Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil: Aus dem Amerikanischen übersetzt von Robin Celikates, Heidi Salaverria u. a. 9783050047041, 3050041099, 9783050041094

In seinem neuen Buch geht Richard Shusterman den vielfältigen Formen nach, in denen wir Erfahrungen der Leiblichkeit mac

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German Pages 208 Year 2005

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Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil: Aus dem Amerikanischen übersetzt von Robin Celikates, Heidi Salaverria u. a.
 9783050047041, 3050041099, 9783050041094

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Richard Shusterman Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil

Philosophische Anthropologie Herausgegeben von Hans-Peter Krüger und Gesa Lindemann Internationaler Beirat: Richard Shusterman (Boca Raton, Florida) und Gerhard Roth (Bremen)

Was bisher Leben und Bewusstsein, Sprache und Geist genannt wurde, steht in den neuen biomedizinischen, soziokulturellen und kommunikationstechnologischen Verkörperungen zur Disposition. Diese neuen Sozio-Technologien führen zu einer tiefgreifenden anthropologischen Entsicherung, die eine offensive Erneuerung der Selbstbefragung des Menschen als vergesellschaftetes Individuum und als Spezies herausfordert. Die philosophische Anthropologie reflektiert die Grenzen sowie die interdisziplinären Grenzübergänge zwischen den verschiedenen erfahrungswissenschaftlichen Disziplinen und ihren jeweiligen Anthroplogien. Sie behandelt diese Grenzfragen philosophisch im Hinblick auf die Fraglichkeit der Lebensführung im Ganzen. Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation von Texten zur philosophischen Anthropologie. In ihr werden herausragende Monographien und Diskussionsbände zum Thema veröffentlicht.

Band 3

Richard Shusterman

Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil Aus dem Amerikanischen übersetzt von Robin Celikates, Heidi Salaverría u. a.

Akademie Verlag

Titel der amerikanischen Ausgabe: Richard Shusterman: Performing Live: Aesthetic Alternatives for the End of Art, Cornell University Press, Ithaca, New York, 2000

ISBN 3-05-004109-9 © Für die deutsche Ausgabe: Akademie Verlag GmbH, Berlin 2005 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Satz: Veit Friemert, Berlin Druck: MB Medienhaus, Berlin Bindung: L&B, Berlin Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Einleitung: Ästhetische Erneuerung am Ende der Kunst

. . . . . . . . .

9

Kapitel I Am Ende ästhetischer Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Kapitel II Unterhaltungen

43

Teil I: Formen ästhetischer Erfahrung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel III Affektivität und Authentizität im Country-Musical

. . . . . . . . . . .

62

. . . . . . . . . . . . . . . .

85

Kapitel V Tatort: Kunst als Dramatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102

Kapitel IV Die urbane Ästhetik der Abwesenheit

Teil II: Somästhetik und Lebensstil Kapitel VI Somästhetik: Vorschlag einer Disziplin

. . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel VII Die somatische Wende in der heutigen Kultur

. . . . . . . . . . . . .

119 141

6

INHALTSVERZEICHNIS

Kapitel VIII Selbstbildung zwischen Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169

Kapitel IX Genialität und das Paradox der Selbststilisierung . . . . . . . . . . . .

188

Personenverzeichnis

205

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Vorwort

Obwohl dieser deutschen Übersetzung mein Buch Performing Live (2000) zugrunde liegt, unterscheidet sie sich vom englischsprachigen Original in vier Kapiteln. Aber auch an den übrigen Kapiteln und der Einleitung habe ich zahlreiche Änderungen vorgenommen, um das neue Material besser zu integrieren und eine größere Kohärenz des Gesamttextes zu gewährleisten. Für mich als Vertreter des Pragmatismus stellen Bücher Werkzeuge des Denkens dar, und nicht Objekte, die in ihrer ursprünglichen Form zum Fetisch erhoben werden sollten. Deshalb habe ich ein größeres Interesse daran, ein möglichst nützliches Textpaket für das deutsche Publikum zu schnüren, als mit der Übersetzung eine Kopie des englischen Originals zu produzieren. Mit diesem Buch setze ich eine Argumentationslinie zum Verhältnis von Leben, Kunst und Körperlichkeit fort, die ich in Kunst Leben, Vor der Interpretation und Philosophie als Lebenspraxis begonnen hatte. Dabei schlage ich eine genauere Analyse der ästhetischen Erfahrung und eine neue Bestimmung von Kunst als Dramatisierung vor. Zugleich bin ich nun in der Lage, eine umfassendere Darstellung meiner Theorie der Somästhetik zu präsentieren, die, wie auch ihr Hauptthema: die leibliche Erfahrung, weit über den gewöhnlichen Bereich der Ästhetik hinausgeht und für zentrale Fragen der Philosophie und der Lebensführung wichtige Konsequenzen hat. Frühere Versionen einiger der Kapitel dieses Buches liegen bereits in deutscher Übersetzung vor. Für die Anfertigung dieser Erstübersetzungen danke ich Heidi Salaverría, Eva Kimminich und Michael Bischoff. Besonders bin ich Robin Celikates zu Dank verpflichtet, der die übrigen Kapitel übersetzt, die schon vorliegenden Übersetzungen im Hinblick auf meine umfassenden Verbesserungen und Ergänzungen überarbeitet und den gesamten Text redigiert und stilistisch vereinheitlicht hat. Schließlich möchte ich Hans-Peter Krüger und Gesa Lindemann für das Privileg der Aufnahme in ihre neue Reihe danken sowie Mischka Dammaschke vom Akademie Verlag für die gute Zusammenarbeit. Boca Raton, Februar 2005

Einleitung Ästhetische Erneuerung am Ende der Kunst

1. Auch zu Beginn des neuen Jahrtausends wird die Ästhetik leider weiterhin von einer Art Endzeitstimmung und von Theorien dominiert, für welche die gegenwärtige Glaubwürdigkeitskrise der Kunst nicht ein vorübergehendes Phänomen oder eine Phase der Transformation darstellt, sondern ein notwendiges und dauerhaftes Ergebnis in unserer Kultur tief verwurzelter Tendenzen. Theorien vom Ende der Kunst sind uns zumindest seit Hegel bekannt, der schon im frühen 19. Jahrhundert die einflussreiche These vertrat, dass die Kunst eine Art Endpunkt ihrer Entwicklung erreicht habe. Als ein entscheidender Schritt in der Entwicklung des Geistes musste die Kunst aus logischen Gründen in höherstufige Formen geistigen Ausdrucks übergehen (und diesen letztlich auch weichen), die weniger an materiale Verkörperung gebunden sind. Für Hegel erfüllte die Kunst ihre Rolle als Wegbereiterin des Geistes durch die Überleitung in den ihr an Transzendenz überlegenen Bereich der Religion des Christentums und schließlich in die Philosophie des Idealismus als Gipfelpunkt des geistigen Fortschritts. Da „die Kunst nicht mehr diejenige Befriedigung der geistigen Bedürfnisse gewährt“, die sie einst zu einer prägenden Kraft machte, brandmarkt Hegel sie als „ein Vergangenes“, das in der Gegenwart nur noch in sich auflösender Gestalt fortbesteht.1 Die hierauf im 19. Jahrhundert folgende Explosion künstlerischer und naturwissenschaftlicher Innovation beraubte Hegels Erzählung weitgehend ihrer Überzeugungskraft. In dem Maße, in dem die Wissenschaft religiöse Überzeugungen zunehmend in Frage stellte, wurde leider auch der Geist der Philosophie nach und nach in der Verstaubtheit akademischer Pedanterie erstickt. Die Kunst hingegen überlebte bis ins 20. Jahrhundert als attraktivste Verkörperung, als kreativste Gestalt der Freiheit und als fortschrittlichste Ausdrucksform des Geistes. Sie wurde zum Ort spiritueller Transzendenz in einer zunehmend mechanischen Welt, zum überzeugenden säkularen Substitut für den diskreditierten religiösen Glauben, den geistlosen szientistischen Materialismus und die leblose philosophische Abstraktion. Die Erzählung vom Ende der Kunst kehrte in den 1930er Jahren unter posthegelianischen Philosophen jedoch in ganz anderer Form und auf der Basis ganz anderer Argumente zurück.

1

G. W. F. Hegel, Vorlesungen über Ästhetik I, Werke, Bd. 13, Frankfurt/M. 1986, S. 24 f.

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EINLEITUNG

Bei Walter Benjamin etwa finden wir diese eschatologische Erzählung in zwei Versionen.2 Aufgrund ihrer ursprünglichen Verbindung mit der Macht magischer und kultischer Rituale konnte die Kunst lange eine auf die maßgebliche Einzigartigkeit ihrer Werke aufbauende Aura aufrechterhalten. Kunstwerke bezeugten die schöpferische und unnachahmliche Kraft eines authentischen Genies, die einen transzendentalen und in weiter Ferne liegenden göttlichen Ursprung zu haben schien. Die neuen Medien der mechanischen Reproduktion zerstörten diesen Schein fast magischer Einzigartigkeit jedoch und führten so zum fortschreitenden „Verfall der Aura“ der Kunst. Mit der zunehmenden Ausbeutung reproduzierbarer künstlerischer Bilder im Dienste zweifelhafter kommerzieller Interessen und zwielichtiger politischer Zwecke schien die Kunst als eine Sphäre erhabenen Werts an ihr Ende gelangt zu sein. Die zweite Erzählung vom Ende der Kunst verankert Benjamin in einer anderen Diagnose: Nicht der Verlust der Aura der Kunst ist hier das Entscheidende, sondern das Verschwinden einer spezifischen Form ganzheitlicher, anhaltender, langsam zu genießender und tief empfundener Erfahrung, der die Kunst ihre befriedigende Wirkung und ihre Bedeutsamkeit verdankte. Die traditionelle Macht und Rolle der Kunst kommt also nicht so sehr durch die besondere Form der Reproduzierbarkeit künstlerischer Bilder an ein Ende, sondern durch die allgemein zu konstatierende Überflutung mit kaum zusammenhängenden Informationen. Diese fragmentiert unsere wohlgeordneten Erfahrungen zu einem ständig unter Druck stehenden Durcheinander schnelllebiger Erlebnisse. Eine solche Desintegration der Erfahrung zu isolierten Informationen – die sich für Benjamin im allmählichen Verschwinden der Kunst des Erzählens und dem Substitut labyrinthisch nebeneinander stehender Nachrichten der Tagespresse symbolisiert – bedeutet das Ende der für die Kunst konstitutiven traditionellen Form ästhetischer Erfahrung. Im Anschluss an diese Beobachtungen haben gegenwärtige Denker der Erzählung vom Ende der Kunst weitere Variationen hinzugefügt. So deutet Gianni Vattimo den „Tod der Kunst“ durch den Verlust ihrer Aura als Aspekt einer allgemeinen Schwächung transzendentaler Werte durch das „Ende der Metaphysik“.3 Dieser Verfall wird Vattimo zufolge jedoch durch einen entsprechenden Verlust der Autonomie der Kunst als eigenständiger Sphäre vorangetrieben. Durch ihre Integration in die Alltagswelt des menschlichen Handelns löst sich die Kunst in eine „allgemeine Ästhetisierung der Existenz“ auf und zerfällt in eine „Welt hybrider künstlerischer Produkte“. Vattimo lässt in die Erzählung vom Ende der Kunst aber noch einen dritten Argumentationsstrang einfließen: Die Avantgarde des 20. Jahrhunderts habe nicht nur den besonderen Autonomieanspruch der Kunst, sondern auch die Legitimität der traditionell mit der ästhetischen Erfahrung verbundenen Freude untergraben. Die Geschichte vom Ende der Kunst findet in Arthur Danto sogar einen analytischen Philosophen als Erzähler.4 Während Hegel der Ansicht war, dass die Kunst als Reprä2

3 4

Vgl. Walter Benjamin, Illuminationen, Frankfurt/M. 1977, insbesondere die Aufsätze „Der Erzähler“ und „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Vgl. Gianni Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990, S. 55 ff. Vgl. Arthur Danto, Das Ende der Kunst, in: Die philosophische Entmündigung der Kunst, München 1993, S. 109–145; Das Fortleben der Kunst, München 2000.

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sentantin einer bestimmten Stufe der Evolution des Geistes in die höheren Sphären der Religion und der Philosophie übergehen müsse, denen sie schließlich auch zu weichen habe, meint Danto, die Kunst habe sich tatsächlich schon in ihre eigene Philosophie aufgelöst, da sie ihr zentrales Anliegen nicht mehr ästhetisch, sondern philosophisch definiert: nämlich als die Frage, was ein Objekt zu einem Kunstwerk macht. Die Kunst hat sich Danto zufolge der Philosophie zugewendet, weil sie mit dem verbindlichen Ziel der Mimesis die in der Tradition gegebene Möglichkeit des Fortschritts verloren hat. Die neuen technischen Medien der Bildreproduktion führten zum Verlust des eindeutigen visuellen Kriteriums der Mimesis, das den Fortschritt der Kunst strukturiert hatte. Und da es der Kunst nicht gelungen ist, die Fortschrittsidee entweder expressivistisch oder philosophisch umzudeuten, steht sie nun ohne diese Idee und die durch sie ermöglichte Orientierung da. Deswegen lässt sich nicht länger von einer kontinuierlichen Entwicklung der Kunst hin auf ein vorgestelltes Ziel sprechen und deshalb müssen wir davon ausgehen, dass die Kunst an eine Art Ende gelangt ist, auch wenn sie natürlich nicht verschwinden wird. Im vorliegenden Buch werde ich mich mit diesen verschiedenen Erzählungen auseinandersetzen. Beginnen möchte ich jedoch mit der Skizze eines weiteren philosophischen Arguments für das Ende der Kunst – nicht weil ich es überzeugender als die anderen finde, sondern weil es als polemischer Hintergrund das Grundanliegen dieses Buches am schärfsten hervortreten lässt: die Suche nach Ansätzen der ästhetischen Erneuerung unter dem Schutt der vermeintlich finalen Erschöpfung der Kunst. Dieses neue Argument verbindet denn auch das Ende der Kunst (und ihren Anfang) mit dem der Moderne. Die Kunst, so wird behauptet, ist weder ein natürliches noch ein universelles Phänomen, sondern eine historisch spezifische soziale Institution. Obwohl Malerei, Bildhauerei, Dichtkunst, Musik und Theater in den alten griechischen und römischen (aber auch in nicht-westlichen) Kulturen eine frühe Blütezeit hatten, handelt es sich beim Begriff der Kunst, der sowohl unser Denken als auch unsere ästhetische Erfahrung prägt, tatsächlich um ein Produkt der Moderne. Unser zuerst im 18. Jahrhundert geprägter Begriff der Kunst, der sich im Wesentlichen auf die schönen Künste beschränkt, hat mit dem unabgeschlossenen Projekt der Moderne im 19. und 20. Jahrhundert noch an Kraft gewonnen. Dieser Trend wurde durch den allgemeinen Modernisierungsprozess verstärkt, der zu der von Max Weber so eindrücklich beschriebenen enormen Spezialisierung in Form einer Autonomisierung verschiedener Lebens- und Gesellschaftsbereiche geführt hat. Die Kunst entwickelt sich dabei zu einem autonomen kulturellen Feld, zu einer Institution mit eigenen Zielen, Experten und Logiken. Die Diagnose des Endes der Kunst bezieht sich folgerichtig auf den Übergang in die Postmoderne. Wenn wir uns in der Zeit nach der postmodernen Wende befinden, wie die Krise der modernistischen Konzeptionen der Autonomie und des Fortschritts der Kunst nahe legen, dann kommt die Kunst – als historisches Produkt der Moderne – mit dem Ende der Moderne an ihr eigenes Ende. Die Moderne stellte zugleich den Nährboden und die Struktur der Kunst dar. Und die Agonie ihres Zu-Ende-Gehens lässt sich an den die jüngste Geschichte der Kunst prägenden krampfartigen Krisen ablesen, die Zeichen ihres zunehmenden Macht-, Vertrauens- und Orientierungsverlusts sind.

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EINLEITUNG

Diese Diagnose ist besonders beunruhigend, da sie sich auf den gesamten Bereich der Ästhetik bezieht. So unterschiedliche Philosophen wie Jürgen Habermas und Richard Wollheim vertreten die These, dass der Begriff der ästhetischen Erfahrung, wie auch derjenige der Kunst, ein Produkt der Moderne ist, und sich niemals außerhalb des institutionellen Kontextes der modernen Kunst hätte entwickeln können.5 Der Begriff der Ästhetik wurde, nach seiner Einführung durch Alexander Baumgarten in der Mitte des 18. Jahrhunderts, durch Kant und andere Vertreter des Deutschen Idealismus genauer bestimmt und definitiv etabliert. Sie bezeichneten damit einen autonomen Bereich des interesselosen Wohlgefallens an der reinen Form (insbesondere der sinnlichen Form der Repräsentation idealer Gehalte). Wenn nun die Postmoderne die für die Ästhetik grundlegende moderne Ideologie der Autonomie, der Interesselosigkeit und des Formalismus unterminiert, so läutet sie damit das Ende nicht nur der Moderne und der Kunst, sondern des gesamten Bereichs der Ästhetik ein. Gegen diese Argumentation muss man sich zur Wehr setzen. Das Ende eines besonderen und besonders engen (wenn auch produktiven) Verständnisses der Kunst sollte nicht mit dem Ende der Kunst als solcher und insbesondere nicht mit dem Ende ästhetischer Erfahrung gleichgesetzt werden. Diese Gleichsetzung versperrt uns den vielleicht aussichtsreichsten Weg zur Wiederbelebung der Kunst unter den Bedingungen der Postmoderne: Die Erneuerung künstlerischer Energien und die Suche nach neuen Entwicklungsrichtungen jenseits der traditionellen Grenzen des abgetrennten Bereichs der modernen Kunst erfordert die Erweiterung unserer Begriffe der ästhetischen Erfahrung und des ästhetischen Werts. Diese Strategie der ästhetischen Erneuerung habe ich zuerst in Kunst Leben skizziert.6 Während in Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil wesentliche Aspekte dieses Projekts reformuliert werden, geht das vorliegende Buch zugleich einen Schritt weiter, indem es seine Anwendung auf eine Reihe neuer ästhetischer Fragen und künstlerischer Genres untersucht: von Affektivität und Authentizität zu Genialität und Selbststilisierung, von Technoclubs und Country-Musicals zur Somästhetik und dem Flaneur zwischen den Kulturen. Kunst Leben stellte die für die Moderne konstitutive Vorstellung eines abgetrennten Bereichs der Kunst in Frage und betonte, dass es ästhetische Erfahrung auch vor und nach der Moderne geben kann. Das brachte mir die Kritik ein, einem historisch blinden und naiv essentialistischen Naturalismus das Wort zu reden (obwohl ich Dewey für genau diese Fehler kritisiert hatte). Statt diesen Vorwurf durch den Aufweis des AntiEssentialismus meines Ansatzes zurückzuweisen, möchte ich diesen neuen Band mit einem Kapitel eröffnen, das die historistische Perspektive meines Pragmatismus durch eine Analyse der ästhetischen Erfahrung demonstriert, die sich um die geschichtliche Entwicklung dieses Begriffs und seines Missbrauchs dreht. Auf diese Weise lässt sich zugleich seine gegenwärtige Krise verstehen und ein Weg zur Wiederherstellung seines Werts eröffnen. Impliziert diese Betonung des historischen Kontexts eine Leugnung der 5

6

Vgl. meine kritische Diskussion dieser These in: Pragmatist Aesthetics. Living Beauty, Rethinking Art, New York 2000², S. 47–49. Frankfurt/M. 1994. Dabei handelt es sich um die deutsche Übersetzung der ersten Auflage von Pragmatist Aesthetics.

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natürlichen Wurzeln der ästhetischen Erfahrung, die Dewey uns so überzeugend vor Augen geführt hat? Das ist nur dann der Fall, wenn man in einem dualistischen Denken gefangen ist, das aus Unterscheidungen irrtümlich Dichotomien macht. Aus der Perspektive des Pragmatismus kommt deshalb denjenigen eine enorme Beweislast zu, die von der Unvereinbarkeit natürlicher Wurzeln und historischer Konstruktionen ausgehen.7 Die Natur – und das gilt auch für die menschliche Natur – wird ebenso durch die Geschichte geprägt, wie die Geschichte und das geschichtliche Denken in einer von kulturellen und natürlichen Kräften geformten Welt stattfinden. Da Naturalismus und Historismus die beiden einflussreichsten konkurrierenden Orientierungen darstellen, die das Feld der gegenwärtigen Ästhetik dominieren und polarisieren, schlage ich in einem zentralen Kapitel dieses Buches eine neue Bestimmung der Kunst als Dramatisierung vor, die mir in der Lage zu sein scheint, diese beiden einander gegenüberstehenden Ansätze in einer produktiven und spannungsreichen Weise zu vereinen. Auch wenn die Kunst ihrer Geschichte nicht entkommen kann, sollten wir anerkennen, dass diese Geschichte weit in die Vormoderne zurückreicht und sich in der Gegenwart für postmoderne historische Transformationen öffnet. Die Bestimmung der Kunst als Produkt der Moderne blendet die tiefgehenden historischen Kontinuitäten aus, welche die Tradition der westlichen Kunst konstituieren und die von der Kunst Griechenlands und Roms über das Mittelalter und die Renaissance bis in die Moderne führen, in der die Kunst allererst entstanden sein soll. Ebenso vernachlässigt sie die faszinierenden traditionellen Künste der asiatischen, afrikanischen und anderen nichteuropäischen Kulturen, die sich außerhalb des Paradigmas der westlichen Moderne entwickelten und noch entwickeln. Neben diesen historischen und transkulturellen Bemerkungen spricht auch das Aufkommen alternativer ästhetischer Formen jenseits des sakralisierten modernistischen Bereichs der schönen Künste in der gegenwärtigen Kultur des Westens für das Fortbestehen eines künstlerischen Impulses, der die Grenzen der modernen Ideologie der Sphärentrennung hinter sich lässt. Da die Anziehungskraft dieser Alternativen mit dem Verschwinden des modernistischen Paradigmas der Kunst zu wachsen scheint, ließe sich die vorsichtige Prognose wagen, dass das Ende des künstlerischen Monopols der Moderne zugleich die Möglichkeit eines lebendigen Neuanfangs für verschiedenste Formen künstlerischer Praxis eröffnet. Die beiden wichtigsten Schauplätze für die sich gegenwärtig abzeichnenden ästhetischen Alternativen sind zweifelsohne die massenmedial vermittelten populären Künste und das komplexe Netz von auf die Schönheit des Körpers gerichteten Disziplinen und sich in ästhetischen Lebensstilen ausdrückenden Praktiken. Diese beiden Bereiche der Kultur erkennen den Wert und die Freude ästhetischer Erfahrung ebenso an wie unser Bedürfnis nach Schönheit und intensiveren Gefühlen, die wir als bereichernde Erfahrungen in unser Alltagsleben zu integrieren trachten.

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Ich bezeichne diese entscheidende These des Pragmatismus als „disjunktive Einstellung“ und begründete sie ausführlicher im Vorwort zur zweiten Auflage von Pragmatist Aesthetics, S. x–xviii.

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EINLEITUNG

2. Die hier versammelten Aufsätze beschäftigen sich allesamt mit den Ästhetiken dieser beiden alternativen künstlerischen Felder. Beginnen werde ich mit einer Erläuterung des zentralen Begriffs der ästhetischen Erfahrung. Durch eine Analyse seines Gebrauchs und seines Missbrauchs in der kontinentalen und der angloamerikanischen Philosophie versuche ich, verschiedene Konzeptionen der ästhetischen Erfahrung in ihrer Verbindung zu Freude und Erkenntnis auf die Probe zu stellen. Für den Begriff der ästhetischen Erfahrung ist die Zurückweisung, die er in der durch Puritanismus und Intellektualismus geprägten Welt der Kunst erfährt, allerdings gefährlicher als die Kritik der Philosophen. Dieser falsche Intellektualismus verschmäht das Gefühl, da er es nur als Gegensatz zum Verstand in den Blick bekommen kann. Eine noch größere Gefahr stellen jedoch die Effekte einer zunehmend hektischen, fragmentierten und gefühlslosen Lebenswelt dar, welche die Notwendigkeit einer versöhnenden Einheit und Affektivität in der ästhetischen Erfahrung umso stärker unterstreichen, je mehr sie deren Möglichkeit durch die Zerstörung unserer affektiven Fähigkeiten zum Verschwinden bringen. Auch wenn die populäre Kunst nicht nur aufgrund kommerzieller Marketingstrategien populär ist, sondern auch, weil sie den Genuss ästhetischer Erfahrung noch immer sucht (und oft ermöglicht), ist sie unter Ästhetikern doch alles andere als populär und gilt eher als intrinsisch wertlos. Die folgenden drei Kapitel unternehmen deshalb eine ästhetische Verteidigung der populären Kunst in Form eines kritischen Meliorismus, der die gegenwärtigen Schwachstellen und Begrenzungen dieser Kunst ebenso in Rechnung stellt wie ihren Erfolg und ihr Potential. Das zweite Kapitel besteht aus einer genealogischen Untersuchung des Begriffs der Unterhaltung, deren Zurückweisung als seicht, hedonistisch und funktionalistisch den meisten Denunziationen der populären Kunst zugrunde liegt, die oft als „bloße Unterhaltung“ abgefertigt wird. Ein Blick in die Geschichte lehrt uns allerdings, dass die hohe Kunst von Heute einst eine Form der Unterhaltung, ja sogar der populären Unterhaltung war. Wenn Unterhaltung einen ästhetischen Wert haben kann, dann trifft dies auch für die Populärkultur zu. Freude und Funktionalität nehmen der populären Kunst deshalb nicht schon ihren ästhetischen Status. Die populäre Kunst lässt sich aber kaum verteidigen, ohne dass man den tatsächlichen ästhetischen Wert verschiedener Genres und konkreter Werke aufzeigt. In früheren Veröffentlichungen habe ich mich mit dem populären Genre des Rap befasst. Zwei von mir bewunderte Denker, Richard Rorty und Pierre Bourdieu, haben meine Wahl des Rap zur Verteidigung der populären Kunst jedoch kritisiert, weil sich dieser ihres Erachtens durch die bewusste Pose der Differenz zur und des herausfordernden Widerstandes gegen die offizielle Mainstream-Kultur zu einfach in die avantgardistische Tradition der hohen Kunst einreihen lässt. Statt meine Wahl einfach nur durch den Hinweis auf die Tradition widerständiger Populärkulturen (wie sie etwa von Michail Bachtin und Antonio Gramsci umrissen worden ist) zu verteidigen, nehme ich hier die Herausforderung einer ästhetischen Verteidigung einer populären Musikkultur – des Country – an, die von Intellektuellen sogar noch stärker abgelehnt wird als Rap.

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Im dritten Kapitel zeige ich, wie im Country auf Affekte und Archetypen zielende Strategien erfolgreich eingesetzt werden und dieser Kultur so trotz der hinter ihr stehenden professionellen Produktionsmaschine eine Aura der Authentizität verleihen. Zugleich arbeite ich die Logik von Affektivität und Authentizität anhand des von dieser Musik hervorgebrachten neuen Filmgenres des Country-Musicals heraus. Trotz aller offensichtlichen Unterschiede verdanken Rap und Country ihre Anziehungskraft der körperlich empfundenen und schamfrei ausgedrückten Intensität von Gefühlen. Diese Ästhetik drückt sich nicht nur in den jeweils charakteristischen Tanzkulturen aus, sondern auch in umfassenden ästhetisierten Lebensstilen. Letztere schließen besondere Weisen sich zu kleiden, zurechtzumachen und zu verhalten sowie unverwechselbare Formen der Körperhaltung, der Bewegung und des Sprechens ein. Der menschliche Trieb zur künstlerischen Selbstgestaltung durch ästhetische Erfahrung kann nicht unterdrückt werden, auch wenn er sich aus dem traditionellen institutionellen Rahmen der schönen Künste nur zurückziehen scheint, um im postmodernen Leben abgenutzt zu werden. Das vierte Kapitel wendet sich vom Country ab und nimmt in einer lauten TechnoNacht in Ost-Berlin die Spur des urbanen Lebens als alternativem Ort für populäre ästhetische Erfahrungen auf. Die Großstadt hat durch ihre enorme Vielfältigkeit im Rahmen der Einheit einer Polis schon immer ästhetische Erfahrungen ganz eigener Art ermöglicht. Sie stellt den Möglichkeitsraum für die Entstehung großer Kunstwerke dar und ist als Stadt oft selbst ein ästhetisches Meisterwerk, das von ihren Bürgern auf unterschiedliche Weisen genossen werden kann. Die ästhetische Anziehungskraft stellt dabei den wichtigsten Faktor für die Beliebtheit der Großstädte dar, die trotz der das Stadtleben oft unerträglich teuer und anstrengend machenden Probleme der Übervölkerung immer weiter anwächst. Auch die Tatsache, dass neue Kommunikationstechnologien solche Formen der urbanen Konzentration wirtschaftlich nicht mehr notwendig erscheinen lassen, tut dem keinen Abbruch. Und doch ist es genau diese übermäßige Verdichtung und überhitzte Intensität des Großstadtlebens, die auf paradoxe Weise die Möglichkeit ästhetischer Erfahrung gefährdet, indem sie unsere affektiven Fähigkeiten zur Gefühllosigkeit verkümmern lässt. Im Rahmen einer Analyse dieser Dialektik, in der die ästhetische Überforderung eine Form der Anästhesie hervorbringt, führe ich die Kategorie der Abwesenheit als Prinzip einer urbanen Ästhetik ein. Auf der Grundlage eigener Erfahrungen des Großstadtlebens und durch die kritische Aufnahme der Theorien des Urbanen von Lewis Mumford, Walter Benjamin und Georg Simmel (die das urbane Leben auf bemerkenswerte Weise durch eine gefühllose und blasierte Einstellung charakterisiert sahen) versuche ich zu zeigen, dass die Leere zugleich Basis und Medium ästhetischer Fülle ist. Dies spiegelt sich sogar in den Mühen der Selbstgestaltung, die der moderne Dandy und Flaneur auf sich nimmt. Eine Weise, in der Absenz ästhetische Erfahrung ermöglicht, besteht in der Bereitstellung eines freien Raums (und freier Zeit) für die Entfaltung des Kunstwerks und seiner Erfahrung, eines Rahmens oder einer Bühne also, die ein intensiveres Erscheinen und einen tieferen Widerhall der Kunst in ihrer ganzen Fülle ermöglichen. Diese Rahmung bedeutsamer Erfahrungen, die dadurch wiederum intensiviert werden, spielt eine zentrale Rolle in der Theorie der Kunst als Dramatisierung, die ich im fünften Kapitel

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EINLEITUNG

vorschlage. Eine Dramatisierung besteht darin, etwas auf eine Bühne zu stellen, einer Handlung einen künstlerischen Rahmen zu geben – gemeint ist aber auch die Intensivierung des Gefühls der Wichtigkeit oder der Aufregung. Diese beiden Elemente der formalen Rahmung und des intensivierten Gehalts erweisen sich in ihrer produktiven Spannung als zentral für die Kunst. Sie liegen sowohl dem ästhetischen Naturalismus (der die Intensität des Gehalts betont) als auch dem ästhetischen Historismus (der den sozial konstruierten Effekt der Rahmung betont, der die Kunst von anderen Objekten und Praktiken unterscheidet) zugrunde. Die Bestimmung von Kunst als Dramatisierung vereint nicht nur diese beiden gegenläufigen Positionen, sondern ermutigt uns auch dazu, uns der strikten Trennung von Kunst und Leben zu widersetzen, die die Ästhetik seit Platons Verdammung der Kunst im Namen der Wirklichkeit dominiert hat. Auch das so genannte wirkliche Leben folgt größtenteils einem Drehbuch und spielt sich auf verschiedenen durch soziale Kontexte definierten Bühnen ab, obwohl immer noch ein zu kleiner Teil des Lebens in ästhetisch befriedigender und bedeutsamer Weise dramatisiert und stilisiert ist. Die Kunst muss dabei nicht aus rein fiktionalen Inszenierungen bestehen. Die japanische Teekunst etwa ist unleugbar real und verweist auf ein Ideal der Verwirklichung von Kunst im Leben und nicht nur in bloß eingebildeten Erscheinungen. Dasselbe gilt für die im Konfuzianismus zentrale Kunst des Rituals. Die Aufsätze des zweiten Teils wenden sich einigen Hauptproblemen des ästhetischen Lebens zu. Als formbildender Grundlage des menschlichen Lebens muss dem Körper innerhalb der Lebenspraxis ein zentraler Platz zukommen. Aufgrund der traditionellen Betonung von Vernunft und Sprache in der Philosophie und ihrer durchgängigen und noch immer anhaltenden idealistischen Abneigung gegen alles Körperliche wird leibliche Erfahrung weitgehend ignoriert, wenn nicht voller Verachtung gänzlich zurückgewiesen. So beschränken sogar jene Denker der Gegenwart, die Philosophie als Lebenspraxis verstehen, deren Reichweite auf die textbezogenen Künste des Lesens und Schreibens, des Analysierens von Aussagen und des Argumentierens. Als ich mich in Vor der Interpretation und Philosophie als Lebenspraxis für eine stärker körperorientierte Ästhetik des philosophischen Lebens eingesetzt habe, erntete ich damit aber nicht nur Kritik, sondern auch Spott.8 8

In der Boston Review (Juni 1997, S. 24 f.) wurde mir vorgeworfen, mehr Körperbewusstsein in der Philosophie zu fordern als die Kenntnis jener körperlichen Gefühle, die mit dem „Sitzen in einem Stuhl“ verbunden sind. Diese Reduktion der Philosophie auf eine im Lehnstuhl verfolgte Praxis des Lesens zeigt aber nur ein weiteres Mal, wie unglaublich schwach, dröge und lesezentriert das gegenwärtige Körperbewusstsein in der Philosophie ist. Auch der Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28. November 1996) exemplifiziert ein solches verarmtes Verständnis der Somästhetik, wenn er meine Theorie wie folgt persifliert: „was man sich überspitzt etwa so vorstellen kann, daß man sich bei der Lektüre Kants geißeln, bei der Nietzsches bergsteigen und der Heideggers Atemübungen ausführen sollte“. Diese Art von Lesegymnastik hat natürlich nichts mit dem zu tun, was ich als Somästhetik verstanden und beschrieben habe. Es gibt jedoch auch wohlwollendere Kritiker der Somästhetik – vgl. etwa: Martin Jay, Somaesthetics and Democracy, in: Journal of Aesthetic Education, 36 (2002), S. 53–69; Gustavo Guerra, Practicing Pragmatism. Richard Shusterman’s Unbound Philosophy, in: Journal of Aesthetic Education, 36 (2002), S. 70–83; Dieter Thomä, Philosophie – dem Körper zulieb, in: Neue Zürcher Zeitung, 20. Juni 2002; Gernot Böhme, Somästhetik – sanft oder mit Gewalt, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 50 (2002), S. 797–800. Böhme ge-

ÄSTHETISCHE ERNEUERUNG AM ENDE DER KUNST

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Das sechste und siebte Kapitel soll deshalb zur Klärung meiner Theorie der Somästhetik beitragen und die weit verbreitete Annahme problematisieren, dass Lesen und Schreiben die körperliche Praxis der Philosophie erschöpfen. Zu Beginn zeige ich, dass die Somästhetik Baumgartens ursprüngliches Projekt der Begründung der Ästhetik zu einer Disziplin ausweitet, die sich der melioristischen Analyse sinnlicher Wahrnehmung widmet, indem sie sowohl die theoretische als auch die praktische Stossrichtung seines Projekts aufgreift. Dabei wird dem Körper für solche Wahrnehmungen eine besondere Rolle zugeschrieben, die Baumgarten aufgrund der körperfeindlichen Vorurteile seiner Zeit ignoriert hatte. Daraufhin werde ich erläutern, wie die Somästhetik einige der ältesten und wichtigsten Ziele der Philosophie aufnimmt: das Streben nach Wissen, Selbsterkenntnis, Tugend, Glück und Gerechtigkeit. Im siebten Kapitel nehme ich eine weitergehende Klärung des Projekts einer Somästhetik vor, indem ich den Gründen für die heute zu beobachtende Zunahme der Beschäftigung mit dem Körper nachgehe und eine vergleichende Untersuchung von drei der wichtigsten psychosomatischen Disziplinen (der Alexander-Technik, der Reichschen Bioenergetik und der Feldenkrais-Methode) vornehme. Dabei wird zu klären sein, inwiefern sich diese in eine Konzeption der Philosophie als reflexiver und körperlicher Lebenspraxis integrieren lassen. Als ästhetisches Projekt erfordert das Leben kreativen Selbstausdruck und künstlerische Selbstgestaltung – dies äußert sich im Wunsch, uns selbst interessant, attraktiv und bewunderungswert zu machen und uns zugleich treu zu bleiben. Das Selbst, das wir sowohl erben als auch erschaffen, ist nicht nur verkörpert, sondern auch unhintergehbar kulturell geprägt. Dabei spiegelt das gegenwärtig zu beobachtende leidenschaftliche Engagement für eine multikulturalistische Identitätspolitik das Bedürfnis nach Respekt für das eigene ethnische Erbe, so dass das in partikularen kulturellen Formen zum Ausdruck kommende Selbst in seinem besonderen Wert geschätzt werden kann. Die Affirmation der eigenen Kultur durch das Betonen ihrer radikalen Verschiedenheit könnte statt zu multikulturellem Verständnis aber auch zu kulturellen Spaltungen führen. Das achte Kapitel geht den bemerkenswerten Mehrdeutigkeiten und der Dialektik des Multikulturalismus nach und stellt ein ästhetisches Modell multikultureller Selbstschöpfung vor, das in der Auseinandersetzung mit und der Akzeptanz von kultureller Alterität besteht. Die Kunst der kreativen Selbstgestaltung erfordert eher den gelungenen Ausdruck eines individuellen Stils als die Affirmation einer Gruppenidentität. Was aber macht einen individuellen Stil aus und wie originell muss er sein, um eine authentische und ästhetische Form des Ausdrucks darzustellen? Ein solcher Stil wird oft als besonderes Privileg außergewöhnlicher Genies verstanden – aber kann Genialität weniger restriktiv und doch positiv gefasst werden, so dass sich eine größere Anzahl von Individuen als Lebenskünstler verstehen können? Um solche Fragen dreht sich das letzte Kapitel des Buches. Da die moderne Institution der sakralisierten autonomen Kunst an eine Art hört zu den wenigen gegenwärtigen Philosophen die eine eigenständige Philosophie des Körpers ausgearbeitet haben (vgl. Leibsein als Aufgabe, Kusterdingen 2003). Darüber hinaus hat Hans-Peter Krüger mit Zwischen Lachen und Weinen (2 Bde., Berlin 1999/2001) eine äußerst viel versprechende Analyse der Körper/Leib-Differenz vorgelegt, die Helmuth Plessners philosophische Anthropologie auf kreative Weise erneuert und weiterentwickelt.

