutzfrist erst nach und nach ausgedehnt wurden. Dafür arbeitete die deutsche Urheberrechtslehre seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die rechtstheoretischen Begründungen für die Autorzentrierung des kontinentaleuropäischen Urheberrechts prägnant heraus. Die Theorie der Persönlichkeitsrechte verknüpfte naturrechtliche, moralische und ästhetische Argumente und machte den Autor so zum unhintergehbaren Rechteinhaber, dessen Eigentumsansprüche selbst zu Gunsten öffentlicher Interessen nur begrenzt eingeschränkt werden durften (vgl. Klippel 1982). Die sukzessive Herausbildung eines gesetzlichen Kanons zur Regelung der AutorVerleger-Beziehungen darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Zensur von Lesestoffen und politische Eingriffe in den Buchhandel bis ins 20. Jahrhundert hinein ein gängiges Mittel der staatlichen Kultur- und Medienpolitik blieben. Für die deutsche Zensurpolitik waren die Karlsbader Beschlüsse von 1819 prägend, mit denen die für politische Meinungsäußerungen besonders geeigneten Medien (Bücher bis zu 20 Bogen, Zeitungen und Zeitschriften) einer generellen Vorzensur unterworfen wurden (vgl. Plachta 2006, S. 101). Allerdings herrscht in der Forschung Konsens, dass das Bild einer ausnahmslosen Unterdrückung von Presse- und Meinungsfreiheit im Vormärz die Handlungsspielräume von Verlegern und Autoren übersieht, um Aufsichtsbehörden und Zensurpraktiken zu umgehen. Neue Formate wie das Conversations-Lexikon des Leipziger Verlegers Friedrich A. Brockhaus, die Einbindung von Zensurroutinen in den Schreibprozess z. B. bei Heinrich Heine, die Verwendung von Pseudonymen und falschen Verlagsangaben oder Schlupflöcher, die sich aus der föderalistischen Struktur des Deutschen Bundes ergaben, führten zu einer heterogenen Kontrollpraxis, die bis zur Aufhebung der Pressezensur 1874 zudem politischen Konjunkturen unterlag (vgl. Kortländer 2012; Clemens 2013). Die ab den 1820er Jahren einsetzende quantitative Expansion des Buch- und Pressemarkts erschwerte die Arbeit der Zensurbehörden zusätzlich, während sie
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gleichzeitig die Erreichbarkeit von Lesestoffen und das Leseverhalten weiter Teile der Bevölkerung grundlegend veränderte. Genaue Angaben über die Steigerung der jährlich produzierten Buchtitel, Zeitungen, Zeitschriften und Auflagenhöhen sind nicht verfügbar und die vorhandenen Schätzungen zu ungenau, um die Zyklen und Konjunkturen zu spiegeln, denen die Expansion des Leseangebots unterworfen war. Peter Stein schätzt für den Buchhandel eine Zunahme der Produktion von 4181 Neuerscheinungen 1805 auf 14.039 Titel 1843 und von 24.792 im Jahr 1900 bis zu einem Höchststand von 34.871 Titeln im Jahr 1913. Im Vergleich dazu erlebten das Pressewesen und die Zeitschriften eine signifikante Ausweitung des Angebots erst nach dem Ende der Pressezensur 1874 mit ca. 5632 Zeitschriften 1902 und 4221 Zeitungen 1914 (vgl. Stein 2010, S. 293 f.). Diese quantitative Zunahme der Lesestoffe blieb nicht ohne Folgen für das Leseverhalten. Verleger erweiterten das Angebot und reagierten damit auf die soziale Ausdifferenzierung der Leserschaft. Diese reichte von einem Publikum mit höherem Bildungsgrad bis zu einer breiten Bevölkerungsgruppe abhängig Beschäftigter, die entweder nur ein geringes Budget für den Erwerb von Literatur besaß oder das Fehlen der Lesefähigkeit durch soziale Praktiken wie Vorlesen oder mündliche Erzählung kompensierte. Der Buchhandel reagierte auf den sozio-strukturellen Wandel von Angebot und Leserschaft und auf staatliche Eingriffe in den gedruckten Text mit Zentralisierung und einer strafferen Selbstorganisation. Zwei wichtige Wegmarken in diesem Prozess waren die Gründung des Börsenvereins der deutschen Buchhändler (heute: Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V.) 1825 und die von diesem 1887 auf den Weg gebrachte Krönersche Reform, mit der der Börsenverein das bis heute den deutschsprachigen Buchhandel strukturierende Prinzip der Buchpreisbindung einführte. Obwohl beide Maßnahmen nicht im engeren Sinn in den Katalog staatlich-rechtlicher oder politischer Einflussnahmen auf das Lesen zählen, berücksichtigt man den Charakter des Börsenvereins als privatwirtschaftliche Interessenvertretung, wirkten sich die Gründung des Börsenvereins und die Vereinheitlichung der Verkaufsordnung grundsätzlich auf die Erreichbarkeit des Lesestoffs und damit auf das Lesen aus. Die Funktion des Börsenvereins bestand in der Beruhigung der langwierigen Konflikte im Buchhandel (Verlags- und Sortimentsbuchhandel), der sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vielfach gespalten hatte: Den in literarischen Zentren oder Universitätsstädten angesiedelten, kapitalkräftigen und marktbeherrschenden Großverlegern standen kleine, weniger kapitalintensive Verleger und Sortimenter im ländlichen Raum oder in urbanen Regionen gegenüber. Ohne ausgewiesene verlegerische Traditionen versuchten sie ihren Wettbewerbsnachteil oftmals mit Erlaubnis der jeweiligen Landesherrn über den Nachdruck der gut gehenden Titel der großen Verlage in Leipzig, Berlin oder Frankfurt zu kompensieren (vgl. Wittmann 1982). Die Gründung des Börsenvereins schob dieser Praxis einen Riegel vor. Der Börsenverein schuf ein gemeinsames Forum, das in den 1840er Jahren als gesamtdeutsche Interessensvertretung offiziell gegen Zensurmaßnahmen protestierte und das zugleich das Problem des Nachdrucks von innen heraus zu lösen versuchte. Das unter anderem zu diesem Zweck 1834
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gegründete Börsenblatt für den deutschen Buchhandel vereinfachte den Austausch von Informationen über Neuerscheinungen und branchenspezifische Nachrichten und ermöglichte so effektive Absprachen im Geschäftsverkehr (vgl. Füssel 2000). Mit der Krönerschen Reform führten die im Börsenverein zusammengeschlossenen Verleger und Buchhändler einen einheitlichen, vom Verlag festgesetzten Verkaufspreis ein, den alle Mitglieder des Börsenvereins unter Androhung des Ausschlusses aus der Standesorganisation einzuhalten verpflichtet waren. Mit dieser Reform löste der Börsenverein einen seit den 1820er Jahren schwelenden Streit um die von den Zeitgenossen sog. ›Schleuderei‹. Gemeint waren damit die technisch seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts herstellbaren billigen Massenauflagen, die Großverlage und -sortimenter, der Kolportagebuchhandel und der schnell wachsende Sektor des ›modernen Antiquariats‹ im Konkurrenzkampf mit kleinen Verlagen und Sortimentern für den eigenen Profit zu nutzen wussten. In der Forschung finden sich nur wenige Ausführungen dazu, wie sich die Krönersche Reform tatsächlich auf das Leseverhalten auswirkte. Wegen der oben angedeuteten Schwierigkeit, Produktions- und Verkaufszahlen für den Buchhandel des 19. Jahrhunderts auf verlässlicher Datenbasis zu erheben, lässt sich nur schwer sagen, inwieweit brancheninterne Initiativen wie die Krönersche Reform Leseflüsse bremsten, beförderten oder ohne nennenswerte Auswirkungen blieben. Autoren wie Eckhard Höffner lenken den Blick auf den Monopolcharakter geistiger Eigentumsrechte und argumentieren, dass die sukzessive Durchsetzung dieses Monopols in Deutschland ab 1837 den Umfang der Buchproduktion gedrosselt und damit auch die soziale Verbreitung von Lesen und Lesefähigkeit eingeschränkt habe (vgl. Höffner 2010). So plausibel dieser wirtschaftsgeschichtliche Ansatz auf den ersten Blick erscheint, stellt sich allerdings auch hier das Problem einer unzureichenden Datenbasis, während eine sozialgeschichtliche Öffnung der Perspektive ein differenzierteres Bild erlaubt. Die Festsetzung einheitlicher Ladenpreise fiel in einen Zeitabschnitt, in dem die Massenalphabetisierung noch nicht alle sozialen Schichten erreicht hatte und in dem Leihbibliotheken und Kolportageliteratur das fehlende monatliche Budget für Lektüre der Bevölkerungsmehrheit abfederten. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass die Ladenpreisbindung vor allem in der liberalen Presse, bei Universitätsangehörigen, Behörden und Bibliotheken auf Widerstand stieß, die im Unterschied zu privaten Lesern die größten und zahlungskräftigsten Abnehmer des Buchhandels bildeten (vgl. Kühnert 2009). Mit der Einführung der Gewerbefreiheit (Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869), der Lockerung der Zensurmaßnahmen durch das Reichspressegesetz von 1874, der Einführung eines reichsweiten Urheberrechtsgesetzes 1876, und der Vereinheitlichung der Buchpreise 1887 hatten Gesetzgeber und Buchproduzenten die Kontrolle von Leseinhalten, Druck und Nachdruck sowie den Verkauf von Gedrucktem den Anforderungen eines modernen, auf Massenauflagen ausgelegten Buch- und Medienmarkts angepasst und damit die Rahmenbedingungen für das Lesen standardisiert (vgl. Bandilla 2005). Mit der Einführung von Gesetzesrechten zum Schutz von Autoren war dem Lesen im Zeitalter der periodischen Massenpresse ein komplexes politisches und
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rechtliches Regelwerk vorgeschaltet, das die wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für jede einzelne Station definierte, die der gedruckte Text vom Autor bis zum Leser zurücklegte. Zugleich traten in den meisten europäischen Ländern anstelle einer repressiven und auf Prävention ausgelegten Kommunikationskontrolle kulturpolitische Programme in den Bereichen Bildung und Erziehung, während Zensur sich auf die politische Presse, die Kolportageliteratur und das Theater verlagerte (vgl. Fischer 2000). Bei den Autorenrechten waren am Ende des 19. Jahrhunderts mit der persönlichkeitsrechtlich begründeten, starken Position der Autoren und einer nur diffusen Berücksichtigung der Leser über den Begriff der Öffentlichkeit die rechtstheoretischen und gesetzlichen Grundlagen für die Zirkulation von Büchern und Gedrucktem gelegt. Das 20. Jahrhundert änderte an diesen rechtlichen Grundlagen nur wenig. Stattdessen stand die doppelte Ausdehnung des geistigen Eigentums auf der Tagesordnung: die Erweiterung des Katalogs der geschützten Werke um Radio, Schallplatte, Film und die digitalen Medien sowie die Anpassung dieser Rechte an einen sukzessive global werdenden Buch- und Medienmarkt (vgl. Löhr 2010; Rukavina 2010). Ein kursorischer Blick auf die Internationalisierung der Maßnahmen zur politischen und rechtlichen Steuerung des Lesens seit den 1880er Jahren zeigt, dass die internationalen Vorgaben bis heute aus zwei Gründen eine herausgehobene Rolle spielen. Zum einen üben die internationalen Urheberrechtsabkommen einen starken Harmonisierungsdruck auf die beteiligten Staaten aus und schlagen auf die Gestaltung des Verhältnisses von Autoren, Lesern und Verlegern auf nationaler Ebene durch. Zum anderen hat sich seit dem späten 19. Jahrhundert die Tendenz manifestiert, auf nationaler und internationaler Ebene vorrangig die Rechte der Akteure zu verhandeln, die mit dem Schreiben und Verlegen von Texten und Büchern zugleich wirtschaftliche Interessen verfolgen. Kritiker heben immer wieder die Unausgewogenheit dieser Perspektive hervor und verweisen auf die Bedeutung des Lesens bzw. der Rezeption von Gedrucktem für die Innovation von Gesellschaft und Kultur (vgl. Geller 2000). Die sozial- und kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem geistigen Eigentum bekräftigt diese Kritik und ruft in Erinnerung, dass der kulturelle Wert von Texten erst in der sozialen Interaktion zwischen Autoren, Verlagen und Lesern entsteht.
5 Literatur 5.1 Quellen Lessing, Gotthold Ephraim: Über Bücherverlag und Nachdruck. In: Deutsches Museum (1783), S. 197 f. Macaulay, Catherine: A modest plea for the property of copy right. London 1774. Pütter, Johann Stephan: Der Büchernachdruck nach ächten Grundsätzen des Rechts. Göttingen 1794.
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5.2 Forschungsliteratur Alexander, Isabella: Copyright law and the public interest in the nineteenth century. Oxford 2010. Bandilla, Kai: Urheberrecht im Kaiserreich. Der Weg zum Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst vom 19. Juni 1901. Frankfurt a. M. 2005 (Rechtshistorische Reihe. 308). Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000 (Reclams Universal-Bibliothek. 18058), S. 185–193. Bently, Lionel / Suthersanen, Uma / Torremans, Paul (Hrsg.): Global copyright. Three hundred years since the Statute of Anne. From 1709 to cyberspace. Cheltenham 2010. Bödeker, Hans Erich: Die bürgerliche Literatur- und Mediengesellschaft. In: Notger Hammerstein / Ulrich Herrmann (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. II: 18. Jahrhundert. München 2005, S. 499–520. Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn 1981 (Uni-Taschenbücher. 1147). Burke, Peter: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2001. Clemens, Gabriele (Hrsg.): Zensur im Vormärz. Pressefreiheit und Informationskontrolle in Europa. Ostfildern 2013 (Schriften der Siebenpfeiffer-Stiftung. 9). Darnton, Robert: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopedie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn? Berlin 1993. Davies, Gilian: Copyright and the public interest. Weinheim 1994 (IIC Studies. 14). Deazley, Ronan: On the origin of the right to copy. Charting the movement of copyright law in eighteenth century Britain, 1695–1775. Oxford 2004. Deazley, Ronan: Copyright’s public domain. In: Charlotte Waelde / Hector MacQueen (Hrsg.): Intellectual property. The many faces of the public domain. Cheltenham 2007, S. 21–34. Earle, Edward: The effect of romanticism on the 19th century development of copyright law. In: Intellectual property journal 278 (1991), S. 269–290. Estermann, Monika / Jäger, Georg: Geschichtliche Grundlagen und Entwicklung des Buchhandels im Deutschen Reich bis 1871. In: Georg Jäger (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1: Das Kaiserreich 1870–1918. Frankfurt a. M. 2001, S. 17–41. Feather, John: From rights in copies to copyright. The recognition of author’s rights in English law and practice in the sixteenth and seventeenth century. In: Carodozo arts & entertainment law journal 10 (1992), S. 455–473. Fischer, Ernst: Geschichte der Zensur. In: Joachim-Felix Leonhard (Hrsg.): Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Berlin 2000 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 15), S. 500–513. Foucault, Michel: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt a. M. 1979 (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft. 1675), S. 7–31. Füssel, Stephan (Hrsg.): Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1825–2000. Frankfurt a. M. 2000. Franzmann, Bodo / Hasemann, Klaus / Löffler, Dietrich / Schön, Erich (Hrsg.): Handbuch Lesen. München 1999.
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3.1.2 Staatlich-rechtliche und politische Lenkungsprozesse des Lesens in der Gegenwart Zusammenfassung: Das Recht setzt weniger an der Rezeptionshandlung des Lesens als vielmehr bei der Frage an, ob und wie Geschriebenes verbreitet werden darf. Hier vermag nicht zuletzt das Verfassungsrecht den rechtlichen Rahmen der Kommunikation entscheidend zu prägen. Der folgende Beitrag legt den Fokus auf die Grundlagen des Rechts der Presseberichterstattung, das Verhältnis zwischen Wahrheit und Fiktion beim Romanverbot sowie auf das Verfahren zur Indizierung von Print erzeugnissen aus Gründen des Jugendschutzes. Er schließt mit einer kurzen Abhandlung zur Preisbindung von Verlagserzeugnissen und Steuerbegünstigungen. Abstract: As a rule, laws are concerned less with the act of reception than with the question of whether and how the written word is allowed to be distributed. Particularly constitutional law exerts a key influence on the legal framework for communication. The following chapter focusses on the foundational elements of journalism law, the relation between truth and fiction with regard to the prohibition of novels, and the procedure for indexing printed works for reasons of protecting minors. It concludes with a short discussion of retail price maintenance and tax benefits for printed works.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 509 2 Presseberichterstattung — 510 2.1 Grundlagen — 510 2.2 Konflikt mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht — 511 2.2.1 Persönlichkeitssphären — 511 2.2.2 Unzulässige Schmähkritik — 512 2.2.3 Berichterstattung über die Privatsphäre prominenter Persönlichkeiten — 513 2.2.4 Verdachts- und Gerichtsberichterstattung — 515 3 Der autobiographische Roman — 516 4 Indizierung jugendgefährdender Medien — 520 5 Preisbindung von Verlagserzeugnissen und Steuerbegünstigungen — 523 6 Literatur — 526
1 Einleitung Staatlich-rechtliche und politische Lenkungsprozesse des Lesens offenbaren sich immer dort, wo die Verbreitung des Leseobjekts untersagt, eingeschränkt, aber auch gefördert wird. Der Staat wirkt zum einen durch ökonomische Stützungsmaßnahmen auf die Prozesse des Lesens insoweit ein, als er damit ein breites publizistisches Angebot zu sichern sucht. Zu nennen sind hier die Preisbindung für Druckerzeug-
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nisse oder der ermäßigte Mehrwertsteuersatz für Bücher. Das Recht hält zum anderen aber auch Lenkungsmechanismen im Bereich des Lesens bereit, die zur Folge haben können, dass bestimmte Medien nicht mehr verbreitet werden dürfen und damit auch dem Leser nicht mehr zur Verfügung stehen. Solche Verbreitungsverbote können dann durchgesetzt werden, wenn Printerzeugnisse Rechte Dritter verletzen. In Betracht kommen hier Persönlichkeitsrechte und Aspekte des Jugendschutzes. Bei Verbreitungsverboten oder -restriktionen in Folge einer Indizierung jugendgefährdender Schriften oder nach der Durchsetzung eines Unterlassungsanspruchs im Presserecht handelt es sich allerdings nicht um eine Zensur im Rechtssinne. Entgegen des teilweise verbreiteten Sprachgebrauchs bezieht sich das in Art. 5 Abs. 1 Satz 3 Grundgesetz (GG) verankerte Zensurverbot ausschließlich auf die sog. Vorzensur. Darunter fallen nur einschränkende Maßnahmen vor der Herstellung oder Verbreitung, insbesondere also die Vorschaltung einer behördlichen Prüfung und Genehmigung (BVerfGE 33, S. 52 [71]-Zensur). Das Zensurverbot schließt damit vor allem die historisch besonders belastete Vorlagepflicht von Presseerzeugnissen aus (vgl. Hufen 2011, S. 444). Staatliche Maßnahmen, die erst nach der Veröffentlichung des betroffenen Werks greifen, werden vom Zensurverbot nicht umfasst. Im folgenden Beitrag wird zunächst beleuchtet, wann die Verletzung von Persönlichkeitsrechten Dritter im Bereich der Presseberichterstattung (vgl. Abschnitt 2) und im Roman (vgl. Abschnitt 3) Verbreitungsverbote nach sich ziehen kann. Im Anschluss wird das Verfahren zur Indizierung von Presseerzeugnissen aus Gründen des Jugendschutzes beschrieben (vgl. Abschnitt 4). Der Beitrag schließt mit einem Überblick über die Buchpreisbindung (vgl. Abschnitt 5).
2 Presseberichterstattung 2.1 Grundlagen Ein freiheitlicher Meinungsbildungsprozess, der als Voraussetzung für eine Demokratie zu begreifen ist, wird zum einen durch die Informationsfreiheit der Bürger ermöglicht, denen nach dem Grundgesetz das Recht zukommt, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten (Informationsfreiheit in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG). Zum anderen gebührt der Presse, die in einem ganz erheblichen Maße durch die Recherche, Auswahl und Verbreitung von Informationen jedweder Art zur Meinungsbildung beiträgt, nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG das Grundrecht der Pressefreiheit und damit Schutz vor staatlichen Maßnahmen, die geeignet sein könnten, die Freiheit der Berichterstattung unmittelbar oder mittelbar ungerechtfertigt einzuschränken. Presserechtliche Regelungen finden sich vor allem in den jeweiligen Landesmedien- oder Landespressegesetzen der Länder. Nicht zuletzt die dort normierten presserechtlichen Auskunftsansprüche gegen staatliche Stellen, besondere Zutrittsrechte für Pressever
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treter zu bestimmten Ereignissen sowie Zeugnisverweigerungsrechte und besondere Vorschriften zum Beschlagnahmeschutz nach der Strafprozessordnung sind Kennzeichen der verfassungsrechtlich herausgehobenen Stellung der Presse sowie des Respekts vor der Integrität ihrer Aufgabenwahrnehmung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) umschreibt die Rolle der Presse im Meinungsbildungsprozess dabei anschaulich als »watchdog of democracy« (etwa EGMR, GRUR 2012, S. 745 [747] – von Hannover / Deutschland Nr. 2). Im Rahmen ihrer Aufgabenwahrnehmung hat sich die Presse – wie bei jeder anderen Freiheitsausübung auch – an bestimmte Regeln zu halten, um eine gemeinschaftliche Freiheitsausübung aller zu ermöglichen. Berichtet die Presse über Tatsachen, müssen diese Tatsachen wahr sein. Der Verbreitung unwahrer Tatsachenbehauptungen wird kein grundrechtlicher Schutz zuteil. Gleiches gilt für falsche Zitate, weil auch sie suggerieren, eine Person habe sich dementsprechend geäußert. Im Gegensatz zu Tatsachenbehauptungen enthalten Werturteile Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens. Anders als bei Tatsachenbehauptungen kann an sie die Forderung eines Wahrheitsbeweises nicht herangetragen werden. Ferner kommt es bei Werturteilen auf den Wert oder die Vernünftigkeit der Äußerung nicht an (hierzu grundlegend BVerfGE 33, S. 1 [14 f.] – Strafgefangene).
2.2 Konflikt mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht Die Berichterstattung durch die Presse ist Gegenstand mannigfaltiger juristischer Auseinandersetzungen. Oftmals reklamieren die von einer Berichterstattung betroffenen Personen einen Verstoß gegen ihr Persönlichkeitsrecht, weil sie sich unzutreffend dargestellt fühlen oder sich dagegen wenden, überhaupt zum Gegenstand öffentlicher Berichterstattung gemacht zu werden (zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshof zum Medien- und Persönlichkeitsrecht vgl. Pentz 2013, S. 20–29). Im Folgenden seien exemplarisch zwei Bereiche herausgegriffen, in denen die Spannungslage zwischen der Freiheit der Berichterstattung auf der einen und dem Schutz des Persönlichkeitsrechts auf der anderen Seite besonders anschaulich zu Tage tritt: zum einen der Bereich der sog. bunten Presse oder ›Yellow Press‹ mit dem scheinbar unstillbaren Bedürfnis nach Offenbarung auch noch des kleinsten Details privater Lebensgestaltung sowie zum anderen die Verdachts- und Gerichtsbericht erstattung durch die Presse.
2.2.1 Persönlichkeitssphären Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist im Grundgesetz in Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 verankert und umfasst unter anderem das Recht am eigenen Bild, am eigenen Wort sowie das Recht, grundsätzlich selbst darüber zu bestimmen, welche persönli
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chen Informationen an die Öffentlichkeit gelangen sollen und welche nicht. Dem Einzelnen kommt jedoch nicht das Recht zu, öffentlich nur so dargestellt zu werden, wie es seinem Selbstbild entspricht oder ihm selbst genehm ist (vgl. BVerfGE 120, S. 180 [198] – Caroline II; BGH, AfP 2012, S. 49). Der Persönlichkeitsschutz wird nach ständiger Rechtsprechung in verschiedene Sphären, namentlich die Intim-, die Privat- und die Sozialsphäre, eingeteilt, welche die Schwere möglicher Eingriffe anzeigen und an die bestimmte Kriterien der Rechtfertigung von Eingriffen – etwa durch ein legitimes Interesse an der Berichterstattung – rückgebunden werden. Die Einteilung nach Sphären ist dabei nicht als unbewegliche Kategorisierung zu handhaben. Sie folgt vielmehr dem legitimen Bedürfnis, die »Spannungen von Individualität und Sozialität« (so anschaulich Hufen 2014, S. 179) innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft angelehnt an bereits entwickelte Abwägungskriterien bewerten zu können. Berichterstattungen aus dem Bereich der Intimsphäre sind ohne das Einverständnis der betroffenen Person unzulässig. Je mehr sich eine Berichterstattung der Sozialsphäre nähert, desto leichter lassen sich Eingriffe in diesem Bereich – etwa durch ein Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit – rechtfertigen.
2.2.2 Unzulässige Schmähkritik Unabhängig von der Zuordnung zu einer der vorbezeichneten Sphären ist die Verbreitung von Werturteilen, die die Grenze zur sog. Schmähkritik überschreiten, in jedem Fall unzulässig. Unter Schmähkritik werden dabei Meinungsäußerungen verstanden, bei denen nicht die inhaltliche Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung und Erniedrigung einer Person als solcher im Vordergrund steht. Als unzulässige Schmähkritik wurde beispielsweise die Bezeichnung ›Krüppel‹ des Satiremagazins Titanic im Hinblick auf einen querschnittsgelähmten ehemaligen Soldaten gewertet, der sich öffentlich dazu bekannte, wieder für die Bundeswehr tätig werden zu wollen (vgl. BVerfGE 86, S. 1 [13 f.] – Titanic; das Gericht sah es dabei als erwiesen an, dass der Soldat durch die Äußerung persönlich getroffen werden sollte). Als Schmähkritik wurden weiterhin folgende Äußerungen eines Literaturkritikers eingestuft, mit denen dieser den Roman Und sagte kein einziges Wort von Heinrich Böll bedachte: Der Autor sei »steindumm, kenntnislos und talentfrei«, er sei einer der »verlogensten, ja korruptesten« Autoren und ein »z. T. pathologischer, z. T. ganz harmloser Knallkopf« gewesen, bei dessen Werken es sich um »häufig widerwärtigen Dreck« gehandelt habe (BVerfG, NJW 1993, S. 1462). Bei diesen Äußerungen stand erkennbar nicht die geistige Auseinandersetzung mit dem Werk, sondern die Diffamierung der Person Böll im Vordergrund.
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2.2.3 Berichterstattung über die Privatsphäre prominenter Persönlichkeiten Neben der Zuordnung des Gegenstands der Berichterstattung zu einer Persönlichkeitssphäre ist weiterhin von Relevanz, ob die Person, über die identifizierend berichtet wird, eine Privatperson oder eine prominente Person ist und ob die betreffende Person ihre Privatsphäre der Öffentlichkeit durch eigenes selbstbestimmtes Verhalten zugänglich gemacht, mithin gewöhnlich als privat geltende Angelegenheiten der Öffentlichkeit preisgegeben hat. Bilder oder persönliche Informationen von Privatpersonen dürfen, auch wenn sie der Sozialsphäre zuzuordnen sind, grundsätzlich nur dann zum Gegenstand einer Berichterstattung gemacht werden, wenn die betroffene Person damit einverstanden ist. Privatpersonen haben daher einen Anspruch auf Anonymität, auch wenn sie sich im öffentlichen Raum bewegen. Bewegen sich prominente Personen in der Sozialsphäre, müssen sie Fotografien und Berichterstattung über ihre Person dagegen grundsätzlich dulden. Die Pressevertreter können hier zumeist ein legitimes Interesse der Öffentlichkeit an der Berichterstattung reklamieren. Berichterstattungen, die die Intimsphäre betreffen, müssen sich aber auch Personen des öffentlichen Interesses nicht gefallen lassen. Gegenstand mannigfaltiger Auseinandersetzungen sind Berichterstattungen, die den Bereich der Privatsphäre bekannter Persönlichkeiten betreffen. Anders als im anglo-amerikanischen Rechtskreis, in dem Personen der Öffentlichkeit (›public figures‹) eine Berichterstattung über ihre Person in den meisten Fällen hinnehmen müssen, genießen Prominente unter dem Grundgesetz wie auch unter der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) je nach Lage des Einzelfalls in ihrer Privatsphäre Schutz vor einer Berichterstattung.1 Vor einer zentralen Entscheidung des EGMR im Verfahren ›von Hannover gegen Deutschland‹2 vom 24. Juni 2004 (EGMR, NJW 2004, S. 2647–2652) unterschied die Rechtsprechung in Deutschland zwischen sog. absoluten und relativen Personen der Zeitgeschichte (vgl. dazu Teichmann 2007, S. 1917). Unter den ›absoluten Personen der Zeitgeschichte‹ wurden dabei solche Personen verstanden, die »unabhängig von einem bestimmten zeitgeschichtlichen Ereignis auf Grund ihres Status oder ihrer Bedeutung allgemein öffentliche Aufmerksamkeit finden« (BGH, NJW 2004, S. 1795). Im Unterschied dazu standen die ›relativen Personen der Zeitgeschichte‹ nur eine begrenzte Zeit im Blickpunkt der Öffentlichkeit, häufig durch ein relevantes besonderes Ereignis wie beispielsweise ein Aufsehen erregender Strafprozess. Daneben konnte aber auch sog. vertraute Begleitpersonen einer ›absoluten Person der Zeit-
1 Die diesbezügliche Rechtsprechungsentwicklung wurde weitreichend und medienwirksam durch Entscheidungen zu Unterlassungsbegehren der Prinzessin Caroline von Hannover vor den deutschen Gerichten aber auch vor dem EGMR geprägt. 2 Auch als ›Caroline-I‹-Entscheidung bezeichnet.
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geschichte‹ das Schicksal eines abgeleiteten Informationsinteresses der Öffentlichkeit ereilen.3 Der Schutz der Privatsphäre ›absoluter Personen der Zeitgeschichte‹ beschränkte sich auf den Bereich der eigenen Wohnung sowie außerhalb der häuslichen Sphäre auf einen Bereich, in dem sich der Betroffene erkennbar in einer Sphäre ›örtlicher Abgeschiedenheit‹4 befand. Der EGMR erkannte in dieser deutschen Spruchpraxis einen Verstoß gegen Menschenrechte, konkret gegen das in Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Ihm missfiel dabei weniger die Einordnung unter die Begrifflichkeiten der ›absoluten‹ und ›relativen Person der Zeitgeschichte‹, sondern vielmehr die Tatsache, dass diese Einordnung nicht nach der Funktion der Person als Politiker, Filmstar oder eben der Zugehörigkeit zu einem Adelsgeschlecht und dem Beitrag der Berichterstattung für die Meinungsbildung differenzierte. Diese Rechtsprechung des EGMR blieb nicht ohne Folgen.5 In seiner Entscheidung vom 6. März 2007 entwickelte der BGH unter Berücksichtigung des vorbezeichneten Urteils des EGMR das Modell des bis heute gültigen sog. abgestuften Schutzkonzepts (vgl. BGH, NJW 2007, S. 1977–1981). Wesentlich ist nach dieser geänderten Rechtsprechung nicht mehr die Zuordnung zur Kategorie der ›absoluten‹ oder ›relativen Person der Zeitgeschichte‹6, sondern der Beitrag, welchen die Abbildung oder Information zur Meinungsbildung der Öffentlichkeit leisten kann. Bei Bildern ist ferner stets der Zusammenhang mit der dazu gehörenden Wortberichterstattung im Hinblick auf das Kriterium der Meinungsbildungsrelevanz zu bewerten. Fotos aus dem Alltagsleben können damit nur noch in Ausnahmefällen Gegenstand zulässiger Berichterstattung sein, und zwar vor allem dann, wenn sie in Kombination mit der Wortberichterstattung zur Meinungsbildung beitragen können.7 Das Bundesverfassungsgericht betonte unter grundsätzlicher Billigung dieses neuen Konzepts zusätzlich noch, dass auch der bloßen Unterhaltung ein Bezug zur Meinungsbildung nicht von vorneherein abgesprochen werden könnte. Die Frage, ob Caroline von Hannover und ihr Ehemann ihre Villa in Kenia an zahlende Gäste vermieten, vermag nach Auffassung des Gerichts in einer demokratischen Gesellschaft Anlass für eine die Allgemeinheit zu interessierende Debatte geben (vgl. BVerfGE 120, S. 180 [221 f.]).
3 Ausnahmen wurden hier allerdings bei Minderjährigen gemacht. 4 Dieser Begriff bot freilich Raum für Auslegung. 5 Zwar kommt der EMRK im Rechtsgefüge der Bundesrepublik Deutschland wie jedem anderen völkerrechtlichen Vertrag nur der Rang eines einfachen Bundesgesetzes (im Rang unter der Verfassung) zu. Gleichwohl wird die EMRK bei der Auslegung der Grundrechte nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts interpretationsleitend berücksichtigt (vgl. BVerfGE 120, S. 180 [200] – Caroline II). 6 An diesen Begrifflichkeiten wurde dann auch nicht mehr festgehalten. 7 Kritiker dieser ›neuen Linie‹ befürchten, dass über die Hintertür einer passenden Wortberichterstattung doch wieder private Fotos relativ problemlos veröffentlicht werden könnten.
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Das Bundesverfassungsgericht versuchte hier erkennbar, den Bereich zulässiger Berichterstattung aus dem Privatleben bekannter Persönlichkeiten vor dem Hintergrund der herausgehobenen Bedeutung der Pressefreiheit nicht zu stark und vor allem nicht nur auf den Bereich der politisch relevanten Berichterstattung zu verengen. Es begreift den Beitrag zur Meinungsbildung dabei zu Recht nicht nur im Sinne einer E-, sondern auch einer U-Kultur,8 wobei Differenzierungen durchaus möglich und nötig sind.9
2.2.4 Verdachts- und Gerichtsberichterstattung Die Presseberichterstattung im Umfeld polizeilicher Ermittlungen und Strafgerichtsverfahren berührt das Spannungsverhältnis zwischen dem Persönlichkeitsrecht und der Freiheit der Berichterstattung an einem für die betroffene Person äußerst sensiblen Punkt und stellt eine besondere Herausforderung an den Rechtsgüterausgleich dar (vgl. Lehr 2013, S. 7 f.). Strafverfahren gehören zum Zeitgeschehen, dessen Vermittlung auch und gerade die Aufgabe der Medien ist (vgl. BVerfG, NJW 2009, S. 351 – Holzklotz-Fall). Die Gerichtsberichterstattung dient durch die Behandlung wichtiger Rechtsprobleme und Rechtsfragen der Verstärkung und Vertiefung des Rechtsbewusstseins in der Bevölkerung und der Kontrolle der rechtsprechenden Gewalt durch Öffentlichkeit (vgl. Köpnik 2010, S. 195). Gerichtsverfahren sollen nicht als Geheimjustiz hinter verschlossenen Türen, sondern vor den Augen der Öffentlichkeit durchgeführt werden. Die Öffentlichkeit von Strafprozessen bietet für den Angeklagten indes nicht nur Vorteile. Anschaulich wird formuliert, dass häufig aus Sicht des vom Strafverfahren Betroffenen nicht mehr in erster Linie die Frage nach dem Schutz durch Öffentlichkeit, sondern eher die nach dem Schutz vor Öffentlichkeit im Vordergrund steht (vgl. Trüg 2011, S. 1041). Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit wird umso stärker gewichtet, je mehr sich die Straftat von der ›gewöhnlichen‹ Kriminalität abhebt, etwa auf Grund der Art der Begehung oder des Angriffsobjekts (vgl. BVerfGE 119, S. 309 [322] – Misshandlung von Bundeswehrrekruten). Je schwerer oder ungeheuerlicher der Tatvorwurf jedoch ist, desto größer ist auch die Gefahr der Stigmatisierung des Betroffenen. Einmal eingetreten vermag in den meisten Fällen selbst ein Freispruch die Folgen der Berichterstattung nicht mehr vollständig zu beseitigen (›Vielleicht ist ja doch etwas am Vorwurf dran‹).
8 In Anlehnung an die gängige Zuordnung zur ernsten (E-) und unterhaltenden (U-)Musik. 9 In seiner zweiten (Entscheidung vom 07.02.2012 – 40660/08 sowie 60641/08, GRUR 2012, S. 745) und dritten Caroline-Entscheidung (Entscheidung vom 19.9.2013 – 8772/10, AfP 2013, S. 500) unterstützte der EGMR den neuen deutschen Weg des abgestuften Schutzkonzepts und näherte sich der Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts an.
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Die bis zur rechtskräftigen Verurteilung eines Beschuldigten geltende Unschuldsvermutung gebietet deshalb eine zurückhaltende, zumindest aber eine ausgewogene Berichterstattung (vgl. BVerfGE 35, S. 202 [231 f.]; Lebach I, BVerfG NJW 2009, S. 350 – Holzklotz-Fall). Gerade im Verdachtsstadium des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens können unsensible, weil vorrangig die Sensationslust bedienende Beiträge zu einer Vorverurteilung des Betroffenen führen. Die Gefahr, mit einem Verdacht falsch zu liegen, darf aber nicht dazu führen, dass der Presse ein Abwarten zugemutet wird, bis sich der im Raum stehende Vorwurf erhärtet hat oder gar bewiesen ist. In nicht wenigen bedeutenden Fällen führte erst der auf eine Verdachtsberichterstattung folgende öffentliche Druck zu einer Aufklärung der Ereignisse (vgl. dazu Rinsche 2013, S. 1). Der Presserat10 hält in seinen Publizistischen Grundsätzen (Pressekodex) unter Ziffer 13 Regeln bereit, mit denen der Unschuldsvermutung bei der Berichterstattung Rechnung getragen werden kann. Hierzu zählt die Forderung, zwischen Verdacht und erwiesener Schuld in der Sprache der Berichterstattung deutlich zu unterscheiden. Weiterhin darf die Berichterstattung nicht das Ziel einer sozialen Zusatzbestrafung Verurteilter mit Hilfe des ›Medien-Prangers‹ verfolgen.
3 Der autobiographische Roman Das Spannungsfeld zwischen den Kommunikationsfreiheiten und dem Persönlichkeitsrecht des Einzelnen führt nicht nur im Presserecht zu bisweilen sehr schwierigen und diffizilen Abwägungsentscheidungen. Auch bei Buchpublikationen kommt es immer wieder zu rechtlichen Konflikten, wobei bei Dokumentationen und Biographien in Buchform häufig im Wesentlichen auf die Maßstäbe des Presserechts zurückgegriffen werden kann, mithin die Frage zu beantworten ist, ob die behaupteten Tatsachen der Wahrheit entsprechen oder ob sich Meinungsäußerungen im noch zulässigen Rahmen (keine Schmähkritik) bewegen.11 Die rechtliche Problematik bei Romanen ist etwas anders gelagert. Die Maßstäbe von Wahrheit und Unwahrheit vermögen den Roman als Werkgattung bereits deshalb nicht in seiner Komplexität zu erfassen, weil sich der Aussagegehalt des Romans als fiktionales Werk nicht nur in einer Ebene erschöpft, an die Faktizitätsansprü-
10 Der Presserat versteht sich als Einrichtung der freiwilligen Selbstkontrolle der Presse und als Lobby für eine freie Presse. 11 Auch hier ist indes zu beachten, dass Biographien und Dokumentationen durch Schwerpunktsetzung und Akzentuierung eine im Einzelfall mehr oder weniger subjektive Einschätzung zugrunde liegt, aus deren Darstellung der Abstand zur Realität deutlich wird. In vielen Fällen erheben Biographien und Dokumentationen jedoch den Anspruch einer wahrheitsgemäßen Darstellung und müssen sich dann auch am Maßstab von Wahrheit und Unwahrheit messen lassen (vgl. weiterführend Hahn 2008, S. 97).
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che erhoben werden könnten. In Romanen verbirgt sich hinter der ersten Ebene der unmittelbaren Wahrnehmung durch den Rezipienten noch eine weitere, dem ersten unbefangenen Blick zunächst noch verborgene Ebene, eine Wahrheit hinter der Wahrheit. Romane sind Kunst und erfordern keine nur äußerungsrechtliche, sondern eine kunstspezifische Betrachtungsweise. Kunst lebt einerseits von der Individualität des Künstlers, der seine Interpretation der Dinge zur unmittelbaren Anschauung bringt. Kunst lebt aber auch oder gerade im Auge des Betrachters, der der subjektiven Einschätzung des Künstlers eine eigene hinzufügt. Gerade Literatur, die in besonderer Weise reale / biographische und fiktionale Elemente verklammert – etwa sog. Schlüsselromane – läuft Gefahr, dass sich Menschen im Roman wiedererkennen oder wiedererkannt werden.12 Stimmen eigene Lebensbildeinschätzung und die des Romanautors nicht überein oder werden pikante Details offenbart, entladen sich diese Spannungen häufig in Unterlassungsklagen mit dem Ziel, die Verbreitung des Werks zu untersagen. Die erkennenden Gerichte stehen dabei – verkürzt gesprochen – vor dem Problem, ob eine fiktionale, künstlerische Anlehnung an reelle Personen überhaupt in der Lage sein kann, das Bild dieser Person in der Realität zu verfälschen (zur Problematik der ›Verfälschung‹ in der Kunst vgl. Loschelder 2013, S. 14). Das Bundesverfassungsgericht beschäftigte sich mit dieser Frage in zwei grundlegenden Entscheidungen. Im Rahmen der Entscheidung zum Roman Mephisto – Roman einer Karriere von Klaus Mann aus dem Jahr 1972, in dem erkennbar der Schauspieler Gustav Gründgens als Vorbild für die Romanfigur Hendrik Höfgen diente,13 vertrat das Bundesverfassungsgericht die Auffassung, dass das Kunstwerk Roman nicht nur als ästhetische Realität wirke, sondern daneben auch ein Dasein in den Realien habe, die zwar in der künstlerischen Darstellung überhöht würden, dadurch ihre sozialbezogenen Wirkungen aber nicht verlören (vgl. BVerfGE 30, S. 173 [194] – Mephisto). Den Versuch einer Auflösung dieser Spannungslage erkennt das Gericht in der Beachtung der Tatsache, ob und inwieweit das ›Abbild‹ im Roman gegenüber dem ›Urbild‹ in der Realität verfremdet worden ist. Im zu entscheidenden Fall erachtete das Bundesverfassungsgericht das ›Abbild‹ Höfgen gegenüber dem ›Urbild‹ Gründgens für nicht so verselbstständigt, dass die Figur genügend objektiviert erscheine. Da der Autor mit der Figur des Hendrik Höfgen zudem ein negativ-verfälschendes Porträt Gründgens’ gezeichnet habe, das in Einzelheiten unwahr sei und verbale Verleumdungen und
12 Ladeur / Gostomzyk 2004, S. 435, sprechen in diesem Zusammenhang von einem »Lebensrisiko«. Wer mit einem Schriftsteller zusammenlebe, müsse wissen, dass seine literarische Verwertung nahe liege. 13 Der Roman erzählt den Aufstieg des hochbegabten Schauspielers Hendrik Höfgen im Pakt mit den nationalsozialistischen Machthabern in Deutschland unter Leugnung seiner eigentlichen Überzeugungen.
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Beleidigungen enthalte, sei letzterer in seinem Persönlichkeitsrecht durch die Darstellungen im Roman verletzt. Die Entscheidung zu Gunsten des Persönlichkeitsrechts von Gründgens erging mit 3 : 3 Stimmen denkbar knapp.14 Mit seinem ausführlichen Sondervotum,15 in dem er die Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit des künstlerischen Bereichs betonte und sich gegen eine Betrachtung wendete, die seiner Ansicht nach zu stark auf die Wirkungen abstelle, die der Roman außerhalb seines ästhetischen Seins entfalte,16 legte der Verfassungsrichter Erwin Stein den Grundstein für eine kunstfreiheitsfreundlichere Interpretation in einer zeitlich deutlich nachfolgenden, aber dennoch nicht weniger bedeutsamen Entscheidung im Jahr 2008. Gegenstand dieser Entscheidung (vgl. BVerfGE 119, S. 1 – Esra) war der Roman Esra von Maxim Biller. Der Autor erzählt darin aus der Ich-Perspektive die Geschichte einer unglücklichen Liebesbeziehung zwischen dem Schriftsteller Adam und der jungen Schauspielerin Esra unter Einschluss genauester Beschreibungen intimer Geschehnisse. Als weitere zentrale Protagonistin tritt Lale als Esras Mutter auf, deren Bild äußerst negativ belegt wird. Als Urbild beider Figuren sind reelle Personen, die vormalige Geliebte Billers und deren Mutter, nicht zuletzt auf Grund einer Reihe signifikanter biographischer Merkmale, identifizierbar (vgl. dazu auch Becker 2003, S. 676). Das Bundesverfassungsgericht hielt in seiner Entscheidung zwar weiterhin an der ›Abbild-Urbild‹-Formel fest, löste aber die Konsequenzen dieser Einordnung deutlicher als in der ›Mephisto‹-Entscheidung zu Gunsten einer ›kunstspezifischen Betrachtung‹ auf. Dem Persönlichkeitsrecht der Betroffenen ist danach erst dann der Vorrang einzuräumen, wenn es in schwerwiegender Weise beeinträchtigt ist. Die Schwere der Beeinträchtigung hängt dabei davon ab, in welchem Maß der Künstler es dem Leser ›nahe legt‹, den Inhalt des Werks auf wirkliche Personen zu beziehen (also die Verfremdung des ›Abbilds‹ im Vergleich zum ›Urbild‹), sowie von der Intensität der Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung, wenn der Leser den Bezug hergestellt hat (vgl. BVerfGE 119, S. 1 [27] – Esra). In Anwendung dieser Maßstäbe erkannte das Gericht eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Tochter. Durch die genaue Schilderung intimster Details sei erkennbar gewesen, dass es sich um die Sexualpartnerin des Autors handele, wobei es Letzterer dem Leser zuvor nicht ›nahe gelegt habe‹, die Ausführungen als Fiktion zu verstehen. Die Darstellung der Lale blieb dagegen unbeanstandet, weil die ausgeprägt negativen Charakterzüge (depressiv, psychisch krank, Alkoholikerin) durch-
14 Im Falle der Stimmengleichheit gilt die Verfassungsbeschwerde als zurückgewiesen. 15 Richter, die die Mehrheitsmeinung des Senats persönlich nicht tragen, sind berechtigt, Sondervoten zu verfassen, die auch im Anschluss an die Entscheidung des Gerichts veröffentlicht werden. 16 Auch in der Literatur wurde auf »fatale« Folgen der Rechtsprechung des Bundesverfassungs gerichts für die Kunstkommunikation hingewiesen (etwa Ladeur / Gostomzyk 2005, S. 567).
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aus als fiktive Schilderungen angesehen werden könnten (vgl. BVerfGE 119, S. 1 [33] – Esra). Wie die Minderheitenvoten der insgesamt drei dissentierenden Richter zeigen, war auch diese Entscheidung – wie zuvor bei Mephisto – schon innerhalb des erkennenden Senats hoch umstritten. Der Senatsmehrheit wird dabei vorgeworfen, dass sie zur Tabuisierung des Sexuellen in der Kunstgattung Roman führe und das zuvor selbst gesetzte Ziel der kunstspezifischen Betrachtungsweise verfehle. In letzterem Einwand verdichtet sich die gesamte Spannungslage zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht. Hinter dem Begriff der ›kunstspezifischen Betrachtungsweise‹ verbergen sich im Wesentlichen Forderungen an ein Vorverständnis, welches die Eigenartigkeit und Eigengesetzlichkeit des Romans respektiert. Hier ist die Frage zu stellen, ob fiktionale Darstellungen überhaupt in der Lage sein können, sozialbezogene Wirkungen zu entfalten, wird doch aus der Sicht des Autors im Roman eine eigene Wirklichkeit geschaffen. Die Antwort der Senatsmehrheit des Bundesverfassungsgerichts offenbart hier Inkonsistenzen, worauf die Sondervoten zu Recht hinweisen. Man stelle sich vor, reale Ebene und fiktionale Ebene seien durch eine Membran getrennt. Nimmt man die Forderung einer kunstspezifischen Betrachtungsweise ernst, ist diese Membran vor dem Hintergrund möglicher persönlichkeitsrechtsrelevanter Elemente semipermeabel. Elemente aus der realen Welt können die Membran passieren und als Elemente auf der fiktionalen Ebene – vielleicht auch deutlich erkennbar – weiter existieren. Diese Betrachtung ist der grundrechtlich garantierten Kunstfreiheit geschuldet, nach der zu respektieren ist, dass Kunst gerade davon lebt, Elemente der Wirklichkeit aufzunehmen, zu verarbeiten, zu spiegeln, zu entfremden, schlicht kunstspezifisch zu nutzen. Durch die Einbettung in die fiktionale Ebene verändern sich die Elemente. Sie entledigen sich ihres realen Kerns, werden zu einem Aliud. Dieses Aliud vermag die Membran über das Vehikel persönlichkeitsrechtsverletzender Rückwirkungen nicht mehr zu durchdringen. Die Maßstäbe, die zur Prüfung von Persönlichkeitsrechtsverletzungen auf der realen Ebene entwickelt wurden, können im Verhältnis der beiden Ebenen zueinander keine Geltung mehr beanspruchen, weil sie die Eigengesetzlichkeit der fiktionalen Ebene in ihrem Kernbereich negieren würden. Fiktion bleibt Fiktion. Wird dieser Ansatz gewählt und konsequent verfolgt, sind generelle Bereichsausnahmen für die Darstellung von Intimitäten nicht zu rechtfertigen, Wahrheitsbeweise können nicht gefordert werden. Der Frage, ob es dem Leser ›nahegelegt wird‹, bestimmte Schilderungen auch als tatsächlich gegeben anzusehen, kann so keine Bedeutung zukommen. Anderes gilt, wenn nur vordergründig die Form des Romans gewählt wird, um eine Person herabzuwürdigen, ihr zu schaden, sie bloß zu stellen oder verächtlich zu machen (dafür plädiert auch Lenski 2008, S. 284). Diese Frage ist im Einzelfall unter Einbeziehung aller rechtlichen und tatsächlichen Umstände zu beantworten. Unbeschadet der rechtlichen verbleibt beim Künstler freilich stets die soziale Verantwortung.
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Je nach Schwere der durch das Buch hervorgerufenen Rechtsverletzung kommen z. B. Richtigstellungen, Schwärzungen aber auch ein Rückrufanspruch in Betracht (zu Letzterem unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung vgl. ausführlich Jipp 2014, S. 300–303).
4 Indizierung jugendgefährdender Medien Medienprodukte, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden, werden auf der Grundlage eines im Jugendschutzgesetz (JuSchG) näher beschriebenen Verfahrens von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien in eine Liste jugendgefährdender Medien aufgenommen (sog. Indizierung). Diese Liste, die sich in die Bereiche Teil A (Öffentliche Liste der Trägermedien), Teil B (Öffentliche Liste der Trägermedien mit absolutem Verbreitungsverbot), Teil C (Nichtöffentliche Liste der Medien) und Teil D (Nichtöffentliche Liste der Medien mit absolutem Verbreitungsverbot) gliedert, erlangt ihre konstitutive Wirkung durch die Bekanntmachung der Indizierung im Bundesanzeiger.17 Eventuell vorzunehmende Beschlagnahmen und Einziehungen von Medien fallen nicht in den Kompetenzbereich der Prüfstelle. Hier werden die Strafverfolgungsbehörden tätig. Wann eine Eignung zur Kinder- und Jugendgefährdung vorliegt, unterliegt der Beurteilung der Bundesprüfstelle sowie gegebenenfalls der Gerichte. Als Maßstab kommen hier verfassungsrechtliche Werte sowie die UN-Übereinkunft über die Rechte des Kindes (vom 20.11.1989, BGBl. II, 1992, S. 122) in Betracht. Als jugendgefährdend gelten nach § 18 Abs. 1 Satz 2 JuSchG dabei vor allem unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende Medien sowie Medien, in denen Gewalthandlungen wie Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert dargestellt werden oder Selbstjustiz als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit nahe gelegt wird. Als weitere Kategorien lassen sich aus der Spruchpraxis der Bundesprüfstelle ausländerfeindliche und antisemitische Inhalte, Aufwertung, Rehabilitierung oder Verharmlosung von NS-Ideologien, Verharmlosung des Drogenkonsums, Verherrlichung eines exzessiven Alkoholkonsums sowie das Propagieren eines Selbstmords oder eines selbstzerstörerischen Verhaltens aufführen (Aufstellung nach Liesching 2012, Rn. 20–27b). Gem. § 18 Abs. 3 JuSchG darf ein Medium allerdings nicht allein wegen seines politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Inhalts aufgenommen werden. Gleiches gilt, wenn das Werk der Kunst, der Wissenschaft oder Forschung und Lehre
17 Bei sog. schwer jugendgefährdenden Medien greifen die Verbreitungsbeschränkungen oder -verbote, ohne dass es einer Aufnahme in die Liste bedarf.
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dient oder wenn es im öffentlichen Interesse liegt. Die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit schließt eine Indizierung dabei nicht grundsätzlich aus, verlangt aber eine Abwägung dieser verfassungsrechtlich geschützten Belange mit anderen schützenswerten Gütern. Die Abwägung des Jugendschutzes mit der Kunstfreiheit / dem Kunstwert des Mediums erlangt bei Büchern eine besondere Bedeutung. Als wegweisend ist hier das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Fall des Romans Josefine Mutzenbacher18 (vgl. BVerfGE 83, S. 130) einzustufen. Das Gericht entschied hier zum einen, dass auch ein pornographischer Roman Kunst19 sein kann.20 Zum anderen stellte es heraus, dass auch bei einer festgestellten schweren Jugendgefährdung stets eine Abwägung mit der Kunstfreiheit zu erfolgen hat. Die Bundesprüfstelle hat sich folglich vor einer Indizierungsentscheidung immer mit dem Kunstwert eines Werks auseinander zu setzen. Indizierte Printprodukte, die nicht im Internet abrufbar sind, fallen stets unter die Gruppe der ›Trägermedien‹, können folglich im Bundesanzeiger öffentlich eingesehen werden. Auf den Listenteilen A und B waren bis zum 30.11.2014 insgesamt 432 Printmedien (Bücher, Broschüren, Comics) indiziert.21 In die Teile C und D der Liste gelangen Angebote, die online verfügbar sind (Telemedien) oder bei denen nach § 24 Abs. 3 Satz 2 JuSchG von einer Bekanntmachung abzusehen ist, weil die Bekanntmachung der Wahrung des Jugendschutzes schaden würde. Die Entscheidung für eine Nichtveröffentlichung der betroffenen Produkte trägt dabei der Gefahr Rechnung, dass Verbreitungsrestriktionen oder ein Verbreitungsverbot häufig im Internet nicht wirksam durchgesetzt und damit eine veröffentlichte Liste als ›Wegweiser‹ für den Abruf jugendgefährdender Angebote ›pervertiert‹ werden könnte (vgl. Liesching 2012, Rn. 28). Einzelabfragen zu einer Indizierung im nicht öffentlichen Teil der Liste können bei der Bundesprüfstelle allerdings gestellt werden. Die Rechtsfolgen einer Indizierung von Trägermedien, die in den Listenteilen A und B bekannt gemacht werden, bestehen in Verbreitungsrestriktionen (Teil A) und Verbreitungsverboten (Teil B). Einem Verbreitungsverbot unterliegen dabei gem. § 18 Abs. 2 Nr. 2 JuSchG solche Trägermedien, die nach der Einschätzung der Bundesprüfstelle einen in § 86, § 130, § 130a, § 131, § 184a, § 184b oder § 184c des Strafgesetzbuchs (StGB) bezeichneten Inhalt haben.22 Im Übrigen gilt gemäß § 15 JuSchG das
18 Es ging um die Aufnahme des Romans in die Liste jugendgefährdender Schriften. 19 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Roman dann Kunst, wenn als Ergebnis freier schöpferischer Gestaltung Eindrücke, Erfahrungen und Phantasien des Autors in der literarischen Form des Romans zum Ausdruck kommen (vgl. BVerfGE 83, S. 139 [138]). 20 Dies hatte zuvor auch der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung zu Henry Millers Opus Pistorum so gesehen (vgl. BGH, NJW 1990, S. 3026 [3027]). 21 Vgl. dazu die Statistik der Bundesprüfstelle, abrufbar auf ihrer Internetseite unter www.bundespruefstelle.de. 22 Hierbei handelt es sich um die Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen, die Verbreitung von Schriften, die grausame und unmenschliche Gewalttätigkeiten schildern, verherrlichen oder ausdrücken, die Verbreitung gewalt- oder tierpornographischer Schriften sowie
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Verbot, Kindern und Jugendlichen das indizierte Medium anzubieten, zu überlassen oder einen Zugang zu ihm zu ermöglichen. Indizierte Medien dürfen folglich nicht an einem Ort angeboten werden, der Kindern und Jugendlichen zugänglich ist oder von ihnen eingesehen werden könnte. Weiterhin dürfen sie nicht im Versandhandel oder in gewerblichen Leihbüchereien oder Lesezirkeln angeboten oder überlassen werden. Für indizierte Medien darf darüber hinaus nicht in der Öffentlichkeit geworben werden, unabhängig davon, ob die Werbung selbst jugendgefährdend ist oder nicht. Die Liste selbst darf nicht zu Werbezwecken gebraucht werden, auch nicht in einem abgeschlossenen Raum, zu dem nur Erwachsene Zutritt haben. Verstöße gegen diese Restriktionen können mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr geahndet werden. § 15 Abs. 6 JuSchG bestimmt schließlich, dass Verleger, Zwischenhändler und Importeure dazu verpflichtet sind, ihre Abnehmer von der Indizierung zu informieren. Die Rechtsfolgen für die in den Listenteilen C und D aufgenommenen Medien richten sich nicht nach dem Jugendschutzgesetz, sondern nach den Vorschriften des Jugendmedienschutzstaatsvertrags. Auch hier sind absolute (Teil D) und relative (Teil C) Verbreitungsverbote vorgesehen, wobei sich das relative Verbreitungsverbot darauf bezieht, dass das Angebot im Internet im Rahmen geschlossener Benutzergruppen angeboten werden darf. Ein Indizierungsverfahren bei der Bundesprüfstelle kann auf zwei unterschiedlichen Wegen angestoßen werden. Zunächst kann eine Stelle, die vom Gesetzgeber in § 21 Abs. 2 JuSchG dazu ermächtigt worden ist, einen Antrag auf Indizierung eines Mediums stellen. Darunter fallen das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die obersten Landesjugendbehörden, die zentralen Aufsichtsstellen der Länder für den Jugendmedienschutz, die Landesjugendämter und Jugendämter, mithin rund 800 Stellen. Daneben können aber auch Behörden oder anerkannte Träger der freien Jugendhilfe eine Überprüfung anregen. Nach Angaben der Bundesprüfstelle handelt es sich dabei um mehrere hunderttausend Stellen. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Verfahren besteht dabei darin, dass die Bundesprüfstelle auf einen Antrag hin tätig werden muss, bei einer Anregung hingegen selbst durch die Vorsitzende / den Vorsitzenden nach Ermessen entscheiden darf, ob sie tätig wird. Privatpersonen können keinen eigenen Antrag an die Prüfstelle richten, sondern sind darauf verwiesen, sich an eine antrags- bzw. anregungsberechtigte Stelle zu wenden. Ob eine Jugendgefährdung vorliegt, die zu einem Listeneintrag führen kann, entscheidet grundsätzlich ein Gremium von zwölf Personen, das sich aus dem/der Vorsitzenden der Bundesprüfstelle, acht sog. Gruppenbeisitzern und drei Länderbeisitzern zusammensetzt. Die Gruppenbeisitzer werden von Verbänden aus den Bereichen Kunst, Literatur und Buchhandel, aus der Verlegerschaft, Lehrerschaft, den Religionsgemein-
die Verbreitung, den Erwerb und den Besitz kinderpornographischer und jugendpornographischer Schriften, die Volksverhetzung und die Anleitung zu Straftaten.
3.1.2 Staatlich-rechtliche und politische Lenkungsprozesse in der Gegenwart
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schaften sowie von Anbietern von Bildträgern und Telemedien und Trägern der freien und öffentlichen Jugendhilfe vorgeschlagen und vom Bundesministerium berufen. Die Länderbeisitzer werden von den Landesregierungen ernannt. Beschlussfähig ist das Gremium, wenn mindestens neun Mitglieder anwesend sind. Eine Indizierung kann nur erfolgen, wenn sich zwei Drittel der anwesenden Mitglieder des Gremiums dafür aussprechen. Im Falle der Mindestanzahl von neun anwesenden Mitgliedern fordert der Gesetzgeber eine Mehrheit von sieben Stimmen für eine Indizierung, damit sichergestellt ist, dass eine Listenaufnahme auf einer breiten Grundlage erfolgt. In Fällen offensichtlicher Jugendgefährdung kann sich auch ein Dreiergremium für eine Indizierung aussprechen. Die Entscheidung muss dann jedoch einstimmig ergehen. Findet sich keine Mehrheit im Gremium, ist die Indizierung nicht abgelehnt. Darüber kann dann nur das daraufhin einzuberufende Zwölfer-Gremium befinden. Im Rahmen des gerichtsähnlich ausgestalteten mündlichen und nicht öffentlichen Verfahrens werden Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten eingeholt, um ihnen die Möglichkeit der Darlegung relevanter Gesichtspunkte gegen eine Einordnung des Produkts als jugendgefährdend einzuräumen. Gegen eine Indizierungsentscheidung kann schließlich Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben werden.
5 Preisbindung von Verlagserzeugnissen und Steuerbegünstigungen Verlagserzeugnisse werden in Deutschland nicht nur als Wirtschaftsgut, sondern auch als Träger deutschsprachiger Kultur, also als Kulturgut und Kulturmedium, begriffen, dessen flächendeckende Bereitstellung und Erreichbarkeit einen wichtigen kulturund bildungspolitischen Zweck verfolgt (vgl. Waldenberger 2002, S. 2914). Zum einen unterliegen Bücher, Zeitungen und andere Erzeugnisse des grafischen Gewerbes gem. § 12 Abs. 2 Nr. 1 iVm Anlage 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) nur dem ermäßigten Steuersatz, Verbraucher haben also nicht die üblichen 19 % Mehrwertsteuer, sondern nur eine Mehrwertsteuer in Höhe von 7 % beim Kauf der betreffenden Erzeugnisse zu entrichten. Hierdurch soll eine weite Verbreitung des Kulturguts angeregt werden. Ausgenommen sind dabei allerdings jugendgefährdende Trägermedien, worin erneut eine lenkende Wirkung der Besteuerung zum Ausdruck kommt. Die Ermäßigung gilt ferner, den EU-rechtlichen Vorgaben der Mehrwertsteuerrichtlinie (Richtlinie 2006/112/EG vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. 2006, L 347/1) folgend, nicht für digitale Produkte (E-Books etc.).23 Eine Anglei-
23 Online-Händler müssen beim grenzüberschreitenden Verkauf zudem ab dem 1. Januar 2015 nicht mehr den Mehrwertsteuersatz ihres Sitzstaats abführen, sondern den des Landes, in dem der Kunde wohnt bzw. seinen Sitz hat.
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chung wird hier zunehmend mit Blick auf den kulturellen Wert auch der elektronischen Fassungen gefordert.24 Für Hörbücher (nicht aber Hörspiele) gilt in Deutschland ab dem 1. Januar 2015 der ermäßigte Mehrwertsteuersatz. Der gewerbs- oder geschäftsmäßige Verkauf von Büchern unterliegt in Deutschland weiterhin der Buchpreisbindung nach dem Gesetz über die Preisbindung für Bücher (Buchpreisbindungsgesetz). Das Gesetz dient ausweislich des § 1 BuchPrG dem Schutz des Kulturguts Buch. Die Festsetzung verbindlicher Preise beim Verkauf an Letztabnehmer soll den Erhalt eines breiten Buchangebots sichern. Zugleich soll das Gesetz gewährleisten, dass das Buchangebot für eine breite Öffentlichkeit zugänglich ist, indem es die Existenz einer großen Zahl von Verkaufsstellen fördert, die vor allem von kleinen und mittelständischen Unternehmern getragen werden (vgl. Russ / Wallenfels 2013, S. 25). Der Preis eines Buchs darf nach den Vorschriften des Buchpreisbindungsgesetzes nicht vom Buchhändler / Verkäufer bestimmt, sondern muss vom Verleger (oder Importeur) festgelegt werden. Es gibt nur wenige Ausnahmen von der Buchpreisbindung, z. B. für gebrauchte Bücher,25 Mängelexemplare,26 Eigenexemplare des Autors, Schulbuch-Sammelbestellungen und grenzüberschreitende Verkäufe innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums.27 Auch ›geschäftsmäßige‹28 Buchverkäufe über Online-Plattformen, wie z. B. ebay, unterliegen der Buchpreisbindung. § 8 BuchPrG regelt die Dauer der Preisbindung. Die Preisbindung für Buchausgaben, deren erstes Erscheinen länger als 18 Monate zurückliegt, kann durch Verleger und Importeure aufgehoben werden (sog. modernes Antiquariat). Hier werden dann die Preisangaben auf den Büchern als ›unverbindlich‹ gekennzeichnet. Bei Büchern, die in einem Abstand von weniger als 18 Monaten wiederkehrend erscheinen oder deren Inhalt mit dem Erreichen eines bestimmten Datums oder Ereignisses erheblich an Wert verliert, ist eine Beendigung der Preisbindung durch den Verleger oder Impor-
24 Die Europäische Kommission hat gegen Frankreich und Luxemburg wegen der dort ermäßigten Mehrwertsteuer-Sätze für E-Books ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV eingeleitet, möchte aber auch prüfen, ob eine Angleichung der Steuersätze in absehbarer Zeit erfolgen kann. Die Bundesregierung gab an, sich auf europäischer Ebene für einen reduzierten Steuersatz für E-Books stark machen zu wollen (vgl. AfP 2014, S. 316). 25 Der Gesetzesbegründung zum Buchpreisbindungsgesetz lässt sich entnehmen, dass von gebrauchten Büchern dann gesprochen werden kann, wenn ein Letztabnehmer einmal den gebundenen Endpreis entrichtet hat und das Buch danach nochmals weiterverkauft wird. 26 Hier gilt jedoch, dass die Exemplare auch tatsächlich mangelhaft sein müssen, beispielsweise in Folge von Gebrauchsspuren. Die Bezeichnung als Mängelexemplar alleine hebt die Buchpreisbindung nicht auf (vgl. OLG Frankfurt a. M., NJW 2005, S. 3359). 27 Diese Ausnahme greift nicht, wenn sich aus objektiven Umständen ergibt, dass die betreffenden Bücher allein zum Zwecke ihrer Wiedereinfuhr ausgeführt worden sind, um das Buchpreisbindungsgesetz zu umgehen. 28 Als im privaten Verkehr unüblichen und damit geschäftsmäßigen Verkauf erachtete das OLG Frankfurt (Main) in einem Beschluss den Verkauf von 40 Büchern in 6 Wochen (vgl. OLG Frankfurt a. M., NJW 2004, S. 2098).
3.1.2 Staatlich-rechtliche und politische Lenkungsprozesse in der Gegenwart
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teur ohne Beachten der 18-Monats-Frist nach Ablauf eines angemessenen Zeitraums seit Erscheinen möglich. Die Regelungen im Buchpreisbindungsgesetz sollen durch das Ausschalten einer Preisbildung nach den Grundsätzen von Angebot und Nachfrage verhindern, dass zwischen den Händlern ein Preiskampf um das Kulturgut Buch beginnt, der sich negativ auf die Vielfalt im deutschen Buchmarkt, sowohl mit Blick auf das Angebot an unterschiedlichen Titeln als auch auf die Infrastruktur an Buchhandlungen, auswirken könnte. Die mit der ubiquitären Verfügbarkeit von Verlagserzeugnissen einhergehende Förderung des Lesens wird als kulturpolitisch erwünschter Nebeneffekt begrüßt (vgl. Waldenberger 2002, S. 2914). Die Frage, ob E-Books auch unter das Buchpreisbindungsgesetz fallen, wird nicht einheitlich beantwortet.29 Vom Anwendungsbereich des Buchpreisbindungsgesetzes sind auch Produkte erfasst, die »Bücher […] substituieren und bei Würdigung der Gesamtumstände als überwiegend verlags- oder buchhandelstypisch anzusehen sind« (§ 2 Abs. 1 BuchPrG). Ein Teil der Literatur verweist darauf, dass E-Books schnell über das Internet an jedem Ort verfügbar seien, wonach die Aufrechterhaltung eines flächendeckenden Händlernetzes als Rechtfertigung für eine Buchpreisbindung überhaupt nicht mehr zum Tragen komme und eine Buchhandelstypizität entfalle (vgl. Heuel 2006, S. 536; ähnlich Hess 2011, S. 224). Andere messen vor dem Hintergrund, dass es sich bei E-Books um völlig neue Produkte handele, nicht dem Merkmal der Buchhandelstypizität,30 sondern der Substitutionsfunktion maßgebliche Bedeutung zu. Danach wären digitale Bücher, die einem gedruckten Buch im Wesentlichen entsprechen und über (Online-)Händler vertrieben werden, von der Buchpreisbindung erfasst (vgl. Russ / Wallenfels 2013, S. 26). Zudem wird zutreffend darauf hingewiesen, dass zumindest eine Verlagstypizität solange gegeben ist, wie E-Books typischerweise von Verlagen verbreitet werden (vgl. Schulz / Ayar 2012, S. 654). Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. vertritt die Ansicht, dass E-Books, die einem gedruckten Buch im Wesentlichen entsprechen, preisgebunden seien, woran sich – soweit ersichtlich – auch der Handel hält (vgl. Stellungnahme, Börsenverein des Deutschen Buchhandels o. J.). Für eine Subsumtion des E-Books unter den Tatbestand des § 2 BuchPrG sprechen rechtstechnisch gesehen gute Gründe. Die Verlagstypizität und Substitutionsfunktion ist zumindest für solche E-Books zu bejahen, die die digitale Version eines Buchs darstellen und dieses damit ersetzen sollen. Anderes muss indes für Produkte gelten, die besondere, über das digitalisierte Buch hinausgehende weitere multimediale Inhalte enthalten, denen nicht nur eine untergeordnete
29 Österreich hat E-Books zum Jahresende 2014 ausdrücklich in das Buchpreisbindungsgesetz aufgenommen. 30 Fasst man mit Kuß 2012, S. 78, die Buchhandelstypizität weit und bezieht die Online-Plattformen der Buchhändler mit ein, wäre auch das Merkmal der Buchhandelstypizität erfüllt.
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Funktion gegenüber dem dargestellten Text oder Bild zukommt. Hier handelt es sich gerade nicht mehr um ein Buchsubstitut. Auch den Verlegern von Zeitungen und Zeitschriften ist es möglich, ihre Produkte an bestimmte Preise zu binden. Eine Rechtspflicht zur Preisbindung besteht – im Unterschied zur Buchpreisbindung – aber nicht. Die Möglichkeit der Preisbindung folgt nicht aus dem Buchpreisbindungsgesetz, sondern aus § 30 GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen), der für Zeitungen und Zeitschriften eine gesetzlich geregelte Ausnahme von dem grundsätzlichen Preisbindungsverbot des Wettbewerbsrechts (§ 1 GWB) darstellt, wonach innerhalb einer Stufenfolge von Vertragsbeziehungen durch den Erstvertrag in die Preisgestaltung des Zweitvertrags nicht eingegriffen werden darf (vgl. Nordemann 2009, Rn. 2). Durch die Möglichkeit der Preisfestlegung durch die Verleger soll insbesondere das in Deutschland gewachsene System des Pressevertriebs erhalten werden, das eine große Vielfalt der erhältlichen Presseerzeugnisse sichert. Kennzeichnend für dieses Vertriebssystem ist auch das Recht der Presse-Grossisten und Einzelhändler, unverkaufte Zeitungen und Zeitschriften auf Kosten der Verlage zurückzugeben, das sog. Remissionsrecht. So können Händler, ohne das wirtschaftliche Hauptrisiko zu tragen, auch Produkte anbieten, die kein Potenzial zum Bestseller haben.
6 Literatur Becker, Bernhard von: Verbotene Bücher. In: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (ZUM) 47 (2003), S. 675–677. Börsenverein des Deutschen Buchhandels: Stellungnahme zur Preisbindung von E-Books. URL: http://www.boersenverein.de/sixcms/media.php/976/Preisbindung_von_E-Books_ Stellungnahme_des_Vorstands.pdf [eingesehen am 11.06.2015]. Hahn, Richard: Persönlichkeitsrecht und Buch. In: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (ZUM) 52 (2008), S. 97–102. Hess, Berndt: Buchpreisbindung für E-Books? In: Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht (AfP) (2011), Heft 3, S. 223–227. Heuel, Dominik: Zur Buchpreisbindung elektronischer Verlagserzeugnisse. In: Zeitschrift für Medienund Kommunikationsrecht (AfP) (2006), Heft 6, S. 535 f. Hufen, Friedhelm: Staatsrecht II. Grundrechte. 4. Aufl. München 2014. Jipp, Daniel: Zum Folgenbeseitigungsanspruch bei Buchveröffentlichungen. Der Rückrufanspruch. In: Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht (AfP) (2014), Heft 4, S. 300–303. Köpnick, Axel: Gerichtsberichterstattung. In: Peter Schiwy u. a. (Hrsg.): Medienrecht. Lexikon für Praxis und Wissenschaft. 5. Aufl. Köln 2010, S. 194–211. Kuß, Christian: Gutenberg 2.0. Der Rechtsrahmen für E-Books in Deutschland. In: Kommunikation und Recht (K&R) (2012), Heft 2, S. 76–81. Ladeur, Karl-Heinz / Gostomzyk, Tobias: Ein Roman ist ein Roman ist ein Roman? In: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (ZUM) 48 (2004), S. 426–436. Ladeur, Karl-Heinz / Gostomzyk, Tobias: Mephisto reloaded. Zu den Bücherverboten der Jahre 2003/2004 und der Notwendigkeit, die Kunstfreiheit auf eine Risikobetrachtung umzustellen. In: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) (2005), Heft 9, S. 566–569.
3.1.2 Staatlich-rechtliche und politische Lenkungsprozesse in der Gegenwart
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Lehr, Gernot: Der Verdacht – eine besondere Herausforderung an den Ausgleich zwischen Persönlichkeitsschutz und freier Berichterstattung. In: Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht (AfP) (2013), Heft 1, S. 7–16. Lenski, Sophie-Charlotte: Grundrechtsschutz zwischen Fiktionalität und Wirklichkeit. Zum »Esra«Beschluss des BVerfG. In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) (2008), Heft 3, S. 281–284. Liesching, Marc: Kommentierung zu § 18 JSchG. In: Georg Erbs / Max Kohlhaas (Begr.): Strafrechtliche Nebengesetze. Bd. 2. Kap. J 214. Loseblatt. Stand: 192. Erg.Lfg. München 2012. Loschelder, Michael: Verfälschungen des Persönlichkeitsbildes in der Kunst. In: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR) (2013), S. 14–20. Nordemann, Jan Bernd: § 30 GWB. In: Ulrich Loewenheim u. a. (Hrsg.): Kartellrecht. Kommentar. München 2009. Pentz, Vera von: Neuste Rechtsprechung des VI. Zivilsenats zum Medien- und Persönlichkeitsrecht. In: Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht (AfP) (2013), Heft 1, S. 20–29. Rinsche, Karen: Verdachtsberichterstattung. In: Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht (AfP) (2013), Heft1, S. 1–6. Russ, Christian / Wallenfels, Dieter: Zehn Jahre Buchpreisbindung. Eine Zwischenbilanz. In: Wettbewerb in Recht und Praxis (WRP) (2013), Heft 1, S. 24–31. Schulz, Julia / Ayar, Zuhal: Rechtliche Fragestellungen und Probleme rund um das E-Book. Betrachtung der rechtlichen Beziehungen zwischen Autor und Verleger. In: MultiMedia und Recht (MMR) (2012), Heft 10, S. 652–655. Teichmann, Christoph: Abschied von der absoluten Person der Zeitgeschichte. In: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) (2007), Heft 27, S. 1917–1920. Trüg, Gerson: Medienarbeit der Strafjustiz. Möglichkeiten und Grenzen. In: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) (2011), Heft 15, S. 1040–1045. Waldenberger, Artur: Preisbindung bei Zeitungen und Zeitschriften. Der neue § 15 GWB. In: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) (2002), Heft 40, S. 2914–2918.
3.2 Bildungspolitische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen
Heinz Bonfadelli
3.2.1 Entstehung und Entwicklung der modernen Lese- und Leserforschung im 20. Jahrhundert Zusammenfassung: Im Zentrum des Beitrags stehen die Entwicklung der Lese- und Leserforschung im 20. Jahrhundert einerseits und die Bilanzierung des aktuellen Forschungsstands andererseits, und zwar mit einem Fokus auf dem deutschen Sprachraum. Dabei werden Studien sowohl aus dem Bereich der angewandten Medienforschung als auch Forschung zum Leseverhalten aus dem universitären Bereich rezipiert. Zukunftsorientiert wird sowohl der Wandel des Leseverhaltens als auch das elektronische Lesen bzw. die Nutzung von E-Books beleuchtet. Abstract: The subject of the following chapter is the development of research on reading behavior and readership in the 20th century and its current findings with a focus on the German speaking countries of Europe, including both the findings of applied media studies as well as academic media studies. With an eye on future developments, the chapter will consider changes in reading practices as well as electronic reading or the use of e-books.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 531 2 Forschungsgegenstand Leser und Leseverhalten — 532 3 Entwicklung und Institutionalisierung der Lese(r)forschung — 533 4 Fragestellungen und empirische Umsetzung — 536 5 Befunde — 539 6 Fazit — 543 7 Literatur — 544
1 Einleitung In Deutschland besteht eine langjährige und einzigartige Tradition von demoskopischer Buchmarktforschung, initiiert schon sehr früh durch den Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. und institutionalisiert am Institut für Demoskopie (IfD) Allensbach (vgl. Muth 1993) sowie später fortgeführt durch die Bertelsmann Stiftung (vgl. Saxer u. a. 1989; Fritz 1991) und heute gebündelt in der Stiftung Lesen (vgl. Stiftung Lesen 1990/1994, 2001, 2008). Dabei haben einzelne herausragende Forscher wie Elisabeth Noelle-Neumann, Gerhard Schmidtchen, Renate Köcher und Ludwig Muth vom IfD Allensbach und Bodo Franzmann von der Stiftung Lesen, unterstützt durch Wolfgang Langenbucher (Universität Wien) und Ulrich Saxer (Universität Zürich) eine wichtige Rolle gespielt. Der folgende Beitrag zeichnet diese Entwicklung der Lese- und Leserforschung im 20. Jahrhundert nach und bilanziert den aktuellen Forschungsstand. Er basiert auf
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den bestehenden Synopsen der Forschung (vgl. Franzmann 1989, 1996; Muth 1993, 1998; Bonfadelli 1998b, 1999, 2004; Schön 1998, 2000; Kuhn / Rühr 2010) und aktualisiert diese mit einem Fokus auf dem deutschen Sprachraum (zur US-Forschung vgl. Griswold u. a. 2005; National Endowment for the Arts 2007) einerseits und dem Leseverhalten der Gesamtbevölkerung andererseits. Nicht berücksichtigt werden kann der Bereich des Lesens von Heranwachsenden (vgl. Groeben / Hurrelmann 2004; Philipp 2011). Zukunftsorientiert wird speziell das elektronische Lesen bzw. die Nutzung von E-Books thematisiert.
2 Forschungsgegenstand Leser und Leseverhalten Der Forschungsgegenstand der Lese- und Leserforschung ist facettenreich und darum heterogen. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass es eine Vielzahl an mitbeteiligten akademischen Disziplinen und ihren je spezifischen Forschungsperspektiven sowie den damit verknüpften theoretischen Ansätzen gibt,1 welche ein je anderes Formalobjekt des Lese(r)verhaltens konstituieren. Das Materialobjekt Lesen in seinen äußerst vielfältigen Erscheinungsformen kann eben ganz unterschiedlich akzentuiert und beleuchtet werden, etwa als Beschaffungsakt im Sinne von Kaufen, Sammeln, Schenken, Ausleihen von Büchern und anderen Printprodukten, als Zuwendung zu und Lesen von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften als eine Form sozialen Handelns im Medien- bzw. Freizeitkontext, als Anwenden von Lesekompetenz im Sinne des Verstehens und Schreibens von gesprochenen und geschriebenen Texten in ganz unterschiedlichen Praxiskontexten der Alltagsbewältigung, aber auch im Berufsleben oder als Ausüben der Kulturtechnik Lesen durch die Partizipation an und das Rezipieren von mehr oder weniger anspruchsvollen ästhetischen Texten oder als Anschlusskommunikation in Form von Gesprächen über gelesene Inhalte (vgl. Charlton / Sutter 2007). – Und je nach disziplinärem Hintergrund und theoretischer Orientierung fokussieren empirische Studien ausschnitthaft immer nur auf ganz spezifische Teilaspekte und die damit zusammenhängenden Dimensionen des Totalphänomens Lesen. Während die demoskopische Buchmarktforschung bis Ende der 1970er Jahre relativ eng auf den Kauf, den Besitz und die Nutzung des Konsumguts Buch fokussierte, beschäftigt sich die empirisch arbeitende und sozialwissenschaftlich orientierte Kommunikationswissenschaft und ähnlich die Kommunikationssoziologie einerseits mit der Nutzung der Printmedien (Buch, aber auch Zeitung und Zeitschrift) im Kontext der übrigen Medien (vgl. Meyen 2004), seit den 1980er Jahren vorab in Auseinandersetzung mit dem Medium Fernsehen (vgl. Franzmann 1989; Bonfadelli
1 Vgl. Kap. 1.4 Sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze in diesem Band.
3.2.1 Entstehung und Entwicklung der modernen Lese- und Leserforschung
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1998b) und neuerdings dem Internet (vgl. Kochhan / Schengbier 2007), andererseits mit den hinter der Nutzung stehenden kommunikationsrelevanten Motiven (vgl. Saxer 1991). Ergänzend untersucht die Lesesozialisationsforschung zudem den Einfluss der Sozialisationsinstanzen Familie, Schule und Peers auf die Herausbildung des Leseverhaltens in Kindheit und Jugend (vgl. Groeben / Hurrelmann 2004; Hurrelmann u. a. 2006). Im Unterschied dazu steht das Lesen als Technik der kulturellen Aneignung von Texten im Zentrum der Medienwissenschaft, meist bearbeitet in Form von qualitativen Rezeptionsstudien. Ähnliches gilt für die Literaturwissenschaften, welche sich aber noch stärker mit Fragen der literarischen Aneignung im Rahmen der Entwicklung von Lektürebiographien befassen (vgl. Graf 1995). Lesefertigkeiten als Basiskompetenz wiederum werden im Rahmen der PISA-Studien untersucht, welche mit theoretischen Konzepten der Erziehungswissenschaft arbeiten. Auch die Medienpsychologie beschäftigt sich mit Fragen der Aufmerksamkeit, des geleisteten mentalen Aufwands und der Verarbeitung von in Texten enthaltenen Informationen (vgl. Salomon 1984; Paechter 2007). Wie Axel Kuhn und Sandra Rühr bilanzierend festhalten, »[…] kann man von Lese- und Leserforschung als einem transdisziplinären Forschungsbereich sprechen, der Erkenntnisse aus vielen Fragestellungen unterschiedlicher Fachrichtungen benötigt, um ein ganzheitliches Bild des Lesens und des Lesers erstellen zu können. Insofern ist ein aktueller Stand der Lese- und Leserforschung nur erkennbar, wenn man diese Vielfalt berücksichtigt.« (Kuhn / Rühr 2010, S. 541) – Die vorliegende Forschungsübersicht muss allerdings das Feld der berücksichtigten Lese- und Leserforschung aus pragmatischen Gründen auf die sozialwissenschaftliche Tradition der Lese(r)forschung einschränken, welche meist mittels standardisierten und mehr oder weniger repräsentativen Befragungen den Umgang der Bevölkerung mit dem Medium Buch untersucht. Die Nutzung der übrigen Printmedien wie Zeitung und Zeitschriften, welche vielfach miterhoben wird, kann dabei nur am Rande dargestellt werden.
3 Entwicklung und Institutionalisierung der Lese(r)forschung Im Unterschied zu den tagesaktuellen Printmedien und zum Rundfunk, welche sich stark über den Verkauf von Werbung finanzieren, vollzog sich die Institutionalisierung der demoskopischen Buch- bzw. Buchmarktforschung zögerlicher und war deren Kontinuität weniger gesichert; aber auch die Vergleichbarkeit zwischen den einzelnen Studien blieb eine Herausforderung. Trotzdem gibt es vermutlich im Vergleich zu Deutschland kein weiteres Land mit einer derartig dichten, aber auch qualitativ hochstehenden Buchmarktforschung (vgl. Muth 1993, S. 6). Als wichtiger Ausgangspunkt fungierte das 1961 auf Initiative vom Verlag Bertelsmann gegründete Institut für Buchmarkt-Forschung Hamburg unter Leitung von Wolfgang Strauß,
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das erstmals mit wissenschaftlichen Methoden die Erforschung des Buchhandels in Angriff nehmen sollte, wobei seine Forschungsergebnisse in den Schriften zur Buchmarktforschung sowie den Berichten des Instituts für Buchmarkt-Forschung publiziert wurden (vgl. Franzmann 1981, S. 200). Nach seiner Einstellung 1969 bestand eine Lücke, welche durch die Aktivitäten des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und später durch die 1977 gegründete Deutsche Lesegesellschaft nur teilweise zu schließen vermocht wurde. Zu erwähnen ist weiter die 1988 gegründete Stiftung Lesen, welche sich als Anwalt für das Lesen und die Leseförderung in Deutschland versteht und neben Modellprojekten auch Leseforschung durchführt bzw. in Auftrag gibt. Die Leseforschung selbst begann Mitte der 1950er Jahre mit einer ersten Repräsentativumfrage zur Lesekultur in Deutschland durch das Institut für Demoskopie Allensbach. 1961 veröffentliche der Bertelsmann Verlag seine erste repräsentative EMNID-Studie Das Buch in der Gegenwart, und 1965 wurde die beim Deutschen Institut für Volksumfragen (DIVO) 1964 erarbeitete und durchgeführte Studie Buch und Leser in Deutschland publiziert. In der Folge sind unter dem koordinierenden Dach des Börsenvereins des deutschen Buchhandels in den nächsten 25 Jahren eine Vielzahl an Studien entwickelt und durchgeführt worden, die jeweils im Archiv für Soziologie und Wirtschaftsfragen des Buchhandels, einer Beilage zum Börsenblatt für den deutschen Buchhandel publiziert und dokumentiert wurden (vgl. Muth 1993, S. 4–25; Schön 1998, S. 43 f.; Kuhn / Rühr 2010, S. 563–565). Ausgangspunkt bildeten die beiden Studien Lesekultur in Deutschland, 1967/69 und 1974 durchgeführt und publiziert (vgl. Schmidtchen 1968, 1974), wobei die Stellung des Mediums Buch bzw. das Fernsehen in Konkurrenz zum Buchlesen zentrale Fragestellungen waren (vgl. Bonfadelli 1998a). Spätere Studien, in den 1970er Jahren realisiert, fokussierten stärker auf den Buchhandel und befassten sich mit Themen und Fragen wie Buchhändler und Buchkäufer (Noelle-Neumann 1978), Das Buch als Geschenk (Schulz 1983), Zur Psychologie des Bücherschenkens (Noelle-Neumann / Schulz 1984), Typologie der Käufer und Leser (Noelle-Neumann / Schulz 1987) und Familie und Lesen (Köcher 1988). 2005 wurde zudem als Kooperationsprojekt zwischen Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V., ZDF Medienforschung und Forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH (kurz: Forsa) eine repräsentative Studie zu den unterschiedlichen Modalitäten des Erlebens von Buch und Fernsehen durchgeführt (vgl. Dehm u. a. 2005). Am Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre markiert die Bertelsmann Stiftung ihr Engagement für die Buchlese(r)forschung mit ihrer Studie Kommunikationsverhalten und Medien (Saxer u. a. 1989), deren Daten 1987 erhoben wurden, ergänzt durch die Sekundäranalyse Lesen im Medienumfeld von Angela Fritz (1991). Zielsetzung war, das Lesen noch stärker als in den vorausgegangenen Untersuchungen im vernetzten Zusammenhang der gesamten Mediennutzung zu betrachten. Dies geschah vor dem Hintergrund des in den 1970er Jahren stattfindenden Werte- und Einstellungswandels, der gewachsenen Freizeit und der sich verändernden Medien
3.2.1 Entstehung und Entwicklung der modernen Lese- und Leserforschung
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landschaft. Erstmals wurde dabei auch der Stellenwert der ›neuen‹ Bildschirmmedien mitberücksichtigt. Ergänzt und vertieft wurde die Untersuchung Kommunikationsverhalten und Medien durch weitere Studien zur Lesesozialisation in der Familie und im Alltag von Jugendlichen (vgl. Bertelsmann Stiftung 1993). Die 1990er Jahre markieren einen Aufbruch und einen Wandel von der Buchmarkt- hin zur Lese(r)forschung, insofern die 1988 gegründete Stiftung Lesen der künftigen Forschung noch stärker Impulse in Richtung der Erforschung der Hintergründe, Motive und Einbettung des Leseverhaltens gab, schon sichtbar in der ersten Studie Leseverhalten in Deutschland 1992/93 (Stiftung Lesen 1993; vgl. auch Franzmann / Löffler 1993); weitere Studien folgten mit Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend (Stiftung Lesen 2001; vgl. Franzmann 2001) und mit Lesen in Deutschland 2008 (Stiftung Lesen 2008). – Damit liegen repräsentative und gut vergleichbare Daten aus den Jahren 1992, 2000 und 2008 für Deutschland vor. Allerdings gab und gibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. weiterhin bei der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) Studien in Auftrag (Stichwort: SinusMilieus), beispielsweise die Langzeitstudie Buchkäufer und Leser – Profile, Motive, Wünsche (Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2008). Im Vergleich dazu ist die Datenlage zum Lese(r)verhalten in der Schweiz und Österreich markant schlechter. Zur Entwicklung des Buchlesens in der Schweiz gibt es den sog. Univox-Survey, in welchem seit 1986 jeweils eine Frage zur Häufigkeit des Buchlesens gestellt wurde (vgl. Bonfadelli 2009), was einen Trendvergleich ermöglicht. Immerhin wurde 2008 im Rahmen einer repräsentativen Erhebung des Kulturverhaltens der Schweizer Bevölkerung die Nutzung von Schriftmedien wie Zeitung, Zeitschriften und Bücher miterhoben, wobei zwischen privatem Zweck und Lesen für Ausbildung und Beruf unterschieden und auch die Nutzung von Bibliotheken miterfasst wurde (vgl. Eidgenössisches Departement des Innern [EDI] / Bundesamt für Statistik [BfS] 2010). Die Leseforschung in Österreich hat zwar nach Fritz (1990) eine lange Tradition, trotzdem ist die Datenlage nicht optimal, gibt es doch nur wenige und in unregelmäßigen Abständen durchgeführte Studien zum Leseverhalten (vgl. Böck 2002). Die aktuellste Untersuchung stammt vom Institut für empirische Sozialforschung (IFES 2007). Dieser sog. Kultur-Monitor enthält auch Befunde zur Anzahl der im letzten Jahr gelesenen Bücher. Daneben gibt es etliche Studien zum Lesen von Kindern und Jugendlichen (vgl. Böck 2000). Schließlich sei noch auf die aktuelle ländervergleichende D.A.CH-Studie (2009) des Börsenblatts des Deutschen Buchhandels verwiesen, welche mittels einer Online-Befragung sowohl das Lese- und Medienverhalten als auch die Nutzung von E-Books untersucht hat, und zwar mit Stichproben in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Der Stiftung Lesen (1990, 1994) kommt das Verdienst zu, in ihrem Forschungsgutachten Lesen im internationalen Vergleich in Form von Länderstudien eine wertvolle Übersicht zum europäischen wie auch internationalen Stand (u. a. USA, Kanada, Russland, Japan) der nur schlecht überblickbaren Lese(r)forschung erarbeitet zu haben, die bis jetzt leider nicht mehr aktualisiert worden ist.
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Die oben erwähnten Studien, repräsentiert durch das Institut für Demoskopie Allensbach, den Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V., die Bertelsmann Stiftung und die Stiftung Lesen, fokussieren jeweils sowohl auf das Leseverhalten als auch auf den Umgang mit dem Medium Buch. Neben diesem Kerntyp von Buchmarktbzw. Buchleseforschung gibt es in Deutschland zudem kontinuierlich durchgeführte repräsentative Medienstudien, welche neben Nutzungsdaten zu den elektronischen Medien auch Daten zur Frequenz und zur zeitlichen Dauer des Lesens von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften erheben und ausweisen. Vor allem die Langzeitstudie Massenkommunikation enthält wichtige, weil über die Zeit hinweg vergleichbare Befunde auch zum Buchlesen (Ridder / Engel 2010a, 2010b; auch Reitze / Ridder 2011). Ermöglicht wird so die Analyse von Veränderungen im Buchlesen in Fünfjahresschritten von 1970 bis 2010. Schließlich stimulierten in den letzten Jahren die neu auf den Markt gebrachten sog. E-Books bzw. die entsprechenden Lesegeräte neue empirische Studien (u. a. D.A.CH-Studie), welche sich zum einen mit den Marktchancen dieser neuen Geräte befassen (vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2008, 2011) und zum anderen aus der Nutzer-Perspektive den Wandel des Mediums Buch differenzierter zu erfassen versuchen (vgl. Kochhan / Patzig 2009). Im Vergleich zur bis jetzt dargestellten kaum theoriebasierten angewandten Forschung gibt es im Bereich des Lesens keine theoriebasierten universitären Studien mit größeren oder gar repräsentativen Stichproben. Wegen der leichteren Zugänglichkeit fokussiert die akademische Lese(r)forschung fast ausschließlich auf das Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen (vgl. für die Schweiz Bonfadelli 1988; Bucher 2004).
4 Fragestellungen und empirische Umsetzung Nachfolgend werden die wesentlichen Fragestellungen und deren empirische Umsetzung dargestellt, welche den oben vorgestellten Studien mit Repräsentativitätsanspruch im Bereich der angewandten Buchlese(r)forschung unterliegen (siehe Tab. 1). Die Ausgangsüberlegung besteht darin, dass je nach zugrunde liegender Forschungstradition die interessierenden Fragestellungen durchaus gleich sein können, aber deren empirische Übersetzung in Form von Operationalisierungen anders ausfällt, was letztlich die Vergleichbarkeit der Befunde beschränkt. – Mehr Abstimmung auf Ebene der Operationalisierungen wäre somit wünschenswert. In der traditionellen Buchmarktforschung interessieren auf einer ersten Ebene Fragen nach der Buchbeschaffung und dem Buchbesitz. Meist werden diese operationalisiert, indem einerseits nach der Häufigkeit des Kaufs, des Leihens und des Schenkens von Büchern gefragt wird, andererseits der Buchbesitz mit offenen Fragen nach der Anzahl gemessen wird. Ebenfalls mit Häufigkeitsfragen (täglich, mehrmals
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pro Woche, einmal pro Woche, seltener, nie) wird die Regelmäßigkeit des Buchlesens erhoben, meist zusammen mit der Nutzung der übrigen Medien. Darüber hinaus wird in der Studie Massenkommunikation die Frequenz des Lesens von Büchern auch noch im Freizeitkontext, d. h. im Vergleich von weiteren Freizeitaktivitäten, erhoben. In Kulturstudien wiederum (vgl. Eidgenössisches Departement des Innern [EDI] / Bundesamt für Statistik [BfS] 2010; Institut für empirische Sozialforschung [IFES] 2007) wird das Lesen von Büchern im Vergleich zu weiteren Kulturaktivitäten wie Besuch von Theater, Konzerten oder Kino erhoben. Dabei stellt sich ein Problem der Vergleichbarkeit, insofern vielfach der Kontext des Lesens ausgeklammert wird, d. h. nicht nach dem Buchlesen in der Freizeit bzw. dem Lesen für Schule und Beruf spezifiziert wird. Dies lässt keine Unterscheidung nach intrinsischer (Lesen in der Freizeit) und extrinsischer Motivation (Lesen für Schule und Beruf) zu bzw. führt zu im Vergleich mit den übrigen Medien überhöhten Werten. Allerdings beeinflusst vermutlich auch die Abfrage der Häufigkeit des Buchlesens im spezifischen Freizeit- oder Kulturkontext das Antwortverhalten der Befragten. Tab. 1: Fragestellungen und Dimensionen der angewandten Lese(r)forschung Bereich
Fragestellungen
Dimensionen
Buchbesitz
––Wer besitzt wie viele Bücher?
––Quantität: Anzahl Bücher
Wege zum Buch
––Wer kauft, schenkt, leiht Bücher?
––Frequenz
Stellenwert des Lesens
––Wie viele lesen überhaupt Bücher? Wer ist Nichtleser? Wie viele Vielleser gibt es?
––Quantität: Anzahl Bücher
(Buch-)Lese verhalten
––(Tages-)Reichweite von Buch und Medien? ––Wie viel und wie lange wird gelesen? ––Trends im Zeitverlauf? Lebensablauf? ––Unterschiede zwischen sozialen Segmenten?
––Frequenz und zeitliche Dauer der Nutzung von Büchern und anderen Medien ––Leseverhalten gestern
Medium
––Lesen am Bildschirm, Tablet etc.
––Frequenz
Relevanz
––Subjektive Wichtigkeit des Lesens?
––Wichtigkeit
Präferenzen
––Welche Buchgattungen werden gelesen?
––Sach-/Fachbuch vs. Romane/ Erzählungen/Gedichte
Motive, Image
––Was erwartet man von Büchern?
––Spannung, Information etc.
Strategien
––Wie werden Texte gelesen?
––Modalitäten
Lesetypen
––Welche Lesetypen gibt es?
––Synthese von Dimensionen
Sozialisation
––Erfahrungen mit Lesen in Kindheit und Einfluss auf die spätere Bindung ans Buch
––Familie (Vorlesen, Lese gespräche), Schule, Peers
Sozialer Kontext
––Welchen Einfluss hat der Kontext aufs Lesen? ––Wie nutzen Migranten das Medium Buch?
––Soziodemographie etc. ––Migrationshintergrund
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In der medienzentrierten Forschung des Rundfunks wie der Studie Massenkommunikation interessiert zudem die tägliche bzw. wöchentliche Reichweite eines bestimmten Mediums, welche durch die Frage nach der Nutzung am Vortag erhoben wird. Neben der Nutzungsfrequenz bzw. Reichweite eines Mediums wird in diesen Studien zudem die zeitliche Dauer der Nutzung abgefragt. Beide Maße, Frequenz wie Dauer, sind für die habitualisiert genutzten tagesaktuellen Medien geeignet, aber weniger reliabel für das Buchlesen, das ja vielfach in unregelmäßigen Abständen, aber dann durchaus intensiv erfolgen kann. Erschwert wird die Vergleichbarkeit der Befunde zudem, weil in verschiedenen Studien nicht nach der Frequenz des (Buch-)Lesens, sondern nach der Anzahl gelesener Bücher, z. B. in den letzten vier Wochen, gefragt wird (vgl. Schön 1998, S. 43). Im Unterschied zu den bis jetzt erwähnten ›objektivierten‹ Indikatoren des (Buch-)Lesens wird in der Lese(r)forschung darüber hinaus vielfach nach der Relevanz oder dem subjektiven Stellenwert des Lesens gefragt: ›Wie wichtig ist für Sie das Lesen?‹ Je nach Umfang einer Studie spielen zudem bezogen auf das vielfältige Buchangebot die Präferenzen für Buchgattungen eine Rolle. Dies hängt zudem mit den hinter dem Lesen stehenden Motiven zusammen, d. h. liest jemand zur Unterhaltung oder stärker zur Information und Bildung. Solche Fragen interessieren vorab die Buchmarktforschung, während beispielsweise in der Studie Massenkommunikation nach den Motiven der Mediennutzung gefragt wird, leider aber nicht für das Buchlesen. Schließlich werden die Fragen zur Häufigkeit, zeitlichen Dauer und persönlichen Relevanz des Buchlesens in den auf das Lesen fokussierten Studien etwa der Stiftung Lesen (2001; 2008) qualitativ ergänzt durch Fragen nach den Strategien bzw. Modalitäten des Lesens einerseits, aber auch mit Fragen nach den mit dem Lesen verbundenen persönlichen Assoziationen. Obwohl sowohl die Buchmarkt- als auch die Medienforschung stark anwendungsbezogen, relativ deskriptiv und eher wenig theorieorientiert sind (vgl. Bonfadelli 1998b, S. 81), werden die erhobenen Daten zum einen in der Zeitdimension hinsichtlich erkennbarer Trends (Wird mehr oder weniger gelesen?) ausgewertet; zum anderen bestehen eher wenig Möglichkeiten des Vergleichs in der Raumdimension (Unterscheiden sich die Länder im Leseverhalten und wie lässt sich dies erklären?). Rudimentäre Daten gibt es immerhin im Eurobarometer 278 zum Kulturverhalten (vgl. European Commission 2007). Schließlich bemüht sich die neuere Forschung, die vorhandenen Dimensionen des Lesens in Lesetypen zu verdichten, die allerdings kaum theoriebasiert gebildet werden. In der Studie Lesen in Deutschland 2008 beispielsweise werden sechs Typen ausgewiesen und wie folgt charakterisiert: (1) Lesefreunde Print (24 %) sind Freunde des gedruckten Worts, d. h. sie lesen gerne Bücher und auch Zeitungen bzw. Zeitschriften. Bücher und vor allem Belletristik ist aus ihrem Leben nicht wegzudenken. Sie sind häufig weiblich und älter. (2) Informationsaffine (20 %): Mediennutzung ist für sie vor allem Mittel zum Zweck, d. h. Information steht im Vordergrund. Dieser Typus ist eher männlich, etabliert und gut gestellt.
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(3) Vielmediennutzer (12 %) sind Menschen mit einem breiten Interessenspektrum; darum nutzen sie nahezu alle Medien, ob Sach-/Fachbücher oder Belletristik. Sie sind eher weiblich, jünger bis etabliert, gut gebildet und finanziell gut gestellt. (4) Elektronikaffine Mediennutzer (12 %) fokussieren auf TV, CDs, DVDs, PC-Spiele und Surfen im Internet. Lesen bedeutet für sie Anstrengung. Sie sind meist männlich und jung. (5) Medienabstinente (8 %) haben zu keinem Medium eine besondere Beziehung; Lesen bedeutet für sie Anstrengung und Bücher sind für sie ›Ballast‹. (6) Leseabstinente (25 %) nutzen gern Fernsehen, Radio, auch Zeitung; häufig sind sie alt und einfach gebildet und verfügen nur über ein niedriges Einkommen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, das Leseverhalten oder Lesepräferenzen in bestehenden Typologien zu verorten wie beispielsweise oft in den Sinus-Milieus. Nach der Auswertung von Christoph Kochhan und Kristiane Schengbier (2007, S. 626) haben sich vor allem Menschen aus gesellschaftlichen Leitmilieus dem Lesen verschrieben, wobei eine postmaterielle Wertorientierung mit Affinität zum Lesen korreliert. Gut 60 % der Personen dieses Typus lesen mindestens wöchentlich. Aber auch die sog. Modernen Performer lesen mit einem entsprechenden Anteil von 55 % regelmäßig. Üblich ist es zudem, in einer soziologischen Perspektive auf personaler Ebene Vergleiche zwischen Altersgruppen, Männern und Frauen sowie nach Bildungsnähe bzw. -ferne auszuweisen und zu interpretieren. Stärker theorie-orientierte Auswertungen versuchen das Leseverhalten durch Rückgriff auf beeinflussende Faktoren zu erklären, wobei auf der Ebene des Kontexts meist auf die soziale Umwelt (z. B. Vorbildverhalten der Eltern, Einfluss von Schule und Peers oder Migrationshintergrund sowie perzipierte Normen) einerseits und personale Faktoren wie Kompetenz (Bildung) und Motivation (intrinsisch vs. extrinsisch) zurückgegriffen wird (vgl. Fritz 1989, S. 14; Bonfadelli 1999, S. 107; Bonfadelli 2004, S. 102; Philipp 2011, S. 26).
5 Befunde Welches deskriptive Bild lässt sich nun in einem ersten Schritt aufgrund der vorliegenden Daten über das Lesen in Deutschland zeichnen, und zwar im europäischen Vergleich (siehe Tab. 2)? 2007 gab es nach dem Eurobarometer European Cultural Values rund 80 % Personen ab 15 Jahren in Deutschland, welche im letzten Jahr mindestens ein Buch gelesen hatten. Die Werte für Österreich und die Schweiz liegen auf praktisch gleichem Niveau. In Frankreich beträgt der Anteil Leser 71 %, was dem europäischen Durchschnitt entspricht; in Italien gibt es hingegen nur 63 % Leser. Ebenfalls rund 10 % über dem europäischen Durchschnitt liegt der Anteil Leser in den skandinavischen Staaten.
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Tab. 2: Befunde der angewandten Lese(r)forschung Buchlesen im internationalen Vergleich: Studie European Cultural Values 2007 Frühling 2007, N=26’755; EU27; 15 Jahre und älter Im letzten Jahr mindestens ein Buch gelesen
EU
D
A
CH
71 %
81 %
79 %
81 %
Buchlesen im Rahmen von allgemeinen Mediennutzungsstudien: Studie Massenkommunikation 2010 Objektive Indikatoren
Werte fürs Buch
Personen ab 14 Jahren, Montag bis Sonntag Reichweite pro Tag in Prozent Zeitliche Dauer in Minuten pro Tag Anteil am Medienbudget
1980 20 % 22 6 %
1990 20 % 18 5 %
2000 18 % 18 4 %
2010 21 % 22 4 %
Buchlesen im Rahmen spezialisierter Buchnutzungsstudien: Studie Lesen in Deutschland 2008 Buchbesitz im Haushalt ––Mehr als 50 Bücher ––Bis 50 Bücher
1992 36 % 64 %
2000 48 % 51 %
2008 41 % 57 %
Lesefrequenz von Büchern ––Engerer Nutzerkreis (täglich + mehrmals / Woche) ––Weiterer Nutzerkreis (1mal pro Woche bis 1mal pro Monat) ––Seltener ––Nichtleser
1992 39 % 27 % 15 % 20 %
2000 28 % 31 % 13 % 28 %
2008 31 % 28 % 16 % 25 %
Anzahl Bücher pro Jahr gelesen (Basis: mindestens? seltene Leser) ––1–5 ––6–10 ––Mehr
1992 38 % 26 % 33 %
2000 38 % 26 % 34 %
2008 44 % 27 % 28 %
Lesemotive und Erwartungen an Bücher: ––spannend sein, mich packen, faszinieren ––von aktuellen, politischen, sozialen Problemen handeln ––mich in eine andere (Phantasie-)Welt versetzen
1992 55 % 28 % 19 %
2000 60 % 21 % 26 %
2008 63 % 19 % 23 %
Modalitäten des Buchlesens: ––von vorne bis hinten durchlesen ––in kleinen Portionen lesen ––auch mal was auslassen ––überfliege manchmal Seiten, lese nur das Interessanteste
1992 44 % 29 % 27 % 14 %
2000 46 % 35 % 20 % 19 %
2008 46 % 37 % 25 % 21 %
Lesesozialisation: ––habe als Kind oft Bücher geschenkt bekommen ––im Kindergarten wurde oft vorgelesen ––meinen Eltern war es egal, ob ich las oder nicht
1992 72 % 56 % 40 %
2000 59 % 43 % 27 %
2008 51 % 38 % 31 %
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Dieses Bild lässt sich mit den Daten der Studie Massenkommunikation für 2010 noch differenzieren, und zwar insofern jeden Tag gut 20 % der Bevölkerung zum Medium Buch greifen. Die zeitliche Dauer des Buchlesens beträgt 22 Minuten, was einem Anteil von knapp 5 % am Mediengesamtbudget entspricht. Differenziert man die dichotome Unterscheidung zwischen Lesern und Nichtlesern, so kann ergänzend aus der Studie Lesen in Deutschland 2008 angeführt werden, dass der Anteil der intensiveren Leser, welche mindestens mehrmals Woche lesen, gut 30 % beträgt. Interessant ist, dass die Befragten ihr Leseverhalten subjektiv optimistischer beurteilen, indem 38 % die Frage ›Würden Sie selbst von sich sagen, dass Sie viel und intensiv lesen?‹ mit Ja beantworten. Nach den Werten der Studie Massenkommunikation ist die Nutzung von Büchern seit 1980 stabil geblieben; einzig der zeitliche Anteil am Gesamtmedienbudget hat sich verringert. Nach den drei Studien der Stiftung Lesen sank die Frequenz des Lesens zwischen 1992 und 2008 jedoch leicht, insofern der Anteil des engeren Leserkreises sich zurückgebildet und parallel dazu sich der Anteil der Nichtleser von 20 % auf 25 % erhöht hat. Interessanterweise blieb die subjektive Wahrnehmung des eigenen Leseverhaltens stabil. Diese Eckwerte des Buchlesens lassen sich aufgrund der Studie Lesen in Deutschland 2008 weiter differenzieren: Je 17 % geben an, mehrmals pro Woche oder sogar täglich Sach- oder Fachbücher bzw. Romane, Erzählungen oder Gedichte zu lesen. In den Augen der Befragten ist das Lesen von Sach- und Fachbüchern mit 36 % hingegen etwas wichtiger als das Lesen von Belletristik mit 31 %. Die befragten Leser erwarten von einem ›guten Buch‹, dass es den Leser packen muss – und zwar immer wieder aufs Neue. Die entsprechenden Werte haben sich dabei 1992 mit 55 % sogar auf 63 % 2008 verstärkt. Im Vergleich dazu ist das Interesse an aktuellen politischen und sozialen Problemen etwas geringer ausgeprägt und hat sich seit 1992 von 28 % auf 19 % 2008 verringert. Bezüglich der Lesemodalitäten nahm das Lesen in kleineren Portionen in den letzten 15 Jahren deutlich zu; häufiger werden auch Seiten überflogen und nur das Interessanteste gelesen. Die größten Veränderungen äußern sich aber im Prozess der Lesesozialisation: Die im Jahr 2008 Befragten bejahen deutlich weniger als noch 1992, als Kinder Bücher geschenkt bekommen zu haben. Auch das erinnerte Vorlesen im Kindergarten ist rückläufig. Gleichzeitig geben 2008 nur noch 31 % an, dass es den Eltern egal war, ob der Befragte gelesen hat oder nicht; der entsprechende Werte lag 1992 mit 40 % noch deutlich höher. Diese deskriptive Beschreibung des (Buch-)Lesens bei der Bevölkerung in Deutschland lässt sich aufgrund der vorliegenden Auswertungen noch dahingehend differenzieren, als in sämtlichen Studien geschlechtsspezifische Unterschiede aufscheinen: Frauen lesen mehr, aber auch anders als Männer, insofern sie sich stärker für Belletristik interessieren und das intrinsisch motivierte Lesen ausgeprägter ist: Frauen 42 % vs. Männer 19 %. Der Unterschied beim Interesse für Sach- und Fachbücher ist hingegen gering: Frauen 40 %, Männer 38 %. Neben den geschlechtsspe
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zifischen Unterschieden spielt der Bildungshintergrund der Befragten eine ähnlich wichtige Rolle: Mit steigender Bildung wird das Lesen von Büchern deutlich wichtiger: Für Befragte mit Abitur oder Hochschule sind Sach-/Fachbücher mit 68 % und Belletristik mit 41 % wichtig, während die entsprechenden Werte bei den Hauptschülern mit je 25 % deutlich tiefer liegen. Umgekehrt ist das Fernsehen für 94 % der Befragten mit Hauptschulbildung wichtig, aber nur bei 76 % der Befragten mit Abitur und Hochschulbildung. Wie oben schon erwähnt, fokussierte die Lese(r)forschung der 1970er und 1980er Jahre auf die Medienkonkurrenz zwischen Buch und Fernsehen, während die aktuellen Lesestudien neu das Lesen am Bildschirm mitberücksichtigen, so auch die Studien Lesen in Deutschland von 2000 und 2008. Die Befunde dazu zeigen, dass es vor allem jungen Erwachsenen und höher Gebildeten egal ist, ob ein Text gedruckt ist oder in digitaler Form vorliegt. Männer, junge Erwachsene und höher Gebildeten sind zudem besonders offen für E-Books auf dem Handy. Bei der Befragung von 2008 geben aber immer noch knapp 60 % an, sie würden nicht auf gedruckte Bücher verzichten. Das gilt besonders für Frauen, ältere und höher gebildete Befragte. Speziell ältere Befragte zeigen Vorbehalte gegenüber digitaler Information bzw. trauen der gedruckten Information mit rund 60 % mehr. Mehr als 20 % stimmen zudem der Aussage zu, sie würden sich beim Lesen am Bildschirm leicht verzetteln, weil sie Links folgen würden. – Interessant scheint, dass diese Statements in der Studie Lesen in Deutschland 2008 tendenziell defensiv gegenüber den neuen Formen der E-Lektüre formuliert sind. Aber auch in der aktuelleren und ländervergleichenden D.A.CH-Studie des Börsenblatts des Deutschen Buchhandels von 2009, basierend auf einer standardisierten Onlinebefragung, wird festgehalten, dass E-Books zwar bekannt seien, aber noch wenig genutzt würden. Die Werte für ›kann ich mir eher nicht bzw. gar nicht vorstellen‹ lagen 2009 noch immer über 50 % (vgl. Kochhan / Patzig 2009, S. 316). Allerdings muss relativierend festgehalten werden, dass zum Zeitpunkt der Befragung noch keine elektronischen Lesegeräte im Handel verfügbar waren. Es erstaunt also nicht, dass nach einer neueren, allerdings nicht repräsentativen Studie (vgl. Kuhn / Bläsi 2011), der Bekanntheitsgrad von E-Books bzw. Tablets deutlich gestiegen ist, obwohl diese zurzeit noch mehrheitlich von der Gruppe der sog. Innovatoren benutzt werden. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. (2012) betont, basierend auf den Daten seiner neuesten Umfrage, konsonant zu den bisher vorliegenden Studien, dass die Deutschen gedruckte Bücher nach wie vor liebten, allerdings mit rückläufiger Tendenz. So bildeten sich mehrere positiv formulierte Meinungsindikatoren zum gedruckten Buch zwischen 2009 und 2012 zurück, jedoch auf immer noch hohem Niveau: (1) Ich finde es schön, dass meine Bücher zuhause im Regal stehen: 88 % → 84 %. (2) Ich liebe gedruckte Bücher zu sehr, ein elektronisches Gerät reicht nicht an das Leseerlebnis heran: 88 % → 82 %. (3) Geld investiere ich lieber in gedruckte Bücher: 82 % → 74 %.
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(4) Ich möchte nicht von einem Display / Bildschirm lesen: 83 % → 72 %. (5) Ich glaube, dass das Lesen auf flimmerfreien Bildschirmen / Displays nicht gut für die Augen ist: 77 % → 68 %. Im Vergleich dazu nahm die Akzeptanz der wahrgenommenen Vorteile des E-Books deutlich zu wie beispielsweise: E-Books sind modern und werden die neue Art des Lesens: 39 % (2009) → 50 % (2012). Vergleicht man allerdings die Gruppe der E-BookKäufer mit dem Durchschnitt, so zeigt sich bei ihnen im Vergleich ein deutlich stärker zugunsten der E-Books akzentuiertes Bild: Für gut 80 % repräsentieren nämlich E-Books die neue Art des Lesens.
6 Fazit Die Tradition der demoskopischen Buchmarktforschung, aber auch die empirische Leser(r)forschung zerlegt die facettenreiche ganzheitliche Lesekultur in eine begrenzte Zahl von operationalisierbaren und messbaren Dimensionen, und zwar mit einem Fokus auf die Zuwendung und den Umgang mit dem Medium Buch, wobei in den neueren Studien meist ein Medienvergleich angestrebt wird; früher zum Medium Fernsehen und aktuell zu den Bildschirm- und Online-Medien bzw. zum E-Book. Die in der Forschung verwendeten Indikatoren des Lesens dienen so als Bausteine zur Rekonstruktion des Leseverhaltens. Sie erlauben als Stärke den Vergleich über die Zeit hinweg, zwischen Ländern sowie zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. Als Herausforderung stellt sich die Frage, wie diese Vielzahl und Vielfalt von operationalisierten und empirisch erhobenen Dimensionen des Lesens wieder zu einem ganzheitlichen Bild synthetisiert werden können, etwa in Form von Mediennutzungsbzw. Lesetypen (z. B. Dehm u. a. 2005; Kochhan / Schengbier 2007). Hier stellt sich insbesondere das Problem, dass wegen der mangelnden Abstimmung der verwendeten Forschungsinstrumente die Vergleichbarkeit zwischen den Studien nur zum Teil gewährleistet ist. Kritik ist verschiedentlich auch zur externen Validität der Befunde geäußert worden, da gerade beim Buchlesen mit Prestigeantworten zu rechnen ist. Darüber hinaus sollte aus einer akademischen Perspektive die Frage gestellt bzw. der Anspruch erhoben werden, über die bloße Deskription hinaus das Leseverhalten plausibel durch Rückgriff auf relevante theoretische Perspektiven wie beispielsweise die Sozialisationstheorie zu erklären. Als Schwäche äußert sich bei diesem Forschungstyp, dass qualitative Aspekte des Lesens wie etwa der sinnhafte Umgang mit Texten, aber auch das aktive Schreiben ganz pragmatisch ausgeblendet werden.
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Heinz Bonfadelli
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Marina Mahling
3.2.2 Lesen und Schule Zusammenfassung: Die Schule hat in Bezug auf das Lesen unterschiedliche Funktionen. Einerseits soll die Lesekompetenz gefördert, andererseits die Lesemotivation gesteigert werden. Empirische Studien zeigen jedoch, dass vor allem der Literaturunterricht in der Sekundarstufe I das Leseverhalten von Schülern negativ beeinflusst. Darüber hinaus ist die Lesekompetenz vieler deutscher Jugendlicher am Ende der Pflichtschulzeit unzureichend. Abstract: Schooling has a variety of functions with regard to reading. In addition to building reading ability, schooling is intended to increase the motivation to read. However, empirical studies show that the teaching of literature in classes with school children aged 10 to 15 can negatively influence their reading habits. Furthermore, the reading ability of many German adolescents is insufficient by the end of compulsory school attendance.
Inhaltsübersicht 1 Forschungsgeschichte — 547 2 Funktionen und Ziele der Schule und des Literaturunterrichts — 548 3 Deutsch- und Literaturunterricht — 550 3.1 Grundschule — 550 3.2 Sekundarstufe I — 551 3.3 Sekundarstufe II — 554 4 Die Bedeutung der Schule aus empirischer Sicht — 555 4.1 Schule und Lesemotivation — 555 4.2 Schule und Leseverhalten — 558 4.3 Schule und Lesekompetenz — 560 5 Forschungsperspektiven — 563 6 Literatur — 564
1 Forschungsgeschichte Die systematische empirische Auseinandersetzung mit dem Lesen in der Schule ist noch relativ jung: Vor allem durch die PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) im Jahr 2000 wurde auf bisherige Defizite aufmerksam gemacht, was eine umfassende Reflexion zur Folge hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt fehlten diesbezüglich grundlegende Studien in der Deutschdidaktik: »Auf der einen Seite stand eine Lese- und Literaturdidaktik, die sich weitestgehend aus der germanistischen Forschung herleitete, auf der anderen Seite gab es methodische Anregungen von Praktikern, […] ohne konkrete theoretische oder empirische Belege zu liefern, die den Einsatz dieser Methoden sinnvoll erscheinen ließen.« (Schilcher 2012, S. 20) Der Prozess des Schriftspracherwerbs wurde schon früher empirisch untersucht,
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allerdings wurde dabei die Bedeutung, die die Lesemotivation für den Anfangsunterricht hat, nicht berücksichtigt. Darüber hinaus beschäftigten sich bereits Anfang der 1990er Jahre einige Deutschdidaktiker mit lesesoziologischen Aspekten – beispielsweise mit Maßnahmen zur Kompensation von Defiziten im Zusammenhang mit der sozialen Schichtzugehörigkeit. Auch lesepsychologische Aspekte fanden Berücksichtigung: Hierbei ging es vor allem um den Leseprozess selbst – dies war z. B. für die Entwicklung von geeigneten Lesetechniken und -strategien relevant (vgl. Schilcher 2012, S. 22 f.; Richter / Plath 2005, S. 19 f.). Seit PISA dominieren in der Lesedidaktik Publikationen, die sowohl die Deutschdidaktik als auch die Kognitionspsychologie und die Pädagogische Psychologie berücksichtigen. Darüber hinaus hat sich neben dem wissenschaftlichen ein praxisrelevanter Diskurs etabliert. In der Literaturdidaktik herrschen weiterhin in erster Linie inhaltsbezogene und methodische Fragestellungen vor; die Beschäftigung mit den Verstehensprozessen beim Lesen wird bislang größtenteils vernachlässigt. In den letzten Jahren befassen sich allerdings erste empirische Projekte mit der Modellierung des ›literarischen Verstehens‹ (vgl. Schilcher 2012, S. 31–35).
2 Funktionen und Ziele der Schule und des Literaturunterrichts Die Schule erfüllt verschiedene gesellschaftliche Funktionen. Die ›Enkulturations funktion‹ umfasst die Reproduktion der bestehenden kulturellen Bedingungen, wozu neben der Beherrschung der spezifischen Sprache bzw. der Schriftzeichen auch die Internalisierung von Wertorientierungen zählt. Außerdem sollen den Kindern und Jugendlichen Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden, die sie berufsfähig machen. Die Schule hat somit eine ›Qualifikationsfunktion‹ inne. Darüber hinaus hat die Schule die ›Allokationsfunktion‹, die das Ziel hat, die Schüler durch Prüfungen ihren Leistungen entsprechend beruflichen Laufbahnen zuzuordnen. Als Viertes ist die ›Integrations- und Legitimationsfunktion‹ zu nennen, die die politischen Verhältnisse durch die Vermittlung von Normen und Werten einerseits und politische Bildung andererseits stabilisieren soll (vgl. Fend 2008, S. 49–52). Diese Funktionen stehen teilweise in Spannungsverhältnissen zueinander: So behindern Prüfungen, die für die Allokation notwendig sind, beispielsweise die Aufgaben, die der Persönlichkeitsbildung dienen (vgl. Fritzsche 2004, S. 202). Auch die Ziele des Literaturunterrichts sind teilweise widersprüchlich, da in der Schule erstens die Lesekompetenz gesteigert, zweitens Kanonwissen vermittelt und drittens ästhetische Erfahrungen ermöglicht werden sollen. Die ›Texterschließungskompetenz‹ wird gefördert, damit die Kinder und Jugendlichen Texte verstehen und analysieren können. Traditionell ist diese Kompetenz vor allem für literarische Texte relevant, beispielsweise in Bezug auf die Stilanalyse und die Werkinterpretation.
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Allerdings kann die Texterschließungskompetenz auch mit Hilfe nichtliterarischer Texten trainiert werden, z. B. indem Sachtexte kritisch rezipiert werden. Diese Kompetenz ist nicht nur für den Deutsch- und Literaturunterricht von großer Bedeutung, denn auch in anderen Fächern müssen Schüler in der Lage sein, den Texten die erforderlichen Informationen zu entnehmen. Ein weiteres Ziel ist die ›Förderung der Freude am Lesen‹. Während die Leseförderung früher lediglich der Verbesserung der Lesetechnik diente, wird der Begriff heute weiter gefasst: Im Vordergrund steht nun die Vermittlung der Freude am Lesen. Der Unterricht soll das Interesse der Schüler am Lesen wecken bzw. ihre Leseinteressen berücksichtigen. Neben der altersgerechten Textauswahl sind deshalb adäquate Unterrichtsmethoden von entscheidender Bedeutung für die Förderung der Lesefreude. ›Literarische Bildung‹ dient dagegen der Vermittlung von Kanonwissen. Die Schüler sollen bedeutende Werke kennenlernen und literaturgeschichtliches Wissen erwerben. Literarische Texte ermöglichen außerdem die ›Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen‹: Der Literaturunterricht befasst sich mit existenziellen Fragen, wie Liebe, Moral oder Tod. Der historische Blickwinkel literarischer Texte kann dazu genutzt werden, gesellschaftliche Veränderungen aufzuzeigen. Der Literaturunterricht soll aber auch ästhetische Erfahrungen ermöglichen. Er hat daher die ›Förderung der Imagination und Kreativität‹ der Schüler zur Aufgabe. Dafür sind nicht zwangsläufig Texte nötig, dennoch kann Lektüre die Phantasie anregen und sich positiv auf die Kreativität auswirken. Schließlich soll die Beschäftigung mit Literatur der ›Identitätsfindung und dem Fremdverstehen dienen‹. Das Ziel des Literaturunterrichts besteht in diesem Zusammenhang darin, dass die Kinder und Jugendlichen sich in Empathie üben und sich mit verschiedenen Sichtweisen auseinandersetzen. Damit ästhetische Erfahrungen möglich werden, sind handlungs- und produktionsorientierte Unterrichtsmethoden notwendig (vgl. Dehn u. a. 1999, S. 597–601; Rosebrock 2005, S. 255–259). Mit den unterschiedlichen und zum Teil gegenläufigen Zielsetzungen des Deutschbzw. Literaturunterrichts gehen somit einerseits verschiedene Unterrichtsmethoden, andererseits unterschiedliche Textarten einher: Während für die Vermittlung von Kanonwissen vor allem textanalytische und hermeneutisch-interpretierende Verfahren eingesetzt werden, um Hochliteratur zu behandeln, werden für unterhaltende Kinder- und Jugendliteratur eher handlungs- und produktionsorientierte Methoden verwendet. Im gymnasialen Unterricht sind alle genannten Ziele von Bedeutung, wohingegen sich andere Schularten vor allem auf den Aufbau von Lesekompetenz und die Förderung von Lesefreude mit Hilfe belehrender Kinder- und Jugendliteratur fokussieren (vgl. Philipp 2011, S. 118; Pieper u. a. 2004).
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3 Deutsch- und Literaturunterricht 3.1 Grundschule Bereits bevor Kinder das Lesen lernen, praktizieren sie in der Familie bzw. im Kindergarten prä- und paraliterarische Kommunikation, wie z. B. das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern, Sprachspiele, aber auch die Nutzung audiovisueller Medien. Die Schüler verfügen daher bei Schuleintritt bereits über Rezeptionskompetenzen, die sie jedoch zu Beginn des schulischen Schriftspracherwerbs noch nicht nutzen können. Eine besonders wichtige Aufgabe besteht daher darin, trotz des Einsatzes inhaltlich unterkomplexer Texte, die für den Aufbau der Lesefertigkeit notwendig sind, die Förderung der Lesefreude nicht zu vernachlässigen – beispielswiese durch Vorleseaktivitäten der Lehrkraft. Auf Kinder, deren Rezeptionskompetenzen während der Vorschulzeit mangels Vorbildern wenig oder gar nicht geschult wurden, müssen die Lehrkräfte während der ersten Schuljahre besonders eingehen. Wegen der fehlenden Vorkenntnisse fällt diesen Schülern die Schriftaneignung schwerer, was der Unterricht allerdings ausgleichen kann. Nach den ersten Schuljahren gelingt dies weniger gut, da die Kinder dann durch bisherige Misserfolge bereits negativ eingestellt sind (vgl. Dehn u. a. 1999, S. 571, 584; Richter / Plath 2005, S. 27 f.). Um das Lesen zu lernen, können verschiedene Methoden eingesetzt werden (vgl. dazu ausführlicher z. B. Schründer-Lenzen 2009): In der Nachkriegszeit herrschte ein ›Methodenstreit‹ zwischen Vertretern der synthetischen und Befürwortern der analytischen Methoden, der beigelegt wurde, nachdem empirische Studien keine nennenswerten Unterschiede hinsichtlich der Effektivität der beiden Methoden nachweisen konnten. Bei den synthetischen Verfahren werden Laute und Buchstaben zu Silben und Wörtern zusammengesetzt. Die Schwierigkeit besteht hierbei darin, die einzelnen Grapheme zu verknüpfen und als ganze Wörter zu lesen. Bei den analytischen Methoden werden dagegen ganze, besonders gut geeignete Wörter bzw. Wortgruppen oder auch kurze Sätze präsentiert. Die Schüler prägen sich somit zunächst die Wörter als Ganzes ein, bevor sie die einzelnen Buchstaben lernen. Heute ist das analytischsynthetische Verfahren verbreitet, das Aspekte der beiden Methoden vereint: Es geht vom ganzen Wort aus, wobei dieses auf Laute und Buchstaben hin betrachtet wird (›analysieren‹). Die Laute werden im Anschluss den Buchstaben zugeordnet und wieder zum ganzen Wort verbunden (›synthetisieren‹) (vgl. Schründer-Lenzen 2009, S. 134–136). Ungefähr in der dritten Jahrgangsstufe beginnt der weiterführende Lese- und Literaturunterricht, da zu diesem Zeitpunkt die grundsätzliche Lesefähigkeit vorausgesetzt wird. Weil die Lesemotivation eng mit der Lesekompetenz zusammenhängt, soll der Unterricht während dieser Zeit vor allem die Lesefreude der Kinder steigern. Daher werden sehr unterschiedliche Textarten behandelt: Neben kürzeren Texten aus Lesebüchern sind dies Kinderbücher sowie Sach- und Fachbücher zu verschie
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denen Themen. Die Schüler trainieren ihre Lesefertigkeit somit nicht nur mit Hilfe fiktionaler, sondern auch anhand nicht-fiktionaler Texte. Am häufigsten wird aber die erzählende Literatur eingesetzt. Während der Grundschulzeit stimmen die Texte, die im Unterricht behandelt werden, mit den Lektürepräferenzen der meisten Schüler weitgehend überein. Im Laufe der letzten Jahrzehnte setzte sich hierfür allmählich der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht durch (vgl. Dehn u. a. 1999, S. 585, 588; Bertschi-Kaufmann 2000, S. 49 f.). In der Grundschule hat auch die Leseförderung außerhalb des Unterrichts eine große Bedeutung: Gerade Kindern, in deren Familien Lesen keine Rolle spielt, soll der Zugang zu Lesestoffen ermöglicht werden. Damit die Lektüre nicht mit dem schulischen Leistungsgedanken verbunden wird, sollen die Schüler die Texte selbst auswählen dürfen, wobei das Textangebot nicht durch den schulischen Qualitätsanspruch gesteuert werden soll. Dadurch können auch diese Kinder die Erfahrung machen, dass Lesen in der Freizeit Spaß macht. Wichtig ist hierbei, dass die zur Verfügung stehenden Titel ein breites Spektrum abdecken, damit die Präferenzen aller berücksichtigt werden. Möglichkeiten für das Zugänglichmachen von Lesestoffen sind ›Bücherboxen‹, in denen Titel zu bestimmten Themengebieten zusammengestellt werden, und Klassenbüchereien. Klassenbüchereien bieten neben fiktionalen auch nicht-fiktionale Texte an und können darüber hinaus durch audiovisuelle Medien ergänzt werden. Die Klassenbüchereien können außerdem durch das Ausleihen von Lesekisten aus öffentlichen Büchereien erweitert werden und sind immer verfügbar, weil sie in die Klassenräume integriert sind. Klassenübergreifend können Bücher durch Schulbüchereien zugänglich gemacht werden. Auch weiterführende Schulen haben häufig Schulbüchereien eingerichtet, wobei im Hinblick auf die Leseförderung zu berücksichtigen ist, dass die Öffnungszeiten schülerfreundlich sein sollten, damit die Schüler dort nicht nur Bücher ausleihen, sondern in einer ansprechend gestalteten Bücherei beispielsweise auch die Möglichkeit haben, Zwischenstunden mit Lektüre zu verbringen. Im Unterricht können Vorlesestunden durch die Lehrkräfte lesefördernd wirken, darüber hinaus können die Lehrer ihren Schülern bei der Lektürewahl behilflich sein: Gerade wenn die Kinder noch zu jung sind, um selbstständig nach passenden Lesestoffen zu suchen, sollten die Lehrkräfte altersgerechte Texte empfehlen. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, im Unterricht über die gelesenen Bücher zu sprechen und die Leseeindrücke zu diskutieren (vgl. Bertelsmann Stiftung 1995, S. 55; Dehn u. a. 1999, S. 617–623).
3.2 Sekundarstufe I In den Jahrgangsstufen 5 bis 10 steht nicht mehr das Lesenlernen im Vordergrund, vielmehr gewinnt die literarische Sozialisation an Bedeutung. Während sich die privaten und schulischen Lesestoffe der Kinder in der Grundschulzeit meist ergänzen, entwickeln sie sich im Verlauf der Sekundarstufe I immer weiter auseinander. In der
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Unterstufe werden die Interessen der Schüler noch stärker berücksichtigt als in der Mittelstufe: In den unteren Klassenstufen werden im Unterricht beispielsweise noch Märchen und Sagen, phantastische Literatur, Abenteuerliteratur, Kinder- und Jugendromane sowie zum Teil Sachbücher rezipiert. Spätestens ab der 8. Jahrgangsstufe wird die Einstellung der Jugendlichen gegenüber dem Literaturunterricht kritischer (vgl. Dehn u. a. 1999, S. 589–592). Klaus Maiwald benennt dafür zwei Gründe: »Die Texte werden komplexer, und gleichzeitig wird der Umgang mit ihnen immer stärker philologisiert und verschriftlicht, wodurch die gerade in der (literarischen) Pubertät wichtigen emotiven Gratifikationen im schulischen Lesen zusehends verbaut werden.« (Maiwald 1999, S. 46) Im Mittelpunkt stehen nun Bücher über die Probleme Jugendlicher; diese Titel werden als Problembücher bezeichnet bzw. Doku-Fiktion genannt. Darüber hinaus wird die Auseinandersetzung mit bedeutenden Werken der Literaturgeschichte, mit Lyrik und Dramen wichtiger. Diese Textarten decken sich aber nicht mit den Präferenzen der Heranwachsenden – auch wenn die Lektürevorlieben der Schüler sehr divergieren, so bevorzugen Jugendliche doch größtenteils spannende bzw. lustige Texte. Außerdem haben sie normalerweise nur wenig Mitspracherecht bei der Lektüreauswahl. Aus diesen Gründen stehen die meisten Schüler der Mittelstufe der schulischen Lektüre kritisch gegenüber (vgl. Gattermaier 2003, S. 323–325; Maiwald 1999, S. 50; Mahling 2010, S. 88–90). Allerdings wird die Aversion gegen die Schullektüre nicht ausschließlich durch die Texte selbst hervorgerufen. Sie wird auch dadurch verursacht, dass der Benotung ein sehr großer Stellenwert zukommt. Außerdem kritisieren Schüler die kognitivanalytische Herangehensweise, die im Unterricht vorherrscht (vgl. Gattermaier 2003, S. 372 f.). Maiwald hält für den (gymnasialen) Literaturunterricht in der Mittelstufe fest: »Zunehmend lesen Schüler Texte, die sie nicht ausgewählt haben, praktizieren sie Rezeptionsweisen, die ihnen antrainiert wurden, um Fragen zu beantworten, die sich ihnen nicht gestellt haben.« (Maiwald 1999, S. 49) Eine Methode, die besonders häufig eingesetzt wird und die nicht den Präferenzen der Jugendlichen entspricht, ist das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch. Hierbei stellt die Lehrkraft Fragen zum Text, die den Schülern bei der Inhaltserschließung helfen und dem Erkenntnisgewinn dienen sollen. An dem Verfahren wird kritisiert, dass die Lehrer Fragen stellen, auf die sie die ›richtige‹ Antwort bereits wissen. Bei dieser Methode ist somit das Ergebnis des Unterrichtsgesprächs schon vorher festgelegt. Das kann zur Folge haben, dass die Schüler sich nicht selbstständig mit den Texten auseinandersetzen, sondern stattdessen zu erraten versuchen, welche Antwort die Lehrkraft hören möchte. Darüber hinaus werden in das Unterrichtsgespräch normalerweise nicht alle Schüler gleichwertig eingebunden. Daher kann diese Methode zwar für einen Teil der Schüler gewinnbringend sein, der Großteil der Jugendlichen wird sich aber nicht aktiv beteiligen. Das liegt zum einen daran, dass nicht alle Heranwachsenden das richtige Ergebnis gleich schnell erarbeiten können; bis die etwas langsameren Schüler ihren Gedankengang beendet haben, wurde die Antwort häufig schon genannt, was sich demotivierend auswirkt. Zum anderen möchten sich eventuell nicht alle am
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Unterricht beteiligen: Diese Schüler können beim fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch abwarten, bis die anderen die Lösung gefunden haben, ohne mitdenken zu müssen. Neben dem gelenkten, lehrerzentrierten Unterrichtsgespräch kann auch ein freies Gespräch stattfinden, beispielsweise wenn Leseeindrücke ausgetauscht werden. Die Lehrkraft fungiert in diesem Zusammenhang höchstens als Moderator. Darüber hinaus können die beiden Methoden miteinander kombiniert werden, indem z. B. eine Überleitung vom freien zum gelenkten Gespräch stattfindet. Im Literaturunterricht ist außerdem der Textvergleich verbreitet: Bei dieser Methode werden die Eigenschaften von Texten analysiert, indem sie direkt gegenübergestellt werden. Dadurch können z. B. besonders gut epochentypische Charakteristika oder Merkmale verschiedener Textarten erarbeitet werden. Als weitere Methode ist der gestaltende Textvortrag zu nennen: Neben dem Ziel der inhaltlichen Beschäftigung mit Texten soll durch das Vorlesen bzw. das auswendige Vortragen die Artikulation, die Stimmführung sowie die Intonation verbessert werden (vgl. Dehn u. a. 1999, S. 601–603; Spinner 2004, S. 130 f.). Eine Alternative zum fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch stellt der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht dar. Er zeichnet sich dadurch aus, dass alle Schüler aktiv einbezogen werden. Allerdings wird dieser Methode unter anderem vorgeworfen, dass sich die Heranwachsenden dabei nicht intensiv mit dem Originaltext auseinandersetzen und die eigentlichen Erkenntnisziele vernachlässigt werden. Zum handlungs- und produktionsorientierten Unterricht gehören in erster Linie schriftliche Verfahren: Die Schüler können unvollständige Texte ergänzen, z. B. den Schluss. Durch den Vergleich der selbst verfassten Werke mit dem Original wird das Analysieren und Interpretieren eingeübt. Außerdem können die Heranwachsenden Erweiterungen oder Zusätze zu Texten verfassen, beispielsweise Briefe oder Tagebucheinträge aus Sicht der Protagonisten. Ein Ziel dieses Verfahrens ist, dass sich die Schüler intensiv mit den literarischen Figuren auseinandersetzen. Ebenso sind Textänderungen möglich – z. B. das Umsetzen des Originals in eine andere Epoche. Dieses Verfahren fördert die kritische Textrezeption, darüber hinaus können damit literaturgeschichtliche Kenntnisse verfestigt werden. Ein weiterer Typ der schriftlichen Verfahren ist das analoge Schreiben. Hierbei verfassen die Schüler selbst Texte nach dem Vorbild eines vorgegebenen Musters. Neben den schriftlichen Verfahren sind akustische und visuelle Umsetzungen möglich: Die Schüler können z. B. Texte vertonen oder Videoclips erstellen. Darüber hinaus bietet sich vor allem bei der Besprechung von Dramen die szenische Interpretation an – hierzu gehört beispielsweise der Einsatz von Pantomime (vgl. Dehn u. a. 1999, S. 603 f.; Spinner 2003, S. 175, 181–184; Spinner 2004, S. 133). Im Zusammenhang mit der schulischen Leseförderung in der Sekundarstufe (und teilweise bereits in der Grundschule) sind Klassen- bzw. Schulzeitungen zu nennen. Weitere Möglichkeiten sind das ›Anlesen‹ von Büchern, das Vorstellen des Lieblingsbuchs in der Klasse und Büchereibesuche der Klasse. Außerdem sind Sonderveranstaltungen möglich, wie Autorenlesungen, Lesewettbewerbe, Lesefeste oder Lesenächte. Ob diese einmaligen Aktionen tatsächlich langfristige Auswirkungen auf das Leseverhalten haben, ist bisher allerdings nur unzureichend untersucht worden (vgl. Dehn
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u. a. 1999, S. 623–625; Fritzsche 2004, S. 220). Außerdem wird immer wieder gefordert, dass in der Sekundarstufe die privaten Interessen der Schüler berücksichtigt werden: Dazu gehört einerseits die Behandlung von Textarten, die die Heranwachsenden in ihrer Freizeit lesen. Besonders für Jungen ist dies entscheidend, da sie privat häufig Sachbücher rezipieren, während sich der Deutschunterricht auf fiktionale Texte konzentriert. Ihre Interessen werden somit im Unterricht noch weniger berücksichtigt als die der Mädchen. Andererseits ist die Integration digitaler Medien in den Unterricht von Bedeutung. Auch hiervon würden besonders die Jungen profitieren, da sie eine große Affinität für elektronische Medien haben (vgl. Frederking 2003, S. 257, 259 f.; Schubert-Felmy 2003, S. 96 f., 108 f.).