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EINLEITUNG

Ende gekommen ist, scheinen sich die ästhetischen Energien gegenwärtig auf die Lebenspraxis selbst zu richten. In unserem Zeitalter multipler und vermarkteter Lebensstile, die den Konformismus ebenso zu fördern scheinen wie die Kreativität, muss der Begriff individuellen Stils daher einer kritischen Neubewertung unterzogen werden. In einer für die Philosophie charakteristischen selbstreflexiven Wendung ließe sich auch der Stil des vorliegenden Buches in Frage stellen: Bringen die verschiedenen Texte einen individuellen oder zumindest konsistenten Stil zum Ausdruck? Das muss dem Urteil der Leser überlassen bleiben – sie sollten sich aber stets daran erinnern, dass der Schreibstil nur eine Dimension des Stils eines Philosophen darstellt, da meines Erachtens die Philosophie eher eine Praxis des Lebens als bloß der Sprache ist. Aus dem Amerikanischen von Robin Celikates

Teil I Formen ästhetischer Erfahrung

Kapitel I

Am Ende ästhetischer Erfahrung1

The end crowns all. Shakespeare

1. Erfahrung, spottete Oscar Wilde, ist der Name, den man seinen Fehlern gibt. Benennt ästhetische Erfahrung demnach den größten Schnitzer der modernen Ästhetik? Obwohl ästhetische Erfahrung lange als zentraler Begriff der Ästhetik galt, der den Bereich der Kunst bestimmte und zugleich darüber hinauswies, ist sie in den letzten fünfzig Jahren zunehmend in Verruf geraten. Nicht nur ihre Bedeutung, ihre Existenz selbst wurde in Frage gestellt. Wie kommt es, dass dieser einst so vitale Begriff seine Attraktivität verlieren konnte? Kann der Begriff ästhetischer Erfahrung heute noch irgendetwas leisten? Der ambivalente Titel The End of Aesthetic Experience legt meine beiden Absichten nahe: zum einen eine Bestandsaufnahme seines philosophischen Abstiegs, zum anderen eine kritische Revision und daran anschließend eine Rehabilitierung des Begriffs.2 Von einigen kurzen Bemerkungen zur europäischen Kritik dieses Begriffs abgesehen, werde ich mein Hauptaugenmerk auf den beschleunigten Niedergang der ästhetischen Erfahrung in der angloamerikanischen Philosophie des 20. Jahrhunderts richten. Nicht nur, weil er hier am deutlichsten zu verzeichnen ist, sondern auch weil ich in dieser Tradition – der von John Dewey, Monroe Beardsley, Nelson Goodman und Arthur C. Danto – meine eigenen ästhetischen Überlegungen ansiedele. Während Dewey ästhetische Erfahrung feierte und zum Mittelpunkt seiner Kunstphilosophie erklärte, umgeht Danto den Begriff, davor warnend, dass (nach Duchamp) „die Gefahr, die es zu meiden 1

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Der amerikanische Originaltitel „The End of Aesthetic Experience“ enthält eine Doppeldeutigkeit, die ins Deutsche nicht übertragen werden kann: Im Englischen (wie auch im Französischen) bedeutet Ende zugleich Zweck oder Ziel. (Anm. d. Übers.) Ein Grund meines Interesses für diesen Begriff liegt darin begründet, dass ästhetische Erfahrung eine wesentliche Rolle in meiner pragmatistischen Ästhetik spielt. Siehe Richard Shusterman, Pragmatist Aesthetics, Oxford 1992, insb. Kap. 2 (in der deutschen Übersetzung: Kunst Leben, Frankfurt/M. 1994, Kap. 1).

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gilt, der ästhetische Genuss“ sei.3 Der Abstieg der ästhetischen Erfahrung von Dewey bis Danto spiegelt, wie ich zeigen werde, eine tiefe Verwirrung mit Bezug auf ihre unterschiedlichen Ausformungen und theoretischen Funktionen wider. Sie spiegelt aber auch eine zunehmende Auseinandersetzung mit „anästhetischen“ Anstößen der Avantgarde dieses Jahrhunderts, die selbst wiederum für viel grundlegendere Umwälzungen unserer elementaren Empfindungsfähigkeit symptomatisch sind, je mehr wir uns von einer Erfahrungs- auf eine Informationskultur zu bewegen. Bevor wir nun diesen Abstieg der Idee ästhetischer Erfahrung angemessen erfassen können, müssen wir uns allerdings erst seine anfängliche Bedeutung ins Gedächtnis rufen. Einige glauben zwar, sie spiele schon avant la lettre und in verschiedenen Verkleidungen eine wesentliche Rolle in der prämodernen Ästhetik (z. B. in Platons, Aristoteles’ und Thomas’ Bezugnahme auf die Erfahrung des Schönen, und in Albertis und Gravinas Begriffen von lentezza und delirio)4, aber es kann keinen Zweifel daran geben, dass die Vorherrschaft ästhetischer Erfahrung erst in der Moderne zum Tragen kam, als sich der Begriff „Ästhetik“ offiziell etablierte. Nachdem Wissenschaft und Philosophie der Moderne den Glauben der Antike, des Mittelalters und der Renaissance daran, Eigenschaften wie Schönheit seien objektive Merkmale der Welt seien, ausgemerzt hatten, wandte sich die moderne Ästhetik der subjektiven Erfahrung zu, mit der diese nun erklärt und fundiert werden sollte. Selbst wenn ein intersubjektiver Konsens oder Maßstab gesucht wurde, der die kritische Aufgabe eines realistischen Objektivismus übernehmen sollte, so hat die Philosophie typischerweise das Ästhetische nicht nur mit ästhetischer Erfahrung, sondern zur ästhetischen Erfahrung erklärt. „Schönheit“, sagte Hume in seinem Plädoyer für einen Maßstab des Geschmacks, „ist keine Eigenschaft, die den Dingen an ihnen selbst zukommt; sie existiert lediglich im Geiste dessen, der die Dinge betrachtet“, wenngleich – natürlich – einige Geister über mehr Urteilsvermögen verfügen als andere. Kant kennzeichnete die subjektive Erfahrung von „Lust oder Unlust“ ausdrücklich als „Bestimmungsgrund“ ästhetischer Urteilskraft.5 Darüber hinaus bot der Begriff ästhetischer Erfahrung einen geeigneten Überbegriff für diverse Qualitäten, die sich von Schönheit unterscheiden und dennoch einen engen Bezug zu Geschmack und Kunst haben, wie z. B. das Erhabene oder das Pittoreske.

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5

Siehe Arthur C. Danto, Die philosophische Entmündigung der Kunst, München 1993, S. 35 (im Folgenden zitiert als „PE“). Ich werde zudem folgende Abkürzungen benutzen: Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt/M. 1991: „VG“; Monroe C. Beardsley, Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism, New York 1958: „A“; ders., The Aesthetic Point of View, Ithaca 1982: „APV“; John Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt/M. 1980: „KE“; Nelson Goodman, Sprachen der Kunst, Frankfurt/M. 1995: „SK“; ders., Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1984: „WW“; ders., Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt/M. 1987: „DD“. Siehe z. B. die Darstellung des renommierten polnischen Historikers der Ästhetik W. Tatarkiewicz in seinem Buch: A History of Six Ideas, Den Haag 1980, S. 310–338. Vgl. David Hume, Über den Maßstab des Geschmacks, in: Jens Kulenkampff (Hg.), Der schwache Trost der Philosophie, Göttingen 1997, S. 78; Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt/M. 1990, § 1, A 4 (S. 115).

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Im 19. und frühen 20. Jahrhundert gewann ästhetische Erfahrung nochmals an Bedeutung aufgrund der allgemeinen Verherrlichung von Erfahrung in einflussreichen Lebensphilosophien, die dem drohenden mechanistischen Determinismus (den man nicht nur auf die Wissenschaft, sondern auch auf die Verwüstungen der Industrialisierung bezog) den Kampf angesagt hatten. In diesen Philosophien löste Erfahrung die atomistischen Perzeptionen als epistemologische Basis ab, dessen Bezug zum lebhaft empfundenen Leben sich nicht nur an Begriffen wie „Erlebnis“ zeigt, sondern der sich auch in den vitalistischen Erfahrungstheorien von Bergson, James und Dewey manifestiert. So wie Kunst die Rolle der Religion übernahm, indem sie eine säkularisierte Spiritualität in der materialistischen Welt ermöglichte, trat Erfahrung als naturalistischer, jedoch zugleich nichtmechanistischer Ausdruck des Geistes hervor. Die Vereinigung von Kunst und Erfahrung brachte dergestalt einen Begriff von ästhetischer Erfahrung hervor, der im Zuge der großen ästhetizistischen Bewegung der Jahrhundertwende enorme kulturelle Bedeutung und fast schon religiöse Intensität erlangte. Ästhetische Erfahrung wurde zum Refugium von Freiheit, Schönheit und idealistischer Bedeutung in einer entzauberten, kalten, materialistischen und von Gesetzen determinierten Welt. Sie war nicht nur Ort höchster Genüsse, sondern auch Medium spiritueller Läuterung und Transzendenz. Dementsprechend wurde sie das zentrale Konzept zur Bestimmung und Distinktion von Wesen und Wert der Kunst, die sich daraufhin zunehmend autonomisierte und vom Alltagsleben abgeschnitten war. Die Doktrin des l’art pour l’art konnte indes nur bedeuten, dass Kunst ihre eigene Erfahrung zum Zweck hatte. Im Versuch, den Bereich der Kunst auszudehnen, argumentierten ihre Anhänger, dass alles Kunst sei, solange es die angemessene Erfahrung hervorrufe. Diese verkürzte Genealogie ästhetischer Erfahrung wird natürlich weder der komplexen Ideengeschichte des Begriffs noch der Vielzahl damit verbundener Theorien gerecht. Aber sie sollte zumindest vier Wesenszüge hervorheben, die für die Tradition ästhetischer Erfahrung grundlegend sind und deren Zusammenspiel ihr Verständnis im 20. Jahrhundert sowohl prägte als auch zu Verwirrungen führte. Erstens ist ästhetische Erfahrung grundsätzlich wertvoll und angenehm. Nennen wir das ihre evaluative Dimension. Zweitens ist sie etwas lebendig Empfundenes und subjektiv Genossenes, das uns emotional vollständig einnimmt und so unsere Aufmerksamkeit auf ihre unmittelbare Gegenwärtigkeit lenkt. Dadurch hebt sie sich aus dem alltäglichen Fluss routinierter Erfahrungen hervor. Nennen wir dies ihre phänomenologische Dimension. Drittens ist sie bedeutungsvolle Erfahrung, und nicht bloße Empfindung. Nennen wir das die semantische Dimension. (Die Wirksamkeit von ästhetischer Erfahrung erklärt sich aus der Kombination von affektiver Kraft und semantischer Bedeutsamkeit.) Viertens hat ästhetische Erfahrung eine herausgehobene Stellung, da sie das zentrale Ziel von Kunst repräsentiert und von daher eng an die Bestimmung von Kunst selbst gekoppelt ist. Nennen wir das ihre distinktiv-definitorische Dimension. Auf den ersten Blick scheinen diese verschiedenen Charakteristika nicht unbedingt inkonsistent zu sein. Wir werden jedoch sehen, dass sie theoretische Spannungen hervorrufen, die in jüngster Zeit die analytische Philosophie dazu getrieben haben, den Begriff ästhetischer Erfahrung zunehmend abzudrängen, und einige Philosophen (am

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eindringlichsten George Dickie) sogar dazu inspirierten, ihre Existenz zu bestreiten.6 Bevor wir uns der angloamerikanischen Szene zuwenden, tun wir jedoch gut daran, die bedeutendsten Denklinien der neueren europäischen Kritik nachzuzeichnen, denn erst im Vergleich wird das Ausmaß deutlich, in dem die analytische Philosophie ästhetische Erfahrung abgewertet hat.

2. Von Kritischer Theorie und Hermeneutik bis zu Dekonstruktion und Genealogie hat sich die Kritik im europäischen Raum größtenteils darauf konzentriert, die phänomenologische Unmittelbarkeit und radikale Autonomie der ästhetischen Erfahrung zu problematisieren. Auch wenn etwa Theodor W. Adorno ihren vermeintlichen Genusscharakter als ideologische Verbrämung mit bürgerlichem Hedonismus entschieden zurückweist, so folgt er doch dem fast schon einstimmigen Verdikt der europäischen Philosophie, ästhetische Erfahrung sei nicht nur wertvoll und bedeutsam, sondern auch konstitutiv für die Philosophie der Kunst. Anders als das selbstgefällige Vergnügen, verlangt „wahre ästhetische Erfahrung“ für Adorno „Selbstverneinung“ und Unterordnung unter das, „was die ästhetischen Objekte von sich aus sagen und verschweigen“.7 Solcherweise ermöglicht ästhetische Erfahrung eine Transformation des Subjekts und eröffnet neue Pfade der Emanzipation, eine erneuerte promesse de bonheur, mächtiger als schlichtes Wohlgefallen. Hier sehen wir den transformativen, leidenschaftlichen Aspekt ästhetischer Erfahrung – etwas, dem sich das Subjekt unterzieht, das es erleidet. Obwohl das erfahrende Subjekt dynamisch und nicht rein passiv ist, ist es weit entfernt davon, souveräner und selbstbestimmter Handlungsträger zu sein, und bleibt blind gegenüber den ideologischen Verhaftungen des Kunstwerkes, die es in ihren Bann ziehen. Daher muss ein angemessenes, emanzipatorisches Verständnis von Kunst über die unmittelbare Erfahrung, über das immanente Verstehen hinausgehen, um eine externe Kritik („sekundäre Reflexionen“) an der ideologischen Bedeutung und den soziohistorischen Bedingungen des Werkes leisten zu können. „Bedarf es der Erfahrung“, folgert Adorno, „so stellt umgekehrt kein Kunstwerk in unmittelbarer Gegebenheit adäquat sich dar; keines ist rein aus sich selbst heraus zu verstehen“, weshalb es ebenfalls der Reflexion bedarf (ÄT 519). Ebenso dialektisch affirmiert Adorno einerseits die Differenz ästhetischer Erfahrung gegenüber einer „gottlosen Realität“ und erkennt andererseits an, dass diese scheinbare Autonomie selbst ein Produkt gesellschaftlicher Kräfte darstellt, die letztlich das Wesen ästhetischer Erfahrung bestimmen, indem sie gleichermaßen die Struktur von Kunstwerken und unsere Wahrnehmungsweise beherrschen (ÄT 517– 520; 344 ff.). Da Wandlungen in der nichtästhetischen Welt unsere Erfahrungs- und 6

7

Vgl. George Dickie, Beardsley’s Phantom Aesthetic Experience, in: Journal of Philosophy, 62 (1965), S. 129–136. Eddy Zemach argumentiert ebenfalls dafür, dass es so etwas wie ästhetische Erfahrung nicht gibt, in seinem (hebräischen) Buch: Aesthetics, Tel Aviv 1976, S. 42–53. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1990, S. 514 (im Folgenden zitiert als „ÄT“).

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Empfindungsfähigkeit beinträchtigen, kann ästhetische Erfahrung keine feststehende Entität sein. Das ist ein zentrales Thema in Walter Benjamins Kritik an der (von den Phänomenologen bevorzugten) unmittelbaren Bedeutung von Erlebnis. Infolge der Aufsplitterungen und des Schocks modernen Lebens, der mechanischen Wiederholungen in der Fließbandarbeit, der wahllosen Aneinanderreihung von Informationen und roher Sensationslust der Massenmedien, fügt sich unsere unmittelbare Erfahrung nicht mehr zu einem sinnvollen, kohärenten Ganzen, sondern verbleibt in einem Durcheinander fragmentierter, unintegrierter Empfindungen – eher Erlebnisse als bedeutsame Erfahrungen. Benjamin forderte stattdessen einen Erfahrungsbegriff ein, der eines vermittelten kontinuierlichen Zuwachses an kohärenter, mitteilbarer Weisheit bedürfe, obwohl er bezweifelte, dass dies in der modernen Gesellschaft noch einlösbar sei.8 So argumentierte Benjamin ebenfalls, Modernisierung und Technologie hätten die Identifikation von ästhetischer Erfahrung mit der unverwechselbaren, transzendenten Autonomie von Kunst unterwandert. Solch eine ästhetische Erfahrung umfasste einst, was Benjamin Aura nannte, eine kultische Qualität, die aus der Einzigartigkeit des Kunstwerkes und seiner Abgehobenheit von der Alltagwelt herrührte. Doch mit der Erfindung der technischen Mittel der Reproduzierbarkeit wie der Fotografie ist der Kunst die sie auszeichnende Aura abhanden gekommen, und ästhetische Erfahrung beginnt die Alltagswelt populärer Kultur und selbst die Politik zu durchziehen. Ästhetische Erfahrung kann nunmehr nicht dazu dienen, das Reich der Kunst zu definieren und zu begrenzen. Anders als Adorno sah Benjamin im Verlust von Aura und Autonomie jedoch ein emanzipatorisches Potential (wenngleich er ihre tödlichen Resultate in der faschistischen Politik verdammte). Jedenfalls spricht Benjamins Kritik der ästhetischen Erfahrung nicht eine weiterhin fortdauernde Bedeutung ab, sondern weist nur ihre romantische Konzeptualisierung als reiner Unmittelbarkeit von Sinn und ihre Abgeschnittenheit vom übrigen Leben zurück. Ganz klar inspiriert von Martin Heideggers Kritik ästhetischer Erfahrung9, greift Hans-Georg Gadamer gleichermaßen Unmittelbarkeit und Autonomie an, die bei ihm sogar in einem theoretischen Wechselverhältnis stehen. Indem das Kunstwerk radikal von den gesellschaftlichen Umständen abgelöst wird, in denen es geschaffen wurde 8

9

Obwohl Benjamin die Erfahrung höher bewertet als das Erlebnis, ist er kritisch gegenüber neokantianischen und positivistischen Konzepten von Erfahrung, die ihm zufolge zu rationalistisch und leer sind. Meine komprimierte Darstellung von Benjamin bezieht sich hauptsächlich auf seine Essays „Der Erzähler“, „Über einige Motive bei Baudelaire“ und „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, die sich alle in dem Band Illuminationen (Frankfurt/M. 1972) finden. Zur weiteren Diskussion siehe Richard Wolin, Walter Benjamin. An Aesthetic of Redemption, New York 1982; Martin Jay, Experience without a Subject. Walter Benjamin and the Novel, in: New Formations, 20 (1993), S. 145–155. Mit seinem Zweifel daran, dass Kunst lediglich dem „Gefallen“ diene, besteht Heidegger darauf, dass „Kunst in ihrem Wesen […] eine ausgezeichnete Weise [ist,] wie Wahrheit seiend, d. h. geschichtlich wird“. Sie kann deswegen nicht um des bloßen Wohlgefallens willen von der Welt ihrer Wahrheitsentbergung abgelöst werden. In diesem Sinne warnt Heidegger: „Vielleicht ist das Erlebnis das Element, in dem die Kunst stirbt.“ Vgl. Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart 1990, S. 80, 83 ff.

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und rezipiert wird, indem es dergestalt als Objekt betrachtet wird, das nichts als direktes ästhetisches Wohlgefallen hervorruft, reduziert das ästhetische Bewusstsein die Bedeutung des Werkes auf dessen unmittelbare Erfahrung. Das reiche aber nicht hin, so Gadamer, um die Bedeutung von Kunst und ihren nachhaltigen Eindruck auf unsere Lebenswelt zu erklären. „Das Pantheon der Kunst ist nicht eine zeitlose Gegenwärtigkeit, die sich dem reinen ästhetischen Bewußtsein darstellt, sondern die Tat eines geschichtlich sich sammelnden und versammelnden Geistes. […] Sofern wir in der Welt dem Kunstwerk […] begegnen, gilt [es] daher […], dem Schönen und der Kunst gegenüber einen Standpunkt zu gewinnen, der nicht Unmittelbarkeit prätendiert, sondern der geschichtlichen Wirklichkeit des Menschen entspricht. Die Berufung auf die Unmittelbarkeit, auf das Geniale des Augenblicks, auf die Bedeutung des ‚Erlebnisses‘ kann vor dem Anspruch der menschlichen Existenz auf Kontinuität und Einheit des Selbstverständnisses nicht bestehen.“10 Das Kunstwerk als bloße erfahrene Unmittelbarkeit anzusehen, beraubt es seiner kontinuierlichen Ganzheit sowie seiner durch die kommunikative Tradierung anwachsenden Bedeutung. Die Folge ist ein Zerfall „der Einheit des ästhetischen Gegenstandes in die Vielzahl von Erlebnissen“ (WM 101), bei der Weltbezug und Wahrheitsanspruch von Kunst ignoriert werden. Eine derartige Kritik an einem unmittelbaren, autonomen ästhetischen Bewusstsein bedeutet gleichwohl keine Zurückweisung des zentralen Stellenwerts der Erfahrung für die Ästhetik. Gadamer behauptet nachgerade, diese Kritik zu üben, „um der Erfahrung der Kunst gerecht zu werden“, wobei er betont, dass sie „Verstehen einschließt“, welches die Unmittelbarkeit reiner Präsenz überschreiten muss (WM 105 f.).11 Während Kunst in der analytischen Philosophie typischerweise mit den Objekten identifiziert wird, besteht Gadamer darauf, „daß das Kunstwerk […] sein wahres Sein vielmehr darin [hat], daß es zur Erfahrung wird, die den Erfahrenden verwandelt“. Diese Erfahrung „ist nicht die Subjektivität dessen, der sie erfährt, sondern das Kunstwerk selbst“ (WM 108), welches, wie ein Spiel, das seine Spieler spielt, die Spieler – also die Rezipienten –, die es verstehen wollen, seiner Ordnung unterwirft. Der Dekonstruktivismus von Jacques Derrida und Roland Barthes nimmt einen vergleichbaren Standpunkt ein, wenn darin auch Gadamers Vertrauen in die Einheit und Stabilität der Erfahrung zurückgewiesen wird: Ihre radikale Kritik an einer strengen Demarkation der Domäne der Kunst und am „Mythos der Präsenz“ stellt die angenommene radikale Autonomie und Unmittelbarkeit der ästhetischen Erfahrung in Frage, ohne dabei die Wichtigkeit und Kraft der jouissance zu verhehlen. Aus einer ganz anderen Perspektive, nämlich der soziologisch geprägten Genealogie, ficht Pierre Bourdieu genau dieselben beiden Punkte an. „Die Erfahrung eines Kunstwerkes als unmittelbar ausgestattet mit Wert und Bedeutung“ sei ein essentialistischer Fehl10

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Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, S. 102 f. (im Folgenden zitiert als „WM“). Die kognitiven Dimensionen ästhetischer Erfahrung hervorhebend, schreibt Gadamer: „Was man eigentlich an einem Kunstwerk erfährt und worauf man gerichtet ist, ist vielmehr, wie wahr es ist, d. h. wie sehr man etwas und sich selbst darin erkennt und wiedererkennt.“ Die Freude ästhetischer Erfahrung „ist vielmehr die, daß mehr erkannt wird als das Bekannte.“ (WM 119)

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schluss. Ästhetische Erfahrung ist laut Bourdieu „selbst eine Institution, welche historisch erdichtet wurde“, das Resultat einer wechselseitigen Verstärkung des institutionellen Feldes der Kunst und eingeschärfter Gewohnheiten ästhetischer Kontemplation.12 Beide benötigen eine beträchtliche Zeit, um sich zu etablieren, nicht nur in der Gesellschaft allgemein, sondern auch im Werdegang der je individuellen ästhetischen Lehrzeit. Überdies hängt diese Entwicklung in beiden Fällen vom gesellschaftlichen Rahmen ab, der die institutionellen Bedingungen der Möglichkeit, Wirksamkeit und Attraktivität ebenso festlegt wie die Spielräume des Individuums, sich darin zu involvieren. Was schließen wir aus diesen zwei Offensiven der europäischen Kritik? Ästhetische Erfahrung kann nicht als unveränderliches Konzept verstanden und ausschließlich mit der Rezeption autonomer Kunst identifiziert werden. Nicht allein, dass Rezeption auf diese Weise verarmte, zumal sich ästhetische Erfahrung über die Grenzen der bildenden Kunst hinaus erstreckt (z. B. auf die Natur), darüber hinaus ist ästhetische Erfahrung konditioniert von Veränderungen in der nichtästhetischen Welt, die nicht nur das Feld der Kunst, sondern auch unsere Erfahrungsfähigkeit selbst affizieren. Der zweite Vorwurf, ästhetische Erfahrung müsse über die phänomenologische Unmittelbarkeit hinausgehen, um ihre volle Bedeutung zu erlangen, ist ebenso überzeugend. Unmittelbare Erfahrungen sind oft dürftig und missverständlich, deshalb bedarf es im Allgemeinen einer Interpretation zum Verständnis der Erfahrung. Außerdem sind Vorannahmen und Wahrnehmungsgewohnheiten, die selbst sedimentierte Interpretationsakte beinhalten, nötig, um angemessene Reaktionen herauszubilden, die dann als unmittelbare empfunden werden. Das Insistieren auf der Interpretation ist auch die Crux der von Goodman und Danto geübten Kritik der ästhetischen Erfahrung. So liegt Gadamer genau auf der analytischen Linie, wenn er darauf drängt, dass „Ästhetik in der Hermeneutik aufgehen“ muss (WM 170). Dennoch, die Forderung, ästhetische Erfahrung müsse mehr beinhalten als phänomenologische Unmittelbarkeit und ein lebendiges Gefühl, heißt nicht, unmittelbare Empfindungen seien nicht ausschlaggebend für ästhetische Erfahrungen. Ebenso folgt aus Bourdieus überzeugender Forderung einer kulturellen Vermittlung ästhetischer Erfahrung nicht, dass sie nicht als unmittelbar erfahren werden kann. Obwohl es sicherlich eine Weile dauerte, bis Englisch sich als Sprache entwickelte und bis ich sie erlernte, kann ich Bedeutungen als unmittelbar erfahren, sie ebenso unmittelbar erfassen wie den Duft einer Rose (der selbst die Vermittlung durch Gartenpflege und komplexe kognitive Prozesse einer Schulung der Sinne erfordern mag).13 Der Abstieg ästhetischer Erfahrung in der analytischen Philosophie reflektiert zum Teil solche fälschlichen Vermischungen. Er rührt aber auch von Verwirrungen her, die aus den Wandlungen des Begriffs in der angloamerikanischen Philosophie von Dewey bis Danto erwachsen, insbesondere aus der Tatsache, dass die unterschiedlichen Funk12

13

Vgl. Pierre Bourdieu, The Historical Genesis of a Pure Aesthetic, in: Richard Shusterman (Hg.), Analytic Aesthetics, Oxford 1989, S. 148, 150. Zur ausführlicheren Darlegung dieses Arguments vgl. meinen Aufsatz „Vor der Interpretation“ in dem gleichnamigen Buch (Wien 1996). Ich entwickle diesen Gedanken weiter in: Philosophie als Lebenspraxis. Wege in den Pragmatismus, Berlin 2001.

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tionen ästhetischer Erfahrung nicht angemessen zur Kenntnis genommen worden sind. Als einheitlicher Begriff scheint ästhetische Erfahrung zu verworren, als dass man sie rehabilitieren könnte. Deswegen besteht die erste Aufgabe darin, ihre divergierenden Konzeptionen zu entwirren.

3. Diese divergierenden Konzeptionen ästhetischer Erfahrung lassen sich am besten in Form dreier unterschiedlicher Achsen umreißen, deren Pole die vier bereits genannten Dimensionen umfassen. Erstens können wir danach fragen, ob ästhetische Erfahrung als intrinsisch wertvoll oder eher neutral und deskriptiv verstanden wird. Zweitens ist zu klären, ob sie einen phänomenologischen oder einen rein semantischen Charakter hat. Mit anderen Worten: Sind Affektivität und subjektive Intentionalität essentielle Dimensionen dieser Erfahrung oder besteht das spezifisch Ästhetische in einem bestimmten Typus von Bedeutung bzw. einem Modus der Symbolisierung? Fußt drittens die theoretische Funktion dieses Begriffs primär auf seinem transformativen Charakter, der darauf zielt, das Feld des Ästhetischen zu erweitern bzw. zu revidieren, oder besteht seine Funktion in der Demarkation, also darin, den Status Quo des Ästhetischen zu definieren, zu begrenzen und zu erklären? Meine These lautet: Seit Dewey hat sich die angloamerikanische Theoretisierung der ästhetischen Erfahrung beständig auf den letzteren Pol der drei Achsen zu bewegt, so dass der Begriff letztlich seiner Anziehungskraft verlustig ging. Anders gesagt: Deweys wesentlich evaluativer, phänomenologischer und transformativer Begriff der ästhetischen Erfahrung wurde allmählich ersetzt durch ein rein deskriptives und semantisches Verständnis, das vor allem die etablierten Abgrenzungen der Kunst von anderen Bereichen erklären und abstützen soll. Diese Veränderungen haben zu Spannungen geführt, die den Begriff als solchen haben verdächtig werden lassen. Wenn sich der Begriff der ästhetischen Erfahrung obendrein als untauglich für die angestrebte Abgrenzung und Definition erweist, wie Danto annimmt, wird das gesamte Konzept zugunsten eines anderen aufgegeben – dem der Interpretation. Dass ästhetische Erfahrung auch für andere Zwecke fruchtbar sein kann, wird schlicht, aber meines Erachtens zu Unrecht ignoriert. Um diesen Gedanken zu begründen, müssen wir uns den Theorien von Dewey, Beardsley, Goodman und Danto zuwenden. Dewey verwendete den Begriff der ästhetischen Erfahrung nicht primär zu einer Auszeichnung der Kunst gegenüber dem restlichen Leben, sondern um „zwischen […] der Erfahrung [von Kunst] und den alltäglichen Geschehnissen, Betätigungen und Leiden, die bekanntlich die menschliche Erfahrung ausmachen, eine erneute Kontinuität her[zu]stellen“, so dass Kunst und Leben sich wechselseitig durch eine vermehrte Integration verbessern.14 Sein Ziel war es, sich aus dem Würgegriff dessen zu befreien, was er die Musealisierung der Kunst nannte, die die Ästhetik vom restlichen Leben 14

Dewey sieht ästhetische Erfahrung also als zentral an, nicht nur in der Kunst, sondern auch generell in der Philosophie der Erfahrung: „Um die Bedeutung künstlerischer Werke zu erfassen, müssen wir […] uns den gewöhnlichen Antriebskräften und Erfahrungen zuwenden.“ (KE 9 f.)

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abspaltet und ihr ein separates Reich, abgelegen von den elementaren Interessen „normaler“ Frauen und Männer, zuweist. Diese „esoterische Idee bildender Kunst“ bezieht ihre Stärke daraus, dass sich Museen und Privatsammlungen die quasisakralen Kunstobjekte einverleiben. Dewey bestand deswegen auf einer Privilegierung der dynamischen ästhetischen Erfahrung gegenüber den physikalischen Objekten, die von den konventionalen Dogmen erst als Kunst identifiziert und dann fetischisiert werden. Für Dewey liegen Wesen und Wert von Kunst nicht in den Artefakten per se, sondern in den dynamischen und evolutiven Aktivitäten der Erfahrung, durch die sie produziert und rezipiert werden. Deshalb unterscheidet er zwischen dem Kunstwerk als „Produkt körperlicher Existenz“, das – einmal geschaffen – „ungeachtet der menschlichen Erfahrung“ bestehen kann und dem „realen Kunstwerk, [das] aus dem besteht, was das Produkt mit und in der Erfahrung macht“ (KE 9 ff.). Dieses Primat ästhetischer Erfahrung befreit die Kunst nicht nur von einem gewissen Objektfetischismus, sondern auch von einer Einengung auf das traditionelle Feld der Kunst. Denn ganz offensichtlich überschreitet die ästhetische Erfahrung die Grenzen der bildenden Kunst, etwa in der Naturbetrachtung.15 Dewey insistierte darauf, dass sich ästhetische Erfahrung auch in Wissenschaft und Philosophie ereignen könne, selbst im Sport und der haute cuisine, woraus sich nicht zuletzt die Attraktivität dieser Praktiken ergebe. Tatsächlich könnte sie potentiell in jedem Lebensbereich zum Zuge kommen, da alle Erfahrung, um kohärent und bedeutsam zu sein, den Keim ästhetischer Einheit und Entwicklung in sich tragen muss. Dewey erhoffte sich von einer Neubestimmung der Kunst durch ästhetische Erfahrung eine Erweiterung und Demokratisierung des Kunstfeldes, mit einer stärkeren Integration in das Alltagsleben, das durch vielfältige Lebenskünste deutlich verbessert werden könnte. Dass die ästhetische Erfahrung potentiell alle Lebensbereiche durchdringen könnte, bedeutet jedoch keine Ununterscheidbarkeit von gewöhnlicher Erfahrung. Diese Unterscheidung ist aber im Wesentlichen qualitativer Natur. Aus der Alltagsroutine sticht sie, so Dewey, hervor durch eine erinnerungswürdige, lohnende Ganzheit – nicht bloße Erfahrung, sondern „eine Erfahrung“ –, weil wir uns in ihr „am lebendigsten“ und in all unseren menschlichen Fähigkeiten (den sinnlichen, emotiven und kognitiven) angesprochen fühlen, die zur Bildung dieser Einheit beitragen. Ästhetische Erfahrung zeichnet sich also weder durch eine exklusive Eigenschaft noch durch einen einzigartigen Fokus auf eine spezifische Dimension aus, sondern wirkt durch ihre von Wohlgefallen begleitete Integrationskraft, welche die Einzelelemente gewöhnlicher Erfahrung in eine dynamische Einheit bringt und dadurch eine „emotionale Befriedigung“ auslöst, welche die Schwelle reiner Perzeption überschreitet und deshalb um ihrer selbst willen genossen werden kann.16 Wesentlich an der Wertschätzung ist das unmittelbare, 15

16

Obwohl mir dieser Punkt offensichtlich zu sein scheint, wird immer noch die Gegenposition vertreten, die behauptet, unsere Wertschätzung des Naturschönen sei vollständig von unserem modernen Kunstbegriff geprägt und eingeschnürt, ebenso wie all unsere ästhetischen Erfahrungen. Vgl. zur weiteren Kritik dieses Arguments und einer eingehenderen Diskussion von Deweys Standpunkt: Pragmatist Aesthetics, Kap. 1 und 2. Wie Dewey später hinzufügt, „zeichnet sich [diese Erfahrung] dadurch aus, daß sie alle psychologischen Faktoren in einem höheren Maße schon einbegreift, als dies bei einer gewöhnlichen Er-

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phänomenologische Gefühl ästhetischer Erfahrung, dessen Einheit, Wert und Affekt das Subjekt „direkt erfüllen“ statt auf einen späteren Zeitpunkt aufgeschoben zu werden. Die transformative, phänomenologische und evaluative Ausrichtung von Deweys Begriff der ästhetischen Erfahrung sollte damit ebenso deutlich geworden sein, wie seine Brauchbarkeit zur Verortung von künstlerischen Potentialen und ästhetischen Befriedigungen in traditionell nichtästhetischen Bereichen. Darüber hinaus dient er dazu, uns daran zu erinnern, dass selbst im Bereich der Kunst die direkte erfüllende Erfahrung den Vorrang gegenüber dem Sammeln und der gelehrsamen Kritik von Kunst hat. Gleichwohl schließt die Betonung der phänomenologischen Unmittelbarkeit und des Affekts die semantische Dimension ästhetischer Erfahrung nicht aus. Bedeutung ist nicht inkompatibel mit Qualia und Affekten. Unglücklicherweise beschränkt Dewey sich nicht auf eine solche transformative Provokation, sondern schlägt ästhetische Erfahrung als theoretisches Kriterium zur Definition der Kunst vor. Gemessen an gängigen philosophischen Kriterien, ist diese Definition hoffnungslos inadäquat und gibt ein völlig falsches Bild unseres heutigen Verständnisses von Kunst ab. Kunstwerke rufen oft, insbesondere wenn sie als misslungen gelten, gar keine ästhetische Erfahrung im Deweyschen Sinne hervor. Andererseits zeigt sich diese oft gerade außerhalb der institutionellen Grenzen der Kunst. Ohnehin kann Kunst (als historisch kontingenter Begriff) zwar verändert, jedoch nicht so überzeugend und umfassend definiert werden, dass sie sich mit ästhetischer Erfahrung deckt. Ganz gleich wie kraftvoll und universell etwa die ästhetische Erfahrung eines Sonnenuntergangs sein mag, wir werden ihn wohl kaum als Kunst klassifizieren.17 Indem Dewey den Begriff der ästhetischen Erfahrung sowohl zur Definition als auch zur Transformation der Kunst benutzt, hat er beträchtliche Irritationen provoziert. Deswegen verwerfen analytische Philosophen typischerweise gleich die ganze Idee als heillos verworren. Eine große Ausnahme stellt Monroe Beardsley dar, der das Konzept als Herzstück seiner analytischen Philosophie der Kunst rekonstruiert, die sich, wie die meisten analytischen Ästhetiken, vor allem mit Differenzierungen befasst. Während Deweys Anliegen darin bestand, Kunst und Leben zu vereinigen, ist es Beardsleys Ziel, Kunst und Ästhetik klar von anderen Praktiken abzugrenzen. Das bedeutet, den transformativen Gebrauch ästhetischer Erfahrung zu verwerfen. Stattdessen dient das Konzept hier einer Definition der Spezifika von Kunstwerken und dessen, was für ihren Wert konstitutiv ist (und mündet in das, was Beardsley eine „durchdringende Analyse des künstlerisch Guten“ nennt) (APV 79). Beardsleys Strategie besteht darin, zu argumentieren, Kunst könne als eine bestimmte Klasse von Funktionen definiert werden, wenn es eine spezifische Funktion gibt, die

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fahrung der Fall ist; also nicht durch eine Reduktion derselben Faktoren auf eine einzige Antwort“ (KE 298). Aber selbst wenn wir eine solche Umdefinition bewirken könnten, bliebe Deweys Definition von Kunst als Erfahrung problematisch, denn die Erfahrung selbst wird nie genau bestimmt. Stattdessen wird sogar ihre Unbestimmbarkeit behauptet, und zwar aufgrund ihrer essentiellen Unmittelbarkeit; „sie kann“, so Dewey, „nur gefühlt, d. h. unmittelbar erfahren werden.“ (KE 223)

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ausschließlich Kunstwerke erfüllen, wenn sie „etwas vermögen, was andere Dinge nicht oder nicht vollständig vermögen“ (A 526). Die Produktion ästhetischer Erfahrung stellt diese Funktion dar, und so erklärt Beardsley sowohl den allgemeinen Wert von Kunst als auch den spezifischen Wert partikularer Werke durch den grundlegenden Wert dieser Erfahrung und den mit ihr verbundenen Genuss. Bessere Kunstwerke sind für Beardsley in der Lage, „großartigere ästhetische Erfahrung hervorzurufen“ (A 531). Beardsley behält also die Deweyschen evaluativen, affektiven und phänomenologischen Eigenschaften ästhetischer Erfahrung bei. Es handelt sich, so Beardsley, um eine „intrinsisch angenehme […] Erfahrung mit einer gewissen Intensität“, bei der die „Aufmerksamkeit“ und „der Fortlauf mentaler Zustände“ auf das phänomenologische Feld gerichtet und von ihm geleitet sind, woraus ein befriedigendes „Gefühl“ von Kohärenz oder „Ganzheit“ und „der Eindruck, aktiv konstruktive Kräfte des Bewusstseins einzusetzen“ resultiert (A 527; APV 287–289). Und Beardsley erklärt diese definierenden Begriffe mit bemerkenswerter Detailliertheit.18 Nach sorgsamer Untersuchung hat die analytische Ästhetik Beardsleys Theorie aus drei wesentlichen Gründen zurückgewiesen. Einer davon ist der Zweifel an ihrer phänomenologischen Gültigkeit. George Dickie, ein einflussreicher Fürsprecher dieser Denkrichtung, führt zwei Argumente an.19 Erstens liege Beardsley falsch, wenn er ästhetische Erfahrung als einheitlich, kohärent etc. beschreibt, weil darin ein kategorialer Fehler stecke – nämlich so zu tun, als beziehe sich der Begriff „Erfahrung“ auf etwas Reales, statt anzuerkennen, dass er nur einen leeren Terminus darstellt, der sich auf nichts Reales bezieht. Über ästhetische Erfahrung zu sprechen, sei ein ontologisch inflationärer Umweg, über das ästhetische Objekt als wahrgenommenes und erfahrenes zu sprechen. Beardsleys Behauptung einer „Erfahrungseinheit“ sei einfach nur eine missverständliche Weise, die erfahrene, phänomenale Einheit des Kunstwerks zu beschreiben, welches allein solche Eigenschaften wie Kohärenz oder Ganzheit besitze. Partikulare subjektive Affekte, die aus der Betrachtung des Kunstwerks resultieren, können diese Eigenschaften nicht haben, und die umfassende ästhetische Erfahrung, die sie zu haben beansprucht, sei nichts anderes als ein sprachlich konstruiertes metaphysisches Phantom. Zweitens, argumentiert Dickie, hat selbst das, was fälschlicherweise als ästhetische Erfahrung identifiziert wird, nicht immer den affektiven Inhalt, den Beardsley ihm zuspricht, und diese Kritik kann auf die traditionelle Behauptung, ästhetische Erfahrung sei immer angenehm und einheitlich, ausgedehnt werden. Wie geht man mit diesen beiden Argumenten um? Erstens können wir erwidern, dass die empirische Psychologie durchaus die Realität von Erfahrungen (einschließlich der ästhetischen) annimmt und die Gültigkeit ihrer Beschreibung mit Prädikaten wie Einheit und Intensität akzeptiert, die zugegebenermaßen häufiger benutzt werden, um 18

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Beardsleys genaue Liste der die ästhetische Erfahrung definierenden Charakteristika verändert sich im Laufe der Zeit leicht, aber fast alle seine Aufzählungen halten an den genannten Merkmalen fest. Abgesehen von seinem Buch Aesthetics findet sich die detaillierteste Behandlung ästhetischer Erfahrung in „Aesthetic Experience Regained“ und „Aesthetic Experience“, beide wiederabgedruckt in: APV 77–92, 285–297. Siehe Dickie, Beardsley’s Phantom Aesthetic Experience; Art and the Aesthetic. An Institutional Analysis, Ithaca 1974.

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die Objekte der Erfahrung zu beschreiben.20 Natürlich kann man dieses Argument beanstanden, indem man es als nebulöse Populärpsychologie abtut und sich dem einst modischen Trend in der Philosophie des Geistes anschließt, der die Relevanz des Bewusstseins bzw. der Erfahrung der ersten Person negiert. Aus vielerlei Gründen (auch ästhetischen) denke ich, dass diesem Trend entgegengetreten werden sollte, und tatsächlich ist ein Comeback des Bewusstseins gerade in der jüngeren Philosophie des Geistes zu vermerken.21 Das Argument, Beardsleys phänomenologische Zuschreibungen von Affekt, Einheit und Genuss seien tatsächlich phänomenologisch falsch, lässt sich zusammen mit dem zweiten Hauptkritikpunkt an seiner Theorie erwägen: Ästhetische Erfahrung (bzw. die Fähigkeit, sie hervorzurufen) kann nicht dazu verhelfen, Kunst zu identifizieren und als Kunst abzugrenzen. Die Standardstrategie besteht darin zu zeigen, dass eine solche Definition gleichzeitig zu eng und zu weit ist. So wurde Beardsleys Begriff ästhetischer Erfahrung zum Beispiel angelastet, dass damit auch sexuelle Erfahrungen der Kunst zugerechnet werden könnten, eine Konsequenz, die Dewey begrüßt hätte, die jedoch dem analytischen Ziel Beardsleys zuwiderläuft, etablierte Klassifikationen zu erklären.22 Dennoch wurde Beardsleys Theorie meistens dafür angegriffen, zu eng zu sein. Fälschlicherweise schließe sie all jene Kunstwerke aus, die nicht in der Lage sind, freudvolle Erfahrungen der Einheit und des Affekts hervorzurufen. Einige gelungene Kunstwerke rufen weder solche Erfahrungen hervor, noch legen sie es überhaupt darauf an. Das größere Problem taucht jedoch bei misslungenen Kunstwerken auf. Beardsleys Konzept ästhetischer Erfahrung ist maßgeblich evaluativ und definitorisch, es kann misslungene Kunst als ästhetische Objekte theoretisch nicht unterbringen, und doch denken wir analytischen Philosophen, dass sie als solche klassifiziert werden müssen. Eine Theorie der Kunst und der Ästhetik muss schlechte Fälle zulassen können. Kunstwerke sind nicht schon automatisch gelungen, da andernfalls Negativbewertungen unmöglich wären. Das führt uns zur dritten Hauptschwierigkeit: der Unzulänglichkeit von Beardsleys Theorie ästhetischer Erfahrung bezüglich ästhetischer Werturteile. Da diese Erfahrung per definitionem angenehm ist, kann sie nicht erklären, wie ästhetische Negativurteile zustande kommen (z. B. Urteile der Hässlichkeit und des Widerwillens), die nicht ein20

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Beardsley zitiert selbst Maslows psychologische Untersuchungen zu Grenzerfahrungen (APV 85). Vgl. A. H. Maslow, Psychologie des Seins, Frankfurt/M. 1994. Die Verwendung des Erfahrungsbegriffes und die Charakterisierung von Erfahrung im Sinne von Kohärenz und Intensität finden sich auch in der aktuelleren experimentellen Psychologie. Vgl. z. B. Daniel Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart 1993. Für eine energische Verteidigung des zentralen Stellenwertes des Bewusstseins, siehe John Searle, Die Wiederentdeckung des Geistes, Frankfurt/M. 1996. Ich verteidige den Begriff unmittelbarer Erfahrung gegen die Vorwürfe, diese sei kognitiv leer und stelle einen Rückfall in den fundamentalistischen Mythos des Gegebenen dar, in: Dewey on Experience, in: Philosophical Forum 26 (1994), S. 127–148, sowie in: Somatische Erfahrung. Fundament oder Rekonstruktion?, in: Vor der Interpretation. Siehe Joel Kupperman, Art and Aesthetic Experience, in: The British Journal of Aesthetics, 15 (1975), und Beardsleys Erwiderung in: APV 296.

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fach durch die bloße Abwesenheit ästhetischer Erfahrung plausibel gemacht werden können. Und doch sind negative Urteile im Feld der Ästhetik ganz wesentlich, und jede Konzeption, die dieses Feld zu definieren beansprucht, muss über gute wie schlechte Kunst Rechenschaft ablegen können.23 Zwei Schlussfolgerungen erwachsen aus dieser Kritik. Wenn ästhetische Erfahrung dazu dienen soll, das gesamte Reich der Kunst zu bestimmen, muss ihr wesentlich evaluativer Gehalt aufgegeben werden. Wenn man überdies Subjektivität und unmittelbaren Empfindungen gegenüber argwöhnisch ist, dann muss man einen Begriff ästhetischer Erfahrung finden, der nicht auf einer Phänomenologie der ersten Person beruht, sondern eher auf nichtsubjektiven Erklärungen von Bedeutung. Diese beiden Schlüsse bestimmen die neue semantische Ausrichtung von Nelson Goodmans Theorie ästhetischer Erfahrung. Obwohl er Beardsleys analytisches Anliegen einer abgrenzenden Definition, einer „allgemeinen Unterscheidung zwischen ästhetischen und nichtästhetischen Objekten oder Erfahrungen“ (SK 244), teilt, besteht er darauf, dass eine derartige Unterscheidung „unabhängig von allen Erwägungen über den ästhetischen Wert“ gemacht werden muss, denn die Existenz misslungener Kunst bedeutet, dass „ästhetisch zu sein nicht aus[schließt], […] ästhetisch schlecht zu sein“ (SK 245 f., 256). Ästhetische Erfahrung muss zudem unabhängig von phänomenologischen Erklärungen mentaler Zustände oder unmittelbarer Gefühle und Bedeutungen definiert werden, denn Goodman weist die Existenz intentionaler Einheiten zurück und expliziert jede Bedeutung mit einer Vielzahl von Bezügen, so wie er die Idee von etwas unmittelbar Gegebenem unabhängig von jeder symbolischen Repräsentation ablehnt. Ebenso wenig kann ästhetische Erfahrung anhand ihres spezifischen emotiven Charakters unterschieden werden, da „einige Kunstwerke wenig oder keinen emotiven Gehalt haben“. Selbst wenn Emotionen unmittelbar angesprochen werden, besteht ihre Rolle Goodman zufolge darin, die kognitive Funktion zu erfüllen, „mit deren Hilfe man entdecken kann, welche Eigenschaften ein Werk besitzt und zum Ausdruck bringt“, indem sie „einen Modus der Sensibilität“ beisteuern (SK 249, 251 f.). Einen solchen kognitiven Gebrauch der Emotionen finden wir jedoch (wie Dewey unermüdlich wiederholte) auch in den Wissenschaften. Goodman folgert daraus, dass Kognition eine ästhetische Konstante darstellt, während das für Emotionen nicht gilt. So definiert er ästhetische Erfahrung als „eine kognitive Erfahrung, die sich (gegenüber den Wissenschaften und anderen Bereichen) durch die Dominanz gewisser symbolischer Merkmale unterscheidet“ (SK 263).24 23

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Darüber hinaus besteht das Problem, dass ästhetische Erfahrung selbst zu undeutlich, unaussprechlich, subjektiv variabel und in ihrer Größe unmessbar ist, um eine hinreichende Grundlage zu bieten, von der aus spezifische Werturteile zu rechtfertigen wären. Beardsley erkannte daher an, dass Kunstkritik in der Praxis die Einheit, Komplexität und Intensität des Kunstwerkes und nicht der Erfahrung aufzeigen müsse. Dennoch hielt er daran fest, dass der Aufweis dieser Merkmale im Kunstwerk Rückschlüsse auf die Erfahrung zulässt, welche letztlich für das ästhetische Werturteil konstitutiv seien. Da diese Eigenschaften keinerlei Bezug auf das phänomenologische Bewusstsein nehmen, kann Goodmans Begriff ästhetischer Erfahrung eher als semantisch denn als phänomenologisch charakterisiert werden. Wie Dewey und Beardsley insistiert Goodman auf der dynamischen Natur der äs-

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Goodman nennt diese Eigenschaften „Symptome des Ästhetischen“ und kennzeichnet fünf: „(1) Syntaktische Dichte, bei der gewisse minimale Differenzen zur Unterscheidung von Symbolen dienen – zum Beispiel ein skalenloses Quecksilberthermometer im Gegensatz zu einem elektronischen Instrument mit Digitalanzeige; (2) semantische Dichte, bei der Symbole für Dinge bereitstehen, die sich nur durch gewisse minimale Differenzen voneinander unterscheiden – zum Beispiel nicht nur das bereits erwähnte skalenlose Thermometer, sondern auch gewöhnliches Deutsch, auch wenn es nicht syntaktisch dicht ist; (3) relative Fülle, bei der vergleichsweise viele Aspekte eines Symbols signifikant sind – zum Beispiel die aus einer einzigen Linie bestehende Zeichnung eines Berges von Hokusai, bei der jede Eigenart der Gestalt, Linie, Dicke usw. zählt, im Gegensatz etwa zu der gleichen Linie als Kurve der täglichen Börsenindexwerte, bei der allein die Höhe der Linie über der Basis zählt; (4) Exemplifikation, bei der ein Symbol, ob es denotiert oder nicht, dadurch symbolisiert, daß es als Probe von Eigenschaften dient, die es buchstäblich oder metaphorisch besitzt; und schließlich (5) multiple und komplexe Bezugnahme, bei der ein Symbol mehrere zusammenhängende und aufeinander einwirkende Bezugnahmefunktionen erfüllt.“ (WW 88)

Wenn das „Funktionieren [eines Objekts] alle diese Symptome vorführt“, behauptet Goodman, „dann ist der Gegenstand sehr wahrscheinlich ein Kunstwerk. Wenn er nahezu keines zeigt, ist er vermutlich keines“ (DD 281 f.). Wenngleich diese Symptome zu kurz greifen, um notwendige oder hinreichende Bedingung einer Definition unseres Kunstbegriffes zu sein, so schiebt Goodman dies auf die Tatsache, dass der gewöhnliche Gebrauch des Begriffs zu „vage und unbeständig“ sei, um eine klare Definition zu erlauben, so dass dieser einer Reform bedürfe (WW 89). Die genannten Symptome sind also als ein provisorisches Angebot im Zuge der „Suche nach einer Definition“ (DD 193) zu verstehen, die eine Klärung ermöglichen soll. Die Kritik an Goodmans Theorie sollte sich den zugrunde liegenden Prämissen seines Vorschlags zuwenden, statt sich auf die provisorischen Symptome selbst zu richten. Drei Schwierigkeiten scheinen zentral zu sein. Die erste ist die Prämisse radikaler ästhetischer Unterscheidbarkeit, mit der daraus folgenden Annahme, die Funktion des Begriffs ästhetischer Erfahrung bestehe darin, den Bereich der Kunst zu umgrenzen. Goodmans Theorie ist wie Beardsleys von dem Wunsch getrieben, Kunst klar zu definieren und auszuzeichnen, und strebt danach, „eine Möglichkeit [zu finden], die ästhetische von allen anderen Erfahrungen zu unterscheiden“ (SK 252). Auch wenn ihm daran liegt, die starken Affinitäten zwischen Kunst und Wissenschaft zu betonen, fühlt er sich doch dazu genötigt, eine Definition zu suchen, die ästhetische gegenüber wissenschaftlichen Erfahrungen markiert. Da er hierzu die aufgelisteten symbolischen Symptome verwendet, ist die von ihm gehegte Sorge berechtigt, dass diese als notwendige und hinreichende Bedingungen nicht angemessen sind. thetischen Erfahrung, allerdings betont er gerade nicht den passiven Aspekt der Hingabe an ein Kunstwerk. Möglicherweise nähert uns dieser Aspekt für Goodmans Geschmack zu nahe an Subjektivität und Affekte an. Die Etymologie des Begriffs „experience“ legt jedoch auch die Bedeutung nahe „sich einer Sache zu unterziehen“, und vielleicht ist auch die Bemerkung nicht zu verstiegen, dass in dem „under“ von „understanding“ etwas von Unterordnung mitschwingt. Vgl. auch Anm. 30.

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Sorgen dieser Art tauchen allerdings erst dann auf, wenn man annimmt, dass der Begriff der ästhetischen Erfahrung mit dem der Kunst deckungsgleich sein muss, dass ästhetische Erfahrung weder in der Wissenschaft noch in anderen üblicherweise nichtkünstlerischen Betätigungsfeldern eine Rolle spielt, sondern ausschließlich auf Kunst angewendet werden darf, und sei sie noch so schlecht. Es gibt genügend Alltagserfahrungen, die diese Annahme in Frage stellen, aber Goodman muss sie ignorieren. Da er sich methodologisch dem Projekt verpflichtet, Kunst über ästhetische Erfahrung zu bestimmen, kann er keinen Begriff der ästhetischen Erfahrung anerkennen, der die Beschränkungen der einzelnen Disziplinen überschreitet und dabei seinen evaluativen Gehalt einer angenehm intensivierten, affektiven und bedeutsamen Erfahrung beibehält. Und doch existiert nicht nur bei Dewey, sondern auch in der Alltagssprache ein solcher Begriff. Eine zweite Schwierigkeit für Goodmans Definition ästhetischer Erfahrung besteht darin, dass sie die Annahme der Erfahrung selbst – also des bewussten, phänomenologischen Empfindens der Dinge – vollständig überflüssig zu machen scheint. Wenn das Ästhetische ausschließlich über die Dominanz spezifischer Formen der Symbolisierung und ohne wesentlichen Bezug auf Sinnlichkeit, unmittelbares Empfinden und Affekt definiert wird, wozu dann überhaupt noch ästhetische Erfahrung? Wir können ebenso gut über die semantischen Symptome von Kunst und Ästhetik sprechen und den Terminus „Erfahrung“ einfach fallenlassen (was Goodman in neueren Arbeiten tatsächlich tut). Aber abgesehen vom ehemals modischen Argwohn gegenüber dem Bewusstsein als solchem – gibt es irgendeinen Grund, weshalb der Begriff der ästhetischen Erfahrung die phänomenologische Dimension mit ihren unmittelbaren Qualia und Affekten ausklammern muss? Goodmans Diskussion legt (wenn auch nicht explizit) folgendes Argument nahe: Durch den Gebrauch von Symbolen ist ästhetische Erfahrung wesentlich bedeutungsvoll und kognitiv. Der Gebrauch von Symbolen impliziert Vermittlung und das dynamische Verarbeiten von Informationen, wohingegen phänomenologisches Empfinden und Affektivität eher Passivität und Unmittelbarkeit beinhalten, ohne zu Bedeutung führen zu können. Demnach kann ästhetische Erfahrung nicht wesentlich phänomenologisch, unmittelbar oder affektiv sein. Dieses Argument ist äußerst problematisch. Erstens folgt aus den Prämissen, akzeptiert man sie einmal, nur, dass ästhetische Erfahrung mehr als die genannten phänomenologischen Eigenschaften erfordert, nicht aber, dass diese für eine solche Erfahrung nicht zentral sind. Zweitens können wir die Prämissen selbst infrage stellen und dagegenhalten, dass phänomenologisches Bewusstsein durchaus ein unmittelbares Erfassen von Bedeutungen beinhalten kann, auch wenn dieses unmittelbare Verständnis auf der Ebene des Bewusstseins eine unbewusste Vermittlung benötigt oder auf einem Hintergrund vergangener bewusster Vermittlungen aufbaut. Darüber hinaus kann man dafür argumentieren, dass der Gehalt phänomenologischer Empfindungen sich nicht in der Unmittelbarkeit erschöpft, wie auch Affektivität (sowohl auf psychologischer als auch auf physiologischer Ebene) mehr umfasst als bloße Passivität. Wenn Goodman zufolge Affektivität für die ästhetische Erfahrung unwesentlich, weil nicht in jeder Erfahrung von Kunst gegenwärtig ist, dann können wir im Gegenzug die Annahme in Frage stellen, der Begriff der ästhetischen Erfahrung sei ausschließlich im Rahmen einer Defini-

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tion von Kunst zu verstehen. Damit müsste er sich nämlich notwendigerweise auf alle Begegnungen mit Kunstwerken anwenden lassen, wie flüchtig und irrelevant die Begegnung und das Kunstwerk auch sein mögen. Schließlich führt Goodmans Semiotik zu einer dritten, gravierenden Schwierigkeit: Sie vernachlässigt nicht nur die Phänomenologie und die nichtkünstlerischen Möglichkeiten ästhetischer Erfahrung, sondern ist auch gänzlich ungeeignet zur Demarkation des Bereichs der Kunst. Denn dafür müssten wir bereits wissen, ob es sich um Kunstwerke handelt oder nicht. Das Argument ist folgendes: Goodman zufolge ist ein Objekt dann ein Kunstwerk, wenn seine symbolische Funktion durch symptomatische ästhetische Symbolisierungsweisen gekennzeichnet ist. Doch einem Objekt steht die Weise des Symbolgebrauchs nicht ins Gesicht geschrieben. Ein optisch identisches Objekt kann in verschiedenen symbolischen Systemen unterschiedlich funktionieren. Wie Goodman bemerkt, kann etwa dieselbe gezeichnete Linie ein Zeichen von „Fülle“ sein, indem sie einen Berg künstlerisch darstellt, sie kann aber auch lediglich die Börsenwerte in einem Diagramm repräsentieren. Wir wissen jedoch nicht, welche symbolische Funktion das Objekt hat, bis wir wissen, ob es ein Kunstwerk ist oder bloß ein Diagramm. Daher kann die symbolische Funktion (und also die ästhetische Erfahrung als symbolische Funktion) nicht Grundlage einer Definition des Kunststatus eines Objekts sein. Dieses Argument ist natürlich eine Variante von Dantos Argument der Ununterscheidbarkeit, wonach Wahrnehmungseigenschaften, einschließlich derer, die im Zusammenhang mit ästhetischer Erfahrung stehen, allein unzureichend sind für die Unterscheidung zwischen Kunst und Nichtkunst, zwischen Warhols Brillo Boxes und ihrem nichtkünstlerischen Gegenstück. Unsere Erfahrungen sollten differieren, so Danto, „je nachdem, ob die Reaktion auf ein Kunstwerk erfolgt oder auf ein reines reales Ding, das sich von jenem nicht unterscheiden läßt“. Aber „wir können uns […] nicht auf [solche Differenzen] berufen, um zu unserer Definition der Kunst zu gelangen, sofern wir [zuerst] die Definition der Kunst brauchen, um die angemessene ästhetische Reaktion auf Kunstwerke im Gegensatz zu reinen realen Dingen zu identifizieren.“ (VG 149) Ästhetische Erfahrung hat Danto zufolge das weiterreichende Problem traditionellerweise als inhärent positiv zu gelten, wohingegen viele misslungene Kunstwerke negative Reaktionen hervorrufen (VG 145 f.). Da ästhetische Erfahrung Kunst nicht adäquat bestimmen kann, ignoriert Danto sie schlicht und ordnet sie einem anderen Begriff unter, von dem er glaubt, er könne diese Aufgabe erfüllen (und zwar mit der gleichen Betonung des Semantischen wie Goodman). Dieser Begriff lautet Interpretation. So gibt Danto zufolge „keine Wertschätzung ohne Interpretation“, denn „Interpretation ist […] konstitutiv für das Kunstwerk“; und „Interpretation besteht darin, die Beziehung zwischen einem Kunstwerk und seinem materiellen Gegenstück zu bestimmen“ (VG 176; PE 67). Wie ich in Vor der Interpretation argumentiere, halte ich diese Behauptung für problematisch. Aber selbst wenn man ihr beipflichtet, wird dadurch die Idee ästhetischer Erfahrung noch nicht wertlos. Die Unzulänglichkeit ästhetischer Erfahrung für eine nichtevaluative Definition unseres gegenwärtigen Kunstbegriffs hat nicht zur Folge, dass sie keine wichtige Rolle in der Ästhetik spielt, wobei wir noch ausführen müssen, worin diese Rolle bestehen kann.

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Danto führt allerdings noch ein weiteres Argument für seine Position an. Der Begriff der ästhetischen Erfahrung sei nicht nur nutzlos, sondern stelle sogar eine „Gefahr“ dar, weil allein schon der Begriff des Ästhetischen Kunst trivialisiere, insofern sie nur als „ganz für das Vergnügen“ statt in Hinblick auf Wahrheit und Bedeutung betrachtet wird (PE 35). Dieses Argument setzt das Ästhetische per se nicht nur fälschlicherweise mit einer Karikatur des denkbar engsten kantischen Formalismus gleich, es legt auch noch einen verfehlten Antagonismus zwischen Vergnügen und Bedeutung, Gefühl und Kognition, Genuss und Verständnis nahe, während sich diese Begriffspaare doch gerade in der Kunst eher wechselseitig konstituieren. Wie T. S. Eliot bemerkte: „Ein Gedicht zu verstehen läuft auf das gleiche hinaus, wie es aus den richtigen Gründen zu genießen.“25 Wir können diesen Punkt und die Zentralität des phänomenologischen ästhetischen Empfindens durch folgendes Gedankenexperiment verdeutlichen, das Dantos Argument der Ununterscheidbarkeit umkehrt; indem wir es nämlich nicht auf Objekte, sondern auf Subjekte anwenden: Stellen Sie sich zwei äußerlich identische Kunstbetrachter vor, die zu identischen Interpretationen von ihnen vorliegenden sehr aussagekräftigen Kunstwerken und Gedichten kommen. Einer der beiden ist ein gewöhnlicher Mensch, der von dem, was er sieht und interpretiert, ergriffen wird. Der andere dagegen ist nur ein Cyborg, der, da er keine Qualia empfindet, nicht nur kein Wohlgefallen, sondern überhaupt keine Emotionen verspürt, und stattdessen rein mechanisch die Daten der Wahrnehmung und der Kunstwelt verarbeitet, um zu seinem Interpretationsvorschlag zu gelangen. Nun würden wir doch sicherlich sagen, dass der Cyborg die Kunstwerke in einer entscheidenden Hinsicht nicht wirklich versteht. Er begreift auf eine ganz grundsätzliche Weise nicht den „Witz“ der Kunstwerke, selbst wenn er anerkennt, dass bestimmte Empfindungen, die er nicht hat, angemessen wären. Denn der springende Punkt liegt in vielerlei Hinsicht gerade im Empfinden und Auskosten der ästhetischen Qualia und Bedeutungen und nicht im Produzieren eines interpretativen Outputs über Semantik und Kontext eines Werkes. Aus diesem Grund würden wir, selbst wenn die Interpretation des Cyborgs auf deskriptiver Ebene präziser sein sollte als die des Menschen, immer noch sagen, dass die menschliche Reaktion auf Kunst prinzipiell überlegen ist und dass der Cyborg, da er absolut gar nichts fühlt, nicht recht erfasst, was Kunst überhaupt sein soll. Stellen Sie sich nun außerdem vor, jede Form der ästhetischen Erfahrung sei aus unserer Zivilisation getilgt, da wir alle in Cyborgs verwandelt worden sind. Die Kunst würde vielleicht noch einige Zeit existieren und dahinsiechen, aber würde sie gedeihen und dauerhaft überleben? Welchen Sinn hätte es, Kunst zu schaffen und sich mit ihr zu beschäftigen,

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T. S. Eliot, The Frontiers of Poetry, in: Of Poetry and Poets, London 1957, S. 115. Eliot fügt hinzu, damit sei gemeint, „es im richtigen Maße und auf richtige Weise – auch im Verhältnis zu anderen Gedichten – zu genießen. […] Es sollte wohl kaum nötig sein hinzuzufügen, dass dies beinhaltet, keine schlechte Poesie zu genießen – außer ihre schlechte Qualität ist so beschaffen, dass sie unseren Sinn für Humor anspricht.“ Zu einer ausführlicheren Diskussion von Eliots Theorie vgl.: Richard Shusterman, T. S. Eliot and the Philosophy of Criticism, New York 1988, Kap. 5 und 6.

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wenn sie keine bereichernden phänomenologischen Empfindungen, keinen Genuss verspräche? Die ungewisse Zukunft von Kunst in einem derartigen Science Fiction-Szenario verdeutlicht die zentrale Rolle der ästhetischen Erfahrung für das Phänomen und den Begriff der Kunst. Wenngleich sie sicherlich weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für die Definition des Begriffes darstellt, so könnte man sie doch als eine allgemeinere Hintergrundbedingung ansehen. Mit anderen Worten: Auch wenn es vielen Kunstwerken nicht gelingt, ästhetische Erfahrung im Sinne einer erhebenden, positiv einnehmenden, bedeutsamen und affektiven Erfahrung hervorzurufen – nur weil es diese Art der Erfahrung gibt und weil sie von Kunstwerken ausgelöst wird, gibt es überhaupt Kunst.26 Wenn Kunst sich ausnahmslos über dieses Interesse hinwegsetzte (und nicht nur gelegentlich, um radikal zu erscheinen), würde Kunst, wie wir sie kennen, verschwinden. Im Unterschied zu notwendigen und hinreichenden Bedingungen, die darauf abzielen, den Bereich der Kunst zu demarkieren, geht es einer solchen Hintergrundannahme eher um den „Witz“ und den springenden Punkt der Kunst als um ihre Ausdehnung. Und für diesen Zweck ist der Begriff der ästhetischen Erfahrung keineswegs nutzlos.27

4. Meine futuristischen Parabeln sind keineswegs so schwer vorstellbar, reflektieren sie doch tatsächliche Entwicklungen in der neueren Ästhetik und unserem gegenwärtigen Alltagsleben. So wehrt sich etwa Danto gegen die „Macht des Ästhetizismus über die Kunstphilosophie“ (PE 55) und schließt sich damit Goodman und anderen in einer Art radikaler Anästhetisierung der Ästhetik an. Die empfundene Erfahrung wird schlicht 26

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Eine wachsende Zahl von Soziobiologen behauptet darüber hinaus, dass die Befriedigung, die aus der ästhetischen Erfahrung erwächst, nicht nur die Entstehung und die bleibende Kraft von Kunst, sondern sogar das Überleben der Menschheit erklären kann. Solche Erfahrungen, so der Oxforder Anatom J. Z. Young, „erfüllen eine zentrale biologische Funktion – sie bekräftigen, dass das Leben lebenswert ist, was schließlich die entscheidende Garantie für seinen Fortbestand abgibt“ (An Introduction to the Study of Man, Oxford 1971, S. 38). Eine neuere und detaillierte Argumentation für den evolutionären Wert von Kunst und ihrer affektiven Erfahrung findet sich in: Ellen Dissanayake, Homo Aestheticus. Where Art Comes From and Why, New York 1992. Vgl. auch Nathan Kogan, Aesthetics and Its Origins. Some Psychobiological and Evolutionary Considerations, in: Social Research, 61 (1994), S. 139–165. Die Annahme, dass die ästhetische Erfahrung als Kriterium zur formalen Definition der Kunst und ihrer Ausdehnung zwar kläglich scheitert, aber dennoch für das Verstehen der Bedeutung und des Wertes der Kunst unverzichtbar ist, entwickle ich ausführlich in: Pragmatist Aesthetics, Kap. 1 und 2 (Kunst Leben, Kap. 1). Ich betone dort (und dieser Punkt ist es wert, wiederholt zu werden), dass der Gebrauchswert von Kunst weit darüber hinaus reicht, ästhetische Erfahrungen hervorzurufen. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Richard Wollheim eine ähnliche Unterscheidung zwischen den „Anwendungsbedingungen“ eines Begriffs und den „Hintergrundannahmen seiner Anwendbarkeit“ vornimmt (vgl. Danto’s Gallery of Indiscernibles, in: Mark Rollins (Hg.), Danto and his Critics, Oxford 1993, S. 28–38).

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ignoriert und einer aus der Beobachterperspektive eingeführten Bedeutungstheorie der künstlerischen Symbolisierung und ihrer Interpretation untergeordnet. Stellte ästhetische Erfahrung einst eine kraftvolle Form der Verkörperung von Sinn und Wert der Kunst dar, so wird sie gegenwärtig vollständig „hermeneutisiert“. Die Aufgabe des Begriffs der ästhetischen Erfahrung zugunsten einer semiotischen Definition der Kunst, sollte allerdings nicht als willkürlicher Akt einiger sprachanalytischer Bedeutungstheoretiker verstanden werden. Goodman und Danto haben die Entwicklungen in der Kunstwelt sehr genau reflektiert. Kunstwerke erforderten zunehmend mehr Interpretation, da die Kunst immer konzeptueller geworden ist. Danto spricht in diesem Zusammenhang vom hegelianischen Streben der Kunst danach, zur eigenen Philosophie zu werden: Kunst als Kunsttheorie. Goodman und Danto bewiesen auch dann ein gutes Gespür für die Realitäten des Kunstbetriebs, wenn sie gegen Beardsley und Dewey dafür argumentierten, dass ein Großteil der Gegenwartskunst Erfahrungen genussvollen Affekts und kohärenter Bedeutsamkeit weder bewirkt noch zu bewirken beabsichtigt. Um so schlimmer für die Gegenwartskunst, möchte man sagen, denn nachdem diese ihre philosophische Transformation vollzogen und ihre finanzielle Basis durch Spekulationen in den 1980er Jahren verloren hat, bleibt ihr nun nur noch die Feststellung, dass ihr auch der Erfahrungsgehalt und das Publikum abhanden gekommen sind. Das gilt umso mehr, als die Öffentlichkeit auch weiterhin ein tiefes Bedürfnis nach ästhetischen Erfahrungen verspürt. Da diese nun aber als passé gelten, muss das Bedürfnis nach ihnen eben außerhalb des offiziellen Gebietes der Gegenwartskunst, jenseits des white cube der Galerieräume, erfüllt werden. Infolgedessen wendet sich das ästhetische Interesse mehr und mehr der populären Kunst zu, welche die Erfahrungsgehalte des Genießens, des Affekts und der bedeutsamen Kohärenz noch nicht zu umgehen versucht, auch wenn sie diese oft genug verfehlt. Aus Trauer darüber, dass die Kunstwelt ihr Publikum verloren hat, haben die prominenten Künstler Komar und Melamid zusammen mit der Zeitschrift The Nation eine wissenschaftliche Marktanalyse zum populären ästhetischen Geschmack unternommen. Dabei handelte es sich um den (möglicherweise ironischen) Versuch, eine neue Kunstform zu entwickeln, welche die Menschen so wirkungsvoll und großflächig ansprechen sollte, wie es etwa die populäre Musik tut. Ein Ergebnis dieser Untersuchung war, dass ein verbreitetes Verlangen nach einer Kunst existiert, die positive affektive Erfahrungen durch Kohärenz hervorruft.28 Wir könnten dieses Verlangen natürlich als dumpfen Konservatismus brandmarken und darauf insistieren, dass Kunst nicht darauf reduziert werden darf, Harmonie und gefällige Emotionen zu liefern. Wir könnten zu Recht behaupten, dass einige der aufregendsten und wirksamsten Begegnungen mit Kunst gerade unangenehme Schocks und Erfahrungen der Fragmentierung umfassen. Aber können wir der Kunst als solcher noch einen Sinn zusprechen, ohne das traditionelle und nach wie vor konstitutive Primat einer lebendigen, bedeutsamen und phänomenologischen Erfahrung aufrechtzuerhalten, die

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Vgl. Painting by Numbers. The Search for a People’s Art, in: The Nation, 14. März 1994, S. 334– 348, insbesondere die Fragen 68 und 70, die sich auf die Einheitlichkeit der Kunst und ihre Fähigkeit, uns „glücklich zu machen“, beziehen.