3.3 Sekundarstufe II Die genannten Leseförderungsmaßnahmen der Sekundarstufe I sind größtenteils auch für die Jugendlichen ab der 11. Jahrgangsstufe relevant. Die Analyse von Lektüreautobiographien hat ergeben, dass die Person des Deutschlehrers ab der Sekundarstufe eine entscheidende Bedeutung dafür hat, ob die schulische Leseförderung gelingt: Wenn die Schüler wissen, dass die Lehrkräfte in der Freizeit selbst lesen, wenn die Lehrer sich für die Lektürepräferenzen der Heranwachsenden interessieren und einen guten Überblick über die einschlägige Literatur haben, wenn sie anregende Gespräche mit den Jugendlichen über die Lektüre führen und den interessierten Schülern Lektüre empfehlen, können sie einen positiven Einfluss auf die Heranwachsenden ausüben (vgl. Rosebrock 2003, S. 165). Der Literaturunterricht in der gymnasialen Oberstufe unterscheidet sich in der Wirkung insofern von dem der Sekundarstufe I, als die Abneigung gegen ihn in dieser Zeit vermutlich geringer wird. Zwar bewertet ein Teil der Gymnasiasten den Literaturunterricht in der Oberstufe ebenfalls negativ, andere schätzen ihn jedoch positiv ein. Laut den in den Lektüreautobiographien festgehaltenen Erinnerungen ist das gemeinsame Gespräch für das Erschließen komplexer Texte für den Deutschunterricht in der Sekundarstufe II besonders gut geeignet. Anders als beim fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch steht beim literarischen Gespräch der interaktionale Prozess des Verstehens im Vordergrund. Das literarische Gespräch verläuft allerdings nur dann erfolgreich, wenn einige Voraussetzungen erfüllt sind: So müssen sich beispielsweise sowohl die Lehrkräfte als auch die Schüler für die ausgewählten Texte interessieren, was im tatsächlichen Unterricht nicht immer erfüllt ist (vgl. Garbe 2009, S. 210–213; Eggert / Garbe 2003, S. 135 f.; Mahling 2010, S. 32 f.). Im Literaturunterricht werden in der Oberstufe schwerpunktmäßig literaturgeschichtliche Epochen behandelt, beispielsweise Literatur der Klassik und der Romantik. Die Texte dienen dazu, Charakteristika und Leitideen der Epochen darzustellen. Außerdem sollen mit ihrer Hilfe zentrale Begriffe aufgegriffen und Kenntnisse über wichtige Autoren und Werke vermittelt werden. Es findet aber auch moderne und
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postmoderne Literatur Berücksichtigung. Darüber hinaus spielt die Beschäftigung mit Lyrik sowie mit philosophischen, literatur- und sprachtheoretischen Texten eine wichtige Rolle (vgl. Mahling 2010, S. 12, 19; Matthiessen 2003, S. 122, 124). Die Schüler der Sekundarstufe II bewerten die Werke, die im Unterricht besprochen werden, größtenteils positiv. Es besteht zwar weiterhin eine Diskrepanz zwischen schulischen und privaten Lesestoffen und die Jugendlichen beschäftigen sich im Deutschunterricht vergleichsweise ungern mit literaturgeschichtlich bedeutenden Texten, dennoch erachten sie die ausgewählten Werke normalerweise als sinnvoll. Die Jugendlichen scheinen nun zwischen dem schulischen und dem privaten Lesen differenzieren zu können: Sie verstehen die Intention des Analysierens und Interpretierens inzwischen besser, auch wenn die damit verbundenen Textarten nicht immer ihren privaten Lektüreinteressen entsprechen. Obwohl der Wunsch nach einer stärkeren Orientierung an den eigenen Lesevorlieben bei vielen erhalten bleibt, wird nun erkannt, dass die angewandten Methoden und die behandelten Werke der Allgemeinbildung dienen und den Horizont erweitern (vgl. Mahling 2010, S. 15, 21, 27 f., 35 f., 58, 100 f.). Im Hinblick auf die vergleichsweise positive Einschätzung des Deutschunterrichts der Sekundarstufe II ist allerdings zu berücksichtigen, dass dieser nicht von allen Jugendlichen besucht wird. Ein großer Teil hat zu diesem Zeitpunkt die Schule bereits verlassen und erinnert sich an den Literaturunterricht – und damit verbunden an die dort besprochenen Werke – größtenteils negativ. Darüber hinaus haben Heranwachsende, die das Abitur anstreben, durchschnittlich ohnehin eine positivere Einstellung dem Lesen gegenüber: Schulische Leseförderung ist für sie weniger relevant als für andere, auch weil sie meist nicht auf Anregungen aus der Schule angewiesen sind, da sie z. B. in der Familie oder im Freundeskreis ein lesefreundliches Umfeld vorfinden.
4 Die Bedeutung der Schule aus empirischer Sicht Lesemotivation, Leseverhalten und Lesekompetenz hängen eng zusammen: Personen, die gerne lesen, tun dies häufig und verbessern dadurch ihre Lesekompetenz. Die drei Aspekte können daher nicht immer streng voneinander getrennt betrachtet werden. Dennoch beschäftigen sich die meisten Untersuchungen schwerpunktmäßig nur mit einer dieser drei Thematiken. Die Ergebnisse, die das schulische Lesen betreffen, werden im Folgenden kurz zusammengefasst.
4.1 Schule und Lesemotivation Wie sich die Schule bzw. der Deutschunterricht auf die Lesemotivation auswirkt, ist bislang unzureichend erforscht. Für die Grundschule haben Karin Richter und Monika Plath festgestellt, dass Schüler der 2. bis 4. Jahrgangsstufe umso lieber
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Bücher und Geschichten lesen, je mehr Spaß sie am Deutschunterricht haben. Kinder, denen der Deutschunterricht Spaß machte, erzielten außerdem eine bessere Leseleistung, was wiederum mit der Lesemotivation1 zusammenhing. Auffällig ist, dass den Mädchen in der 2. Klasse der Deutschunterricht zu 66 % sehr Spaß machte, den Jungen hingegen nur zu 52 %. Diese Anteile sanken in den Jahrgangsstufen 3 (Mädchen: 51 %; Jungen: 43 %) und 4 (Mädchen: 41 %; Jungen: 29 %). Somit gefiel der Deutschunterricht den Mädchen bereits in den unteren Klassenstufen besser als den Jungen, gleichzeitig sank die Beliebtheit des Deutschunterrichts im Laufe der Grundschulzeit bei beiden Geschlechtern. Insgesamt ist die Lesemotivation bei Grundschülern selten Gegenstand empirischer Studien, was auch darauf zurückzuführen ist, dass dem Erwerb der Lesefertigkeit in den ersten Schuljahren die größte Bedeutung beigemessen wird. Die Förderung der Lesefreude dient in den unteren Klassenstufen daher häufig in erster Linie dem Ziel, durch sie die Lesekompetenz zu steigern (vgl. Richter / Plath 2005, S. 19, 38, 45 f., 74 f.; Garbe 2009, S. 194 f.). Auch zu den Auswirkungen der im Deutschunterricht angewendeten Methoden auf die Lesemotivation existieren bislang nur wenige Befunde: Eine Studie, die 1989 und 1990 mit amerikanischen Schülern der 3., 4. und 6. Klassen durchgeführt wurde, konnte allerdings zeigen, dass sich Unterrichtsstrategien, die Leistung und Wettbewerb betonen, negativ auf den Wert des Lesens auswirkten. Wenn der Unterricht in erster Linie dazu diente, bessere Testergebnisse zu erzielen, oder wenn viel Zeit mit dem Studium von Faktenwissen verbracht wurde, verringerte sich bei den Kindern der Wert, den sie dem Lesen beimaßen. Dieser Effekt zeigte sich sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen. Unterrichtsstrategien, die statt der Leistung das Lernen selbst in den Vordergrund stellen – z. B. indem die Lehrkräfte den individuellen Fortschritt der Kinder berücksichtigten und die Schüler eigene Ideen und Interessen einbringen ließen –, beeinflussten den Wert des Lesens dagegen nicht. Insbesondere Lehrer, die Schüler der höheren Klassenstufen unterrichteten, nutzten Praktiken, die die Leistung und den Wettbewerb betonen. Dies kann eine Ursache dafür sein, dass der Wert des Lesens über die Schuljahre hinweg kontinuierlich sinkt (vgl. Anderman u. a. 2001, S. 81–88). John T. Guthrie und Solomon Alao haben durch Literatursichtung acht Prinzipien der Lesemotivation entwickelt, die in der Schule gefördert werden können:
1 Einschränkend festzuhalten bleibt, dass die Studie bei der Operationalisierung des Begriffs ›Lesemotivation‹ nicht die Erkenntnisse der internationalen Motivationsforschung berücksichtigt. Stattdessen wird Lesemotivation durch Variablen wie »Beliebtheit des Lesens, die aufgewendete Zeit für das Lesen, Aspekte des Gefallens am Lesen, gegenwärtiges Lesen von Büchern und Geschichten und die Stellung des Lesens im Vergleich zu anderen Freizeitbeschäftigungen« (Richter / Plath 2005, S. 42) erfasst, die lediglich die Privatlektüre einbeziehen.
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(1) Nutzung übergeordneter Themen: Hierfür sind besonders interdisziplinäre Themengebiete geeignet, die gleichzeitig im muttersprachlichen Unterricht, in naturwissenschaftlichen Fächern und in Geschichte gelehrt werden können. (2) Anschluss an lebensweltliche Erfahrungen: Die Schüler sollen hierfür beispielsweise mit konkreten Objekten arbeiten und ihre Erfahrungen unter anderem durch Schreiben erfassen. (3) Förderung der Selbststeuerung: Die Schüler sollen selbstständig Texte, Aufgaben und Medien auswählen, um ein konzeptionelles Thema zu bearbeiten. (4) Bereitstellung interessanter Texte: Die Lehrkräfte stellen interessante Texte zur Verfügung und gewährleisten eine vielfältige Auswahl – neben literarischen Texten, wie Romanen und Gedichten, beispielsweise auch Informationsquellen, wie Sachbücher und Datenbanken – mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad. (5) Förderung der sozialen Zusammenarbeit: Diese soll gefördert werden, indem verschiedene Arbeitsformen wie Einzel-, Partner- und Gruppenarbeiten eingesetzt werden. (6) Selbstentfaltung der Schüler: Die Schüler sollen die Möglichkeit haben, ihr individuelles Verständnis in Bezug auf ein übergeordnetes Thema auszudrücken. (7) Vermittlung von Lesestrategien: Die Lehrer sollen den Schülern verschiedene Lesestrategien vermitteln, die die Schüler im Anschluss einüben und reflektieren. (8) Herstellen von Zusammenhängen: Der Unterricht soll Zusammenhänge zwischen Lehrinhalten, Lesestrategien und sozialen Lernformen schaffen. Das Ziel besteht darin, die Lesemotivation durch Lesestrategien und konzeptionelles Lernen zu unterstützen (vgl. Guthrie / Alao 1997, S. 96–102; Philipp 2011, S. 106–108). Allgemein zeigen deutsche Längsschnittstudien, dass sich die intrinsische Lesemotivation – also die Lektüre aus eigenem Antrieb, nämlich aus Interesse oder aus Lust am Lesen – von der 3. bis 8. Jahrgangsstufe rückläufig entwickelt. Dies gilt sowohl für Jungen als auch für Mädchen und betrifft neben Haupt- und Realschülern auch Gymnasiasten (vgl. Philipp 2011, S. 50 f.). Die Lesemotivation sinkt allerdings nicht nur bei deutschen Schülern: Eine Studie aus den USA dokumentierte, dass das schulische Interesse für die getesteten Bereiche Lesen, Schreiben, Muttersprache, Mathematik und Naturwissenschaften bei amerikanischen Schülern im Verlauf der 12 Schuljahre nachließ. Mit dem Lesen, dem Schreiben und der Muttersprache waren drei Aspekte vertreten, die Aussagen hinsichtlich der Lesemotivation in der Schule zulassen. Das schulische Interesse der Mädchen lag im Alter von 7 Jahren leicht unter dem der Jungen, sank aber in den folgenden Jahren weniger schnell und stark, so dass die Schülerinnen im Alter von 13 Jahren ein signifikant höheres schulisches Interesse aufwiesen als die Schüler. Erst gegen Ende der Schulzeit stieg das Interesse beider Geschlechter wieder leicht an. Darüber hinaus bestand ein Zusammenhang zwischen dem schulischen Interesse und den Zensuren – die durch die Jahresendnoten in den Fächern Englisch, Mathematik, Naturwissenschaften und Sozialkunde abgebildet
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wurden: Wenn das schulische Interesse nachließ, verschlechterten sich auch die Noten, vor allem bei den Mädchen. Der Schulerfolg der Mädchen hing somit stärker mit ihrem schulischen Interesse zusammen als der schulische Erfolg der Jungen. Dieses Ergebnis verdeutlicht, dass das schulische Interesse – und im Zusammenhang damit auch das Leseinteresse – für die Zensuren und somit für den schulischen Erfolg mitentscheidend ist (vgl. Dotterer u. a. 2009, S. 512–518). Eine andere Studie aus den USA beschäftigte sich unter anderem mit der Entwicklung der intrinsischen Lesemotivation bei Schülern. Dafür wurden die Werte zur Motivation im Laufe der Schulzeit insgesamt fünfmal – nämlich im Alter von 9, 10, 13, 16 und 17 Jahren – erfasst. Ein Ergebnis war, dass die intrinsische Lesemotivation bis zum Alter von 16 Jahren geringer wurde und dann bei den 17-Jährigen wieder leicht anstieg (vgl. Marcoulides u. a. 2008, S. 415 f.). Insgesamt bewerten Mädchen das schulische und das private Lesen positiver als Jungen und erzielen bei den meisten Formen der Lesemotivation etwas höhere Werte, wobei bislang vor allem die intrinsischen und weniger die extrinsischen Aspekte der Lesemotivation erforscht wurden. Die geschlechtsspezifischen Differenzen bleiben im Altersverlauf weitgehend konstant. Mehrere Studien haben außerdem gezeigt, dass die Lesemotivation im Verlauf der Pflichtschulzeit sinkt (vgl. Philipp 2011, S. 42–51).
4.2 Schule und Leseverhalten Ebenso wie bei der Lesemotivation sind die Auswirkungen des schulischen Lesens auf das Leseverhalten in der Freizeit bisher noch nicht ausreichend untersucht worden. Auffallend ist jedoch, dass ab der Sekundarstufe I starke Unterschiede zwischen den schulischen und den privaten Lesestoffen bestehen. Bislang nicht vollständig gesichert ist, ob vom schulischen Lesen vor allem ein negativer Effekt ausgeht, der im Extremfall zum Abbruch des privaten Lesens führt, oder ob die Schüler aus dem Deutschunterricht auch positiven Nutzen ziehen, indem die Privatlektüre beispielsweise durch anspruchsvolle Literatur ergänzt wird (vgl. Mahling 2010, S. 55–65). Bereits Anfang der 1990er Jahre kam eine Studie von Bettina Hurrelmann, Michael Hammer und Ferdinand Nieß (1995) bei Familien mit Kindern zwischen 9 und 11 Jahren zu dem Ergebnis, dass in der Schule das Lesen bei Mädchen stärker gefördert wird als bei Jungen. Die schulische Lektüre orientierte sich nämlich stärker an ihren Interessen als an denen der Jungen – es wurden in erster Linie fiktionale Texte rezipiert, während männliche Schüler häufig Sachtexte präferieren.2 Möglicherweise wirkt sich auch der hohe Anteil an weiblichen Lehrkräften in der Grundschule negativ auf das Leseverhalten der Jungen aus: Häufig fehlen ihnen dadurch
2 Ausführlicher zu geschlechtsspezifischen Unterschieden beim Lesen vgl. Kap. 2.3.4 Geschlecht und Lesen in diesem Band.
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männliche Rollenvorbilder für die Lektüre, da das Lesen in der Familie ebenfalls eher eine weibliche Tätigkeit ist. Von der schulischen Leseförderung profitierten bei der Untersuchung vor allem Kinder, die kaum elterliche Leseförderung erfuhren. Diese Schüler lasen, wenn sie in der Schule intensiv gefördert wurden, fast so häufig wie Kinder, denen eine starke elterliche Förderung widerfuhr (vgl. Hurrelmann u. a. 1995, S. 20, 220–224). Beim Leseverhalten bestehen altersbedingte Unterschiede: Friederike Harmgarth stellte bei einer Befragung von Kindern und Jugendlichen der 1. bis 10. Jahrgangsstufe fest, dass die älteren Schüler in der Schule weniger gerne lasen als die jüngeren. Dies ging allerdings nur bei einem Teil mit einem Rückgang der Beliebtheit des Lesens in der Freizeit einher. Auch die Mehrheit derjenigen, die privat gerne und viel lasen, gab an, dass die Texte, die in der Schule behandelt worden waren, größtenteils langweilig waren (vgl. Harmgarth 1997, S. 19–24, 64 f.). Einige Erhebungen fragten nach dem Zusammenhang zwischen dem schulischen und dem privaten Lesen: Renate Köcher zeigte beispielsweise, dass ehemalige Leser sich häufig negativ über die Texte äußerten, die sie früher in der Schule gelesen hatten. Allerdings bewirkte das schulische Lesen nur in Ausnahmefällen einen Abbruch des Freizeitlesens. Außerdem hatten auch die Personen, die in der Freizeit viel lasen, in erster Linie negative Erinnerungen an die Pflichtlektüre. Personen, die ihre Lesekarriere abgebrochen hatten, äußerten sich nicht signifikant schlechter als andere, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass die schulischen Erlebnisse mit der Lektüre das private Lesen nicht grundlegend beeinflussten. Problematisch ist demnach eher, wenn die negativen Erfahrungen mit der Pflichtlektüre nicht durch positive Erfahrungen im Rahmen der Privatlektüre ausgeglichen werden (vgl. Köcher 1995, S. 250–254). Die Ergebnisse einer Befragung unter Schülern aus der Schweiz im Alter von 12 bzw. 15 Jahren unterstützen diese Befunde: Nur ein geringer Anteil war der Meinung, dass der Deutschunterricht den Spaß am Lesen verdirbt, wobei dies vor allem Schüler betraf, die ohnehin wenig und ungern lasen. Somit wäre es auch möglich, dass diese Schüler unabhängig vom Unterricht kein Interesse an der Lektüre hatten. Darüber hinaus waren die Unterschiede zwischen den 12- und den 15-Jährigen gering: Die Älteren bescheinigten dem Unterricht damit nur geringfügig negativere Auswirkungen als die Jüngeren (vgl. Bucher 2004, S. 81, 215 f.). Eine Studie, die bei deutschen Schülern ab der 5. Jahrgangsstufe durchgeführt wurde, untersuchte ebenfalls, ob der Deutschunterricht die Lesefreude hemmt: Auch hier befand nur eine Minderheit, dass der Unterricht den Spaß am Lesen verdirbt. Die Angaben unterschieden sich kaum nach der besuchten Schulart und dem Geschlecht der Befragten. Darüber hinaus differierten die Antworten nicht signifikant nach dem Alter. Allerdings gaben 80 % der Schüler an, dass sie durch den Deutschunterricht (eher) keine Anregungen für die Freizeitlektüre erhalten, was die Älteren stärker als die Jüngeren betraf (vgl. Mahling 2014, S. 156–160). Die Diskrepanz zwischen schulischen und privaten Lesestoffen wurde in vielen Studien nachgewiesen: Klaus Gattermaier konnte z. B. durch eine Befragung von
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Deutschlehrern und Schülern der 8. Jahrgangsstufe aller allgemeinbildenden Schulen zeigen, dass im Unterricht andere Textarten eingesetzt wurden, als die Schüler privat bevorzugten, und dass die privaten Interessen vielfältiger waren als die Angebote in der Schule. Als Schullektüre spielten in erster Linie Bücher über die Probleme von Jugendlichen, Klassische Literatur, Gedichte bzw. Gedichtbände und Dramen eine Rolle, während die privaten Präferenzen wesentlich breiter gestreut waren und diese Genres – abgesehen von den Problembüchern – für die Freizeit der Heranwachsenden keine Bedeutung hatten. Gattermaier stellte darüber hinaus fest, dass ein großer Teil der Deutschlehrer nur wenig Leseförderung betrieb: Er errechnete aus verschiedenen Faktoren – unter anderem der Anzahl der gelesenen Bücher im Schuljahr, den Aktionsformen der Leseförderung und den gegebenen Lese- bzw. Medienempfehlungen – einen Leseförderindex, für den 66 % der Lehrer die Noten 4 bis 6 erhielten. Außerdem hatten nicht alle Maßnahmen tatsächlich positive Auswirkungen auf die Freizeitlektüre: So ignorierten die meisten Heranwachsenden Leseempfehlungen der Lehrkräfte. Die empfohlenen Titel bewerteten sie eher negativ, beispielsweise als langweilig und altmodisch (vgl. Gattermaier 2003, S. 32, 313, 323–326, 337–339, 350– 354). Auch in der gymnasialen Oberstufe differieren die schulischen und die privaten Lesestoffe: Eine 2009 durchgeführte Befragung bei Gymnasiasten der 12. Jahrgangsstufe konnte zeigen, dass die für den Unterricht besonders relevanten Textarten für die Freizeitlektüre die geringste Bedeutung hatten. Mädchen befassten sich privat zwar etwas häufiger mit den Genres, die im Deutschunterricht eine Rolle spielten, allerdings nahmen diese Textarten auch bei ihnen die hintersten Plätze ein. Auf die Frage, wie sich die Schullektüre auf ihre Lesemotivation auswirkt, antwortete über die Hälfte der Jugendlichen, dass das schulische Lesen darauf keinen Einfluss hat. 21 % waren der Meinung, dass sich die Schullektüre positiv auswirkt, 23 % konstatierten negative Effekte. Außerdem gaben 68 % der Schüler an, dass die Schullektüre sie höchstens selten zum Lesen anspruchsvoller Literatur motiviert, und 82 % der Gymnasiasten waren (eher) nicht der Ansicht, dass sie durch die Schullektüre in der Freizeit mehr lesen. Insgesamt deuten auch diese Ergebnisse darauf hin, dass das private Lesen weitgehend losgelöst von schulischen Einflüssen stattfindet (vgl. Mahling 2010, S. 10, 35 f., 55 f., 61, 64).
4.3 Schule und Lesekompetenz Seit einigen Jahren kommt der Lesekompetenz große Aufmerksamkeit zu. Die Bekanntgabe der Ergebnisse der ersten PISA-Studie hatte in Deutschland 2001 den ›PISA-Schock‹ zur Folge: Die deutschen Schüler schnitten bei den getesteten Bereichen Lesekompetenz, Naturwissenschaften und Mathematik schlechter ab als der Durchschnitt der OECD-Staaten, wodurch eine Diskussion im Bildungsbereich in Gang gesetzt wurde. Im Folgenden werden die Ergebnisse von drei Studien präsen
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tiert, die sich mit der Messung der Lesekompetenz beschäftigen. Diese verwenden Kompetenzstufen bzw. Kompetenzniveaus, um die Testergebnisse interpretieren zu können – z. B. um Risikogruppen zu bestimmen. Es können zwei grundsätzliche Modelle der Lesekompetenz unterschieden werden: Der kognitionstheoretische Ansatz hat das Ziel der Leseleistungsmessung, während das kulturwissenschaftlich orientierte Modell vorrangig die Strukturen und Prozesse der Lesesozialisation modellieren möchte (vgl. Hurrelmann 2010, S. 19 f., 27). Der Lesekompetenzbegriff bei IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) bezieht sich auf den kognitionstheoretischen Ansatz und ist von der angelsächsischen ›literacy‹-Tradition geprägt: »Demnach ist Lesekompetenz als Fähigkeit, Texte verschiedener Arten zu verstehen und zu nutzen, eine notwendige Voraussetzung für eine Lebensführung, die gesellschaftlichen und persönlichen Ansprüchen gerecht wird.« (Bremerich-Vos u. a. 2012, S. 70) Bei diesem Modell werden verschiedene Textsorten berücksichtigt, neben literarischen Texten nämlich auch Sachtexte. IGLU untersucht seit 2001 im Abstand von fünf Jahren die Lesekompetenz von Schülern der 4. Jahrgangsstufe. 2011 erreichten die deutschen Kinder einen Leistungsmittelwert, der signifikant über dem internationalen Skalenmittelwert lag. Deutschland belegte damit einen Platz im oberen Mittelfeld. Der Leistungsunterschied fiel bei den deutschen Schülern geringer aus als im internationalen Vergleich: Kinder mit guten und schlechten Leistungen im Bereich Lesekompetenz lagen somit verhältnismäßig nahe beieinander. Die Leseleistungen, die die deutschen Schüler 2011 erzielten, unterschieden sich nicht signifikant von den Ergebnissen 2001. Im Jahr 2006 lagen die Werte geringfügig, aber signifikant über den Leistungen von 2001 und 2011. Auch die Leistungsstreuung war 2001 und 2011 vergleichbar. Knapp 10 % der deutschen Schüler erzielten 2011 sehr hohe Leistungen (Kompetenzstufe V; zu den Lesekompetenzstufen bei IGLU vgl. beispielsweise Bremerich-Vos u. a. 2012, S. 75–84), gut 15 % blieben hinter der Kompetenzstufe III zurück. Diese Schüler, die höchstens die Kompetenzstufe II erreichen, zählen zur Risikogruppe, da sie nur explizit angegebene Einzelinformationen in Texten identifizieren und lokal angrenzende Informationen miteinander verknüpfen können. Beim Vergleich zwischen 2001 und 2011 zeigt sich, dass sich der Anteil der Kinder, der höchstens Stufe II erreicht, nicht signifikant verändert hat. Das Gleiche trifft auf die Kompetenzstufe V zu. Kinder aus sozial schwachen Familien zählten häufiger zu den schlechten Lesern, wobei diese Tendenz in Deutschland nur leicht über dem internationalen Mittelwert lag. Auch Schüler mit Migrationshintergrund erzielten niedrigere Werte bei der Lesekompetenz. Mädchen erreichten 2011 höhere Werte bei der Leseleistung als Jungen. Die Unterschiede fielen jedoch gering aus und wichen nicht signifikant von den geschlechtsspezifischen Differenzen ab, die bei den Mitgliedern der OECD bzw. der EU durchschnittlich auftraten. Die Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern veränderten sich von 2001 bis 2011 nicht signifikant. Allerdings lasen in Deutschland mehr Jungen als Mädchen außerhalb der Schule nie zu ihrem Vergnügen – das traf zwar auch auf die
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anderen Teilnehmerstaaten zu, unter den deutschen Schülern war die Differenz aber vergleichsweise hoch (vgl. Bos u. a. 2012b, S. 91, 96–106, 126–130; Bremerich-Vos u. a. 2012, S. 76; Wendt u. a. 2012, S. 180, 188; Schwippert u. a. 2012, S. 205). Während die Leistungen der Grundschüler bereits 2001 über dem internationalen Durchschnitt lagen, fielen die Ergebnisse der ersten PISA-Studie schlechter aus: 2000 war die Lesekompetenz der 15-Jährigen in Deutschland signifikant niedriger als im OECD-Durchschnitt. PISA testet die Leseleistung der 15-Jährigen alle drei Jahre und beschreibt Lesekompetenz als »die Fähigkeit einer Person, geschriebene Texte zu verstehen, sie zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, eigenes Wissen und eigene Potenziale zu entwickeln und um aktiv an der Gesellschaft teilzuhaben« (Hohn u. a. 2013, S. 219). PISA nutzt zur Überprüfung der Leseleistung verschiedene Textformate: Neben kontinuierlichen Texten, wie Zeitungsartikeln oder Ausschnitten aus Romanen, werden nichtkontinuierliche Texte, wie Diagramme oder Tabellen, eingesetzt. Es werden sieben Kompetenzstufen unterschieden (vgl. dazu ausführlicher Hohn u. a. 2013, S. 222–226). Im Jahr 2012 gehörte Deutschland erstmals zu den Staaten, die signifikant über dem internationalen Durchschnitt lagen. 2000 lagen die Leistungen noch signifikant unter dem OECD-Durchschnitt, 2003, 2006 und 2009 jeweils im mittleren Leistungsbereich. Die Leistungsstreuung lag in Deutschland 2012 signifikant unter dem internationalen Durchschnitt. Während in den OECDTeilnehmerstaaten durchschnittlich 18 % der Schüler zur Risikogruppe zählten, lag dieser Wert für Deutschland bei knapp 15 %. Knapp 9 % der deutschen Heranwachsenden gehörten der Spitzengruppe an; dieser Anteil entspricht dem internationalen Durchschnitt. Obwohl weniger Schüler als in den vorherigen Studien in die Risikogruppe fielen, besteht weiterhin Handlungsbedarf: Unter Berücksichtigung der Schulart zeigt sich beispielsweise, dass fast 44 % der Hauptschüler der Gruppe der Leseschwachen angehörten. Die Jungen schnitten im Bereich Lesekompetenz in den PISA-Studien jeweils wesentlich schlechter ab als die Mädchen, die Differenz hat sich dabei nicht grundlegend geändert. Deutschland gehört zu den Staaten, in denen die geschlechtsspezifischen Unterschiede besonders ausgeprägt sind. Jungen wurden zu gut 20 % der Risikogruppe zugeordnet, Mädchen nur zu knapp 13 %. Bei den bisherigen Erhebungen zählten außerdem überproportional viele Schüler mit Migra tionshintergrund zur Risikogruppe (vgl. Hohn u. a. 2013, S. 221, 227, 230–233, 237–239; Naumann u. a. 2010, S. 46–50). Die Längsschnittstudie DESI (Deutsch-Englisch-Schülerleistungen-International) erfasste am Anfang und am Ende des Schuljahres 2003/04 die Deutsch- und Englischkompetenzen der Schüler der 9. Jahrgangsstufe (vgl. Beck u. a. 2008, S. 11 f.). Während bei PISA vor allem das Textverstehen auf lokaler Ebene – also kleinerer Textteile – geprüft wird, hatte DESI das Ziel, »neben der Berücksichtigung der hierarchieniedrigen Teilkompetenzen des Lesens auch explizit zu machen, worauf sich hohe Lesekompetenzen stützen, nämlich auf die wissensbasierte Zusammenschau und Integration größerer Textteile« (Gailberger / Willenberg 2008, S. 60). Bei DESI wurden vier Lesekompetenzniveaus unterschieden, wobei das niedrigste Niveau A für
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die einfache Sinnentnahme und Informationsverarbeitung stand. 68 % der Schüler erreichten höchstens dieses Kompetenzniveau. Darüber hinaus nahm die Lesekompetenz während des Schuljahrs nicht signifikant zu. Zur Risikogruppe gehörten vor allem Jungen, Hauptschüler, Jugendliche mit Migrationshintergrund, Heranwachsende mit einer anderen Sprache als Deutsch als Umgangssprache sowie Personen mit niedriger sozialer Herkunft (vgl. Gailberger / Willenberg 2008, S. 60 f., 65–68; Rolff u. a. 2008, S. 298 f.). Die Risikogruppen fallen bei den verschiedenen Studien zum Teil unterschiedlich groß aus, was zumindest teilweise durch das differierende Verständnis von Lesekompetenz und die Unterschiede in der Aufgabenkonstruktion erklärt werden kann. Aus allen Ergebnissen wird allerdings deutlich, dass viele deutsche Schüler am Ende der Pflichtschulzeit nicht über die Lesekompetenz verfügen, um Beruf und Alltag problemlos zu meistern.
5 Forschungsperspektiven »Lange Zeit bestand das Selbstverständnis der Didaktik vor allem darin, Konzeptionen des Deutschunterrichts, Curricula oder modellhafte Unterrichtseinheiten zu entwickeln.« (Kammler / Knapp 2002, S. 2) Problematisch dabei ist, dass diese neuen Konzeptionen meist keiner systematischen Evaluation unterzogen wurden. Clemens Kammler und Werner Knapp stellten daher 2002 fest: »Wenn man genau hinsieht, gibt es fast keine gängige Praxis im Deutschunterricht, die durch empirische Forschung wirklich abgesichert wäre.« (Kammler / Knapp 2002, S. 6) Diese Aussage trifft auf verschiedene Bereiche des Deutschunterrichts zu: So fehlen beispielsweise Längsschnittuntersuchungen, die die Effekte der verschiedenen Methoden des Schriftspracherwerbs aufzeigen, Studien, die sich den Auswirkungen der angewandten Methoden des Deutschunterrichts widmen, und Untersuchungen, die die Effekte der Schule bzw. der Lehrkräfte auf die Lesemotivation und das private Leseverhalten berücksichtigen. Außerdem werden die schulischen Leseförderungsmaßnahmen bisher kaum systematisch evaluiert, die Möglichkeiten und Auswirkungen des Einsatzes digitaler Medien im Unterricht sind noch nicht ausreichend erforscht. Darüber hinaus mangelt es an Studien, die für das schulische Lesen auch die anderen Fächer berücksichtigen. Schließlich spielt das Lesen nicht nur im Deutschunterricht, sondern in fast allen Fächern eine wichtige Rolle. Des Weiteren liegen bisher nur wenige Erkenntnisse darüber vor, wie die Schule mit den anderen Instanzen der Lese- bzw. Mediensozialisation – vor allem der Familie und den Peers – zusammenhängt und wie sich diese Einflüsse in Bezug auf das Lesen im Lauf der Schulzeit entwickeln (vgl. SchründerLenzen 2009, S. 174; Philipp 2011, S. 104 f., 109; Mahling 2014, S. 323). Die Forschung zum Lesen in der Schule wird dadurch erschwert, dass viele verschiedene Faktoren damit in Zusammenhang stehen und deshalb kaum einzelne
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Maßnahmen bzw. Aspekte erfasst und ausgewertet werden können: Lehrkräfte und ihr Unterricht können nicht separat betrachtet werden, sie stehen in engen Beziehungen zur Klassenzusammensetzung, den einzelnen Schülern, aber auch zur Schulart, zum Kollegium und anderen schulinternen Gegebenheiten – wie z. B. der materiellen Ausstattung – und unterliegen darüber hinaus Einflüssen, die außerhalb der Schule liegen (vgl. Philipp 2011, S. 114, 127).
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Simone C. Ehmig
3.2.3 Außerschulische Leseförderung Zusammenfassung: Der Beitrag versteht außerschulische Leseförderung als lebenslange Förderung außerhalb des schulischen Unterrichts. Er beschreibt Hintergrund und Notwendigkeit sowie unterschiedliche Typen von Angeboten und illustriert sie mit Praxisbeispielen. Abstract: The article defines out-of-school literacy education as the lifelong promotion of reading outside of school instruction. The background and the necessity of extracurricular reading promotion are described as well as various types of extracurricular offerings, illustrated with examples from educational praxis.
Inhaltsübersicht 1 Hintergrund — 568 1.1 Problemfeld Lesekompetenz — 568 1.2 Gesellschaftliche Folgen schwacher Lesekompetenz — 569 1.3 Konsequenzen für die Leseförderung — 570 2 Außerschulische Leseförderung: Begriffsbestimmung — 571 2.1 Notwendigkeit von Leseförderung außerhalb des Unterrichts — 571 2.2 Außerschulische Leseförderung als Gegenstand der Forschung — 571 2.3 Praxisorientierte Quellen zu außerschulischer Leseförderung — 573 2.4 Außerschulische Leseförderung im internationalen Fokus — 574 3 Kriterien und Dimensionen außerschulischer Leseförderung — 576 4 Konkrete Ansätze außerschulischer Leseförderung — 578 4.1 Frühkindliche Leseförderung in der Familie — 578 4.1.1 Förderung von Vorlesen und Erzählen — 579 4.1.2 Verankerung von Lesen in den familiären Lebenswelten — 580 4.1.3 Gezielte Ansprache von Risikogruppen — 580 4.2 Vorschulische Leseförderung in Kindertagesstätten — 581 4.2.1 Fortbildung von Erzieher/innen — 582 4.2.2 Kooperationen — 583 4.2.3 Ausstattung — 584 4.3 Außerunterrichtliche Leseförderung im Umfeld Schule — 584 4.3.1 Schule als außerschulischer Lernort — 585 4.3.2 Verbindung von Unterricht und Lebenswelt — 585 4.3.3 Förderung Lesebegeisterter — 586 4.4 Außerschulische Leseförderung durch non-formale und informelle Bildungsakteure — 587 4.4.1 Bibliotheken — 587 4.4.2 Verlage und Buchhandel — 588 4.4.3 Jugendeinrichtungen — 589 4.4.4 Gesellschaftliche Akteure und Öffentlichkeit — 590 4.4.5 Leseförderung nach der Schulzeit: Zielgruppe Erwachsene — 592 5 Literatur — 593
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1 Hintergrund 1.1 Problemfeld Lesekompetenz Lesekompetenz bezeichnet die Fähigkeit, sprachliche Zeichen und Texte aller Art zu entschlüsseln, ihre Bedeutung zu verstehen, die Inhalte einzuordnen und zu reflektieren.1 Lesekompetenz ist zentrale Grundlage einer funktionierenden modernen Gesellschaft, denn sie bildet eine Voraussetzung dafür, dass Menschen sich in ihrer Umwelt orientieren, an gesellschaftlich relevanten Prozessen teilhaben, ihre Rolle als mündige Bürger aktiv wahrnehmen und sich persönlich wie beruflich entfalten können. Auch in Ländern mit gut entwickelten Bildungssystemen ist es jedoch nicht selbstverständlich, lesen zu können. Die 2013 von der OECD veröffentlichten Ergebnisse des »Programme for the International Assessment of Adult Competencies« (PIAAC) zur Lesekompetenz Erwachsener zeigen: 17,5 % der 16–65-Jährigen in Deutschland verfügen nur über Lesekenntnisse auf Grundschulniveau (vgl. OECD 2013; Rammstedt 2013). Im OECD-Durchschnitt sind es 15,5 %. Den geringsten Anteil leseschwacher Erwachsener identifiziert die Studie in Japan (4,9 %), den höchsten in Italien (27,7 %). Ähnliche Werte wie in Deutschland sind in Irland (17,5 %), Polen und den USA zu finden (jeweils 17,7 %). Österreich liegt mit 15,7 % im OECD-Durchschnitt. Die PIAAC-Befunde bestätigen die 2011 veröffentlichten Ergebnisse der »leo. ‒ Level-One-Studie«. Sie hatte für Deutschland eine Zahl von 7,5 Millionen Erwachsenen zwischen 14 und 64 Jahren hochgerechnet, die Texte nicht richtig verstehen und nicht richtig schreiben können. Der Anteil der sog. funktionalen Analphabeten entspricht 14,5 % der Deutsch sprechenden Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (vgl. Grotlüschen / Riekmann 2012). Rechnet man über 64-Jährige und Menschen mit Migrationshintergrund ein, die nicht oder nur wenig Deutsch sprechen, kann man eine noch höhere Zahl Betroffener vermuten (vgl. Ehmig 2013). Mangelnde Lesefähigkeiten sind nur z. T. darauf zurückzuführen, dass Menschen nach ihrer Schul- und Ausbildungszeit das Lesen verlernen. Viele konnten es nie
1 Das Verständnis von Lesen und Lesekompetenz im vorliegenden Text folgt der Definition der aktuellen quantitativen Bildungsstudien, die differenziert bei Hohn, Katharina / Schiepe-Tiska, Anja / Sälzer, Christine / Artelt, Cordula: Lesekompetenz in PISA 2012. Veränderungen und Perspektiven. In: Prenzel u. a. 2013, S. 217–244, hier S. 217, sowie Zabal, Anouk / Martin, Silke / Klaukien, Anja / Ramm stedt, Beatrice / Baumert, Jürgen / Klieme, Eckhard: Grundlegende Kompetenzen der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland im internationalen Vergleich. In: Rammstedt 2013, S. 31–76, hier S. 32 f., zu finden ist. Analog werden über das Vorhandensein bzw. das Fehlen entsprechender Fähigkeiten die Grenzen von Kompetenzniveaus bestimmt – so die Alpha-Levels der leo. ‒ Level-One Studie (vgl. Hartig, Johannes / Riekmann, Wibke: Bestimmung der Level-Grenzen in der leo. ‒ Level-One Studie. In: Grotlüschen / Riekmann 2012, S. 106–121) und die Lesekompetenzstufen bei PIAAC (vgl. Zabal u. a. 2013, S. 37 f.).
3.2.3 Außerschulische Leseförderung
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richtig (vgl. Döbert / Nickel 2000). Dabei handelt es sich nicht nur um ältere Generationen. Nach der jüngsten PISA-Studie hatten in Deutschland im Jahr 2011 14,5 % der 15-Jährigen Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben (vgl. Prenzel u. a. 2013). Die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) zeigte 2011, dass 15,4 % der Schüler/innen vierter Grundschulklassen kein ausreichendes Leistungsniveau im Lesen erreichen (vgl. Bos u. a. 2012). Im selben Zeitraum erfüllten 12 % der Grundschüler nicht die Mindeststandards im Lesen, 33 % nicht die Regelstandards (vgl. Stanat u. a. 2012). Die Befunde belegen, dass kontinuierlich neue Generationen möglicher funktionaler Analphabeten heranwachsen, denen eine zentrale Voraussetzung für Bildung, Berufszugang und gesellschaftliche Teilhabe fehlt. Es ist zu erwarten, dass sich das Problem in künftige Generationen fortsetzen wird, wenn die Kinder und Jugendlichen später selbst Eltern sind, ihre Kinder aber nicht ausreichend fördern können. Eine zentrale Aufgabe der Leseförderung besteht darin, den Kreislauf aus mangelnden Bildungsvoraussetzungen im Elternhaus und schlechteren Bildungschancen der nachwachsenden Generationen zu durchbrechen.
1.2 Gesellschaftliche Folgen schwacher Lesekompetenz Unzureichende Lesekompetenzen Erwachsener und Heranwachsender verursachen Probleme mit großer gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Reichweite.2 47.600 der Schulabgänger in Deutschland (5,9 %) haben 2013 die Schule ohne Abschluss verlassen (vgl. Autorengruppe Bildungsbericht 2014). Ein Bericht der OECD zur gender equality in education zeigt, dass junge Männer mit höherer Wahrscheinlichkeit ihre Bildungslaufbahn abbrechen als junge Frauen (vgl. OECD 2015a). Wenn Jugend liche nicht über die geforderten Qualifikationen verfügen, finden sie trotz einer sich positiv entwickelnden Angebotssituation häufig keinen Ausbildungsplatz (vgl. Hohbein u. a. 2012). 2014 wurden in Deutschland trotz der positiven Wirtschaftsentwicklung weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen als im Vorjahr. Zugleich stieg die Zahl unbesetzter betrieblicher Ausbildungsplätze auf einen Höchststand: Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge sank gegenüber dem Vorjahr um 7310 auf 522.200. Unternehmen haben also zunehmend Schwierigkeiten, ihre Ausbildungsplätze zu besetzen. Die Bundesagentur für Arbeit meldete im Jahr 2014 37.101 unbesetzte betriebliche Ausbildungsstellen (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015, S. 7). 256.110 Jugendliche und junge Erwachsene haben 2014 ein Bildungsprogramm im Übergangsbereich begonnen. Davon sind 46.354 in berufsvorbereitende Bildungspro-
2 Die Argumentation folgt den Empfehlungen der Stiftung Lesen an die Politik: Politische und programmatische Empfehlungen für bessere Bildung. URL: http://www.stiftunglesen.de/ueber-uns/portraet/empfehlungen/ [eingesehen am 06.05.2015].
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gramme eingebunden, 45.232 befinden sich in einem Berufsvorbereitungsjahr, 28.592 in einem berufsvorbereitenden Bildungsgang der Bundesagentur für Arbeit oder in einer Einstiegsqualifizierung (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015, S. 43). Etwa 10 % der 15- bis 29-Jährigen in Deutschland waren 2014 weder in Ausbildungs-, noch in Berufs- oder Weiterbildungsaktivitäten integriert. Im OECDDurchschnitt waren es 15 % (vgl. OECD 2015b, S. 479). Hochgerechnet ist in den kommenden zehn Jahren mit 15 Milliarden Euro Folgekosten zu rechnen, wenn es nicht gelingt, niedrig qualifizierten Menschen Bildungschancen und Perspektiven zur Teilhabe am sozialen und beruflichen Leben zu ermöglichen (vgl. Allmendinger u. a. 2012). Um sie zu qualifizieren, bedarf es der Vermittlung grundlegender Kompetenzen im Lesen und Schreiben.
1.3 Konsequenzen für die Leseförderung Die skizzierten Probleme illustrieren die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Sprachund Leseförderung als zentrale Voraussetzung der Ausbildungs- und Erwerbsfähigkeit. Ein Mangel an Lesekompetenz führt nach den jüngsten PISA-Daten unweigerlich auch zu schlechteren Leistungen in anderen Fächern (vgl. OECD 2015a). Um den in allen Altersgruppen erkennbaren Defiziten entgegenzuwirken, muss die Vermittlung guter Sprach- und Lesekompetenzen erstens sehr viel früher einsetzen als mit dem ersten Schuljahr. Sie muss zweitens die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen kontinuierlich begleiten, um kritische Phasen, insbesondere die ›Lesekrise‹ im Übergang von der Kindheit zur Pubertät (vgl. Schön 1989; Graf 1995; Garbe u. a. 2009) motivierend und kompetenzfördernd zu überbrücken. Dies schließt Angebote an alle Altersgruppen ein, begleitend und ergänzend zu den Bildungsinstitutionen. Sie sollte drittens sowohl präventive Maßnahmen im Kindes- und Jugendalter als auch kurative Ansätze einschließen, die lesefernen und -schwachen Erwachsenen einen niederschwelligen Zugang zum Lesen und Schreiben ermöglichen. Idealerweise sind Sprachund Leseförderung viertens in allen Lebenszusammenhängen präsent und beteiligen möglichst viele Akteure. Sie wirken fünftens nachhaltig, indem sie Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Zugänge verschaffen und Kompetenzen vermitteln, die ihre persönliche, fachliche und berufliche Entwicklung langfristig positiv prägen.3 Mit den genannten Punkten sind zentrale Kriterien und Charakteristika außerschulischer Leseförderung genannt, die im Folgenden näher bestimmt und mit Beispielen illus
3 Die Kriterien greifen Empfehlungen von Experten auf, die im Rahmen einer internationalen Konferenz der Stiftung Lesen und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur frühkindlichen Bildung im Frühjahr 2013 in Leipzig verabschiedet wurden. Das Dokument der Leipzig Recommendations on Early Literacy Education ist verfügbar unter http://www.stiftunglesen.de/download. php?type=documentpdf&id=882 [eingesehen am 11.02.2015].
3.2.3 Außerschulische Leseförderung
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triert werden. Die Grundlage hierfür bilden Quellen aus dem Bereich der Bildungsforschung und der praktischen außerschulischen Leseförderung, das bildungspolitisch relevante Engagement von Akteuren sowie pragmatische Überlegungen, die sich aus der praktischen Erfahrung ableiten lassen.
2 Außerschulische Leseförderung: Begriffsbestimmung 2.1 Notwendigkeit von Leseförderung außerhalb des Unterrichts Das Lesen Lernen liegt im deutschen Bildungssystem im originären Aufgabenbereich der Schule als zentralem Ort zur Vermittlung von Lesekompetenz (vgl. Artelt u. a. 2007). Die Schule allein kann eine erfolgreiche Sprach-und Lesesozialisation nicht notwendigerweise für jede/n einzelne/n Schüler/in gewährleisten. Dies belegen die Befunde der Bildungsstudien. Auch wenn sie in der Öffentlichkeit gelegentlich als Hinweise auf ein Versagen des Bildungssystems interpretiert und diskutiert werden (vgl. z. B. Greiner 2013; Himmelrath 2014), illustrieren sie vielmehr, dass die schulische Vermittlung grundlegender Kompetenzen ohne ein unterstützendes und ergänzendes Umfeld und Impulse im außerschulischen Bereich nicht ausreicht, um alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit den notwendigen Lese- und Schreibfähigkeiten auszustatten. Außerschulische Leseförderung wird mit unterschiedlichen Zielsetzungen in einer Vielzahl von Ausprägungen von einer Fülle von Akteuren für vielfältige Zielgruppen konzipiert und umgesetzt. Sie ist Gegenstand wissenschaftlicher Publikationen und praxisorientierter Quellen, die ein anwendungsinteressiertes Publikum auf konkrete Maßnahmen verweisen. In beiden Fällen geben die Darstellungen Aufschluss über das zugrunde liegende Begriffsverständnis.
2.2 Außerschulische Leseförderung als Gegenstand der Forschung Seitdem v. a. durch die PISA-Studien der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen deutlich geworden ist, findet die außerschulische Förderung grundlegender Kompetenzen besondere Aufmerksamkeit in der Bildungsforschung. Der Bericht Bildung in Deutschland 2008 verweist auf »Lernorte, überwiegend non-formaler Art, die Bildungsprozesse auf der Grundlage von aktiver Beteiligung und Mitwirkung ermöglichen. Eine zentrale Rolle spielen dabei Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, die […] in der Regel pädagogisch und fachlich begleitet werden und dadurch eine Nachbereitung und Reflexion von Erfahrungen und Bildungsprozessen erlauben« (Autoren
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gruppe Bildungsberichterstattung 2008, S. 78). In Bildung in Deutschland 2014 sprechen die Autoren von »Aktivitäten in außerschulischen Lernorten«, die »jungen Menschen wichtige Gelegenheiten [eröffnen], sich aktiv einzubringen, verschiedene Erfahrungen zu sammeln und dadurch zu lernen« (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 84). Die Formulierungen verweisen auf zwei zentrale Merkmale außerschulischer Förderung: Sie findet erstens in überwiegend non-formalen Zusammenhängen statt, die schulisches Lernen ergänzen und erweitern. Damit ermöglicht und befördert sie zweitens interaktives und erfahrungsbasiertes Lernen und Erleben, das die Lernenden aktiv einbindet und Reflexionsprozesse anstößt. Im Rahmen einer Studie zur außerschulischen Leseförderung in Deutschland wurden 247 deutsch- und 78 englischsprachige wissenschaftliche Monografien und Einzelbeiträge systematisch untersucht, die ab dem Jahr 2000 bis Mitte 2011 zu Themen der außerschulischen Leseförderung erschienen waren (vgl. Ehmig / Reuter 2011, S. 13–15). Da die Datengrundlagen für den deutsch- und englischsprachigen Raum nicht unmittelbar vergleichbar sind, kann man von der Zahl der Beiträge nicht auf Unterschiede in der Aufmerksamkeit für das Thema schließen. Dennoch lassen die Befunde strukturelle Aussagen zur Forschungslage im genannten Zeitraum zu. Sie geben Aufschluss über das Verständnis von außerschulischer Leseförderung, das den Publikationen zugrunde liegt, über die Bedeutung, die sie ihr beimessen, sowie die Akteure, Zielgruppen und Zielsetzungen, die sie in den Mittelpunkt stellen. Im deutschsprachigen Raum lassen sich von 2000 bis 2011 zwei Publikationswellen identifizieren, die Aufmerksamkeit und Dynamik der Forschung spiegeln: Von 2000 bis 2003 stieg die Zahl der Beiträge kontinuierlich an und ging 2006 wieder zurück. Die zweite Welle begann 2007 und hatte ihren Höhepunkt im Jahr 2009. Im englischsprachigen Raum stieg die Zahl der Veröffentlichungen von 2000 bis 2005 an und ging anschließend kontinuierlich zurück. Der Vergleich legt nahe, dass außerschulische Leseförderung in unterschiedlichen Sprachräumen spezifischen Aufmerksamkeits- und Thematisierungszyklen unterliegt. In den deutschsprachigen Veröffentlichungen spiegelt sich die Sensibilisierung infolge der PISA-Studien der Jahre 2000 und 2006, auf die jeweils ca. drei Jahre später eine größere Zahl von Publika tionen folgte. Die deutschsprachigen Beiträge sind stark auf das eigene Land konzentriert, während die englischsprachige Literatur häufiger eine internationale bzw. multikulturelle Ausrichtung zeigt und Vernetzung sowie (internationale) Vergleiche stärker in den Mittelpunkt stellt, die sich z. B. in expliziten Bezügen der Titelformulierungen zu den PISA-Studien zeigen. Auch die Titel und Zusammenfassungen der deutschsprachigen Veröffentlichungen erwähnen PISA vergleichsweise häufig. Dies belegt, dass die Studien für einen Teil der Publikationen Auslöser oder Anknüpfungspunkt gewesen sind. Die Publikationen im deutsch- und englischsprachigen Raum behandeln außerschulische Leseförderung von Kindern und Jugendlichen häufig altersgruppenüber
3.2.3 Außerschulische Leseförderung
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greifend. Viele Darstellungen beschreiben Förderkonzepte und -programme. Publikationen, die spezifische Altersgruppen in den Blick nehmen, konzentrieren sich im deutschsprachigen Raum stark auf Kinder im Grundschulalter sowie Jugendliche. Die englischsprachigen Titel legen einen Schwerpunkt auf Vor- und Grundschulkinder. Mehr als jede zweite deutschsprachige Publikation betrachtet außerschulische Leseförderung als Teil einer umfassenderen Mediensozialisation. Ein gutes Drittel konzentriert sich auf Druckmedien, v. a. Bücher. Die deutsch- und englischsprachigen Quellen betonen Lesekompetenz als zentrales Ziel außerschulischer Förderung. Relativ häufig stehen darüber hinaus auch Lesemotivation und das Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt.
2.3 Praxisorientierte Quellen zu außerschulischer Leseförderung Die wissenschaftliche Literatur ermöglicht eine grundsätzliche Orientierung über das Feld der außerschulischen Leseförderung, zentrale Problemstellungen, Ursachen und Möglichkeiten zur Problemlösung. Seitens Betroffener (z. B. Eltern leseschwacher Kinder) und besonders für Akteure (z. B. Erzieher/innen, Bibliotheksmitarbeiter/ innen) besteht ein Bedarf an konkreter Orientierung und Information über Angebote, die sie für ihre spezifischen Anforderungen vor Ort nutzen oder adaptieren können. Anbieter und Akteure außerschulischer Leseförderung verbreiten ihre Projekte in der Regel – je nach Aktionsradius – lokal, regional oder überregional, z. B. über Websites, mit Flyern, Informationsmaterialien usw. Gebündelt und zielgruppen- oder themenspezifisch zugänglich sind Angebote auf Internetseiten von Netzwerken, die auf sie verweisen und sie verlinken. Ein Beispiel hierfür ist eine bundesweite Übersicht über Vorleseinitiativen auf der Website des »Netzwerks Vorlesen«, mit dem die Stiftung Lesen ehrenamtlich Vorlesende unterstützt (www.netzwerkvorlesen. de).4 Ein weiteres Beispiel ist die Übersicht über die im Bundesverband Leseförderung e. V. organisierten Akteure, die mit den Internetseiten der Anbieter verlinkt ist (www.bundesverband-leseförderung.de). Eine umfassendere Übersicht gibt seit März 2005 das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) im Auftrag der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) und gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit dem Portal »Lesen in Deutschland« (www. lesen-in-deutschland.de). Die Seite ist mit dem ›Deutschen Bildungsserver‹ koordiniert und bündelt zielgruppenorientiert aufbereitete Informationen zur Leseförderung, regt neue Ideen und Modelle zur Umsetzung in verschiedenen Feldern an und unterstützt damit Lehrkräfte, Erzieher/innen, Bibliotheken und ehrenamtlich Tätige.
4 Alle URL-Angaben im Text sind am 09.03.2015 eingesehen worden.
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Die zentralen Navigationspunkte nehmen die »Leseorte Familie und Kita« und den »Leseort Bibliothek« als außerschulische Lernorte in den Blick. Grundlage und Impuls für »Lesen in Deutschland« war der »BLK-Aktionsrahmen zur Förderung der Lesekultur von Kindern und Jugendlichen im außerschulischen Bereich« vom 17. November 2003, der mit Bezug zu den PISA-Studien ein OnlineAngebot zur Bündelung der im Internet verstreuten Informationen zur Leseförderung angeregt hatte (vgl. BLK 2003, S. 2). »Lesen in Deutschland« zeigt eine vielfältig untergliederte Struktur mit redaktionell aufbereiteten Beiträgen, die über Akteure, »Leseorte« oder Länder einen zielgerichteten Einstieg in das Thema Leseförderung erlauben. »Lesen in Deutschland« bildet eine wichtige Grundlage zur Orientierung in der außerschulischen Leseförderungslandschaft in Deutschland, kann aber naturgemäß nicht die gesamte Struktur und Bandbreite außerschulischer Angebote in Deutschland abdecken. Das Portal gibt aber Aufschluss über das Begriffsverständnis: Im Mittelpunkt der Darstellung stehen die Zielgruppen der – v. a. leseschwachen bzw. -fernen – Kinder und Jugendlichen, beginnend mit frühkindlicher Förderung. Auf der Seite sind Akteure aus Bildungsinstitutionen (Kindertagesstätten) ebenso präsent wie non-formale (Bibliotheken) und informelle Akteure (Familien). Aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung konnten DIPF und Stiftung Lesen von 2008 bis 2012 unter dem Dach des Deutschen Bildungsservers ergänzend ein Informationsportal zur Leseförderung im internationalen Raum aufbauen. Die englischsprachige Seite (www.readingworldwide.com) erschließt das Feld über Länder, Zielgruppen, Institutionen und Themen. Sie verweist auf Forschungs ergebnisse und Ereignisse im Bereich der Leseförderung und setzt einen Schwerpunkt auf den außerschulischen Bereich. »Reading Worldwide« spiegelt das Interesse von Akteuren an internationaler Vernetzung, die Erfahrungen und Expertise in anderen Ländern fruchtbar für die eigene Leseförderung macht. Diese Entwicklung ist als Reaktion auf die zunehmende Zahl international vergleichender Bildungsstudien zu sehen.
2.4 Außerschulische Leseförderung im internationalen Fokus PISA, PIAAC und andere international vergleichende Studien führen den Akteuren in den einzelnen Ländern vor Augen, dass Probleme im Bereich der Lesekompetenz auch in anderen Ländern bestehen und Erfahrungen sich modellhaft übertragen und nutzen lassen. Dies führte in den letzten Jahren auf internationaler Ebene zu einer Vernetzung und Verschränkung von Aktivitäten der außerschulischen Leseförderung. Ein Beispiel für ein Netzwerk von Akteuren, die Grundlagen, Ansätze und Erfahrungen mit Leseförderung im außerschulischen Bereich austauschen, ist EURead, ein im Jahr 2000 gegründeter, zunächst informeller Zusammenschluss von Institutionen u. a. aus Deutschland, Österreich, Italien, Großbritannien, den Niederlanden und der Schweiz, der 2015 in eine Vereinigung ohne Gewinnerzielungsabsicht (V.o.G.) nach
3.2.3 Außerschulische Leseförderung
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belgischem Recht überführt wird. EURead zielt darauf, die Lese- und Schreibkompetenz für jedes Mitglied der Gesellschaft in Europa zu verbessern, unabhängig von materiellen, kulturellen oder sozialen Voraussetzungen. EURead setzt sich für die Verbesserung programmlicher und finanzieller Rahmenbedingungen für Leseförderung und Medienkompetenz in Europa ein, fungiert als europäischer Ansprechpartner und Akteur für Leseförderung und gestaltet die Entwicklung der europäischen Leseförderung durch gezielten Austausch, Programme und politische Empfehlungen auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse mit (www.euread.com). Im Februar 2014 wurde außerdem auf Initiative der Europäischen Kommission das European Literacy Policy Network (ELINET) ins Leben gerufen und für 24 Monate mit finanziellen Mitteln ausgestattet. ELINET verbindet 79 Akteure aus 28 Ländern mit Expertise in Forschung und praktischer Leseförderung. Zentrales Anliegen ist es, in den Mitgliedsländern die Förderung umfassender Schriftsprachkompetenzen als integralen Bestandteil der Bildungspolitik zu verankern, um die Anzahl der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit geringen Schriftsprachkompetenzen europaweit zu senken. Dazu sollen wissenschaftlich fundierte Instrumente für lokale, regionale, nationale und transnationale Akteure entwickelt, existierende Aktivitäten unterstützt und neue initiiert werden. Zu den 79 Partnern gehören bestehende Netzwerke, nationale und internationale Verbände und Organisationen (einschließlich UNESCO), Bildungsministerien, Stiftungen, Nicht-Regierungsorganisationen, Universitäten, Forschungseinrichtungen, Weiterbildungseinrichtungen, Organisationen von Ehrenamtlichen und andere Interessengruppen. Das Netzwerk wird von der Universität zu Köln koordiniert (www.eli-net.eu). ELINET knüpft an die Arbeit der Europäischen High Level Group of Experts on Literacy an, die im Januar 2011 von der Europäischen Kommission eingesetzt wurde und im September 2012 ihren Abschlussbericht vorlegte. In den Appell »act now!« mündet die Zusammenfassung der Experten: We cannot emphasize strongly enough that literacy is neither an issue just for the educational sector, nor a problem to be solved by policy-makers alone. All players in society can benefit from actions that help prevent and reduce illiteracy. It also means that the responsibility to act does not only rest with governments. A broad range of individuals and organisations in European countries and at EU level are in a position to develop initiatives and implement policies to stimulate literacy development. […] The message is clear: whatever our role, we should all act now! (European Commission 2012, S. 96)
Beispielhaft für die Wirkung des europaweiten Appells sind Empfehlungen, die eine interdisziplinäre Expertengruppe im Frühjahr 2013 im Rahmen der internationalen Fachkonferenz »Prepare for Life! Raising Awareness for Early Literacy Education« formulierte. Die von der Stiftung Lesen organisierte Tagung wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Die Leipziger Empfehlungen richten sich an Politiker, Wissenschaftler und Fachkräfte ebenso wie an Familien und Ehrenamtliche. Das Fazit des Dokuments lautet, dass
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early literacy education is everyone’s responsibility. It has to start at the beginning of a child’s life, to reach out to all children and to lead on to more advanced forms of literacy development. […] Everyone means families, professionals, governmental institutions as well as others without an obvious connection to early literacy education – such as celebrities, media, volunteers, and non-governmental organizations so as to align efforts of all groups in society. This is in accordance with the recommendations of the EU High Level Group of Experts on Literacy (2012). (Maas u. a. 2013, S. 274)
3 Kriterien und Dimensionen außerschulischer Leseförderung Die Kernbotschaften der Experten, die Schwerpunkte der Publikationen und die praxisorientierten Quellen belegen in der Summe das eingangs formulierte umfassende Begriffsverständnis außerschulischer Leseförderung. Es beinhaltet alle Ansätze und Maßnahmen, die außerhalb des schulischen Unterrichts sowie ihm vor- und nachgelagert von Geburt an und im gesamten weiteren Lebensverlauf auf die Entwicklung, Beförderung und Erhaltung von Sprach- und Lesekompetenzen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zielen. Dieses Verständnis schließt Aktivitäten aller gesellschaftlichen Kräfte für alle relevanten Zielgruppen ein, die dem Aufbau und der Verbesserung von Lesekompetenzen dienen – ebenso der Förderung von Lesemotivation und Lesefreude, die die jüngste PISA-Studie als zentrale Einflussfaktoren auf die Lesekompetenz identifiziert (vgl. OECD 2012). Vorgelagert und begleitend sind darin auch alle Maßnahmen eingeschlossen, die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Akteure und Entscheider sowie die breite Öffentlichkeit für die Problematik sensibilisieren und zum Handeln motivieren. Die Handlungsfelder und Einflussbereiche lassen sich nach Kerstin Keller-Loibl und Susanne Brandt auf einer Makro-Ebene – dem Einfluss auf die »gesellschaftliche Kultur« im Sinne eines öffentlichen Problembewusstseins und einer gesellschaftlichen Verantwortung aller –, einer Meso-Ebene – dem »Einfluss auf Familie, Schule, Peers« und andere Multiplikatoren – sowie einer Mikro-Ebene – dem Einfluss auf die »persönliche Lesekultur«, also Lesekompetenz, Lesemotivation und Leseverhalten jedes Einzelnen – betrachten (Keller-Loibl / Brandt 2015, S. 8). Die Unterscheidung greift das umfassende Verständnis von Leseförderung auf, das die internationalen Experten ihren Forderungen zugrunde legen. Für eine Strukturierung der Konzepte und Maßnahmen, die in der außerschulischen Leseförderung umgesetzt werden, bieten sich fünf Dimensionen an. Außerschulische Leseförderung kann er stens von unterschiedlichen Akteure n bz w. Initiatoren in unterschiedlichen Umgebungen angestoßen und umgesetzt werden. Dazu zählen (Bildungs-)Institutionen, vor allem Kindertagesstätten, aber auch Schulen als Orte, an denen außerunterrichtliche Maßnahmen realisiert
3.2.3 Außerschulische Leseförderung
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werden, weil dort z. B. in Nachmittagsangeboten leseferne Kinder und Jugendliche angesprochen werden, die anderswo nicht erreichbar wären. Außerschulische Leseförderung wird darüber hinaus von non-formalen Bildungsakteuren und informellen Akteuren initiiert, befördert und umgesetzt. Zu den non-formalen Bildungsakteuren gehören Bibliotheken, Jugendeinrichtungen, Vereine, Verbände, Stiftungen, Mehrgenerationenhäuser usw. Unter den informellen Akteuren spielen Familien eine zen trale Rolle, in denen die Vorlieben von Kindern geprägt, Verhaltensweisen vorgelebt und eingeübt werden. In der außerschulischen Leseförderung sind zweitens verschiedene Z ielsetz u nge n zu unterscheiden, mit denen Personen mit unterschiedlichem Unter stütz u ngs- u n d Fö rderbedarf angesprochen werden. In der frühen Kindheit – der vorschulischen Phase – spielt primär der Erwerb von Sprachkompetenzen sowie von Lesemotivation und Lesefreude eine Rolle. Kinder bauen eine Beziehung zum Lesen und zu Lesemedien auf, die im Idealfall zum selbstverständlichen Bestandteil ihrer Lebenswelten werden. In der späteren Entwicklung sind zwei Zielgruppen zu unterscheiden: Lesebegeisterte und -motivierte einerseits sowie Leseferne und Kompetenzschwache andererseits. Für Lesebegeisterte und -motivierte zielen Ansätze darauf, ihre Fähigkeiten und Interessen zur Entfaltung zu bringen und weiter zu steigern, Bedürfnisse nach Leseanreizen, Aufgaben und Herausforderungen, auch eigenem Engagement zu befriedigen. Bei Lesefernen und Kompetenzschwachen stehen die Verbesserung von Lesefähigkeiten und die Förderung von Lesemotivation und Lesefreude im Mittelpunkt. Die Förderung von Lesekompetenz konzentriert sich auf formale Lesefähigkeiten und Textverstehen. Komplementär sind Schreibkompetenzen im Sinne von Rechtschreibung und der Fähigkeit, Inhalte in Texten selbst sprachlich darzustellen. Die Förderung von Lesemotivation und Lesefreude zielt vorrangig darauf, Lesen in den Lebenswelten zu verankern. Kinder und Jugendliche sollen aus eigenem Antrieb lesen und Spaß an den Inhalten entwickeln. Beide Zielsetzungen, die zwei Seiten ein und derselben Medaille bilden, finden ihre Umsetzung in Ansätzen für Zielgruppen in unterschiedlichen Lebensphasen, die ein d r i t te s Unter scheidungskriterium bilden. Außerschulische Leseförderung findet vorschulisch mit Ansätzen in der frühkindlichen Phase, außerunterrichtlich bzw. im engeren Sinne außerschulisch während der Phase der schulischen Ausbildung von Kindern und Jugendlichen sowie ›nachschulisch‹, etwa in der Grundbildungsarbeit für lese- und rechtschreibschwache Erwachsene statt. Ein v i e r te s Kriterium zur Einordnung von Ansätzen wird durch die Ebenen der Zuga ngswe ge und der Angebote definiert. Zielgruppen können über zen trale, flächendeckende Zugangswege im Sinne von Multiplikatoren und Anlässen angesprochen werden, die einem Großteil der Zielgruppe gemeinsam sind. Ein Beispiel hierfür sind Angebote an alle oder einen Großteil der Eltern von Kindern einer bestimmten Altersgruppe. Davon unterscheiden sich spezifische Zugangswege, die einzelne Gruppen bzw. Typen von Personen exklusiv erreichen, z. B. Zuwanderer mit kleinen Kindern, denen unterstützende Materialien zum Vorlesen in ihrer Mutterspra
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che an die Hand gegeben werden. Auf der Ebene der Angebote sind breitenwirksame Maßnahmen, Materialien und Angebote, die allen in gleicher Form offenstehen, von speziell zugeschnittenen Maßnahmen, Materialien und Angeboten zu unterscheiden, die gezielt für einzelne Teilgruppen bzw. Typen von Personen konzipiert sind. Außerschulische Leseförderung umfasst fünftens inhaltlich Ansätze mit unterschiedlicher Fokussierung auf das Lesen. Viele Maßnahmen zielen literarischbuchzentriert auf intensives Lesen. Sie unterscheiden sich von Konzepten, die thematisch orientiert sind und funktionales Lesen unterstützen, um Zielgruppen z. B. über Interessengebiete wie Sport, Technik usw. oder Zugänge zu Medien, etwa im digitalen Bereich, anzusprechen und zu motivieren. Dabei arbeiten einige Ansätze lesezen triert, andere beziehen kommunikative (Schreiben) und kreative Elemente (Basteln, Theater etc.) ein. Im Folgenden werden entlang der (Bildungs-)Biografie konkrete Typen und Formen außerschulischer Leseförderung skizziert und mit Beispielen illustriert. Die Beispiele können die Fülle der Akteure und Ansätze nicht umfassend widerspiegeln. Sie sind exemplarisch zu sehen. Ihre Erwähnung schreibt ihnen keine vorrangige Bedeutung gegenüber anderen Akteuren und Ansätzen zu, die gleichermaßen wichtig sind und bausteinartig dazu beitragen, dass jedes Kind und jeder Erwachsene über die notwendige Lesekompetenz verfügt und Lesefreude entwickelt, um sich persönlich wie beruflich zu entfalten und an gesellschaftlich relevanten Prozessen teilzuhaben.
4 Konkrete Ansätze außerschulischer Leseförderung 4.1 Frühkindliche Leseförderung in der Familie Die Förderung der Sprach- und Lesekompetenz beginnt mit der Geburt eines Kindes. Dabei kommt dem Vorlesen und gemeinsamen Betrachten von Bilderbüchern besondere Bedeutung zu, die Kindern neben Wortschatz und sprachlichen Strukturen auch Ausdrucksfähigkeit, Weltwissen, Phantasie, Empathie u. v. m. vermitteln. Das Vorlesen prägt die spätere Beziehung zum Lesen, die Lesemotivation und das Leseverhalten. Es schafft Grundlagen für eine gute schulische Entwicklung und ein breites Interessenspektrum, fördert die familiäre Kommunikation und die Verarbeitung auch schwieriger Themen (vgl. Ehmig 2014; Borgonovi / Montt 2012). 5
5 Vgl. zur Rolle der Familie in der frühen Lesesozialisation und zum Vorlesen auch Kapitel 2.3.1 Lesen und Familie in diesem Band.
3.2.3 Außerschulische Leseförderung
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4.1.1 Förderung von Vorlesen und Erzählen Trotz des offensichtlichen Mehrwerts sind Vorlesen und Erzählen in einem Drittel der Familien mit Kindern im Vorlesealter kein fester Bestandteil des Alltags (vgl. Stiftung Lesen 2014a). Vor allem Kinder aus bildungsfernen Familien sind deutlich benachteiligt. Auch zeigen sich geschlechtsspezifische Muster: Viele Väter lesen selten oder nie vor. Damit fehlen v. a. Jungen männliche Rollenvorbilder (vgl. Ehmig / Reuter 2013). Kindern, denen Eltern selten oder gar nicht vorlesen, fehlen wichtige Impulse, die das Vorlesen als Investment in eine gute ganzheitliche Entwicklung ausmachen. Engagement für das Vorlesen und frühe Sprachförderung gehören deshalb zu den vordringlichen Aufgaben vorschulischer Leseförderung, die Familien als informelle Akteure in den Mittelpunkt stellen. Vorrangige Ziele der Family Literacy sind Sensibilisierung und Motivation von Eltern sowie Anstöße zum Handeln. Ein zentraler Ansatz, der in zahlreichen Ländern weltweit in vielen Variationen umgesetzt wird, wurde 1992 vom britischen Book Trust mit der Initiative »Bookstart« begründet. Das Programm stellt Buchgeschenke und Informationsmaterialien für Eltern ein- und dreijähriger Kinder bereit. Eine Untersuchung zum Return on Investment zeigte, dass pro Britischem Pfund, das in Bookstart investiert wird, Kosten für die spätere Förderung von Lesekompetenz in Höhe von 25 Pfund eingespart werden (vgl. Book Trust 2010). Seit 2008 setzt die Stiftung Lesen mit einem breiten PartnerNetzwerk die Bookstart-Idee in Deutschland um. Seit 2011 wird die Initiative »Lesestart – Drei Meilensteine für das Lesen« bundesweit realisiert, finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Kinder aus drei Geburtsjahrgängen und ihre Eltern erhalten im Rahmen der kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchung U6 das erste Lesestart-Set, wenn sie ein Jahr alt sind, ein zweites mit drei Jahren in öffentlichen Bibliotheken. Zentrale Zielgruppe sind sozial- und bildungsbenachteiligte Familien. Ein drittes Set erhalten alle Kinder der Lesestart-Kohorten zu Schulbeginn. Eine regionale Initiative nach dem Bookstart-Vorbild ist »Buchstart – Kinder lieben Bücher«, die die Freie und Hansestadt Hamburg für alle einjährigen Kinder umsetzt. Das Bundesamt für Kultur im Eidgenössischen Departement des Innern will im Rahmen des Schweizerischen »Buchstart«-Programms Eltern dazu anregen, mit ihrem Baby aktiv zu kommunizieren und es schon ab ungefähr sechs Monaten mit Bilderbüchern vertraut zu machen. Im österreichischen Bundesland Vorarlberg erhalten Eltern, die sich zum Programm »Kinder lieben lesen« anmelden, per Post das erste Buchpaket, wenn ihr Kind sechs Monate alt wird. Ein zweites Paket holen sie mit einem postalisch zugestellten Gutschein in öffentlichen Büchereien ab, wenn ihr Kind 18 Monate alt ist, das dritte Buchpaket erhalten alle dreijährigen Kinder in einer Betreuungseinrichtung. Die meisten Ansätze auf der Basis von »Bookstart« erreichen Familien breitenwirksam über Ärzte, weil es in vielen Ländern kostenlose, z. T. verpflichtende medizinische Untersuchungen für Säuglinge und Kleinkinder gibt, über die die Mehrzahl der Eltern und Familien angesprochen werden kann. Die italienische Initiative »Nati
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per Leggere« des Centro per la Salute del Bambino nutzt Ärzte nicht nur als Multiplikatoren, sondern verbindet frühkindliche Sprach- und Leseförderung thematisch mit Gesundheitserziehung und -förderung.
4.1.2 Verankerung von Lesen in den familiären Lebenswelten »Bookstart« und seine Variationen sind Modelle für Ansätze, die Lesen und Lesemedien als selbstverständliche Bestandteile des familiären Alltags verankern. Sie schaffen das ›literate environment‹, das die EU High Level Group of Experts on Literacy 2012 in ihrem Bericht forderte (vgl. European Commission 2012, S. 39–42). Die Expertengruppe hebt in diesem Zusammenhang einen Ansatz hervor, den die schwedische Initiative Läsrörelsen 1998 gemeinsam mit McDonald’s Schweden und der Papierfabrik Munkedals entwickelt hat. Seit 2004 werden regelmäßig in vierwöchigen Aktionszeiträumen dem Produkt Happy Meal statt Spielzeug altersgerechte Bücher beigefügt (vgl. European Commission 2012, S. 41). In Deutschland unterstützt die Stiftung Lesen seit September 2012 die Bücher-Aktionen im Happy Meal von McDonald’s. Eine Begleituntersuchung im Herbst 2013 zeigte, dass mit der Aktion jedes dritte bis vierte Kind im Alter von drei bis neun Jahren in Deutschland erreicht wird (vgl. Stiftung Lesen 2014b).
4.1.3 Gezielte Ansprache von Risikogruppen Von der flächendeckenden Ansprache der Eltern mit Buchgeschenken und Materialien unterscheiden sich aufsuchende Initiativen, die Bildungs- mit Sozialarbeit verbinden. Dies ist z. B. ein Anliegen des Projekts »Vorlesen in Familien«, das das Zentrum für Literatur an der Phantastischen Bibliothek Wetzlar umsetzt. Die Zielgruppe bilden Kinder sozial- und bildungsbenachteiligter Familien, denen Ehrenamtliche nach dem anglo-amerikanischen Vorbild der Family Literacy Workers im häuslichen Umfeld vorlesen. Ziel ist Hilfe zur Selbsthilfe durch Stärkung der Bildungsmotivation von Eltern mit einem literatur-therapeutischen Ansatz. Ähnlich arbeitet das Programm »Home Interaction for Parents of Preschool Youngsters« (HIPPY) mit einem inhaltlich breiteren Konzept. Geschulte Personen besuchen Familien mit Kindern ab vier Jahren zu Hause, bringen Spiel- und Lernmaterial mit und zeigen Eltern, wie sie die Entwicklung ihrer Kinder gezielt fördern können. Das Programm schließt dezidiert die Sprachentwicklung von Kindern ein. Ein integrativer Ansatz zur aktiven Elternmitarbeit ist auch FLY (Family Literacy) Hamburg. Das Projekt begleitet im häuslichen Umfeld den Schriftspracherwerb von Kindern, die bereits zur Schule gehen, und fördert Eltern dabei, ihre Kinder gemeinsam mit den Lehrkräften zu unterstützen. Konzepte aufsuchender Sprach- und Leseförderung sprechen gezielt Risikogruppen an – in den genannten Beispielen sozial- und bildungsbenachteiligte Familien.
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Bildungsstudien identifizieren zwei weitere zentrale Einflussfaktoren, die den Zugang zum Lesen erschweren können: ein Migrationshintergrund und geschlechtsspezifische Prägungen, die Jungen beim Lesen benachteiligen. Beispielhaft für die Unterstützung von Eltern mit Migrationshintergrund steht die Initiative »Schenk mir eine Geschichte – Family Literacy« des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) und der Stiftung Mercator Schweiz. Zielgruppe sind Eltern 2–5-jähriger Kinder, die zwei- und mehrsprachig aufwachsen. Sprach- und Kulturvermittler/innen begleiten die Eltern in ihrer Aufgabe, die Sprachund Literacy-Entwicklung ihrer Kinder zu fördern, indem sie Eltern und Kinder in ihrer Herkunftssprache zum Lesen animieren. Väter als Zielgruppe nimmt der Unternehmensservice »Mein Papa liest vor!« der Stiftung Lesen in den Blick. Der Ansatz wendet sich an Berufstätige mit Kindern ab dem Säuglingsalter bis zu zwölf Jahren. Insbesondere Väter sollen als lesende Vorbilder stärker in Erscheinung treten. In Kooperation mit Verlagen stellt die Stiftung Lesen Unternehmen wöchentlich eine Vorlesegeschichte zur Verfügung, die die Mitarbeitenden im Intranet herunterladen können. Im Frühjahr 2015 nutzten mehr als 1000 Betriebe bundesweit den Service. In manchen Gesellschaften bedürfen Mütter besonderer Unterstützung. Beispielhaft hierfür ist das »Mother-Child-Education Program« der türkischen Initiative AÇEV, das Mütter mit Kindern, die kurz vor der Einschulung stehen, anspricht und sie in der Förderung der kognitiven, emotionalen, sozialen und körperlichen Entwicklung ihrer Kinder stärkt. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das »Mother-Child Home Education Program MOCEP« in Bahrein. Auch hier erhalten Mütter Materialien, Anregungen und Beratung zur Förderung ihrer Kinder im Vorschulalter. Das Programm unterstützt außerdem die Mütter selbst mit Angeboten zur Alphabetisierung und Grundbildung.
4.2 Vorschulische Leseförderung in Kindertagesstätten Einrichtungen zur Betreuung von Kindern bis zum Schuleintritt spielen als Bildungsinstitutionen eine zentrale Rolle für die frühkindliche Sprach- und LiteracyFörderung. Im Mittelpunkt stehen eine gute Sprachbildung für alle Kinder sowie die Förderung von phonologischer Bewusstheit und Ausdrucksfähigkeit, besonders für Kinder, die zweisprachig aufwachsen oder nur geringe Kenntnisse in der deutschen Sprache besitzen. Lesen soll als Teil der Medienwelt von Kindern im Vorschulalter verankert und eine frühe Lesemotivation geschaffen werden, auch hier über Vorlesen und Erzählen. Nach einer bundesweiten Befragung von 5901 Kindertagesstätten im Herbst 2009 machen fast alle Einrichtungen Angebote und halten Materialien bereit, die sie als Sprach- und Leseförderung verstehen. Das Spektrum reicht von Vorleseaktionen, Bilderbuchkino, Bücherkisten und Kreativ-Angeboten über Ausflüge in Bibliotheken,
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Spiele und Wettbewerbe bis hin zu Autorenlesungen und (Vor-)Lesenächten. Jede dritte bis vierte Kindertagesstätte setzt für Sprach- und Leseförderung Ehrenamtliche ein, meist um Hauptamtliche beim Vorlesen zu entlasten. Mehr als ein Drittel der Kindertagesstätten sprechen mit Maßnahmen Eltern an oder beziehen sie ein. Häufig sind Eltern beim Vorlesen aktiv. In drei von vier Einrichtungen nutzen Erzieher/innen themenrelevante Fortbildungsangebote. Eher sprachzentrierte Weiterbildungen lassen sich von solchen unterscheiden, die Sprachvermittlung und Lesen mit der Förderung anderer Kompetenzen verbinden – z. B. frühe mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung (vgl. Ehmig / Reuter 2011). Fortbildungen sind ein Baustein der »Offensive Frühe Chancen: SchwerpunktKitas Sprache & Integration«. Mit der Initiative verfolgt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend das Ziel, Bildungsangebote in Kindertageseinrichtungen zu schaffen, die vor allem Kindern aus sozial benachteiligten Familien und Familien mit Migrationshintergrund sprachliche Kompetenzen vermitteln. Den geförderten Kindertageseinrichtungen werden zusätzliche Fachkräfte zur Seite gestellt. So sollen die Kinder durch alltagsintegrierte sprachliche Bildung früh in ihrer Sprachentwicklung unterstützt werden.
4.2.1 Fortbildung von Erzieher/innen Ein Beispiel für sprachzentrierte Fortbildungen, die Eltern einbeziehen, ist die Initiative »frühstart – Deutsch und interkulturelle Bildung im Kindergarten«, die als Modellprojekt in Hessen entwickelt und verstetigt worden ist. »frühstart« verbindet Sprachförderung und interkulturelle Bildung mit Elternarbeit und der Vernetzung von Akteuren. Das Programm besteht aus Fortbildungen für Erzieher/innen und Schulungen für ehrenamtliche mehrsprachige Elternbegleiter/innen, die v. a. Kenntnisse über die kulturelle Prägung und Wissen über unterschiedliche Kulturen vermitteln. Sprachzentrierte Weiterbildungsangebote zur Unterstützung von Kindern in Übergangsphasen bietet das Projekt »Dreiklang« der Stiftung Zuhören. »Dreiklang« basiert auf dem Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder bis 10 Jahren, der Bildung von Anfang an ins Zentrum stellt (Hessisches Sozialministerium / Hessisches Kultusministerium 2012) und mit Modellprojekten wie der »Qualifizierten Schulvorbereitung« systematisch fördert. »Dreiklang: Zuhören – Sprechen – (Vor) Lesen« versetzt Fach- und Lehrkräfte in die Lage, Kindern Freude am Zuhören, Lesen und Sprechen zu vermitteln und spielerisch zu stärken. Das Projekt nimmt v. a. Kinder im Übergang von der Kindertagesstätte zur Grundschulzeit in den Blick und wird deshalb von Tandems aus Erzieher/innen und Grundschullehrkräften durchgeführt. Modellhaft für eine Verzahnung von Sprachbildung und Leseförderung mit früher naturwissenschaftlicher Bildung ist ein Fortbildungsangebot, das die Forscherstation Klaus-Tschira-Kompetenzzentrum für frühe naturwissenschaftliche
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Bildung gemeinsam mit der Stiftung Lesen erarbeitet hat. Die Reihe »Auf Entdeckerreise zum Geschichtenschatz« versetzt Erzieher/innen in die Lage, sich phantasievoll mit Phänomenen des Alltags auseinanderzusetzen und dazu verschiedene Kommunikationsmöglichkeiten zu erproben. Sie lernen, wie sie Geschichten einbeziehen und die Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Phänomenen mit Sprach- und Leseförderung verzahnen können (vgl. Welzel-Breuer u. a. 2015). Auch die Stiftung Haus der kleinen Forscher richtet im Rahmen früher naturwissenschaftlicher Bildung in Kindertageseinrichtungen das Augenmerk auf die sprachliche Entwicklung der Kinder. Bereits zum zweiten Mal veranstaltete die Stiftung im Frühjahr 2015 ein interdisziplinäres Expertenforum zu diesem Thema. Mit den Universitäten Koblenz-Landau, Augsburg und Heidelberg realisiert sie das Forschungsprojekt »EASI Science-L«, das die Gestaltung von Lehr- und Lernsituationen, die Qualität sprachlicher Anregung zu naturwissenschaftlicher Beschäftigung sowie den Zusammenhang zwischen sprachlichen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten von Kindern untersucht.
4.2.2 Kooperationen Bei vielen Angeboten kooperieren Kindertagesstätten mit anderen Akteuren, allen voran Bibliotheken, oft auch mit Schulen und Buchhandlungen, gelegentlich mit Jugendeinrichtungen, Vereinen, Stiftungen usw. (vgl. Ehmig / Reuter 2011). Über die Zusammenarbeit mit Bibliotheken erhalten viele Kinder erstmals Zugang zu diesen Orten und erleben die Vielfalt ihrer Angebote. Ausflüge in Bibliotheken, die Führungen mit kreativen und spielerischen Elementen anbieten, wecken Neugierde und begeistern für das Lesen. Beispielhafte Anreize setzt seit 2006 die Aktion »Ich bin Bib(liotheks)fit – der Bibliotheksführerschein für Kindergartenkinder«. Der Borromäusverein stellt den Bibliotheksteams und Verantwortlichen in den Kindertagesstätten Materialien und ein Planungskonzept für gemeinsame Bibliotheksbesuche zur Ver fügung. Zum Abschluss erhalten die Kinder ihren ›Bibliotheksführerschein‹. Innerhalb der Kindertageseinrichtungen kann die tägliche Praxis der Sprachund Leseförderung durch Impulse angeregt werden, die Ideen geben und Anreize schaffen, mit den Kindern kreativ zu arbeiten. Ein Beispiel hierfür ist der Wettbewerb »Leseabenteuer mit der Vorleseschlange«. Das Format wurde im Rahmen der Initiative »Lesespaß in Gütersloh« entwickelt, die die Bertelsmann SE & Co. KGaA seit 2010 gemeinsam mit der Stiftung Lesen und dem Goethe-Institut umsetzt. Der Wettbewerb um die längste Vorleseschlange an einem Ort oder in einer Stadt verbindet spielerisch Spaß und Kreativität mit Sprachförderung: Erzieher/innen und Ehrenamtliche lesen den Kindern vor, die die Geschichten mit selbst gemalten Bildern kreativ umsetzen. Die Bilder werden an einem Aktionstag an einer Leine quer durch die Kindertagesstätte aufgehängt und bilden so eine ›Vorleseschlange‹. Die Einrichtung mit der längsten Vorleseschlange gewinnt.
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4.2.3 Ausstattung Eine Voraussetzung dafür, dass Kinder für das Lesen interessiert und für Geschichten begeistert werden können, sind attraktive Lesemedien und Inhalte in den Einrichtungen. Eine Möglichkeit zur Unterstützung der Kindertagesstätten bildet die Bereitstellung von Materialien und die Ausstattung mit Büchern, z. B. im Rahmen der Initiative »Alle Kinder dieser Welt« der Stiftung Lesen und der Deutsche Bahn Stiftung in Kooperation mit dem Carlsen Verlag. Das Projekt verbindet Sprach- und Leseförderung mit der Förderung interkultureller Kompetenz. Die Einrichtungen erhalten einen Vorlesekoffer, der eine eigens entwickelte Sonderedition mit interkulturellen Geschichten enthält. Der Ansatz will Kindern mit und ohne Migrationshintergrund bereits im frühkindlichen Alter die Kultur und den Lebensalltag ihrer Freunde näherbringen. Zu jedem Koffer gehören Praxistipps für Erzieher/innen. Neben gedruckten Büchern und Materialien kann auch der Umgang mit digitalen Medien sprachliche Fähigkeiten vermitteln und fördern. Dies ist z. B. mit der Nutzung von Vorlese-Apps mittels Tablet-Computern möglich oder durch geeignete altersgerechte Spiel- und Lernsoftware. Ein Beispiel ist die »Schlaumäuse«-Lernsoftware zur Unterstützung der Sprachentwicklung für Kinder im Alter von fünf bis sieben Jahren. Die Initiative »Schlaumäuse – Kinder entdecken Sprache« wurde 2003 von der Microsoft Deutschland GmbH gegründet, um Kindertagesstätten bei der Förderung der Sprachkompetenz von Vorschulkindern zu unterstützen. Die Software wird Kindertagesstätten kostenfrei zur Verfügung gestellt. Sie zielt auf frühe Kompetenzen im Umgang mit Medien und will durch das gemeinsame Spielen auch das soziale Verhalten stärken. Die »Schlaumäuse« sind für den Einsatz in Kindertagesstätten und in der Grundschule gedacht, die Kinder können sie darüber hinaus zu Hause nutzen. Ein Auswertungsmodus ermöglicht den begleitenden Erwachsenen einen Überblick über Spielzeiten, Spielerfolge und Lernfortschritte der Kinder.
4.3 Außerunterrichtliche Leseförderung im Umfeld Schule Das Umfeld Schule kann in der außerunterrichtlichen Leseförderung unterschiedliche Rollen einnehmen. Viele Schulen setzen selbst außerunterrichtliche lesefördernde Impulse, u. a. über das Bücher- und Medienangebot der Schulbiblio- bzw. -mediotheken oder durch eigeninitiierte Aktionen wie Lesenächte, Autorenlesungen, Bücherflohmärkte usw. Dabei werden Schulen auch von außerschulischen Akteuren unterstützt, z. B. vermittelt der Friedrich-Bödecker-Kreis e. V. Autoren für Lesungen an Schulen.
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4.3.1 Schule als außerschulischer Lernort Schulen bieten Orte, an denen mit außerunterrichtlichen Angeboten besonders leseferne Kinder und Jugendliche gut erreicht werden, die zu anderen Anbietern nicht freiwillig kommen würden. Dies macht sich das Konzept der »Leseclubs« zunutze: In freizeitorientierter Atmosphäre treffen sich Kinder und Jugendliche regelmäßig, um zu lesen, zu spielen und mit Medien kreativ zu sein. »Leseclubs« bieten Lernumgebungen mit einem breiten Medienangebot, das Lesemotivation wecken soll. Die pädagogisch geschulten Betreuer sind häufig Ehrenamtliche, z. T. auch engagierte Lehrkräfte. Die Stiftung Lesen richtet bis 2016 im Rahmen des Förderprogramms »Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung« bundesweit 230 neue Leseclubs ein, die v. a. bildungsbenachteiligte 6–12-Jährige ansprechen. Lokale Bündnispartner sind neben Schulen mit Ganztagsangeboten Jugendzentren, Mehrgenerationenhäuser, Bibliotheken, regionale Leseförderungsinitiativen und Freiwilligenagenturen.
4.3.2 Verbindung von Unterricht und Lebenswelt Eine Reihe von Angeboten für Schulen verbinden Anregungen für den Unterricht mit der Förderung lesebezogener Aktivitäten in der Freizeit. Dazu gehören beispielsweise Impulse zur Filmbildung, die den außerschulischen Kinobesuch mit schulischer Leseförderung bei der Vor-und Nachbereitung des Films im Unterricht, u. U. mit Einbezug der literarischen Vorlage, verbindet. Dazu gehören auch Projekte mit niederschwelligen (Lese-)Medien wie »Zeitschriften in die Schulen«, das die Stiftung Lesen mit dem Bundesverband Deutscher Buch-, Zeitungs- und Zeitschriften-Grossisten e. V. sowie dem Verband deutscher Zeitschriftenverleger realisiert. Einen Monat lang erhalten dritte und vierte sowie fünfte bis achte Klassen altersgerechte Zeitschriftenpakete. Den Lehrkräften stehen methodisch-didaktische Unterrichtsmaterialien zur Verfügung. Die Zeitschriften können in den Unterricht eingebunden, aber auch in Pausen, Freistunden und zu Hause genutzt werden. Zeitschriften bieten lesefernen Kindern und Jugendlichen über ein breites Themenspektrum Zugänge und setzen positive Impulse für ihre Lesemotivation (vgl. Maas u. a. 2011). Niederschwellige Leseanreize setzen auch digitale und webbasierte Angebote für Schüler/innen. Ein Beispiel hierfür ist »Clixmix«, ein kosten- und werbefreies Onlineportal für Kinder im Grundschulalter, das einen spielerischen Einstieg in das Internet bietet. Die gemeinsame Initiative der Deutschen Post und der Stiftung Lesen bringt Kinder über die Beschäftigung mit verschiedenen Themen mit unterschiedlichen Medientypen in Kontakt und fördert ihren aktiven, kreativen und kritischen Umgang mit Informationen. Die Grundschullehrkräfte erhalten fächerübergreifende Unterrichtsideen und Leseempfehlungen. Verschiedene Verlage machen Angebote, die unterrichtsbegleitend oder ergänzend Impulse setzen und eine Brücke zwischen dem schulischen Lesen(-lernen) und
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den außerschulischen Leseinteressen der Kinder schlagen. Dazu gehört z. B. Oetinger mit dem Programm »Onilo«, animierten Kinderbüchern, die für den Unterricht am Whiteboard aufbereitet und für Grundschul-Lehrkräfte mit kostenfreiem Unterrichtsmaterial ergänzt werden. Das Online-Portal »Antolin« spricht Schüler/innen der Klassenstufen 1 bis 10 an. Fragen zu den Büchern, die die Kinder und Jugendlichen online beantworten, sollen sie zum eigenständigen, kontinuierlichen Lesen animieren und ihr Textverständnis befördern. »Antolin« will ein intrinsisches Interesse für Literatur und Freude am Lesen wecken. Das Portal bietet Lehrkräften Zugang zu den Leseleistungen der Schüler/innen, um den Unterricht auf die Lesegewohnheiten, -interessen und -leistungen gezielt abzustimmen. Mit Schulen verzahnt sind freizeitorientierte Leseaktionen von Bibliotheken, die als Sommer- oder Ferienleseclubs Schüler/innen verschiedener Altersstufen ansprechen. Die Angebote sind meist regional oder lokal organisiert. Die Kinder und Jugendlichen melden sich in den Bibliotheken an und lesen während der Sommerferien eine Mindestanzahl von Büchern, die die Bibliotheken vorschlagen. Die Schüler/ innen schreiben Rezensionen, geben Bewertungen ab oder beantworten Fragen zu den Büchern. Zum Abschluss erhalten sie ein Zertifikat. In manchen Fällen wird die Teilnahme als Bonus für die Deutschnote angerechnet. Ein Beispiel ist der »JuliusClub«, den die Büchereizentrale Niedersachsen mit der VGH-Stiftung anbietet. Etwa 50 Bibliotheken begleiten die Leseaktivitäten der 11–14-jährigen Club-Mitglieder mit Aktionen und Aktivitäten.
4.3.3 Förderung Lesebegeisterter Zur Förderung besonders interessierter Kinder und Jugendlicher setzen Schulen Anreize, um sie zum Engagement für andere zu motivieren. So lesen Grundschüler/innen beispielsweise Kindern in Kindertagesstätten vor. Die Idee der »Book Buddies« stammt aus Kanada, wo Kindergarten- und Grundschulkinder bis zur achten Klasse in gemeinsamen Einrichtungen unterrichtet werden. Die Stiftung Lesen bildet Schüler/innen weiterführender Schulen zu ›Lesescouts‹ aus, die ihre Begeisterung für das Lesen durch Vorlesen, kreative Angebote und Aktionen weitergeben. Das Projekt nutzt den Peergroup-Effekt, der Gleichaltrigen Überzeugungskraft unter Kindern und Jugendlichen verleiht. Zu individuellem Engagement motivieren Ansätze auch Jugendliche, Senioren vorzulesen und sich mit ihnen austauschen. Modellhaft unterstützt z. B. die Lotto-Stiftung Berlin die Initiative »Lesen verbindet – Dialog der Generationen in Berlin«, die die Stiftung Lesen im Schuljahr 2014/15 mit Schulen umsetzt. Lesebegeisterte Schüler/innen der Klassenstufe 6 aller Schulformen spricht seit 1959 jährlich der Vorlesewettbewerb an, den der Börsenverein des Deutschen Buchhandels in Zusammenarbeit mit Buchhandlungen, Bibliotheken, Schulen und kulturellen Einrichtungen veranstaltet. Die Schulen sind dabei ein zentraler Akteur, da
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der Wettbewerb zunächst über Klassenentscheide Schulsieger ermittelt, die dann auf Kreis- / Stadt-, Bezirks- und Landesebene bis zum Bundesentscheid gelangen können.
4.4 Außerschulische Leseförderung durch non-formale und informelle Bildungsakteure Kinder, Jugendliche und Erwachsene erhalten außerhalb der formalen Bildungsinstitutionen durch eine Vielzahl von Akteuren Impulse für das Lesen. Als non-formale Bildungsakteure spielen v. a. Bibliotheken und Jugendeinrichtungen eine zentrale Rolle. Zu den informellen Bildungsakteuren gehören Verlage und Buchhandlungen sowie Stiftungen, Verbände, Vereine und freie Initiativen. Die Akteure kooperieren häufig und arbeiten mit Schulen und Kindertagesstätten zusammen. Dazu wurden bereits Beispiele genannt. Einige charakteristische und spezifische Ansätze werden im Folgenden ergänzt.
4.4.1 Bibliotheken Der Deutsche Bibliotheksverband beschreibt Bibliotheken als »die am stärksten genutzten Kultur- und Bildungseinrichtungen in Deutschland. Sie sind zukunfts gerichtete Orte des freien Zugangs zu Informationen und Wissen.« (www.bibliotheksverband.de) Die Deutsche Bibliotheksstatistik weist für 2013 eine Gesamtzahl von 10.180 Bibliotheken in Deutschland aus, die jährlich 345.400 Veranstaltungen durchführen. An jedem Werktag verzeichnen alle Bibliotheken zusammen etwa 700.000 Besuche, das entspricht 210 Millionen jährlich. Die Bibliotheken stellen insgesamt 369 Millionen Medien bereit, die 467 Millionen Mal pro Jahr entliehen werden. Die Zahlen verweisen auf die Potenziale öffentlicher Bibliotheken, mit ihrem breiten Medienangebot alle Alters- und Bildungsgruppen sowie soziale Schichten anzusprechen. Eine repräsentative Befragung zu Gründen der Nichtnutzung von Bibliotheken vom Herbst 2011 zeigte, dass 71 % der Bevölkerung zwischen 14 und 75 Jahren nicht zu den aktiven Nutzern gezählt werden können (vgl. Deutscher Bibliotheksverband / Stiftung Lesen 2012). Dies belegt die Notwendigkeit, Bibliotheken als kompetente Akteure der Leseförderung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen. Eine bundesweite Befragung von 1776 öffentlichen Bibliotheken im Herbst 2009 zeigte das Spektrum von Angeboten, das Bibliotheken zur Sprach- und Leseförderung von Kindern und Jugendlichen machen. An erster Stelle stehen Führungen für Schulklassen und Kita-Gruppen sowie Vorleseangebote. Häufig nannten die Bibliotheken auch Medienausstellungen, Kinder- und Jugendbuchmessen, Autorenlesungen, Spiele und Wettbewerbe oder Kreativangebote. In fast jeder zweiten Bibliothek werden die Angebote zur Leseförderung (auch) von Ehrenamtlichen durchgeführt.
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Nur in jeder dritten bis vierten Bibliothek sind Hauptamtliche die ausschließlich Aktiven (vgl. Ehmig / Reuter 2011, S. 29, 32, 45). Die Befunde belegen die zentrale Bedeutung von Ehrenamtlichen in der außerschulischen Leseförderung, die nicht auf Tätigkeiten in Bibliotheken begrenzt ist. Allein das »Netzwerk Vorlesen«, das die Stiftung Lesen koordiniert, verzeichnete im Frühjahr 2015 bundesweit mehr als 600 Vorlese-Initiativen mit perspektivisch mehr als 150.000 Engagierten. Nicht alle Vorlese-Initiativen sind im Netzwerk vertreten und viele Ehrenamtliche engagieren sich noch auf andere Weise für das Lesen. Man wird davon ausgehen können, dass ein großer Teil der außerschulischen Angebote in Deutschland ohne ehrenamtliches Engagement nicht umgesetzt werden könnte (vgl. Stiftung Lesen 2014c). Kooperationen von Bibliotheken mit Kindertagesstätten und Schulen wurden bereits erwähnt, ebenso die partnerschaftliche Mitarbeit von mehr als 5000 Bibliotheken im Rahmen der Initiative »Lesestart. Drei Meilensteine für das Lesen«. Der Deutsche Bibliotheksverband ist darüber hinaus selbst Initiator von Netzwerken: Das Projekt »Lesen macht stark: Lesen und digitale Medien« richtet sich an Kinder und Jugendliche von drei bis 18 Jahren, denen der Zugang zum Lesen und zu Medien erschwert ist. Der Ansatz greift die Interessen der Zielgruppe im digitalen Bereich auf und realisiert Projekte, u. a. zu E-Books, Social Reading, Fotostories oder digitalem Kinderbuchkino. Bibliotheken und Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit sowie der kulturellen Bildung initiieren »Bündnisse für Bildung«, die die Aktionen durchführen. Unterstützt werden sie von Ehrenamtlichen, die bundesweit durch die Stiftung Digitale Chancen qualifiziert werden. Viele Angebote initiieren Bibliotheken losgelöst von formalen Bildungsinstitutionen und öffentlich geförderten Programmen in ihrem eigenen Aktionsradius. Häufig arbeiten sie anlassbezogen, z. B. mit thematischen Buchausstellungen oder den genannten Ferienangeboten. Dabei können Bibliotheken für einzelne Bevölkerungsund Sprachgruppen identitätsstiftend und -fördernd sein, etwa in Gebieten, in denen sich Sprachgruppen in der Minderheit oder in Konkurrenz zu anderen befinden. Ein Beispiel sind deutschsprachige Autorenlesungen und Aktionen der Bibliothek Süd tirol, die die Abteilung Deutsche Kultur der Autonomen Provinz Bozen Südtirol finanziert.
4.4.2 Verlage und Buchhandel Leseförderung ist im Selbstverständnis und der Selbstdarstellung von Verlagen und Buchhandel ein zentrales Anliegen. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat 2006 eine AG Leseförderung im Sortimenter-Ausschuss begründet: Der Buchhandel definiert sich als Akteur der Leseförderung, der mit seinem Sortiment ein geeignetes Angebot bereitstelle und durch Fachkompetenz aktuelles Wissen zum Thema vermittele. Das Angebot der Verlage wird einer breiten Öffentlichkeit mit den großen
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Buchmessen (in Deutschland Frankfurt und Leipzig), über Autorenlesungen, Buchvorstellungen, Bestsellerlisten oder themenspezifische Sortimente in Buchhandlungen, z. B. zu Weihnachten, zur Fußball-WM o. ä., vermittelt. Eine gezielte Aufmerksamkeit für Titel generieren Preise. Ein prominentes Beispiel ist der Deutsche Buchpreis, der jährlich vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels vergeben wird. Der Arbeitskreis für Jugendliteratur e. V. richtet seit 1956 den Deutschen Jugendliteraturpreis aus, den das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend stiftet und verleiht. In Österreich vergibt das Bundesministerium für Kunst und Kultur, Verfassung und öffentlichen Dienst den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis. Die Deutsche Bischofskonferenz ist Träger des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises. Aufmerksamkeit für das Lesen ist auch ein Ziel von Öffentlichkeitskampagnen der Buchbranche. Im Frühjahr 2013 starteten Buchhandel, Zwischenbuchhandel und Verlage die Kampagne »Vorsicht Buch!« Mit Plakaten, Auftritten und Statements von Prominenten, Mitmachaktionen usw. wirbt die Kampagne für die Lust am Lesen und den stationären Buchhandel. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels koordiniert die Kampagne.
4.4.3 Jugendeinrichtungen Jugendeinrichtungen wie Jugendzentren, Jugendhäuser oder Jugendclubs sind ein wichtiger Partner in der konkreten außerschulischen Leseförderung. Dort wird, v. a. mit niedrigschwelligen Medien wie Websites, Zeitungen, Zeitschriften, Comics usw., mehr gelesen, als es auf den ersten Blick und im Selbstverständnis der Einrichtungen scheint. Formlose Medienangebote werden um angeleitete und betreute Aktionen, z. B. mit digitalen Medien, ergänzt, die bei der Lebenswelt der Jugendlichen ansetzen. Ein Beispiel hierfür ist die »Spieletester AG«, die der Fachbereich Jugend und Bildung der Stadt Gütersloh im Rahmen der bereits genannten Initiative »Lesespaß in Gütersloh« anbietet. Sie lädt Kinder im Grundschulalter dazu ein, sich aktiv mit Konsolenspielen auseinanderzusetzen und sie zu bewerten. Ein Bewertungskriterium ist die Frage, wieviel beim Spielen gelesen werden muss. Anknüpfungspunkte für interaktive Angebote in Jugendeinrichtungen bieten Fanfiction und Interactive-Fiction-Geschichten. Auch partizipative, unmittelbar lesebezogene Aktionen wie Lesezirkel haben dort ihren Platz, werden aber eher von Leseaffinen und höher Gebildeten angenommen. Um auch die weniger Lesebegeisterten zu mobilisieren, werden Angebote von den Jugendlichen selbst erdacht oder mitorganisiert. So gestalten Kinder und Jugendliche Räume, in die sie Leseecken integrieren. Sie organisieren Schreibwerkstätten, Poetry-Slams und Book-Slam-Events oder Theater-AGs. Lesen wird spielerisch beim (Computer-) Spielen oder praxisbezogen beim Kochen und in Verbindung mit Medienprojekten gefördert.
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4.4.4 Gesellschaftliche Akteure und Öffentlichkeit Eine Vielzahl von Non-Profit-Organisationen wie Stiftungen, Verbände, Vereine, freie Initiativen und informelle Gruppierungen sind in der außerschulischen Leseförderung aktiv oder fördern Aktivitäten finanziell und ideell. Analog zur Stiftung Lesen oder Initiativen, die sich in Deutschland u. a. im Bundesverband Leseförderung organisieren, gibt es im internationalen Raum überall vergleichbare Akteure. Dazu zählen z. B. der britische Book Trust, die Stichting Lezen in flämischen Teil Belgiens, die Stichting Lezen & Schrijven in den Niederlanden, das Leseforum Südtirol, der Buchklub der Jugend Österreich usw. Viele Organisationen sind in Netzwerken wie EURead, ELINET (vgl. Abschnitt 2.4) oder der International Literacy Association verbunden. Neben den nationalen sind regionale und lokale Initiativen aktiv. Sie setzen überwiegend selbst Programme und Projekte um. Häufig fördern Stiftungen, Verbände und gesellschaftliche Akteure, zu denen auch Unternehmen im Rahmen ihres Corporate Social Responsibility-Engagements gehören, Initiativen finanziell. Ein Beispiel für Projekte in Kooperation mit Vereinen sind Initiativen, die Lesen mit Bewegung und Sport verbinden. Das Karateteam Reutlingen e. V. stellt mit »Drachenstark« eine Verknüpfung zwischen Karate, Lesen und Kreativität her. Mindestens drei Akteure bundesweit bringen Leseförderung in einen Zusammenhang mit dem Thema Fußball: die Baden-Württemberg-Stiftung mit dem Projekt »Kicken & Lesen«, die LitCam mit »Fußball trifft Kultur« und Stiftung Lesen, Bundesliga Kids-Clubs und DFL Deutsche Fußball Liga mit »Kids-Clubs – grenzenlos aktiv: fußballstark und lesefit«. Die Initiativen sprechen v. a. Jungen an, die mit Fördermaßnahmen, Aktionen oder Leseempfehlungen zum Thema Fußball zum Lesen motiviert werden sollen. Ansätzen mit stark freizeitorientiertem Fokus auf Lesemotivation stehen Initiativen gegenüber, die im klassischen Sinne Lesekompetenz fördern, indem sie Kinder und Jugendliche individuell oder in Kleingruppen betreuen. Dazu zählen private Nachhilfe ebenso wie organisierte Angebote. Die Rollen, die meist Ehrenamtliche in diesem Bereich wahrnehmen, sind mit den Begriffen ›Leselernhelfer‹ bzw. ›Mentoren‹ beschrieben. Ein zentraler Akteur ist Mentor – die Leselernhelfer e. V. Unter dem Dach eines Bundesverbands organisieren sich regional Leseinitiativen, die sich der individuellen Förderung von Kindern und Jugendlichen im Bereich Lese- und Sprachkompetenz verschrieben haben. Auf Lesekompetenz und Lesemotivation gleichermaßen zahlen Leseempfehlungen für unterschiedliche Zielgruppen ein, die Eltern, Erzieher/innen, Lehrkräfte und andere Multiplikatoren unterstützen. Ein Beispiel für Empfehlungen von Lesestoff für Jungen ist »boys & books«. Die webbasierte Plattform der Universität zu Köln spricht Literaturvermittler und Leseförderer in Schulen, Bibliotheken und Medien, im Buchhandel sowie Eltern an. Die empfohlenen Titel berücksichtigen Jungen ab dem Grundschulalter. Mit dem »Leipziger Lesekompass« wollen Stiftung Lesen und Leipziger Buchmesse Orientierung über herausragende Bücher und Medien geben, mit denen Kinder und Jugendliche erreicht werden können. Jährlich empfiehlt eine Fachjury aus
3.2.3 Außerschulische Leseförderung
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Schule, Kindertagesstätte, Bibliothek, Fachpresse, Buchhandel, Social Media und jugendlichen Lesescouts je sechs Titel für 2–6-Jährige, 6–10-Jährige und 10–14-Jährige. Er berücksichtigt aktuelle Trends und besondere Zielgruppen wie Jungen. Der »Leipziger Lesekompass« richtet sich an Eltern, Erzieher/innen und Lehrkräfte. Zu den Initiativen, die besonders aktive, lesebegeisterte oder talentierte Personen ansprechen, gehören Wettbewerbe wie der schon erwähnte Vorlesewettbewerb. Beispielhaft für ein Angebot, das Lesen und Schreiben verbindet, ist der jährliche Schreibwettbewerb, den die Eckenroth-Stiftung als »Nachwuchspreis Grüner Lorbeer. Autorennachwuchs entdecken – fördern – bilden« für 10–14-jährige Jugendliche ausschreibt. Der Preis spricht die Zielgruppe unabhängig vom schulischen Kontext an. Zur Motivation Lesebegeisterter gehört es darüber hinaus, Kinder und Jugendliche in Jurys für Preise und Auszeichnungen einzubinden. Ein Beispiel ist der Jugendbuchpreis »Goldene Leslie«, der jährlich ein in deutscher Sprache verfasstes belletristisches Jugendbuch auszeichnet, das im Jahr zuvor zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Die Jury besteht aus Jugendlichen. Der Preis wurde im Rahmen der Kampagne »Leselust« in Rheinland-Pfalz etabliert. Wettbewerbe und Preise zielen nicht nur auf die Mitwirkenden, sondern generieren öffentliche Aufmerksamkeit. Leseförderung bedarf einer breiten Sensibilisierung der Bevölkerung sowie gesellschaftlich und politisch relevanter Akteure. Um Aufmerksamkeit zu wecken, Probleme im Bereich der Lesekompetenz in das öffentliche Bewusstsein zu bringen und eine breite Zustimmung zur Notwendigkeit von Maßnahmen zu schaffen, sind vielfältige Anstrengungen notwendig. Viele Akteure gewinnen deshalb für ihre Arbeit in der Leseförderung hochrangige Schirmherren oder prominente Botschafter. So ist der jeweilige Bundespräsident Schirmherr der Stiftung Lesen, prominente Sportler oder Schauspieler sind ihre Lesebotschafter. Schirmherren des Bundesverbands Leseförderung sind die prominenten Kinderbuchautoren Kirsten Boie und Paul Maar. Auf öffentliches Interesse und Aufmerksamkeit zielen Kampagnen und Events, die die breite Bevölkerung ansprechen und Medienresonanz erzeugen. Anlässe können lokal bzw. regional, überregional und international sein. Events mit lokaler Reichweite sind Lesefestivals wie der »Berliner Büchermarathon«, den der Börsenverein des Deutschen Buchhandels mit Buchhandlungen, Verlagen und Bibliotheken ausrichtet. Eine Aktion mit überregionaler Reichweite ist seit 2004 der Bundesweite Vorlesetag, den DIE ZEIT, Stiftung Lesen und Deutsche Bahn-Stiftung jährlich initiieren. Vorleseaktionen prominenter und ehrenamtlich engagierter Personen werben bundesweit für die Bedeutung des Vorlesens. 2014 haben 80.000 Personen vorgelesen, darunter 1300 Politiker/innen und 120 Prominente. Im Vorfeld wird seit 2007 jährlich eine wissenschaftliche Studie zum Vorlesen veröffentlicht. Die Vorlesestudien der Stiftung Lesen stehen exemplarisch für Lese- und Medienforschung, die Grundlagen für Ausrichtung und Ausgestaltung außerschulischer Leseförderung schafft. Internationale Reichweite besitzen der »UNESCO Welttag des Buches« am 23. April und der Weltalphabetisierungstag am 8. September jeden Jahres, die in vielen Ländern mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen begangen werden. Seit 1996
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wird der »Welttag des Buches« in Deutschland gefeiert. Über eine Gutschein-Aktion erhalten jährlich mehr als 750.000 Schüler/innen das Welttagsbuch Ich schenk dir eine Geschichte. Die Aktion tragen der Börsenverein des deutschen Buchhandels, Stiftung Lesen, Deutsche Post, ZDF, die Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen e. V. und der Verlag cbj gemeinschaftlich. 2012 und 2014 wurden mit der BuchschenkAktion »Lesefreunde« viele Tausend Erwachsene eingebunden. Gesellschaftliches Engagement für Lesekompetenz, Lesemotivation und Lesefreude erfährt in unterschiedlichem Rahmen Anerkennung und öffentliche Würdigung. Mit dem »Deutschen Lesepreis«, den die Commerzbank-Stiftung und die Stiftung Lesen 2013 ins Leben gerufen haben, werden Maßnahmen ausgezeichnet, die ein herausragendes individuelles Engagement, ein herausragendes kommunales Engagement oder besonders ungewöhnliche und innovative Ideen beinhalten. Der Preis würdigt darüber hinaus wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Lesen und besonders gut lesbare populärwissenschaftliche Darstellungen. In ähnlicher Weise erfahren Initiativen und Maßnahmen Anerkennung, wenn Ehrenamtliche mit thematisch breiter definierten Preisen ausgezeichnet werden. Ein Beispiel hierfür ist der »Deutsche Engagementpreis«.
4.4.5 Leseförderung nach der Schulzeit: Zielgruppe Erwachsene Die Notwendigkeit zur Leseförderung endet nicht mit der Schulzeit. Dies belegen die eingangs referierten Befunde zur Lesekompetenz Erwachsener. Initiativen und Aktivitäten auf internationaler und nationaler Ebene spiegeln die Bedeutung und Reichweite der Problematik sowie die Dringlichkeit ihrer Lösung. Dazu gehörte die Ausrufung der UN-Weltdekade der Alphabetisierung für die Jahre 2003–2012 unter Federführung der UNESCO. Festgeschrieben wurde dieses Ziel auf dem Weltbildungsforum von Dakar im Jahr 2000. Unter dem Programmtitel »Education for All« hatten sich 164 Länder verpflichtet, bis zum Jahr 2015 sechs Bildungsziele zu erreichen, darunter die Reduzierung der Analphabetenrate. Zur Umsetzung der Weltdekade in Deutschland hatten die Deutsche UNESCO-Kommission und der Bundesverband Alphabetisierung ein Bündnis für Alphabetisierung und Grundbildung initiiert. Ihm gehörten neben den Initiatoren das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung, der Deutsche Volkshochschul-Verband, die Ernst Klett Sprachen GmbH, die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, das UNESCO-Institut für Lebenslanges Lernen sowie die Stiftung Lesen an. Das Bündnis ist inzwischen Teil der Nationalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener, die im Februar 2011 in Reaktion auf die »leo. ‒ LevelOne-Studie« ins Leben gerufen wurde (vgl. ausführlicher Ehmig u. a. 2015). Konkrete Maßnahmen zur Förderung von Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland sprechen die Betroffenen selbst an – mit Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen, dem »Alfa-Telefon« oder den Plattformen www.ichance.de
3.2.3 Außerschulische Leseförderung
593
und www.ich-will-lernen.de. Die Kurse der Volkshochschulen und anderer Träger verzeichnen bundesweit jährlich rund 25.000 Besucher/innen, reichen aber nicht annähernd aus, um die 2011 auf Grundlage der »leo. ‒ Level-One Studie« hochgerechneten 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland zum Lesen und Schreiben zu befähigen, vor allem aber zu motivieren. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat sich der Herausforderung u. a. in zwei großen Förderschwerpunkten angenommen. Der erste Schwerpunkt konzentrierte sich 2007 bis 2012 auf Forschung und Entwicklung. Der zweite Schwerpunkt reagierte seit 2012 unmittelbar auf die »leo. ‒ Level-One Studie« mit einer Vielzahl von Maßnahmen zur arbeitsplatzorientierten Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener – ergänzt durch die bundesweite Öffentlichkeitskampagne »Mein Schlüssel zur Welt«. Entsprechend dem Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD zur 18. Legislaturperiode ist eine Nationale Dekade der Alphabetisierung und Grundbildung Teil der Ziele, die sich die Bundesregierung gesetzt hat. Neben der Grundbildung und Alphabetisierung Erwachsener besteht die Notwendigkeit, in einer alternden Gesellschaft bei jenen, die ausreichende Lesekompetenzen erworben haben, im Lebensverlauf Bezüge zum Lesen zu erhalten und den intergenerativen Austausch zu fördern. Dies geschieht beispielhaft mit Initiativen, die Jugendliche zum Vorlesen für Senioren gewinnen, denen aufgrund von Demenz erkrankungen oder physischen Problemen beim Sehen das eigene Lesen schwerfällt oder unmöglich geworden ist. Umgekehrt werden Senioren nach ihrem Eintritt in den Ruhestand ehrenamtlich aktiv bei Nachhilfeangeboten für leseschwache Schüler/ innen oder indem sie kleinen Kindern in Bibliotheken, Kindertagesstätten, Krankenhäusern und anderen Einrichtungen vorlesen. Lesezirkel, Literaturveranstaltungen, Angebote von Literaturhäusern und anderen Einrichtungen tragen dazu bei, dass interessierte Leser/innen ihre Lesebegeisterung mit anderen teilen und ausleben können. Alle Maßnahmen tragen dazu bei, dass das Lesen auch in der Zielgruppe der Erwachsenen Bestandteil ihrer Lebenswelten bleibt und als Grundlage für ihre individuelle Entfaltung und eine lebenslange Teilhabe an gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen präsent ist.
5 Literatur Allmendinger, Jutta / Giesecke, Johannes / Oberschachtsiek, Dirk: Folgekosten unzureichender Bildung für die öffentlichen Haushalte. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Warum Sparen in der Bildung teuer ist. Folgekosten unzureichender Bildung für die Gesellschaft. Gütersloh 2012, S. 39–72. Artelt, Cordula / McElvany, Nele / Christmann, Ursula / Richter, Tobias / Groeben, Norbert / Köster, Juliane / Schneider, Wolfgang / Stanat, Petra / Ostermeier, Christian / Schiefele, Ulrich / Valtin, Renate / Ring, Klaus: Förderung von Lesekompetenz. Expertise. Bonn 2007 (Bildungsforschung. 17).
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Simone C. Ehmig
Autorengruppe Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland 2008. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I. Bielefeld 2008. URL: http://www.bildungsbericht.de/daten2008/bb_2008.pdf [eingesehen am 16.02.2015]. Autorengruppe Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland 2014. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur Bildung von Menschen mit Behinderungen. Bielefeld 2014. URL: http://www.bildungsbericht.de/daten2014/bb_2014.pdf [eingesehen am 07.03.2015]. Book Trust: Bookstart 2009/10. A social return on investment (SROI) analysis. London 2010. URL: http://fileserver.booktrust.org.uk/usr/resources/543/social-return-on-investment-june2010. pdf [eingesehen am 08.03.2015]. Borgonovi, Francesco / Montt, Guillermo: Parental Involvement in Selected PISA Countries and Economies. OECD Education Working Papers, No. 73, OECD Publishing. URL: http://dx.doi.org/10.1787/5k990rk0jsjj-en [eingesehen am 08.03.2015]. [Borgonovi / Montt 2012] Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Berufsbildungsbericht 2015. Berechnung des Bundesinstituts für Berufsbildung auf Basis der Daten der statistischen Bundes-und Landesämter 2014. Berlin 2014. URL: http://www.bmbf.de/pub/bbb_2014.pdf [eingesehen am 11.02.2015]. BLK Bund-Länder-Kommission (Hrsg.): Lesen in Deutschland (LiD). Aktionsrahmen zur Förderung der Lesekultur von Kindern und Jugendlichen im außerschulischen Bereich (Beschluss der BLK vom 17. November 2003). Bonn 2003. URL: http://www.lesen-in-deutschland.de/files/download/ BLK-Aktionsrahmen.pdf [eingesehen am 23.02.2015]. Bos, Wilfried / Tarelli, Irmela / Bremerich-Vos, Albert / Schwippert, Knut. (Hrsg.): IGLU 2011. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster u. a. 2012. URL: http://www.waxmann.com/?eID=texte&pdf=2828Volltext. pdf&typ=zusatztext [eingesehen am 07.03.2015]. Deutscher Bibliotheksverband / Stiftung Lesen: Ursachen und Gründe für die Nichtnutzung von Bibliotheken in Deutschland. Repräsentative Telefonbefragung von 1.301 Personen im Alter von 14 bis 75 Jahren. URL: http://www.stiftunglesen.de/download.php?type=documentpdf&id=634 [eingesehen am 13.03.2015]. [Deutscher Bibliotheksverband / Stiftung Lesen 2012] Döbert, Marion / Nickel, Sven: Ursachenkomplex von Analphabetismus in Elternhaus, Schule und Erwachsenenalter. In: Marion Döbert / Peter Hubertus (Hrsg.): Ihr Kreuz ist die Schrift. Analphabetismus und Alphabetisierung in Deutschland. Münster 2000, S. 52. URL: http:// www.alphabetisierung.de/fileadmin/files/Dateien/Downloads_Texte/IhrKreuz-gesamt.pdf [eingesehen am 29.05.2015]. Ehmig, Simone C.: Frühe Sprach- und Leseförderung mit Medien. In: merz. medien + erziehung 57 (2013), S. 22–29. Ehmig, Simone C.: Mehr als Kuscheln und schöne Geschichten. Zur Rolle des Vorlesens für die Entwicklung von Kindern. In: Frühe Kindheit 17 (2014), Heft 6, 38–45. Ehmig, Simone C. / Reuter, Timo: Außerschulische Leseförderung in Deutschland. Strukturelle Beschreibung der Angebote und Rahmenbedingungen in Bibliotheken, Kindertageseinrichtungen und kultureller Jugendarbeit. Mainz 2011. Ehmig, Simone C. / Reuter, Timo: Vorlesen im Kinderalltag. Bedeutung des Vorlesens für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und Vorlesepraxis in den Familien. Mainz 2013. URL: http://www.stiftunglesen.de/download.php?type=documentpdf&id=951 [eingesehen am 08.03.2015]. Ehmig, Simone C. / Heymann, Lukas / Seelmann, Carolin: Alphabetisierung und Grundbildung am Arbeitsplatz. Sichtweisen im beruflichen Umfeld und ihre Potenziale. Eine Studie der Stiftung Lesen im Förderschwerpunkt »Arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung
3.2.3 Außerschulische Leseförderung
595
Erwachsener« des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Mainz 2015. URL: https://www.stiftunglesen.de/download.php?type=documentpdf&id=1523 [eingesehen am 20.8.2015]. European Commission: EU high level group of experts on literacy. Final report. September 2012. Luxembourg 2012. URL: http://ec.europa.eu/education/policy/school/doc/literacy-report_ en.pdf [eingesehen am 04.03.2015]. Garbe, Christine / Holle, Karl / Jesch, Tatjana: Texte lesen. Textverstehen – Lesedidaktik – Lesesozialisation. Paderborn 2009. Graf, Werner: Fiktionales Lesen und Lebensgeschichte. Lektürebiographien der Fernsehgeneration. In: Cornelia Rosebrock (Hrsg.): Lesen im Medienzeitalter. Biographische und historische Aspekte literarischer Sozialisation. Weinheim / München 1995, S. 97–125. Greiner, Lena: Studie der Bertelsmann-Stiftung. Deutschlands Schulsystem gibt Kindern wenig Chancen. In: Spiegel Online 24.6.2013. URL: http://www.spiegel.de/schulspiegel/bertelsmannstudie-zeigt-ungerechtigkeit-an-deutschen-schulen-a-906962.html [eingesehen am 16.02.2015]. Grotlüschen, Anke / Riekmann, Wibke (Hrsg.): Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der erste leo. ‒ Level-One Studie. Münster u. a. 2012. Hessisches Sozialministerium / Hessisches Kultusministerium: Bildung von Anfang an. Bildungsund Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Hessen. Wiesbaden 2012. URL: http:// leb-hessen.de/fileadmin/user_upload/downloads/Publikationen/2012-08-00_Bildungs-undErziehungsplan_1_.pdf [eingesehen am 05.05.2015]. Himmelrath, Armin (2014): Chancengleichheit in Deutschland. Studie entlarvt Versagen des Bildungssystems. In: Spiegel Online 11.12.2014. URL: http://www.spiegel.de/schulspiegel/ wissen/chancenspiegel-studie-bildung-in-deutschland-ist-ungerecht-a-1007737.html [eingesehen am 16.02.2015]. Hohbein, Aline / Thies, Lars / Wieland, Clemens: Perspektive schaffen durch Ausbildung. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg): Warum Sparen in der Bildung teuer ist. Folgekosten unzureichender Bildung für die Gesellschaft. Gütersloh 2012, S. 258–267. Keller-Loibl, Kerstin / Brandt, Susanne: Leseförderung in Öffentlichen Bibliotheken. Berlin / München / Boston 2015. Maas, Jörg F. / Ehmig, Simone C. / Uehlein, Sabine (Hrsg.): Zeitschriftenlektüre und Diversität. Untersuchung zu sozialer Benachteiligung, Migrationshintergrund und Geschlechterdifferenz als Ursachen für Lesedefizite von Hauptschülern. Mainz 2011. Maas, Jörg F. / Ehmig, Simone C. / Seelmann, Carolin (Hrsg.): Prepare for life! Raising awareness for early literacy education results and implications of the international conference of experts. Mainz 2013. URL: http://www.stiftunglesen.de/download.php?type=documentpdf&id=1132 [eingesehen am 15.03.2015]. OECD (Hrsg.): Let’s read them a story! The parent factor in education. 2. Read your children a story. OECD Publishing. 2012. URL: http://dx.doi.org/10.1787/9789264176232-en [eingesehen am 07.03.2015). OECD (Hrsg.): Für das Leben gerüstet? Wichtigste Ergebnisse von PIAAC. 2013. OECD Publishing. URL: http://skills.oecd.org/SkillsOutlook_2013_KeyFindings_GER.pdf [eingesehen am 11.02.2015]. OECD (Hrsg.): The ABC of gender equality in education. Aptitude, behaviour, confidence. OECD Publishing. 2015. URL: http://dx.doi.org/10.1787/9789264229945-en. [OECD 2015a] OECD (Hrsg.): Bildung auf einen Blick. OECD-Indikatoren. Bielefeld 2015. URL: http://dx.doi. org/10.1787/eag-2014-de [eingesehen am 06.05.2015]. [OECD 2015b] Prenzel, Manfred / Sälzer, Christine / Klieme, Eckhard / Köller, Olaf (Hrsg.): PISA 2012. Fortschritte und Herausforderung in Deutschland. Münster u. a. 2013. URL: http://www.pisa.tum.de/
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Simone C. Ehmig
fileadmin/w00bgi/www/Berichtband_und_Zusammenfassung_2012/PISA_EBook_ISBN3001. pdf [eingesehen am 11.02.2015]. Rammstedt, Beatrice (Hrsg.): Grundlegende Kompetenzen Erwachsener im internationalen Vergleich. Ergebnisse von PIAAC 2012. Münster u. a. 2013. Schön, Erich: Leseerfahrung in Kindheit und Jugend. In: Lehren und Lernen 15 (1989) 6, S. 21–44. Stanat, Petra / Pant, Hans Anand / Böhme, Katrin / Richter, Dirk (Hrsg.): Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern am Ende der vierten Jahrgangsstufe in den Fächern Deutsch und Mathematik. Ergebnisse des IQB-Ländervergleichs 2011. Münster 2012. Stiftung Lesen: Vorlesestudie 2014. Vorlesen macht Familien stark. Repräsentative Befragung von Eltern mit Kindern im Alter von 2 bis 8 Jahren. Mainz 2014. URL: http://www.stiftunglesen. de/download.php?type=documentpdf&id=1357 [eingesehen am 12.03.2015]. [Stiftung Lesen 2014a] Stiftung Lesen: Bücher im Happy Meal. Wissenschaftliche Untersuchung zu Akzeptanz und Nutzung. Mainz 2014. URL: http://www.stiftunglesen.de/download.php?type=documentpdf&id=1300 [eingesehen am 12.03.2015]. [Stiftung Lesen 2014a] Stiftung Lesen: Ehrenamtliches Engagement in der Leseförderung. Rolle, Qualifikation und Motivation. Mainz 2014. URL: http://www.stiftunglesen.de/download. php?type=documentpdf&id=1201 [eingesehen am 12.03.2015]. [Stiftung Lesen 2014c] Welzel-Breuer, Manuela / Skorsetz, Nina / Breuer, Maria / Göres, Melitta / Strecker, Sigrid / Seelmann, Carolin: Kinder, MINT und Literacy.In: Gesellschaft für Didaktik der Chemie und Physik. Heterogenität und Diversität – Vielfalt der Voraussetzungen im naturwissenschaftlichen Unterricht. Jahrestagung in Bremen 2014. Kiel 2015, S. 334–336. URL: http://www. gdcp.de/images/tb2015/TB2015_334_Welzel-Breuer.pdf [eingesehen am 12.03.2015].
3.3 Bereitstellungsorganisationen des Lesens
Konrad Umlauf
3.3.1 Bibliotheken als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre Zusammenfassung: Für die Bevölkerung insgesamt haben Bibliotheken unter dem Gesichtspunkt des Zugangs zu Lesestoffen eine nachgeordnete Bedeutung. Wichtiger sind insgesamt Buchkauf und Leihe von Freunden und Verwandten. Die Bibliotheksbenutzer sind jedoch überwiegend intensive und häufige Leser und Computernutzer, die zwar auch überdurchschnittlich häufig Bücher und Zeitschriften kaufen, aber doch gewichtige Teile ihrer Lektüre- und Informationsbedarfe in Bibliotheken decken. Am stärksten gilt dies für Hochschulangehörige und für Schüler. Für beide Gruppen – am meisten für Studierende – sind Bibliotheken gut etablierte Beschaffungsquellen für Lesestoff und darüber hinaus wichtige Arbeitsplätze für die konzentrierte Mediennutzung. Größere Bedeutung als für Schüler generell haben Bibliotheken für Schüler mit Migrationshintergrund. Während für die Gesamtbevölkerung die Angebote der Bibliotheken an digitalen Lesemedien einen noch geringeren Stellenwert als die entsprechenden Angebote des Buchhandels einnehmen, was vor allem auf die Begrenztheit des Angebots der Öffentlichen Bibliotheken zurückzuführen ist, hat an wissenschaftlichen Universal- und Hochschulbibliotheken die Nutzung elektronischer Texte die Nutzung gedruckter Medien weit überflügelt. Aber das gedruckte Lehrbuch ist weiterhin unschlagbar beliebt. Abstract: The general public regards libraries as of secondary importance for access to reading material. Purchasing books and borrowing books from friends and relatives are considered more important. Library users however are in general intensive and frequent readers and computer users who buy more books and journals than average. Consequently, they cover a large fraction of their need for reading material and information in libraries. This is most strongly the case for university personnel including students and for school pupils. For both groups – especially for university students – libraries are well established resources for reading material and furthermore important places for intensive media use. Libraries are even more important for children from immigrant communities than for pupils in general. While electronic resources in public libraries play a less important role for the general populace than the offerings of book stores, a result of the still limited digital offerings of German public libraries, electronic books and journals are much more used than print media in academic libraries. Printed textbooks, however, remain unequaled in popularity.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 600 2 Strukturen, Dienstleistungen und Zielgruppen — 600 3 Lesestoffe und Bestände — 604 4 Bestandsaufbau — 606 5 Erschließung — 609 6 Vermittlung, Nutzung — 610 7 Fazit — 618 8 Literatur — 619
600
Konrad Umlauf
1 Einleitung Über Bibliotheken und Lesen zu schreiben, ist heikel, denn ohne Zweifel sammeln und vermitteln Bibliotheken immense Massen von Lesestoff, von mittelalterlichen Handschriften über moderne Sachbücher bis zu elektronischen Zeitschriftenartikeln. Aber zugleich unternehmen sie, die Bibliothekare und ihre Verbände, größte Anstrengungen, Bibliotheken nicht mit Lesen, sondern mit ›Information‹ zu assoziieren. In den 1980er und 1990er Jahren warben die Öffentlichen Bibliotheken mit dem Slogan: ›Die Bibliothek hat viele Seiten‹, was immerhin Lektüre konnotierte. Heute argumentiert der bibliothekarische Dachverband: Dank Bibliotheken habe jeder ›Zugang zu allen möglichen Informationen‹. Die Bayerische Staatsbibliothek verwendet das Wortlogo ›Information in erster Linie‹. Mit altmodischen Bezügen wie Lesen wollen Bibliotheken offenbar nichts zu tun haben. Aber die Öffentlichen Bibliotheken haben vor dem Hintergrund des PISA-Schocks das Handlungsfeld Leseförderung für sich entdeckt. Die für den Gegenstandsbereich Bibliothek zuständige Disziplin, die Bibliotheks- und Informationswissenschaft, sieht Bibliotheken seit den 1970er Jahren als spezielle Informationssysteme (vgl. Kaegbein 1973; Krieg 1970; Vickery 2004, S. 210–215). Freilich zeigen Rafael Capurro und Birger Hjørland (2003), dass der Rückgriff auf den Terminus Information in vielen Fällen vor allem statusfördernde Intentionen verfolgt und »mit geringen konzeptionellen bzw. theoretischen Ambitionen« (Capurro / Hjørland 2003, S. 396) verbunden ist. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über das Bibliothekssystem mit Schwerpunkt Deutschland und gewichtet den Stoff aus der Perspektive dieses Handbuchs.
2 Strukturen, Dienstleistungen und Zielgruppen Seit den 1960er Jahren begreift sich das deutsche Bibliothekswesen als in Funk tionsstufen gegliedert, während man in den meisten Ländern damit zufrieden ist, Bibliothekstypen von den Nationalbibliotheken über die Hochschulbibliotheken bis zu den Schul-, Gefängnis- und Krankenhausbibliotheken einfach aufzuzählen. Mit Funktionsstufen ist gemeint: Die Bibliotheken verstehen sich als Systemglieder eines arbeitsteiligen Systems. Allerdings ist der Grad der Systemintegration sehr verschieden – die nebenamtlichen kirchlichen Öffentlichen Bibliotheken sind in das System kaum integriert, selbst lokale Ansätze dazu sind selten; auch viele Spezialbibliotheken, z. B. in Ministerien, führen eine ziemlich aparte Existenz. Voll integriert in das System sind die Universitäts- und Staatsbibliotheken. Sie machen ihre Bestände bibliotheksübergreifend in Informationssystemen recherchierbar, die von Zeitschriftenaufsätzen über wissenschaftliche Filme bis zu Monografien ungefähr alles nachweisen, was sich in ihren Beständen befindet, und mit einem Link zum elektronischen Dokument führen, soweit verfügbar. Sie haben ein System der Arbeitsteilung beim
3.3.1 Bibliotheken als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
601
Bestandsaufbau entwickelt (Sondersammelgebietsplan), das dafür sorgt, dass jede international erscheinende wissenschaftliche Publikation einschließlich der relevanten Quellen (z. B. Belletristik, Kinderbücher, Gesetze, Normen) in mindestens einer deutschen Bibliothek verfügbar und von dieser digital oder konventionell lieferbar ist. Tabelle 1 nennt die wichtigsten statistischen Daten. Tabelle 2 gibt einen schematischen Überblick über die Funktionsstufen, nennt kennzeichnende Bibliothekstypen, die wichtigsten Funktionen und typische Dienstleistungen, jeweils unter Vernachlässigung von Details.
Ausgaben für Erwerbung
Mio.
Mio.
Mio.
Mio. €
Mio. €
Besuche
Mio.