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direkt als wertvoll empfunden wird, wenn auch nicht immer als angenehm und einheitlich? Natürlich folgt aus der Präsenz einer solchen Erfahrung nicht das Vorhandensein von Kunst. Darum kann ästhetische Erfahrung allein Populärkultur auch nicht als Kunst legitimieren, ebenso wenig wie sie die Behauptung begründen kann, etwas sei ein gutes Kunstwerk. In all diesen Fällen ist der kritische Diskurs gefragt, da Erfahrung alleine stumm bleibt. Dennoch kann die Kraft ästhetischer Erfahrung durch den empfundenen Wert dazu drängen, in einen legitimierenden Diskurs einzutreten, wie sie auch das Publikum zu jener Kunst drängt, die solche Erfahrungen ermöglicht. Wenn der ästhetischen Erfahrung diese Kraft zukommt, so hat ihr philosophischer Begriff die Funktion, uns an sie zu erinnern und auf ihren Wert zu verweisen. Wenn Kunst in extremis ihrer stützenden Fortschrittserzählung (durch Vollendung) beraubt ist und deshalb richtungslos im „Posthistorie“ (Danto) herumirrt, wo zunehmend Beliebigkeit herrscht; wenn dieses Herumirren der Kunst so einsam wie ziellos ist, abgeschnitten vom gängigen populären Geschmack einer demokratischen Kultur, dann sollte man an den Begriff der ästhetischen Erfahrung erinnern: nicht im Dienste einer formalen Definition, sondern einer Neuorientierung der Kunst durch jene Werte und sozialen Gruppen, die ihren Sinn und ihre Vitalität rehabilitieren könnten.29 Die Abwendung der Kunst von der ästhetischen Erfahrung einer genussvollen affektiven Einheitlichkeit ist allerdings ebenso wenig ein perverser Willkürakt wie Dantos und Goodmans anästhetische Semantik. Auch die zeitgenössischen Künstler reagieren einfach auf Veränderungen unserer Lebenswelt, die sich von einer einheitlichen Erfahrungskultur hin zu einer zunehmend fragmentierten Informationskultur entwickelt. Das Ergebnis ist eine Kunst, die zwar Schlaglichter auf die Zersplitterungen und Komplexitäten des Informationsflusses wirft, die jedoch vielfach zu wirr ist, um jene Kohärenz herzustellen, auf die traditionelle Formen der ästhetischen Erfahrung mit ihrer angenehmen Empfindung des gebündelten und fundierten Affekts angewiesen sind. Schon 1930 thematisierte Walter Benjamin einen starken Kontrast von Erfahrung und Information, und drückte damit seine Befürchtung aus, dass wir durch die Fragmentierung des modernen Lebens und die zusammenhangslose Sensationslust der Zeitungen unsere Fähigkeit zu wirklichen Erfahrungen und Empfindungen verlieren könnten. Seit dieser Zeit ist es zu einigen noch viel weiterreichenden Revolutionen im Informationssektor gekommen: von Fernsehen und Faxgerät bis zu Internet und den neuen interaktiven Systemen der virtuellen Realität. 29

Diese Werte umfassen nicht nur erhebende, positive Affekte, sondern auch eine gesteigerte Wertschätzung des Nichtbegrifflichen und des Sinnlichen. Ein weiterer möglicher Wert der ästhetischen Erfahrung erwächst aus ihrer Kraft, uns mitzureißen, wodurch wir uns für Dinge öffnen oder ihnen unterordnen können, die wir sonst als bloße Objekte unserer Beherrschung wahrnehmen würden. Das gilt natürlich sowohl für Natur- wie für Kunsterfahrungen und spricht die transformative Funktion von Erfahrung an, in der wir, wie Dewey betonte, sowohl passiv als auch aktiv sind, gleichzeitig Unterworfene und Handelnde. Martin Heidegger spricht etwas Ähnliches an: „Mit etwas […] eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, daß es uns trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt.“ (Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, Frankfurt/M. 1985, S. 149)

AM ENDE ÄSTHETISCHER ERFAHRUNG

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In Anbetracht dieses Bombardements mit Informationen ist es nicht verwunderlich, dass ein „Schwinden der Affekte“ (Fredric Jameson) als das Symptom unserer postmodernen Lage diagnostiziert wird.30 Weit über den akademischen Bereich hinaus macht man sich nun Sorgen darüber, dass wir von unserer Informationskultur so gründlich modifiziert werden, dass sich unsere Fähigkeiten der Erfahrung und des Affekts allmählich auflösen. Dadurch würden wir eine Assimilation an mechanische Informationsprozessoren riskieren, die ja bereits unsere vertrautesten Begleiter in Arbeit und Freizeit sind. Diese Sorge drückt sich nirgendwo so deutlich aus wie in den fiktiven Erzählungen von Cyborgs. Die einzige Möglichkeit, Menschen von den physisch identischen Cyborgs zu unterscheiden, besteht in der menschlichen Fähigkeit zu empfinden. Diese wiederum wird in den futuristischen Szenarien permanent von undurchschaubaren Kräften und den Mühen des Lebens in der Zukunft angegriffen und gefährdet. In der Erzählung Blade Runner (nicht im gleichnamigen Film) gibt es sogar eine Vorrichtung zur Aktivierung der affektiven Erfahrungspotentiale – die „EmpathieBox“, die ästhetisch-religiöse Erfahrungen der emphatischen Verschmelzung mit anderen virtuell ermöglicht.31 Es mag ziemlich rückwärtsgewandt erscheinen, die ästhetische Erfahrung als eine Art „Empathie-Box“ aufzufassen, die unsere Fähigkeit ebenso wie unsere Neigung zu lebendigen, bewegenden und gemeinsamen Erfahrungen wiederherstellt, die man einst in der Kunst gesucht hat. Aber vielleicht ist die Informationskultur auch schon zu weit gediehen, als dass ein schöner Abend in der Oper einem Leben im Dienste der Wall Street etwas entgegenhalten könnte. Vielleicht ist die ästhetische Erfahrung, und nicht nur ihr philosophischer Begriff, tatsächlich am eigenen Ende angelangt. Wie könnte die Philosophie dann ihr völliges Verschwinden aufhalten? Erstens kann sie uns an die Vielfältigkeit möglicher ästhetischer Erfahrungen erinnern, die im Rahmen dieses Begriffs als erhebende, wertvolle und bedeutsame phänomenologische Erfahrungen gelten können. So muss der drohende Verlust einer traditionellen Form nicht die vollständige Auflösung dieser Erfahrung als solcher zur Folge haben. Zweitens wird die ästhetische Erfahrung in all ihren lohnenden Formen verstärkt und erhalten, je mehr sie erfahren wird; sie wird wiederum umso mehr erfahren, je mehr wir uns solchen Erfahrungen zuwenden; und eine Möglichkeit, uns ihnen zuzuwenden, besteht in der verstärkten Anerkennung ihrer Bedeutung und ihrer Reichhaltigkeit durch eine größere Aufmerksamkeit für den Begriff der ästhetischen Erfahrung. Dieser Begriff erfüllt philosophisch also zumindest einen guten Zweck: die Ausrichtung an der durch ihn benannten Erfahrung. Damit dient er nicht so sehr dazu, Kunst zu definieren oder kritische Urteile über Kunst zu legitimieren, sondern weist eher in die Richtung, in der wir das Erstrebenswerte in Kunst und Leben zu suchen haben. Wenn Wittgenstein damit Recht hatte, dass die Arbeit des Philosophen im „Zusam-

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Fredric Jameson, Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalimus, in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hg.), Postmoderne, Hamburg 1986, S. 55 f. Vgl. meine Auseinandersetzung mit der spezifischen Problematik leiblicher und affektiver ästhetischer Erfahrung im Kontext der neuen Medien in: Philosophie als Lebenspraxis, Kap. 6. Vgl. Philipp K. Dick, Blade Runner, Zürich 1993.

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mentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck“32 besteht, und wenn das Gleiche auch für philosophische Begriffe gilt, dann sollte auch der Begriff der ästhetischen Erfahrung nicht so schnell arbeitslos werden.33 Aus dem Amerikanischen von Heidi Salaverría

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Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 127. Vgl. die Kritik an meiner Argumentation, insbesondere an der Konzentration auf Freude und Genuss in: Alexander Nehamas, Richard Shusterman über Freude und ästhetische Erfahrung; Wolfgang Welsch, Rettung durch Halbierung? Ich antworte auf diese Kritik in: Provokation und Erinnerung. Alle drei Texte sind erschienen in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 47 (1999), 1.

Kapitel II

Unterhaltungen

1. Eine der wichtigsten ästhetischen Debatten der letzten Zeit dreht sich um den ästhetischen Status und die allgemeine kulturelle Bedeutung der populären Kunst. Da diese Form der Kunst von der Mehrheit in heutigen Gesellschaften am ehesten geschätzt wird, ist ihr Status von zentraler Bedeutung für die Kultur der Demokratie. Obwohl einige einflussreiche linke Denker (wie Michail Bachtin und Antonio Gramsci) solche Formen der Kunst verteidigt haben, schließen sich zahlreiche progressive Intellektuelle (wie Theodor W. Adorno, Hannah Arendt und Pierre Bourdieu) einem Heer von Kulturkonservativen darin an, sie zurückzuweisen und zu suggerieren, dass schon die Vorstellung einer populären Kunst, Kultur oder Ästhetik im Wesentlichen einen Widerspruch und Kategorienfehler darstelle. Unter Bezugnahme auf den Pragmatismus habe ich auf diese Kritik geantwortet und die populäre Kunst verteidigt, indem ich die Position des von mir so genannten Meliorismus entwickelt habe. Dieser erkennt die Fehler und den Missbrauch der populären Kunst ebenso an wie ihre Verdienste und ihr Potential. Der Meliorismus vertritt die Ansicht, dass die populäre Kunst zwar auf Grund ihrer zahlreichen Schwächen verbessert werden muss, dass sie aber auch verbessert werden kann und sollte, da ihr – faktisch und potentiell – ein genuin ästhetischer Wert zukommt und sie achtbaren sozialen Zwecken dient.1 In der Auseinandersetzung mit den zahlreichen durch meine Argumentation provozierten kritischen Reaktionen bin ich zu der Auffassung gelangt, dass der Widerstand gegen die populäre Kunst von tief verwurzelten Einstellungen herrührt. Der konkrete Ausdruck „populäre Kunst“ ist relativ modernen Ursprungs und ziemlich vieldeutig. Im Englischen ist sein Gebrauch erst ab dem 19. Jahrhundert nachweisbar und scheint auch das besser als „Volkskunst“ bezeichnete Phänomen zu umfassen und nicht nur die modernen massenmedialen Kunstformen der Unterhaltungsindustrie, auf die sich der Begriff heute hauptsächlich bezieht.2 Zum selben Bedeutungsfeld gehören auch andere konkurrierende Begriffe: Obwohl der Begriff „populäre Kultur“ in einigen Theorien 1

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Vgl. Richard Shusterman, Kunst Leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, Frankfurt/M. 1994, sowie die zweite englischsprachige Auflage: Pragmatist Aesthetics. Living Beauty, Rethinking Art, New York 2000². Vgl. den Eintrag „popular“ in der zweiten Auflage des Oxford English Dictionary, Bd. 10, S. 125.

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und im Alltagsgebrauch vorgezogen wird, insistieren viele Theoretiker auf den abschätzigeren Ausdrücken „Massenkultur“, „Massenkunst“ und „Massenunterhaltung“.3 Man könnte sogar einwenden, dass schon der Gebrauch des Ausdrucks „populäre Kunst“ zur Beschreibung der von mir verteidigten populären Formen von Musik, Literatur, Theater, Film und Fernsehen die eigentliche ästhetische Frage umgeht, da der Begriff „Kunst“ als solcher schon einen ästhetischen Wert suggeriert, auch wenn dieser nicht in jedem Kunstwerk zum Ausdruck kommt. So haben einige Kritiker bereitwillig den ästhetischen Wert einiger der von mir diskutierten populären Musikstile und Filme anerkannt, aber behauptet, dies sei weniger ein Beweis des ästhetischen Werts der populären Kunst als dafür, dass die entsprechenden Werke den die populäre Kultur definierenden Bereich der Unterhaltung transzendierten. Andere Kritiker, die sich standhaft dagegen wehren, populären Musikstilen und Filmen einen ästhetischen Wert oder künstlerischen Status zuzusprechen, versuchen dem Vorwurf des spießigen Snobismus auszuweichen, indem sie versichern, diese Werke wirklich zu schätzen – aber eben als Unterhaltung und nicht als Kunst. Diese Argumentationsweisen haben mir deutlich gemacht, dass hinter der hartnäckigen hierarchischen Dichotomie von hoher und populärer Kunst die viel grundlegendere Unterscheidung von Kunst und Unterhaltung steht. Aus dem komplexen Netz der Sprachspiele, in denen diese Begriffe ihren Ort haben, wird jedoch ersichtlich, dass Unterhaltung nicht einfach der Kunst entgegengesetzt, sondern oft mit der Kunst als einer verwandten oder umfassenderen Kategorie identifiziert wird. So fassen vor allem in den Vereinigten Staaten Zeitungen Kunst und Unterhaltung oft in einer Rubrik zusammen und auch die Künste selbst werden manchmal als Formen der Unterhaltung bezeichnet. Da der Begriff der Unterhaltung auf enge und vielfältige Weise mit dem Begriff der Kunst verbunden und zudem weiter und auch älter als der Begriff der populären Kunst ist, kann seine Analyse nicht nur instruktiv für die Frage der populären Kunst, sondern für die Ästhetik als Ganze sein. In diesem Kapitel werde ich deshalb eine Analyse dieses Begriffs aus der Perspektive des Pragmatismus vornehmen. Obwohl der Pragmatismus eine zukunftsorientierte Philosophie ist, die Ideen auf Grund ihrer Konsequenzen und nicht ihrer Ursprünge bewertet, erkennt er an, dass philosophische Probleme und Begriffe in historischen Kontexten entstehen und sich deshalb nur richtig verstehen lassen, wenn man ihre Geschichte mit einbezieht. Meine Analyse der Unterhaltung beginnt dementsprechend mit einer etymologischen Untersuchung jener Ausdrücke, die zum semantischen Feld dieses Begriffs gehören, und einer kurzen genealogischen Kritik ihrer Verwendung in der Philosophie. Ich werde mich dann auf ein sich aus dieser Analyse ergebendes zentrales Paradox der Unterhaltung konzentrieren, welches m. E. einige wichtige Lehren für die gegenwärtige Kunst 3

Ich ziehe den Ausdruck „populär“ vor, da „Masse“ ein undifferenziertes und typischerweise nichtmenschliches Aggregat bezeichnet, wogegen das Publikum der populären Künste tatsächlich oft ziemlich differenziert ist. Um populär zu sein, braucht eine Kunst kein Massen- oder MainstreamPublikum von Leuten mit gewöhnlichem Geschmack. Es ist völlig ausreichend, dass sie ein vielfältiges und zahlreiches Publikum hat. So können etwa Musikstile wie Punk Rock oder Rap populäre Künste sein, obwohl sie sich gegen den Geschmack und die Werte der Mainstream-Gesellschaft richten.

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und ästhetische Theorie bereithält und zu einer philosophischen Anerkennung der Unterhaltung führen sollte. Um dieses Ergebnis abzusichern, muss ich mich abschließend zwei Begriffen – „Freude“ und „Leben“ – zuwenden, die zwar von zentraler Bedeutung für den Wert der Unterhaltung sind, oft aber gerade zur Kritik ihrer vermeintlichen Trivialität und Begrenztheit mobilisiert werden. Ich sollte meiner Untersuchung zwei allgemeine Bemerkungen zu kulturellen Strömungen vorausschicken, die für unser Verständnis des Begriffs der Unterhaltung prägend sind. Diese Strömungen stehen – im Rahmen eines Kampfes um die Kultur – erstens in einem hierarchischen und konflikthaften Verhältnis zueinander. Wie die populäre Kunst, wird auch die Unterhaltung von der Philosophie meist den als höherwertig erachteten Formen der Kultur gegenübergestellt, seien diese nun der Philosophie selbst oder (zu einem späteren Zeitpunkt) der hohen Kunst zugeordnet. Dadurch bleiben Theorien der Unterhaltung und der populären Kultur oft zwischen zwei Strategien gefangen. Die erste versteht die Unterhaltung als von der Hochkultur völlig abhängiges und ihr untergeordnetes Feld, das auf deren Kosten lebt und diese korrumpiert. Die zweite Strategie bestimmt die Unterhaltung als einen völlig eigenständigen Bereich, der sich der Hochkultur mit einer Geste der Herausforderung entgegensetzt und über eigene Regeln, Werte, Prinzipen und ästhetische Kriterien verfügt. In der Philosophie wird im Allgemeinen die erste Strategie vorgezogen, seitdem Platon die Kunst verurteilte, weil sie durch Imitation der Wirklichkeit die verderblichen Freuden der Unterhaltung hervorrufe. Durch das bloße Vorgaukeln von Wahrheit und Wissen führe sie nicht zur epistemischen Legitimität wahrer Erkenntnis, sondern – über die Stimulierung der untergeordneten Seelenteile – zur moralischen Degeneration. Der Unterhaltungswert der Kunst wird demnach vollständig den der Philosophie entlehnten Idealen und Kriterien der Wahrheit, des moralischen Charakters und des politischen Werts untergeordnet. Ein weit weniger verbreiteter Ansatz versteht Unterhaltung und populäre Kunst als aufsässige Versuche, der Hochkultur eigenständige und oppositionelle Freuden und Werte entgegenzusetzen. Diese haben ihren Ort in einem selbstbewusst derben, körperlichen und profanen Leben, das Ausdruck der regenerativen Werte der Natur ist. Das beste Beispiel für diese Strategie stellt wahrscheinlich Michail Bachtins Theorie des Karnevals dar. Keiner der beiden Ansätze wird in seiner extremen Ausprägung den Eigenarten der Unterhaltung und der populären Kunst gerecht. Während die platonische Herangehensweise fälschlicherweise alle Werte der philosophischen Wahrheit unterordnet und damit jede auch nur relative Autonomie der ästhetischen Werte der Form und der Freude leugnet, verfehlt der autonomistische Ansatz die komplexen und engen Beziehungen zwischen Hochkultur und Unterhaltung und die fortbestehenden Spuren der Hegemonie, die erstere noch immer über letztere ausübt. Ebenso wie der Meliorismus einen Mittelweg zwischen Verdammung und Verherrlichung einschlägt, so muss auch eine Theorie der Unterhaltung zwischen bloßer Unterwürfigkeit und nackter Verachtung gegenüber der Hochkultur hindurch lavieren. Die zweite allgemeine Bemerkung bezieht sich auf den historischen Wandel der für unser Verständnis von populärer Kunst und Unterhaltung prägenden kulturellen Strömungen. Mit ihnen verändern sich auch die Extensionen unserer Begriffe und der Ver-

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lauf der Grenzlinie zwischen den durch sie bezeichneten Phänomenen und der seriösen Kunst. Die populären Unterhaltungsformen einer Kultur (etwa das griechische oder das elisabethanische Drama) entwickeln sich oft zu den klassischen Formen der hohen Kunst einer späteren Epoche. Die Romane der Brontës und Charles Dickens’ wurden zuerst als seichte Populärliteratur rezipiert und nicht als die Meisterwerke großer Literatur, als die wir sie heute betrachten. Auch Filme haben eine ähnliche Veränderung ihres Status erfahren. Ein Werk kann sogar innerhalb einer kulturellen Epoche, abhängig davon, wie es präsentiert, interpretiert und vom Publikum aufgenommen wird, sowohl als populäre Unterhaltung als auch als hohe Kunst gelten. In den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts waren Shakespeares Theaterstücke sowohl hohe Theaterkunst als auch Varieté.4 Die genaue Bedeutung von Unterhaltung ist also sehr stark vom jeweiligen Kontext abhängig und davon, was als Kontrast gewählt wird. In der Moderne hat die seriöse Kunst zunehmend die Rolle dieses Kontrastbegriffs übernommen. Früher jedoch wurden Unterhaltung und Vergnügen mit der Philosophie und dem Ernst des Lebens konfrontiert, während den schönen Künste insgesamt der untergeordnete Status der Unterhaltung zugesprochen worden ist (obwohl man auch dann noch zwischen hohen und niedrigen Formen der Unterhaltung unterscheiden konnte). Dieser Kontrast lebt auch heute noch fort, beispielsweise wenn wir zwischen Arbeit und Vergnügen oder zwischen dem Lesen, um uns zu bilden, und dem Lesen aus Vergnügen unterscheiden.

2. Während der langen philosophischen Geschichte, die der Begriff der Unterhaltung im Westen durchlaufen hat, fand er Ausdruck in einer Reihe von Worten mit leicht unterschiedlichen, aber sich überlappenden Bedeutungen. Aus Platzgründen werde ich mich hier auf die drei großen europäischen Sprachen der modernen Philosophie, das Englische, Französische und Deutsche, beschränken. Neben „entertainment“ gibt es in der englischen Sprache noch andere diesen Begriff ausdrückende Worte, etwa „amusement“, „pastime“, „distraction“, „divertissement“ und „recreation“. (Auch verwandte Worte wie „play“ und „game“ werden manchmal benutzt.) Die Franzosen verwenden meistens „amusement“, „divertissement“ und „distraction“, aber auch „rejouissance“ und „passetemps“. Im Deutschen ist „Unterhaltung“ der gebräuchlichste Ausdruck, aber auch „Zerstreuung“, „Zeitvertreib“ und „Belustigung“ können verwendet werden. Das englische Wort „entertainment“ stammt ursprünglich vom Lateinischen inter + tenere: „zusammenhalten“, „aufrechterhalten“. Die ersten englischen Verwendungsweisen von „entertainment“ im 16. Jahrhundert hatten tatsächlich auch diese Bedeutung und bezogen sich insbesondere auf den Unterhalt von Personen (vor allem von Gästen und Soldaten) durch materielle Zuwendungen sowie auf die Wahrung anständiger Umgangsformen im eigenen Verhalten. Eine weitere frühe Bedeutung von „entertainment“ (die man etwa in Shakespeares Verlorene Liebesmüh finden kann) ist „Beschäftigung“ und „Zeitvertreib“. Von diesen frühen Verwendungsweisen scheint sich die ästhetische 4

Vgl. Lawrence W. Levine, Highbrow/Lowbrow. The Emergence of Cultural Hierarchy in America, Cambridge/MA 1988.

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Hauptbedeutung von „entertainment“ abzuleiten: „ein angenehmer Zeitvertreib“, „was Interesse erweckt und Vergnügen bereitet“, „eine auf Interesse oder Vergnügen abzielende öffentliche Aufführung oder Zurschaustellung“. Das deutsche Wort „Unterhaltung“ hat eine ganz ähnliche Entwicklung von Unterstützung und Unterhalt zum angenehmen Zeitvertreib durchlaufen (dasselbe gilt für „Belustigung“). Aus dieser Etymologie folgt die philosophische Konsequenz, dass die Unterhaltung, also die Beschäftigung mit Vergnüglichem und Interessantem, eine gute, wenn nicht gar notwendige Form der Selbsterhaltung darstellt. Dieselbe Idee findet ihren Ausdruck in dem Wort „Erholung“, das darauf verweist, dass man sich selbst erhält, indem man seine Energie durch Freude bereitende Aktivitäten regeneriert. Dass Freude zum Überleben und Wohlergehen beiträgt, wird auch von Evolutionsbiologen bestätigt. Die philosophischen Schlussfolgerungen werden allerdings komplexer, wenn wir die englischen und französischen Ausdrücke „amusement“, „divertissement“ und „distraction“ betrachten. Statt den Erhalt und Unterhalt des Selbst (oder der Gäste) zu betonen, wird unsere Aufmerksamkeit auf eine scheinbar viel unwichtigere Dimension gelenkt. Das englische Wort „amusement“ stammt vom Verb „to muse“, dessen frühe Bedeutungen „in Gedanken versunken sein“, „sich wundern“, „erstaunt oder verwirrt sein“ sind. Beide englischen Wörter gehen allerdings zurück auf das französische „muser“, das das Vergeuden von Zeit und das Trödeln in der Beschäftigung mit seichten Angelegenheiten bezeichnet.5 Vergnügungen – „amusements“ – veranlassen uns also, die ernste Beschäftigung mit der Selbsterhaltung und dem Unterhalt anderer zu unterbrechen, und verführen uns stattdessen dazu, an anderes zu denken. Die Ausdrücke „distraction“, „diversion“ und „divertissement“ suggerieren (über ihre gemeinsame Grundbedeutung „sich wegreißen“, „sich abwenden“), dass wir uns vom gewohnten Zentrum unserer Aufmerksam ab- und etwas anderem zuwenden, dass wir uns also ablenken lassen. Das deutsche „Zerstreuen“, mit welchem Walter Benjamin die Form der Unterhaltung durch den Film und andere populäre Medien beschrieben hat, legt ebenfalls nahe, dass sich das aufmerksame Subjekt in der Unterhaltung auflöst oder zerspringt, im Gegensatz zur durch die hohe Kunst erforderten Konzentration des Selbst, die Benjamin als „Sammlung“ bezeichnet (man denke an die Bedeutung von „sich sammeln“ und „sich selbst beherrschen“). Auch aus dieser Etymologie von „Zerstreuung“ lässt sich eine philosophische Schlussfolgerung ziehen, allerdings eine eher paradoxe und dialektische: um das Selbst zu erhalten, muss man es auch vergessen können und sich um anderes kümmern. Um die notwendige Konzentration aufrechtzuerhalten, zu erneuern und zu vertiefen, muss man sich auch ablenken lassen; andernfalls wird man schnell ermüden und durch Monotonie abstumpfen. Man könnte sagen, dass diese Einsichten in unsere Anatomie des Sehens eingeschrieben sind: Wir sichern unseren Lebensunterhalt und unsere Erfrischung, indem wir nach außen schauen, und nicht nach innen. Diese paradoxe Struktur der Unterhaltung – die in einer produktiven Dialektik die scheinbaren Gegensätze der fokussierten Aufmerksamkeit und der Zerstreuung, der Konzentration und der Ablenkung, des ernsten Unterhalts und der spielerischen Unterhaltung zusammenbindet – 5

Manchmal wird „muser“ auch mit dem italienischen „musare“ in Verbindung gebracht, das „in die Gegend starren“, „faulenzen“ und „herumlungern“ bedeutet.

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kommt auch in den vielfältigen Aspekten der Genealogie dieses Begriffs zum Ausdruck.

3. Die Begriffsgeschichte der Unterhaltung ist viel zu komplex, um in einer kurzen, wohlgeordneten Erzählung zusammengefasst zu werden. Deshalb werde ich mich nur auf ihre wirkungsmächtigsten Kapitel konzentrieren, um einige der zentralen Aspekte herauszustellen. Beginnen wir mit Platons Phaidros (276a–277a): In seiner Kritik der Verschriftlichung der Philosophie zieht Sokrates hier eine scharfe Grenzlinie zwischen Philosophie und Unterhaltung. Der geschriebenen Rede, auch wenn sie philosophischen Inhalts ist, kommt „nur Spieles wegen“ ein Wert zu. Hierin liegt der Gegensatz zur „ernsten“ philosophischen „dialektischen Kunst“, die in einem mündlichen Dialog besteht, der in die Seelen „Samen“ einpflanzt, „die den, der sie besitzt, so glücklich machen, wie einem Menschen nur möglich ist“.6 Die Philosophie ist der Unterhaltung also nicht nur aufgrund ihrer Gebildetheit, sondern auch ihrer Freuden und ihres Glücks überlegen. Das griechische Wort, das hier mit „Unterhaltung“ und „Spiel“ übersetzt wird ist paidia, das paideia (Erziehung) erstaunlich nahe steht, da beide in ihrem Bezug auf Kinder eine gemeinsame Wurzel haben, wie Platon im zweiten Buch der Nomoi bemerkt. Als kindisches Herumalbern und Spielen trivialisiert, wird Unterhaltung mit der wahren Erziehung kontrastiert, die ernsthaft und kontrolliert sein sollte.7 Die nachahmenden Künste sind auf Grund ihres unterhaltsamen Charakters für Platon nicht nur kindische Ablenkungen von der Wahrheit, sondern ihre täuschende Verzerrung, die zu einer Korrumpierung der Seele führt. Deshalb werden sie in der Politeia aufs Strengste verdammt und im zehnten Buch sogar aus der Polis ausgewiesen. Obwohl Aristoteles in seiner Poetik eigenständige Kriterien zur Bewertung des ästhetischen Werts von Tragödien einführte – das Vergnügen an der formaler Einheit und der kathartischen Wirkung –, beruhte seine Verteidigung der künstlerischen Formen seiner Zeit immer noch auf dem übergeordneten Wert, den die Philosophie der Wahrheit zusprach. Das in der Kunst durch die mimetische Darstellung bereitete Vergnügen wird als untergeordnete Version der höheren kognitiven Freuden der Philosophie bestimmt; und Aristoteles lobt die Dichtkunst dafür, „etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung“ zu sein, weil sie nicht nur die kontingenten Besonderheiten der Vergangenheit beschreibt, sondern vielmehr, „was geschehen könnte, d. h. das nach 6 7

Übersetzung von Friedrich Schleiermacher und Dietrich Kurz. Das lateinische Wort für Unterhaltung, oblectatio, das sich primär auf eine verlockende Ablenkung oder Zerstreuung bezieht, enthält ebenfalls Hinweise auf das Kindische, da es vom Verb lactare abstammt, das sowohl „reizen/locken“ als das Stillen an der Brust bedeutet. Die Brust der Mutter unterhält das Kind, indem sie sowohl Unterhalt und Nahrung als auch genussvolle Ablenkung von unangenehmen Gefühlen und Ängsten ermöglicht. Damit ist sie die wahrscheinlich erste Unterhaltung – in diesen beiden lebenswichtigen Bedeutungen. Könnte die hochmütige Abwertung der Unterhaltung durch die Philosophie vielleicht zum Teil eine unbewusste Verneinung der „kindischen“ Abhängigkeit von der Mutter im Besonderen und von Frauen im Allgemeinen sein?

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den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“; obwohl die Dichtung die besonderen Personen mit Eigennamen bezeichnet, teilt sie „mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit“.8 Noch zu Beginn des modernen Denkens folgt Michel de Montaigne in seinen philosophischen Betrachtungen über das Lesen der altehrwürdigen Unterscheidung zwischen Unterhaltung und ernster philosophischer Weisheit. Die traditionelle Hierarchie von ernstem Denken und spielerischer Unterhaltung wird von ihm jedoch in Frage gestellt, wenn er stolz darauf besteht, nur mehr aus Vergnügen zu lesen.9 In seinem Essay „Über Bücher“ (II, 10; 123) schreibt Montaigne: „In den Büchern suche ich bloß das Vergnügen eines honorigen Zeitvertreibs – oder, befasse ich mich eingehender mit ihnen, keine andere Wissenschaft als jene, die zur Selbsterkenntnis führt und mich lehrt, recht zu sterben und recht zu leben.“ Diese Präferenz wird von ihm in dem späteren Essay „Über dreierlei Umgang“ bekräftigt: Hier erklärt Montaigne, dass er zwar als Jugendlicher zuerst aus Prahlerei und später zum Wissenserwerb gelesen habe, nun aber nur noch „um mich zu vergnügen“. Auf die von ihm antizipierte Kritik seiner Vorliebe für die Unterhaltung entgegnet er: „Wer mir nun einwendet, es heiße die Musen entwürdigen, wenn man sich ihrer nur als Spielzeug und zum Zeitvertreib bediene, der weiß im Gegensatz zu mir nicht, welch hohen Wert Spaß, Spiel und Zeitvertreib haben – fast bin ich versucht zu sagen, jedes andre Ziel sei lächerlich.“ (III, 3; 74) Man sollte Montaigne nicht für einen leichtsinnigen und frivolen Geist halten; das wird schon durch die ungeheure Mühe der Selbsterkenntnis, die seine umfangreichen Essais ausmacht, deutlich. Er bestand zudem darauf, dass die meditative Weise, auf die man sich „seine eigenen Gedanken macht“, eine Form der Unterhaltung darstelle, die in einem klugen Geist alle anderen Tätigkeiten an intellektuellem Anspruch und Reiz überragen könne. Montaigne ahnte, dass eine ausgedehnte und nachdrückliche Selbstbetrachtung auf gefährliche Weise strapaziös und beunruhigend sein könnte, und erkannte deshalb das Bedürfnis des Geistes an, sich mit anderen Freuden abzulenken, um sich auszuruhen. Das Lesen war seine bevorzugte Form der Ablenkung, da diese Unterhaltung nicht nur eine Entlastung von den Mühen des Selbststudiums darstellte, sondern den Geist von allen Sorgen ablenkte (III, 3). Der folgende Essay „Über die Ablenkung“ (III, 4) betont noch deutlicher den praktischen und heilsamen Beitrag der Zerstreuung zur Überwindung unserer größten Sorgen.10 Trotz ihrer Kürze und ihres Gelegenheitscharakters beinhalten Montaignes Betrachtungen zur Unterhaltung drei zentrale Einsichten. Erstens kann die Unterhaltung anspruchsvolle und meditative Formen annehmen, die nicht nur mit Freude, sondern auch mit höheren Tätigkeiten des Geistes verbunden sind. Deshalb sollten Unterhaltung, Vergnügen und ernsthafte intellektuelle Tätigkeit nicht als Gegensätze betrachtet werden. Zweitens sollte die intrinsische Verbindung von Unterhaltung und Vergnügen erstere auf- statt abwerten, da dem Vergnügen keineswegs eine nur triviale Bedeutung 8 9

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Aristoteles, Poetik, 9, 1451 b (Übersetzung von Manfred Fuhrmann). Michel de Montaigne: Essais, München 2002. Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe. Montaigne verweist hier auf frühere Formulierungen dieser Einsicht bei klassischen Autoren, insbesondere Cicero und Lukrez.

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zukommt. Drittens ist die Ablenkung des Geistes durch Unterhaltung nicht notwendig negativ und führt als solche keineswegs schon zu einer Schwächung der geistigen Kräfte. Vielmehr wird der Geist in dialektischer Weise gerade durch Entspannung und entlastende, in Fokus und Stil abwechslungsreiche Aktivitäten gestärkt. Seit dem 18. Jahrhundert wird die Unterhaltung nicht mehr allein mit dem Ernst des Lebens und Denkens kontrastiert, sondern zunehmend auch mit den ernsteren Formen der Kunst. So bringt Samuel Johnson, die zentrale Figur des englischen NeoKlassizismus dieser Zeit, Unterhaltung mit der „niedrigen Komödie“ in Verbindung und bemerkt den zunehmenden Gebrauch dieses Ausdrucks zur Bezeichnung einer „Ansammlung von Aufführungen verschiedensten Charakters, etwa wenn Musik mit Rezitationen, Kunststücken etc. vermischt wird“.11 Auch der Eintrag „Divertissement“ in Diderots Enzyklopädie suggeriert eine ähnliche Bestimmung. Nach der Nennung der eher technischen Bedeutung von „divertissement“ in den Künsten der Zeit – „all die kleinen Gedichte, die vertont und im Theater oder im Konzert aufgeführt werden; und die von Gesang begleiteten Tänze, die manchmal am Ende von Komödien mit zwei Akten oder mit einem Akt stehen“ und „insbesondere jene Tänze und Lieder, die episodisch in Opernakte eingefügt werden“ – definiert der Artikel das Stichwort auf allgemeinere Weise als „Oberbegriff, der einzelne Vergnügen, Entspannungen und Festlichkeiten umfasst“. Trotz ihrer recht verschiedenen Bedeutungsnuancen werden diese vier Ausdrücke als „Synonyme“ bestimmt, die Zerstreuung und Freude zur Grundlage haben. Die am Ende des Eintrags stehende Warnung, dass „alle Belustigungen, deren Ziele weder nützlich noch notwendig sind, Früchte des Müßiggangs und der Vergnügungslust sind“, legt die Unterscheidung von bloßer Unterhaltung und wahrer Kunst nahe, deren höchster Wert in der Verbindung des Angenehmen mit dem Nützlichen besteht. Dies impliziert natürlich weder, dass die Kunst selbst keine Form der Unterhaltung ist, noch, dass Unterhaltung sich auf müßigen, nur vergnüglichen Zeitvertreib beschränken müsste.12 In Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft hat der Begriff der Unterhaltung sowohl „hohe“ als auch „niedrige“ Konnotationen. Obwohl er mit dem sinnlichen und „interessierten“ Wohlgefallen in Verbindung gebracht wird, das das Angenehme vom Schönen unterscheidet (§ 7), spricht Kant an späterer Stelle von der „freie[n] und unbestimmtzweckmäßige[n] Unterhaltung der Gemütskräfte“, die unsere Erfahrung des Schönen auszeichnet.13 Friedrich Schillers zustimmende Identifikation des Ästhetischen mit dem Reich des Spiels und der Erscheinung erkennt das positive menschliche Bedürfnis nach Unterhaltung an, wie es im Begriff des Spiels zum Ausdruck kommt: „[D]er Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz

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Vgl. den Eintrag „Entertainment“ im Oxford English Dictionary, Oxford 1933, Bd. 3, S. 214. Vgl. den Artikel „Unterhaltung“ in: Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Stuttgart 1966, Bd. 4, S. 1069. Der Artikel wurde von M. le Chevalier de Jaucourt verfasst. Vgl. auch Denis Diderot, D’Alemberts Traum, in: Erzählungen und Gespräche, Leipzig 1953, S. 373 ff. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Hamburg 1974, S. 50, 84 („Allgemeine Anmerkung zum ersten Abschnitte der Analytik“).

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Mensch, wo er spielt.“14 Schiller insistiert zudem auf dem veredelnden Wert des Spiels in seiner doppelten Funktion als Ausdrucksmittel menschlicher Freiheit und als zugleich zwanglose und effektive Form moralischer Erbauung. Auch der Begriff des Scheins, der offensichtlich mit dem des Spiels und der Unterhaltung im Sinne des Spektakels in enger Verbindung steht, wird von Schiller in ganz ähnlicher Weise als Ort und Medium der Freiheit aufgewertet. Während Kants Kritik der Urteilskraft im Begriff der Unterhaltung eine fragile Balance zwischen interessierten und freien Tätigkeiten (und damit die konstitutive Doppeldeutigkeit zwischen dem niedrigen Bereich des Angenehmen und dem höheren kognitiven Bereich des Schönen) aufrechterhält, suggeriert Schillers Ideal des Spiels, dass die nobleren Formen der Unterhaltung selbst das vollkommene Gleichgewicht zwischen idealer Form und materialem Leben hervorbringen und symbolisieren. Diese ausgeglichene Bewertung der Unterhaltung wird auf nachhaltige Weise durch Hegels einflussreiche Ästhetik und ihre verhängnisvolle vergeistigende Wende zum Ideal gestört. Für Hegel ist es eine ausgemachte Sache, dass alle Formen der Unterhaltung unwürdig sind, als Kunst bezeichnet zu werden. In den einleitenden Bemerkungen zu seinen Vorlesungen über die Ästhetik meint Hegel, um den Wert der Kunst herauszustellen, eine scharfe Linie zwischen der „wahrhaften Kunst“ und den „dienenden“ künstlerischen Zerstreuungen ziehen zu müssen, die „als ein flüchtiges Spiel“ bloß „dem Vergnügen und der Unterhaltung“ unterworfen sind und „dem Äußeren der Lebensverhältnisse Gefälligkeit“ verleihen sollen. Die Unterhaltung gehört deshalb zum untergeordneten Bereich der Unterwerfung unter das Vergnügen und seine äußeren Zwecke. Im Gegensatz dazu werden die „schönen Künste“ nur dann zur „wahrhaftigen Kunst“, wenn sie sich von dieser Unterwürfigkeit befreien. Schon an dieser Stelle wird der starke Kontrast zwischen Kunst und Unterhaltung sichtbar, der die heutigen Debatten über den Status der populären Künste noch immer dominiert. Trotz seiner ausdrücklichen Forderung einer „freien Kunst“ der schönen Künste, lässt Hegel diesen aber keineswegs ihre Freiheit. Er setzt ihnen nämlich gebieterisch ihre „höchste Aufgabe“: „nur eine Art und Weise [zu sein], das Göttliche, die tiefsten Interessen des Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewußtsein zu bringen und auszusprechen.“15 Damit bestätigt und unterminiert Hegel zugleich die starre Unterscheidung zwischen der Unterhaltung – die Vergnügen durch Schein erreicht und deshalb bloß dienend ist – und der wahrhaften Kunst, deren Freiheit auf paradoxe Weise durch ihre Unterordnung unter Gott, Wahrheit und Ideal bestimmt wird. Diese hegelianische Haltung dominiert leider noch immer die zeitgenössische Ästhetik, deren idealistische Wendung Schönheit und Vergnügen der Wahrheit unterordnet, während zugleich der Bereich der hohen Kunst gegenüber dem Naturschönen privilegiert wird. Bei Nietzsche finden wir eine komplexere und nützlichere Einschätzung der Unterhaltung und ihrer Beziehung zu Kunst und Denken. Manchmal bezeichnet er mit diesem Begriff auf pejorative Weise die triviale Beschäftigung mit seichten Vergnügungen, um sich die Langeweile zu vertreiben. Mit dem Ausdruck „Unterhaltung“ verurteilt Nietz14 15

Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 2000, 15. Brief, S. 62 f. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über Ästhetik, Frankfurt/M. 1986, S. 20 f.

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sche solche Trivialitäten nicht nur im Bereich des künstlerischen Ausdrucks, sondern auch im Bereich der Erkenntnis und der Philosophie selbst. In § 6 von „Schopenhauer als Erzieher“ beschwert sich Nietzsche darüber, wie gelehrte Bücher mit ihren trivialen Wahrheiten als bloße „Mittel der Unterhaltung“ und „Fliegenklappen gegen die Langeweile“ der Befriedigung des „Spieltriebs“ und der „Ergötzlichkeit“ dienen. Auch in seiner Abhandlung über „Richard Wagner in Bayreuth“ kontrastiert Nietzsche wahre Kunst und Kultur, deren Ziel das Genie sein sollte, mit den „verderblichen […] KunstUnterhaltungen“ seiner Zeit (§§ 4 f.). Aber diese „schlecht verhehlte Sucht nach Ergötzlichkeit, nach Unterhaltung um jeden Preis“ wird nicht mit den populären Künsten der gewöhnlichen Leute identifiziert, sondern eher mit der offiziellen hohen Kunst der „Gebildeten“ und „Gelehrten“ – Nietzsche kontrastiert sie sogar mit Wagners Anerkennung der gewöhnlichen Leute als „dichtende[s] Volk“ (§§ 4, 8). Auf der anderen Seite drückt Nietzsche in Ecce Homo (in § 3 des Abschnitts „Warum ich so klug bin“) die positive Kraft der Unterhaltung im Begriff der „Erholung“ aus, die er, neben der Frage des Klimas und der Ernährung, als zentral für die Selbsterhaltung ansieht, da sie es ermöglicht, sich selbst und dem eigenen „Ernste“ zu entkommen. Nietzsche lässt uns sogar wissen: „In meinem Fall gehört alles Lesen zu meinen Erholungen.“16 Selbst ein unermüdlicher Praktiker der Selbstergründung wie Montaigne, scheint Nietzsche das produktive Paradox der zerstreuenden Unterhaltung zu affirmieren, das wir der Etymologie und Montaignes Essais entnommen haben: das Selbst erhält sich und wird gestärkt, indem es von der Aufmerksamkeit für sich selbst entlastet wird. Der Ernst der Selbstsorge umfasst deshalb die Ablenkung vom eigenen Selbst in der Unterhaltung. Dieses Paradox impliziert nun eine weitere dialektische Einsicht: Das Selbst erweitert und verbessert sich, indem es sich selbst vergisst und sein Interesse auf die äußere Welt lenkt. Eine wirkliche Weiterentwicklung erfordert, das, was man schon ist, hinter sich zu lassen und sich etwas Größeres anzueignen. Diese Einsicht ließe sich auch auf die zeitgenössische Kunst ausweiten, deren intensive und allzu beschränkte Beschäftigung mit sich selbst (mit ihrer eigenen Geschichte und Theorie, ihren Meisterwerken und ihrem scheinbaren Wesen – unter Vernachlässigung der umfassenderen Welt der Natur und des menschlichen Lebens, in die sie eingebettet ist) zu großen Bedeutungs- und Attraktivitätsverlusten geführt hat. Im Anschluss an Montaigne und Nietzsche, die beide auf der Bedeutung der Unterhaltung für die dialektische Stärkung unserer kognitiven Vermögen durch ablenkendes Spiel und stärkende Entspannung bestanden haben, möchte ich eine weitere Hypothese zur kognitiven Funktion der Unterhaltung vorbringen: Ihre entspannende Wirkung besteht nicht nur in einer die Konzentration schärfenden Entlastung und Ablenkung, sondern auch in der Erhöhung der Sensitivität der Wahrnehmung. Diese wird durch eine Verringerung der sensorischen Interferenzen erreicht, die durch eine übermäßige Beanspruchung und überschüssige Anspannung der Muskeln hervorgerufen werden. Die klassischen Erkenntnisse der Psychophysik, wie sie im berühmten Weber-FechnerGesetz ihren Ausdruck fanden, unterstützen diese Hypothese zumindest teilweise. Und auch aus der Alltagserfahrung ist uns bekannt: Ein schwächerer Reiz kann deutlicher wahrgenommen werden, wenn die schon existierende Stimulation des Organs gering ist; 16

In § 8 behauptet Nietzsche, dass Erholung einem „Instinkt der Selbsterhaltung“ diene.

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der Reiz muss hingegen umso stärker sein, um wahrgenommen zu werden, je höher die schon bestehende Stimulation ist.17 Das Licht einer brennenden Zigarette mag im strahlenden Sonnenschein kaum sichtbar sein; selbst aus weiter Entfernung verhält es sich im Dunkel der Nacht ganz anders. Das Rascheln der Blätter im Wind, das wir in der nächtlichen Stille des Waldes deutlich hören können, entgeht unserer Wahrnehmung im Tageslärm der Stadt. Auf ähnliche Weise sind eine zur Faust geballte Hand und angespannte Finger nicht so empfindlich für feine Nuancen der Berührung und der Beschaffenheit des berührten Gegenstandes wie eine weiche Hand, deren Muskeln nicht angespannt sind. Der entspannende Effekt der Unterhaltung erschöpft sich deshalb nicht in der stärkenden Wirkung der Erholung, sondern führt auch zu einer erhöhten Sensitivität. Unglücklicherweise hat sich der dominante Trend der Diffamierung der unterhaltenden Funktion der Kunst in der deutschen Philosophie nach Nietzsche wieder verstärkt. Martin Heidegger besteht darauf, dass Kunstwerke nicht auf angemessene Weise erfahren und bewahrt werden, wenn sie „dem bloßen Kunstgenuß dargeboten werden“, da das Wesen der Kunst nicht in Freude oder Unterhaltung besteht, sondern im „Werden und Geschehen der Wahrheit“. Selbst Hans-Georg Gadamer, in dessen Ästhetik dem Spiel eine wichtige Rolle zukommt, betont die Rolle der Kunst für die Enthüllung des Seins und die Möglichkeit des Verstehens, während er ihre unterhaltende Funktion vernachlässigt und vor den verlockenden Gefahren „ästhetischer Unmittelbarkeit“ und des „Erlebnisses“ warnt.18 Die hegelianische Tendenz der deutschen Ästhetik, Wahrheit dem Vergnügen und sogar der Schönheit überzuordnen, ist noch auffallender in den Schriften Adornos, der zusammen mit Max Horkheimer den pejorativen Ausdruck „Kulturindustrie“ einführte, um die Unterhaltungsformen der populären Kunst zu diffamieren, deren angeblich passive und geistlose Freuden die leere Zeit nur mit weiterer Leere anzufüllen vermögen. Adorno scheint es fast, als stünde die durch Kunst und Unterhaltung ermöglichte Freude in einem strengen Gegensatz zum Erkennen: „Tatsächlich werden Kunstwerke desto weniger genossen, je mehr einer davon versteht.“ Im Streit der ästhetischen Werte muss Adorno zufolge deshalb in jedem Fall das Vergnügen der Wahrheit geopfert werden. „In einer falschen Welt ist alle ήδονή falsch. […] [D]er Begriff des Kunstgenusses als konstitutiver ist abzuschaffen. [Das ästhetische Objekt] fordert vom Betrachter Erkenntnis.“19 17

18

19

Vgl. für eine frühe, aber sehr klare kritische Analyse der Weber-Fechner-Theorie: William James, Principles of Psychology, Cambridge/MA 1983, S. 503–518. Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, in: Holzwege, Frankfurt/M. 1994, S. 56, 59; Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, S. 70–106. Ich sollte darauf hinweisen, dass Gadamer weitaus toleranter als Adorno gegenüber der populären Musik zu sein scheint und diese als „genauso legitim“ ansieht. Diese Legitimität verdankt sie allerdings nicht dem Vergnügen, das sie bereitet, sondern nur der durch sie eröffneten „Möglichkeit der Aussage und der Kommunikationsstiftung“, die unser „Wissenwollen“ befriedigt. Gadamer setzt die Kunst auch mit dem Fest in Verbindung, das er in einer transzendentalen und explizit „theologischen“ Perspektive versteht. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest, in: Gesammelte Werke, Bd. 8, Tübingen 1993, S. 130, 141. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1988, S. 128 ff.; Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1973, S. 26, 30.

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Warum aber sollte man von einer prinzipiellen Opposition zwischen Wahrheit und Unterhaltung, Erkenntnis und Vergnügen ausgehen? Ein einflussreicher angloamerikanischer Dichter, Kritiker und Theoretiker war so vernünftig, die fruchtbaren Verbindungen dieser Begriffe zu betonen. Dadurch war er in der Lage, die unterhaltende Seite der Kunst zu affirmieren, ohne ihren kognitiven Wert zu verneinen. T. S. Eliot hat einer Inspiration durch Remy de Gourmont folgend die Poesie in einer berühmten Formulierung als „Unterhaltung einer gehobenen Klasse“ bestimmt und direkt im Anschluss davor gewarnt, dies bedeute nicht „Unterhaltung für Menschen einer gehobenen Klasse“. Die Künste stellen eine höhere Form des Vergnügens dar, weil die durch sie bereitete Freude Eliot zufolge nicht nur die Sinne, sondern auch den Verstand involviert: „Ein Gedicht zu verstehen läuft auf das gleiche hinaus, wie es aus den richtigen Gründen zu genießen. Man könnte sagen, dies bedeute, dem Gedicht jene Freude abzugewinnen, die es geben kann. Ein Gedicht aufgrund eines Missverständnisses zu genießen, heißt, nur eine Projektion unseres eigenen Geistes zu genießen. […] Sicherlich genießen wir ein Gedicht kaum, solange wir es nicht verstehen; andererseits ist es ebenso wahr, dass wir ein Gedicht nicht völlig verstehen, solange wir es nicht genießen. Und das bedeutet: es im richtigen Maße und auf richtige Weise – auch im Verhältnis zu anderen Gedichten – zu genießen.“20 Durch die Dekonstruktion der Opposition zwischen ästhetischem Vergnügen und Verstehen versuchte Eliot zugleich, die Dichotomie von hoher Kunst – die angeblich (in hegelianischer Manier) der erhabenen Wahrheit dient – und vulgären und populären Formen der Unterhaltung, die angeblich dem bloßen Vergnügen Vorschub leisten, in Frage zu stellen. Indem er stattdessen von einem Kontinuum zwischen hoher Kunst und Unterhaltung ausgeht, insistiert Eliot darauf, dass der gute Dichter „gerne ein beliebter Entertainer sein und die Freuden der Poesie vermitteln würde“. In einer beißenden Entmystifizierung der Romantik und ihrer Vorstellung vom Dichter als prophetischem Genie und Entdecker tiefer Wahrheiten bemerkt Eliot, dass er dem Dichter gerne „einen so wichtigen Platz in der Gesellschaft wie dem Music-Hall-Komiker“ zuweisen würde. Er selbst richtete seine dichterischen Ambitionen bewusst auf das Theater aus, um ein größeres Publikum erreichen zu können. Als Verehrer der Music-Hall wurde Eliot schnell deutlich, wie naiv es war, vom jeweiligen Publikum der hohen und der populären Kunst zu sprechen, als handele es sich dabei um zwei voneinander trennbare Öffentlichkeiten. Ebenso falsch schien ihm der Gedanke, große Kunstwerke könnten keine breite Popularität erreichen oder Werke lokaler Volkskulturen könne kein hoher ästhetischer Wert zukommen.21 20

21

T. S. Eliot, Preface to The Sacred Wood, London 1968, S. viii f.; Of Poetry and Poets, London 1957, S. 115. Deshalb sollten wir schlechte Gedichte nicht genießen, „außer ihre schlechte Qualität ist so beschaffen, dass sie unseren Sinn für Humor anspricht“. Das folgende Zitat stammt aus The Use of Poetry and the Use of Criticism (London 1964, S. 154). Eine ausführlichere Diskussion von Eliots Sicht des Verhältnisses von Vergnügen und Verstehen siehe: Richard Shusterman, T. S. Eliot and the Philosophy of Criticism, New York 1988. Die Komplexität des so genannten populären Publikums wird auch von Antonio Gramsci und Michail Bachtin hervorgehoben, die zu den stärksten theoretischen Verteidigern der populären Kunst im 20. Jahrhundert gehören und anerkennen, dass die Funktion der Unterhaltung populäre kulturelle

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Immer noch stellen die meisten Kulturkritiker Kunst und Unterhaltung einander gegenüber und identifizieren letztere mit der müßiggängerischen Vergnügungssucht und der Vulgarität der Unterklassen. Innerhalb der herrschenden kulturellen und begrifflichen Ökonomie scheint diese Identifikation sehr attraktiv zu sein. Da der Begriff des Vergnügens natürlich die eher körperlichen Freuden umfasst, haben sich die idealistische Philosophie und das auf das Jenseits gerichtete Christentum verschworen, um ihre Wertesysteme von solchen niederen, körperlichen Makeln zu befreien. Die in Nordamerika und Nordeuropa seit langem verwurzelte protestantische Arbeits- und Sparsamkeitsethik hat ebenfalls einiges zum schlechten Ruf des Vergnügens beigetragen. Zudem verunmöglicht die für den typischen Habitus des Theoretikers konstitutive intellektuelle Askese die volle Anerkennung der vielfältigen Bedeutung des Vergnügens und der Freude. Seit der Säkularisierung der natürlichen Welt durch die Moderne und der Unmöglichkeit traditionellen religiösen Glaubens funktionierte die Kunst zunehmend als Ort der Sakralisierung. Selbst wenn die sakrale Aura der Kunst, wie Walter Benjamin behauptet, durch die mechanische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks gefährdet worden ist, lebt das Bedürfnis nach der Kunst als transzendentalem und geistigem Reich doch weiter. In der säkularen Gesellschaft sind die Klassiker der Literatur zu heiligen Texten geworden, während die Museen die Kirchen als Orte abgelöst haben, die man zur geistigen Erbauung am Wochenende aufsucht. Wenn die Kunst aber sakralisiert wird, dann muss sie strikt von der Unterhaltung abgegrenzt werden, denn die Unterhaltung wird mit den weltlichen Vergnügungen assoziiert, die der Erholung des körperlichen menschlichen Lebens dienen statt sich dem transzendentalen Bereich der Unsterblichkeit des Geistigen zu widmen, wie es von den romantischen „Theologien“ der Kunst gefordert wird. Freude und Leben – zwei der zentralen Werte, die eine pragmatistische Ästhetik in der Kunst sieht – stellen paradoxerweise zwei der Kardinalsünden dar, für die die Unterhaltung verurteilt wird. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels wird deshalb einige Argumente zu ihrer Verteidigung vorbringen, obwohl dies dem gesunden Menschenverstand gar nicht nötig erscheinen mag.

Ausdrucksformen keineswegs um ihren ästhetischen, kognitiven oder politischen Wert bringt. Beide Theoretiker bestimmen das Populäre wesentlich über seine Opposition zur offiziellen Kultur und nicht über seinen Ursprung in einer bestimmten, als „Volk“ definierten Klasse, da, wie Gramsci bemerkt, „das Volk selbst keine kulturell homogene Kollektivität ist“ (vgl. Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 3, S. 701). Bachtin betont die wesentliche Rolle von Spiel und Unterhaltung in seiner Untersuchung der populären Ästhetik des Karnevals, die alle Schichten der Gesellschaft umgreift und deren Kommunikation durch eine zeitweilige Suspendierung offizieller Hierarchien fördert. In einer Variation des dialektischen Arguments der produktiven Macht der Zerstreuung schlägt Bachtin vor, die regenerative Funktion der karnevalesken Unterhaltung anzuerkennen, die uns zeitweise die Beschränkungen offizieller Rollen und feststehender Wahrheiten vergessen lässt und uns eine Öffnung zu utopischen Idealen und neuen Möglichkeiten gestattet. Da diese regenerative und utopische Funktion allen Gesellschaftsschichten zugute kommen kann, ist die Anziehungskraft der populären Kultur nicht auf eine bestimmte soziale Klasse beschränkt.

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4. Ich werde diesen Abschnitt mit einigen Bemerkungen zu Freude und Vergnügen beginnen, da meine Ästhetik häufig wegen ihres angeblichen Hedonismus kritisiert wird, obwohl ich an keiner Stelle behaupte, dass Freude und Vergnügen die einzigen oder höchsten Werte der Kunst und des Lebens seien.22 Ich bin jedoch der Ansicht, dass die nachkantianische Ästhetik fälschlicherweise dazu tendiert, das Vergnügen abzutun, da sie die Komplexität seiner Logik und die Vielfältigkeit seiner Formen und seiner Anwendungen nicht erkennt. Diese Diversität kommt schon im ausgedehnten Vokabular der Freude zum Ausdruck, das weit über das einzelne Wort hinausgeht. Neben dem traditionellen Gegensatz von sinnlicher Lust (voluptas) und den heiligen Höhen der religiösen Freude (gaudium) gibt es Entzückung, Befriedigung, Fröhlichkeit, Begeisterung, Nervenkitzel, Spaß, Heiterkeit, Genuss, Jubel, Glückseligkeit, Enthusiasmus, Ekstase und mehr. Während Spaß einen Eindruck von Leichtigkeit vermittelt, der Trivialität suggerieren kann, zeigen Entzückung, Glückseligkeit und Ekstase, wie tiefgründig und bedeutsam Vergnügen und Freuden sein können. Sie tragen dann ebenso wie die Erkenntnis der Wahrheit zu unserem Sinn für das Heilige bei und können unsere wichtigsten Werte hervorbringen oder verstärken helfen.23 Der moderne Empirismus versteht die Freude (wie Erfahrung im Allgemeinen) als passive Empfindung, die nur in der privaten mentalen Welt des Subjekts der Erfahrung existiert. Versteht man Freude auf diese Weise, mag sie schnell als trivial erscheinen. Bei Vergnügen und Freude handelt es sich jedoch nicht um isolierte und passive Empfindungen, sondern, wie schon Aristoteles bemerkte, um Qualitäten, die eine Tätigkeit „vervollständigen“ oder „steigern“, indem sie diese reizvoller und lohnender machen und so unser Interesse an ihr verstärken. Das Vergnügen ist deshalb nicht von der Tätigkeit abtrennbar, in der wir es erfahren. Die Freude an einem Tennisspiel besteht nicht in intensiven und angenehmen Empfindungen in der schwitzenden Schlaghand oder den Füßen (solche Empfindungen würden uns vom Spiel eher ablenken), sondern vielmehr darin, das Match mit Begeisterung und vollkommen absorbierter Aufmerksamkeit zu spielen. Auch der Kunstgenuss lässt sich nicht auf bestimmte angenehme Gefühle reduzieren, die wir auch durch etwas anderes, etwa einen guten Espresso oder ein Dampf22

23

Vgl. etwa die Kritik von: Rainer Rochlitz, Esthétique hédonistes, in: Critique, 540 (1992), S. 353– 373; Alexander Nehamas, Richard Shusterman über Freude und ästhetische Erfahrung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 47 (1999), S. 105–109; Wolfgang Welsch, Rettung durch Halbierung?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 47 (1999), S. 111–126; Kathleen Higgins, Living and Feeling at Home. Shusterman’s Performing Live, in: Journal of Aesthetic Education, 36 (2002), S. 84–92. Die Betonung der Kraft und Bedeutung dieser gehobenen Freuden sollte nicht zu einer Herabsetzung des Wertes ihrer leichteren Varianten führen. Fröhlichkeit kann eine willkommene Abwechslung von den Anstrengungen der Ekstase sein, lässt aber als nützlicher Kontrast auch deren Erhabenheit hervortreten. Neben dem Zweck der Zerstreuung haben leichtere Vergnügen auch ihren eigenen Charme. Der Sinn der Erkenntnis der Vielfältigkeit des Vergnügens und der Freude liegt nicht darin, nur die höchsten Formen auszuwählen und den Rest zu verwerfen, sondern davon zu profitieren, dass man sie alle genießen kann, zumindest soweit dies möglich ist und uns zufrieden stellt.

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bad, erreichen könnten. Vielmehr bedeutet ein Kunstwerk zu genießen, Vergnügen an der Wahrnehmung und am Verstehen der besonderen Qualitäten und Bedeutungen des Werks zu haben, wobei ein solches Vergnügen für gewöhnlich unsere Aufmerksamkeit auf eine Weise verstärkt, die unsere Wahrnehmung und unser Verständnis verbessert. Diese aristotelischen Überlegungen stellen den Hintergrund für Eliots These von der wesentlichen Verbindung zwischen poetischem Genuss und Verstehen dar. Durch die Intensivierung unserer Tätigkeiten trägt die Freude zur Perfektionierung des Lebens bei. Spinoza, der weit davon entfernt war, ein zügelloser Lüstling zu sein, bestimmte die Freude denn auch als „Übergang des Menschen von einer geringeren zu einer größeren Vollkommenheit“. Und selbst der nüchterne Aristoteles bemerkt: „Ob wir nun aber um der Lust willen das Leben oder um des Lebens willen die Lust wünschen, sei für jetzt dahingestellt. Denn diese zwei Dinge scheinen verknüpft zu sein und keine Trennung zu erlauben. Denn ohne Tätigkeit gibt es keine Lust, und die Lust wiederum vollendet jede Tätigkeit.“24 Diese Verbindung zwischen Leben und Freude wird durch die gegenwärtige Evolutionstheorie bestätigt. Einige der intensivsten Freuden des Lebens stehen in engem Zusammenhang mit Ernährung und Fortpflanzung, die notwendig für das Überleben der Spezies sind (oder dies zumindest bis zu den neuen Gentechnologien waren). Die im Vergnügen angelegte Logik des Begehrens führt uns schneller und sicherer zu dem, was wir brauchen, als die überlegende Vernunft. Vergnügen und Freude versüßen also nicht nur das Leben, sondern erhöhen die Wahrscheinlichkeit des Überlebens, weil sie das Versprechen eines lebenswerten Lebens beinhalten. Die ästhetische Unterhaltung trägt unzweifelhaft zu diesem das Leben erfüllenden Vergnügen bei. Während eine äußerst einflussreiche kantianische Tradition einen sehr spezifischen Typ ästhetischen Vergnügens auszeichnet, der in einem intellektuellem Wohlgefallen an der reinen Form besteht, das durch das harmonische Spiel unserer Erkenntnisvermögen hervorgerufen wird, wird die ästhetische Freude in der pragmatistischen Tradition sehr viel weiter gefasst. Erstens gibt es die vielfältigen durch die Sinne vermittelten Freuden – der Reichtum an Farben, Formen, Tönen, Bewegungen etc. Die durch die sensorischen Eigenschaften eines Kunstwerks stimulierte Freude an der verfeinerten Wahrnehmung, lässt diese aus dem gewöhnlichen Fluss der Wahrnehmungen als besondere ästhetische Erfahrung herausragen, die den Namen der Kunst verdient. Eine solche Erfahrung absorbiert unsere Aufmerksamkeit derart, dass sie auch eine unterhaltsame Ablenkung von den eintönigen Routinen des Lebens darstellt. Ästhetische Freuden können sogar so intensiv und entzückend sein, dass sie als Zeichen einer metaphysischen oder religiösen Transzendenz angesehen werden. In der indischen Philosophie gilt das ästhetische Vergnügen der rasa (des besonderen Gefühls, das in der Kunst und vor allem im Drama zum Ausdruck kommt) aufgrund seiner Kraft und Intensität als „transzendental“.25 Ein Gefühl göttlichen Vergnügens wird auch durch 24

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Benedict de Spinoza, Ethik, Hamburg 1999, S. 339; Aristoteles, Nikomachische Ethik, X 5, 1175 a 18–21 (Übersetzung von Olof Gigon). P. J. Chaudhury, The Theory of Rasa, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism, 24 (1965), S. 145 f. Abhinovagupta, der große indische Ästhetiker des 10. Jahrhunderts, beschreibt das Vergnügen des rasa als vergleichbar mit „dem Geschmack der höchsten Realität“ (vgl. ebd., S. 148).

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die ursprüngliche Bedeutung des japanischen Ausdrucks für Unterhaltung (goraku) angezeigt, der auf den Genuss der Gastfreundschaft einer himmlischen Maid verweist.26 Ästhetische Freude umfasst sowohl die Erfahrung intensiver, aber wohlgeordneter Gefühle als auch die Befriedigung unseres Bedürfnisses nach Bedeutung, Kommunikation und Ausdruck. Solche Vergnügen motivieren nicht nur den kreativen Künstler und den Entertainer, sondern auch die mit der Interpretation befassten Kritiker und das Publikum dazu, diese Freuden sowohl zu erklären als auch durch eine eingehende Analyse zu intensivieren. Die Freude an Bedeutsamkeit und Expression weisen auf einen weiteren, oft vernachlässigten Aspekt der ästhetischen Freude hin, nämlich auf dessen soziale Dimension. Allzu oft wird angenommen, der Genuss von Kunst oder Unterhaltung sei etwas bloß Subjektives und deshalb wesentlich Privates und Individuelles. Dem Vergnügen kommt jedoch eine ausstrahlende Eigenschaft zu, die es über die bloße individuelle Befriedigung hinausgehen lässt. Freude ist ansteckend; wenn wir ein Kind beim fröhlichen Singen beobachten, sind wir dazu geneigt, uns selbst an dessen Vergnügen zu erfreuen, selbst wenn wir das Kind nicht kennen und das Lied nicht für besonders schön halten. Wenn wir Freude empfinden, möchten wir sie für gewöhnlich mit anderen teilen. Und wir können unsere ästhetischen Vergnügen genauso teilen, wie wir eine ästhetische Erfahrung teilen können. Obwohl jeder einzelne von uns beim Besuch einer Ausstellung, eines Films oder eines Rockkonzerts nur vermittelt durch sein eigenes Bewusstsein ästhetisches Vergnügen empfinden wird, spricht das noch nicht gegen den gemeinsamen Charakter unserer Freude. Unser Vergnügen kann sogar durch das Bewusstsein dieser Gemeinsamkeit verstärkt werden. Ästhetische Erfahrung kann in ihrer Intensität durch das Gefühl gesteigert werden, etwas Bedeutsames und Wertvolles gemeinsam zu teilen, und dies umfasst das Empfinden gemeinsamer Freude. Dass der Kunst die Macht zukommt, die Gesellschaft durch die Freuden der Kommunikation zu vereinigen, ist ein Thema, das von Schiller bis Dewey immer wieder aufgenommen worden ist. Aber auch die vereinigende Kraft der massenmedialen Unterhaltung sollte von Kritikern der populären Kunst nicht nur anerkannt, sondern auch geschätzt werden.27

26

27

Vgl. für eine kurze Gegenüberstellung der rasa-Theorie mit der pragmatistischen Auffassung der ästhetischen Erfahrung und ihrer Freuden meinen Aufsatz: Definition, Dramatization, and Rasa, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism, 61 (2003), S. 295–298. Diese frühe japanische Bedeutung von goraku findet sich im Konjaku Monogatari (10. Jahrhundert) und im Taiheiki (14. Jahrhundert), den beiden Klassikern der japanischen Literatur. Das kanji (Zeichen), das für das Wort steht, verweist auf einen nach hinten geneigten Kopf mit vor Lachen (und vielleicht noch anderen Vergnügen) weit geöffnetem Mund. Ich danke Professor Satoshi Higuchi für seine Hinweise zur Etymologie von goraku, die auf einem Eintrag im umfangreichen japanischen Wörterbuch Nihon Kogugo Daijiten (Tokio 1974, Bd. 8, S. 433) basieren. Auch im Konfuzianismus wird die bedeutsame Rolle ästhetischen Vergnügens für die Kultivierung der Harmonie und des Guten nicht nur im Individuum, sondern in der Gesellschaft als Ganzer betont. Vgl. dazu die ausführlicheren Bemerkungen in meinem Aufsatz: Pragmatism and East-Asian Thought, in: Metaphilosophy, 35 (2004), S. 13–43. John Dewey behauptet: „Nun ist Kunst die wirksamste Weise der Kommunikation, die es gibt.“ (Kunst als Erfahrung, Frankfurt/M. 1980, S. 335).

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Ich habe mich gegen die Trivialisierung der ästhetischen Freuden der Kunst und der Unterhaltung ausgesprochen, da beide in vielfältiger Weise zur Aufrechterhaltung und Bereicherung des Lebens beitragen. Dieser Nutzen für das Leben ist es nun aber gerade, der einige Philosophen veranlasst, Unterhaltung als trivial, niedrig und ohne kulturellen Wert zu diffamieren. Durch eine Kombination aus Kants Bestimmung des Ästhetischen als interesselos und zweckfrei mit Hegels idealistischem Verständnis der Freiheit und geistigen Transzendenz der schönen Künste wird in dieser Argumentationslinie die Kunst der Unterhaltung gegenübergestellt. Dann wird behauptet, nur letzterer komme eine praktische Funktion für das Leben zu, während wahre Kunstwerke diese unbedeutende Rolle als bloßes Instrument vermieden und das Reich des Sterblichen transzendierten. In Hannah Arendts Schriften kommt dieser Ansatz paradigmatisch zum Ausdruck. Arendt gibt zwar zu, dass der Unterhaltung eine wichtige Rolle im „Lebensprozeß der Gesellschaft“ zukommt, da sie die „leere Zeit“ im „biologisch bedingten Kreislauf der Arbeit“ mit dem angenehmen und entspannenden Konsum der Waren der „Vergnügungsindustrie“ vertreibt.28 Sie verachtet aber dennoch die Sinnlosigkeit der Massenunterhaltung und versteht diese im Gegensatz zur Schaffung von Bleibendem durch die Kunst, das sie der ausgezeichneten und fortdauernden Welt der Kultur zurechnet, die völlig außerhalb des Reichs der Notwendigkeiten des „biologischen Lebens“ steht und deren Schönheit und Wert jenseits aller Bedürfnisse und Funktionen im ewigen Reich der Freiheit liegt: „Kultur ist ein Weltphänomen, und Vergnügen ist ein Lebensphänomen.“ (280) Obwohl „das Vergnügen genauso wie die Arbeit und der Schlaf ein unabdingbarer Teil des biologischen Lebensprozesses ist“, dürfen wir es nicht mit einem ästhetischen oder kulturellen Streben verwechseln (279). Als Teil eines über Konsum regulierten „Stoffwechsels“ besteht die Unterhaltung aus nichts anderem als „Waren“ und „Konsumgütern“, die gebraucht und verbraucht werden. „Sie dienen, wie man sagt, dazu, die Zeit zu vertreiben, […] die biologische Zeit [ist], die übrigbleibt, wenn der Arbeit und dem Schlaf Genüge getan ist.“ (279) Im Gegensatz dazu sind Kunstwerke keine Gegenstände des Gebrauchs, sondern werden nur in einer völlig „interesselosen“ Betrachtung adäquat erfahren. Ihre Dauerhaftigkeit steht in genauem Widerspruch zu aller Funktionalität und zu ihrer Nützlichkeit für den Lebensprozess (denn ihr Gebrauch würde Arendt zufolge ihren Verbrauch bedeuten). Sie gehören zur Welt und gerade nicht zum Leben. Mit einem Wort, während Unterhaltung ein „Mittel“ zum Erhalt und zur Verbesserung des Lebens ist, sind Kunstwerke reine Zwecke und als solche von „intrinsischem und unabhängigem Wert“. Die Schönheit der Kunstwerke hängt von ihrer Unvergänglichkeit ab, während die Unterhaltungsindustrie diesen unvergänglichen Bereich der schönen Kunst nur plündern und korrumpieren kann, indem sie die Werke zu leicht verfügbaren Konsumwaren macht.29

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Hannah Arendt, Kultur und Politik, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 2000², S. 277–302. Die bisherigen Zitate finden sich alle auf S. 278 f. Im Folgenden verweisen Seitenzahlen in Klammern auf diesen Aufsatz. Diese Aspekte treten in der englischen Fassung des Aufsatzes noch deutlicher hervor: Hannah Arendt, The Crisis in Culture, in: Between Past and Future, Harmondsworth 1993, S. 197–226.

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Man könnte Arendts Position gerade auf Grund ihrer erhabenen Vornehmheit und der interesse- und selbstlosen Reinheit für attraktiv halten. Niemand wird die Kunst auf ein bloßes Mittel zur Sicherung des reibungslosen Ablaufs der biologischen Lebensprozesse reduzieren wollen. Aber warum sollten wir Leben und Funktionalität mit einem so eng verstandenen physiologischen Verständnis identifizieren? Das menschliche Leben ist immer mehr als biologisch; es umfasst wesentlich Bedeutung, Produktion und Handeln. Und was würde aus der Welt der Kultur ohne das menschliche Leben und die sie belebende Erfahrung sterblicher Menschen? Eine bloße Ansammlung toter, nicht lebendiger Dinge. Funktionen und Mittel müssen nicht von geringem Wert und untergeordneter Bedeutung sein. Ist das Studium der Philosophie oder der Kunst deshalb ein sklavisches Unternehmen, weil es dem Ziel des Wissens oder der Schönheit dient? Hinter Arendts Theorie steht eine aristokratische Haltung, welche die Philosophie vom Klassensystem der athenischen Polis geerbt hat: alle „bloßen“ Mittel und herstellenden Tätigkeiten werden mit den niederen Klassen der arbeitenden Dienerschaft assoziiert und als „banausische“ Arbeit der reinen Kontemplation der noblen freien Männer gegenübergestellt. Für Arendt besteht die von allen Formen des Herstellens (auch der Kunst) ausgehende Gefahr in ihrem inhärenten Utilitarismus, dessen banausische Mentalität letztlich alles zu Mitteln degradiert. Der Pragmatismus vertritt hingegen einen demokratischeren Geist und ist der Auffassung, dass die Wertschätzung eines Ziels die Wertschätzung der zur Erreichung dieses Ziels notwendigen Mittel umfassen sollte. Zudem werden Mittel hier als integraler Bestandteil der Zwecke, denen sie dienen, verstanden – ebenso wie die Mittel zum Malen eines Bildes (die einzelnen Pinselstriche, die Farbe etc.) Teil des fertigen Werkes sind. Arendts Eintreten für eine Welt der Kultur, der Kunst und der Schönheit, die jenseits der Bedürfnisse und Zwecke des menschlichen Lebens liegt, mag jene Theoretiker ansprechen, die die moderne Ästhetik von der Beschäftigung mit der menschlichen Realität fernhalten wollen. Aber die pragmatistische Bejahung der Werte der Kunst, der Schönheit und der Unterhaltung als Werte des Lebens muss nicht auf den Bereich des Menschlichen beschränkt werden. Die Schönheit der Farben, Formen, Bewegungen und Töne sind Teil des Lebensganzen und der natürlichen Welt, zu welcher die Menschen gehören. Die für die ästhetische Erfahrung menschlicher Subjekte konstitutiven Energien und Materialien sind integraler Teil der Umwelt. Ästhetische Erfahrungen können deshalb nicht allein im Kopf des Subjekts lokalisiert werden, sondern sind immer in einem weiteren Kontext verankert, der als Rahmung der Interaktionen von Subjekt und Kunstobjekt oder Natur dient. Für den Pragmatismus ist auch das menschliche Subjekt selbst nichts als eine sich verändernde und temporäre Konstruktion aus den Materialien und Energien der umfassenderen Welt der Natur und der Geschichte. Ironischerweise argumentiert Arendt mit ihrem Eintreten für die Kunst (und gegen die Unterhaltung) als Mittel der Transzendierung des menschlichen Lebens von einer Position aus, die sie ausdrücklich als „Humanismus“ bezeichnet – und die in der Glorifizierung der von Menschen gemachten Welt der Kultur und ihrer „cultura animi“ besteht. Noch erstaunlicher ist, dass Arendt, obwohl sie Kunst und Schönheit scheinbar als reine Zwecke im Bereich der Erscheinung versteht und sie von jedem funktionalen Bezug auf das Leben ablöst, am Ende ihrer Ausführungen darauf besteht, dass sie dem Leben vielleicht den

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wichtigsten Dienst erweisen – nämlich seine Rechtfertigung durch Immortalisierung: „Politisch gesprochen ist Schönheit die Gewähr dafür, daß auch noch das Flüchtigste und Vergänglichste, die Taten und Worte sterblicher Menschen, eine irdische Bleibe in der Menschenwelt erhalten können.“ (296) Umgekehrt scheint die Schönheit ihr zufolge ein öffentliches Objekt in der Form eines menschlichen Kulturprodukts sein zu müssen, da sie nur durch dieses Medium die eigene Unsterblichkeit erreichen und ertragen könne. Wenn aber die Kunst dem Leben zur Unsterblichkeit verhilft, dann ist die Unterhaltung der Verdammnis anheim gegeben, denn ihre Bedeutungen und Freuden sind scheinbar sehr viel vergänglicher. Der Pragmatismus verachtet die Freuden der Kunst und der Unterhaltung nicht deshalb, weil sie im Gegensatz zur von Arendt reklamierten Unvergänglichkeit der Schönheit vergänglich wären. Da unser Universum als Ganzes dem Pragmatismus zufolge ein Bereich der ständigen Bewegung ohne absolute Dauer und mit nur relativen Stabilitäten ist, werden Schönheit und Vergnügen gerade aufgrund ihres fragilen und flüchtigen Charakters geschätzt. Die Zurückweisung der Gleichsetzung von Realität mit Permanenz macht es möglich, anzuerkennen, dass kurzlebige Schönheit und Momente des Entzückens nicht weniger real oder bewegend oder schätzenswert sind, nur weil sie vorübergehen. Tatsächlich sind die meisten Freuden der Schönheit, der Kunst und der Unterhaltung nicht nur wertvoll, obwohl sie nicht ewig dauern; ihre Vergänglichkeit steigert ihren Wert sogar noch. Vielleicht halten Sie die Philosophie für eine nicht sehr unterhaltsame Kunst; ich muss jedoch zugeben, dass sie mich doch die meisten meiner wachen Stunden hervorragend unterhält. Aber auch das Vergnügen der Philosophie ist, wie alle Freuden, vorübergehend und gerade deswegen oft intensiver. Ich hoffe, dass das Lesen dieses Kapitels ein solches philosophisches Vergnügen war, und ich möchte diesen fragilen und ungewissen Genuss nicht gefährden, indem ich versuche, ihn zu verlängern.30 Aus dem Amerikanischen von Robin Celikates

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Dieses Kapitel wurde ursprünglich für einen Vortrag vor dem Plenum der Japanischen Gesellschaft für Ästhetik auf deren Konferenz in Hiroshima im Oktober 2002 geschrieben. Ich danke Professor Takao Aoki, dem Organisator der Konferenz, und Professor Ken-ichi Sasaki, dem Präsidenten der Gesellschaft, für die Einladung. Professor Satoshi Higuchi danke ich für die Anfertigung der japanischen Übersetzung.