Stellen laut Stellenplan
Ausgaben insgesamt
Entleiher (aktive Benutzer)
Bestand Medien insgesamt Entleihungen Medien insgesamt
Berichtsjahr 2011
Zahl der Hauptund Zweigstellen
Gesamtauswertung
Zahl der meldenden Institutionen
Tab. 1: Statistik des Deutschen Bibliothekssystems (Quelle: Hochschulbibliothekszentrum Köln 2012)
Öffentliche Bibliotheken (ÖB)
8.169
9.613
125
385 11.813
8,00
127
919
103
ÖB hauptamtlich geleitet
2.044
3.340
97
344 11.307
6,20
112
864
85
ÖB neben-/ehrenamtlich geleitet
6.125
6.273
28
506
1,80
16
55
17
Wissenschaftliche Bibliotheken
284
1.038
260
101 12.746
3,09
–
986
343
National-/Zentrale Fachbibliotheken
5
7
46
4
2.160
0,15
–
155
37
Regional bibliotheken
26
33
18
4
829
0,17
–
64
10
Universitäts bibliotheken
105
721
179
76
8.555
2,07
–
694
263
Hochschul-/ Fachhochschul bibliotheken
148
277
17
17
1.201
0,70
–
74
33
8.453 10.651
385
486 24.559
11
–
1.905
446
Bibliotheken insgesamt
41
602
Konrad Umlauf
Funktionsstufe 4
Funktionsstufe 3
Funktionsstufe 2
Funktionsstufe 1
Tab. 2: Funktionsstufen des Bibliothekssystems Bibliothekstypen Die wichtigsten Funktionen
Typische Dienstleistungen
Kleine und mittlere Öffentliche Bibliotheken, auch Zweig bibliotheken
––Ausleihe ––Benutzerberatung ––Leseförderung ––Kulturveranstaltungen
––Medienversorgung für ausgewählte Zielgruppen, vor allem Kinder und Jugendliche ––Treffpunkt der Gemeinde ––Kooperation mit Schulen u. Kindereinrichtungen
Große Öffentli––Medienversorgung für weite Bevölche Bibliothekerungskreise ken, bes. die ––Treffpunkt der Gemeinde Stadtbibliotheks- ––Kooperation mit Schulen, Zentralen in Kindereinrichtungen und VolksGroßstädten hochschulen
––Ausleihe ––Benutzerberatung ––Leseförderung ––Kulturveranstaltungen ––Vermittlung von Informationskompetenz
Universitäts-, ––Literatur- und InformationsverFachhochsorgung für Studium, Lehre, schul-, sonstige Forschung und qualifizierte BerufsHochschulbiausübung bliotheken; ––Bibliotheken mit Funktionen einer SpezialbibliotheLandesbibliothek: Sammlung der ken; Landes- und Publikationen aus dem und über Regionalbibliodas Bundesland; Pflichtexemplartheken recht in der Region
––Ausleihe, Leihverkehr ––Präsenznutzung ––Beratung beim elektronischen Publizieren ––Beteiligung am Aufbau virtueller Fachbibliotheken, Repositorien und virtueller Forschungsumgebungen ––Überlieferung des kulturellen Erbes in publizierten Medien ––Bes. Hochschulbibliotheken: Vermittlung von Informationskompetenz ––Landesbibliotheken: Produktion der Regionalbibliografie
Nationalbiblio––Literatur- und Informationsverthek; Zentrale sorgung für Studium, Lehre, FachbiblioForschung und qualifizierte Berufstheken; große ausübung Staats- und ––Nationalbibliothek und Sammlung ForschungsDeutscher Drucke: Sammlung bibliotheken, der Publikationen aus und über SondersammelDeutschland; Pflichtexemplarrecht gebietsbibliothe- ––Sondersammelgebietsbibliotheken, Sammlung ken: Sammlung der wissenschaftDeutscher lich relevanten Publikationen interDrucke national einschließlich Quellen ––Bestandserhaltung, Konservierung und Restaurierung historischer Bestände ––Weiterentwicklung von Erschließungsstandards
––Leihverkehr ––Digitale Langzeitarchivierung ––Überlieferung des kulturellen Erbes in publizierten Medien, z. T. auch von Nachlässen ––Beteiligung am Aufbau virtueller Fachbibliotheken und virtueller Forschungsumgebungen ––Archivierung und Erschließung von Primärdaten ––Produktion von Normdaten und der Nationalbibliografie
3.3.1 Bibliotheken als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
603
Die durchschnittliche Öffentliche Bibliothek mit professionellem Personal kann so beschrieben werden: Ihr Einzugsgebiet beträgt rund 20.000 Einwohner; in Städten handelt es sich um einen Filialstandort der Stadtbibliothek: 33.000 Besucher kommen jedes Jahr. Von den drei bis vier Personalstellen sind ein oder zwei mit Fachpersonal besetzt, das ein einschlägiges Studium auf Bachelor-Niveau abgeschlossen hat. Jede Woche finden mehrere Veranstaltungen statt, die meisten für Kinder, oft in Kooperation mit Schulen und Kindereinrichtungen. Allerdings bestehen beträchtliche Unterschiede. Die Mittelstadtbibliotheken mancher prosperierender Gemeinden in Süddeutschland sind leistungsfähiger und bieten ständig mehr neue Bücher als einige kommunale Bibliotheken überschuldeter Großstädte in Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen. Im Vergleich zu den Öffentlichen Bibliotheken sind die Universitätsbibliotheken meist große Apparate. Viele verfügen über beträchtliche historische Sammlungen bis hin zu Unikaten, Papyri oder Autografen (u. a. Dresden, Erfurt / Gotha, Freiburg, Gießen, Heidelberg, Köln, Münster, Oldenburg). Webbasierte Angebote an Datenbanken, elektronischen Büchern und Zeitschriften sind üblich. Viele Universitätsbibliotheken investieren mehr Geld in Zeitschriften als in Bücher. Die Leseplätze und Gruppenarbeitsräume haben eine hohe Auslastung. Das Personal gibt Kurse zur Vermittlung von Informationskompetenz, z. T. integriert in das Curriculum, und berät beim elektronischen Publizieren. Diese knappe Skizze macht deutlich, dass die Kernfunktion – Zugang zu Publikationen – durch vielfältige weitere Funktionen arrondiert wird. Sie sind teilweise nicht dezidiert auf diese Kernfunktion bezogen, sondern könnten ebenso von anderen Akteuren geleistet werden, beispielsweise ein Kammerkonzert oder eine Computerspielemesse, sollen aber zur Kundenbindung beitragen. Insbesondere erfährt der Bibliotheksbau im digitalen Zeitalter eine Renaissance: Bibliotheksgebäude als markante städtebauliche Akzente und als Gehäuse für inspirierende und mit W-LAN ausgestattete Nutzerarbeitsplätze (vgl. Fansa 2012). Diese Strukturen und Funktionen sind historisch gewachsen und politisch kleinräumig gestaltet, in Deutschland nahezu nicht durch eine nachhaltige Strategie entwickelt (vgl. Umlauf 2012a). Infolge des ausgeprägten Föderalismus gibt es in Deutschland auf Bundesebene keine Zuständigkeit für das Bibliothekssystem insgesamt; die Empfehlung der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland aus 2007 (Deutscher Bundestag 2007), Aufgaben und Finanzierung der Bibliotheken in Bibliotheksgesetzen zu regeln und Öffentliche Bibliotheken zur Pflichtaufgabe zu machen, lief weitgehend ins Leere. Im August 2012 sind Bibliotheksgesetze mit ziemlich unverbindlichen Regelungen in Hessen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in Kraft, in einigen anderen Bundesländern im Gesetzgebungsverfahren oder in der parlamentarischen Diskussion, während in vielen Ländern der EU, u. a. in Großbritannien oder den skandinavischen Ländern verbindliche gesetzliche Regelungen auf nationaler Ebene bestehen. Wiederholt legten die bibliothekarischen Verbände Planungen für den Gesamtstaat und auf Ebene etlicher Bundesländer vor – die wichtigsten Planungspapiere waren
604
Konrad Umlauf
1973 und 1993 Bibliotheken ’73 und Bibliotheksplan ’93 –, ohne dass sie politisch durchschlagende Resultate erzielt hätten (vgl. Umlauf 2008). Für die wissenschaftlichen Bibliotheken hatten dagegen Empfehlungen, die wiederholt aus dem Wissenschaftssystem selbst kamen, nachhaltige Wirkungen. Vor allem die Empfehlungen des Wissenschaftsrats, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz wurden in der Regel von politischen Entscheidungsund Finanzierungsinstanzen aufgegriffen und mehr oder minder umgesetzt, u. a. Empfehlungen für den Aufbau von Lehrbuchsammlungen, für den bibliotheksübergreifenden EDV-Einsatz und den Aufbau regionaler Bibliotheksrechenzentren, für die elektronische Dokumentlieferung, für den Aufbau virtueller Fachbibliotheken, für die Weiterentwicklung der Verbundsysteme der Bibliotheken und sogar für ein Gesamtkonzept für die wissenschaftliche Informationsinfrastruktur in Deutschland (vgl. Neuroth 2012; Umlauf 2012a, S. 16).
3 Lesestoffe und Bestände Uwe Jochums Definition – Bibliotheken als »systematische Speicherplätze für Schriften« (Jochum 2011, S. 52) – greift aus zwei Gründen zu eng. Erstens sind Sammel gegenstände von Bibliotheken, auch wenn man einen so weiten Begriff von Schriftträgern zugrunde legt, dass Ostraka (Universitätsbibliothek Gießen) oder beschriftete Mumiensärge (u. a. Stiftsbibliothek St. Gallen) einbezogen werden, keineswegs nur Schriften, sondern mehr oder minder alle Medientypen, wenn auch mit anderem Profil als in anderen Typen von Mediensammlungen oder Gedächtnisinstitutionen. Zweitens sammeln Bibliotheken definitiv nicht solche Schriften (Akten, Schriftgut), die unternehmens- oder behördenintern Verwendung fanden und, nachdem sie dort nicht mehr benötigt wurden, an Archive abgegeben werden. Einen Überblick über das Medienprofil von Bibliotheken im Kontext der anderen Gedächtnisinstitutionen und Mediensammlungen gibt Tabelle 3. Da die Philologien die Disziplinen mit besonders hoher Affinität zu Lesestoffen sind, sollen die Bibliotheken mit wichtigen einschlägigen Sondersammelgebieten erwähnt werden (siehe Tab. 4); auch die Quellen – Editionen wie Belletristik – werden hier extensiv gesammelt. Zu erwarten ist, dass dieses System der Sondersammelgebiete in den nächsten Jahren verändert wird (vgl. Niggemann u. a. 2011). Kinder- und Jugendliteratur sammelt extensiv die Internationale Jugendbibliothek München (580.000 Kinder- und Jugendbücher in 130 Sprachen aus vier Jahrhunderten; laufende Erwerbung der Produktion aus ca. 1000 Kinder- und Jugendbuchverlagen international).
605
3.3.1 Bibliotheken als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
Tab. 3: Affinitäten zwischen Medientypen und Institutionstypen (Umlauf 2012c, S. 111, aktualisiert) Institutionstyp Medientyp
Archiv
Bibliothek
Medienarchiv, -sammlung
Museum
+++
–
–
–
Blockbücher
–
++
–
+
Digitale Medien, Netzpublikationen und Datenbanken
–
+++
++
–
Druckgrafik
–
++
–
++
Filme
–
++
+++
–
Fotos und Plakate
+
+
+
+
Gedruckte Bücher und Zeitschriften
–
+++
–
–
Gedruckte Zeitungen
+
+++
–
–
Handschriften, Autografen, Nachlässe
++
++
–
+
Kinder- und Jugendliteratur
–
++
–
–
Landkarten und Pläne
++
++
–
–
Mikroformen
+
+++
–
–
Musik- und Schallaufzeichnungen
–
++
+++
–
Musikalien
–
++
–
–
Primärdaten
–
+
–
–
Akten und Urkunden
+ Wird vereinzelt gesammelt ++ In etlichen Einrichtungen dieses Institutionstyps sind nennenswerte Sammlungen vorhanden +++ Medientyp ist kennzeichnend für die Bestände des betreffenden Institutionstyps – Medientyp ist atypisch
606
Konrad Umlauf
Tab. 4: Sondersammelgebiete der Philologien (Webis) Sondersammelgebiet
Für die umfassende Sammlung zuständige Bibliothek
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft
Universitätsbibliothek Frankfurt a.M.
Amerikanistik
Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
Anglistik
Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
Arabistik
Universitäts- und Landesbibliothek Halle
Germanistik
Universitätsbibliothek Frankfurt a.M.
Indologie
Universitätsbibliothek Heidelberg
Japanologie
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Klassische Philologie
Bayerische Staatsbibliothek München
Orientalistik
Universitätsbibliothek Tübingen
Romanistik: Allgemeines
Universitäts- und Landesbibliothek Bonn
Romanistik: Französisch
Universitäts- und Landesbibliothek Bonn
Romanistik: Italienisch
Universitäts- und Landesbibliothek Bonn
Romanistik: Spanien, Portugal
Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg
Romanistik: Südamerika
Ibero-Amerikanisches – Institut Preußischer Kulturbesitz
Sinologie
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Skandinavistik
Universitätsbibliothek Kiel
Slawistik
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Theaterwissenschaft
Universitätsbibliothek Frankfurt a.M.
Turkologie
Universitäts- und Landesbibliothek Halle
4 Bestandsaufbau Der Bestandsaufbau in Hochschulbibliotheken orientiert sich naturgemäß mehr oder minder eng am Profil von Forschung, Studium und Lehre (vgl. Wiesner u. a. 2004, S. 183 f.). Universitätsbibliotheken, Staats-, Landes- und Forschungsbibliotheken setzen in der Regel historisch gewachsene Sammlungen auch ohne Bezug zu Studium und Lehre fort, kommen immer wieder kraft Kauf oder Stiftung zu Bestandssegmenten, die sie in der Routine nicht erworben haben oder hätten, beispielsweise die Sammlung von 5000 englischen Heftromanen, Jugendzeitschriften und Comics des
3.3.1 Bibliotheken als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
607
19. Jahrhunderts an der Universitätsbibliothek Oldenburg, die für die PopularkulturForschung eine ergiebige Quelle darstellen. Neben dem Bibliothekspersonal, das in der Regel die Hauptmenge der Auswahlentscheidungen trifft, sind weitere Hochschulangehörige, vor allem Professoren, an der Auswahl mehr oder minder beteiligt. Die Praxis ist von Hochschule zu Hochschule, von Fach zu Fach und von Person zu Person sehr verschieden. Als Quellen für die Philologien erwerben Universitätsbibliotheken mit entsprechenden Fächern auch die Primärliteratur – meist in Erstausgaben der Originalsprache – und vernachlässigen damit die Segmente der Unterhaltungs- und Trivialliteratur, die allerdings in philologischen Studiengängen ebenfalls eine marginale Position haben; so ist beispielsweise Kim Edwards’ Lake of Dreams an einer einzigen deutschen Universitätsbibliothek verfügbar, nämlich der Universitätsbibliothek Göttingen, die das Sondersammelgebiet Amerikanistik pflegt, oder Deborah Crombies Krimi Where memories lie aus kaum nachvollziehbaren Gründen nur an der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf im Bestand – beide Werke gibt es in Originalsprache jedoch auch an zahlreichen Öffentlichen Bibliotheken, wo sie freilich früher oder später entsorgt werden, wenn die Exemplare zerlesen sind oder nicht mehr ausgeliehen werden. Der Auswahl der Belletristik an Universitätsbibliotheken legt zugrunde, was in den Qualitätszeitungen rezensiert wird. Eine Minderheit der deutschen Hochschulbibliotheken, fast alle australischen Hochschulbibliotheken und die Mehrheit der US-amerikanischen Hochschulbibliotheken haben ihr Erwerbungsprofil schriftlich dargelegt. Meist besteht es aus einer mehr oder minder differenzierten Auflistung der Fächer und ihrer Teilgebiete – bevorzugt anhand der in der Bibliothek verwendeten Klassifikation – und der verbalen oder numerischen Angabe der Erwerbungsintensität und der vorhandenen Leistungskraft des Bestands. Zum Teil wird ausdrücklich gesagt, was nicht erworben wird; beispielsweise sagt die Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, dass sie rechtswissenschaftliche Literatur international umfassend, juristische Ausbildungsliteratur in Auswahl und Rechtsratgeber (»Fachliteratur für den rein praktischen Gebrauch«; Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz o. J. u. S.) gar nicht erwirbt. Problematisch ist, dass wachsende Anteile der Erwerbungsetats für Zeitschriften – und hier insbesondere elektronische Zeitschriften – verwendet werden müssen. Der Bedarf einschließlich des Zugangs über das Rechnernetz der Hochschule ist unbestritten, doch bleiben die Erwerbungsetats hinter den Erfordernissen zurück, so dass Schwerpunkte teils durch Gremienbeschlüsse an den Hochschulen, teils durch rechtliche Verpflichtungen im Rahmen der konsortialen Zeitschriftenlizenzierung gesetzt werden. Elektronische Zeitschriften, zunehmend auch elektronische Bücher werden meist nicht durch die einzelne Hochschulbibliothek lizenziert, sondern durch Konsortien, Abnehmerkartelle, in denen sich die Hochschulbibliotheken im Interesse einer stärkeren Position bei Preisverhandlungen zusammengeschlossen haben. Freilich gehen sie damit im Binnenverhältnis des Konsortiums auch Abnahmeverpflichtungen ein, die z. T. Abbestellungen bei Etatrestriktionen verhindern. Eine Arbeitsgruppe der bayerischen Universitätsbibliotheken hat 2009 ermittelt, das eine voll ausgebaute
608
Konrad Umlauf
Universitätsbibliothek, die das gesamte wissenschaftlich relevante Publikationsaufkommen ihrer Fachgebiete einschließlich Netzpublikationen und Mehrfachexem plaren für die Lehrbuchsammlung erwerben bzw. lizenzieren will, Erwerbungsmittel von jährlich 10,3 Millionen Euro benötigt, davon 20 % für gedruckte Bücher, 55 % für gedruckte und elektronische Zeitschriften und 17 % für Datenbanken, den Rest für elektronische Bücher, die Lehrbuchsammlung und für Bucheinband (vgl. MoravetzKuhlmann 2010, S. 253–270). Tatsächlich steht den Universitätsbibliotheken in Bayern etwa ein Viertel dieser Mittel zur Verfügung, in den meisten Bundesländern weniger. Im Ergebnis werden vor allem zu wenige Monografien erworben. Die anschwellende Zahl der Open-Access-Publikationen hat zwar das Publikationsaufkommen insgesamt beträchtlich gesteigert, aber die Erwerbungsetats nicht in spürbarem Ausmaß entlasten können. An Öffentlichen Bibliotheken ist die Auswahl (vgl. Schade u. a. 2012) auf mehr oder minder populäre Segmente der Medienmärkte fokussiert, von den Musik-Charts über Spiel- und Kinderfilme bis zur Unterhaltungsliteratur, von Ratgebern über Schülerliteratur bis zu einführenden Fachbüchern. Eine wachsende Minderheit der Öffentlichen Bibliotheken – 2012 rund 12 % – bieten ›virtuelle Bestände‹ an, Netzpublikationen und Datenbanken, die die Bibliotheken lizenziert haben und die in der Bibliothek, meistens jedoch von der Website der Bibliothek heruntergeladen auf den Geräten der Benutzer befristet genutzt werden können. Bei der Belletristik versuchen die Öffentlichen Bibliotheken einen Kompromiss zwischen den Empfehlungen der Feuilletons und der tatsächlichen Nachfrage: In den Feuilletons sind die am häufigsten rezensierten Verlage Diogenes, S. Fischer, C. Hanser, Kiepenheuer & Witsch, Piper, Rowohlt und Suhrkamp. Die belletristische Produktion der Verlage dtv, S. Fischer, Goldmann, Heyne, Lübbe, Rowohlt Taschenbücher, Suhrkamp wird in den Öffentlichen Bibliothek besonders beachtet. Die erfolgreichsten Verlage in den Belletristik-Bestseller-Listen stellen Diogenes, Goldmann, C. Hanser, Heyne, List, Lübbe, Rowohlt und Zsolnay dar. Die drei Listen (vgl. Umlauf 2005, S. 124) decken sich in Teilen, aber nicht ganz. Auf Heftromane, die über die Vertriebswege des Pressehandels beträchtliche Verkaufszahlen erzielen, verzichten die meisten Öffentlichen Bibliotheken; diese Lesestoffe, meist als Trivialliteratur eingeordnet, werden aber in einer Minderheit der Öffentlichen Bibliotheken in Kleinstädten geführt. Mindestens eine überregionale Tageszeitung ist in allen Großstadtbibliotheken abonniert, je kleiner der Ort, desto seltener; dagegen wird mindestens eine Verbraucherzeitschrift auch in den kleinen Öffentlichen Bibliotheken fast überall gehalten (vgl. Umlauf 1998, S. 293–303). Verbreitetes Hilfsmittel für den Bestandsaufbau in Öffentlichen Bibliotheken (vgl. Rugen 2012, S. 335–358) sind die Informationsdienste der ekz.bibliotheksservice GmbH. Der Dienstleister betreibt seit den 1970er Jahren eine Kooperation mit den bibliothekarischen Verbänden, in der ca. 300 Bibliothekare, auch Lehrer und Journalisten, arbeitsteilig die Buch- und Medienmärkte sichten, die für Öffentliche Bibliotheken geeigneten ca. 22.000 Neuerscheinungen pro Jahr auswählen und rezensieren.
3.3.1 Bibliotheken als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
609
Zielgruppe der Rezensionen ist das Personal an den Öffentlichen Bibliotheken, das seine Auswahlentscheidungen – in der kleineren Hälfte der hauptamtlich geleiteten Öffentlichen Bibliotheken weniger als 2000 Neuerwerbungen pro Jahr – weitgehend auf diese Empfehlungen stützt, daneben allerdings vielerorts auch pauschal einen Lieferanten mit der Lieferung aller Bestseller beauftragt hat.
5 Erschließung Nicht erschlossene Bestände haben den Stellenwert von verlorenen Beständen, weil sie dem Benutzer nicht zur Verfügung stehen. Die seit den 1960er Jahren neu errichteten Hochschulbibliotheken stellen ihre Bestände – oder jedenfalls den neueren Teil davon – in Freihand auf, wie es bei den Öffentlichen Bibliotheken ohnehin üblich ist, so dass Bestellungen aus dem Magazin hier gar nicht oder nur für wenig benutzten Altbestand erforderlich sind. Die systematische Freihandaufstellung allein genügt jedoch nicht; auch hier sind Kataloge unentbehrlich. Die in den 1990er Jahren überall durchgesetzten elektronischen Bibliothekskataloge und Verbundkataloge, die die Katalogdaten eines Bibliotheksverbunds enthalten, werden zunehmend durch Discovery-and-Delivery-Systeme ersetzt (einen prägnanten deutschsprachigen Ausdruck scheint es noch nicht zu geben): Die Eingabe des Benutzers durchsucht eine auf Suchmaschinentechnologie basierende Datenbank, in die ihrerseits die Inhalte einer großen Zahl von bibliographischen und Volltextdatenbanken exportiert wurden. Im Ergebnis bekommt der Benutzer eine beträchtliche Trefferliste der Metadaten von gedruckten Büchern in vielen Bibliotheken, von Zeitschriftenaufsätzen, Netzpublikationen u. a. m. Auf Wunsch kann er nach Kriterien wie Medientyp, Schlagwörtern, Notationen verschiedener Klassifikationen, Fächern, Autoren, Erscheinungsjahren usw. selektieren. Sofern es sich um eine freie oder in der betreffenden Bibliothek lizenzierte digitale Ressource handelt, kann der Benutzer mit einem Klick das Medium zur Anzeige bringen. Diese höchst komfortablen Zugänge konzentrieren die Nutzung naturgemäß auf sofort digital verfügbare Dokumente. Seit den 1980er Jahren experimentieren die Öffentlichen Bibliotheken mit Erschließungsmodalitäten ihrer Freihandbestände, die teils an Gruppierungen der Waren im Bucheinzelhandel erinnern, teils vermutete Lesemotive aufgreifen (Gruppierung besonders der Belletristik nach Interessenkreisen, Genres oder Themen wie beispielsweise ›Bewährte Unterhaltung‹, ›Neue Frau‹ oder ›Fantasy‹). Nur in Einzelfällen hat man bei der Bildung der Kategorien Ex-ante-Methoden der Marktforschung eingesetzt, indem man etwa diese Kategorien in einem Workshop mit Benutzern gebildet hat (vgl. Kloiber 2012). Einen thematischen Zugang zu Dokumenten erhält man in fast allen Bibliotheken über Schlagwörter; auch die Belletristik und die Kinder- und Jugendliteratur ist
610
Konrad Umlauf
in der Regel verschlagwortet, sofern sich der Inhalt konkret thematisch greifen lässt (Beispiel: Noah Gordons historischer Roman um einen Bader, der aus dem mittelalterlichen London in den Iran geht, um sich zum Arzt ausbilden zu lassen, ist mit drei Schlagwortfolgen inhaltlich erschlossen: London; Waisenkind; Bader; Geschichte 1021–1025; Belletristische Darstellung / Avicenna; Belletristische Darstellung / Iran; Arzt; Engländer; Geschichte 1025–1043; Belletristische Darstellung). Die bibliothekarische Erschließung von Belletristik und Filmen mit Gattungsbegriffen (vgl. OCLC 2001), wie sie in den USA vorgeschlagen wurde, aber kaum praktiziert wird (Beispiele: ›Arthurian romances‹, ›Love stories‹, ›War stories‹), ist im deutschsprachigen Raum nicht vorhanden.
6 Vermittlung, Nutzung Zunächst muss festgestellt werden, dass riesige Massen von Lesestoff frei verfügbar sind und deshalb nicht durch Kauf oder Lizenz von Bibliotheken verfügbar gemacht werden müssen, z. T. jedoch auf einschlägigen Websites der Bibliotheken verlinkt sind: Wikipedia, Google Books, hochschulinterne und -externe Newsgroups bzw. Internetforen; vor allem haben Bibliotheken viel Energie investiert, um Open-AccessZeitschriften und freie Datenbanken zu erschließen. Die Nutzung ihrer Ressourcen sowie Nutzungsoptionen ihrer Benutzer und gewünschte Rahmenbedingungen der Nutzung bis hin zu Öffnungszeiten (vgl. Schmidbauer 2009) erforschen Bibliotheken vielerorts mit Methoden der Benutzer- und Marktforschung. Die Zufriedenheit der Studierenden mit den Angeboten der Hochschulbibliotheken, u. a. mit der Verfügbarkeit der benötigten Literatur und elektronischer Zeitschriften, geht in das Hochschulranking des CHE, des Centrums für Hochschulentwicklung (vgl. Federkeil 2007, S. 66–70), ein. Diese zahlreichen, meist punktuellen Untersuchungen erfolgen aus dem Blickwinkel der Bibliotheken. Hier soll der umgekehrte Blickwinkel versucht werden, der der Leser, Buch- und Mediennutzer. Welchen Stellenwert haben Bibliotheken aus diesem Blickwinkel? Eine Befragung an der Universität Karlsruhe (Karlsruhe Institute of Technology) ergab für die am häufigsten zum Studium genutzten Medien diese Rangfolge (vgl. Grosch 2011): Google-Websuche, externes E-Mail-Konto, Wikipedia, lehrveranstaltungsbegleitende Online-Materialien, gedruckte lehrveranstaltungsbegleitende Materialien, gedruckte Lehrbücher, Uni-Homepage, gedruckte Fachbücher, Instant Messenger, Studierendenportal, Katalog der Universitätsbibliothek. Auf mittleren Plätzen in der Nutzungshäufigkeit liegen u. a. die E-Learning-Plattform der Universität, elektronische Bücher und gedruckte Fachzeitschriften. Einen sehr geringen Stellenwert in der Nutzung haben virtuelle Lehrveranstaltungen, Literaturverwaltungssoftware, Social-Bookmarking-Dienste und Twitter. Von der Hochschule angebotene Web-2.0-Features wie RSS-Feeds nutzen nur 5 % der Studierenden, aber gut die Hälfte
3.3.1 Bibliotheken als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
611
befragt soziale Netzwerke auch zur Klärung von Fragen für das Selbststudium, der Prüfungsvorbereitung und für den Austausch von Dokumenten für das Studium (vgl. Kleinmann u. a. 2008, S. 6 f., 25). An der Fachhochschule Aachen freilich leihen rund 30 % der Studierenden nichts aus der Bibliothek aus; sie kommen mit Skripten der Professoren und mit dem Internet durchs Studium (vgl. Thormann / Wunderlich 2011). Für die Bevölkerung insgesamt haben die Bibliotheken einen geringeren Stellenwert beim Zugang zu Lesestoffen. Tabelle 5 stellt die Nutzung Öffentlicher Bibliotheken in den Kontext der Mediennutzung. Tab. 5: Nutzung Öffentlicher Bibliotheken im Kontext1 Medienverhalten
Anteil (%) Bezug
Jahr
Quelle
Entleiher in Öffentlichen Bibliotheken
10 %
Gesamtbevölkerung
2010
1
Mindestens einmal pro Woche eine Bibliothek benutzt
12 %
Bevölkerung 6–13 Jahre
2010
2
Bezug neuer Bücher durch Kauf
78 %
Bevölkerung 12–19 Jahre
2010
3
Bezug neuer Bücher durch Geschenk
73 %
Bevölkerung 12–19 Jahre
2010
4
Bezug neuer Bücher durch Leihe von Freunden
63 %
Bevölkerung 12–19 Jahre
2010
5
Bezug neuer Bücher aus einer Bibliothek
44 %
Bevölkerung 12–19 Jahre
2010
6
In den letzten 12 Monaten eine Bibliothek benutzt
43 %
Bevölkerung 14–19 Jahre
2008
7
Die meisten Bücher, die man liest, selbst gekauft
38 %
Bevölkerung 14–19 Jahre
2008
8
Die meisten Bücher, die man liest, aus der Bibliothek ausgeliehen
18 %
Bevölkerung 14–19 Jahre
2008
9
Eine Zeitschrift in den letzten 4 Wochen im Geschäft gekauft
93 %
Bevölkerung ab 14 J.
2008
10
Zeitschriften/ Illustrierte/ Magazine mind. mehrmals pro Woche lesen
68 %
Bevölkerung ab 14 J.
2008
11
Mind. ein Buchkauf pro Jahr
59 %
Bevölkerung ab 14 J.
2011
12
Die meisten Bücher, die man liest, selbst gekauft
56 %
Bevölkerung ab 14 J.
2008
13
Mind. ein Kauf von Musik (Tonträger oder online) pro Jahr
39 %
Gesamtbevölkerung
2010
14
Bücher mind. mehrmals pro Woche nutzen
38 %
Bevölkerung ab 14 J.
2011
15
1 Nach Fühles-Ubach 2012, S. 232, eigene Aktualisierung und Ergänzung.
612
Konrad Umlauf
Medienverhalten
Anteil (%) Bezug
Jahr
Quelle
Die meisten Bücher, die man liest, geschenkt bekommen
27 %
Bevölkerung ab 14 J.
2008
16
In den letzten 12 Monaten eine Bibliothek benutzt
19 %
Bevölkerung ab 14 J.
2008
17
Sach- oder Fachbücher mind. mehrmals pro Woche nutzen
16 %
Bevölkerung ab 14 J.
2008
18
Eine Zeitschrift abonniert
15 %
Bevölkerung ab 14 J.
2008
19
Die meisten Bücher, die man liest, aus der Bibliothek ausgeliehen
6 %
Bevölkerung ab 14 J.
2008
20
Eine Zeitschrift in den letzten 4 Wochen vom Lesezirkel bezogen
2 %
Bevölkerung ab 14 J.
2008
21
Mind. ein E-Book-Kauf in den letzten 12 Monaten
1 %
Bevölkerung ab 14 J.
2011
22
Die meisten Bücher, die man liest, aus dem Internet heruntergeladen
0 %
Bevölkerung ab 14 J.
2008
23
In den letzten 12 Monaten eine Bibliothek benutzt
23 %
Bevölkerung mit Migrationshintergrund
2008
24
Die meisten Bücher, die man liest, aus der Bibliothek ausgeliehen
9 %
Bevölkerung mit Migrationshintergrund
2008
25
Mind. seltene Nutzung der Wikipedia
70 %
Deutschsprachige Onliner ab 14 J.
2011
26
Mind. gelegentliche Nutzung von Videoportalen
59 %
Deutschsprachige Onliner ab 14 J.
2010
27
Nutzung von Apps auf mobilen End geräten
24 %
Deutschsprachige Onliner ab 14 J.
2012
28
Mind. seltene Nutzung von Weblogs
7%
Deutschsprachige Onliner ab 14 J.
2011
29
Mind. seltene Nutzung von Twitter
3%
Deutschsprachige Onliner ab 14 J.
2011
30
41 %
Personen, die mindestens mehrmals in der Woche Bücher lesen
2008
31
In den letzten 12 Monaten eine Bibliothek benutzt
Quelle: 1 Hochschulbibliothekszentrum 2012 2 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2011: Kim-Studie, S. 10 3 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2011: Jim-Studie, S. 29 4 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2011: Jim-Studie, S. 29 5 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2011: Jim-Studie, S. 29 6 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2011: Jim-Studie, S. 29 7 Stiftung Lesen 2009, S. 188 f. 8 Stiftung Lesen 2009, S. 166 f. 9 Stiftung Lesen 2009, S. 166 f. 10 Stiftung Lesen 2009, S. 158 f. 11 Stiftung Lesen 2009, S. 148 f. 12 Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2012,
3.3.1 Bibliotheken als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
613
S. 30 13 Stiftung Lesen 2009, S. 166 f. 14 Stiftung Lesen 2009, Bundesverband Musikindustrie 2011 15 Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2012, S. 30 16 Stiftung Lesen 2009, S. 166 f. 17 Stiftung Lesen 2009, S. 188 f. 18 Stiftung Lesen 2009, S. 148 f. 19 Stiftung Lesen 2009, S. 158 f. 20 Stiftung Lesen 2009, S. 166 f. 21 Stiftung Lesen 2009, S. 158 f. 22 Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2012, S. 23 23 Stiftung Lesen 2009, S. 166 f. 24 Stiftung Lesen 2009, S. 188 f. 25 Stiftung Lesen 2009, S. 166 f. 26 Busemann / Gscheidle 2011 27 van Eimeren / Frees 2012, S. 372 28 van Eimeren / Frees 2012, S. 368. 29 Busemann / Gscheidle 2011. 30 Busemann / Gscheidle 2011 31 Stiftung Lesen 2009, S. 188 f.
Die Daten in Tabelle 5 sind nur eingeschränkt vergleichbar, weil sie sich auf verschiedene Erhebungsjahre beziehen und methodisch differenten Untersuchungen entstammen. Gleichwohl lassen sich folgende Aussagen hinsichtlich der Stellung der Öffentlichen Bibliotheken im Medienzugang formulieren: (1) Für die Gesamtbevölkerung hat der Medienzugang über eine Öffentliche Bibliothek und über Bibliotheken überhaupt eine nachgeordnete Bedeutung. Häufigere Zugangswege sind Zeitschriftenkauf, Buchkauf im Ladengeschäft oder bei Internet-Versendern, Kauf von Tonträgern bzw. bezahlte Musik-Downloads, Buchgeschenke, Ausleihe von Freunden, Bekannten und Verwandten, Nutzung des Internets und hier insbesondere der Wikipedia, von Videoportalen und von Apps auf mobilen Endgeräten. (2) Aber eine geringere Rolle als Bibliotheken spielen für die Gesamtbevölkerung Weblogs und Twitter, insgesamt die aktive Beteiligung an Web-2.0-Angeboten, ferner der Zeitschriftenbezug von einem Lesezirkel und der Online-Bezug von Büchern. (3) Für einige Bevölkerungsgruppen sind Öffentliche Bibliotheken aber doch bedeutende Zugangswege zu Lesestoffen: – Kinder und Jugendliche sind in hohen Anteilen regelmäßige und intensive Bibliotheksbenutzer, obwohl auch für die Jugendlichen der Bezug neuer Bücher durch Kauf eine wichtigere Rolle spielt als durch Ausleihe aus einer Bibliothek. – Der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund hat eine stärkere Neigung, Lesestoffe aus der Bibliothek zu holen, als die Bevölkerung insgesamt. Für Schüler mit Migrationshintergrund (vgl. Fühles-Ubach / Seidler-de Alwis 2011) spielt die Bibliothek als Aufenthaltsort, wo man sich mit Freunden trifft oder Hausaufgaben erledigt, eine größere Rolle als für die Schüler ohne Migrationshintergrund. Die Migranten unter den Schülern nutzen Medien und Computer stärker in der Bibliothek als die anderen Schüler. Für die Migranten sind Unterhaltung und Freizeit wichtige Nutzungsmotive, jedoch liegen nur bei ihnen Schule, Studium und Ausbildung als Nutzungsmotiv mit den Freizeitmotiven gleichauf. Allerdings muss man innerhalb der Migranten nach Alter und Herkunft stark differenzieren (vgl. Bonfadelli 2009).
614
Konrad Umlauf
– Häufige Leser sind sowohl häufige Buchkäufer wie auch häufige Bibliotheksbenutzer. Sie nutzen und kaufen Musikmedien stärker als die durchschnittlichen und schwachen Leser, sie lesen sowohl belletristische wie Sach- und Fachbücher häufiger als die anderen, sie hören Hörbücher und nutzen Computer und Internet häufiger als die anderen – und sie lesen seltener Zeitung als die anderen und beziehen Zeitschriften besonders selten vom Lesezirkel. Ein scheinbar anderes Bild ergibt sich, wenn man die Zahl der Buchkäufe und die Zahl der Ausleihen in Bibliotheken vergleicht. Der Umsatz im Bucheinzelhandel (ohne nicht-buchhändlerisches Sortiment wie Papier- und Schreibwaren) betrug in 2010 4,0 Milliarden Euro; das ergibt bei einem absatzgewichteten Durchschnittspreis von 14,45 Euro 276 Millionen verkaufte Exemplare (vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2012, S. 50, 64, 121). Dem stehen für dasselbe Berichtsjahr 474 Millionen Ausleihen aus Bibliotheken gegenüber, davon 96 Millionen aus wissenschaftlichen Universal- und Hochschulbibliotheken (vgl. Hochschulbibliothekszentrum Köln o. J.). Der Widerspruch löst sich auf, wenn man sich vor Augen führt: – Buchkauf ist viel weiter verbreitet als Ausleihe aus Bibliotheken. 42 Millionen Kunden im Buchhandel stehen 11 Millionen Bibliotheksbenutzern gegenüber. Letztere nutzen die Bibliotheken aber intensiv; allein die 2,7 % der Bevölkerung, die Hochschulangehörige mit einem extensiven Bedarf nach Lehrtexten und zitierfähigen Publikationen sind, erzeugen ein Fünftel der gesamten Ausleihe. – Wenn es um Buchzugang geht, müssen den im Buchhandel gekauften Exemplaren die Exemplare hinzuaddiert werden, die die Leser sich von Freunden, Verwandten und Bekannten leihen und die sie ihrem eigenen Bücherregal entnehmen. Die Sinus-Milieus, die überdurchschnittlich viel Geld im Buchhandel ausgeben, sind zugleich diejenigen Sinus-Milieus (vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2008), die eine besonders hohe Affinität zur Bibliotheksbenutzung haben (vgl. Umlauf 2012b). Das Profil des Zugangs zu Lesestoffen soll nach dem Inhalt der Lesestoffe näher beleuchtet werden. Tabelle 6 zeigt Einzelheiten; freilich sind die Zahlen auch hier nur eingeschränkt aussagefähig und vergleichbar2.
2 Die Warengruppen des Betriebsvergleichs des Sortimentsbuchhandels sind mit der Ausleihstatistik der Öffentlichen Bibliotheken nur begrenzt vergleichbar. In der Tabelle wurden der Gruppe Körperliche Non-Print-Medien aus der Buchhandelsstatistik die Hörbücher und sonstigen Verlagsprodukte, aus der Bibliotheksstatistik die Entleihungen der Non-Books und der digitalen körperlichen Medien zugeordnet. Die Umsätze des nicht-buchhändlerischen Sortiments (z. B. Papier- und Schreibwaren, Weine) wurden nicht berücksichtigt. Um die Umsätze mit Ausleihen vergleichbar zu machen, wurden diese mit folgenden Durchschnittspreisen gewichtet: Sach- und Fachbücher, sonstige Printmedien:
3.3.1 Bibliotheken als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
615
Tab. 6: Nutzungsprofil Öffentlicher Bibliotheken und des Bucheinzelhandels Bucheinzelhandel
Bibliothek
Umsatzanteil %
Geschätzte Absatzanteile %
Ausleihanteil %
Sach- und Fachbuch, sonstige Printmedien
56,5
39,3
22,2
Belletristik
23,9
32,1
17,0
Kinder- und Jugendbuch
12,0
19,2
25,4
Körperliche Non-Print-Medien
6,5
8,1
34,9
Downloads
1,1
1,4
0,4
Sortimentsgruppe
Kennzeichnend für den Bucheinzelhandel ist die starke Fokussierung auf gedruckte Bücher. Den Löwenanteil nehmen Sach- und Fachbücher sowie Zeitschriften und Presseerzeugnisse ein. Die Belletristik erzielt einen geschätzten Absatzanteil nach Exemplaren von etwa einem Drittel, Kinder- und Jugendbücher von einem Fünftel. Körperliche Non-Print-Medien haben einen Anteil von unter 10 %. Dagegen bilden gerade die körperlichen Non-Print-Medien das stärkste Ausleihsegment in den Öffentlichen Bibliotheken. Lesemedien haben zusammen einen Anteil von zwei Dritteln. Darunter fallen die Kinder- und Jugendbücher besonders ins Gewicht; die Belletristik ist das kleinste Ausleihsegment im Printbereich. Sowohl in den Öffentlichen Bibliotheken wie auch im Bucheinzelhandel spielen Downloads nur eine marginale Rolle, in den Öffentlichen Bibliotheken ist ihr Anteil noch randständiger, was durch die bislang überschaubare Anzahl Öffentlicher Bibliotheken erklärt werden kann, die dieses Angebot aufweisen. Dagegen ist an der New York Public Library die Nutzung durch Downloads seit 2011 stärker als die Nutzung durch Ausleihen (vgl. Platt 2012). Für diese Bibliothek ist die Einführung von populären Netzpublikationen im Einzelnen dokumentiert: Die New York Public Library begann mit einem Angebot an Netzpublikationen zum Download in 2004. Anfänglich verlief die Nutzung schleppend, weil die Lesegeräte und die Download-Prozedur weniger komfortabel waren als heute und immer wieder Inkompatibilitäten der Software die Nerven der Nutzer und der Bibliothekare strapazierten, vor allem, weil viele Verlage zunächst restriktiv mit der Lizenzierung aktueller, viel gefragter Titel an Bibliotheken waren. Erst als die aktuellen Bestseller (John Grisham, Danielle Steel, James Patterson usw.) auf der Website der Bibliothek verfügbar waren, schnellten die Nutzungszahlen in die Höhe. Erst diese Inhalte machten das elektronische Angebot über die kleine Gruppe der ›early-adop-
25,91 Euro; Belletristik: 13,41 Euro; Kinder- und Jugendbücher: 11,21 Euro; Körperliche Non-Print-Medien: 14,45 Euro; Downloads: 14,45 Euro.
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Konrad Umlauf
ters‹ hinaus attraktiv, für die nicht nur der Inhalt, sondern vor allem das technische Faszinosum das Nutzungsmotiv ist. Tatsächlich kauft die New York Public Library alle Titel, die auf Bestsellerlisten erscheinen, als Printausgabe. Nur 70 % davon konnten in 2011 auch als elektronisches Buch erworben werden, weil die Verlage sie zwar auch elektronisch herausbringen, aber die Netzpublikationen zunächst nicht an Bibliotheken lizenzieren. Die Zurückhaltung bei der Lizenzierung der Inhalte an Bibliotheken ist im Bereich der Lesestoffe also zurückgegangen, wenn auch nicht beseitigt, sie besteht aber weiterhin bei Filmen und Musik. Hier kann das Bibliotheksangebot infolge der restriktiven Lizenzpolitik mit den Angeboten von Netflix, iTunes usw. nicht mithalten. Tendenziell, wenn auch auf weit niedrigerem Niveau und stark verzögert, bestehen für Deutschland ähnliche Verläufe (vgl. Mittrowann 2012). Hierzulande sehen die Nutzer der Download-Angebote Öffentlicher Bibliotheken Defizite vor allem bei folgenden Angeboten (vgl. Pflaum 2012): Zeitschriften, Hörbüchern, Filmen, aktuellen Neuerscheinungen und Beststellern, fremdsprachigen Büchern, Mangas, regionalen Zeitungen, Belletristik-Klassikern, Sachbüchern über Kunst, Religion, Philosophie, Psychologie, Gartenpflege, Kochen, Tiere. Dies zeigt einerseits die umfassenden Interessen der Download-Nutzer, andererseits die bisherige Lizenzierungspolitik, die teils auf Zurückhaltung seitens der Verlage, teils auf Entscheidungen des für die Öffentlichen Bibliotheken in einer Quasi-Monopolstellung stehenden Aggregators, der Firma DiviBib, zurückgeht. Ganz anders als in deutschen Öffentlichen Bibliotheken ist die Nutzung in wissenschaftlichen Universal- und Hochschulbibliotheken strukturiert. Hier entfällt 84 % der gesamten Nutzung (Ausleihen und Downloads; ohne Zugriffe auf Datenbanken; ohne Präsenznutzung von gedruckten Büchern) auf Netzpublikationen (elektronische Zeitschriften, Zeitschriftenaufsätze und elektronische Einzeldokumente wie elektronische Bücher), und das sind hier, anders als bei den Öffentlichen Bibliotheken, im Großen und Ganzen Lesemedien. Drei von vier Hochschulangehörigen nutzen elektronische Bücher (vgl. Matschkal 2009). Lehrbücher allerdings bevorzugt gut die Hälfte der Benutzer wissenschaftlicher Bibliotheken in gedruckter Form. Bei wissenschaftlichen Büchern sind die Präferenzen nicht klar ausgeprägt, jedoch bevorzugen hier 39 % der Befragten die elektronische Form – wohl weil man Lehrbücher weitgehend durcharbeitet und wissenschaftliche Bücher in nennenswertem Umfang punktuell konsultiert. Bei Nachschlagewerken wird die elektronische Form besonders stark erwartet. Die Präferenzen treten noch klarer hervor, wenn die Verzichtsoption angesprochen wird: 37 % der Befragten können auf das gedruckte Lehrbuch verzichten, wenn es elektronisch verfügbar ist, 53 % auf das wissenschaftliche Buch und 65 % auf das Nachschlagewerk. Die Unterschiede zwischen Universität und Fachhochschule, zwischen Dozenten und Studierenden sind gering. Die Hochschulbibliotheken beobachten jedoch zunehmend den Effekt, dass Studierende und Dozenten die Bibliothek über das Intranet der Hochschule – nämlich durch die Bibliothek lizenzierte Publikationen – auf ihren Laptops nutzen, ohne zu bemerken, dass es sich um ein Angebot der Bibliothek handelt (vgl. Thor
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mann / Wunderlich 2011); auch von daheim oder unterwegs greifen sie über den VPN-Zugang auf das Intranet zu. Was tun Benutzer in der Bibliothek? Lesen sie? Über ihr Nutzungsverhalten geben zahlreiche Marktforschungsstudien Aufschluss. Einige prägnante Ergebnisse sollen vorgestellt werden: – Während an Öffentlichen Bibliotheken die gedruckten Zeitschriften meistens ausgeliehen werden können – in der Regel mit Ausnahme der neuesten Hefte –, bilden sie an wissenschaftlichen Bibliotheken den Präsenzbestand. Damit sind die Benutzer hoch zufrieden. Zwei Drittel der Studierenden kennen den Zeitschriftenbestand, die Hälfte hat ihn schon benutzt (vgl. Reichmann 2002). – Für die Benutzer Öffentlicher Bibliotheken in Großstädten hat neben der Ausleihe auch die Funktion der Bibliothek als Lese- und Arbeitsraum eine hohe Präferenz, nicht jedoch die von Bibliothekaren gern herausgestellte Funktion als Treffpunkt (vgl. Klocke u. a. 2005). Noch wichtiger sind Leseplätze für die Benutzer von Universitätsbibliotheken (vgl. Leiß 2009). In Kleinstädten spielt die Öffentliche Bibliothek als Ort zum Arbeiten dagegen praktisch keine Rolle (vgl. Weil 2009). – Für Schüler mit Migrationshintergrund ist die Funktion als Lese- und Arbeitsraum besonders wichtig. Sie finden hier, was sie daheim oft vermissen: einen Tisch, an dem sie ungestört von lärmenden Geschwistern die Hausaufgaben machen können, und eine Person, die Bibliothekarin, die ihre lernbegierigen Fragen beantworten kann (vgl. Fühles-Ubach / Seidler-de Alwis 2011). – In wissenschaftlichen Bibliotheken nimmt der Anteil der Benutzer zu, die mit eigenem Laptop und mitgebrachten Büchern und anderen Unterlagen arbeiten: Sie brauchen nicht die lokalen Sammlungen, sondern einen Arbeitsplatz in ebenso beflügelnder wie konzentrierter Umgebung mit WLAN (vgl. Fansa 2012, S. 57 f.). An der Fachhochschule Aachen haben rund 30 % der Studierenden keinen Bibliotheksausweis, aber der größte Teil von diesen Studierenden nutzt die Bibliothek als Aufenthaltsort oder zur Nutzung der Zeitschriften und der Internetarbeitsplätze (vgl. Thormann / Wunderlich 2011). Ist der Zugang zu Lesestoff eine Funktion von Bibliotheken, so haben sie darüber hinaus vielfältige weitere Funktionen, von denen hier die Leseförderung besonders gewürdigt werden soll. Diese Funktion ist deshalb von herausragender Bedeutung, weil unbestritten ist, dass die Lesesozialisation in der Kindheit, besonders der frühen Kindheit, einen entscheidenden Einfluss auf die Entstehung lebenslang stabiler Leseneigungen hat (vgl. Irle 2009). Ein wichtiger Faktor bei der Herausbildung stabiler Lesegewohnheiten ist neben dem elterlichen Vorbild weniger das Vorlesen selbst, sondern die kommunikative Einbettung des Vorlesens in den Medienalltag, d. h. dass die Eltern den Kindern nicht nur vorlesen, sondern mit den Kindern über die Wahl der Lektüre und über ihre Inhalte sprechen (vgl. Rupp u. a. 2004, S. 43, 90, 108). Diese Erkenntnis setzen die Öffentlichen Bibliotheken bei ihren Maßnahmen zur Leseförderung um, indem neben den
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Konrad Umlauf
mehr oder minder überall stattfindenden Vorlesestunden, oft getragen von Freiwilligen, Aktionen treten, bei denen die Kinder über Lesestoffe und -erlebnisse berichten, Figuren und Motive ihrer Lektüren malen, zeichnen, basteln und ausstellen (vgl. Holthoff 2009). Die Ausstellung erzeugt über Aufmerksamkeit soziale Anerkennung. Andere Veranstaltungsformen im Kontext der Leseförderung sowie Medien- und Informationskompetenzvermittlung setzen auf szenisches Nachspiel oder Bibliotheksrallyes3 (vgl. Umlauf u. a. 1989), bei denen die Benutzerschulung in eine Spielhandlung mit Musik, Dekoration aus Krepppapier oder Kostümen eingebettet ist. Vorlesestunden, bei denen bevorzugt lokale Prominenz sich in Szene setzen kann, sind in Öffentlichen Bibliotheken auch eine Veranstaltungsform für ein erwachsenes Publikum (vgl. Elig 2011). Den Mangel an Schulbibliotheken in Deutschland gleichen die Öffentlichen Bibliotheken ein Stück weit aus, indem sie vielerorts die Schulen, aber auch Kindereinrichtungen mit Medienboxen versorgen – Transportbehältnissen, die mit thematischen Medienzusammenstellungen (Verkehr, Vögel, Mittelalter etc.) gefüllt sind und regelmäßig ausgetauscht werden. Die Bücher und anderen Medien werden in den Kindereinrichtungen vor allem eingesetzt zur Bereicherung des Stuhlkreises, zur Unterstützung der Projektarbeit und zur eigenständigen Nutzung durch die Kinder. Auch die Erzieherinnen beziehen aus den Inhalten Anregungen für Projekt- und Bildungsarbeit (vgl. Best-Sendel 2010). Eine Reihe von Öffentlichen Bibliotheken hat ambitionierte Programme entwickelt, bei denen die Schüler im Sinn eines Spiralcurriculums regelmäßig die Bibliothek besuchen, um dort Aufgaben von wachsendem Schwierigkeitsgrad zu bearbeiten (vgl. Marci-Boehncke / Rose 2012).
7 Fazit Für die Bevölkerung insgesamt haben Bibliotheken unter dem Gesichtspunkt des Zugangs zu Lesestoffen eine nachgeordnete Bedeutung. Wichtiger sind insgesamt Buchkauf und Leihe von Freunden und Verwandten. Die Bibliotheksbenutzer sind jedoch überwiegend intensive und häufige Leser und Computernutzer, die zwar auch überdurchschnittlich häufig Bücher und Zeitschriften kaufen, aber doch gewichtige Teile ihrer Lektüre- und Informationsbedarfe in Bibliotheken decken. Am stärksten gilt dies für Hochschulangehörige und für Schüler. Für beide Gruppen – am meisten für Studierende – sind Bibliotheken gut etablierte Beschaffungsquellen für Lesestoff und darüber hinaus wichtige Arbeitsplätze für die konzentrierte Mediennutzung. Größere Bedeutung als für Schüler generell haben Bibliotheken für Schüler mit Mi grationshintergrund. Während für die Gesamtbevölkerung die Angebote der Bibliotheken an digitalen Lesemedien einen noch geringeren Stellenwert als die entspre-
3 Vermutlich die erste Bibliotheksrallye in Deutschland.
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chenden Angebote des Buchhandels einnehmen, was vor allem auf die Begrenztheit des Angebots der Öffentlichen Bibliotheken zurückzuführen ist, hat an wissenschaftlichen Universal- und Hochschulbibliotheken die Nutzung elektronischer Texte die Nutzung gedruckter Medien weit überflügelt. Aber das gedruckte Lehrbuch ist weiterhin unschlagbar beliebt.
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Konrad Umlauf
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Svenja Hagenhoff
3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre Zusammenfassung: Der Beitrag beschreibt die ökonomischen Aspekte der Bereitstellung von Lesestoffen in Buchform. An dieser sind auf den Wertschöpfungsstufen Produktion sowie Distribution unterschiedliche Akteure beteiligt. Die Aufgaben und die Akteure werden identifiziert und beschrieben. Zudem werden die Strukturen des Buchmarkts auf den beiden Wertschöpfungsstufen dargestellt. In Bezug auf die Bereitstellung von Lesestoffen in digitaler Form werden erste Überlegungen zu den Themen Variantenproduktion, Preissetzung, Diffusion sowie technologische Infrastrukturen und Regulierung präsentiert. Abstract: This chapter describes the economic aspects of the provision of reading material in book form. In the value chain of production and distribution of reading material, different actors are involved. The actors as well as the activities within the value chain are identified and described. In addition, the structures of the book market are illustrated. As to the provision of reading materials in digital form, introductory thoughts on the production of variants, pricing, and diffusion as well as technological infrastructure and regulation are presented.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 624 2 Leistungsbeiträge zur Bereitstellung von Lesestoffen — 625 2.1 Wertschöpfungsstufe Produktion — 625 2.2 Wertschöpfungsstufe Distribution — 626 3 Bereitstellungsorganisationen als Intermediäre — 627 3.1 Wertschöpfungsstufe Produktion — 627 3.2 Wertschöpfungsstufe Distribution — 628 4 Struktur des deutschen Buchmarkts — 631 4.1 Wertschöpfungsstufe Produktion und Hauptakteur Verlag — 631 4.1.1 Umsatz — 631 4.1.2 Titelproduktion — 635 4.2 Wertschöpfungsstufe Distribution und Hauptakteur Buchhandel — 635 5 Spezifische Aspekte im Hinblick auf die Bereitstellung digital vorliegender Lesestoffe — 638 5.1 Variantenproduktion — 638 5.2 Preissetzung bei E-Books — 640 5.3 Diffusion von E-Books — 643 5.4 Technologische Infrastrukturen und Regulierung — 647 6 Schluss — 648 7 Literatur — 649
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Svenja Hagenhoff
1 Einleitung An der Bereitstellung von Lesestoffen ist eine Vielzahl an Organisationen beteiligt. Lesestoffe müssen zunächst wie andere Produkte auch hergestellt und anschließend distribuiert werden. An der Leistungserstellung vom Rohstoff ›Manuskript‹ bis hin zum les- und damit nutzbaren Objekt in Form eines Buchs, einer Zeitung, eines Magazins oder auch Blogbeitrags sind Einzelpersonen (Urheber), privatwirtschaftliche und öffentliche Organisationen in unterschiedlichem Ausmaß involviert. Während öffentliche Organisationen, wie z. B. Bibliotheken, in der Trägerschaft der öffentlichen Hand stehen, befinden sich privatwirtschaftliche Organisationen in privater Hand. Solche Unternehmen können als Non-Profit-Unternehmen betrieben werden (z. B. Verbände), verfolgen aber mehrheitlich das erwerbswirtschaftliche Prinzip, bei dem sich die Gewinnerzielungsabsicht zumindest auf eine angemessene Verzinsung des betriebsnotwendigen Kapitals richtet. Unternehmen, welche Lesestoffe erzeugen und distribuieren, verantworten Güter mit besonderen Aufgaben: Sie dienen der Meinungsbildung und Kulturentwicklung und sind damit nicht nur eine Ware. Auch privatwirtschaftliche Unternehmen verfolgen daher nicht immer nur rein ökonomische Ziele, sondern auch solche publizistischer Art. Ökonomische Kriterien können bei einzelnen Produkten oder Leistungen durchaus in den Hintergrund treten. Dennoch agieren solche Unternehmen auf Märkten. Dieses institutionelle Arrangement wird allgemein als effizienter Mechanismus angesehen, um in einer arbeitsteiligen Gesellschaft das erforderliche Maß an gesamtwirtschaftlicher Koordination zu erreichen. Angebote an Lesestoffen, für die es nur geringe Nachfrage gibt, können im Zuge einer innerbetrieblichen Subventionierung mitfinanziert werden, auf der Ebene der Gesamtleistung eines Unternehmens müssen jedoch die Umsätze die Kosten dauerhaft übersteigen, will ein Unternehmen überleben. Im Gegensatz zu anderen Medien, wie Film und Rundfunk, ist eine Subventionierung der Produktion von Lesestoffen durch die öffentliche Hand überhaupt nicht vorgesehen, während auf der Distributionsstufe öffentliche Organisationen (Bibliotheken1) daran beteiligt sind, den Lesern Lesestoffe zugänglich zu machen. Lesestoffe werden in Form statischer Zeichensysteme codiert. Sie benötigen ein Medium, um dargestellt, transportiert sowie gehandelt werden zu können. Mit Papier als Beschreibstoff und Trägermedium werden Lesestoffe in Form von gedruckten Büchern2, Magazinen oder Zeitungen3 aufbereitet und an den Rezipienten gebracht. Zeichensysteme können auch in Form elektronischer Impulse codiert und auf Bildschirmen angezeigt werden. Lesestoffe sind dann in Form von Webseiten oder kom-
1 Vgl. Kap. 3.3.1 Bibliotheken als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre in diesem Band. 2 Vgl. Kap. 2.2.2 Das Buch in der Codexform und einblättrige Lesemedien in diesem Band. 3 Vgl. Kap. 2.2.3 Zeitung und Zeitschrift in diesem Band.
3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
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plexeren Objekten in spezifischen Realisierungsformen (E-Objects4) darstellbar und rezipierbar. Um den folgenden Ausführungen die Komplexität und Notwendigkeit zur Ausdifferenzierung zu nehmen, konzentriert sich dieser Beitrag auf Lesestoffe, die in der Produktform eines Buchs (gedruckt, elektronisch) aufbereitet und bereitgestellt werden.
2 Leistungsbeiträge zur Bereitstellung von Lesestoffen 2.1 Wertschöpfungsstufe Produktion Bei der Produktion handelt es sich um den Prozess der Kombination von Produk tionsfaktoren und deren Transformation in Produkte. Ausgehend von dem Rohstoff ›Manuskript‹ gilt es Lesestoffe in nutzbare und handelbare Produkte (hier: Buch) zu verwandeln (folgende Funktionen zusammengetragen aus Morris 1999; Scupola 1999; Heinold 2001; Kerlen 2005; Walter 2007; Janello 2010; Schumann u. a. 2014). Lesestoffe werden entweder von Urhebern intrinsisch motiviert erzeugt (z. B. Belletristik) oder aber auch von Verlagen in Auftrag gegeben (z. B. Sachbücher). In beiden Fällen müssen sie ›in Form‹ gebracht werden. Hierunter fallen Arbeiten wie Lektorieren, Korrigieren, Präzisieren oder Illustrieren, Arbeiten, die den Rohstoff Manuskript qualitativ aufwerten, allgemein gesprochen das Asset (vgl. Schumann u. a. 2014) also veredeln. Diese Arbeiten werden entweder von Verlagen, von Dienstleistern (Freiberufler) oder aber vom Urheber selber vorgenommen. Damit ein Buch entsteht, müssen mehrere divergente Assets aggregiert werden, also z. B. Textkörper, Titelseite, Autoreninformation und Waschzettel. Umgeht der Autor den etablierten Verlag, können diese Aufgaben auf einer Self-Publishing-Plattform (SP-Plattform) mit hohem Automatisierungsgrad durchgeführt werden. Soll ein Lesestoff mit Hilfe eines etablierten Verlags publiziert werden, so wird der Verlag das angebotene Manuskript prüfen und sorgfältig abwägen, ob er eine Investition tätigen wird mit dem Ziel, den angebotenen Inhalt zu einem Buch zu verarbeiten. Inhalte werden also selektiert und ggf. zurückgewiesen, wenn sie qualitativ, stilistisch oder thematisch nicht adäquat erscheinen. Die Selektionsentscheidungen werden in der Regel unter Unsicherheit, präzise sogar unter Ungewissheit (zur Entscheidungstheorie vgl. Laux u. a. 2012; Wessler 2012), getroffen.
4 Der Begriff ›Objects‹ ist ein Platzhalter und führt in Kombinationen mit den Begriffen Books, Magazine oder Paper zu den Produktbezeichnungen E-Book, E-Magazine oder E-Paper. Als spezifische Realisierungsformen kommen verschiedene Dateiformate (z. B. EPUB oder PDF) aber auch native oder nicht-native Apps in Frage.
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Svenja Hagenhoff
Produktion Assets erzeugen • Urheber
Assets selektieren • Verlag
Assets veredeln • Verlag
Distribution Assets aggregieren • Verlag
• Dienstleister • SP-Plattformen • Urheber
Produkt fertigen
Akquisitorische Distribution: selektieren, bündeln, informieren
Physische Distribution: transportieren, lagern
• Druckerei
• Verlag
• Zwischenhandel
• Binderei
• Zwischenhandel
• Einzelhandel
• Setzer
• Einzelhandel
• Bibliotheken
• KonvertierungsDienstleister
• Bibliotheken
• Logistiker
• Literaturvermittler
• TK- und IT-InfrastrukturProvider
• SP-Plattformen
• Verbände • Weitere Dienstleister
Abb. 1: Wertschöpfungskette und Akteure in der Buchindustrie
Das Ergebnis der Produktionsstufe ist die sog. First Copy. Hierbei handelt es sich um eine Master- oder Urkopie, die als Vorlage für die Vervielfältigung im Falle von Druckwerken genutzt wird. Es resultiert ein Printmedium, welches in identischer Form in mehrfachen Exemplaren vorliegt. Im Falle digitaler Objekte ist es das Ziel, den digital vorliegenden Inhalt in unterschiedlichen Formaten ausspielen zu können. Digitale Objekte, welche zum Download angeboten werden, sollen auf Endgeräten mit verschiedenen Betriebssystemen und Standards funktionsfähig sein. Für E-Books existieren verschiedene Dateiformate wie EPUB, PDF oder MOBI; Apps werden nativ für die verschiedenen Betriebssysteme der Endgeräte (iOS, Android, Phone) entwickelt. Es findet an dieser Stelle also nicht mehr die massenhafte Produktion eines standardisierten Guts statt, stattdessen werden technologisch bedingte Varianten eines Ausgangsprodukts erzeugt. Zu diesem Zweck sind entweder ausgereifte technologische Lösungen wie Content-Management-Systeme mit medienneutraler Datenhaltung für das Ausspielen von Online-Inhalten oder aber die Leistungen eines Konvertierungsdienstleisters erforderlich.
2.2 Wertschöpfungsstufe Distribution Auf der Distributionsstufe geht es generell um die Verteilung von Gütern von den Erzeugern zu den Konsumenten. Zu unterscheiden sind die akquisitorische und die logistische Distribution. Absatzmittler und Absatzhelfer vermarkten die erzeugten Produkte, indem sie aus einer großen Auswahl an Produkten selektieren, anbieter übergreifende Bündel zusammenstellen und über Produkte informieren. Neben Akteuren, die auch für andere Branchen typisch sind, wie Zwischenhandel und Einzelhandel in stationärer sowie elektronischer Form, sind in der Buchwirtschaft in dieser Wertschöpfungsstufe weitere Akteure zu identifizieren, wie erneut Verlage,
3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
627
aber auch Bibliotheken, Verbände, wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, und Literaturvermittler5. Akteure der logistischen Distribution sorgen dafür, dass die erzeugten Produkte physisch verteilt und gelagert werden bzw. dass ein Zugriff auf die Produkte möglich ist. Diese Aufgabe übernehmen Zwischen- und Einzelhandel, Bibliotheken, Logistikdienstleister sowie im Falle digitaler Produkte Infrastrukturprovider aus den Bereichen Telekommunikation (TK) und Informationstechnologie (IT), die Serverleistungen im 24/7-Betrieb bereitstellen.
3 Bereitstellungsorganisationen als Intermediäre 3.1 Wertschöpfungsstufe Produktion Es ist ersichtlich, dass zwischen Urheber als Erzeuger von Lesestoffen und dem Leser oder Käufer des erzeugten Produkts ›Buch‹ eine erhebliche Zahl an Intermediären Platz findet. Eine bedeutende Rolle kommt auf der Produktionsstufe dem Verlag zu, welcher als Gatekeeper agiert und entscheidet, welche Lesestoffe den Leser erreichen. Er wirkt mengenausgleichend, da Urheber sehr viel mehr Lesestoffe erzeugen als Leser rezipieren könnten, nach eigenem Verständnis aber oftmals auch qualitätsbewahrend, da nur hochwertige Texte, geprüfte Stoffe und wohlaufbereitete Produkte an den Leser gelangen. Er versteht sich auch als Bewahrer von Kultur und Bildung (vgl. Börsenverein 2013b). Für den deutschen Markt nicht untypisch ist eine ausgeprägte Landschaft an Freiberuflern, die auf der Stufe der Veredelung der Assets arbeiten und Übersetzungen anfertigen oder Texte lektorieren, damit ein hochwertiges Produkt erzeugt werden kann. Aufgrund der physischen Beschaffenheit von Printprodukten spielt des Weiteren der Drucker eine wichtige Rolle. Er verfügt über technologische Anlagen und Knowhow zur Reproduktion von Printprodukten. Die Markteintrittsbarrieren an dieser Stelle der Wertschöpfungskette waren und sind aufgrund der hohen Investitionen in Maschinen sowie das erforderliche Know-how hoch, zugleich ist die gesamte Branche aufgrund kontinuierlich rückläufiger Umsätze unter großem Druck. Hochwertig gedruckte Bücher, die in kleiner Auflage im Offsetverfahren produziert werden, erfordern heute oftmals noch einen Druckkostenzuschuss. Neben Druckereien für den klassischen Buchdruck sind in den vergangenen Jahren Druckdienstleiser entstanden, die basierend auf dem Digitaldruck Bücher in der Losgröße eins im Print-onDemand-Verfahren produzieren können. Buchtitel, die als sog. C-Artikel oder Lang-
5 Für den Akteur Literaturvermittler vgl. Kap. 3.3.3 Literaturvermittlung in diesem Band.
628
Svenja Hagenhoff
samdreher im Auflagendruck bisher erhebliche Kapitalkosten gebunden haben und für die Produktion oder das Sortiment unattraktiv waren sowie Nachdrucke vergriffener Werke können dem Leser bereitgestellt werden. Viel Aufmerksamkeit hat die Espresso Book Machine (EBM) erhalten, die von der Firma On Demand Books entwickelt wurde und von der Firma Xerox vertrieben wird. Die EBM kann in Buchhandlungen, Bibliotheken oder Cafés aufgestellt werden, um dort Bücher nach Bedarf zu produzieren und die Transportkosten sowie die Lagerhaltungskosten zu senken bzw. zu sparen. Die Produktion physischer Bücher verschiebt sich mit solchen Technologien in die räumliche Nähe des Kunden.
3.2 Wertschöpfungsstufe Distribution Die Intermediäre auf der Distributionsstufe erfüllen die typischen Funktionen des Handels (vgl. Zentes u. a. 2012): Auf der Ebene der akquisitorischen Distribution schafft er im Falle gedruckter Werke durch Güterumgruppierung einen Ausgleich zwischen produktionsbedingten großen Druckauflagen und deutlich weniger großen Nachfragemengen zum gleichen Zeitpunkt (Quantitätsfunktion). Im Falle digitaler Objekte oder beim Wechsel auf das Print-on-Demand-Verfahren wird diese Funktion obsolet. In der Qualitätsfunktion arbeitet der Handel sortimentsbildend, indem er Druckerzeugnisse hinsichtlich unterschiedlicher Kriterien selektiert und fertigungstechnisch bedingte oder profilbedingte Programme in bedarfsorientierte Sortimente transponiert. Zu diskutieren ist, ob elektronische Vertriebskanäle einer sortimentsbildenden Funktion nachkommen. Der elektronische Handel besteht im Kern aus einer Datenbank, in welcher alle erdenklichen Druckerzeugnisse (und ggf. auch weitere Güter), so sie nur liefer- und transportierbar sind, verzeichnet und zum Kauf angeboten werden. Einer Sortimentsbildung im klassischen Sinne, der Händler wählt Waren aus, von denen er denkt, der Kunden würde sie benötigen, entspricht dieses Vorgehen weniger. Zudem wird im Gegensatz zum stationären Handel das Steuerungsinstrument der Knappheit (Regalplatz) als Vorfilter des Angebots obsolet. Gleichwohl kann der elektronische Handel Mechanismen implementieren, die die Aufmerksamkeit des Kunden auf bestimmte Werke lenken, wie z. B. Empfehlungsmechanismen. In Literatur und Praxis wird kontrovers diskutiert, ob elektronische Marktplätze und darauf arbeitende Algorithmen die gleichen unterstellt positiven Effekte für die Orientierung des Kunden erzeugen können wie der stationäre Handel. Die Algorithmen-Kritiker argumentieren vor allem, dass sich der Kunde bzw. Leser in einer ›Filter Bubble‹ wiederfinden würde, in der Aufmerksamkeit auf Inhalte gelenkt würde, die lediglich den bisherigen Interessen eines potenziellen Lesers entsprächen (vgl. Pariser 2011). Dabei findet allerdings weder in der Buchwirtschaft noch in den wissenschaftlichen Disziplinen, die sich der Beforschung von Medien verschrieben haben, eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Funktionsweisen solcher Systeme statt (zu Empfeh
3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
629
lungssystemen vgl. Hagenhoff 2009, 2015). Analysen finden sich vielmehr in technologieorientierten Disziplinen (vgl. Benlian u. a. 2012), deren Erkenntnisse dahingehend überprüft werden müssen, ob und wie sie auf den Buchmarkt zu übertragen sind. Explizit mit Empfehlungssystemen für die Produktklasse Buch beschäftigt sich die Arbeit von Sophie Ahrens (2012). Der Vorgang des Marktausgleichs bezieht sich auf die eigentliche Abstimmung von Angebot und Nachfrage durch Maßnahmen der Marktuntersuchung und Marktbeeinflussung durch Bereitstellen von Informationen (Informationsfunktion). Dieses geschieht im stationären Handel mit Printprodukten im Wesentlichen durch das Auslegen und Sichtbarmachen der Ware für den Kunden, aber auch über Kaufberatung durch z. B. Buchhändler. An dieser Funktion sind auch professionelle Literaturvermittler beteiligt, die z. B. Rezensionen schreiben. Die Informationsfunktion wird mangels Möglichkeiten der physischen Warenpräsentation bei elektronischen Händlern vollständig datenbankgestützt erfüllt, indem den Kunden Daten zur Produktbeschreibung, Möglichkeiten des Look-Inside sowie weitere Informationen, wie z. B. Berichte über Produkttests oder Rezensionen auf der Seite des Marktplatzes angeboten werden. Eine empirische Erhebungen der Nielsen Group zeigt die Bedeutung der Pflege von Produktstammdaten, aus denen den potenziellen Käufern die Informationen über Bücher bereitgestellt werden: Titel, bei welchen die Stammdaten gemäß der Norm der Book Industry Communication (BIC) gepflegt werden, weisen erheblich höhere Absatzzahlen auf, als Titel, bei denen diese Norm nicht erfüllen. Der Sachverhalt trifft sowohl für den Absatz über elektronische Vertriebskanäle als auch über den stationären Buchhandel zu (vgl. Breedt / Walter 2012). Die Bedeutung der Pflege von Produktstammdaten sowie standardisierten Datenaustauschformaten (in der Buchbranche: Onix) wird nach einer Einschätzung von Michael Lemster (2013) von Verlagen vollständig unterschätzt, werden diese Daten oftmals per Excelsheet an den Handel gesendet und dort fehleranfällig über Importroutinen oder gar händisch in die Kataloge übernommen (vgl. Janssen 2003). Auf der Ebene der logistischen Distribution arbeiten die Akteure bedarfsanpassend. Da der Zeitpunkt des Drucks eines Printerzeugnisses nicht identisch ist mit dem Zeitpunkt der Rezeption arbeiten Akteure zeitüberbrückend, in dem sie Waren in Lagern vorrätig halten, die sich in unterschiedlicher Nähe zum Kunden befinden. Relativ nah am Kunden befindet sich der stationäre Handel, dessen Ladengeschäft die Lagerhaltungsfunktion bedient. Im Falle des Handels gedruckter Bücher über elektronische Plattformen wird diese Funktion durch die Betreiber von Zentrallagern erfüllt. Allerdings ergibt sich durch den Wegfall des stationären Einzelhandels als eher kleiner Lagerraum in unmittelbarer Nähe des Kunden eine Tendenz zur Konzentration, in dem nur wenige große Akteure große Zentralläger an wenigen und hinsichtlich der umliegenden Infrastruktur (Flughäfen, Autobahnanbindung) wohlpositionierten Standorten betreiben. Im Falle digitaler Bücher entstehen neue Anforderungen an die zeitliche Überbrückungsfunktion. Da digitale Objekte nicht ausverkauft sein können (out of stock) sammeln sich zum einen über die Zeit immer mehr
630
Svenja Hagenhoff
von ihnen auf den Servern der digitalen Marktplätze an, so dass die IT-Kapazitäten immer weiter ausgebaut werden müssen. Zum anderen besteht eine besondere Herausforderung in der Langzeitarchivierung von digitalen Objekten (vgl. Giaretta 2011), da technologische Entwicklungen dazu führen, dass digitale Objekte in bestimmten Dateiformaten in etlichen Jahren nicht mehr gelesen werden können. Hier sind Dienstleister erforderlich sind, die digitale Objekte über die Zeit konvertieren oder andere Lösungen für dauerhafte Nutzungsmöglichkeiten dieser Objekte entwickeln. Der Handel überbrückt zudem geografische Distanzen zwischen dem Ort der Erzeugung des Printmediums und der Rezeption (Raumüberbrückung). Hier agiert der Zwischenhandel mit seinem Fuhrpark und im Falle des elektronischen Handels an der Schnittstelle zum Kunden auch selbstständige Logistikunternehmen. Dadurch, dass letztere den Endabnehmer direkt bedienen, verteilen sie Ware sehr viel kleinteiliger und räumlich weitläufiger als Zwischenhändler dieses mit der Belieferung des stationären Einzelhandels erledigen6. In der vollständig digitalisierten Welt ist die räumliche Funktion des Handels obsolet geworden, da die Kunden auf die digitalen Publikationen ortsunabhängig über Netzinfrastrukturen zugreifen. Eine raumüberbrückende Funktion nimmt hier stattdessen der Telekommunikationsdienstleister ein, der den Rezipienten einen breitbandigen Internetanschluss als Basisvoraussetzung zur Teilnahme an der Kommunikation im Internet im allgemeinen sowie den Bezug digitaler, ggf. großvolumiger Objekte im Spezifischen bereitstellt. In Bezug auf die räumliche und zeitliche Überbrückungsfunktion wird ersichtlich, dass die hier leistungsstarke Internet Service Provider erforderlich sind, da auf Servern nicht nur wohlstrukturierte Datensätze bereitgehalten werden, sondern zusätzlich die digitalen Publikationen in Form von Dateien selber. Hier wird deutlich, dass Teile der digitalen Welt mit hohen Markteintrittsbarrieren ausgestattet sind. Leistungsstarke IT-Lösungen, über die digitale Güter im 24/7-Betrieb vertrieben (Download) oder nutzbar gemacht (Access, Streaming) werden können, können nicht vom buchhändlerischen Mittelstand aufgebaut und betrieben werden. Eine weitere Stärkung der ohnehin schon großen Macht sehr großer Akteure wie Amazon, Apple, Google oder auch die Telekom ist die natürliche Konsequenz, die aus den Anforderungen der neuen Wertschöpfungsstrukturen resultiert (›natürliche‹ Monopole).
6 Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu den Zielen der Buchpreisbindung in Kap. 3.1.2 Staatlichrechtliche und politische Lenkungsprozesse des Lesens in der Gegenwart, Abschnitt 5 in diesem Band.
3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
631
4 Struktur des deutschen Buchmarkts 4.1 Wertschöpfungsstufe Produktion und Hauptakteur Verlag 4.1.1 Umsatz Zum Verlagswesen zählen laut der Klassifikation des Statistischen Bundesamts Unternehmen, die Bücher, Broschüren, Faltblätter, Prospekte und ähnliche Druckerzeugnisse, Wörterbücher und Enzyklopädien, Atlanten und andere kartografische Erzeugnisse, Zeitungen und Zeitschriften, Verzeichnisse und Adressenlisten sowie Software verlegen. Der Gesamtumsatz der so definierten Branche setzte sich im Jahr 2012 wie in der nachstehenden Tabelle dargestellt zusammen. In sämtliche Statistiken fließen nur Unternehmen ein, die einen Umsatz von mindestens 17.500 € erwirtschaften. Tab. 1: Umsatz der Verlagswirtschaft 2012 (Daten aus Statista 2014 auf Basis des Statistischen Bundesamtes) Teilmarkt
Umsatz in Millionen €
Zeitungen
11.500
Zeitschriften
9.800
Bücher
8.900
Sonstiges
3.500
Adressbücher und Verzeichnisse
1.800
Software und Computerspiele
2.800
Summe
38.300
Das Statistische Bundesamt weist 2243 Buchverlage in Deutschland für das Jahr 2011 aus. In der folgenden Tabelle sind die Anzahl der Verlage nach Umsatzgrößenklassen sowie der Gesamtumsatz in der jeweiligen Umsatzgrößenklasse aufgelistet. Es ist ersichtlich, dass die Branche kleinständisch organisiert ist: Ca. 90 % der Verlage sind gemäß der Definition der EU als Kleinstunternehmen (Umsatz bis zu 2 Millionen €) zu bezeichnen. Auch ist zu sehen, dass lediglich 1 % der Unternehmen 69 % des Umsatzes erwirtschaftet.
632
Svenja Hagenhoff
Tab. 2: Anzahl Verlage und Gesamtumsatz nach Umsatzgrößenklassen 2011 (Daten aus Börsenverein 2013a) Umsatzgrößen klasse in €
Anzahl Verlage
Anteil
Anteil kumuliert
Gesamtumsatz in 1.000 €
Anteil
Anteil kumuliert
bis unter 50.000
528
0,24
0,24
16.916
0,00
0,00
bis unter 100.000
378
0,17
0,40
27.498
0,00
0,00
bis unter 250.000
459
0,20
0,61
73.282
0,01
0,01
bis unter 500.000
259
0,12
0,72
90.983
0,01
0,02
bis unter 1.000.000
201
0,09
0,81
141.937
0,02
0,04
bis unter 2.000.000
146
0,07
0,88
206.664
0,02
0,06
bis unter 5.000.000
119
0,05
0,93
366.286
0,04
0,10
bis unter 10.000.000
67
0,03
0,96
468.991
0,05
0,16
bis unter 25.000.000
47
0,02
0,98
757.672
0,08
0,24
bis unter 50.000.000
18
0,01
0,99
594.995
0,07
0,31
ab 50.000.000
21
0,01
1,00
6.200.253
0,69
1,00
2.243
1,00
8.945.477
1,00
Summe
Das Missverhältnis zwischen der Verteilung der Anzahl der Verlage auf Umsatzgrößenklassen einerseits und der Verteilung des Anteils am Umsatz andererseits visualisiert Abbildung 2. Der ›Hohlraum‹ zwischen den Kurven zeigt die Diskrepanz zwischen der Menge der Unternehmen und ihrer Bedeutung gemessen am Umsatz. Die nachstehende Tabelle zeigt die Umsätze des Jahres 2012 der 20 größten Belletristik- und Sachbuchverlage in Deutschland. Angegeben ist zudem der Anteil des Umsatzes des jeweiligen Unternehmens am Gesamtumsatz der Top 20. Selbst bei einer künstlichen Begrenzung des Markts auf diese 20 Akteure liefern die kumulierten Marktanteile keine Hinweise auf eine bedenkliche ökonomische Konzentration im Sinne des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB, § 18). Dort wird eine marktbeherrschende Stellung bei einer Konzentrationsrate CR-1 ≥ 40 %, CR-3 ≥ 50 %
3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
633
100% 90% 80%
Anteil
70% 60% 50% 40% 30% 20% 10%
Umsatzgrößenklassen in € Anteil Anzahl kumuliert
ab 50.000.000
bis unter 50.000.000
bis unter 25.000.000
bis unter 10.000.000
bis unter 5.000.000
bis unter 2.000.000
bis unter 1.000.000
bis unter 500.000
bis unter 250.000
bis unter 100.000
bis unter 50.000
0%
Anteil Umsatz kumuliert
Abb.2: Anteil Anzahl Verlage und Anteil Umsatz nach Umsatzgrößenklassen 2011
oder CR-5 ≥ 66 % unterstellt. Auch die zehn größten Verlage (undifferenziert über alle Mediengattungen hinweg) vereinen lediglich einen Umsatzanteil von unter 10 % gemessen am relevanten Gesamtmarkt von 35,5 Milliarden €7. Tab. 3: Top 20 der umsatzstärksten Belletristik- und Sachbuchverlage 2012 (Quelle: Die 20 größten Belletristik- und Sachbuchverlage. In: Buchreport 44 (2013), Heft 4, S. 64)
Verlag 1 Random House
Umsatz in Millionen €
Anteil Summe Top 20
Anteil kumuliert
344,00
0,28
0,28
2 Bastei Lübbe
78,90
0,06
0,34
3 S. Fischer
72,20
0,06
0,40
4 Rowohlt
70,00
0,06
0,46
5 dtv
64,00
0,05
0,51
6 Droemer Knaur
57,50
0,05
0,56
7 Ravensburger
56,50
0,05
0,60
8 Ullstein Verlage
55,00
0,04
0,65
9 Carlsen
53,50
0,04
0,69
50,90
0,04
0,73
10 Oetinger-Gruppe
7 Vgl. Tabelle Umsatz der Verlagswirtschaft 2012 ohne Software und Computerspiele.
634
Svenja Hagenhoff
Verlag
Umsatz in Millionen €
Anteil Summe Top 20
Anteil kumuliert
11 Piper
47,10
0,04
0,77
12 Egmont Holding
45,00
0,04
0,81
13 Langen Müller-Herbig
35,60
0,03
0,83
14 Suhrkamp
35,60
0,03
0,86
15 Diogenes
34,50
0,03
0,89
16 Herder
34,40
0,03
0,92
17 Coppenrath
32,00
0,03
0,95
18 Hanser
26,50
0,02
0,97
19 Loewe
21,10
0,02
0,98
20 Kiepenheuer Witsch
19,80
0,02
1,00
1.234,10
1,00
Summe Top 20
Sinnvoller als Aussagen zur reinen ökonomischen Konzentration wären jedoch solche zur publizistischen Konzentration. Um den relevanten Markt abgrenzen zu können, müsste die kommunikative Leistung eines Medienprodukts herangezogen
100% 90%
78.896 80.971
86.543
89.869 94.716
96.273
91.100
14.225
11.240
81.177
86.084 83.381
81.793
84.351
82.048
79.860
2006
2007
2009
2010
2011
2012
61.538
74.074
78.082
2003
2004
2005
2002
95.838 11.487
13.539
59.916
10.395
93.124 11.331
11.787
19.433
94.276 10.895
12.469
18.980
96.479
80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
Erstauflagen
Neuauflagen
2008
Neuerscheinungen gesamt
(Angaben in Stück)
Abb. 3: Jährliche Titelproduktion (Daten aus Börsenverein 2013a)
3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
635
werden: Objekte der Debattenliteratur konkurrieren hinsichtlich ihres Informationszwecks beispielsweise nicht mit Kochbüchern. Die publizistische Vielfalt kann dann zunächst an der Menge der Medienprodukte mit identischer kommunikativer Leistung gemessen werden. Herausfordernd hieran – jenseits der Identifikation und Bestimmung der ›kommunikativen Leistung‹ an sich – ist es, dass Medien unterschiedlicher Gattungen bzw. materieller Formen identische kommunikative Leistungen aufweisen können, sämtliche Statistiken Medienmärkte aber nach wie vor objektbezogen8 (Buch, Zeitung, Zeitschrift, Film etc.) erfassen und analysieren. Weiter müssten die Objekte identischer kommunikativer Leistung ihren jeweiligen Produzenten zugeordnet werden, um dann zu Aussagen hinsichtlich marktbeherrschender Stellungen einzelner Unternehmen zu gelangen.
4.1.2 Titelproduktion In Deutschland werden jedes Jahr an die 80.000 neue Buchtitel erzeugt. Pro statistisch erfassten Verlag sind das im Schnitt ca. 33 Erstauflagen pro Jahr, bei einer allerdings unbekannten Streuung. Abbildung 3 zeigt die Entwicklung der Titelproduktion seit 2002, aufgeteilt in Erstauflagen sowie Neuauflagen.
4.2 Wertschöpfungsstufe Distribution und Hauptakteur Buchhandel Auf dem deutschen Buchmarkt wurde gemäß der Angaben des Deutschen Börsenvereins im Jahr 2012 ein geschätzter Umsatz von 9520 Milliarden € erwirtschaftet. Nach der Fernsehbranche stellt das Buch die umsatzstärkste Mediengattung dar, innerhalb des Marktsegments der Schriftmedien (Buch, Zeitung, Zeitschriften) ist der Buchmarkt der umsatzstärkste Teilmarkt auf Endverbrauchermärkten (vgl. PriceWaterhouseCoopers 2011). Abbildung 4 verdeutlicht die Entwicklung des Umsatzes seit dem Jahr 2002 aufgeschlüsselt nach Vertriebswegen. Zu beachten ist, dass der Umsatz für den Handel über das Internet statistisch erst seit 2004 separat ausgewiesen wird. Für die Jahre zuvor ist dieser in der Abbildung den ›Weiteren Vertriebskanälen‹ enthalten. Mit ungefähr einem Drittel verzeichnet die Warengruppe Belletristik den größten Anteil an den Umsätzen (siehe Abb. 5), wobei sich die Angaben auf den Barumsatz des Sortimentsbuchhandels und der Warenhäuser beziehen und ab 2010 die Umsätze im E-Commerce inkludiert sind; andere Vertriebsformen sowie Zahlungsmodalitäten werden in den jeweils verfügbaren Statistiken außer Acht gelassen.
8 Zur Herausforderung der Auflösung materialobjektbezogener Sichtweisen vgl. Kap. 2.2.4 Digitale Lesemedien in diesem Band.
Umsatz in Milliarden €
636
Svenja Hagenhoff
10.000 9.500 9.000 8.500 8.000 7.500 7.000 6.500 6.000 5.500 5.000 4.500 4.000 3.500 3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 0.500 0.000
9.220
2.379
9.067
1.899
2.376
1.606
1.586
1.569
0.000
0.000
5.255
5.123
2002
2003
Sortimentsbuchhandel
9.076
0.506
9.590 1.984
2004
2005
9.691
9.734
1.867
1.793
1.665
1.724
1.750
0.853
5.029
5.133
2006
2007
1.630
0.663
5.255
9.614
1.899
1.688
5.064
9.576
9.261
Internethandel
0.703
Verlage direkt
9.601
9.520
1.657
1.577
1.508
1.773
1.801
1.834
1.847
1.014
1.184
1.351
1.419
1.567
5.057
5.068
4.925
4.772
4.598
2008
2009
2010
2011
2012
weitere Vertriebskanäle
Gesamtumsatz
Abb. 4: Umsatzentwicklung Buchmarkt (Daten aus Börsenverein 2004, 2008, 2013a)
100% 90%
7,00
7,00
6,40
7,10
7,70
6,50
6,10
6,00
6,10
6,10
8,30
9,30
10,40
9,00
8,60
9,30
9,20
8,80
8,80
8,90
11,90
11,60
11,30
21,80
13,60
12,90
22,80
21,00
12,00
24,00
15,40
14,60
15,70
15,20
15,70
15,60
24,40
23,10
24,20
23,30
23,10
32,30
33,80
33,80
34,40
35,00
2010
2011
2012
80% 70% 60% 50% 40%
14,10
12,60
17,30
17,30
16,40
29,50
31,00
30,70
14,30
13,00
17,60
24,30
32,30
30,40
30% 20% 10% 0%
2003 Belletristik
2004
2005
2006
Sachbuch/Ratgeber
2007
2008
Kinder und Jugendbuch
2009 Fachbuch
Schule und Lernen
Reise
Abb. 5: Umsatzanteile der Warengruppen in Prozent (Barumsatz Sortiment; Daten aus Börsenverein 2004, 2008, 2013a)
3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
637
Das Statistische Bundesamt weist 4137 Sortimentsbuchhandlungen in Deutschland für das Jahr 2011 aus. In der nachstehenden Tabelle sind die Anzahl der Sortimenter nach Umsatzgrößenklassen sowie der Gesamtumsatz in der jeweiligen Umsatzgrößenklasse aufgelistet. Ebenso wie die Verlagswirtschaft ist dieser Teil der Branche kleinständisch organisiert: mehr als 95 % der Sortimenter sind Kleinstunternehmen. Tab. 4: Anzahl Sortimenter und Gesamtumsatz nach Umsatzgrößenklassen 2011 (Daten aus Börsenverein 2013a) Umsatzgrößenklasse in €
Anzahl Buchhandlungen
Anteil
Anteil kumuliert
Gesamtumsatz in 1.000 €
Anteil
Anteil kumuliert
bis unter 50.000
535
0,13
0,13
17.251
0,00
0,00
bis unter 100.000
526
0,13
0,26
38.653
0,01
0,02
bis unter 250.000
1.088
0,26
0,52
184.624
0,05
0,07
bis unter 500.000
938
0,23
0,75
338.483
0,10
0,17
bis unter 1.000.000
637
0,15
0,90
439.056
0,13
0,29
bis unter 2.000.000
257
0,06
0,96
350.874
0,10
0,39
bis unter 5.000.000
91
0,02
0,98
267.221
0,08
0,47
bis unter 10.000.000
19
0,00
0,99
132.741
0,04
0,50
bis unter 25.000.000
29
0,01
1,00
450.569
0,13
0,63
bis unter 50.000.000
9
0,00
1,00
284.447
0,08
0,71
ab 50.000.000
8
0,00
1,00
1.001.709
0,29
1,00
4.137
1,00
3.505.628
1,00
Summe
Ebenfalls ist eine inhomogene Verteilung der Umsatzbeiträge auf die Menge der Marktteilnehmer festzustellen. Die folgende Grafik verdeutlicht, dass diese Inhomogenität allerdings nicht so extrem ausgeprägt ist wie im Falle der Verlagswirtschaft. Nachfolgend sind die zehn größten Buchhandlungen in Deutschland aufgeführt gemessen am Umsatz des Jahres 2012. Es ist ersichtlich, dass die Beiträge eines einzelnen Unternehmens zum Gesamterlös der Branche bereits ab Rangplatz 3 rapide abfallen. Dennoch kann gemäß der Festlegung des GWB9 keine Konzentration für den Gesamtmarkt festgestellt werden. Limitiert man den Markt allerdings künstlich
9 CR-1 ≥ 40 %, CR-3 ≥ 50 % oder CR-5 ≥ 66.
638
Svenja Hagenhoff
auf die Top-10-Akteure – was angesichts des rapiden Beitragsabfalls zum Umsatz ab Rangplatz 3 angebracht ist – so ist eine marktbeherrschende Stellung des Unternehmens Thalia (CR-1: 40 %), der CR-3-Akteursgruppe (76 %) sowie der CR-5-Akteursgruppe (87 %) festzustellen. Zu hinterfragen wäre, welchen Anteil der Verkauf von Büchern am Umsatz dieser Unternehmen hat, sind vielfach die Sortimente um sog. Non-Books erweitert. Tab. 5: Top 10 der umsatzstärksten Buchhandlungsunternehmen 2012 (Daten aus Reinke / Wilking 2013, S. 20) Rang Buchhandlung
Umsatz
Anteil Top 10
Anteil Top 10 kumuliert
Anteil Gesamtmarkt
Anteil kumuliert
1
Thalia
984
0,40
0,40
0,10
0,10
2
DBH
695
0,28
0,68
0,07
0,18
3
Schweitzer Fachinformation
182
0,07
0,76
0,02
0,20
4
Mayersche
170
0,07
0,83
0,02
0,21
5
Orell Füssli
95
0,04
0,87
0,01
0,22
6
Libro
97
0,04
0,91
0,01
0,23
7
Lehmanns
68
0,03
0,93
0,01
0,24
8
Kaufhof
60
0,02
0,96
0,01
0,25
9
Osiander
55
0,02
0,98
0,01
0,25
Lüthy Balmer Stocker
48
0,02
1,00
0,01
0,26
10
Summe
2.455
1,00
0,26
Gesamtmarkt
9.520
5 Spezifische Aspekte im Hinblick auf die Bereitstellung digital vorliegender Lesestoffe 5.1 Variantenproduktion Lesestoffe, die in digitaler Form bereitgestellt werden, liegen als Güter mit spezifischen Eigenschaften vor10. Sie stellen eine Melange aus Informationsgut (zu diesem
10 Vgl. hierzu auch Kap. 2.2.4 Digitale Lesemedien in diesem Band.
3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
639
100% 90% 80% 70% Anteil
60% 50% 40% 30% 20% 10%
ab 50.000.000
Umsatzgrößenklassen in € Anteil Anzahl kumuliert
bis unter 50.000.000
bis unter 25.000.000
bis unter 10.000.000
bis unter 5.000.000
bis unter 2.000.000
bis unter 1.000.000
bis unter 500.000
bis unter 250.000
bis unter 100.000
bis unter 50.000
0%
Anteil Umsatz kumuliert
Abb. 6: Anteil Anzahl Sortimenter und Anteil Umsatz nach Umsatzgrößenklassen 2011
Begriff Brandtweiner 2000, S. 37; Kotkamp 2001; S. 116; Shapiro / Varian 1999, S. 3) und Software dar. Um digital vorliegende Bücher anzeigen zu können, in ihnen zu blättern, nach Textpassagen zu suchen, Annotationen anbringen oder spezifische Hardwareschnittstellen (z. B. GPS-Empfänger) nutzen zu können, ist softwaretechnische Funktionalität erforderlich. Diese wird entweder über den Browser oder proprietäre Lösungen in Form von z. B. Lese-Apps bereitgestellt. Enhanced E-Books werden in Form von monolithischen Apps ohne saubere Trennung von Funktionen, Daten und Präsentation plattformspezifisch realisiert. Aktuell fehlende Standards bei Betriebssystemen und Dateiformaten führen zu dem oben beschriebenen Phänomen, dass die erzeugte First Copy in mehrere Varianten überführt werden muss, will der Produzent eines Buchs alle potenziellen Leser erreichen. Alternativ kann auf die Ausdifferenzierung von Varianten verzichtet werden zu dem Preis, dass der Markt der potenziellen Leser segmentiert wird und bestimmte Nutzergruppen keine Bereitstellung des Lesestoffs erfahren. Unter einer Variante wird die Ausdifferenzierung eines Produkts zum gleichen Zeitpunkt verstanden. Im Gegensatz dazu liegt eine Versionierung vor, wenn ein Produkt im Zeitablauf verändert wird. Die Buchwirtschaft nimmt Versionierungen schon lange vor, in dem Bücher in unterschiedlicher Ausstattung (Hardcover, Broschur, Paperback) zu unterschiedlichen Zeitpunkten lanciert werden mit dem Ziel, unterschiedliche Zahlungsbereitschaften für den Lesestoff abzuschöpfen. Das Aus
640
Svenja Hagenhoff
prägen von Varianten hat im Gegensatz dazu das Ziel, im gleichen Zeitpunkt unterschiedliche Präferenzen der verschiedenen Kunden zu bedienen. Dieses Vorgehen wird in anderen Branchen seit längerem unter dem Schlagwort Mass Customization praktiziert. Die Automobilwirtschaft gilt als einer der Vorreiter. Hier ist man davon abgekehrt, standardisierte Produkte in großen Losgrößen zu produzieren, was etliche Jahrzehnte als einzige Möglichkeit galt, Autos so effizient herzustellen, dass das Produkt bezahlbar wurde. Stattdessen wird ein Auto heute den kundenindividuellen Präferenzen entsprechend produziert. Dieses konnte vor allem aufgrund von Fortschritten in der Produktarchitektur (Modularisierung und Standardisierung von Schnittstellen zwischen Komponenten) sowie der inner- und zwischenbetrieblichen Informationsverarbeitung gelingen. Für die Medienwirtschaft als Ganzes ist davon auszugehen, dass die Heterogenität der Endgeräte, derentwegen die Ausbildung von Varianten digitaler Objekte erforderlich ist, ein nachhaltiges Phänomen bleiben wird (zur nach wie vor aktuellen Argumentation Christmann u. a. 2010, S. 9–11). Daraus resultiert die Anforderung, Varianten effizient zu erzeugen sowie die entstandenen Varianten auch managen zu können (vgl. die Argumentation zu Produktstammdaten in Abschnitt 3.5). Ein höheres Maß an Standardisierung sowie Automatisierung in den Produktionsprozessen, intelligentere Produktarchitekturen mit klarer Trennung von Daten-, Funktions- und Präsentationsschicht sowie die Verwendung von etablierten Konzepten aus der Softwareentwicklung, wie Middleware an der Schnittstelle von App zu Plattform, sind erforderlich. Herausfordernd hierbei ist es, dass die Printwirtschaft insgesamt durch einen geringen Standardisierungsgrad innerhalb der Branche in Bezug auf Arbeitsweisen und Prozesse sowohl in den primären Prozessen als auch in den sekundären Prozessen ohne strategisches Differenzierungspotenzial gekennzeichnet ist. Es dominieren unternehmensindividuelle Arbeitsweisen sowie Vorgehensweisen, die auf das Erzeugen von Printprodukten ausgelegt sind (vgl. Hagenhoff / Pfahler 2013, S. 369 f.). In einem solchen Szenario ist der Einsatz von Anwendungssystemen zur Unterstützung und Teilautomatisierung einzelner Aufgaben eine Herausforderung, da bezahlbare Anwendungen eine kritische Masse an Nachfragern voraussetzen. Individual- und Insellösungen sowie fehlende Branchenstandards sind in anderen Branchen Vergangenheit. Eine Analyse der Prozesse der Branche sowie die Identifikation von unternehmensübergreifenden Gemeinsamkeiten und Unterschieden sind lohnenswert.
5.2 Preissetzung bei E-Books Die Menge, die von einem Produkt abgesetzt werden kann, hängt nach ökonomischer Theorie unter anderem vom Preis des Produkts ab. Die sog. Preis-Absatz-Funktion verläuft für die meisten Produkte fallend: je niedriger der Preis, desto höher der Absatz. In Bezug auf die Preissetzung digitaler Bücher hat sich in Deutschland die verlegerische Strategie eingependelt, sie zu einem Preis knapp unterhalb (–20 %) der
3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
641
preisgünstigsten gedruckten Version anzubieten, was sowohl von Lesern als auch einige Akteuren der Branche selber nach einer Umfrage des Buchreports (2013) als nicht angemessen empfunden wird. Media Control hat für das Jahr 2011 einen Durchschnittspreis von E-Books von 9,56 € sowie für das Jahr 2012 von 8,61 € ermittelt (vgl. Statista 2013). E-Books in Deutschland sind damit im internationalen Vergleich als hochpreisig einzustufen (vgl. Börsenblatt 2013), allerdings sind Aussagen zur Streuung der erhobenen Daten nicht verfügbar. Es ist davon auszugehen, dass der Durchschnittspreis aufgrund von Preisen von unter 5 € oder von unter sogar 2 € bei SelfPublishern nach unten gedrückt wird, und eine große Menge lektorierter E-Books etablierter Verlage Preise auf Hardcover-Niveau aufweisen. Diese Annahme ist plausibel vor dem Hintergrund, dass die Verwertungskette von Buchverlagen oftmals mit dem Hardcover beginnt und günstigere Broschur- oder Paperbackausgaben erst zeitlich nachgelagert folgen. Der Richtpreis für das E-Book wird dann durch den Hardcover-Preis gesetzt. Als hinderlich hinsichtlich der Antworten auf die Frage nach dem ›richtigen‹ Preis für E-Books (einerseits von Kunden akzeptiert, andererseits dem Verlag den notwendigen Umsatz bescherend) erweist es sich, dass der Buchwirtschaft insgesamt solides Wissen über die Beschaffenheit ihrer Preis-Absatz-Funktionen sowie der Preiselastizität ihrer Produkte fehlt. Preis-Absatz-Funktionen verlaufen realistischer Weise selten linear, sondern konvex, also zum Ursprung eines Preis-Mengen-
1,60 1,40
Absatz (anteilig)
1,20 1,00 0,80 0,60 0,40 0,20
Aktueller Hit
älterer Titel
Rarität
152
144
136
Newcomer
Abb. 7: Geschätzte Preis-Absatzfunktion für verschiedene Arten von Musikstücken (Daten aus Buxmann u. a. 2005)
128
120
112
104
96
88
80
72
64
56
48
40
32
24
16
8
0
0,00
642
Svenja Hagenhoff
Koordinatensystems gekrümmt. Welchen Krümmungsgrad die Funktion für welche Art von Buch hat ist unbekannt. Wissen hierüber könnte auf empirischem Wege durch großzahlige Erhebungen der Zahlungsbereitschaften oder alternativ über die Auswertung großer Datenbestände zu Abverkaufszahlen und darauf aufsetzender Regressionsanalysen erzeugt werden. Ein Beispiel hierfür ist nachstehend für den Musikmarkt abgebildet. Unter einer Elastizität versteht man die Veränderung einer abhängigen Variablen in Konsequenz auf eine infinitesimal kleine Veränderung einer unabhängigen Variablen (siehe Abb. 8). Das Maß liefert damit eine Aussage über die Reagibilität eines Parameters. Unter der Preiselastizität wird demnach, basierend auf dem Konstrukt der Preis-Absatz-Funktion, das Maß verstanden, welches Auskunft darüber gibt, wie sich die mengenmäßige Nachfrage (abhängige Variable) nach einem Gut verändert, wenn der Preis (unabhängige Variable) des Gutes um 1 % verändert wird. Die Elastizität wird in Prozent angegeben und hat ein Vorzeichen, welches über die Richtung der Reaktion der abhängigen Variable Auskunft gibt. Eine Preiselastizität von –2 sagt aus, dass sich die Nachfrage um 2 % reduziert, wenn der Preis um 1 % erhöht wird. Formalanalytisch misst die Preiselastizität die Steigung der Preis-Absatz-Funktion in einem bestimmten Punkt, was nachstehend für den Fall dargestellt ist, dass der Preis vom Ausgangsniveau p1 um eine Differenz (Delta: Δ) auf das neue Niveau p2 angehoben wird (vereinfachend mit linearer Preis-Absatz-Funktion). Menge
x1 ∆x x2
p1
∆p
p2
Preis
Abb. 8: Preis-Absatz-Funktion und Preiselastizität
Die Berechnung der Preiselastizität ηxp erfolgt, in dem die Veränderung der abhängigen Variable (dx) in Bezug auf das Ausgangsniveau (x) in Relation gesetzt wird zur Veränderung der unabhängigen Variable (dp) in Bezug auf deren Ausgangsniveau (p).
3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
643
dx x dx p ηxp = – = – · – dp dp x p Allgemein kann die Elastizität des Preises sehr elastisch (ηxp < – 1), proportional elastisch (ηxp = – 1), unelastisch (– 1 < ηxp < 0), vollkommen unelastisch (ηxp = 0) oder anormal elastisch (ηxp > 0) sein (vgl. z. B. Pyndick / Rubinfeldt 2003, S. 180–187). Das konkrete Wissen um den Zusammenhang von Preishöhe und Absatzmenge ist in der Buchbranche gering, da die Preisbindung eine systematische und kontrollierte Veränderung des Buchpreises zu ›Versuchszwecken‹ bisher verhindert hat. Einzelne Verlage, die zeitpunktbezogene Preis-Sonderaktionen für ihre digitalen Objekte durchführen, berichten von erheblichem Absatzzuwachs und damit verbundener attraktiver Umsatzsteigerung11. Eine analytische, unternehmensübergreifende umfängliche Auswertung der Datenbestände fehlt jedoch; erste Forschungsergebnisse für Hardcovers liefern Barrot u. a. (2014). Da es sich bei Büchern nicht um zwingend notwendige und damit unverzichtbare Produkte handelt, ist die Elastizität aber auf jeden Fall ηxp< – 1. Andererseits ist ein jeder Buchtitel nur eingeschränkt substituierbar: potenzielle Leser, die genau diesen Titel von diesem Autor lesen möchten, werden sich von einem höheren Preis nicht abschrecken lassen. Fraglich ist es, ob sich Leser, welche den Titel sonst eher nicht kaufen würden, akquirieren lassen würden, wenn die Preisschwelle sehr gering und damit das Risiko einer ›Fehlinvestition‹ in den Kauf eines Titels reduziert ist. Weitere Herausforderungen in Bezug auf die Preisfindung für E-Books finden ihre Ursache im Bereich der Kostenrechnung und Kalkulation. Wenn klassische Verwertungsketten aufgebrochen werden (Hardcover, Broschur, Paperback) und E-Books von Anfang an als parallele oder gar einzige Variante eines Lesestoffs lanciert werden, müssen die etablierten Ansätze der Kalkulation überdacht werden. Auch die Möglichkeiten der Mehrfachverwertung einmal erzeugter Assets (z. B. von einzelnen Artikeln in verschiedenen Endprodukten) erfordert neue Kostenrechnungs- und Kalkulationsformen (vgl. Böning-Spohr / Hess 2001). Die Tauglichkeit der Prozesskostenrechnung sollte überprüft werden.12
5.3 Diffusion von E-Books Digitale Bücher sind eine Innovation. Wenngleich die ersten Versuche mit elektronischen Büchern 1968 gestartet wurden (Dynabook) und bereits Ende der 1990er Jahre spezifische E-Book-Reader in Erscheinung getreten sind (Rocket E-Book, Soft-Book),
11 Einzelgespräche von Verlagsvertretern mit der Autorin, ähnlich auch Börsenblatt 2013. 12 Ein Ansatz für Wissenschaftsverlage findet sich bei Ortelbach, Björn: Controlling in wissenschaftlichen Verlagen. Göttingen 2007.
644
Svenja Hagenhoff
waren diese Innovationen aber aufgrund von Hardwaremängeln sowie einer fehlenden Titelzahl nicht erfolgreich. Als Durchbruchsinnovation hingegen gilt der E-BookReader der Marke Kindle, der in den USA Ende 2007 eingeführt wurde. Seitdem steigen die Umsätze sowie die Anzahl der verkauften Titel kontinuierlich, eine große Zahl weiterer E-Book-Reader sowie neuer Endgeräte, welche auch zum Lesen digitaler Bücher geeignet sind, sind hinzugekommen. Für den deutschen Buchmarkt weist der Börsenverein des Deutschen Buchhandels einen Umsatzanteil des E-Books am gesamten Umsatz mit Büchern in Höhe von ca. knapp 1 % im Jahr 2011 sowie in Höhe von etwas über 2 % im Jahr 2012 aus (vgl. Börsenverein 2013a), wobei in den Daten nur belletristische Titel berücksichtigt sind. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate (Compound Annual Growth Rate13, Daten aus PriceWaterhouseCoopers 2013b) beträgt ca. 260 % von 2009 bis 2012 bei nahezu konstanten Gesamtumsätzen. In den USA, einem Land, dem große Erfolge im E-Book-Geschäft nachgesagt werden, lag der Umsatzanteil der E-Books im Jahr 2011 bei 15 %, im Jahr 2012 bei 22 % (vgl. PriceWaterhouseCoopers 2013a), bei einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von ca. 60 % bezogen ebenfalls auf 2009, bei allerdings kontinuierlich fallenden Gesamtumsätzen. Um die Prozesse und Tatbestände rund um eine Innovation erfassen zu können kann die Adoptions- und Diffusionsforschung herangezogen werden. Bei der Adoption handelt es sich um die Annahme einer Innovation durch ein Individuum, hier also den Leser. Die Adoptionstheorie liefert Erklärungsansätze für das Verhalten eines Individuums bei der Übernahme von Innovationen. Sie beschreibt den Prozess von der ersten Wahrnehmung bis zur schlussendlichen Übernahme der Innovation und hält Determinanten bereit, die die Adoption beeinflussen. Neben Umweltfaktoren, wie politisch-rechtlichen oder sozio-kulturellen Tatbeständen sowie adopterspezifischen Faktoren, wie soziodemografischen Variablen oder Persönlichkeitsmerkmalen, wird die Annahme oder Nicht-Annahme einer Innovation durch ein Individuum durch die Merkmale des betrachteten Produkts bestimmt. Als Rogers-Kriterien bekannt geworden sind die folgenden Faktoren (vgl. Rogers 1995, S. 208–210): –– Eine Innovation muss gegenüber einem bisherigen Zustand einen relativen Vo r te il aufweisen, also in irgendeiner Beziehung einen besseren Grad der Bedürfnisbefriedigung bieten. –– Die Innovation muss kompatibel sein zu individuellen Werten oder Erfahrungen. –– Die Komplexität der Innovation beeinflusst den wahrgenommenen Schwierigkeitsgrad und den Lernaufwand. Von Vorteil sind Innovationen von geringer Komplexität.
n x 13 n p = – – 1 mit x0 = 3, xn = 144, n = 3. xo
3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
645
–– Ist eine Innovation erprobbar, so reduziert sich das Innovationsrisiko. –– Die Eigenschaften der Innovation sowie ihr Nutzenpotenzial müssen wahrn e h m b a r sein. Dieses betrifft die Vermittelbarkeit sowie die Sichtbarkeit der Eigenschaften. Für einen ersten, nur sehr knappen Vergleich des deutschen E-Book-Markts mit dem US-amerikanischen Markt soll hier das Kriterium des relativen Vorteils in die Diskussion eingebracht werden. Nach der Argumentation Rogers ist eine Innovation umso erfolgreicher, je schlechter die bisherige Lösung ist. E-Books könnten dann erfolgreich sein, wenn erstens gedruckte Bücher in ihren physischen Eigenschaften von schlechter Qualität sind, oder wenn zweitens die Infrastrukturen zum Bezug gedruckter Bücher von geringer Leistungsfähigkeit sind. Hinsichtlich des ersten Aspekts ist im Vergleich von Büchern amerikanischer Produzenten mit den Erzeugnissen deutscher Verleger festzuhalten, dass zumindest im Falle von Taschenbüchern die Papierqualität, die Qualität des Bedrucks sowie die der Leimung oftmals deutlich schlechter ausfällt und dem Zeitungsdruck näher kommt als dem Buchdruck. Relativ hochwertige Druckerzeugnisse selbst bei niedrigpreisigen Taschenbüchern erzeugen weniger ›Leidensdruck‹ bei Lesern auf dem deutschen Markt. Hinsichtlich des zweiten Aspekts ist zu konstatieren, dass der deutsche Buchmarkt über eine leistungsfähige Infrastruktur verfügt, über die es möglich ist, Printprodukte in sehr kurzer Zeit in die räumliche Nähe des Konsumenten zu bringen. So deckt das Lager des Buchzwischenhandels zwischen 90 und 98 % des täglichen Bedarfs des Bucheinzelhandels ab, ein gewünschter, aber im Einzelhandel nicht vorhandener Titel kann dem Kunden mit wenigen Ausnahmen binnen 24 Stunden beschafft werden. Das Statistische Bundesamt weist ca. 4100 stationäre Sortimente aus. Um die gleiche theoretische Dichte an Buchhandlungen pro Quadratkilometer zu erreichen wie in Deutschland, müsste es in den USA ca. 110.000 Buchhandlungen geben, in Bezug auf die Einwohnerzahl wären es um die 16.000 Buchhandlungen. Die Publishers Weekly, die US-amerikanische Fachzeitschrift für den Buchmarkt, weist für das Jahr 2012 eine Gesamtzahl an Buchhandlungen von knapp 13.000 aus (vgl. Habash 2013). Der Versorgungsgrad über In-frastrukturen für den Bezug physischer Bücher ist in den USA insbesondere in Bezug auf die Fläche weit schlechter als in Deutschland. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass in den USA zunächst der Versandhandel große Erfolge aufzuweisen hatte und nun digitale Bücher einen erheblichen Anteil am Umsatz ausmachen. Bei der Diffusion handelt es sich um den Prozess der zeitlichen Ausbreitung einer Innovation in einem sozialen System, wie z. B. einem Markt. Die Diffusionsforschung untersucht die Übernahmegeschwindigkeit der Innovation oder die Länge des Zeitraums bis eine Innovation von einer Population vollständig angenommen wurde und betrachtet die in der Adoptionsforschung untersuchten Einzelentscheidungen in aggregierter Form. Die Diffusionskurve gibt demnach Auskunft über die Gesamtzahl an Adoptern N zu einem bestimmten Zeitpunkt t. Sie konvergiert S-kurvenförmig
646
Svenja Hagenhoff
gegen die Sättigungsgrenze, an der die 100-prozentige Marktdurchdringung erreicht ist (siehe Abb. 9). Die Steigung der Kurve in jedem Punkt gibt die Geschwindigkeit der Marktdurchdringung und damit die Wachstumsrate im betrachteten Zeitpunkt wieder. Definitionsgemäß nimmt die Geschwindigkeit der Marktdurchdringung bis zur 50 %-Durchdringung zu (Wendepunkt), danach nimmt sie wieder ab. Da die Größe des Marktvolumens im Vorhinein unbekannt ist oder sich dieses sogar durch Marketingmaßnahmen vergrößern lässt, kann aus der Beobachtung des aktuellen Wachstums keine Schlussfolgerung in Bezug auf einen anstehenden Erfolg oder Misserfolg einer Innovation gezogen werden. Ein Flop liegt allerdings dann vor, wenn das ursprünglich avisierte Marktvolumen nicht erreicht werden konnte und die Produktion des Produkts wieder eingestellt wird, so wie es im Falle der frühen Lesegeräte der Fall war.
Anzahl Adopter (kumuliert)
Sättigungsgrenze: Größe des Marktes
Nt
t
Zeit
Abb. 9: Diffusionskurve
Im Falle von Büchern kann die Diffusionstheorie auf zwei Arten angewendet werden: zum einen in Bezug auf die erforderlichen Lesegeräte bzw. die Verwendung unspezifischer Geräte für das Lesen, so wurde eingangs im Abschnitt zur Adoptionstheorie argumentiert. Zum anderen können die Überlegungen auf einen konkreten Titel angewendet werden, der als Novität qua Definition eine Innovation darstellt. In Bezug auf digital vorliegende Lesestoffe stellt sich die Frage, ob für diese Objekte überhaupt der Tatbestand des Flops definierbar ist, können Dateien prinzipiell über sehr lange Zeit auf einem Server zum Download bereitgehalten werden ohne – im Gegensatz zum gedruckten Ladenhüter – nennenswerte Grenzkosten der Bereithaltung zu erzeugen. Damit der sog. Long Tail (vgl. Anderson 2006) wirken kann, ist es für digitale Lesestoffe umso wichtiger, dass sie von potenziellen Lesern gefunden werden können (vgl. die Ausführungen zu den Produktstammdaten in Abschnitt 3.5).
3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
647
5.4 Technologische Infrastrukturen und Regulierung Oben wurde bereits aufgezeigt, dass Bücher als Güter mit besonderen Aufgaben angesehen werden.14 Sie werden als meritorische Güter eingestuft, die prinzipiell private Güter sind, für die die Nachfrager aber verzerrte Präferenzen gemessen am gesellschaftlich erwünschten Versorgungsgrad haben können (›Merit Wants‹, vgl. Musgrave 1957). Hiermit wird begründet, dass in Medienmärkte regulierend eingegriffen werden kann um potenzielles Marktversagen zu verhindern. Die regulatorischen Maßnahmen beziehen sich in den Märkten für Schriftmedien insbesondere auf den Prozess der Preissetzung, der kostenorientierte Preise auf der Distributionsstufe in beide Richtungen (Anpassung des Preises an niedrigere Kosten, Anpassung des Preises an höhere Kosten) verhindert. Die dortigen Akteure können und sollen sich lediglich über Leistung von der Konkurrenz abheben. Obige Ausführungen haben auch gezeigt, dass die Funktion der räumlichen Überbrückung zwischen dem Ort der Produktion und dem Ort der Konsumtion digital vorliegender Lesestoffe maßgeblich durch die Leistung von TK-Unternehmen anstelle des stationären Handels übernommen werden. Damit sind die Konditionen, zu denen Menschen Zugang zum Internet haben, für die Verbreitung von Lesestoffen oder allgemeiner Inhalten von Relevanz. Nicht mehr stationäre Buchhandlungen in der Nähe des Kunden müssen rentabel sein, sondern die Ausstattung von Gebieten mit Glasfaserkabeln oder drahtlosen Übertragungstechniken sowie der Transport von Daten. TK-Infrastrukturen erfordern immense Investitionen in Hardware sowie Funkfrequenzen im Falle drahtloser Technologien. Terrestrische Infrastrukturen und bisherige drahtlose Technologien haben sich für TK-Unternehmen nur in dicht besiedelten Gebieten mit einer hohen Anzahl an potenziellen Kunden gelohnt (vgl. zur Berechnung z. B. Müller u. a. 2005). Die Versteigerung der LTE-Frequenzen im Jahr 2010 war daher auch von Seiten der Bundesnetzagentur mit der Auflage an die Gewinner verbunden, zunächst dünn besiedelte Gebiete ohne breitbandigen Internetanschluss zu versorgen, so dass hier eine Regulierung stattgefunden hat. Vier TK-Unternehmen haben die Frequenzen für insgesamt knapp 4,4 Milliarden € ersteigert, ein Betrag, der um den Faktor 10 unterhalb der Versteigerungserlöse der Vorgängertechnologie UMTS liegt. Auch der Transport von Daten findet nicht kostenfrei statt. Die TK-Unternehmen führen an, dass steigende Datenvolumina zu Netzüberlastungen führen, weswegen sie bestimmte Anwendungen zeitweise verlangsamen oder blockieren möchten (vgl. Picot u. a. 2012). Dieser Aspekt wird aktuell unter dem Stichwort Netzneutralität (vgl. Möller 2012) intensiv diskutiert. Hierbei ist zu klären, ob TK-Unternehmen Qualitätsklassen (vgl. Pellegrini 2012) in Abhängigkeit von der Art der zu transportierenden
14 Vgl. dazu auch den Beitrag 3.1.2 Staatlich-rechtliche und politische Lenkunsprozesse des Lesens in der Gegenwart in diesem Band.
648
Svenja Hagenhoff
Daten sowie der Art der Sender und Empfänger betreiben dürfen und damit auch ihre Erlösmodelle ausdifferenzieren können, oder ob diesbezüglich Neutralität gefordert und gesetzlich festgeschrieben werden soll. In Europa ist die Netzneutralität lediglich in den Niederlanden und in Slowenien gesetzlich verankert. In Deutschland beschäftigt sich eine Enquette-Kommission seit mehreren Jahren mit dem Thema, ohne zu einer Empfehlung gekommen zu sein. Das Bundeswirtschaftsministerium ist im Sommer 2013 mit einem Gesetzesentwurf zur Netzneutralität vorgestoßen, der jedoch auf massive Ablehnung seitens des Bundesverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. (BITKOM) gestoßen und vorerst gescheitert ist. Der Präsident des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger hingegen hat im Frühjahr 2013 festgehalten, dass der Zugang zum Internet diskriminierungsfrei bleiben muss (vgl. Beckedahl 2013) und auch der Verband der Deutschen Zeitschriftenverleger tritt für die Netzneutralität im Internet ein (vgl. Steinhoff 2013), da diese unabdingbar ist für den notwendigen publizistischen Wettbewerb der redaktionellen Inhalte und eine Vielfalt der Presse sei. Die Deutsche Content Allianz, der auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels angehört, stellt fest, dass Netzneutralität, Suchmaschinenneutralität und Sicherung eines offenen Internet essenzielle Voraussetzungen für kommunikative Chancengleichheit darstellten. Es gälte, Diskriminierung und die Bildung von Bottlenecks zu verhindern, Angebots- und Anbietervielfalt zu ermöglichen sowie Transparenz für Anbieter und Nutzer zu gewährleisten (vgl. Content Allianz o. J.).
6 Schluss Ökonomische Institutionen zur Bereitstellung von Lesestoffen sind Gegenstand des Forschungsbereichs Buchwirtschaft im Speziellen oder Medienwirtschaft im Allgemeinen. Bei beiden Arbeitsbereichen handelt es sich um sog. spezielle Betriebswirtschaftslehren, in diesen Fällen mit Branchenfokus. Die theoretischen und methodischen Zugänge zur Beforschung buch- oder medienwirtschaftlicher Tatbestände stammen somit mehrheitlich aus den Wirtschaftswissenschaften. Die Medienwirtschaft im Allgemeinen und die Printbranche15 im Besonderen ist relativ schlecht erforscht, sie fällt in ein ›Zuständigkeitsloch‹: Wirtschaftswissenschaftler empfinden sie verglichen mit anderen Branchen, wie Automobilbau oder Banken als zu klein, die auftretenden Phänomene als vermeintlich nicht komplex genug. Geisteswissenschaftler aus den Medien- oder Kulturwissenschaften sind zwar hinsichtlich
15 Als Printwirtschaft wird mangels besserer Bezeichnung die Branche bezeichnet, die schriftbasierte Medien produziert und distribuiert, ohne dass dabei Tatbestände für digital vorliegende Produkte exkludiert werden.
3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
649
der Mediennutzung und -wirkung und in Bezug auf das Mediensystem bewandert, häufig aber nicht in ausreichendem Maße ökonomisch und betriebswirtschaftlich ausgebildet, um tiefergreifende, theoriegestützte Zugänge zum Erkenntnisobjekt aus dieser Perspektive ausprägen zu können. Im Ergebnis ist nicht ein grundsätzlicher Mangel an Theorien und Methoden festzustellen, welche bei der Beforschung der Printwirtschaft Anwendung finden könnten, der faktisch genutzte Fundus ist jedoch zu schmal und muss durch breitere Kenntnis wirtschaftswissenschaftlicher Zugänge angereichert werden. Als problematisch für die empirische Medienforschung erweist es sich, dass Statistiken – wie oben beschrieben – objektbezogen erzeugt und Märkte entsprechend abgegrenzt werden, sinnvolle Aussagen zu ökonomischen Sachverhalten aber das Konstrukt der Bedürfnisbefriedigung allgemein oder spezifischer das der kommunikativen Leistung eines Mediums erfordern würden (vgl. Gossel 2014; Sommer / Rimscha 2014).
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3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre
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Günther Fetzer
3.3.3 Literaturvermittlung Zusammenfassung: Literaturvermittlung im engeren Sinn ist ein vielfältiger Prozess, an dem als Institution vor allem die Literaturkritik beteiligt ist. Ferner sind Organisationen wie literarische Gesellschaften, Dichterhäuser, Museen, Archive, Akademien und Literaturhäuser involviert. In diesen Organisationen haben einzelne Instrumente wie Literaturausstellungen, Literaturpreise und Events ihre jeweilige organisatorische Basis. Abstract: Promotion of literature, in the strictest sense, is a manifold process in which the primary institution is literary criticism. Furthermore organisations such as literary societies, writers’ homes, museums, archives, academies and houses of literature are involved. In these organisations, elements such as literary exhibitions, literary awards and events each have their respective organisational bases.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 653 2 Literaturkritik — 654 3 Literarische Gesellschaften — 659 4 Literaturakademien — 660 5 Literaturhäuser, Literaturbüros — 661 6 Literaturausstellungen — 663 7 Literaturpreise, Literaturstipendien — 664 8 Literarische Events — 667 9 Förderung der Literaturvermittlung — 669 10 Literatur — 672
1 Einleitung Für den gesamten Teil 3.3 dieses Handbuchs, Bereitstellungsorganisationen des Lesens, werden in der Forschung die Begriffe »Literaturvermittlung« (Rusch 1998, S. 328 f.; Neuhaus 2009, S. 8, 13; Neuhaus / Ruf 2011, S. 10) und »Literaturbetrieb« (Plachta 2008, S. 9–23; Arnold / Beilein 2009; Richter 2011, S. 8) verwendet. Beide bezeichnen »die Gesamtheit der Institutionen, Instanzen und Personen sowie ihrer Beziehungen untereinander, die Rahmenbedingungen für die Produktion, Distribution und Rezeption literarischer Texte bilden« (Richter 2011, S. 8). ›Literaturvermittlung‹ wie ›Literaturbetrieb‹ schließen in diesem Verständnis also sowohl den herstellenden und verbreitenden Buchhandel wie auch Bibliotheken, die Bildungseinrichtungen sowie fördernde Organisationen ein. Da diesen Bereichen des literarischen Lebens mit Ausnahme des herstellenden Buchhandels hier eigene Kapitel gewidmet sind, gehen die folgenden Ausführungen von einem deutlich engeren Begriffsumfang von ›Lite-
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raturvermittlung‹ aus. Die Heterogenität des Gegenstands ist offenkundig, ist doch die Literaturkritik soziologisch als ›Institution‹ zu sehen. Literarische Gesellschaften, Dichterhäuser Museen, Archive, Akademien und Literaturhäuser dagegen sind ›Organisationen‹. Literaturausstellungen, Literaturpreise, Events und Fördermaßnahmen schließlich sind einzelne ›Instrumente‹, die alle ihre jeweilige organisatorische Basis haben. In Abgrenzung zu privaten Formen der Literaturvermittlung ist der Institution Literaturkritik sowie den genannten Organisationen und Instrumenten gemeinsam, dass sie öffentlich sind (vgl. Moser 2012, S. 65.).
2 Literaturkritik Literaturkritik ist innerhalb des hier definierten Felds der Literaturvermittlung der wissenschaftlich bei Weitem am besten erschlossene Teilbereich. Studien zu ihrer Geschichte (Carlsson 1969; Wellek 1977/1978; Hohendahl 1985), Textdokumentationen (Mayer 1956, 1978; Estermann 1984, 1988; Kreuzer 2006; Michel 2008), Darstellungen als Einführungen (Albrecht 2001; Anz / Baasner 2004; Neuhaus 2004; SchwensHarrant 2008) und als Überblick (Barner 1990), fundierte Handbuchartikel (Gebhardt 1996; Moritz 1997; Jaumann 2000), eine über 900 Einträge umfassende Bibliografie (Albrecht 2001, S. 136–19) bis hin zu einem Lexikon (Pfohlmann 2005) liegen vor. »Literaturkritik ist jede Art kommentierende, urteilende, denunzierende, wer bende, auch klassifizierend-orientierende Äußerung über Literatur, d. h. was je weils als ›Literatur‹ gilt« – so lautet die umfänglichste Definition in der Forschung (Jaumann 2000, S. 463; dort auch zur Wort- und Begriffsgeschichte von ›Kritik‹). Eine Spezifizierung für die heutigen Verhältnisse betont zusätzlich »die Auseinandersetzung mit vorrangig neu erschienener Literatur und Autoren in den Massenmedien« (Anz / Baasner 2004, S. 194). Literaturkritik in unserem heutigen Verständnis ist ein »Spätphänomen« (Barner 1990, S. 1), ein Phänomen des 18. Jahrhunderts (vgl. dagegen Jaumann 1990, 1995). Hier sind die Anfänge einer Institutionalisierung zu finden, wie sie heute in sehr ausdifferenzierter Form zu konstatieren ist. Neueste Entwicklungen tragen Züge einer Entinstitutionalisierung. Die Literaturkritik in der Bundesrepublik ist nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst durch den Anschluss an die literaturwissenschaftliche Doktrin der Werkimmanenz gekennzeichnet (vgl. Klein 2010). Sie ist konservativ und zugleich unpolitisch (Günter Blöcker, Hans Egon Holthusen, Friedrich Sieburg). Im Umkreis der Gruppe 47 politisiert sich die Literaturkritik und verabschiedet den elitären Literaturbegriff (Walter Jens, Hans Mayer, Marcel Reich-Ranicki). Die Radikalisierung im Gefolge der Studentenbewegung stellt den ›Großkritiker‹ in Frage, und mit dem ›Tod der Literatur‹ wird auch der Tod der bürgerlichen Literaturkritik verkündet (vgl. Boehlich 1968). Zugleich ist damit die Marginalisierung der Literaturkritik verstärkt. Publikumswirk
3.3.3 Literaturvermittlung
655
same Spektakel wie der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (seit 1977), Das literarische Quartett (1988–2001) oder Lesen! (2003–2008) überdecken den Niedergang der Literaturkritik in Presse, Hörfunk und Fernsehen. Sie hat heute keine gesellschaftliche und kaum eine literarische Korrektivfunktion. Vielmehr ist sie aus mehreren Richtungen unter Druck geraten, was sich in fünf Punkten konkretisieren lässt. Die Ausdifferenzierung der Medien seit dem 19. Jahrhundert brachte zunächst auch eine Ausweitung der Möglichkeiten der Literaturkritik in Presse, Hörfunk und Fernsehen (vgl. Glotz 1968; Viehoff 1981; Mühlfeld 2006). Prägnantes Beispiel ist das Fernsehen. Ende der 1960er Jahre starteten die öffentlich-rechtlichen Anstalten zahlreiche literaturkritische Formate (Aspekte, ab 1967). Doch schon in den 1980er Jahren galt Literaturkritik selbst in den Dritten Programmen als »Zuschauer-Vertreiber« (Lodemann 1981, S. 63) oder »Einschaltquoten-Schädling« (Schoeller 1988, S. 21). Allein seit 2005 wurde fast die Hälfte der einschlägigen Sendungen eingestellt. Der Raum für Literaturkritik wurde aber nicht nur im Fernsehen deutlich reduziert, sondern ebenso in Hörfunk und Tagespresse. Ursache ist die fortschreitende Vermachtung der Märkte, d. h. die Unterwerfung der Literaturkritik unter ökonomische Zwänge wie z. B. die Abhängigkeit der Printmedien vom Anzeigenaufkommen oder der Kampf zwischen öffentlich-rechtlichem und Privatrundfunk und -fernsehen um Einschaltquoten. In diesem Kampf ist der Hörfunk zum Begleit- und Hintergrundmedium geworden. Traditionell dominierten im Radio ohnehin andere Formate der Beschäftigung mit Literatur wie Hörspiel und Lesungen, heute ist die Literaturkritik an den Rand gedrängt. Bei der Betrachtung der Situation der Literaturkritik in der Presse sind die Flaggschiff-Medien Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Welt mit der samstäglichen Beilage Die literarische Welt und Die Zeit die absoluten Ausnahmen. In der allgemeinen Tages- und Wochenpresse ist die Literaturkritik vor allem seit den 1990er Jahren stark zurückgegangen, parallel zum drastischen Auflagenverlust. Von den 145 Kopfblättern haben nur noch wenige eine eigene Literaturredaktion, und längst nicht alle bringen regelmäßig Literaturkritiken. Bei der fortschreitenden Segmentierung des Publikums in Gruppenöffentlichkeiten oder Teilöffentlichkeiten und beim rasanten Wachstum der Buchproduktion gerät der Kritiker unter zunehmenden Selektionsdruck. Aus Selbstschutz und um den »Auswahlqualen« (Lodemann 1981, S. 65) zu entgehen, selegieren Kritiker in allen Medien nach eigenen Interessen, nicht nach (vermuteten) Interessen des Publikums (vgl. Altmann 1983, S. 208 f.). Die Devise heißt »rigorose Subjektivität« (Lodemann 1981, S. 68). Konsequenz ist ein Funktionsversagen: »Die Vermittlungsaufgabe des kulturellen Journalismus [wird] nicht gesehen oder nicht akzeptiert« (Glotz 1968, S. 216). Der Verlust der Meinungsführerschaft gegenüber dem allgemeinen Publikum und dem Wandel des (Berufs-)Bilds des Literaturkritikers lässt Sigrid Löffler vom Literaturkritiker als einer »aussterbenden Spezies« (Löffler 1999, S. 29) sprechen und sie fragt: »Ist der Kritiker nicht durch den neuen Typus des Unterhaltungs-Journalisten, des Dienstleistungs-Journalisten, ganz angenehm zu ersetzen – zum Vorteil der gesamten
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Branche?« (Löffler 1999, S. 34) Sie konstatiert die »willentliche oder unwissentliche Selbst-Entlegitimierung der Kritiker« (Löffler 2002, S. 171), weil diese »das Distinktionskriterium begeistert dem Rudelverhalten« (Löffler 2002, S. 174) opferten1. Auch in der Literaturkritik ist das Medium die Botschaft. Der Verlust der räsonierenden Kritik geht einher mit einem Formatwandel; die Tendenz geht zur »konsumentenfreundlichen Literaturempfehlung« (Kerstan 2006, S. 133). Listen, Hitparaden, Sternchen, Buchkritiken in Briefmarkengröße, Verwendung von durch die Verlage vorgefertigten Paratexten oder Pseudorezensionen in buchhändlerischen Werbemedien ersetzen die klassische Rezension »durch die literarische Verbraucherberatung« (Greiner 2000, S. 233). Die größte ökonomische Wirkung von Literaturkritik wird stereotyp dem Medium Fernsehen zugeschrieben – mit dem Paradebeispiel Literarisches Quartett (für die Tagespresse vgl. Drews 1990). Jedoch war bei fast der Hälfte der in der Sendung diskutierten Werke so gut wie keine Auswirkung auf die Absatzzahlen festzustellen. Ein Einfluss der Kritiker im Sinn einer persönlichen Empfehlung war nicht messbar. Einflussreicher waren jedoch extreme Kritiken, gleichgültig, ob gut oder schlecht, da sie die Wahrnehmung des Buchs erhöhten und eine Mundpropaganda auslösten (vgl. Wilke / König 1997; Clement u. a. 2006). Damit schließt sich die Auseinandersetzung mit Literatur an generelle Merkmale der Mediengesellschaft und den Strukturwandel der öffentlichen Kommunikation an. Techniken des Aufmerksamkeitsmanagements wie Eventorientierung (Das blaue Sofa), Personenzentrierung (Elke Heidenreich; vgl. Caliendo u. a. 2014) und Konfliktinszenierungen im Sinn einer Skandalisierungskommunikation (Thilo Sarrazin) werden zu Erfolgsfaktoren (vgl. Imhof 2006a, S. 202). Hinzu treten »ökonomische Kennziffern wie Rabattpolitik der Verlage, Einkaufsbudgets der Buchhandlungen oder frühere Verkaufszahlen von Autoren« (Kerstan 2006, S. 137). Ergänzend anzufügen als Erfolgsfaktoren sind das Marketingbudget der Verlage, ihre PR-Aktivitäten wie Auftritte der Autoren in Talkshows oder auch Events. Der von Jürgen Habermas beschriebene Strukturwandel der Öffentlichkeit2 und damit einhergehend die Entwicklung vom kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum wurde im literaturkritischen Diskurs so gut wie nicht rezipiert (Ausnahmen Hohendahl 1974; Gebhardt 1996, S. 1101–1107) und damit auch nicht die
1 Zum ›role model des Kritikers 2012‹ vgl. Strigl, Daniela: Der Kritiker: Gatekeeper, Platzanweiser, Zirkulationsagent, Raumpfleger oder Verkehrspolizist? Über die Literatur als herrschaftsfreie Zone. In: Meri Disoski u. a. (Hrsg.): (Ver)Führungen. Räume der Literaturvermittlungen. Innsbruck / Wien / Bozen 2012 (ide-extra. 19), S. 43–55. 2 Zu Begriff und Konzeption von ›Öffentlichkeit‹ vgl. Gerhards, Jürgen: Öffentlichkeit. In: Otfried Jarren u. a. (Hrsg.): Politische Kommunikation der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil. Opladen / Wiesbaden 1998, S. 268–274. Zum Wandel vgl. Donges, Patrick / Imhof, Kurt: Öffentlichkeit im Wandel. In: Otfried Jarren / Heinz Bonfadelli (Hrsg.): Einführung in die Publizistikwissenschaft. Bern / Stuttgart / Wien 2001, S. 101–133; in deutlicher Abgrenzung zu Habermas vgl. Gerhardt, Volker: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins. München 2012.
3.3.3 Literaturvermittlung
657
historische Entwicklung zu einer massenmedial hergestellten Öffentlichkeit. Diese (neue) Öffentlichkeit wird durch Staat, Parteien und vor allem durch die Interessen der Wirtschaft ›vermachtet‹. Habermas spricht von einer »Refeudalisierung« der Öffentlichkeit im Spätkapitalismus (Habermas 1990, S. 292). Dieser Strukturwandel ist durch die »Koppelung der Medien an die Marktlogik« (Imhof 2006b, S. 4) geprägt. Diese Koppelung lässt sich für die Literaturkritik am Beispiel der Internetplattform Amazon erläutern. Hier werden (Laien-)Kritik (vgl. Büttner 2009) und Kauf in unmittelbare räumliche und zeitliche Nähe gerückt, zum einen durch die Präsentation der Rezensionen, zum anderen durch den bequemen 1-Click-Kauf. Die Gatekeeper-Funktion einer Redaktion / eines Redakteurs / einer Redakteurin ist hinfällig geworden. Für den potenziellen Rezensenten existieren so gut wie keine Markteintrittsbarrieren hinsichtlich Vorbildung, sprachlicher Fähigkeiten, Formatvorgaben, Aktualitätsdruck, Kontinuität der Produktion, Vernetzung etc. Wie wichtig Laienkritik im Internet3 für Kaufentscheidungen ist, zeigt die jüngste Entwicklung der verschiedenen Einflussfaktoren auf die Kaufentscheidung. Die Empfehlung von Freunden und Bekannten hat an Einfluss deutlich abgenommen, während sich der Einfluss der Leserrezensionen bei Online-Buchhändlern seit 2005 verdreifachte (vgl. Wolters 2012, S. 13). Kulturpessimistisch wird beklagt, Literaturkritik verkomme zum Plebiszit, zur »Weitergabe von Leseempathie, die befreit ist vom Ballast kulturtheoretischer Kontexte« (Klute 2012). Das Gegenargument lautet, das Internet führe »zu einer umfassenden Demokratisierung der Kritik, mit ihm wird die Laienkritik erstmals zu einem Massenphänomen und zu einer ernsthaften Alternative zur professionellen Kritik« (Anz / Baasner 2004, S. 188). Damit realisierten »die Laienkritiker im Netz nur jene Medienutopien, von denen einst Brecht und Benjamin mit Blick auf den Rundfunk noch vergeblich träumten: die Aktivierung der Konsumenten« (Anz / Baasner, S. 189). Deutlich ausgewogener ist die Argumentation, die zwar eine höhere Nachhaltigkeit, größere Verbreitung, neue Adressatengruppen, neue Gegenstandsbereiche und neue Dialogformen durch das und im Internet konstatiert, gleichzeitig aber auf die ökonomischen Interessen von Verlagen und Buchhandel sowie vor allem auf die Fragen der Glaubwürdigkeit und der Qualität der Literaturkritik im Internet verweist (vgl. Anz 2010). Die Geschichte der Literaturkritik lässt sich über die historischen Abläufe hinaus auch unter dem Gesichtspunkt perennierender Fragestellungen beschreiben. An
3 Detailliert dazu Urban, Evelin Alexandra: Literaturkritik für das Internet. Marburg an der Lahn 2007. URL: http://www.literaturkritik.de/lit-wiss/content_onlineUrban_Kritik.php# [eingesehen am 06.06.2015]. Vgl. auch Wozonig, Karin S. Literaturkritik im Medienwechsel. In: Christine Grond-Rigler / Wolfgang Straub (Hrsg.): Literatur und Digitalisierung. Berlin / Boston 2013, S. 43–68. Zur Struktur von Laienkritiken von Printbooks und E-Books vgl. Wagner, Thomas / Benlian, Alexander / Hess, Thomas: The role of product involvement in digital and physical reading. A comparative study of customer reviews of ebooks vs. printed books. In: ECIS 2012. Proceedings. Paper 57. URL: aisel.aisnet. org/ecis2012/57/ [eingesehen am 06.06.2015].
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erster Stelle ist das die Frage nach der Funktion von Literaturkritik. Dabei ergibt sich das folgende Funktionenbündel, dessen Faktoren in der historischen Entwicklung eine unterschiedliche Gewichtung haben: Informationsfunktion; Selektionsfunktion / Orientierungsfunktion; Wertungsfunktion / Kritikfunktion (zu unterteilen in didaktisch-vermittelnde Funktion für das Publikum und didaktisch-sanktionierende Funktion für Literaturproduzenten); Unterhaltungsfunktion; ökonomische Funktion (Werbefunktion aus Sicht der Literaturproduzenten) und soziale Funktion (Teilhabe des Lesers am literarischen Leben) (vgl. Moritz 1997, S. 198; Albrecht 2001, S. 27–41; Anz / Baasner 2004, S. 195 f.). Ebenso durchgängig ist die Kritik der Kritiker (viele Beispiele bei Neuhaus 2004, S. 83–105) und die Selbstreflexion der Kritiker über ihre Rolle und Funktion. Vor allem begleitet dieser Diskurs des (teilweise) ›großen Jammerns‹ (vgl. Schwens-Harrant 2008) den zunehmenden Funktionsverlust und die Marginalisierung der literarischen Kritik (vgl. Miller / Stolz 2002; Nickel 2005; Thesen 2011). Durchgehend diskutiert wird auch das Verhältnis von Literaturwissenschaft und Literaturkritik (vgl. Irro 1988). Deren strikte Trennung ist eine Besonderheit des deutschen Sprachraums, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte.4 Ferner lässt sich die Geschichte der Literaturkritik als Geschichte ihrer medialen Formen darstellen. Neben den klassischen (anonymen oder signierten) Rezensionen sind das Essays, Reportagen, Porträts, Glossen, Polemiken, Interviews sowie Features, Talkshows bis hin zur Bestenliste, die durch Kritikereinschätzung zur knappsten Form der Kritik wird (vgl. Albrecht 2001, S. 50–61; Neuhaus 2004, S. 131–146). Der Ansatz einer historischen Typologie untersucht die Grundformen der Literaturkritik und »bezeichnet Standpunkte und Einstellungen von Kritik, die jeweils unterschiedliche Wahrnehmungsweisen, Kriterien und Absichten mit sich bringen, ja in der Regel sogar unterschiedliche Gegenstände und Adressaten« (Seibt 1996, S. 627). Gustav Seibt geht von drei Standpunkten aus, die die historische Vielfalt der Literaturkritik aufschließen können: der »Standpunkt der vernünftigen diskursiven Öffentlichkeit« (Seibt 1996, S. 627), der »Standpunkt der autonomen Kunst« (Seibt 1996, S. 628) und der »Standpunkt des Publikums« (Seibt 1996, S. 627–630). Dabei gebe es »keine Hierarchie der kritischen Grundtypen« (Seibt 1996, S. 633), sie hätten »ihre jeweilige situative Berechtigung« (Seibt 1996, S. 632) und sie träten »so gut wie nie in ungemischter Ausprägung auf« (Seibt 1996, S. 631). Literaturkritik ist Wertung5, und so stellt sich permanent implizit oder explizit die Frage nach den Maßstäben. Im Diskurs der Literaturkritiker reicht das von
4 Begriff und Praxis des angelsächsischen ›criticism‹ vereinigen Literaturkritik und Literaturwissenschaft (vgl. Wellek 1977/1978). 5 Vgl. dazu Albrecht 2001, S. 69–75; zu allgemeinen Wertungsfragen im Kontext der Literaturkritik Anz / Bassner 2004, S. 208–217 und Neuhaus 2004, S. 147–163. Vgl. auch Gebhardt, Peter (Hrsg.): Literaturkritik und literarische Wertung. Darmstadt 1980 (Wege der Forschung. 334).