Kapitel III

Affektivität und Authentizität im Country-Musical

1. In einem berühmten Aufsatz beschreibt William James eine ästhetische Blindheit, die durch die Vorurteile unseres gesellschaftlich geprägten Geschmacks hervorgerufen wird. Während einer Fahrt durch die Berge North Carolinas, auf der er sich ganz der Schönheit der Natur widmen wollte, reagierte James schockiert auf den Anblick primitiver Hütten, die das erhabene Grün der Berge wie ein „scheußliches Geschwür“ verschmierten.1 Was ihm als aufdringlicher Schandfleck erschien, wurde von den Bewohnern, wie James später erfuhr, als reizvoller Ort des Rückzugs und der Erholung geschätzt, als stolzes Symbol des erfolgreichen Überlebenskampfes in einer wilden Landschaft, die sie zähmen mussten und nicht nur für kurze Zeit besuchen konnten, um gleich wieder zum kultivierten Leben in Boston zurückzukehren. War James für den ästhetischen Charme der Behausungen dieser „Hinterwäldler“ blind, so bleiben die heutigen Philosophen taub für die Anziehungskraft der populären Musik, mit der solche Berghütten immer assoziiert worden sind. Obwohl sich Country zur beliebtesten Musikrichtung der Vereinigten Staaten entwickelt hat, wird diese Musik unter Intellektuellen am meisten verachtet und am wenigsten untersucht.2 Während 1

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William James, Über eine bestimmte Blindheit des Menschen, in: Essays über Glaube und Ethik, Gütersloh 1948, S. 250 f. Obwohl ich von Country als einem Genre spreche, sollte ich gleich darauf hinweisen, dass diese Musikrichtung historisch gesehen ganz verschiedene Untergenres mit eigenen Stilen umfasst: Oldtime Music, Bluegrass, Country Gospel, Country Boogie, Country Rock, Western Swing, Rockabilly, Honky-Tonk usw. Diese verschiedenen Formen verhandeln das Problem von Authentizität und Affekt auf je eigene Weise, aber um meine Argumentation klarer und knapper vorbringen zu können, werde ich davon abstrahieren und von Country im Allgemeinen sprechen. Ich werde mich dabei natürlich vor allem der neueren Country-Musik zuwenden, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts institutionalisiert und explizit als „Country“ bezeichnet worden ist und dann in den 1990ern unerwartet populär geworden ist. Schon in der Ausgabe des Forbes-Magazins vom 2. März 1992 findet sich ein Artikel von Lisa Guberick und Peter Newcomb („The Wal-Mart School of Music“), der auf den kommerziellen Aufstieg des Country hinweist, der sich nicht nur in verkauften Platten, sondern auch in Live-Konzerten, über Pay-TV ausgestrahlten Konzerten und natürlich im Radio ausdrückte. Es gibt weit mehr Country-Radiostationen als andere, so dass „Erhebungen der Plattenindustrie [von Mitte der 90er Jahre] zufolge 72 % der amerikanischen Öffentlichkeit im Ra-

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Studien wiederholt gezeigt haben, dass die Wahrscheinlichkeit ein Country-Fan zu sein mit der Höhe des Bildungsgrades sinkt, so verstärken Country-Hits wie Aaron Tippins „Working Man’s Ph.D.“ und John Conlees „Common Man“ vermutlich diesen Trend, indem sie Akademiker dafür attackieren, dass sie keinen Beitrag zur Gemeinschaft leisteten, und ihnen vorwerfen, den Verstand verloren zu haben.3 Da der locus geni des Country weder in der kosmopolitischen Stadt noch auf dem gelehrten Campus, sondern im bodenständigen und ländlichen Nord-Amerika liegt und da die Werte des Country viel eher traditionell als transgressiv sind, fehlt dieser Musik der radical chic des Rock. Auch mit dem Gütesiegel des modischen Multikulturalismus, das progressive Intellektuelle an Musikstilen wie Jazz, Rhythm and Blues, Rap, Reggae oder Techno so attraktiv finden, kann Country sich nicht schmücken. Das Klischee der engen Verbindung von Country und white trash sowie den rassistischen Vorurteilen der rednecks birgt sogar die Gefahr, dass jeder diffamiert wird, der dieser Musik Verständnis und Aufmerksamkeit schenkt. Dennoch ist es uns Intellektuellen möglich, diese Jamessche Blindheit zu überwinden und Country zu genießen, ja sogar das Vergnügen des „unbedarften“ Zielpublikums zu teilen, ebenso wir wie zu einem gewissen Grad dessen Sorgen und Erfahrungen teilen. In diesem Kapitel versuche ich, die enorme Anziehungskraft der Country-Musik zu erklären und sie als Genre theoretisch einzuordnen. Da die Ursachen der Popularität des Country zu komplex sind, um hier vollständig behandelt zu werden, konzentriere ich mich auf jene Gründe, die philosophisch am interessantesten sind und aus denen wir faszinierende Ansichten über die menschliche Natur, Emotionen, Glaube und Authentizität gewinnen können – von denen einige von William James selbst vertreten worden sind. Diese philosophischen Fragen kommen auf besonders deutliche Weise in einem auf den kommerziellen Erfolg des Country zurückgehenden Filmgenre zum Ausdruck. Dieses Genre bezeichne ich als „Country-Musical“ und unterscheide es von den traditionellen Filmen über singende Cowboys, die durch Gene Autry, Roy Rogers und Tex Ritter bekannt geworden sind.4 Bevor ich auf die in den Musicals zum Aus-

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dio Country hören“ (Cecilia Tichi, Editorial, in: South Atlantic Quarterly, 94 (1995), S. 4. Vgl. zur Institutionalisierung des Country: Richard Peterson, Creating Country Music. Fabricating Authenticity, Chicago 1997. Vgl. etwa: R. A. Peterson/R. B. Davis, The Contemporary American Radio Audience, in: Popular Music and Society, 3 (1974), S. 308; R. A. Peterson/Paul DiMaggio, From Region to Class. The Changing Locus of Country Music: A Test of the Massification Hypothesis, in: Social Forces, 53 (1975), S. 497–506. Für eine spätere, nuanciertere Studie: R. A. Peterson/A. Simkus, How Musical Tastes Mark Occupational Status Groups, in: M. Lamont/M. Fournier (Hg.), Cultivating Differences. Symbolic Boundaries and the Making of Inequality, Chicago 1992, S. 152–186. Im Gegensatz zu den Filmen über singende Cowboys handeln die neuen Country-Musicals nicht von Cowboys, sondern von in der gegenwärtigen Kultur des Country verwurzelten Menschen, von schon etablierten und gerade aufsteigenden Künstlern und Songwritern oder von Konsumenten. Zu diesen Filmen gehören die Verfilmungen der Biographien von Country-Stars wie Hank Williams, Loretta Lynn und Patsy Cline in Your Cheatin’ Heart (MGM, Regie Gene Nelson, 1964), Coal Miner’s Daughter (Universal, Regie Michael Apted, 1980) und Sweet Dreams (HBO, Regie Karel Reisz, 1985). Die fiktiven Geschichten imaginärer Country-Musiker sind für das Genre aber ebenso zentral: Payday (Zaentz, Regie Daryl Duke, 1973), Nashville (Paramount, Regie Robert Altman,

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druck kommende philosophische Bedeutung des Country eingehe, möchte ich einige zur Popularität des Country beitragende soziokulturelle Faktoren anführen, da die Philosophie einer jeden kulturellen Form (und das gilt auch für die Philosophie selbst) den soziokulturellen Raum der Produktion und des Gebrauchs der jeweiligen kulturellen Produkte mit einbeziehen sollte.

2. Ein wesentlicher Grund für die zunehmende Beliebtheit des Country besteht im demographischen Altern der Vereinigten Staaten. Country hat auch aufgrund der Affirmation traditioneller Werte immer mehr Erfolg bei einem älteren Publikum als Rock oder Rap gehabt. Während diese Genres auf Teenager und die Altersgruppe bis Mitte Zwanzig zielen, liegt das Durchschnittsalter des Country-Publikums zwischen Mitte Zwanzig und Ende Vierzig. Als die Kinder des Babybooms der Nachkriegsjahre in dieses Alter kamen, wurde aus einem exzentrischen und unbedeutenden Musikgenre eine der Hauptströmungen der US-amerikanischen Kultur. In einigen Songtexten wird erzählt, wie radikale Rocker der 1960er Jahre in den 1990ern zu Country-Fans wurden und sich plötzlich für Mainstream-Kultur und Familienwerte einsetzten. Die Korrelation zwischen dem Aufstieg des Country und dem Altern der Babyboomer kann auch statistisch nachgewiesen werden. 1961 gab es in den Vereinigten Staaten nur 81 Radiosender, die nur Country spielten; 1974 waren es schon 1000, 1992 über 2200 und Ende 1996 schon 2600.5

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1975), Honeysuckle Rose, auch bekannt als On the Road Again (Warner Bros., Regie Clint Eastwood, 1982), Sweet Country Music (Regie Jack McCallum, 1983), Tender Mercies (Universal, Regie Bruce Beresford, 1983) und Pure Country (Warner Bros., Regie Christopher Cain, 1992). Die in diesen Filmen erzählten fiktiven Geschichten und ihre Charaktere sind jedoch oft eng an die wirkliche Geschichte des Country angelehnt. So spielt etwa in Payday der Tod des Protagonisten durch einen alkoholinduzierten Herzinfarkt während einer Autofahrt auf den Tod von Hank Williams an, und in Honky Tonk Man wird der berühmte Tod von Jimmie Rodgers durch Tuberkulose nach einem anstrengenden Tag im Studio aufgenommen. Weniger zentral, aber immer noch im Umkreis des Country-Musicals anzusiedeln sind Filme wie Urban Cowboy (Paramount, Regie James Bridges, 1980), dessen Protagonist kein Musiker, aber ein leidenschaftlicher Fan ist, der sein Leben der Kultur der Country-Nachtklubs widmet. An den Grenzen des Genres könnte man selbst einen Film wie True Stories (Warner Bros., 1986) lokalisieren, bei dem der Rockstar David Byrne von den Talking Heads Regie geführt hat. Der Protagonist des Films ist ein Amateur und schreibt und singt Country-Songs in einer Kleinstadt in Texas; der Höhepunkt des Films besteht in seinem Auftritt bei der 150-Jahr-Feier der Stadt, der ihm schlussendlich zu jener Liebe verhilft, nach der er während des ganzen Films gesucht hat. Diese Informationen sind folgenden Statistiken entnommen: Richard Peterson, The Production of Cultural Change. The Case of Contemporary Country Music, in: Social Research, 45 (1978), S. 292–314; Curtis W. Ellison, Country Music Culture. From Hard Times to Heaven, Jackson 1995, S. 224; Clark Parsons, Taking Stock of the Nineties Boom, in: Journal of Country Music, 16 (1994), 2, S. 10 f.; Don Cusic, Country Green. The Money in Country Music, in: South Atlantic Quarterly, 94 (1995), S. 231–241; Peter Applebome, Hank Williams. Garth Brooks, in: New York

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Ein zweiter Faktor in der Erfolgsgeschichte des Country ist die zunehmende Beschäftigung mit ethnischen Identitäten und den Fragen des Multikulturalismus. Nachdem traditionelle Klassen- und Gemeinschaftsidentitäten an Macht verloren haben und die Individuen nicht mehr mit einer angemessenen sozialen Selbstdefinition versorgen können, steigt das Bedürfnis nach einer Konstruktion der eigenen Identität durch kulturelle Zugehörigkeiten. Der Musik kam lange Zeit eine äußerst wichtige Rolle bei der Bildung solcher kultureller Identitäten zu. Wenn das sehr breite Verständnis USamerikanischer Kultur aber zu vage und unverbindlich ist, um ein ausreichend intensives Gefühl kultureller Identität zu vermitteln, so wird dies auch für ein ähnlich allgemeines Verständnis US-amerikanischer Musik zutreffen. Ebenso wie heutzutage die emanzipatorischen Bewegungen ethnischer Minderheiten (sowie des Feminismus und der Schwulenkultur) die attraktivsten kulturellen Identitätsangebote unterbreiten, sind auch die interessantesten Musikkulturen (wie Rap, Reggae und Salsa) ethnisch geprägt. Diese stellen nicht nur eine Musikrichtung, sondern einen ganzen Lebensstil dar, der umfassende Angebote zur Selbstbildung einschließt. Wie attraktiv weiße USAmerikaner diese Musikstile auch finden mögen, die Spaltung der Gesellschaft verhindert doch die problemlose Identifikation Weißer mit einer nicht-weißen Kultur. Bedrängt von der Dialektik wechselseitiger Ausschließung, in der auch die ausgeschlossenen Minderheiten ihre exkludierende Macht ausüben, treffen Versuche der transkulturellen Identitätsbildung häufig auf eine doppelte Zurückweisung: Sie kommen der umworbenen Minderheitenkultur (die die Plünderung ihres aufwendig verteidigten Erbes befürchtet) nämlich ebenso wenig gelegen wie dem Mainstream der weißen Gesellschaft (der den Verlust der kulturellen Hegemonie befürchtet). In welcher populären Musikrichtung also kann eine spezifisch weiße USamerikanische Ethnizität zum Ausdruck kommen? Die offensichtliche Antwort ist: im Country.6 Wie Rap und Reggae hat Country einen umfassenden Lebensstil inklusive eigener Formen des Tanzes, der Kleidung, des Essen und des Verhaltens anzubieten. Weiß zu sein kann hier auf mehr hinauslaufen als einen farblosen Hintergrund konformistischen Verhaltens, der nicht-weiße Ethnizitäten nur noch stärker hervortreten lässt. Tatsächlich definiert sich die Kultur des Country über die Ablehnung des langweiligen Establishments der Büro- und Firmenangestellten – die nicht nur im Cowboy-Outfit und der bodenständigen Sprache, sondern auch in einer oppositionellen Einstellung zum Ausdruck kommt. Der Bezug auf den Cowboy als Figur des rebellischen und wilden Individualismus mit seinen Wurzeln in den Südstaaten (der Heimat der Rebellen im Bürgerkrieg) macht aus Country eine Vision, die traditionell und weiß ist und die gesamten Vereinigten Staaten umfasst, ohne leicht verwechselbar und konformis-

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Times Magazine, 27. Oktober 1996, S. 38–43. 1998 ging die Zahl der Country-Sender auf 2368 zurück, übertraf damit aber noch bei weitem alle anderen Radioformate, den nächsten Konkurrenten (Nachrichten/Talkshows/Wirtschaft) um das doppelte und das nächste Musikgenre (zeitgenössische Musik für Erwachsene) um das zweiundhalbfache. Diese Information entnehme ich einem M Street Survey, die die National Association of Broadcasters 1998 vorgenommen hat. Obwohl Heavy Metal typischerweise auch weiß ist, hat es kaum einen spezifisch nordamerikanischen Charakter. Zudem sind Sound und Lifestyle des Heavy Metal für die meisten Erwachsenen zu aufdringlich, jung und exzessiv.

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tisch zu sein. So weicht etwa Garth Brooks in seinem Hit „Against the Grain“ dem Image eines zwischen Country und Mainstream schwankenden Sängers aus, indem er den nonkonformistischen Heroismus besingt: „Sometimes you’ve got to go against the grain“ – und diesen Nonkonformismus als Erbe der Außenseiter-Tradition des klassischen Cowboy-Helden John Wayne und seines eigenen „rebel blood“ porträtiert.7 Obwohl Country dem weißen Wirtschaftsestablishment und der intellektuellen Elite ablehnend gegenüber steht, handelt es sich dabei doch um eine eigentlich „weiße“ Musik (was zum Teil durch die historische Verbindung mit der weißen Arbeiterkultur bedingt ist). Weiße US-Amerikaner verschiedenster ethnischer Herkunft fühlen sich deshalb durch Country angesprochen und sammeln sich um ein spezifisches Bild des Weißseins, dessen kulturelle Wurzeln sie sich umstandslos aufgrund ihrer Hautfarbe aneignen können. Selbst ein Schauspieler von so offensichtlich italienischer Herkunft wie John Travolta kann einfach ein Cowboy-Kostüm anziehen und wird sofort als tief verwurzelter weißer Texas-Held Bud Davis in Urban Cowboy (1980) akzeptiert. Für die Millionen von weißen US-Amerikanern aus der Unter- und Mittelklasse auf der Suche nach einer unverwechselbaren Identität, die es ihnen erlaubt, sich von der unbestimmten Flachheit der weißen US-amerikanischen Mainstream-Kultur abzuheben und zugleich zu ihren Traditionen dazuzugehören, muss Country die Musik der Wahl sein. Der Mangel an konkurrenzfähigen Alternativen im musikalischen Feld der 1990er Jahre stellt eine dritte Ursache für die steil ansteigende Beliebtheit des Country dar. Der große Strom kreativer Energie des Rock’n’Roll war größtenteils versiegt, und die viel versprechenden, sich aus transgressiven Traditionen entwickelnden Musikstile wie Rap, Techno und Heavy Metal wirkten nicht gerade anziehend auf die große Mehrheit der US-Amerikaner. Für die meisten Erwachsenen-Ohren ist ihr Stil einfach zu jung, zu laut und zu schrill. Die Texte sind wegen der lärmenden Musik nicht nur kaum zu verstehen, sondern wirken auf US-Amerikaner über 20 (wie es der Kulturkritiker der New York Times formulierte) „entweder unverständlich oder abstoßend“ und vermitteln Werte und Lebensweisen, die diese einfach nicht teilen können.8 Garth Brooks, der gegenwärtig größte Country-Star, kann als Beispiel für diesen Trend gelten. Nachdem er früher Hard Rock-Fan gewesen sei und Musiker werden wollte, sei er zum Country übergelaufen, weil er „diesen [Rock-]Lifestyle nicht länger als drei Minuten ausgehalten“ habe.9 7

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Einen ähnlichen strategischen Bezug auf die oppositionelle und nonkonformistische CountryTradition kann man in Barbara Mandrells, sehr untraditionellem, kommerziellem Erfolg „I Was Country When Country Wasn’t Cool“ finden. Der Song spielt mit einem Cameo-Auftritt der authentischen Country-Ikone George Jones und der bekannten Tatsache, dass Mandrell ihre Familienwurzeln im Country hat, obwohl – wie der Historiker Bill Malone bemerkt – der Stil selbst wenig mit Country zu tun hat (Country Music U.S.A., Austin 1985², S. 376). Peter Applebome, Country Graybeards Get the Boot, in: New York Times, 21. August 1994, S. H 27 f. Ein Verleger und DJ aus Nashville erklärt: „Das Beste was Country passieren konnte, war Rap“, denn dadurch wurde die Pop-Musik radikalisiert und vom Mainstream-Publikum entfremdet; „Es gibt eine große Gruppe junger Erwachsener, die Pop-Musik hören würde, wenn sie sich damit identifizieren könnte.“ Vgl. Skip Hollandsworth, Garth Brooks. A Megastar’s Last Stand (For Now), in: TV Guide, 30. April 1994, S. 14.

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Dank der Bereitschaft zur Integration von populären musikalischen Trends und Crossover-Künstlern (sogar der australischen Pop-Sängerin Olivia Newton-John)10 gelang es dem Country, die Genres des leichten kommerziellen Pop, des Soft Rock und des Folk zu absorbieren. Während der Rest des Pop-Feldes durch die radikaleren Genres Rap und Heavy Metal polarisiert und dominiert wurde, besetzte Country auf diese Weise die größte demographische Nische. Zudem hat Country in jüngster Zeit durch den geschickten Einsatz von Musikvideos attraktive junge Musiker gewinnen können (die zugleich viel normaler und akzeptabler wirken als die Protagonisten von Rap und Heavy Metal) und sich so einen größeren Anteil am jungen Publikum gesichert.11 Die Texte des Country sind für die meisten US-Amerikaner nicht nur einfach zu verstehen, ihre Wahrheiten können auch einfach geglaubt und ihre Gefühle einfach geteilt und als authentisch akzeptiert werden. Philosophisch interessanter ist allerdings der Umstand, dass es so einfach ist, diese Wahrheiten zu akzeptieren und diese Gefühle zu teilen, weil man die Texte versteht, während man den Texten glaubt, weil man die Gefühle versteht. Diese sich selbst verstärkende Dialektik von Affekt, Glaube und mündlicher Erzählung stellt, so meine These, den philosophischen Kern der Aura der Authentizität von Country dar. Country kann dadurch zugleich die attraktive Vision einer bodenständigen Reinheit aufrechterhalten, die paradoxerweise gerade im Widerspruch zu den harten historischen Tatsachen steht. Um das konkrete Funktionieren dieser überzeugenden Dialektik genauer zu erläutern, werde ich mich nun ihrem Einsatz in den Narrativen der Country-Musicals zuwenden und mich dabei vor allem auf Pure Country (1992) konzentrieren, bevor ich mit einem vergleichenden Blick auf Honeysuckle Rose (1980) schließe.

3. Wie schon der Titel nahe legt, geht es Pure Country um die Affirmation der Kraft der Authentizität und Reinheit des Country. Obwohl es sich dabei zum Teil um eine Reaktion auf die intellektuelle Kritik am Schwindel der Kommerzialisierung handelt (wie sie paradigmatisch in Robert Altmans beißender Satire Nashville, aber auch in Daryl Dukes späterem und differenzierterem Payday zum Ausdruck kommt), stellt Pure Country auch eine Antwort auf den realen Druck der Kommerzialisierung dar, der auf dieses Genre in der Folge seines großen Erfolges ausgeübt worden ist. Als geschickte Besetzung, die Authentizität mit Erfolgschancen an den Kinokassen kombiniert, spielt der anständig und knabenhaft-gut aussehende George Strait die Hauptrolle. Strait ist der wahrscheinlich authentischste und kommerziell erfolgreichste der so genannten neo-traditionalistischen Country-Sänger. Er wurde in den 1980er Jahren zum Star und hat es geschafft, bis heute seine Führungsposition und sein neo-

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Newton-John bekam 1974 sogar den „Female Singer of the Year Award“ der Country Music Association überreicht, was viele Traditionalisten verärgerte. Vgl. zu dieser Konzentration auf Musikvideos und die in ihnen auftretenden jungen und attraktiven Männer: Applebome, Country Graybeards, und Parsons, Taking Stock.

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traditionalistisches Image aufrechtzuerhalten.12 Zudem verkörpert er auf perfekte Weise eines der wichtigsten Authentizitätssymbole des Country, den Cowboy. In den Worten des wichtigsten Country-Historikers, Bill Malone: „Strait ist ein wirklicher Cowboy, der auf einer Ranch in der Nähe von Pearsall, Texas, aufgewachsen ist“ und erst während seines Armeedienstes in den späten 1970ern zu singen begann.13 Pure Country beginnt mit einer Reihe altmodischer, schon leicht orangefarbiger Standbilder – Andeutungen alter Fotografien und einer herrlichen Morgensonne –, die von Beginn an, noch bevor der Film anfängt und die Dialoge ansetzen, das Titelthema der Reinheit energisch vorantreiben. Zuerst zeigen die Bilder die hoffnungsvollen Augen und das unschuldige Gesicht eines Jungen, dann denselben Jungen mit einer Gitarre, neben einem barfüssigen Schlagzeuger gleichen Alters auf einer rustikalen Veranda, und schließlich weitere Bilder, die eine unschuldige Kindheit auf dem Land suggerieren sollen: eine von einem Baum hängenden Schaukel, ein Holzschuppen und eine Windmühle. Akustisch untermalt werden diese Bilder traditioneller Reinheit mit der Stimme eines Kindes (derjenigen von Straits Sohn, George Strait Jr.), die den Titelsong von Pure Country („Heartland“) singt, der an Anfang und Ende von Film und Album steht (zeitgleich mit dem Film wurde der Soundtrack als George Strait-Album veröffentlich). Der Text des Songs unterstreicht die Botschaft der Reinheit und der authentischen Wurzeln im noch unverdorbenen Herzen der USA und stellt Country als kulturelle Heimat dar, in der das Leben und die Gefühle der hart arbeitenden US-Amerikaner ihren wahren Ausdruck finden: When you hear twin fiddles and a steel guitar, You’re lis’nin’ to the sound of the American heart. And Opry music on a Saturday night Brings a smile to your face and a tear to your eye. Sing a song about the heartland, The only place I feel at home. Sing about the way a good man Works until the daylight’s gone. Sing the rain on a roof on a summer night. Where they still know wrong from right. Sing a song about the heartland, Sing a song about my life. 12

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Bei den Country Music Association Awards 1996 gewann Strait (der als „Hüter der Flamme des Country“ und „Purist“ beschrieben wurde) die wichtigsten Auszeichnungen für die beste Single, das beste Album und als bester männlicher Sänger. Vgl. USA Today, 3. Oktober 1996, S. D 1; Philadelphia Inquirer, 3. Oktober 1996, S. C 1. Auch 1997 gewann Strait wieder wichtige Preise der CMA (bester männlicher Sänger und bestes Album) und 1998 gelang es ihm zum dritten Mal in Folge bester männlicher Sänger und damit der am öftesten nominierte Künstler in der Geschichte der CMA zu werden. Vgl. New York Times, 25. September 1997, S. A 22; Washington Post, 24. September 1998, S. B 10. Auch 1999 wurde Strait wieder für 3 wichtige Auszeichnungen nominiert. Vgl. Malone, Country Music U.S.A., S. 409.

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Zu Beginn der zweiten Strophe übernimmt die erwachsene Stimme von George Strait. Der Text lobt noch immer das Herzland des Country als Ort reiner Schlichtheit („Where you feel Mother Nature walk along with you, / Where simple people livin’ side by side / Still wave to their neighbors when they’re drivin’ by“). Die Fotografien entfernen sich währenddessen allerdings immer weiter von der ursprünglichen Idylle kindlicher Unschuld: der Schlagzeuger, der nun einen dicken Schnurrbart und einen Cowboyhut zur Schau trägt, steht neben dem erwachsenen George (ebenfalls mit Cowboyhut) vor einem Pickup-Truck: zuerst mit einer netten Oma, die in späteren Bildern durch eine schöne junge Frau ersetzt wird, und dann mit einer kleinen Gruppe ländlicher Zuschauer. Daraufhin sehen wir die drei jungen Erwachsenen, immer noch in recht einfacher Kleidung, als Musiker in einer einfachen Konzerthalle posieren; die Sequenz der Standbilder ohne Dialog endet mit dem Bild eines umgedrehten Huts, indem einige Dollarnoten stecken – ein Hut, wie er traditionellerweise bei noch nicht durchkommerzialisierten Veranstaltungen durchs Publikum ging. Als Gegenbild zu der am Anfang stehenden Nahaufnahme des Gesichts des Jungen zeigt die Kamera als nächstes (in langsamer Vergrößerung durch den Zoom) das auf die Dollarnote gedruckte Gesicht, bis sich die Augen George Washingtons auflösen. Daraufhin sehen wir, und damit geht der Film in eine normale Bewegung und Farbe über, George Straits helle blaue Augen, die besorgt und hektisch durch einen dünnen dunstigen Nebel schauen. Das Ganze spielt vor einem dunklen Hintergrund und man hört den Lärm des schreienden Publikums. Der Film geht dann sofort über zu Aufnahmen, die das riesige Stadionpublikum und die spektakuläre Show mit beweglichen und blinkenden Farbscheinwerfern zeigen. Während die Kamera zwischen dem Publikum und der Bühne hin und her schwenkt, hat George Strait seinen (von Nebel umhüllten) Star-Auftritt als Country-Sänger Dusty Chandler, der resigniert lächelt – fast wie ein christlicher Gladiator, der die brutale Arena des römischen Zirkus betritt. Der Nachvollzug dieser Entwicklung eines glücklichen, von der Natur gesegneten Kindes zu einem verängstigten Erwachsenen, der vom nebeligen Getöse und der Dunkelheit der Unterhaltungsindustrie umgeben ist, macht schon in dieser zweiminütigen Anfangssequenz das Leitmotiv von Pure Country deutlich: der Weg von unschuldiger Authentizität zu kommerzialisierter Korruption ist lukrativ, aber gefährlich – die Ontogenese des Protagonisten Dusty Chandler als Rekapitulation der Phylogenese des Country als Genre. Der ganze Plot des Films versucht dann zu zeigen, dass die Reinheit des Country dennoch durch eine Rückkehr zu den angeblich authentischen Wurzeln wiederhergestellt werden kann, ohne den kommerziellen Erfolg zu opfern. Diese Rückkehr zu den einfachen Wurzeln wird symbolisiert durch die Flucht des Stars Dusty. Seiner hoch technisierten Konzerttournee dreht er den Rücken zu und besucht heimlich die Heimat. In diesem Prozess der Reinigung legt er zuerst seine schicken Show-Biz-Klamotten und seine trendige Pferdeschwanzfrisur sowie seinen Stoppelbart ab, erhält dann Orientierungshilfe von seiner Oma Ivy, und verliebt sich bald in ein völlig normales Rodeo-Cowgirl, auf deren Familienranch Dusty bleibt, um das Leben der Cowboys zu lernen – wegen seines bescheidenen Auftretens und seines anständigen und unauffälligen Aussehens bleibt er als Country-Star unerkannt.

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Das Cowboy-Thema ist für den Film derart zentral, dass zwei ganze Minuten der zeremoniellen Eröffnung eines Rodeos gewidmet werden, bei der ein galoppierender Cowboy auf dramatische Weise Old Glory zur Melodie von „America the Beautiful“ intoniert. Die Vision des stolzen und authentischen Amerikanismus, die im Country zum Ausdruck kommt, steht offensichtlich in Verbindung zu Vorstellungen „rassischer“ Reinheit, da alle Musiker, Fans, Reporter, Barkeeper, Kellnerinnen usw. in dem Film eindeutig als Weiße erkennbar sind. Der einzige Nichtweiße, der nur kurz gezeigt und ausgelacht wird, ist ein zwergwüchsiger schwarzer Diener, der mit übertriebenen Breakdance-Bewegungen Limousinen-Türen vor dem Mirage Hotel in Las Vegas öffnet, in dem Dusty sein Comeback auf der Bühne hat und zum traditionalistischen „pure country“-Stil zurückkehrt. Die vom Country vorgenommene Identifikation mit altmodischen, ländlichen und zutiefst amerikanischen Reinheitsvorstellungen könnte kaum deutlicher ausfallen und wird auch in anderen Country-Filmen affirmiert (etwa in Tender Mercies, Honeysuckle Rose, Coal Miner’s Daughter, Sweet Dreams und Honkey Tonk Man). Bei diesem leicht rustikalen Bild der Reinheit handelt es sich aber keineswegs nur um eine Erfindung Hollywoods. Auch außerhalb des Mainstreams der Unterhaltungsindustrie kommt es in zahlreichen Songtexten zum Ausdruck. So hat etwa Henry Ford die für den frühen Country zentrale Vorstellung altmodischer Authentizität gefördert, weil er der Ansicht war, die „wahre“ US-amerikanische Kultur finde sich „außerhalb der Städte“. Eine ganz ähnlich gelagerte Suche nach einer lokal verwurzelten „genuin angelsächsischen“ Musik motivierte den Komponisten, Dirigenten und Musikpädagogen Lamar Stringfield zu der (im Unterton beunruhigend rassistischen) Aussage, dass die Verwurzelung des Country in abgelegenen Regionen „die Menschen in einem natürlichen Gefühlszustand und die Musik frei von allem Musikantentum belassen“ habe.14 Solche traditionalistischen Vorstellungen einer uramerikanischen Reinheit haben mit der Wirklichkeit allerdings wenig zu tun. Obwohl die Fiddle immer eine zentrale Rolle in diesem Genre gespielt hat und Teil der ursprünglichen Volkskultur war, trifft das schon auf die Steel Guitar (die im Titelsong von Pure Country ebenfalls vereinnahmt wird) nicht mehr zu: Bei dieser handelt es sich nämlich um einen Import aus Hawaii, der sich erst in den 1940er Jahren zum Markenzeichen des Country entwickelt hat. Country als scheinbar uramerikanisches Genre wurde von Billboard, dem führenden Blatt der Musikbranche, anfangs dem Bereich „nicht-amerikanische Musik“ und darauf der Rubrik „race music“ zugeordnet, bis es schließlich die übergeordnete Bezeichnung „American Folk Music“ gefunden wurde.15 Auch das im Country vermittelte Cowboy-Image ist keineswegs authentisch. Wie Malone bemerkt, trug der Cowboy „nichts zur US-amerikanischen Musik bei“, sondern diente bloß als romantisch besetzbares (und damit kommerziell Erfolg versprechendes) Bild, das von Country-Musikern geschickt eingesetzt worden ist, um der engen Verbindung mit dem negativ besetzten und weit weniger gut vermarktbaren Image der Hillbilly-Kultur zu entgehen.16 14 15 16

Vgl. Peterson, Creating Country Music, S. 59, 64. Vgl. Malone, Country Music U.S.A., S. 127, 181. Ebd., S. 137–141, 152. Malone zeigt, dass die bekannten „singing cowboys“ Gene Autry, Roy Rogers und Tex Ritter weit davon entfernt waren, authentische Cowboys zu sein, die dann zu

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Schließlich ist auch die Vorstellung eines „weißen“ und nichtkommerziellen Ursprungs des Country ein reiner Mythos. Malone und andere haben gezeigt, wie Country stets „starke Anleihen bei der musikalischen Kultur der Schwarzen“ gemacht hat. Das Banjo kommt ursprünglich aus Afrika und der von Schwarzen gespielte Blues hatte einen derart großen Einfluss auf einige Country-Songs, dass diese fälschlicherweise als „race music“ eingeordnet worden sind. Jimmie Rodgers, der auch „der Vater des modernen Country“ genannt wird, erlernte sein musikalisches Können beim Zusammenspielen mit schwarzen Musikern in seiner Heimatstadt in Mississippi und begann seine professionelle Karriere als „schwarz geschminkter Entertainer und reisender Quacksalber“; der Erfolg von Roy Acuff von Grand Old Opry begann ebenfalls mit schwarz geschminktem Gesicht in einem fahrenden Wagen und auch in der Grand Old Opry selbst gab es Shows mit schwarz geschminkten Entertainern. Als zwölfjähriger Junge lernte Hank Williams Gitarre spielen und Singen von einem schwarzen Straßensänger mit dem Namen Tee-Tot. Ray Charles produzierte eine Country-Platte und nahm Songs mit dem Country-Star George Jones auf, während der schwarze Sänger Charley Pride 1971 den Entertainer of the Year Award der Country Music Association gewann. Genauso wenig wie Country „am Ursprung und in seinen späteren Formen ‚weiß‘ oder ‚angelsächsisch‘ war, ist Country ausschließlich ländlich oder nichtkommerziell“ – so Malones Schlussfolgerung.17 Die meisten Country-Musiker sind in einem städtischen Umfeld aufgewachsen und viele der frühen Klassiker (wie „Lovesick Blues“) erblickten in den Clubs des New Yorker Straßenzugs „Tin Pan Alley“ das Licht der Welt. Aufgrund der frühen Verbindungen mit den fahrenden Entertainern, dem Varieté und den schwarz geschminkten Musikanten sowie mit der New Yorker MusikIndustrie war Country niemals frei von kommerziellen Motiven. Die heutige CountryMusik hat (durch den Medienrummel, den Crossover mit Stilen des kulturellen Mainstream und die Vermarktung) jedoch ein so stark kommerzialisiertes Image, dass die Vorstellung eines „pure country“ zur offensichtlichen Chimäre wird. Trotz dieser faktischen Unglaubwürdigkeit existiert der Mythos der Authentizität aber weiterhin und wird durch Country-Musiker und -Fans am Leben gehalten, die es eigentlich besser wissen. Auch wenn die aufgezeigte „Unreinheit“ nicht zum Alltagswissen der durchschnittlichen Country-Hörer gehören mag, so müssen sie doch die offensichtliche

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singen anfangen. Vielmehr handelt es sich bei allen dreien um professionelle Musiker, die sich des Cowboy-Images bedienten, als es sich als karriereförderlich erwies. Jeder, der sich mit Country auskannte, wusste, dass es sich bei dem angeblich authentischen Cowboy-Image um einen Schwindel handelte. So weigerte sich etwa Roy Acuff von The Grand Old Opry (auch als „King of Country Music“ bekannt) vehement dagegen, die ihm und seiner Band für den Film The Grand Old Opry von Republic Studio zugewiesene Cowboy-Kleidung anzuziehen, und bestand darauf, dass das aus karierten Hemden und Jeans oder Overalls bestehende Bergsteiger- und Arbeiteroutfit um einiges authentischer sei. Vgl. Richard Peterson, The Dialectic of Hard-Core and Soft-Shell Country Music, in: South Atlantic Quarterly, 94 (1995), S. 279 f., sowie Creating Country Music, Kap. 9. Malone, Country Music U.S.A., S. 5. Die in diesem und dem vorangehenden Absatz genannten historischen Tatsachen entnehme ich zum Großteil dem genannten Werk Malones und Ellisons Country Music Culture.

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historische Irreführung in Barbara Mandrells Song „I Was Country, When Country Wasn’t Cool“ erkennen, in dem sie die Authentizität des Country für sich reklamiert, weil sie Roy Rogers im Kino gesehen habe, „als der Westen noch wirklich wild war“.

4. Wie gelingt es der Country-Musik trotz ihrer offensichtlichen „Unreinheit“ die Fans von ihrer reinen Authentizität zu überzeugen? Welches sind die wichtigsten Quellen für die Entstehung eines solchen Glaubens und die Bildung unserer Standards für Authentizität? Diese Fragen reichen weit über den spezifischen Fall des Country hinaus und betreffen das philosophische Problem des Verhältnisses von Glaube und Wirklichkeit. Um hier einer Antwort etwas näher zu kommen, kehren wir einen Moment zu William James zurück. James betont mit Hume und Darwin die affektive Natur des Menschentiers und vertritt die Ansicht, dass in dem alltagspraktischen Sinn, „in dem wir die Wirklichkeit der einfachen Unwirklichkeit gegenüberstellen und in dem wir sagen, etwas komme mehr Realität zu als etwas anderem und solle deshalb eher geglaubt werden, ‚Realität‘ einfach die Verbindung zu unserem affektiven und aktiven Leben bedeutet. … In diesem Sinn ist all jenes real, das unser Interesse erweckt und stimuliert; wann immer uns ein Objekt so anspricht, dass wir uns ihm zuwenden, es akzeptieren, uns geistig mit ihm befassen oder es im Handeln beachten, ist es für uns wirklich und wir glauben an seine Existenz. … Ein natürlicher Mensch hält jeden interessanten und stimulierenden Gedanken für glaubwürdig. Etwas leidenschaftlich zu erkennen bedeutet eo ipso es zu affirmieren.“18 Zwei zentrale Ideen, die James hier zum Ausdruck bringt, können uns dabei helfen zu erklären, wie es der Country-Musik gelingt, die Menschen von ihrer Reinheit und Authentizität zu überzeugen, auch wenn die dem entgegenstehenden Evidenzen durchaus bekannt sind. Erstens entsteht Glaube durch Emotionen. Zweitens lässt sich Realität – und ebenso Authentizität oder Reinheit – nur komparativ als Mehr oder Weniger fassen. Dank dieser Logik der Relativität kann Country trotz der tatsächlichen Unreinheit und Inauthentizität eine uramerikanische und rustikale Authentizität für sich in Anspruch nehmen, indem die Differenz zur noch größeren Unreinheit und Kommerzialisierung anderer Formen der Popmusik (sowie unreiner Verfallsformen des Country) betont wird.19 18

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William James, Principles of Psychology, Cambridge/MA 1983, S. 924, 936 (Hervorhebungen von James). „Das unsere Aufmerksamkeit Erzwingende ist ebenfalls Resultat unserer Lebendigkeit und unseres emotionalen Interesses.“ (S. 929) In Country-Musicals wird des Öfteren thematisiert, dass „Realität“ und „Authentizität“ graduelle und kontextuelle Kategorien sind. So wird etwa in Urban Cowboy der Held von einer Frau in einer Spelunke mit der Frage konfrontiert, ob er denn ein wirklicher Cowboy sei, worauf er antwortet: „Das hängt davon ab, was du dir unter einem wirklichen Cowboy vorstellst.“ Ihr Wirklichkeitskriterium ist die Fähigkeit, „two-step“ tanzen zu können. Im weiteren Verlauf werden durch den Film jedoch andere Kriterien des authentischen Cowboy-Seins ins Spiel gebracht: die Fähigkeit, einen

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Extreme Emotionalität und Sentimentalität sind Markenzeichen des Country und hauptsächlich dafür verantwortlich, dass Intellektuelle Country als vulgären Kitsch abtun.20 Dennoch erkennen sowohl die Erforscher als auch die Musiker des Country in der „offenen Zurschaustellung von Emotionen“ das Geheimnis der scheinbaren Authentizität und damit des Erfolgs dieses Genres. So wird etwa von Jimmie Rodgers behauptet, er kompensiere seine begrenzten musikalischen Fähigkeiten durch „die einfache Authentizität und die intensive Emotionalität jedes Auftritts“, so „als habe er jede gesungene Zeile gelebt und jeden Tempowechsel selbst erfahren“. Rodgers selbst insistiert: „It’s gotta have pathos. Make folks feel it – like we do, but we gotta have the feelin’ ourselves first.“ Trotz seines schlechten Geigenspiels fand der Star von Grand Old Opry, Roy Acuff, schnell eine erste Anstellung, da sein „emotionaler Stil“ („er weinte oft, während er sang“) überzeugend von seiner Aufrichtigkeit zeugte. Sogar die heutigen, massenmedial erfolgreichen Megastars, wie Garth Brooks, nehmen für sich in Anspruch, „einen Song, der aus vollem Herzen kommt, 80 Songs, die clever sind und direkt die Charts erobern“, vorzuziehen und bringen das in zahlreichen ihrer Texte zum Ausdruck. Die von vielen Beobachtern als für den Erfolg des Country konstitutiv eingeschätzte Aufrichtigkeit wird nicht durch die Demonstration von Tatsachen, sondern durch emotionale Überzeugung erreicht: durch ein Pathos, das beweist, dass der Song so unmittelbar aus dem tiefsten Inneren kommt, dass keine Falschheit möglich ist. Von Historikern wird das Pathos des Country oft mit dem südstaatlichem Pietismus in Verbindung gebracht, in dem Predigten oft die Gestalt emotional gefärbter Erzählungen und eines Appells an die Barmherzigkeit statt an die Einsicht annehmen. „Sentimentalität – der Appell an das Herz, auch entgegen den Geboten des Kopfes – wurde zum höchsten Prinzip erhoben.“21 Obwohl die große Sentimentalität des Country unbestreitbar ist, kann man auch nicht leugnen, dass Intellektuelle und andere kritische Hörer diese Sentimentalität zwar wahrnehmen, gegen ihre ansteckende Anziehungskraft aber immun zu bleiben schei-

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mechanischen Rodeo-Bullen zu reiten, dickköpfigen Schneid und Stolz zu zeigen und gut im Bett zu sein. Der letzte Punkt wird – gerade über die Metapher des Reitens – in den Texten zeitgenössischer Country-Songs oft als Kriterium dafür benutzt, ein „wirklicher Cowboy“ zu sein. Der Grund hierfür ist, dass unsere intellektualistische Ästhetik (von Kant bis T. S. Eliot) den rohen emotionalen Reiz als ästhetisch vulgär ablehnt. Vgl. die detaillierte Darstellung in Richard Shusterman, Of the Scandal of Taste. Social Privilege as Nature in the Aesthetic Theories of Hume and Kant, in: Paul Mattick (Hg.), Eighteenth-Century Aesthetics and the Reconstruction of Art, New York 1993, S. 96–119; sowie T. S. Eliot and the Philosophy of Criticism, New York 1988, S. 64– 67. Vgl. zu den einzelnen Details und Zitaten: Malone, Country Music U.S.A., S. 242, 301; Paul Kingsbury und Alan Axelrod (Hg.), Country. The Music and the Musicians, New York 1988, S. 49; Nolan Porterfield, Jimmie Rodgers. The Life and Times of America’s Blue Yodeler, Champaign 1979, S. 75 f.; Peterson, The Dialectic of Soft Shell and Hard Core, S. 278 f.; Ellison, Country Music Culture, S. 38, 40, 105, 261. Das Zitat zum Südstaaten-Pietismus stammt vom Religionshistoriker Peter Williams (America’s Religions. Traditions and Cultures, New York 1990, S. 233). Ellison zitiert auch den zeitgenössischen Country-Sänger Colin Raye: „Ich ziehe die Songs vor, die sich so anhören, als habe ihr Autor sich ein Loch ins Herz geschnitten und das Blut einfach fließen lassen“ (S. 256).

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nen. Für sie handelt es sich um unüberzeugenden und durchkommerzialisierten Kitsch, also das genaue Gegenteil von Authentizität. Wie kann man diese Unterschiede in den Reaktionen und Meinungen erklären? Schon William James erkannte, dass derselben Idee mit Bezug auf verschiedene Menschen ein unterschiedlich großes emotionales Anregungspotential zukommen kann und die Macht ihrer Einwirkung auf unsere Überzeugungen deshalb durchaus variiert. Die Ursachen dieser Unterschiede liegen James zufolge „hauptsächlich in unserer verschiedenen Empfänglichkeit für emotionale Erregung und in den verschiedenen Trieben und Hemmungen […], die diese nach sich zieht“.22 Die typisch intellektuelle Haltung des kalten, rationalen und kritischen Denkens (die von der Philosophie so sehr geschätzt wird) versucht zweifelsohne genau eine solche Hemmung der emotionalen Erregung und der durch sie bedingten Leichtgläubigkeit zu errichten. Die gewohnheitsmäßige Hemmung der emotionalen Erregung im Dienste der Unterwerfung unter unsere rationalen und kognitiven Interessen kann mit der Zeit so sehr verinnerlicht und automatisiert werden, dass sie unbemerkt funktioniert und sich zu einem unbewussten Reflex, einer instinktiven Abneigung gegen intensive Gefühle entwickelt. Die disziplinäre (und soziale) Ausbildung von Intellektuellen tendiert dazu, ihnen solche gewohnheitsmäßigen Hemmungen einzuflößen, um die vorschnelle Kapitulation des Selbst vor starken Emotionen zu verhindern. Es kann deshalb kaum überraschen, dass Intellektuelle weniger empfänglich für die sentimentalen Reize des Country sind als die „einfachere“ arbeitende Bevölkerung, bei der die hemmende Wirkung kritischen Denkens weniger ausgebildet ist.23 Die arbeitende Bevölkerung verfügt zudem über weit weniger freire Zeit und Energie, um auf den im Country vermittelten positiven emotionalen Gehalt einen sehr selektiven oder kritischen Blick zu werfen. Zu gehetzt, um sehr wählerisch zu sein, ergreifen und genießen die gewöhnlichen Leute angenehme emotionale Erfahrungen (diese unbestrittene Würze des Lebens), wo sie ihnen ohne weiteres zugänglich ist. Zudem verstärkt die Tatsache, dass das hart arbeitende und gestresste Zielpublikum des Country emotionale Entspannung braucht und diese im Country findet, die habituelle Verknüpfung dieser Musik mit Emotionalität und erhöht die Wahrscheinlichkeit der Auslösung bestimmter Gefühle. Hier haben wir es mit einem einigermaßen zirkulären Mechanismus emotionaler Befriedigung und Verstärkung zu tun. Das habitualisierte Verlangen nach angenehmen Emotionen und ihr in der Vergangenheit erfahrenes Auftreten beim Hören von Country verstärken die emotionale Anziehungskraft der Musik und führen beim Zielpublikum zur Ausbildung einer antizipierenden Spannung, die beim Hören eines Country-Stücks 22 23

William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt/M. 1997, S. 275; vgl. S. 141. Dennoch können in bestimmten Stimmungen und Situationen oder durch äußeren Druck, der das habituelle Selbst dezentriert, auch Intellektuelle ihre hemmenden Gewohnheiten überwinden und die im Country vermittelte Emotionalität teilen, statt sie zu diffamieren. Die in diesem Kapitel zum Ausdruck kommende Wertschätzung des Country ist natürlich teilweise selbst Resultat lohnender Erfahrungen dieser Sentimentalität und weist darauf hin, dass wir Intellektuelle von der, wenn auch nur situationsbezogenen und vorübergehenden Freisetzung des Selbst von unseren geschätzten kritischen Hemmungen profitieren können.

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ausbricht: eine Antizipation und Anspannung, die in ihrer Realisierung die emotionale Lebendigkeit des Country noch verstärkt. Diese Zirkularität sollte man nicht als logischen Irrtum abtun, sondern als psychologisch Tatsache habitueller Konditionierung und emotionaler Verstärkung akzeptieren. Wir müssen nun über diese allgemeinen theoretischen Aussagen hinausgehen und einige konkrete Beispiele der emotionalen Herstellung von Glaubwürdigkeit im Country näher betrachten. Dabei sollten wir uns Fällen zuwenden, in denen deutlich wird, wie das Pathos des Country den Anspruch auf Authentizität untermauert und wie dies mit den vergleichenden Vorstellungen des Wahren und Reinen zusammenpasst. Wie macht sich Country den psychologischen Mechanismus zunutze, in dem sich die Wahrnehmung größerer Authentizität mit einem starken emotionalen Verlangen nach dem Reinen und Authentischen verbindet und dadurch ein verführerisches Gefühl der einfachen und reinen Authentizität tout court generiert? Bevor ich jedoch den Einsatz solcher Strategien in einigen Country-Musicals untersuchen werde, sollte ein drittes wichtiges Mittel der Herstellung von Glaubwürdigkeit und Authentizität genannt werden: die Verwendung von Erzählungen. Da William James diesen Faktor vernachlässigt, müssen wir uns einem anderen Philosophen der Erfahrung zuwenden, der dem Country noch ferner steht: dem kosmopolitischen Intellektuellen Walter Benjamin. In seinem berühmten Essay „Der Erzähler“ beklagt Benjamin das fortschreitende Verschwinden des Geschichtenerzählens durch die Fragmentierung der Erfahrung (die „im Kurse gefallen“ ist) und die Schwächung der Tradition. Im Gegensatz zur Geschichte ist die Stichhaltigkeit einer Erzählung nicht der „Kontrolle“ unterworfen und hängt nicht von detaillierten Erklärungen ab. Ihre überzeugungsgenerierende Autorität, so Benjamin, liegt in der Verbindung mit der „Kette der Tradition“ und dem im Tod endenden unveränderlichen Lebenszyklus menschlicher Erfahrung begründet. Letztlich hängt die Überzeugungskraft der Erzählung jedoch daran, dass das Interesse des Zuhörers gewonnen wird. Benjamin verwendet bewusst den Begriff „Zuhörer“, da er die „mündliche Tradition“ des Geschichtenerzählens und ihre Verbindung mit der „lebendigen Unmittelbarkeit“ und Gemeinschaft mündlichen Austauschs im Gegensatz zur vom Buch abhängigen Privatheit des Romans betonen möchte. Die mündliche Erzählweise erfordert auch die Fähigkeit des Erinnerns, das Gedächtnis, um die Geschichte zu bewahren: „Der Angelpunkt für den unbefangenen Zuhörer ist, der Möglichkeit der Wiedergabe sich zu versichern.“ Schließlich entstammt die Glaubwürdigkeit des Erzählers der Tatsache, dass er, „was er erzählt, aus der Erfahrung“ nimmt, „aus der eigenen oder berichteten“: sein „Stoff“ ist das „Menschenleben“, insbesondere das eigene.24 Dem entspricht aufs Genaueste die im typischen Country-Song zum Ausdruck kommende Erzählung einer Episode oder einer längeren Lebensgeschichte aus der Perspektive der ersten Person, die für gewöhnlich die des singenden Erzählers ist. Obwohl die Erzählung des Sängers ihre Kraft der Verbindung mit Traditionen des mündlichen Geschichtenerzählens und der Balladendichtung sowie den darin vermittelten traditionellen Werten und Geschichten verdankt, stammt ihre Glaubwürdigkeit doch 24

Walter Benjamin, Der Erzähler, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1991, Bd. II.2, S. 439, 443 f., 453.

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auch aus einem Gefühl authentischer Lebenserfahrung. Die erzählte Geschichte ist oft schmerzvoll und handelt von den Fehlern, den Verlusten und dem Bedauern des Erzählers selbst. Gerade durch diese quälerische Selbstentblößung kann der Sänger aber nicht nur die Authentizität eines ernst gemeinten Bekenntnisses, sondern sogar Autorität und Distinktion für sich in Anspruch nehmen. Er hat schließlich den Mut, seine schmerzvollen Erfahrungen zu teilen und sein Publikum derart zu belehren. Der Country-Sänger nähert sich damit dem, was Benjamin als die Quelle der unvergleichlichen Aura des Erzählers und seiner Nähe zu „Lehrer[n] und Weise[n]“ beschreibt: der Fähigkeit, „sein ganzes Leben erzählen zu können“. „Der Erzähler – das ist der Mann, der den Docht seines Lebens an der sanften Flamme seiner Erzählung sich vollkommen könnte verzehren lassen.“25 Country als Kunst des Erzählens zu beschreiben stellt nicht den Versuch dar, dieser Musikrichtung einen intellektuellen, durch den Bezug auf Benjamin autorisierten Chic zu verleihen. Das von zahlreichen Beobachtern bemerkte Selbstverständnis dieses Genres als „Medium des Erzählens“ zeigt sich sogar in der Weise, in der „andere Elemente möglichst einfach gehalten werden, um die erzählte Geschichte zu betonen. Die Struktur der Akkorde ist einfach und vorhersagbar, die Auswahl an Melodien ist beschränkt, der Rhythmus ist gleichmäßig und die Orchestrierung ist spärlich oder beschränkt sich zumindest auf den Hintergrund, so dass der Text verstanden werden kann.“ Mit den Worten eines Sängers und Autors: „If you can’t hear each word, it ain’t country, son.“26 Die Bedeutsamkeit der Texte rührt im Country nicht von den konkreten Reimen, sondern von den darin zum Ausdruck gebrachten Erzählungen her, die auch diejenigen Zuhörer ansprechen, die ansonsten kaum eine Präferenz für die einfachen Melodien und Rhythmen des Country haben würden. Auf die Frage nach seiner Vorliebe für Country antwortete etwa die Jazzgröße Charlie Parker, er liebe einfach die erzählten Geschichten.27 Diese Erzählungen sind aber nicht nur auf Grund der von Benjamin herausgestellten Elemente der Tradition, der Mündlichkeit und der Lebenserfahrung so erfolgreich. Auch die narrative Form selbst intensiviert das im Country entfaltete Pathos und untermauert dessen Authentizität. Die für die narrative Struktur konstitutive Vorwärtsbewegung, Entfaltung und Antizipation tragen auch zum Aufbau von Emotionen bei. Die archetypische Struktur der im Country erzählten Geschichten lösen (mit ihrer Betonung fundamentaler Gefühle der Liebe, des Scheiterns und der Trauer) tief sitzende und weit ausgreifende emotionale Erinnerungen aus. Und dieselbe archetypische und formelhafte Einfachheit der erzählten Handlung ermöglicht eine extreme Verdichtung der Geschichte, die wiederum eine der Ermüdung der Aufmerksamkeit gar nicht erst ausgesetzte emotionale Intensität erlaubt. Diese Verdichtung und Glaubwürdigkeit der Erzählungen wird noch dadurch verstärkt, dass der Inhalt der Texte oft mit dem Leben der Sänger verbunden wird, so dass 25 26

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Ebd., S. 464 f. Vgl. Richard Peterson und Melton McLaurin, Introduction. Country Music Tells Stories, in: dies. (Hg.), You Wrote My Life. Lyrical Themes in Country Music, Philadelphia 1992, S. 2. Vgl. Nat Hentoff, Listen to the Stories. Nat Hentoff on Jazz and Country Music, New York 1995, S. 168.

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die Zuhörer in die Lage versetzt werden, die Geschichten mit ihnen bekannten Tatsachen anzureichern (wie etwa George Jones’ Trinkgelagen und Garth Brooks’ Untreue und seiner späteren Rückkehr zu seiner Frau). Um die Kraft des eigenen Pathos zu verstärken, lässt Country also die angenommene Grenze zwischen Kunst und Leben, zwischen künstlerischer Rolle und wirklicher Person auf produktive Weise verschwimmen. Schließlich ist der im Country eingesetzte narrative Rahmen besonders dazu geeignet, emotional aufgeladene und deshalb überzeugende Kontrastierungen im Bereich relativer Authentizität vorzunehmen. Die narrative Zeitlichkeit ermöglicht nicht nur die Erinnerung an die frühen Tage der größeren Reinheit und Authentizität des Country, sondern zeugt vom anhaltenden Kampf um größere Authentizität in einer korrumpierenden Umwelt.

5. Wie lässt sich die wechselseitige Verstärkung von Pathos, relativer Authentizität und Narrativität als Strategien der Erzeugung von Glaubwürdigkeit am Beispiel konkreter Country-Musicals nachweisen? Fangen wir mit Pure Country an. Der gleich zu Beginn eingespielte Song „Heartland“ lässt eher an die vermeintliche anatomische Heimat der Emotionen denken als ein spezifisches, geografisch lokalisierbares ländliches Amerika. Der Text bejaht die altehrwürdigen „Opry“-Standards der musikalischen Authentizität, wie sie durch emotionale Reaktionen („a smile“ und „a tear“) verbürgt werden, die der Film durch Handlung und Musik gleichermaßen hervorzurufen versucht: von den ersten Bildern des Vorspanns an, die mit der zart singenden Stimme eines Jungen unterlegt sind und das sentimentale Gefühl verlorener Unschuld evozieren sollen. Die reine Authentizität von Straits neotraditionalistischer und doch kommerziell erfolgreicher Crossover-Variante des Country wird dann durch eine um Topoi relativer Authentizität aufgebaute Erzählung untermauert. In der Erzählung des Films wird Dusty Chandler (der von Strait verkörperte schlichte und ländliche Held aus Texas) dank der kommerziellen Strategien seiner strengen Managerin und früheren Geliebten – der ambitionierten und sehr attraktiven Lula (gespielt von Lesley Ann Warren), deren frühere und weit unschuldigere Gesichtszüge die Titelsequenz schmückten – zum Star. Das kommerzielle Potential eines Crossovers von Country und Glamour-Rockshow ausnutzend, hat Lula Dustys Show in eine laute und pyrotechnisch begleitete Bühnenrevue umgewandelt, während aus Dusty selbst ein protziger Rockerschwarm samt weißer Lederjacke, Stiefeln aus Schlangenleder, Pferdeschwanz und einem sexy Designer-Stoppelbart (à la George Michael) geworden ist. Lula schreibt ihm sogar vor, welche Lieder er singen und mit welchem Spruch er das Konzert beenden soll. Dusty beschwert sich, dass die Glitzershow ihm einen authentischen Selbstausdruck und eine wirkliche Kommunikation mit dem Publikum nicht ermögliche („I’m tired of all the smoke and the lights. It ain’t me. … The people can’t see me with all the smoke and lights and they can’t hear me because the music’s so loud.“), und ist versucht, die ganze Abmachung aufzulösen und sein etwas dümmlich aussehendes Cowboy-haute-couture-Outfit abzustreifen.

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Nachdem Dustys Schlagzeuger und Freund Earle diese Kritik bestätigt, sieht man, wie Dusty aus dem Bild verschwindet und in der nächsten Einstellung per Anhalter in einem Truck mitfährt. Schon bald tauscht er seine Schlangenlederstiefel gegen die „wirklichen“ Cowboy-Stiefel des Fahrers aus.28 Weitere Fahrten führen ihn noch tiefer in das ländliche Texas seiner Jugend (eine Rückkehr zur Unschuld, die durch das Abschneiden seines Pferdeschwanzes, das Abrasieren des Stoppelbarts und das Abstreifen der verbleibenden chicken Klamotten symbolisiert wird), bis er nach Hause kommt, wo seine Großmutter Ivy die Kritik an Lulas Showbiz-Ästhetik untermauert. Indem sie sich über den „Rauch“ und das „Licht“ und den aus dem Hintergrund kommenden „Krach“ beim Konzert beschwert, der es ihr unmöglich gemacht habe, Dusty während seines Konzerts zu sehen oder zu hören, unterstreicht sie die Aussage: „Without the words, there’s no song.“ Die Rückkehr zur Authentizität wird des Weiteren durch Dustys Griff nach seiner alten akustischen Gitarre und einen Besuch am Grab seiner Eltern symbolisiert (denn der Tod ist, wie Benjamin bemerkt, als ewiges Symbol der grundlegenden Realitäten des Lebens, eine alte Quelle erzählerischer Autorität). Dusty kehrt auch zu der einfachen Bar mit der Bühne zurück, auf der er zuerst als Country-Sänger aufgetreten war. Völlig betrunken fällt er wortwörtlich von seinem Stuhl und wird zusammengeschlagen, weil er die Aufmerksamkeit einer zu Country-Musik tanzenden attraktiven Rothaarigen (mit Namen Harley) auf sich gezogen hat. Aus Mitleid mit ihm, aber ohne ihn (wegen seines veränderten Aussehens und einfachen Auftretens) zu erkennen, nimmt sie ihn mit zu sich nach Hause. Ihr Zuhause stellt sich als wirkliche Farm heraus und Harley als echtes Cowgirl, das an einem professionellen Rodeo-Wettbewerb teilnimmt, um genug Geld zur Aufrechterhaltung der ökonomisch nicht mehr rentablen Familienranch zu gewinnen, von der nach und nach schon das meiste Land verkauft worden ist, um die Familie (Harley, ihre beiden Brüder und ihren Vater) zu versorgen. Dusty, der zu seinem ursprünglichen Namen Wyatt zurückkehrt, überzeugt die Brüder davon, dass er bleiben sollte, indem er ihnen viel Geld für ein Zimmer mit Verpflegung, ein Pferd und Lassounterricht zahlt. Als sich zwischen Dusty und Harley eine Liebesgeschichte zu entwickeln beginnt, gesteht sie, früher einen Fremden geliebt zu haben, von dem sich herausstellte, dass er verheiratet war – auf eine entsprechende Frage kann Dusty antworten, dass er niemals geheiratet habe. Während Dustys Rückkehr zur Wirklichkeit des „pure country“ hat Lula verzweifelt versucht, ihn zu finden, und zugleich dafür Sorge getragen, dass die Show auch ohne ihn weitergeht: indem sie einen gut aussehenden Bühnenarbeiter (ihren derzeitigen Geliebten) als Dusty-Imitator auf die Bühne stellt und den Gesang per Playback einspielt. Obwohl nichts auffliegt (weil Lula während des Konzerts noch mehr Rauch und Lärm produzieren lässt), protestiert die Band gegen diesen Schwindel und droht auszu28

Dustys Show wird von seinen Kritikern mit der Aufführung eines „dancin’ chicken“ verglichen, die diese als Kinder gesehen hatten: das Huhn auf der Bühne tanzte nicht freiwillig, sondern wurde von einem Regisseur gesteuert, der die Musik abspielte und unter der Bühne heimlich Heizplatten bediente und das Huhn so am Tanzen hielt. Earles Frage „Warum wohl ist das Huhn nicht einfach von der Bühne gerannt?“ führt zu Dustys Entscheidung, genau dies zu tun.

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steigen. Dustys treuer alter Freund und Schlagzeuger Earle eilt auf der Suche nach Dusty zur weisen Großmutter Ivy und bekommt gesagt: „If you follow the roots, you’ll find him.“ Das tut Earle, aber ebenso Lula – die (ohne dass Dusty davon etwas mitbekommt) Harley belügt und ihr sagt, Dusty sei ihr Ehemann, bevor sie ihn nach Las Vegas bringen lässt, wo zufälligerweise nicht nur das nächste Konzert, sondern auch Harley’s nächstes Rodeo stattfinden wird. Zu diesem Zeitpunkt hat der nach Berühmtheit strebende Bühnenarbeiter seine Geschichte schon an die Presse durchsickern lassen und so eine wütende Kontroverse über die Korruption der Authentizität von Country durch die betrügerischen Geschäftspraktiken der Popmusik ausgelöst, wie sie im berüchtigten Skandal um Milli Vanilli offen gelegt worden sind, der im Dialog des Films direkt angesprochen wird. Die konzentrierte Aufmerksamkeit der Massenmedien ist deshalb auf Dustys Konzert in Las Vegas als entscheidenden Textfall für die Reinheit und Authentizität des Country gerichtet. Dusty fordert von Lula, das Konzert auf seine eigene Weise geben zu können („no more smoke, no volcano blasts, no light show“), Harley und ihre Familie einzuladen und die Lügen endlich aufzudecken. Nach einer kurzen Sequenz zu Harleys Rodeo (die US-amerikanischen Flaggen und Hymnen mehr Aufmerksamkeit schenkt als Harleys Ritt) erreicht der Film sein klimaktisches Ende mit Dustys Konzert im Mirage Hotel, zu dem Harley und ihre Familie sowie Großmutter Ivy in Limousinen vorgefahren kommen (und von dem lächerlichen zwergenhaften Diener begrüßt werden, der ein unbeabsichtigtes Symbol für die schrumpfende Anerkennung der Wichtigkeit der schwarzen Kultur für die Entwicklung des Country darstellt). Dusty betritt die Bühne mit seiner alten Akustikgitarre in der Hand, dieses Mal ohne Rauch, ohne Lichtshow und ohne Hintergrundmusik. Er sagt dem jubelnden Publikum, dass er an diesem Abend ein „etwas anderes“ Konzert geben werde, und bittet den Bühnentechniker, den Scheinwerfer auf ihn vorne auf der Bühne zu richten. Er setzt sich an den Rand der Bühne gleich gegenüber von Harley und singt für sie ein Liebeslied („I Cross My Heart“). Dabei sieht er sie durch einen sehr dünnen Nebel aus Rauch zärtlich an. Zigarettenrauch steigt aus dem Publikum auf und mischt sich mit dem hellen Scheinwerferlicht. Während Dusty singt, bebt Harley vor Tränen der Freude und ihr Weinen wird immer stärker bis das Lied zu seinem Ende kommt, bei dem Dusty von der Bühne stiegt und sie umarmt, umgeben vom gerührten klatschenden, johlenden und pfeifenden Publikum. Aus dieser Beschreibung der Handlung des Films sollte deutlich geworden sein, dass die Affirmation des Reinen, Authentischen und „Wirklichen“ nur über Kontraste erfolgen kann, wodurch (selbst für nicht philosophisch gebildete Zuschauer) die Relativität dieser Kategorien offensichtlich wird. Obwohl Dustys Konzerte im Vergleich mit unserer Vorstellung von seinen unschuldigen Auftritten als Jugendlicher als kommerziell und korrumpiert verurteilt werden können, sind sie doch bei weitem authentischer als der Schwindel mit dem zum Playback auftretenden Bühnenarbeiter oder dem Popduo Milli Vanilli. Auch wenn der für die Show herausgeputzte Dusty nicht der wirkliche Dusty ist, so ist er doch bei weitem wirklicher als sein Imitator auf der Bühne.

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Zudem ist Dustys Rückzug von den Werten des kommerziellen Showbusiness nur partiell und temporär. Um auf Harleys Ranch bleiben zu können, bietet er den geldgierigen Brüdern nicht seine harte Arbeit, sondern eine Handvoll Geld an, die dieses ja brauchen, weil die Ranch – im Film das Paradigma für Authentizität in Sachen Country und Cowboy – sich wirtschaftlich nicht mehr trägt. Auch Harley ist, wenn man es genau nimmt, kein wirkliches „Cowgirl“, das sich um das Vieh der Ranch kümmert. Sie tritt als Cowgirl bei Rodeos und bei Shows auf, etwa an so „unreinen“ Orten wie Las Vegas. Auch jungfräuliche Unschuld kann sie kaum für sich in Anspruch nehmen, erfahren wir doch im Verlauf des Films von den Männern in ihrer Vergangenheit. Im Vergleich mit Lulas gierigen Geschäfts- und laxen sexuellen Einstellungen erstrahlt Harley jedoch im Glanz der Reinheit und Authentizität des Country. Auf ganz ähnliche Weise wird die essentielle (wenn auch relative) Reinheit Dustys, der, obwohl bisher unverheiratet, so doch offensichtlich keine Jungfrau mehr ist, durch den Kontrast mit den Mitgliedern seiner Band herausgestellt, die alle, inklusive seines alten Freundes Earle, geschieden sind. Schließlich kann man fragen, wie rein denn die klimaktische Rückkehr des Films zur Authentizität des Country in Musik und Liebe ist. Dusty singt seine musikalische Liebeserklärung an Harley ja nicht spontan auf einem ländlichen Heuhaufen, in einer Scheune oder einer Spelunke, sondern als Teil seiner Bühnenshow im Mirage Hotel in Las Vegas vor Hunderten von Leuten. Obwohl er Lulas Licht- und Rauchshow ablehnt, verlangt Dusty auf der Bühne doch nach einem Scheinwerferlicht, um seinem Auftritt einen zusätzlichen Effekt durch das den Dunst des Nachtclubs sichtbar machende Licht zu verschaffen. Obwohl auch die reinste Country-Musik und die authentischste Liebeserklärung nicht ohne künstliches Licht, rauchgeschwängerte Luft und ein zahlendes Publikum auskommen, überzeugen sie doch durch ihren Kontrast zu noch schlimmeren Unreinheiten und durch ihren emotionalen Appell an unser Bedürfnis zu glauben, das der Pragmatismus als unumgehbares Bedürfnis erkennt, indem er den Glauben als einen essentiellen (wenn auch nicht notwendigerweise expliziten) Leitfaden für das Handeln bestimmt. Wenn Dusty also singt „In all the world, you’ll never find, a love as true as mine“, glaubt Harley ihm (und wir wissen, dass sie ihm glaubt), und zwar nicht deshalb, weil sie über ausreichendes empirisches Beweismaterial verfügt, sondern weil es keinen Beweis des Gegenteils gibt und weil er ehrlicher als ihr letzter Geliebter zu sein scheint und ihre Gefühle gewinnen kann. Ihre Freudentränen werden als Beweis nicht nur ihres Glaubens an Dusty, sondern auch seiner Ehrlichkeit präsentiert. Das leidenschaftlich zustimmende Lächeln von Großmutter Ivy und Harleys Familie bestätigen diese Überzeugung genauso wie die tief empfundenen Jubelschreie des Publikums. Das gleiche gilt für die Gefühle des wirklichen Filmpublikums, das sich mit den Liebenden identifiziert und ungeduldig auf die lange hinausgezögerte erste Umarmung gewartet und deshalb eine emotionale Freisetzung der angespannten Antizipation gesucht hat. Durch die Einbeziehung des Film-Publikums erreichen wir eine andere Ebene der Wirklichkeit (mit wirklichen Zuschauern und Schauspielern statt fiktionalen Personen), die das in der narrativen Struktur des Country vermittelte Gefühl der Authentizität noch verstärkt. Der Glaube an die Wahrheit von Dustys Liebe und Musik wird

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durch das Wissen der Country-Fans verstärkt, dass der „wirkliche“ Dusty (der Sänger und Schauspieler George Strait) sowohl seinem neotraditionalistischen Stil als auch seiner einzigen Frau immer treu geblieben ist. Der in seinem Musikstil zwar ebenfalls neotraditionalistische, aber im wirklichen Leben dreifach geschiedene Willie Nelson hätte Dustys Reinheit kaum so überzeugend verkörpern können. Nelson gelingt es in Honeysuckle Rose jedoch, seine eigene Form der Schürzenjäger- und Spelunken-Authentizität im Country-Star Buck Bonham zu porträtieren, der voll und ganz der Macho und hart gesottene Kerl ist, den der Name verrät. Schon berüchtigt für Ehebruch und Scheidung betrügt Buck seine immer noch ziemlich junge Frau und frühere Gesangspartnerin (gespielt von Dyan Cannon), obwohl sie eine enge Beziehung und einen innig geliebten jungen Sohn haben. Während Buck das Wanderleben des Country-Sängers bewundert (der Titelsong des Films ist „On the Road Again“), besteht seine Frau Viv darauf, dass ihr heimatliches Honeysuckle Rose der einzig geeignete Platz für eine Familie sei. Als sich Bucks alter Spielgefährte Carlin zur Ruhe setzt und sich sein geplanter Ersatz als untauglich erweist, stößt Carlins talentierte Tochter (die Buck bewundert und seinem Sohn Musikunterricht gibt) zur Tour hinzu. Die emotionale Energie ihrer musikalischen Zusammenarbeit führt zu einer Affäre, die auch auf der Bühne durch ihre leidenschaftlichen Duette immer offensichtlicher wird: Sie singen „There ain’t nothin’ sweater than naked emotion / You show me your tongue and I’ll show you mine.“ und küssen sich dazu sinnlich. Genau zu diesem Zeitpunkt kommt Viv (die plötzlich die Gefahr ahnt) an und steigt auf die Bühne, wo sie Buck und Lily in actu überrascht, Lily als eine Freundin der Familie, der sie vertraute, entlarvt und in aller Öffentlichkeit die Scheidung ankündigt. Auf die erstaunten Ausrufe des Publikums reagiert Viv eiskalt: „Isn’t that the kind of things that country songs are all about?“ Der paralysierte Buck verschwindet (wie schon Dusty) plötzlich von der Bühne und verlässt Viv, Lily – und seine Show. Nicht nur die intimen Angelegenheiten des Ehebruchs und des Auseinanderfallens der Beziehung werden auf der Bühne verhandelt, sondern auch die Versöhnung des Paares, die etwa eine Woche später während eines Konzerts zu Ehren von Bucks ehemaligem Partner Carlin stattfindet. Während Viv einen Song über das Verzeihen singt („there must bet wo sides to every story … come home and tell me yours“) kommt Buck von hinten ohne dass sie es merkt auf die Bühne und beginnt sie mit seinem Instrument zu begleiten. Obwohl sie erleichtert ist, ihn endlich wiederzusehen, bleibt sie sichtbar verärgert. Ohne auch nur ein privates Wort mit ihr zu wechseln, behandelt Buck das Private öffentlich und fängt an, ein sanftes Liebeslied voller Reue und beinahe a cappella, nur mit einigen wenigen Begleitakkorden, zu singen: „I’m living out my love on stages; ten thousand people watching“, fügt dann die Entschuldigung an: „I treated you unkind“, und verspricht „there is no one more important than you“ und für immer bei ihr zu bleiben („when my life is over I want you to remember how we were all alone, and I was singing my song for you“). Merklich durch die Leidenschaftlichkeit von Bucks musikalischer Botschaft und ihr eigenes starkes Verlangen nach seiner Liebe bewegt, zeigt Vivs tränenreiches Lächeln ihren Glauben an seine Ernsthaftigkeit und sein Versprechen, sich zu ändern, trotz aller

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gegenteiligen Erfahrungen in der Vergangenheit. Beide fühlen den Ernst der Versöhnung und besiegeln diese mit dem spontanen Duett „Uncloudy Day“. Dieser alte, vom Paradies handelnde Gospel, den sie mit leidenschaftlicher Liebe und in enger physischer Nähe (und doch im Stil sehr viel keuscher als die Duette mit Lily) singen, sagt ihnen und ihrem Publikum (und selbst der tapfer lächelnden Lily) eine eheliche Zukunft ungetrübter Glückseligkeit voraus. Warum sollte Viv (oder sonst jemand) Bucks angeblicher Ernsthaftigkeit Glauben schenken? Warum sollten wir ihre Vergebung und die Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft der beiden überzeugend finden? Außer durch die Offenheit der Zukunft und die instinktive Hoffnung, der wir zukunftsorientierte Wesen stets neue Nahrung geben, wird unser Glaube durch die unwiderstehliche Süße der in Bucks Song zum Ausdruck kommenden „nackten Leidenschaft“ gestützt, die in Vivs intensiver emotionaler Reaktion und ihrem Bedürfnis, ihm zu glauben, ihr Echo findet. Das Empfinden der Wahrheit ihrer Versöhnung wird durch die emotionale Unterstützung durch das Publikum der treuen Fans verstärkt, die (wie der Chor im antiken Griechenland) die Autorität der Gemeinschaft und der Tradition repräsentieren.29 Durch einen strategischen Vergleich kommt Bucks Versprechen der Veränderung noch mehr Glaubwürdigkeit zu. Auch wenn er noch weit von der Reinheit entfernt ist, so ist er doch bei weitem reiner als auf der Bühne oder im Bett zusammen mit Lily. Um diese vergleichende Strategie und den Aufbau von Emotionen in Gang zu setzen benötigen wir eine narrative Struktur. Und die Erzählungen des Country können solche Vergleiche und Emotionen besonders schnell hervorrufen, indem sie traditionelle Stereotype einsetzen, deren hoher Bekanntheitsgrad normalerweise habituelle emotionale Reaktionen und eine damit einhergehende Glaubwürdigkeitssteigerung auslöst (insofern diese nicht durch habitualisierte kritische Hemmungen ausgeglichen wird).30 Durch die gleiche emotionale Logik der Familiarität macht Willie Nelsons Ruf als 29

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Auf ganz ähnliche Weise singt in True Stories der Held, ein Amateur Country-Sänger, seinen im Fernsehen übertragenen Song, indem er um „someone to love“ bittet, so emotional, dass sofort ein telefonisches Heiratsangebot eingeht. In der nächsten Einstellung sehen wir die darauf folgende Hochzeit, deren zukünftiges Gelingen durch die tief empfundene Freude der Hochzeitsgäste angedeutet wird. In Honeysuckle Rose gehören zu diesen Stereotypen die starke und treue Frau des abenteuerlichen Wanderers (ein Topos, der bis zur Odyssee zurückverfolgt werden kann und im Hit des Films, „A Goodhearted Woman in Love with a Goodtimin’ Man“, angedeutet wird), die zarte junge Verführerin des bewunderten älteren Stars, das Duett als Modell und Medium des Liebesakts, das Verschwinden des Helden in der Wildnis im Dienste der Selbstfindung und die abschließende öffentliche Bekenntnis der Sünden sowie ihre Buße (die an populäre christlich-evangelistische Ideen erinnern). Die im Country vermittelten Stereotypen und Klischees können somit als Ausdruck typischer Wahrheiten betrachtet werden, die nicht deshalb, weil sie allgemein geteilt werden, weniger real oder authentisch sind, denen vielleicht sogar für das Publikum der gewöhnlichen Leute, die es sich nicht leisten können, ihr Leben als über den Gemeinplätzen stehend zu betrachten, eine besondere Realität zukommt. Für eine aufmerksame Behandlung der im Country vermittelten Stereotypen und Klischees, die dafür argumentiert, sie weder als oppositionell und kritisch noch als kognitiv bedeutungslos zu verstehen, vgl. Astrid Franke, ‚The Broken Heart‘ and ‚The Trouble with Truth‘. Understanding Clichés in Country Music, in: Poetics Today, 18 (1997), S. 397–412.