3.3.3 Literaturvermittlung
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Fragen einer Regelpoetik über die oft hypostasierte Subjektivität und Individualität des Kritikers bis zu katalogartigen Anforderungen an eine ideale Literaturkritik (vgl. Neuhaus 2004, S. 165–171). Beispielhaft für die moderne Literaturkritik ist die »Maßstabslosigkeit und Ratlosigkeit« (Albrecht 2001, S. 72). Inwieweit die breite literaturwissenschaftliche Diskussion von Wertungsfragen (vgl. Heydebrand / Winko 1996; Rippl / Winko 2013) auch auf den literaturkritischen Diskurs abstrahlt(e), bleibt zu untersuchen. Auch die Kanonisierung durch Literaturkritik ist nur als Thema angerissen, aber noch nicht als Forschungsgegenstand ausgeführt.
3 Literarische Gesellschaften Geschichte und derzeitige Situation der literarischen Gesellschaften sind gut dokumentiert (vgl. Blinn 11982, 21990, 31994, 42001; Solms 1991; Arbeitsgemeinschaft 1995, 2009; Wülfing u. a. 1998). Einzeluntersuchungen liegen vor; eine Gesamtdarstellung fehlt. Die umfangreichste Datensammlung mit Kurzporträts und einer Verlinkung zur Website der einzelnen Vereine ist auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten zu finden (URL: www.alg.de). Literarische Gesellschaften sind neben Denkmälern, Dichterfeiern, Archiven und Museen Teil der Dichterverehrung, wie sie im deutschen Sprachraum im Wesentlichen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts begann und sich im 19. und 20. Jahrhundert vielfältig entwickelte. Diese Vereinigungen haben sich Pflege und Verbreitung des Werks eines Autors zur Aufgabe gemacht. Als Organisationen sind sie oft Träger von Literaturarchiven, Literaturmuseen und Dichterhäusern sowie von Literaturpreisen, von Zeitschriften oder Jahrbüchern und von wissenschaftlichen Editionen. Ihre organisatorische Festigung durch Statuten und Strukturen ist eine Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die erste literarische Vereinigung, die sich – auch im Namen – einem Autor verpflichtet fühlte, war die 1864 in Weimar gegründete und noch heute aktive Deutsche Shakespeare-Gesellschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Zahl der Namensgesellschaften stark an. 1986 schlossen sich auf Initiative des Bundesinnenministeriums 26 literarische Gesellschaften zur Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten (ALG) zusammen. Heute sind 242 literarische Gesellschaften, Literaturmuseen und literarische Gedenkstätten (davon nur zwei in der Schweiz und neun in Österreich) Mitglied des eingetragenen Vereins. Davon sind drei Viertel Namensgesellschaften, darunter wiederum neun Gesellschaften internationaler Autoren.6 Veranstaltungen wie (wissenschaftliche) Tagungen und Lesungen sowie Publikationen sind die Kernaktivitäten der literarischen Gesellschaften; hinzu kommen oft
6 Zu literarischen Gesellschaften und Literaturmuseen in Europa vgl. Arbeitsgemeinschaft 2009.
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Ausstellungen, Konzerte und Theateraufführungen. Viele Gesellschaften leiden unter Mitgliederschwund und versuchen durch eine größere Angebotspalette ihre Attraktivität zu erhöhen (vgl. Solms 1991, S. 18 f.). Die literarischen Gesellschaften lassen sich unter vier Gesichtspunkten kategorisieren. Vom Gegenstand her betrachtet bilden zwar die Namensgesellschaften den weitaus größten Teil, etliche Vereine sind aber auch regional (z. B. das St. Ingberter Literaturforum) und thematisch (z. B. die Europäische Märchengesellschaft oder die Internationale Faust-Gesellschaft) ausgerichtet. Der Wirkungsbereich reicht von lokal über regional und national bis international. Von den Arbeitsschwerpunkten lassen sich Organisationen mit eher literaturvermittelnden von solchen mit eher literaturwissenschaftlichen Tätigkeiten (z. B. die Georg-Büchner- und die Hugo-vonHofmannsthal-Gesellschaft) unterscheiden (vgl. Solms 1991, S. 11–14). Ferner stehen »repräsentative Gesellschaften« kanonisierter Autoren neben »apologetischen Gesellschaften« (Miller 1991, S. 25), denen es darum geht, den Autor überhaupt erst öffentlich zu machen. Die Spreizung zwischen großen und kleinen Vereinen ist erheblich. Die bei Weitem größte literarische Gesellschaft ist die Weimarer Goethe-Gesellschaft, die mit 59 Ortsvereinigungen in ganz Deutschland kooperiert. Literarische Gesellschaften sind in der Regel in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins mit festen Statuten und einer verbindlichen Mitgliederliste organisiert. Sie finanzieren sich aus Mitgliedsbeiträgen, steuerlich absetzbaren Spenden und Förderungsmitteln der öffentlichen Hand. In der DDR existierten bis auf einige Ausnahmen (Goethe-, Schiller-, Shakespeare-Gesellschaft) keine mit der Bundesrepublik vergleichbaren eigenständigen literarischen Vereinigungen.
4 Literaturakademien Die Geschichte der (Literatur)Akademien ist in zum Teil voluminösen Bänden in Dokumenten aufgearbeitet (Uhlmann / Wolf 1993; »Die Kunst hat nie ein Mensch allein besessen« 1996; Stiftung Archiv der Akademie der Künste 1997a, 1997b; Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz 1989; Assmann / Heckmann 1999). Eine Gesamtdarstellung fehlt; einen Überblick gibt Bernd Busch (2009). In der langen Geschichte der Wissenschafts- und Kunstakademien in Deutschland bilden die Literaturakademien einen kurzen Traditionsstrang. Mitglieder einer Akademie konnten Dichter und Schriftsteller erst mehr als zweihundert Jahre nach der Gründung der Preußischen Akademie der Künste im Jahr 1696 werden, als die Akademie 1926 um die Sektion für Dichtkunst erweitert wurde (vgl. Jens 1994). Selbstverständnis, Aufgaben und Ziele der Akademien sowie die öffentliche Wahrnehmung dieser Einrichtungen treten weit auseinander. Betrachtet man die vier großen Akademien in München (gegründet 1948), Darmstadt (gegründet 1949),
3.3.3 Literaturvermittlung
661
Mainz (gegründet 1949) und Berlin (gegründet 1954; Neugründung nach der Wiedervereinigung 1993), so lässt sich die Aufgaben- und Funktionsbeschreibung unter den Stichworten Bewahrung, Pflege und Förderung der Kultur, Beitrag zur geistigen Auseinandersetzung, Vermittlung neuer künstlerischer Tendenzen, Sprach- und Literaturpflege durch Edition von Einzel- oder Werkausgaben sowie Archivierung entsprechender Materialien resümieren. Hinzu kommt bei allen Akademien die Verleihung von Preisen. Die öffentliche Wahrnehmung der Akademien und damit auch ihre Funktion als Literaturvermittler ist heute weitgehend auf diese Trägerschaft von Literaturpreisen reduziert. Allenfalls sind sie »noch der Austragungsort kulturpolitischer Debatten, wenn deren Themen sich gerade der politischen Agenda und den medialen Aufmerksamkeitskonjunkturen fügen« (Busch 2009, S. 151).
5 Literaturhäuser, Literaturbüros Susanne Reuter (2002) und Kerstin Juchem (2013) haben umfassende Studien zu Geschichte und Arbeit von Literaturhäusern und Literaturbüros vorgelegt; Letztere als statistische Bestandsaufnahme; Stephan Porombka und Kai Splittgerber (2010) haben die Literaturvermittlung in den neuen Bundesländern untersucht. Zusammenfassende Darstellungen bieten Sonja Vanderath (2006, S. 169–200) sowie Anja Johannsen (2012). Die Arbeit der Literaturbüros behandelt Stefanie Baumann (1995). Handbuchartikel dokumentieren oft das institutionelle Selbstverständnis (Moritz 2009a, 2009b). Literaturhäuser sind Organisationen, die der Literaturvermittlung durch ein kontinuierliches Programm in verschiedensten Veranstaltungsformen wie Lesungen, Diskussionsveranstaltungen, Tagungen, Ausstellungen, Veranstaltungsreihen dienen.7 Sie verstehen sich nicht nur als Veranstalter, sondern auch als Begegnungsort der literarischen Szene der jeweiligen Stadt. Zum Angebot gehören in der Regel ein Café oder ein Restaurant sowie eine Buchhandlung. Auch können in vielen Fällen Räume der Literaturhäuser durch externe Veranstalter angemietet werden. Im Unterschied zu den literarischen Gesellschaften, die sich hauptsächlich retrospektiv der Literaturpflege und -vermittlung widmen, sind Literaturhäuser (und Literaturbüros) in der Regel der Förderung der Gegenwartsliteratur verpflichtet (vgl. Reuter 2002, S. 9). Das erste Literaturhaus im deutschsprachigen Raum wurde 1986 in Berlin eröffnet. 2002 schlossen sich die Literaturhäuser im losen Verbund, ab 2008 in einem gemeinnützigen Verein mit heute elf Mitgliedern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz unter dem Namen literaturhaus.net zusammen. Diese Literaturhäuser ver-
7 Veranstaltungen wie Schreibwerkstätten, Workshops, Theaterproduktionen, Kooperationen mit bildenden Künstlern und Musikern etc. bleiben hier unberücksichtigt.
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stehen sich als »Zentren für nicht-kommerziell ausgerichtete Veranstaltungen rund um das Buch« und »fühlen sich programmatisch weder dem Mainstream noch einer bestimmten ästhetischen Richtung verpflichtet. Auch entlegene Themen und unbekanntere Literaturen finden ihren Platz im Programm der Häuser, die sich als Foren für die offene und kritische Auseinandersetzung mit Literatur und benachbarten Themen verstehen«. Ziel des Netzwerks ist es, »Erfahrungen und Kontakte auszutauschen und über gemeinsame Projekte und Mittelakquisition im deutschsprachigen Raum als Literaturvermittler zu wirken«. Stark betont wird unter dem Aspekt der Mittelakquisition die Kooperation mit der Wirtschaft: Veranstaltungen mit renommierten Künstlern oder experimentierfreudigen jungen Autoren bieten Unternehmen eine interessante Chance, sich im Kultursponsoring zu engagieren. Angestrebt ist eine Partnerschaft, die beide, den Wirtschaftsfaktor der Kultur und den Kulturfaktor der Wirtschaft, gleichermaßen widerspiegelt. (alle Zitate URL: www.literaturhaus.net/netzwerk/ index.htm [eingesehen am 06.06.2015])
Rechtsform, Trägerschaft, Finanzierung und Marketingstrategien unterscheiden sich stark (vgl. Reuter 2002; Vandenrath 2006; Johannsen 2012). Das reicht von der kommunalen Trägerschaft und (Mit-)Finanzierung über Stiftungen bis zu lokalen Vereinen. In so gut wie allen Fällen sind die Literaturhäuser sowohl in der Grund finanzierung als auch bei einzelnen Veranstaltungen oder Veranstaltungsreihen auf Sponsoren angewiesen. Die Abhängigkeit der Häuser von externen Mittelzuflüssen nimmt durch die sich verschlechternde Situation der öffentlichen Haushalte und der mäzenatischen Stiftungen kontinuierlich zu. Daher wird der Spagat zwischen Autonomie in der Programmgestaltung und der Funktion als »bloße ›Abspielstätten‹ für die Spitzentitel der Verlage« (Moritz 2009a, S. 126) immer schwieriger. Im Zug der Eventisierung der Literatur und der Literaturvermittlung konkurrieren die Literaturhäuser in zunehmendem Maß bei einzelnen Vermittlungsformen mit anderen Veranstaltern, so z. B. bei literarischen Events und Festivals. Sie müssen in der Konkurrenz auf dem Erlebnismarkt und im Ensemble der Kulturangebote bestehen. Literaturbüros werden in der Literatur mit Ausnahme von Stefanie Baumann (1995) und Kerstin Juchem (2013)8 entweder nicht erwähnt oder in einem Atemzug mit den Literaturhäusern genannt. Eine eindeutige Abgrenzung zwischen beiden ist nicht möglich.9 Tendenziell bieten sich folgende Unterscheidungsmerkmale an: Literatur-
8 Unter den bei Michael Basse und Eckhard Pfeifer porträtierten rund 100 Einrichtungen sind nur rund ein Zehntel Literaturbüros (vgl. Basse, Michael / Pfeifer, Eckard [Hrsg.]: Literaturwerkstätten und Literaturbüros in der Bundesrepublik. Ein Handbuch der Literaturförderung und der literarischen Einrichtungen der Bundesländer. Lebach 1988). 9 Vandenrath sieht drei Arbeitsschwerpunkte bei den Literaturbüros im Unterschied zu den Literaturhäusern: »erstens die Koordinierung und Vernetzung literarischer Aktivitäten in einer Region,
3.3.3 Literaturvermittlung
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häuser widmen sich vor allem der Vermittlung etablierter Autoren und Autorinnen. Literaturbüros sind eher auf Nachwuchsförderung durch Lesungen, aber auch Workshops, Manuskriptgutachten-Service oder Publikationsmöglichkeiten wie literarische Zeitschriften oder Einzelveröffentlichungen fokussiert. Die Angebotspalette der einzelnen Büros ist deutlich breiter als die der Literaturhäuser, so z. B. Literatur am Telefon, Gedichte an Litfasssäulen, Hörspiele im öffentlichen oder halböffentlichen Raum (vgl. Plachta 2008, S. 144) und weicht lokal wie regional viel stärker voneinander ab. Manche Büros sind lokal orientiert und auf Autorenförderung ausgerichtet (so das Münchner Literaturbüro), andere sind von regionaler Bedeutung (so das Brandenburgische Literaturbüro). Rechtsform, Trägerschaft und Finanzierung sind in ihrer Grundstruktur vergleichbar mit den Literaturhäusern. Auch für sie gilt die zunehmende Abhängigkeit von externen Mittelzuflüssen. Die ersten Literaturbüros wurden 1980 in Düsseldorf und Erlangen gegründet. Stefanie Baumann (1995) listet 21 Literaturbüros auf.
6 Literaturausstellungen Susanne Ebeling, Hans-Otto Hügel und Ralf Lubnow (1991) informieren umfassend über den Begriff der Literaturausstellung, über nationale und internationale Literaturausstellungen sowie über Präsentation und Rezeption literarischer Ausstellungen. Ferner enthält der Band ein knapp 2200 Einträge umfassendes Verzeichnis der Literaturausstellungen in der BRD und der DDR zwischen 1949 und 1985. Eine Skizze der Geschichte der Literaturausstellungen findet sich bei Peter Seibert (2011); eine systematisch-historische Typologie steht noch aus. Die Diskussion um die Ausstellbarkeit von Literatur resümieren Anne Bohnenkamp und Sonja Vandenrath (2011). Die wirtschaftliche Wirkung von Literaturausstellungen analysiert Susanne LangeGreve (1995, S. 238–256). Literaturausstellungen im engeren Sinn finden sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in öffentlichen Bibliotheken sowie in Geburts-, Wohn- und Sterbehäusern von Schriftstellern. Neben die Traditionslinie der Ausstellungen im räumlichen Umfeld von Dichterhäusern treten selbstständige Ausstellungen – oft zu Gedenktagen (vgl. Zeller 1991, S. 40). Diese autorenzentrierten Veranstaltungen werden durch Epochenund Themenausstellungen ergänzt. Organisatorische Träger von Literaturausstellungen sind überwiegend Literaturmuseen und Literaturarchive sowie Literaturhäuser. Diese Einrichtungen kamen in den beiden letzten Jahrzehnten durch die Entwicklung der öffentlichen Finanzen
zweitens die Information und Beratung von Autoren und drittens die Initiierung, Planung und Durchführung von Veranstaltungen« (Vandenrath 2006, S. 176, Anm. 13).
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zunehmend unter Finanzierungsdruck und waren so gezwungen, im Rahmen des Eigenmarketings neue Geldquellen zu erschließen. Da Legitimation und Existenz fast nur noch über die Besucherzahlen geschieht (vgl. Kussin 2009, S. 138), gewannen Fragen der Museums- und Ausstellungsdidaktik immer mehr an Gewicht. Zwar konstatierte ein Handbuchartikel noch im Jahr 2007, die Ausstellbarkeit von Literatur sei grundsätzlich umstritten (vgl. Burdorf u. a. 2007, S. 446), doch gibt es bereits seit den 1980er Jahren eine breite Diskussion, wie Literatur auszustellen sei.10 Dabei geht es einerseits um sehr praktische ausstellungsdidaktische Fragen (vgl. Lange-Greve 1995), nicht zuletzt auch um Fragen des Einsatzes von multimedialen Vermittlungsformen. Andererseits wurde in jüngster Zeit der Topos der Unausstellbarkeit von Literatur reanimiert (vgl. Gfrereis 2007; Gfrereis / Raulff 2011) »Der Literatur, dem Lesen zuliebe müsste man das Literaturausstellen verbieten. Wer schaut, der liest nicht. Lesen heißt, die äußere Welt zu vergessen« (Gfrereis 2007, S. 84). Den Stand der Diskussion spiegeln Anne Bohnenkamp und Sonja Vandenrath (2011). Dort findet sich neben neun Praxisberichten auch die Dokumentation der Ausstellung Wie stellt man Literatur aus aus dem Jahr 2010, in der sieben ausstellungsdidaktische Positionen am Beispiel von Goethes Wilhelm Meister als Meta-Ausstellung erprobt wurden.
7 Literaturpreise, Literaturstipendien Literaturpreise als Subkategorie der Kulturpreise sind oft und ausführlich dokumentiert11, die Geschichte einzelner Preise12 ist gut erforscht13. Eine Theorie der Literaturpreise als Ritus und Gabentausch legen Burckhard Dücker und Verena Neumann
10 Zusammenfassend zur Ausstellbarkeit von Literatur neben Bohnenkamp / Vanderath 2011, zuletzt Danielczyk, Julia: Literatur im Schaufenster. Über die (Un)Möglichkeit, Literatur auszustellen. In: Meri Disoski u. a.(Hrsg.): (Ver)Führungen. Räume der Literaturvermittlungen. Innsbruck / Wien / Bozen 2012 (ide-extra. 19), S. 31–42. 11 Die Zahl der Preisverzeichnisse ist groß und reicht von werbebroschürenartigen Publikationen über zielgruppenspezifische Verzeichnisse und umfangreiche Dokumentationen (vgl. Dambacher, Eva: Literatur- und Kulturpreise 1859–1949. Eine Dokumentation. Marbach am Neckar 1996; Dücker / Neumann 2005) bis zur quasi-offiziellen Publikation Handbuch der Kulturpreise, die vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien unterstützt wird (www.kulturpreise.de). Zu den Elementen der Preisprofile gehören in der Regel Namenspatron, Stifter, Preisträger, Vergabeturnus, Gründung, Zusammensetzung der Jury und Dotation. Wiesand 2001 bietet in der Einleitung aufschlussreiche statistische Details. 12 Vgl. beispielsweise die Geschichte des Georg-Büchner-Preises (Ulmer, Judith S.: Geschichte des Georg-Büchner-Preises. Soziologie eines Rituals. Berlin / New York 2006), des Goethe-, des Lessingund des Wilhelm-Raabe-Preises (Leitgeb 1994) sowie des Ingeborg-Bachmann-Preises (Moser 2004). 13 Zu unbeantworteten Forschungsfragen siehe Dahnke 2009, S. 334 f. und 337 f.
3.3.3 Literaturvermittlung
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(2005) sowie Burckhard Dücker, Dietrich Harth, Martin Steinicke und Judith Ulmer (2005) vor. Zu Literaturstipendien gibt es keine Einzelarbeiten. Literaturpreise14 sind meist periodisch vergebene Auszeichnungen, mit denen ein einzelnes Werk, ein Gesamtwerk oder ein Autor gewürdigt und damit hervorgehoben wird. In der Regel vergibt ein Gremium den Preis; bei einigen Preisen bestimmt ein einzelner Juror den Preisträger. Die Übergabe erfolgt im Allgemeinen in einem Festakt. Literaturpreise in ihrer modernen Form setzen die Tradition der Dichterkrönung in Antike und Renaissance (›poeta laureatus‹) fort. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Auszeichnung mit einem Lorbeerkranz entweder durch einen undotierten Preis (was als materielles Äquivalent dem Lorbeer entsprach) oder durch einen in Geld dotierten Preis ersetzt. Vergeben werden die Preise von öffentlichen Einrichtungen, literarischen Gesellschaften, Akademien, Literaturhäusern, Verbänden, Stiftungen sowie von privaten und öffentlich-rechtlichen Unternehmen. Auch Einzelpersonen haben Literaturpreise gestiftet. Die Vielfalt der deutschen Preise lässt sich nach verschiedenen Kriterien kategorisieren.15 Die große Gruppe der Erinnerungspreise verweist auf einen Autor, oft verbunden mit einem Hinweis auf eine Stadt oder eine Region: Bettina-von-Arnim-Preis, Ernst-Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen, Klaus-Groth-Preis für niederdeutsche Lyrik der Stadt Heide. Eine weitere große Gruppe bilden die genrebezogenen Preise: Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor, Mülheimer Dramatiker-Preis, PeterHuchel-Preis (für Lyrik), Deutscher Jugendliteraturpreis, Deutscher Krimi-Preis, Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik. Die adressatenbezogene Preise sind für bestimmte Gruppen von Autoren ausgeschrieben: Adelbert-von-Chamisso-Preis (für nichtmuttersprachliche Autoren, die auf Deutsch publizieren), LiBeratur-Preis für Schriftstellerinnen aus Afrika, Asien oder Lateinamerika, Ida-Dehmel-Literaturpreis (für Autorinnen). Herkunftsbezogene Preise schließlich weisen den privaten oder öffentlichen bzw. öffentlich-rechtlichen Träger aus: Aspekte-Literaturpreis (ZDF), Staatlicher Förderungspreis für Literatur, Förderpreis des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft. Nach dem Modus der Entscheidungsfindung lassen sich Preise mit arkanen Jury-Entscheidungen von Entscheidungen nach öffentlicher Sofortkritik (Preis der Gruppe 47, Ingeborg-Bachmann-Preis, Open Mike) und von Preisen mit öffentlicher Entscheidungsfindung (derneuebuchpreis) unterscheiden. Der Auswahlmodus der Kandidaten trennt Preise, deren Kandidaten vorgeschlagen werden (die überwiegende Mehrheit der Preise), von solchen mit Eigenbewerbungen auf Ausschreibung (Brücke Berlin Preis, Brandenburgischer Literaturpreis). Schließlich sind dotierte von undotierten Preisen (Deutscher Phantastik-Preis, Internationaler Preis der jungen Leser, Hörspielpreis der Kriegsblinden) zu unterscheiden.
14 Zur Einführung vgl. Dücker / Neumann 2005, S. 4–30, Vandenrath 2005 und Dahnke 2009. 15 In Anlehnung an Dücker / Neumann 2005, S. 9 f. und Dücker, Burckhard: Literaturpreise. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (2009), Heft 154, S. 54–76, hier S. 68–72.
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In Deutschland beginnt die Geschichte der Literaturpreise (vgl. Leitgeb 1994, S. 10–54) in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Das derzeit umfangreichste Verzeichnis von Kulturpreisen (www.kulturpreise.de) führt in der Sparte Literatur über 800 einzelne Preise (›Preiseinheiten‹) auf. Die Zahl der ›Preisnamen‹ liegt bei etwas mehr als der Hälfte, da unter einem Preisnamen mehrere Einzelpreise vergeben werden. Seit 1980 hat sich Zahl der Preise rasant erhöht. Wurden in den davorliegenden drei Jahrzehnten seit Ende des Zweiten Weltkriegs zwischen 30 und 40 Preise je Jahrzehnt neu installiert, liegt die Vergleichszahl in den Jahrzehnten bis heute bei über 80 Preisen. Die Gesamtsumme der Preisgelder im Bereich Literatur liegt derzeit bei 3,5 bis 4 Millionen Euro (vgl. Dücker u. a. 2005, S. 2). Die Fördersumme für alle Kulturpreise hat sich in den zwei Jahrzehnten zwischen 1978 und 2000 von rund einer Million auf knapp sieben Millionen versiebenfacht (vgl. Fohrbeck / Wiesand 1978; Wiesand 2001). Weder die steigende Zahl der Preise noch das Wachstum der Fördersummen sind eindeutig zu erklären (vgl. Dahnke 2009, S. 338).16 Funktionen und Wirkungen eines Literaturpreises lassen sich in »die Funktionen der medialen Aufmerksamkeitsgenerierung, der Hierarchisierung, der ökonomischen Absicherung für den Autor und der Marktstimulierung« zusammenfassen (Richter 2011, S. 44). Hinzuzufügen ist der Selbst(re)präsentationseffekt für den Stifter des Preises. Für den Aspekt der Literaturvermittlung sind die mediale Aufmerksamkeitsgenerierung und die Marktstimulierung die entscheidenden Funktionen. Doris Moser hat den Ingeborg-Bachmann-Preis als Börse, Show, Event charakterisiert (so der Untertitel; 2004). Inwiefern sich Preise auf den Absatz von Literatur auswirken, ist umstritten (vgl. Vandenrath 2005, S. 239; Dahnke 2009, S. 337). Empirische Untersuchungen dazu fehlen. Literaturstipendien bilden den Kern der Literaturförderung. Hier steht die ökonomische Funktion für den Autor im Vordergrund. Dahinter tritt die Generierung von Aufmerksamkeit sowie die Marktstimulierung und damit die Funktion der Vermittlung eindeutig zurück. Aufenthaltsstipendien gewähren für einen bestimmten Zeitraum Unterkunft. Meist sind sie mit einer Residenzpflicht, oft auch mit einer Verpflichtung zur Teilnahme am kulturellen Leben des jeweiligen Orts verbunden. Derzeit gibt es 146 Literaturstipendien in Deutschland (URL: www.kulturpreise.de/web/index.php?ptyp_ id=300&cName=literatur [eingesehen am 06.12.2014]). Stipendiengeber sind Länder, Kommunen, Stiftungen oder Privatpersonen (vgl. Angele 2005; Plachta 2008, S. 161– 164.).
16 Eine Analyse mit Stand 2002 bei Vandenrath 2006, S. 146–165 und Tabelle 7 im Anhang (unpag.).
3.3.3 Literaturvermittlung
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8 Literarische Events ›Event‹ dient hier als Dachbegriff für Formen der Literaturvermittlung, die durch die grundlegenden Elemente Autor, Text und Publikum in verschiedenen Interaktionsformen und verschiedener Interaktionsintensität charakterisiert sind. Über einige wenige kurze (Handbuch-)Artikel hinaus gibt es keine eingehenden Untersuchungen zur Literaturvermittlung durch Lesungen (teilweise mit Wettbewerbscharakter), Poetry Slams, multimediale Events etc. In einer Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992) und Inszenierungsgesellschaft17 (Willems / Jurga 1998) kann sich auch Literaturvermittlung nicht dem Trend zum Event18 entziehen. Die Charakteristika des Events, »Einzigartigkeit, Episodenhaftigkeit, Gemeinschaftlichkeit und Beteiligung« (Schulze 1998, S. 313)19, können als Differenzierungsmerkmale für die Spannbreite von der klassischen Lesung (Einzigartigkeit, keine Beteiligung des Publikums) bis zum Poetry Slam (starke Beteiligung des Publikums) angesetzt werden. Damit einher geht die Intensivierung: »Erlebnisse werden in Ereignissen gesucht, die immer unerhörter und spektakulärer scheinen« (Blödorn 1999, S. 178). Doch »in Lebenszusammenhängen, die auf eine stetige Intensivierung des Erlebniskonsums ausgerichtet sind, besteht das Problem des Buchs vornehmlich darin: dass es im Vergleich zu anderen Medien seinen Nutzern scheinbar wenig Erlebnisqualitäten und damit wenig Kult zu bieten hat« (Porombka 2001, S. 36). Die Lesung vereint in der Regel drei Elemente: den Vortrag des Autors, die Beantwortung von Fragen aus dem Publikum oder eines Moderators durch den Autor zum Text sowie das Signieren seiner Bücher durch den Autor. Die Konstellation, wie wir sie heute als Wasserglaslesung20 kennen, ist nach dem Zweiten Weltkrieg »zu einem festen Bestandteil der literarischen Kultur geworden« (Grimm 2008, S. 148). Autoren als Rezitatoren ihrer Werke sind gut dokumentiert (vgl. Tgahrt 1984, 1989, 1995; Grimm
17 Merkwürdigerweise thematisiert der Band die (Selbst-)Inszenierung von Schriftstellern und Künstlern nicht. 18 Leider ist das Buch (Kemper, Peter [Hrsg.]: Der Trend zum Event. Frankfurt a. M. 2001) mit dem trendigen Titel für das Thema Literaturvermittlung unergiebig. Deutlich hilfreicher ist Gebhardt, Winfried / Hitzler, Ronald / Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen. Opladen 2000, vor allem das Kapitel »Zur Theorie des Events«. Vgl. auch kritisch Literatur – im Trend zum event oder Wie kommt Literatur zum Leser? Symposion der Deutschen Literaturkonferenz, Leipzig, 27. März 1999. In: Neue Deutsche Literatur 47 (1999), Heft 526, S. 150–186. 19 Vgl. auch die Spezifika bei Hepp, Andreas / Höhn, Marco / Vogelgesang, Waldemar: Perspektiven einer Theorie populärer Events. In: Dies. (Hrsg.): Populäre Events. Medienevents, Spielevents, Spaß events. 2., überarb. Aufl. Wiesbaden 2010, S. 7–33, hier S. 13: »routiniertes Außeralltäglichkeitserleben, segmentiell dominierend, inszenierte Einzigartigkeit, kommerzialisiert, spaßig, polarisierend«. 20 Der Begriff ›Wasserglaslesung‹ als Synonym für die klassische Autorenlesung stammt wohl von Stephan Porombka (vgl. Porombka, Stephan: Hat die Lesung ausgedient, Herr Porombka? In: Buchreport. Magazin [2010], Heft 3, S. 18 f.). Rainer Moritz 2010 hat das Wasserglas heftig verteidigt (vgl. Moritz, Rainer: Die Verteidigung des Wasserglases. In: Buchreport. Magazin [2010], Heft 4, S. 10).
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2008). Lesungen dienen nicht nur der Literaturvermittlung (und durchaus auch der Selbstinszenierung der Autoren), sondern sind für diese neben Literaturpreisen und -stipendien sowie Verlagsvorschüssen eine wichtige Einkommensquelle. Wie wichtig Lesungen für die Literaturvermittlung als Marketinginstrument sind, zeigt die Tatsache, dass einschlägige Ratgeber zum Teil in mehreren Auflagen vorliegen (vgl. Reifsteck 2005). Lesebühnen (vgl. Ditschke 2009, S. 310–312) sind eine Sonderform der Autoren lesung. Hier tritt ein festes Ensemble wöchentlich oder monatlich auf und trägt eigene Texte vor. Integriert in die Veranstaltungen sind andere Medien (Musik, Film etc.), so dass »durch die Vielfalt an Ausdrucksformen […] abwechslungsreiche Shows« entstehen (Ditschke 2009, S. 311). Eine eigene Lesebühnenszene gibt es seit Ende der 1980er Jahre in Berlin. Inzwischen finden sich in vielen Großstädten derartige Einrichtungen.21 Eine wissenschaftliche Aufarbeitung fehlt bislang. Literarische Salons haben zwar literatur- und sozialgeschichtlich eine lange Tradition, doch die heutigen Schwundformen haben eher privatistischen Society-Charakter (vgl. Saxe 1999) und bleiben daher hier unberücksichtigt. Lesungen mit Wettbewerbscharakter reichen vom Ingeborg-Bachmann-Preis über den Berliner Open Mike bis zu Poetry Slams. Dieser ist das Literatur-Event par excellence (vgl. Porombka 2001; Westermayr 2010; Dannecker 2012). Hier treten die von Gerhard Schulze genannten Charakteristika Einzigartigkeit, Episodenhaftigkeit, Gemeinschaftlichkeit und Beteiligung zusammen. Der Slam unterscheidet sich von herkömmlichen literarischen Veranstaltungen dadurch, dass er sich »nicht als szenische Übersetzung eines bereits gedruckten Textes« versteht, sondern »nur auf das flüchtige Wort setzt, auf den improvisierten Vers und das impulsiv zusammengestückelte Gedicht« (Porombka 2001, S. 28). Im Zentrum steht nicht die literarische Qualität des Texts, sondern entscheidend sind »die Performance, der Auftritt, die Inszenierung, der LiveAct« (Porombka 2001, S. 31). Als Regeln gelten im Allgemeinen: Den auftretenden Slammern steht nur eine eng begrenzte Zeit zur Verfügung, und sie dürfen außer Text und Mikrofon keine weiteren Hilfsmittel verwenden. Entschieden wird in mehreren Runden (Vorrunden bis Finale) per Applaus des Publikums oder durch eine aus der Mitte der Zuschauer gewählte Jury. Im deutschsprachigen Raum wurde der erste Slam 1994 veranstaltet; heute gibt es jährlich rund 1000 Slam-Events an mehr als 130 Orten (vgl. Ditschke 2008, S. 169; Preckwitz 2002). Eine besondere Form der Literaturvermittlung als Event ist das Literaturfestival. Es setzt sich in der Regel aus verschiedenen Einzelveranstaltungen wie Lesungen durch Autoren oder Schauspieler, Poetry Slams, Diskussionsveranstaltungen, Preisverleihungen, aber auch musikalische Acts und Theateraufführungen zusammen. Die
21 Eine Liste der Berliner Lesebühnen unter URL: www.falko-hennig.de/buehnen/lese/geschich.htm [eingesehen am 06.06.2015], eine Liste der Lesebühnen in Deutschland unter URL: de.wikipedia.org/ wiki/Liste_von_Lesebühnen [eingesehen am 06.06.2015].
3.3.3 Literaturvermittlung
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Zahl der Einzelveranstaltungen schwankt stark und reicht von einigen wenigen bis zum als Begleitprogramm zur Leipziger Buchmesse installierten Mammutprogramm Leipzig liest, das 2012 an 350 Orten 2600 Veranstaltungen mit fast 3000 Autoren bot. Das bei Weitem älteste Literaturfestival in Deutschland ist das 1981 gegründete Erlanger Poetenfest. Vermehrt entstanden solche Festivals in den 1990er Jahren. Ihre Zahl hat in den letzten Jahren noch einmal stark zugenommen. Eine einschlägige Liste nennt knapp 50 Veranstaltungen in Deutschland, elf in Österreich und neun in der Schweiz (URL: de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Literaturfestivals [eingesehen am 06.12.2014]). Die meisten Festivals sind von regionaler Bedeutung. Zur Profilierung im Kampf um Geld, Zeit und Aufmerksamkeit des Publikums fokussieren sie sich auf Genres (z. B. Krimi), auf Themen (z. B. Mittelalter), auf einzelne Bücher (Ein Buch für die Stadt in Köln; seit 2003), auf Veranstaltungsorte oder auf Kulturkreise (Literatürk in Essen, seit 2005). Die veröffentlichten Besucherzahlen sind mit Vorbehalt zu sehen, da sie durchweg von den Veranstaltern stammen. Die Finanzierung der Festivals reicht von öffentlicher Förderung (Erlangen) über privat finanzierte Festivals mit entsprechenden Eintrittspreisen (litCologne) bis zu marketinggetrieben Veranstaltungen wie dem Berliner Wintersalon, der von der Werbegemeinschaft des Berliner Sony Centers getragen wird (vgl. Wegmann 2005, S. 223). Literaturfestivals sind inzwischen auch fester Bestandteil des touristischen (Stadt-)Marketings geworden wie etwa der Literarische Frühling in der nordhessischen Heimat der Brüder Grimm.
9 Förderung der Literaturvermittlung Eine grundlegende Studie zur Literaturförderung fehlt. Generelle Ausführungen zur Struktur der Kulturförderung in der Bundesrepublik finden sich bei Otto Singer (2003a, 2003b). Daten(roh)material für Deutschland liegt in ausreichendem Maß – wenn auch sehr verstreut und kaum vergleichbar22 – vor, hauptsächlich in durch die öffentliche Hand herausgegebenen oder initiierten und finanzierten Berichten, Studien, Monitorings, Statistiken23 etc. Die Situation in Österreich ist bei Peter Landerl (2005) dargestellt. Literaturförderung – ob staatlich, privat oder gemischt finanziert, ob Teil einer allgemeinen Kulturförderung oder mit spezifischer Förderintention – ist ein Thema, das erst seit rund drei Jahrzehnten in das öffentliche Bewusstsein gelangt ist.24 Wegweisend dafür waren die Arbeiten von Karla Fohrbeck und Andreas Johannes Wiesand
22 Beispiele bei Porombka / Splittgerber 2010, S. 10 f. 23 Bis hin zu der von der Europäischen Kommission herausgegebenen Datenwüste Cultural Statistics (Luxemburg 2011). 24 Vgl. zur Kulturpolitik seit 1945 Singer 2003a.
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(1972, 1978) sowie von Wiesand (1980). Spätestens nach der Wiedervereinigung wurde die kulturpolitische Debatte unter dem Stichwort Wirtschafts- und Standortfaktor Kultur geführt (vgl. Singer 2003a, S. 26–46), Fragen der Kultur- und Kreativwirtschaft sowie der Kulturfinanzierung traten in den Vordergrund (vgl. auch Heinrichs 1997; Becker 2009; für die Schweiz Weckerle / Söndermann 2003). Die Förderung der Kultur erfolgt in der Bundesrepublik nach dem Drei-SektorenModell (vgl. Heinrichs 1993, S. 31–80; Stadtart 2012). Im öffentlichen – staatlichen – Sektor agieren Bund, Länder und Gemeinden als öffentlich-rechtliche Gebietskörperschaften sowie öffentlich-rechtliche Anstalten und Stiftungen. Die Rechtsform unterliegt dem öffentlichen Recht. Das Handeln ist nicht gewinnorientiert. Im privaten Sektor der Kultur- und Kreativwirtschaft, dem eigentlichen Kulturbetrieb, sind privatrechtlich-kommerzielle Unternehmen tätig, deren Handeln auf Gewinnerzielung gerichtet ist. Der intermediäre Sektor steht zwischen diesen beiden Sektoren. Hier agieren privatrechtlich-gemeinnützige Unternehmen, die als eingetragener Verein, als gemeinnützige GmbH oder als Stiftung organisiert sind und die keine Gewinne erwirtschaften dürfen. Folgt man für den öffentlichen Sektor25 dem Kulturfinanzbericht 2010 der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, so gibt es in Deutschland26 bei einem Gesamtfördervolumen von über 10 Milliarden Euro im Jahr 2007 keine Förderung der Literatur und der Literaturvermittlung. Der diesem Bericht zugrunde liegende Kulturbegriff umfasst die »Aufgabenbereiche Theater, Musikpflege, nicht wissenschaftliche Bibliotheken und Museen, Denkmalschutz, Sonstige Kulturpflege sowie die Verwaltung für kulturelle Angelegenheiten« (Statistische Ämter 2010, S. 18). Folglich wird in den Statistiken die Literaturförderung nicht ausgewiesen (vgl. auch Schneider 1999, S. 53). Aus den Statistiken der Kulturstiftung des Bundes kann man herauslesen, dass die Literatur 2009 mit etwas über 19 Mio. Euro gefördert wurde. Der Hauptanteil entfällt auf die »Bewahrung, Pflege und Erschließung des literarischen Erbes der deutschen Kulturnation« (Weiss 2005, S. 36) und fließt Einrichtungen wie der Deutschen Nationalbibliothek, dem Bundesarchiv oder einigen Literaturmuseen und -gedenkstätten zu. Die Förderung der Literaturvermittlung ist nicht ausgewiesen. Literaturförderung betreibt auch das Auswärtige Amt. Die auswärtige Kulturpolitik wird vor allem durch die Arbeit des Goethe-Instituts geprägt. Sein Etat betrug im Jahr 2013 301 Mio. Euro (vgl. Goethe-Institut 2014, S. 208). Schwerpunkte sind ein Förderprogramm, mit dem ausländische Verlage bei der Publikation deutscher Literatur unter-
25 Fragen der Kulturstatistik und der Kulturfinanzierung zuletzt bei Söndermann, Michael: Zur Empirie des Kultursektors. Struktur und Finanzierung des Kultursektors in Bund, Ländern und Gemeinden. In: Lammert 2004 (s. o.), S. 189–208, und bei Gerlach-March 2010. Einen Überblick über die Kulturförderung bietet Lammert 2004. 26 Für Österreich siehe Statistik Austria, URL: www.statistik.at/web_de/statistiken/bildung_und_ kultur/kultur/kulturfinanzierung/index.html [eingesehen am 06.12.2014].
3.3.3 Literaturvermittlung
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stützt werden, sowie das Informationsportal Litrix.de, das die Vermittlung deutscher Gegenwartsliteratur durch Besprechungen aktueller deutschsprachiger Literatur aus den Bereichen Belletristik, Sachbuch sowie Kinder- und Jugendbuch zum Ziel hat. Die Förderung der Literaturvermittlung durch die Bundesländer betrug 2002 knapp 10 Mio. Euro, bei einem Rückgang um ein Sechstel im Jahrzehnt seit 1992. Rund 80 % der Mittel flossen in die Institutionenförderung, etwa 12 % in die Unterstützung von Veranstaltungen. Der kleine Rest von 0,4 Mio Euro kam Druckkostenzuschüssen, Literaturzeitschriften und sonstigen Maßnahmen zugute. Zur Literaturförderung im weitesten Sinn durch die öffentliche Hand gehören auch die indirekten Subventionen in Gestalt der Buchpreisbindung, des verminderten Mehrwertsteuersatzes für gedruckte Bücher sowie des Portoprivilegs für Büchersendungen. Neben den vergleichbaren Autoren-, Übersetzer- und Veranstaltungsförderungen gibt es in Österreich im Unterschied zu Deutschland eine unmittelbare Verlagsförderung (vgl. Landerl 2005, S. 164–223). Diese belief sich bei einer Gesamtfördersumme für die Literatur von rund 16 Mio. Euro im Jahr 2011 auf 2,4 Mio. Euro; die Autorenförderung war in diesem Zeitraum deutlich geringer und betrug 1,4 Mio Euro.27 Aus dem privaten Sektor der Kultur- und Kreativwirtschaft stammen acht bis 10 % aller Fördermittel für Kultur. Stiftungen, Sponsoring und Spenden sind die drei Hauptsäulen des privaten Engagements (vgl. Litzel 2004, S. 239).28 Zu Sponsoring und Spenden liegen keine validen Zahlen vor (vgl. Gerlach-March 2010, S. 53, 62 f.). Bei den Stiftungen fördert etwa die Hälfte die Literaturvermittlung, die andere Hälfte die Autoren. Die Gesamtsumme für beide Bereiche lag 2002 bei 1,8 Mio. Euro (vgl. Vandenrath 2006, S. 100, 122; Gerlach-March 2010, S. 78 f.). Die Herkunft der Preisgelder für Literaturpreise ist aufschlussreich. Nur 18 % stammen von Unternehmen, Vereinen und Verbänden, während 38 % der Preissummen von öffentlichen Geldgebern, 32 % von Stiftungen (oft mit Beteiligung der öffentlichen Hand) und 12 % aus öffentlich-privaten Kooperationen finanziert werden (vgl. Vandenrath 2006, S. 150–154). Insgesamt hängt die Existenz der Literaturpreise also zu mehr als zwei Dritteln von der öffentlichen Hand und Stiftungen ab. Da bei Stiftungen oft öffentliche Geldgeber beteiligt sind, gehören solche Stiftungen, eingetragene Vereine und gemeinnützige GmbHs zum intermediären Sektor, dem dritten Sektor der Kulturförderung. Hier steht »das gemeinnützige, zivilgesellschaftliche Engagement« in Form von u. a. »Geldspenden für kulturelle Belange oder die kulturbezogenen Stiftungen sowie entsprechende Spenden bzw. Sponsorengelder
27 URL: www.bmukk.gv.at/medienpool/22723/kunstbericht2011.pdf [eingesehen am 06.06.2015]. Vgl. dazu Landerl 2005, S. 220–223. 28 Grundsätzlich zum Literaturengagement durch Unternehmen Pohl, Martin: Wege privaten Literaturengagements. Literaturmäzenatentum und Literatursponsoring durch Unternehmen in Deutschland und England. Mannheim 1996. URL: www.uni-mannheim.de/mateo/verlag/diss/mpohl/mpohl. html [eingesehen am 06.06.2015].
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von Unternehmen« (Stadtart 2012, S. 40) im Zentrum. Das Zahlenmaterial, das für diesen Sektor vorliegt, ist sehr heterogen und für den Bereich der Literaturvermittlung nicht aussagekräftig (vgl. Stadtart 2012, S. 40–47). Prominentes Beispiel dieser Form der Private Public Partnership (PPP; vgl. Heinrichs 1997, S. 219 f.; Sack 2003) im kulturellen Bereich ist die Stiftung Lesen, die »die Förderung von Buch, Zeitschrift und Zeitung in allen Bevölkerungskreisen« (URL: www.stiftunglesen.de/wirueberuns.html [eingesehen am 06.06.2015]) zum Ziel hat. Literaturvermittlung in dieser Form der Mischfinanzierung findet vor allem bei den Literaturhäusern statt. Wie es um die Kulturförderung in Deutschland insgesamt bestellt ist, beleuchtet schlaglichtartig die Tatsache, dass es offenkundig der Förderung der Förderer bedarf: Der Kulturkreis der deutschen Wirtschaft und zwei Presseorgane verleihen seit 2006 jährlich den Deutschen Kulturförderpreis als Auszeichnung für unternehmerische Kulturförderung. Literaturvermittlung im engeren Sinn, also jenseits von herstellendem und verbreitendem Buchhandel, Bibliotheken und den Bildungssystemen, ist ein vielfältiger Prozess. Die größte Rolle spielt, auch geschichtlich betrachtet, die Institution der Literaturkritik. Auch Organisationen wie literarische Gesellschaften, Dichterhäuser, Museen, Archive und Akademien haben eine lange Tradition. In neuerer Zeit sind Literaturhäuser und Literaturbüros hinzugekommen. Herkömmliche Instrumente wie Literaturausstellungen und Literaturpreise sind seit Ende des 20. Jahrhunderts durch literarische Events ergänzt worden. Die Förderung der Literaturvermittlung schließlich ist eine Querschnittsaufgabe, der bislang insgesamt zu wenig Beachtung geschenkt wurde.
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Wiesand, Andreas Johannes: Literaturförderung im internationalen Vergleich. Ein Bericht über Förderformen, Literatur-Fonds und Beispiele praktischer Unterstützung des literarischen Lebens. Köln 1980. Wiesand, Andreas Johannes (Hrsg.): Handbuch der Kulturpreise 4. Neuausgabe 1995–2000. Preise, Ehrungen, Stipendien und individuelle Projektförderungen für Künstler, Publizisten und Kulturvermittler in Deutschland und Europa. Bonn 2001. Wilke, Jürgen / König, Barbara: Hilft das Fernsehen der Literatur? Auch eine Antwort auf die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. In: Gutenberg-Jahrbuch 72 (1997), S. 254–282. Willems, Herbert / Jurga, Martin (Hrsg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen / Wiesbaden 1988. Wolters, Detlef: Verlagsranking 2012. Düsseldorf 2012. Wülfing, Wulf / Bruns, Karin / Parr, Rolf (Hrsg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933. Stuttgart / Weimar 1998 (Repertorien zur Deutschen Literatur geschichte. 18). Zeller, Bernhard: Literaturausstellungen. Möglichkeiten und Grenzen. In: Ebeling 1991 (s. o.), S. 39–44.
Axel Kuhn / Susanne Kraus
3.3.4 Nutzergenerierte Texte in digitalen Netzwerken Zusammenfassung: Der Beitrag stellt die durch Individuen organisierte Veröffentlichung und Verbreitung von Texten in digitalen Medien in den Mittelpunkt. Systematisch werden zunächst die Formen nutzergenerierter Texte in Weblog, Microblog, Wiki und Forenbeiträge differenziert. Anschließend werden die Akteure der privat organisierten Bereitstellung von Texten analysiert, hier zeigen sich unterschiedliche Nutzergruppen zwischen aktiver Bereitstellung und passiver Rezeption, die unterschiedliche Gratifikationen mit dem Schreiben und Lesen nutzergenerierter Texte verbinden. Abschließend werden forschungsrelevante Aspekte und bisherige Ergebnisse in Bezug auf das Lesen von nutzergenerierten Texten skizziert: so erfüllen nutzergenerierte Texte spezifische Funktionen hinsichtlich der Identität, unterliegen einer besonderen Form der Qualitätskontrolle, benötigen spezifische Medienkompetenzen und ermöglichen neue Formen der politischen Partizipation. Abstract: This chapter focuses on the publishing and distribution of texts in digital media by individuals. First, the forms of user-generated texts are systematically differentiated into weblogs, microblogs, wikis and forum posts. Next, the actors in the privately organized publishing of texts are analyzed. User groups are found to differ between active publication and passive reception, reflecting different incentives in the writing and reading of user-generated texts. Finally, relevant aspects and previous research on the reading of user-generated texts are outlined: user-generated texts fulfill specific functions in regard to identity, are subject to a particular form of quality control, require specific media competence, and make possible new forms of political participation.
Inhaltsübersicht 1 Publizieren in digitalen Netzwerken — 680 2 Perspektiven und Begriffe — 681 2.1 Forschungsperspektiven — 681 2.2 Begriffsbestimmungen — 682 3 Formen nutzergenerierter Texte — 684 3.1 Weblogs — 684 3.2 Microblogs — 685 3.3 Wikis — 686 3.4 Forenbeiträge — 687 4 Leser und Schreiber nutzergenerierter Texte — 688 4.1 Nutzermerkmale — 688 4.2 Motivationen und Gratifikationen — 689 5 Lesen und Schreiben nutzergenerierter Texte — 692 5.1 Textmerkmale — 692 5.2 Individuelle Publikationsprozesse — 693 5.3 Wirkungen — 695 6 Desiderate — 696 7 Literatur — 697
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1 Publizieren in digitalen Netzwerken Mit der öffentlichen Verfügbarkeit des World Wide Web seit 1991 wurde das Internet zunächst als Technologie zur vernetzten Bereitstellung von Informationsplattformen erschlossen. Die angebotenen Inhalte waren primär schriftlich codiert, wurden meist von professionellen Anbietern eingestellt und quasi massenmedial rezipiert. Einzelpersonen dagegen benötigten zur Bereitstellung individuelle technische Kompetenzen und Kenntnisse von Programmier- und Auszeichnungssprachen, dazu kamen hohe Kosten für Zugang zum Netz und für Speicherplatz. Nutzergenerierte Texte waren im Internet entsprechend wenig verbreitet. Die Voraussetzungen für die Bereitstellung nutzergenerierter Texte änderten sich um die Jahrtausendwende mit der technologischen Weiterentwicklung des Internets und darauf aufbauender Anwendungen. In einem bis heute andauernden Prozess etablierten sich kostengünstige Breitbandanschlüsse mit hohen Datenübertragungsraten, kostengünstiger Speicherplatz für online abrufbare Inhalte und divergente leistungsstarke Zugangstechnologien über den klassischen stationären Computer hinaus, z. B. internetfähige Fernseher und Spielekonsolen sowie Tablet-PC oder Smartphones für den mobilen Zugriff. Außerdem wurden zahlreiche Anwendungen und Dienste entwickelt, um das Bereitstellen von Inhalten im Internet zu vereinfachen, beispielsweise Text-, Bild- und Videobearbeitungsprogramme, Abonnementdienste und Content-Management-Systeme. Die Anwendungen wurden gleichzeitig immer bedienungsfreundlicher und damit für mehr Menschen zugänglich. Die Überführung der technologischen Entwicklungen in Dienstleistungsangebote von Unternehmen schließlich ebnete den Weg für eine flächendeckende Nutzung. Dies führte wechselseitig zu einer steigenden Akzeptanz von Internetanwendungen im Alltag und einer wachsenden Partizipation der Nutzer. Infolgedessen etablierten sich unterschiedliche soziokulturelle Nutzungspraktiken dieser Anwendungen, die mit Schlagwörtern wie ›Web 2.0‹ oder ›Social Media‹ umrissen werden, vor allem Wikis, Weblogs, Soziale Netzwerke, Microblogs sowie Bild- und Videoplattformen. Nutzergenerierte Medieninhalte sind zwar keine neue Erscheinung im Rahmen digitaler Technologien, die erleichterte Produktion und Distribution führen aber durch die damit verbundene verbesserte Zugänglichkeit zu einer neuen Quantität und, angesichts einer Vielzahl von erreichbaren Rezipienten, auch zu einer neuen Qualität solcher Inhalte. Mit der Verfügbarkeit von Technologie, Anwendungen und soziokulturellen Nutzungspraktiken stellen zwar nicht alle Menschen aktiv Inhalte im Internet bereit (vgl. Dijck 2009, S. 44), trotzdem kann man von einem medialen Bereitstellungsraum für Individuen sprechen, der von ihnen selbst gestaltet werden kann. Die bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vorherrschende Systematik der Medienwelt mit einer strikten Trennung von Anbietern in Form von Unternehmen und Organisationen, denen Konsumenten bzw. Rezipienten gegenüberstehen, wurde durch
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individuell produzierte Text-, Bild-, Video- und Audiobeiträge für ein potenzielles Massenpublikum erweitert. In der Lese- und Leserforschung erscheint das Lesen von nutzergenerierten Texten im Internet noch als Forschungsdesiderat: Lesestoffe werden nach wie vor hauptsächlich über (gedruckte) Bücher, Zeitungen und Zeitschriften definiert, die über ökonomische Organisationen des Buch- und Pressehandels1 und über Bibliotheken2 dem Leser zugänglich gemacht werden. Im Folgenden wird zunächst definiert, was nutzergenerierte Texte sind, welche Formen sie gegenwärtig annehmen, wer die Bereitsteller und Rezipienten sind und welche Motivationen der privaten Bereitstellung von Texten im Internet zugrunde liegen. Abschließend werden Eigenschaften, Prozesse und Wirkungen nutzergenerierter Texte skizziert.
2 Perspektiven und Begriffe 2.1 Forschungsperspektiven Nutzergenerierte Inhalte, deren Organisation und Rezeption sind junge Forschungsfelder, die aufgrund der Bedeutung dieser Entwicklung jedoch schnell Zuspruch aus verschiedenen Disziplinen erfahren haben. Im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses steht meist das ›Sharing‹, also wie und warum bestimmte Informationen zwischen Nutzern des Internets geteilt werden (vgl. Dijck 2009; Schenk u. a. 2013). Die Forschung erfasst dabei insbesondere soziale Netzwerke (vgl. Boesken 2010; Boyd / Ellison 2007), die Blogosphäre (vgl. Beyl 2013; Katzenbach 2008; Hoffmann 2010a; Tremayne 2006; Zuber 2012) sowie Bild- und Videoplattformen als Teil der Internetnutzung. Aufgrund der rasanten Entwicklung digitaler Technologien und der dazugehörigen soziokulturellen Nutzungspraktiken kann von einem beschreibbaren, stabilen Forschungsstand bislang kaum gesprochen werden. Die bisherige Forschung thematisiert häufig auffällige Phänomene, die sich aus den Nutzungspraktiken des Teilens von Inhalten ergeben, beispielsweise den Bürgerjournalismus, den Einfluss privater Publikationen auf politische Entwicklungen oder die Folgen für die Medienökonomie. Bislang weniger Beachtung findet dagegen der alltägliche Umgang mit nutzergenerierten Texten. Thematisiert wird die Bereitstellung nutzergenerierter Texte gegenwärtig in den Literaturwissenschaften, die sich insbesondere im Rahmen der ›Digital Literary Studies‹ mit der Veränderung der Rolle des Autors im digitalen Medienumfeld
1 Vgl. Kap. 3.3.2 Verlage und Buchhandel als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre in diesem Band. 2 Vgl. Kap. 3.3.1 Bibliotheken als Organisationen zur Bereitstellung von Lektüre in diesem Band.
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beschäftigen, im Zusammenhang mit nutzergenerierten Inhalten entstehende ›Storyworlds‹ untersuchen und nutzergenerierte Erzählungen (›narratives‹) als neues TextGenre mit spezifischen Merkmalen definieren (vgl. Giltrow / Stein 2009; Hoffmann 2010b; Ryan 2009). Die Medienkulturwissenschaften haben früh das Forschungsfeld des ›Digital Storytelling‹ etabliert, in dem autografische Erzählungen in sozialen Netzwerken analysiert werden (vgl. Ching / Foley 2012; Lundby 2008; Nünning u. a. 2012). Kommunikationswissenschaft und Publizistik integrieren Formen nutzergenerierter Inhalte, vor allem Blogs, in neue Definitionen von Journalismus (›Grassroots Journalism‹) und politischer Öffentlichkeit (vgl. Gillmor 2006; Kopp / Schönhagen 2008). Die Wirtschaftswissenschaften betrachten nutzergenerierte Inhalte als Bestandteil wertschöpfender Prozesse und damit als Basis von Geschäftsmodellen und Kundenkommunikation (vgl. Alby 2008; Hess 2010; Möller 2011). Die Soziologie schließlich thematisiert nutzergenerierte Inhalte im Rahmen des Konzepts der Netzwerkgesellschaft und der damit verbundenen Änderungen von kulturellen und sozialen Systemen (vgl. Castells 2003; Dijck 2013; Schmidt 2009; Schrape 2011). Aus den skizzierten Perspektiven bzw. dem jungen Forschungsstand und sich widersprechenden Aussagen ergeben sich Probleme bei der Bestimmung der Bezugsgrößen nutzergenerierter Texte. Oft, wenn auch eher allgemein, wird der Begriff ›User Generated Content‹ genutzt. Trotz meist ähnlicher Klassifikationsvariablen fehlen hierfür bislang jedoch einheitliche Definitionen (vgl. Bauer 2011; Dijck 2009; Hess 2010; Möller 2011; Olsson 2009; Petersen 2008; Schenk u. a. 2013; Stöckl u. a. 2006).
2.2 Begriffsbestimmungen Eine grundlegende erste engere Definition nutzergenerierter Inhalte wurde durch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 2007 erarbeitet. Hierin werden drei wesentliche Definitionsmerkmale nutzergenerierter Inhalte bestimmt: Zunächst beruhen nutzergenerierte Inhalte auf einer kreativen Eigenleistung, d. h. sie weisen eine kreative Gestaltungshöhe auf. Zweitens werden sie außerhalb professioneller Abläufe erzeugt und drittens werden sie einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht (vgl. OECD 2007, S. 8 f.). Diese grundlegende Definition lässt sich im Rahmen der vorhandenen Forschung weiter präzisieren. Die Basis nutzergenerierter Inhalte sind digital gespeicherte und elektronisch übermittelte Informationen. Diese werden zu Inhalten, wenn sie freiwillig, bewusst und intentional von Nutzern in einem übergeordneten Sinnzusammenhang bearbeitet und kommuniziert werden, wobei sie sowohl für den Produzenten als auch für den Rezipienten eine wahrnehmbare Bedeutung erhalten, die über die bloße Information hinausgeht. Die kreative Eigenleistung besteht somit aus der Erzeugung eines Inhalts aus Informationen oder der Kombination von Informationen oder Inhalten zu neuen Inhalten.
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Das Fehlen professioneller Prozesse und die Publikation als Privatperson grenzen nutzergenerierte Inhalte gegen Medieninhalte von Organisationen ab. Somit kommt es zu einer unmittelbaren Bereitstellung der Inhalte zwischen Produzent und Rezipient unter Ausschluss von Selektions- und Bearbeitungsprozessen durch Dritte vor der Veröffentlichung. Da auch Experten außerhalb ihrer beruflichen Prozesse Inhalte erzeugen können, ist die Unterscheidung zwischen Inhalten von Laien oder Experten kein Definitionskriterium. Das betrifft infolgedessen auch die Qualität der Inhalte, beispielsweise das gestalterische Niveau, die Informationsgenauigkeit oder das vorauszusetzende Wissen. Ebenfalls kein Definitionskriterium sind kommerzielle Intentionen der Einstellung, solange sie außerhalb von professionalisierten Prozessen realisiert werden. Nutzergenerierte Inhalte sind zudem an eine unbestimmte Anzahl anderer, anonymer Nutzer und damit eine potenzielle Öffentlichkeit gerichtet, womit sie Kriterien der Massenkommunikation erfüllen. Die Bereitstellung über technische Netzwerke ermöglicht dabei selten eine Öffentlichkeit, wie sie Broadcasting-Medien definieren, stattdessen kann man von Teilöffentlichkeiten unterschiedlicher Reichweite sprechen, die als Publika nutzergenerierte Inhalte aktiv suchen und selegieren müssen. Reichweite und Öffentlichkeit hängen von der Aufmerksamkeit ab, die ein nutzergenerierter Inhalt erhält. Nutzergenerierte Inhalte definieren sich damit über eine prinzipiell öffentliche Erreichbarkeit und allgemeine Zugänglichkeit für alle InternetNutzer. In der Definition der OECD findet ein relevantes definitorisches Kriterium keine Erwähnung: die mit nutzergenerierten Inhalten verbundenen Interaktionsprozesse zwischen Produzenten und Rezipienten. Die so mögliche Verschmelzung der vormals getrennten Rollen von Produzent und Rezipient, oft unter dem Begriff ›Prosument‹ verschlagwortet, bezieht sich zum einen darauf, dass Nutzer in beiden Rollen im Internet auftreten, zum anderen aber vor allem darauf, dass die Rolle bereits während der Produktion und Distribution der Inhalte ständig wechselt. Nutzergenerierte Inhalte stehen definitionsgemäß im Spannungsfeld interaktiver Kommunikation: sie werden im Rahmen von sozialen Beziehungen und Gemeinschaften kommentiert, korrigiert, erweitert oder aktualisiert. Nutzergenerierte Texte lassen sich dann als jener Teil der so definierten Inhalte begreifen, die gelesen werden. Problematisch ist hierbei die uneinheitliche Definition des ›Lesens‹, das eng gefasst auf die Decodierung schriftlicher Zeichen und weit gefasst auf das generelle Verstehen von Medieninhalten verweist. Die Definition dessen, was Lesestoffe eigentlich sind, ist in der bisherigen Lese- und Leserforschung daher eher pragmatisch erfolgt. Besonders in empirischen Studien beruft man sich meist auf klar abgrenzbare Leseobjekte wie Buch oder Zeitung. Im Rahmen nutzergenerierter Inhalte erscheint eine pragmatische Abgrenzung von Lesestoffen ebenfalls sinnvoll zu sein, wenngleich diese nicht durch Objekte, sondern durch den Kommunikationskanal Schrift definiert werden müssen. Lesestoffe sind in digitalen Medien somit primär schriftlich codierte Informationen, deren sinngemäßer
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Inhalt sich als Text definieren lässt. Die Integration anderer Kommunikationskanäle wie (Bewegt-)Bild und Ton erfolgt in Form von Paratexten. Eine Definition nutzergenerierter Texte lässt sich auf Basis der vorangegangenen Skizzierungen folgendermaßen formulieren: Nutzergenerierte Texte sind primär schriftlich codierte, lesend rezipierte und persistente Inhalte, die einer kreativen, wahrnehmbaren Schreibleistung von Individuen entsprechen, außerhalb von professionell organisierten Prozessen erzeugt werden und im Rahmen von Anwendungen, die Interaktion zwischen deren Nutzern auf Basis der Texte zulassen, für eine potenzielle Öffentlichkeit unbekannter Nutzer über das Internet bereitgestellt werden. Die so definierten nutzergenerierten Texte finden sich gegenwärtig in unterschiedlichen Formen bzw. Anwendungskonzepten wieder, die sich in Weblogs, Microblogs, Wikis und Forenbeiträge unterteilen lassen. Dabei hängt die »Art und Weise, wie erzählt wird […] in hohem Maße von den Medien ab, die zur Darstellung verwendet werden« (Meyer 2012, S. 151).
3 Formen nutzergenerierter Texte 3.1 Weblogs Weblogs (auch Blogs genannt) sind Webseiten, die regelmäßig aktualisiert und deren Beiträge chronologisch datiert angeordnet werden. Der aktuellste Beitrag steht in der Regel an erster Stelle. Meistens ist eine Kommentarfunktion integriert, die es Lesern des Weblogs erlaubt, Beiträge mit Anmerkungen zu versehen (vgl. Cammaerts 2008, S. 358). Durch diese Kommentierungsfunktion sind Weblogs keine in sich abgeschlossenen Texte, sondern können dynamisch überarbeitet und erweitert werden. Durch das Zusammenspiel von Verlinkungen auf andere Weblogs (›Blogosphäre‹), Websites, Soziale Netzwerke und Microblogs innerhalb der Beiträge und Nutzerkommentare entsteht außerdem ein Netz aus wechselseitig referenzierenden Texten und Diskus sionen (vgl. Herring u. a. 2005, S. 9 f.). Weblogs werden heute entweder über das Laden eines Content-ManagementSystems in freien Webspace oder über einen Hosting-Dienstleister im Internet publiziert. Das Prinzip der Bereitstellung ist in der Regel gleich: Nach der Anmeldung im eigenen Weblog wählt man die Funktion der Erstellung eines neuen Beitrags aus und stellt den Text und andere mediale Inhalte über die Eingabemaske ein. Die ästhetische Formatierung des Beitrags erfolgt mittels des WYSIWYG3-Feldes in Echtbilddar-
3 Das Akronym WYSIWYG steht für ›What You See, Is What You Get‹.
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stellung und funktioniert ähnlich wie eine Textverarbeitungssoftware, beispielsweise ›Microsoft Word‹. Ist der Beitrag erstellt und formatiert, kann er entweder sofort oder zu einem bestimmten Zeitpunkt publiziert werden. Erst dann ist der Beitrag öffentlich zugänglich. Weblogs reichen heute von einfachen Alltagserlebnissen über Reiseberichte bis hin zu aufwändig erstellten Publikationen. Sie können nach ihrem primären Kommunikationskanal (Text, Bild, Video), der Organisationsform (privater oder unternehmensbezogener Weblog) und ihren primären Inhalten unterschieden werden. Diese lassen sich über die Formen von privaten Tagebüchern (persönlicher Alltag, Reisen, Beziehungen), Themen-Journalen (Hobbys, Rezensionen von Medieninhalten), politischen Kommentaren und Meinungen, wissenschaftlichen Diskussionen bis hin zu fiktionalen Narrationen und Lyrik beschreiben. Eine besondere Form des Weblogs existiert heute zudem im Rahmen sozialer Netzwerke wie ›Facebook‹ (https://www.facebook.com) oder ›Google+‹ (https://plus. google.com). Diese Plattformen weisen jedem Nutzer in Form einer Chronik einen persönlichen Weblog zu, der für das Teilen von Links, Medieninhalten und nutzergenerierten Texten genutzt werden kann und mit anderen kommunikativen Funktionen verknüpft ist. Zu einem nutzergenerierten Text werden diese persönlichen Chroniken dann, wenn sie öffentlich zugänglich gemacht werden.
3.2 Microblogs Im Gegensatz zum Weblog ist die Zeichenzahl beim Microblog beschränkt und beträgt häufig weniger als 200 Zeichen, was in etwa dem Umfang einer SMS entspricht. Die Beiträge können sowohl öffentlich als auch privat zugänglich gemacht werden und erscheinen in umgekehrter chronologischer Reihenfolge. Die Benutzer können gewählte Kanäle abonnieren und erhalten die dort publizierten Nachrichten auf der personalisierten Startseite angezeigt. Dabei ist die Integration von externen Medieninhalten eingeschränkt, stattdessen wird in der Regel auf den zugehörige Inhalt verlinkt. Während Weblogs eigenständig publiziert werden können, werden Microblogs stets innerhalb eines geschlossenen Systems betrieben, da das Folgen von bestimmten Kanälen und das Teilen von Inhalten innerhalb der sozialen Plattform zum Nutzungsprinzip gehören. In sozialen Netzwerken ist die Funktion des Microbloggings häufig integriert. Nach der Registrierung und der Anmeldung kann man sofort Nachrichten verfassen und publizieren. Zu beachten ist lediglich die Zeichenrestriktion, Auszeichnungen des Texts sind meistens nicht möglich. Es werden folgende Formen von Beiträgen unterschieden: ›Tweet‹ und ›Retweet‹ sind meist Monologe bzw. originäre Texte. Sie unterscheiden sich lediglich in der Urheberschaft: Während ›Tweets‹ vom Urheber veröffentlicht werden, sind ›Retweets‹ lediglich die Weiterleitung von ›Tweets‹ durch andere Nutzer. Antworten auf (Reply) und Erwähnungen (Mention) von Tweets und
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ReTweets sind direkt an die Autoren gerichtet und kommentieren die Beiträge. Mit ›Hashtags‹4 werden Beiträge Themen zugeordnet. Während der bekannteste Microblog ›Twitter‹ anfangs für Statusmeldungen über persönliche Ereignisse konzipiert wurde, haben sich inzwischen verschiedene soziokulturelle Praktiken der Nutzung entwickelt. Vor allem für den durch Weblogs entstandenen ›Bürgerjournalismus‹ wurde ›Twitter‹ spätestens mit der Notlandung eines Airbus im Hudson River 2009 funktional neu definiert: So schrieb Janis Krums am 15. Januar 2009 den Text »There’s a plane in the Hudson. I‘m on the ferry going to pick up the people. Crazy.« (Grabs / Bannour 2011, S. 177) Diese Nachricht verbreitete sich in kürzester Zeit über sämtliche Netzwerke hinweg und war damit wesentlich schneller als die traditionellen Medien (vgl. Patalong 2009). Die Texte bilden in der Regel einen an eine öffentliche anonyme Masse gerichteten schriftlichen Monolog. Sie sind dabei heute sehr vielfältig und umfassen neben einfachen Informationen, Links, Statusmeldungen, Wetterberichten und Nachrichten auch Gedichte und Kurzgeschichten. Letztere sind »marginale, alltägliche Erzählungen, um konstruierte und lediglich angedeutete Narrative« (Puschmann / Heyd 2012, S. 175). Dabei können fortgesetzte Beiträge in ihrer Gesamtheit zu narrativen Texten werden, z. B. als Chronik von Ereignissen (›lifeblogging‹) oder als Fortsetzungserzählungen.
3.3 Wikis Wikis sind Hypertext-Systeme für kollaborative Schreibprozesse von Texten. Die Grundidee hierfür ist, dass Inhalte im Webbrowser nicht nur gelesen, sondern auch direkt über Textverarbeitungsmasken geändert werden können. Um das zu ermöglichen wird ein stark vereinfachtes Content-Management-System über das Internet zugänglich gemacht, über das Nutzer (oftmals ohne Registrierung) Texte in Form von vernetzten Webseiten einstellen sowie gemeinsam redigieren und bearbeiten können. Die Software eines Wikis stellt digitale Werkzeuge zum Erstellen, Bearbeiten und Speichern von Texten bereit. Während man anfangs noch Kenntnisse der speziellen Auszeichnungssprache ›Wikisyntax‹ benötigte, sind heute in der Regel WYSIWYGEditoren implementiert, die das Einstellen und Bearbeiten von Texten stark vereinfachen. Artikel sind selten das Produkt von Einzelpersonen, sondern aufgrund des gemeinsamen Schreibprozesses Projekte von Autorengruppen, die unabhängig voneinander Texte bereitstellen und bearbeiten. Werden Artikel verändert, müssen die Änderungen von Administratoren freigeschaltet und von Nutzern gesichtet werden,
4 Als Hashtag wird ein Wort oder eine Kette von Zeichen genannt, wenn sie mit vorangestelltem Doppelkreuz (#) ausgezeichnet wird. Ein Hashtag wirkt dabei in vielen sozialen Medien als Meta-Tag oder Meta-Kommentar.
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erst im Anschluss werden sie auf der öffentlichen Seite übernommen. Die vorherigen Versionen mit den dazugehörigen Kommentierungen werden zudem in der Versionsgeschichte gespeichert. Auf diese Weise können Änderungen immer nachvollzogen und rückverfolgt werden (vgl. Hettler 2010, S. 42 f.). Inzwischen gibt es zahlreiche Plattformen auf Wiki-Basis, beispielsweise ›Wikiquote‹ (freie Zitate-Sammlung; http://www.wikiquote.org), ›Wiktionary‹ (frei zugängliches Wörterbuch; http://de.wiktionary.org) oder ›Wikibooks‹ (gemeinsames Schreiben von Lehr-, Sach- und Fachbüchern; http://www.wikibooks.org), welche alle Schwesterplattformen von ›Wikipedia‹ (https://www.wikipedia.org/) darstellen. Darüber hinaus werden zunehmend mehr unabhängige Wikis, auch im Rahmen von professionellen Arbeitsumgebungen, zu nahezu allen Themenbereichen erstellt. So gibt es beispielsweise Fan-Wikis, die sich neben der lexikalischen Listung der Begriffe zu bestimmten Fernsehsendungen, Kinofilmen, Computerspielen oder (Comic-)Büchern auch der Erschaffung von Fan-Fiction widmen, oder satirische Wikis wie ›Stupidedia‹ (http:// www.stupidedia.org) und ›Kamelopedia‹ (http://kamelopedia.mormo.org).
3.4 Forenbeiträge Die älteste Form der Bereitstellung nutzergenerierter Texte sind Foren, die aus den Newsgroups des Usenet und ersten Mailinglisten hervorgingen und heute als eigenständige Websites oder als Teil von Websites die früheren Formen weitgehend verdrängt haben. Foren sind Orte zum Austausch von Meinungen und Ansichten, aber auch zum Festhalten von Gedanken und Erfahrungen und sind als aufeinander bezogene Textbeiträge verschiedener Nutzer organisiert. In der Regel besitzen Foren eine übergeordnete Hauptthematik, zu der sich die Nutzer in untergeordneten Themenbereichen innerhalb von aufeinanderfolgenden Beiträgen (›Threads‹ oder ›Topics‹) austauschen. Dabei ist die Reihenfolge meist chronologisch nach dem letzten Beitrag einer Diskussion geordnet. Als registrierter und angemeldeter Nutzer kann man eigene ›Threads‹ eröffnen, Diskussionsbeiträge (›Postings‹) in vorhandenen ›Threads‹ anderer Nutzer einstellen und ›Threads‹ abonnieren, bei deren Weiterführung man benachrichtigt werden möchte. Das Bereitstellen von Beiträgen erfolgt in der Regel über einen einfachen Texteditor, der im Webbrowser angezeigt wird. Webforen sind ein inzwischen weitgehend standardisiertes Werkzeug der digitalen Kommunikation im Internet und über nahezu alle Anwendungen im Netz hin verbreitet. Sachbezogene Foren reichen von Anleitungen, Kundenkommunikationsplattformen, Rezensionsplattformen bis hin zu Diskussionsforen zu Kultur und Gesellschaft. Eine inhaltliche Eingrenzung findet dabei nicht statt: Foren widmen sich den unterschiedlichsten Themen in den Bereichen Hobbys, Reisen, Medien, Fachwissen usw. Im Zusammenhang mit nutzergenerierten Texten sind insbesondere Foren zu erwähnen, die als Literaturplattformen (vgl. Boesken 2010) bezeichnet werden. In diesen Foren veröffentlichen Privatpersonen narrative und lyrische Texte
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und stellen diese einerseits zum Lesen zur Verfügung, erhoffen sich andererseits aber auch einen konstruktiven Austausch zu ihren Werken.
4 Leser und Schreiber nutzergenerierter Texte 4.1 Nutzermerkmale Nutzergenerierte Texte werden im Rahmen der allgemeinen Internetnutzung von Privatpersonen bereitgestellt und in allen möglichen situativen Kontexten rezipiert. Eine Feststellung der bisherigen Forschung ist zunächst, dass ein großes Ungleichgewicht zwischen Bereitstellern und Rezipienten nutzergenerierter Inhalte existiert: Nur 13 % der Rezipienten der genannten Medien stellen auch tatsächlich aktiv und regelmäßig Inhalte ein (vgl. Fisch / Gescheidle 2008; Dijck 2009). Noch deutlicher wird dies am Beispiel von ›Wikipedia‹, denn dort werden die meisten Beiträge von einer kleinen Gruppe von Spezialisten bereitgestellt: 2 % der Nutzer erstellten bis 2006 73 % der Einträge (vgl. Swartz 2006), 96 % der Nutzer heute rufen nur Informationen ab, stellen aber keine ein (vgl. Busemann / Gscheidle 2012, S. 388). Dies lässt sich weiter differenzieren: Die ›vielseitig produzierenden Nutzer‹ erbringen in hoher Frequenz kreative Leistungen zur originären Bereitstellung von Texten in Form reflektierter, interpretierender oder fiktionaler Beiträge, insbesondere in sozialen Netzwerken, in Form von Weblogs, in Foren und Wikis. Eine zweite Gruppe ›produzierender Nutzer‹ stellt ebenfalls Texte ein, aber in geringerer Frequenz und hauptsächlich im Rahmen sozialer Gemeinschaftsplattformen wie sozialen Netzwerken und Foren. Zwischen den produzierenden und nur konsumierenden Nutzergruppen lassen sich zudem die ›partizipierenden Nutzer‹ einordnen, deren Aktivität nur reaktiv auf eingestellte Texte in Form von Kommentaren, Bewertungen und Berichten erfolgt. Sie nutzen vor allem soziale Netzwerke und Foren, Weblogs werden zwar rezipiert, aber es erfolgt keine aktive Partizipation (vgl. Schenk u. a. 2013, S. 79–83). Rezipienten nutzergenerierter Texte haben einen überdurchschnittlichen Bildungsgrad, verfügen über ein überdurchschnittlich hohes Einkommen und sind hochgradig sozial vernetzt, online wie offline. Das Geschlecht hat keinen Einfluss auf die Häufigkeit der Nutzung. Bereitsteller sind dabei jünger und höher gebildet als Rezipienten (vgl. Schenk u. a. 2013, S. 92–100), außerdem sind sie aktive Buchleser: »Die aktivsten Web-2.0-Nutzergruppen […] nutzen auch am häufigsten einmal oder mehrmals täglich Bücher. Die Mittelwerte zeigen, dass diejenigen, die öfter Bücher lesen, aktiver im Web 2.0 sind« (Schenk u. a. 2013, S. 101 f.). Bereitsteller sind aktive Nutzer von mobiler Internettechnologie, haben eine hohe Bereitschaft aktiv eigene Texte zu im Internet zu veröffentlichen und produzieren diese vorwiegend am Wochenende als Form der Freizeitgestaltung. Sie sind deshalb als Innovatoren neuer soziokultureller Nutzungspraktiken einzuordnen: »Tatsächlich sind die Web-2.0-Nutzer die Personen,
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die auch allgemein und im Hinblick auf neue Technologien besonders innovationsbereit sind.« (Schenk u. a. 2013, S. 125) Sie betreiben dabei für die kreative Arbeit und die Vernetzung ihrer Texte einen hohen zeitlichen Aufwand. Auch wenn jüngere Nutzer öfter Texte bereitstellen, ist die von Medien oft verbreitete Mitmach-Generation der Jugendlichen und jungen Erwachsenen bisher nicht nachweisbar: Auch in diesen Altersgruppen stellen nur wenige aktive Nutzer Texte ein, während der Großteil eingestellte Texte nur rezipiert (vgl. Eimeren / Frees 2012, S. 364).
4.2 Motivationen und Gratifikationen Bereitstellung und Rezeption nutzergenerierter Texte sind abhängig von der Persönlichkeit des Individuums. Im Sinne der klassischen Mediennutzungsforschung sind psychologische Einstellungen als stabile und wiederkehrende Muster an Aktionen und Reaktionen in Bezug auf Medien beschreibbar. Die drei Persönlichkeitsdimensionen ›Neurotizismus‹, ›Extraversion‹ und ›Psychotizismus‹ nach Hans Jürgen Eysenck (vgl. Eysenck 1970) haben demnach einen Einfluss auf die Bereitschaft nutzergenerierte Texte zu produzieren und rezipieren. So führt ein hohes Maß an Neurotizismus5 und Psychotizismus6 eher zu einer sinkenden Bereitschaft, Texte bereitzustellen. Ein hohes Maß an Extraversion7 dagegen wirkt sich positiv aud die generelle, ein niedriges Maß positiv auf die langfristige Bereitschaft zur Bereitstellung und die damit verbundenen Gemeinschaften aus (vgl. Amiel / Sargent 2004). Auch wenn bislang keine einheitliche Klassifikation von Motivationen der Mediennutzung existiert, bietet die Mediennutzungsforschung im Rahmen des Uses-andGratifications-Ansatzes eine grundlegende Perspektive. Zunächst unterscheidet dieser Motivationen / Gratifikationen als extrinsisch (über externen Druck entstehend) oder intrinsisch (aus der individuellen Person selbst heraus entstehend). Bereitstellung und Rezeption nutzergenerierter Texte erfolgen für Individuen größtenteils aus intrinsischen Motivationen heraus und erfüllen spezifische Funktionen. Wenn Organisa tionen dagegen Texte bereitstellen, können diese auch extrinsisch motiviert rezipiert
5 Gegenpol einer stabilen Persönlichkeit, gekennzeichnet durch ein niedriges Selbstwertgefühl, ein hohes Maß an negativer Selbstwahrnehmung, Schüchternheit und Emotionalität. Neurotizistische Persönlichkeiten legen Wert auf stabile und komfortable Medienumgebungen, in denen sie nicht die Kontrolle verlieren. 6 Gegenpol zu einer Impulse kontrollierenden Persönlichkeit, gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Aggressivität, Unpersönlichkeit und fehlender Empathie. Psychotizistische Persönlichkeiten erkennen Regeln und Autoritäten nicht an und legen wenig Wert auf eine harmonische Sozialität. 7 Als Gegenpol zur Intraversion gekennzeichnet durch eine hohes Maß an Sozialität, Partizipation, Kontaktfreude, Abenteuerlust. Extrovertierte Persönlichkeiten legen Wert auf ihre Wirkung nach außen und darauf, wie andere ihre Aktivitäten wahrnehmen.
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werden. Die Nutzungsmotive lassen sich vereinfacht in vier Gruppen unterteilen, die für nutzergenerierte Texte nach Bereitstellung und Rezeption differenziert werden müssen. Der Wunsch nach Orientierung in der Lebenswelt, die Suche nach Rat und Lernprozessen sowie Neugier lassen sich in die erste Gruppe der Informationsbedürfnisse zusammenfassen. Über nutzergenerierte Texte können Rezipienten Informationen kostenlos erhalten, für die sie bei Organisationen einen monetären Gegenwert entrichten müssten. Dies zeigt sich besonders deutlich für aktuelle Nachrichten, lexikalische Informationen und sachbezogene Hilfestellungen. Nutzergenerierte Informa tionen haben hier einen hohen Substitutionseffekt auf klassisch organisierte Medien wie Tageszeitung, Nachschlagewerke und Ratgeber. Neugier ermöglicht Gratifikationen aus unerwarteten Informationen, auch weil Texte zur Verfügung stehen, die von Organisationen nicht publiziert worden wären. Nutzergenerierte Texte bieten hier aufgrund ihrer Verlinkung über Netzwerke und die Erweiterung durch Kommentare Vorteile gegenüber den von Gatekeepern kontrollierten Medienangeboten. In Bezug auf das Bereitstellen nutzergenerierter Texte lassen sich ebenfalls informationsorientierte Motivationen bestimmen: So kann altruistisch eigenes Wissen vermittelt werden, eigene Schreibfähigkeiten können erprobt und durch Feedback der Rezipienten verbessert werden. Eine zweite übergeordnete Bedürfnisgruppe beinhaltet Motivationen in Bezug zur Identität der Nutzer. Im Vordergrund stehen die Bestätigung und Korrektur persönlicher Einstellungen und Werte, die Suche nach Verhaltensmodellen in sozialer Interaktion sowie die Identifikation mit anderen zur Ausbildung eines Gemeinschaftsgefühls. Gratifikationen entstehen vor allem aus der Veröffentlichung selbst: Nutzergenerierte Texte erzeugen Manifestationen persönlicher und gemeinsamer Erinnerungen und schaffen damit ein Zeugnis der Existenz von Personen oder Gruppen. Gerade weil ein Großteil zudem autobiographischer Natur ist, ist das Bereitstellen zugleich Identitätsarbeit, also die Präsentation eigener Identitätsentwürfe. »Users value UGCs [User Generated Contents] and SNSs [Social Network Sites] as means to express themselves and present themselves to others« (Dijck 2013, S. 34). Dies erlaubt es, eigene Einstellungen, Meinungen und Handlungen in Relation zu anderen Individuen zu betrachten und sich gegebenenfalls Erfahrungen, Einstellungen und Verhaltensmodellen anderer anzueignen.8 Gleichzeitig führen nutzergenerierte Texte zu einer Darstellung der jeweiligen gemeinschaftlichen Identität. Erhoffte Gratifikationen sind die Erhöhung des eigenen Selbstwertgefühls durch die Präsentation eigener Gedanken und Fähigkeiten und die Akzeptanz der eigenen Einstellungen durch andere. Eine besondere Rolle spielt für nutzergenerierte Texte zudem die Stilisierung der eigenen Identität in der Rolle als Autor und Publizist, die mit positiven Werten
8 Zu einer ausführlicheren Betrachtung von Identitätsarbeit durch Lesen vgl. Kap. 4.2.2 Lesen als Identitätskonstruktion und soziale Integration in diesem Band.
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und sozialem Ansehen verknüpft ist. Eine weitere Gratifikation ist die Verarbeitung von Erfahrungen und Emotionen und damit der emotionale Ausgleich der eigenen Identität. Drittens sind Motivationen bedeutsam, die sich unter Integration und soziale Interaktion in Gemeinschaften subsummieren lassen. Bereitstellen und Rezipieren von nutzergenerierten Texten erfolgen unter den erhofften Gratifikationen, ein Zugehörigkeitsgefühl zu sozialen Gruppen zu erhalten, soziale Kontakte zu pflegen und zu knüpfen. Die dieser Gruppe zuzuordnenden Motivationen und Gratifikationen gelten für nutzergenerierte Texte als besonders bedeutsam. Diese sozialen Gratifikationen erreichen dabei unterschiedliche Reichweiten. So bedeuten nutzergenerierte Texte für viele Individuen zunächst eine Erweiterung familiärer Kleingruppen, dienen also vor allem der Beziehungspflege. »Many contributors to UGC sites are enthusiasts who make home videos for a small circle of family and friends« (Dijck 2009, S. 51). Eine größere Reichweite haben soziale Gratifikationen aus dem Zusammentreffen mit Gleichgesinnten, beispielsweise beim gegenseitigen Austausch zu spezifischen Themen. Der Kontaktaufbau steht hier im Vordergrund. Makroskopisch schließlich stehen Gratifikationen in Bezug auf Gesellschaft und Kultur im Vordergrund: Nutzergenerierte Texte bieten die Möglichkeit an gesellschaftlichen Diskursen teilzunehmen sowie öffentliche Diskussionsräume zu erleben und zu beeinflussen. Besonders das Bereitstellen nutzergenerierter Texte hat oft die Motivation, Anreize zur sozialen Kommunikation über individuell als wichtig wahrgenommene Themen zu schaffen und zur Meinungsbildung zu motivieren. Die eigene Stimme wird dabei nicht nur in einer Öffentlichkeit hörbar gemacht, sondern kann auch andere Personen von eigenen Einstellungen und Meinungen zu Themen überzeugen. In der Vorstellung vieler Bereitsteller lassen sich so machtvolle Netzwerke von Individuen bilden, die soziale und kulturelle Entscheidungen im Rahmen einer idealistischen Vorstellung einer demokratischen, liberalen Menschheit beeinflussen können. Die zentralen Gratifikationen des Bereitstellens sind in all diesen Fällen die Lenkung der Aufmerksamkeit von Menschen auf die eigene Identität, der Aufbau von sozialem Kapital und die Zuschreibung eines sozialen Status in einer Gemeinschaft. Neben den weitgehend intrinsischen Motivationen finden sich in dieser Dimension auch extrinsische Motive, da Aufmerksamkeit, soziales Kapital und Status in ökonomisches Kapital transformiert werden können. Viele Bereitsteller erhoffen sich durch ihre Aktivität einen Einstieg in die Medienbranche, entweder im Sinne einer beruflichen Qualifikation oder auch als in organisierten Massenmedien veröffentlichender Künstler. Das Bereitstellen von Texten folgt in diesen Fällen der Motivation der Selbstvermarktung. Die vierte und letzte Gruppe von Motivationen und Gratifikationen kann unter Unterhaltung zusammengefasst werden. Mediennutzung ist hierbei vor allem Ablenkung, Entspannung, Erbauung, Zeitvertreib und emotionale Entlastung. Nutzergenerierte Texte können ähnliche unterhaltende Gratifikationen bieten wie andere Medien. So vertreibt das Bereitstellen und Rezipieren freie Zeit, ermöglicht ein
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ästhetisches Erleben ›schöner‹ Texte, macht Spaß, baut Anspannungen und Stress ab, ermöglicht Eskapismus aus dem Alltag und fördert das Involvement in subjektiv wichtige Themen und Hobbies. Das Bereitstellen von Texten erfüllt außerdem kreative Bedürfnisse und erlaubt es künstlerisch tätig zu werden. Gleichzeitig können Herausforderung des Schreibens gemeistert oder spielerische Erfahrungen während der Textproduktion gemacht werden. In nutzergenerierten Texten werden darüber hinaus Ideen festgehalten und Gedanken organisiert. Der Alltag wird so durch eine spezifische Form der Mediennutzung strukturiert.
5 Lesen und Schreiben nutzergenerierter Texte 5.1 Textmerkmale Nutzergenerierte Texte bedingen spezifische Merkmale des Lese- und Schreibprozesses, die sich aus der Produktion und Distribution außerhalb organisierter Prozesse der Medienbranche ergeben. Sie umgehen dabei etablierte Mechanismen der Kommunikationskontrolle und der Qualitätssicherung und »ermöglichen damit das Eintreten von individuellen und gemeinschaftlichen Weltdeutungen und Meinungen in den öffentlichen medialen Raum, ohne die Routinen und Strukturen der […] Medienproduktion zu durchlaufen« (Katzenbach 2008, S. 74). Für die thematische Ausrichtung und die Selektion der Nutzer, was bereitgestellt wird, ergeben sich daraus spezifische Merkmale. Nutzergenerierte Texte sind ein Spiegelbild dessen, was Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt bewegt. Auch wenn das bei professionell erzeugten Medienprodukten prinzipiell ebenfalls so ist, bieten nutzergenerierte Texte einen direkten Einblick in subjektive Erfahrungen und Meinungen zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen und werden ohne zeitliche Verzögerung im Kontext der Erfahrung oder des Ereignisses publiziert. Viele nutzergenerierte Texte sind somit auch Repräsentationen von anderen Medieninhalten und Erfahrungen aus dem alltäglichen Leben. Letztere erzeugen in Form autobiographischer Texte ein Feld an Texten, welche als Selbsterzählung von einem privaten in einen öffentlichen Raum transferiert werden und unter dem Begriff ›Digital Storytelling‹ Eingang in die Forschung gefunden haben. »Digital Storytelling is a creative socio-cultural practice in which the participants appropriate cultural repertoires and push boundaries of expression and experience« (Nyboe / Drotner 2008, S. 170). Diese Form der Bereitstellung privater Texte in einem öffentlichen Raum setzt sich als soziokulturelle Praktik zunehmend durch. Alle nutzergenerierten Texte sind per se subjektiver Natur und stehen repräsentativ für Aspekte der Identität der Autoren, welche auch die vollständige Kontrolle über ihre Texte behalten. Nutzergenerierte Texte sind aufgrund ihrer Einbindung in soziale Interaktionsplattformen im Gegensatz zu vielen
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professionellen Medienprodukten nicht abgeschlossen publiziert, sondern dynamisch veränderbar und wiederverwertbar. Nutzergenerierte Texte unterliegen keiner herkömmlichen Qualitätskontrolle vor der Veröffentlichung. Sie sind häufig anonym verfasst und unterliegen einem hohen Manipulationsverdacht. Darüber hinaus können sie Qualitätsprobleme in zwei Dimensionen aufweisen: erstens hinsichtlich der Richtigkeit und Genauigkeit von Informationen und zweitens im Hinblick auf Sprache und Struktur. So misstrauen beispielweise 71 % der Leser den Inhalten von Weblogs hinsichtlich ihrer faktischen Richtigkeit (vgl. Fisch / Gscheidle 2008, S. 360). Allerdings akzeptieren die Rezipienten nutzergenerierter Texte, auch aufgrund der geringen monetären Kosten, dass Texte zwar lustig, abwechslungsreich, witzig und interessant, aber auch langweilig, falsch und von schlechter sprachlicher Qualität sein können (vgl. Schenk u. a. 2013, S. 72 f.). Insgesamt liegen der Rezeption nutzergenerierter Texte niedrigere Erwartungen zugrunde als bei professionell erstellten Medieninhalten. Allerdings gehen damit neue Anforderungen an den Rezipienten einher, der einen erhöhten Eigenaufwand bei der Selektion und Einschätzung von Texten betreiben muss. Dennoch kann man nicht davon sprechen, dass nutzergenerierte Texte per se eine niedrigere Qualität aufweisen, denn an die Stelle des Medienunternehmens als Gatekeeper treten nun die Nutzer selbst als Instanz der Qualitätssicherung und Selektionshilfe. »Die Leser sollen nicht nur lesen, sondern sie sollen teilnehmen, den Autor auf Schwachstellen hinweisen, weitere Aspekte des Themas aufgreifen« (Alby 2008, S. 22). Eine besondere Rolle spielt dabei die Gemeinschaft der Nutzer, die häufig eine Vorstellung ›kollektiver Intelligenz‹ idealisiert. Rezipienten bemessen die Qualität deshalb nicht nach den Kriterien des ökonomischen Erfolgs oder der kulturellen Bedeutung, sondern anlassgetrieben als zweckmäßig, ästhetisch oder sozial bedeutsam. Die Veröffentlichung in einer Gemeinschaft und die damit verbundene Bewertung nutzergenerierter Texte von für Individuen und ihren sozialen Status bedeutsamen Lesern führt zu einer hohen Motivation, qualitativ hochwertig zu publizieren und sorgfältig zu arbeiten. Dabei wird die Glaubwürdigkeit und sprachliche Qualität durch die Masse an Rezipienten geprüft, die durch strukturelle Elemente wie Bewertung, Kommentar, Punktevergabe und Verweise eine qualitative Einschätzung vornehmen und somit eine objektive, weil kollaborativ erzeugte Bewertung erstellen. Die Aufmerksamkeit, die ein nutzergenerierter Text erhält, ist somit ein Merkmal der Qualität des Texts: »Als ein maßgebliches Kriterium für die Glaubwürdigkeit von Homepages und Blogs kann deren Resonanz aufgefasst werden« (Möller 2011, S. 57).
5.2 Individuelle Publikationsprozesse Nutzergenerierte Texte unterliegen trotz des relativ freien Publikationsraums über das Internet verschiedenen Einflüssen, die sich auf die Veröffentlichung und Distribution auswirken können. Zunächst spielen Kompetenzen der Nutzer eine entscheidende
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Rolle. Auch wenn die Einstellung von Texten über unterschiedliche Medienplattformen weitgehend vereinfacht worden ist, bedarf es doch grundlegender Kenntnisse der Bedienung und Funktionsweise der Software. Die Kompetenzen werden dabei während der Nutzung erworben. »When individuals enter new communities of practice, they tend to acquire knowledge about and experience with relatively simple tasks which are nonetheless important to the larger system« (Antin / Cheshire 2010, S. 128). Doch nicht nur die Bedienung und Funktionsweise der Produktions- und Distributionsplattformen muss erlernt werden, es werden auch Kompetenzen hinsichtlich der medialen und textuellen Form von Beiträgen benötigt, die über bereits erlernte Schreibkompetenzen unter Umständen hinausgehen. So helfen literarische Kompetenzen beispielsweise bei einer narrativen Selbstdarstellung in einem Weblog nur bedingt weiter. Weiterhin werden soziale Kompetenzen im Umgang mit Kommentaren und Bewertungen wichtig, wenn nutzergenerierte Texte eingestellt werden. Schließlich setzt erfolgreiches Schreiben im Netz voraus, dass Autoren Rezeptionsmodalitäten kennen und integrieren sowie rezipierende Gemeinschaften als Zielgruppen mit spezifischen Eigenschaften erkennen können. Hierbei spielt die Wechselwirkung zwischen Bereitstellen und Rezipieren eine besondere Rolle: Das Rezipieren nutzergenerierter Texte entspricht einem Lernprozess über deren Konzeption und senkt damit die Schwelle, selbst Texte zu produzieren und bereitzustellen. Auch wenn die traditionelle Medienproduktion für nutzergenerierte Texte keine Rolle spielt, können diese dennoch nicht außerhalb ökonomisch motivierter Dienstleister bereitgestellt werden. Nutzergenerierte Texte sind abhängig vom Netzzugang, von verfügbarem Webspace und der Produktions- und Distributionssoftware. Die damit verbundenen Dienstleister erheben entweder direkte Kosten für den Nutzer oder finanzieren die für Nutzer kostenlosen Dienste über Werbung, welche die nutzergenerierten Texte begleitet. Mit der Notwendigkeit von Diensten der Bereitstellung zeigt sich auch, dass Nutzer Texte nicht frei von organisatorischen Vorgaben erstellen können. Unterschiedliche Dienste bedingen unterschiedliche technische Beschränkungen der Texterzeugung, z. B. hinsichtlich der Länge der Texte, der Einbindung von Bildern oder der Auszeichnungen und Verlinkungen im Text. Daneben setzen Dienstleister inhaltliche Beschränkungen, beispielsweise durch Themenverbote, Verlinkungsbeschränkungen etc. »Even if content is said to be ›user generated‹ that does not mean that users have full control over what is produced and how it gets displayed« (Dijck 2009, S. 51). Eine weitere Problematik mit weitreichenden Folgen ist die Quantität nutzergenerierter Texte, die inzwischen über das Internet abgerufen werden können. Die große Anzahl erschwert die Selektion des Rezipienten erheblich und bedeutet für den Bereitsteller, dass er Aufmerksamkeit auf seinen eigenen Text lenken muss, wenn er rezipiert werden will. Nutzer sind somit immer stärker auf Suchmaschinen und Filterangebote angewiesen, die ihre Texte zum Rezipienten bringen. Gerade hier zeigt sich eine Entwicklung hin zu neuen ökonomisch organisierten Gatekeepern in Form von Softwareanbietern und klassischen Rezensionsorganen. Gleichzeitig steigt der Druck
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zur Vernetzung eigener Texte mit anderen nutzergenerierten Texten. Dabei ist gegenwärtig eine hohe Konzentration der Aufmerksamkeit auf relativ wenige Plattformen zu beobachten, da eine hohe Aufmerksamkeit zu einer hohen Vernetzung und damit zu mehr Rezipienten führt. So haben wenige Blogs beispielsweise eine Vielzahl an Lesern, während die meisten Blogs nur sehr wenige Leser haben. »In particular, we find that although audience attention has indeed fragmented among a wider pool of content producers than classical models of mass media, attention remains highly concentrated« (Wu u. a. 2011).
5.3 Wirkungen Die Aushebelung kommunikativer Kontrolle durch die Umgehung der klassischen Medienproduktion hat weitreichende Folgen für Kultur und Gesellschaft, die erst in Ansätzen absehbar und erforscht sind. Nutzergenerierte Texte können, wenn sie eine kritische Masse an Rezipienten erreichen, Einfluss auf Funktionssysteme und Organisationen der Gesellschaft ausüben. Denn Bereitsteller produzieren nicht nur Texte, sondern vermitteln darin auch Kultur als subjektive Weltvorstellung. Sie stellen damit Ideen und Visionen bereit, die sich Rezipienten aneignen können. Mit nutzergenerierten Texten werden die Möglichkeiten der interpersonalen Wirklichkeitskonstruktion zwischen Bereitsteller und Rezipient vervielfacht, was zu einer weiteren Individualisierung von Weltvorstellungen führt. Weitreichend thematisiert wird gegenwärtig zudem der Einfluss nutzergenerierter Texte auf die politische Partizipation in Demokratien. Das Internet und nutzergenerierte Texte ermöglichen in theoretischer Vorstellung eine bürgerliche Öffentlichkeit nach Jürgen Habermas, in der öffentliche Meinung und Konsens über Kommunikation und den Austausch rationaler Argumente durch freie Bürger erreicht werden können (vgl. Habermas 1990). In Bezug auf diese Öffentlichkeit zeigt sich der Einfluss nutzergenerierter Texte in Form eines zunehmenden Agenda-Settings in den organisierten Massenmedien: Die Themenfindung des politischen, aber auch des kulturellen Diskurses findet mehr und mehr im Wechselspiel zwischen nutzergenerierten Texten und Journalisten / Autoren traditioneller Medienunternehmen statt. Einzelne Personen oder Personengruppen außerhalb institutioneller Kontrolle und ohne organisatorische Verstärkung können somit beeinflussen, welche Themen Eingang in die mediale Berichterstattung und öffentliche Kommunikation finden (vgl. Drezner / Farrell 2004). Dabei stellt sich heraus, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Aktivität des Einstellens nutzergenerierter Texte und Meinungsführerschaft besteht (vgl. Schenk u. a. 2013, S. 154–159). Die Bedeutung nutzergenerierter Texte als Instrument der Meinungsführerschaft zeigt sich insbesondere durch die Konzentration der Aufmerksamkeit auf wenige Plattformen / Produzenten, indem einzelne Texte oder Personen zu Knotenpunkten werden, in bzw. bei denen die Informationen aus dem Netz zusammenlaufen und bewertet werden. Ein demokratisches
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Netzwerk mit gleichberechtigten Meinungen entsteht so gerade nicht, sondern ein von wenigen Personen und Personengruppen gelenktes Bereitstellungs- und Bewertungsnetzwerk von Informationen, das in Wechselwirkung zu klassischen Bereitstellungsnetzwerken des Journalismus, Pressewesens und Buchhandels existiert. Diskutiert werden gegenwärtig auch die Folgen für die Medienbranche. Durch nutzergenerierte Texte werden kostenlose Alternativen zum klassischen Journalismus und zur Buchmedienkommunikation geschaffen. Auch wenn viele Formen nutzergenerierter Texte eigenständige, neue Textformen darstellen, können sie in direkter Konkurrenz zu kommerziellen Angeboten stehen, wie beispielsweise Nachschlagewerken. Die Sozialisierung mit kostenlosen Lesestoffen senkt zudem die Akzeptanz kostenpflichtiger Medienhalte. Als Reaktion verlegen sich Medienunternehmen stärker darauf, zu Inhalten zugehörige Dienstleistungen in den Mittelpunkt ihrer Geschäftsmodelle zu stellen. Dies führt im Umkehrschluss allerdings dazu, dass die divergierende Informationslandschaft, die als Ideal der Internetkommunikation prognostiziert wurde, wieder verstärkt ökonomischen Prinzipien unterworfen wird.
6 Desiderate Die Erforschung des Lesens in digitalen Medien und der Vernetzung von Lesemedien und Lesern steht bisher in keiner angemessenen Relation zur Bedeutung von Digitalität und Vernetzung im Alltag der Menschen. Ein Grund dafür ist die Auflösung fester Leseobjekte, auf die man konkret Bezug nehmen kann. So sind nutzergenerierte Texte in einer Vielzahl unterschiedlicher medialer und formaler Formen möglich, was die Analyse der Auswirkungen dieser Texte auf das Lesen und den Leser erschwert. So liegt der Hauptfokus der Leseforschung in Bezug auf nutzergenerierte Texte bislang vor allem auf deren Integration in Unterrichtsmodelle, auf dem Vergleich zu bisherigen Lesemedien und den Auswirkungen auf den Buch- und Pressemarkt. Eine große Diskrepanz besteht zudem zwischen der Forschung zum Schreiben von nutzergenerierten Texten, was vor allem in Bezug auf journalistische Kommunikation und Digital Storytelling bereits weitläufig erfolgt, und der Rezeption der entstehenden Texte. Weder existieren Studien zu spezifischen Lesergruppen noch hinreichende Differenzierungen des Leseprozesses solcher Textformen. Dies zeigt sich auch darin, dass in Bezug auf nutzergenerierte Texte zwar Selektionsmechanismen in Form von Aufmerksamkeitsgenerierung, Motivationen im Sinne der Teilnahme und Wirkungen in Form von Veränderungen von Privatheit / Öffentlichkeit, Partizipation / Konsumtion und Individuum / Organisation in den Blick genommen werden, aber selten spezifische Textsorten mit spezifischen Eigenschaften und daraus resultierenden individuellen Folgen. Im Zuge einer allgemeinen Technik-Euphorie finden zudem die Hindernisse der privaten Bereitstellung von nutzergenerierten Texten bislang zu wenig Aufmerksamkeit: Inwiefern hängen Kompetenzen mit der Bereitstel
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lung zusammen und lassen sich durch Kompetenzgefälle verursachte Segmentierungen von Bevölkerungsgruppen feststellen? Welchen Einfluss haben standardisierte Technologien der Textproduktion auf kreative Schreibprozesse? Führt die soziale Interaktion über eine Öffentlichkeit hinweg bei der Auswahl von Themen und Stilen zu einer Vereinheitlichung von akzeptierten Lesestoffen und Meinungen? Wie wirken sich Unsicherheiten über die Reichweite der eigenen Texte auf den Schreibprozess aus? Welche Auswirkungen haben Verbesserungen der eigenen Texte durch andere auf den Schreibprozess und den Mut zur eigenen Darstellung? Die Erforschung des Bereitstellens und Rezipierens nutzergenerierter Texte steht gerade erst am Anfang und wird sich mit den abzusehenden Entwicklungen des Internets selbst weiterentwickeln müssen.
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4 Funktionen und Leistungen des Lesens 4.1 Geschichte des Lesers
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4.1.1 Antike und Spätantike Zusammenfassung: Die Geschichte des Lesens in antiken Gesellschaften ist gleichzeitig Sozial-, Kultur- und Technikgeschichte. Lesefähigkeit blieb zu allen Zeiten auf eine verhältnismäßig kleine, meist sozial besser gestellte, Gruppe der Bevölkerung beschränkt. Abhängig von Medium, Örtlichkeit und Kontext stellte Lesen damit, insbesondere im verbreiteten Modus des lauten Vorlesens, eine sinnstiftende Kulturpraxis dar. Abstract: The history of reading in ancient societies entails social history, cultural history, and also the history of technology. At all times, the ability to read was confined to a proportionally small, usually socially advantaged, social group. Reading, especially in the common mode of reading aloud, thus constituted a cultural praxis determined by the medium, locality and context.
Inhaltsübersicht 1 Forschungsgeschichte und Forschungsfragen — 703 2 Lesen in der Antike: Form und Funktion — 704 3 Frühe Hochkulturen — 705 3.1 Mesopotamien — 705 3.2 Ägypten — 706 4 Griechisch-Römische Antike — 707 4.1 Archaisches und klassisches Griechenland — 707 4.2 Hellenismus — 709 4.3 Römisches Reich — 711 4.4 Spätantike — 714 5 Literatur — 716
1 Forschungsgeschichte und Forschungsfragen Die Leseforschung des 20. Jhs. zur Antike war geprägt von der Diskussion und Korrektur des Paradigmas einer unimodalen, fast ausschließlich laut lesenden Antike. Die lange Zeit vorherrschende Meinung, leises Lesen sei in den antiken Gesellschaften nur in Ausnahmefällen praktiziert worden, wurde zwar bereits Ende der 1960er Jahre stichhaltig widerlegt. Eine angemessene Rezeption sollte dieser Erkenntnis allerdings bis zum Ende des Jahrhunderts verwehrt bleiben (die Forschungsgeschichte bei Johnson 2010, S. 4–9). Abseits und in teilweiser Abgrenzung zur Frage des Lesemodus haben sich Papyrologen, Philologen, Archäologen und Historiker mit unterschiedlichen Aspekten der Schrift- und Lesekultur auseinandergesetzt. Fragen nach der Form und Funktion unterschiedlicher Schrift- und Lesemedien, nach der Produktion und Verbreitung von Lesestoff, dessen Aufbewahrung und Benutzung in Archiven und Bibliotheken sowie nach den Kontexten und Funktionen konkreter Leseakte fanden
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im Zuge einer stärkeren Beschäftigung mit antiker Schriftlichkeit seit den 1980er Jahren ausgiebig Beachtung (eine Übersicht bei Werner 2009). Die neueste Forschung tendiert in der Folge dazu, kultur- und sozialhistorische Aspekte der antiken Lesekultur in den Mittelpunkt zu stellen. Lesekultur wird damit zur Leserkultur, eine einzige Leserkultur zu mehreren unterschiedlichen Leserkulturen (programmatisch Johnson 2000, S. 602 f.).
2 Lesen in der Antike: Form und Funktion Die Geschichte des Lesers in der Antike ist durchweg die Geschichte einer Minderheit. Die Beherrschung der Kulturtechnik Lesen war – wie in allen vormodernen Gesellschaften ohne staatlich geförderte Massenalphabetisierung – abhängig von einer Vielzahl limitierender Faktoren. Lesen konnte, wer es aufgrund seiner Stellung oder Funktion in Staat, Wirtschaft oder Gesellschaft können musste, sollte oder wollte oder aber sich Aufwand und Muße des Erlernens leisten konnte. Die Fähigkeit, lesen zu können, konstituierte somit Spezialwissen. Die antiken Kulturen waren sämtlich primär orale Kulturen, in welchen Geschriebenes und damit Lesbares in wechselnder Intensität vornehmlich in bestimmten Bereichen und Situationen und für ausgewählte Funktionen Verwendung fand. Lesefähigkeit blieb damit auf einen mehr oder minder kleinen Personenkreis von Spezialisten, Privilegierten und Interessierten beschränkt. Dabei spielte weniger die vermeintliche Komplexität des zu meisternden Schriftsystems als vielmehr der soziokulturelle Kontext eine limitierende Rolle (vgl. die Forschungsdiskussion bei Thomas 1992, S. 15–28). Lesen beschränkte sich nie nur auf den motorisch-physiologischen Akt, sondern war gleichzeitig eine sinnstiftende Kulturpraxis. Die Geschichte des Lesens in der Antike wird damit zu einer Sozial- und Kulturgeschichte des Lesens (vgl. Johnson 2000, S. 600–605). Gleichzeitig ist sie eine Technikgeschichte, eine Geschichte des Mediums. Lesen war in den antiken Gesellschaften nicht auf ein primäres Medium beschränkt. Schrift begegnete dem potenziellen antiken Leser zu unterschiedlichen Zeiten in einer Vielzahl von Formen auf unterschiedlichsten Trägermaterialien.1 Unterschiedliche Medien waren neben wechselnden Anforderungen an den Leser zudem mit wechselnden Lokalitäten verbunden, seien dies öffentliche oder private Räume, Archive oder Bibliotheken. Mit dem Medium und der Umgebung änderte sich der Modus des Lesens. Charakteristisch für die antiken Gesellschaften war das laute Lesen, der Vortrag. Leises Lesen war damit jedoch nicht ›per se‹ aus geschlossen (vgl. Busch 2002, S. 7, 34).
1 Vgl. Kap. 2.2.1 Die Buchrolle und weitere Lesemedien in der Antike in diesem Band.
4.1.1 Antike und Spätantike
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Wer was zu welchem Zeitpunkt, an welchem Ort, in welcher Form und in welcher Art und Weise zu welchem Zweck las, war in der Antike also von einer Vielzahl von Faktoren abhängig – zuvorderst davon, ob die Person überhaupt dazu in der Lage war, das, was sie sah, auch entziffern und deuten zu können.
3 Frühe Hochkulturen Die Geschichte des Lesens und des Lesers beginnt mit der Entwicklung und Benutzung der Schrift seit dem letzten Viertel des 4. Jahrtausends v. Chr. in den frühen Hochkulturen Ägyptens und des Vorderen Orients. In beiden Kulturen zeigt sich die starke funktionale Beschränkung der Schrift auf bestimmte Bereiche des Lebens.
3.1 Mesopotamien Die erhaltenen sumerisch-akkadischen Keilschrifttexte aus den mesopotamischen Stadtstaaten sind vornehmlich Verwaltungsdokumente, die von einer umfassenden buchhalterischen Tätigkeit zeugen. Schrift wurde insbesondere als Kontroll- und Verwaltungstechnik für die hoch entwickelte, von der jeweiligen Tempelverwaltung koordinierte, wirtschaftliche Organisation dieser Gemeinwesen eingesetzt. Daneben verfasste man, wenn auch in geringerem Ausmaß, literarische Texte wissenschaftlichen, historisch-mythischen und kultischen Inhalts, die jedoch in erster Linie religiös-politischen Zwecken dienten (eine Übersicht bei Wilcke 1994). Urheber und vornehmliche Leser dieser Texte waren fachkundige Schreiber, die zu diesem Zweck eine professionelle Ausbildung genossen. Eine Schreib- und Lesekultur außerhalb dieser Schreiberklasse und der Tempelverwaltung entwickelte sich erst ab dem 2. Jahrtausend und auch dann nur in beschränktem Maße. Zumindest Händler und Angehörige der sozialen Elite aus Politik, Religion und Militär dürften in der Lage gewesen sein, Dokumente und insbesondere Briefe zumindest zu lesen, wenn nicht sogar selbst zu verfassen. Der Anteil der Lesekundigen dürfte dennoch kaum wenige Prozent der Gesamtbevölkerung überstiegen haben (vgl. Charpin 2008, S. 31–60). Als Medium benutzte man in erster Linie Ton, der zu rechteckigen, kissenförmigen, zumeist handlichen Tafeln geformt und mit einem Stilus beidseitig eingekerbt wurde. Anschließend ließ man die Tafeln an der Luft lederhart trocknen oder brannte sie. Daneben wurden auch Rollen aus Leder sowie die später während der gesamten Antike gebräuchlichen hölzernen Wachstafeln für Aufzeichnungen benutzt (vgl. Taylor 2011, S. 7–19). Aufbewahrt wurden die Texte am Königshof, bei Tempeln oder privat von Schreibern in Sammlungen, die leicht mehrere tausend Dokumente beherbergen konnten. Die erste planvolle Sammlung der damals bekannten Literatur ist mit der Bibliothek des Assyrerkönigs Assurbanipal in Ninive für das 7. Jh. v. Chr.
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bezeugt (eine Übersicht bei Robson 2013). Neben Archivalien und Literatur zeugen monumentale Inschriften auf Stein von Lesestoff im öffentlichen Raum. Deren Bedeutung dürfte jedoch mit der begrenzten potenziellen Leserschaft vor allem symbolischer Natur gewesen sein.
3.2 Ägypten Wie in Mesopotamien wurde auch im dynastischen Ägypten der Pharaonen Schrift zur Verwaltung einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschafts- und Wirtschaftsorganisation eingesetzt. Sie repräsentierte aber gleichzeitig die kultischreligiöse Rechtsordnung. Die bildhafte Hieroglyphenschrift stand so im Dienste der politischen Legitimation. Sie galt als heilige, göttliche Schrift, die für monumentale Denkmäler als Kunst- und Zeremonialschrift in Inschriften Verwendung fand. Diesem Umstand ist es geschuldet, dass sich daneben eine davon abgeleitete, kursive Gebrauchsschrift, die sog. hieratische, entwickelte, die für die weit entwickelten staatlich-rechtlichen Verwaltungs- und Organisationsaufgaben eingesetzt wurde (vgl. grundsätzlich Baines 1983). Noch stärker als im Zweistromland war in Ägypten Schriftlichkeit und damit Lesen auf eine kleine Gruppe von professionell ausgebildeten Schreibern beschränkt, die den prestigeträchtigsten Beruf ausübten, gleichzeitig Beamte waren und die oberste Schicht der Gesellschaft bildeten (vgl. Schlott 1989, S. 93 f.). Angehende Schreiber wurden individuell und später in Schulen in der hieratischen Schrift unterwiesen und spezialisierten sich auf unterschiedliche Bereiche der Verwaltung. Das Schreiben von Hieroglyphen galt daneben als spezielle Kunstform (vgl. Assmann 1994, S. 480). Schreib- und lesekundig war damit nur rund 1 % der Bevölkerung (vgl. Baynes 1983, S. 584). Als Beschreibstoffe dienten neben dem für monumentale Inschriften verwendeten Stein auch Leder, Keramikscherben (ostraka), geweißelte Holztafeln und seltener Ton. Hauptschriftträger war Papyrus, der aus dem Mark der im Nildelta heimischen Papyrusstaude hergestellt wurde.2 Man schrieb und las von rechts nach links in Kolumnen, während man die Rolle unter Benutzung beider Hände auf der rechten Seite auf- und auf der linken Seite abrollte. Wie in den mesopotamischen Keilschriftkulturen stand in Ägypten Dichtung und Prosaliteratur in politisch-religiösen oder professionellen Kontexten. Literatur zu Unterhaltungszwecken für ein breiteres Publikum im modernen Sinne existierte nicht. Leser waren in erster Linie die ausgebildeten Schreiber, die sich als Teil ihrer öffentlichen Funktion in den Archiven und Bibliotheken in Palast und Tempeln auch um die Aufbewahrung und Tradierung der Texte kümmerten (vgl. Assmann 1994, S. 481).
2 Vgl. Kap. 2.2.1 Die Buchrolle und weitere Lesemedien in der Antike, Abschnitt 2.2 in diesem Band.
4.1.1 Antike und Spätantike
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4 Griechisch-Römische Antike 4.1 Archaisches und klassisches Griechenland Die ersten griechischsprachigen Aufzeichnungen im Ägäisraum standen gänzlich in der Tradition der frühen Schriftkulturen. In der mykenischen Kultur der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. waren es vor allem professionelle Schreiber, die vorwiegend zum Zweck der Palastverwaltung in Silbenschrift (Linear B) auf Tontafeln schrieben. Erst die Entstehung der griechischen Alphabetschrift im frühen 8. Jahrhundert durch Kontakte von Griechen mit phönizischen Schriftgesellschaften bedeutete den Anfang einer Schriftkultur, die sich nicht mehr auf den engen Kreis einer professionalisierten Schreiber- und damit Leserschicht konzentrierte (vgl. Wilson 2009, S. 544–549). Seit der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts sind schriftliche Zeugnisse in religiösem, ökonomischem, politisch-rechtlichem, praktischem, aber vor allem künstlerisch-poetischem Kontext bezeugt; bürokratisches Schriftgut folgte mit einiger Verzögerung (vgl. Thomas 1992, S. 57–61). Die Stadtstaaten des antiken Griechenlands blieben dennoch in erster Linie orale Gesellschaften. Schrift und Geschriebenes ersetzten die mündlichen Gepflogenheiten nicht, sondern ergänzten sie – wenn auch in teilweise beachtlichem Ausmaß (vgl. grundsätzlich Andersen 1989). So etwa in Athen, welches im 5. und 4. Jahrhundert den kulturellen und literarischen Mittelpunkt der griechischen Staatenwelt bildete und woher folglich die meisten schriftlichen Zeugnisse stammen. Unterschiedlichste Materialien wurden dabei zu Trägern von Schrift. Neben Stein, Metall und Keramik fanden auch vergängliche Schriftträger wie Leder, Holz und Papyrus Verwendung (vgl. Blanck 1992, S. 40–63). In großer Zahl öffentlich aufgestellte Inschriften und informellere Graffiti bildeten seit dem späten 6. Jahrhundert jedermann zugänglichen Lesestoff (vgl. Hedrick 1999, S. 387–395, 425). Der Großteil der Bevölkerung dürfte jedoch auf die mündliche Vermittlung durch eine kundige Person angewiesen gewesen sein. Die Gruppe der Lesekundigen blieb vornehmlich auf die freie männliche Oberschicht, spezialisierte Händler und Handwerker und wenige Sklaven beschränkt. Die neuere Forschung zeichnet mit einem Anteil der Schreib- und Lesekundigen von 5 bis 10 % an der Gesamtbevölkerung selbst für Athen ein zurückhaltendes Bild (vgl. Harris 1989, S. 102–107; 114 f.; Thomas 1992, S. 11). Allgemeine Schulbildung fehlte; Schulen, die dann vor allem von Begüterten besucht wurden, sind erst seit dem 5. Jahrhundert bezeugt (vgl. Harris 1989, S. 57–59, 99–101; z. B. Platon, Protagoras 326c). Die reiche griechische Dichtung wurde in archaischer und klassischer Zeit in erster Linie als Teil eines musischen Vortrags gehört und erlebt, nicht für sich gelesen (vgl. Thomas 1992, S. 119). Griechische Werke wurden so bis ins späte 5. Jahrhundert in der Regel nicht für ein Lesepublikum niedergeschrieben. Vielmehr diente der Text als
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Gedächtnisstütze (›hypomnēma‹) für den öffentlichen Vortrag (vgl. Andersen 1989, S. 77). In diesem Kontext sind die Niederschriften der mündlichen epischen Dichtung Homers (Ilias, Odyssee) und Hesiods (Theogonie, Werke und Tage) und der für das aristokratische Gastmahl (›symposion‹) typischen lyrischen und melischen Poesie sowie das erstmalige Verfassen von Prosaschriften im vorsokratischen Philosophiebetrieb bis zum Ende des 6. Jahrhunderts zu verstehen. Der Umgang mit geschriebenen Texten begann sich im Laufe des 5. Jahrhunderts zu verändern. Mit der merklichen Zunahme der literarischen Produktion erhielt der geschriebene Text und in der Konsequenz seine dauerhafte Form als physisches Buch einen eigenen Wert (Whitmarsh 2004, S. 106–121, spricht von einem »archival turn«). Neben der fürs Theater bestimmten Dichtung wurden rhetorische, philosophische, historische und fachwissenschaftliche Prosawerke zwar weiterhin in Form einer öffentlichen Darbietung publik gemacht. In Textform wurden sie nun jedoch zunehmend als »dauernde[r] Besitz, nicht als Prunkstück fürs einmalige Hören« wahrgenommen, um mit dem athenischen Geschichtsschreiber Thukydides der zweiten Hälfte des 5. Jahrhhunderts zu sprechen (Peloponnesischer Krieg 1,22,4; Übers. G. P. Landmann). Die Fundamentalkritik des Philosophen Sokrates zum Ende desselben Jahrhunderts an Geschriebenem und Büchern und deren vornehmlichen Vertretern, den sophistischen Wanderlehrern, ist als Reflex auf diese weit fortgeschrittene Entwicklung zu verstehen (Platon, Phaidros 274b–277a; vgl. Turner 1977, S. 23). Seit dem 5. Jahrhundert sind denn auch zahlreiche Abbildungen von lesenden Personen vor allem auf Keramik überliefert. Neben hölzernen Wachstafeln (›deltos‹, ›deltion‹), die für kleinere Texte und Aufzeichnungen benutzt wurden, begegnet uns darauf die Rolle aus Papyrus (›byblos‹, ›biblion‹) als Hauptmedium für den literarischen Text (vgl. Easterling / Knox 1985, S. 6 f.). Material und Form des Papyrusbuchs übernahmen die Griechen von den Ägyptern. Geschrieben und gelesen wurde von links nach rechts in Kolumnen, indem man die Rolle unter Zuhilfenahme beider Hände auf der linken Seite auf- und auf der rechten Seite abrollte. Die griechische Buchkultur war somit – wie alle Buchkulturen vor dem Buchdruck mit beweglichen und vielfachen Lettern um 1450 – eine Handschriftenkultur. Jedes Buch war ein Unikat und blieb damit ein teures, elitäres Produkt, literarisches Lesen in weiten Teilen ein Phänomen der Oberschicht (vgl. Johnson 2000, S. 613–615). Im Athen des ausgehenden 5. Jahrhunderts kostete ein preiswertes Buch so viel wie ein ungelernter Arbeiter an einem Tag verdiente (Platon, Apologie 26d–e). Grundsätzlich ist für die griechische Zeit im Durchschnitt von einem Vielfachen eines Tagesverdiensts auszugehen (vgl. Lewis 1974, S. 74, 132–134). Lesen bedeutete so weiterhin vornehmlich Vorlesen oder aber Zuhören, sei das im Kontext philosophischwissenschaftlicher Erziehung oder des öffentlichen oder privaten Vortrags. Individuelle, stumme Lektüre war damit aber nicht ausgeschlossen, wie erste Beispiele aus dieser Zeit zeigen (vgl. Svenbro 1988, S. 181–187). Zugang zu Büchern bestand neben der Mitschrift einer Vorlesung, der Abschrift eines Autorenexemplars bzw. der Verbreitung durch den Autor selbst spätestens seit dem Ende des 5. Jahrhunderts über
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Buchhändler. Diese wurden nicht nur zum Erwerb, sondern auch zum gelegentlichen Lesen von Büchern frequentiert (Diogenes Laertios, Leben der Philosophen 7,2). In und ausgehend von Athen ist seit dieser Zeit erstmals ein Handel mit Büchern in moderatem Umfang bezeugt (Platon, Apologie 26d; außerathenisch: Xenophon, Anabasis 7,5,14; Wanderbuchhändler: Dionysios v. Halikarnassos, Isokrates 18). Nicht zufällig stammen die ersten Zeugnisse für private Büchersammlungen – etwa diejenige des Tragödiendichters Euripides (Aristophanes, Frösche 1409; vgl. Athenaios, Deipnosophistai 1,4) – ebenfalls aus dem Athen des ausgehenden 5. Jahrhunderts (vgl. Easterling / Knox 1985, S. 9). Das folgende Jahrhundert sah, begünstigt durch das Florieren von Fach- und Spezialliteratur und dem Bestreben, das neu gewonnene Wissen zu speichern, eine Extensivierung der Benutzung und Zirkulation des Mediums Buch. Das Ausmaß der Entwicklung zeigt in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts beispielhaft der Fall des Platonschülers und Polyhistors Aristoteles. An seiner Athener Wirkstätte, dem Lykeion, machte er zur Entfaltung seines enormen wissenschaftlichen Schaffens ausgiebig von den Vorzügen des neuen Mediums Gebrauch und sammelte erstmals eine systematische wissenschaftliche Handbibliothek an (Strabon, Geographika 13,1,54; vgl. Kenyon 1951, S. 25). Wohl nicht zufällig begegnet uns im aristotelischen Umfeld zum ersten Mal das Bild des passionierten Lesers, der selbst des Nachts und beim Licht der Öllampe seiner Leidenschaft nachgeht (Aristoteles, Problemata 916b/917a).
4.2 Hellenismus Mit den außerordentlichen Eroberungen Alexanders des Großen (gest. 323), der laut seines Biographen Plutarch selbst ein eifriger Leser war (Plutarch, Alexander 8,2–3), brach für die griechische Buch- und Lesekultur eine neue Ära an. Den gesamten östlichen Mittelmeerraum und Nahen Osten einte nun die griechische Kultur, das zentrale Element im Selbstverständnis der neuen hellenistischen Königreiche. In ihrem Streben nach Legitimation und Vorherrschaft stützten sich die Herrscher auf eine umfangreiche schriftbasierte Verwaltung (vgl. grundsätzlich Bagnall 2011). Als Patrone umgaben sie sich mit den führenden Intellektuellen der Zeit (vgl. Fraser 1972, Bd. I, S. 305 f.). Literatur und Wissenschaft wurden zu politischem Kapital, Bücher zu dessen Währung. In der Hauptstadt des Ptolemäerreichs, im ägyptischen Alexandria, entstand so zu Beginn des 3. Jh. v. Chr. die größte Bibliothek der damaligen Welt. Sammlungen von Büchern wurden zu dieser Zeit nicht in eigenständigen Gebäuden im modernen Sinn untergebracht. Das griechische Wort ›bibliothēkē‹ bezeichnete lediglich eine Kollektion von Büchern bzw. einen Schrank oder ein Gestell zur Aufbewahrung derselben. Solche Bibliotheken wurden vornehmlich in Heiligtümern oder aber später in Gymnasien, den städtischen Zentren der musischen und sportlichen Betätigung, aufbewahrt. Säulenhallen, in welchen die Bücher schließlich gelesen
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wurden, oder angrenzende Räume beherbergten die unterschiedlichen hölzernen Aufbewahrungsbehälter für Bücher (vgl. Coqueugniot 2013, S. 40 f.). So war auch die Bibliothek von Alexandria Teil eines Heiligtums, welches – den Göttinnen der Künste, den Musen (›museion‹), gewidmet – gleichzeitig das bedeutendste kulturelle Zentrum der Zeit darstellte (vgl. Delia 1992, S. 1449). Im Museum bildeten führende Gelehrte – vom König protegiert und von allen weltlichen Sorgen befreit – eine Denkfabrik, die neben der eigenen stilbildenden wissenschaftlichen und literarischen Tätigkeit damit beschäftigt war, das gesamte Wissen der damals bekannten Welt, wenn nötig in Übersetzung, zusammenzutragen. Wie groß das Unternehmen angelegt war, zeigen Episoden über eifrige Bücheragenten des Museums und den vermuteten immensen Umfang der Sammlung, die bald die Runde machten (vgl. Bagnall 2002, S. 351–356). Neben der Sammlung waren die Gelehrten mit der Überprüfung und Anordnung des Wissens beschäftigt. Voneinander abweichende Versionen von Texten, die durch Generationen von Abschriften entstanden waren, wurden erstmals mit Hilfe philologischer Methoden verglichen, korrigiert, standardisiert und zu Editionen verarbeitet. Mit den Pinakes, einem Werk, das die gesammelte Literatur systematisierte und in Gattungen unterteilte, schuf zudem Kallimachos, ein Dichter und Grammatiker aus dem nordafrikanischen Kyrene, den ersten systematischen Bibliothekskatalog (vgl. Pfeiffer 1968, S. 87–233). Obschon die Museumsbibliothek nicht öffentlich zugänglich, sondern lediglich dem engsten Zirkel der alexandrinischen Gelehrten vorbehalten war, zeitigte das Unternehmen auch für den Leser außerhalb des Museums bedeutende Veränderungen. Die autoritativen alexandrinischen Editionen ersetzten bald frühere Textversionen; eine Entwicklung, die an den erhaltenen zeitgenössischen Papyrusbüchern nachvollzogen werden kann (vgl. Bagnall 2002, S. 360). Form und Aussehen der Texte erfuhren eine Standardisierung. Interpunktionszeichen und Akzente wurden weiterentwickelt und erweitert. Zumindest für Dichtung wurde nun die gängige Schreibung ohne Wort- und Zeilenabstände, die ›scriptio continua‹, zugunsten einer Verteilung der Verse auf einzelne Linien aufgegeben (Pfeiffer 1968, S. 178–187). Ein Unternehmen dieser Größe musste zudem zwangsläufig großen Einfluss auf die Produktion und den Handel mit Büchern haben. Die große Nachfrage nach Literatur, Schreibmaterialien und professionellen Schreibern schuf einen Buchmarkt, wie es ihn zuvor nicht gegeben hatte. Andere hellenistische Königreiche, allen voran das Attalidenreich mit seiner Hauptstadt Pergamon, traten bald in Konkurrenz mit Alexandria als Zentrum der Literatur und Wissenschaften (vgl. Easterling / Knox 1985, S. 33 f.). Der Buchhandel blühte und mit ihm das Fälscherhandwerk, welches alte und seltene, verloren geglaubte Texte zum Verkauf bereit hielt. Nach Vorbild der großen Zentren entstanden im 3. und 2. Jh. v. Chr. auch in anderen hellenistischen Poleis Bibliotheken, die nun öffentlich zugänglich waren. Athen etwa, in den vorhergehenden Jahrhunderten Vorreiter der Buchkultur, erhielt um die Mitte des 3. Jahrhunderts auf Initiative des ptolemäischen Herrschers seine erste öffentliche Einrichtung dieser Art als Teil eines Gymnasiums (vgl. Casson 2001,
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S. 57–60). Zur Leserschaft hellenistischer Literatur dürfte damit dennoch nur ein kleiner (vor allem männlicher) Teil der jeweiligen städtischen Bevölkerung gezählt haben. Bildung war weiterhin stark abhängig von privater Initiative, wenngleich für einzelne Stadtstaaten nun öffentliche Einrichtungen für den Elementarunterricht bezeugt sind (vgl. Del Corso 2005, S. 9–21). Das erstmals im Späthellenismus aufkommende Genus des Romans, welches fiktive Geschichten von Abenteuer und Liebe in Buchform fasste, könnte neue Leserschichten erschlossen haben (eine Übersicht bei Hunter 2008).
4.3 Römisches Reich Zu Erben der hellenistischen Buch- und Lesekultur wurden die Römer. Die stetige Machtentfaltung Roms seit dem 4. Jh. v. Chr. ließ aus dem italischen Stadtstaat ein Reich werden, welches bald den gesamten Mittelmeerraum umspannte. Die Schriftkulturen der Eroberten fanden dabei Eingang in die im Entstehen begriffene römische Schriftkultur. So hinterließen die literarischen Kulturen der Etrusker und Karthager ihre Spuren. Sprösslinge der Oberschicht genossen ihre literarische Ausbildung noch im ausgehenden 4. Jahrhundert bei den benachbarten Etruskern (Livius, Von der Gründung der Stadt 9,36,3). Eine Abhandlung über die Landwirtschaft des Karthagers Mago galt als unübertroffenes Standardwerk und wurde auf Senatsbeschluss ins Lateinische übertragen (Cicero, Über den Redner 1,249; Columella, Landwirtschaft 1,1,12). Die Schriftkultur der Griechen wirkte indes derart prägend, dass der römische Dichter Horaz am Ende des 1. Jh. v. Chr. davon sprechen konnte, dass das eroberte Griechenland in Wirklichkeit Rom erobert hätte und Kunst, Literatur und Wissenschaft damit überhaupt erst nach Rom gelangt seien (Horaz, Briefe 2,1,156). In der Tat übernahmen die Römer die literarische Kultur und damit die Schriftund Lesekultur und deren Medien von den Griechen, mit welchen sie seit dem 4. Jahrhundert vor allem über die süditalischen Griechenstädte der ›Magna Graecia‹ und Siziliens in Kontakt standen. Die ersten literarischen Werke in Latein verfasste mit Livius Andronicus in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts bezeichnenderweise ein gebürtiger Grieche, der dabei griechische Stoffe und Genera der Dichtung an das Lateinische anpasste (Cicero, Brutus 72). Erste Sammlungen von Büchern, die Mitglieder der graecophilen römischen Oberschicht des 2. Jahrhunderts im Kontakt mit Griechen zusammentrugen, müssen vornehmlich aus Werken in griechischer Sprache bestanden haben (vgl. Casson 2001, S. 65). Diese privaten Sammlungen wurden mit den folgenden kriegerischen Eroberungen im östlichen Mittelmeerraum durch erbeutete hellenistische Bibliotheken vergrößert (vgl. Blanck 1992, S. 153 f.). Zu ihnen gesellten sich bis zum 1. Jahrhundert Werke der vergleichsweise jungen lateinischen Literatur – vor allem Dichtung, Geschichtsschreibung und Fachschriftstellerei nach anfänglich griechischem Vorbild (vgl. Gratwick 1982, S. 141).
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In typologischer Hinsicht stand das literarische Buch der Römer gänzlich in der Tradition seines griechischen Vorbilds. Sein Medium war die Papyrusrolle (›volumen‹), die in Majuskelschrift und bewusst ohne Worttrennung in ›scriptio continua‹ in Kolumnen beschrieben wurde.3 Andere Medien der lateinischen Schriftkultur, die seit dem späten 7. Jahrhundert bekannt sind, beschränkten sich auf die Privatsphäre sowie auf die Bereiche der Staatsverwaltung, des Rechts und der Religion. So sprachen Inschriften auf Gebrauchsgegenständen und Schmuck sowie Grabinschriften in Stein vornehmlich im privaten Rahmen zu einer eng begrenzten, aristokratischen Leserschaft. Gesetzestexte und Weihinschriften fanden sich vereinzelt im öffentlichen Raum. Geweißelte Holztafeln (›tabula dealbata‹, ›album‹), hölzerne Wachstafeln (›tabula cerata‹) und Papyrus wurden in der professionalisierten Staatsverwaltung eingesetzt. Bücher aus Leinen (›liber linteus‹), eine etruskische Tradition, verwendeten Priesterschaften zur Tradierung religiöser Texte (vgl. Vogt-Spira 1994, S. 518). Eine breite Leserschaft außerhalb dieser aristokratischen Bereiche kannte das republikanische Rom kaum. Mündliche Modi der Kommunikation waren die Regel (vgl. Harris 1989, S. 157). Wie im griechischen Kulturkreis war auch im römischen die literarische Kultur Teil der Elitekultur. Literarisches Lesen beschränkte sich vornehmlich auf die kleine, vor allem männliche, Gruppe der Oberschicht, die eine entsprechende – meist zweisprachige – literarische und rhetorische Ausbildung genoss (vgl. Kenney 1982, S. 6 f.). Diese literate Kultur ist erstmals für das 1. Jh. v. Chr. anschaulich zu fassen. Lesen zeigt sich einerseits als Darbietung, d. h. als Vorlesen. Der Vortrag (›recitatio‹, ›lectio‹, ›declamatio‹) in aristokratischen Kreisen, sei es als Teil einer eigenständigen Veranstaltung oder seltener eines Festmahls (›convivium‹), diente dem Autor – oft unter Zuhilfenahme eines Vorlesers (›lector‹) – zur Bekanntmachung seiner im Entstehen begriffenen Werke (vgl. Parker 2009, S. 200–206). Erstmals für Asinius Pollio um die Mitte des 1. Jh. v. Chr. bezeugt (Seneca d. Ä., Kontroversen 4,2), wurden diese Lesungen in den Privathäusern von Autoren oder deren Gönnern, in der Kaiserzeit dann auch in offiziellen Bibliotheken und Auditorien abgehalten (vgl. Fantham 1996, S. 84–90). Sie erfreuten sich derartiger Beliebtheit, dass ihre große Anzahl und dichte Abfolge für den einen oder anderen gar zur Plage werden konnte (Plinius d. J., Briefe 1,13,1). Andererseits war die persönliche Beschäftigung mit Literatur und Büchern ein wichtiger Aspekt des politischen und gesellschaftlichen Lebens der römischen Aristokratie (vgl. Johnson 2010, S. 147). Lesen fungierte daher als substanzieller Teil des idealen Tagesablaufs eines Mitglieds der literaten Oberschicht (Beispiele gibt Plinius d. J., Briefe 3,1; 3,5). Selbst die Nachtstunden wurden für die gelehrsame Lektüre genutzt (Plutarch, Brutus 36,4; Aulus Gellius, Attische Nächte, praef. 4). Als Modus des Lesens war dabei allein und für sich lesen ebenso gängig, wie sich von einem Vorleser vorlesen zu lassen (vgl. Parker 2009, S. 199 f.). Lesen war grundsätzlich nicht ortsgebun-
3 Vgl. Kap. 2.2.1 Die Buchrolle und weitere Lesemedien in der Antike, Abschnitt 2.3 in diesem Band.
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den; die an die Bibliotheksräume angrenzende Säulenhalle und der Garten des aristokratischen römischen Hauses waren dennoch dafür prädestiniert (vgl. Cavallo 1999, S. 102 f., 108 f.; vgl. Cicero, An seine Freunde 9,4). Der Besitz von Büchern, also das Sammeln von Werken in sowohl griechischer als auch lateinischer Sprache, wurde so seit dem Ende der Republik Usus. Lesestoff zur Ausstattung seiner Bibliothek, die oft auf mehrere Häuser verteilt war, beschaffte sich der Aristokrat über unterschiedliche Kanäle. Private Publikation durch den Autor selbst, also die eigenhändige Verbreitung der Manuskripte unter den Mitgliedern der Aristokratie, bildete die wichtigste Verbreitungsmethode. Mitschriften bei Lesungen sowie Abschriften geliehener oder konsultierter Werke in Sammlungen anderer waren ebenso üblich (vgl. grundsätzlich Dix 2013). Offizielle, von den Kaisern gespendete Bibliotheken stellten daneben seit dem Ende des 1. Jh. v. Chr. wichtige Sammlungen griechischer und lateinischer Literatur dar; nicht zuletzt von Werken, die aufgrund ihres Alters oder Inhalts im Buchhandel nicht oder nur schwierig zu erwerben waren (vgl. Johnson 2013, S. 361 f.). Buchhändler (›bibliopola‹, ›librarius‹) sind in Rom seit dem Ende der Republik nachweisbar. Sie waren südlich des Forums anzutreffen und luden neben dem Buchkauf auch zum lesenden Verweilen ein (vgl. White 2009, S. 271– 275). Zu Beginn des 2. Jahrhunderts waren literarische Werke bereits in allen größeren Städten des Reichs zu erstehen (vgl. Parker 2009, S. 217). Bücherbesitz war damit in der Kaiserzeit zum festen Bestandteil des gehobenen Lebensstils geworden. Ratgeber zum Aufbau einer Büchersammlung (vgl. Kleberg 1969, S. 20) und die Entwicklung eines antiquarischen und bibliophilen Buchmarkts (vgl. Fantham 1996, S. 15) gehörten damit ebenso zur kaiserzeitlichen Buchkultur wie Klagen über Leute, die Bücher nicht läsen, sondern lediglich zum Schmuck ihrer Wände besäßen (Seneca d. J., Über die Seelenruhe 9,4–7; noch härter ins Gericht geht Lukian von Samosata, Gegen den Ungebildeten, der viele Bücher kauft insb. 4). Die Kultur der römischen Unterschichten war gegenüber derjenigen der Oberschicht stärker mündlich geprägt, der Kontakt mit der literaten Kultur beschränkte sich in der Regel auf den Besuch im Theater (grundlegend Horsfall 2003). Populärliteratur im Sinne neuer, unbeschwerterer Themen und gewiss auch neuer Leserschichten war zwar ein Phänomen der hohen Kaiserzeit (vgl. Cavallo 2001, S. 131 f.), jedoch nicht so sehr im quantitativen als vielmehr im qualitativen Sinne. Ein lesendes Massenpublikum fehlte (vgl. Harris 1989, S. 227). Dennoch bedeutete die römische Kaiserzeit für viele Menschen außerhalb der Oberschicht eine neue Phase in der Geschichte des Lesens. Rom und bald auch die übrigen Städte des Reichs boten Lesestoff in bis dato ungekanntem Ausmaß. Inschriften in Stein, Metall und auf Holz prägten spätestens seit der Herrschaft des Augustus das Stadtbild (vgl. Corbier 1987, S. 30–37; MacMullen 1982). Wie das Beispiel der im Jahre 79 n. Chr. vom Vesuv verschütteten Siedlungen am Golf von Neapel zeigt, waren die Häuserzeilen der Städte zudem voll von geritzten und gemalten Botschaften (eine Forschungsübersicht bei Baird / Taylor 2011). Freilich beherrschte in römischer Zeit nur ein kleiner Teil der Bevölkerung die Fähigkeit, diese Zeugnisse zu lesen. Die
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breite Masse war auf Vermittlung durch Dritte angewiesen. Der Freigelassene Hermeros in Petrons satyrischem Gastmahl des Trimalchio lässt es sich beispielsweise hoch anrechnen, die Majuskelbuchstaben der Steininschriften zu beherrschen (Petronius, Satyrica 58,7). Vorsichtige Schätzungen gehen von einem Anteil der Schreib- und Lesekundigen an der Gesamtbevölkerung von unter 15 % aus (vgl. Harris 1989, S. 267; im Spiegel papyrologischer Evidenz: Palme 2009, S. 359, 379). Zumindest Händler und Handwerker nutzten in mancher Hinsicht ausgiebig die Vorzüge pragmatisch-schriftlicher Aufzeichnung (vgl. Harris 1989, S. 197–206) und dürften sich neben praktischem Lesen zum Teil sicherlich auch für Unterhaltungsliteratur interessiert haben (Cavallo 2001, S. 132). In einem noch stärkeren Maße beruhte die Verwaltung des Reichs auf der Verwendung von Schrift, allerdings unter Einsatz von Spezialisten (vgl. Harris 1989, S. 206–217). Auch das römische Militär verfügte über eine weit entwickelte Bürokratie mit ausgebildeten Fachkräften (vgl. Stauner 2004, S. 214 f.). Nicht zufällig sind es Soldaten, die – in der Ausweitung der professionellen militärischen Praxis – als Schreiber und Leser von privaten Briefen fungierten und die dies an ihre Angehörigen weitergaben (vgl. Derks / Roymans 2002).
4.4 Spätantike Das späte 1. Jh. n. Chr. sah eine technische Neuerung, die die Buchkultur und das Lesen tiefgreifend verändern sollte: den Pergamentcodex. Erstmals greifbar wird das neue Medium in den Jahren 84–86, als der Dichter Martial eine Neuauflage seiner Epigramme in der neuen Form als kommerzielle Neuheit anpreist. Im Gegensatz zur geläufigen Rolle sollte das neue Buch klein, leicht und platzsparend sein, ein idealer Begleiter auf Reisen (Martial, Epigramme 1,2; vgl. Roberts / Skeat 1983, S. 24 f.). Die Form des Codex war der Antike freilich bereits seit langer Zeit von den hölzernen Wachstafeln bekannt. Zu mehreren an einer Kante zusammengebunden bildeten sie ebenfalls ›codices‹, die jedoch vornehmlich für administrative, rechtliche, ökonomische und schulische Schriftpraktiken Verwendung fanden. Wegweisend war schließlich der Austausch des Trägermaterials durch Papyrus bzw. Pergament und die Anwendung auf literarische Werke. Ersteres ist erstmals für Caesar bezeugt (Sueton, Caesar 56,6). Das kommerzielle Abenteuer Martials scheint seiner Zeit dennoch voraus gewesen zu sein. Wie die erhaltenen Zeugnisse aus Ägypten zeigen, löste der Codex die Rolle als bevorzugtes Medium für literarische Texte nur langsam ab. Im 3. Jahrhundert ist erstmals eine substanzielle Codexproduktion festzustellen. Erst zu Beginn des 4. Jahrhunderts erreicht der Codex Parität zur Rolle, um sie schließlich bis ins 5. Jahrhundert fast vollständig abzulösen. Mit dem 6. Jahrhundert wurde, wohl nicht zuletzt aus Gründen der Haltbarkeit, die Verwendung von Pergament gebräuchlicher als diejenige von Papyrus (vgl. Hickey 2008, S. 118 mit Fig. 2). Entscheidenden Anteil an der Ausbreitung des neuen Mediums scheint den Anhängern des Christentums zuzuschreiben zu sein. Sie entwickelten offensichtlich
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von Beginn an eine Affinität für die neue Codexform, um ihre Schriften zu verbreiten (vgl. Gamble 1995, S. 66–81). Die Gründe dafür sind nicht abschließend geklärt, dürften aber nicht zuletzt ideologischer Natur gewesen sein. Das Volumen stand symbolhaft für die pagane Elitekultur; eine bewusste Entscheidung der Christen gegen das Medium der Leitkultur und für ein neues Medium ist deshalb nicht auszuschließen (vgl. Cavallo 2010, S. 11 f.). Der Codex hatte gegenüber der Rolle zudem eine Reihe weiterer Vorteile, die bereits Martial angepriesen hatte. Er war platzsparender und damit billiger als die Rolle; dazu handlicher und leichter zu transportieren. Literarische Werke, die zuvor noch in mehrere Rollen aufgeteilt werden mussten, fanden nun in einem Codex Platz (vgl. Roberts / Skeath 1983, S. 45–53). Das neue Medium veränderte zwar den technischen Lesevorgang. Anstatt gerollt wurde nun geblättert, anstatt zweier Hände wurde nur noch eine Hand benötigt. Die bekannten Modalitäten des Lesens blieben jedoch erhalten. Gelesen wurde auch bei den Christen individuell für sich. In der Gemeinde wurde laut vorgelesen. Die öffentliche Darbietung von Werken setzte sich in die Spätantike fort. Bücher wurden über die bekannten Kanäle, meist durch persönlichen Austausch, verbreitet (vgl. Cavallo 1999, S. 127). Erst mit der vollständigen Christianisierung des Römischen Reichs seit dem 4. Jahrhundert veränderte sich die Leselandschaft grundlegend. Die krisenhaften Zustände der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts hatten zwar die Städte und damit die Zentren der Bildung und literaten Kultur in Mitleidenschaft gezogen (vgl. Pietzner 2008, S. 864 f.). Entscheidender beeinflusste jedoch der nun vornehmlich auf die christlichen Lehren ausgerichtete Lesestoff das Leseverhalten. Aus dem extensiven, breit gefächerten Lesen der hohen Kaiserzeit wurde in der Spätantike ein intensives Lesen. Die Lektüre der heiligen Texte und der Schriften der Kirchenväter stand nun im Vordergrund. Das Memorieren der Texte und die kontemplative Versenkung waren angestrebtes Ziel der Lektüre, wozu auch die eigenhändige Glossierung und Abschrift der Texte gehörte (vgl. Cavallo 2010, S. 12 f.). Ihren charakteristischsten Ausdruck fand diese neue Art des Lesens im seit dem 4. Jahrhundert entstehenden Mönchtum. Die Regeln der klösterlichen Gemeinschaften räumten der Lektüre und dem Studium der kanonischen Schriften einen zentralen Platz ein. Die Klöster unterhielten zu diesem Zweck eigene Bibliotheken, in denen Texte aufbewahrt und in Skriptorien abgeschrieben wurden (vgl. Cavallo 2001, S. 137). Daneben bildeten Kirchen, ebenfalls mit Bibliotheken und Skriptorien ausgestattet, Zentren der christlichen Bildung (vgl. Gamble 1995, S. 120–122, 197 f.). Beide Institutio nen waren maßgebliche Träger des spätantiken Medienwandels von der Rolle zum Codex. Die aufzubringende Übertragungsleistung bedeutete, dass nur ausgewählte Texte in das neue Medium überführt wurden. Pagane Literatur war, sofern sie nicht zum klassischen Bildungskanon gehörte, zweite Wahl (vgl. Gamble 1995, S. 198–202). Die Geschichte der Bibliotheken dieser Epoche ist damit primär eine Geschichte des Verlusts. Mit dem Niedergang der römischen Zentralgewalt und der Partikularisierung des ehemaligen Reichsgebiets in die germanischen Nachfolgestaaten zog sich die Schrift
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kultur und damit das Lesen im Westen seit dem späten 5. Jahrhundert auf die Kirche und insbesondere die Mönchsgemeinschaften der Klöster zurück (vgl. Jochum 1999, S. 54; zum byzantinischen Ostreich Hunger 1989). Hier sollte sie für die nächsten Jahrhunderte des Frühmittelalters ihren festen Sitz haben. Lesen war mit dem Ende der Antike somit wieder eine Domäne von Spezialisten geworden.
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Sabine Griese / Nikolaus Henkel
4.1.2 Mittelalter
Zusammenfassung: Lesen im westlichen Mittelalter (800–1500) ruht auf der Verfügbarkeit der lateinischen Sprache, wie sie sich seit der Antike in ständiger Anpassung an die aktuellen Kommunika tionsbedürfnisse weiterentwickelt hat. Vor dem Hintergrund des Lateins und in Auseinandersetzung mit dieser Sprache gewinnen die Volkssprachen erst langsam ihre eigene Systematik und Struktur und werden zum Instrument des Lesens (und Schreibens). Der vorliegende Beitrag verfolgt Praktiken des Lesens auf unterschiedlichen Feldern des Gebrauchs, zunächst in lateinischer Sprache im Verfügungsbereich der Kirche, des Studiums, der weltlich-laikalen Intelligenz, sodann in der Volkssprache in den verschiedenen Gebrauchsräumen, im vorliegenden Beitrag beschränkt auf Literatur von der althochdeutschen bis zur frühneuhochdeutschen Periode. Abstract: Reading during the Middle Ages (800–1500) in the West was based on access to the Latin language as it had continued to develop since antiquity in constant adaptation to the communicative needs at hand. Against the background of Latin and in contest with it, the vernacular languages only slowly gained their own categorical systems and structures and became instruments of reading (and writing). The present chapter pursues reading practices in various fields of use, first in Latin in the spheres of the church, the university, and lay or secular intellectuals, and then in the vernacular in its various spheres of use, limited in this chapter to literature in the German vernacular from the early Middle Ages to the early modern period.
Inhaltsübersicht 1 Vorbemerkung — 720 2 Forschung und Thesen — 721 3 Lesen in lateinischer Sprache — 724 3.1 Kloster und Kirche — 724 3.2 Lesen als Studium ›klassischer‹ kanonischer Texte — 724 3.3 Scholastische Lektürepraxis — 725 3.4 Lesen innerhalb der laikalen Intelligenz des Spätmittelalters — 726 3.5 Lesestoffe — 726 4 Lesen in der Volkssprache — 727 4.1 Das Zeugnis der deutschen Literatur — 727 4.2 Lesestoffe — 728 4.3 Das Andachts- und Gebetbuch als Gegenstand des Lesens — 729 4.4 Frauen lesen — 730 4.5 Männer lesen — 731 4.6 Lesen auf den Feldern Pragmatischer Schriftlichkeit — 733 4.7 Lesen in Bildern — 733 5 Büchersammlungen als Speicher von Lektüren — 734 6 Fazit — 735 7 Literatur — 735
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1 Vorbemerkung Die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens sind auf die Verfügbarkeit von Schriftlichkeit angewiesen. Sie wird im westlichen Mittelalter (800–1500) von der lateinischen Sprache bereitgestellt. Latein war das einzige im westlichen Europa alle Grenzen überschreitende Medium der schriftlichen wie mündlichen Kommunikation unter den intellektuellen Eliten des 8. bis 16. Jahrhunderts. Seit dem Ausgang der Antike wuchs dieser Sprache eine Wandlungsfähigkeit zu, die sie geeignet machte, alle aktuellen Felder des Wissens und der Kommunikation kompetent zu erfassen: Philosophie, Theologie, Medizin, Mathematik, Naturwissenschaften, Historiographie, Dichtung. Aus dieser Sprache bezogen die vernakulären Idiome die eigentliche Grundlage des Lesens und Schreibens, die Schrift. Dabei zog sich der Ablöseprozess der romanischen Sprachen mit ihrer großen Nähe zum Lateinischen über Jahrhunderte, in Italien bis ins 12./13. Jahrhundert hin. In der Germania stellte sich der Anpassungsprozess schwieriger dar, setzte aber auch bereits im 8. Jahrhundert ein: Für germanische Phoneme, die das lateinische Alphabet nicht abbilden konnte, wie etwa die dentale und die bilabiale Spirans (z. B. engl. th/w), wurden zunächst Runen verwendet (Thorn- und Wynn-Rune), die aber bald durch th bzw. uu/w (doppeltes u) ersetzt wurden (vgl. Parkes 1999, S. 141 f.; Henkel 2004, S. 3173 f.). Die Wortbedeutung von ›lesen‹ bleibt hinsichtlich des semantischen Fächers bis in die Gegenwart relativ konstant, im Germanischen noch ohne die Komponente der Schriftlichkeit: ›lesan‹ (anord.) ›auflesen, aufsammeln‹, also mit Bedeutungen, die bis in die Gegenwart erhalten bleiben (vgl. Wein-lese). Die erst seit dem Althochdeutschen lesan nachweisbare zusätzliche Bedeutung ›Schriftliches / ein Buch lesen‹ tritt hinzu im Zug einer Bedeutungsentlehnung aus lat. legere ›auflesen, sammeln, (vor-) lesen‹ (vgl. Kluge 2011, S. 571). Grundsätzlich gilt: Die mittelalterliche Vermittlung von Schriftkompetenz (Lesen, Schreiben) erfolgte über das Lateinische. Die Institutionen für die Vermittlung dieser Kompetenz waren bis gegen 1200 ausschließlich die Lateinschulen der Klöster und Domstifte (vgl. Ehlers 1996), vom 13. Jahrhundert an traten Lateinschulen der Kommunen hinzu (vgl. Moeller u. a. 1983; Kintzinger u. a. 1996; Grubmüller 2009). Den Ausgangspunkt bildete die sog. Tabula (in der Regel die sieben Bußpsalmen, Pater noster, Credo und Ave Maria) zur Vermittlung einfacher lateinischer Lese- und Schreibkompetenz, es folgten die Elementargrammatik des Donat sowie spezielle Schultexte, wie die spätantiken Disticha Catonis, Fabeln oder Gesprächsbüchlein zur kombinierten Vermittlung von ›litterae‹ und ›mores‹, also sprachlicher Kompetenz und charakterlich-moralischer Gesittung (vgl. Suerbaum 2009). Das weitere Lektürepensum der Lateinschulen, das bis zum 12. Jahrhundert in etwa konstant bleibt (vgl. Glauche 1970), erweitert sich im Spätmittelalter beträchtlich (vgl. Henkel 1988, S. 9–64; Baldzuhn 2009, S. 1–14). Ziel des Unterrichts ist neben der Lese- und Schreibkompetenz die Ausbildung der aktiven Beherrschung des Lateinischen in Wort und Schrift einschließlich der Fähigkeit zu eigener literarischer Textproduktion. Erst ab
4.1.2 Mittelalter
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etwa 1400 sind Schulen belegt, die über die Volkssprache eine auf praktische Bedürfnisse ausgerichtete Schriftkompetenz vermitteln, selten jedoch institutionellen Charakter gewinnen (vgl. Wriedt 1983; Bleumer 2009). Auf dem Fundament der Ausbildung in den Lateinschulen bauen ab dem 12. Jahrhundert, verstärkt seit dem 14./15. Jahrhundert die höheren Studien der Universitäten auf, die die Kompetenzen des Lesens, Erklärens und Argumentierens in den TriviumFächern der Artistenfakultät schulen und für die höheren Fakultäten, insbesondere die Theologie / Philosophie und die Rechte, bereitstellen.
2 Forschung und Thesen Lesen / Vorlesen im europäischen Mittelalter wird in der internationalen Forschung regelmäßig innerhalb eines komplexen Settings von Bildungs-, Gesellschafts- und Institutionengeschichte untersucht, zu dem fallweise Literatur- und Sprachgeschichte hinzutreten können. Soziale Räume der Bildungsvermittlung, die gesellschaftliche Einbettung ihrer Träger und Adressaten, Gegenstände und Methoden kommen auf diese Weise in den Blick (vgl. etwa McKitterick 1990, 1991, S. 65–86; Parkes 1973; Green 1994; Moeller u. a. 1983; Kintzinger u. a. 1996; Grubmüller 2009; Lutz u. a. 2010). Daneben stehen Beiträge, die die Denkfigur einer epochenorientierten (frühes / hohes / spätes Mittelalter) Abfolge einander ablösender Entwicklungsstufen von Strategien und Formen des Lesens zugrunde legen (so etwa Gauger 1994; Chartier / Cavallo 1999; Schön 2001). Sonja Glauch und Jonathan Green (2010) geben einen aktuellen, weitgesteckten, wenn auch, wie sie selbst feststellen, primär germanistischen Überblick über die Forschungsfelder. Geht man von der Aussage der verfügbaren Quellen aus, so stellt man fest: Statistische Daten und belastbares Quellenmaterial zur Lese- und Schreibkompetenz im Mittelalter fehlen (vgl. Wendehorst 1986).1 Eine Annäherung gelingt indes
1 Vgl. dazu Knoop, Ulrich: Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland. In: Hartmut Günther / Otto Ludwig (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Writing and its use. An interdisciplinary handbook of international research. 1. Halbband. Berlin / New York 1994 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 10,1), S. 859–872, hier S. 860. Prozentzahlen über die Lesefähigkeit im Mittelalter gehören zu den nicht belastbaren Aussagen, als Orientierung seien hier vier Forschungsmeinungen angeführt: Zu Beginn der Reformation konnten im Deutschen Reich 10 bis 30 % der Bevölkerung lesen (vgl. Wendehorst 1986, S. 32). Erich Schön geht von einer kleineren Menge aus: »Für die Zeit um 1500 spricht eine Schätzung bei einer Bevölkerung Deutschlands von 13 Mio. und davon ca. 1,5 Mio. Städtern von 75000 als Lesepublikum, also 5 % der Stadtbevölkerung oder weniger als 1 % der Gesamtbevölkerung« (Schön 2001, S. 17). Engelsing (1973) kam in seiner Untersuchung des Analphabetentums auf 3–4 % Leser (angeführt bei Schön 2001, S. 17). Messerli (2010) referiert hierfür Ergebnisse von Neddermeyer (1998), der auf »weit über 100000 qualifizierte Leser schon in der Mitte des 15. Jahrhunderts und auf 300000 um das Jahr 1500« kommt (Messerli, Alfred: Leser, Leserschichten und -grup-
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auf drei Wegen: über vereinzelte personenbezogene Zeugnisse, über die Institutionen, in deren Kompetenz die Sozialisation von Schriftlichkeit liegt, sowie über die Materialität schriftlicher Überlieferung. Einschlägige Belege sind nur zu besonders herausgehobenen und deshalb gut dokumentierten Personen erhalten (vgl. Bumke 2002, S. 596–606), sie sind aber auf Einzelfälle beschränkt und können nicht als repräsentativ für die weltliche Elite insgesamt gelten. Während etwa die Merowingerkönige schreiben konnten (vgl. Wendehorst, S. 12), lebten die karolingischen Hausmeier schriftlos (vgl. Wendehorst, S. 13), der mehrsprachige Karl der Große konnte nicht schreiben, während sein Sohn, Ludwig der Fromme, zumindest Diplome unterschrieben habe (vgl. Wendehorst, S. 13 f.). Kaiser Otto der Große konnte lesen, so auch Otto II.; Heinrich II. konnte lesen und schreiben, ebenso Heinrich IV. (vgl. zu diesem und den folgenden Fällen Wendehorst, S. 16–19). Friedrich I., Barbarossa, habe möglicherweise »in fortgeschrittenen Jahren ein wenig lesen gelernt« (Wendehorst, S. 17), seine zweite Frau Beatrix hingegen galt sogar als gebildet, ›litterata‹. Sicher lesen konnten Friedrichs I. für den geistlichen Stand bestimmter Sohn Philipp von Schwaben, ebenso Kaiser Friedrich II. Von Landgraf Ludwig II. von Thüringen († 1172) ist ein Brief erhalten, in dem er gegenüber dem französischen König Ludwig VII. den Wunsch äußerte, »alle meine Söhne Lesen und Schreiben lernen zu lassen« (Bumke 2002, S. 604). Der größte Teil des Adels scheint in Deutschland aber noch am Ende des 13. Jahrhunderts des Lesens und Schreibens unkundig zu sein (vgl. Bumke 2002, S. 605), auf England und Frankreich trifft das in geringerem Maße zu. Ein Wandel ist erst ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts erkennbar; von Kaiser Friedrich III. (1415–1493) sind eigene Aufzeichnungen erhalten, und sein Sohn, Maximilian I. (1459–1519), habe sogar aus eigenem Antrieb schreiben gelernt; von da an gebe es keinen Herrscher mehr, der nicht schreiben konnte. Gelten diese Zeugnisse gesellschaftlich herausgehobenen Personen, die keine repräsentative Aussage für eine soziale Gruppe, hier des Adels, ermöglichen, sind die Institutionen, zu deren Wirkungsfeldern die Schriftsozialisation und damit auch die Vermittlung von Lesekompetenz gehören, breiter bezeugt. Dies sind vorrangig die bereits erwähnten, bis in die Frühe Neuzeit zu verfolgenden Lateinschulen der kirchlichen Einrichtungen und der Kommunen (vgl. die Beiträge in Grubmüller 2009; Moeller u. a. 1983; Kintzinger u. a. 1996). Für die geistlichen Institutionen waren Vermittlung und Verwaltung von Lese- und Schreibkompetenz verpflichtend, auch verwalteten deren Mitglieder vielfach für den weltlichen Adel die Areale der Schriftlichkeit, vor allem in Historiographie sowie Urkunden- und Verwaltungswesen. Das wird nur teilweise relativiert durch die oft satirisch gefasste Kritik mangelnder Schrift-
pen, Lesestoffe in der Neuzeit (1450–1850). Konsum, Rezeptionsgeschichte, Materialität. In: Ursula Rautenberg (Hrsg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. 2 Bde. München 2010. Bd. 1, S. 443–502, hier S. 464).
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kompetenz bei Vertretern des geistlichen Standes, Mönchen, Kanonikern und Bischöfen, vor allem im 13. und 14. Jahrhundert (vgl. Wendehorst, S. 23). Seit dem späten 14. Jahrhundert änderte sich die Situation, da z. B. adlige Domherren auch Universitäten besuchten und im 15. Jahrhundert, in »der Zeit der Reformkonzilien von Konstanz und Basel […] die Feststellung, daß ein Bischof nicht schreiben könne, bereits zum Vorwurf geworden war« (Wendehorst, S. 24). Die Klosterreformen des 15. Jahrhunderts (Melk, Kastl, Bursfelde) bewirkten zudem »eine Wiederbelebung der klösterlichen Schreibtätigkeit« (Wendehorst, S. 25). Aussagen über die Lese- und allgemeine Schriftkompetenz kann auch die Materialität der Überlieferung bieten. Wo Schriftlichkeit erscheint, ist generell mit Lese- bzw. Vorlesefunktion zu rechnen. Dabei fallen Buchtypen auf, die in großer Zahl tradiert werden und deren Funktion im direkten Zusammenhang mit dem Lesen steht: Handschriften (später Drucke) mit den Schriftlesungen des Kirchenjahrs (Lektionare / Plenarien) oder mit am Jahreslauf ausgerichteten Legendaren, Bücher für die geistliche Andacht und meditierende Lektüre durch den Einzelnen sowie Handschriften kanonischer Texte für das studierende Lesen. Die Produktion von Büchern nimmt stetig zu und weitete sich im 15. Jahrhundert nahezu explosionsartig aus, begünstigt dadurch, dass vom 14. Jahrhundert an Papier als preisgünstiger Beschreibstoff verfügbar war; und ab 1450 brachte der Buchdruck nochmals einen exponentiellen Zuwachs an Schriftlichkeit, bei dem freilich nicht genau zu bestimmen ist, in welchem Verhältnis er zu Lesekompetenz und -bedürfnis steht (vgl. Neddermeyer 1998). Immerhin sind quantitative Aussagen über die Buchproduktion im Druck möglich, aus denen sich eine Anschauung zum einen über den Umfang des zum Lesen bereitstehenden Materials, zum anderen über die Verteilung zwischen lateinischen und volkssprachigen Büchern (italienisch, deutsch, französisch, englisch) gewinnen lässt: Von den rund 28.000 Inkunabelausgaben der Zeit von 1450 bis 1500 sind rund 90 % in lateinischer, 10 % in den europäischen Volkssprachen gedruckt. Von hier aus lässt sich in aller Vorsicht auf die Zeit um 1200 zurückrechnen mit einem Verhältnis von geschätzten 95–98 % lateinischer zu 2–5 % volkssprachiger Schriftlichkeit. Das ermöglicht den Schluss auf eine noch bis 1500 und auch danach ganz überwiegend auf das Lateinische gerichtete Lesepraxis. Im deutschen Sprachraum erreichen erst im Verlauf des 17. Jahrhunderts volkssprachige und lateinische Drucke in etwa gleiche Anteile (vgl. Henkel 2004, S. 3178 f.). Die sonst mehrfach übliche Periodisierung in früh- und hochmittelalterliches sowie frühneuzeitliches Lesen (vgl. z. B. Gauger 1994; Chartier / Cavallo 1999) wird im Folgenden nicht aufgenommen, weil sie durchgängige Phänomene verdeckt. Stattdessen wird Lesen als Kulturtechnik in unterschiedlichen, aber vielfach gleichzeitigen, einander z. T. überlagernden Gebrauchsräumen verfolgt.
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3 Lesen in lateinischer Sprache 3.1 Kloster und Kirche Das meditierende Lesen heiliger Texte wird bereits von der Benedictus-Regel (Anfang 6. Jahrhundert) dem einzelnen Mönch aufgegeben (Kap. 48). Es bietet im wiederholenden, halblaut murmelnden ›Wiederkäuen‹ der Worte (›ruminatio‹) eine das Mittelalter überdauernde Form monastischer Meditation (vgl. Heinzer 2010), bei der sich die physische Aktivität und die Aufnahme des Worts in die Tiefe der Psyche miteinander verbinden. Gegenstände solch eines ›hörenden‹ Lesens sind vor allem die Heilige Schrift sowie die Texte der Kirchenväter. Hier gewinnt das Lesen die Bedeutung geistlicher ›Speise‹. Die Regel gibt an anderer Stelle (Kap. 38) die tägliche Tischlesung durch einen Vorleser auf, dem der gesamte Konvent schweigend zuhört. Abschnitte aus der Ordensregel, aus den Messlesungen des Tages oder aus der Legende des Tagesheiligen u. ä. sind Gegenstand dieser Übung, die im Spätmittelalter beispielsweise bei den Dominikanerinnen von St. Katharina in Nürnberg zu einem eigenen Katalog der Tischlesungen geführt hat (vgl. Willing 2012, S. XXXIX– LXX sowie S. 845–1472) und in monastischen Kongregationen bis in die Gegenwart geläufiger Usus ist. Zur geistlichen Lesepraxis gehört weiterhin der sich wöchentlich wiederholende Gesang des gesamten Psalters in den acht Psalmtönen, wie er fester Bestandteil des Stundengebets der Mönche und des Weltklerus war, sowie etwa die Lesung des Evangeliums in der Messe in den sog. Lektionstönen. Die genannten Praktiken des Lesens im Modus des gregorianischen Gesangs sind seit dem 5./6. Jahrhundert etabliert und behalten europaweit über das Mittelalter hinaus ihre Gültigkeit, zum Teil auch in der (auf Nordeuropa beschränkten) frühen lutherischen Tradition.
3.2 Lesen als Studium ›klassischer‹ kanonischer Texte Das studierende Lesen als Prozess der Erschließung von Texten auf den Ebenen der Form, der Realien und der Sinnstiftung übernimmt das Mittelalter aus der Spät antike, und es wird ohne grundsätzliche Änderungen in die Neuzeit weitergegeben. Institutionalisierte Orte solchen Studiums sind die genannten Lateinschulen, neben die im späteren Mittelalter die Artistenfakultäten der Universitäten treten. Zum Kanon gehören die Klassiker der römischen Antike (Vergil, Horaz, Ovid, Cicero, Seneca etc.) wie auch Werke der Spätantike, etwa die Consolatio Philosophiae des Boethius. Die Einrichtung der für diesen Lesemodus typischen und seit dem 9. Jahrhundert überlieferten Handschriften erlaubt uns die Rekonstruktion solchen studierenden Lesens (vgl. Henkel 2010). Die Texte sind vielfach mit einem differenzierten Instrumentarium der Texterschließung ausgestattet. Dazu gehören
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interlineare lateinische, selten volkssprachige Glossen, die den umschreibenden Nachvollzug des originalen Wortlauts in lateinischer Sprache vorbereiteten, in den auch einzelne Informationen des meist am Rand notierten Kommentars eingehen konnten, der auf Realien, Grammatik und Rhetorik referierte. Für diesen komplexen Vorgang ist die Bezeichnung ›lectio‹ eingeführt. Vorangestellt sind den Texten vielfach inhaltliche Zusammenfassungen (›argumenta‹) und autor- und werkbezogene Einführungen (›accessus‹). In Handschriften mit poetischen Texten (Vergil, Horaz, Lucan etc.) sind einzelne herausgehobene Passagen durch Neumierung für eine Lesung im gesungenen Vortrag präpariert (vgl. Bobeth 2013; Ziolkowski 2007), und zwar vielfach dort, wo spezielle affektbetonte Modi des Ausdrucks (Trauer, Freude) vermittelt werden sollen. Ziel solch eines Verfahrens studierenden Lesens ist, auf der Grundlage eines exemplarischen Texts, aber über ihn hinausgehend, komplexe kulturelle Wissensfelder zu Realien, Grammatik und Rhetorik etc. zu erarbeiten. Lesen in diesem Modus zielt einerseits auf die Vermittlung praktischer Fähigkeiten im schriftlichen wie auch mündlichen Umgang mit der lateinischen Sprache, andererseits auf eine umfassende, textbasierte kulturelle Bildung (vgl. Henkel 2009).
3.3 Scholastische Lektürepraxis Neben diesem Modus des studierenden Lesens der Texte, der sich bis in die Neuzeit fortsetzt, entsteht im 12. Jahrhundert eine neue Praxis, die Strategien entwickelt, mit denen sich die zunehmende Fülle an Schriftlichkeit bewältigen lässt (vgl. Weichselbaumer 2013). Es sind große Summenwerke, die thematisch ausgerichtet, bestimmte Wissenskomplexe zusammenfassten, aufbereiteten und strukturierten und so »das wesentliche Fachwissen in einem bestimmten Bereich bündelten« (Hamesse 1999, S. 165). Beispiele sind die Glossa ordinaria zur gesamten Bibel, in der die voraufgehende Kommentartradition, insbesondere der Patristik, knapp und übersichtlich zusammengefasst ist; weiterhin die Libri sententiarum des Petrus Lombardus, in denen die Lehrsätze der Patristik und späterer Theologen zu den Themen Trinität, Schöpfung, Christologie und Sakramente zusammengestellt und geordnet sind, oder etwa das Decretum Gratiani, in dem Schriftstellen und Aussagen maßgeblicher Theologen, ausgerichtet auf bestimmte kirchenrechtliche Probleme, bereitgestellt werden. Die reiche Überlieferung dieser und vergleichbarer Gesamtdarstellungen erweist ihre Notwendigkeit als »Hilfsmittel der intellektuellen Arbeit« (Hamesse 1999, S. 164) bis ins 16. Jahrhundert. Die Ausstattung der Handschriften und Drucke trägt dem Rechnung und dient einer zielorientierten Wissenserschließung: Indices, Inhaltsverzeichnisse (›tabulae‹), Gliederungsmittel (Überschriften, unterschiedliche Schriftgrößen), Zusammenfassungen (›argumenta‹) oder Summarien und Register zeigen, dass der Lesemodus nicht mehr auf fortschreitende Erfassung eines Texts, sondern auf eine
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zielgerichtete punktuelle, wissens- und problemorientierte Lektüre ausgerichtet war.2 Für das Studium an den mittelalterlichen Universitäten boten Summenwerke dieser Art eine notwendige Arbeitsgrundlage. Im Spätmittelalter wird dieser Modus auch auf das Lesen in der Volkssprache übertragen (vgl. Huot 2010).
3.4 Lesen innerhalb der laikalen Intelligenz des Spätmittelalters Seit dem 12. Jahrhundert ist, zunächst in Frankreich und Italien, bald auch im übrigen Europa, die Herausbildung einer laikalen, also nicht mehr durch kirchliche Aufgaben und Ämter gebundenen Schicht von Intellektuellen zu beobachten, die sich nach der Ausbildung an einer Lateinschule dem Studium an den Universitäten widmen, beginnend mit der obligatorischen Ausbildung in der Artistenfakultät (und vielfach auch hier endend), und der Möglichkeit, das Studium in einer der höheren Fakultäten, d. h. Theologie, Jura (Kanonisches und Römisches Recht) oder Medizin fortzusetzen. Zwar führte das Studium vielfach, auch bereits nach Absolvierung der Fächer des Triviums, in geistliche Berufe, eröffnete aber vielfältige, auch weltliche Tätigkeitsfelder. Dazu gehören etwa die in der Regel juristisch ausgebildeten sog. Gelehrten Räte, die maßgeblich am Aufbau der Territorialstaaten des Spätmittelalters mitwirkten, die akademischen Juristen und Ärzte in unterschiedlichen Positionen. Für die Form des akademischen Unterrichts mittels der Lesung des je spezifischen Texts wurde der erst um 1200 gebildete Begriff ›lectura‹ gebraucht. Er bezeichnet das Vorlesen, Strukturieren und Erläutern, die Bildung von problemerschließenden Quaestionen sowie die davon ausgehende Disputation. Daneben steht für die laikalen Intellektuellen das gesamte Spektrum der lateinischen handschriftlich oder im Druck verfügbaren Schriftüberlieferung zur Lektüre zur Verfügung, wobei sich unterschiedliche Interessenfelder eröffnen: die religiöse Literatur, die im 15. Jahrhundert neue Impulse von italienischen Autoren empfängt, die Klassiker der Antike, deren Bestand durch die humanistischen Wiederentdeckungen bereichert wird, Literatur in griechischer Sprache, die zunächst in Italien studiert wird, Ende des 15. Jahrhunderts aber auch nördlich der Alpen Kenner findet.
3.5 Lesestoffe Das lateinische Mittelalter weist ein komplexes Spektrum von Schriftlichkeit auf, das schon durch seine mediale Verfasstheit zum Lesen bzw. Vorlesen bestimmt war. Dazu gehören die Heilige Schrift und die Texttypen für Stundengebet und Messe sowie der
2 Vgl. dazu Kap. 2.2.2 Das Buch in der Codexform und einblättrige Lesemedien, Abschnitt 2.4.2 und 2.4.3 in diesem Band.
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gesamte Bereich der sich fortlaufend erweiternden und differenzierenden Theologie wie auch der Frömmigkeitsliteratur. Es gehört außerdem dazu das in die Neuzeit weiterzugebende literarische Erbe der Antike, und zwar der römischen und seit der im 12. Jahrhundert einsetzenden Plato- und Aristotelesrezeption auch der griechischen (anfangs in lateinischen Übersetzungen, vom ausgehenden 15. Jahrhundert auch in der Originalsprache). Dazu gehören ebenso die Hervorbringungen der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen: neben der Theologie auch Philosophie, Recht, Medizin, Naturwissenschaften und Mathematik, Musik und Geschichte sowie die Fachliteratur der Artes. Einzelne Gebiete bedienen sich auch der Dichtung als Instrument. ›Schöne‹, d. h. von fachlicher Instrumentalisierung unabhängige Literatur findet sich im Erbe der Antike, im Mittelalter in nennenswertem Umfang erst seit dem 11. Jahrhundert, zunächst in Frankreich, dann auch in Deutschland (Waltharius, Carmina Cantabrigiensia, Carmina Burana etc.).
4 Lesen in der Volkssprache Das Lesen in den Volkssprachen ist vom frühen Mittelalter an bis zum 13./14. Jahrhundert an die anhand des Lateinischen erworbene Schriftkompetenz gebunden. Die Autoren stammen in der Regel aus der Schicht der im Lateinischen sozialisierten Litterati, und nicht selten sind sie auf den Feldern des Lateins wie auch der Volkssprache tätig, bis hin zu Petrarca, Dante und Boccaccio. Das gilt für Europa generell, doch beschränken wir uns im Folgenden auf das Lesen in deutscher Sprache.
4.1 Das Zeugnis der deutschen Literatur Um 865/70 verfasst der Benediktiner Otfrid von Weißenburg sein Evangelienbuch in deutschen Versen und gibt in der lateinischen Widmungsvorrede an seinen Oberhirten, den Mainzer Erzbischof Liutbert, die Bestimmung des Werks an: Der Vortrag (›cantus lectionis‹) solle die Unterhaltung durch weltliche Lieder zurückdrängen. Während diese ›Lieder‹ nur mündlich tradiert wurden, ist Otfrids Text ein Buchwerk, aus dem ein im Lateinischen geschulter Mitbruder vortragen konnte. Otfrid hebt in diesem Zusammenhang auch eigens die Schwierigkeiten hervor, bestimmte phonetische Eigenheiten des Deutschen mit den lateinischen Schriftzeichen so wiederzugeben, dass diese Zeichen das gegenüber dem Lateinischen fremdartige sprachliche Klangbild des Deutschen (›linguae barbaries‹) zu repräsentieren vermöchten, was die grundlegende Voraussetzung des Lesens ist. Die sog. althochdeutsche Literatur dieser Zeit ist nach dem 10./11. Jahrhundert vergessen, ein Neueinsatz erfolgt in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts mit Werken, die auf die Interessen des zumeist leseunkundigen Adels ausgerichtet sind. Sie ori
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entieren sich in vielen Fällen an der Literatur des kulturell vorbildlichen Frankreich, speziell an den Gattungen des Romans und der (sangbaren) Lyrik. Die Autoren sind in der Regel dreisprachig und bearbeiten auf der Grundlage ihrer am Lateinischen eingeübten Gestaltungskompetenz französische Werke in deutscher Sprache. Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue oder Gottfried von Straßburg sind um 1200 markante Repräsentanten dieser Gruppe; ihre Romane in deutschen Versen verfassen sie im Auftrag des mittleren und niederen Adels zum Vorlesen bei bestimmten gesellschaftlichen Anlässen. Exemplarisch ist das bezeugt im Epilog von Veldekes Eneasroman: Zur Hochzeit der Gräfin von Kleve (wohl 1176) hat der Autor sein noch unvollendetes Manuskript des Romans mitgebracht und einer Dame »ze lesene und schouwen« (V. 13445) anvertraut; bei dieser Gelegenheit sei ihm das Werk von einem Literaturliebhaber gestohlen worden. Obwohl die Quellenlage dünn ist, nimmt die Forschung doch an: Lesen und Vorlesen solcher Romanliteratur gehörte um und nach 1200 zu den kulturellen Gesten adliger Unterhaltung, wie auch der Vortrag von Gesang, wie Instrumentalspiel oder etwa auch Schach und Trictrac etc. (vgl. Bumke 2002, S. 721– 729). Wann und in welchem Umfang sich neben dem Vorlesen auch eine individuelle Lektüre annehmen lässt, ist quellenmäßig nicht bezeugt, ist jedoch in jedem Fall für das Spätmittelalter anzunehmen (vgl. Backes 2010). In welchem Umfeld kultureller Beschäftigung sich das Lesen in der Adelsgesellschaft etablieren kann, bezeugt Konrads von Würzburg Roman Engelhard (2. Hälfte 13. Jahrhundert). Von zwei Männern heißt es: »Man sah beide auf vollendete Art lesen und schreiben, sie sprachen / erzählten und sangen mit angenehmer Stimme, sie tanzten und sprangen, sie schossen auch auf eine Scheibe, Schach und das Saitenspiel beherrschten sie über die Maßen gut.«3 In das Ensemble kultureller Gesten ist hier auch, sicher idealtypisch, die Schriftkompetenz mit Lesen und Schreiben inte griert.
4.2 Lesestoffe Ein bemerkenswertes Zeugnis für lesenswerte Literatur um 1200 bietet die an den deutschen Adel gerichtete Lebenslehre des Thomasin von Zerklaere, der Welsche Gast (um 1215/16). Bereits der Prolog zielt darauf: Wer von lauterem Charakter ist und gerne gute Geschichten liest, der tut auch gut daran.4 Denn das, was man liest, solle man
3 »lesen unde schrîben / sach man si beide schône. / in süezer stimme dône / seitens unde sungen. / si tanzten unde sprungen. / si schuzzen ouch ze deme zil. / schâchzabel unde seitenspil / kundens ûzer mâzen wol«, V. 750–757 (Konrad von Würzburg: Engelhard. Hrsg. von Ingo Reiffenstein. 3., neubearb. Aufl. Tübingen 1982 [ATB. 17], S. 33). 4 »Swer gerne list guotiu maere, / ob er dan selbe guot waere, / sô waere gestatet sîn lesen wol«, V. 1–3 (Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hrsg. von Heinrich Rückert. Berlin 1965 [Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters], S. 1).
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in gutes Handeln umsetzen (vgl. V. 4–6). Üble Geschichten hingegen sollen jungen Leuten nicht empfohlen werden (vgl. V. 1023 f.), und Thomasin benennt in seinem Text auch Geschichten, die (vorgelesen) anzuhören oder zu lesen nützlich seien (»nu wil ich sagen, waz diu kint / suln vernemen unde lesen«, V. 1026 f.). Mädchen sollen von vorbildlichen Frauengestalten hören und lesen (wohl auch: vorgelesen bekommen): von Andromache, von Enite, von Penelope und Oenone, Galjena und Blanscheflor sowie von Sordamor (vgl. V. 1030–1038); die Jungen sollen von beispielhaften Rittern hören, von Gawein, von Cliges, Erec, Iwein, sie sollen König Artus in seiner ritterlichen Großzügigkeit nachahmen (vgl. V. 1041–1046). Die Frauenfiguren stammen aus der antiken Literatur, aus dem Antiken-, dem Artus- oder dem Minneroman (Konrad Flecks Flore und Blanscheflur) oder auch aus der Karlsgeschichte. Die jungen Männer finden ihre Vorbilder in Erzählungen aus dem Artuskreis (vgl. dazu Wandhoff 2002). Die drei großen Stoffreservoirs der hochmittelalterlichen weltlichen Literatur sind hier genannt, freilich nur als erziehlich instrumentalisierte Jugendliteratur: Erzählungen / Romane mit Antike-Thematik, aus dem Artus- und aus dem Karlskreis; die Überlieferung zeigt, dass auch Heldenepik und die kleine novellistische Erzähltradition dazuzurechnen sind. Noch im 13. Jahrhundert kommen hinzu die großen Weltchronik-Kompilationen, im weiteren Fortgang des Spätmittelalters erweitert sich das Spektrum des zur Lektüre bereitstehenden Materials so, dass um 1500 nahezu alle Sachbereiche, die bis dahin von lateinischer Schriftlichkeit abgedeckt waren, jetzt, wenngleich in einer auf den Laien ausgerichteten Form, auch in der Volkssprache bereitstehen. In gewisser Verwandtschaft zum monastischen Lesen steht der spezielle Bereich der deutschen Mystik. Die Faszination, die aus der Lektüre der Werke der Mechthild von Magdeburg, Meister Eckharts, Johannes Taulers oder Heinrich Seuses hervorgeht, speist sich aus einer gänzlich anderen, in der Volkssprache neuen Art des Lesens. Lesen wird zu einem Prozess des Sich-Versenkens in das Wort, das zum Einswerden mit Gott, dem ›Wort, das am Anfang war‹, führen kann und soll. Das persönliche, individuelle Lesen ist Voraussetzung für das Gelingen dieses Prozesses.
4.3 Das Andachts- und Gebetbuch als Gegenstand des Lesens Die geistliche Literatur bildet im 15. Jahrhundert einen Großteil der besonders auch in deutscher Sprache produzierten Texte. Vielfach wird die Passion Christi zur Lektüre und als Andachtstext genutzt. Exemplarisch sei das Zeitglöcklein eines sonst nicht weiter bekannten Dominikaners Berthold (15. Jahrhundert) angeführt. In 24 Kapitel gegliedert, erzählt es auf eindringliche und kommentierende Weise das Leben und Leiden Christi.5 Das Vorwort gibt Anweisungen zu den unterschiedlichen Modi des
5 Zu dem Text vgl. Griese 2005. Eine Textausgabe liegt nicht vor, der Text muss nach einem der mittelalterlichen Überlieferungszeugen zitiert werden.
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Lesens: am Tag zu jeder Stunde ein Kapitel oder tagsüber zwölf oder in anderer Weise, je nach dem persönlichen Vermögen. Wichtig sei, dass man kurze Textpassagen lese und keinesfalls übereilt oder unkonzentriert. Zur Unterstützung des Lesens ist der Text optisch aufbereitet: Überschriften, Holzschnitte, Paragraphenzeichen im Text ermöglichen einen Lektüre-Einstieg an beliebiger Stelle (vgl. Griese 2005, S. 12). Andacht und geistliche Betrachtung sind Ziel der Lektüre: »Betrachtung meint dabei einen Wahrnehmungsprozeß, einen lesenden und betrachtenden, d. h. meditierenden Vorgang, wofür im Text die generelle Anweisung lautet: ›Nicht eilends vberlauffen sunder senftiklich, begirlich, gemechlich vnd lieblich lesen vnd hertziglich betrachten‹.« (Griese 2005, S. 13) Die Drucker unterstützen diesen Lese- und Andachtsvorgang dadurch, dass sie ihre Bücher leserfreundlich einrichten (gut lesbare Texttypen, Gliederungen, Register, Blattzählung, Bilder etc.). Die Überlieferung solcher Gebetsund Andachtsbücher in Handschriften und Drucken ist ausgesprochen vielfältig und im Umfang bislang nur schwer abzuschätzen (vgl. die materialreiche Übersicht bei Haimerl 1982; Achten 1987). Sie sind bestimmt für einen Modus des individuellen, sich in die Zwiesprache mit Gott oder den Heiligen versenkenden Lesens, das die meditierende Andacht (etwa an die Geburt oder Passion Christi, die Schmerzen und Freuden Marias) einschließt.
4.4 Frauen lesen In der höfischen Kultur des Mittelalters sind die Frauen diejenigen, deren Interesse an Literatur mehrfach bezeugt ist (vgl. Abschnitt 4.1, die Gräfin von Kleve und der Eneasroman): Frauen lesen.6 »Lesekompetenz wird im Mittelalter in aller Regel anhand des Psalters erworben, nicht nur im Kloster, sondern auch im Milieu höfischer Gesellschaft, und hier vor allem auf Seiten der Frau« (Heinzer 2006, S. 147). Felix Heinzer sieht deswegen im Psalter das »Erstlesebuch« (Heinzer 2006, S. 148) und weist ihm dadurch eine bildungsstrategische Bedeutung zu. Er bezeichnet das Lesenlernen und die Lesefähigkeit im außerklerikalen Bereich der mittelalterlichen Gesellschaft weitgehend als Frauensache (vgl. Heinzer, S. 148). Prototyp für die lesende Frau im Mittelalter ist Maria, die seit Otfrids von Weißenburg Darstellung im Evangelienbuch bei der Verkündigung im Psalter lesend dargestellt wird (vgl. Heinzer, S. 149), was auch für die Bildtradition durchgängig bis in die Frühe Neuzeit gilt.
6 Vgl. dazu Wolf 2006 und Signori, Gabriela (Hrsg.): Die lesende Frau. Wiesbaden 2009 (Wolfenbütteler Forschungen. 121), die das Material ausbreiten sowie konkret zum Psalter Heinzer 2006; vgl. auch Hand, Joni M.: Women, manuscripts and identity in Northern Europe 1350–1550. Farnham u. a. 2013; sowie Blanton, Virginia (Hrsg.): Nun’s literacies in medieval Europe. The Hull dialogue. Turnhout 2013.
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Frauen lesen den Quellen nach überwiegend den Psalter und vorwiegend geistliche Literatur: Legendentexte, Gebets- und Andachtsbücher (vgl. Wolf 2006, S. 176– 184), aber sie haben darüber hinaus Interesse an den Liebesgeschichten des Trojaners Eneas (zum Eneasroman vgl. Abschnitt 4.1) oder am Parzival. Darauf deuten die Reflexe in literarischen Texten: Im Prolog [des Parzival, SG] knüpft der Autor eine Lehre für die Frauen an. Er rechnet ganz offensichtlich mit Rezipientinnen und behauptet sogar am Schluß, seinen Roman für eine Frau geschrieben zu haben, und zwar als ritterlichen Frauendienst. […] Die Frauenlehre im Prolog erweist sich deshalb als nötig, weil der arthurische Roman (und genauso der Parzival), eine Männergeschichte zu sein scheint, die Frauen nichts angeht, da ihnen nur beiläufige Identifikationsfiguren geboten werden. (Mertens 1998, S. 107)
Ein ganz anderes Feld des Lesens in der Volkssprache zeigen die Frauenklöster des Spätmittelalters. Während Messe und Stundengebet lateinisch gefeiert wurden, wurde die obligate Tischlesung zu den Mahlzeiten vielfach in der Volkssprache gehalten. Das Nürnberger Dominikanerinnenkloster St. Katharina ist ein gut dokumentiertes Beispiel. Nach der Reformierung des Klosters in den 1430er Jahren setzte eine intensive Schreibtätigkeit ein, durch die der Lesestoff für die Konventualinnen bereitgestellt wurde, und zwar sowohl für die individuelle Privatlektüre wie auch für die Tischlesung: Psalter, weitere Bibelbücher, zahlreiche Lesepredigten, dazu weitere Texte zur monastischen Kontemplation. Sie formieren ein Lektüreangebot, das genau auf die spirituellen Bedürfnisse der Konventualinnen zugeschnitten war (vgl. Willing 2012; Hasebrink 1996).
4.5 Männer lesen Doch die Literatur des Mittelalters zeigt auch lesende Männer. Helden werden als gebildet markiert (Tristan)7 und Ritter lesend vorgeführt (Gregorius, Wirnt von Gravenberg). Welchen Stellenwert diese innerhalb fiktiver Texte angesiedelten Passagen für eine Kultur des Mittelalters haben, lässt sich nur umrisshaft bestimmen, aber dem Publikum werden diese Szenen als Reflex literarischer Wirklichkeit zugetraut. Einige Zeugnisse können das verdeutlichen. Um 1180 inszeniert Hartmann von Aue sich selbst als lesenden Ritter. Im Prolog zum Armen Heinrich sagt er von sich: ›Ein Ritter war so gelehrt, dass er alles las, was er geschrieben vorfand: Hartmann hieß er und war Ministeriale in Aue. Er prüfte verschiedene Bücher und begann in ihnen zu suchen, ob er etwas finden könnte, womit
7 Heinzer weist auf eine Miniatur der Münchener Tristanhandschrift aus dem 13. Jahrhundert hin (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 51, f. 15v): Der junge Tristan lernt das Lesen anhand des Psalters (vgl. Heinzer 2006, Abb. 16).
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er (seinen Lesern) schwere Stunden erleichtern könnte, was außerdem dem Lobpreis Gottes diente und ihn bei den Leuten beliebt machte.‹8 Intensives Lesen und Nachforschen in Büchern sind die Tätigkeiten des nach einem Sujet suchenden Autors; bezeichnend auch die dreifache Zielsetzung: Den zukünftigen Lesern sollen durch die Lektüre die Last des Alltags erleichtert werden, der Gegenstand soll gottgefällig sein und das Werk soll seinem Autor außerdem noch die Wertschätzung seiner Leser einbringen. Auf diese Weise konstituiert sich eine Programmatik von Lesen, Schreiben und wieder Lesen, die in ihrer Komplexität bemerkenswert ist. Ein innerliterarisches Beispiel bietet Hartmann in seinem Gregorius, einer gedoppelten Inzestgeschichte (Ende des 12. Jahrhunderts). Nachdem der bereits im Inzest gezeugte Gregorius, ohne es zu wissen, zum Landesherrn und Ehemann seiner eigenen Mutter geworden war, wird er uns in täglicher Buße vorgeführt, immer wieder liest er heimlich zur Erinnerung an seine Herkunft auf der Elfenbein-Tafel, die die Mutter dem Neugeborenen mitgegeben hatte: »Die tavel hâte er alle wege / in sîner heimlîchen phlege / verborgen ûf sîner veste, / dâ die niemen weste, / diu dâ bî im vunden was. / an der er tägelichen las / sîn sündeclîche sache« (V. 2277–2283). Hier wird ein Protagonist gezeigt, der als Ritter nicht nur kämpfen, sondern auch lesen kann, sich lesend erinnert und später sogar zum Papst erwählt wird. Ein weiteres Beispiel: Der junge Tristan wird in Gottfrieds von Straßburg Roman (um 1210) in seinem Bildungsgang gezeigt. Die Beschäftigung mit den Büchern, also mit Lesen und Schreiben, empfindet er als bedrückend (»der buoche lêre und ir getwanc / was sîner sorgen anevanc«, V. 2085 f.), im Übrigen aber erscheint er als mehrsprachig gebildet, musikalisch versiert, er beherrscht das Jagen und Reiten. Einen klugen und kultivierten Ritter als Leser zeigt Konrad von Würzburg (13. Jahrhundert) in seiner Verserzählung Der Welt Lohn. Der Ritter sitzt in seiner Kemenate und liest eine Liebesgeschichte, deren Lektüre ihm überaus große Freude bereitet: Er »haete ein buoch in sîner hant, / dar an er âventiure vant / von der minne geschriben. […] sîn fröude was vil harte wît / von süezer rede die er las« (V. 55–57, 60 f.). – Die genannten Beispiele sind keine Quellenbelege im eigentlichen Sinne, sie zeigen gleichwohl situative Arrangements, die auf eine gewisse Vertrautheit mit dem Lesen und dem Umgang mit dem Buch in der Volkssprache hindeuten. Das trifft auch zu auf Bildzeugnisse, die Frauen und Männer als Leser zeigen: Maria in der Verkündigungsszene vor einem aufgeschlagenen Buch, oder die Mutter Anna, wie sie Maria und diese wiederum das Jesuskind im Lesen unterrichtet, oder Ordensfrauen beim Lesen (vgl. Assel / Jäger 1999, bes. S. 642–651; Hanebutt-Benz
8 »Ein ritter sô gelêret was / daz er an den buochen las / swaz er daran geschriben vant; / der was Hartman genant, / dienstman was er ze Ouwe. / er nam im manige schouwe / an mislîchen buochen; / dar an begunde er suochen / ob er iht des vunde, / dâ mite er swaere stunde / möhte senfter machen, / und von sô gewanten sachen, / daz gotes êren töhte / und dâ mite er sich möhte / gelieben den liuten«, V. 1–5 (Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hrsg. von Hermann Paul, neu bearbeitet von Kurt Gärtner, 17., durchges. Aufl. Tübingen 2001 [ATB. 3], S. 1).
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1985, S. 35–55). Wo Männer lesend gezeigt werden, handelt es sich hingegen durchgehend um den in der lateinischen Welt des Lesens beheimateten Typ des Lehrers in der Schulsituation oder des Gelehrten auf der universitären Kathedra oder im Studierzimmer (vgl. Hanebutt-Benz 1985).9
4.6 Lesen auf den Feldern Pragmatischer Schriftlichkeit Lesen und Schreiben in Bereichen, die zur Bewältigung des täglichen Lebens gehören, bekommt im Spätmittelalter einen hohen Stellenwert. Die Regelung von Vertragsangelegenheit durch Urkunden in deutscher Sprache setzt im 13. Jahrhundert ein, verwaltet zunächst in der Regel durch klerikal ausgebildetes Personal, vom 14. Jahrhundert an zunehmend in der Hand von Laien. Die Rechtsprechung in Zivilsachen liegt in den Händen von nicht-akademischen Laienrichtern, für die neben dem mündlichen Recht ›nach altem Herkommen‹ zunehmend die Aufzeichnung in der Volkssprache zur Grundlage wird, die das Lesen und laute Vorlesen bei der Verhandlung verlangt. Die einschlägigen Rechtsbücher: Sachsen- und Schwabenspiegel, Stadtrechte, Weichbildrechte, Bergrechte etc. sind auf diese Lektüremodi auch in Erschließungsinstrumenten (Gliederung, Register etc.) ausgerichtet. In den Bereich pragmatischer Schriftlichkeit gehören zahlreiche weitere Texttypen: Rezeptbücher, Handwerksanweisungen, jegliche Art des Verwaltungsschrifttums der Höfe wie der Kommunen (vgl. Keller 1992; Meier 2002). Lesen ist hier Instrument zur Bewältigung alltäglicher Lebensbedürfnisse und Voraussetzung für deren Gelingen.
4.7 Lesen in Bildern Bilder bieten in der mittelalterlichen Tradition vielfach Abbreviaturen ausführlicher Narrative, die der Betrachter auch lesend erfahren kann. Das Lesen im Bild setzt die Erinnerung an das bereits – vielleicht durch Lesen im Buch – Erfahrene voraus. Wer eine Darstellung Christi, umgeben von den sog. Arma Christi, den Werkzeugen seiner Marter, betrachtet, rememoriert die Geschichte der Passion: die Dornenkrönung und Geißelung, die Annagelung ans Kreuz, den Schwamm mit dem Essig, die Lanze, die seine Seite durchbohrte etc. (vgl. Griese 2011, S. 214 f., 269 f. u. ö.). Wer einen großen Mann mit einem Kind auf der Schulter durch einen Fluss waten sah, wurde an die Legende vom heiligen Christophorus erinnert (vgl. Griese, S. 408 f.), eine Frau mit einem Turm verwies auf das Martyrium der heiligen Barbara. Bilder stehen für Geschichten; sie bilden in diesen und vergleichbaren Fällen in der Tat den ›Lesestoff‹
9 Vgl. dazu auch Kap. 2.2.2 Das Buch in der Codexform und einblättrige Lesemedien, Abschnitt 1.2.2 in diesem Band.
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für die Laien (›litteratura laicorum‹, vgl. Curschmann 2007). Bilder dieser Art können in Form von Skulpturen, Gemälden, aber auch in der Buchillustration, in Einblattdrucken präsentiert werden, mit und ohne Textbeigaben. Die Breite der medialen Möglichkeiten ist vielfältig (vgl. Griese 2011 mit zahlreichen Analysen sowie Henkel 2014). Einem gänzlich anderen Prozess des Lesens ist die Texten beigegebene Buchillu stration zuzuordnen. Hier kann das Bild die Aussage des Gelesenen in einem zweiten Medium reflektieren, deuten, zusammenfassen; es kann als Abbreviatur komplexer Textaussagen eingesetzt werden und nach einem ersten Lesen im Vorgang des Rememorierens das Gelesene wieder präsent machen. Ein markanter Fall aus dem Spätmittelalter ist eine Werkstatt im deutschen Südwesten, die man mit dem Namen Diebold Lauber verbindet (vgl. Saurma-Jeltsch 2001). Hier werden vorwiegend großformatige Codices in der Volkssprache produziert, deren Markenzeichen die durchgängige Text illustration ist. Damit muss es hier sein Bewenden haben.10
5 Büchersammlungen als Speicher von Lektüren Die mittelalterlichen Büchersammlungen bezeugen unterschiedliche Interessen am Lesen und Funktionen der Lektüren. Die geistlichen Institutionen sammeln ihrem Auftrag entsprechend in der Regel lateinische Texte, wobei die erhaltenen Bibliotheksverzeichnisse in ihrer Strukturiertheit Abbilder der geistigen Welt der Sammler und der von ihnen entworfenen Wissenordnungen bieten: Die Abteilungen der Textausgaben der Bibel, der Kommentare, der Schriften der Kirchenväter und -lehrer, die Predigtsammlungen bilden regelhaft den Anfang. Wo auch noch eine Schulbibliothek verzeichnet wird, stehen vielfach die philosophischen und historischen Texte am Beginn, gefolgt von den Poetae, zunächst den antiken, dann den mittelalterlichen. Seit dem 9. Jahrhundert sind solche Verzeichnisse erhalten und wertvolle Zeugnisse für Bestand und Ordnung der geistigen Welt der Zeit.11 Solche Bestände sind nahezu regelmäßig lateinisch ausgerichtet, doch gibt es im Spätmittelalter auch Institutionen mit ausgeprägten Interessen an volkssprachiger Literatur.12 Das Spätmittelalter bietet auch eine große Zahl von Bibliotheken von Intellektuellen aus dem Laienstand. Sie zeigen, dass diese Schicht ein weit über die berufliche
10 Vgl. dazu Meier, Christel: Typen der Text – Bild – Lektüre. Paratextuelle Introduktion, Textgliederung, diskursive und repräsentative Illustration, bildliche Kommentierung, diagrammatische Synthesen. In: Lutz u. a. 2010, S. 157–181; vgl. auch die Einzelbeiträge in Curschmann 2007. 11 Reiches Material bietet die Sammlung der Mittelalterlichen Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, hrsg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1–4, München 1918–1979. 12 Für das Dominikanerinnenkloster St. Katharina zu Nürnberg nennt Willing »726 Codices aus dem Katharinenkloster durch erhaltene Handschriften oder Einträge in den Bücherverzeichnissen des Klosters belegt; von ihnen sind 565 deutsch- und 161 lateinischsprachig« (Willing 2012, Bd. 1, S. XII).
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Tätigkeit hinausgehendes Interesse entwickelt und gewissermaßen ein enzyklopädisches, auch die Volkssprache einschließendes Lesen intendiert. Die in München zum großen Teil erhaltene Sammlung des Nürnberger Arztes Hartmann Schedel (vgl. Hernad 1990, bes. S. 16–37; Wagner 2014) ist ein markantes Beispiel, ebenso die Erfurter Sammlung des Arztes Amplonius Ratink de Berka; sie »gilt als die größte noch geschlossen erhaltene Handschriftensammlung eines spätmittelalterlichen Gelehrten« (Paasch 2001, S. 11). Solche Sammlungen sind exemplarische Belege für das weitgespannte intellektuelle Engagement wie auch für die über ihre Tätigkeitsfelder weit hinausgehenden Leseinteressen der laikalen Intelligenz.
6 Fazit Lesen im Mittelalter ist von einer kaum fassbaren Vielfältigkeit der Institutionen, der bildungsgeschichtlichen Bedingtheiten, der sozialen Gruppen und individuellen Interessen geprägt, von denen auch Praktiken und Formen der Lektüre abhängen. Davon lassen sich einzelne über lange Zeiträume beobachten, andere setzen erst spät ein. Aus der Spätantike stammend und bis weit in die Neuzeit reichend sind die Praktiken des studierenden Lesens kanonischer Texte oder die meditierende ›ruminatio‹ klösterlicher Lektüre ebenso wie der Psalmgesang im Stundengebet und die Evangelienlesung in der Messe oder die monastische Tischlesung. Andere Praktiken gewinnen ihre spezielle Gestaltung erst im Spätmittelalter, etwa im Zusammenhang des universitären Lehrbetriebs. Merkmal ist das gruppen- und institutionenspezifische Nebeneinander unterschiedliche Praktiken des Lesens. Das gilt für die Lektüre in lateinischer Sprache. In der Volkssprache, in der nach bald verschütteten Anfängen (Otfrid), Vorlesen und Lesen erst zögerlich im ausgehenden 12. Jahrhundert einsetzen, beobachten wir Vergleichbares: Vorlesen von Romanen, individuelles Lesen, der Andachtsmodus der Frömmigkeitsliteratur oder die sich ins Wort und in Gott versenkende Lektürepraxis der Mystik sind markante Beispiele aus dem ungemein reichen Inventar an Möglichkeiten des Lesens als kulturellem Gestus der Auseinandersetzung mit der Schriftüberlieferung.
7 Literatur Achten, Gerard: Das christliche Gebetbuch im Mittelalter. 2., verm. Aufl. Berlin 1987. Assel, Jutta / Jäger, Georg: Zur Ikonographie des Lesens. Darstellungen von Leser(inne)n und des Lesens im Bild. In: Bodo Franzmann u. a. (Hrsg.): Handbuch Lesen. München 1999, S. 638–673. Backes, Martina: Lesezeichen. Zur Einrichtung höfischer Romane als Lesetexte am Beispiel des französischen und des deutschen Parzivaldrucks. In: Eckart Conrad Lutz u. a. 2010 (s. u.), S. 387–402.
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Sabine Griese / Nikolaus Henkel
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4.1.2 Mittelalter
737
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4.1.3 Frühe Neuzeit Zusammenfassung: Der Beitrag thematisiert die potenziellen und realen Leserschichten im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit in ihrem Leseverhalten unter Bezugnahme auf den medienhistorischen Kontext. Die dominierenden Lesestoffe und die wichtigsten Lesefunktionen werden vorgestellt sowie die Veränderungen von Lesepraktiken in ihren wesentlichen Entwicklungen und typischen Phänomenen von der Reformation bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nachvollzogen. Außerdem werden die Möglichkeiten der Buchbeschaffung durch Privatpersonen kurz erläutert. Abstract: This essay describes, in a media-historical context, the potential and actual classes of readers in the German-speaking area during the Early Modern period. It explains which books were predominantly read and why, as well as the changes in reading habits from the Reformation to the end of the 18th century. Furthermore it addresses the opportunities individuals had to obtain books.
Inhaltsübersicht 1 Forschungsfelder und -perspektiven — 740 2 Das Lesepublikum des 16. Jahrhunderts und die Medienvielfalt während der Reformation — 741 2.1 Medien, Publikationsformen, Lektürestoffe und ihr Vertrieb — 741 2.2 Funktionen und Modi des Lesens — 745 3 Medien, Publikationsformen und Lektürestoffe im 17. Jahrhundert — 745 3.1 Lesen als Akt der Frömmigkeit und der Identitätsstiftung im Pietismus — 746 3.2 Privater Buchbesitz als Repräsentationskultur und Arbeitsinstrument von Eliten — 748 4 Aufklärung — 749 4.1 Medien, Publikationsformen und Lektürestoffe und ihre Beschaffung — 750 4.2 Neue Lesergruppen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts — 751 4.2.1 Volksaufklärung: Lesestoffe für den ›gemeinen Mann‹ — 751 4.2.2 Das weibliche Publikum — 752 4.2.3 Kinder — 753 4.3 Modeerscheinungen der privaten Lesepraxis — 754 4.4 Organisationsformen kollektiver Rezeptionsmodi — 755 4.4.1 Kollektives, organisiertes Lesen: bürgerliche Lesegesellschaften, Lesezirkel und Lesekabinette — 756 4.4.2 Lesen und Geselligkeit: Literarische Salons im Übergang zur Moderne — 757 4.4.3 Diskurse über das Bücherlesen — 758 5 Forschungsprobleme und -desiderate — 759 5.1 Quantifizierung der Leserschaft — 759 5.2 Datierung von ›Leserevolutionen‹ und Zäsuren der Lesergeschichte im 16. und 18. Jahrhundert — 760 5.3 Desiderate — 760 6 Literatur — 761
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1 Forschungsfelder und -perspektiven In der historischen Leserforschung1 wurden für die Frühe Neuzeit vor allem zwei, die europäische und deutsche Geschichte prägenden geistesgeschichtlichen Strömungen im Hinblick auf ihren Einfluss auf die Lesefähigkeit und das Leseverhalten der Bevölkerung untersucht: die Reformation und die Aufklärung.2 In beiden Epochen wurden spezifische (Leit-)Medien und Publikationsformen für ein jeweils aufnahmefähiges Lesepublikum bereitgestellt. Als zeittypische Medien haben im 16. Jahrhundert insbesondere die Flugschriften der Reformation, im 18. Jahrhundert vor allem die Zeitschriften und Romane die Lesebedürfnisse des Publikums befriedigt und gleichzeitig neuen Bedarf hervorgerufen. Das Lesepublikum der Reformation bildet einen Interessenschwerpunkt besonders in der medienhistorischen Forschung, die sich auf die Wechselwirkung von medialen Angeboten und Lesefähigkeit konzentriert (vgl. Gilmont 1999; Burkhardt 2002; Fuchs 2014). Das Leseverhalten und die Lektürepraxis im Pietismus standen bisher sehr viel weniger im Fokus der historischen Leserforschung als Reformation und Aufklärung, obwohl im pietistischen Milieu eine spezifische Lektürepraxis ausgebildet wurde. Die Erkenntnisse hierüber sind der allgemeinen Pietismus-Forschung zu verdanken, die sich mit dem entsprechenden Buchangebot detailliert auseinandergesetzt und überzeugende Rückschlüsse gezogen hat (vgl. Schrader 1989; Gierl 1997; Gleixner 2005). Für die Zeit der Aufklärung stellten (1) die qualitativen Veränderungen der individuellen Lesepraxis sowie (2) das kollektive, organisierte Lesen (vgl. Prüsener 1972; Dann 1981) in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren zwei wichtige sozialgeschichtliche Forschungsschwerpunkte dar. Die von Rolf Engelsing (1969, 1973, 1974) wiederholt aufgestellte These des Übergangs von intensiven zum extensiven Lesen ist durch neue Forschungsperspektiven, wie dem mentalitätsgeschichtlichen Ansatz von Erich Schön (1987) sowie später von Roger Chartier (1990) und Robert Darnton (1998), kritisiert bzw. modifiziert worden. Neben der Veränderung der Lesepraxis sind für die Aufklärung (3) die zeitgenössischen Wertzuschreibungen an die Kulturtechnik Lesen, insbesondere die Kritik an der Lektüre von Romanen, welche mit den Begriffen ›Lesewut‹ und ›Lesesucht‹ stigmatisiert wurde, ein weiterer Forschungsaspekt. Die in den 1970er und 1980er Jahren rege Forschungstätigkeit im Kontext der deutschen Sozialgeschichte zu den bürgerlichen Lesegesellschaften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (vgl. Prüsener 1972; Dann 1981; forschungsgeschichtlich spät: Sirges 1991) ist auf die vergleichsweise gute Quellenlage mit erhaltenen, gedruckten
1 Zu grundsätzlichen Fragestellungen, zu Methoden und Grundzügen der Geschichte leserhistorischer Forschungen vgl. Kap. 1.5 Historisch-hermeneutische Ansätze der Lese- und Leserforschung in diesem Band. 2 Zum kursorischen Forschungsüberblick für die Zeit von 1450 bis 1850 und speziell zu Bildern vom Leser als potenzielle Quellen vgl. Messerli 2010, dort findet sich auch eine ausführliche Literaturliste.
4.1.3 Frühe Neuzeit
741
wie ungedruckten Mitgliederlisten, Bestandsverzeichnissen und Statuten der Lesegesellschaften zurückzuführen. Dominierende Fragestellungen bezogen sich auf die Entstehung und Entwicklung der bürgerlichen Öffentlichkeit, aus der das moderne literarische Publikum im engeren Sinn resultierte, das sich vom Publikum des 16. und 17. Jahrhunderts sozial und in seiner Lektürepraxis unterscheiden lässt. Dies ist schon 1962 durch die Arbeit von Jürgen Habermas aus soziologischer Perspektive untersucht worden. Das Interesse am Lesepublikum in der Germanistik entstand aus literatursoziologischen Überlegungen, die im Zuge der Arbeiten zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur eine gewisse Konjunktur in den 1960er bis in die 1980er Jahren hatten und heute zugunsten kulturwissenschaftlicher Perspektiven fast aufgegeben wurden. Ein knapper Forschungsaufriss zu neueren Fragestellungen befindet sich bei Markus Fauser (2005, S. 13–26).
2 Das Lesepublikum des 16. Jahrhunderts und die Medienvielfalt während der Reformation Nach dem Humanismus war die Reformation eine weitere geistige Strömung, die den Buchdruck bzw. vielfältige Druckerzeugnisse für ihre flächendeckende Verbreitung nutzte, mit dem Unterschied, dass das Zielpublikum der Reformatoren nun neben dem Gelehrten auch das Laienpublikum umfasste. Nachrichten, aber auch Meinungen, wurden der »druckgestützten Öffentlichkeit des reformatorischen Medienverbundes« (Burkhardt 2002, S. 56) in unterschiedlichen Publikationsformen übermittelt, wobei nicht nur die Schrift, sondern auch das Visuelle, das Bild und die Druckgraphik wichtige Funktionen in der Rezeption übernahmen.3
2.1 Medien, Publikationsformen, Lektürestoffe und ihr Vertrieb Die Medienvielfalt während der Reformation (Flugschriften, Flugblätter, Neue Zeytungen, Bücher) bediente unterschiedliche Lesefähigkeiten und Rezeptionssituationen. Leitmedium der Reformation war die Flugschrift, die zum Massenkommunikationsmittel in der reformatorischen Öffentlichkeit avancierte und im Vergleich mit Büchern schnell hergestellt werden und dementsprechend aktuell sein konnte. Sie wurde in lateinischer Sprache für den gelehrten (theologischen) Diskurs das adäquate Organ und in deutscher Sprache gewährleistete sie die Teilhabe auch Ungelehrter an den
3 Vgl. Kap. 2.2.2 Das Buch in der Codexform und einblättrige Lesemedien, Abschnitt 4.4 und 4.5 in diesem Band.
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reformatorischen Ideen. Der gelehrte Leser blieb zwar im 16. Jahrhundert die primäre Zielgruppe des Buchhandels, aber die »variantenreiche Flugpublizistik« war schon seit dem 15. Jahrhundert eine populäre Mediengattung, die für »Autoren, Drucker, Verleger, Distribuenten und ambulante Kolporteure« (Bellingradt 2013, S. 279) ökonomisch attraktiv war, da die Kapitalbindung gering war und das investierte Geld schnell zurückfloss. Häufig wurden Flugblätter und Flugschriften mit Holzschnitten zur Darstellung und Erläuterung des Inhalts ausgestattet, die auch einem ungeübten Lesepublikum das Textverständnis erleichterten und in der Vorlesesituation unterstützend wirkten. Zum ersten Mal in der Druckgeschichte kamen in erheblicher Anzahl Druck erzeugnisse in deutscher Sprache auf den (Buch-)Markt, und zwar in erster Linie Flugschriften, Broschüren und Einblattdrucke. Theologische Erörterungen, Sendschreiben, Traktate und Sermone gehörten zum reformatorischen Medienangebot. In der Hochphase der Reformation zwischen 1520 und 1526 sind ca. 10.000 bis 11.000 Flugschriften in 10 bis 11 Millionen Exemplaren erschienen (vgl. Endres 1988, S. 220), davon bis zu drei Viertel in deutscher Sprache. Aus diesen Zahlen wurden Rückschlüsse auf die Lesefähigkeit der Bevölkerung gezogen, die nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land deutlich höher als die von Engelsing geschätzten 5 % gelegen haben muss (vgl. Engelsing 1973, S. 10). Thomas Fuchs gelangt auf der Basis der z. B. in Leipzig eingerichteten Schulen zu der Ansicht, dass es in den Städten eine »weitreichende zumindest rudimentäre Lesefähigkeit gegeben haben« (Fuchs 2014, S. 13) muss. Zum herausgehobenen Stellenwert des Buchs als Medium bei Luther hat Holger Flachmann eine umfassende Studie vorgelegt (vgl. Flachmann 1996). Luthers 1520 erstmals gedruckte Schriften An den christlichen Adel deutscher Nation sowie Von der Freiheit eines Christenmenschen erreichten noch im Erscheinungsjahr 15 bzw. 18 Auflagen.4 Pädagogische Anliegen der Reformatoren fanden ihren Ausdruck in Schul- und Universitätsreformen, die die reformatorische Publizistik begleiteten. Luther und Melanchthon waren z. B. an der Einrichtung von Elementarschulen, weltlichen Gymnasien und protestantischen Universitäten 1572 in Marburg, 1544 in Königsberg und 1558 in Jena beteiligt. Die Flugpublizistik stellte nur eine Facette des gesamten Medienmarkts dar. Zweifellos war Luthers Übersetzung der Bibel ein früher ›Bestseller‹. Von der Erstausgabe des sog. ›September-Testaments‹ 1522, das bereits in der ersten Auflage von 3000 Exemplaren im Dezember desselben Jahres vergriffen war und nachgedruckt werden musste, bis zu Luthers Tod 1546 erschienen 90 Voll- und Teilausgaben der Bibel in Wittenberg, 260 auswärtige Ausgaben, dazu 5 Vollbibeln und ca. 90 Einzelausgaben
4 Vgl. Bernstein, Eckard: Humanistische Intelligenz und kirchliche Reformen. In: Werner Röcke / Marina Münkler (Hrsg.): Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. München 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 1), S. 166–197, hier S. 188.
4.1.3 Frühe Neuzeit
743
in niederdeutscher Sprache. Insgesamt wird von einer Millionenauflage ausgegangen.5 Diese dichte Verbreitung der Bibel und ihrer Teilausgaben wäre ohne entsprechende Nachfrage durch Käufer und Leser kaum möglich gewesen. Die gegen Ende des 16. Jahrhunderts enorme Steigerung der jährlichen Titelproduktion (Zahlenmaterial nach Auszählung des VD 166 bei Fuchs 2014, S. 18) ist jedoch kein zwingendes Indiz für eine ebenso gesteigerte Nachfrage und allgemein ansteigende Lesefähigkeit. Da noch weit bis ins 17. Jahrhundert Drucke der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vertrieben wurden, ist davon auszugehen, dass »zu einem großen Teil am Lesermarkt vorbei produziert wurde« (Fuchs 2014, S. 19). Neben der deutschsprachigen Bibel und den reformatorischen Drucken bestand das traditionelle Bücherangebot aus lateinischsprachigen Büchern mit Abhandlungen für gelehrte Zwecke in Theologie, Jurisprudenz und anderen Wissenschaften.7 Noch dominierten die Bedürfnisse der Gelehrten die Buchherstellung, allerdings ist ab dem beginnenden 16. Jahrhundert in den städtischen frühbürgerlichen Schichten bereits reges Interesse an handlungsorientierender Literatur festzustellen. Zur Befriedigung dieser Nachfragen wurden Fachtexte bzw. Fachprosa in deutscher Sprache von Autoren und Verlegern für breitere Leserkreise bereitgestellt.8 Volksmedizinische Schriften mit diätetischen und therapeutischen Anleitungen, Arznei- und Kräuterbücher, auch Kochbücher und ähnliche Bücher berührten die Erhaltung der Gesundheit und die Vermeidung oder Heilung von Krankheiten, die als existenzielle Lebensumstände Rat erforderten. Für diese Fälle stellte der Buchmarkt schon durchaus vielfältige Titel im Bereich des frühen Sachbuchs bzw. in Form von Ratgeberliteratur bereit. Neben den zur Information gedachten Büchern ist Unterhaltungsliteratur fester Bestandteil des Bücherangebots. Die sog. Schöne Literatur umfasste tradierte Epen, Prosabearbeitungen antiker Dramen, Schwanksammlungen, auch Chroniken und (Heiligen-)Legenden. Gängige Titel der erzählenden Literatur waren Prosaromane mit mittelalterlichen Erzählstoffen wie zum Beispiel Herzog Ernst, Die
5 Zu den Ausgaben und der Auflagenstatistik vgl. den Katalog-Beitrag von Weyrauch, Erdmann: Reformation durch Bücher: Druckstadt Wittenberg. In: 550 Jahre Buchdruck in Europa. Wolfenbüttel 1990 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek. 62), S. 53–64. 6 VD 16 = Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts, URL: https://www.bsb-muenchen.de/literatursuche/spezialbestaende/alte-und-seltene-drucke/16jahrhundert-vd-16/ [eingesehen am 3.12.2014]. 7 Vgl. zu den gelehrten Mediendiskursen Fohrmann, Jürgen (Hrsg.): Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert. Wien / Köln / Weimar 2005. 8 Zur deutschsprachigen Fachprosa und ihrer Kommunikationsfunktion vgl. Giesecke, Michael: ›Volkssprache‹ und ›Verschriftlichung des Lebens‹ im Spätmittelalter – am Beispiel der Genese der gedruckten Fachprosa in Deutschland. In: Hans Ulrich Gumbrecht (Hrsg.): Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters. Heidelberg 1980, S. 39–70.
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schöne Melusine, Magelone, daneben Historien wie der Fortunatus sowie zeitgenössische Schwankromane und -sammlungen wie z. B. der Eulenspiegel oder Schimpf und Ernst. Die Prosaromane stellten spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts den unterhaltenden Lesestoff insbesondere für städtische Frauen dar, die darüber hinaus meist nur auf Erbauungsliteratur und den Katechismus zurückgreifen konnten. Eine besonders beliebte Gattung waren die phantastischen, belehrenden Teufelbücher, die nach Heinrich Grimm zwischen 1560 und 1590 in ca. 235.000 Exemplaren verbreitet waren.9 In gradueller Abstufung der finanziellen und intellektuellen Fähigkeiten des Einzelnen gehörten volkssprachliche Prosaliteratur, katechetische Schriften, religiöse Erbauungsschriften, Kalender und praxisbezogene Ratgeberliteratur zum Lektürekanon. Diese verschiedenen Publikationsformen gelangten über unterschiedliche Vertriebswege an die Käufer und Leser. Populäres Schrifttum wurde über Kolporteure und Hausierer den Kunden oft direkt ins Haus geliefert, insbesondere auf dem Land bleibt diese Handelsart bis weit in die Moderne ein gängiger Vertriebsweg. Auch der ortsansässige Buchbinder, der populäre Ware, Kalender, Gesangbücher und Gelegenheitsdrucke führte, war in kleineren und mittleren Städten eine wichtige Vertriebsstelle für gebundene Bücher. Der überregionale, zum Teil internationale Markt- und Wanderhandel mit Büchern, Broschüren und Flugpublizistik dominierte das Geschäft mit dem Endkunden; der Verleger-Sortimenter10 hingegen tauschte sein Bücherangebot auf den Frankfurter und Leipziger Buchmessen mit seinen Buchhandelskollegen, wodurch ebenfalls eine überregionale und internationale Verbreitung garantiert war. Das Erscheinen des ersten gedruckten Messkatalogs11 1564 für die Frankfurter Herbstmesse ist buchhandelshistorisch ein Indiz für die allmähliche Zurückdrängung des überregionalen Wanderhandels zugunsten des Handels an festen Messeterminen im Frühjahr und Herbst.
9 Vgl. Grimm, Heinrich: Die deutschen ›Teufelbücher‹ des 16. Jahrhunderts. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens (AGB) 2 (1960), Sp. 513–570. 10 Verleger-Sortimenter bedeutet die Personalunion von herstellendem und vertreibendem Buchhändler. Im Zeitalter der Tauschgeschäfte, in denen die Bücher Bogen gegen Bogen unabhängig von ihrem Inhalt nur nach ihrer Ausstattung bewertet und bargeldlos getauscht wurden, war es strukturell zwingend erforderlich, verlegerisch tätig zu sein, um am buchhändlerischen Geschäftsverkehr zu partizipieren. Der Verleger-Sortimenter musste genügend Ware zum Tausch mit anderen vorrätig haben, um auf der Buchmesse ins Tauschgeschäft einzusteigen. 11 Messkataloge waren halbjährliche Verzeichnisse zu den Frankfurter und Leipziger Frühjahrs- und Herbstmessen. Sie spiegeln allerdings nur Tendenzen in der Buchproduktion wider, da in den Katalogen nur die Titel verzeichnet wurden, die auf den Messen gehandelt wurden. Druckerzeugnisse, die z. B. nur regionalen oder lokalen Charakter hatten, oder ephemeres Schrifttum wurden in der Regel nicht zur Messe gebracht.
4.1.3 Frühe Neuzeit
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2.2 Funktionen und Modi des Lesens Funktional dominierend war der Leseprozess aus professionellen Erfordernissen. Dazu gehörten liturgische, gelehrte oder administrative Anlässe ebenso wie kaufmännische Zwecke. Aus Hausinventaren rekonstruierter Buchbesitz wohlhabender Kaufleute in den Handelsstädten des 16. und 17. Jahrhunderts deutet auf regelmäßige Lektüre hin, in geringer Anzahl ist dies auch für Handwerker und Kleinhändler nachgewiesen (vgl. Chartier 1999, S. 399 f.). Die finanziellen Mittel und der formale Bildungsgrad waren jedoch nicht zwingend ausschlaggebende Faktoren für die Kenntnis literarischer Stoffe, denn Lesen, Vorlesen und Zuhören standen als Rezeptionsweisen relativ gleichberechtigt nebeneinander. Institutionen literarischer Bildung waren auch volkstümliche Theateraufführungen in den Städten, an denen alle sozialen Schichten kollektiv partizipieren konnten. In ländlichen Gebieten war das Vorlesen, z. B. von Zeitungen, eine typische literarische Praxis bis weit in die Neuzeit (vgl. zum Vorlesen ausführlich Messerli 2010, S. 474–482). Jean-François Gilmont geht von einer »fortbestehenden Verflechtung verschiedener Lesepraktiken« (Gilmont 1999, S. 331) aus: stilles oder leises Lesen als individueller, einsamer Akt, Lesen zu mehreren in kleinem Kreis und schließlich der Wechsel von Vorlesen und Selbstlesen während der Liturgie. Damit werden jedoch lediglich die Lesepraktiken im religiösen Kontext beschrieben. Lesen als Akt der schnellen Informationsgewinnung und des Nachschlagens wurde in der säkularen Berufsausübung zu dieser Zeit bereits regelhaft. Chartier konstatiert für die Zeit der Reformation folgende Veränderung der Lesepraxis (vgl. Abschnitt 5.2): Im Zentrum des Leseprozesses stehe als neues Erleben nun die spirituelle Erfahrung, unabhängig von der Religionszugehörigkeit des Lesers. Chartier argumentiert, Gläubige wurden zum Lesen angehalten, und zwar im lutherischen wie calvinistischen Protestantismus, im Pietismus wie in der katholischen Kirche. Bibel, Andachtsbändchen und Erbauungsbücher wurden in jeder Richtung christlicher Religionsausübung zur spirituellen Erfahrung eingesetzt (vgl. Chartier 1999, S. 50 f.). Quantitativ, soziostrukturell und demographisch blieb das Lesepublikum bis ins frühe 18. Jahrhundert allerdings weitgehend unverändert.
3 Medien, Publikationsformen und Lektürestoffe im 17. Jahrhundert Im Konsens der Forschung wird für das 17. Jahrhundert eine Stagnation oder rückläufige Entwicklung der Alphabetisierung, keinesfalls eine relevante Steigerung, angenommen (vgl. Schön 1999, S. 19). Das Schulwesen erhielt kaum neue Impulse, obwohl in den Städten und vereinzelten Landstrichen die Schulpflicht eingeführt wurde, wie 1642 in Sachsen-Gotha. Die flächendeckende Schulpflicht wurde auf dem Land noch
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bis ins 19. Jahrhundert nicht vollständig umgesetzt. Wesentliche Lesemodi waren im 17. Jahrhundert Informationsgewinnung für Alltag und Berufsleben, religiöse Erbauung und gelehrte Diskurse. Die Auswirkungen des Dreißigjährigen Kriegs auf den Buchmarkt waren verheerend. Zu Beginn war die Buchproduktion auf einem Höchststand von knapp 1600 jährlichen Neuerscheinungen, während des Kriegs sank sie auf weniger als 600 Titel pro Jahr, die auf den Messen gehandelt wurden (vgl. Schön 1999, S. 20). Erst 150 Jahre später hatte sich die jährliche Buchproduktion quantitativ erholt. Der Buchmarkt im Barockzeitalter blieb in erster Linie ein Markt für das gelehrte Publikum, das lateinische Bücher aus professionellen Gründen las und nutzte. Anders als die Buchproduktion fluktuierte die Produktion von Zeitungen während des gesamten 17. Jahrhunderts. So wird trotz stagnierender Alphabetisierungsprozesse insbesondere den periodischen Zeitungen, die ab 1605 erschienen, das Verdienst zugeschrieben, weite Bevölkerungskreise erreicht zu haben und vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg die »Wieder- bzw. Neuentstehung eines Lesepublikums« (Schön 1999, S. 19) beflügelt zu haben. Martin Welke geht davon aus, dass die im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts 50 bis 60 zeitgleich existierenden deutschsprachigen Zeitungen über 250.000 Leser erschlossen haben (vgl. Welke 1981, S. 29 f.).12 Der Medienvielfalt der Frühen Neuzeit stehen unterschiedlich motivierte Büchersammlungen in Privatbesitz gegenüber. Zwei Beispiele können dies veranschaulichen: der auf religiösen Motiven fußende Buchbesitz in pietistischen Kreisen und die aus Prestigegründen zusammengetragene Büchersammlung im barocken Adel.
3.1 Lesen als Akt der Frömmigkeit und der Identitätsstiftung im Pietismus Im Medienkontext der gelehrten Bücher, der deutschen Fachprosa und der periodischen Presse ist das religiöse Buch einer der wichtigsten Lektürestoffe für das bürgerliche Publikum der Frühen Neuzeit. Zwischen 1550 und 1700 erfuhr die literarische Gattung ›Gebetbuch‹ enorme Verbreitung. Es gab lutherische Gebetbücher für jede soziale Schicht, sogar für bestimmte Berufsgruppen (vgl. Vogler 1991). Das »beliebteste Gebetbuch der Zeit« (Niekus Moore 1991, S. 304) war das Paradißgärtlein voller christlichen Tugenden (1666) von Johann Arndt.13 Das religiöse Buch diente nicht nur als Lesebuch, sondern auch als Symbol der kulturellen und religiösen Identität (Überblick und Einzelstudien in Bödeker u. a. 1991). Erbauungsliteratur, Gebetbuch und Bibel, Postillen, auch Psalmen- und Predigtsammlungen gehörten zu den gängigs-
12 Zu den Periodika vgl. Kap. 2.2.3 Zeitung und Zeitschrift in diesem Band. 13 Eine Bibliographie der beliebtesten und weit verbreiteten Titel von Erbauungsliteratur ist im Anhang von Niekus Moore 1991, S. 312–315, zu finden.
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ten Lesestoffen, die in – oft protestantischen – städtischen und ländlichen sozialen Schichten regelmäßig und wiederholt rezipiert wurden (z. B. Laichingen noch für das 18. Jahrhundert bei Medick 1991). Die sicherlich wichtigste Rezeptionsgruppe waren (bürgerliche) Frauen, die diese religiösen Stoffe selbst lasen oder sie sich im familiären Kreis und in nachbarschaftlichen Zusammenkünften gegenseitig vorlasen, z. B. in Spinnstuben oder beim gemeinsamen Nähen (vgl. Niekus Moore 1991). Erbauungsliteratur war ihr alltägliches Gebrauchsgut, was nicht nur für die Hausmutter in pietistischen Familien galt. Der Pietismus war im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts in der Folge der Reformation die wichtigste protestantische Bewegung (lutherisch wie reformiert) und führte zu einer spezifischen Ausprägung von religiöser ›Massenliteratur‹, insbesondere von Flugschriften und anderen wenig umfangreichen Druckschriften (vgl. Schrader 1989). Das typisch pietistische Medienangebot auf dem Buchmarkt und den Handel mit pietistischer Kontroversliteratur hat Martin Gierl (1997, S. 344–413) untersucht. Er konnte zeigen, dass ein funktionierendes Buchhandelsnetz trotz Zensurmaßnahmen in diesem Teilbuchmarkt zur Verfügung stand. In der Pietismus-Forschung wird stets auf die hohe Bedeutung des (autobiographischen) Schreibens und des Lesens für die Anhänger des pietistischen Gedankenguts zum Zweck der Selbstvergewisserung hingewiesen. Bücher »dienten der Einübung der radikalpietistischen Überzeugungen, der Unterweisung und der Meditation« (Fritz 2009, S. 108). Wolfgang Schrader hat am Beispiel der Wirkungsgeschichte der 1698 erstmals, bis 1753 in sieben Bänden und mehreren Auflagen erschienenen Sammelbiographie Historie Der Wiedergebohrenen den Spezialmarkt für pietistische Literatur und exklusiv-pietistische Vertriebswege analysiert (vgl. Schrader 1989, S. 243). Im stationären Buchhandel konnte (radikal-)pietistische Literatur aus Zensurgründen kaum integriert werden, weshalb der Wanderhandel durch Kolporteure die geeignetste und wichtigste Vertriebsform war. Dadurch wurde ein sozial heterogenes, vor allem kleinbürgerliches Publikum erreicht, das bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts aus bis zu 200.000 Lesern und Zuhörern bestanden haben dürfte (vgl. Schrader 1989, S. 259). Insbesondere die Handwerkerschaft zählt Schrader zu den Rezipienten und bestätigt durch seine Analysen den in der lesersoziologischen Forschung beispielsweise von Rudolf Schenda (vgl. Schenda 1988, S. 50) angenommenen überdurchschnittlichen Buchbesitz in pietistischen Kreisen, unabhängig von der sozialen Schichtzugehörigkeit. Der pietistische Bildungsgedanke schloss das Lesen von Büchern als wichtiges Ziel in der Sozialisation von Jungen wie Mädchen ein (vgl. Gleixner 2005, S. 300). Sowohl die wohlhabende Oberschicht als auch weniger bemittelte Schichten versorgten sich mit Lektürestoffen, deren Funktion in der religiösen Inspiration und Erbauung lag. Die religiöse Gebrauchsliteratur war für »breiteste Schichten der Bevölkerung […] die einzige Lektüre gewesen, die einzige Quelle literarischer Bildung und Information« (Schrader 1989, S. 27). Darüber hinaus war es im (radikal-)pietistischen Kontext eine »missionarische und karikative Pflicht« (Schrader 1989, S. 267), Erbauungsliteratur an wenig bemittelte Schichten zu verschenken oder zu erheblich ermäßigtem Preis zu verkaufen.
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Die Rezeptionssituation umfasste noch Lesen und Hören gleichermaßen. Ausdruck der pietistischen Frömmigkeit war einerseits das meist vom Hausvater für das ganze Haus samt Familie und Gesinde gesprochene Morgen- und Abendgebet, andererseits die Lektüre religiöser Texte als fester Bestandteil des alltäglichen Lebens. Ulrike Gleixner hat die pietistisch-bürgerliche Identität, die sich im Schreiben und Lesen entfaltet, untersucht und am Beispiel württembergischer Bürger die pietistische Schreibpraxis auf das dort nachweisbare hohe Leseniveau zurückgeführt (vgl. Gleixner 2005, S. 125). Zur kulturellen Praxis gehörten autobiographische Aufzeichnungen,14 das Schreiben von Tagebüchern15 und das Lesen von Tagebuchaufzeichnungen anderer. Anhand von beispielhaft analysierten bürgerlichen Lebensläufen zeigt Gleixner, dass die Bibel im Zentrum der täglichen Lektüre stand, daneben gehörten Luthers Schriften und pietistische Predigten zum Lektürekanon. Vorlesen und lautes Beten für alle Hausgenossen waren Aufgaben der Hausväter.
3.2 Privater Buchbesitz als Repräsentationskultur und Arbeitsinstrument von Eliten Umfangreiche Privatbibliotheken,16 die über den Besitz weniger Bücher zur Erbauung, Unterhaltung und Information hinausgingen, waren in der Frühen Neuzeit in der Regel eng an gesellschaftliche Funktionseliten gebunden. Dies waren in erster Linie höfische Kreise und zweitens Angehörige gelehrter Professionen. Der bürgerliche private Buchbesitz des Gelehrten ist funktional von den (barocken) Sammlungen in Adelsbibliotheken zu differenzieren. In Hofbibliotheken mit nicht selten mehreren zehntausend Bänden dienten Bücher durch herausgehobene Ausstattungsmerkmale, wie kostbare Einbände und andere ästhetische Elemente, der Repräsentation und hatten neben ihren Inhalten eine hohe kommunikative Bedeutung, die ins Symbolische verweist. Sie sollten »aufgrund eines ständisch geprägten Selbstverständnisses«17 (Arnold 2006, S. 35) ihrer
14 Zu dieser Quellengattung vgl. noch für das 18. Jahrhundert Becher 1991. 15 Vgl. hierzu auch Zeller, Rosmarie: Bräkers geselliger Umgang mit Büchern. In: Markus Fauser, (Hrsg.): Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert. Göttingen 2005, S. 151–174. Das bekannte Beispiel des Toggenburger Bauers Ulrich Bräker (1735–1798) kann für die Lese- und Schreibpraxis im pietistischen Milieu stellvertretend stehen. 16 Zum Begriff der Privatbibliothek sowie zum aktuellen Forschungsstand und den Forschungstendenzen vgl. den ausführlichen Bericht von Fürbeth, Frank: Deutsche Privatbibliotheken des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Forschungsstand und -perspektiven. In: Andrea Rapp / Michael Embach (Hrsg.): Zur Erforschung mittelalterlicher Bibliotheken. Chancen – Entwicklungen – Per spektiven. Frankfurt a. M. 2009, S. 185–208. 17 Arnold stellt das Forschungspanorama vor und spricht Desiderate an. Insgesamt acht Bereiche werden hier als Problemkomplexe für zukünftige Forschungen benannt.
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Besitzer eine spezifische Wirkung in der (höfischen) Öffentlichkeit erzielen und zur »Entwicklung der Memoria« (Arnold, S. 35) beitragen. Damit dienten sie dem kulturellen Gedächtnis. Jüngste Forschungen weiten den Blick auf andere soziale Funktionen von Hofbibliotheken aus. Eine Untersuchung von Sammlerprofilen und Schwerpunkten in Bibliotheken speziell von Fürstinnen im 16. bis 18. Jahrhundert erbrachte das Ergebnis, dass Fürstinnen sich »aller an das Buch geknüpften Praktiken, vom Erwerben und Sammeln über das Lesen und Schreiben bis hin zum Übersetzen« (Bepler / Meise 2010, S. 8) bedienten. Diese Tätigkeiten wurden als »genuin höfische Praxis« etabliert und sollten nicht nur zur Selbstvergewisserung, sondern auch zur »Darstellung und Wahrnehmung des eigenen Ichs und der eigenen Dynastie in der höfischen Öffentlichkeit« (Bepler / Meise 2010, S. 8 f.) dienen. Mit Beginn der Aufklärung wurden Hofbibliotheken auch für eine breitere Nutzung öffentlich zugänglich gemacht. Der (Universal-)Gelehrte war allerdings noch bis Ende des 18. Jahrhunderts für seine Studien weitgehend auf seine Privatbibliothek angewiesen, die ihm als unverzichtbares Arbeitsinstrument Quelle und Basis für das Verfassen seiner eigenen Schriften war. Die Gelehrten-Bibliotheken des 17./18. Jahrhunderts waren erheblich kleiner als die Fürstenbibliotheken, bestanden meist aus bis zu 3000 Bänden (vgl. Raabe 1988, S. 104). Über die Bestände ist die Forschung durch die Auktionskataloge, die für die Bibliotheken nach dem Tod ihrer Besitzer angelegt wurden, vergleichsweise gut informiert. Aufbau und Anlage der Sammlungen spiegeln noch die Universalität zur Hochblüte der Büchergelehrsamkeit von ca. 1680 bis etwa 1750 wider. Lesen und Schreiben sind beim gelehrten Leser untrennbar miteinander verbunden, Exzerpieren und Kompilieren gehören auch noch im 18. Jahrhundert zu gängigen Rezeptionstechniken (vgl. Zedelmaier 2001, S. 11–30; Décultot 2014). Mit Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Fachgebiete und dem Anwachsen der Buchproduktion bildeten sich zunehmend auf die Profession des Gelehrten spezialisierte Bibliotheken heraus.
4 Aufklärung Ein Grundgedanke der Aufklärung begriff den Menschen als bildbares Wesen, das mit Verstand ausgestattet zu rationalen Entscheidungen und vernunftgeleitetem Handeln fähig ist. Vernunft, Rationalität, Humanität, Kritik und Öffentlichkeit, Toleranz und Tugend waren Leitbegriffe der Aufklärung, mit denen ein politischer, sozialer und kultureller Wandel eingeleitet wurde. Zur Verbreitung aufklärerischer Ideen war es zwingend erforderlich, dass Bücher und Periodika in deutscher Sprache abgefasst wurden, um ein möglichst großes, lesefähiges Publikum zu erreichen. Bereits seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert dominierten deutschsprachige Bücher auf dem Buchmarkt: Nach Auszählung der Messkataloge erschienen im Jahr 1600 ca. 29 % der Jahresproduktion in deutscher Sprache; 1681 überflügelten deutschsprachige Drucke
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(52 %) erstmals die lateinischen (48 %); 1800 waren nur noch 4 % der Titel in Latein, aber 96 % auf Deutsch gedruckt (vgl. Schön 1999, S. 20). Mit der Möglichkeit, lesen und schreiben zu lernen, wurde in der Aufklärung gleichzeitig die Verpflichtung verknüpft, sich diese Fähigkeiten auch anzueignen. Schriftbeherrschung wurde in der Aufklärung »zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Norm, der sich der Einzelne immer weniger entziehen konnte« (Messerli 2002, S. 21). Obwohl die Alphabetisierung in den Städten zunahm und dort neben den Elementarschulen meist auch Lateinschulen sowie Realschulen und Gymnasien existierten, kann von einer flächendeckenden Alphabetisierung in allen deutschen Staaten durch verpflichtende Schulbesuche der Kinder zwischen 6 und 14 Jahren kaum ausgegangen werden. Residenzstädte, Handelsstädte und Universitätsstädte weisen jedoch vereinzelt gegen Ende des 18. Jahrhunderts bereits Alphabetisierungsraten von fast 100 % auf – belegt für die Züricher Gegend (vgl. Messerli 2002). Gymnasien dienten der Vorbereitung auf ein Universitätsstudium; Preußen führte dazu 1788 das Abitur als Regelvoraussetzung ein. Im ländlichen Raum wurden nur zögerlich weltliche Schulen eingerichtet, und Schulbesuche blieben unregelmäßig und jahreszeitabhängig, was zu einer ungeübten und entsprechend mangelhaften Lesefähigkeit führte. Das Vorlesen und die mündliche Tradierung von literarischen Stoffen und Wissensbeständen waren auf dem Land noch üblich. Die umwälzenden Veränderungen in der Aufklärung betrafen: (1) neue Lesestoffe, (2) die Erschließung neuer Leserschichten (den ›gemeinen Mann‹, Frauen, Kinder) durch bildungspädagogische Maßnahmen einerseits und durch ökonomische Interessen des Buchhandels andererseits, (3) neue Lesepraktiken, die die traditionellen Funktionen des Lesens erweiterten, und (4) die öffentliche Auseinandersetzung über die zeitgenössischen Phänomene. Es entstand das moderne, literarische Publikum im heutigen Sinn.
4.1 Medien, Publikationsformen und Lektürestoffe und ihre Beschaffung Auf dem deutschen Buchmarkt kam es im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer quantitativen und qualitativen Ausweitung des Literaturangebots. Mit dem Aufkommen neuer, vorwiegend auf Unterhaltung zielender Lektüreangebote änderte sich der Umgang mit dem Buch deutlich. Als neues Medium für das literarisch und kulturell interessierte Bürgertum wurden nach englischem Vorbild ab den 1820er Jahren die ›Moralischen Wochenschriften‹ herausgebracht, deren Verdienst in leserhistorischer Sicht vor allem in der Regelhaftigkeit ihrer Lektüre lag. Deren mediale Eigenschaft Periodizität erforderte einen kontinuierlichen Leserhythmus, der sich auch auf die nichtperiodisch erscheinenden Bücher auswirkte. Neben den vielfältigen literarischen, literaturkritischen, unterhaltenden und allgemeinwissenschaftlichen Zeitschriften wurde die florierende Romanproduktion ab
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der Mitte des Jahrhunderts zum zweiten wesentlichen Impuls für regelmäßige Lektüre im Bürgertum. Von 1750 bis 1760 erschienen 73 Romane, zwischen 1790 und 1800 jedoch schon 1623, im folgenden Jahrzehnt waren es 1700; die Schauspielproduktion lag bei ca. 1000 Titeln pro Jahrzehnt ab 1771 (Zahlen nach Schulte-Sasse 1971, S. 46). Neben Romanen waren vor allem Reisebeschreibungen, Lyrik und Schauspiele, populärwissenschaftliche Schriften zur Naturkunde, Geschichte und Politik u. ä. beliebte Lektürestoffe. Die periodisch wiederkehrenden Almanache ab den ausgehenden 1760er Jahren und die Taschenbücher zum Nutzen und Vergnügen ab den 1780er Jahren oder auch Lifestyle-Zeitschriften wie das Journal des Luxus und der Moden (1786–1827) erweiterten die Funktionen des Lesens hin zur reinen Unterhaltung, ohne die alten Praktiken und Modi völlig zu verdrängen. Tradierte Lesestoffe wie Kalenderliteratur, Katechismus, religiöse Erbauungsliteratur und die Bibel wurden auch weiterhin intensiv bzw. wiederholt gelesen. Ein öffentliches Bibliothekswesen existierte noch nicht, selbst die Universitätsbibliotheken waren wenig benutzerfreundlich organisiert.18 Privatpersonen waren auf den Buchkauf, auf Lesegesellschaften (vgl. Abschnitt 4.4.1) und gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend auf kommerzielle Leihbibliotheken angewiesen, um an Lektüre zu gelangen. Im Gegensatz zu den aufklärerischen Lesegesellschaften waren Leihbibliotheken rein kommerzielle Unternehmen, die gegen Gebühren Bücher verliehen und bisweilen von Buchhändlern als zweites Standbein betrieben wurden (vgl. Martino 1990). Anfangs war das Buchangebot der Leihbibliotheken noch mit wissensvermittelnder wie unterhaltender Literatur zusammengestellt, gegen Ende des Jahrhunderts ging man mehr und mehr dazu über, sich ausschließlich auf das Unterhaltungsbedürfnis der Kunden zu konzentrieren.
4.2 Neue Lesergruppen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Drei neue Lesergruppen wurden während der Aufklärung vom Buchhandel vorrangig erschlossen und mit entsprechend zielgruppengerecht aufbereiteten Lesestoffen versorgt: der ›gemeine Mann‹, Frauen und Kinder.
4.2.1 Volksaufklärung: Lesestoffe für den ›gemeinen Mann‹ Die sog. ›Volksaufklärung‹ entwickelte spezifische Lektürestoffe für soziale Gruppen und Milieus, die am literarischen Leben im engeren Sinn aufgrund mangelnder Bildung und fehlender finanzieller Mittel nicht partizipieren konnten. Im Zentrum
18 Ausnahmen wie die UB Göttingen können hier in ihrer wissenschaftlichen Tragweite keine Berücksichtigung finden.
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des Lesezwecks stand die Nutzanwendung. Sozial lassen sich dem ›Volk‹ die Landbevölkerung, die Dienstbotenschaft und die Tagelöhner sowie die kleinen Handwerker in den Städten zuordnen und synonym mit dem ›gemeinen Mann‹ setzen (vgl. Siegert 1978, Sp. 586 f.).19 Die typischen Lesestoffe für den ›gemeinen Mann‹ bestanden sowohl in religiösen als auch in weltlichen Texten: Zu ersteren gehörten Andachtsbücher, der Katechismus, Gesangbücher, das Neue Testament, Heiligenlegenden und religiöse Kleindrucke, zu letzteren vor allem der Kalender als »Instrument praktischer Lebenshilfe«, des Weiteren bei Hausierern und auf Jahrmärkten zu erwerbende Kleindrucke mit »wunderbare[n] Geschichten, Armesünder- und Liebeslieder, Zauberhistorien, Traumdeutungen und [den] Stoffe[n] der sogenannten Volksbücher des späten Mittelalters« (vgl. diese Auflistung bei Böning / Siegert 1990, Bd. 1, S. XXXII f.). ›Volksaufklärung‹ bedeutet die Vermittlung von Wissensbeständen durch Träger der Aufklärung, seien es Personen wie Pfarrer, Lehrer, Grundbesitzer oder Institutionen, an den ›gemeinen Mann‹. Anweisung und Anleitung beim Leseprozess unterstützten die selbstständige Lektüre. Vor allem die bäuerliche Landbevölkerung war eine Zielgruppe, die mittels didaktisch aufbereiteten, praktischen Ratgebern dazu angeleitet werden sollte, z. B. die Agrarerträge zu steigern. Prototypisch für solchen Lesestoff ist die erfolgreiche Publikationsgeschichte und Rezeptionsweise von Rudolf Zacharias Beckers Noth- und Hilfsbüchlein für Bauersleute (Gotha, Leipzig 1788) untersucht worden (vgl. Siegert 1978). Vernunftgeleitete Informationsaneignung, Beseitigung von Aberglauben und Handlungsanleitung für die Bewältigung des Alltags waren bei der volksaufklärerischen Lektüre die dominierenden Modi des Lesens.
4.2.2 Das weibliche Publikum Um 1770 wurde normativ erwartet, dass jeder Erwachsene unabhängig von Stand und Schicht lesen und schreiben kann, so auch die Frauen des städtischen Bürgertums und auf dem Land (vgl. Messerli 2009, S. 295). Die Sozialisation der Mädchen zielte auf die Erfüllung ihrer späteren Rolle als Hausfrau und Erzieherin der Kinder; keineswegs sollte die Frau gelehrt sein, allenfalls gebildet, wozu die Lesefähigkeit und eine gewisse Fertigkeit im Schreiben gehörten (vgl. Brandes 1994). Bürgerliche Frauen wurden zur wichtigen Zielgruppe der expandierenden Romanliteratur. Schon in den
19 Vgl. bei Böning / Siegert 1990, S. IX, die Definition von ›Volk‹: der »Teil der Bevölkerung, der keine höhere Bildung (durch Hauslehrer, Vorläufer unseres Gymnasiums, Universität) erfahren hat, sozial zusätzlich eingeschränkt auf den ›gemeinen Mann‹ (Adel und Klerus sowie die Familienangehörigen von Männern der […] Bildungsschicht sind somit ohne Prüfung ihrer intellektuellen Schulung oder Fähigkeiten pauschal von der Zurechnung zum ›Volk‹ ausgenommen).«
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›Moralischen Wochenschriften‹ des frühen 18. Jahrhunderts wurden Lektüreempfehlungen für das weibliche Publikum gegeben (vgl. Martens 1975; Brandes 1994). Diese ›Frauenzimmerbibliotheken‹ umfassten neben Schriften zur tugendhaften Lebensführung populärwissenschaftliche und -philosophische Schriften. Die ›Damenbibliothek‹ des ausgehenden Jahrhunderts hingegen setzte sich dann vor allem aus der sog. Schönen Literatur zusammen. Dass die heute noch aktuellen geschlechtsspezifischen Lektürevorlieben hier ihren Anfang nahmen, ist in der Forschung umstritten (vgl. Schön 1990; dagegen Schlichtmann 2001). Spezifische Medienangebote ausschließlich für das weibliche Publikum waren Frauenzeitschriften, die Themen der weiblichen Rollenerwartung bedienten, wie z. B. Pomona für Deutschlands Töchter (Speyer 1783/84) von Sophie LaRoche, auch Almanache und Taschenbücher wie der Frauenzimmer Taschenkalender (Köln 1782) oder Friedrich Schillers Historischer Calender für Damen für das Jahr 1791 (Leipzig 1791, später unter dem leicht geänderten Titel Historisches Taschenbuch für Damen für das Jahr 1793), in dem Schiller seine Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs veröffentlichte.
4.2.3 Kinder Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nahm, ausgelöst durch die Reformpädagogik der Aufklärung, der moderne Kinderbuchmarkt seinen Anfang und schnellen Aufschwung. Ursache war die Wahrnehmung und pädagogische Anerkennung der Kindheit als eigener Lebensabschnitt mit speziellen Bedürfnissen. Der Buchhandel reagierte entsprechend und stellte eigens für junge Leser des Bürgertums konzipierte Medien bereit. Der Pädagoge, Schriftsteller und Verleger Joachim Heinrich Campe beispielsweise arbeitete 1770–1780 den schon 1720 in deutscher Sprache für ein erwachsenes Publikum erschienenen Roman von Daniel Defoe Robinson Crusoe kindgerecht und nach pädagogisch-didaktischen Maßgaben um und versah ihn mit dem Untertitel Ein Lesebuch für Kinder. Bis 1848 erlebte dieses Jugendbuch 40 Auflagen. Neben den Umarbeitungen von Lesestoffen für Erwachsene wurden Originalausgaben speziell für Kinder publiziert. Der Weimarer Verlagsunternehmer Friedrich Justin Bertuch brachte zwischen 1790 und 1830 in monatlichen Lieferungen das Bilderbuch für Kinder in 12 Bänden heraus, das mit 1185 Tafeln und 6000 Kupferstichen reich illustriert war und der kindlichen Auffassungsgabe durch Anschauung von Realien entgegenkam. Die zeitgenössische Kinderliteratur konnte ohne Anleitung selbst gelesen werden, oder sie wurde im Kreis der Familie vorgelesen. Daneben erschienen Kinderzeitschriften wie das Leipziger Wochenblatt für Kinder (1773–1774) oder Christian Felix Weißes Kinderfreund (1776–1781), dessen Subskribentenliste Bettina Hurrelmann analysiert hat und dabei feststellen konnte, dass mehr als 85 % der Abonnenten aus dem Bürgertum stammten, 8,5 % aus dem Adel und lediglich knapp 6 % aus den niederen Ständen (vgl. zur genauen Aufschlüsselung der Berufe Hurrelmann 1974, S. 171–181).
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4.3 Modeerscheinungen der privaten Lesepraxis Der individuelle Umgang mit Lektüre wurde im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts im bürgerlichen Publikum habitualisiert. Die Lesefrequenz nahm zweifellos zu, Lesen wurde fest in den Alltag integriert, wenn auch Engelsings These des Übergangs vom ›intensiven‹, d. h. der wiederholten Lektüre weniger Texte, zum ›extensiven‹ Lesen, d. h. dem einmaligen Lesen vieler Bücher, nicht in ihrer Pauschalität aufrecht erhalten werden kann. Schön z. B. hat der Korrelation von intensiver und wiederholter Lektüre widersprochen (vgl. Schön 1999, S. 23).20 Dennoch wird Engelsings eingängige These weiterhin rezipiert, besonders im internationalen Forschungskontext.21 Im Journal des Luxus und der Moden wurde 1796 ein Lesemöbel, ein Bücherschrank für Damen, angepriesen: Jedes Frauenzimmer von guter Erziehung und Cultur hat gewiss immer einige Lieblingsbücher und -schriftsteller zur Unterhaltung und Nahrung ihres Geistes in einsamen Stunden, und kann also, ohne sich das nachtheilige Ansehen zu geben, die gelehrte Frau zu spielen, einen kleinen Bücherschrank in ihrem Zimmer haben, der ihre litterarischen Lieblinge in sich fasst.22
Aus diesem Zitat sind die Stichworte für eine neue Lesepraxis schnell gefiltert: Lesen ist Ausdruck guter Erziehung und Kultur; Lesen hat eine individuelle Note (›Lieblingsbücher und -schriftsteller‹); Lesen ist Beschäftigung in einsamen Stunden und wird zum intimen Akt. Der »Rückzug aus der gemeinsamen Rezeption […] war […] auch Flucht aus dem paternalen und autoritativen ›Gefängnis‹ des Familienverbands und des Dorfs« (Messerli 2010, S. 469) und beförderte das stille Lesen für sich allein, das bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem eine professionelle Lesepraxis der Gelehrten war. Nun wird es auch zur Lesetechnik des nach Unterhaltung suchenden Bürgertums. Matthias Bickenbach leitet aus dem stillen Lesen ein neues, ein schnelleres Lesetempo ab, das beim lauten Lesen nicht möglich war (vgl. Bickenbach 1999, S. 142–147). Lesen wurde also einerseits individueller und einsamer und entzog sich auf diese Weise der sozialen Kontrolle (zur zeitgenössischen Diskussion vgl. Abschnitt 4.4.3), andererseits waren die Lesestoffe besonders beliebt, die Möglichkeiten zur Anschluss-
20 Schön betont, dass wiederholte Lektüre nicht intensiv sein muss. Er spricht in Abgrenzung zu Engelsing von ›alter‹ und ›neuer‹ Form des Lesens, was allerdings auch wenig aussagekräftig ist, vgl. Schön 1999, S. 23. 21 Vgl. z. B. Fischer, Steven Roger: A History of Reading. London 2003, S. 255: »As of the late seventeenth century Western Europe readers began prioritizing extensive over intensive reading. Hitherto, with little access to printed information, readers had read their few available publications (the Bible, a Book of Hours, pedlar’s booklet and pamphlets) slowly, repeating each word over and over again in purposeful contemplation.« 22 Journal des Luxus und der Moden 11 (1796), Juli-Heft, S. 381. URL: http://zs.thulb.uni-jena.de/ receive/jportal_jparticle_00093440?hl=b %C3 %BCcherschrank [eingesehen am 03.12.2014].
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kommunikation boten. Ein typisches Beispiel ist Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774), das zum Gesprächsstoff gehobener Unterhaltung avancierte und gleichsam ein ›Wertherfieber‹ auslöste, das wiederum in satirischer Überspitzung in den zeitgenössischen Almanachen in Bildern interpretiert wurde.23 Das Publikum griff zu den jeweils aktuellen Novitäten des Buchmarkts nun auch, um in der gesellschaftlichen Konversation auf dem Laufenden zu sein. Über neue Literatur informiert zu sein, wurde eine kulturelle Norm im Bürgertum, die aber nur vorübergehend wirkte und spätestens im literarischen Kanon des Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert obsolet war. Heute kaum noch bekannte, vor allem aber nicht kanonisierte Autoren und Texte der Trivialliteratur wie Siegwart. Eine Klostergeschichte (Leipzig 1776) von Johann Martin Miller oder Rinaldo Rinaldini der Räuber Hauptmann (Leipzig 1799, 5. Aufl. 1801) von Goethes Schwager Christian August Vulpius gehörten zu den attraktivsten Lesestoffen. Ritter-, Räuber- und Schauerromane wurden bis in den Vormärz hinein gerne und viel gelesen. Robert Darnton hat dafür plädiert, in einer Geschichte des Lesens die Leseorte zu berücksichtigen, um Aussagen über Sinn und Zweck der Lektüre treffen zu können (vgl. Darnton 1998, S. 112). Abbildungen dazu finden sich in der Spätaufklärung in den beliebten Almanachen und den sog. Lifestyle-Zeitschriften. Auf Kupferstichen, zum Teil in ganzen Serien, wurden Lesesituationen und Leseorte abgebildet, die anregend wirkten. Die mediale Verflechtung von gerne konsumierten Lesestoffen und Bildern von aktuell beliebten Leseorten oder -situationen hatte den Effekt, Nachahmungen zu stimulieren und als Multiplikator der gängigen Moden zu fungieren. Eine dieser Moden wurde das Lesen in der freien Natur (vgl. Schön 1999, S. 123–168, dort auch Beispiele in Kupferstichen), was vielfach in der Almanach-Literatur abgebildet wurde. Den »Wandel der konkreten Gestaltung der Rezeption« (Schön 1987, S. 29) hat Schön als ›Visualisierung‹ sowie als ›Möblierung‹ und ›Immobilisierung‹ des Körpers beschrieben. ›Visualisierung‹ bedeutet die Dominanz des Auges im Rezeptionsprozess vor anderen Organen wie dem Ohr oder der Stimme; ›Möblierung‹ meint das Lesen eines Buchs am Tisch, was keinen Körperkontakt mehr zulässt, was wiederum die ›Immobilisierung‹ des Körpers erzwingt; d. h., eine neue Art des Lesens reduziert die Körperlichkeit im Leseprozess.
4.4 Organisationsformen kollektiver Rezeptionsmodi Zwei vorwiegend nach 1750 erstmals auftretende Formen kollektiver Lektürepraxis lassen sich durch ihre kommunikative Funktion und ihre gesellschaftlichen Zielsetzungen unterscheiden.
23 Zum Beispiel in Radierungen von Daniel Chodowiecki in: Taschenbuch zum Nutzen und Vergnügen fürs Jahr 1790. Lauenburg [1789].
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4.4.1 Kollektives, organisiertes Lesen: bürgerliche Lesegesellschaften, Lesezirkel und Lesekabinette Der kritische Diskurs des Gelesenen als Voraussetzung für selbstbestimmtes Handeln gehörte zum individuellen wie kollektiven Prozess der Aufklärung. Erstmals in der Geschichte des literarischen Publikums organisierten sich regionale, meist bürgerliche Leserkreise institutionell mit dem Ziel der gemeinsamen Lektüre in Lesegesellschaften. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden zunächst im protestantischen Norden und in der Mitte Deutschlands, später auch im Süden, Lesezirkel und Lesebibliotheken. Der ursprüngliche Anlass für diese kollektiven Zusammenschlüsse war ein finanzieller Vorteil, nämlich die Verbilligung der Lektürestoffe, denn mit den gestiegenen Lesebedürfnissen gingen die privaten Anschaffungsbudgets nicht adäquat einher. Die ersten Lesegesellschaften waren organisatorisch meist Gemeinschaftsabonnements von Zeitschriften, die unter den Mitgliedern reihum zirkulierten. Diesen Lesezirkeln folgten Lesebibliotheken mit der Möglichkeit der Buchausleihe, die ebenfalls exklusiv den zahlenden Mitgliedern vorbehalten war, und schließlich bildeten sich sog. Lesekabinette mit festen Räumlichkeiten, in denen Bücher und Zeitschriften aufbewahrt wurden und sich die Mitglieder trafen, um ganz im Sinne des Aufklärungsgedankens das Gelesene gemeinsam kritisch zu diskutieren. Trotz der grundsätzlich demokratischen Struktur der Lesegesellschaften stammten die meisten Mitglieder aus der sozial homogenen Gruppe des Bürgertums. Die unteren sozialen Schichten konnten sich den nicht ganz geringen Mitgliedsbeitrag kaum leisten. Die Mitglieder rekrutierten sich meist aus den Kreisen der lokalen Geistlichkeit, aus städtischen Beamten, Lehrern, Professoren, Juristen, Ärzten, Angehörigen des Militärs, Kaufleuten, Handwerksmeistern und zu einem geringeren Prozentsatz aus dem niederen Adel (vgl. Prüsener 1972). Frauen und Studenten waren fast immer ausgeschlossen. Die kommunikative Funktion der Lesegesellschaften bestand in der inhaltlichen, wertorientierten Auseinandersetzung mit den Lektürestoffen, führte zur Herausbildung einer literarischen Öffentlichkeit, aus der in der Folge die politisch-kritische Öffentlichkeit resultierte. Allein zwischen 1780 und 1790 wurden ca. 170 neue Lese gesellschaften gegründet, zwischen 1790 und 1800 weitere 200 (Zahlen nach Prüsener 1972, S. 412). Als Institution gaben sie sich Statuten und Gesetze, mit denen die Vereinsgeschäfte geregelt wurden. Auch in der Lektürewahl musste Konsens herrschen. Die Buch- und Zeitschriftenbestände der Lesebibliotheken waren auf Schriften zur Information, Bildung und Belehrung konzentriert. Romanliteratur zur Unterhaltung spielte eine nachgeordnete Rolle. Verbunden mit der gemeinsamen Lektüre war auch ein gewisses Maß an sozialer Kontrolle. Nach der Französischen Revolution gerieten die Lesegesellschaften zum Teil unter den Verdacht, politisch subversiv zu agieren. Im Anschluss an die Überblicksdarstellung von Prüsener sind etliche Studien zu einzelnen Lesegesellschaften und regionale Studien gefolgt, z. B. für Marburg (vgl. Sirges 1991), Jena (vgl. Marwinski 1991), Trier (vgl. Tilgner 2001).
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4.4.2 Lesen und Geselligkeit: Literarische Salons im Übergang zur Moderne Eine andere Form der kollektiven Rezeption von literarischen Stoffen geht zeitlich bereits über die Aufklärung hinaus und reicht bis weit in die Moderne.24 Schon während ihrer Blütezeit wurden die bürgerlichen Lesegesellschaften flankiert von ›Literarischen Salons‹ als Ausdruck ästhetischer Praxis. In Italien bereits seit der Renaissance, in Frankreich seit Beginn des 17. Jahrhunderts als Institution des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens etabliert, wurde der Salon im deutschen Raum im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu einer sozial nicht reglementierten, aber dezidiert urbanen Form des (literarischen) Austauschs. Salons dienten der Erprobung literarisch-ästhetischer Kreativität und der Pflege freundschaftlicher Geselligkeit sowie der sozialen Vernetzung. Der Salon wurde zum Ort der Literaturproduktion, zum Ort der Literaturverbreitung und zur Kritikinstanz (diese Funktionen bei Seibert 1993). Die Salons wurden meist von adeligen oder bürgerlichen Frauen ins Leben gerufen und stellten für sie eine Möglichkeit dar, am literarischen Leben zu partizipieren, denn in den Lesegesellschaften der Aufklärung waren Frauen nicht zugelassen. Dominierend und in ihrer literaturhistorischen Bedeutung anerkannt waren die Initiativen jüdischer Bürgerinnen in Preußen, vor allem in Berlin (vgl. explizit zur Berliner Salonkultur Gaus 199825). Dort wurde 1780 der erste Salon durch Henriette Herz (1764–1847) gegründet, in dem Alexander und Wilhelm von Humboldt, Karl Philipp Moritz und andere verkehrten. Ebenfalls bedeutend durch die Schar der eingeladenen Gäste war der Berliner Salon, den Rahel Varnhagen von Ense, geb. Levin (1771– 1833), zunächst von 1790 bis 1806 führte. Nach ihrer Eheschließung richtete sie einen zweiten Salon ein (1820–1833), der für die Autoren des Jungen Deutschland eine wichtige Adresse wurde. Das Zuhören beim literarischen Vortrag und bei Rezitationen, Musikdarbietungen und Spiele bestimmten die Zusammenkünfte, die auf persönliche Einladung der Salondame stattfanden und eine »eigentümliche Stellung zwischen Öffentlichem und Privatem« (Seibert 1993, S. 5) einnahmen. Petra Wilhelmy-Dollinger unterscheidet zwei Grundtypen Literarischer Salons: den »aristokratisch geprägten Rokokosalon nach französischem Vorbild« und den »bildungsbürgerliche[n] Salon unter dem Einfluß der deutschen Aufklärung« (Wilhelmy-Dollinger 2000, S. 66, 72). Der Literarische Salon war eine Sonderform des Salons, in dem die »Kommunikation von Publikum und Autor institutionalisiert« (Seibert 1993, S. 6 f.) wurde. Rückwirkungen der Salons auf das allgemeine Literaturangebot auf dem deutschen Buchmarkt sind nachweisbar. Sowohl von Henriette Herz als auch von Rahel Varnhagen ist bekannt, dass sie in guten Kontakten zur Verlagsbranche standen, z. B. mit dem Verleger Johann Friedrich Cotta, und ihre Salons als literarisch kritisch wertende
24 Noch in Theodor Fontanes Roman Frau Jenny Treibel oder ›Wo sich Herz zum Herzen findet‹ (Berlin 1893) wird durch die Protagonistin die Salonkultur mit Rezitationen gepflegt. 25 Dort auch eine Liste der Salongäste, Gaus 1998, S. 375–431.
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Instanzen fungierten, die jungen Autoren zu Publikationsmöglichkeiten verhalfen (dazu Seibert 1993, S. 377–384). Das Ziel der Salons lag in Abgrenzung zu dem kritischen Potenzial der aufklärerischen Lesegesellschaften aber in der Vermittlung von literarisch-ästhetischem Genuss. John Ormrod (1985) begründet das Entstehen und den (sozialen) Erfolg der Salons als Reaktion auf die Funktionsveränderung der Lesegesellschaften, die nach 1800 ihre primäre Funktion als Institution der kollektiven Lektüre zugunsten individualisierter Literaturaneignung verloren, wodurch Raum für neue Formen des literarischen Austauschs geschaffen wurde (vgl. Ormrod aufgreifend Seibert 1993, S. 396–405).
4.4.3 Diskurse über das Bücherlesen Die veränderten Lesepraktiken führten zu einer kontroversen öffentlichen Diskussion über das Medium Buch und die Kulturtechnik Lesen besonders im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Der rasche Konsum von unterhaltenden Lesestoffen, wie Romanen, Lustspielen, Ritter-, Räuber- und Schauergeschichten, auch Gedichten und gefälligen Erzählungen, lieferte Pädagogen, Schriftstellern, Philosophen und Theologen den Anlass, den dynamischen Buchkonsum insbesondere der Romanleserinnen als ›Lesesucht‹ und ›Lesewut‹ zu stigmatisieren (Beispiele bei König 1977 sowie Kreuzer 1977). Kritisiert wurden sowohl die Lektürestoffe als auch die Art und Weise des (Viel-)Lesens. Die Frage, wie zu lesen sei, wurde mehrfach aufgeworfen. 1794 erschienen beispielsweise die Vertrauten Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht und über den Einfluß derselben auf die Verminderung des häuslichen und öffentlichen Glücks von Johann Georg Hoche. Die Formulierung ›Verminderung des häuslichen und öffentlichen Glücks‹ verweist direkt auf die befürchteten sozialen Folgen. Der vermeintlich unreflektierte Umgang mit dem Unterhaltungsmedium Buch, die zweckfreie Lektüre, die nicht auf Bildung, Wissenserwerb und die Vermittlung bürgerlicher Tugenden zielte, stand nach Meinung von Zeitgenossen in krassem Widerspruch zum Nützlichkeitsgedanken der Aufklärung. Dominierend in der zeitgenössischen Argumentation sind folgende negative Auswirkungen durch falsche Lesetechniken und eskapistische Lektürestoffe: (1) soziale, die sich besonders bei den Leserinnen in der Vernachlässigung der Alltagspflichten niederschlagen; (2) politische, die den Umsturz der Regierung und aller sittlicher Ordnung einleiten; (3) medizinische, die individuelle Krankheiten wie kollektive Seuchen und Epidemien auslösen (vgl. auch Kreuzer 1977). Diese Argumente sind vordergründig, denn der eigentliche Auslöser der Kritik war die Befürchtung, die gesellschaftlichen Eliten verlören ihre öffentliche Deutungshoheit durch die Zerstörung ihrer kommunikativen Strukturen und Kanäle. Albrecht Koschorke interpretiert die Kritik am Lesen daher als Warnung vor einem Kontrollverlust, der in dreierlei Hinsicht Gefahren für die korporative Gesellschaft nach sich zieht:
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Erstens stützt sich ihr Machtgefüge auf arkane Praktiken und ist deshalb mit Öffentlichkeit im bürgerlichen Sinn unvereinbar. Zweitens macht ein ungeregelter Zeichenfluß individuelle Differenzierungen möglich, die die Konformität der Gruppe vermindern, ohne daß ihnen in dem gegebenen Rahmen funktionale Möglichkeiten entsprechen. Drittens, und das hängt mit dem Aspekt der Individualisierung zusammen, geraten dadurch die imaginativen Begleitprozesse der Zeichenübermittlung außer Kontrolle. (Koschorke 1999, S. 401)
5 Forschungsprobleme und -desiderate 5.1 Quantifizierung der Leserschaft Eines der größten Forschungsprobleme betrifft die quantitativen Angaben zum potenziellen oder realen Lesepublikum ebenso wie zu den regelmäßig Lesenden. Trotz fehlender empirisch-statistischer Befunde sind Prozentzahlen über den Anteil Lesender in einer Epoche immer wieder in der Forschungsliteratur zu finden, obwohl sie kaum haltbar sind und sich häufig widersprechen. Ein Beispiel: Rolf Engelsing schätzte für die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert ca. 5 % Leser (vgl. Engelsing 1973, S. 10). Erich Schön (1999, S. 17) kritisierte dies scharf mit dem Hinweis auf die Vermischung von potenziellem und tatsächlichem Publikum und veranschlagt nur 1 % der Bevölkerung als Leser. Er nimmt des Weiteren um 1700 eine elementare Lesefähigkeit von durchschnittlich 10 bis 20 % der Bevölkerung an, zu Beginn der Reformation in einzelnen Städten sogar 40 bis 50 % (vgl. Schön 1999, S. 18). Recht grobe Schätzungen variieren auch für das 18. Jahrhundert drastisch: Rudolf Schenda nahm für Mitteleuropa um 1770 einen Anteil von 15 % potenzielle Leser an der Gesamtbevölkerung an, um 1800 bereits 25 % (vgl. Schenda 1988, S. 444). Auf die Gesamtbevölkerung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation um 1800 bezogen, errechnet Schön völlig andere Zahlen: Abgesehen von den aus professionellen Gründen lesenden Akademikern betrug der Anteil der regelmäßig Lesenden kaum mehr als 1 % der Erwachsenen. Gelegentliche Leser machten vielleicht 10 % aus (vgl. Schön 1999, S. 27). Elementar lesekundig und damit zu den potenziellen Lesern gehörend war etwa ein Viertel der Bevölkerung, buchstabier- und signierfähig war etwa die Hälfte der Bevölkerung. Ein starkes Land-Stadt-Gefälle ist mit Sicherheit anzunehmen. Methodische Versuche, den empirischen Mangel zu beheben und zumindest regionale Aussagen treffen zu können, wurden in der neueren historischen Leserforschung durchaus unternommen. So wurde die Signierfähigkeit der Bevölkerung anhand von Zivilstandsregistern in einzelnen Städten Ostwestfalens, in Hessen-Kassel, der Magdeburger Börde, in Göttingen und im Harzvorland untersucht mit dem Ergebnis (verschiedene Studien in Bödeker / Hinrichs 1999), dass zumindest konfessionelle Unterschiede auf dem Land kaum zu Buche schlagen, geschlechtsspezifische hingegen schon, so konnten Männer häufiger schreiben als Frauen.
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5.2 Datierung von ›Leserevolutionen‹ und Zäsuren der Lesergeschichte im 16. und 18. Jahrhundert ›Leserevolutionen‹ als Zäsuren in der Lesergeschichte werden gemeinhin dann angenommen, wenn sich die individuelle und kollektive Lesepraxis quantitativ oder qualitativ massiv verändert. Nach Chartier ist im 16. und 17. Jahrhundert eine zweite Lese revolution anzusiedeln (nach einer von ihm angenommenen ersten Leserevolution im 12./13. Jahrhundert, als das leise Lesen das laute aufgrund der veränderten Textgestalt abgelöst hatte). Er misst der Verbreitung religiöser Texte in der Folge von Reformation (und Gegenreformation) hohe Bedeutung zu. Die Lektürepraxis, die diese zweite Leserevolution beschreibt, ist das Modell der spirituellen Erfahrung beim Lesen der Bibel, das »eine Beziehung zum geschriebenen Text von besonderer Intensität« (Chartier 1999, S. 52) definiert. Dieser Ansicht stehen Einschätzungen von Engelsing (1969) und anderen entgegen, die eine ›Erste Leserevolution‹ ab 1750, vor allem im ausgehenden 18. Jahrhundert datieren. Diese ›Erste Leserevolution‹ wird von einer ›Zweiten Leserevolution‹ im 19. Jahrhundert abgegrenzt, die im Gegensatz zur ersten keine qualitativen Änderungen der Lesepraxis mit sich brachte, sondern ein massives quantitatives Anwachsen des Lesepublikums bezeichnet. Am Ende des 19. Jahrhunderts sind Vollalphabetisierung und Massenmarkt die sichtbaren Resultate.
5.3 Desiderate Ein wesentliches Desiderat sind aufgrund der unbefriedigenden Quellensituation valide Aussagen zum Lesepublikum im 17. Jahrhundert, das leserhistorisch kaum aufgearbeitet ist. Auch die Fragen nach den Modi des Lesens, den Anlässen und Rezeptionssituationen oder der Lektüretechnik können nur anhand von individuellen Lebenszeugnissen geklärt werden, wenn überhaupt. Robert Darnton hat 1998 recht schlichte Fragen formuliert, die die historische Leseforschung beantworten müsse: Wer, Was, Wo, Wann, Warum und Wie? Mit den ersten vier Fragewörtern zielte er auf die ›externe Geschichte des Lesens‹: die historische Entwicklung der Alphabetisierungsraten, der Buchproduktion und die Geschichte der institutionellen Bedingungen des Lesens. Die Fragen des Warum und des Wie sind hingegen noch kaum beantwortet. Besonders das Wo des Lesens ist ein Desiderat, denn die Analyse des realen Leseplatzes erhellt möglicherweise das Wesen des Lese-Erlebnisses. Hier ist noch erheblicher Forschungsbedarf zu konstatieren.
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6 Literatur Arnold, Werner: Die Erforschung von Adelsbibliotheken. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 31 (2006), Heft 1, S. 35–45. Becher, Ursula A. J.: Religiöse Erfahrung und weibliches Lesen. Zu einigen Beispielen des 18. Jahrhunderts. In: Bödeker u. a. 1991 (s. u.), S. 316–334. Bellingradt, Daniel: Flugschrift. In: Natalie Binczek u. a. (Hrsg.): Handbuch Medien der Literatur. Berlin / Boston 2013, S. 279–282. Bepler, Jill / Meise, Helga (Hrsg.): Sammeln, Lesen, Übersetzen als höfische Praxis der Frühen Neuzeit. Die böhmische Bibliothek der Fürsten Eggenberg im Kontext der Fürsten- und Fürstinnenbibliotheken der Zeit. Wiesbaden 2010 (Wolfenbütteler Forschungen. 126). Bickenbach, Matthias: Von den Möglichkeiten einer ›inneren‹ Geschichte des Lesens. Tübingen 1999 (Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte. 20). Bödeker, Hans Erich / Hinrichs, Ernst (Hrsg.): Alphabetisierung und Literalisierung in Deutschland in der frühen Neuzeit. Tübingen 1999 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. 26). Bödeker, Hans Erich / Chaix, Gerald / Veit, Patrice (Hrsg.): Le livre religieux et ses pratiques. Études sur l’histoire religieux en Allemagne et en France à l’èpoque moderne. Der Umgang mit dem religiösen Buch. Studien zur Geschichte des religiösen Buches in Deutschland und Frankreich in der frühen Neuzeit. Göttingen 1991 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. 101). Böning, Holger / Siegert, Reinhart: Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1800. 3 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990–2001. Brandes, Helga: Die Entstehung eines weiblichen Lesepublikums im 18. Jahrhundert. Von den Frauenzimmerbibliotheken zu den literarischen Damengesellschaften. In: Goetsch (1994) (s. u.), S. 125–134. Burkhardt, Johannes: Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medien revolution und Institutionenbildung 1517–1617. Stuttgart 2002. Chartier, Roger / Cavallo, Guglielmo (Hrsg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt a. M. / Paris 1999. Dann, Otto (Hrsg.): Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich. München 1981. Darnton, Robert: Erste Schritte zu einer Geschichte des Lesens. In: Ders.: Der Kuß des Lamourette. München 1998, S. 98–134. Décultot, Elisabeth (Hrsg.): Lesen, Kopieren, Schreiben. Lese- und Exzerpierkunst in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Berlin 2014. Endres, Rudolf: Die Verbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit zur Zeit der Reformation. In: Harald Dickerhoff (Hrsg.): Festgabe Heinz Hürten zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M. u. a. 1988, S. 213–223. Engelsing, Rolf: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens (AGB) 10 (1969), S. 945–1002. Engelsing, Rolf: Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft. Stuttgart 1973. Engelsing, Rolf: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500–1800. Stuttgart 1974. Fauser, Markus: Konzepte und Perspektiven der Forschung. In: Ders. (Hrsg.): Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert. Göttingen 2005, S. 13–26. Flachmann, Holger: Luther und das Buch. Eine historische Studie zur Bedeutung des Buches im Handeln und Denken des Reformators. Tübingen 1996 (Spätmittelalter und Reformation. N. R. 8).
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4.1.4 Moderne Zusammenfassung: Der Beitrag thematisiert das Lese- und Mediennutzungsverhalten in Deutschland während der Moderne von etwa 1800 bis 1945 sowie die dominierenden Lesestoffe und die wichtigsten Lesefunktionen. Die Entstehung des Massenmarkts im 19. Jahrhundert und die Bedeutung von Buch und Lesen in verschiedenen Lesergruppen und sozialen Milieus werden erläutert; das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts sowie der Wandel im Käuferpublikum und im Lesegeschmack während der Weimarer Republik werden besonders betrachtet. Auch die Möglichkeiten der Buch beschaffung durch Privatpersonen werden kurz skizziert. Abstract: This essay describes reading habits and media usage in Germany during the modern period from about 1800 to 1945, as well as the most common reading materials and the most important functions of reading. It discusses the development of the mass market in the 19th century and the significance of books and reading in various groups and classes. Particular focus is placed on the educated middle class in the 19th century as well as the change in customers and reading habits during the Weimar Republic. Furthermore, it addresses the ways in which individuals were able to obtain books and which ones they favored.
Inhaltsübersicht 1 Forschungsfelder und -perspektiven — 765 2 Mediale Vielfalt und Leserschichten von 1800 bis zum Ersten Weltkrieg — 768 2.1 Medienangebote, Lektürestoffe und ihre Verbreitungswege — 768 2.2 Literarisches Publikum und Lesen mit Anschlusskommunikation — 772 2.2.1 Lesepraxis und Buchbesitz im bürgerlichen Publikum — 773 2.2.2 Bildungsangebote der Arbeiterbewegung — 777 2.2.3 Lesen auf dem Land — 779 3 Neue Publikumsschichten in der Weimarer Republik — 780 3.1 Lesen und Lektüre im Freizeitverhalten der Großstädter — 781 3.2 ›Neue Medien‹ und ihre Wechselwirkung mit dem Buchmarkt — 782 3.3 Angebote für spezielle Leseinteressen durch Buchgemeinschaften — 783 3.4 Empirische Untersuchungen zur Bibliotheksnutzung in den Leipziger Bücherhallen — 784 4 Lesen im ›Dritten Reich‹ — 786 5 Forschungsprobleme und -desiderate — 787 5.1 Empirische Daten — 787 5.2 Das Leseverhalten der Landbevölkerung — 788 5.3 Buchbesitz — 788 6 Literatur — 789
1 Forschungsfelder und -perspektiven In der Frühen Neuzeit hatten in erster Linie die geistigen Einflüsse der Reformation und der Aufklärung ausschlaggebende Impulse für Veränderungen auf dem Buchmarkt und im Leseverhalten geliefert. In der Moderne waren weniger geistige
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Strömungen für Entwicklungsprozesse in der Lesepraxis verantwortlich, sondern vielmehr wurden neben der allgemeinen Schulpflicht und den erweiterten Bildungsangeboten im 19. Jahrhundert rasant zunehmende technische Fortschritte in allen Bereichen des Druckgewerbes zu wesentlichen Einflussfaktoren auf das Medienangebot und das Leseverhalten der Gesellschaft. Besonders nach der Reichsgründung 1871 bzw. der Einführung der Gewerbefreiheit 1869 erlebte der deutsche Buch- und Pressemarkt eine Blütezeit durch Firmenneugründungen, expandierende Unternehmen im herstellenden und vertreibenden Buchhandel und konkurrierende Verlagsprogramme. Im 20. Jahrhundert wurden die Printmedien mit den neuen Medien Film und Rundfunk konfrontiert, was zu einer erneuten Dynamisierung des Buchmarkts nach dem Ersten Weltkrieg und zu sichtbaren medialen Wechselwirkungen führte. Die technischen Voraussetzungen für die Entstehung eines Massenmarkts im 19. Jahrhundert sind durch die Drucktechnikgeschichte recht gut erforscht (Überblick bei Wilkes u. a. 2011). Die Erkenntnisse über das sozial vielschichtige, in seinen kognitiven wie finanziellen Fähigkeiten hoch differente Lesepublikum des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg entstammen verschiedenen disziplinären Forschungsansätzen. Die allgemeine historische Bürgertumsforschung (vgl. stellvertretend für das gesamte Forschungspanorama Conze 1989–1992; Kocka 1987, 1995) hat sich der Herausbildung einer spezifischen Bürgerkultur im 19. Jahrhundert mit ihren habituellen Ausprägungen umfassend gewidmet und das kulturelle Interesse dieser sozialen Schicht analysiert. Dabei wurde auch die Instrumentalisierung von Literatur und ihrer Rezeption für soziale (und politische) Ziele untersucht (vgl. Koselleck 1990). In der Buchhandelsgeschichtsschreibung wird meist aus dem Buchmarktangebot und den jeweils präferierten Vertriebswegen auf das Käuferpublikum und daraus abgeleitet auf das Lesepublikum geschlossen. Dies gilt für das allgemeine Marktangebot wie auch für abgrenzbare Spezialmärkte. Von der Kulturanthropologie, der Buchhandelsgeschichtsschreibung und der Trivialliteraturforschung gingen auch die Impulse für die Erforschung der Kolportageliteratur und ihrer Leser aus (vgl. neben Schenda 1988 [11970] insbesondere Scheidt 1994). Der Mediengeschichtsschreibung sind die Erkenntnisse über die periodische Presse und ihre Leser zu verdanken (vgl. Wilke 2008). Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive hat Jost Schneider (2004) eine Sozialgeschichte der gelesenen Literatur in Abgrenzung zur akademisch kanonisierten Höhenkammliteratur vorgelegt, indem er beliebte Texte in ihrer Funktion bzw. ihrer intendierten und tatsächlichen Wirkung analysiert und diese Wirkung mit der sozialen Wirklichkeit der Leser in Beziehung gesetzt hat. In der historischen Leserforschung hat Wolfgang Langenbucher die These von der ›Zweiten Leserevolution‹ aufgestellt (vgl. Langenbucher 1975), die sich von der ›Ersten Leserevolution‹ im ausgehenden 18. Jahrhundert dahingehend unterscheidet, als durch die ›Erste Leserevolution‹ eine qualitative Veränderung der Lesepraxis erfolgte,1
1 Vgl. Kap. 4.1.3 Frühe Neuzeit in diesem Band.
4.1.4 Moderne
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die ›Zweite Leserevolution‹ jedoch einen quantitativen Wandel mit sich brachte, deren Ergebnis die Entstehung des Massenpublikums und die Vollalphabetisierung der Bevölkerung war. Langenbucher spricht in diesem Zusammenhang auch von der »Demokratisierung des Lesens« (Langenbucher 1975, S. 27), da spätestens nach der Reichsgründung die Schulbildung und das individuelle Ziel, hohes Sozialprestige zu erreichen, für die Kulturtechnik Lesen eine entsprechende ›Breitenwirkung‹ gebracht habe. Rudolf Schenda hat schließlich in den 1970er Jahren im sozialgeschichtlichen Zugriff die populären Lesestoffe der Moderne und ihre Leser erforscht (vgl. Schenda 1976, 1988). Das Lesepublikum der Weimarer Republik ist neben dem (Bildungs-)Bürgertum des 19. Jahrhunderts ein zweiter Schwerpunkt in der historischen Leserforschung. Angesichts des schichtenübergreifenden Konsums neuer Medienangebote wie Kino und Rundfunk sowie dem sozialdemographischen Wandel nach dem Ersten Weltkrieg, der ein verändertes Leseverhalten und neue Publikumsschichten hervorgebracht hat (vgl. Schneider 2007), sind bereits zeitgenössisch erste empirische Untersuchungen durchgeführt worden, die sich allerdings auf das Nutzungsverhalten in Bibliotheken konzentrierten. Drei Lesergruppen, Frauen, Kinder und Arbeiter, wurden dabei besonders in den Blick genommen. Ziele, Methoden und Erkenntnisse dieser frühen Mediennutzungsforschung hat Arnulf Kutsch 2008 an zwei Beispielen vorgestellt und innerhalb der Kommunikationsforschung positioniert: an den Untersuchungen des Leipziger Bibliothekars Walter Hofmann (1879–1952), der 1926 in Leipzig das Institut für Leser- und Schrifttumskunde gründete, und denen des US-amerikanischen Bibliothekswissenschaftlers Douglas Waples (1893–1978), der Ende der 1920er Jahre in Chicago Library Science als wissenschaftliche Disziplin etablierte. Kutsch weist darauf hin, dass Waples wie Hofmann Lesen als sozialen Prozess auffassten (vgl. Kutsch 2008, S. 16) und als Handlungsprozess eines aktiven Lesers alles von der Auswahl und Beschaffung der Lektüre bis zur Reflexion über das Gelesene verstanden. Die Rückschlüsse der Nutzerumfragen aus den 1920er Jahren sind allerdings von der neueren Forschung stark kritisiert worden, da die Präferierung von Lesestoffen in Nutzerumfragen von Bibliotheken auf deren Bestände reduziert bleiben muss und daher allgemeine Einschätzungen von Lektürevorlieben, z. B. im Bereich der Trivialliteratur mit hohen Auflagenzahlen, nicht möglich sind (vgl. zu diesem Aspekt Barndt 1999/2000). Da empirische Untersuchungen erst mit der Buchmarktforschung in den 1950/60er Jahren fundierte Rückschlüsse auf Lesemotivationen und -häufigkeit zulassen, dienen die im Folgenden angeführten Titelbeispiele mit Auflagenzahlen als Hilfskonstruktion zur Beschreibung von Lektürevorlieben. Auf dem industrialisierten Massenmarkt für Bücher und Periodika liefern Auflagenzahlen recht zuverlässige Indizien, um den Lektüregeschmack und die favorisierten Lesestoffe zu identifizieren, auch wenn berücksichtigt werden muss, dass die Auflagenzahlen allenfalls Auskunft über das Bücherkaufen geben können, nicht zwingend über das Bücherlesen.
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2 Mediale Vielfalt und Leserschichten von 1800 bis zum Ersten Weltkrieg Erstmals in der Lesergeschichte kann für das 19. Jahrhundert von einem Massenpublikum gesprochen werden, für das ein vielfältiges Medienangebot zur Verfügung gestellt wurde. Das mediale Spektrum umfasste Printmedien (Bücher, Broschüren, Zeitungen und Zeitschriften) ebenso wie rein visuelle Medien, z. B. das Panorama. Qualitative Vielfalt wie quantitative Fülle auf dem Buchmarkt sind zurückzuführen auf die durchgreifende Industrialisierung des Buchgewerbes, die sämtliche Bereiche der Buchherstellung von der Papierproduktion bis zum Bucheinband erfasste (Überblick bei Wilkes u. a. 2011). Voraussetzungen für Massenauflagen im Bereich der periodischen Presse und schließlich auch bei Büchern2 und Broschüren lieferten technische Innovationen, die den Druckprozess beschleunigten und gleichzeitig verbilligten. Die Jahresproduktion stieg von ca. 4000 Titeln zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf ca. 35.000 Titel im Jahr vor dem Ersten Weltkrieg (vgl. Rarisch 1976; Kastner 2003, S. 301). Zwischen den technischen Neuerungen mit der Möglichkeit, Massenauflagen herzustellen, und der fortschreitenden Alphabetisierung aller sozialer Schichten bestand eine enge Wechselwirkung, aus der eine steigende Nachfrage nach (preiswerten) Lektürestoffen resultierte. Diesen den Umgang mit dem Buch einerseits stimulierenden Entwicklungen standen andererseits ab etwa der Reichsgründung populäre Freizeitbeschäftigungen entgegen, die meist außer Haus wahrgenommen wurden und von der Buchlektüre ablenkten. Musikdarbietungen, Tanzveranstaltungen, Kirmes, Jahrmärkte und der Ausflug ins Grüne mit dem Ansteuern eines Gartenlokals waren Vergnügungen, denen Angehörige aller sozialer Schichten gerne nachgingen. Freizeit wurde um 1900 mehr und mehr im Freien verbracht.
2.1 Medienangebote, Lektürestoffe und ihre Verbreitungswege In der politisch brisanten Zeit des Vormärz waren Zeitungen der obligatorische schichtenübergreifende Lesestoff, vor allem für Männer. Obwohl in dieser Zeit strenge Zensurgesetze herrschten,3 florierte die politische Tagespresse: In Preußen beispielsweise erschienen 1824 schon 96 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 35.000 Exemplaren, 1850 waren es 182 Zeitungen (Zahlen nach Stöber 2005, S. 159). Bis zur Jahrhundertwende nahm die Anzahl überregionaler wie lokaler Blätter kontinuierlich
2 Cotta publizierte z. B. Schillers sämtliche Werke als ›Taschenausgabe‹ (1837/38) in einer Auflage von 100.000 Exemplaren. 3 Vgl. dazu Kap. 3.1.1 Geschichte staatlich-rechtlicher und politischer Einflussnahmen auf das Lesen in diesem Band.
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zu. Zeitungen wurden nicht nur in der privaten Abgeschiedenheit des Hauses konsumiert, sondern man ging ins Kaffeehaus, um das dort bereitliegende Angebot verschiedener Journale zu nutzen. Die exzessive Zeitungslektüre wurde satirisch überspitzt auch literarisch aufgenommen.4 Die mediale Eigenschaft von Zeitungen, das regelmäßige Lesen als Bestandteil der Alltagskultur, war auch im 19. Jahrhundert wie schon im 18. Jahrhundert in den unteren sozialen Schichten konstituierend. Im (gehobenen) Bürgertum diente die Tagespresse neben ihrer Informations- und Meinungsbildungsfunktion auch der Integration und Selbstvergewisserung; ein Paradebeispiel war Johann Friedrich Cottas Augsburger Allgemeine Zeitung, deren Lesepublikum sich vom Selbstverständnis »als der berufene Träger und Hüter einer Kultur, die besten deutschen Bildungssinn und Bürgergeist verkörpern wollte«, verstand (Kaschuba 1995, S. 92). In den Presseorganen und Journalen wurden die »kulturellen, politischen und sozialen Normen der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt, verkündet und zur Diskussion gestellt« (Budde 2009, S. 14; vgl. dazu auch Abschnitt 2.2.1). Die Versorgung des interessierten Publikums mit leichter und gehobener Unterhaltungsliteratur war durch die kommerziellen Leihbibliotheken seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert flächendeckend in großen und kleinen Städten, im Laufe des 19. Jahrhunderts selbst in ländlichen Gegenden gewährleistet (vgl. Martino 1990). Trotz des hohen Anteils an Trivialliteratur, wie etwa der beliebten Ritter-, Räuber- und Schauerromane, führten Leihbibliotheken in größeren Städten auch die sog. Hohe Literatur, z. B. Klopstock, Gellert oder die Werke der Autoren der Weimarer Klassik wie Goethe, Schiller, Wieland. Diese Klassiker wurden flankiert von Abenteuerromanen von Carl Gottfried Cramer oder von Komödien und Dramen sehr beliebter Thea terschriftsteller, wie z. B. Karl August von Kotzebue, der einer der meist gespielten Autoren des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts war. Zu den favorisierten Autoren gehörte auch August Lafontaine, dessen Familienromane sehr populär waren, ebenso die Schauergeschichten von Christian Heinrich Spieß. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörten Honoré de Balzac, Walter Scott, James Fenimore Cooper, Charles Dickens, Washington Irving, Eugène Sue und Paul de Kock zu den beliebtesten Autoren. Leihbibliotheken führten auch Periodika wie Tageszeitungen und Zeitschriften. Sie waren die wichtigste literarische Vermittlungsinstitution der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, denn der Erwerb von Lesestoffen beim Buchhändler blieb meist auf den obligatorischen Kalender und Broschüren, wenige Schulbücher wie die Fibel, Fachbücher für professionelle Zwecke und Sachbücher für den lebenspraktischen Alltag beschränkt. Belletristik wurde in der Regel ausgeliehen und nicht beim Buchhändler gekauft. Abgelöst wurden die Leihbibliotheken in ihrer Relevanz als literarische Instanz durch neue Unterhaltungsmedien, die für wenig Geld in hoher Auflage auf den Markt
4 Zum Beispiel Adolf Glasbrenner: Der Journal-Tiger. In: Aus dem Leben eines Gespenstes. Leipzig 1838.
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kamen: Erfolgreiche Literaturvermittler sind ab der Mitte des Jahrhunderts die Familien- und Unterhaltungszeitschriften, die sich in ihrem inhaltlichen Angebot an die ganze Familie richteten. Ihre Leserbindung erreichten sie meist durch Fortsetzungsromane, die somit unterstützend zur Auflagensteigerung der Zeitschrift beitragen konnten. Ab etwa 1850 wurden die Familienzeitschrift und ab etwa 1870 die Kolportage-Romane zu Leitmedien in der Populärkultur (vgl. Hügel 2003, S. 18). Der rasante schichtenübergreifende Aufstieg der populären Presse begann mit den illustrierten, nach englischem Vorbild in hohen Auflagen publizierten ›Pfennig- und Heller-Magazinen‹ in den 1830er Jahren, mit denen der Buchhandel gezielt das kleinbürgerliche Publikum und untere soziale Schichten erschloss. Für diese Schichten hatte diese Form der Periodika grundlegende Bildungsfunktion durch ihre populärwissenschaftlichen Inhalte jeder Fachrichtung. Das erste Organ dieser Gattung war das 1833 erstmals erschienene Pfennig-Magazin der Gesellschaft zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse des Leipziger Verlegers Johann Jakob Weber (1803–1880), der es mit dem französischen Buchhändler Martin Bossange (1765–1865) nach englischem und französischem Vorbild begründete. Der Leipziger Buchhändler Julius Alexander Baumgärtner (1793–1855) gab nur kurze Zeit später das wöchentlich erscheinende Heller-Magazin. Eine Zeitschrift zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse (1833–1842) heraus, sein Nachfolger war das zweiwöchentliche Heller-Magazin begleitet von der Schnellpost für Moden. Eine Zeitschrift zur Unterhaltung und Belehrung. Unter besonderer Berücksichtigung auf die Interessen der Gegenwart (1843–1845), fortgesetzt durch Illustriertes Magazin begleitet von der Schnellpost für Moden. Eine Zeitschrift zur Unterhaltung und Belehrung (1846–1851). Das Heller-Magazin war mit einem Preis von 1⅓ Talern pro Jahrgang billiger als das Pfennig-Magazin zu 2 Talern, das allerdings 1833 schon eine Auflagenhöhe von 30.000 Exemplaren hatte (später bis zu 100.000 Exemplare). Die Auflage des Heller-Magazins betrug im Dezember 1833 15.000 Exemplare, im Januar 1834 20.000 Exemplare. Das wöchentlich erscheinende Sonntags-Magazin. FamilienMuseum zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse (1833–1835) wurde in Leipzig von der Allgemeinen Niederländischen Buchhandlung, die dem Brüsseler Verleger Anton Peters gehörte, herausgegeben. 1834 hatten die drei größten populären Magazine, Pfennig-, Sonntags- und National-Magazin zusammen schon 60.000 Abonnenten.5 Diesen Magazinen folgten die Familienzeitschriften wie die Gartenlaube (1853–1944), die ab 1861 als erste deutsche Zeitschrift eine Auflage von 100.000 Exemplaren hatte, kontinuierlich expandierte und 1875 schließlich in 382.000 Exemplaren auf den Markt kam. Des Weiteren waren langlebig und beliebt Westermann’s illustrirte deutsche Monatshefte (1856–1987), Über Land und Meer (1858–1913), Daheim (1864–1944), Nord und Süd (1877–1920), Vom Fels zum Meer (1881–1904) und noch einige andere, die zwar alle an die hohen Auflagen der Gartenlaube nicht heranreichten, aber mit
5 Vgl. die Angaben bei Hanebutt-Benz, Eva-Maria: Deutscher Holzstich im 19. Jahrhundert. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens (AGB) 24 (1983), Sp. 690–706.
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ihrer sozial wie geographisch weiten Verbreitung ein Millionenpublikum sowohl mit populärwissenschaftlichen Beiträgen aus verschiedenen Sachgebieten als auch mit literarischer Unterhaltung versorgten. Als volkspädagogisch motivierte Gegenbewegung zu den kommerziellen Leihbibliotheken entstanden seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Regel städtisch gegründete und kommunal geführte öffentliche Büchereien, die als Volksbildungsinstitutionen die Bildung der Jugend wie der Erwachsenen zum Ziel hatten, vor allem im Hinblick auf die Erfordernisse der Gewerbebildung. Als Initiator dieser Bewegung gilt Karl Benjamin Preusker (1786–1871), Begründer der ersten deutschen Volksbücherei (›Bürgerbibliothek‹) im sächsischen Großenhain 1828. Dieser Bibliothekstyp wurde im Laufe des Jahrhunderts von unterschiedlichen Bildungsvereinen, auch den Kirchen, übernommen (zu den Arbeiterbibliotheken vgl. Abschnitt 2.2.2), aber erst nach der Reichsgründung gelangte das öffentliche Bibliothekswesen als Volksbildungsinstanz mittels Verwaltungsreformen und der Professionalisierung der bibliothekarischen Ausbildung zur Blüte.6 Das ab dem letzten Drittel des Jahrhunderts verstärkte staatliche Engagement im öffentlichen Bibliothekswesen zielte auf die »Hebung der Berufsqualifikation«, die »größeren Wohlstand für den Staat und […] weniger Sozialdemokratie« bedeutete (Jochum 1993, S. 154). Auf dem deutschen Buchmarkt standen nach der Reichsgründung für jedes intellektuelle und ökonomische Vermögen adäquate Lesestoffe zur Verfügung. Populäre Lesestoffe wurden typischerweise in periodischen und seriellen Publikationsformen wie Volkskalendern, Kolportageromanen oder Romanheftchen angeboten. Schenda verweist bei den populären Lesestoffen explizit auch auf die weit verbreiteten Bilderbogen mit Auflagen in Millionenhöhe, die Bild und Text integrierten und als Einblattdrucke häufig durch den Kolportagehandel verkauft wurden (vgl. Schenda 1970, S. 272). Das Klassikerjahr 18677 brachte u. a. die Werke der Weimarer Klassik, z. B. Goethe, Schiller oder Herder, nun in billigen Ausgaben, wie z. B. in Reclams Universalbibliothek, hervor. Romanhefte nach amerikanischem Vorbild waren ab etwa 1900 an den Kiosken zu kaufen. Von trivialer Heftchenliteratur über abwechslungsreiche Unterhaltungslektüre bis zu preiswerten Werken der Hochkultur bot der Buchmarkt für jeden etwas. Ein expandierendes Marktsegment war die Kinder- und Jugendliteratur. Zwischen 1800 und 1850 erschienen etwa 11.000 Titel für Kinder und Jugendliche; von 1850 bis 1900 stieg die Zahl auf ca. 25.000 Titel, jeweils ohne Periodika.8 ›Marktgängige
6 Vgl. die Ausführungen bei Ruppelt, Georg: Bibliotheken. In: Bodo Franzmann u. a. (Hrsg.): Handbuch Lesen. München 1999, S. 394–431, hier S. 400. 7 1867 wurden die Werke der deutschen Autoren, die vor dem 9. November 1867 mindestens 30 Jahre verstorben waren, gemeinfrei, d. h., jeder konnte sie ohne urheberrechtliche Einschränkungen nachdrucken, was zu einem Boom billiger Klassikerausgaben führte. 8 Angaben nach: Brunken, Otto / Hurrelmann, Bettina / Pech, Klaus-Ulrich (Hrsg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur (1850–1900). Stuttgart 1998, Sp. 96, und Brunken, Otto / Hurrelmann,
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Jugendliteratur‹ entwickelte sich in drei Bereichen: (1) Abenteuerliteratur, (2) vaterländischen Erzählungen, (3) erzählender Mädchenliteratur (Backfischromane) (vgl. Wilkening 2001, S. 230). Die voranschreitende Kommerzialisierung der Jugendliteratur wurde gegen Ende des Jahrhunderts von der sog. Jugendschriftenbewegung unter der Wortführung des Hamburger Volksschullehrers Heinrich Wolgast (1860–1920) stark kritisiert. Seine Aktivitäten standen im Kontext der im Kaiserreich einsetzenden sog. ›Schmutz- und Schunddebatte‹9, die von Pädagogen, Schulbehörden, Sittlichkeitsvereinen, Jugendpflegern, Volksbibliothekaren, Pfarrern u. a. getragen wurde. Die Kritik richtete sich in erster Linie gegen die aufgekommene Heftchenliteratur, aber auch gegen unterhaltende Lesestoffe aus renommierten Verlagen. Bildmedien wie Abziehbilder und die populären Sammelbilder aus der Konsumwerbung etc. sowie der neu aufgekommene Kinofilm unterlagen ebenfalls jugendgefährdendem Verdacht. Die Maßnahmen zur Unterdrückung der inkriminierten Medien, insbesondere der Heftchen, waren vielfältig: von Verbrennungsaktionen von ›Schundheften‹, über Aufrufe durch die Schulbehörden zum Boykott der entsprechenden Verkaufsstellen, bis hin zu positiver Stimulierung als adäquat empfundener Bücher mittels Empfehlungslisten, die die Lektüre der Kinder und Jugendlichen kanalisieren und auf die gewünschten Lesestoffe lenken sollten (vgl. die Fülle von Beispielen bei Maase 2012). Der interessierte Leser hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts zumindest in der Stadt vielfältige Möglichkeiten, Lektüre zu erwerben: im etablierten Sortimentsbuchhandel, der als Kunden meist das traditionelle Bürgertum bediente; im (modernen) Antiquariat, das in jeder mittleren und größeren Stadt existierte und zum Teil von Sortimentsbuchhändlern nebenbei geführt wurde; im Bahnhofsbuchhandel, wo gängige Unterhaltungsware, vor allem aber Presseerzeugnisse dominierten; im Warenhausbuchhandel, der einem breiten Publikum aller Schichten die beste Gelegenheit zur entspannten Auswahl bot; und im Kolportagebuchhandel sowie im Reisebuchhandel, beides Vertriebsformen, die die Lektüre ins Haus lieferten.
2.2 Literarisches Publikum und Lesen mit Anschlusskommunikation Der französische Historiker Roger Chartier konstatiert, mit dem 19. Jahrhundert »tritt die Geschichte des Lesens in das Zeitalter einer Soziologie der Unterschiede ein«
Bettina / Michaels-Kohlhage, Maria / Wilkending, Gisela (Hrsg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur (1800–1850). Stuttgart 2008, Sp. 17 f. 9 Nach Kaspar Maase wurden unter ›Schund‹ nach bürgerlichem Maßstab ›wertlose‹ Literatur und unter ›Schmutz‹ jegliche Art erotische und /oder die Sexualität thematisierende Literatur verstanden, vgl. Maase 2012, S. 58–60.
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(Chartier / Cavallo 1999, S. 53). Mit der Vielfalt der in der Moderne aufgekommenen Printmedien und Publikationsformen korrespondiert eine »starke Auffächerung der Lesemodelle« (Chartier / Cavallo 1999, S. 53). Für die Herausbildung der individuellen Rezeptionshaltung war unter anderem die Orientierung an den Werken der Hoch- oder der Populärkultur und ihren entsprechenden Wertzuschreibungen entscheidend. Diese Dichotomisierung wurde vom Bürgertum schon im ausgehenden 18. Jahrhundert vorgenommen und im 19. Jahrhundert stabilisiert. Die Möglichkeit der Anschlusskommunikation nach der Lektüre ist ein weiterer Aspekt, der die individuelle Lesepraxis lenkt, denn das Lesen von Büchern ist zwar ein intimer Akt, weist aber nach Abschluss des Leseprozesses soziales Potenzial auf. Neben der zurückgezogenen, einsamen Tätigkeit konnte Lesen zumindest bis in die Zeit des Nachmärz hinein auch ein geselliges Vergnügen sein, das mannigfache Gelegenheiten zum Austausch bot. Schließlich ist die berufliche Einbindung von Lektüre zu nennen, was angesichts der zunehmenden Technisierung und anderen beruflichen Herausforderungen ein ganz wichtiger Anlass für Lektüre war.
2.2.1 Lesepraxis und Buchbesitz im bürgerlichen Publikum Buch und Lesen waren im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts integriert in ein verbindliches Kulturmodell,10 das ebenso verbindliche Verhaltensmuster erforderte und Buchbesitz und Lesen individuell wie kollektiv multifunktional verankerte (vgl. Schneider 2013): (1) Sie dienten der (Persönlichkeits-)Bildung; (2) sie waren aufgrund der fehlenden politischen Einheit nationalidentitätsstiftend; (3) Lektüregeschmack und Buchbesitz wurden zur sozialen Distinktion gegenüber anderen Schichten und intern zur sozialen Integration instrumentalisiert; (4) im Bildungsbürgertum galt Bildung als Ersatz für fehlenden materiellen Wohlstand, wurde zum Statussymbol und habituell; (5) Buchbesitz wurde im Besitzbürgertum symbolisch überhöht als repräsentativer Ausdruck von Bildung. Das bürgerliche Lesemodell bekam Vorbildcharakter, obwohl das Bürgertum als soziale Schicht eine kleine Minderheit ausmachte: Mitte des Jahrhunderts knapp 5 %, Ende des Jahrhunderts ca. 7 % der Gesamtbevölkerung; 15 bis 20 % waren es, wenn man das Kleinbürgertum mit selbstständig Gewerbetreibenden und angestellten Berufen hinzurechnet (vgl. Kocka 2001, S. 115). Konstitutiv war die gemeinsame Kultur,11 die das Bürgertum in Gesellschaft wie auch in der Politik positionierte und es nach oben gegen den Adel und nach unten gegen die Arbeiter abgrenzte; zum Ende des Jahrhunderts zunehmend auch
10 Zur Widerspiegelung der Ideale in Anstandsbüchern vgl. Martens 1977. 11 Kocka (2001, S. 119) gibt als integrative Elemente der bürgerliche Kultur an: »Sauberkeit und spezifische Kleidung, wohl definierte Tischsitten und andere Konventionen, auch der Sinn für symbolische Formen und die ästhetische Aneignung von Kunst«.
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gegen das Kleinbürgertum (vgl. Kocka 2001, S. 117 f.). Bürgerliche Kultur war »städtisch, kommunikativ und schriftlich, in ihr spielten Selbständigkeit und Respekt für Leistung, Bildung und methodische Lebensführung eine maßgebliche Rolle« (Kocka 2001, S. 117 f.). Das bürgerliche Publikum entwickelte seine im 18. Jahrhundert verwurzelte Praxis der Lektüre in Gesellschaft zunächst weiter, denn Vereine waren »ein Kernstück bürgerlicher Kultur« (Kocka 2001, S. 119). In der Folge der bürgerlichen Lesegesellschaften12 entstanden in der Restaurationsepoche literarisch gesellige Vereine, die meist ›Museums-Gesellschaft‹, ›Harmonie-Gesellschaft‹, ›Casino-Gesellschaft‹ u. ä. hießen und in denen Lektüre eng verflochten mit geselligem Vergnügen war. Das Abonnement von bis zu 60 laufenden Zeitschriften und Journalen (vgl. Ormrod 1985, S. 143) sowie die Auslage von Zeitungen machten diese Vereine zu attraktiven Leseorten für ein bürgerliches Publikum und zu Multiplikatoren der Tagespublizistik (vgl. Ormrod 1985, S. 142). Die Unterschiede zu den Lesegesellschaften der Aufklärung bestanden (1) in der sozialen Struktur der Vereine, die sich nun nach vorwiegend akademischen-bildungsbürgerlichen oder vorwiegend kaufmännisch-besitzbürgerlichen oder vorwiegend kleinbürgerlichen Schichten ausrichteten. Entsprechend variierten die Bestände von wenigen tausend bis zu 20.000 Bänden und die Mitgliedsbeiträge waren höher oder niedriger. Des Weiteren unterschieden sie sich (2) in den Beständen, die nun auch in größerem Stil unterhaltende Lektüre umfassten, und damit (3) in der Funktion: Der Gedanke der Aufklärung und Bildung durch gemeinschaftliche Diskussion des Gelesenen trat gegenüber dem Unterhaltungsgedanken zurück, auch wenn weiterhin Nachschlagewerke und Sachliteratur gehalten wurden. Die bekanntesten Periodika des 19. Jahrhunderts wie die Zeitung für die elegante Welt (1801–1859) oder Cottas Morgenblatt für gebildete Stände (1806–1849) waren in der Regel neben politischen Zeitungen, die vielfach nur kurzlebig waren, vertreten (vgl. Ormrod 1985, S. 145). Eine andere kulturelle Praxis bürgerlicher Kreise, die in der Aufklärung wurzelte und in der Romantik nochmals aufblühte, war das individuelle Schreiben, aber kollektive Lesen bzw. Vorlesen von Briefen als Ausdruck und Ritual freundschaftlicher Verbundenheit. Im 19. Jahrhundert gehörte das Schreiben von Briefen zum bürgerlichen Kulturentwurf und wurde als eine Form der Konversation gepflegt. Diese Praxis ›schriftlicher Gesprächskultur‹13 gab den nicht geringen individuellen Anreiz zur Alphabetisierung, denn das Schreiben und die Lektüre von Briefen bot eine ausreichende Anschlusskommunikation innerhalb einer sozialen Gruppe.
12 Vgl. Kap. 4.1.3 Frühe Neuzeit in diesem Band. 13 Vgl. zu diesem Themenkomplex die konzise Einleitung von Rainer Baasner: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis. In: ders. (Hrsg.): Briefkultur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 1–36, hier S. 14.
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Buchbesitz, Lesen und Schreiben gehörten im Bürgertum dauerhaft zum Lebensstil. Die Herausbildung eines (bildungs)bürgerlichen Lektürekanons14 war einerseits ein festes Bekenntnis zur deutschen Nationalliteratur (z. B. Lessing, Goethe, Schiller), die anstelle eines geistigen oder politischen Zentrums in Deutschland nationalidentitätsstiftend instrumentalisiert wurde. Andererseits wurde auch Weltliteratur von Autoren wie Shakespeare, Cervantes, Molière oder Dostojewski zur verbindlichen Lektüre (diese Beispiele bei Linke 1996). Der Kanon stellt jedoch nur eine Facette der bürgerlichen Buchkultur dar. Ausdruck des kulturellen Habitus war auch die häusliche Deklamationspraxis (vgl. Häntzschel 1985) und das geschickte Einstreuen des ›Bildungszitats‹ aus der deutschen Literatur in die gepflegte Unterhaltung. Wolfgang Frühwald hat am Beispiel von Büchmanns Geflügelten Worten, der Citatenschatz des Deutschen Volkes (1864, bis 1900 in erweiterter Form 20 Auflagen, über 30 Auflagen bis heute) gezeigt, dass das Bildungszitat nicht nur zur Verständigung und Statusversicherung der Gebildeten untereinander sowie zur Abgrenzung gegenüber vermeintlich Nichtgebildeten diente, sondern auch dazu, dass sich der Einzelne seines Gebildetseins vergewissern konnte (vgl. Frühwald 1990). Bildungsanspruch und Unterhaltungssuche als Lesemotivationen wurden bei der Lektürewahl verknüpft mit sozialer Distinktion. Ästhetische Wertungen des Lesers wurden mit seiner sozialen Zugehörigkeit begründet, Geschmack wurde sozialen Faktoren zugeschrieben. Das bürgerliche Publikum fungierte als kulturelle Elite, die Normen und Werte festlegte und politischen Einfluss gewann. Die Norm, welche Titel der National- oder Weltliteratur der gebildete Deutsche kennen sollte, war zwar stark verinnerlicht, hatte aber kaum noch Auswirkungen auf die Lektürewahl in der Alltagskultur. Im sozialen Miteinander kam es aber dennoch darauf an zu wissen, was man gelesen haben müsste. 1826 verwies das Literarische Conversations-Blatt auf die zeitgenössische Flut der Zeitschriften und Taschenbücher und es wurde festgestellt: »Niemand will sein Wissen beschränken, jeder in Gesellschaft Berührungspunkte haben. Darf er fasten an der reich besetzten Tafel dieses Literaturzweigs?«15 ›Berührungspunkte in der Gesellschaft‹ zielen auf die Anschlusskommunikation in der gepflegten Konversation. Die Auswahl des Mediums symbolisierte Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Wolfgang Kaschuba hat dies für die Augsburger Allgemeine Zeitung festgestellt, die nicht nur im bürgerlichen Milieu gelesen wurde. Wer sich auf der Höhe bürgerlicher Diskussion und Konversation zeigen wollte, »ohne selbst
14 Zur Herausbildung des bürgerlich / klassischen Literaturkanons vgl. Beil, Ulrich: Die verspätete Nation und ihre ›Weltliteratur‹: Deutsche Kanonbildung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Renate von Heydebrand (Hrsg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart 1998, S. 323–340; siehe dazu auch Simone Winko: Negativkanonisierung. August von Kotzebue in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. In: Heydebrand 1998 (s. o.), S. 341–364. 15 Das Lesen als Zeiterscheinung. In: Literarisches Conversationsblatt 1 (1826), Nr. 115 vom 19. Mai, S. 457–460 [o. V.], hier 459.
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schon der guten Bürgergesellschaft anzugehören, für den war der Preis des Zeitungsabonnements eine durchaus rentable Statusinvestition.« (Kaschuba 1995, S. 92) Klassikerverehrung und Kanonkenntnis hatten vor der Reichsgründung 1871 für die Herausbildung der Kulturnation besondere kulturpolitische Bedeutung. Der Kanonkenntnis war der Leseakt vorgeschaltet, der als solcher politisch instrumentalisiert wurde. Zur individuellen Bildung und zur Stabilisierung des kollektiven Wertesystems kam im frühen 19. Jahrhundert so noch eine dritte, politisch zielgerichtete Leistungsdimension hinzu: Lesen und Bildung waren seit dem Vormärz per se ein Politikum, denn damit wurden von liberaler Seite Hoffnungen auf politische Veränderungen verknüpft. Die bürgerliche Lesepraxis wurde bereits in der Lesesozialisation des Nachwuchses eingeübt und entwickelte somit auch im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur eine typische, qualitativ auf die Ausbildung der Persönlichkeit gerichtete Lektüre. Lesesozialisation war primär Aufgabe der Familie. Bettina Hurrelmann u. a. haben die bürgerliche Lesesozialisation im historischen Wandel für die Biedermeierzeit und das Kaiserreich untersucht (vgl. Nickel-Bacon u. a. 2006; Becker 2006). Sie haben festgestellt, dass die Alphabetisierung der Kinder um 1830 wegen schulischer Unzulänglichkeiten noch eine fast rein familiäre Aufgabe war, die in erster Linie die Mütter erfüllten. Die Aneignung von Kinderlyrik, Bilderbüchern und Geschichten durch mündliche Vermittlung waren primär eine pädagogische »Ausgestaltung der Mutter-Kind-Kommunikation« (Nickel-Bacon u. a. 2006, S. 153) und erst sekundär eine Vorform des Lesens. Um 1900 ist die Alphabetisierung der Kinder eine schulische Angelegenheit geworden. Die bürgerliche Familie wird aber zur Instanz der Lektürelenkung, die mittels »Wertschätzung und Förderung einerseits und Kontrolle und Intervention andererseits« (Becker 2006, S. 271) die Textauswahl bestimmte. Die Integration von Lektüre in den familiären Alltag wurde durch die Inaussichtstellung von Gratifikationen für Kinder befördert. Buchlektüre fungierte »als Belohnung für erledigte Arbeit« (Nickel-Bacon 2011, S. 166 f.). Die literarische Sozialisation zielte neben der Persönlichkeitsbildung auf soziale Kommunikation, sei es als Ausdruck des Habitus oder als symbolische Praxis. Die Inszenierung literarischer Geselligkeit (vgl. Nickel-Bacon 2011, S. 199) begann mit Abzählreimen, Liedern, Bilderbogen und identitätsstiftenden fiktiven Texten mit »positiven Anregungen im affektiven Bereich« (Nickel-Bacon 2011, S. 198), was die Kinderliteratur der Biedermeierzeit, dem ›goldenen Zeitalter der Kinderliteratur‹, von der vernunftbasierten Kinderliteratur der Aufklärung unterscheidet. Im breiten Spektrum der bürgerlichen Buchkultur um 1900 sind auch die Bibliophilie und das Büchersammeln nach äußeren Gesichtspunkten als Ausdruck sozialer Distinktion zu erwähnen. Der Nivellierung und Annäherung von bürgerlicher und populärer Kultur wurde eine exklusive Buchkultur entgegengesetzt, in der die materielle Ausstattung und die Gestaltung von Büchern nach bestimmten, individuellen Geschmacksausrichtungen zum Sammeln animieren sollten. Die Gründung von bibliophilen Gesellschaften wie der ›Gesellschaft der Bibliophilen‹ 1899 in Berlin war eine Reaktion auf den Massenbuchmarkt. Ihr folgten weitere bibliophile Orga
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nisationen wie der ›Leipziger Bibliophilen-Abend‹ 1904, der ›Berliner BibliophilenAbend‹ 1904, die ›Gesellschaft der Münchner Bibliophilen‹ 1907, die ›Gesellschaft der Bücherfreunde Hamburg‹ 1908, die ›Maximilian-Gesellschaft‹ 1911 sowie die ›Bibliophilen-Gesellschaft Köln‹ 1930. Während die ›Gesellschaft der Bibliophilen‹ offen war für einen großen Freundeskreis, beschränkten andere ihre Mitgliederzahl, um den Kreis möglichst klein und die Auflage ihrer Publikationen unter hundert zu halten. In einer künstlich klein gehaltenen Zahl von Mitgliedern wurde die Abgrenzung zur Masse ganz besonders offensichtlich. Beispiel für eine radikale Abgrenzung durch die Limitierung der Mitgliederzahl war der ›Leipziger Bibliophilen-Abend‹, der nur 99 Mitglieder aufnahm.
2.2.2 Bildungsangebote der Arbeiterbewegung Das Bildungsbürgertum als kulturelle Elite war wichtigster Träger literarischer Bildung. Der Sozialisationsprozess in der Arbeiterschaft war im Gegensatz zum bürgerlichen Bildungsweg zeitlich kurz und oftmals auf die Eingliederung in den indus triellen Produktionsprozess konzentriert. Der Besuch der Elementar- bzw. Volksschule mit ihrer Vermittlung von Lesen, Schreiben, Rechnen, religiöser Unterweisung und praktischen Fertigkeiten führte kaum zur einer literarisch-kulturell verfeinerten Aufnahmebereitschaft. Die Arbeiterschaft war »kulturell isoliert« (Bogdal 1996, S. 160), was die Herausbildung einer spezifischen, identitätsstiftenden Arbeiterliteratur beförderte, die ebenfalls eine isolierte Stellung im literarischen System einnahm und »insbesondere von [dessen] Legitimitätsinstanzen (Akademien, Literaturkritik, Schule) als auch vom Markt« (Bogdal 1996, S. 160) abgekoppelt war. Die Teilhabe der Arbeiterschaft am literarischen Leben wurde über außerschulische Bildungsinstitutionen vermittelt, insbesondere durch Vorträge und die Einrichtung von Arbeiterbildungsbibliotheken, durch die Presse und durch die Arbeiterfestkultur (vgl. Bogdal 1996, S. 151). Schon im Vormärz wurden Bildungsvereine gegründet, oft unter Beteiligung bürgerlicher Schichten, nicht ausschließlich durch die Arbeiterschaft selbst. Durch die Arbeiterbewegung wurde ihren Anhängern Literatur zur politischen Unterweisung, zur Aneignung von Bildungsstoffen und zur Unterhaltung vermittelt. Die meisten Arbeitervereine bauten Bibliotheken und Sammlungen für ihre Mitglieder auf und stellten ihnen eine breite Palette von Zeitungen und Zeitschriften zur Verfügung (Überblick bei Birker 1973, S. 159–172). Die Bestände der Bibliotheken umfassten unterhaltende wie belehrende Literatur und reichten von wenigen hundert bis zu etlichen tausend Bänden. Der Bremer Verein ›Vorwärts‹, einer der größten Arbeiterbildungsvereine, hatte durchschnittlich ca. 1000 Mitglieder und hielt für diese allein 46 laufende Periodika (vgl. Birker, S. 166, 169). Kleinere Vereine wurden über Wanderbibliotheken versorgt. Zu deren Nutzung und der tatsächlichen Rezeption ihrer Angebote existieren keine Studien. Sie nahmen aber eine Hauptfunktion im Panorama der Bildungsangebote ein und standen bei einigen Vereinen an erster Stelle (vgl. für Stutt
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gart Schmierer 1970, S. 58 f.). Die Möglichkeiten für Arbeiter, sich Lektüre zu beschaffen, waren durchaus vielfältig: Nicht nur die speziell für sie errichteten Bibliotheken, sondern darüber hinaus die allgemeinen Lesehallen und Volksbibliotheken standen ihnen zur Verfügung, auch konfessionell orientierte und ab 1900 vermehrt Werksbzw. Firmenbibliotheken als sozialintegrative Einrichtungen, die neben berufsbezogener Fachliteratur in der Regel eine breite Auswahl an Unterhaltungsliteratur für alle ihre Mitarbeiter (und deren Kinder) bereithielten. 1976 haben Dieter Langewiesche und Klaus Stövenhaven anhand von Ausleihstatistiken, Beständen und Organisationsstrukturen detailliert die Arbeiterbibliotheken im Wilhelminischen Kaiserreich untersucht, konzentriert auf sozialdemokratisch und gewerkschaftlich geführte Bibliotheken. Die Autoren gelangten zu dem Ergebnis, dass die politischen Lenkungsversuche durch entsprechende Anschaffungspolitik sozialwissenschaftlicher Literatur sämtlich fehlschlugen. Die Arbeiter griffen erheblich öfter zur unterhaltenden Lektüre als zur parteipolitisch schulenden (vgl. Langewiesche / Stövenhoven 1976, S. 168 u. ö.). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Langewiesches Studie über Wiener Bibliotheken, in der er 1980 die ›Wunschvorstellungen‹ der Sozialdemokratie mit der Realität konfrontiert. Seine Sekundäranalyse von Ausleihstatistiken ergab, dass die »Lektürewahl in erster Linie von der politisch-ideologischen Orientierung der Bibliotheken und ihres Publikums geprägt war« (Langewiesche 1980, S. 238). Sozialdemokratische und Volksbibliotheken setzten jeweils andere Schwerpunkte in ihren Beständen, aber die Unterschiede in der Lektürewahl zwischen den sozialen Schichten waren eher geringfügig (zur Problematik der Bibliotheksbefragungen vgl. Barndt 1999/2000). Allenfalls Reiseliteratur und Klassiker wurden von Arbeitern eher nachgefragt als von anderen sozialen Schichten (vgl. Langewiesche 1980, S. 234). Ein »berufsspezifisches Lektüreniveau existierte innerhalb der Arbeiterschaft also offensichtlich nicht« (Langewiesche 1980, S. 227). Die Bildungsbemühungen der Arbeiterbewegung waren trotz vielfältiger Einrichtungen und Angebote, vor allem von der Sozialdemokratie, nicht durchdringend, Lesen und Schreiben waren in den meisten Arbeiterfamilien bis ins Kaiserreich keine routinierten Alltagshandlungen. Daran änderten auch eigens geschaffene Unterhaltungszeitschriften nichts. Zwei Rezeptionssituationen kristallisierten sich jedoch um 1900 als typisch heraus: (1) im Zusammenhang mit alltäglichen Ritualen, wozu Vorlesen und Lesen der Parteipresse gehörte sowie die Aneignung von Bildungsstoffen durch Lektüre – hier ist auch das private wie öffentliche Singen von Arbeiterliedern zu verorten; (2) das Singen von Arbeiterhymnen und Theateraufführungen im Zusammenhang mit öffentlichen Partei- und Vereinsveranstaltungen an Feiertagen (vgl. Bogdal 1996, S. 156). Gesangspflege gehörte zu den wesentlichen Aufgaben der Vereine (vgl. Schmierer 1970, S. 59). Lesen und Lektüre standen in den Arbeitervereinen in enger Anbindung zum geselligen Vergnügen, unabhängig von der Bildungsfunktion dieser Vereine. Die Anschlusskommunikation, die die Lektüre bot, musste nicht unmittelbar die Diskussion des Gelesenen sein, sondern konnte bereits in der
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Vermittlung beispielsweise von Liedgut und im gemeinsamen Rezipieren der tagesaktuellen oder Parteipresse bestehen.
2.2.3 Lesen auf dem Land Die Alphabetisierung wurde während der 19. Jahrhunderts auch auf dem Land vorangetrieben. Obwohl die Schulpflicht bestand, hatte die Mithilfe im elterlichen bäuerlichen Betrieb oder die Notwendigkeit, mit zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen, jedoch für die meisten Kinder Priorität. Konfessionelle Unterschiede und die Anbindung an regionale und lokale Periodika beeinflussten ebenfalls die Lesefrequenz und die Möglichkeit, am literarischen Leben teilzuhaben. Das in den Städten spätestens nach der Reichsgründung qualitativ differenzierte Angebot an Lesestoffen war auf dem Land nicht vorhanden. Hier dominierten bis ins 20. Jahrhundert traditionelle Lesestoffe wie Fibel, Erbauungsbuch, Gesangbuch, Kalender sowie Kolportageliteratur. Die fehlende buchhändlerische Infrastruktur auf dem Land wirkte sich auf die angebotenen Lesestoffe aus. Erich Schön geht davon aus, dass die Land bevölkerung »praktisch ausschließlich auf den Kolporteur als Lesestofflieferant angewiesen war« (Schön 1999, S. 51). ›Gebrauchsliteratur‹ umschreibt am treffendsten die »Broschüren mit erbaulichen Traktaten, Gebetsammlungen, Rätseln, Kochrezepten, Traumerklärungen«, die auf dem Land konsumierten wurden, wobei die Grenzen zwischen »Information, Unterhaltung und Esoterik« fließend waren (Schneider 2004, S. 196). Einzelstudien bestätigen diese sicherlich nicht ganz falschen, aber pauschalen Urteile nur bedingt. Ein »Minimal-Buchbesitz war bei den Protestanten vorgegeben« (Siegert 2014, S. 187) und wurde durch Hausvisitationen vom Pfarrer bisweilen überprüft. Der Grundbestand umfasste die Bibel, mindestens aber das Neue Testament, den Katechismus, ein Gesangbuch samt Gebetbuch und eine Hauspostille (diese Angaben bei Siegert 2014, S. 187). Über diesen rudimentären Buchbesitz hinaus sind allerdings Beispiele von bäuerlichen Bibliotheken belegt, die mehrere Hundert Bücher stark waren. Reinhard Siegert hat exemplarisch die Bibliothek eines dichtenden Bauers aus dem Rheinhessischen analysiert, der über 40 Jahre kontinuierlich Bücher verschiedener Fachrichtungen und Belletristik zusammengetragen und in seinem handschriftlichen Katalog über 600 Titel verzeichnet hatte (vgl. Siegert 2014). Ähnliche Fälle sind auch für andere Gegenden nachgewiesen worden, so dass Siegert zu der Auffassung gelangt: »Alle herausragenden bäuerlichen Persönlichkeiten besaßen eine eigene Bibliothek« (Siegert 2014, S. 202). Siegert verweist jedoch darauf, dass der Weg zur eigenen Bibliothek in bäuerlichen Kreisen oft über die großzügig geöffnete (Privat-)Bibliothek des Pfarrers oder anderer Mittelspersonen verlief.
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3 Neue Publikumsschichten in der Weimarer Republik Die Weimarer Republik als eigenen Abschnitt der Lesergeschichte zu behandeln ist insofern gerechtfertigt, als es nach dem Ersten Weltkrieg zu massiven soziodemographischen Umbrüchen kam, die sich gesamtgesellschaftlich gesehen auf die Lesepraxis in der deutschen Bevölkerung auswirkten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte das Bürgertum bereits seine soziale und kulturelle Führungsrolle weitgehend verloren. Seine tradierten kulturellen Werte waren immer noch im Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten verankert, wurden jedoch in der Alltagskultur kaum beachtet. Das Bildungsbürgertum war in seiner Leitfunktion schon um 1900 von den technischen Eliten abgelöst worden. Krieg und Inflation schwächten das Bürgertum erneut. Zu diesen wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen kamen neue Medien, die die Aufmerksamkeit aller Gesellschaftsschichten auf sich zogen, freie Zeit und finanzielle Mittel banden. Radio und Kino erfüllten unterschiedliche Funktionen im Bildungsund Unterhaltungsbereich. Während dem Radio eine Bildungsvermittlungsfunktion zuerkannt wurde, stand der Film als Unterhaltungsmedium zunächst in der Kritik, gehörte aber bald zum Medienalltag. Die allgemeine Orientierung an höheren sozialen Schichten, an traditionellen Moralvorstellungen und Werten des Bürgertums war für die Angehörigen unterer und mittlerer Schichten zunächst zwar noch maßstabsetzend, aber zur selben Zeit unterlag die deutsche Gesellschaft US-amerikanischen Einflüssen in der Populärkultur, z. B. wurden amerikanische Stummfilme mit Charlie Chaplin oder Buster Keaton zu Publikumsrennern. Neue kulturelle Interessen dienten zwar noch der Abgrenzung gegenüber sozial niedrigeren Schichten, entfernten sich aber zunehmend von distinktiven Bildungsmaßstäben. Die Teilhabe an Bildung und Unterhaltung war nun abhängig vom individuellen Finanz- und Zeitbudget und nicht mehr von der sozialen Schichtzugehörigkeit. Pauschale Aussagen über das Lesepublikum können kaum getroffen werden. Im Forschungskonsens wird angenommen, dass für die Zeit zwischen den Weltkriegen die Großstadtkultur repräsentativ war, hier wurden kulturelle und soziodemographische Wandlungsprozesse am schnellsten deutlich, die sich erst mit zeitlicher Verzögerung auf dem Land bemerkbar machten. Auch die allgemeinen Bildungsangebote wurden vielfältiger und ständig erweitert: Veranstaltungen in Bibliotheken, Kurse und Vorträge in Volksbildungseinrichtungen, Ausstellungen in Museen, Theateraufführungen. Die Vermittlung von Bildungsinhalten durch schulische Sozialisierung bestimmte nicht mehr zwingend den Lektürekanon, sondern das Leseverhalten wurde wie generell die Alltags- und Konsumkultur stärker vom jeweiligen Sozialmilieu geprägt. Neue Leserschichten entstammten speziell der Angestelltenschaft, die durch die Ausweitung des Dienstleistungssektors in den Großstädten zur dominierenden kulturtragenden Sozialschicht wurde. Die neuen Leserschichten bevorzugten und nutzten auch andere Verkaufsstellen als das Bürgertum, das die dominierende Zielgruppe des etablierten Sortimentsbuchhandels war. Der Warenhausbuchhandel, der zum anonymen
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Stöbern ohne Kaufverpflichtung einlud, profitierte von den sozialen Wandlungsprozessen.
3.1 Lesen und Lektüre im Freizeitverhalten der Großstädter 1919 wurden der Achtstundentag und das freie Wochenende in Gewerbe- und Dienstleistungsbereichen eingeführt, zwar noch nicht flächendeckend und auf dem Land später als in der Stadt, aber die individuelle Freizeit wurde länger. Vor allem in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre entstanden vorwiegend in den mittelgroßen Städten und in den Großstädten Vergnügungsparks, Tanz- und Sportpaläste, die sich am Geschmack der Masse orientierten. Freizeitaktivitäten fanden in der Weimarer Republik zunehmend außer Haus statt, insbesondere der Sport war im Freizeitbudget ein Konkurrent des Lesens. Diese Freizeitangebote lösten Lektüre als primäres Bildungsund Unterhaltungsmedium zwar nicht ganz ab, wurden aber gleichberechtigt wahrgenommen. Die neue Freizeitgestaltung am ›Weekend‹ folgte US-amerikanischen Vorbildern. Der literarische Geschmack des Massenpublikums orientierte sich stärker am vorherrschenden Zeitgeist als am etablierten Kulturgut. Symptomatisch für den neuen Lesergeschmack war das Bestseller-Phänomen, das als typisch für die 1920er Jahre gelten kann. Wichtiger als Autorennamen und Dichterpersönlichkeiten wurde der Unterhaltungswert der Werke bei der Kaufentscheidung. Das Publikum bevorzugte in erster Linie Romane, die als schnelllebige Bestseller zur raschen Lektüre verführten, die konsumiert werden konnten wie andere Freizeitangebote auch (zu populären Titeln vgl. Abschnitt 3.2). Hotelromane, Sportromane, Romane aus dem Filmmilieu, Großstadtromane und Liebesromane von populären Autoren, z. B. Vicki Baum, wurden flankiert von auflagenstarken Unterhaltungszeitschriften und Magazinen. Die Diskrepanz zwischen dem kulturell Wünschenswerten und der realen kulturellen Praxis wurde in der Weimarer Republik manifest. Ein Beispiel von 1926 mag dies verdeutlichen: Auf die Frage eines Preisausschreibens, das der Börsenverein des deutschen Buchhandels durchführte – »Welche 12 Bücher aus der Zeit der letzten drei Geschlechter gehören in die Hausbücherei jedes gebildeten Deutschen?«16 – wurden fast ausschließlich Werke von Autoren des bürgerlichen Kanons und der Bildungsliteratur genannt: Gottfried Keller, Gustav Freytag, Bismarck, Friedrich Nietzsche, Wilhelm Raabe, Theodor Storm, Friedrich Hebbel, Gerhart Hauptmann, Fritz Reuter, Viktor Scheffel, Thomas Mann, Wilhelm Busch, Eduard Mörike, Adalbert Stifter, Hermann Löns, Conrad Ferdinand Meyer, Wilhelm von Kügelgen und Theodor Fontane. Das großstädtische Weihnachtsgeschäft im selben Jahr war jedoch vom
16 Vgl. das Ergebnis des Preisausschreibens in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel (1927), Heft 100, S. 494 f.
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Bestsellergeschäft bestimmt:17 Emil Ludwigs biographische Romane, vor allem sein Bismarck-Roman (schon 1911), die Werke der Nobelpreisträgerin Sigrid Undset, Jack Londons Romane, Alfred Neumanns Teufel (1926 Neuerscheinung), Stefan Zweigs Novellen Verwirrung der Gefühle (1926 Neuerscheinung), Thomas Manns Unordnung und frühes Leid (1926 Neuerscheinung) sowie John Galsworthys Romane. Die realen Leseinteressen konzentrierten sich auf zeitgenössische Literatur, nicht auf die Klassiker. Auch Abenteuer- und Kriminalgeschichten gehörten zur meistgelesenen Unterhaltungsliteratur. Die pluralistische Gesellschaft der Weimarer Republik entwickelte andere Lektürevorlieben als das Publikum im Wilhelminischen Kaiserreich. Der klassische Kanon war noch bekannt, hatte aber allenfalls noch symbolische Funktion; Lesestoffe waren eine individuellere Angelegenheit geworden und nicht mehr zwingend sozial distinktiv.
3.2 ›Neue Medien‹ und ihre Wechselwirkung mit dem Buchmarkt Der Leser entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg durch ein differenziertes Medienangebot vom Leser zum Mediennutzer. Zwar standen die Unterhaltungsund Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts bereits dem Buch als Lese-Alternative gegenüber, aber die Erweiterung des Medienspektrums machte sich nun in der Hoch- wie in der Populärkultur bemerkbar. In der Weimarer Republik wurden die zeitgenössisch ›neuen‹ Medien schnell zu Leitmedien: Kino, Radio und illustrierte Magazine waren die dominierenden populären Medien (vgl. Hügel 2003, S. 19). Ab 1923 konnte sich das Radio rapide in einer breiten Öffentlichkeit durchsetzen: 1924 knapp 10.000 Hörer, 1925 fast 800.000, 1926 über 1,2 Millionen und 1929 schon 3 Millionen gemeldete Teilnehmer (vgl. Schütz 1989, S. 386). 1932 kamen auf je 1000 Einwohner 66 Rundfunkgeräte. Das Radio wurde zur literarischen Vermittlungsinstanz und zum Bildungsmedium. Seine Funktion als Literaturvermittler umfasste nicht nur die Funkbearbeitung bereits erschienener literarischer Texte, sondern auch das sich schnell etablierende Hörspiel als neue Literaturgattung. Bildungsangebote machten den Schwerpunkt des Programms aus. Das waren neben Musikdarbietungen vor allem literarische Programme in Form von Lesungen »kanonisierter Lyrik, Prosa und Dramatik« (Schütz 1989, S. 296), dann auch Hörspiele. 1925 wurden 450 Sendungen »kanonisierter Literaturdenkmale« ausgestrahlt und 1926 allein 14 Faust-Sendungen (Schütz 1989, S. 384). Buchempfehlungen und literaturkritische Hinweise wurden mehrmals wöchentlich in der ›Stunde mit Büchern‹ gesendet. Wie auch der Film und das Kino wurde die Rolle des Rundfunks von Verlegern, Autoren und Buchhänd-
17 Vgl. den Abdruck der Umfrage unter Berliner Sortimentern in der Literarischen Welt 3 (1927), Heft 2, S. 4.
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lern zunächst kontrovers diskutiert, aber weniger scharf und polemisch kritisiert als der Film. Einen leichten Zugang zum Lesestoff lieferten Verfilmungen bekannter Romane, von denen viele, beflügelt durch die filmische Umsetzung, zu Bestsellern wurden oder bereits Bestseller waren und dadurch die Kinobesuche ankurbelten (vgl. die Beispiele u. a. bei Weil 1986): 1934 wurde Paul Kellers Ferien vom Ich (1915) erstmals verfilmt, der Roman erreichte 1935 eine Auflage von 371.000 Exemplaren (vgl. Richards 1968, S. 163). Bekannt ist auch die Verfilmung (1921/22) der Roman-Trilogie Fridericus (1918), Luise (1908) und Das Volk (1921) von Walter von Molo, die 1936 eine Gesamt auflage von 485.000 Exemplaren erreichte (vgl. Weil 1986, S. 289–291). Legendär sind vor allem die Erfolgsgeschichten aus dem Ullstein Verlag:18 1921 wurde in der Berliner Illustrirten Zeitung der Roman Dr. Mabuse, der Spieler von Norbert Jacques abgedruckt, der Roman erschien anschließend als Buch, und schon 1922 hatte der Stummfilm von Fritz Lang Premiere. Gerhart Hauptmanns Roman Phantom erschien 1922 in der Berliner Illustrirten Zeitung, 1923 dann als Ullstein Buch, und bereits ein Jahr zuvor, im Jahr 1922, war der Stummfilm von Friedrich Wilhelm Murnau gedreht worden. Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque wurde 1928/29 in der Vossischen Zeitung als Fortsetzungsroman abgedruckt. Es folgte unmittelbar die Buchausgabe mit über 1 Million verkaufter Exemplare innerhalb eines Jahres, und 1929/30 kam Remarques Bestseller als Tonfilm in die Kinos. 1929 erschien der Roman Menschen im Hotel von Vicki Baum in der Berliner Illustrirten Zeitung, es folgte das Ullstein Buch für 3 Mark, und 1932 wurde der Roman mit Greta Garbo verfilmt. Als ›Gelbes Ullsteinbuch‹ wurde auch Heinrich Manns schon 1905 erstmals erschienener Roman Professor Unrat wiederaufgelegt, 1930 kam Der blaue Engel mit Emil Jannings und Marlene Dietrich in die Kinos und wurde zum Welterfolg.
3.3 Angebote für spezielle Leseinteressen durch Buchgemeinschaften Zu den etablierten Vertriebswegen für Bücher kamen nach dem Ersten Weltkrieg die Buchgemeinschaften als neue literarische Instanz auf, deren Wurzeln schon in die Zeit um 1900 zurückgehen. Zur Blüte gelangten sie erst in den 1920er Jahren. Sie wurden ursprünglich gegründet, um ihren Mitgliedern preiswerte Lektüre zur Verfügung zu stellen. Die Mitglieder wurden darauf verpflichtet, in einem bestimmten Zeitrahmen – monatlich, vierteljährlich oder halbjährlich – Bücher abzunehmen, entweder in eigener Auswahl oder durch Abnahme eines festgelegten Titels. Für die Buchgemeinschaften hatte dies den Vorteil, die in Lizenz erworbenen oder im eigenen
18 Zu Ullsteins Erfolgsstrategien vgl. Oels, David / Schneider, Ute (Hrsg.): Der ganze Verlag ist eine Bonbonniere. Berlin 2014.
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Verlag produzierten Titel recht genau kalkulieren zu können. Zwischen 1918 und 1933 konnten sich über 40 Buchgemeinschaften etablieren, die entweder mit einem allgemeinen, vor allem aber mit einem zielgruppenorientierten Programm inhaltliche Nischen besetzten, die der traditionelle Buchhandel nicht ausfüllte. Dies konnten religiöse, weltanschauliche oder politische Programme sein, wie z. B. die sozialdemokratische orientierte ›Büchergilde Gutenberg‹ (gegr. 1924, bis 1933 ca. 85.000 Mitglieder) oder ›Der Bücherkreis‹ (gegr. 1924, bis 1927 ca. 44.500 Mitglieder). Das Programmspektrum der Buchgemeinschaften deckte fast sämtliche Interessen von allen sozialen Gruppen oder Strömungen in der pluralistischen Gesellschaft ab, so wurde z. B. »die offensichtlich gefragte, aber im traditionellen Sortiment kaum vorhandene Arbeiterliteratur gleich von sieben Buchgemeinschaften angeboten und zu niedrigen Preisen verkauft« (Melis 2002, S. 555). Darüber hinaus zogen sie durch ihre Preispolitik das durch Inflation und Kaufkraftverluste geschwächte Publikum bürgerlicher Schichten an. Die beiden größten, bürgerlichen Buchgemeinschaften wurden der 1919 gegründete ›Volksverband der Bücherfreunde‹ (bis 1931 traten 750.000 Mitglieder bei) und die 1924 gegründete ›Deutsche Buch-Gemeinschaft‹ (bis 1930 über 400.000 Mitglieder). Bis 1940 waren etwa 1,7 Mio Leser in Buchgemeinschaften organisiert (vgl. Melis 2002). Lektürelenkung durch Vorauswahl kam insbesondere den Lesern entgegen, die vom großen Angebot auf dem Buchmarkt überfordert waren. Die beeindruckenden Mitgliederzahlen beweisen die Attraktivität der Buchgemeinschaften für ein breites Publikum.
3.4 Empirische Untersuchungen zur Bibliotheksnutzung in den Leipziger Bücherhallen Empirische Untersuchungen des Lesepublikums, seiner bevorzugten Lesestoffe und seiner Lesepraktiken wurden punktuell in Form von lokalen Nutzeranalysen in öffentlichen Bibliotheken durchgeführt. Dabei standen in erster Linie Frauen und die Arbeiterschaft im Zentrum des Interesses. Der Direktor der Städtischen Bücherhallen in Leipzig und Gründer des Instituts für Leser- und Schrifttumskunde, Walter Hofmann, publizierte 1931 die Studie Die Lektüre der Frau, eine Analyse des weiblichen Nutzerverhaltens in den Leipziger städtischen Bücherhallen. 1922 bis 1926 wurden dazu Befragungen durchgeführt, die folgendes Ergebnis erbrachten: Bürgerliche Hausfrauen und Frauen aus Arbeiterfamilien bevorzugten dieselben Lesestoffe. Von diesen zu unterscheiden war die Akademikerin, die sich vorwiegend der Hochliteratur widmete. Drastisch deutlich wurde vor allem die geschlechtsspezifische Lektürewahl, die sich von der der Männer grundlegend differenzieren ließ. Die Interessen dieser Leserinnen konzentrierten sich auf einige wenige Sachgebiete. Die erzählende Literatur rangiert mit knapp 72 % aller Entleihungen an der Spitze, Sachliteratur wurde nur zu knapp 24 % ausgeliehen, Gedichte und Dramen zu etwas mehr als 4 %. Allen anderen Themengebieten voran standen die biographischen Werke, gefolgt
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von Reisebeschreibungen, naturkundlichen und historischen Werken (vgl. Hofmann 1931, S. 113). In der Sachliteratur wurden diejenigen Werke bevorzugt, die sich mit der unmittelbaren Lebenspraxis auseinandersetzten, Titel wie z. B. Das Kind, seine körperliche und geistige Pflege von der Geburt bis zur Reife oder Die Seele deines Kindes. In der Belletristik dominierten Werke von Clara Viebig, Marie von Ebner-Eschenbach, Wilhelm von Polenz, Theodor Fontane, Gustav Freytag, Peter Rosegger. Spitzenreiter war Luise von François’ 1871 erstmals veröffentlichter Roman Die letzte Reckenburgerin. Es wurden keine gängigen Bestseller der 1920er Jahre ausgeliehen, sondern meist Literatur, die bereits im 19. Jahrhundert und um die Jahrhundertwende erschienen war. Dieser Befund ist auf die Kataloge der Leipziger Bücherhallen zurückzuführen. Wie Kerstin Barndt ausführt, fehlten beispielsweise im Katalog ›Deutsche Erzähler‹ zeitgenössische Autoren wie Vicki Baum, Alfred Döblin, Hans Fallada, Erich Kästner, Franz Kafka, Irmgard Keun, Annette Kolb, Heinrich und Thomas Mann oder Robert Musil (vgl. Barndt 1999/2000, S. 91). Die Ausleihstatistiken zeichnen also nur ein unzureichendes Bild von der Leserin der Weimarer Republik, was beispielsweise an Hedwigh Courths-Mahler nachweisbar wird, die zwischen 1905 und 1948 insgesamt 208 Liebes- und Familienromane geschrieben hat, davon 59 allein zwischen 1924 und 1930. Bis 1941 erreichten die Romane eine Gesamtauflage von 30 Millionen verkaufter Exemplare.19 Für diese Autorin kommen fast ausschließlich Frauen und Mädchen als Konsumentinnen in Frage. Zur selben Zeit (1922–1926) wie die vorstehende Erhebung wurde vom Institut für Leser- und Schrifttumskunde in Leipzig das Leseverhalten männlicher Arbeiter in Abgrenzung zum bürgerlichen, männlichen Leser in den Leipziger Bücherhallen erfragt.20 Dabei wurde festgestellt: Die Gruppe der lesenden Arbeiter war keineswegs homogen. Zwei große Lektürebereiche, Schöne Literatur und belehrende Literatur inkl. Reisebeschreibungen, und fünf Leser-Gruppen wurden differenziert (vgl. die Zahlen Thier 1939, Anhang, Tab. II.): zunächst der politisch interessierte Arbeiterleser, der vorwiegend (über 30 % seines Pensums von belehrender Lektüre) zu Büchern mit gesellschaftspolitischen Inhalten griff, z. B. zu den Schriften von Marx, Lenin und Trotzki und zu sozialkundlichen Themen ohne parteipolitische Bindung. Daneben las dieser Typ einfache bis gehobene Romanwerke. Die Stellung, die beim politisch interessierten Arbeiter die gesellschaftspolitische Lektüre innehatte, nahm beim ›bildungsbeflissenen‹ Arbeiter die gehobene Schöne Literatur ein (fast 40 %) und fast die Hälfte der belehrenden Lektüre entfiel auf Philosophie, Bildende Kunst, Religion,
19 Vgl. Nutz, Walter: Massenliteratur. In: Horst Albert Glaser (Hrsg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 9: Weimarer Republik – Drittes Reich: Avantgardismus, Parteilichkeit, Exil 1918–1945. Reinbek 1983, S. 207, sowie Graf, Andreas: Hedwig Courths-Mahler. München 2000 (dtv-Portrait. 31035). 20 Die 1939 veröffentlichte Interpretation der Daten ist stark nationalsozialistisch konnotiert, wodurch das vorgelegte statistische Material jedoch nicht seinen Wert verliert (vgl. Thier 1939).
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Literatur und Theater. Die bildungsbeflissenen Arbeiter machten 1926 etwa 15,4 % aller Leser aus, 1932 allerdings nur noch 6 %. Die dritte Gruppe bildeten Leser, deren belehrende Lektüre aus 40 % naturkundlichen Themen bestand, die die meisten Reisebeschreibungen in den Vergleichsgruppen lasen und ansonsten auf einfache Romanlektüre zurückgriffen. Starke Korrelationen ergeben sich bei einer vierten Gruppe, deren Lektüre innerhalb der Sachliteratur zu 50 % aus technischer Literatur bestand und im Ganzen aber zu über 50 % aus einfachen Romanen im Bereich der Schönen Literatur. Die fünfte und letzte Gruppe ließ sich keinem der vier anderen Lesertypen zuordnen, zu undifferenziert war das Leserprofil. Etwa 20 % aller Arbeiter konsumierten überhaupt keine Schöne Literatur, an der belehrenden Literatur partizipierten jedoch alle. Die Lektüremotive beruhten auf politischen und technischen Interessen, die sowohl privat als auch beruflich bedingt waren. Keinen Aufschluss erlaubt die Erhebung über den Umgang der Arbeiter mit Kolportageliteratur, da diese von Bibliotheken nicht zur Verfügung gestellt und somit auch nicht erfragt wurde. Auch die hohen Auflagenzahlen der Heftchenliteratur, die es vorwiegend an Kiosken zu kaufen gab, mit Kriegsromanen, technisch-utopischen Romanen, Science-Fiction und in den 1920er Jahren häufiger auch Western, verweisen auf ein reges Leseinteresse.
4 Lesen im ›Dritten Reich‹ Das ›Dritte Reich‹ als eigenen Abschnitt in der Lesergeschichte abzugrenzen, ist nur bedingt sinnvoll, denn es änderte sich weder die individuelle oder kollektive Lesepraxis noch kamen neue mediale Angebote hinzu oder wurden neue Leserschichten erschlossen. Der offerierte Lesestoff änderte sich jedoch erheblich. Während die (literatur- und buchwissenschaftliche) Forschung über Autoren, Bücher und ihre Verlage im Exil bereits recht gut vorangeschritten ist, wurde erst in den letzten Jahren das Augenmerk auf die Lesekultur innerhalb Deutschlands 1933–1945 gelegt. Die Kanalisierung der Lektüre durch strenge Zensurmaßnahmen kann hier nicht detailreich erläutert werden (vgl. dazu ausführlich Barbian 1993). Es wurden keineswegs nur Bücherverbote ausgesprochen, sondern das Buch wurde im Kontext der modernen Massenmedien als Propagandamittel instrumentalisiert und im Sinne nationalsozialistischer Ziele durch verschiedene Aktionen gefördert (Beispiele bei Van linthout 2012). Neben konkreten wirtschaftlichen Werbemaßnahmen wie die ›Woche des Buches‹ gehörten dazu sowohl die allgemeine Betonung des nationalidentitätsstiftenden kollektiven Umgangs mit dem Buch in Abgrenzung zu anderen Nationen als auch die öffentliche Diskussion über Wertzuschreibungen an Literatur (›gutes Buch‹ vs. ›Kitsch‹). Christian Adam hat eine Studie vorgelegt, in der er die beliebtesten Lesestoffe während des ›Dritten Reichs‹ anhand von Auflagenzahlen rekonstruiert und nach zehn Buchtypen kategorisiert hat (Populäre Sachbücher, NS-Propaganda
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Schrifttum, Kriegsbücher, Humor und Komik, Unterhaltungsbücher, Volksliteratur, Bestseller aus dem Ausland, Klassiker, Nationalsozialistische Autoren, ›Lesefutter für den Krieg‹). Adam betont, dass die verkauften Exemplare keine direkten Rückschlüsse auf das Lesen dieser Titeln zulassen, da vielfach »nicht die Nachfrage das Angebot [bestimmte], sondern gekauft wurde […], was eben gerade zu kaufen war« (Adam 2010, S. 55). Zwischen 1933 und 1945 hat er 350 Bestseller mit einer Auflage von mehr als 100.000 Exemplaren eruiert, darunter etliche Titel aus dem Bereich Populäres Sachbuch wie z. B. Anilin (1937) von Karl Aloys Schenzinger. Diese Kulturgeschichte über die organische Chemie erreichte bis 1945 ca. eine halbe Million Exemplare und wurde noch nach 1945 in etlichen Auflagen zum Longseller. Von Schenzinger stammt auch der Propagandaroman für die Jugend Der Hitlerjunge Quex, der 1931 erschien und 1933 verfilmt wurde. Des Weiteren sind Biographien, Lebensratgeber, Bücher von NS-Funktionären, aber auch Humoristisches beliebte Lesestoffe gewesen. Ähnlich wie in der Weimarer Republik galt für das ›Dritte Reich‹, dass die Popularität von Romanen durch ihre Verfilmung gesteigert wurde. Diese Lesestoffe wurden bis in die Zeit der Bundesrepublik hinein konsumiert und ihre Verfilmungen liefen noch lange Jahre im bundesdeutschen Fernsehen. Prototypisch können die Romane von Heinrich Spoerl genannt werden: Die Feuerzangenbowle (1933), Der Maulkorb (1936), Wenn wir alle Engel wären (1936), Man kann ruhig darüber sprechen. Heitere Geschichten und Plaudereien (1937) und Der Gasmann (1940) erreichten ein Millionenpublikum, nicht zuletzt durch ihre filmische Umsetzung.
5 Forschungsprobleme und -desiderate 5.1 Empirische Daten Wie für fast alle Epochen der Lesergeschichte gilt auch für die Moderne, dass die statistischen Angaben über die Alphabetisierungsraten je nach Forschungsdesign und Fragestellung erhebliche Diskrepanzen aufweisen und meist in ihrer Pauschalität nicht haltbar sind. Schendas Schätzungen des potenziellen Lesepublikums belaufen sich auf 25 % um 1800, 40 % um 1830, 75 % um 1870 und 90 % um 1900 (vgl. Schenda 1988, S. 444). Schön errechnete eine Analphabetenquote von durchschnittlich 12 % im ganzen Deutschen Reich 1871, 18 % bei den Katholiken, 9 % bei den Protestanten (vgl. Schön 1999, S. 50). Die konfessionellen Unterschiede in der Alphabetisierung wären auch zu konfrontieren mit regionalen bzw. lokalen Untersuchungen, die durchschnittliche Schätzungen des potenziellen Lesepublikums in der Gesamtgesellschaft korrigieren könnten. Konsens in der Forschung ist lediglich die Annahme einer fast flächendeckenden Alphabetisierung um 1900. Erich Schön geht davon aus, dass
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zu Anfang des 20. Jahrhunderts der Anteil derjenigen, die so gut lesen konnten, daß sie tatsächlich mindestens ganz gelegentlich auch Unterhaltungsliteratur lasen, etwa zwei Drittel der Erwachsenenbevölkerung betragen haben: Damit war diesbezüglich in etwa die heutige Situation erreicht. (Schön 1999, S. 53)
Aussagen über regelmäßig Lesende sind kaum zu treffen.
5.2 Das Leseverhalten der Landbevölkerung Während die großstädtischen Leser und ihr Lektüregeschmack aus unterschiedlichen Quellen recht gut erforscht sind, ist das Gegenteil für die Landbevölkerung der Fall. Punktuelle Studien zu einzelnen Persönlichkeiten (vgl. Siegert 2014) und die Auswertung von Katalogen der ländlichen Privatbibliotheken oder autobiographischen Zeugnissen lassen keine Generalisierungen zu. Hier besteht noch erheblicher Nachholbedarf in der Erforschung von genauen zeitlichen Verläufen der Alphabetisierung, der Möglichkeiten der Lektürebeschaffung, der Lesehäufigkeit und der Leseorte. Häufig kann bisher nur indirekt über die buchhändlerischen Vertriebswege und die Verbreitung von Presseorganen und Journalen auf die Lesefrequenz und -motivation geschlossen werden. Der Konsum populärer Lesestoffe lässt sich bisweilen ausschließlich über die Auflagenzahlen rekonstruieren, was zwar Rückschlüsse auf den Buchkauf, nicht zwingend aber über die Lektüre eines Titels zulässt. Zu den Desideraten gehört zudem die Untersuchung von Lesemotivationen und Lesesituationen im medialen Kontext.
5.3 Buchbesitz Schließlich ist die Untersuchung des privaten Buchbesitzes sicherlich eines der Desiderate, das am schwierigsten zu schließen ist. Die Buchbestände in Privatbesitz sind nur vereinzelt für das städtische Bürgertum des 19. Jahrhunderts untersucht worden oder, wie oben gezeigt, noch seltener im bäuerlichen Milieu. Meist bleibt es bei Schätzungen. Es existieren nur wenige Studien, die Auskunft geben über die Quantität und qualitative Zusammensetzung von Buchbeständen im Privathaushalt des Kleinbürgers oder der proletarischen Schichten. Hier stehen pauschale Urteile über die Nicht existenz von Lektürestoffen im Vordergrund, die zu verifizieren oder zu falsifizieren wären. Die Bestsellerflut der 1920er Jahre beispielsweise müsste sich im privaten Buchbesitz niedergeschlagen haben.
4.1.4 Moderne
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6 Literatur Adam, Christian: Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich. Berlin 2010. Barbian, Jan Pieter: Literaturpolitik im »Dritten Reich«. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Frankfurt a. M. 1993. Barndt, Kerstin: ›Mittlerinnen zwischen Buch und Volk‹? Die Leserin im literarischen Feld der Weimarer Republik. In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 5 (1999/2000), S. 77–113. Becker, Susanne: Kaiserzeit. Kultivierung der Kommunikation. Familienkulturen und familiale Lesekulturen um 1900. In: Bettina Hurrelmann u. a. (Hrsg.): Lesekindheiten. Familie und Lesesozialisation im historischen Wandel. Weinheim / München 2006, S. 171–291. Birker, Karl: Die deutschen Arbeiterbildungsvereine 1840–1870. Berlin 1973 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin. 10). Bogdal, Klaus-Michael: Arbeiterbewegung und Literatur. In: Edward McInnes / Gerhard Plumpe (Hrsg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890. München 1996, S. 144–175 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 6). Budde, Gunilla: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Darmstadt 2009. Chartier, Roger / Cavallo, Guglielmo: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt a. M. / Paris 1999. Conze, Werner u. a. (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Band 1–4. Stuttgart 1989–1992. Frühwald, Wolfgang: Büchmann und die Folgen. Zur sozialen Funktion des Bildungszitates in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Koselleck (1990) (s. u.), S. 197–219. Häntzschel, Günther: Die häusliche Deklamationspraxis. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Lyrik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Jahrhundertwende. Einzelstudien. Tübingen 1985 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 13), S. 203–233. Hofmann, Walter: Die Lektüre der Frau. Ein Beitrag zur Leserkunde und zur Leserführung. Leipzig 1931. Hügel, Hans-Otto: Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Handbuch populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart / Weimar 2003, S. 1–22. Jochum, Uwe: Kleine Bibliotheksgeschichte. Stuttgart 1993 (UB. 8915). Kaschuba, Wolfgang: Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis. In: Kocka (1995) (s. u.), S. 92–127. Kastner, Barbara: Statistik und Topographie des Verlagswesens. In: Georg Jäger (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1: Das Kaiserreich 1871–1918. Teil 2. München 2003, S. 300–367. Kocka, Jürgen (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987 (Sammlung Vandenhoeck). Kocka, Jürgen (Hrsg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. 3 Bde. 2. Aufl. 1995. Kocka, Jürgen: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft. 10. Aufl. Stuttgart 2001 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. 13). Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. 2: Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990 (Industrielle Welt. 41). Kutsch, Arnulf: Leseinteresse und Lektüre. Die Anfänge der empirischen Lese(r)forschung in Deutschland und den USA am Beginn des 20. Jahrhunderts. Bremen 2008 (Presse und Geschichte – neue Beiträge. 35). Langenbucher, Wolfgang R.: Die Demokratisierung des Lesens in der zweiten Leserevolution. In: Herbert G. Göpfert (Hrsg.): Lesen und leben. Eine Publikation des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in Frankfurt am Main zum 150. Jahrestag der Gründung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler am 30. April 1825 in Leipzig. Frankfurt a. M. 1975, S. 12–35.
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Ute Schneider
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Siegert, Reinhart: Buchbesitz und Büchernutzung von Bauern und Handwerkern im 18. und 19. Jahrhundert. In: IASL. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 39 (2014), Heft 1, S. 184–203. Stöber, Rudolf: Deutsche Pressegeschichte. 2. Aufl. Konstanz 2005. Thier, Erich: Gestaltwandel des Arbeiters im Spiegel seiner Lektüre. Ein Beitrag zu Volkskunde und Leserführung. Leipzig 1939 (Beiträge zur Volksbüchereikunde. 1). Van linthout, Ine: Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik. Berlin / Boston 2011 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 131). Weil, Marianne: Wehrwolf und Biene Maja. Der deutsche Bücherschrank zwischen den Kriegen. Berlin 1986. Wilke, Jürgen: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. 2. Aufl. Köln 2008. Wilkening, Gisela: Die Kommerzialisierung der Jugendliteratur und die Jugendschriftenbewegung um 1900. In: Maase, Kaspar / Kaschuba, Wolfgang (Hrsg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900. Köln / Weimar / Wien 2001 (alltag & kultur. 8), S. 218–251. Wilkes, Walter / Schmidt, Frieder / Hanebutt-Benz, Eva-Maria: Die Buchkultur im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Technische Grundlagen. Hamburg 2011.
Hans-Dieter Kübler
4.1.5 Lesen und Medien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Zusammenfassung: Die Geschichte des Lesens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgt den anerkannten Perioden der Nachkriegsgeschichte: Trümmer- und Aufbauzeit mit Nachholbedarfen und Knappheit, die Restauration mit erstarkendem Konservativismus, aber auch die zögerliche Öffnung für Neues, die Reformphase mit zunehmend internationaler Orientierung, alternativen Marktstrukturen und Protestformen, die rasanten und einschneidenden Expansionen von Fernsehen, Video und Computer mit grundlegenden Erweiterungen des Literaturbegriffs und des Leseverständnisses sowie die deutsche Wiedervereinigung mit neuerlichen sozialen Transformationen. Das Lesen – vornehmlich definiert als Lektüre anerkannter, fiktionaler Literatur – erweist sich in seinen demografischen Ausmaßen entgegen wiederholt geäußerten Befürchtungen als erstaunlich robust, verteilt sich allerdings in einer formal gebildeteren Bevölkerung allmählich ungleicher: Vor allem Frauen bleiben die extensiven und engagierten Buchleserinnen. Abstract: The history of reading follows the recognized periods of post-war history: the years of ruins and reconstruction with both pent-up demand and shortages; the restoration accompanied by an increasing conservatism, but also a hesitant openness to innovation; the reform phase with an increasingly international orientation; alternative market structures and forms of protest; the rapid and dramatic expansion of television, video and computers with fundamental extensions of the term ›literature‹ and of reading comprehension; and also German reunification with further social transformations. Reading – primarily defined as the reading of fiction and literature acknowledged as such – turns out to be quite robust in its demographic dimensions, in contrary to repeatedly articulated fears. However, reading has increasingly become less equally distributed in what is formally a more educated population: women in particular remain the most extensive and committed readers of books.
Inhaltsübersicht 1 Lesegeschichte zwischen kulturgeschichtlichen Perioden und allgemeinen Entwicklungstrends: zur Theorie und Methode — 794 2 Lesen im Kontext von Medien- und Buchmarktentwicklungen — 796 2.1 Kultureller Nachholbedarf, Restauration und Wirtschaftswunder (1945–1967/68) — 796 2.2 Protestbewegungen, Reformen und republikanische Normalität (1968–1989) — 802 2.3 Deutsche Wiedervereinigung, Globalisierung — 805 3 Lesen und Mediengesellschaft: ein kurzes Fazit — 807 4 Literatur — 809
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1 Lesegeschichte zwischen kulturgeschichtlichen Perioden und allgemeinen Entwicklungstrends: zur Theorie und Methode Versucht man die Geschichte des Lesens in historischen Teildisziplinen zu verorten, so ergeben sich mehrere Zuordnungen: Die quantitative (und partiell auch qualitative) Entwicklung des Lesens, vornehmlich als Rezeption von Schrifttexten, lässt sich, seit es empirische Erhebungen gibt,1 unter die Medien(nutzungs)forschung rubrizieren. Allerdings erfassen die empirischen Daten nur die faktischen Aspekte. Lesen ist aber seit jeher kulturell bewertet, meist in emphatischen Tönen, die nicht ohne Einfluss auf das Leseverhalten, dessen individuelle Ausprägungen und soziale Wahrnehmungen bleiben. Dokumentiert ist das Leseverhalten zum einen in subjektiven ›Lesebiographien‹ zum anderen in kulturphilosophischen und -historischen Betrachtungen (vgl. Graf 1997). Seit der anhaltenden Medialisierung polarisieren sie sich vorzugsweise in Apokalypsen über das Verschwinden des Lesens (vgl. Schmitt 1990) und in seine deskriptive Relativierung im Kontext genereller Mediennutzung: Lesen wird dabei als eine ›Medienrezeption‹ (vgl. Klingler u. a. 1998; Wünsch u. a. 2014) neben anderen, etwa dem Hören und Sehen, erachtet. Solche wertbezogenen Attribuierungen und ihre Rekonstruktionen lassen sich am plausibelsten einer reflexiven ›Kulturgeschichte‹ (vgl. Glaser 1991; Schildt / Siegfried 2009) zuordnen. Entwicklungen und Transformationen der Lesestoffe erfasst und interpretiert herkömmlicherweise die ›Literaturgeschichte‹ – als (immanente) Werkgeschichte fokussiert auf die literarischen Produkte, als Sozialgeschichte (vgl. Briegleb / Weigel 1992; Glaser 1997; Grimminger 1986) auch unter Einbezug diverser Vermittlungsinstanzen und des Lesers vornehmlich als Rezeptionskonstrukt (vgl. Jauß 1992). Zunächst wurden gemeinhin nur Werke der Hochliteratur beachtet, erst mit der Öffnung des (normativen) Textbegriffs in den 1970er Jahre wurden auch die Unterhaltungs- und Trivialliteratur sowie andere Lesestoffe, wie Heftchen, Comics und Prosaisches, wie Sachbücher und die Presse, einbezogen. Damit weitete sich die historische Betrachtung zur ›Mediengeschichte‹ (vgl. Faulstich 2012), wobei der Medienbegriff so weit und diffus ausfällt, dass jeweils das Genre, das Format sowie die Akteure und Instanzen seiner Herstellung und Verbreitung darunter fallen können. Allerdings existieren vielfältige Spezialhistoriographien – wie etwa die Biographien und Werkschauen von Autoren, die Chroniken erzählender Formen in bestimmten Perioden und Ländern, die Geschichte der Buchgestaltung, der Presse, von Verlagen, Bibliotheken, Buchhandlungen etc. –, die dabei auch jeweils verschiedene Aspekte des Lesens beleuchten. Daher fällt es schwer oder erscheint letztlich unmöglich, eine konzise
1 Vgl. Kap. 3.2.1 Entstehung und Entwicklung der modernen Lese- und Leserforschung im 20. Jahrhundert in diesem Band.
4.1.5 Lesen und Medien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
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und vollständige Geschichte des Lesens zu (v)erfassen – abgesehen davon, dass eher verlässliche Daten zu besagten objektiven Kontextfeldern vorliegen als zu subjektiven Lesedynamiken (vgl. Baumgärtner 1973; Franzmann u. a. 1999). Bei begrenztem Platz können nur paradigmatische Ausschnitte angeführt werden, die zwischen dem Lesen als Rezeptionsprozess, den Stoffen und Genres, den kontextuellen Akteuren und Instanzen und schließlich dem kulturellen Umfeld changieren und deren Auswahl natürlich nicht ohne subjektive Akzentuierung sind. Diese Geschichte des Lesens in der BRD und der DDR – Österreich und die Deutschschweiz, müssen aus Platzgründen ausgeblendet bleiben – orientiert sich an den anerkannten Periodisierungen der allgemeinen und Kulturgeschichte (vgl. Glaser 1991; Gallus 2008; Schildt / Siegfried 2009): (1) die unmittelbare Nachkriegszeit bis zur staatlichen Gründung der beiden deutschen Staaten (1945 bis 1949); (2) die Phase des Wiederaufbaus, des ›Wirtschaftswunders‹, der Westintegration der BRD und des ›Aufbaus des Sozialismus‹ in der DDR bis etwa 1967/68; (3) die Phase der Reformen und Demokratisierungsbestrebungen (68er-Rebellion, Prager Frühling), der wirtschaftlichen Risiken (Rezession, Ölpreisschock), aber auch der nachmodernen Konsolidierung im Westen und der konformistischen Etablierung im Osten der Teilstaaten, bis zur allmählichen Einstellung des Kalten Kriegs (bis etwa 1983); (4) die anhaltende Globalisierung und wachsende wirtschaftliche Prosperität, damit die Auflösung der beiden polarisierenden Blöcke bis hin zur deutschen Wiedervereinigung, schließlich die zögerliche Annäherung der beiden Landeshälften. Als allgemeine Trends durch die Jahrzehnte lassen sich zunächst ›kulturelle Pluralisierungen‹ ausmachen: Nach 1945 fällt die nationale Orientierung nie mehr so massiv und einseitig aus wie zur Weimarer und erst recht zur NS-Zeit. Die Weltliteratur rückt für viele Leserinnen und Leser ins Blickfeld und gewinnt ständig an Bedeutung; gewissermaßen offiziell verordnet waren im Westen Freundschaftsbekundungen gegenüber den Alliierten, besonders zu den USA, im Osten gegenüber den russischsowjetischen Verbündeten. Mit den verschiedenen Immigrationswellen sowie mit der steigenden Reiselust der Deutschen bei wachsendem Wohlstand und der seit den 1980er Jahren einsetzenden Globalisierung von Wirtschaft, Kultur und Medien weiteten sich die Wissens- und Erfahrungshorizonte und verlangten ein wachsendes multi ethnisches Kultur- und Leseangebot. Die Lektüre bekam jedoch Konkurrenz: Das Radio war mit musikalischer und kurzweiliger Unterhaltung, mit Nachrichten, Hörspielen und Vorträgen zunächst das wichtigste Alltagsmedium, dessen Programm dem Tag zeitliche Strukturen verlieh. Für das außerhäusliche Vergnügen bot sich das Kino an, erst in den 1960er wurde es sukzessive vom Fernsehen abgelöst. Diese recht verschiedenen Diffusionsdynamiken und Nutzungsgewohnheiten werden inzwischen als (weiterer) Trend der ›Medialisierung‹ (vgl. Krotz 2007; Meyen 2009) apostrophiert, den viele für den essenzi
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ellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und erst recht im 21. Jahrhundert) halten und dafür als universales Etikett das der Mediengesellschaft (vgl. Kübler 2009, S. 27–37; Saxer 2012) reklamieren. Immerhin beansprucht die Nutzung der diversen Medien mehr und mehr Anteile der steigenden Freizeit der Menschen, wobei vorrangig das Lesen als bedroht erachtet wurde und wird. Außerdem werden den Medien und ihren wachsenden Nutzungspotenzialen erhebliche kulturelle wie soziale Wirkungen zugeschrieben (vgl. Berg / Kiefer 1978; Reitze / Ridder 2011; Schweiger / Fahr 2013). Aber sicherlich sind sie auch daran beteiligt, dass kulturelle Horizonte geöffnet und entnationalisiert wurden und sich gleichzeitig ein transnationaler Mainstream als auch Subkulturen vor allem unter Jugendlichen (zunächst Swing und Jazz, dann Rock’n’Roll, Beat und Pop) herausbildeten (vgl. Kübler 2011).
2 Lesen im Kontext von Medien- und Buchmarktentwicklungen 2.1 Kultureller Nachholbedarf, Restauration und Wirtschaftswunder (1945–1967/68) Nach der Kapitulation des NS-Regimes herrschten große Desorientierung, sicherlich auch Scham und Angst, und nicht zuletzt eine materielle Not, die zunächst kaum an kulturelle Bedürfnisse denken ließ. Die Gewissenhaften blickten auf das gerade Vergangene mit Entsetzen zurück und die kulturell Aufgeschlossenen freuten sich auf die neuen Freiheiten, die Chance der (Wieder-)Entdeckung der Weltliteratur und der verbotenen Autoren im Exil (vgl. Glaser 1991, S. 13–15, S. 125–128). Die Literaturversorgung war zunächst sehr eingeschränkt, die Nachfrage weitaus größer als das Angebot: Druckkapazitäten und Papier waren knapp, frühere NS-Verlage verboten, neue und die vor dem Krieg bestehenden mussten sich nach der Zuteilung von Lizenzen erst aufbauen. Viele Buchhandlungen – von ihnen gab es Ende 1946 immerhin schon wieder über 2000 (vgl. Glaser, S. 123) – und Bibliotheken waren zerstört. Für 1955 verzeichnete das Statistische Jahrbuch Deutscher Gemeinden erstmals 313 Gemeinden über 10.000 Einwohner mit einer eigenen Volksbücherei, deren Zahl in den nächsten Jahren deutlich anstieg. In diesen Büchereien mussten die Bestände von politisch anstößiger Literatur bereinigt werden. Dazu gab die Deutsche Bücherei in Leipzig 1946 ein Verzeichnis von 15.000 indizierten Buchtiteln und 150 Zeitschriften heraus. Etliche Bibliotheken baten zunächst Privatleute um Buchspenden. Daneben stillte eine wachsende Zahl privater Leihbibliotheken – 1954 waren es im Zenit 20.000 (vgl. Schildt / Siegfried 2009, S. 113) – den enormen Lesehunger, auch mit weniger anspruchsvollen Lesestoffen. Sie verschwanden erst Ende der 1950er Jahre wieder aus den Städten, nachdem wachsender Wohlstand, eine schnell steigende Produk
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tion von Taschenbüchern, eine sich verdichtende Bibliothekslandschaft sowie viele Buchgemeinschaften die Literaturversorgung erleichterten. Zwischen 1945 und 1947 erschienen in Deutschland rund 5000 Bücher neu oder wurden neu aufgelegt. Da die übliche Startauflage 5000 Exemplare betrug, dürften etwa 25 Millionen im Umlauf gewesen sein. In den 1950er Jahren kletterte die Zahl der jährlich produzierten Buchtitel von 14.000 (1952) auf 17.000 (1958), wobei die Belletristik mit gut 17 % an erster Stelle stand. 1514 Titel stammten aus dem Englischen oder Französischen.2 Der Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt kam auf die Idee, umfangreiche, vor 1945 unzugängliche Romane im Zeitungsformat auf den vorhandenen Rotationsmaschinen zu drucken: Ro-Ro-Ro war geboren (vgl. Ziegler 1997, S. 127). Im Dezember 1946 kamen die ersten von insgesamt 25, in loser Folge erscheinenden Nummern auf den Markt, in der Regel mit einer 100.000er Auflage, ein vollständiger Roman, mit Schwarz-Weiß-Zeichnungen, einem Nachwort und einer direkten Ansprache an die Leser. 1950 begegnete Rowohlt der enormen Nachfrage mit einer neuen, in den USA bereits üblichen, klebegebundenen Buchgattung, dem Taschenbuch: rororo trat den Siegeszug einer modernen Literaturverbreitung an. Waren in der ›Trümmerzeit‹ hohe wöchentliche Arbeitszeiten von über 50 Stunden an sechs Werktagen üblich und daher die Freizeit recht begrenzt (vgl. Schildt / Siegfried 2009, S. 98–101; S. 184), so wuchs mit dem wirtschaftlichen Wohlstand auch die frei verfügbare Zeit (40-Stunden- und Fünf-Tage-Woche) allmählich an und markierte einen weiteren, auch für das Lesen maßgeblichen Trend: ›Freizeit‹ verbrachte man zunächst vornehmlich im behaglich ausgestatteten Heim mit häuslichen Tätigkeiten, der Pflege von Hobbys, Spaziergängen, aber auch dem Lesen von Zeitungen, Illustrierten und Büchern. Der Printmarkt wie auch Radio und, ab den 1960ern, vor allem das Fernsehen blühten auf: Nach dem Krieg verfügte nur etwa die Hälfte der Haushalte über ein Radiogerät, aber rasch wurde die Produktion neuer Apparate aufgenommen. Neben populären Unterhaltungsprogrammen und vielfältigen Musiksendungen wurde als Bildungsauftrag auch die Zusammenarbeit mit Verlagen und Autoren verstärkt: Vorträge, Diskussionen und das Hörspiel als neue literarische Form (vgl. Würffel 1978) bildeten neue Programmsparten. Ab Frühjahr 1946 erschienen wieder deutsche Tageszeitungen, freilich nicht mehr mit weltanschaulicher Ausrichtung, sondern eher als »richtungsneutrale Generalanzeiger« (Schildt / Siegfried 2009, S. 110). Neben vielen lokalen formierten sich auch überregionale Zeitungen sowie meinungsbildende Wochenblätter und spezielle Publikumszeitschriften, Frauen- und Modeblätter. Nach der Aufhebung des Lizenzzwangs 1949 erhöhte sich die Zahl der Zeitungstitel sprunghaft von 150 auf fast 550, bis Ende 1950 sogar auf 630 (vgl. Glaser 1991, S. 243). Außerdem erschloss ihr der ein-
2 Vgl. die Angaben zur Buchproduktion in den jährlich erscheinenden Statistiken in Buch und Buchhandel in Zahlen. Hrsg. vom Börsenverein des deutschen Buchhandels. Frankfurt a. M. (ab 1952).
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setzende wirtschaftliche Aufschwung mit Konsumwerbung und Inseraten ergiebige Einnahmequellen. Die gesamte Presseauflage stieg in den 1950er Jahren von 11,1 auf 15,5 Millionen, auch weil die Bevölkerung im Westen anwuchs. Die Abonnementzahlen stagnierten, viele kauften ihre Zeitung lieber am Kiosk. Ein neuer Typus von Tageszeitungen, die Boulevardblätter, entsprachen dieser Gewohnheit und eroberten sich den Markt (von 5 % 1950 auf fast 30 % 1960), allen voran Springers BILD (seit 1952). Erste Erhebungen ergaben, dass etwa 70 % der Erwachsenen regelmäßige Zeitungsleser waren, mehr Männer als Frauen, und dass viele Provinzzeitungen bevorzugten, und darin besonders die lokalen Seiten (vgl. Schulz 1999, S. 408). Eher der Unterhaltung, der populären und emotionalen Einstimmung, als Ratgeber, mit Service-Angeboten und nicht zuletzt der Konsumwerbung dienten die zahlreich gegründeten Publikumszeitschriften, die in ihrer Attraktivität und massenhaften Verbreitung an die beliebten Illustrierten vor der NS-Zeit anknüpfen konnten: Laut Sperlings Zeitschriftenbibliographie erschienen 1947 in allen vier Besatzungszonen 1505 Zeitschriften, weitere 170 in den anderen deutschen Sprachgebieten (vgl. Sperling nach Salzmann 1954, S. 103). Schon 1959 erreichte ihre Gesamtauflage sechs Millionen. Auch die Tradition der Frauen- und Jugendzeitschriften wurde fortgesetzt: Constanze war mit 600.000 Exemplaren Mitte der 1950er Jahre die größte, die spätere Markführerin Brigitte startete im Mai 1954. Die erste kommerzielle Jugendzeitschrift seit 1953 nannte sich Rasselbande, die einige Jahre später über Umwege in Bravo aufging. Diese wurde seit 1957 die Jugendzeitschrift par excellence: 1959 hatte sie schon eine halbe Million vornehmlich Leserinnen, bald über 1,5 Millionen (vgl. Schildt / Siegfried 2009, S. 188 f.). Mit ihrer strikten Konsumorientierung für Jugendliche, ihrem Trendsetting und erklärtem Engagement für alle Probleme der Teenager wurde sie zugleich buntes Sprachrohr und prononcierte Anwältin für die angesagten Jugendszenen im bundesrepublikanischen Wirtschaftswunder. Rund die Hälfte aller Erwachsenen, so ermittelte eine Erhebung um 1960, las wöchentlich eine Publikumszeitschrift, besonders Programmzeitschriften; für viele waren die mitgelieferten Fortsetzungsromane willkommene Lektüre. Die Hör Zu wurde von fast einem Drittel aller bundesdeutschen Erwachsenen genutzt. Verbreitet wurden die Gazetten und Magazine auch über die Lesemappen der Lesezirkel, 15 % der Haushalte nahmen Anfang der 1950er Jahre daran teil. Wenn man die Ausgaben erst vier Wochen später bezog, waren sie um die Hälfte billiger; unbedingte Aktualität war also nicht gefragt. Erst in den 1960er Jahren kaufte man sie lieber am Kiosk und im Supermarkt (vgl. Glasenapp 2003). Dem intellektuellen Austausch über Kunst, Kultur und damit auch Literatur widmeten sich die vielen Kultur- und Politikzeitschriften, die mit idealistischem Elan massenhaft gegründet wurden; sie avancierten zu wichtigen Foren bürgerlicher Selbstverständigung und zu diskursiven Zeugen des Zeitgeists – vielfach auch insoweit, als sie in ihrer Resonanz und Wirksamkeit für das kollektive Bewusstsein retrospektiv überschätzt wurden (vgl. Laurien 2002). Insgesamt wurden für den deutschen Sprachraum zwischen 1950 und 1960 54 literarische Zeitschriften ermittelt (vgl. King
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1974; Fischer / Dietzel 1992), die ununterbrochen erschienen und mit regelmäßigen Rezensionen bzw. nichtkommerziellen Bücheranzeigen versehen waren (Häntzschel 2002, S. 225). Daneben ermöglichten die rasant wachsenden Buchgemeinschaften den günstigen Kauf vornehmlich von Unterhaltungsliteratur: 1952 hatten 38 Buchgemeinschaften eine Million Mitglieder, ein Jahrzehnt (1962) später die sich durch Konzentration behaupteten 15 Buchgemeinschaften fünf Millionen, allen voran der ›Bertelsmann Lesering‹, der zudem mit dem ›Neckermann-Leserkreis‹ die Versandhaus-Kundschaft eines Branchenriesen erreichte, so dass ca. 15 % aller bundesdeutschen Haushalte mit Lesestoff versorgt wurden. 1960 erreichte der ›Bertelsmann Lesering‹ 2,5 Millionen Mitglieder und verkaufte jährlich 30 Millionen Bücher. Zusammen mit der bald doppelten Zahl öffentlicher Bibliotheken, die ebenfalls ihre Bestände öffneten und erheblich erweiterten, bot sich für die breite Mittelschicht ein nunmehr reichhaltiger, günstiger und vielfältig mit Unterhaltungslektüre bestückter Markt. Allerdings besuchten kaum mehr als eine Million Leser regelmäßig oder gelegentlich die Bibliotheken (vgl. Schildt / Siegfried 2009, S. 113). 1950 waren 94,4 % der Taschenbuchproduktion Werke der Belletristik, meist Lizenzausgaben erfolgreicher Romane. Doch auch das Angebot von Sachbüchern im Taschenformat wuchs rasch, 1957 bestritten sie bereits mehr als die Hälfte des Markts. Die Literatur – allen voran die klassischen Werke – wurden zumal aus bildungsbürgerlicher Sicht gewissermaßen demokratisiert. Aber auch neue Optionen kündigten sich an, die inzwischen eingespielt sind: Verfilmungen populärer Literatur, Hörspielfassungen, Porträts von Autoren und Autorinnen auf Hochglanz in den Illustrierten erprobten die wechselseitige Beförderung und Formatierung von Literatur durch die Medien, durch sog. Medienverbünde und Marketingstrategien. Literatur wurde Teil und Faktor des allmählich prosperierenden Freizeit- und Unterhaltungsmarkts. Gleichwohl blieb die Lektürebegeisterung in der Bevölkerung wohl auf eine Minderheit beschränkt: In der ersten groß angelegten Umfrage 1955 vom ›Institut für Demoskopie Allensbach‹, die das Leseverhalten erfasste, gab nur ein Drittel der Befragten an, öfter oder gelegentlich zu lesen. Ein Drittel besaß überhaupt kein Buch, nur ein weiteres Drittel hatte mehr als dreißig Bücher und wurde als Lesebegeisterte gewertet. Auch 1960 zählten nur 5 % der Erwachsenen zu den regelmäßigen Buchkäufern. 1962 rangierte das Lesen mit 15 % auf dem fünften Platz der beliebtesten Freizeittätigkeiten, nach Basteln, Schneidern, Stricken, Handarbeit, aber vor allen anderen Medienaktivitäten. Die Belletristik erreichte keine ersten Rangplätze unter den meist verkauften und beliebten Büchern; dort rangierten die Bibel und Dr. Oetkers-Backbuch (vgl. Schildt / Siegfried, S. 114). Dennoch stieg die Zahl der jährlichen Neuerscheinungen weiter kontinuierlich an: von ca. 23.000 (1960) auf über 45.000 Titel (1970). Sie widersprachen jedenfalls manch aufgeregter Kulturkritik, die mit der allmählichen Verbreitung des Fernsehens in den 1960er das Ende der Lesekultur drohen sah. Und neben den Büchern reüssierten Massen von Heftchen, die besonders in den unteren sozialen Schichten
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verschlungen, über kommerzielle Leihbüchereien – ihre Zahl erreichte 1954 mit über 200.000 (vgl. Faulstich 2002, S. 199–203) ihren Zenit –, Tabakläden und Kioske vertrieben wurden: für die Frauen Liebes- und Adelsromane in Reihen, für ältere Männer Landser- und Marine-Abenteuer, für die jüngeren Männer Krimi- und Westernserien. 1958 waren es etwa 30 Verlage, die monatlich 150 Titel mit einer Durchschnittsauflage von 2000 Exemplaren produzierten. Auch die Publikumszeitschriften verzeichneten in den 1960er Jahren einen enormen Boom und steigerten sich auf eine monatliche Gesamtauflage von ca. 60 Millionen (vgl. Glasenapp 2003, S. 132). Den Kindern wurden die Comic-Figuren des Walt-Disney-Konzerns – allen voran Micky Maus – zu ständigen Begleitern; 1951 erschien das Micky-Maus-Heft erstmals, schnell wurde es als Protagonist einer bedenklichen ›Amerikanisierung‹ verdächtigt (vgl. Dolle-Weinkauff 1990). Als deutsche Konkurrenz schickte Rolf Kauka seit 1953 Fix und Foxy ins Rennen; Tom und Jerry, die Ducks und später auch Asterix und Obelix folgten. Auch Illustrierte und Werbeblätter profitierten vom Comic-Boom: die MeckiFigur in Hör Zu oder Lurchi als Galionsfigur der Schuhmarke Salamander. Comics erweckten frühere Schmutz- und Schunddebatte aus der Weimarer Zeit von neuem. Bei den außerhäuslichen Vergnügungen stand in den 1950er Jahre das Kino obenan, auch wenn die Qualität der Filme vielfach kritisiert wurde. Modernes Kino auf mehr oder weniger attraktivem Niveau wurde aus Hollywood importiert: 1956 zählte man zum Höhepunkt des Kinobooms ca. 820 Millionen Besucher, d. h. jeder Bundesbürger ging – statistisch gesehen – 15,6 Mal in diesem Jahr ins Kino. Danach sanken die Besucherzahler schnell (vgl. Pflaum / Prinzler 1992). Verantwortlich dafür wurde der rasante Siegeszug des neuen Mediums Fernsehens gemacht: In den 1950er Jahren hatte es mit einigen spektakulären Ereignissen (Krönung Elisabeths I., Fußball-Weltmeisterschaft, Olympische Spiele), die meist in Kneipen oder vor Schaufenstern der Elektrofachgeschäfte verfolgt wurden, auf sich aufmerksam gemacht. In den 1960er Jahre kam mit wachsendem Wohlstand das eigene Gerät ins Haus: 1961 waren es schon vier Millionen Geräte oder 25 % aller Haushalte, 1970 über 15 Millionen. Immer billiger, größer und möbelaffiner wurden die Apparate, die man anfangs noch gern in einer Bücher-Kommode oder in einem Musikschrank verbarg. Allmählich veränderte die tägliche Nutzung die bislang herrschende Zeitstruktur des Alltags und fokussierte sie mehr und mehr auf die abendlichen Sendungen. Zurück gingen die Vergnügungen außerhalb der vier Wände, zumal das Fernsehprogramm am Nachmittag und Abend auf über zehn Stunden täglich anwuchs: 1963 ging das ZDF auf Sendung, ab 1964 folgten die Dritten Programme. Die ursprüngliche eher pädagogisch gedachte Vereinbarung, sich mit attraktiven Programmen keine Konkurrenz zu machen und ›Schutzzonen‹ für anspruchsvolle Sendungen zu respektieren, wich bald dem Wettbewerb um die Quote, zumal man mit den Werbeeinblendungen Geld verdienen wollte und musste. Mit ›Straßenfegern‹ fesselte man die gesamte Nation vor dem Bildschirm und beschwörte Zerrbilder von obsessiven, vereinsamten Fernsehabhängigen herauf, die Familie, Kultur und Lektüre vernachlässigten (vgl. Glaser 1991, S. 253–255; Hickethier 1998, S. 142–148, S. 215–227).
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1964 ließ die ARD-Werbeforschung erstmals die Nutzung des gesamtes Medien ensembles in der Studie Massenkommunikation repräsentativ erheben, die seither etwa alle vier Jahre wiederholt wird und daher eine kontinuierliche, seriöse und ergiebige Langzeit-Dokumentation der Mediendaten darstellt (vgl. Berg / Kiefer 1978; Reitze / Ridder 2011); sie zeigt(e), wie das Fernsehen zum Leitmedium für die Bevölkerung aufrückt(e), sowohl was die Nutzungsdauer, die Strukturierung des Tages ablaufs als auch was die Relevanz von Medium, Inhalten und Themen anlangt; ferner dass die anderen Medien, etwa die traditionellen Printmedien, wie Zeitung, Zeitschrift, Buch, sowie der Hörfunk ihren Platz bei den Nutzern, allerdings mit sozial verschiedenen Gewichtungen, behaupten konnten und können. Gleichwohl waren die erkennbaren Verschiebungen in der Medienrelevanz und -nutzung für den Frankfurter Philosophen Jürgen Habermas in seiner viel beachteten Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962; 1990) Indiz dafür, dass sich die klassische, etwas idealisierte Öffentlichkeit vom »kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden« Publikum (Habermas 1990, S. 30) veränderte. Im Osten wurde seit 1946 die literarische Produktion der Ägide und den programmatischen Maximen der Einheitspartei SED und ihren Massenorganisationen (FDGB, FDJ u. a.) unterstellt. Sie sollte die humanistisch-kritischen Traditionen aufgreifen und eine ›sozialistische Nationalliteratur‹ hervorbringen, die seit 1959 dem dekretierten Prinzip des ›sozialistischen Realismus‹ zu folgen hatte und alle anderen Kunststile ausschloss. Seit 1951 war das Amt für Literatur- und Verlagswesen das oberste Kontrollorgan, seit 1954 übernahm die Hauptverwaltung für Verlage und Buchhandel beim Ministerium für Kultur diese Funktion. Zensur wurde zunächst hauptsächlich über die Zuteilung von Papier ausgeübt. Später wurde die inhaltliche Kontrolle von den Verlagen selbst übernommen und jedes Manuskript im Verlag sog. ›Literaturanalysanten‹ und ihren Abteilungsleitern zur Prüfung vorgelegt werden, die die Druck genehmigung erteilten oder über Streichungen entschieden. Rund 80 Verlage wurden in der DDR gegründet, davon über 60 in volks-, partei- bzw. organisationseigener Hand, etwa 15 Verlage waren noch in Privatbesitz, aber ihr wirtschaftliches Potenzial war gering und wurde immer schwächer. Als Großverlage beherrschten die Neugründungen des Dietz Verlags, des Aufbau Verlags und des Verlags Volk und Wissen die DDR-Literaturbranche (vgl. Schönert / Schmitt 1983). Besonders die Presse galt als wichtiges Organ der Agitation und Propaganda und wurde unter dem Staats- und Parteiapparat zentralisiert, so dass auch die früher starke Regionalpresse als nunmehr 14 SED-Bezirkszeitungen von der Ostberliner Zentrale abhängig wurde und nur im Lokalteil ein wenig inhaltlichen Spielraum hatte. Eher in den Publikumszeitschriften zollte man den Unterhaltungsbedürfnissen und mitunter kritischen Haltungen ein wenig Anerkennung. Gleichwohl: Mit täglich 9,7 Millionen verbreiteten Tageszeitungsexemplaren sowie einer 21,4 Millionen Auflage von 508 Zeitschriften wies die DDR für ihre 17 Millionen Einwohner seit den 1970er Jahren eine enorme Pressedichte auf, die die der westlichen Staaten und der Bundesrepublik weit übertraf (vgl. Pürer / Raabe 2007, S. 173–209).
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2.2 Protestbewegungen, Reformen und republikanische Normalität (1968–1989) Wann genau, wie und warum die unmittelbare Nachkriegszeit bzw. Restaurations phase in beiden deutschen Staaten auslief, ist in der Geschichtsschreibung umstritten (vgl. Gallus 2008; Wehler 2008). Für die kulturelle Orientierung und das Bildungsniveau der Bevölkerung – und damit auch für das Lesen – in beiden deutschen Staaten war der sich verschärfende Kalte Krieg von besonderer Relevanz. Als gewichtige Voraussetzungen der Systemkonkurrenz im Kalten Krieg, der seit dem sog. Sputnik-Schock 1957 gerade auch als naturwissenschaftlicher Kompetenz-Wettbewerb ausgetragen wurde, steigerte man jeweils die Bildungsausgaben und forcierte die Bildungsanstrengungen: in der DDR unter dem plakativen Leitbild des ›allseits entwickelten sozialistischen Menschen‹, in der Bundesrepublik anfangs als wirtschaftliche Erfordernis, seit den 1960er Jahren auch als prinzipielles Bürgerrecht und Emanzipationsgebot. Die höheren Bildungsabschlüsse – bis dato Privileg der Bessergestellten – schnellten zwischen 1960 und 1970 um 160 % nach oben, der Anteil der Studierenden verdoppelte sich, von etwa 6 auf über 12 % pro Jahrgang (vgl. Wehler 2008, S. 373–385). Das erweiterte und erhöhte Bildungsniveau unter den Jüngeren steigerte Zahl, Motivation und Kompetenz potenzieller Leser, selbst wenn das Fernsehen die Freizeitbudgets absorbierte und damit den relativen Anteil des Lesens reduzierte (vgl. Berg / Kiefer 1982; Bonfadelli / Saxer 1986; Kübler 1995; Klingler u. a. 1998). Erneut motivierten diese Verschiebungen die notorischen Klagen über den Verfall der Lesekultur, nun ausgelöst durch die Übermacht des ablenkenden Fernsehens. Aus Sicht der sich mehrenden, modernen Lese(r)forschung, die sich von der eher instrumentierten Buchmarktforschung löste (vgl. Muth 1993), schälten sich in allen Industrienationen eine grobe, mehr oder weniger stabile Dreiteilung der Bevölkerung in Viel-, Wenig- und Nichtleser von Büchern heraus (vgl. Fritz / Suess 1986; Saxer u. a. 1989; Stiftung Lesen 1990/1994). Darauf Einfluss nahmen und nehmen primär das Bildungs- und Qualifikationsniveau, sodann das Alter und das Geschlecht sowie die kulturellen und Leseumweltbedingungen im Elternhaus, konkret das Leseverhalten der Eltern. Ein direkter, gar kausaler Zusammenhang mit der Fernsehnutzung konnte nicht nachgewiesen werden (vgl. Hurrelmann u. a. 1993; Bonfadelli u. a. 1993). Von Belang sind auch die Lesezwecke: Die 18- bis 24jährigen in Berufsausbildung und Studium lesen ungleich mehr Sach- und Fachlektüre, nämlich durchschnittlich über 20 Stunden im Monat, als die Älteren über 45 Jahre, bei denen dieser Wert auf neun Stunden sinkt, und denen über 60 Jahre (sechs Stunden). Im Alter erhöht sich hingegen die tägliche Lektüre besonders von Zeitungen (bei den Männern) und von Zeitschriften (bei den Frauen). Die für Belletristik aufgewendete Zeit ist bei Kindern und Jugendlichen überdurchschnittlich hoch; ab der Pubertät, wenn die Freizeit vorwiegend außer Haus verbracht wird, fällt sie ab, um mit dem dritten Lebensjahrzehnt einen relativ stabilen Wert von rund fünf Stunden zu erreichen, bei den Frauen mehr,
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bei den Männern weniger. Er bleibt auch über das Arbeitsleben hinaus bestehen und erhöht sich nur bei wenigen Literaturliebhabern. Mithin lässt sich auch eine biografische Dynamik des Leseverhaltens annehmen, die selbstverständlich gemäß den genannten sozialen Faktoren variiert (vgl. Schön 1987; 1990). Die Lektüre von Sach- und Fachbüchern ist im Unterschied zu der der Belletristik weitgehend außengesteuert; daher finden sich in dieser Gruppe viele, die nach extrinsischen Zwängen wenig oder gar nichts mehr lesen. Nur die Leserinnen, die von ihrer Jugend an Interesse an fiktionaler Literatur – gleich ob sie anspruchsvoller oder trivialer Art ist – entwickelt haben, behalten diese Neigung auch in späteren Lebensjahren bei. Mit der intensivierten Leseforschung entdeckte man auch in den Indus trienationen (und nicht nur in den Entwicklungsländern) den Analphabetismus, den primären etwa bei sprachunkundigen Einwanderern, aber auch den sog. sekundären bzw. funktionellen bei jenen, die in der Schule zu wenige Lese- und Schreibkenntnisse erworben hatten und sie hernach nicht genug weiterentwickelten oder gar verkümmern ließen. Konkrete Ursachen ließen sich nur schwer ermitteln; sicherlich ist die wachsende Migration von Belang. Schätzungsweise 7,5 Millionen Menschen – zählen dazu (vgl. Grotlüschen / Riekmann 2012, S. 74). Mit ihrem vergleichsweise dichten Bibliotheksnetz (wenn auch mit spärlichem Bestand), mit ihren rigiden Bildungs- und Kulturmaßnahmen, zu deren Wahrnehmung jedes Mitglied der ›sozialistischen Gesellschaft‹ verpflichtet wurde, mit Auszeichnungen und Belobigungen von Partei und Staat feierte sich die DDR (im Kon trast zur ›kulturlosen‹ Bundesrepublik) als beispielloses »Leseland« (Klaus Höpcke) oder als vielversprechende »Literaturgesellschaft« (Johannes R. Becher): Beachtlich waren die Ausleihzahlen in den Bibliotheken, notorisch die Lesekampagnen in Schulen, Parteigruppen und Jugendclubs, billig subventioniert die Buchpreise in den freilich wenigen und spärlich sortierten Buchläden, hochgeschätzt die konformen Literaten (vgl. Duclaud u. a. 1990). Laut den wenigen, einigermaßen verlässlichen Erhebungen war jedoch das tatsächliche Leseverhalten der DDR-Bevölkerung nicht umfänglicher und intensiver als das anderer Industrienationen (vgl. Franzmann 1983; Göhler u. a. 1990; Bundeszentrale 2009; Löffler 2011). West- und andere vermeintlich systemgefährliche Literatur gab es nur in Universitäts- und Forschungsbibliotheken für geprüfte Interessenten mit Sonderausweisen (vgl. Jochum 2007, S. 185–187). Kontinuierlich expandierte der bundesrepublikanische Literaturmarkt: Von 1970 bis 1990 erhöhte er seinen jährlichen Ausstoß von schon gut 47.000 auf fast 66.000 Titel. Besonders mit neuen Taschenbuch-Reihen der Verlage S. Fischer, Goldmann, Suhrkamp, dtv und anderen differenzierte sich das schon üppige Angebot weiter aus. In den 1980er Jahren erschien jedes dritte Buch als Taschenbuch. Die bunten und populären Blätter der Regenbogenpresse nahmen die Konkurrenz mit dem Fernsehen mit immer drastischeren Aufmachungen und Skandalgeschichten auf. Mit über 1.300 Titeln und 40 Millionen Exemplaren Anfang der 1970er Jahre verdreifachte sich die Zahl der Zeitschriften und vervierfachte sich die Auflagenhöhe. Bis 1980 erreichte ihre Zahl 6243 Titel mit 104 Millionen verkauften Exemplaren (vgl.
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Wehler 2008, S. 393). Verlage wie Bauer, Burda, Axel Springer und Gruner & Jahr, die ständig mit neuen Titeln und Formaten experimentierten, wuchsen zu mächtigen Verlagskonzernen heran und behaupteten gut die Hälfte des Markts (vgl. Glaser 1991, S. 424). In den Szenen von New York, San Francisco, Chicago wurde die Comicform für die dramatische Aufbereitung oppositioneller und tabuisierter Themen verwendet, die ›Comix‹-Bewegung entstand zunächst im studentischen ›Underground‹ und spülte Ende der 1960er Jahre ihre Figuren nach Deutschland. Comics verloren so ihren kindlichen Touch, sie wurden auch für Erwachsene interessant und in Alben publiziert. 1967 erzielten die 80 populären Heft-Reihen der sechs großen Verlage (besonders Ehapa und Carlsen), die jeweils wöchentlich 30.000 bis 100.000 Exemplare produzierten, einen Umsatz von 160 Millionen. 1971 waren es 370 Millionen, jede Woche wurden sieben Millionen Hefte verkauft. Laut den wenigen Erhebungen war die überwiegende Leserschaft dieser Heftchen in unteren sozialen Milieus, bei ungelernten und Facharbeitern angesiedelt. Offenbar befriedigte dieser triviale Literaturmarkt weitgehend missachtete Lesebedürfnisse und Phantasien; mit ihrer Aufwertung sowie ihrer thematischen und grafischen Vielfalt wurden die Comics indes auch für gebildetere Jugendliche zunehmend interessant (vgl. Wehler 2008, S. 389 f.). Seit jeher lesen Mädchen und Frauen mehr, sie sind zahlenmäßig die größte und extensivste Lesegruppe in der Bevölkerung; vielfach lesen sie auch andere Texte als Jungen und Männer, und sie lesen auf andere Art und Weise.3 Die ebenfalls in den 1970er Jahren aufkommende Frauenbewegung trug diesen Charakteristika erstmals dezidiert Rechnung und brachte Frauenverlage und -buchhandlungen, eine spezielle ›Frauenliteratur‹ sowie eine engagierte, politische Frauenpublizistik hervor: 1976 wurden als Sprachrohr in Berlin die Courage gegründet (bis 1984) und mit journalistisch professionellerem und inhaltlich breiterem Ansatz 1977 die Emma von Alice Schwarzer. Pluralität im politisch-inhaltlichen, Diversifizierung im ökonomischen Sinne wurde in den 1980er Jahren selbstverständlich und verlor großenteils den Gestus des Protests und des Aufbegehrens. Der Literaturmarkt weitete und differenzierte sich ständig weiter aus, wurde internationaler in vorher nie erreichtem Maße. Zunehmend unterwarf er sich allerdings den Bestseller-Gesetzen und wechselseitigen Vermarktungsstrategien des Medienmarkts, allenfalls in den Nischen entdeckte und beförderte man längst untergegangen geglaubte Gattungen wie die Lyrik. Wohl auch als eskapistische Reaktion auf die politisierte Literatur der 1960er Jahre lässt sich der unerwartete Boom des neu kreierten Fantasy-Genres deuten, der weltweit mit John R. R. Tolkiens Trilogie Herr der Ringe breit einsetzte, in Deutschland fortgeführt mit Michael Endes neoromantischen Abenteuern Momo (1973) und Die unendliche Geschichte (1979), beide mit großen Erfolg verfilmt und vielfach vermarktet. Gewis-
3 Zur aktuellen Einschätzung vgl Kap. 2.3.4 Geschlecht und Lesen in diesem Band.
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sermaßen bereiteten solche Titel den Boden für den noch ungleich mächtigeren Boom von Joanne K. Rowlings Harry Potter in den 1990er Jahren. Jedenfalls motivierten sie enorme Lesepotenziale, die die Kulturkritik längst an die audiovisuellen Medien verloren glaubte (vgl. Glaser 1991, S. 361–363). Auch die führenden DDR-Literaten gehörten fast selbstverständlich zu dem breiten Buchmarktangebot; sie konzentrierten sich zunehmend auf Westverlage und -lizenzen (vgl. Schild / Siegfried 2009, S. 457), da nach der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 die zuvor eröffnete innere Liberalisierung in der Ära Honecker abrupt beendet war (vgl. Emmerich 1997).
2.3 Deutsche Wiedervereinigung, Globalisierung Mit der Wiedervereinigung ist die Nachkriegsgeschichte der beiden deutschen Staaten endgültig abgeschlossen und eine neue Phase der deutschen Geschichte (die ›Berliner Republik‹) wurde eingeleitet. Die eingangs umrissenen längerfristigen Trends scheinen über diese politische Zäsur hinwegzugehen. Für die gesamte kulturelle Entwicklung postmoderner Gesellschaften dürfte in den 1990er Jahren die anhaltende Medialisierung, vor allem die Digitalisierung sämtlicher Kommunikationen und Transfers von nachhaltiger Relevanz sein (vgl. Krotz 2007; Meyen 2009; Hepp 2013). Nach der ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation (VI) schrumpfte die Gruppe der intensiven Leser (täglich oder fast täglich ein Buch zur Hand nehmen) ein wenig, von 32 % (1990) über 28 % (1995) auf 24 % (2000) (vgl. Berg / Ridder 2002, S. 208), wie auch die tägliche Zeit für das Bücherlesen (einschließlich Koch-, Gesangund Telefonbuch) nur noch zwischen 16 und 18 Minuten schwankte, mithin sich gegenüber den wachsenden Nutzungszeiten des Fernsehens und des Computers / Internets leicht verringerte (vgl. Faulstich 2010, S. 176). Hingegen verzeichnete die repräsentativen Studie Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend der Stiftung Lesen und des Spiegel-Verlags (2001) leichte Zuwächse und typisierte das Lesepublikum in vier Gruppen: Die Kaum- und Wenigleser nahmen im Vergleich zu 1992 leicht ab, auf 25 und 20 %, während die Anteile der Durchschnitts- und Vielleser auf 27 und 28 % anwuchsen. Besonders die Vielleser lasen häufiger, länger und mehr Bücher, so dass die Leseintensität insgesamt angestiegen war. Allerdings zählten dazu nur wenige unter 30 Jahren, wodurch sich eine markante Divergenz unter den Generationen eröffnet. Unter den Jüngeren scheinen sich neue Lesetechniken, wie das schnelle Überfliegen von Seiten, die Lektüre in kleinen Portionen, mit langen Pausen und der vorzeitige Abbruch bei Nichtgefallen, das parallele Lesen mehrerer Bücher (›Lese-Zapping‹) oder auch die simultane Nutzung anderer Medien während des Lesens, signifikant durchzusetzen, natürlich primär bei der zunehmenden Lektüre von Sach- und Fachliteratur für Ausbildung und Studium. Dennoch wurden diese Befunde als beunruhigende Signale weiterer Leseschwäche angemahnt.
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Aus den USA war zudem der Boom des Hörbuchs herübergeschwappt und erschloss auch hierzulande neue Nutzergruppen unter den Erwachsenen (vgl. Häusermann u. a. 2010). Audiovisuelle Literatur wurde davor vornehmlich als Hörspiele und Märchen für Kinder auf Tonkassette und CD verbreitet. Die ersten Hörbuchverlage entstanden Ende der 1980er Jahre, aber erst ab 2000 sprang die Nachfrage nach oben, so dass einzelne Titel mehr als 100.000-mal verkauft wurden. Nach einer damaligen Erhebung war der klassische Hörbuchnutzer weiblich, etwa 40 Jahre alt, akademisch gebildet und verfügte über ein höheres Einkommen (vgl. Faulstich 2010, S. 174). Außerdem internationalisierten sich Literatur und Lektüre weiter, das Phänomen des international verbreiteten Bestsellers verdeutlichte überwältigend die englische Schriftstellerin Joanne K. Rowling mit ihrer Serie Harry Potter seit 1997, die die einst sorgsam gehegten Grenzen zwischen Jugend- und Erwachsenenliteratur aufhob und das neue, marktgängige Genre der ›All-Age-Literatur‹ initiierte. Der Pressemarkt in der ehemaligen DDR durchlief in wenigen Jahren etliche Umbrüche (vgl. Pürer / Raabe 2007, S. 173–175; Kübler 2010): Nach der Maueröffnung eroberten die Presse-Konzerne des Westens die neuen Bundesländer und lockten anfangs sogar mit speziellen Titeln für die verunsicherte Bevölkerung, wie besonders die Billiggazetten Super!Zeitung oder Super Illu von Burda exemplifizierten. Spätestens 1993/94 war der ostdeutsche Pressemarkt an die westlichen Strukturen angeglichen, die Zahl der publizistischen Einheiten, Verlage, Ausgaben und die Auflagen schrumpften wieder, da das bislang tragende Anzeige- und Werbegeschäft einbrach und sich insbesondere die jüngeren Generationen dem schnell wachsenden OnlineAngeboten – im Oktober 1994 ging Der Spiegel als erster online, zwei Jahre später waren es schon einige hundert Pressetitel (vgl. Wilke 1999, S. 757; Pürer / Raabe 2007, S. 432; Kübler 2010, S. 98) – zuwendeten. Gegen diesen Trend verzeichneten die Publikumsblätter im Verlauf der 1990er Jahre einen regelrechten Boom (vgl. Vogel 1998). Die meist kurzlebigen Experimente in dem neu apostrophierten Segment der (Very-)Special-Interest-Blätter, etwa für Lifestyle, Hobbys und Technik, trugen einerseits den differenzierten Lebens- und Konsumgewohnheiten Rechnung, andererseits schmälerten sie die Auflage der einzelnen Titel, die im Durchschnitt von 237.000 (1987) auf 164.000 (1997) sank (vgl. Schulz 1999). Nach Schätzungen des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger waren 1997 rund 2000 Publikumszeitschriften, 2500 Fachzeitschriften und 350 konfessionelle Blätter auf dem Markt, womit Deutschland weltweit eine Spitzenposition einnahm (vgl. Kübler 2010, S. 94). Doch die durchschnittlichen Nutzungszeiten stagnier- (t)en, zumal bei den jüngeren und weniger gebildeten Gruppen ein anhaltender Rückgang des Leseverhaltens zu verzeichnen war/ist (vgl. Berg / Ridder 2002). Vor allem die tägliche Lektüre der Tageszeitung, meist am Vormittag, gehört nicht mehr zu den gepflegten Routinen der Unter-30-Jährigen; sie bleibt den Älteren vorbehalten (vgl. Noelle-Neumann / Schulz 1993; Rager / Piper 2006). Mit massiven Werbekampagnen wie Zeitung in die Schule reagier(t)en die Zeitungsverlage auf diese Einbußen und unterstütz(t)en so die weit verbreiteten Maßnahmen zur Leseförde
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rung (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2005). Den anhaltenden Trend, der mindestens für die Sachinformationen weg vom Gedruckten führt, aber konnten und können sie kaum aufhalten. Er prägt seither das Leseverhalten insgesamt und verlangt neue Definitionen und Koordinaten für Leseverständnis und -kompetenz.
3 Lesen und Mediengesellschaft: ein kurzes Fazit Notorisch wurden Klagen über den Rückgang des Lesens und der Lesequalität, namentlich bei Kindern und Jugendlichen, wiederholt (vgl. Fröhlich u. a. 1988; Schmitt 1990). Verantwortlich dafür wurde bald nach seiner Verbreitung in den 1960er Jahren das Fernsehen gemacht, später – noch pauschaler – die sog. Mediengesellschaft, deren Merkmale und Funktionen beliebig variiert werden konnten. Im Grunde handelt es sich um eine recht eingängige, aber ungenaue Metapher (vgl. Fritz 1989; Bonfadelli / Bucher 2002; Kübler 2009, S. 27–37; Saxer 2012). Doch verlässliche, genügend differenzierte Daten, die das Leseverhalten und die Lesekompetenz einzelner Bevölkerungsgruppen sowohl im Detail wie in der Entwicklung beleuchten, existieren nicht – zumal nicht im Vergleich zu früheren Phasen. Meist sind es jeweils einmalig erhobene Querschnittstudien, also Momentaufnahmen, oft genug mit geringer Aussagekraft und eingeschränkter Repräsentativität (z. B. Stiftung Lesen 1991). Nur wenige einschlägige Forschungsvorhaben können sich einer komparatistischen Kontinuität erfreuen, wie etwa die Shell-Jugendstudien für die 12- bzw. 15- bis 25-jährigen seit 1953 (Shell Deutschland 2002) oder die Studien Massenkommunikation von ARD/ZDF seit 1964 für die erwachsene Bevölkerung ab 14 Jahren (Berg / Kiefer 1978 u. 1982; Berg / Ridder 2002), aus denen sich Entwicklungen des Lesens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumindest annähernd rekonstruieren lassen, da sie nicht immer dieselben Methoden und Erhebungsinstrumente verwenden. Kinder wurden seinerzeit nur in unregelmäßigen Fallstudien berücksichtigt (vgl. Klingler / Groebel 1994; Kübler 2002, S. 156–163). Eindeutige kausale Wirkungsnachweise für Medienkonkurrenz ließen und lassen sich so nicht finden, geschweige denn verifizieren – wenngleich sie immer wieder vermutet wurden. Eher lassen sich enttäuschte Erwartungen annehmen, dass die seit den Bildungsreformen der 1960er Jahre erwirkten Zunahmen und Steigerungen höherer Bildungsabschlüsse nicht zu unmittelbaren, gewissermaßen selbstläufigen Erhöhungen der Lesedauer, -motivation und -frequenz geführt haben und führen. Offenbar konnten und können Schulen und Hochschulen ihren ehedem unterstellten Auftrag einer humanistischen Bildung (wozu sich hohe Leseintensität und -kompetenz zählen lassen) nicht hinreichend einlösen – oder anders formuliert: Höhere Schul- und akademische Abschlüsse lassen sich augenscheinlich erreichen, ohne dass man zum stabilen, qualifizierten Leser zumal anspruchsvoller und geschätzter Literatur wird. Diese Entwicklungen treffen eher für männliche Jugendliche denn für
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weibliche zu, die gerade der Belletristik treuer bleiben und inzwischen auch mehr und bessere Bildungsabschlüsse erzielen. Keine andere Mediennutzung ist inzwischen derart geschlechtsspezifisch differenziert wie das literarische Lesen (vgl. Groeben / Hurrelmann 2005; Klaus 2005; Lünenborg / Maier 2013). Auf der anderen Seite entlassen die Bildungseinrichtungen immer noch zu viele Jugendliche unqualifiziert ins berufliche Leben, wozu auch ungenügende Lesefähigkeiten gehören, die zu funktionellem Analphabetismus führen können. Dafür sind sicherlich die verstärkte Migration, die wachsende soziale Ungleichheit und kulturelle Benachteiligung verantwortlich, aber auch ein nach wie vor eher selegierendes, denn umfassend und individuell förderndes Bildungssystem (vgl. Wehler 2013). Die inzwischen zahlreichen, engagierten und ideenreichen Initiativen und Projekte zur Lese(kompetenz)förderung, die vor allem von außerschulischen Institutionen der Literatur- und Kulturarbeit (wie Bibliotheken, soziale Träger, Volkshochschulen) – zunehmend auch für Jungen – durchgeführt werden, können diesen Entwicklungen sicherlich entgegenwirken, aber völlig umkehren können sie sie wohl nicht (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2005). Belässt man Lesen in Kontext kultureller und medialer Entwicklungen sowie alltäglicher Verrichtungen, lassen sich für diesen historischen Abschnitt sicherlich Mutationen und Funktionsverschiebungen entdecken: Die Zunahme und rasche Verbreitung elektronischer Medien, voran des Fernsehens, haben das für alle verfügbare Angebot an Unterhaltung und Information immens erhöht und differenziert und damit sicherlich zur Vielfalt von Bedürfnisbefriedigungen und medialen Gebrauchsweisen – zumal bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich – geführt, wie schon die erste einschlägige Studie Kommunikationsverhalten und Medien (Saxer u. a. 1989) belegt hat. Das Buch hat besonders für die Befriedigung emotionaler, kompensatorischer oder eskapistischer Bedürfnisse sein Monopol verloren. Es muss sich in der Medienkonkurrenz behaupten, und entgegen aller Unkenrufe gelingt es ihm im betrachteten Zeitraum recht gut. Ein weiter Literaturbegriff schließt literarische Werke in anderen medialen Formen bzw. Formaten, wie Film, Audio, Fernsehen, Game, mit ein. Mit dem Hörbuch und inzwischen auch mit dem E-Book gewann das alte Medium Buch sogar neue Erscheinungsformen hinzu. Allein das überkommene Modell der Tageszeitung mit aktuellen gedruckten Texten, großenteils finanziert über Anzeigen und weniger über Kauferlöse, scheint sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr zu rechnen und bekommt massive Konkurrenz von billigeren, schnelleren digitalen Varianten (vgl. Ruß-Mohl 2009; Jarren u. a. 2012). Die Lesehäufigkeit brauchen diese nicht zu bedrohen, schon aber die Lesedauer und womöglich auch die Lesequalität: Das kontemplative, räsonierende Lesen passt immer weniger in die Hektik der digitalen Welt.
4.1.5 Lesen und Medien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
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4.1.5 Lesen und Medien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
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4.2 Funktionale Differenzierungen des Lesens
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4.2.1 Politische Implikationen des Lesens Zusammenfassung: Der Beitrag beleuchtet den öffentlichen, aber auch wissenschaftlichen Diskurs, der zu den politischen Implikationen in Form von Leistungen oder Konsequenzen des Lesens für die Gesellschaft geführt worden ist, und zwar speziell in der Perspektive der Mediengeschichte und Medienphilosophie einerseits, aber auch in der Mediensoziologie und Kommunikationswissenschaft andererseits. Abstract: This chapter analyzes the public as well academic discourse on the political implications of reading, in the form of services to or consequences for society, particularly in the perspective of media history and media philosophy on the one hand, and also the perspective of media sociology and communication studies on the other hand.
Inhaltsübersicht 1 Einleitung — 815 2 Buch und Lesen in medienhistorischer und medienphilosophischer Perspektive — 816 3 Funktionen und Leistungen der Printmedien in mediensoziologischer Perspektive — 817 4 Neuere makrotheoretische Ansätze der Wirkungsforschung — 820 4.1 Agenda-Setting-Ansatz — 820 4.2 Wissenskluft-Perspektive — 821 4.3 Kultivierungs-Analyse und Mediamalaise-These — 824 4.4 Online-Schreiben und politische Aktivierung — 825 5 Effekte und Implikationen von Lesen, Fernsehen und Online im Medienvergleich — 826 6 Fazit — 828 7 Literatur — 828
1 Einleitung Im öffentlichen, aber auch wissenschaftlichen Diskurs über das Lesen wird häufig auf den Stellenwert und die Bedeutung der Kulturtechnik Lesen für die Gesellschaft im Allgemeinen, aber auch für das Funktionieren der Demokratie im Speziellen verwiesen. Diese Implikationen des Lesens für Politik und Gesellschaft wurden vor allem in medienhistorischer und medienphilosophischer Perspektive thematisiert, wobei speziell der positive Zusammenhang zwischen Lesen, Massenalphabetisierung und Demokratisierung im deutschen Sprachraum, ja in Europa überhaupt, betont wurde und dann ab den 1960er Jahren die Gefährdung der Buchkultur durch das Fernsehen kontrovers diskutiert worden ist (vgl. Marshall McLuhan 1962 [dt. 1968]; Postman 1985; Noelle-Neumann 1988). Der theoretische Diskurs ist in jüngster Zeit im Kontext der Frage nach der Zukunft des Mediums Buch und des (Buch-)Lesens wieder neu aufgeflammt (vgl. Eco / Carrière 2009). Im Vergleich dazu sind stärker medienso-
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ziologische Erörterungen (vgl. Jäckel 1996; Saxer 1978, 2002, 2010, 2012) oder gar empirische Studien (vgl. Bonfadelli 1994) zu den gesellschaftlichen und politischen Implikationen des Lesens für die Medien- und Wissensgesellschaft vergleichsweise selten geblieben. Schließlich wird auf einer eher impliziten Ebene seit Beginn der 1970er Jahre in verschiedenen Ansätzen der neueren Medienwirkungsforschung wie Agenda-Setting-Theorie, Wissenskluft-Perspektive oder Kultivierungs-Analyse bzw. Mediamalaise-These1 der Faktor Lesen in Entgegensetzung zum Faktor Fernsehen und dessen gesellschaftliche sowie politische Implikationen in der empirischen Forschung untersucht und theoriebezogen erörtert. Nachfolgend soll dieser Diskurs über die Bedeutung des Lesens als Leistungen für und Wirkungen auf Politik und Gesellschaft näher ausgeführt werden, wobei jedoch auf Folgerungen für Medien- bzw. Bildungspolitik nur am Rand eingegangen werden kann.
2 Buch und Lesen in medienhistorischer und medienphilosophischer Perspektive In sozialhistorischen Darstellungen der Herausbildung der Lesekultur und des Buchs bzw. der Zeitung als Basismedien der Kulturtechnik Lesen wird betont, dass sich durch die Massenalphabetisierung in der Frühen Neuzeit ein Wandel zur literalen Gesellschaft vollzogen habe (vgl. Rautenberg / Wetzel 2001, S. 53–56). Am Ende des 18. Jahrhunderts wird die Lektüre mit der Entstehung eines selbstbewussten, antifeudalen Bürgertums zum Ausdruck bürgerlicher Emanzipationsbestrebungen, und das Buch bleibt damit nicht mehr nur ein »Mittel sozialer Disziplinierung durch weltliche und kirchliche Institutionen« (Rautenberg 2002, S. 42). Die Massenalphabetisierung hatte zur Folge, dass immer mehr aus intellektuellen, emotionalen und sozialen Bedürfnissen heraus gelesen wurde, was nicht zuletzt die Nachfrage nach auf Zerstreuung und Unterhaltung ausgerichteten Büchern erhöhte. Obwohl sich damit die Hoffnungen auf eine breite Politisierung auch der unteren Schichten durch die Buchlektüre nicht erfüllten, bleibt die Bedeutung des Lesens ganz allgemein und der Zeitungslektüre im Speziellen auch im 20. Jahrhundert eng verknüpft mit den Ansprüchen einer funktionierenden Demokratie auf informierte und partizipierende Bürgerinnen und Bürger der Zivilgesellschaft. Die Bedeutung der Printmedien als Mittel der Informationsverbreitung und der Wissensgenerierung hat sich nicht zuletzt in den 1960er und 1970er Jahren mit dem Aufkommen des Fernsehens noch verstärkt. Darum erstaunt es nicht, dass in soziologischen und medienphilosophischen Analysen im Zusammenhang mit der These vom »Buch in der Medienkonkurrenz« herausgestrichen wird, dass das Lesen eine Schlüsselqualifikation in modernen Gesellschaften sei und das Buch das unverzichtbare
1 Vgl. Kap. 1.4 Sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze in diesem Band.
4.2.1 Politische Implikationen des Lesens
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Basismedium der Lesekultur auch in Zukunft bleiben werde (vgl. Saxer 1975, 2002). So fragt beispielsweise Wolfgang Schäuble in seinem Beitrag zum Kongress Lesen in der Informationsgesellschaft der Stiftung Lesen rhetorisch: »Kann sich eine demokratische Gesellschaft die Erosion der Lesekultur leisten?« (Schäuble 1997, S. 29), und antwortet mit der These, dass die Lesekultur eine unverzichtbare Voraussetzung der demokratischen Gesellschaft bilde, die informierte, urteilsfähige und verantwortungsbewusste Bürger mit sozialer Kompetenz und Engagement brauche (vgl. Schäuble 1997, S. 35 f.). Das Lesen erfordere und fördere Konzentration und Ausdauer, Phantasie und Abstraktionsvermögen, Kritikfähigkeit und Reflexionsvermögen. Es ist darum nach Schäuble die Schlüsselqualifikation und die Basis-Kulturtechnik der modernen Demokratie. In medienphilosophischen Analysen, etwa von Herbert Marshall McLuhan (1962 [dt. 1968]) oder Neil Postman (1985), wird hingegen auf der Basis einer auf die Medientechnik zentrierten Perspektive und mit Fokus auf das Fernsehen als Konkurrenz zum Lesen herausgestrichen, dass das Fernsehen als Bildmedium jedes Thema als Unterhaltung präsentiere – Stichwort »Infotainment« mit hoher Erlebnisqualität – und dadurch logisches Denken zugunsten von Emotionalität und Oberflächlichkeit verdrängt werde, was letztlich zu einer »Trivialisierung der öffentlichen Information« führe (Postman 1985, S. 137 f.). Im Unterschied und in Abgrenzung dazu ist das Buch kein ›Nebenbei‹Medium. Und beim Lesen als Umgang mit der abstrakten Schrift handle es sich immer um einen aktiven und eigenbestimmten Prozess der Sinnaneignung, der »anstrengende Reproduktionsprozesse abverlange« (Rautenberg / Wetzel 2001, S. 43 f.), die länger und aufwändiger seien etwa im Unterschied zum bloßen Hören oder gar Sehen. Lesen muss als kulturelle Praxis erlernt werden. Das habitualisierte Lesen rege die Phantasietätigkeit an, weil es umfassendere Verarbeitung als visuelle Darstellungen verlange (vgl. Singer / Singer 1988, S. 108), verbessere die Erinnerung sogar an TV-Nachrichten (vgl. Stauffer u. a. 1978, 1981) und generiere zudem einen höheren Wissensstand (vgl. Stanovich / Cunningham 1993). Und auf gesellschaftlicher Ebene wird Alphabetisierung als das technische Erlernen von Lesen und Schreiben als »Vorbedingungen für die Einübung in einen Kanon von kulturellen und sozialen Einstellungen und Verhaltensweisen« (Rautenberg / Wetzel 2001, S. 44) betrachtet, welche es erlauben, sich in einer Gesellschaft literal zu verhalten. Schrift ist in den Medien Buch oder Zeitung medientechnisch zwar materiell repräsentiert, aber erst der konkrete und habitualisierte Umgang damit wird als sozial-kulturelles Handeln verwirklicht.
3 Funktionen und Leistungen der Printmedien in mediensoziologischer Perspektive Seit Mitte der 1970er Jahre beschäftigt sich die soziologisch orientierte Publizistikund Kommunikationswissenschaft im Rahmen einer struktur-funktionalistischen und später systemtheoretischen Perspektive (vgl. Luhmann 1996) mit den gesell
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schaftlichen Funktionen und Leistungen der Medien bzw. der Publizistik. Dabei sind insbesondere die Analysen von Ulrich Saxer (1991, 1995, 2012) zu den Medien als problemlösenden Systemen und zum Lesen als Problemlösung hervorzuheben, wobei er einerseits zwischen Medienleistungen im Sinne von Funktionen für die Gesellschaft und andererseits zwischen Medienleistungen in Form von materieller Bereitstellungsqualität der Medienorganisationen, sprich: Buchverlage, Buchhandlungen und Bibliotheken, sowie dem Gratifikationsprofil für die Leser unterscheidet (siehe Abb. 1). Medienfunktionalität
Medienleistung
Bereitstellungsqualität
Gratifikationsprofil
Abb. 1: Die Komplexität von Medienleistung (Darstellung nach Saxer 2010, S. 90)
Medien erbringen nach dieser systemtheoretischen Perspektive (vgl. auch Luhmann 1996, S. 169–182) für die funktional differenzierte moderne Gesellschaft auf Dauer gestellte Leistungen, insbesondere für die Subsysteme Politik, Wirtschaft und Kultur, und ermöglichen so durch komplexe Prozesse der Selbst- und Fremdreferenz die Selbstbeobachtung der Gesellschaft. Genannt werden dabei meist die Funktionen der Information und Orientierung, Meinungsbildung und Bildung sowie Kritik und Kontrolle. Schließlich dienen Medien auch der Unterhaltung und Zerstreuung. Die Grundfunktionen speziell von Buch und Lesen können analog zu jenen der übrigen Medien über ihre inhaltlichen Angebote als informierendes (vgl. Christmann 2004) vs. unterhaltendes (vgl. Klimmt / Vorderer 2004) Gratifikationspotenzial polar gegenübergestellt oder nach informierenden, kommentierenden, bildenden und ästhetisch-unterhaltenden Leistungen differenziert werden (vgl. Rautenberg / Wetzel 2001, S. 50). Damit werden sozial wie historisch determinierte und in vielfältigen Sozialisationsprozessen (vgl. Groeben / Hurrelmann 2004) individuell weitergegebene Lektürezwecke angesprochen, die auf personaler Ebene im Rahmen des sog. Nutzenansatzes (engl. Uses-and-Gratifications Approach)2 empirisch sowohl bei Kindern und
2 Vgl. Kap. 1.4 Sozial- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze in diesem Band.
4.2.1 Politische Implikationen des Lesens
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Jugendlichen (vgl. Saxer u. a. 1980) als auch bei Erwachsenen (vgl. Dehm u. a. 2005) untersucht worden sind. Was die Wirkungen der Kulturtechnik Lesen anbelangt, so werden dem Lesen und den Lesemedien ganz allgemein im Kontext des Erschließens von Texten meist kognitive Leistungen und Effekte wie Abstraktion, Reflexivität und Distanzierung als Voraussetzung für kognitive Elaboration zugeschrieben und daraus gefolgert, dass das Lesen darum in besonderem Maße zur Bewältigung der Komplexität der Informations- und Wissensgesellschaft sowie der Politik beitragen würde (vgl. Saxer 2012, S. 418). Allerdings ermöglichten nach Cornelia Bohn (1999) erst Schrift und Druck die Institutionalisierung einer Kritik-, Vergleichs- und Unterscheidungskultur, was wieder im Gegenzug die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung von Kommunikation steigert (vgl. Bohn 2005, S. 367). Schließlich werden dem Lesen und der Nutzung der Printmedien auch wichtige Funktionen im Prozess der Enkulturation als Hineinwachsen in die Gesellschaft zugeschrieben, indem kollektiv geteiltes und nicht zuletzt auch gesellschaftlich verbindliches Wissen in Form von Normen und Werten weitergegeben wird. Speziell für die gesellschaftlich-kulturelle Integration von Migranten wird betont und ist auch empirisch nachgewiesen worden, dass der Umgang mit und das Erlernen der Sprache der neuen Aufnahmekultur die Auseinandersetzung mit neuen kulturellen Lebensstilen und Wertvorstellungen mit sich bringt und so nicht nur zur gesellschaftlichen Integration, sondern auch zum Bildungserfolg beitrage (vgl. Bucher / Bonfadelli 2007; Allemann-Ghionda u. a. 2010; Desmond 2012). Obwohl die normativen Funktionen und die aktuell erbrachten Leistungen der Kulturtechnik Lesen für die Informations- und Mediengesellschaft und neuerdings auch aus einer stärker ökonomisch geprägten Perspektive für die Wissensgesellschaft (vgl. Vowe 2008) herausgestrichen werden, mangelt es an theoretischen Perspektiven mit Anschlussfähigkeit zur empirischen Umsetzung, welche die Leistung des Lesens und dessen politische Implikationen genauer zu spezifizieren vermöchten. Im Prozess der Lesesozialisation werden dabei essenzielle Basiskompetenzen für das Funktionieren der Demokratie vermittelt und erworben wie die unerlässliche Norm bzw. Pflicht, sich als Bürger sachbezogen zu informieren und auf dem Laufenden zu halten – duty to keep informed (McCombs / Poindexter 1985; Poindexter / McCombs 2001) – und sich aktiv nicht zuletzt durch Nutzung des klassischen Mediums Zeitung und des neuen Mediums Internet Wissen anzueignen und an der Politik zu partizipieren (vgl. Maier 2009). In Abgrenzung und Gegenüberstellung dazu gibt es aus der empirischen Forschung Belege, dass die ausschließliche Nutzung des Fernsehens zur politischen Information tendenziell mit geringer Informiertheit zusammengeht (vgl. Maurer 2009), und vor diesem Hintergrund postuliert zudem die pessimistische ›Video- oder Mediamalaise‹-These sogar, dass hohe TV-Nutzung zu negativen Politikbildern und Politikverdrossenheit führe (vgl. Holtz-Bacha 1990). Eine Ausnahme zum eher theoretisch geführten Diskurs über die Konsequenzen des Lesens bilden zwei Ansätze der empirischen Medienwirkungsforschung mit Implikationen des Lesens für Politik und Gesellschaft: der Agenda-Setting-Ansatz
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(vgl. Eichhorn 1996; Rössler 1997) einerseits und die Wissenskluft-Perspektive (vgl. Bonfadelli 1994; Wirth 1997) andererseits. Beide theoretischen Perspektiven der empirischen Medienwirkungsforschung (vgl. Bonfadelli / Friemel 2011) beschäftigen sich mit den Konsequenzen des Lesens informierender Texte im Rahmen der politischen Kommunikation, wobei beim Agenda-Setting-Ansatz die Wirkungen auf Ebene der persönlichen Bedeutsamkeitseinschätzung gesellschaftlicher Themen und bei der Wissenskluft-Perspektive die gesellschaftliche Verbreitung von Information und der Erwerb von Wissens im Zentrum stehen. Damit beschäftigen sich beide Perspektiven der eher mikrotheoretischen Wirkungsforschung mit den politischen Implikationen des Lesens auch auf einer Makro-Ebene. Dies gilt ebenso für die neue Diskussion zum Aktivierungspotenzial des Internets und speziell von Foren und Blogs im Web 2.0, wobei medien-deterministisch argumentiert wird, dass die interaktiv-horizontale Struktur des Social Web neue Partizipationsmöglichkeiten eröffne und anrege (vgl. Winkel 2001; Schrape 2012).
4 Neuere makrotheoretische Ansätze der Wirkungsforschung 4.1 Agenda-Setting-Ansatz Die Agenda-Setting-Theorie wurde zu Beginn der 1970er Jahre von den beiden amerikanischen Kommunikationswissenschaftlern Maxwell McCombs und Donald Shaw formuliert und empirisch in einer Wahlstudie getestet. Der Ansatz gilt seither als wichtigste theoretische Perspektive der neueren Wirkungsforschung (vgl. Bonfadelli / Friemel 2011, S. 181–195). Er repräsentiert einen Paradigmenwechsel in der Wahlforschung, weil seit den 1950er Jahren den Medien nur noch ein minimaler Einfluss auf das Wählerverhalten zugeschrieben wurde, und zwar im Sinne der Bestätigung und Verstärkung latent vorhandener politischer Prädispositionen. Der Wechsel der Perspektive der Medienwirkungsforschung, weg von Einstellungen und Einstellungsbeeinflussung und hin zur Auswahl und Gewichtung von Medienthemen und zur Beeinflussung von Themenprioritäten, entdeckt neu wieder starke Medieneffekte. Bei der Agenda-Setting-Funktion der Medien handelt es sich um ein positiv bewertetes Medienwirkungsphänomen der Homogenisierung: Medien fokussieren die Aufmerksamkeit der Bürger der Zivilgesellschaft durch ihre politische Berichterstattung auf einen Set gemeinsamer öffentlich relevanter Themen, was für den politischen Prozess als funktional bewertet wird. Medien wählen täglich aus der Vielzahl an möglichen Themen aufgrund von Nachrichtenwerten eine begrenzte Zahl relevanter Themen aus. Die unterschiedlich häufige und intensive Berichterstattung über die ver
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schiedenen aktuellen Themen führt zur Bildung der sog. Medien-Agenda. Und diese Themensetzung durch die Medien wird nach der Agenda-Setting-Hypothese von den Bürgern im Prozess des sog. Agenda-Settings übernommen. Die Medien bestimmen so über die wahrgenommene Dringlichkeit von politischen bzw. gesellschaftlichen Problemen wie Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Atomausstieg, Klimaerwärmung u. a. m. Die Medien-Agenda selbst entsteht wiederum in Prozessen der Wechselwirkung zwischen Journalisten und Akteuren des politischen Systems, welche entsprechend ihren Interessen die Medien-Agenda durch Einflussprozesse des Agenda-Building zu bestimmen versuchen (vgl. Eichhorn 1996; Rössler 1997). In der empirischen Umsetzung des Agenda-Setting-Ansatzes werden mittels unterschiedlicher Methoden die im Agenda-Setting-Prozess involvierten drei Instanzen erfasst: (1) Die primäre Realität, d. h. die außermediale Wirklichkeit der Welt oder Gesellschaft wird als sog. objektive Realität mittels unterschiedlicher Indikatoren ge- messen wie z. B. Kriminalitätsstatistiken oder parlamentarischen Vorstößen als Indikator für die sog. Policy-Agenda. (2) Die sekundäre bzw. Medienrealität wird üblicherweise mittels standardisierter Inhaltsanalysen gemessen, um die Gewichtung der Themen im Zeitverlauf zu erfassen. (3) Schließlich wird die Publikums-Agenda durch repräsentative Bevölkerungsumfragen erfasst, wobei meist nach den persönlich als dringlich und lösungsbedürftigen aktuellen Problemen gefragt wird. Als Basishypothese wird davon ausgegangen, dass sich die Intensitätszunahme der Berichterstattung über ein Thema in der Zunahme der perzipierten Dringlichkeit bei der Bevölkerung spiegelt. Verschiedene Meta-Analysen der Forschung zeigen, dass die Theorie gut bestätigt ist. Im Medienvergleich zeigt sich, dass das Lesen von Tageszeitungen eine leicht stärkere Themenstrukturierungsfunktion hat als das Fernsehen. Neben der Mediennutzung spielt aber auch die interpersonale Kommunikation in Form von Gesprächen eine intervenierende Rolle (vgl. Eichhorn 1996, S. 30–40; Rössler 1997, S. 144–153).
4.2 Wissenskluft-Perspektive Im Unterschied zum Agenda-Setting-Ansatz fokussiert die Wissenskluft-Hypothese nicht nur auf die Kenntnis und Prioritäteneinschätzung von politischen Themen und Problemen, sondern befasst sich mit den komplexen Prozessen der Informationsverbreitung in der Gesellschaft und der Wissensaneignung durch die Bevölkerung, nicht zuletzt als Folge von Leseprozessen. Die Wissenskluft-Hypothese wurde erstmals von den amerikanischen Soziologen Phillip Tichenor, George Donohue und Clarice Olien 1970 formuliert und postuliert
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in einer gesellschaftlichen Perspektive: Wenn der Informationsfluss über ein Thema ansteigt, tendieren die Bevölkerungssegmente mit höherem sozioökonomischem Status und/oder höherer Bildung zu einer rascheren Aneignung dieser Information als die status- und bildungsmäßig tiefer gestellten Segmente, so dass als Folge die Wissenskluft zwischen diesen Segmenten tendenziell zu- statt abnimmt (vgl. Bonfadelli 1994, S. 62). Die gesellschaftliche Relevanz oder Brisanz der WissenskluftHypothese besteht darin, dass die Medien nicht, wie üblicherweise angenommen, zu einer generellen Informiertheit der Bevölkerung beitragen, sondern dass die Medien als sog. Trendverstärker funktionieren, und zwar im Sinne des sog. Matthäus-Effekts: ›Wer hat, dem wird gegeben.‹ Nicht alle Bürger vermögen somit von der durch die Medien verbreiteten Information gleichermaßen zu profitieren, wobei nicht nur zwischen dem ungleichen Zugang zur Information (z. B. Zeitunglesen vs. Fernsehen), sondern auch bezüglich der differenziellen Rezeption und Verarbeitung unterschieden werden muss. Die Wissenskluft-Perspektive thematisiert und hinterfragt somit die normative Forderung der Teilhabe aller an gesellschaftlicher Information und Wissen (vgl. Lenz / Zillien 2005, S. 238), indem sie postuliert, dass trotz prinzipieller Zugänglichkeit, ja Überfluss von Information und Wissen in der modernen Informations-, Wissens- und Mediengesellschaft die Teilhabemöglichkeiten speziell von bildungsfernen Gruppen im Sinne der Aufrechterhaltung von kultureller Differenzierung und gesellschaftlicher Ungleichheit weiterhin beschränkt bleiben. Erklärt wird das Entstehen von Wissensunterschieden zwischen den verschiedenen sozialen Segmenten der Gesellschaft dadurch, dass bildungsmäßig und sozial privilegierte Menschen vor allem die informationsreichen Printmedien intensiver nutzen, also mehr lesen, und die dort vermittelte Information intensiver und vorteilhafter aufzunehmen vermögen, nicht zuletzt wegen ihres umfangreicheren Vorwissens auf der Basis ihres höheren Bildungshintergrunds, aber auch weil sie über besser ausgebildete Lesefertigkeiten und Medienkompetenzen verfügen. Zusätzlich zeigen sie sich gegenüber politischen und gesellschaftlichen Problemen interessierter und sind darum für Wissensaneignung motivierter; sie verfügen auch über mehr interpersonale Beziehungen für Gespräche über aktuelle Themen. Seit Formulierung der Basishypothese sind mehrere Hundert empirische Untersuchungen zu verschiedensten Themenfeldern durchgeführt worden (vgl. Bonfadelli 1994, S. 138–232), und zwar mit einem Höhepunkt in den 1980er und 1990er Jahren. Generell zeigt sich in Querschnitt-Studien, dass der Wissensstand tatsächlich meist zwischen den verschiedenen Bildungsgruppen stark segmentiert ist. In vielen Studien konnte zudem ein signifikanter Einfluss des Lesens von Zeitungen auf den Wissensstand nachgewiesen werden, während die Nutzung des Fernsehens im Allgemeinen, aber auch die Nutzung von Fernsehnachrichten vielfach nicht mit der Informiertheit korreliert, wenn Drittfaktoren kontrolliert werden. Allerdings sind die Evidenzen bei Längsschnittstudien über eine bestimmte Zeit hinweg weniger eindeutig, wie MetaAnalysen zeigen (vgl. Hwang / Jeong 2009). Von Relevanz ist hier nicht zuletzt der
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spezifizierende Befund, dass wenn Personen aus bildungsfernen Milieus tatsächlich die Zeitung lesen, dies ausgleichend wirkt bzw. die Entstehung von Wissensklüften hemmt (vgl. Bonfadelli 1978). Das bildungsschwache Segment vermag demnach überdurchschnittlich durch die Lektüre von Printmedien zu profitieren. Die Wissenskluft-Perspektive und deren Umsetzung sind sowohl in methodischer als auch in theoretischer Hinsicht nicht ohne Kritik geblieben. In empirischer Hinsicht ist vor allem kritisiert worden, dass in vielen Studien nur ein sog. Schulbuch-Wissen abgefragt wird, was Befragte mit höherer formaler Bildung begünstige. Zusätzlich fokussieren viele Studien auf politisches Wissen im engeren Sinn oder sogar auf Kenntnisse auf dem Bereich von Technik und Wissenschaft. In theoretischer Hinsicht ist die Erklärung von Wissenskluft-Phänomenen schon frühzeitig durch James S. Ettema und F. Gerald Kline (1977) kritisiert worden. Sie betonen mit ihrer sog. Differenz-Hypothese, dass Wissensklüfte nicht einseitig nur als strukturelle Defizite betrachtet werden sollten, sondern auch als Differenzen gesehen werden können, welche unterschiedliche Interessen und Motivationen im Erwerb von Wissen spiegeln. Nicht überindividuelle bzw. strukturelle Bedingungen wie Schicht und Bildung sind nach ihnen die Auslösefaktoren für Wissensunterschiede, sondern situativ variierende Lebensumstände und individuelle Interessenslagen, welche für heutige Multioptionsgesellschaften typisch sind. Nojin Kwak (1999) synthetisierte die beiden rivalisierenden Defizit- und Differenz-Modelle im sog. Kontingenz-Modell. Nach diesem spielen bei der Entstehung von Wissensklüften sowohl Bildung als auch Motivation eine entscheidende Rolle, und zwar in unterschiedlichen Konstellationen: Beispielsweise verstärken sich bestehende Wissensklüfte bei hoher Motivation im Zeitverlauf nur unwesentlich oder gar nicht, akzentuieren sich aber bei nur schwacher Motivation deutlich. Es handelt sich somit bei Bildung und Motivation nicht um ein ›entweder oder‹; vielmehr ist das jeweilige Zusammenspiel der beiden Einflussfaktoren genauer zu spezifizieren. Wie oben angedeutet, spielen das Lesen und die Nutzung der Printmedien Buch und Zeitung bei der Entstehung von Wissensklüften eine entscheidende Rolle. In diesem Zusammenhang kommt nicht zuletzt der Bildungs- und Sozialisationsforschung eine wichtige Rolle zu (vgl. Saxer 1978), weil auch die Schule die Lesechancen nach sozialer Herkunft ungleich verteilt. Zu fragen ist hier einerseits nach den Prozessen der Lesesozialisation in schriftfernen Lebenswelten (vgl. Pieper u. a. 2004) und andererseits danach, wie sozial ungleiche Voraussetzungen der Lesemotivation und Lesekompetenz in der Schule weiter verstärkt oder allenfalls abgeschwächt zu werden vermögen (vgl. Gattermayer 2003; Kraaykamp 2003; Guthrie u. a. 2007). Bildungspolitische Implikationen hat auch der empirisch beispielsweise in der Studie Lesen in Deutschland 2008 (Stiftung Lesen 2008) belegte Befund, dass Personen mit Migrationshintergrund im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung weniger lesen. In der öffentlichen Debatte wird dies im Kontext von ›missglückter‹ gesellschaftlicher Integration von Migranten kontrovers diskutiert. Dabei meist vom sog. Medienghetto die Rede, d. h. dass Ausländer in Deutschland vor allem dem Fernse
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hen aus ihren Herkunftsländern verhaftet bleiben. Umgekehrt wird als funktional und integrationsbefördernd das Lesen von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern gewertet, sofern dies in Deutsch, d. h. der Sprache des Aufnahmelandes Deutschland, geschieht. Allerdings sind die bislang dazu vorhandenen empirischen Evidenzen nach wie vor äußerst spärlich. Bei der Interpretation der Befunde muss allerdings zwischen Migrationshintergrund und sozialer Schicht differenziert werden. Vermeintliche Einflüsse des Migrationshintergrunds erweisen sich nämlich vielfach als durch den tiefen Schichtstatus der meisten Migranten verursacht.
4.3 Kultivierungs-Analyse und Mediamalaise-These Schließlich soll noch kurz auf die anfangs der 1970er Jahre formulierte und empirisch untersuchte Kultivierungs-Analyse eingegangen werden. Dieser Ansatz fokussiert im Unterschied zur Wissenskluft-Perspektive auf das Fernsehen und postuliert nicht differenzierende, sondern homogenisierende, aber negativ bewertete Medienwirkungen (vgl. Bonfadelli / Friemel 2011, S. 260–269). Das Fernsehen kultiviert nach George Gerber von der Annenberg School for Communication wegen seiner kommerziellen und aufs Populäre hin ausgerichteten Unterhaltungsproduktion eine von der Alltagswirklichkeit systematisch abweichende TV-Realität, welche u. a. durch ein überproportionales Ausmaß an Gewalt gekennzeichnet sei. Diese homogenen Fernsehinhalte würden von den TV-Zuschauern nicht selektiv genutzt und förderten wiederum bei Viel-Sehern im Unterschied zu Wenig-Sehern stereotype Wirklichkeitsvorstellungen, etwa in dem Sinn, als das Risiko, auch im Alltag Opfer von Gewalt zu werden, überschätzt wird und konsonant dazu auch Angstgefühle und Misstrauen überdurchschnittlich häufig vorkommen. Gerade weil die Kultivierungs-Analyse sog. Mainstream-Effekte des Unterhaltungsmediums Fernsehen prognostiziert, wäre es sinnvoll zu fragen und auch empirisch zu untersuchen, inwiefern solche homogenisierenden Medienwirkungen bei Vielnutzern von Printmedien im Vergleich und Unterschied zu Vielnutzern beim Fernsehen nicht oder nur in abgeschwächter Form sich herausbilden bzw. vorhanden sind. Mitte der 1970er Jahre ist das der Kultivierungsanalyse verwandte ›VideoMalaise‹- Phänomen, später Media-Malaise genannt, erstmals von Michael J. Robinson (1975) postuliert und mit empirischen Befunden belegt worden. Darunter wird der kumulativ negative Langzeiteinfluss speziell der politischen Berichterstattung des kommerziellen US-Fernsehens auf das Vertrauen in und die Partizipation an der Politik verstanden. Die hohe Glaubwürdigkeit des Fernsehens, zusammen mit Negativität und Konfliktbetonung in der Berichterstattung führen dazu, dass das Vertrauen in die Politik untergraben werde und politische Abstinenz und Entfremdung zunehmen würden. Die später dazu durchgeführten empirischen Studien erbrachten allerdings keine konsistenten Befunde (vgl. Bonfadelli / Friemel 2011, S. 26–27).
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Interessant ist, dass in Westdeutschland parallel zur Einführung und Verbreitung des Fernsehens in den 1960er Jahren mit dem neuen Medium zunächst große Hoffnungen verbunden wurden, indem diesem eine politische Mobilisierungsfunktion zugeschrieben wurde (vgl. Schulz 2008, S. 206–215). Aber angestoßen durch die amerikanische Video-Malaise-These hat Christina Holtz-Bacha (1990, 1994) in Deutschland eine erste größere empirische Studie durchgeführt und als Fazit nicht die Fernsehnutzung per se als Verursacher des Media-Malaise-Effekts verantwortlich gemacht, sondern differenzierend den unterhaltungsorientierten Umgang mit dem Fernsehen. Nach ihrer Interpretation würde somit nicht einfach die Nutzung von Printmedien wie Zeitungen der Media-Malaise entgegenwirken. Auch eine unterhaltungsorientierte Nutzung der Printmedien korreliert nach ihrer Studie mit erhöhten Media-Malaise-Werten. Zusammenfassend betrachtet scheinen es somit nicht ausschließlich Angebotsspezifika des Fernsehens oder allenfalls der Printmedien zu sein, welche negative oder positive politische Implikationen haben, sondern die Interaktion von spezifischen Nutzungsmotiven mit medienspezifisch politischen Angeboten.
4.4 Online-Schreiben und politische Aktivierung Im Unterschied zum Fernsehen sind mit der Einführung des Internets und der damit verbundenen Online-Kommunikation von Beginn an tendenziell positive politische Implikationen im öffentlichen Diskurs verknüpft worden. Medienzentrisch ist in einer ersten Phase meist damit argumentiert worden, dass das Internet den horizontal gleichberechtigten interaktiven Austausch zwischen den beteiligten OnlineNutzern erlaube (vgl. Bonfadelli 2004, S. 203–211). Und dies habe politische Implikationen, insofern das Internet sowohl aktive Nutzer verlange, als auch den direkten interaktiven Austausch von Meinungen zwischen den Bürgern erlaube. Dadurch würden bestehende Partizipationsbarrieren abgebaut, und es eröffneten sich neue Partizipationschancen in der sog. Cyberdemokratie (vgl. Scherer 1998; Winkel 2001; Emmer / Wolling 2010). Diese pauschalisierenden Hoffnungen sind allerdings durch den Hinweis darauf relativiert worden, dass nicht die technischen Kommunikationspotenziale prioritär für die politische Partizipation entscheidend seien, sondern vielmehr Disparitäten bezüglich Bildung und sozialem Status (vgl. Donges / Jarren 1999, S. 106). Seit der Weiterentwicklung des Internets zum Social Web hat die Diskussion über neue Partizipationspotenziale speziell der (politischen) Blogs neuen Auftrieb erhalten (vgl. Schrape 2012). Im Unterschied zur ersten Phase des Diskurses wird jetzt nicht mehr nur allgemein auf die neuen medientechnischen Potenziale des Internets rekurriert, sondern die konkreten Schreibaktivitäten von Bloggern stehen im Zentrum. Gefragt und empirisch untersucht wird beispielsweise, welche Themen in Blogs dominieren und inwiefern etwa in politischen Blogs Bürger sich tatsächlich im Sinne von Deliberation mit den Argumenten anderer Blogger aus
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einandersetzen. Die bis jetzt für Deutschland vorliegenden empirischen Befunde zeigen allerdings, dass trotz mittlerweile hoher Verbreitung und auch regelmäßiger Nutzung des Internets (76 % mindestens gelegentlich) nur eine Minderheit von 26 % angeben, mindestens einmal wöchentlich aktiv in Online-Foren zu chatten (vgl. Van Eimeren / Frees 2012, S. 369). Martin Emmer und Gerhard Vowe (2008) folgern darum aus ihrer Längsschnitt-Panelstudie, dass den neuen Formen der internetbasierten politischen Kommunikation bis jetzt allenfalls eine komplementäre Funktion zu den traditionellen Formen der politischen Beteiligung zukomme, aber kaum Substitutionseffekte erkennbar seien.
5 Effekte und Implikationen von Lesen, Fernsehen und Online im Medienvergleich Sowohl im öffentlichen wie auch im akademischen Diskurs über die politischen Implikationen des Lesens werden der Kulturtechnik Lesen im Rahmen einer medienzentrierten Perspektive idealtypisch meist erwünschte positive politische Implikationen zugeschrieben und konsonant dazu das Medium Buch und die Lesekultur als unverzichtbare Voraussetzung demokratischer Gesellschaften betrachtet, die entsprechend auch bildungs- und kulturpolitischer Förderung bedürfen. Verwiesen wird dazu einerseits auf die Spezifika des Mediums Buch und des Codes Schrift im Unterschied zum Fernsehen mit seinem dominanten Code Bild und den daraus abgeleiteten Unterschieden auf der Ebene des Rezeptionsprozesses, welche wiederum Implikationen haben sowohl für die Gesellschaft als auch für die Politik (siehe Tab. 1). Beim Lesen wird idealtypisch positiv hervorgehoben, dass die eigenbestimmte Lesegeschwindigkeit und die Leserführung durch den linearen Text als medienspezifische Charakteristika, zusammen mit dem abstrakten Code Schrift im Rezeptionsprozess einerseits Konzentration und Ausdauer fördern, andererseits die kognitive Auseinandersetzung bzw. Elaborierung mit dem Gelesenen stimulieren. Dies befördere längerfristig sowohl Phantasie und Kreativität als auch Reflexionsvermögen und Kritikfähigkeit. Nach der Verstehensforschung können im konkreten Fall jedoch negativ ein zu hoher Abstraktionsgrad, zu viele Fremdworte und ein zu komplexer Textaufbau Lesemotivation und Textverständnis auch beeinträchtigen. Beim Fernsehen wird demgegenüber beispielsweise in der TV-Nachrichtenforschung (vgl. Brosius 1998) negativ bewertet, dass das fremdbestimmte Tempo der Rezeption, zusammen mit dem Auseinanderklaffen von Text und Bild sowie der Fokussierung auf Personen und Emotionalität, zu Ablenkung und kognitiver Überforderung führen. Als Folge der starken Konzentration nur auf die lebhaften, aber wenig informativen Standardbilder unterbleiben weiterführende Verstehensleistungen. Positiv wird allerdings auch betont, dass die potenziell gute Abstimmung von
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Tab. 1: Dem Lesen, Fernsehen und Internet idealtypisch zugeschriebene Charakteristika Medien
Printmedien & Lesen
Fernsehen
Online
Medium Code
––Linearität, Zurück blättern möglich ––abstrakte Symbole
––fixer linearer Zeitablauf ––konkrete Bilder
––Nicht lineare Verlinkung ––Multimedialität
Rezeption
––eigenaktiv selbstgesteuertes Tempo ––informations- & unterhaltungsmotiviert
––passiv konsumierend fremdbestimmtes Tempo ––tendenziell unterschaltungs motiviert
––aktiv-interaktive ZweiwegKommunikation ––Navigation informationsorientiert
Effekte beim Individuum
Förderung von: ––Konzentration & Ausdauer ––Abstraktionsvermögen ––Phantasie & Kreativität ––kognitiver Elaboration ––Reflexionsvermögen ––Kritikfähigkeit
Förderung von: ––bloßem Hinsehen ––Nebenbei-Nutzung ––Oberflächlichkeit ––Unterhaltungs orientierung ––Emotionalität ––Personalisierung
Förderung von: ––Individualkommunikation ––Tendenz zu Zielgruppenpublika ––Bestätigung eigener Meinungen ––Anschlusskommunikation ––Veröffentlichung des Privaten ––räumliche Entgrenzung
Implikationen für Politik und Gesellschaft
––Informiertheit ––Fokussierung auf gemeinsame Themen ––Vermittlung von Normen & Werten ––Integrationsfunktion ––politische Partizipation
––Halb- / Falschwissen ––Vertrauensverlust & politisches Misstrauen ––Politikverdrossenheit ––Politische Abstinenz
––Informiertheit ––Fragmentierung von Wissen und Themen ––verstärkte Individualisierung politische (Online-) Partizipation
Text und Bild im Sinne von Redundanz die Informationsaufnahme befördern könnte. Längerfristig würden jedoch die unterhaltungsorientierte Nutzung zusammen mit Personalisierung, Emotionalisierung und Negativität der Inhalte tendenziell Vertrauensverlust und Politikverdrossenheit kultivieren. Bei der Online-Kommunikation wird demgegenüber vor dem Hintergrund des aktiven und eigenbestimmten Rezeptionsprozesses die Multimedialität meist positiv bewertet. Allerdings zeigt sich, dass die im Unterschied zu schriftlichen Texten nichtlineare Struktur Navigationsprobleme zur Folge hat, was Verstehensleistungen beeinträchtigen kann. Als längerfristiger Effekt wird dem Internet aber meist positiv gesellschaftliche Aktivierung und erhöhte politische Partizipation zugeschrieben. Diese positiven Effekte äußern sich nicht zuletzt in Form von medial ermöglichten und stimulierten Schreibaktivitäten beispielsweise in Diskussionsforen. Allerdings wird
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kritisch im Gegensatz zu den Printmedien die Gefahr der gesellschaftlichen Fragmentierung gesehen.
6 Fazit Obwohl der Kulturtechnik Lesen und den Printmedien sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in medienhistorischen und medienphilosophischen Erörterungen konsonant ein hoher Stellenwert für die Gesellschaft und das Funktionieren der Demokratie zugesprochen wird, mag erstaunen, dass die empirische Medienwirkungsforschung selbst sich bislang kaum explizit und systematisch mit den politischen Implikationen der Nutzung von Printmedien und des Lesens ganz allgemein auseinandergesetzt hat. Immerhin finden sich im Rahmen der Agenda-Setting-Perspektive konsistente Belege dafür, dass die (Print-)Medien durch Fokussierung auf gemeinsame Themen bei den Bürgern geteilte politische Prioritäten erzeugen, welche für das Funktionieren der Politik als unabdingbar betrachtet werden. Nach der Wissenskluft-Perspektive tragen speziell die Printmedien zwar zur politischen Informiertheit bei, allerdings vermögen nicht alle gleichermaßen zu profitieren, so dass als Gefahr wachsende Wissensklüfte zwischen den bildungsmäßig privilegierten und den bildungsfernen Segmenten diagnostiziert werden. Allerdings führt die Nutzung von Printmedien, sofern sie durch die Weniger-Gebildeten tatsächlich genutzt werden, zu einer Homogenisierung des Wissens bzw. zu einer Verringerung von Wissensklüften. Zukunftsorientiert hat das Internet und speziell das Social Web jedoch in jüngster Zeit vermehrt empirische Forschung zu den politischen Implikationen des Schreibens und des Verfassens von Texten im Kontext politischer Partizipation stimuliert.
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4.2.2 Lesen als Identitätskonstruktion und soziale Integration Zusammenfassung: Eine zentrale Funktion des Lesens ist die Schaffung individueller und sozialer Identität. Mit der Ausdifferenzierung der Medienlandschaft verschwindet die durch das Lesen geprägte bürgerliche Leseidentität. Lesen, Lesemedien und Lesestoffe werden im Kontext anderer Medien zu Optionen während der Identitätsarbeit. Nach der theoretischen Modellierung im Rahmen des symbolischen Interaktionismus hat Lesen eine Bedeutung als Ressource von Identität, als Bestandteil der eigenen Identitätsbiographie und als Objekt der Inszenierung und Zuschreibung von Identität in sozialen Interaktionssituationen. Abstract: One function of reading in society is the creation of individual and social identity. As a consequence of the expansion of different media types since the 20th century, civil identity, which was formed through reading, is fading. Reading, media for reading and the content of reading become merely options for identity formation in the context of other media. Following the theory of symbolic interactionism, reading can be described as a resource for constructing identity, as a part of the individual biography of identity, or as an object for presentation and attribution of identity in social interactions.
Inhaltsübersicht 1 Identität und Lesen — 833 2 Identitätsforschung in soziologischer und historischer Perspektive — 834 3 Identitätsarbeit Lesen — 838 3.1 Leseidentität — 840 3.2 Lesebiographien — 842 3.3 Lesen in sozialen Interaktionsprozessen — 844 4 Tendenzen und Desiderate — 848 5 Literatur — 850
1 Identität und Lesen Lese- und Leserforschung befasst sich in vielfältigen Perspektiven mit dem Prozess des Lesens, den einzelnen Lesern und den Institutionen, welche mit dem Lesen in Beziehung stehen. Eher selten ist dagegen die Erforschung des Lesens in makroskopischer sozialer Perspektive. Dabei ist das Lesen bzw. dessen Verbreitung in historischer Perspektive eine relevante Voraussetzung der Entstehung unserer heutigen Gesellschaft, da es die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Subjekte prägt. Eine im Sinne sozialer Akzeptanz gelungene Identitätsbildung der Subjekte innerhalb von Gemeinschaften ist eine der zentralen Leistungen, die Gesellschaften erbringen müssen. Primäre Sozialisationsinstanzen zur Entwicklung von sozialer Identität sind Familien, Bildungs-
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einrichtungen und soziale Sinngemeinschaften, in denen über zwischenmenschliche Kommunikation Identität entsteht. Anerkannt ist inzwischen auch die Bedeutung der Massenmedien als vierte Instanz der Identitätsbildung. Besonderes Augenmerk erhält hier bisher das Fernsehen, obwohl das gedruckte Wort und damit das Lesen schon weit vorher Einfluss auf die Identitätsbildung genommen hat. So steht ›Ich bin, was ich gelesen habe‹ metaphorisch für das bürgerliche Bildungsideal, welches sich im Zuge der ausbreitenden Lesefähigkeit seit dem 18. und 19. Jahrhundert entwickelt hat, bis weit ins 20. Jahrhundert umfassende Geltung besaß und auch heute noch von verschiedenen Interessengruppen als Basis einer gelungenen Identität gesehen wird.
2 Identitätsforschung in soziologischer und historischer Perspektive Identität ist ein problematischer Begriff, dem im Alltag ein gewohnheitsmäßiger Umgang zu eigen ist, der tiefergehende Analysen erschwert, »[d]enn der Ausdruck ›Identität‹ bezeichnet ein altes philosophisches und logisches Problem, wie mit Verschiedenheit und Einheit oder Gleichheit von Gegensätzlichkeit reflexiv umgegangen werden kann.« (Uhle 1997, S. 15) Zugleich ist der Begriff der Identität auch in wissenschaftlicher Hinsicht schwierig zu definieren, denn er bezeichnet ein grundlegendes Theorem des Menschen in seiner sozialen Umwelt, das die Fragen danach stellt, wer man selbst und wer der andere ist. Identität ist nicht das kausale Ergebnis klar definierter Prozesse, sondern entsteht in komplexen Zusammenhängen vielfältiger Aspekte. Medienidentitäten und damit auch Leseidentitäten besitzen bislang kaum theoretische Fundierungen und sind für empirische Forschung unzureichend operationalisiert. Dies hängt auch damit zusammen, dass Identität ein interdisziplinärer und kontrovers diskutierter Forschungsgegenstand ist, der als Synonym kognitiver Selbstbilder, habitueller Prägungen, sozialer Rollen, performativer Leistungen und Lebenserzählungen Verwendung findet. Die breite Beschäftigung mit dem Thema über mehrere Disziplinen hinweg führt zu unterschiedlichen Ergebnissen, die sich gegenseitig befruchten, ergänzen, aber auch widersprechen.1
1 So findet beispielsweise auf Basis der Arbeiten Sigmund Freuds und Jacques Lacans Identitätsforschung in psychologischer Perspektive statt, welche zur Theorie der psychosozialen Entwicklung von Erik Homburger Erikson führte (vgl. Erikson, Erik Homburger: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M. 1966). Diese wiederum führte zu pädagogischen Identitäts-Konzepten als Entwicklungsprozess während des Heranwachsens (vgl. z. B. Mollenhauer, Klaus: Theorien zum Erziehungsprozeß. Zur Einführung in erziehungswissenschaftliche Fragestellungen. München 1982; ders.: Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung. Weinheim / München 2003). Weniger anwendungsbezogen findet Identitätsforschung auch traditionell in philosophischen Überlegungen statt, z. B. bei Theodor Adorno oder Jacques Derrida. Identitätskonzepte finden sich darüber hinaus beispielsweise u. a. auch
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Besonders kompatibel zu den Ergebnissen der bestehenden Lese- und Leserforschung sind soziologische Ansätze, in denen Identität als soziale Leistung der Integration von Subjekten in Gemeinschaften im Vordergrund steht. Entsprechende Fragestellungen beziehen sich hauptsächlich darauf, wie man Menschen als individuelle Subjekte fassen kann, wie diese Individualität entsteht und wie trotz dieser Individualität Sozialität entstehen kann. Im Mittelpunkt stehen somit individuelle Identitätsperspektiven und der Einfluss sozialer Strukturen in ihrer Wechselwirkung. Diese Wechselwirkungen lassen sich auch für Leser und spezifische Organisationen und Institutionen des Lesens nachweisen. Identität entsteht in dieser Perspektive genau wie individuelle Lesebiographien im Verhältnis individueller subjektiver Motive, Intentionen und Bedürfnisse und sozial konturierten Handlungszwängen, Normen, Institutionen und Normalitätsvorstellungen. Die Betrachtungen zur Funktion des Lesens für Identität und damit für Gesellschaft erfolgen in diesem Beitrag vornehmlich aus der Perspektive des symbolischen Interaktionismus nach George Herbert Mead (vgl. Mead 1973, 1987), dessen Präzisierungen durch Erving Goffman (vgl. Goffman 1969, 1971, 1977) und Anselm Strauss (vgl. Strauss 1975) sowie den Interpretationen von Lothar Krappmann (vgl. Krappmann 1988) und Heiner Keupp (vgl. Keupp u. a. 1999). Diese Perspektive eignet sich nicht nur besonders gut, weil sie weitgehend anerkannt ist und die Beziehungen von Individuum und Gesellschaft in besonderem Maße fokussiert, sondern auch, weil sie die Grundlage zur Erforschung von ›Medienidentitäten‹ in den Cultural Studies darstellt, die besonders durch Erkenntnisse von Friedrich Krotz (vgl. Krotz 2003), Andreas Hepp, Carsten Winter (vgl. Winter u. a. 2003) und Stuart Hall (vgl. Hall 1994, 1999) in diesem Beitrag Berücksichtigung finden. Die dem symbolischen Interaktionismus zugeordnete strukturanalytische Rezeptionsforschung ist zudem das bisher einzige Sozialisationskonzept, das Medien als Instanz der Identitätsbildung eine fundierte Bedeutung einräumt. Mead begreift in seiner handlungstheoretischen Perspektive Bedeutung nicht als Differenz von Zeichen, sondern als Verbindung von signifikanten Symbolen mit tatsächlichen sozialen Handlungen. Besondere Bedeutung in diesen symbolisch vermittelten Interaktionen erlangt Kultur als gemeinsamer Sinnhorizont von Subjekten. Kultur ermöglicht das bewusste oder unbewusste Verstehen des jeweils anderen. Die so entstehende Verlässlichkeit von Verhaltenserwartungen in typischen sozialen Handlungen ist ein entscheidender Mechanismus der Identitätsbildung zwischen Darstellung und Zuschreibung. Goffman sah sich selbst nie dem symbolischen Interaktionismus zugehörig, dennoch bauen seine Arbeiten stark auf den Theorien Meads auf
in den Arbeiten von Jan Assmann, Zygmut Baumann, Simone de Beauvoir, Gernot Böhme, Niklas Luhmann, Talcott Parsons, Jürgen Habermas, Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Emile Durkheim, Alois Hahn, Herbert Marcuse, Richard Sennett, Charles Taylor, Georg Simmel oder Max Weber (vgl. auch Jörissen / Zirfaß 2010).
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und beheben zugleich einen der größten Kritikpunkte, nämlich die geringe Berücksichtigung sozialer Einflussnahme auf Identität. Goffman berücksichtigt stärker als Mead jene sozialen Regelungsstrukturen, welche Einfluss auf die subjektive Identitätsbildung nehmen und ergänzte Meads Theorie dadurch, dass Identität »innerhalb der institutionellen Möglichkeiten, der kulturellen Repertoires und der Alltagsroutinen als Erzählungs- und Darstellungschoreographie erfolgt« (Hettlage 2000, S. 19). Er erweitert den Identitätsbegriff zudem um die identitätsstiftende Differenz, welche als Abweichung von sozialen Standards den Grundbaustein zur Differenzierung der eigenen individuellen Identität von Identitäten anderer Subjekte darstellt. Das auf Mead und Goffman basierende heutige Grundlagenmodell soziologisch interpretierter Identität erstellte Krappmann, der die Theorie des symbolischen Interaktionismus weiterentwickelte und mit dem psychologischen Modell von Erikson verband. Krappmann hebt in seiner Arbeit insbesondere die Schnittstelle zwischen persönlichen Identitätsentwürfen und sozialen Zuschreibungen durch Andere in Interaktionen zur Entstehung von Identität hervor. Neben den grundlegenden Konzepten des symbolischen Interaktionismus sind insbesondere jene zeitgenössischen Identitätstheorien relevant, welche aus Struktur- und Prozessmodellen unter dem Einfluss postmoderner Individualisierungs- und Modernisierungsprozesse bestehen. Anthony Giddens betont in seinen Arbeiten den Dualismus zwischen sozialen Strukturen und individuellen Handlungen, wobei letztere immer stärker durch das Phänomen der sich gewandelten Moderne beeinflusst werden (vgl. Giddens 1991; Renn 2010). Individualisierung beschreibt nach Giddens einen Bruch der Vergesellschaftung bzw. Identität von Individuen durch die Auflösung fester sozialer Zuschreibungen wie Herkunft oder Klassenzugehörigkeit. Ulrich Beck geht in seinen Arbeiten noch einen Schritt weiter und stellt im Rahmen seiner Gesellschaftstheorie zur Risikogesellschaft die ›Individualisierungsthese‹ auf (vgl. Beck 1986). Demnach ist Individualisierung der Identität kein harmonischer Zustand eigener Entscheidungen, sondern ein zunehmend sozialer und institutionalisierter Zwang zu Entscheidungen bezüglich der eigenen Lebensführung. Identität muss somit mehr und mehr aktiv und eigenständig konstruiert werden, gleichzeitig sind diese Konstruktionen ständig der Gefahr der sozialen Ablehnung ausgesetzt. Die Zersplitterung einheitlicher Identität in eine unüberschaubare Anzahl subjektiver Teilidentitäten wird deshalb gegenwärtig weniger im generalisierten Kontext soziologischer Theoriebildung, sondern in kulturwissenschaftlich orientierten kleineren Wissenschaftsbereichen erforscht, z. B. in der Ethnographie, der Genderforschung und der Medienwissenschaft. Aus Identität als generalisiertem Begriff werden zunehmend spezifische Identitäten mit Bezug zu subjektiven Teilaspekten. Dies zeigt sich insbesondere im Bereich der Medienidentitäten deutlich, die hauptsächlich in den Kulturwissenschaften thematisiert werden. Im Mittelpunkt stehen hier bisher vor allem transkulturelle Kommunikationsphänomene über Massenmedien wie Fernsehen, Hörfunk oder Tagespresse und deren Bedeutung für die Identität spezifischer Bevölkerungsgruppen, z. B. Migranten (vgl. Winter u. a. 2003).
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In einer historischen Darstellung lassen sich drei Konzepte von Identität unterscheiden, die mit spezifischen historischen Gesellschaftsformen einhergehen. Identität in traditionalen Gesellschaften implizierte für Subjekte eine selbstverständliche Einheitlichkeit und Wiedererkennbarkeit. Identität war eine stabile und lebenslang gültige Zuordnung in stabile Positionen in einer hierarchisch gegliederten Sozialstruktur über Stände, Kasten oder Klassen. Die notwendige Identitätsarbeit vollführte entsprechend nicht das Subjekt selbst, sondern sie vollzog sich über sozial strukturierte Zuordnungen, welche durch klare Machtstrukturen gesichert waren und nicht von Individuen durchbrochen werden konnten. Identität war somit eine konstante Verortung über klar definierte Merkmale und wurde weder durch die Subjekte selbst noch in der Gesellschaft als solche thematisiert. Mit dem Übergang von der Eigen- zur Marktwirtschaft sowie der Ausdehnung der physischen und kommunikativen Mobilität entsteht die klassische Moderne, in der Identität erstmals auch zum diskursiven Gegenstand sozialer Kommunikation wird: Das Bürgertum thematisierte seine kollektive Identität in Briefen, Tagebüchern, Biographien und Selbstporträts. Identitätsartikulation und -zuschreibung erfolgten vornehmlich schriftlich. Neue Identitätskategorien wie das bürgerliche Bildungsideal eines spezifischen gelesenen Kanons an Literatur kommen zu Herkunft, wirtschaftlicher Lage, Arbeit etc. als identitätsstiftende Merkmale hinzu. Das Lesen wurde zu einer elementaren Voraussetzung zur Ausbildung von Identität und selbst zum Identitätsmerkmal über spezifische literarische Inhalte. Im 20. Jahrhundert setzen sich diese Entwicklungen fort, es entsteht eine immer größere Verpflichtung zur Individualität und damit zur Ausbildung unterschiedlicher Teilidentitäten in einer ausdifferenzierten, multioptionalen Gesellschaft. »Die Komplexität, Anonymität und Mobilität von modernen Gesellschaften spiegeln sich in den Identitätsstrukturen ihrer Mitglieder wider. Individuen verfügen in modernen Gesellschaften über mehr unterschiedliche Identitäten.« (Müller 2011, S. 46) Die zunehmende Medienkonkurrenz führt unter anderem dazu, dass der gelesene Literaturkanon als stabile Identitätsgrundlage zunehmend brüchig wird. Identität ist spätestens ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kein spezifisches Ereignis mehr oder kann einmalig erworben werden. Stattdessen wird Identität zum Prozess, der an ständig neue Entwicklungen und Deutungen der Subjekte gekoppelt ist, z. B. im Verlauf des Bildungsfortschritts, der politischen Information, der sozialen Teilhabe oder des medialen Konsums. Hall beschrieb diesen Verlust einer stabilen Selbstwahrnehmung als ›dislocation‹ oder ›De-Zentrierung des Subjekts‹ (vgl. Hall 1999). Als Folge gewinnt die individuelle persönliche Identität an Bedeutung und gemeinsame verbindliche Sinnsysteme verlieren weiter an identitätsstiftender Kraft. Die externen Vorgaben für Identität werden durch interne Konstruktionen abgelöst, die immer wieder neu inszeniert und in sozialer Interaktion anerkannt werden müssen. Subjektive Identität erhält Projektcharakter mit dem Ziel einer eigenen kohärenten Lebensgeschichte, in der sich die verschiedenen konstruierten Teilidentitäten widerspiegeln.
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Die Selbstbestimmung subjektiver Identitäten bzw. deren freie Entfaltung ist heute zu einer sozial anerkannten Vorgabe und Verpflichtung geworden. Die freie Konstruktion von Identität ist weiterhin von sozialen Strukturen determiniert, aber im Sinne der von Gerhard Schulze postulierten Erlebnisgesellschaft (vgl. Schulze 1992) hat sich Identität dahingehend verändert, dass erstmals in der Menschheitsgeschichte die sozialen Rahmenbedingungen einen geringeren Einfluss auf Subjekte haben als die möglichen Optionen der selbstständigen Gestaltung des eigenen Ichs.
3 Identitätsarbeit Lesen Der Identitätsbegriff als ständige Konstruktion verweist auf eine aktive Leistung von Individuen, die diese erbringen müssen. Die subjektive Konstruktion von Teilidentitäten erfolgt als nach innen gerichteter Aushandlungsprozess mit sich selbst, bei dem Subjekte ihr eigenes Ich objektivieren und dieses im Spiegel möglicher Interaktionspartner betrachten. Die soziale Konstruktion von Teilidentitäten erfolgt in der interpersonalen Interaktion, in der Identität im Wechselspiel aus eigener Inszenierung und Zuschreibung durch andere im Rahmen eines spezifischen situativen Kontexts ausgehandelt wird. In beiden Aushandlungsprozessen treffen individuelle Vorstellungen und soziale Erwartungen aufeinander. Diese individuellen Vorstellungen und sozialen Erwartungen wiederum entstehen über soziale und heute auch verstärkt medial vermittelte Ressourcen, welche Subjekte in das eigene Selbstbild integrieren. Identitätsarbeit bezieht sich somit auf das Ausleben und Ausprobieren verschiedener Identitätsentwürfe im Spannungsfeld sozialer und medialer Angebote zur subjektiven Selbstgestaltung. Identität ist deshalb nicht als Ergebnis oder Zustand zu sehen, sondern als spezifische Kompetenz in vorgestellten und realen Interaktionssituationen. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass konstruierte und inszenierte subjektive Teilidentitäten den erwarteten sozialen Zuschreibungen entsprechen und trotzdem genug individuelle Elemente aufweisen, um eine kohärente Biographie des Individuums mit anderen Teilidentitäten ergeben zu können. Eine gelungene Identität betrifft in dieser Perspektive nicht eine moralische (Be-)Wertung, sondern eine gelungene Balance aus Selbst-Sicht und sozialer Rolle und deren intersubjektive Anerkennung. Begreift man Identität derart als kompetenzorientierten Prozess statt als Zustand, erwirbt bzw. konstruiert man Identität ein Leben lang in jeder Kommunikation immer wieder neu. Identitätsarbeit als Prozess der Selektion von identitätsstiftenden Ressourcen, der Konstruktion persönlicher Teilidentitäten und deren Verbindung zu einer Biographie sowie der Inszenierung und Anerkennung dieser Identität(en) in spezifischen Interaktionssituationen lassen sich zur kommunikativen Handlung des Lesens in unterschiedliche Beziehungen setzen. Die Erforschung des Einflusses des Lesens auf
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die Identität steht noch am Anfang. »Im Prinzip weiß man einfach bislang sehr wenig darüber, welche mittelbaren, welche mittelfristigen sowie auch biografischen Konsequenzen welche Arten von Mediennutzung für die Persönlichkeit eines Menschen haben.« (Hoffmann 2010, S. 12) Zum einen ist hier danach zu fragen, welche Bedeutung das Lesen, Lesemedien und Lesestoffe auf Identität besitzen, zum anderen aber auch danach, welche funktionalen Veränderungen das Lesen in einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Medienlandschaft erfährt und welche Folgen dies für Identität hat, denn Medien sind zu immer wichtigeren Ressourcen für Identität und deshalb zu wesentlichen Sozialisationsfaktoren geworden. Ihre realen und fiktiven Inhalte prägen die Welt- und Wertvorstellungen der aufwachsenden Generationen, ohne dass sich deren Effekte exakt bestimmen lassen. So kann auch das Lesen Rollenbilder, Denkstrukturen und Handlungsmuster beeinflussen. Dabei ist aufgrund der Medienvielfalt eben nicht mehr allein prägend, »was man liest, sondern dass man liest, weil das Verhältnis von Lesen und darüber Reflektieren anders ist als das Verhältnis zwischen Fernsehen und darüber Reflektieren.« (Krotz 2003, S. 42) Unterschiedliche Medien bzw. kommunikative Zugänge zu Informationen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Funktion für die Identitätsarbeit dadurch, dass sie identitätsstiftende Ressourcen unterschiedlich strukturieren und kommunizieren sowie unterschiedlichen sozialen Zuschreibungen unterliegen. Es entstehen deshalb unterschiedliche Medienidentitäten als Teilidentitäten, deren zunehmende Aufspaltung bislang aber wenig thematisiert wird. Mit der noch nie da gewesenen Durchdringung der subjektiven Lebenswelten mit unterschiedlichen Medien treffen zudem vielfältige Optionen an identitätsstiftenden Ressourcen auf eine begrenzte Nutzungszeit, begrenzte ökonomische Mittel des Zugangs und begrenzte Kompetenzen im Umgang mit Medien. Die Selektion des Lesens zur Identitätsarbeit wird damit bereits selbst zu einer risikobehafteten Entscheidung hinsichtlich der konstruierten Identität. Dabei spielt insbesondere auch eine Rolle, dass Subjekte für die eigene Identitätsarbeit Medien und Medieninhalte mit großer Reichweite bevorzugen. Bei diesen können ein hoher Bekanntheitsgrad und eine hohe Akzeptanz der vermittelten identitätsstiftenden Ressourcen angenommen werden. Somit sind insbesondere das Fernsehen, filmische Blockbuster, Bestseller im Buchbereich oder hoch frequentierte Websites logische Selektionen für eigene Identitätskonstruktionen. Spezifische Leseidentitäten als Teilidentitäten entstehen im Verhältnis subjek tiver Einstellungen zum Lesen, zu Lesemedien und zu Lesestoffen sowie über soziale Handlungszwänge über Institutionen, soziale Normen über kulturelle Bewertungen und soziale Normalitätsstandards bezüglich der kommunikativen Tätigkeit des Lesens. Die heute teilweise noch gültigen sozialen Zuschreibungen an das Lesen, z. B. dass es die Persönlichkeit verfeinert und über den kritischen Wissenserwerb die rationale Selbstbestimmung fördert (vgl. Groeben / Schroeder 2004), unterliegen historischen Vorstellungen aus einer Zeit, als das Lesen die einzige massenmediale Option
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für Identitätsarbeit war. »Das moderne bürgerliche Individuum als Idee und herzustellende Realität ist Produkt historischer Prozesse.« (Bilden 1997, S. 231)
3.1 Leseidentität Im Rahmen der Individualisierungstendenzen müssen Subjekte ihre Identität selbst konstruieren, und zwar in einer Weise, in der sie sowohl Andersartigkeit anderen Subjekten gegenüber aufweisen, als auch Kohärenz innerhalb der eigenen Erzählung und vorgegebenen Rollenerwartungen schaffen. Dabei greifen sie auf gesellschaftlich angebotene Identitätsbausteine zurück, mit denen auch in einer immer unübersichtlicher werdenden und an Optionen zunehmenden Lebenswelt anschlussfähige Identitäten gebildet werden können. Die individuelle Konstruktion von Identität durch die Auswahl verschiedener in der Gesellschaft angebotener Bausteine wird auch als ›Patchwork-Identity‹ (vgl. Keupp u. a. 1999) bezeichnet. Aus gesellschaftlich vorgegebenen und medial vermittelten Vorschlägen für Identität müssen Aspekte ausgewählt und verknüpft werden. Durch die Destabilisierung institutionalisierter Identitätsressourcen haben sich diese auch auf dynamische Ressourcen wie Mode, Medieninhalte, Körperkunst etc. ausgeweitet. Mit den angebotenen Ressourcen sind gleichzeitig soziale Normen verbunden, mit denen die Gesamtidentität des Subjekts übereinstimmen muss, damit die Ressourcen anschlussfähig bleiben. Die Ambivalenz zwischen Vorgaben für Identität und eigener Ausgestaltung endet in einem immerwährenden Spannungsfeld des Individuums zwischen sozialer Anpassung und Konformität gegenüber Andersartigkeit und Individualität. Insofern erklärt sich auch die sich je nach Situation wandelnde Identität: Das Individuum versucht sich kohärent mit seiner eigenen kontinuierlichen Erzählung zu verhalten, gleichzeitig aber auch die Erwartungen der Anderen zu erfüllen. Identitätsentwürfe sind somit kreative Interpretationen von Rollenerwartungen. Medienkommunikation spielt als Ressource für Identitätsbausteine eine entscheidende Rolle: »[So] bestätigt sich […] die Annahme, dass moderne Individuen erst durch Medien […] wissen, was zum gegebenen Zeitpunkt ›normal‹ ist. Erst durch dieses Wissen sind sie befähigt, sich selbst entsprechend der Dynamik der sich verändernden Normalfelder flexibel zu positionieren.« (Meer 2003, S. 261) Es scheint, als wären mediale Botschaften zum Vorbild der erlebten Wirklichkeit geworden und somit der primäre Bezugspunkt für Identität. Dies bezieht sich sowohl auf moralische Werte und Normen als auch auf Lebensstile, Milieuzugehörigkeit, Sozialisation, zwischenmenschliche Beziehungen und Einstellungen. Subjekte können ausnutzen, dass Medien als Alltagsobjekte in der Lebenswelt kulturell anerkannt und bereits mit sozialen Bedeutungen versehen sind. Diese sozialen Bedeutungen sind selbst Ressourcen für die eigene Identität, weil bereits die Nutzung eines spezifischen Mediums eine Quelle identitätsstiftender Merkmale ist.
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Lesen als Teil der Medienkommunikation erschließt schriftlich fixierte Ressourcen für Identität. Ressourcen aus Leseerfahrungen werden in zeitlicher Perspektive als Erfahrungen geordnet und mit spezifischen Teilidentitäten verknüpft. So dienen Leseerfahrungen hinsichtlich unterschiedlicher sozialer Rollen als Identitätsressource, z. B. für die eigene Geschlechterrolle, das Berufsbild, soziale Beziehungen usw. Lesen als aktive Zuwendung zu Medieninhalten ist hierbei kein freier identitätsstiftender Prozess, sondern ordnet dessen Bedeutung im Rahmen der gesamten Identitätsarbeit. Dies spiegelt auch das Lesen in spezifischen Situationen wider, denn »[w]ir alle benutzen als Leser das literarische Werk, um in ihm ein Symbol unseres Selbst und schließlich unser Ebenbild zu entdecken.« (Holland 1979, S. 1136) Dabei werden gelesene Inhalte nach Ähnlichkeit, Differenz oder Neuheit hinsichtlich der eigenen Identität unterschieden. Identitätsarbeit über das Lesen erfolgt somit immer in zwei Perspektiven: retrospektiv-reflexiv, d. h. gelesene Identitätsentwürfe werden übernommen, und prospektiv-gestaltend, d. h. Leseerfahrungen gestalten vorhandene subjektive Konstruktionen um. Lesemedien, Lesestoffe und Figuren in gelesenen Texten liefern dabei sozial anerkannte Bezugsgrößen im Hinblick auf spezifische Lebensziele, positiv und negativ bewertete Identitätsmuster, abzulehnende Einstellungen und Werte und nicht zuletzt Handlungswissen für Situationen, die Subjekte noch gar nicht erlebt haben. Hier bietet das Lesen einen besonderen Vorteil, weil die schriftliche Verschlüsselung erfordert, dass Subjekte ihre eigenen Konstruktionen stärker einbringen müssen. Denn Lesen unterscheidet sich von audiovisuellen Medien durch die Besonderheit schriftlicher Zeichen. Schriftliche Informationen als abstrakte, symbolische Sinnverschlüsselung benötigen während des Lesens eine hohe Aufmerksamkeitsspanne und eine entsprechend hohe kognitive Anstrengung zur Entschlüsselung. Aufgrund der Abstraktheit der Zeichen ist das Lesen gleichzeitig erheblich mehr von der Imaginationsfähigkeit der Leser abhängig. Diese geforderte Imaginationsfähigkeit der Leser lässt sich als komplexe Identitätsarbeit beschreiben, die eine aktive Konstruktion und Interpretation voraussetzt, die auf dem Fehlen der visuellen und auditiven Codes beruht. Während audiovisuell dominierte Medienkommunikation stärker die Übernahme von Identitätsentwürfen forciert, indem sie die Phantasie der Rezipienten mit Bildern besetzt, stimuliert das Lesen stärker die Phantasie zur Erzeugung eigener Bilder und damit die Konstruktion von individuellen Identitätsentwürfen.2 Die Identitätsarbeit während des Lesens besteht neben der Übernahme von Ressourcen aus den Texten für eigene Entwürfe aus der Einbringung eigener Vorstellungen in den Text und damit der aktiven Verhandlung der eigenen Identität während des Lesens mit den in den Text eingeschriebenen Vorstellungen von Identität.
2 Die hier beschriebenen Aussagen können allerdings nicht absolut formuliert werden: Auch das Lesen bietet die Übernahme von Identitätsentwürfen und die audiovisuelle Rezeption ermöglicht Raum für eigene Ausgestaltungen.
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Die schriftliche Codierung führt auch dazu, dass die Identitätsbildung über den Akt des Lesens eine bewusste Selektion darstellt und somit auf Motivationen und erwarteten Bedürfnisbefriedigungen beruht. Lesen erweist sich deshalb immer dann von identitätsstiftender Bedeutung, wenn der Akt des Lesens oder der gelesene Inhalt Bezüge zur subjektiven Lebensgeschichte, der aktuellen Lebenssituation oder gegenwärtigen Lebenszielen aufweist. Lesemotivationen kann man dementsprechend als aktivierende Momente definieren, die einen positiv bewerteten Zielzustand versprechen. Dieser Zielzustand ist die Bestätigung oder Erweiterung einer subjektiven Identitätskonstruktion oder die positive Zuschreibung einer subjektiven Identitätskonstruktion durch Andere, wenn das Lesen in sozialer Interaktion inszeniert wird. Von besonderer Bedeutung ist die subjektive Lesekompetenz zur Nutzung schriftlicher Informationen zur Identitätsbildung. Als Voraussetzung müssen die Kommunikationstechnik der Entschlüsselung schriftlicher Zeichen und das Verstehen komplexer Textzusammenhänge erlernt sowie ein umfassendes kulturelles Hintergrundwissen aufgebaut werden. Damit verbunden ist eine Ausdifferenzierung von Leseidentität, da unterschiedliche Kompetenzen zu sehr unterschiedlichen Erfahrungen und damit zu unterschiedlichen Funktionen des Lesens für Subjekte führen können, welche sich nicht nur in dessen subjektivem Stellenwert, sondern auch in sehr unterschiedlichen Lesestilen in situativen Kontexten ausdrücken. Die Einschränkungen der Freiheit der Identitätskonstruktionen zeigen sich beim Lesen besonders deutlich. Die Anzahl an Optionen wird nicht nur durch die soziale Bewertung und die damit verbundene Sozialisation sichtbar, sondern auch durch den unterschiedlichen Zugang zu Lesemedien und Lesestoffen. So spielen die Bedeutung des Lesens bei sozialen Bezugspersonen, z. B. den Eltern, genauso wie das eigene Einkommen, die Erreichbarkeit einer Bibliothek, ein Interzugang usw. entscheidende Rollen, um eine Leseidentität entwickeln zu können. »Identitätsbildungsprozesse mittels Medien und die Zugehörigkeit zu Medien-Gemeinschaften sind deshalb nicht loszulösen von der Frage nach den unterschiedlichen Ressourcen, die dem jeweiligen Individuum zur Verfügung stehen.« (Niesyto 2010, S. 58) Nicht zuletzt stellen neben den sozialen auch physische und psychische Voraussetzungen entscheidende Aspekte hinsichtlich der Entwicklung einer Leseidentität dar.
3.2 Lesebiographien Die Konstruktion unterschiedlicher Teilidentitäten führt zu einer Fragmentierung der Selbstwahrnehmung der Subjekte als Einheit. Um diese Fragmentierung zu verhindern, entwickeln und artikulieren Individuen Biographien als Rekonstruktionen der einzelnen Lebensereignisse, in denen Teilidentitäten zu einer übergeordneten Ich-Identität verknüpft werden, welche man als subjektives Empfinden in situativen und persönlichen Kontexten beschreiben kann. Teilidentitäten werden mit spezifi
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schen kommunikativen Ereignissen verbunden und umfassen auch die Reflexion der spezifischen identitätsstiftenden Deutungen zum Zeitpunkt dieser Ereignisse. Diese Reflexion und retrospektive Deutung vergangener, gegenwärtiger und möglicher zukünftiger Identitäten lässt sich als kognitiver Prozess bzw. als Inszenierung und Zuschreibung von Identität mit sich selbst beschreiben, deren Ergebnisse gleichzeitig eine Quelle der Veränderung von Identitäten und der eigenen Biographie sind. Die Herstellung von kohärenter Andersartigkeit ist somit das Ergebnis sozialer Interaktionserfahrungen bzw. der sozialen Bewertung der subjektiv ausgewählten Identitätsressourcen. Über konstruierte Schnittmengen unterschiedlicher Teilidentitäten und der sozial induzierten Vorstellung einer ›normalen‹ Identität entsteht Kohärenz der eigenen Selbst-Sicht. Normalität ist heute keine einheitliche Vorstellung mehr, sondern wird durch unterschiedliche Lebensstile legitimiert. Die Konstruktion einer kohärenten subjektiven Identität lässt sich auf Lese identitäten übertragen, die im Laufe der Zeit als identitätsstiftende Lesebiographien konstruiert werden. In einer Lebenswelt mit wenigen Optionen erlangten langfristige Identitätsprojekte wie beispielsweise eine klassische Bildung durch das Lesen eines spezifischen Kanons eine große Bedeutung. Mit der zunehmenden Vielfalt und Dynamik der lebensweltlichen Optionen hingegen verlieren solche Identitätsprojekte ihre Berechtigung und Effizienz zum Erreichen von Positionen im sozialen Gefüge. Gelesene Inhalte verdichten sich nicht mehr zu einer langfristig stabilen Identitätsgrundlage. »Die bürgerliche Idealbiographie hat ihre letzte Anziehungskraft ver loren.« (Koch 2011, S. 50) Lesebiographien entstehen deshalb auch nicht mehr auf Basis eines angenommenen generalisierbaren Anderen, der das Lesen als Identitätsmerkmal bewertet, stattdessen besitzt Lesen nur in spezifischen Kommunikationssituationen mit spezifischen Anderen Bedeutung. Die sich ausdifferenzierenden Lebensstile mit vielen unterschiedlichen Teilidentitäten werden entsprechend auch zu ausdifferenzierten Lesestilen, dies deuten auch die Ergebnisse der Lese- und Leserforschung an, die immer mehr unterschiedliche Lesetypen definieren. Das Lesen spielt entsprechend nicht als universelle identitätsstiftende Arbeit eine Rolle, sondern nur im Rahmen von Teilidentitäten und sozialen Rollen. Die Individualisierungstendenzen von Identität spiegeln sich direkt im Leseverhalten wider. Mit der Ausdifferenzierung und Akzeptanz unterschiedlicher Lesemedien und Lesestoffe in der Gegenwart geht zudem einher, dass die gemachten Leseerfahrungen vielfältiger sind als früher und dies wiederum unterschiedliche Leseteilidentitäten ermöglicht. »Da die Leseerfahrungen immer wieder unterschiedliche sind, entfalten Texte immer wieder andere Wirkungen. Lesen ist ein individueller, biografischer Prozess.« (Graf 2011, S. 11) Lektürebiographien entstehen durch die ständige Aktualisierung der herausgebildeten Leseidentitäten und deren Reflexion. So ist zur Entstehung einer Lektürebiographie von entscheidender Bedeutung, was man unter welchen Umständen gelesen, welche Wirkungen dies erzielt, welche emotionalen und kognitiven Einstellungen man für die eigene Identität daraus entwickelt hat und wie dies in sozialer Interak
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tion bewertet wurde. Lesen erlangt in der Biographie eines Subjekts identitätsstiftende Konstanz, wenn es Teilidentitäten über einen längeren Zeitraum hin prägt und als wesentliches Merkmal dieser Teilidentitäten vom Individuum und von anderen anerkannt wird. Die mit dem Lesen verbundenen Erfahrungen und Zuschreibungen wiederum können dann als Verknüpfungspunkte von Teilidentitäten dienen, um eine kohärent empfundene Lesebiographie zu entwickeln. Mit der Identitätsdynamik der Gegenwart führen Brüche in Identitäten zu Brüchen im Leseverhalten und umgekehrt.
3.3 Lesen in sozialen Interaktionsprozessen Das soziologische Modell von Identität geht davon aus, dass Identitätsentwürfe erst in sozialen Interaktionen zu Identität werden. »Diese Produktion von Sinn, Identität und Gesellschaft konstituiert sich in der Interaktion der Subjekte.« (Keupp u. a. 1999, S. 95) In der theoretischen Perspektive des symbolischen Interaktionismus ist jeder, um dem strukturellen Erfordernis nach Identität nachkommen zu können, auf eine bestimmte Art sozialer Beziehungen angewiesen, nämlich auf Beziehungen, in denen Erwartungen übernommen oder auch abgelehnt werden können und in denen es daher möglich ist, über die Anerkennung eines subjektiven Identitätsentwurfs zu verhandeln. In der Interaktionssituation treten zwei zentrale Mechanismen in Kraft, die der Darstellung der Identität der Subjekte sowie die der Zuschreibung von Identität an die Subjekte durch den/die jeweils anderen. Ohne dieses wechselseitige Sondieren und Interpretieren wären soziale Interaktionsprozesse nicht denkbar. Um an ihnen teilnehmen zu können, müssen wir in der Lage sein, im Horizont vermeintlich geteilter kultureller Wissensbestände uns sozialer Normsysteme, unser eigenes Welt-, Rollen- und Selbstverständnis in Beziehung zu setzen zu den Vorstellungen, Erwartungen und Bedürfnissen wechselnder Gegenüber. (Veith 2010, S. 179)
Zuschreibungen an die eigene inszenierte Identität werden durch das Subjekt vorweggenommen, um Reaktionen und Bewertungen zu steuern. Dabei ist es darauf angewiesen, die Wahrnehmung der eigenen Identität durch die Augen des Anderen zu reflektieren und sich dessen Reaktionen imaginär vorweg bewusst zu machen. Die Identifikation mit dem Anderen steuert somit nicht nur die eigenen Erwartungshaltungen gegenüber der Identität der Anderen, sondern auch der eigenen kommunikativen Handlungen und damit die eigene Inszenierung von Identität. »Identität als Prozeß, als Erzählung, als Diskurs wird immer von der Position des Anderen aus erzählt. Darüber hinaus ist Identität immer auch eine Erzählung, eine Art der Repräsentation.« (Hall 1994, S. 74) Diese Vorstellung des Anderen während der Inszenierung einer Teilidentität ist durchaus problematisch, weil der Andere im Regelfall aus einer Vielzahl möglicher Subjekte und/oder Organisationen besteht. Diese Vielfalt möglicher kommunikativer Gegenüber in unterschiedlichen situativen Kontexten
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führt deshalb dazu, dass Subjekte eine Vielfalt unterschiedlicher Rollen in ihren Identitäten einnehmen müssen, um so viele Erwartungen an sie wie möglich erfüllen zu können. Im Medienvergleich zeigt sich, dass Medien durch die Art ihrer Kommunikation unterschiedliche Beiträge im Spannungsfeld von individueller und sozialer Identität leisten. Soziale Identität als vorweggenommene Erwartungshaltung bildet sich vor allem über Medien und Medieninhalte, deren Informationen als bekannt vorausgesetzt werden können, z. B. das Fernsehen. Die Individualisierung von Identität kann dagegen besser durch Medien bedient werden, deren Inhalte vielfältig sind und nur von wenigen Subjekten gleichzeitig erfasst werden können, z. B. Bücher, Zeitschriften oder Websites. Das Lesen dient damit mehr der Konstruktion der personalen Identität, während audiovisuelle Massenmedien die Anpassung an soziale Vorstellungen von Identität steuern können. Mit der Medienentwicklung kann man deshalb postulieren, dass die Tätigkeit des Lesens an sich gegenüber der Art der Lesestoffe an Bedeutung gewinnt. Lesen und Lesemedien ermöglichen darüber hinaus auch eine spezielle Form der Interaktion, um Identitätsentwürfe einer Prüfung zu unterziehen, denn man kann davon ausgehen, dass die identitätsstiftende Interaktion zwischen Subjekten und den gelesenen Inhalten selbst stattfinden kann. »Die Rezeption von Literatur ist eine von vielen Situationen, in denen Subjekte ihre persönliche Geschichte vor einem ›imaginären Publikum‹ verhandeln. Gleichzeitig ist sie im Hinblick darauf, dass Identität narrativ konstruiert wird, eine der bedeutendsten.« (Huber 2008, S. 49) Gelesene Inhalte bieten Subjekten die Möglichkeit, Figuren und Situationen parasozial zu begegnen, indem die vermittelten Wissensbestände über diese als Spiegel eigener Identitätsentwürfe genutzt werden. Die parasozialen Verhandlungen von Identitätsentwürfen bieten den Vorteil, dass diese unkontrolliert und sanktionsfrei gegenüber virtuellen Figuren und Situationen inszeniert werden können. So kann man Identitäten entwerfen und erleben, die in der eigenen Lebenswelt nicht erreichbar sind oder keine soziale Akzeptanz erfahren würden. Die Grundlage parasozialer Interaktion sind Identifikationsprozesse mit Figuren und Situationen in ›als-ob-Situationen‹ der Identitätsinszenierung und -bewertung. Die lesend erfahrenen Figuren reflektieren Identitätsentwürfe, in die man sich hineinversetzen kann. Diese fiktionalen Identitäten können als Wunschvorstellungen für Teilidentitäten auftreten. Hier zeigt sich in ersten Ergebnissen, dass Identifikationen mit Medienfiguren im Sinne identitätsstiftender Vorbilder, insbesondere Sportler, Musiker, Schauspieler und Prominente, häufiger über audiovisuelle Medien und weniger über das Lesen stattfinden: Literarische Vorbilder spielen als identitätsstiftende Vorbilder eine untergeordnete Rolle (vgl. Bonfadelli u. a. 2008). Dennoch erscheint die Identifikationsfunktion auch beim Lesen eine Rolle zu spielen. Die Ergebnisse der Lese- und Leserforschung zeigen, dass das Eintauchen in eine andere Welt und die damit verbundene Rollenübernahme zentrale Motivationen des Lesens darstellen. Dabei sind die Identifikationsangebote wie jede identitätsstiftende Option
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wieder nur eine mögliche Selektionsmöglichkeit für die subjektive Identitätskonstruktion. Die Medien »stellen ein Angebot an Identifikationsfiguren und -potenzialen bereit, das in Teilen angenommen, abgelehnt oder auch ignoriert werden kann.« (Hoffmann 2010, S. 23) Von besonderer Bedeutung bei der virtuellen oder realen Identitätsaushandlung sind auch Zuschreibungen an das Lesen und somit dessen Bewertung als Identitätsmerkmal oder der durch das Lesen übernommenen Identitätsbausteine. Die Bedeutung des Lesens für die eigene Identität entsteht in der Verschränkung der durch das Lesen vermittelten symbolischen Ressourcen und sozialer Kommunikation. Eine besondere Bedeutung für die Tätigkeit des Lesens erlangt hier der generalisierte Andere, der für die soziale Bewertung des Lesens steht, die nach wie vor ausgesprochen positiv ausfällt. Dies bestätigen auch Ergebnisse, nach denen das Lesen nach wie vor als ausgesprochen wichtig angesehen wird. Bei keiner anderen Medienkommunikation ist die wahrgenommene Bedeutung und tatsächliche Handlung der Subjekte von so großer Diskrepanz. Insofern ist auch verständlich, dass die Tätigkeit des Lesens im Vergleich zu anderen Medien öffentlich inszeniert wird. Die durch die Nutzung spezifischer Lesemedien oder das Lesen spezifischer Inhalte assoziierten Identitätsmerkmale beschreiben, wie das lesende Subjekt sich selbst sieht und übernehmen daher einen Teil der normalerweise in Interaktion vorgenommenen Identitätszuschreibungen durch Andere. Leseidentitäten ändern sich folglich, wenn sich Objekte des Lesens und damit die Zuschreibungen an spezifische Lesehandlungen verändern. Auch die sozialen Interaktionsmöglichkeiten selbst verändern sich durch die Entwicklung neuer internetbasierter Medien. Das Lesen, Lesemedien und einzelne Lesestoffe stehen in neuen Medien wieder verstärkt im Fokus von Kommunikation über das Lesen. Hierdurch entsteht eine weitere Ebene der Überprüfung der Identitätsentwürfe, indem der individuellen Aneignung eine kollektive Überprüfung angeschlossen werden kann. Neben Familie, Peergroup und Bildungseinrichtungen erhalten somit virtuelle Gemeinschaften einen besonderen Stellenwert für die Bewertung des Lesens als Identitätsressource, es entsteht so beispielsweise eine Instanz zur Kommunikation über das Lesen im Erwachsenenalter. Mit dem Aufkommen neuer Lesemedien zeigt sich zudem eine Verschärfung des Kompetenzgefälles beim Lesen, denn zur eigentlichen Kommunikationstechnik der Schriftentschlüsselung kommen weitere benötigte technische und mediale Kompetenzen hinzu. »Wer von bestimmten Teilen der Medienangebote und ihrer Nutzung ferngehalten wird, erleidet social exclosure, was im aktuellen Bildungsdiskurs insbesondere für den Bereich des Lesens (siehe PISA-Studien) und der Computernutzung (siehe Digitale Zwei-Klassen-Gesellschaft) betont wird.« (Süss 2010, S. 125) Die ubiquitäre Möglichkeit des Schreibens in öffentlichen Räumen über das eigene Ich führt zu völlig neuen Modellen der Darstellung von Identität in Interak tionsprozessen. Dies ist gegenwärtig insbesondere in Sozialen Netzwerken, Twitter und Blogs verstärkt zu beobachten. Die Darstellung von Identität wird hier immer
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öfter zur Inszenierung der eigenen Identität, weil Identität nicht mehr nur durch Sprache in der Interaktion preisgegeben wird, sondern auch die Ebene der medialen Vermittlung betrifft, die zudem den Charakter öffentlicher Räume aufweisen kann. Eine weitere besondere Form der identitätsstiftenden Interaktion stellen Sozialisationsprozesse dar, denn die während der Sozialisationsphasen stattfindenden Kommunikationsverhältnisse führen zu einer Internalisierung von Verhaltenserwartungen an Identitäten in bestimmten Situationen. Diese können in späteren Entwürfen die Annahme der eigenen inszenierten Identität erhöhen, da sie als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können. Betrachtet man Lesen als Ressource zu identitätsstiftenden Informationen und Mustern, spielen vor allem die Lesesozialisation und der Zugang zum Lesen, zu Lesemedien und zu Lesestoffen eine entscheidende Rolle als Voraussetzung für vielfältige Optionen. Einfluss haben hier insbesondere die in der modernen Lese- und Leserforschung analysierten Themen der materiellen Zugänglichkeit von Lesemedien und Lesestoffen, die soziale Bewertung und Refle xion des Lesens in Familie, Schule und Peergroup sowie der allgemeine kulturelle Stellenwert des Lesens und die damit verbundenen aktiven Förderbemühungen in der Gesellschaft. Die Lesesozialisation ist Teil der allgemeinen Sozialisation, in der soziale Erwartungen an Identität und normative Standardisierungen in Kommunikationsprozessen erlernt werden. »Sozialisation meint die nachhaltige und typische Persönlichkeitsentwicklung in Gesellschaften.« (Bachmeir 2010, S. 67) Sozialisation ist somit nur ein anderer Ausdruck für Identitätsentwicklung, der sich auf die pädagogischen Konsequenzen und den spezifischen Abschnitt der Kindheit und Jugend bezieht. Mediennutzung ist nicht isoliert als Mediensozialisation zu betrachten, vielmehr durchdringen Medien aufgrund ihrer ubiquitären Verfügbarkeit und Ausdifferenzierung alle Sozialisationsprozesse. Während vormals das Lesen neben der menschlichen Interaktion der einzige mediale Sozialisationseinfluss war, müssen Subjekte heute vielfältige Mediennutzungsformen erlernen und in ihre Entwicklung integrieren. Die Voraussetzungen für die Nutzung des Lesens als Technik zur Erschließung von Identitätsressourcen entstehen durch die sozial intendierte Internalisierung von Reaktions- und Verhaltensmustern bezüglich des Lesens und deren positive Bewertung in Kindheit und Jugend. Die Sozialisation von identitätsstiftenden Medienhandlungen kann intentional erfolgen, wenn spezielle Aspekte für soziale Gruppierungen relevante Merkmale ihrer kollektiven Identität sind. So wurde z. B. das Lesen ›richtiger‹ Lektüre ein identitätsstiftendes Merkmal im Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts und im Bildungswesen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Die milieugeprägte Sozialisation durch das Lesen verliert mit der Vervielfältigung konsumorientierter Lebensstile zunehmend an Bedeutung. An die Stelle eines spezifischen Lesemilieus treten einzelne identitätsstiftende Szenen, in denen Lesen, Lesemedien oder einzelne Lesestoffe kollektiv identitätsstiftenden Charakter besitzen. Die dort kommunizierten Bewertungen beeinflussen wiederum die subjektiven Einstellungen des Nutzens von Lesen, Lesemedien und Lesestoffen für die subjektive Identität.
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4 Tendenzen und Desiderate Der Einfluss des Lesens auf die Funktion der Identitätsbildung in der Gesellschaft ist weitgehend unerforscht. Auch wenn viele Übertragungen aus Ergebnissen der Leseund Leserforschung als Indizien für die hier postulierten Aspekte beschrieben werden können, fehlt es an operationalisierbaren Kriterien und methodischen Instrumenten, um Leseidentitäten eindeutiger bestimmen zu können. Theoretische Grundlagen arbeiten zu den systematischen Zusammenhängen von Lesen, Lesemedien und Lesestoffen und Teilidentitäten fehlen genauso wie brauchbare Theorien zur Erklärung von Entscheidungen für oder gegen die Identitätsoption Lesen im Rahmen multipler medialer und lebensweltlicher Optionen. Es wird dennoch deutlich, dass nicht mehr nur die Wirklichkeit des physischen Umfeldes, sondern in stärkerem Maße die medial produzierte und damit auch ›gelesene‹ Wirklichkeit Identitätsressourcen bereitstellt, Identitätsentwürfe bewertet und deren Entwicklung maßgeblich beeinflusst. Es wird dabei nicht davon ausgegangen, dass die mediale Wirklichkeitskonstruktion das lokal erlebbare Umfeld vollständig ersetzt. Vielmehr verschmelzen interpersonale und massenmediale Kommunikation zu einem neuen, Identität schaffenden Komplex aus Inhalten und Bewertungen. 1962 sprach Marshall McLuhan vom Ende der Gutenberg-Galaxis (vgl. McLuhan 1962), in der es nicht um das Ende des Buchs, sondern um das Ende einer spezifischen Leitfunktion des Lesens und Schreibens für die Gesellschaft ging. Dieser Gedanke lässt sich auf den Zustand des Lesens übertragen: Nicht das Lesen endet, sondern dessen mediale Vormachtstellung in Bezug auf die Konstitution von Identität. Es zeigt sich dennoch, dass das Lesen vielfältige Funktionen für die Konstruktion von Identität übernehmen kann. Es ist eine Ressource von Identitätsbausteinen und bietet damit eine Kontrollfunktion für soziale Normen. Es bietet Vorschläge für Differenzierungen der eigenen Identität. Und es kann als Spiegel zur Aushandlung in Form von Anerkennung oder Ablehnung der eigenen Identitätsentwürfe dienen. Diese Funktionen sind mit der vollständigen Alphabetisierung spätestens Ende des 19. Jahrhunderts gesellschaftskonstituierend, d. h. das Lesen ist eine zentrale Ressource von Bildung und Werten und somit gelingender Persönlichkeit. Allerdings zeigt sich gegenwärtig, dass mit der Vielfalt an medialen Ressourcen die Bedeutung des Lesens als primär identitätsstiftend für alle Individuen wieder abnimmt und sich diese Leistung stattdessen auf eine geringere Anzahl an Individuen beschränkt. Die Pluralität an Lebensentwürfen und Ressourcen zur Identitätsbildung ist auch noch wesentlich akzeptierter als jemals zuvor, womit das Lesen und Lesemedien zu einer medialen Option unter vielen medialen Optionen zur Bildung von Identität werden. Den unterschiedlichen Bewertungen von Einzelmedien in medienkulturellen Szenen folgt die Schlussfolgerung, dass es nicht mehr die eine Identität geben kann, die über das Lesen gebildet wird, sondern nur noch einige Identitäten, in denen das Lesen eine Rolle für die Identitätsarbeit spielt. Dies erklärt auch die Erkenntnis, dass immer
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weniger Leser immer mehr lesen: Literatur ist nicht mehr die Sicherheit erzeugende Identitätsressource des früheren Bürgertums. Die Abkehr von der Vorstellung literarischer Bildung als Merkmal einer gelungenen Identität wird bereits seit längerem propagiert und öffentlich meistens negativ beurteilt. Betrachtet man die Entwicklungen des Lesens im Rahmen von sich verändernder Identität, ist diese Abkehr allerdings eine logische Konsequenz der Ausdifferenzierung der Gesellschaft, der medial verfügbaren Ressourcen und der zunehmenden Freiheiten der Identitätskonstruktionen. Die Abkehr vom Lesen oder von einzelnen Lesemedien ist auch nicht universell und vollkommen, stattdessen kristallisieren sich Gruppen an Individuen heraus, die Lesen und Lesemedien als integrativen Bestandteil ihrer Identität nutzen, und andere, die das eben nicht tun. Die Veränderung der Bedeutung des Lesens ist auch eine Generationenfrage. »Altersgruppen bzw. Geburtenjahrgänge werden mit bestimmten Medienpräferenzen und auch Mediennutzungsweisen in Verbindung gebracht und anhand derer attribuiert.« (Hoffmann / Kutscha 2010, S. 222) Die Veränderungen der Lesebedeutung zwischen den Generationen sind dem rapiden Medienwandel geschuldet. Frühere Einzelmedien verschmelzen in digitalen Umgebungen zu Medienarrangements, die symbolisches Material über unterschiedliche Kanäle vermitteln. Mit der Auflösung von Einzelmedien verschwinden auch konkrete soziale Bezugspunkte von Medien. Stattdessen durchdringen mediale Angebote alle Facetten der Lebenswelt und sind entsprechend instrumentelle und alltägliche Handlungsobjekte. Medienkommunikation wie das Lesen spielen für Identität deshalb nur noch dann eine Rolle, wenn sie aktiv für Identitätsentwürfe ausgewählt und in ihrer Bedeutung für das Subjekt nach außen inszeniert werden. Auch die Rezeption von Texten verändert sich in Folge des Medienwandels in der Gegenwart selbst sehr stark. Durch den Autor und das Lesemedium bestimmte lineare Lesarten werden zunehmend von selbstbestimmten, individuellen Zugriffen auf Texte abgelöst, welche die individuellen Bedürfnisse des Rezipienten in den Mittelpunkt stellen. Die Projektion der Identität in Texte nimmt so zu Lasten der Perzeption der Identität aus Texten zu. Neben der Verbindung von schriftlichen und audiovisuellen Identitätsressourcen verändern heute insbesondere digitale vernetzte Medien wie World Wide Web, E-Mails, Chats, Foren, Social Networks, Instant Messenger und nicht zuletzt E-Books und eZines die mediale und vor allem die lesende Identitätsarbeit der Subjekte. Die Multiplizierung von Lesemedien führt zu einer weiteren Verbreiterung optionaler identitätsstiftender Ressourcen, die Subjekte nutzen können, um Teilidentitäten in Interaktionsprozessen zu entwerfen. Diese neuen Medien erfordern wieder stärker das Lesen als Identitätsarbeit, wenn auch in veränderter Form zu bisherigen gedruckten Lesemedien. So weisen Ergebnisse der Lese- und Leserforschung darauf hin, dass digitale Texte zu einer Veränderung des vormals kontinuierlichen, linearen Lesens hin zu springendem Lesen kürzerer Texte führen. Diese Veränderung ist zugleich Ursache und Wirkung dynamischerer Identitätsarbeit.
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Lesen besitzt heute zwar eine andere Form als die klassische Identitätsarbeit des Buch- und Zeitungslesens der Vergangenheit, kann jedoch gerade im Vergleich mit der durch das Fernsehen und das Radio geprägten Mediengesellschaft positiv interpretiert werden: Die äußerst geringen Barrieren des Textzugangs über das Internet sorgen wieder für mehr Differenzierungen in Identitätsentwürfen, gerade weil dort, zumindest bisher, gelesen werden muss. Individuelle Identität ist durch die individuellen Selektionsmöglichkeiten des Lesens im Internet wieder eher gegeben als bei audiovisuellen Massenmedien. Insgesamt erscheinen die Ergebnisse der Lese- und Leserforschung schlüssig, wenn man sie im Rahmen der Identitätsforschung betrachtet. Die sinkende Anzahl an gedruckten Büchern in den Haushalten und die sinkenden Abonnement-Zahlen von Zeitungen und Zeitschriften bei einem gleichzeitigen Anstieg der Lesehäufigkeit lässt nur den Schluss zu, dass sich Identitätsarbeit von spezifischen Lesemedien auf das Lesen als Tätigkeit an sich hin verlagert.
5 Literatur Bachmeir, Ben: Mediensozialisation. Entwicklung von Subjektivität in medialen und kulturellen Figurationen. In: Hoffmann 2010 (s. u.), S. 67–91. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986. Bilden, Helga: Das Individuum – ein dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste. Zur Pluralität in Individuum und Gesellschaft. In: Heiner Keupp / Renate Höfer (Hrsg.): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a. M. 1997, S. 227–250. Bonfadelli, Heinz / Bucher, Priska / Hanetseder, Christa / Hermann, Thomas / Ideli, Mustafa / Moser, Heinz: Jugend, Medien und Migration. Empirische Ergebnisse und Perspektiven. Wiesbaden 2008, S. 73–82. Giddens, Anthony: Modernity and self-identity. Self and society in the late modern age. Stanford 1991. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 1969. Goffman, Erving: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a. M. 1971. Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a. M. 1977. Graf, Werner: Lesegenese in Kindheit und Jugend. Einführung in die literarische Sozialisation. Baltmannsweiler 2011. Groeben, Norbert / Schroeder, Sascha: Versuch einer Synopse. Sozialisationsinstanzen – Ko-Konstruktion. In: Norbert Groeben / Bettina Hurrelmann (Hrsg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick. Weinheim / München 2004, S. 306–348. Hall, Stuart: Alte und neue Identitäten, alte und neue Ethnizitäten. In: Ulrich Mehlem u. a. (Hrsg.): Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg 1994 (Ausgewählte Schriften. 2), S. 66–89. Hall, Stuart: Kulturelle Identität und Globalisierung. In: Karl H. Hörning / Rainer Winter (Hrsg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt a. M. 1999, S. 393–442.
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4.2.3 Inszenierungen des Lesens: Öffentliche literarische Lesungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart Zusammenfassung: Der Artikel vermittelt eine begriffliche Klassifikation öffentlicher Lesungen (Abschnitt 1) und gibt einen Überblick über deren Inszenierungsweisen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Mit der allmählichen Herausbildung eines anonymen literarischen Publikums im 18. Jahrhundert entwickelten sich (neue) Vermittlungsformen zwischen Autoren und Lesern. Damit lassen sich drei Schwellen in der Geschichte der öffentlichen Lesung ausmachen: Die Etablierung des freien Schriftstellers Mitte des 19. Jahrhunderts (Abschnitt 3.1.1), die Re-Oralisierung durch das von Marshall McLuhan definierte elektr(on)ische Zeitalter Ende des 19. Jahrhunderts (3.2.1) und die Herausbildung der Erlebnisgesellschaft in den 1990er Jahren (3.3.1). Aus den Schwellen resultieren wiederum spezifische Formen von Lesungen. Die Durchsetzung des freien Schriftstellers lässt unmittelbare Vortragssituationen zwischen zunächst Autor und Publikum, dann anderen Lesenden und Publikum zu. Da es dabei noch nicht zwangsläufig zu besonderen Inszenierungsformen kam, lassen sich solche Lesungen als ›klassische‹ Lesungen beschreiben (3.1.2). Diese wandeln sich in der Erlebnisgesellschaft in eventartig dargebotene Lesungen, die auf zusätzliche ausschmückende Elemente angewiesen sind (3.3.2). Das elektr(on)ische Zeitalter führt zu mittelbaren Vortragssituationen, wobei zwischen Vortragenden und Publikum ein Medium zwischengeschaltet ist. Hierbei wird zwischen dem zeitlich etwas älteren Speichermedium Tondokument in Form phonographischer Walzen und dem Übertragungsmedium Hörfunk unterschieden (3.2.2). Durch die Einteilung in Schwellen kann der Beitrag öffentliche Lesungen systematisieren und ihre Funktionen (4) aufzeigen. Abstract: This article presents a conceptual classification of public readings (1) and gives an overview on the different ways of their staging from the middle of the 19th century to the present. With the gradual emergence of an anonymous literary audience in the 18th century, (new) forms of mediality between authors and readers developed. As such three thresholds can be identified in the history of public readings: the establishment of the independent author in the middle of the 19th century (3.1.1), the re-oralization through the electr(on)ic age at the end of the 19th century as defined by Marshall McLuhan (3.2.1), and the development of the event-driven society (Erlebnisgesellschaft; 3.3.1). In turn, specific forms of public readings result from these thresholds. The establishment of the independent author allows for direct discourse situations at first between the author and the audience, and later between other readers and the audience. Since this did not yet necessarily lead to particular forms of staging, such readings can be described as ›classical‹ (3.1.2). Classical readings in turn become readings staged as events that are dependent on additional ornamentation (3.3.2). The electr(on)nic age leads to indirect discourse situations where a medium is inserted between the speaker and the audience. Here the chronologically older storage medium of the sound document in the form of phonographic cylinders is differentiated from the transmission medium radio (3.2.2). Through the division into thresholds, this article is able to systematize public readings and identify their functions (4).
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Inhaltsübersicht 1 Klassifikation von Lesungen — 854 2 Forschungsstand, Fragestellungen und theoretischer Zugriff — 856 2.1 Der freie Schriftsteller und die ›klassische‹ unmittelbare Lesung — 857 2.1.1 Fragestellung und Forschungsstand — 857 2.1.2 Theoretische Zugänge — 858 2.2 Die Re-Oralisierung und die mittelbare Lesung über phonographische Walzen und Hörfunk — 861 2.2.1 Fragestellung und Forschungsstand — 861 2.2.2 Theoretische Zugänge — 862 2.3 Die Erlebnisgesellschaft und die unmittelbare Lesung als Event — 863 2.3.1 Fragestellung und Forschungsstand — 863 2.3.2 Theoretische Zugänge — 863 3 Lesungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts: Schwellen — 864 3.1 Freier Schriftsteller — 864 3.1.1 Rahmenbedingungen — 864 3.1.2 Dispositive der ›klassischen‹ Lesung — 865 3.2 Re-Oralisierung — 869 3.2.1 Rahmenbedingungen — 869 3.2.2 Dispositive der medial vermittelten Lesung — 870 3.3 Erlebnisgesellschaft — 874 3.3.1 Rahmenbedingungen — 874 3.3.2 Dispositive der Eventlesung — 875 4 Funktionen von Lesungen — 877 5 Literatur — 879 5.1. Quellen — 879 5.2 Literatur — 879
1 Klassifikation von Lesungen Die Begrifflichkeiten sind oftmals nicht einheitlich. So werden Lesungen häufig auf eine bestimmte Vorleserschaft fokussiert, was sich in den Bezeichnungen ›Autorenlesung‹ oder ›Dichterlesung‹ niederschlägt. Reinhard Tgahrt präsentiert sein drei Bände umfassendes Werk Dichter lesen als Zusammenschau von »Texte[n] über das Vorlesen, Vortragen und Rezitieren von Dichtern oder anderen.« (Tgahrt 1995, S. 412) ›Dichter‹ fasst dabei unterschiedliche Vortragende zusammen, die sich einerseits anhand ihrer Vortragsstile und andererseits über ihren Schaffensprozess als schreibende Vortragende gegenüber nicht-schreibenden, aber künstlerisch tätigen unterscheiden. Hieraus lässt sich ableiten, dass der offenere Begriff ›Lesung‹ eher in der Lage ist, die heterogene Gruppe der Lesenden zu bündeln. In der Zeitschrift Die Fackel findet man Besprechungen zu Lesungen unter dem Schlagwort ›Vorlesung‹1.
1 Vgl. Onlineausgabe der Zeitschrift http://corpus1.aac.ac.at/fackel/ [eingesehen am 13.06.2015].
4.2.3 Inszenierungen des Lesens
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Gegenwärtig fallen verstärkt auch die Begriffe ›Wasserglaslesung‹ und ›Inszenierung‹ (vgl. Böhm 2005, S. 203; Grimm 2008, S. 142; Stöcker 2010, S. 58), um einen »theatralischen Mehrwert« (Grimm 2008, S. 148) zu suggerieren. Hieran zeigt sich, dass Lesungen mehr als reines Vorlesen sein können. Lesungen lassen sich anhand verschiedener Aspekte beschreiben: inhaltlich-formale Kriterien, beteiligte Akteure, Veranstaltungsräume und Funktionen, die sie für die verschiedenen Beteiligten erfüllen. Bei Lesungen handelt es sich um Vortragssituationen. Die Bezeichnung ›Vortrag‹ verdeutlicht, dass es dabei nicht zwangsläufig um reines Vorlesen geht, sondern die Inhalte auch freier dargeboten werden können. Gleichwohl folgen Lesungen bestimmten Regeln. Die Vortragssituation kann öffentlich, halböffentlich oder privat sein. Hieran zeigt sich, dass die Lesungen in unterschiedlichen Räumen abgehalten werden und somit eine variabel große Zuhörerschaft erreichen. Im Fokus dieses Beitrags stehen öffentliche Lesungen. Hieraus folgt, dass es unterschiedliche Räumlichkeiten gibt, die für den öffentlichen Vortrag genutzt werden. Das, was öffentlich vorgetragen wird, ist in der Regel ein bereits veröffentlichtes Werk. Die Frage danach, wer den Vortrag gestaltet, lässt sich differenziert beantworten. In der Regel handelt es sich um den Autor. Zugleich können auch Schauspieler, sog. Rezitatoren oder Deklamatoren2, die Werke von Autoren vorlesen. Auch das Publikum lässt sich zumindest grob in eine geladene und eine zahlende Zuhörerschaft unterteilen. Da Lesungen in der Regel als Marketingmaßnahmen aufgefasst werden, wird deren Funktionalität vor allem auf Autorenseite als Vermarktungsstrategie und Einkommensquelle dargestellt (vgl. Wilpert 2001, S. 462; Böhm 2005, S. 203–206; Fetzer 2015, S. 33). Besonders aus den Aspekten öffentlicher Vortrag zu Vermarktungszwecken lässt sich folgende Fragestellung ableiten: Ab wann lasen welche Personen aus literarischen Werken in der Öffentlichkeit vor und was veranlasste sie dazu? Eine bedeutsame Veränderung kommunikativer Strukturen trat durch die langsame Herausbildung eines anonymen literarischen Publikums im 18. Jahrhundert ein. Medienaussagen ließen sich an eine unbekannte, heterogene und größenmäßig nicht eindeutig bestimmbare Menge von Personen vermitteln. Wesentliche Kennzeichen dieser Form von Publikum sind, dass seine Erwartungen und Wünsche nicht mehr klar identifizierbar sind und dass dessen Auswahlmöglichkeiten im Bereich medialer Formen und Aussagen allmählich zunehmen. Somit bedurfte es Vermittlungsstrategien, die Kommunikator, in diesem Fall Autor, und Publikum zusammenführten oder Literatur auf andere Art und Weise, z. B. medial vermittelt, zugänglich machten. Diese Strategien mussten nicht zwangsläufig neu sein, sondern sich eher an veränderte Gegebenheiten anpassen. Hieraus resultiert die Frage danach, was sich seit dem
2 Dies entspricht Goethes 1803 in den Regeln für Schauspieler entwickelter Differenzierung. Der Rezitator ist Mittler des Texts und trägt diesen ohne größere Einfühlung, aber nicht monoton, vor. Der Deklamator ›spielt‹ den Text, indem er empathisch jegliche Gefühlsäußerungen interpretiert.
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18. Jahrhundert im Zusammenhang mit Vermittlungsmöglichkeiten zwischen Autor und Publikum wandelte und welche äußeren Rahmenbedingungen hierauf Einfluss nahmen.3
2 Forschungsstand, Fragestellungen und theoretischer Zugriff Eine grundlegende Darstellung, die sich der Lesung im beschriebenen Zeitraum über die unter Kapitel 1 dargestellten Facetten nähert, gibt es bislang noch nicht. Stattdessen existieren Werke zur Geschichte des Lesens, die das laute Lesen und Vorlesen aufgreifen.4 Gunter Grimm gibt einen kurzen Überblick über die Geschichte der Autorenlesung (vgl. Grimm 2008, S. 143–149) und stützt sich hierbei weitestgehend auf Irmgard Weithase und Reinhard Tgahrt (vgl. Weithase 1961; Tgahrt 1989, 1995). Eine systematische Übersicht, die Lesungen klassifiziert, diese in situative Kontexte bettet und Funktionen herausarbeitet, ist damit allerdings nicht gegeben, da beide Autoren Quellenmaterial auswerten, das einzelne Aspekte verdeutlicht, eine geradlinige Entwicklung allerdings nicht erkennbar macht. Auch die beiden Vorläufer dieses Handbuchs – Lesen. Ein Handbuch von 1973 und Handbuch Lesen aus dem Jahr 19995 – gehen weder auf die Lesung allgemein noch auf deren Kontexte und Wandel speziell ein. Die Kernfragestellung dieses Beitrags lautet: Wie veränderten sich die situativen Kontexte innerhalb der Schwellen und wie beeinflusste dies die Interaktion zwischen Vorleser und Publikum? Hieraus resultieren differenzierte theoretische Zugänge: Das Zusammenspiel aus situativen Kontexten und Interaktion zwischen Vorleser und Publikum lässt sich über den sozialwissenschaftlichen Dispositivansatz erklären. Die Frage danach, wie sich situative Kontexte auf die Interaktion auswirken,
3 Philip Auslander differenziert im Zusammenhang mit Performanz zwischen internen und externen Faktoren, die auf die Vermittlung einwirken: »[…] the internal are aspects oft he performance situation itself, […] while the external ones are historical and social factors […]« (Auslander, Philip: Live and technologically mediated performance. In: Tracy C. Davis (Hrsg.): The Cambridge companion to performance studies. Cambridge u. a. 2008, S. 107–119, hier S. 115). Diese Überlegungen fließen in den vorliegenden Beitrag ein, indem zwischen den Wahrnehmungsanordnungen der unterschiedlichen Formen von Lesungen als internen und den Rahmenbedingungen als externen Faktoren unterschieden wird. Die Rahmenbedingungen gelten jedoch als konstitutiv für die Wahrnehmungsanordnungen. 4 Auch in diesem Handbuch wird die Lesung thematisiert. Vgl. hierzu die Kapitel 4.1.2 bis 4.1.4. Diese behandeln allerdings nicht den Aspekt der Öffentlichkeit, wie er in diesem Beitrag im Fokus steht. 5 Baumgärtner, Alfred Clemens (Hrsg.): Lesen. Ein Handbuch. Hamburg 1973; Franzmann, Bodo / Hasemann, Klaus / Löffler, Dietrich / Schön, Erich (Hrsg.): Handbuch Lesen. München 1999.
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kann mit Erving Goffmans Rahmentheorie und Erklärungen aus der Performanzforschung beantwortet werden. Die Handlungsweisen der beteiligten Akteure und die unterschiedlichen Formen der Lesungen schließlich lassen sich über Pierre Bourdieus Feldtheorie nachvollziehen. Es kann somit geklärt werden, warum der Autor als Akteur seine Position vom freien Schriftsteller hin zum Performancekünstler verändert und wieso die Bandbreite der Lesung von der ›Wasserglaslesung‹ zur Eventlesung reicht. Dies veranschaulicht außerdem, weshalb sich die Ausdrucksformen Hörbuch, zunächst in Form phonographischer Walzen, und Hörfunklesung neben dem gedruckten Buch etablieren konnten.
2.1 Der freie Schriftsteller und die ›klassische‹ unmittelbare Lesung 2.1.1 Fragestellung und Forschungsstand Die Fragestellung, die für diese Form der Lesung relevant ist, ist die folgende: Welche Personen lasen aus literarischen Werken öffentlich vor und wie sahen diese Lesungen aus? Der Forschungsstand hierzu ist ungenügend. So lässt sich speziell für die unmittelbare Lesung durch Autoren und Schauspieler auf den genannten Werken und hierbei besonders auf Weithase und Tgahrt aufbauen. Bei beiden Autoren geht es allerdings vorrangig um die künstlerisch-ästhetische Ausprägung von Lesungen, Rezitationen, Deklamationen und Vorträgen. Weithase stellt in Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache »Bereiche der Sprachpflege« (Weithase 1961, 1. Bd., S. 3, lebender Kolumnentitel) innerhalb von Kirche, Schule, Dicht- und Sprechkunst vor. Dies soll hier aber nicht der Kernaspekt sein. Da bereits ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend auch Schauspieler öffentlich auftraten, um die Werke von Autoren vorzutragen, spielen Texte eine Rolle, die auf diese Personengruppe als Vortragende eingehen. Lothar Müller thematisiert dies in seinem Werk Die zweite Stimme am Beispiel von Franz Kafka (vgl. Müller 2007). Er stellt ihn einerseits als Vortragenden und andererseits als Zuhörer von Lesungen vor und beschreibt, welche Vortragskünstler er häufig als Gast besuchte. Hieraus lässt sich zum einen schließen, welche Redner um 1900 besonders bekannt waren, zum anderen kann man über die Beschreibungen der Lesungen das zu dieser Zeit übliche Lesungs-Dispositiv ableiten. Müller erklärt den Schriftsteller und Schauspieler Karl von Holtei zum »Pionier der Professionalisierung und Institutionalisierung des Rezitations- und Vorlesewesens« (Müller 2007, S. 31). Dieser wird zudem bei Maximilian Weller als einer der wichtigsten Dramenvorleser vorgestellt (vgl. Weller 1939), woraus sich spezifisch schauspielerische Interaktionsweisen mit dem Publikum und situative Kontexte erkennen lassen. Grundsätzlich gibt es mit Ausnahme von Malcolm Andrews’ Darstellung von Charles Dickens’ Lesereisen (vgl.
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Andrews 2006) keine vergleichbare Auseinandersetzung mit den Lesungs-Dispositiven im deutschsprachigen Raum. Lediglich anhand der Besprechungen von Karl Kraus in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel zu eigenen und fremden ›Vorlesungen‹ lassen sich Rückschlüsse ziehen, wo die Lesungen stattfanden, wie vorgetragen wurde und welche Formen der Interaktion es gab (vgl. Rühr 2014). Auf Dickens wird häufig verwiesen, wenn es um die Professionalisierung von Lesungen geht (vgl. Weller 1939, S. 158; Böhm 2011). Die Tatsache, dass die Forschungsliteratur hauptsächlich auf bekannte Autoren und Schauspieler Bezug nimmt, darf jedoch nicht zur Schlussfolgerung führen, dass es vorrangig dieser Personenkreis war, der mit Lesungen auftrat. Vielmehr sind über unbekanntere Vortragende und ihre Auftritte bislang noch keine Quellen aufgedeckt worden.
2.1.2 Theoretische Zugänge Dispositive setzen sich »immer [aus] soziale[n] Handlungen, Dinge[n] und ver schiedene[n] Akteure[n]« (Bührmann / Schneider 2008, S. 45) zusammen. Sozialwissenschaftlich geprägte Dispositivforschung geht von konkreten Objekten und den damit verbundenen und daraus resultierenden sozialen Praktiken aus (vgl. Jäger 2006, S. 95–97; Caborn 2007, S. 115; Bührmann/Schneider 2008, S. 45). Somit stellen die Lesungen die Dispositive dar, die wiederum bestimmte soziale Praktiken hervorbringen. Diese sind nach Andrea Bührmann und Werner Schneider Problem lösungsoperatoren, die erlernt wurden und den sozialen Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft sichern (vgl. Bührmann / Schneider 2008, S. 51–53). Die Performanzforschung aus der Theaterwissenschaft untersucht Theateraufführungen und die Interaktionshandlungen zwischen Bühne und Zuschauerraum. Es handelt sich um »ein strukturiertes Programm von Aktivitäten, das zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort von einer Gruppe von Akteuren vor einer Gruppe von Zuschauern durch- bzw. vorgeführt wird« (Fischer-Lichte 2003, S. 15). Aufführungen sind einmalig und durch ihre spezifischen Elemente flüchtig (vgl. Fischer-Lichte 2003, S. 15 f.). Eine Lesung, die die Ausschnitte eines Werks präsentiert, unterscheidet sich dennoch allein durch ihren Aufführungscharakter von der schriftlichen Vorlage. Sabine Friedrich und Kirsten Kramer arbeiten den Aspekt der Interaktion zwischen Akteur / Schauspieler / Bühne und Rezipient / Zuschauerraum heraus, indem sie fest stellen, dass dieser sich aus dem Zusammenspiel von Performanz, Inszenierung, Körperlichkeit und Wahrnehmung ergibt.6 Performanz ist dabei als übergeordneter
6 Fischer-Lichtes Beitrag verdeutlicht, in welcher Relation die Begriffe Performanz, Aufführung, Ereignis und Inszenierung zueinander stehen: So ist Aufführung der Oberbegriff für Performanz und Ereignis. Inszenierung hingegen ist eher eine Art Paratext für die Performanz, ein Beiwerk zu den sozialen Handlungen (vgl. Fischer-Lichte 2003, S. 11–37). Dass diese Begrifflichkeiten oftmals unscharf
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Begriff zu verstehen, der soziale Praktiken, künstlerische Handlungen oder auch spezifische Darstellungsformen mit Präsentationscharakter umfasst. Die Inszenierung meint im Zusammenhang mit dem Theater die Bühnengestaltung, also Anordnung der Bühne(n), Einsatz von Lichteffekten und Musik. Das Spiel der Schauspieler auf der Bühne schließt den Aspekt der Körperlichkeit und die damit einhergehenden Ausdrucksmöglichkeiten und Äußerungen ein. Die Wahrnehmung wird beeinflusst durch die Anordnung von Bühne und Zuschauerraum (vgl. Friedrich / Kramer 2008, S. 68–71). Dieses Zusammenspiel von Faktoren, das die vage Formulierung der Interaktion klarer fasst, beschreiben die Autorinnen als Theatralität und damit als Dispositiv (vgl. Friedrich / Kramer 2008, S. 71). Theateraufführungen lassen sich somit als spezifisches Dispositiv fassen, das durch die dargestellten Aspekte beeinflusst wird. Bei Lesungen als Aufführungen sind diese ebenfalls zu finden und als Einflussfaktoren untersuchbar. Da Lesungen den privaten Raum verlassen und spezifische soziale Handlungsweisen definieren, die im Austausch mit anderen Akteuren stattfinden, sind Goffmans Ansätze zum öffentlichen Austausch und zur Rahmen-Analyse hilfreich (vgl. Goffman 1982, 19897). Dass Goffman anstelle von Interaktion vom öffentlichen Austausch spricht, hängt damit zusammen, dass er den weitläufigen Begriff der Interaktion stärker eingrenzen möchte. Grundsätzlich stellen alle Handlungen zwischen mindestens zwei Personen Interaktionen dar, ohne zu spezifizieren, inwieweit die Akteure tatsächlich miteinander interagiert haben. Interaktion nach Goffman umschreibt Handlungsweisen, die aufgrund spezifischer Rahmen vorgegeben sind (vgl. Goffman 1989, S. 146). Die Rahmen-Analyse untersucht soziales Handeln in verschiedenen (Alltags-)Situationen, die Performanzforschung geht performativen Handlungen nach. Damit kann letztere Teil der Rahmen-Analyse sein, was sich auch an Goffmans Darstellungen zum Theater-Rahmen zeigt (vgl. Goffman 1989, S. 143–175). Analog dazu lassen sich mit Goffman Lesungen als Rahmen verstehen, die spezifische soziale Handlungsweisen bedingen. Goffman folgert, dass Individuen im Austausch mit anderen Individuen bestimmten sozialen Regeln und Organisationsprinzipien folgen (vgl. Goffman 1989, S. 19). Diese Organisationsprinzipien sind Konventionen, die innerhalb spezifischer Situationen gelten und von den beteiligten Individuen anerkannt und befolgt werden. Teilweise stammen diese Konventionen aus anderen Umgebungen und werden auf neue Formen übertragen: »[…] wodurch eine bestimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen
bleiben und teilweise auch unreflektiert verwendet werden, zeigen Wilharm / Bohn mit einem Überblick über Veröffentlichungen in den Bereichen (vgl. Wilharm, Heiner / Bohn, Ralf: Einführung. In: Dies. [Hrsg.]: Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenographie. Bielefeld 2009 [Szenographie & Szenologie], S. 9–43, hier S. 13–18). Der Vorschlag beider Autoren, stattdessen einen weiteren Begriff einzuführen, nämlich den der Szenographie, trägt allerdings nicht zur Vereinfachung der Problematik bei. 7 Im Original sind Relations in public 1971 und Frame analysis 1974 erschienen.
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eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert wird, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird« (Goffman 1989, S. 55). Ein Beispiel für eine transformierte Tätigkeit ist das Grüßen bei der Lesung: Der Autor betritt die Bühne, die Blicke aus dem Zuschauerraum richten sich auf ihn. Der Autor sieht in den Zuschauerraum, begrüßt die Anwesenden, diese ›grüßen‹ ihn durch Applaus zurück. Am Ende der Veranstaltung findet dieses Ritual nochmals statt, indem sich der Autor von den Zuschauern verabschiedet. In Anlehnung an Handlungen eines Schauspielers verneigt er sich vor seinem Abgang. Wichtig ist außerdem, dass sich Akteure in performativen Kontexten ›verwandeln‹: Eine Aufführung […] ist eine Veranstaltung, die einen Menschen in einen Schauspieler verwandelt, und der wiederum ist jemand, den Menschen in der ›Publikums‹-Rolle des langen und breiten ohne Anstoß betrachten und von dem sie einnehmendes Verhalten erwarten können. (Goffman 1989, S. 143)
Analog hierzu ist der Vorleser ein Mensch, der sich auf der Bühne in den Vorlesenden verwandelt und seine Zuhörer sind Personen, die im Zuschauerraum zu Zuhörenden werden. Beide Parteien erwarten rollengemäßes Verhalten von der jeweils anderen Partei. Die »öffentliche Ordnung« (Goffman 1982, S. 14) wird stark dadurch beeinflusst, inwieweit das Individuum Raum zur persönlichen Entfaltung findet und ob Grenzen zwischen Individuen durchbrochen werden und somit die Interaktion gefördert oder gestört wird. Die Interaktion zwischen Bühne und Zuschauerraum hängt davon ab, wie diese beiden Räume gestaltet sind, welchen Grad der Interaktion sie also zulassen. Gleichzeitig wird die Interaktion aber auch durch räumliche Nähe oder aber Grenzen der Beteiligten zueinander beeinflusst. Die Trennung zwischen dem Lesenden auf einer Bühne oder einem Podium und den Zuschauern im Zuschauerraum gewährt zunächst beiden Parteien den ihnen jeweils zustehenden persönlichen Raum. Durch die räumliche Distanz wird zugleich persönliche Distanz angezeigt. Diese fällt im Zuschauerraum deutlich geringer aus, wird aber dennoch eingehalten, indem die einzelnen Stühle den persönlichen Raum eines Zuschauers markieren. Besonders deutlich wird die Abgrenzung dieses individuell beanspruchten Raums durch Armlehnen (vgl. Goffman 1982, S. 54–62). Die Interaktion zwischen den beteiligten und räumlich voneinander abgegrenzten Parteien kann beeinflusst werden, wenn eine der beiden Parteien in das Territorium der anderen eindringt8 (vgl. Goffman 1982, S. 81 f.).
8 Bei der Lesung kann dies der Fall sein, wenn der Lesende im Verlauf der Lesung den Zuschauer raum betritt. Hape Kerkeling beispielsweise trat während seiner Lesung zu Ich bin dann mal weg nach einigen Begrüßungsworten in die ersten Reihen der Zuschauer. Die Verletzung des persönlichen Raums des angesprochenen Zuschauers wird gut erkennbar durch dessen Reaktion, da er vor dem Autor zurückweicht. Umgekehrt können auch Zuschauer den Raum des Lesenden betreten, wenn
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Bourdieus Feldtheorie ergänzt die bisherigen Theorieansätze, indem bislang Dispositive und Rahmen als Dispositionen thematisiert, die Akteure selbst jedoch vernachlässigt wurden. Die Akteure, ihre Position und ihr Habitus einerseits und die »gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion« (Bourdieu 2011, S. 315) andererseits führen die bisherigen Annahmen zusammen. Bourdieu schreibt dem Habitusbegriff eine solch wichtige Funktion zu, dass er seine Ausführungen dazu als eigene Habitustheorie fasst. Diese bildet interne Strukturen eines Individuums, seine Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, ab. Die Feldtheorie ergänzt diese um externe Strukturen des sozialen Felds. Die Position eines Akteurs auf dem Feld ergibt sich aus den Voraussetzungen, die er mitbringt, seinen Kapitalien, und seinem Habitus. Jede Position sorgt für spezifische Ausdrucksformen, Positionierungen (vgl. Bourdieu 2011, S. 312). Position und Positionierung wie auch Feld und Habitus stehen in engem Wechselspiel: »Daraus ergibt sich beispielsweise, dass sich eine an sich gleichbleibende Positionierung ändert, wenn sich das Universum der Option ändert, die den Produzenten und Konsumenten gleichzeitig zur Wahl stehen.« (Bourdieu 2011, S. 313) Bourdieu unterscheidet innerhalb eines Felds zwischen Autonomie, die allein den Gesetzen des Felds folgt, beispielsweise eine Produktion von Kunst um der Kunst willen, und Heteronomie, die allein ökonomischen Aspekten gehorcht. Die Anerkennung des feldspezifischen Handelns eines Akteurs nennt Bourdieu den Grad der feldspezifischen Konsekration. Jede Position und zugehörige Positionierung bedingt auch eine besondere Ausrichtung des Publikums (vgl. Bourdieu 2011, S. 326–328 u. 332 f.).
2.2 Die Re-Oralisierung und die mittelbare Lesung über phonographische Walzen und Hörfunk 2.2.1 Fragestellung und Forschungsstand Hier steht die Frage im Fokus, wie sich der Einsatz eines akustischen Mediums zur Vermittlung einer Aussage auf die Interaktion zwischen Vortragendem und Zuhörerschaft auswirkt. Bei der phonographischen Walze handelt es sich um ein Speichermedium, beim Hörfunk jedoch um ein Übertragungsmedium. Diese differierenden Funktionen beeinflussen als Dispositive wiederum das Zusammenspiel von Sprecher und Publikum.
zum Beispiel im Anschluss an die Lesung eine Signierrunde stattfindet oder wenn, wie im Falle einer Lesung Sebastian Fitzeks, Personen aus dem Zuschauerraum offenkundig keine ›echten‹ Zuschauer sind, sondern Teil einer durch den Autor initiierten Inszenierung. Die Parteien verlassen den jeweils ihnen zugewiesenen Raum und begehen damit Rahmenbruch (vgl. Goffman 1989, S. 399).
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Medial vermittelte Inszenierungsformen bei der Rezeption phonographischer Walzen sind vor allem bei Sandra Rühr aufgearbeitet worden (vgl. Rühr 2008; 2010; 2012). Anhand der Darstellung unterschiedlicher Trägermaterialien in der Entwicklungsgeschichte des Hörbuchs können situative Kontexte der Interaktion zwischen Sprecher, Medium und Zuhörer erschlossen werden. Die Charakterisierung des Hörfunks als akustisches Medium und dessen künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten thematisiert Arnheim (vgl. Arnheim 2001). Daniel Gethmann akzentuiert in seinen Ausführungen das Sprechen am Mikrophon als Bindeglied zwischen Sprecher und Hörer und fokussiert die Stimme als Ausdrucksmedium des Hörfunks (vgl. Gethmann 2005; 2006).
2.2.2 Theoretische Zugänge Die Annahme einer Re-Oralisierung durch die akustischen Medien phonographische Walze und Hörfunk Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts fußt auf den Ausführungen Marshall McLuhans in Die Gutenberg Galaxis. Dessen Untertitel Das Ende des Buchzeitalters verdeutlicht, dass innerhalb des gesamten medialen Zeitalters je ein Leitmedium bestimmend war. Damit galt dieses Medium durch seine Medienmerkmale als Dispositiv. Es war in spezifische situative Kontexte eingebunden und beförderte entsprechende kommunikative Handlungen. Medien als Verlängerungen körpereigener Sinne verändern den Kommunikationsprozess, indem sie jeweils ein spezifisches Sinnesorgan besonders reizen. McLuhan definierte vier Zeitalter: Das orale Zeitalter ist eine »Welt des Schalles« (McLuhan 1995, S. 22) und spricht somit das Ohr an. In der Manuskriptkultur, in der ein lautes Lesen vorherrscht, werden Auge und Ohr beansprucht. »Man begreift nur das, was man hört[.]« (McLuhan 1995, S. 112) Die Gutenberg-Galaxis drängt das Ohr zurück und erst mit dem elektr(on)ischen Zeitalter kann von einer Taktilität, einer Gleichwertigkeit aller Sinne, gesprochen werden (vgl. Grampp 2011, S. 104). Das elektr(on)ische Zeitalter mit Neuerungen wie der Eisenbahn oder der Telegraphie vernetzt die Menschen miteinander und lässt ein globales Dorf entstehen (vgl. McLuhan 1995, S. 39; Grampp 2011, S. 89–92). Dieses führt außerdem dazu, dass die Grenzen von Raum und Zeit aufgehoben werden (vgl. Grampp 2011, S. 90). Walter J. Ong, der Schüler McLuhans, denkt dies weiter, indem er von primärer und sekundärer Oralität spricht. Zwischen beidem steht das durch den Buchdruck gegebene schriftlich fixierte Denken. Seine These lautet, dass das Zeitalter vor der Erfindung des Buchdrucks ein orales war, das sich durch spezifische Merkmale auszeichnete. Die sekundäre Oralität, die mit elektronischen Medien wie solchen der Tondokumentation aufkam und sich in Telefon, Hörfunk und Fernsehen fortsetzt, greift diese unter der Voraussetzung des schriftlich fixierten Denkens auf und passt sie an (vgl. Ong 1987, S. 136). Lesungen, die medial vermittelt werden, folgen anderen Gesetzmäßigkeiten als unmittelbare Varianten. Sie orientieren sich an den vorherrschenden medialen Spezi
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fika. Die theoretischen Grundannahmen McLuhans und Ongs spielen eine entscheidende Rolle, da mehrere Kontexte unterschieden werden können: Zum einen wird der Kommunikationsprozess, der über auditive Medien stattfindet, durch das leitende Sinnesorgan Ohr beeinflusst. Zum anderen nimmt er Anleihen an der primären Oralität, was bedeutet, dass die situativen Kontexte eines früheren medialen Zeitalters in geänderte Kontexte übertragen werden. Damit verändert sich der Rahmen, was wiederum Auswirkungen auf die Handlungsweisen der Akteure hat.
2.3 Die Erlebnisgesellschaft und die unmittelbare Lesung als Event 2.3.1 Fragestellung und Forschungsstand Im Kontext einer Erlebnisgesellschaft stellt sich die Frage, welche Zwecke Lesungen in ihren verschiedenen Ausprägungen erfüllen, durch welche situativen Kontexte sie sich auszeichnen und wie sich die Beteiligten jeweils verhalten. Welche Wege der Begrenzung, des Nahelegens oder Auslösens (vgl. Schulze 2005, S. 49 f.) stehen dem Publikum offen? Welches Angebot steht dem Publikum zur Verfügung? Wie wählt es seinen Bedürfnissen entsprechend aus und was passiert, wenn das Publikum mit seinen je individuellen Wünschen auf ein konkretes Veranstaltungsangebot trifft? Die Ausprägungen der Erlebnisgesellschaft zeigen sich in der Beschäftigung mit deren Konsequenzen. Das schöne Erleben wird am ehesten durch außergewöhnliche Situationen gewährleistet, was sich am Schlagwort des Außeralltäglichen ablesen lässt (vgl. Gebhardt 2000). Lesungen verändern sich in diesem Kontext. Sie finden an ungewöhnlichen Orten statt und versuchen, die Teilhabe des Publikums zu steigern. Böhm lässt hierzu verschiedene Autoren zu Wort kommen, um die variablen LesungsDispositive zu verdeutlichen (vgl. Böhm 2003). Stefan Porombka und Boris Preckwitz stellen den Eventcharakter von Poetry Slams heraus und zeigen damit, inwiefern diese Ausdruck einer Erlebnisgesellschaft sind (vgl. Porombka 2001; Preckwitz 2002).
2.3.2 Theoretische Zugänge In einer Gesellschaft, die zunehmend in fragmentierte Teilsegmente mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen, Lebensstilen und Handlungsmustern zerfällt, macht Gerhard Schulze als verbindendes Element ein innenorientiertes Handeln aus. Er geht davon aus, dass Ereignisse maßgeblich durch das Miterleben von Individuen, das innere Erleben, beeinflusst werden (vgl. Schulze 2005, S. 35). Erlebnisorientierung meint dabei, dass Individuen sich und ihr Handeln bewusst in Beziehung zu Ereignissen setzen und auf Innenerleben aus sind. Sie wählen Ereignisse willentlich aus, damit sie dieses Merkmal erfüllen. So erst wird aus dem bloßen Ereignis ein Erleb
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nis. »Innenorientierung ist Erlebnisorientierung. Das Projekt des schönen Lebens ist das Projekt, etwas zu erleben.« (Schulze 2005, S. 38) Erlebnisse werden, damit sie für eine Person als solche interpretiert werden können, in einen subjektbezogenen Kontext integriert. Klingt dies zunächst danach, als hätten sich die Handlungsoptionen seitens der Zuhörer erweitert und verbessert, zeigt sich zugleich, dass damit die gewünschte Erlebnisqualität auch beeinträchtigt werden kann. Erlebnisse zeichnen sich nicht allein durch Subjektbezogenheit aus, sondern auch durch Unwillkürlichkeit und Reflexion. Nicht immer tritt das gewünschte innere Erleben ein und zugleich wird das Erlebnis durch Verarbeitung in bestehende Kontexte integriert. Damit wirkt es sich wiederum auf spätere Erlebnisse aus (vgl. Schulze 2005, S. 44–46). Zwischen Subjekt und Situation besteht eine Wechselwirkung: Das Subjekt betritt nicht passiv eine bestimmte Situation, sondern führt diese aktiv herbei. Die Situation wirkt nicht unvermittelt auf das Subjekt ein, sondern ist maßgeblich an einer gelingenden oder misslingenden Innenorientierung beteiligt (vgl. Schulze 2005, S. 48–52).
3 Lesungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts: Schwellen 3.1 Freier Schriftsteller 3.1.1 Rahmenbedingungen Bereits in den 1770er Jahren hatte sich der freie Schriftsteller herausgebildet. Hiermit standen weitere Entwicklungen in engem Zusammenhang: In diese Phase fällt die erste sog. qualitative Leserevolution, die mit veränderten Leseweisen, neuen Lektürestoffen und einer gewandelten Leserschaft einherging. Das bürgerliche Lesepublikum vergrößerte sich, wenn auch noch auf niedrigem Niveau, und damit entwickelte sich das Schreiben für ein allmählich anonymes Publikum. Die langsame Etablierung des freien Schriftstellers dauerte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch auch bis in die 1880er Jahre konnten nur wenige Autoren allein von ihrer literarischen Produktion leben (vgl. Neuschäfer 1981, S. 75). Die Diskussionen um den freien Schriftsteller und die angemessene Entlohnung seiner Arbeit bewirkte einerseits, dass sich Vereinigungen zur Autorenförderung entwickelten (vgl. Parr 2010, S. 361–363). Andererseits führte die Suche nach Anerkennung in literarischer wie ökonomischer Hinsicht zu einer Art Produktionszwang. Dieser resultierte wiederum aus dem gesteigerten literarischen Angebot, das sich seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend auch auf Zeitschriften erstreckte. Neben dem erweiterten medialen Angebot gab es zudem eine Ausdehnung der Vermarktungsstrategien. Dies mündete in der »Kombination ganz verschiedener Teil
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Tätigkeiten wie Schreiben für Zeitschriften, Publizieren von Büchern plus zunehmend öffentliche Lesungen durchführen« (Parr 2010, S. 354). Dieser Wandel des Schriftstellers führte dazu, dass es zu einer Neupositionierung der Akteure kam: Bis in die 1770er Jahre hinein vom Dichter für eine Elite hatte sich seitdem die Stellung hin zum freien Schriftsteller für einen Massenmarkt verschoben. Seine Ausdrucksformen wurden literarisch kontrovers diskutiert, da es keine poetischen Regeln mehr gab, die als Maßstab für die Beurteilung eines Werks dienen konnten. Der Habitus des neuen Schriftstellertypus war ein anderer: Er verfügte über seine Ideen, seine Zeit und sein Einkommen selbst. Sein Erfolg führte zur Anhäufung ökonomischen Kapitals, das wiederum seinen Ruf verbesserte und somit sein symbolisches Kapital steigerte: »Im 19. Jahrhundert indessen wird die Subvention nur noch als caritative Hilfsmaßnahme gesehen, die nicht nur ihre Zuträglichkeit für das Prestige des Autors verloren hat, sondern von diesem tunlichst auch vor seiner Umwelt verborgen wird.« (Neuschäfer 1981, S. 85) Die Abhängigkeit, zumindest gegenüber einer höhergestellten Person, entfiel. Gleichzeitig musste er aber ein gewisses Gespür für Marktgängiges entwickeln (vgl. Neuschäfer 1981, S. 73 u. 82 f.).
3.1.2 Dispositive der ›klassischen‹ Lesung Die veränderte Position des Autors in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rief neben dem geänderten Habitus auch andere Ausdrucksformen hervor. Dies drückte sich in »neue[n] Formen der literarischen Selbstvermarktung« (Perrig 2009, S. 90) aus. Es reichte nicht mehr, dass der Autor dem Prinzip der Autonomie gehorchte, sondern er hatte sich den Bedingungen der Heteronomie zu beugen. Dies bedeutete, dass nicht allein sein qualitativ hochwertig geschriebenes Werk für ihn sprach, sondern der Autor als Person musste für sich werben und sein ihm zunehmend unbekanntes Publikum überhaupt erst auf sich aufmerksam machen. Dafür gingen die Autoren auf Lesetourneen und versuchten ihre Werke auf »effektvolle« (Grimm 2008, S. 146) Weise und gegen Eintritt darzubieten. Der erste Schriftsteller, der sich den Gesetzmäßigkeiten des geänderten Felds anpasste, war nach Weithase der Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart. Er verließ bereits in den 1770er Jahren den privaten Zirkel und trat im Augsburger Musiksaal gegen Geld auf9 (vgl. Weithase 1961, 1. Bd., S. 491). Neben Lesetourneen spielte seit dem 18. Jahrhundert zunehmend auch die Literaturkritik in
9 Schubart beugte sich nicht nur den Gesetzmäßigkeiten der Heteronomie, sondern profitierte auch davon. Er zählte neben Goethe, Schiller, Wieland und Klopstock zu den am besten verdienenden Autoren dieser Zeit (vgl. Winckler, Lutz: Autor – Markt – Publikum. Berlin 1986 (Literatur im historischen Prozeß. 15), S. 76 f.). Schubart ist aber zugleich in der Art seiner Interaktion mit dem Publikum von Goethe zu unterscheiden: Schubart trat vor einem anonymen größeren Publikumskreis auf, Goethe las am Hofe vor ›seinesgleichen‹. Goethe ging auch nie auf Lesereise (vgl. Böhm 2011; Grimm 2011, S. 371).
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Zeitschriften eine wichtige Rolle, um auf die gestiegene Zahl an Neuerscheinungen aufmerksam zu machen, diese zu filtern und somit den Diskurs über das Gelesene zu erleichtern. Gemäß den ›Spielregeln‹ des Zeitalters der Aufklärung diente die Literaturkritik allerdings stärker dem Prinzip der Autonomie. Sie sollte nicht zu einer Vermehrung des ökonomischen, sondern vielmehr des kulturellen Kapitals einer bürgerlichen Öffentlichkeit führen. Dass das Hinzutreten neuer Akteure nicht unmittelbar zu einer gänzlichen Umstrukturierung bestehender Felder führt, zeigen die parallel stattfindenden halböffentlichen Dichterlesungen. In Dichterkreisen wie dem 1827 gegründeten ›Tunnel über der Spree‹ in Berlin lasen Autoren vor anderen Autoren. Hier ging es nicht um Selbstvermarktung, sondern um künstlerische Darbietung um der Kunst willen. Zugleich traten die Vortragenden über ihre Inhalte in einen Wettbewerb zueinander. Die Autorenkollegen waren oftmals die ersten Personen, die ein Werk zu hören bekamen10 (vgl. Weithase 1961, 1. Bd., S. 496). Bei den großen Lesereisen, wie sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend zu beobachten waren, entwickelte sich ein spezifisches Dispositiv: Autoren treten vor eine heterogene, zahlkräftige Menge, die aus unterschiedlichen Motiven11 heraus die Lesung besucht. Beide Parteien, Autor und Zuhörerschaft, versuchen, innerhalb des Lesungs-Rahmens zu handeln. So verändert sich der einsam schreibende Autor in den ›effektiv‹ Vortragenden, der inhaltlich und stimmlich gefallen will. »[D]ie Lesung […] ist quasi allen preisgegebenes Bühnengeschehen am Lesetisch mit Lichtquelle und Wasserglas, das zum vorgetragenen Inhalt noch unerbittlich akustische wie performative Fähigkeiten einfordert.« (Perrig 2009, S. 92) Das Publikum verlässt seine ursprüngliche Rolle und verwandelt sich von Individuen mit unterschiedlichen Hintergründen in die Masse der gemeinsam Zuhörenden, die sich für die Person des Autors hinter dem Werk interessiert. Sie verstummen, um den Autor zu hören. Dieser für die Beteiligten neue Rahmen war nicht konfliktfrei. Dies lässt sich am Beispiel von Charles Dickens ablesen, der erstmals 1858 auf Lesereise ging. Sein Habitus wandelte sich und damit musste auch die Zuschreibung an den Autor überdacht werden: »a private man reading in public; an author divising a new way to publish his own works; a gentleman exhibiting his talents for money in public […]« (Andrews 2006, S. 61). Gerade der Aspekt der Zurschaustellung stellte den Autor auf eine Stufe mit Schauspielern, die zu dieser Zeit noch kein hohes Ansehen genossen. Aufgrund ihres öffentlich dargebotenen Spiels, ihres ›So tun als ob‹, begegnete man ihnen mit Vorurteilen (vgl. Andrews 2006, S. 33). Der öffentliche Auftritt von Autoren führte somit
10 Über Franz Kafka als Vorleser im Familien- wie Schriftstellerkollegenkreis kann man bei Müller 2007, S. 87–131 nachlesen. Zahlreiche weitere Beispiele vgl. Tgahrt 1989. 11 Naheliegende Gründe sind das Kennenlernen des Autors und das Erfahren seiner Sprache durch seine eigene Darbietung. Doch auch Verehrung und das Gefühl, auf einer Stufe mit dem Autor zu stehen, können Aspekte sein (vgl. Grimm 2011, S. 370).
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zu einem Positionswechsel und zum Verlust symbolischen Kapitals. Nicht nur der gewandelte Habitus des Autors, sondern auch die Sinnhaftigkeit von Autorenlesungen generell wurde hinterfragt: Dies könne, so meinte jemand in der Gesellschaft, dem in einen Hörer umgewandelten Leser keine Teilnahme mehr abgewinnen, da sich Dickens’ Bücher doch in aller Welt Händen befänden. Holtei widersprach: Der Verfasser von Romanen, dem einige Gabe mündlicher Mitteilung eigen sei, könne in seinen Büchern viele Stellen finden, über die der nach fortschreitender Handlung begierige Leser flüchtig hinwegginge, die der Verfasser als Vorleser aber herauszuheben und geltend zu machen wünscht. (Weller 1939, S. 158)
Besonders Dickens’ Lesungen verdeutlichen den Aspekt des Massenauftritts. Er las nicht in Buchhandlungen oder Theatern, sondern in Konzerthallen (vgl. Andrews 2006, S. 269–290). In Deutschland war die Situation ähnlich. So trat Gerhart Hauptmann 1909 in den 1000 Personen fassenden Kaisersälen der Stadt Halle auf. Er tourte durch 20 Städte, darunter Berlin, Hamburg, Hannover, Prag und Wien und verdiente damit 15.000 Mark (vgl. Weithase 1961, 1. Bd., S. 499; Spring 2012). Zudem trug er im Wiener Musikvereinssaal vor. Sowohl bei ihm als auch bei Karl Kraus, der 1910 dort las, war der 2000 Personen fassende Saal ausverkauft (vgl. Kraus 1912, S. 47; Musikverein). Neben Konzertsälen trat Kraus unter anderem in Festsälen von Vereinshäusern wie beispielsweise dem Ingenieur- und Architektenverein, Kunsthandlungen wie dem Kunstsalon von Paul und Bruno Cassirer in Berlin und der Prager Lesehalle auf.12 Der Auftritt in Konzertsälen beeinflusste den Aufführungscharakter und den Grad der Interaktion der Beteiligten. Die Veranstaltungsorte hatten lange Stuhl- oder Bankreihen, die auf einer Höhe hintereinander vor und seitlich der Bühne angeordnet waren (vgl. Andrews 2006, S. 139, 141, 143). Dies führte dazu, dass zwischen Vortragendem und Publikum viel Raum war und der Autor unter Umständen kaum gesehen und nur schlecht gehört werden konnte.13 Dickens behalf sich, indem er den
12 Eine vollständige Darstellung kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Stattdessen sollen die Beispiele veranschaulichen, dass Kulturstätten wie die genannten als Austragungsorte dienten und weniger Buchhandlungen oder Bibliotheken. Dies deckt sich mit den Ausführungen Wellers 1939 zu den Auftritten von Holteis (vgl. stichprobenartige Durchsicht der Onlineausgaben der von Karl Kraus herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel: http://corpus1.aac.ac.at/fackel/ [eingesehen am 13.06.2015]). 13 Konzertsäle wie der Große Musikvereinssaal in Wien oder der Große Festsaal des Palais Eschenbach / Ingenieur- und Architektenverein in Wien waren von Anfang an von ihren Erbauern so konzipiert worden, dass sie für unterschiedliche kulturelle Veranstaltungen genutzt werden konnten (vgl. Mörchen, Raoul: Konzerthäuser in Deutschland. In: Deutsches Musikinformationszentrum 2008. URL: http://www.miz.org/static_de/themenportale/einfuehrungstexte_pdf/03_Konzerte Musiktheater/moerchen.pdf [eingesehen am 13.06.2015], S. 1, Musikverein und http://www.palaiseschenbach.at/Festsaal.shtml [eingesehen am 13.06.2015]). Dies hatte den Vorteil, einen repräsentativen Saal für variable Veranstaltungen verwenden zu können. Der Nachteil war allerdings, dass die räumlichen Gegebenheiten nicht für alle Veranstaltungsformen gleichermaßen ideal waren. Vergleichbar mit den Entwicklungen des Theaterraums im 19. Jahrhundert scheinen diese Bauten einer
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Orchesterraum nach Möglichkeit durch einen Vorhang abhängen, eine zusätzliche erhabene Plattform vor dem Zuschauerraum sowie eine Leinwand anbringen ließ. Der erhöhte Standort des Autors außerhalb des Orchesterraums erfüllte zweierlei Aufgaben: Einerseits war er damit seinem Publikum näher, andererseits wahrte er zugleich Distanz. Um die Akustik noch weiter zu verbessern, stand Dickens hinter einem von ihm entwickelten Stehpult. An seiner Seite befand sich mindestens ein weiterer kleiner Tisch mit Wasserflasche und Glas. Über ihm waren Gaslampen angebracht, die für eine gute Ausleuchtung sorgten und deren Leuchtkraft unterschiedlich geregelt wurde (vgl. Andrews 2006, S. 126–146). Diese Form von Lichteffekten setzte den Autor in Szene: »The whole is artistically designed to concentrate the attention of the audience upon the reader; there is no vacant space behind him for the eye to wander away.« (Andrews 2006, S. 145) Um die Interaktionsmöglichkeiten zwischen sich und seinem Publikum zu erleichtern, trug er seine Texte, sobald er sie beherrschte, frei vor, fühlte sich in Rollen ein und unterstützte das Gesagte durch Gesten. Sein Stil war damit zwischen reiner Lesung und Schauspiel angesiedelt (vgl. Andrews 2006, S. 29 u. 188). Er passte die Vorlagen an den mündlichen Vortrag an und veränderte auch die Inhalte der Lesungen von Auftritt zu Auftritt (vgl. Andrews 2006, S. 79–96). Von seinem Publikum wünschte sich Dickens keine andächtige Haltung und stilles Zuhören, sondern empathische Teilhabe (vgl. Andrews 2006, S. 7). Seine öffentlichen Auftritte brachten ihn als Person seinen Lesern näher und führten zu »isolated moments of actual companionship« (Andrews 2006, S. 69). Dass durch die räumlichen Gegebenheiten dennoch eine Form von Interaktion möglich gewesen war, lag vermutlich in erster Linie an Dickens’ Bekanntheitsgrad und seinem Vortragsstil. Dennoch flossen bei Lesungen anderer Autoren Überlegungen zur Anordnung des Zuhörerraums zur Bühne mit ein. Um der Lesung einen intimen Charakter zu verleihen, wurden in einem Berliner Kunstsalon lockere Sitzgruppen gebildet (vgl. Tgahrt 1989, S. 264). Das Zusammenspiel von Autor und Publikum wurde jedoch nicht allein durch die Anordnung von Bühne und Zuhörerraum beeinflusst, sondern auch durch rahmengemäßes Verhalten der Beteiligten. Einige Autoren umschreiben das vom Publikum intendierte Agieren mit »Anteilnahme« (Weller 1939, S. 169) und »Kontakt« (Tgahrt 1995, S. 305). Wenn dieses nicht adäquat war, konnte die Veranstaltung misslingen. Ein Beispiel hierfür ist eine Lesung Richard Dehmels im Jahr 1900, bei der das Publikum unruhig geworden und in Gelächter ausgebrochen war. Dehmel brach daraufhin seinen Leseabend ab, was zu Verärgerung seitens der Zuhörer führte. Beide Seiten hatten sich nicht den entsprechenden Gesetz-
Demokratisierung nahezukommen. Waren barocke Theater noch gänzlich darauf ausgerichtet, dass der perfekte Kunstgenuss allein vom Sitz des Fürsten aus möglich war, strebten spätere Bauten nach einem Kunstgenuss für alle: »Denn dieser Saal, in dem jeder Punkt gleich wichtig und gleich günstig ist, grenzt niemanden aus, sondern schafft Verbindungen.« (Musikverein)
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mäßigkeiten ihrer Rolle gebeugt:14 »Die gebieten dem Vortragenden, daß er sein Publikum ernst nehme und nach Kräften sein Bestes gebe […]. Dafür aber verlangen auch dieselben Gesetze des Anstands von der Zuhörerschaft, daß sie ihren Mann ruhig ausreden lasse, bevor sie mit ihrer Meinungsäußerung einsetzt.« (Tgahrt 1989, S. 272) Neben Autorenlesungen etablierten sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Vortragsabende von Schauspielern. Auch von Holtei trat in Konzertsälen und vergleichbaren Stätten auf (vgl. Weller 1939, S. 154–166). Zudem bot er in literarischen Gesellschaften wie der Mittwochs- oder der Tollhausgesellschaft ein festes Repertoire an Inhalten dar. Zu seinem Bestand zählten Dramen, die er an einem Tisch sitzend aus dem Buch vorlas, später trug er auch eigene Gedichte vor (vgl. Weller 1939, S. 21, 109–111, 117 u. 158). So wie bei Dickens der Tisch darauf verwies, dass er der vortragende Autor war, so war das Buch in der Hand des Schauspielers das Zeichen dafür, dass dieser den Text eines anderen las (vgl. Andrews 2006, S. 188; Weithase 1961, 1. Bd., S. 534).
3.2 Re-Oralisierung 3.2.1 Rahmenbedingungen Während seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der öffentlichen Lesung eine Form der Visualisierung stattfindet, entwickelt sich zum Ende desselben Jahrhunderts mit der Erfindung der Tonträger eine »Auditivierung« (Grimm 2008, S. 148). Autoren traten nicht mehr nur öffentlich auf, sondern hielten ihren Vortrag auf einem Speichermedium für die Nachwelt fest. Dies war mit der Erfindung des Phonographen durch Thomas Alva Edison im Jahr 1877 möglich geworden. Dieser lässt sich in McLuhans elektr(on)isches Zeitalter einordnen. Eine weltumspannende Zusammenführung der Menschen zu einem ›globalen Dorf‹ sah Edison mit seinem Phonographen nicht vor. Stattdessen sollte er einerseits eine Art Gedächtnisstütze sein, die Briefe und Gespräche festhält und vergängliche Sprachen dokumentiert. Andererseits diente er als Klangschreiber, der Schall in Schrift umwandelt und somit wenige Minuten dauernde akustische Hörbilder ebenso aufzeichnet und wiedergibt wie Musikstücke und kurze Dramenausschnitte (vgl. Rühr 2010, S. 66 f.; Rühr 2012, S. 15). Die Hauptfunktion des Phonographen war die der Dokumentation. Somit ließen sich ursprünglich flüchtige akustische Ereignisse konservieren und waren zeitunabhängig sowie beliebig oft rezipierbar. Dies ermöglichte es dem Hörer, Klangerlebnissen
14 Obwohl der Schluss naheliegt, dass die Beteiligten unter Umständen ihr rollengemäßes Verhalten noch nicht kannten, ist davon auszugehen, dass sie es aus dem Bereich von Theateraufführungen transkribiert haben (vgl. Goffman 1977, S. 158): »das Publikum […] schaut, […] spendet Beifall, aber unterbricht nicht.« (Goffman 1977, S. 146)
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beizuwohnen, die zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort aufgenommen worden waren. Damit war der Gedanke des globalen Dorfs dennoch realisierbar. Eine Verschmelzung der Sinne war hiermit allerdings noch nicht erreicht. Der Phonograph schrieb den Schall mittels einer Nadel in Stanniolpapier ein. Dieselbe Nadel las die Einkerbungen wieder heraus und machte sie über einen Trichter hörbar. Das angesprochene Organ hierbei war wieder das Ohr. Der Phonograph und sein Trägermedium, die phonographische Walze, sind der sekundären Oralität zuzuordnen. Auch der Hörfunk als akustisches Medium zählt hierzu. Während die primäre Oralität sich durch Kollektivität auszeichnete, indem der Redner vor einer größeren Zuhörerschaft auftrat und Redner und Zuhörer durch den mündlichen Vortrag zu einer Gruppe verschmolzen, führte die sekundäre Oralität zu einer Form der kollektiven Einsamkeit. Zwar wurde mit Einführung der elektronischen Medien zu Beginn noch ein gemeinsames Hören und Sehen praktiziert, was aber eher mit noch nicht ausgereifter Technik oder mangelnder Verbreitung der Geräte zusammenhing. Allmählich saß man alleine vor dem Trichter oder Hörfunkgerät, gemeinsam mit einer zahlenmäßig nicht näher bestimmbaren Masse, die dasselbe wiederum vor ihren eigenen Geräten praktizierte. Die Körperlichkeit der primären Oralität, wobei der Redner mit Stimme, Mimik und Gestik das Vorgetragene ausgestaltete, verwandelte sich mit der sekundären Oralität in eine »Befreiung vom Körper« (Arnheim 2001, S. 86). Die Schallwellen des Stimmklangs wurden vom Trichter des Phonographen aufgenommen und in Vertiefungen übersetzt. Für den Hörfunk dienten anfänglich Schallplatte oder Tonband als Zwischenspeicher, um die Inhalte schließlich übertragen zu können. Zusätzliche visuelle Elemente konnte weder der Klangschreiber noch der Hörfunk festhalten. Beide Male, bei primärer wie sekundärer Oralität, ist das Gehör der leitende Sinn. Im Gegensatz zum Auge ist nach Meinung Ongs eine intimere Rezeptionssituation gegeben, da der Schall über das Ohr ins Körperinnere geleitet wird, um decodiert werden zu können. Das Auge hingegen führt zu einer beobachtenden Haltung, wobei der Rezipient zum visuellen Reiz stärker distanziert bleibt (vgl. Ong 1987, S. 75). Hier zeigt sich jedoch zugleich ein Unterschied zwischen primärer und sekundärer Oralität, da bei der sekundären Oralität ein Medium zwischen Vortragenden und Zuhörer geschaltet ist.
3.2.2 Dispositive der medial vermittelten Lesung Der Zuwachs an Möglichkeiten der Literaturvermittlung Ende des 19. Jahrhunderts führte wiederum zu einer Positionsveränderung der Autoren und damit verbunden zu weiteren Ausdrucksmöglichkeiten. Nach Weithase war Gerhart Hauptmann derjenige Autor, der eine Brückenfunktion übernahm: Während die Autoren vor ihm zwar öffentlich auftraten, um für sich und ihre Werke zu werben, handelte es sich dabei lediglich um Momentaufnahmen. Gerhart Hauptmann sprach jedoch eigene Werke für den Phonographen auf und machte diese so für die Nachwelt zugänglich (vgl.
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Weithase 1961, 1. Bd., S. 490). Der Auftritt stellte innerhalb seiner zeitlichen Dauer eine Verbindung zwischen Vortragendem und Zuhörer her, so dass diese für zwei bis drei Stunden (vgl. Andrews 2006, S. 81; Weller 1939, S. 134) in den ihnen innerhalb dieses Rahmens zugedachten Rollen handeln konnten. Mit Aufkommen der Tondokumente im Jahr 1877 ließ sich dieser Moment beliebig oft wiederholen, allerdings mit dem Nachteil der zu dieser Zeit noch begrenzten Wiedergabedauer der phonographischen Walzen von wenigen Minuten. Der ursprüngliche Kollektivitätsaspekt der primären Oralität ließ sich auch mit der medial gestützten Form der Literaturvermittlung erzielen (vgl. Grimm 2008, S. 14815). Mit dem Aufkommen des Hörfunks 1923 erweitert sich die Möglichkeit für Autoren nochmals. Sie sind in der Lage, raum- und zeitübergreifend ihre Inhalte zu vermitteln. Da das ›neue‹ Medium in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens noch nach einer spezifisch ›funkischen‹ Form suchen musste, ließen sich Autoren verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg auf die akustischen Ausdrucksmöglichkeiten ein. In diese Phase fallen die Etablierung des literarischen Hörspiels mit Autoren wie Wolfgang Borchert und Günter Eich sowie die Entwicklung des Features durch Axel Eggebrecht oder Ernst Schnabel (vgl. Rühr 2008, S. 234–238). Letzterer war als Intendant des NWDR und Mitglied der Gruppe 47 ein wichtiges Bindeglied zwischen unmittelbarer öffentlicher Lesung und mittelbarer Hörfunkübertragung (vgl. Böttiger 2012, S. 108 f.). Alfred Andersch war ab 1948 verantwortlich für das Mitternachtsstudio von Radio Frankfurt / Hessischem Rundfunk. Dort setzte er die ›funkische‹ Form in Gestalt von Diskussionen ein, die ein zahlenmäßig großes Publikum erreichten und unmittelbar wirkten (vgl. Davidis u. a. 1995, S. 173, 177). Das akustische Medium verlangt von seinen Akteuren eine Unterordnung an das Prinzip der Heteronomie, indem dessen Marktchancen anerkannt werden. Ernst Schnabel bemerkte 1955 hierzu: Die siebzehn Rundfunkprogramme, die in Westdeutschland und Berlin ausgestrahlt werden, stellen für literarische Beiträge […] wöchentlich einhundertfünfzig Stunden Sendezeit zur Verfügung. Ich habe sehr vorsichtig summiert, […] daß die quantitative Aufnahmefähigkeit dieser einhundertfünfzig Stunden dem Volumen von fünfzehn Büchern entspricht. […] Sehr sorgfältige Untersuchungen ergaben, daß jedes literarische Wort, das im Rundfunk gesprochen wird, mit der Aufmerksamkeit von hunderttausend Hörern rechnen kann. Was für ein Markt also! (Davidis u. a. 1995, S. 160 f.)
15 Grimm schreibt diese Möglichkeit erst den Sprechplatten der 1950er Jahre zu, vermutlich, weil mit Erfindung der LP Inhalte nahezu ungekürzt wiedergegeben werden konnten. Allerdings ist dies nicht nachvollziehbar, da das Deutsche Rundfunkarchiv bereits seit 1888 Tondokumente zur Kultur- und Zeitgeschichte im gleichnamigen Katalog nachweist und Anthologien Aufnahmen phonographischer Walzen seit 1901 wiedergeben (vgl. Roller 1998; Kleßmann 1977; Bertschi / Starz 2006; Meyer-Kahrweg 2004; Starz 2007; Müller 2007, Begleit-CD).
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Mit den Möglichkeiten des Markts sind aber zugleich Abhängigkeiten verbunden, da viele der Autoren zu dieser Zeit auf das Honorar, das sie für einen Hörfunkbeitrag erhielten, angewiesen waren (vgl. Davidis u. a. 1995, S. 159 f.). Obwohl der hohe ökonomische Wert des Hörfunks anerkannt worden war, sah es im Zusammenhang mit dem symbolischen Kapital anders aus: »Es ist absurd, eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit, aber aufgrund irgendeiner geheimen Abmachung gilt in unserem Literaturbetrieb der zum Hören geschriebene Text nicht.« (Davidis u. a. 1995, S. 163) Durch die fehlende Körperlichkeit bei phonographischer Walze und Hörfunk zeigt sich ein Unterschied zur unmittelbaren öffentlichen Lesung: »Ein feiner Reiz und Wert der Dichterstimmen auf Schallplatten [und über den Hörfunk] liegt darin, daß man hier nur die ›geistige Essenz‹ aufnimmt und daß alle sensationellen Effekte, die dem öffentlichen Zur-Schau-Stellen eines Dichters beim Vorlesen seiner eigenen Dichtungen anhaften können, wegfallen.« (Weithase 1961, 1. Bd., S. 507) Im Zuge der sekundären Oralität interagieren somit allein die Stimme des Vortragenden und das Ohr des Zuhörenden miteinander. Im Moment der Rezeption sind beide Parteien nicht im selben Raum, sondern voneinander getrennt. Dies kann das auditive Dispositiv maßgeblich beeinflussen. So liest der Vortragende zwar für ein Publikum, dieses ist aber im Moment der Aufnahme nicht anwesend. Gleichzeitig lauscht das Publikum einer Stimme, diese ist aber körperlos, da der Vortragende nicht sichtbar ist. Auch die medial gestützte Vortragssituation unterscheidet sich deutlich vom öffentlichen Auftritt. Die öffentliche Vortragssituation konnte dazu führen, dass Autoren ihre Prosatexte für die Autorenlesung umschrieben oder von Auftritt zu Auftritt veränderten. Im Zuge der medial gestützten Variante war das Umschreiben unter Umständen in jedem Falle notwendig, da die Speichermedien nur eine begrenzte Kapazität hatten und beim Hörfunk unterschiedlichste Inhalte in die Programmstruktur eingepasst werden mussten. Beim Phonographen konnten vor allem Gedichte oder Monologszenen aus Dramen vermittelt werden. Erst die Erfindung der LP 1948 ließ deutlich längere Aufnahmen und damit auch Romanausschnitte zu (vgl. Rühr 2012, S. 16–18; Kleßmann 1977). Solange das Aufzeichnungsverfahren noch ein analoges war, musste der Vortragende direkt in den Trichter hineinsprechen. Seine Sprechweise wurde durch gerätespezifische Merkmale und zeittypische Sprechstile beeinflusst. So musste er sich in großer Nähe zum Aufnahmetrichter befinden, was einen stehenden Vortrag mit Gestikulationsspielraum nicht zuließ. Da besonders in den Anfängen der Tondokumentation die Wiedergabe deutlich leiser war als das Aufgenommene, musste der Vorleser unnatürlich laut sprechen, damit er noch gut zu verstehen war. Der Phonograph war außerdem in der Lage, nur bestimmte Frequenzbereiche aufzunehmen. Bei Sprachaufnahmen war dies insofern relevant, als Knack- und Zischlaute lediglich unzureichend aufgezeichnet werden konnten (vgl. Hiebler 2005, S. 216). Der Phonograph war zudem empfindlich für Nebengeräusche, weshalb der Klang von umgeblättertem Papier oder Stuhlknarren zu vermeiden war, wenn dieser nicht hörbar sein sollte. Beim öffentlichen wie medial gestützten Vorlesen sind immer Ver
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sprecher möglich. Jedoch führt die Funktion des Phonographen als Dokumentationsmittel dazu, dass der flüchtige Klang dauerhaft konserviert wird (vgl. Kleßmann 1977, Booklet S. 2). Aufnahmen aus dem frühen 20. Jahrhundert folgen einem extensiven Sprechstil. Dies hängt damit zusammen, dass sowohl Schauspieler auf der Bühne als auch andere Personen in Aufnahmesituationen sich an Theodor Siebs’ Werk Deutsche Bühnenaussprache orientierten. Diese Ausführungen sahen eher eine korrekte Aussprache auch der einzelnen Laute als ein sinnstiftendes zusammenhängendes Lesen vor (vgl. Rühr 2008, S. 226). Der Rhythmus einzelner Verse oder aber der intendierte Inhalt konnten so verloren gehen (vgl. Müller 2007, S. 71): »Hofmannsthal deklamiert diese zarten Verse, als stünde er an der Rampe des Burgtheaters. Der Vortrag ist so pathetisch, daß die Sensibilität des Gedichts von seinem Urheber nahezu erdrückt wird.« (Kleßmann 1977, Booklet S. 2) Auch für den Hörfunk gab es noch keine medienspezifische Sprechweise, stattdessen griffen die anfänglich aus dem Theaterbereich stammenden Ansager auf die »erprobte Sprechform« (Gethmann 2006, S. 131) zurück, um mangelnde Erfahrung zu verdecken. 1931 gab Theodor Siebs schließlich sein Werk Rundfunkaussprache heraus. Das in den 1920er Jahren aufgekommene elektronische Aufnahmeverfahren über das Mikrophon setzte eine veränderte Sprechweise voraus. Das Mikrophon, das jeglichen Klang ähnlich wie ein Mikroskop noch deutlicher herausarbeitete, verlangte einen Vortrag, der frei von Pathos war (vgl. Gethmann 2005, S. 255 u. 261). Weithase spricht in diesem Zusammenhang vom intensiven Sprechstil (vgl. Weithase 1980, S. 35). Da eine Gegenüberstellung von extensivem und intensivem Sprechstil aber nicht unproblematisch ist (vgl. Weithase 1980, S. 33), ist besser von einer natürlichen Sprechweise die Rede. Diese wird vor allem Autoren wie Bertolt Brecht und Ingeborg Bachmann zugeschrieben (vgl. Rühr 2008, S. 228). Möglicherweise ist hier ein Zusammenhang darin zu sehen, dass die genannten Personen eigene Texte vorlasen und somit nicht stimmlich anzeigen mussten, dass sie Stellvertreter für eine andere Person sind. Der Vorleser sprach weder bei der phonographischen Walze noch beim Hörfunk vor Publikum, seine Vortragssituation war also eine deutlich andere als die des öffentlich Vortragenden. Er war ein einsamer Sprecher, was ihn auch lähmen konnte, da die Reaktionen des Publikums fehlten (vgl. Gethmann 2005, S. 252 f.; Kleßmann 1977, Booklet S. 2; Maye 2013, S. 347). Die medial vermittelte Lesung führt die beiden Parteien, Vortragender und Publikum, wieder näher an ihre ursprünglichen Rollen: Der Vortragende liest einsam hinter dem Mikrophon und das Publikum zerfällt in eine disperse Masse, innerhalb derer jeder für sich einsam hört. Während die Aufführungssituation im Konzertsaal rahmenentsprechende Verhaltensweisen seitens des Publikums verlangt, kann der Zuhörer im heimischen Umfeld anders agieren und muss sich nicht an den Rahmen ›öffentliche Lesung‹ anpassen. So entfallen Begrüßungs- und Abschiedsrituale ebenso wie Applaus und publikumsbedingte Zusatzgeräusche wie Räuspern oder Husten.
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Der Zuhörer befindet sich in seinem privaten Raum und verhält sich nach eigenem Empfinden. Beim Hörfunk ist der Zuhörer an Sendezeiten gebunden. Er kann den gewünschten Inhalt also nur dann rezipieren, wenn seine zur Verfügung stehende Zeit und die Programmstruktur des Senders es erlauben. Gleichzeitig hat er die Möglichkeit, besonders seit den technologischen Verbesserungen von Phonograph und Hörfunk, den Vortrag als Sekundärtätigkeit konsumieren. Dies, die Verschiebung zwischen Aufnahme und Rezeption sowie die räumliche Trennung zwischen Vorleser und Publikum ließen eine Interaktion nur bedingt zu. Inszenierungsmittel waren allein prosodischer Natur: Tempo, Lautstärke, Melodie und Artikulation. Las nicht der Autor selbst, sondern ein Schauspieler, hatte dieser wie der Schauspieler beim öffentlichen Vortrag das Buch als Repräsentant des Autors seine prosodischen Mittel in einer Form des vermittelnden Vortrags einzusetzen. Seine stimmlichen Mittel drückten aus, dass er den Text einer anderen Person liest und diesen mit seiner Stimme vom Autor zum Rezipienten transportiert. Diese Form erinnert an Goethes Ausführungen zur Rezitation. Gleichzeitig zeigt sich hierin die Vormachtstellung des Gedruckten, indem das schriftlich geschaffene Sprachkunstwerk über dem auditiven Sprechkunstwerk steht. Bereits seit den 1920er Jahren wird letzterem allerdings ein eigenständiger Ausdruckscharakter zuerkannt (vgl. MeyerKalkus 2012, S. 28 f.; Rühr 2012, S. 18). Genau dieser Ausdruckscharakter ist es, der das auditive Dispositiv ausmacht. Dadurch, dass die Aspekte Körperlichkeit und Wahrnehmung hierbei entfallen und die Performanz medial vermittelt stattfindet, muss das Element der Inszenierung über die Stimme umso stärker gewichtet werden, um eine spezifische Form der Interaktion überhaupt zu ermöglichen. Damit ließ sich aber zugleich eine Identifikation mit der Sprecher-Stimme erzielen: »Erst die technische Reproduzierbarkeit von Tönen und Geräuschen […] hat dazu geführt, dass Worte und Stimmen als ursprünglich und einzigartig wahrgenommen werden.« (Maye 2013, S. 48)
3.3 Erlebnisgesellschaft 3.3.1 Rahmenbedingungen Standen bislang im Zuge der Rahmenbedingungen ›freier Schriftsteller‹ und ›Re-Oralisierung‹ vor allem die Autoren als Akteure mit erweiterten Handlungsoptionen im Fokus, so geht es nun um die Zunahme des Handlungsspielraums des Publikums. Mit der von Gerhard Schulze ab den 1990er Jahren definierten Erlebnisgesellschaft gilt grundsätzlich für alle Individuen eine Zunahme der Möglichkeiten persönlichen Handelns. Die zentrale Frage ist diejenige nach der bestmöglichen Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen, wobei der Impetus des ›Erlebe dein Leben‹ gilt (vgl. Schulze 2005, S. 33). Damit rückt das Publikum in den Mittelpunkt. Nach Meinung Schulzes helfen Veranstaltungen mit Eventcharakter dabei, die »Kluft zwischen Situation und
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Subjekt […] zu überbrücken, indem sie Erlebnisarbeit stimulieren.« (Schulze 2007, S. 313) Diese leisten sie durch Einzigartigkeit, Episodenhaftigkeit, Gemeinschaftlichkeit und Beteiligung. Besonders durch den Aufführungscharakter von Lesungen sind diese immer wieder erlebbar. Jedes Erlebnis folgt einer bestimmten Dramaturgie und zeichnet sich durch Gemeinschaftlichkeit aus. Rahmentypische Rituale wie Begrüßung und Applaus, aber auch Unruhe und Pfiffe signalisieren die gemeinsame Teilhabe an einem Erlebnis. Um wiederum die gewünschte Innenorientierung zu erleichtern, ist Beteiligung seitens des Publikums unabdingbar. Zuhörer, die lediglich passiv eine Lesung über sich ergehen lassen, haben nicht die Möglichkeit, dass diese sie tatsächlich betrifft und ihr Innenleben berührt (vgl. Schulze 2007, S. 313 f.). Bereits durch diese Charakteristika bauen Events vor, damit das bestmögliche Gelingen der Innenorientierung stattfindet. Hiermit wird deutlich, dass der Dispositiv-Ansatz besonders gewinnbringend ist. Indem bei der Erlebnisgesellschaft im Mittelpunkt steht, was für Individuen von besonderer Bedeutung ist, sind auch die Ausprägungen von Erlebnissen, die inneres Erleben bei ihnen hervorrufen, von Belang.
3.3.2 Dispositive der Eventlesung Der Zuwachs an Handlungsoptionen seitens des Publikums resultiert in einem veränderten Habitus. Es verwandelte sich in aktive Akteure, die Ereignisse bewusst auswählen, um diese mit ihren Bedürfnissen zu verbinden und so zu Erlebnissen zu machen. Die Rahmenbedingungen um den freien Schriftsteller und die Re-Oralisierung stellten den Autor und seinen erweiterten Aktionsradius in den Fokus, wofür das Publikum jeweils nur eine notwendige Voraussetzung war. Nun allerdings rückt das Publikum in den Mittelpunkt und macht sich Erlebnisse zu Eigen, die durch Autoren und andere vorlesende Personen gestaltet werden. Es ließe sich hiermit von einem Paradigmenwechsel sprechen: Statt ›Was machen die Autoren mit dem Publikum?‹ ist nun die Rede von ›Was macht das Publikum mit den Autoren?‹16 Schulze verdeutlicht, woraus der Wandel von der Außen- zur Innenorientierung resultiert. Noch am Ende des 19. Jahrhunderts herrschte eine Außenorientierung der Individuen vor, die alle Schichten gleichermaßen betraf. In der Erlebnisgesellschaft wandelte sich die Außen- zur Innenorientierung. Nun gilt trotz aller Distinktion die Gemeinschaftlichkeit als verbindendes Element, so dass schichtspezifische Grenzen entfallen. Es liegt ein dynamisches Zusammenspiel aus Einfachheit und Komplexität sowie Ordnung und Spontaneität vor (vgl. Schulze 2005, S. 74 f.; Gebhardt 2000, S. 25).
16 Die Analogie zum Paradigmenwechsel von der Medienwirkungsforschung hin zur Mediennutzungsforschung und der Frage ›Was machen die Medien mit den Menschen?‹ im Vergleich zu ›Was machen die Menschen mit den Medien?‹ ist dabei gewollt. Beide Male liegt der Fokus auf aktiven Akteuren, deren Handeln in Kontexte eingebunden ist, wodurch dieses beeinflusst wird.
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Diese Aspekte sind auf Merkmale von Events übertragbar. Sie sind damit nicht allein Schwellen für Erlebnisse, sondern selbst Ausprägungen von Erlebnissen. Zu den bereits genannten Charakteristika von Events lassen sich weiterhin das planmäßige Generieren von Ereignissen zum Erreichen kommerziellen Erfolgs und das Vernetzen von Ausdrucksformen, um möglichst alle Sinne anzusprechen, zählen (vgl. Gebhardt 2000, S. 19 f.; Schulze 2007, S. 314). Damit sind sie Ereignisse, die einen geordneten Ablauf haben, der sich aber von Mal zu Mal steigern muss. Durch das Zusammenspiel verschiedenster Episoden sind Events einerseits komplex, andererseits erfüllen sie hiermit wiederum die Anforderung des Spontanen. Mit dem gesteigerten Kampf um Aufmerksamkeit wird seit den 1990er Jahren einerseits der kommerzielle Aspekt bedeutsamer (vgl. Gebhardt 2000, S. 29; Böhm 2003, S. 127), andererseits spielen die Erlebnisräume eine zunehmend wichtige Rolle. Um den Aspekt des Außeralltäglichen gewährleisten zu können, finden Lesungen nicht mehr ausschließlich an den hierfür typischen Orten statt, sondern werden auf Schauplätze verlagert, die auf den ersten Blick nichts mit Literatur zu tun haben. Monika Rinck spricht in diesem Zusammenhang von »Zwangsoriginalität« (Böhm 2003, S. 82). In dieselbe Phase der Erlebnisgesellschaft fällt die Etablierung der Poetry Slams. Diese sind nach Porombka der »Literatur-Event par excellence« (Porombka 2001, S. 38). Sie erfüllen nicht nur die Kriterien von Events, sondern sorgen auch dafür, dass die Erlebnisorientierung des Publikums durch aktive Beteiligung bestmöglich garantiert wird. Die Rollenverteilung der Akteure gestaltet sich so, dass die Autoren kurze, unveröffentlichte Texte über Prosodie, Mimik und Gestik darbieten und vom Publikum durch Fingerschnippen, Buh-Rufe oder Applaus bewertet werden. Damit lässt sich eine gewisse Nähe zu den Dichterkreisen Mitte des 19. Jahrhunderts erkennen. Beide Male herrscht Wettbewerbscharakter vor. Allerdings fanden die Dichterkreise unter gleichgesinnten Autoren statt und waren somit halböffentlich, die Poetry Slams hingegen sind öffentlich für jeden Interessierten zugänglich. Auch die Veranstaltungsorte unterscheiden sich, da Poetry Slams bevorzugt an Stätten abgehalten werden, die »ihre eigene (sub-, gegen-) kulturelle Szene« (Preckwitz 2002, S. 78) haben. Sie sind als Gegenpol zu Lesungen in Buchhandlungen, Bibliotheken und vergleichbaren Orten zu sehen. Gerade der Aspekt des Wiederholten ist charakteristisch für Poetry Slams. Diese finden regelmäßig am selben Ort zur selben Zeit statt, um ritualisiertes und zugleich spontanes Erleben zu ermöglichen. Die Spontaneität ergibt sich durch die immer neue Zusammenstellung der Vortragenden. Dadurch, dass die Inhalte der dargebotenen Texte alltagsnah sind, bieten sie dem Zuhörer ein besseres inneres Erleben (vgl. Preckwitz 2002, S. 77–98). Poetry Slams sind flüchtige Aufführungen. Durch ihre Begleitfaktoren wie Raum der Aufführung, Einsatz von Licht-, Ton- und sonstigen Effekten sowie Interaktion zwischen den beteiligten Akteuren sind sie einzigartig. Ihr Ereignischarakter geht verloren, wenn sie in gedruckter Form fixiert werden (vgl. Fischer-Lichte 2003, S. 15 f.). Gegenwärtige Events sind aber nicht darauf zu reduzieren, lediglich Showereignisse zu sein. Porombka differenziert Events vielmehr in sog. Showevents, die einzig
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der Selbstvermarktung der Autoren dienen, und literarische Events, die die Texte der Autoren als Erlebnismomente in den Vordergrund rücken (vgl. Böhm 2003, S. 136 f.). Bei den Showevents steht die Person des Autors im Vordergrund, bei den literarischen Events sind es die Texte. Damit benennt er einen Aspekt, den Schulze später ähnlich aufgreift: Erlebnisse bewegen sich zum Ursprünglichen und damit zu den unter 3.1.1 genannten Formen zurück (vgl. Schulze 2007, S. 319). Die Erlebnisgesellschaft liefert neue Möglichkeiten der Begegnung zwischen Autor und Publikum. Stand Ende des 19. Jahrhunderts der Autor als Personifizierung seines literarischen Texts im Zentrum, überdeckt die Persönlichkeit des Autors als Marke gegenwärtig unter Umständen sogar dessen kulturelles Gut. Somit hat sich die Position des Autors verändert, indem sein symbolisches Kapital stärker gewichtet wird als sein kulturelles.
4 Funktionen von Lesungen Die dargestellten Schwellen zeigen, welche Funktionen öffentliche Lesungen haben können. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen den Funktionen für die beteiligten Akteure einer Lesung, vortragende Person und Publikum, sowie den Funktionen der Formen unmittelbare und mittelbare Lesungen. Es zeigt sich, dass sich der Habitus der Parteien gewandelt hat. Innerhalb der Schwellen ›Freier Schriftsteller‹ und ›Re-Oralisierung‹ führte der geänderte Habitus von Autoren zu einer Ausdehnung ihrer Ausdrucksformen. Mit öffentlichen Auftritten, Aufnahmen auf phonographischen Walzen oder Auftritten im Hörfunk wollten die Autoren ihre zunehmend heterogene Leserschaft erreichen. Dadurch, dass sich nicht nur die Leserschaft vergrößerte, sondern auch die Zahl der Autoren anstieg, nahm seitens der Leser der Wunsch zu, ihren ›Autor hinter dem Werk‹ kennenzulernen. Die Tatsache, dass Autoren wie Charles Dickens ihre Texte dem öffentlichen Auftritt anpassten und frei vortrugen, verdeutlicht die ästhetische Komponente von Lesungen. Zu der sprachkünstlerischen Leistung des geschriebenen Texts trat die sprechkünstlerische des vorgetragenen. Dass zudem zunehmend Schauspieler auftraten, um die Texte von Autoren darzubieten, zeigt zweierlei: Schauspieler haben das Handwerk des ›So tun als ob‹ gelernt. Sie sind damit in der Lage, die Differenz zwischen dem Urheber des Texts und dessen Sprachrohr der Öffentlichkeit anzuzeigen. Außerdem können sie durch entsprechende Regelwerke prosodische Mittel anwenden. Das kritische Hinterfragen öffentlicher Auftritte bekannter Autoren deckt eine weitere Leistung von Lesungen auf: Lesende sind, unerheblich, ob sie sprechkünstlerische Regeln beherrschen oder nicht, dazu fähig, die Intention eines Texts stimmlich zu transportieren. Der veränderte Habitus resultierte auch aus dem Bedarf nach ökonomischem Kapital. Autoren und andere Vortragende setzten ihr kulturelles Kapital im Tausch dagegen ein. Dies ist über die drei Schwellen hinweg unverändert geblieben. Ein
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großer Wandel ist jedoch dem symbolischen Kapital widerfahren: So war die öffentliche Zurschaustellung des freien Schriftstellers negativ konnotiert. Eine positive Zuschreibung fand in erster Linie der einsam für sich schreibende Autor. Mit dem elektr(on)ischen Zeitalter McLuhans wird der Gedanke des globalen Dorfs mit einer Omnipräsenz variabler Medien und einer Pluralität der Sinne populär. Ein einzelnes Leitmedium wie das gedruckte Buch kann es mit diesen Annahmen nicht mehr geben. Der geänderte Habitus führt bei dieser Schwelle zugleich zu einem Wandel des symbolischen Kapitals. Die Erlebnisgesellschaft mit ihrer Subjektorientierung und damit verbundenen bestmöglichen Gewährung des Schönen degradiert unter Umständen die Literatur und deren Aufführung zur bloßen »Posse« (Porombka 2001, S. 27). Lesungen, die als bloße Showevents abgehalten werden, büßen an symbolischem Kapital ein. Mit der Schwelle ›Erlebnisgesellschaft‹ setzt ein Paradigmenwechsel ein, der danach fragt, was das Publikum mit den Autoren macht. Der Zuwachs an Ausdrucksformen und die gesellschaftliche Ausdifferenzierung machen es notwendig, dass sich das Publikum bewusst und damit aktiv mit der Angebotsvielfalt auseinandersetzt. Das Streben nach dem schönen Erleben verstärkt diese Tendenz. Öffentliche Lesungen erfüllen dieses Kriterium allerdings nur dann, wenn sie durch die Merkmale Einzigartigkeit, Episodenhaftigkeit, Gemeinschaftlichkeit und Beteiligung den Schlüssel zur ›Decodierung‹ der Vielfalt an Veranstaltungen mitliefern. Über die Schwellen hinweg hat eine Verschiebung stattgefunden: Stand zunächst der durch den Autor repräsentierte Text im Vordergrund, kommt es gegenwärtig zunehmend zu einer Bewertung des Autors als Marke. Hierbei steht die Person über dem Geschriebenen und dient als Schwelle hierzu. In der Unterscheidung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Formen der Lesung liegen weitere Möglichkeiten, Funktionen öffentlicher Lesungen aufzudecken. Die unmittelbare Lesung hat Aufführungscharakter und lässt Interaktion zwischen den Beteiligten zu. Obwohl sie durch die Inszenierung und Anordnung von Bühnen- und Zuschauerraum die Interaktion auch behindern kann, zeigen die Auftritte Dickens’, dass die Grenzen zwischen den Beteiligten für den Moment der Aufführung verwischt werden sollen: »when Dickens tried to reconstitute domestic hearth in his emphasis on the audience’s feeling itself to be a friendly community around a fireside.« (Andrews 2006, S. 41) Ähnlich verhält es sich bei eventartig dargebotenen Lesungen: Trotz der Heterogenität des Publikums eint die Anwesenden die Suche nach (möglichst) identischen Gratifikationen, die die Veranstaltung liefert. Mittelbare Varianten der Lesung wie Aufnahmen auf phonographischen Walzen oder Hörfunkauftritte führen die beteiligten Akteure wieder in ihre ursprünglichen Rollen zurück: Der Vortragende liest für ein unsichtbares Publikum, für das er vorher in seiner Funktion als Autor geschrieben hat. Die Zuhörer sehen ihren Autor nicht. Dadurch, dass sie sich aber allein auf ihren Hörsinn konzentrieren, dringt das Gehörte tiefer in ihr Inneres ein. Diese Fokussierung führt, da ablenkende Reize fehlen, zu einem intensiveren Erleben. Mit der Mediencharakterisierung Speichermedium phonographische
4.2.3 Inszenierungen des Lesens
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Walze und Übertragungsmedium Hörfunk lassen sich außerdem die Möglichkeiten der Dokumentation sowie der Zeit- und Raumüberschreitung feststellen. Nicht alle Formen, die gegenwärtig als neu und modern angesehen werden, sind dies auch. Stattdessen sind die Varianten der Lesungen historisch gewachsen und haben sich teilweise vermengt. So ist die Diskussion, die aktuell häufig bei unmittelbaren Lesungen zu finden ist, im Hörfunk als ›funkische‹ Form entstanden. Lesungen an literaturuntypischen Orten gab es bereits innerhalb der Schwelle ›Freier Schriftsteller‹. Was gegenwärtig jedoch neu ist, ist das Bewusstsein für die situativen Kontexte von Lesungen. Dispositivansatz, Performanzforschung, Rahmenanalyse und Feldtheorie liefern erste Grundlagen zu einer Systematisierung der Lesung. Eine eingehende Darstellung dessen, welche Funktionen die Lesung übernahm und übernimmt und wie sich die Funktionen auch wandeln können, steht noch aus. Hierfür wären methodische Quellenanalysen notwendig, die in der Lage sind, unabhängig von Schwellen die Funk tionalität von Lesungen abzubilden. Damit wäre außerdem zu hinterfragen, wie sich die Publika gestalten und wie sie je nach geänderten Rahmenbedingungen Lesungen auswählen.
5 Literatur 5.1. Quellen Bertschi, Stefan / Starz, Ingo: Anna Blume trifft Zuckmayer. 60 legendäre Dichter in Originalaufnahmen 1901–2004. Lesungen, Reden, Gespräche. 2 CDs. München 2006. Kleßmann, Eckart: Stimmen der Dichter. Eine tönende Anthologie: Deutsche Autoren lesen aus ihren Werken (1907–1977). 10 Schallplatten. Hamburg 1977. Meyer-Kahrweg, Dorothee: Deutschsprachige Literatur. 1900–1918. Mit Hermann Hesse, Thomas Mann, Arthur Schnitzler, Franz Werfel u. v. a. 2 CDs. München 2004. Roller, Walter: Tondokumente zur Kultur- und Zeitgeschichte 1888–1932. Potsdam 1998 (Veröffent lichungen des Deutschen Rundfunkarchivs. 15). Starz, Ingo: Theaterstimmen. 60 legendäre Schauspieler im Originalton von 1901 bis 2006. 2 CDs. München 2006.
5.2 Literatur Andrews, Malcolm: Charles Dickens. His performing selves. Oxford 2006. Arnheim, Rudolf: Rundfunk als Hörkunst. Frankfurt a. M. 2001 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 1554). Böhm, Thomas (Hrsg.): Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung: O-Töne, Geschichten, Ideen. Köln 2003.
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Böhm, Thomas: Lesung. In: Erhard Schütz (Hrsg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Reinbek 2005, S. 203–206. Böhm, Thomas: Die Geschichte der Lesung. Thomas Böhm im Gespräch auf der litradio-Scheselong. In: Litradio (28.05.2011). URL: http://litradio.net/die-geschichte-der-lesung/ [eingesehen am 13.06.2015]. Böttiger, Helmut: Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb. München 2012. Bourdieu, Pierre: Das literarische Feld. In: Franz Schultheis / Stephan Egger (Hrsg.): Kunst und Kultur. Kunst und künstlerisches Feld. Schriften zur Kultursoziologie 4. Konstanz 2011 (Schriften. 12.2), S. 309–468. Bührmann, Andrea D. / Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld 2008 (Sozialtheorie. Intro). Caborn, Joannah: On the methodology of dispositive analysis. In: Critical approaches to discourse analysis across disciplines 1 (2007), S. 112–123. URL: http://cadaad.net/files/journal/ CADAAD1-1-Caborn-2007-On_The_Methodology_Of_Dispositive_Analysis.pdf [eingesehen am 13.06.2015]. Davidis, Michael / Fischer, Bernhard / Nickel, Gunther / Raitz, Brigitte: Konstellationen. Literatur um 1955. Marbach am Neckar 1995 (Marbacher Kataloge. 48), S. 159–179. Fetzer, Günther: Autorenlesung. In: Ursula Rautenberg (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Buches. Von der Handschrift zum E-Book. 3., vollst. überarb. u. akt. Ausg. Stuttgart 2015, S. 33. Fischer-Lichte, Erika: Performativität und Ereignis. In: Erika Fischer-Lichte u. a. (Hrsg.): Performativität und Ereignis. Tübingen / Basel 2003 (Theatalität. 4), S. 11–37. Friedrich, Sabine / Kramer, Kirsten: Theatralität als mediales Dispositiv. Zur Emergenz von Modellen theatraler Performanz als medienhistorischer Perspektive. In: Henri Schoenmakers u. a. (Hrsg.): Theater und Medien. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme. Bielefeld 2008 (Kultur- und Medientheorie), S. 67–84. Gebhardt, Winfried: Feste, Feiern und Events. Zur Soziologie des Außergewöhnlichen. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen. Opladen 2000, S. 17–31. Gethmann, Daniel: Technologie der Vereinzelung. Das Sprechen am Mikrophon im frühen Rundfunk. In: Harro Segeberg / Frank Schätzlein (Hrsg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Marburg 2005 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft. 12), S. 249–265. Gethmann, Daniel: Die Übertragung der Stimme. Vor- und Frühgeschichte des Sprechens im Radio. Berlin 2006. Goffman, Erving: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Frankfurt a. M. 1982 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 396). Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1989 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 329). Grampp, Sven: Marshall McLuhan. Eine Einführung. Konstanz 2011 (UTB. 3570). Grimm, Gunter E.: »Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung.« Deutsche Autorenlesungen zwischen Marketing und Selbstpräsentation. In: Gunter E. Grimm / Christian Schärf (Hrsg.): Schriftsteller-Inszenierungen. Bielefeld 2008, S. 141–167. Grimm, Gunter E.: Dichter-Lesereisen. Außensichten und Innensichten. In: Stefan Neuhaus / Oliver Ruf (Hrsg.): Perspektiven der Literaturvermittlung. Innsbruck 2011 (Angewandte Literaturwissenschaft. 13), S. 369–379. Hiebler, Heinz: Der Sound zwischen technischen Möglichkeiten und kulturellen Ansprüchen. Eine Medienkulturgeschichte der Tonträger. In: Harro Segeberg / Frank Schätzlein (Hrsg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Marburg 2005 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft. 12), S. 206–228.
4.2.3 Inszenierungen des Lesens
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Jäger, Siegfried: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse. In: Reiner Keller u. a. (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden. 2., akt. u. erw. Aufl. Wiesbaden 2006, S. 83–114. Maye, Harun: Neuzeit und Moderne. In: Natalie Binczek u. a. (Hrsg.): Handbuch Medien der Literatur. Berlin / Boston 2013, S. 341–351. McLuhan, Marshall: Die Gutenberg Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Bonn u. a. 1995. Meyer-Kalkus, Reinhart: Die Kunst der Vergegenwärtigung. Schillers Ballade »Die Kraniche des Ibykus« auf Sprechschallplatte und Audiobook. In: Text und Kritik: Literatur und Hörbuch 196 (2012), S. 26–37. Müller, Lothar: Die zweite Stimme. Vortragskunst von Goethe bis Kafka. Mit Begleit-CD. Berlin 2007. Musikverein (Hrsg.): Der Musikverein. Großer Musikvereinssaal. URL: http://www.musikverein.at/ dermusikverein/musikvereinssaal.php [eingesehen am 13.06.2015]. Neuschäfer, Hans-Jörg: Das Autonomiestreben und die Bedingungen des Literaturmarktes. Zur Stellung des ›freien Schriftstellers‹ im 19. Jahrhundert. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42 (1981), S. 73–92. Ong, Walter J.: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987. Parr, Rolf: Autoren. In: Georg Jäger (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1: Das Kaiserreich 1871–1918, Teil 3. Frankfurt a. M. 2010, S. 342–408. Perrig, Severin: Stimmen, Slams und Schachtel-Bücher. Eine Geschichte des Vorlesens. Von den Rhapsoden bis zum Hörbuch. Bielefeld 2009. Porombka, Stefan: Slam, Pop und Posse. Literatur in der Eventkultur. In: Matthias Harder (Hrsg.): Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht. Würzburg 2001, S. 27–42. Preckwitz, Boris: Slam Poetry – Nachhut der Moderne. Eine literarische Bewegung als Anti-Avantgarde. Norderstedt 2002. Rühr, Sandra: Tondokumente von der Walze zum Hörbuch. Geschichte – Medienspezifik – Rezeption. Göttingen 2008. Rühr, Sandra: Geschichte und Materialität des Hörbuchs. In: Jürg Häusermann / Korinna Janz-Peschke / Sandra Rühr: Das Hörbuch. Medium – Geschichte – Formen. Konstanz 2010, S. 59–135. Rühr, Sandra: Eine (kleine) Mediengeschichte des Hörbuchs unter technologischen und paratextuellen Aspekten. In: Text und Kritik: Literatur und Hörbuch 196 (2012), S. 14–25. Rühr, Sandra: »Man muß lesen, nicht hören, was geschrieben steht.« Dispositive der Lesungen von Karl Kraus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens (AGB) 69 (2014), S. 135–151. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. 2. Aufl. Frankfurt a. M. / New York 2005 (Campus Bibliothek). Schulze, Gerhard: Die Zukunft der Erlebnisgesellschaft. In: Oliver Nickel (Hrsg.): Eventmarketing. Grundlagen und Erfolgsbeispiele. 2., vollst. überarb. Aufl. München 2007, S. 309–320. Spring, Bernhard: Hauptmann spaltet Halle. In: Mitteldeutsche Zeitung online (03.08.2012). URL: http://www.mz-web.de/halle-saalekreis/dichter-hauptmann-spaltethalle,20640778,20636294.html [22.03.2013]). Stöcker, Nicole: Zwischen Wasserglas und multimedialer Show. In: buchreport.magazin 5 (2010), S. 58–66. Tgahrt, Reinhard (Hrsg.): Dichter lesen. Band 2: Jahrhundertwende. Marbach am Neckar 1989 (Marbacher Schriften. 31/32). Tgahrt, Reinhard (Hrsg.): Dichter lesen. Band 3: Vom Expressionismus in die Weimarer Republik. Marbach am Neckar 1995 (Marbacher Schriften. 38/39).
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Weller, Maximilian: Die fünf großen Dramenvorleser. Zur Stilkunde und Kulturgeschichte des deutschen Dichtungsvortrags von 1800–1880. Würzburg-Aumühle 1939 (Das Nationaltheater. 3). Weithase, Irmgard: Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache. 2 Bde (1. Bd.: Textteil; 2. Bd.: Literatur). Tübingen 1961. Weithase, Irmgard: Sprachwerke – Sprechhandlungen. Über den sprecherischen Nachvollzug von Dichtungen. Köln / Wien 1980, S. 27–63. Wilpert, Gero von: Lesung. In: Ders.: Sachwörterbuch der Literatur. 8., verb. Aufl. Stuttgart 2001, S. 462.
Personenregister Adam, Christian 786 Alao, Solomon 556 Alexander der Große 268, 709 Alexander, Patricia 222 Altman, Gerry 30 Amplonius Ratink de Berka 735 Andersch, Alfred 871 Andrews, Malcom 857 Apollonios von Rhodos 268 Aristoteles 261, 709 Arndt, Johann 746 Asinius Pollio 712 Assel, Jutta 106 Assurbanipal, Assyrerkönig 705 Bachmann, Ingeborg 873 Baddeley, Alan D. 160, 164 Bade, Klaus 472 Bader, Markus 151 Bailey, Karl 30 Balzac, Honoré de 769 Barndt, Kerstin 785 Bartlett, Frederic 32 Baskerville, John 236 Bauer, Andreas 347 Baumgärtner, Julius Alexander 770 Baum, Vicki 781, 783, 785 Beatrix, Frau Friedrichs I., Barbarossa 722 Becher, Johannes R. 803 Becker, Rudolf Zacharias 752 Beck, Ulrich 836 Berger, Hans 10 Berthold, Dominikaner 729 Bertuch, Friedrich Justin 753 Bickenbach, Matthias 754 Biermann, Wolf 805 Bismarck, Otto von 781 Bloch, Felix 14 Boccaccio, Giovanni 727 Boethius, Anicius Manlius Severinus 724 Bohn, Cornelia 819 Boie, Kirsten 591 Boner, Ulrich 309 Bonfadelli, Heinz 71, 78, 470, 473 Borchert, Wolfgang 871
Bormann, Martin 353 Bossange, Martin 770 Bourdieu, Pierre 70, 91, 857, 861 Braille, Louis 324 Brecht, Bertolt 873 Broca, Paul 9 Brockhaus, Friedrich A. 502 Brodmann, Korbinian 9 Brown, Ann 403 Bruner, Jerome 393 Bucher, Hans-Jürgen 355 Büchmann, Georg 775 Bus, Adriana G. 392 Buscher, Georg 57 Busch, Wilhelm 781 Buxmann, Peter 641 Caesar, Gaius Iulius 714 Campe, Joachim Heinrich 753 Canstein, Hildebrand von 287 Caplan, David 158 f. Carolus, Johann 338 Carpenter, Patricia A. 156–159 Carson, David 237 Cassirer, Bruno 867 Cassirer, Paul 867 Cattell, James McKeen 24 Catullus, Gaius Valerius 269 Celano, Donna 77 Cervantes, Miguel de 775 Chaplin, Charlie 780 Charlton, Michael 73, 390 Chartier, Roger 92 f., 97–99, 740, 760, 772 Chomsky, Noam 144, 152 Christiansen, Morton H. 159 f. Christmann, Ursula 143, 394 Colonna, Francesco 312 Cooper, James Fenimore 769 Cornelius Nepos 269 Cotta, Johann Friedrich 501, 757, 769 Courths-Mahler, Hedwig 785 Cramer, Carl Gottfried 769 Cranach, Lucas 287 Csikszentmihalyi, Mihaly 72 Cuetos, Fernando 149
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Personenregister
Daneman, Meredyth 156 f. Dann, Hans-Otto 88 Dante Alighieri 727 Darnton, Robert 740, 755, 760 Defoe, Daniel 753 Dehaene, Stanislas 122 Dehmel, Richard 868 Dengel, Andreas 51, 58 Dickens, Charles 769, 857 f., 866–869, 877 f. Dick, Frederic 146 Diderot, Denis 498 Dietrich, Marlene 783 Dijk, Teun van 39, 217 f., 221, 225 Döblin, Alfred 785 Dodge, Raymond 21 Donkin, Bryan 347 Donohue, George 821 Dostojewski, Fjodor M. 775 Duntze, Oliver 310 Ebner-Eschenbach, Marie von 785 Eckhart von Hochheim (Meister Eckhart) 729 Eco, Umberto 99 Edison, Thomas Alva 869 Egenolff, Christian 312 Eggebrecht, Axel 871 Eich, Günter 871 Elisabeth I., britische Köngin 800 Elman, Jeffrey L. 146 Elst, Ludger van 58 Emmer, Martin 826 Ende, Michael 804 Engelsing, Rolf 88 f., 740, 742, 754, 759 f. Erdman, Benno 21 Erickson, Thomas D. 151 Erikson, Erik Homburger 836 Escarpit, Robert 91, 93 Ettema, James S. 823 Euripides 709 Eysenck, Hans Jürgen 689 Fallada, Hans 785 Fauser, Markus 741 Febvre, Lucien 94 Ferraro, Vittoria 30 Ferreira, Fernanda 30, 151 f. Feyerabend, Sigmund 309, 312 Flachmann, Holger 742 Flavell, John 214
Fleck, Konrad 729 Fleckhaus, Willy 354 Flender, Jürgen 394 Fodor, Janet D. 149 Fontane, Theodor 781, 785 Forssman, Friedrich 253 Forster, Kenneth 24 Fourdrinier, Henry 347 Fournier d’Albe, Edmund Edward 48 Francke, August Hermann 287 François, Luise von 785 Frank, Barbara 295–297 Franzmann, Bodo 531 Frazier, Lyn 148 f. Freytag, Gustav 781, 785 Friedrich I., Barbarossa 722 Friedrich II., römisch-deutscher Kaiser 722 Friedrich III., römisch-deutscher Kaiser 722 Friedrich, Sabine 858 Fritz, Angela 78, 534 f. Froben, Johann 318 Frühwald, Wolfgang 775 Fuchs, Thomas 742 Fügen, Hans Norbert 91 Gall, Franz Joseph 8 Galsworthy, John 782 Garbo, Greta 783 Garcia, Mario R. 357 Gattermaier, Klaus 559 f. Gellert, Christian Fürchtegott 769 Gerber, George 824 Gessner, Konrad 316 Gethmann, Daniel 862 Gibson, Edward 153–155 Giddens, Anthony 836 Gierl, Martin 747 Gilmont, Jean-François 745 Glauch, Sonja 721 Gleixner, Ulrike 748 Goethe, Johann Wolfgang von 501, 755, 769, 771, 874 Goffman, Erving 835 f., 857, 859 Goldberg, Adele E. 162 Gordon, Peter C. 160 Gottfried von Straßburg 728, 732 Grafton, Anthony 104 Graham, Steve 215, 226 f. Green, Jonathan 104, 721
Personenregister
Grimm, Gunter 91, 856 Grimm, Heinrich 744 Grimm, Jacob 104 Grimm, Wilhelm 104 Gülfferich, Hermann 312 Gurevich, Olga 162 Gutenberg, Johannes 284, 307, 314, 326, 496 Guthrie, John 403, 556 Habermas, Jürgen 741, 801 Hall, Stuart 73, 474, 835, 837 Hammer, Michael 68, 558 Han, Kilian 312 Han, Weigand 312 Happels, Eberhard Werner 345 Harmgarth, Friederike 559 Hartmann von Aue 728, 731 f. Harvey, Gabriel 104 Hättenschwiler, Walter 71 Hauptmann, Gerhart 781, 783, 867, 870 Hawkins, John 155 f. Hayes, John 219 Hebbel, Friedrich 781 Hebert, Michael 215, 227 Heine, Heinrich 502 Heinrich II., römisch-deutscher Kaiser 722 Heinrich IV., römisch-deutscher Kaiser 722 Heinzer, Felix 730 Hendrick, Randall 160 Hepp, Andreas 835 Herder, Johann Gottfried 771 Hermeros 714 Herz, Henriette 757 Hesiod 266, 708 Hillgärtner, Jan 342 Hoche, Johann Georg 758 Hochuli, Jost 253, 292, 295 Höffner, Eckhard 504 Hofmann, Walter 90, 767, 784 Holtei, Karl von 857, 867, 869 Holtz-Bacha, Christina 825 Homer 266, 708 Honecker, Erich 805 Honemann, Volker 326 Höpcke, Klaus 803 Horaz 711, 725 Huey, Edmund 22 Humboldt, Alexander von 757 Humboldt, Wilhelm von 757
Hurrelmann, Bettina 68, 558, 753, 776 Irving, Washington 769 Iser, Wolfgang 102 Jacques, Norbert 783 Jäger, Georg 106 Janisch, Hans Peter 357 Jannings, Emil 783 Jauß, Hans Robert 91 Javal, Emile 21 Johns, Adrian 97 Johnson, Marcus 160 Johnson, Matthew A. 162 Johnson, William 265 Just, Marcel A. 156–159 Kafka, Franz 785, 857 Kallimachos von Kyrene 268, 710 Kallistratos 316 Kammler, Clemens 563 Karl der Große 302, 722, 729 Kaschuba, Wolfgang 775 Kästner, Erich 785 Kauka, Rolf 800 Keaton, Buster 780 Keller, Frank 155 Keller, Friedrich Gottlob 347 Keller, Gottfried 781 Keller, Paul 783 Kentner, Gerrit 163 Keun, Irmgard 785 Keupp, Heiner 835 Kimball, John 144, 148 King, Jonathan 157–159 Kintsch, Walter 39, 217 f., 221, 225 Klauda, Susan 410 Kleist, Heinrich von 501 Kline, F. Gerald 823 Klopstock, Friedrich Gottlieb 769 Knapp, Werner 563 Köcher, Renate 68, 531 Kochhan, Christoph 539 Kock, Paul de 769 Koenig, Friedrich 347 Kolb, Annette 785 Konieczny, Lars 155 Konrad von Würzburg 728, 732 Korte, Hermann 108
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Personenregister
Koschorke, Albrecht 758 Kotzebue, Karl August von 769 Kramer, Kirsten 858 Krappmann, Lothar 835 f. Kraus, Karl 858, 867 Krotz, Friedrich 835 Krums, Janis 686 Kubey, Robert 72 Kügelgen, Wilhelm von 781 Kuhn, Axel 533 Küpper, Norbert 357 Kutsch, Arnulf 767 Kwak, Nojin 823 Lafontaine, August 769 Lamare, M. 21 Langenbucher, Wolfgang 531, 766 f. Langer, Judith 226 Langewiesche, Dieter 778 Lang, Fritz 783 Lanston, Tolbert 348 LaRoche, Sophie 753 Lauber, Diebold 311, 734 Ledig-Rowohlt, Heinrich Maria 797 Lenin, Wladimir Iljitsch 785 Lessing, Gotthold Ephraim 501 Levy, Roger 155 Lewis, Richard 160 Liutbert, Mainzer Erzbischof 727 Livingstone, David N. 98 Livius Andronicus 711 Lombardi, Linda 161 London, Jack 782 Löns, Hermann 781 Lotter, Melchior 287 Lucan 725 Ludwig der Fromme, Sohn Karls des Großen 722 Ludwig II., Landgraf von Thüringen 722 Ludwig VII., französischer König 722 Ludwig, Emil 782 Lufft, Hans 312 Luther, Martin 287, 742 Lykophron 268 Maar, Paul 591 MacDonald, Maryellen C. 159 f. Mann, Heinrich 783, 785 Mann, Thomas 781 f., 785 Manutius, Aldus 312, 316
Martin, Henri-Jean 94 Marx, Karl 785 Mattson, Mark E. 151 Maximilian I., Sohn Friedrichs III. 722 McClelland, James L. 25, 121 McCombs, Maxwell 820 McKenzie, Don F. 95 f. McLuhan, Marshall 817, 848, 862 f., 869, 878 Mead, George Herbert 835 f. Mechthild von Magdeburg 729 Meisenbach, Georg 350 Melanchthon, Philipp 742 Menander 261 Mergenthaler, Ottmar 348 Messerli, Alfred 107 Meyer, Conrad Ferdinand 781 Milde, Wolfgang 104 Miller, George A. 152 Miller, Johann Martin 755 Mitchell, Don C. 149 Molière, Jean-Baptiste 775 Molo, Walter von 783 Mörike, Eduard 781 Morison, Stanley 237 Moritz, Karl Philipp 757 Morrison, Stanley 352 Müller, Lothar 857 Murnau, Freidrich Wilhelm 783 Musil, Robert 785 Muth, Ludwig 531 Navon, David 159 Neddermeyer, Uwe 109 Neumann, Alfred 782 Neumann-Braun, Michael 73 Neuman, Susan 77 Nies, Fritz 106 Nieß, Ferdinand 68, 558 Nietzsche, Friedrich 781 Noelle-Neumann, Elisabeth 531 Olien, Clarice 821 Oltmer, Jochen 472 Ong, Walter J. 862 f., 870 Ormrod, John 758 Otfrid von Weißenburg 727, 730, 735 Otto der Große 722 Otto II., römisch-deutscher Kaiser 722 Ovid 272
Personenregister
Palincsar, Annemarie 403 Palmer, Nigel 303 Parkes, Malcom B. 302, 305–307, 320 Peters, Anton 770 Petrarca, Francesco 727 Petronius 714 Petrus Lombardus 725 Pfister, Albrecht 309 Philipp, Maik 77 f. Philipp von Schwaben 722 Philostrat der Ältere 316 Philostrat der Jüngere 316 Photios 275 Pierce, Charles S. 99 Plath, Monika 555 Plinius der Ältere 262 Plutarch 709 Polenz, Wilhelm von 785 Porombka, Stefan 863, 876 Postman, Neil 817 Potter, Mary C. 161 Powitz, Gerhard 306 Preckwitz, Boris 863 Preusker, Karl Benjamin 771 Prüsener, Marlies 88 Purcell, Edward M. 14 Raabe, Mechthild 90 Raabe, Wilhelm 781 Radway, Janice 71 Raible, Wolfgang 295 Ramelli, Agostino 293 Rayner, Keith 149 Reffeler, Paul 312 Reicher, Gerald 24 Remarque, Erich Maria 783 Reuter, Fritz 781 Richter, Karin 555 Ringoltingen, Thüring von 312 Robert, Nicolas-Louis 347 Robinson, Michael J. 824 Roland, Douglas 146 Rosebrock, Cornelia 403 Rosegger, Peter 785 Rowling, Joanne K. 805 f. Rück, Peter 326 Rühr, Sandra 533, 862 Rumelhart, David 25 Rummer, Ralf 161
887
Rusch, Johannes 287 Sachs, Hans 332 Sachsse, Rolf 353 Saenger, Paul 99 f., 301 Salomon, Erich 350 Sappho von Lesbos 272 Saxer, Ulrich 71, 531, 818 Schaffner, Ellen 410 Schäuble, Wolfgang 817 Schedel, Hartmann 735 Scheffel, Viktor 781 Schenda, Rudolf 88, 106, 747, 759, 767, 771 Schengbier, Kristiane 539 Schenzinger, Karl Aloys 787 Schiefele, Ulrich 410 Schiller, Friedrich 501, 753, 769, 771 Schmidtchen, Gerhard 531 Schmidt, Meike 410 Schnabel, Ernst 871 Schneider, Jost 89 f., 766 Schneider, Silvia 392 Schöffer, Peter 307 Schön, Erich 68, 740, 754 f., 759, 787 Schubart, Christian Friedrich Daniel 865 Schücking, Levin 91 Schulze, Gerhard 838, 863, 874, 877 Schumacher, Peter 355 Schunk, Dale 211 Schweppe, Judith 161 Scott, Walter 769 Secord, James E. 98 Seidenberg, Mark S. 121 Seuse, Heinrich 729 Shakespeare, William 775 Shaw, Donald 820 Siebs, Theodor 873 Siegert, Reinhard 779 Simmler, Franz 302 Snow, Catherine E. 389 Sokrates 708 Sperling, Otto 798 Spieß, Christina Heinrich 769 Spoerl, Heinrich 787 Steedman, Mark 30 Stein, Peter 503 Stieler, Kaspar 339 Stifter, Adalbert 781 Sting, Stephan 211
888
Personenregister
Stolterfoht, Britta 163 f. Stork, Hans-Walter 323 Storm, Theodor 781 Stövenhaven, Klaus 778 Strauss, Anselm 835 Strauß, Wolfgang 533 Studt, Birgit 322 Sue, Eugen 769 Sutter, Tillmann 406 Tauler, Johannes 729 Tgahrt, Reinhard 854, 856 f. Theognis von Megara 267 Thomasin von Zerklaere 728 f. Thukydides 267, 708 Tichenor, Phillip 821 Timotheos von Milet 261 Tolkien, John R. R. 804 Trotzki, Leo 785 Ullstein, Louis-Ferdinand 352 Undset, Sigrid 782 Unger, Gerard 295 Van Orden, Guy C. 164 Varnhagen von Ense, Rahel 757 Vasishth, Shravan 151, 160 Vatri, Allesandro 265 Veldeke, Heinrich von 728 Vergil (Publius Vergilius Maro) 268, 725 Viebig, Clara 785
Voeste, Anja 100, 314 Voss, Andreas 395 Vowe, Gerhard 826 Vulpius, Christian August 755 Waples, Douglas 767 Warren, Tessa 154 Waters, Gloria 158 f. Weber, Johann Jakob 350, 770 Wehde, Susanne 99, 297 Weiße, Christian Felix 753 Weiß, Hans-Jürgen 71 Weithase, Irmgard 856 f., 865, 870 Welke, Martin 746 Weller, Maximilian 857 Wells, Justine B. 159 Wernicke, Carl 9 Wieland, Christoph Martin 501, 769 Wieler, Petra 68, 389 Wigfield, Allan 403, 410 Wilhelmy-Dollinger, Petra 757 Willand, Marcus 102 Willberg, Hans Peter 253 Winter, Carsten 835 Wolff, Erwin 102 Wolgast, Heinrich 772 Zedelmaier, Helmut 97, 109 Zillmann, Dolf 72 Zimmerman, Barry 211 Zweig, Stefan 782
Sachregister Absatz 228, 243, 248 f., 251, 263, 298, 302, 312, 314–316, 343 f., 417 f. Affective-Disposition-Theory 72 Agenda-Setting 74 f., 333, 695, 816, 819–821, 828 Agenda-Setting-Theorie 75, 816, 820 Ägypten 260–262, 270, 275, 705 f., 714 Aktivierungsmodell, interaktives 25 Aktivität, kognitiv-konstruktive 32, 171 Akustik 162, 291, 325, 861 f., 868, 870 f. Alexandria 268, 709 f. Alltagsmedium 795 Alphabetisierung 93, 103, 495 f., 504, 581, 592 f., 704, 745 f., 750, 760, 767 f., 774, 776, 779, 787 f., 815–817, 848 Alphabetisierungsforschung 103 Alphabetisierungsrate 86, 88, 750, 760, 787 Alphabetschrift 294, 707 Alphawellen 11 Ambiguität, syntaktische 145, 149, 151, 153, 171 Analphabet, funktionaler 568 f., 593 Analphabetismus, funktioneller 808 Analyse, semantische 28–30, 218 Analyse, syntaktische 28 f., 141, 145, 149, 152, 155, 158, 218 Analytical bibliography 95, 110 Annotation 104, 431–434, 437, 639 Anschlusskommunikation 74 f., 77, 387, 390 f., 393, 396, 402, 405 f., 410, 412, 421, 427 f., 430–434, 437– 443, 532, 755, 772–775, 778 Antike 100, 106, 259–262, 266, 269–273, 292, 301, 305, 665, 703–705, 707, 714, 716, 719 f., 724, 726 f., 729 Applikation 59, 369, 431 f. Arat 268 Arbeiterbewegung 777 f. Arbeitsgedächtnis 141, 160, 220 Arousal-Konzept 72 Artefakte 11, 65, 85, 106, 225, 230 ASCII 48, 55 Assets 625, 627, 643 Aufklärung 88, 350, 502, 516, 740, 749–753, 756–758, 765, 774, 776, 866 Auflagendruck 284, 628
Aufmerksamkeitsmanagement 656 Aufmerksamkeitswirkung 237, 252 Ausgabemedium 244 f. Ausleihe 532, 551, 613–617 Ausstattungsniveau 284, 286, 288, 307 Auszeichnungsschrift 250–252, 298, 309, 348, 353 Automatisierung 213, 229, 418, 421, 625, 640 B Bedeutungskonstruktion 93, 103, 169, 186–189, 191, 193, 199, 216, 297, 363–365, 373 f. Bedürfnis 70 f., 74, 365, 372 f., 375 f., 394, 439, 479, 577, 692, 721, 731, 743, 796, 808, 835, 849 Bedürfnisbefriedigung 71, 363, 372, 644, 649, 874 Bedürfniskonzept 71 Bedürfnistypologie 70 Behaviorismus 4–6, 22, 209 Bertelsmann Lesering 799 Beschreibstoff 269, 275, 281–283, 624, 706, 723 Bestandsaufbau 601, 606, 608 Bestsellerliste 589, 616 Beutelbuch 293 Bewusstheit, phonologische 26 Bibliophilie 776 Bibliothek 65, 68, 90, 94, 105, 186, 268, 293, 318, 323, 428, 495, 504, 535, 573 f., 577, 579–581, 583, 585–588, 590 f., 593, 599–601, 603 f., 607–611, 613–618, 624, 627 f., 653, 663, 670, 672, 681, 703–706, 709–713, 715, 734, 749, 767, 777–780, 784, 786, 794, 796, 799, 803, 808, 818, 842, 876 ––Arbeiterbibliothek 771, 778 ––Internationale Jugendbibliothek München 604 ––kirchliche öffentliche Bibliothek 600 ––Leihbibliothek 90, 496, 504, 751, 769, 771, 796 ––öffentliche Bibliothek 599 f., 603, 607–609, 611, 613, 615–619 ––Privatbibliothek 748 f., 788 ––Schulbibliothek 618
890
Sachregister
––Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz 607 ––Universitätsbibliothek 599 f., 603 f., 606–610, 614, 616 f., 619, 751 ––Volksbibliothek 349, 778 Bibliotheksgesetze 603 Bibliothekslandschaft 797 Bibliotheksnetz 803 Bibliotheksnutzung 98, 784 Bibliotheksrallye 618 Bild 14, 17, 39, 48, 53 f., 59 f., 106, 127, 144, 244, 270 f., 285 f., 291, 299 f., 309, 318 f., 321 f., 324 f., 327–330, 332 f., 349, 353 f., 357, 366, 372, 385, 387, 390, 427, 494, 497, 504, 511, 513 f., 517, 526, 543, 583, 614, 680, 694, 730, 733 f., 741, 755, 771, 826 f. bildliche Darstellung von Sprache 266 Bildschirm 15, 35, 142, 197, 245, 295, 311, 364 f., 367, 370, 394, 542 f., 624, 800 Bildschirmtechnologie 363, 366, 371 Bildschirmwiedergabe 244 Bildtradition 730 Bildungsabschluss 405, 802, 807 f. Bildungsbürgertum 755, 765, 773, 777, 780 Bildungschance 569–571 Bildungsniveau 496, 802 Bildungspolitik 494, 575, 816 Bildungssystem 40, 571, 808 Bildungsvermittlung 721 Bildzeugnis 106, 732 Blattzählung 316, 730 Bleitäfelchen 272 f. Blickbewegungsforschung 35 Blickbewegungsmessung 34, 57, 142, 177 Blickbewegungsmuster 34 Blickführung 242, 246 Blindenschrift (Braille) 324 Blockbuch 279, 321, 323 f., 327 BOLD-Signal 15, 17 Book Industry Communication (BIC) 629 Books-on-Demand 68 Börsenverein des Deutschen Buchhandels 395, 503 f., 525, 531, 534–536, 542, 586, 588 f., 591 f., 627, 635, 644, 648, 781 Boulevardpresse 352, 354 Branding 78 Broca-Areal 9 Brodmann-Atlas 9
Buchbesitz 88, 92, 94, 105, 386, 536, 745–748, 773, 775, 779, 788 Buchblock 281 f., 284 f., 287–291, 321 Buchdruck 108 f., 281, 284, 287, 289, 304, 307, 311 f., 314, 316, 321, 326, 338, 341 f., 345, 441, 494 f., 627, 645, 708, 723, 741, 862 Bücherregal, virtuelles 437 Bucherschließungsmittel 299, 315 Buchform 281 f., 286, 289, 292, 516, 623, 711 Buchgemeinschaft 783 f., 797, 799 Buchhändler 288, 329, 441, 503 f., 524, 534, 629, 657, 709, 713, 751, 769 f., 783 Buchillustration 304, 308 f., 312, 734 Buchkauf 599, 613 f., 618, 713, 751, 788 Buchkultur 708, 710, 713 f., 775 f., 815 Buchleseforschung 64, 536 Buchlesepräferenz 453, 456 Buchmarkt 87 f., 91, 108, 319, 395, 493 f., 496, 525, 533–536, 538, 623, 629, 631, 635, 644 f., 710, 713, 743, 746 f., 749 f., 755, 757, 765 f., 768, 771, 782, 784 Buchmarktforschung 92, 531–534, 536, 538, 543, 767, 802 Buchpreis 504, 803 Buchpreisbindung 503, 510, 524–526, 671 Buchproduktion 78, 88 f., 93 f., 98, 109, 281, 283, 285 f., 307, 315, 384, 495 f., 504, 655, 723, 746, 749, 760 Buchrolle / Rolle 259–270, 273–275, 279, 294, 302–304, 322 f., 705 f., 708, 714 f. Buchstabenbild 238 Buchstaben- und Worterkennung 22 Buchstabenverarbeitung 24 Buchstabenzwischenraum 242, 245 Buchtitel 106, 289, 503, 627, 635, 643, 797 Buchtyp 110, 286, 292, 295, 298, 300, 302 f., 307, 314, 319, 321, 723, 786 Buchwirtschaft 626, 628, 639, 641, 648 Bundesministerium für Bildung und Forschung 393, 573, 575, 579, 592 f., 807 f. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 522, 582, 589 Bundesprüfstelle 520–522 Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (BITKOM) 648 Bundesverband Leseförderung e.V. 573, 590
Sachregister
Bürgertum 88, 750–756, 767, 769, 772 f., 775, 780, 788, 816, 837, 847, 849 C Card-Modell 370 Chancengleichheit 648 Christen 273, 275, 715 Christentum 274, 282 Cloud-Computing 369 Codex 259 f., 271, 273–275, 279, 281–283, 287, 289 f., 292, 298, 301–305, 307, 311, 315 f., 319–323, 328, 332, 714 f., 734 Codexform 273–275, 279, 281, 287, 291 f., 294, 320–324, 715 codiert 300, 361 f., 364, 624, 680 collaborative reading / co-reading 430 Collaborative Strategic Reading 417 f. Comic 354, 408, 521, 589, 606, 687, 794, 800, 804 Computerlesen 47–49, 52, 59 Construction-Integration Model 217, 221, 225, 229 Content-Management-System 626, 680, 684, 686 Cultural Studies 73, 473 f., 495, 835 D Darstellung, fiktionale 519 Defizit-Perspektive 75 Deutsche Content Allianz 648 Deutsche Forschungsgemeinschaft 604 Deutscher Bibliotheksverband 587 f. Dialogizität 191 Diaspora 469 f., 473–476, 479–482, 485, 488 f. Diffusion 68, 496, 498, 623, 643, 645 Diffusionskurve 645 Digitaldruck 285, 627 Digitalisierung 233, 361, 384, 393, 395 f., 805 Digital Narratives 363 Digital Storytelling 363, 682, 692, 696 Dimensionen des Event-Indexing-Modells 179 Diptychon 271 Discovery-and-Delivery-Systeme 609 Dispositiv 98, 309, 856–859, 861–863, 865 f., 870, 872, 874 f., 879 Dispositive, typographische 282, 319 Distribution 78, 623 f., 626–629, 635, 647, 653, 680, 683, 692 f. Domänenwissen 49, 223 Doppelseite 252, 264, 294, 312, 354 Download 369, 441, 613, 615 f., 626, 630, 646
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Druckprivilegien 496–498, 501 Druckschrift 240, 314, 747 Dual-Route-Cascaded-Modell 26 Dynabook 643 Dyslexie 26 f., 117–119, 132–134 E E-Book 68, 291, 362, 366, 395, 441 f., 523, 525, 531 f., 535 f., 542 f., 588, 607 f., 610, 616, 626, 639–641, 643–645, 808 E-Book, interactive (enhanced) 366, 369, 375 Effektivität 180, 368, 372, 550 Effizienz 39, 100, 132, 155, 368, 372, 843 Einband 281, 287–291, 293, 321 f., 748 Einblattdruck 279, 324, 326, 329, 734, 742, 771 Einblattgraphik 279, 327 f. Ein-Minuten-Leseflüssigkeitstest 38 Einschätzungen, epistemologische 179 Einzelhandel 626 f., 629 f., 645 ekz.bibliotheksservice GmbH 608 Elaborationen 31 f., 176 Elaborationsstrategie 215 f. electronic publication 367 Elektroenzephalographie (EEG) 3, 10, 117, 122, 124 ELFE, Lesetest 39 ELVES, Lesetest für Erwachsene 39 Emotion 6, 9, 72, 174, 176, 178, 188, 291, 354, 438, 457–459, 462, 691 Empathie 458–460, 549, 578 Endgerät 369, 395 f., 626, 644 Endnote 245, 250, 299, 311 Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« 603 Entscheidungsaufgaben, lexikalische 35 f. E-Reader 361, 376 ereignis-korreliertes Potential (event-related Potential, ERP) 11, 13, 131, 134 Erfahrung, literarästhetische 200 Erkenntnis, diskursive 196, 201 Erlebnisgesellschaft 667, 838, 853, 863, 874–878 Erschließung 104, 174, 609 f., 670, 724, 750, 847 Erwerbungsprofil 607 Erzähltexte 37, 178 Erzähltradition 729 Eskapismus 70 f., 434, 692 EURead 574 f., 590 Europäische Kommission 575
892
Sachregister
European Literacy Policy Network (ELINET) 575, 590 Event 75, 178, 589, 591, 653 f., 656, 662, 666–668, 672, 863, 875–877 Event-Indexing-Modell 178 Eventlesung 857, 875 Eventorientierung 656 Experience-Samplings-Ansatz 72 Extensible Markup Language 367 F Fachtext 434 Familie 65, 67, 71 f., 76 f., 132, 217, 253, 286, 341, 383–388, 392, 394–396, 405 f., 409, 428, 447, 533–535, 550 f., 555, 558 f., 561, 563, 574–580, 582, 747 f., 753, 770, 776, 779, 800, 833, 846 f. Femininität 451 f., 463 Fernsehen 67, 71 f., 74 f., 202, 354, 470, 477–479, 481 f., 485, 532, 534, 539, 542 f., 655 f., 787, 793, 795, 797, 799–803, 805, 807 f., 815–817, 819, 821 f., 824–826, 834, 836, 839, 845, 850, 862 Feuilleton 346, 349, 427, 608 Film / Kinofilm 354, 470, 505, 624, 635, 668, 766, 772, 780, 782 f., 808 First Copy 626, 639 Fixation 34 f., 57 f. Flächenaufteilung 299, 330 Flächenhierarchie 301 f., 315 Flattersatz 246–248, 250 Fließtext 38, 250 Flugblatt 279, 326, 328–330, 332, 741 f. Flugschrift 343, 740–742, 747 Foliierung 299, 316, 318 Förderperspektive 226 Formalobjekt 64 f., 532 Form, mediale 364 f. Forschungsgeschichte 384, 494, 547, 703 Forum / Foren 361, 431, 503, 662, 687 f., 798, 820, 826, 849 Fragen zum Text 36, 180, 215, 417, 552 Frame-Building 75 Frame-Konzept 76 Framing-Perspektive 75 Frauen 71, 101, 268, 312, 349, 353, 447 f., 452, 455–457, 460–463, 496, 539, 541 f., 569, 730–732, 744, 747, 750–752, 756 f., 759, 767, 784 f., 793, 797 f., 800, 802, 804 Frauenliteratur 804
Freizeit 408, 534, 537, 551, 554, 558–560, 585, 613, 768, 781, 796 f., 799, 802 Freizeittätigkeit 799 Fremdsozialisation 76 Frequenzband 11 Frequenzeigenschaften 146, 150 Frömmigkeitsliteratur 328 f., 727, 735 Funktion des literarischen Lesens 447 Funktion, sortimentsbildende 628 Funktionsschicht 640 Fußnote 250, 294, 299, 311 G Garden-Path-Satz 148 f., 152 Gatekeeper 627, 657, 690, 693 f. Gebrauchstauglichkeit (Usability) 363, 368 Gedächtnisbeschränkungen 156 Gedächtnistest 156 f. Geistiges Eigentum 493–496, 499, 501, 504 f. Gemeinsame Wissenschaftskonferenz 604 Gender 445–447, 451, 463 f., 475, 569 Generative Grammatik 144 geographies of reading 98 Gerichtsberichterstattung 511, 515 Gesang 724, 728, 778, 805 Geschichtsschreibung 338, 711, 802 Geschlecht 66, 74, 87, 176, 405–407, 410 f., 413, 445–449, 451 f., 456 f., 459–464, 556 f., 559, 561, 688, 781, 802 ––biologisches 446 f., 451 f., 461–463 ––soziales 446, 463 Gesellschaft, literarische 653 f., 659–661, 665, 672, 869 Globalisierung 77, 469, 795, 805 Glosse 274, 299, 305 f., 658, 725 Good-enough-Prinzip 30 Graffiti 707 Graphem-Phonem-Verbindungsregeln 119 Griechenland 260, 707, 711 Großhirn 8, 123 Grundbildung 581, 592 f. H Habitus 66, 70, 446, 775 f., 861, 865–867, 875, 877 f. Handschrift 55, 103–105, 109, 202, 263, 270, 279, 281, 287, 289, 294, 296, 301–303, 306 f., 311 f., 314–316, 324, 600, 723–725, 730 Haptik 287, 291, 375
Sachregister
Heterogenität der Endgeräte 640 Heuristik 30, 144, 152, 213 Hidden Markov Modell 54, 56 Hieroglyphen 706 High Level Group of Experts on Literacy 575 f., 580 Holzwegeffekt 29 f. Hörfunk 655, 801, 836, 853, 861 f., 870–874, 877, 879 Humanist 104 Hybridität 485 Hyperlink 370 Hypertext 68, 185–187, 193, 197, 202, 394 f., 686 Hypertext-Theorie 363 I Identität 70, 267, 356, 384, 429, 437, 439, 443, 458, 470, 474–478, 483, 485, 679, 690–692, 746, 748, 833–850 Identität, kulturelle 469, 475–478 IGLU-Skala 227 Illustration 17, 151, 286, 288, 300, 304, 307, 309, 321, 332, 349–351 Illustrierte 353, 797–800 immediacy-Annahme 35 Immersion 375 f., 434 Implikationen (des Lesens) 174, 193, 447, 815 f., 819 f., 823, 825 f., 828 Indizierung 509 f., 520–523 Inferenzen 31–33, 37, 39, 169, 171–177, 180, 218 Inferenzen beim Lesen literarischer Texte 176 Inferenzen, elaborative 32, 174–176 Inferenztheorie, konstruktivistische 174 f. Inferenztheorie, minimalistische 174 Inferenztypen 173 f. Informationsfunktion 198, 629, 658 Informationsgrafik 353, 356 Informationsgut 639 Informationskompetenz 603 Informationstechnologie (IT) 627 Infrastrukturprovider 627 Initiale 250, 286, 298, 302–305, 307, 309, 347 Inkonsistenzen 178 f., 519 Inkonsistenzparadigma 178 Inkunabel 312 Innovation 100, 106, 281, 301, 304, 311, 314 f., 319, 384, 505, 643–646, 768 Inschrift 271, 706 f., 712
893
Inserat 343, 346 f., 798 Institut für Leser- und Schrifttumskunde 767, 785 Inszenierungsgesellschaft 667 Integration 33, 39, 59, 130, 169, 198, 216 f., 222, 273, 385 f., 394, 396, 430, 469 f., 485–489, 496, 554, 562, 582, 684 f., 691, 696, 769, 773, 776, 819, 823, 833, 835 Integrationswissenschaft 64 Intelligenzblatt 346 Intelligenz, kollektive 693 Interaktion, familiäre 385 Interaktion, parasoziale 71 f., 74 Interaktionismus, symbolischer 474, 833, 835 f., 844 Interaktivität 29, 77, 369, 371, 385, 394 Interlinearglosse 299, 303 Intermediären 441, 627 Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) 227, 561, 569 International Literacy Association 590 Internet 50, 59, 71, 77 f., 187, 202, 357, 363, 369, 402, 440, 442 f., 470, 479, 481 f., 485, 488, 494, 521 f., 525, 533, 539, 574, 585, 611, 613 f., 630, 635, 647 f., 657, 680 f., 683 f., 686–688, 693–695, 697, 805, 819 f., 825–828, 850 Internet, offenes 648 Internet Service Provider 630 Interpunktion; s. auch Zeichensetzung 298, 302 Involvement 195, 375 f., 434, 439, 448, 452, 692 J Jahreschronik 338 Jugendgefährdung 520–523 Jugendliche 73, 131 f., 190, 411–413, 552, 563, 569, 573, 577, 585–591, 593, 613, 771, 798, 804, 807 f. Jugendzentrum 585, 589 jumbled-words-Effekt 25 K Kapazität des Arbeitsgedächtnisses 156 f., 160 Kapitel 286, 294, 299, 302–304, 309, 316 Kaufberatung 629 Kinder 68, 73, 77, 117, 130–134, 227, 332, 386, 389, 391, 395, 411, 457, 520, 541, 548–552, 556, 559, 561, 569, 571, 573–575, 577, 579–591, 603 f., 609, 613, 615, 618, 671, 750–753, 767, 771 f., 776, 778 f., 806 f.
894
Sachregister
Kindertagesstätte 574, 576, 581–584, 586–588, 591, 593 Kindle 644 Kino 537, 767, 780, 782, 795, 800 Klammerglosse 310 Klassikerjahr 501, 771 Kognitionspsychologie 22, 209, 297, 548 Kognitive Neurowissenschaften 3 f., 7, 10, 13–15, 18 Kognitive Psychologie 3–7, 10, 118, 141, 160 Kognitive Revolution 144 Kognitive Wende 22 Kohärenz 32 f., 175–177, 185 f., 197, 221, 225, 458, 840, 843 ––globale 31, 173, 175 ––Herstellung von 172 ––lokale 31, 173, 225 Kohärenzstandard 175 Kohorten-Perspektive 76 Kolumnentitel 101, 286, 294, 299, 303, 305, 318, 857 Kommunikationskanal 366, 371–374, 376, 683–685 Kommunikationskontrolle 493–495, 497, 505, 692 Kommunikationsverhalten 534 f., 808 Kompetenz 144, 185, 189, 193, 208, 210–212, 222 f., 225, 229, 297, 372, 385, 387–389, 391, 395, 446, 451, 479 f., 483, 539, 548 f., 570 f., 582, 584, 680, 693 f., 696, 720–722, 802, 817, 838 f., 842, 846 Kompetenzerwerb 208, 213 Komplexität, syntaktische 129, 141, 143 Konnektiva 31, 172 Konnektivistisches Triangelmodell 119, 121 Konnotationssemiotik 235 Konsistenzeffekt 27 Konstantschreibung 100 Konstruktions-Integrations-Modell 32 f., 177 Konstruktivismus 32 Konstruktivität, kognitive 169 Konstruktivitätstheorie 170 Kontextualisierung 51, 190, 193 f., 243, 341 Kontinuität 68, 259, 264 f., 318, 443, 533, 657, 807 Kontroll- und Verwaltungstechnik 705 konvertieren 630
Konzentration 22, 201, 226, 249, 342, 377, 384, 386, 394, 434, 501, 629, 632, 634, 637, 695, 799, 817, 826 Konzeptlesen 198 f. Kopertband 289 Koreferenz 172 Korpora 141, 145, 147 Korrespondenzprinzip 339 Kortex 7, 9, 124, 126, 129–131, 133 f. Kreativwirtschaft 670 f. Krönersche Reform 503 f. Kultivierungsanalyse 824 Kulturangebot 795 Kulturförderung 669, 671 f. Kulturgeschichte 493, 704, 787, 794 f. Kulturgut 267, 275, 523–525, 781 Kulturpreis 664, 666 Kulturtechnik 86 f., 118, 384 f., 394, 406, 532, 704, 723, 740, 758, 767, 815–817, 819, 826, 828 Kunstfreiheit 519, 521 Künstliche Intelligenz 47–49, 58 L Ladenhüter 646 Laienkritik 657 Langzeitarchivierung 630 Langzeitgedächtnis 161, 209, 215, 220 Lateinschule 720–722, 724, 726, 750 Laufweite 242, 245, 251, 342 f., 345 Layout 53, 101, 234, 252, 255, 263, 282, 286 f., 295, 299, 305, 307, 310 f., 326, 329, 332, 341, 343, 347, 354 f., 357 Lebensstil 66, 70, 713, 775, 819, 840, 843, 847, 863 lectio 305, 712, 725 Legasthenie 117 f., 132 Leistung, kommunikative 634 f. Leitmedium 76, 202, 741, 782, 801, 862, 878 Lektüreangebot 731, 750 Lektürebegeisterung 799 Lektürepraxis 311, 725, 735, 740 f., 755, 760 leo. ‒ Level-One-Studie 568, 592 f. Lesbarkeit 233–237, 243, 248, 252, 285, 292, 367 f., 373 Lesbarkeitsforschung 237 Leseaffinität 411, 413 Leseakt 67, 93, 97 f., 281, 291 f., 368 f., 703, 776 Leseanimation 406 Leseanreiz 243, 413, 585
Sachregister
Lese-App 639 Leseaufgabe 23, 40, 226 Lesebilder 106 f., 292 Lesebiographie 68, 107, 443, 794, 835, 842–844 Lesebühne 668 Lesediagnostik 38 Lesedidaktik 402, 406 f., 414 f., 422, 548 Lesedynamik 795 Lesefähigkeit 37, 39, 87, 89, 106, 156, 158 f., 207, 209, 224 f., 229 f., 307, 327, 348, 384, 387, 394, 406, 418, 448, 496, 503 f., 550, 568, 571, 577, 703 f., 730, 740–743, 750, 752, 759, 808, 834 Lesefertigkeit 26, 117, 533, 822 Lesefläche 294 f., 330 Leseflüssigkeit 209, 212 f., 228, 401, 403, 410, 414, 416, 418 f., 421 Leseförderung 37, 40, 77, 189 f., 195 f., 363, 405, 421, 534, 549, 551, 553–555, 559 f., 567, 569–585, 587–592, 600, 617 f., 807 Leseförder(ungs)maßnahme 226, 456, 554, 563 Leseforschung / Leserforschung 3, 21–23, 26, 35, 63–67, 69, 74–76, 78, 85 f., 92 f., 96 f., 106, 110, 143, 146, 180, 196, 222, 226, 297, 362, 377, 394, 402 f., 408, 410, 413, 429, 443, 447, 453, 457, 459, 470, 531–536, 538, 542, 547, 681, 683, 696, 703, 760, 802 f., 833, 835, 843, 845, 847–850 Leseforschung, kognitionspsychologische 21, 23, 32, 34, 40, 99 Lesefrequenz 87, 412, 754, 779, 788 Lesefreude 386, 411, 549 f., 556, 559, 576–578, 592 Lesefunktion 97, 194, 203, 462, 469, 739, 750 f., 765, 842, 848 Lesegemeinschaft 427, 429, 434, 437–442 Lesegenauigkeit 38 Lesegerät 252, 395, 431 f., 435, 536, 542, 615, 646 Lesegeschichte 94, 99, 106, 110, 279, 292, 300, 320, 794 Lesegeschwindigkeit 38, 146, 325, 373, 826 Lesegesellschaft 88, 496, 534, 740 f., 751, 756–758, 774 Lesehalle 349, 778, 867 Lesehäufigkeit 386, 421, 788, 808, 850 Lesehunger 796
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Leseidentität 434, 437–440, 833 f., 839 f., 842 f., 846, 848 Leseintensität 805, 807 Leseinteresse 87, 103, 105, 108 f., 549, 558, 586, 735, 782 f., 786 Lesekabinett 756 Lesekenntnis 803 Lesekompetenz 21, 38, 67, 77, 92, 175, 185, 187, 189 f., 192, 196, 202 f., 212, 222–224, 374, 383–385, 387, 393, 418, 420 f., 427, 434, 446, 532, 547–550, 555 f., 560–563, 568–571, 573–579, 590–593, 720–723, 730, 807, 823, 842 Lesekrise 570 Lesekultur 68, 90, 92, 259, 440, 534, 543, 574, 576, 703–705, 709, 711, 786, 799, 802, 816 f., 826 Leseland 803 Leseleistung 38, 413, 556, 561 f. Leseleistungsindikator 411 Lesemedium 85 f., 92 f., 96–100, 103, 105–107, 110, 233, 255, 259 f., 264, 270–272, 279, 281, 285, 287, 291 f., 295, 297, 300, 302, 307, 319–321, 323–325, 332, 361–372, 374–377, 386 f., 389, 391 f., 394, 408, 411, 414, 421 f., 428, 453, 462, 494, 577, 580, 584, 615 f., 696, 703, 819, 833, 839, 841–843, 845–850 Lesemedium, digitales 293 f., 361–363, 365 f., 368–377, 396, 599, 618 Lesemöbel 106 f., 292 f., 754 Lesemodalitäten 67, 541 Lesemodell 223 Lesemodelle, kognitionspsychologische 23 Lesemodus 85 f., 92, 96 f., 106, 185, 190, 196–199, 201, 301, 320, 703, 724 f., 746 Lesemotiv 609 Lesemotivation 67, 77, 189 f., 195, 201, 245, 372, 401–403, 405–411, 413 f., 419–421, 427, 433, 445, 447–452, 457, 459, 461 f., 464, 547 f., 550, 555–558, 560, 563, 573, 576–578, 581, 585, 590, 592, 767, 775, 788, 823, 826, 842 Lesemotivation, intrinsische 410, 413, 449–452, 457, 462, 557 f. Lesemotivationsart 409 f. Lesen ––betrachtendes 254 ––differenzierendes 253
896
Sachregister
––extensives 715, 793, 804 ––extrinsisch motiviertes 413 ––intensives 496, 578, 715, 732, 740, 751, 754, 805 ––konsultierendes 254 ––lautes 97, 213, 417 f., 704, 754, 856, 862 ––lineares 253, 341–343, 373, 849 ––literarisches 202 f., 458–460, 462, 708, 712, 808 ––scholastisches 305, 311 ––selbstbestimmtes 142, 202 ––selektierendes 254 ––sinnorientiertes 32, 40, 169, 177 ––stilles / leises 100, 301, 703, 745, 760 ––studierendes 724 f., 735 Lesenetzwerk 122, 132 Lesenfunktion 122, 833, 835 Lesenlernen 18, 118, 122, 127, 130 f., 134, 383 f., 386, 388, 390, 392–395, 551, 730 Leseorientierung 77, 410 f., 413 Leseort 574, 755, 788 Lesepräferenzen 539 Lesepraktiken 86, 88, 94, 96 f., 107, 109, 362, 485, 488, 739, 745, 750, 758, 784 Lesepraxis 77, 265, 453, 723 f., 740, 745, 754, 760, 766, 773, 776, 780, 786 Leseprodukt 34, 224 Leseprozess 21, 23, 27, 29–35, 37, 39, 47, 57 f., 65, 85, 117, 156, 170 f., 174 f., 177, 187, 189–191, 193, 196, 198, 201, 213, 226, 235, 243, 259, 263–265, 273, 292, 295, 297, 324, 361 f., 364–366, 368, 371, 373–377, 406, 414, 418, 432–434, 443, 457, 464, 548, 692, 696, 745, 752, 755, 773, 821 Lesepublikum 70, 86 f., 89, 91, 99, 283 f., 289, 307, 341, 355, 384, 496, 502, 707, 740–742, 745 f., 759 f., 766 f., 769, 780, 784, 787, 805, 864 Lesepult 286, 292 f., 309 Lesequalität 807 f. Leser ––impliziter 86, 99, 101 f. ––intendierter 102 ––konzeptioneller 92 ––potenzieller 86, 88, 92, 105, 628, 639, 643, 646, 706, 759 ––realer 86 f., 91, 102, 107 f., 739 Leserbegriff 85 f., 92, 101
Lesererwartung 315 Leserevolution 496, 760, 766 f., 864 Leserforschung, quantitativ-statistische 108 Leserichtung 53, 239 f., 294 f. Leserlenkung 279, 297 f., 300, 318 Leserlichkeit 235 f., 238, 241–243, 252 Leseschwäche 805 Leseselbstkonzept 77 Lesesituation 23, 30, 40, 86, 94, 96 f., 106 f., 187, 286, 292, 364, 368, 372, 375, 377, 386, 431, 755, 788 Lesesoftware 48 Lesesozialisation 68, 76 f., 103, 107, 373, 384–388, 390 f., 394 f., 401–403, 405–407, 414, 419–422, 446, 460, 535, 541, 561, 571, 617, 776, 819, 823, 847 Lesesozialisationsforschung 76, 384, 393 f., 402 f., 406, 533 Lesesozialisationsinstanz 402 Lesesozialisationsprozess 407 Lesestart 579, 588 Lesestoff 68, 70, 72, 87–90, 93, 106, 284, 377, 402, 435, 438, 453, 456, 493, 496–498, 501–503, 551, 555, 558–560, 590, 599 f., 604, 608, 610 f., 613 f., 616–618, 623–625, 627, 639, 646–648, 681, 683, 696 f., 703, 706 f., 713, 715, 726, 728, 731, 733, 739, 744, 747, 750–755, 758, 765, 767–769, 771 f., 779, 782–784, 786–788, 794, 796, 799, 833, 839, 841–843, 845–848 Lesestrategie 67, 103, 185, 195, 215, 338, 403, 414, 416–419, 427, 434, 453, 557 Lesesucht 740, 758 Lesetechnik 548 f., 754, 758, 805 Lesetempo 178, 195, 754 Lesetypen 538, 543, 843 Lesetypographie 318 f. Leseumweltbedingung 802 Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) 118, 132 Leseverarbeitungsprozess 36 Leseverhalten 57 f., 60, 63–67, 75–77, 86–89, 187, 269, 361 f., 371, 373, 377, 401–403, 405–407, 411–413, 420 f., 432, 434 f., 437 f., 440, 442 f., 447, 452 f., 455–457, 459 f., 462, 469–471, 473–475, 478, 480, 483–486, 488, 496, 503 f., 531–533, 535 f., 538 f., 541, 543, 547, 553, 555, 558 f., 563, 576, 578, 715, 739 f., 765–767, 780, 785,
Sachregister
788, 794, 799, 802 f., 806 f., 843 f. Leseverständnis 320, 392, 407, 793, 807 Leseverstehen 34, 36–39, 141 f., 169, 174, 185–187, 189 f., 193–196, 207, 215, 227–230, 295, 298, 312, 314, 320 f., 377, 401 f., 405, 412 f., 419, 421 Leseverstehensprozess 217 Lesevorgang 32, 34, 47, 170 f., 174, 235, 297, 715 Leseweise 86, 96 f., 101, 106, 196, 198, 201, 306, 319 f., 325, 372, 374, 376 f., 427, 433, 439 f., 460, 864 Lesewirkung 427, 433 Lesewut 740, 758 Lesezeichen 291, 325, 432 Lesezeit 35, 155, 157, 178 f., 433, 435 Leseziel 33, 175, 372, 439 Lesezirkel 522, 589, 593, 613 f., 756, 798 Lesezweck 286, 752, 802 Lesung 97, 323, 553, 582, 584, 587–589, 655, 659, 661, 663, 667 f., 712 f., 724–726, 782, 853–869, 871 f., 875–879 ––medial vermittelte 870, 873 ––öffentliche 853, 855, 865, 873, 877 f. libri lintei (Leinenbücher) 271 lifeblogging 686 Ligatur 100, 247, 263, 315 Literalität 68, 76, 78, 208, 210–212, 297, 386 Literarästhetischer Text 199 Literarischer Salon 668, 757 literate environment 392, 580 Literatur, politisch anstößige 796 Literaturarchiv 659, 663 Literaturausstellung 653 f., 663, 672 Literaturbegriff 654, 793, 808 Literaturbetrieb 91, 427, 435, 653, 872 Literaturbüro 661–663, 672 Literaturdidaktik 414, 547 f. Literaturfestival 668 f. Literaturförderung 666, 669–671 Literaturgeschichte 89, 91 f., 192, 202, 552, 794 Literaturgesellschaft 803 Literaturhaus 593, 653 f., 661–663, 665, 672 Literaturkonzeption 259 Literaturkritik 441, 653–659, 665, 672, 777, 865 f. Literaturkritiker 512, 655, 658 Literaturliebhaber 728, 803
897
Literaturmarkt 803 f. Literaturmuseum 659, 663, 670 Literaturplattform 429, 687 Literaturpreis 653 f., 659, 661, 664–666, 668, 671 f. Literatursoziologie 91 f. Literaturstipendium 664–666 Literaturunterricht 77, 547–555 Literaturverbreitung 757, 797 Literaturvermittler 590, 627, 629, 661 f., 770, 782 Literaturvermittlung 441, 494, 653 f., 661 f., 666–672, 870 f. Literaturversorgung 796 f. Literaturwissenschaft 65, 86, 89, 91, 101 f., 108, 188, 191, 193, 199, 658 Logistikdienstleister 627 Logistikunternehmen 630 Long Tail-Phänomen 77, 646 Look-Inside 629 Losgröße 627, 640 M Magazin 252, 343, 349 f., 354 f., 357, 479, 609, 624, 770, 781 f., 798 Magie 273 Magnetresonanztomographie (MRT), funktionelle 3, 9 f., 15, 17 f., 117, 122, 131–133 Mago 711 Majuskel 100, 247, 301 f. Makro-Ebene 63, 65, 68, 76 f., 576, 820 Makroproposition 31, 173, 218 Makrostruktur 173, 217 f., 221, 298, 302 f. Manuskript 498–500, 624 f., 663, 728, 801 Marginalie 103 f., 245, 250, 286, 299, 311, 343 Marginalienforschung 103–105 Marktdurchdringung 646 Markteintrittsbarriere 627, 630, 657 Marktversagen 647 Maskulinität 452, 463 Mass Customization 640 Massenkommunikation 430, 471, 474, 478, 536–538, 541, 683, 741, 801, 805, 807 Massenpresse 347 f., 351, 504 Materialität 85, 92, 94–96, 188, 199, 279, 281, 297, 300, 320, 361 f., 370, 375, 493, 498, 722 f. Materialitätsforschung 110
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Sachregister
Materialobjekt 64, 532 Medialisierung 77, 794 f., 805 Medien, digitale 362, 377, 385, 396 f., 453, 470, 482, 485, 495, 505, 554, 563, 584, 588 f., 679, 681, 683, 696 Medien, neue 173, 201 f., 377, 384, 394 f., 648, 766, 780, 782, 846, 849 Medien-Agenda 75, 821 Medienaktivität 72, 799 Medienaneignung 469 f., 475 f., 478, 480, 484 Medienangebot 72, 74, 487, 584 f., 587, 589, 742, 747, 753, 766–768, 782, 846 Medienbegriff 67, 364, 794 Medieneffekt 74, 820 Medien-Frame 75 f. Mediengeneration 76 Mediengeschichte 494, 766, 794, 815 Mediengesellschaft 68, 77, 201 f., 393, 656, 796, 807, 819, 822, 850 Mediengewohnheit 70 Medienidentität 834–836, 839 Medieninhalt 74, 430, 479, 481, 484, 680, 683, 839 f., 845 Medienkonkurrenz 202, 542, 807 f., 816, 837 Medienkonvergenz 78 Mediennutzer 72 f., 75, 394, 396, 539, 610, 782 Mediennutzung 70, 72, 74, 202 f., 387, 389, 395, 428, 469, 478, 486, 534, 538, 599, 611, 618, 649, 689, 691 f., 794, 808, 821, 839, 847 Mediennutzungsforschung 70, 689, 767 Medienprodukt 520, 634 f., 692 f. Medienrezeption 69, 72, 74, 430, 794 Medienselektion 70 f. Mediensozialisation 76, 395, 563, 573, 847 Medientechnik 78, 817 Medienunternehmen 693, 695 f. Medienwahl, Theorie der 372 Medienwandel, Medialer Wandel 67, 77, 254, 715, 849 Medienwirtschaft 640, 648 Medienzugang 613 Medienzuwendung 69–71 Meditation 333, 724, 747 Mehrfachverwertung 643 Meinungsbildungsprozess 510 f. Meinungsbildungsrelevanz 514 Meinungsführer 655, 695 Mensch-Computer-Interaktion 368
Mentalitätsgeschichte 94 Mentor 590 Meso-Ebene 65, 68, 576 Mesopotamien 705 f. Metaanalyse 215, 226–228, 414, 419 Metakognition 214, 419 Methode ––kognitionspsychologische 21, 34 ––produktorientierte 34, 37 f. ––prozessorientierte 34, 36 ––zur Erfassung des Lesens 34 ––zur Erfassung von Leseprozessen 34 ––zur Erfassung von Lesezeiten 35 Microblog 679 f., 684–686 Middleware 640 Migration 469–472, 481, 487, 803, 808 Migrationshintergrund 66, 411, 447, 472, 539, 561–563, 568, 581 f., 584, 599, 613, 617 f., 823 f. Mikro-Ebene 65, 67, 69, 76, 576 Mikrostruktur 217 f., 221 Mikrotypographie 234, 236, 255, 367 Minuskel 239, 241, 246, 301–303, 314 Mischfinanzierung 672 Mittelalter 106, 109, 279, 282, 286, 289, 291, 293, 302 f., 305–307, 315 f., 321–323, 326 f., 332, 618, 669, 719–721, 724, 726 f., 730 f., 735, 752 Model of Discourse Comprehension 217 Modell ––datengesteuertes 23 ––interaktives 23 ––konnektionistisches 25, 30 ––mentales 32 f., 198, 221 ––wissensgesteuertes 23 Modularisierung 367, 371, 374, 640 Mönchtum 715 Monopol 496, 501, 504, 808 Mood-Management-Theorie 72 Motivation 9, 75, 178, 189, 198, 210, 212, 214, 220, 223 f., 364, 387, 408 f., 413, 421, 439, 446, 448–452, 461, 537, 539, 558, 579, 591, 691, 693, 802, 823 Motivation for Reading Questionnaire (MRQ) 408 f., 449, 452 Moving-Window-Technique 35 Multiple-Choice-Aufgabe 36 Multiple-Choice-Item 36
Sachregister
Mündlichkeit / mündlich 153, 186, 265 f., 296, 301, 322 f., 388, 503, 523, 707 f., 713, 720, 725, 727, 733, 750, 776, 867 f., 870 Nachbarschaftseffekt 24 Nachdruck 496, 498, 501, 503 f., 628 Nachrichten, handschriftliche 338, 341 Nachrichtenbrief 338 Nachschlagewerk 254, 291, 295, 318, 616, 696 Navigationsarchitektur 370 Nervenzelle 6 f., 10, 120, 130 Netze, neuronale 54 Netzinfrastruktur 630 Netzneutralität 647 f. Netzpublikation 608 f., 615 f. Netzwerk, digitales 369, 427–431, 433–443, 679 f. Netzwerk, soziales 76, 198, 369, 429, 431, 435 f., 472, 611, 680–682, 684 f., 688 Neue Zeitung 332, 339 Neuron 7, 10 f., 15, 117 Neuropsychologie 119 News-Book 342 f. Nichtleser 541, 802 Non-Book 638 Nutzerforschung 90 Nutzungsobjekt 365, 371 O Oberflächendyslexie 119 OECD 560–562, 568–570, 682 f. Öffentlichkeit 197, 326, 338, 341, 346, 396, 440 f., 445 f., 493 f., 497–499, 505, 512–515, 522, 524, 571, 576, 587 f., 590, 656–658, 682–684, 691, 695–697, 741, 749, 756, 759, 782, 801, 855, 877 Öffentlichkeit, bürgerliche 349, 695, 741, 866 Okzipitallappen 8 f., 124, 127, 132 Olfaktorik / olfaktorisch 291 Onix 629 Online-Buchhandel 68 Online-Medien 355, 369, 543 Ontologie 49, 61 Open-Access-Publikationen 608 OpenType-Format (OT) 247 Optical Character Recognition 48, 55, 59, 325 Optik 285 Organisationsstrategie 215 f., 228 Orthographie 100 f., 119, 121, 124, 162, 164, 314 ostraka 272
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Pagina / Paginierung 299, 311, 316, 318, 342 Paired Reading 418, 656 Papyrus 259–262, 265, 269 f., 272, 275, 282 f., 603, 706 f., 712, 714 Papyrusrolle 260–264, 266–272, 282, 304, 708, 712 Paratext 372 f., 375, 656, 684 Parietallappen 8 f., 127 f. Parser 145, 148 f. Parsing 29 Parsing-Prinzipien 29 Partizipation 64, 196 f., 384, 532, 679 f., 688, 695 f., 824 f., 827 f. PDF (portable document format) 367 PDP-Modell 27 Peer 65, 67, 76 f., 87, 401–415, 418–422, 533, 539, 563, 576, 586 Peer-Assessment 415, 418 f. Peer-Assisted Learning (PAL) 405, 414 f., 418 f., 421 Peer-Assisted Learning Strategies (PALS) 417 f. Peer-Beziehung 401–410, 414 f., 419–422 Peer-Effekt 405 f., 410–414, 421 f. Peer-Einfluss 404 Peergroup 68, 76 f. Peer-Leseaffinität 408, 411 Peer-Lesesozialisation 405–407, 413, 421 Peer-Modeling 415, 417–419, 421 Peer-Monitoring 415, 417–419, 421 Peer-Tutoring 415, 417–419, 421 Peer-Umfeld 413 Peer-Unterstützung 414, 419 Pergament 275, 281–284, 286, 288 f., 291, 304, 323, 326 f., 714 Personenzentrierung 656 Persönlichkeitsrecht 500, 502, 510 f., 515 f., 518 f. Perspektive ––medien-technische 65 ––organisatorisch-institutionelle 67 f. ––semiotisch-zeichentheoretische 65 ––sozial-institutionelle 65 Phonem-Graphem-Korrespondenzregel 26 f. Phonologie 119, 121 f., 127, 162 PIAAC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies) 568, 574
900
Sachregister
Pietismus 287, 740, 745–747 PISA-Schock 560 PISA-Skala 227 PISA-Studie 192, 385, 393, 406, 413, 445 f., 461, 533, 547 f., 560, 562, 569–572, 574, 576, 600, 846 platformed sociality 436 Poetry Slam 667 f., 863, 876 Polyptychon 271 Post 339, 579, 585, 592 POS-Tagger/POS-Tagging 55 f. PostScript-Format (PS) 247 Prachteinband 288 Prädikat-Argument-Struktur 28, 172 Präsentationsumgebung 368 f., 371, 375 Precision 53, 56 f. Preis-Absatz-Funktion 640–642 Preiselastizität 641 f. Preissetzung 623, 640, 647 Presse 75, 284, 307, 332, 337 f., 342 f., 345, 347–350, 353, 502, 504 f., 510 f., 516, 526, 648, 655, 746, 766, 768, 770, 777, 794, 801, 806 Pressefreiheit 348, 510, 515 Priming, phonologisches 128, 134 Priming-Effekt, semantischer 35 Priming-Paradigma 36 Priming-Technik 35 Printbranche 648 Printmedien 59, 64, 67, 69, 75, 202, 366–368, 371–373, 377, 394 f., 421, 521, 532 f., 655, 766, 768, 773, 801, 816 f., 819, 822–825, 828 Privatlektüre 196, 558 f., 731 ProDiL, Test 39 Programmsparte 797 Proposition 28, 31, 52, 171 f., 217 f., 221 Propositionsargument 28 Propositionssequenz 31, 173 Prosodie 143, 162, 164, 876 Provenienzdatenbank 105 Provenienzforschung 105 Prozesse der Bedeutungsgenerierung 171 Psycholinguistikforschung, kognitive 29 Publikums-Agenda 75, 821 Punktschriftbuch 325 Qualitätsfunktion 628 Qualitätsklasse 647
Quantitätsfunktion 628 R Radio; s. auch Rundfunk 71, 75, 470, 505, 539, 655, 780, 782, 795, 797, 850, 871 Raible, Wolfgang 297 Raumüberbrückung 630 RDF-Formalismus 51 RDF-Graph 51 RDF-Notation 51 Recall 53, 56 f., 93 Recency-Prinzip 29 Recht 122, 200, 370, 493–495, 497–500, 509–512, 514 f., 519, 526, 575, 670, 712, 726 f., 733, 759 Rechtsprechung 497, 500, 511–514, 520, 733 Reciprocal Teaching 416–418 Reformation 329, 332, 739–742, 745, 747, 759 f., 765 Register 101, 106, 299, 316, 321, 338, 725, 730, 733 Regression 34 f. Relevanzinstruktionen 180 Remissionsrecht 526 Re-Oralisierung 853, 861 f., 869, 874 f., 877 Resource Description Framework 49, 51 f., 61 Rezension 109, 344, 431, 435, 437, 441, 586, 609, 629, 656–658, 685, 799 Rezeptionsästhetik 86, 101 f., 188 Rezeptionsforschung 72 f., 91 f., 102, 835 Rezeptionsgeschichte 86, 91, 101 Rezeptionskompetenz, ästhetisch-literarische 200 Rezeptionskompetenz, literarische 189 f., 196 Rezeptionskonstrukt 794 Rezeptionsobjekt 365, 371, 373 Rezeptionsprozess 73, 177, 192, 195, 755, 795, 826 f. Rezeptionssituation 74, 192, 292, 296, 390, 741, 748, 760, 778, 870 Rezeptionsweise 196, 326, 391, 445, 447, 457, 461 f., 552, 745, 752 Rezeptionsziel 175 Rezipienten-Frame 76 Rocket E-Book 643 Rogers-Kriterien 644 Roman 75, 88, 191, 312, 350, 367, 402, 482, 510, 512, 516–519, 521, 541, 557, 562, 610, 711, 728 f., 731 f., 735, 740,
Sachregister
751, 753, 758, 770, 781–783, 785–787, 797, 799, 867 Römer / Römisches Reich 302, 711 f., 715 Rotdruck 310 Ruminatio 97, 305, 724, 735 Rundfunk; s. auch Radio 533, 624, 657, 766 f., 871 S Sachlektüre 802 Sachtext 171, 176, 185, 188–193, 196, 198, 202, 225–228, 251, 253, 406, 421 f., 434, 457, 460, 464, 549, 558, 561 Sakkade 34 f., 57 f. Sakkadenlänge 34 Salzburger Lese- und Rechtschreibtest 38 Satz, ausgefüllter 246–248, 250, 253 f. Satzspiegel 294, 330, 339, 343, 355 Schadenzauber 273 Schemata 173, 323 Schlagwort 297, 363, 609, 640, 854, 863 Schmähkritik 512, 516 Schmutz- und Schunddebatte 772, 800 Schnittstellendesign (Interfacedesign) 368 Scholastik 303, 305, 310, 320 Schreiber 53, 55, 100, 154, 156, 214, 221, 223, 236, 262 f., 270, 274, 282, 286, 296, 298, 303, 305–307, 311, 320, 441, 688, 705–707, 710, 714 Schreibfähigkeit 229, 690 Schreibflüssigkeit 213 Schreibförderansatz 227 Schreibkompetenz 202, 577, 694, 720 Schreibprozess 102, 212–216, 219–221, 502, 686, 697 Schreibstrategie 207 f., 216 f., 223, 229 f. Schreibtechnologie 220 Schreibumgebung 220 Schreibwerkzeug 240, 300 Schrift, dynamische 239 Schriftfamilie 245, 249 f. Schriftform 186, 234, 314 Schriftgestalter 235, 238, 295, 314 Schriftkompetenz 720 f., 723, 727 f. Schriftkultur / Kultur der Schriftlichkeit 266 f., 384, 707, 711 f., 716 Schriftlernen 210 Schriftlichkeit 109, 283, 327, 384, 704, 706, 720, 722 f., 725 f., 729, 733 Schriftlichkeit, pragmatische 328, 733
901
Schriftlinie 240–242, 328 Schriftmedium 100, 275, 279–281, 296–298, 324, 327, 383, 535, 635, 647 Schriftproportion 239, 241 Schriftsozialisation 722 Schriftspiegel 302, 311 Schriftsprache 207 f., 210, 212, 214, 222, 229, 302 Schriftsteller, freier 853, 857, 864 f., 874 f., 878 Schrifttafel 279, 327 Schriftzeichen 99, 130 f., 235, 244, 324 f., 338, 362–366, 372 f., 548, 727 Schule 65, 67 f., 76 f., 87, 94, 103, 117 f., 131, 180, 186, 190, 296, 305, 384, 402, 408 f., 412, 419, 428, 478, 533, 537, 539, 547 f., 551, 555–561, 563 f., 569, 571, 576, 580, 583–588, 590 f., 603, 613, 618, 706 f., 721, 742, 750, 767, 777, 803, 806 f., 823, 847, 857 Schüler/in 71, 76 f., 227 f., 404, 417, 547–564, 569, 571, 585 f., 592 f., 599, 613, 617 f., 862 Schulpflicht 388, 745, 766, 779 Schwarz-Weiß-Verteilung 48 Scriptio continua 100, 259, 262, 264–266, 301 f., 710, 712 Seitenumbruch 248, 255 Seitenzahl / Seitenzählung; s. auch Pagina / Paginierung 316, 318, 321, 343 Selbstregulation 208, 210–212, 214, 222, 229 Selbstsozialisation 76 Selbstwirksamkeit 448 Self-Publishing-Plattform (SP-Plattform) 625 Semantik 48, 50, 99, 119, 121 f., 128, 298 Semantisches Priming 24, 129 Semantisches Web 49–51, 60 Semiotik 235 Serife 240 f., 253 Setzer 100 f., 236, 282, 284, 286, 296, 298, 307, 314 f., 320, 355 Signale 7, 13–15, 31, 173, 218, 297, 805 Sinnkonstruktion beim Lesen 169, 174, 179 f. Sinus-Milieu 535, 539, 614 Situationsmodell 33, 177–179, 217 f. Skandalisierungskommunikation 656 Skriptographie 99, 295–297 Social Media 591, 680 Social Reading 427 f., 430, 588 Soft-Book 643 Sortimentsbildung 628
902
Sachregister
Sortimentsbuchhandlung 637 Sozialgeschichte 87–90, 92 f., 95, 99, 105, 320, 740 f., 766, 794 Sozialisation, literarische 107, 189, 196, 551, 776 Sozialisationsperspektive 76 Sparte 666 Spätantike 279, 301–303, 305, 703, 714 f., 720, 724, 735 Spezialisierung für Schrift 131, 133 Sprachgebrauch 146, 213, 234 f., 388, 510 Sprachraum 71, 73, 99, 105, 341 f., 347, 403, 469, 531 f., 658 f., 723, 739, 798, 815 Sprachverarbeitung 9, 22, 31, 48, 122, 130, 132, 141, 143 f., 146, 152 f., 155 f. Sprachverstehen, auditives 142 f. Standardisierung 307, 315, 329, 347, 352, 640, 710 State-of-the-Art 55 Status, sozioökonomischer 411, 447 Statute of Anne 498–500 Steininschrift 270 f., 706, 713 f. Stiftung Lesen 395, 455, 531, 534–536, 538, 541, 573–575, 579–581, 583–588, 590–592, 672, 802, 805, 807, 817, 823 Stilus 271, 705 Strategiefamilie 216 Strategie, kognitive 6–9, 17 f., 21–23, 25, 29, 34 f., 52, 64, 71 f., 100, 118 f., 164, 169, 171, 177–179, 188, 190, 202, 207, 209–212, 214–216, 219 f., 222, 229, 265, 281, 296, 363, 374, 389, 395, 401, 407, 414–416, 419, 428, 434, 438, 458 f., 581, 766, 819, 826, 841, 843 Strategie, metakognitive 214–216, 219, 226, 229, 417 Strategie-Modell 32 Streaming 630 Stützstrategie 214 f. Subjekt-Objekt-Ambiguität 145 Subkultur 796 Suchmaschine 370, 609, 648, 694 Syntax 30, 33, 51, 56, 122, 129, 144, 146 f., 170, 176, 186, 213, 226, 294, 298, 385 T Tabelle 299, 318, 325 Tablet-PC 59, 68, 361, 376, 542 Tafelbild, textiertes 279, 327 Tatsachenbehauptung 511
Teilprozesse des Lesens 23, 37 f., 134, 143 Telegraphie 348, 862 Telekommunikation (TK) 627, 648 Temporallappen 8 f., 124, 127–129 Text ––komplexer 185–187, 189 f., 194, 196, 203, 249, 434, 554, 734, 826, 842 ––literarästhetischer 188, 194 ––literarischer 89, 171, 176, 188, 200, 248, 251, 253, 263, 268, 283, 329, 332, 406, 457–460, 464, 548 f., 557, 561, 653, 705, 714, 720, 731, 782, 877 ––narrativer 170, 175 f., 457, 686 ––nutzergenerierter 679–682, 684 f., 687–697 ––wissenschaftlicher 37, 188, 192 f., 195, 201, 253, 268, 315 Textanalyse 191 Textanordnung 361, 365 f., 368 f., 371–374 Textauszeichnungsmittel 298 Textbasis 33, 217 f. Textbedeutung 33, 95, 98, 164, 199, 226, 393, 406 Textbedeutung, kohärente 22, 31 f., 52, 169, 172 Textbegriff 185, 385, 794 Texteigenschaft 187, 234 Texterschließungsmittel 299 Textgestaltung 98 f., 233, 235–237, 251, 253–255, 297, 303, 314, 319, 361, 365 f., 368 f., 371 f., 374 Textgliederungsmittel 298 Texthierarchisierung 249, 252 Textinhalt 32, 37, 169 f., 173, 175, 215–218, 221, 223, 226, 228 f., 252 f., 273, 383, 387, 390 f., 417 f. Textkolumne 234, 238, 247–251, 262, 266, 269 Textoberfläche 31, 33, 193, 217 f., 366, 373, 377 Textorganisation 98, 229 Textproposition 32 Textqualität 187, 221, 224 f. Textrezeption 171, 175, 187, 383, 385, 387, 390, 393, 553 Textstruktur 186 f., 189, 191, 217, 228, 243, 249, 296, 303, 312, 320, 342, 363 Textträger 237 Textverständlichkeit 207 Textverständnis 37, 96, 213, 225, 243, 269, 388, 391, 416, 586, 742, 826
Sachregister
Textverstehen 32, 39, 142 f., 170, 173, 190 f., 194, 213, 217, 225, 227 f., 297, 363, 373, 402, 406, 411, 413 f., 451, 453, 458, 562, 577 Text-Bild-Beziehung 299 Text-Leser-Interaktion 171, 394 Textzugang 192, 361, 365 f., 368–372, 375, 377, 850 Thema-Rhema-Strategie 31, 172 Titelblatt 101, 105, 290, 294, 299, 304, 310, 315 f., 338 Titelproduktion 635, 743 Tonscherbe 272 Topik-Markierung 172 Trägermaterial 704, 714, 862 Triangel-Modell 27 Triples 56 Trivialliteratur 88 f., 186, 190, 607 f., 755, 766 f., 769, 794 TrueType-Format (TT) 247 Twitter 610, 613, 686, 846 Typographie 98 f., 101, 233–235, 255, 279 f., 295–297, 309, 315, 318 f., 321, 345, 347, 353, 355, 367, 371, 373 f. U Überarbeitungsstrategie 216 f. Übertragungstechnik 647 Umschlag 195, 281, 287, 289 f., 321 Uniform Resource Identifier 50 f. Unterhaltung 70, 87, 107, 180, 349 f., 406, 428, 439, 456–458, 462, 485, 514, 538, 609, 613, 691, 727 f., 748, 750 f., 754–756, 770 f., 775, 777, 779 f., 795, 798, 808, 816–818 Unterhaltungsliteratur 90, 482, 608, 714, 743, 769, 778, 782, 788, 799 Unterhaltungsprogramm 797 Untersuchung, korpuslinguistische 146, 148, 155, 164 Urheber 94, 152, 315, 624 f., 627, 685, 705, 873, 877 Urheberrecht 442, 495, 498, 500, 502 Urkunde 279, 282, 326, 722, 733 User Generated Content 682, 690 Uses-and-Gratifications-Ansatz 70 f., 689, 818 V Verarbeitungskomplexität 145, 160 Verarbeitungsprozesse, hierarchiehöhere 32, 171
903
Verbreitungsverbot 510, 520–522 Verdachtsberichterstattung 516 Verein, geselliger 774 Vergemeinschaftung 429 f., 470, 475, 488 Verlag 50, 65, 282, 315, 319, 332, 441–443, 501–504, 526, 533 f., 584 f., 587–589, 592, 608, 615 f., 625–627, 631–633, 635, 641, 643, 656, 662, 668, 670, 783 f., 786, 796, 800 f., 803–806 Verleger 99–101, 315, 350, 352, 493 f., 496–500, 502–505, 522, 524, 526, 645, 742–744, 753, 757, 770, 782, 797 Verlinkung 659, 684, 690, 694 Vermittlungsinstanz 89, 487, 782, 794 Vernetzung 363, 371, 375 f., 385, 394, 432 f., 438, 441–443, 469 f., 475–478, 480, 487 f., 572, 574, 582, 657, 689, 695 f., 757 Verschrifter 220 Verschriftungsstrategie 216 Versionierung 639 Verwertungskette 641, 643 Visuelles Wortformsystem (VWFS) 124 Volksaufklärung 751 f. Volksbücherei 771, 796 Volkshochschule 593, 808 Volkssprache 101, 318, 330, 719, 721, 723, 726 f., 729, 731–735, 744 Vorlesegespräch 389, 391 f. Vorlesen 68, 77, 97, 156, 195, 286, 305, 332, 387–397, 503, 541, 553, 573, 577–582, 586, 588, 591, 593, 617, 703, 708, 712, 721, 726, 728, 733, 735, 745, 748, 750, 774, 778, 854–856, 872 Vorlesestudie 591 Vorlesestunde 551, 618 Vorlesetag, Bundesweiter 591 Vorteil, relativer 644 f. Vortrag 97, 301, 322, 667, 704, 707 f., 712, 725, 727 f., 757, 777, 780, 795, 797, 855, 857, 868–870, 872–874 Vorwissen 33, 169, 173, 175, 177, 223, 822 W Wachstafel 271 f., 705, 708, 712, 714 Wahrheitsbeweis 511, 519 Web 2.0 78, 428, 680, 688, 820 Weblog 78, 361 f., 431, 483, 613, 679 f., 682, 684–686, 688, 693–695, 820, 825, 846
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Sachregister
Webseite / Website 361 f., 370, 402, 431, 482–484, 573, 589, 608, 610, 615, 624, 659, 684, 686 f., 839, 845 Weg, direkter visueller 26 Weiße Substanz 7, 15, 130, 132 Weißraum 242, 246, 249–251, 312 Welttag des Buches 591 f. Weltwissen 23, 32 f., 36, 177, 223, 578 Wernicke-Areal 9 Wertschöpfungsstufe 623, 625–628, 631, 635 Werturteil 511 f. Wertzuschreibung 740, 773, 786 Wiki 361, 679 f., 684, 686–688 Wikipedia 50, 610, 613, 687 f. Wirtschaftswunder 795 f., 798 Wissenschaftsgeschichte 94, 97, 104 Wissenschaftsrat 604 Wissensgesellschaft 68, 816, 819 Wissenskluft-Perspektive 75, 816, 820–824, 828 Wissenssoziologie 97 Wochenblatt 346 f., 753, 797 Wortbild 119, 126, 239, 241, 245–247 Worterkennung 24, 26 f., 100, 143, 146, 162 Worthäufigkeitseffekt 24 f. Wortidentifikation 24 f., 27 f., 38 Wortlängeneffekt 24 Wortstellungsvariation 156 Worttrennung 100, 248, 265, 298, 301, 320, 712
Wortzwischenraum 242, 246, 248 Würzburger Leise-Leseprobe 38 X Xylographie 279 Z Zeichensetzung; s. auch Interpunktion 30, 100, 143, 213, 314 Zeichentheorie 98 f. Zeilenabstand 242, 246, 251, 254, 302 Zeilenumbruch 248 Zeitschrift ––elektronische 607 f., 616 ––Familienzeitschriften 349, 770, 782 ––historisch-politische 344 f. ––wissenschaftliche 343 Zeitschriftenpräferenz 455 Zeitung ––illustrierte 350 f., 354 ––geschriebene 338 f., 341 Zeitung hören 341 Zeitungsleser 798 Zensur 330, 494, 496 f., 502–505, 510, 747, 786, 801 Zugehörigkeit, kulturelle 470 Zugriff, lexikalischer 24, 35, 100 Zwei-Schichten-Architektur 369 Zwei-Wege-Kaskadenmodell 119, 121 Zwei-Wege-Modell 26 f., 38, 121 Zwischenhandel 626, 630
Herausgeber- und Autorenverzeichnis Herausgeberinnen Prof. Dr. Ursula Rautenberg Institut für Buchwissenschaft Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) Katholischer Kirchenplatz 9 D-91054 Erlangen [email protected]
Prof. Dr. Ute Schneider Institut für Buchwissenschaft Johannes Gutenberg-Universität Mainz D-55099 Mainz [email protected]
Autoren Prof. Dr. Markus Bader Fachbereich Neuere Philologien, Institut für Linguistik Goethe-Universität Frankfurt am Main Norbert-Wollheim-Platz 1 D-60629 Frankfurt am Main [email protected]
Prof. Dr. Ursula Christmann Psychologisches Institut Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Hauptstraße 47–51 D-69117 Heidelberg [email protected]
Priv. Doz. Dr. Astrid Blome Gutenberg-Museum Liebfrauenplatz 5 D-55116 Mainz [email protected] (privat)
Prof. Ralf de Jong de Jong Typografie Bismarckstraße 35 D-45128 Essen [email protected]
Prof. Dr. Heinz Bonfadelli IPMZ – Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung Universität Zürich Andreasstrasse 15 CH-8050 Zürich [email protected]
Prof. Dr. Prof. h.c. Andreas Dengel Deutsches Forschungszentrum für künstliche Intelligenz Trippstadter Straße 122 D-67663 Kaiserslautern [email protected]
Dr. sc. nat. Silvia Brem Universitätsklinik, Kinder- und Jugend psychiatrischer Dienst des Kantons Zürich (KJPD) Universität Zürich Neumünsterallee 9 CH-8032 Zürich [email protected]
Dr. Simone Ehmig Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen Römerwall 40 D-55131 Mainz [email protected]
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Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Dr. Günther Fetzer Institut für Buchwissenschaft Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) Katholischer Kirchenplatz 9 D-91054 Erlangen [email protected] Prof. Dr. Werner Graf Institut für Germanistik und vergleichende Literaturwissenschaft Universität Paderborn Warburger Straße 100 D-33098 Paderborn [email protected] Prof. Dr. Sabine Griese Institut für Germanistik Universität Leipzig Beethovenstraße 15 D-04107 Leipzig [email protected] Prof. Dr. Svenja Hagenhoff Institut für Buchwissenschaft Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) Katholischer Kirchenplatz 9 D-91054 Erlangen [email protected] Benjamin Hartmann, lic. phil. Historisches Seminar Universität Zürich Karl Schmid-Strasse 4 CH-8006 Zürich [email protected] Prof. Dr. Nikolaus Henkel Deutsches Seminar Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Platz der Universität 3 D-79085 Freiburg/Br. [email protected]
Prof. Dr. Hans-Dieter Kübler Fakultät Design, Medien und Information Hochschule für angewandte Wissenschaften Finkenau 35 D-22081 Hamburg [email protected] Dr. Axel Kuhn Institut für Buchwissenschaft Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) Katholischer Kirchenplatz 9 D-91054 Erlangen [email protected] Prof. Dr. habil. Marcus Liwicki Department of Informatics University of Fribourg Bd. de Perolles 90, CH-1700 Fribourg [email protected] Dr. Isabella Löhr Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. Universität Leipzig Reichsstraße 4–6 D-04109 Leipzig [email protected] Dr. Christine Luz Institut für Klassische Philologie Universität Bern Längassstrasse 49 CH-3000 Bern 9 [email protected] Marina Mahling M.A. Institut für Buchwissenschaft Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) Katholischer Kirchenplatz 9 D-91054 Erlangen [email protected]
Susanne Kraus M.A. Anton-Bruckner-Straße 22 D-91052 Erlangen [email protected]
Prof. Dr. Urs Maurer Department of Psychology The Chinese University of Hong Kong 3/F, Sino Building Shatin, New Territories Hong Kong [email protected] Dr. Dipl.-Päd. Bettina Muratović [email protected] Dr. Maik Philipp Institut Forschung & Entwicklung, Zentrum Lesen Fachhochschule Nordwestschweiz, Pädagogische Hochschule Bahnhofstrasse 6 | 6.1D CH-5210 Windisch [email protected] Dr. Sandra Rühr Institut für Buchwissenschaft Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) Katholischer Kirchenplatz 9 D-91054 Erlangen [email protected]
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
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Dr. Laura Sūna Institute of Philosophy and Sociology University of Latvia Kalpaka blvrd. 4 LV-1050 Riga [email protected] Prof. Dr. Konrad Umlauf Institut für Bibliotheks- und Informations wissenschaft Humboldt-Universität zu Berlin Dorotheenstraße 26 D-10117 Berlin [email protected] Dr. Eva Ellen Wagner Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völkerund Europarecht, Medienrecht, Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften Johannes Gutenberg-Universität Mainz Jacob-Welder-Weg 9 D-55099 Mainz [email protected]