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lebender Buck Bonham, der versucht, endlich eine funktionierende Ehe zu führen, die guten Absichten der fiktionalen Person Buck für Country-Fans noch glaubwürdiger.

6. Sollten Überzeugungen, die so sehr auf Emotionen beruhen, nicht einfach als wenig überzeugende Alltagsepistemologie einiger ländlicher Trottel abgetan werden? Wir kritischen, rationalen und empirischen Philosophen sind mit einer solchen Verurteilung sehr schnell bei der Hand, aber William James (dessen Pragmatismus den Empirismus umfasste) legt uns eine andere Sichtweise nahe. Wir Menschen müssen, als praktische Wesen, die unter Handlungsdruck stehen, glauben auch „ehe die objektive Evidenz da ist“.31 Als affektive Wesen, deren evolutionäres Überleben zum Großteil von unseren Emotionen und Gefühlen abhängig gewesen ist, glauben wir zu Recht zuerst mit dem Herz (und anderen Muskeln) bevor wir mit dem Verstand erkennen, obwohl auch ein solcher Glaube natürlich nicht gegen Täuschung und Revision immun ist. Wenn wir tiefe Liebe empfinden, halten wir dies immer solange für wahr, bis es sich als falsch herausstellt. Der hoffnungsvolle Fallibilismus des Pragmatismus umfasst neben der Wissenschaft somit auch die Liebe. Auch aus der Perspektive von Walter Benjamins Theorie des Erzählers kommt dem Glauben an die Erzählungen des Country einige Plausibilität zu. Obwohl sie den modernistischen Standards der Originalität und des kognitiven Erkennens nicht entsprechen, kommt den formelhaften Erzählinhalten und Stereotypen des Country nicht nur emotionale Überzeugungskraft, sondern sogar die Aura einer tiefen, Versöhnung verheißenden Wahrheit zu. Wenn wir einmal über ihre Banalität hinwegsehen, können wir in ihnen den Ausdruck einer tiefen kollektiven Erinnerung erblicken, die an die unglücklicherweise universellen (archetypischen) Realitäten der verlorenen Unschuld, der korrumpierten Werte, der betrogenen Liebe, der enttäuschten Hoffnung, des gemeinsamen Scheiterns im Leben und des unvermeidlichen, alles beendenden Todes gemahnen. Was aber wird dann aus den hoffnungsvollen Glaubensinhalten des Country – dem Glauben daran, dass Musik und Liebe, wie Dusty und Buck zeigen, die Korrumpierung überwinden und Reinheit und Erfolg zurückgewinnen können? Dies mag als leichtgläubige Täuschung erscheinen, die einer philosophischen Verdammung des Genres gleichkommt. Für uns als strebende Wesen ist die Hoffnung aber – und es kann gar nicht anders sein – so langlebig wie die Realität der Enttäuschung. In diesem Lichte betrachtet erscheint die im Country vermittelte Überzeugung vom möglichen Sieg des Guten, der Glaube daran, dass die Liebe sich als wahr herausstellt und das Korrumpierte gereinigt werden kann – dieser Glaube, der einem Beweis vorangeht und den vergangenen Erfahrungen entgegensteht, erscheint dann nicht mehr als Torheit einiger Hinterwäldler. Es handelt sich bei diesem Glauben nicht um eine blinde Weigerung, 31

James rechtfertigt dieses Recht zu glauben, auch bevor man über genügend Beweise verfügt, in Der Wille zum Glauben, in: Essays über Glaube und Ethik, Gütersloh 1948, S. 57; James identifiziert diese Einstellung mit der empiristischen Strategie des Lernens aus Erfahrung (S. 52).

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die Tatsachen zu akzeptieren, sondern um das weise Hinausgehen über die bloßen Tatsachen, um die Wahrheit von Idealen zu affirmieren, die sich sowohl das Herz als auch der Geist zu eigen machen, auch wenn sie nicht immer zu ihrer Verwirklichung im Stande sind. Solchen Idealen kommt auch angesichts des Scheiterns unseres Versuchs, sie in unseren unvollkommenen Leben zu realisieren, weiterhin eine Wirklichkeit und eine erlösende Kraft zu. Aus dem Amerikanischen von Robin Celikates

Kapitel IV

Die urbane Ästhetik der Abwesenheit

Man höhlet Ton und bildet ihn zu Töpfen: In ihrem Nichts besteht der Töpfe / Werk. […] Darum: Was ist, dient zum Besitz. Was nicht ist, dient zum Werk. Laotse

1. Pragmatismus, so wie ich ihn verstehe, ist eine Philosophie verkörperter, situationsabhängiger Erfahrung. Pragmatisten verlassen sich weniger auf apriorische Prinzipien und streben nicht so sehr notwendige Wahrheiten an, sondern arbeiten vielmehr im Ausgang von Erfahrungen, deren Bedeutung sie zu erhellen versuchen, um ihre gegenwärtige Qualität und ihre Wirkung auf zukünftige Erfahrungen zu verbessern.1 Erfahrung ist dabei zwangsläufig kontextuell, da sie die Interaktionen eines erfahrenden Subjekts mit seiner Umwelt umfasst, die sich beide im Fluss befinden und in Wechselwirkung miteinander stehen. Die Kontextualität von Erfahrung und die daraus resultierende Philosophie haben jedoch keinen hoffnungslosen Subjektivismus zur Folge, der alle Verallgemeinerungen ausschließt, denn Menschen und ihre Umwelten haben viele gemeinsame Eigenschaften. Nichtsdestotrotz sollte eine Philosophie, die von der Erfahrung her argumentiert und ihre eigene Kontextualität anerkennt, reflexiv genug sein, um ihre eigene erfahrungsmäßige Situiertheit zu erklären. Besonders wichtig scheint dies in der Reflexion auf ein kontextuell so vielfältiges Phänomen wie die Stadt zu sein, das in seiner Variationsbreite vom geometrischen Raster New Yorks über die Pariser grands boulevards bis zu Roms altem centro storico und den Irrgärten der Medina von Fez reicht. Auch wenn die eigenen philosophischen Standpunkte panurbanische Geltung haben mögen, wird und sollte die spezifische persönliche Stadterfahrung eine ausschlaggebende Rolle spielen. Ich habe diesen Essay in Berlin geschrieben, nachdem ich im Laufe eines Jahr die oftmals dunklen Freuden und die morbiden Faszinationen dieser Stadt erfahren hatte. 1

Für eine ausführlichere Darstellung meines Pragmatismus vgl.: Richard Shusterman, Kunst Leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, Frankfurt/M. 1992; Vor der Interpretation, Wien, 1996; Philosophie als Lebenspraxis. Wege in den Pragmatismus, Berlin 2001.

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Berlins Stimmungen, Bewegungen und Milieus drängen sich mir stärker auf als weiter zurückliegende und anhaltendere Erfahrungen des urbanen Lebens in Paris, New York und Tel Aviv.2 Das Thema dieses Essays, Abwesenheit, kam mir in einer langen Nacht in Ostberlins Mitte in den Sinn, in einem Techno-Club, der (unter neuem Namen) in neuen, aber noch illegalen Räumen wiedereröffnet hatte, nachdem er von den Behörden an einem früheren, verlassenen Ort, der sich ebenfalls im Osten befand, geschlossen worden war. Zu der lauten Musik und den flackernden Lichtern, die den dunklen, höhlenartigen Raum der heruntergekommen Halle erfüllten, wurde ein lautloses Video in nüchternem Licht und in großer Höhe an eine der verfallenen Gipswände des Raumes projiziert. Eine grellgelbe U-Bahn, durch deren Frontscheibe das Video gedreht worden war, legte ihren scheinbar endlosen Weg durch Berlins Weiten zurück, bewegte sich manchmal unterirdisch, tauchte gelegentlich auf, stieß dabei jedoch auf nichts als die öden Gleise vor sich und die leere Dunkelheit um sie herum. Ab und zu gab es eine Unterbrechung durch eine matt erleuchtete Bahnstation, an der der Zug hielt, wie um das Kommen und Gehen der Passagiere zu erlauben, die Aufmerksamkeit nur durch ihre völlige Abwesenheit erregten. Über dem dichten Gedränge der schwitzenden, tanzenden und Biergestank ausströmenden Techno-Menge – die zu eng zusammengezwängt war, um unbeschwert atmen zu können, von unbeschwertem Tanzen ganz zu schweigen –, hoch über den Break-Beats und den Loops, die aus den Lautsprechern schmetterten, ließ die UBahn eine utopische Vision aufblitzen, eine Vision lautloser, weicher, ungezügelter Bewegung durch einen schwerelosen Raum, eine Flucht aus dem drängelnden Getümmel der Untergrund-Stadtszene in eine noch tiefere Untergrund-Stadt, eine Flucht in eine abwesende Freiheit. Viele Stunden später stieg ich ein. Während ich in einem leeren Waggon der S 1 meinem Westberliner Zuhause in Friedenau entgegenfuhr, fragte ich mich, als der Zug unter dem Potsdamer Platz hindurchfuhr, wo genau sich über meinem Kopf die trennende Ost-West-Grenze befand. Natürlich war in dem U-Bahntunnel nichts von der berühmten Berliner Mauer zu sehen, noch hätte ich sie oberhalb des Tunnels sehen können, selbst wenn die Sonne schon aufgegangen wäre. Nur wenige kleine Abschnitte der einst 165 Kilometer langen Mauer sind noch an ihrem Platz, inzwischen als historisches Monument gesetzlich geschützt. Aber der Potsdamer Platz, obwohl ehemals eine bedeutsame Stelle der Mauer, gehört nicht dazu. Doch trotz ihrer materiellen Abwesenheit hier und andernorts in Berlin, kommt der trennenden Mauer auch weiterhin eine lebendige Präsenz zu, die durch ihre historischen Spuren in der ansonsten rätselhaften Anordnung bestimmter Straßen und Gebäu2

Von 1995–1996 verbrachte ich achtzehn Monate zunächst als Gastprofessor und dann als FulbrightProfessor in Berlin an der Freien Universität, unterstützt vom Philosophischen Institut und dem John F. Kennedy Institut für Amerikanistik. Besonders dankbar bin ich Albrecht Wellmer, Hans Joas und Winfried Fluck für ihre Gastfreundschaft. Astrid Franke und Mika Hannula möchte ich dafür danken, dass sie mir bei einigen Untersuchungen und bei der „Feldforschung“ assistiert haben, ebenfalls danken möchte ich Heinz Paetzold von der Jan van Eyck Akademie in Maastricht, dessen Konferenz über „The Politics of the Visual Culture of Contemporary Cities“ mir eine lebendige Zuhörerschaft für einen früheren Entwurf dieses Textes geboten hat.

DIE URBANE ÄSTHETIK DER ABWESENHEIT

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de indirekt sichtbar ist und anhand der unterschiedlichen visuellen Kulturen von Ost und West bemerkt werden kann: nicht nur an den abweichenden Architekturstilen und dem Zustand der Gebäude, sondern auch an den verschiedenen Stilen der Inneneinrichtung, wie der Ostberliner Vorliebe für Wachstuch-Tischdecken, Kunstblumen und für weiße Spitzenvorhänge. Zur häufigen Bestürzung von Motorradfahrern und Pendlern in öffentlichen Verkehrsmitteln ist die Mauer durch das Chaos andauernder Änderungen der Verkehrsführung noch deutlich spürbar (etwa durch Umleitungen aufgrund von Straßenbauarbeiten oder Arbeiten an Gebäuden, durch Unterbrechungen im Verkehrsservice und veränderte Routen für Busse, U- und S-Bahnlinien), die ihr plötzliches Verschwinden nach über einer Generation eines Lebens mit der Mauer in Berlin hervorgerufen hat. Die ständigen Bauarbeiten mit ihrem immensen Lärm, die den Potsdamer Platz immer noch überwältigen, betonten paradoxerweise die Mauer, die sie ausgelöscht haben, da sie nicht nur ein konstruiertes Hindernis monumentaler Ausmaße darstellen, sondern auch eine internationale Touristenattraktion als Europas größte Baustelle. Kurzum, die nun abwesende Mauer, die Ost und West trennte, bleibt in vielerlei Hinsicht das strukturierende Prinzip dieser vereinigten Stadt, ebenso wie die getrennten Stadtteile von Ost- und West-Berlin wesentlich durch ihren abwesenden Gegenpart definiert worden waren. Mehr als vierzig Jahre, bevor die Mauer gebaut wurde hatte der berühmte Berliner Schriftsteller Kurt Tucholsky (der wie Benjamin, Brecht oder George Grosz durch seine Abwesenheit im Exil sogar noch stärker zum paradigmatischen Berliner wurde) bereits den Begriff der Mauer als einer Oberfläche thematisiert, auf der Abwesendes umso gegenwärtigere Bedeutung erlangen kann. In seiner Geschichte Die Flecke beschreibt er Flecke abwesender Farbe in der braunen Granitmauer einer ehemaligen Militärakademie in der Dorotheenstraße in Berlin-Mitte. Diese fehlenden Farbflecke erschienen dort, wo die „endlosen“ Listen der Opfer des ersten Weltkrieges aufgehängt worden waren, Listen, die nun so zergangen und abwesend sind wie die Opfer, die sie aufzählten, aber noch immer gespenstisch sichtbar durch die weißen Flecke, Symbole schwarzer Erinnerungen an bittere Verluste. „Im Laufe der Jahre“, schreibt Tucholsky, „werden ja diese weißen Flecke allmählich vom Regen abgewaschen werden und schwinden. Aber diese anderen da, die kann man nicht tilgen. In unseren Herzen sind Spuren eingekratzt, die nicht vergehen.“3 Sie sind unauslöschlich, so müssen wir daraus schließen, gerade weil sie bereits unsichtbar sind, wodurch sie paradoxerweise noch an Präsenz gewinnen. Christo ging es – wenn auch in einem anderen Medium – um dasselbe Phänomen, als er 1995 mit seiner Verpackung des Reichstages das Gebäude (und seine symbolische Geschichte) im Berliner Leben gerade durch die verhüllenden Schleier ungleich sichtba3

Kurt Tucholsky, Die Flecke, in: Mary Gerold-Tucholsky (Hg.), Zwischen Gestern und Morgen, Hamburg 1952, S. 182. Die Geschichte ist aus heutiger sogar noch prägnanter, da die Militärakademie mit ihren Granitmauern nicht mehr existiert und die Dorotheenstraße selbst lange abwesend war, da sie in der DDR in Clara-Zetkin-Straße umbenannt wurde und erst seit 1995 wieder Dorotheenstraße heißt. Die systematische Strategie der Namensänderung von Straßen und öffentlichen Plätzen zur Verdeckung der jeweiligen Ideologie stellt ein faszinierendes Spiel mit der Abwesenheit dar, bei dem gerade mit dem Versuch, durch Tilgung Namen auszulöschen, an Geschichte erinnert wird.

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rer machte. Zumindest für mich liegt die tiefe Bedeutung und Faszination Berlins in den sich überlagernden Schichten seiner anwesenden Abwesenheiten – wie etwa im Fall des gespenstischen Palastes der Republik. In weißem Marmor erbaut auf einem Platz, der von den Kommunisten durch den Abriss des alten Stadtschlosses kahlgeschlagen worden war, steht er nun seit 1990 dauerhaft leer, im Augenblick aufgrund der giftigen Asbestbestände weder wirklich nutzbar noch einfach abreißbar. Um dieses Spiel anwesender Abwesenheiten noch zu komplizieren, wurde 1993 daneben vorübergehend ein Modell des alten Stadtschlosses errichtet, um so dem öffentlichen Wunsch entgegenzukommen, diesen abwesenden Palast der Aristokraten wieder aufzubauen und den leeren Palast der Kommunisten auszulöschen, geradeso wie der ihn umgebende Platz zum Schlossplatz rückbenannt wurde, nachdem er vom DDR-Regime in Marx-Engels-Platz umbenannt worden war. Nicht weit davon entfernt, in der Oranienburger Straße, befindet sich die rekonstruierte Neue Synagoge mit der goldenen Kuppel. So, wie sie wiederaufgebaut wurde, stellt sie allerdings eher ein Museum oder eine Gedenkstätte dar als eine vollständig funktionierende Synagoge. Ihre alte Hauptgebetshalle bleibt eine nicht wiederhergestellte Abwesenheit und auch die Betenden sind abwesend. Noch stärker hat mich die Entdeckung einer totaleren, unmarkierten Abwesenheit bewegt: dass meine gewöhnliche Jogging-Route direkt an der alten Wilmersdorfer Synagoge (in der Prinzregentenstraße) entlang verlief. Nicht durch Bomben des Feindes zerstört, sondern durch Berliner Barbaren in der Reichskristallnacht, ist sie nie rekonstruiert worden. Ihr Ort ist nicht einmal einfach verborgen geblieben, sondern wurde von einem hässlichen Wohnblock aus den 1950er Jahren neu besetzt. Solche Erfahrungen haben mich davon überzeugt, dass die kontroverse Abwesenheit eines offiziellen Denkmals für die Opfer dem Gedenken an den Holocaust wirkungsvoller dient als konkrete Monumente, die diese Lücken füllen sollen.4 Sogar meine offiziellen Verhandlungen mit den Berliner Stadtbehörden waren geprägt von Abwesenheiten. Als ich meinen US-amerikanischen Pass in den verschiedenen Melde- und Ausländerbehörden vorwies, wurde ich gefragt, warum das „c“ und das abschließende „n“ in meinem deutsch klingenden Namen Shusterman fehle und warum ich keine bekannten deutschen Vorfahren habe, von denen der Name abstammte. Solche Abwesenheiten, enthielt ich mich zu erklären, sind sprechende Zeugen einer komplexen Geschichte gescheiterter deutsch-jüdischer Assimilation, wenn man nur lernt, das Ungeschriebene zu lesen. Mein israelischer Pass blieb in der Tasche. Berlins Kaleidoskop der Abwesenheiten stellt einen wesentlichen Aspekt meiner Faszination für diese Stadt dar (die mit meiner Rückkehr nach New York sicherlich durch nostalgische Abwesenheit noch gewachsen ist). Dadurch bin ich jedoch auch auf die Idee gekommen, dass Abwesenheit ein wesentliches Strukturprinzip städtischer 4

Zwei Jahre nach der ursprünglichen Niederschrift dieses Kapitels hat der Deutsche Bundestag am 25. Juni 1999 beschlossen, ein offizielles Holocaust-Mahnmal in Berlin zu errichten. Damit kam eine beinahe zehn Jahre dauernde Debatte über das Denkmal zu einem Abschluss. Das heute fast fertig gestellte Mahnmal wurde von Peter Eisenman entworfen und in Form eines riesigen Stelenfeldes in unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor erbaut. Ergänzt werden soll es um ein Informationszentrum.

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Ästhetik im Allgemeinen sein könnte, eine paradoxe Dimension ihrer Ökonomie der Fülle. So versuchte ich, meine Erfahrung zu einer allgemeineren, philosophisch fundierten Reflexion über die Rolle der Abwesenheit in der Stadt weiterzuentwickeln, und bezog mich dabei auf moderne urbane Denker, von denen einige – etwa Simmel und Benjamin – ebenfalls durch Berlin inspiriert worden waren.5 Abwesenheit ist natürlich ein sehr schwieriger und schwer zu fassender Begriff mit einer sehr langen und komplexen philosophischen Geschichte. Selbst die Etymologie des lateinischen Ausdrucks (ab + esse: „weg-sein“) offenbart den Bezug zum antiken philosophischen Rätsel des Nichtseins, der paradoxen Natur von „Dingen“, die nicht existieren oder einfach nicht „hier und jetzt“ da, also präsent sind. Dennoch wurde Abwesenheit auch als etwas angesehen, das dem Kern aller Dinge innewohnt, als unentbehrlicher Grund alles Existierenden oder Gegenwärtigen.6 Diese Komplexität wird dadurch noch verstärkt, dass der Begriff des „Hier und Jetzt“ selbst vage und kontextuell ist. So erscheint es einem Pragmatisten als Fehler, nach einer allgemeinen Definition von Abwesenheit zu verlangen, die alle ihre verschiedenen Bedeutungen differenziert erfasst. Um eine solche allgemeine Theorie zu vermeiden, zielt meine Strategie darauf ab, den Begriff der Abwesenheit zu erhellen, indem ich seine komplexe Formen- und 5

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Ich sollte an dieser Stelle auf eine spezifische Abwesenheit in Berlins Stadtstruktur hinweisen: Die Leere des Zentrums. Im Unterschied zu den meisten Städten, deren Zentrum eines der Dichte darstellt (mit einer hohen Konzentration von Gebäuden, Menschen, Macht und Aktivität), ist das geographische Zentrum Berlins ein großer bewaldeter Park, der Tiergarten, mit vielen Kilometern im Zickzack verlaufender leerer Wege und (im südwestlichen Winkel) dem Stadtzoo. Roland Barthes sagt in Das Reich der Zeichen (Frankfurt/M. 1981) etwas Ähnliches über das leere Zentrum Tokios, stellt dieses allen westlichen Städten (offensichtlich auch Berlin) gegenüber und bringt diesen Gegensatz mit tiefen metaphysischen Differenzen zwischen West und Ost in Verbindung, die das Primat des Seins über das Nichts oder die Leere betreffen: „In Übereinstimmung mit der Grundströmung westlicher Metaphysik, für die das Zentrum der Ort der Wahrheit ist, sind darüberhinaus jedoch die Zentren unserer Städte durch Fülle gekennzeichnet: An diesem ausgezeichenten Ort sammeln und verdichten sich sämtliche Werte der Zivilisation: Die Spiritualität (mit den Kirchen), die Macht (mit den Büros), das Geld (mit den Banken), die Ware (mit den Kaufhäusern), die Sprache (mit den Agoren: den Cafés und Promenaden).“ (S. 47) Ignorierte Barthes Berlin? Da er diesen Text während der Teilung des Kalten Krieges schrieb, sah er das Zentrum vielleicht im Hauptdurchgang der Mauer, dem Checkpoint Charlie. Hätte er stattdessen zynischerweise den Tiergarten als Berlins wahres Zentrum ansehen können, wobei seine Wälder und eingesperrten wilden Tiere die kondensierte Wahrheit deutscher Zivilisation präsentierten? Oder betrachtete Barthes das geteilte Berlin einfach (und zu Recht) als zwei verschiedene Städte, von denen jede ihr eigenes Zentrum hatte? In jedem Fall trennte das leere Zentrum des Tiergartens schon lange vor der politischen Teilung Berlins die beiden Hauptorte der Macht und der Aktivität: Den kommerziellen Knotenpunkt im Westen, der durch das Zentrum kultureller und politischer Macht im Osten ausgeglichen wurde. Sicherlich ist dies am evidentesten in der östlichen Philosophie, wie sie im zentralen buddhistischen Konzept des sunyata exemplifiziert wird und wie mein taoistisches Motto am Anfang dieses Kapitels nahe legt. Aber die ontologische Zentralität der Abwesenheit taucht auch im westlichen Denken auf, etwa in der Tradition Heideggers, die sich aus der vom späten Heidegger vorgenommenen Gegenüberstellung von An- und Abwesen entwickelt und sich darüber hinaus im Begriff der „Spur“ (der Anwesenheit einer Abwesenheit) ausdrückt, der von Derrida und Lévinas gebraucht wird.

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Funktionenvielfalt im begrenzten Kontext der Stadt untersuche. Dabei ist schon der Begriff der Stadt selbst reich an philosophischen Bedeutungen und Ambiguitäten – was sich in den beiden französischen Wörtern ville und cité widerspiegelt, die das ambivalente Bild der Stadt zwischen Wohnort und politischem Ort nahe legen.

2. Schon bei Platon und Aristoteles wird die Stadt gefeiert und sie scheint tatsächlich eine symbolische Lösung für eines der zentralsten philosophischen Probleme zu sein – für das Verhältnis von Einheit und Vielheit. Dieses Problem ist zugleich metaphysisch und epistemologisch sowie ethisch, politisch und ästhetisch: das Problem der Einheit der Substanz im Wandel, der Wahrheit in der Vielfalt der Erscheinungen, des Selbst in der Pluralität der Handlungen, der vereinigten Polis mit ihren zahlreichen Bürgern und Haushalten sowie der Schönheit als Einheit in der Vielheit. Die Stadt symbolisiert den Einschluss des Mannigfaltigen und Verschiedenartigen innerhalb einer einzigen Einheit, die oftmals konkret durch ihre Einfassung innerhalb der Stadtmauern repräsentiert wird. Solche umschließenden Mauern zielten weniger darauf ab, die Stadt zu teilen (wie in Berlin); vielmehr sollten sie ihre Integrität als klare Einheit mit definierten Grenzen geltend machen und sie von der unbestimmten Ausbreitung des sie umgebenden Landes abheben. Die Griechen sahen definierte Grenzen als wesentlich an für Werte wie Klarheit, Rationalität und Formschönheit. Durch die moderne Urbanisierung wurden die alten Stadtmauern zwar überflüssig, der Charme und die Ausstrahlung der Städte litten darunter aber kaum: Die Romantik bevorzugte sowieso das Unendliche und Grenzenlose. Obwohl Dichter wie Blake und Wordsworth (in ihren Gedichten über London) die Stadt als unerbittliches Raster repressiver politischer Restriktionen und für die kleingeistige Gier ihrer engen Straßen im Unterschied zur weiten Freigiebigkeit der Natur angriffen7, konnte der urbane Raum dennoch als Ort unbegrenzten Wachstums, nicht endender Aktivität, entfesselter Vielfalt und unendlicher Möglichkeiten angesehen werden. Natürlich verliert eine Kleinstadt ihren Status, wenn sie zu groß und vielfältig und damit zu einer Metropole wird. Eine Metropole dagegen kennt zumindest prinzipiell keine Grenzen des Wachstums und der Vielfalt. Die ganze Welt, so schien es, konnte in einer einzigen Metropole erlebt werden. Die wohlhabende Bevölkerung ermöglichte es, dass sogar die entlegendsten und kostspieligsten Produkte in die Läden und Museen der Stadt gebracht wurden. Zu gewaltig und divers, um von einer einzigen Hauptstraße oder von einem Platz erfasst zu werden, hielt das metropolitane Versprechen immer neuer Entdeckungen durch das scheinbar endlose Netz von Straßen den Flaneur ständig in Bewegung. Riesige Parks und Zoos versorgten die moderne Großstadt mit einer Mannigfaltigkeit sogar des Land- und Dschungelle7

Vgl. Blakes „London“ und Wordsworths „London, 1802“ und „Written in London, September, 1802“. In „Composed Upon Westminster Bridge, September 3, 1802“ schreibt Wordsworth London eine gewisse Schönheit zu, allerdings nur die einer Stadt, die noch „schläft“, „still daliegt“, „nackt und stumm“, von der Sonne der Natur geziert und „zu den Feldern und dem Himmel hin geöffnet“ ist.

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bens, während urbane Pendlerzüge zeigten, dass die Stadt es ihren Bewohnern ermöglichte, ausgiebig zu reisen, ohne die Stadt überhaupt verlassen zu müssen. Begrenzte Unendlichkeit ist ein kraftvolles, wenn auch paradoxes Bild. So geistreiche Theoretiker des städtischen Lebens wie Georg Simmel betonen, dass ein Teil der spezifisch städtischen Befreiungskraft im ständigen Überschreiten der physischen Grenzen liegt, womit nicht nur ein Mittel, sondern gleichzeitig auch ein Symbol der unbegrenzten Freiheit gegeben sei. „Es ist nicht nur die unmittelbare Größe von Bezirk und Menschenzahl, die […] die Großstadt zum Sitz der [persönlichen, innerlich-äußerlichen Freiheit] macht, sondern, über diese anschauliche Weite noch hinausgreifend, sind die Großstädte auch die Sitze des Kosmopolitismus gewesen. […] Die Lebenssphäre der Kleinstadt ist in der Hauptsache in und mit ihr selbst beschlossen. […] Das bedeutsamste Wesen der Großstadt liegt in dieser funktionellen Größe jenseits ihrer physischen Grenzen.“8 Simmel löst das logische Problem der Unendlichkeit der Stadt, indem er auf das vom physischen Ort Abwesende hinweist, mit dem die Stadt identifiziert wird und worin sie ihr wahres Zentrum hat. Nur „über diese anschauliche Weite noch hinausgreifend, sind die Großstädte auch die Sitze des Kosmopolitismus gewesen“. Urbanistische Denker wie Simmel beschäftigten sich jedoch nicht mit der Logik der Unendlichkeit, sondern mit den konkreten Problemen, die aus der Fülle der Stadt resultierten, in der eine überwältigende Ansammlung von Menschen, Produkten und Aktivitäten die Qualität menschlicher Erfahrung selbst überanstrengte und gefährdete. Dieses schmerzhafte Paradox des Mehr, das weniger bedeutet, ist ein Leitmotiv der urbanen Kritik von Friedrich Engels über Baudelaire und Benjamin bis zum postmodernen HipHop von Grandmaster Flash, dessen Klassiker von 1983, New York, New York, den aussagekräftigen Refrain hat: „Too much, too many people, too much!“9 Diese Form der Kritik beklagt nicht die mannigfaltigen Facetten des Stadtlebens per se; sie genießt sie sogar. Stattdessen greift sie die Bedrohung durch ein desorientierendes, entmenschlichendes und schockierendes Chaos an (symbolisiert in der formlosen Menschenmasse), das aus der ungeheuren urbanen Unübersichtlichkeit und Verschiedenartigkeit resultiert, die unsere menschlichen Fassungskräfte schlicht übersteigt. Mit Benjamin gesprochen, kommt es deswegen zum fragmentierenden Schock eines Erlebnisses, bei dem wir eher etwas durchleben, als dass wir die fundierte, geordnete und konvergente Verarbeitung einer Erfahrung machen. Das Ziel des urbanen Kritikers besteht nicht darin, das pulsierende Variationsspektrum des Stadtlebens zu vermindern, sondern es so zu ordnen, dass es nicht mehr nur bedrohlich, überwältigend und unkontrollierbar ist. Das Problem ist also eines der Ordnung.

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Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Gesamtausgabe, Bd. 7, Frankfurt/M. 1995, S. 126 f. (im Folgenden zitiert als „GG“). Ich untersuche die urbanen philosophischen Themen des Rap in Kunst Leben, Die Ästhetik des Pragmatismus, Kap. 3, Philosophie als Lebenspraxis, Kap. 5 und Rap Remix: Pragmatism, Postmodernism, and Other Issues in the House, in: Critical Inquiry, 22 (1995), S. 152–158. Vgl. zum Verhältnis von Rap und US-amerikanischer Stadtkultur auch: Houston Baker: Black Studies, Rap, and the Academy, Chicago 1993, und Tricia Rose, Black Noise. Rap Music and Black Culture in Contemporary America, Hanover 1994.

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Darin stimmen zahlreiche urbane Denker überein. So bewunderte etwa Friedrich Engels Londons Weite und Errungenschaften, fand das „Straßengewühl“ aber „widerlich“ und aufgrund des Mangels an strukturierenden sozialen Beziehungen „etwas, wogegen sich die menschliche Natur empört“. Die einzige entschädigende Beziehung, wie er (vielleicht ironisch) bemerkt, bestehe in einer „stillschweigenden“ Übereinkunft verordneten Nichtkontakts: „Daß Jeder sich auf der Seite des Trottoirs hält, die ihm rechts liegt, damit die beiden aneinander vorbeischießenden Strömungen des Gedränges sich nicht gegenseitig aufhalten.“10 Im Rückgriff auf die antike Trope, die die Stadt als entwickelten Geist dem weniger bewussten und leiblicheren Landkörper gegenüberstellte, betrachtete Simmel die komplexe Mannigfaltigkeit und sinnliche Intensität des Stadtlebens als Stimulans, das einer „Steigerung des Bewusstseins“ des Großstädters bedarf. Um seine Psyche zu schützen, reagiert dieser „statt mit dem Gemüte […] im wesentlichen mit dem Verstande“, stärker mit intellektueller Ordnung als mit spontanen Empfindungen (GG 117). Dies schwächt zwar die affektiven sozialen Bindungen, ist aber notwendig aufgrund der „Anhäufung so vieler Menschen mit so differenzierten Interessen, [deren] Beziehungen und Betätigungen zu einem so vielgliedrigen Organismus ineinander[greifen]“. Andernfalls, warnte Simmel, würde „das Ganze zu einem unentwirrbaren Chaos zusammenbrechen“ (GG 119 f.). Wie würde solch ein Alptraum für Simmel, den urbanen Ordner, aussehen? „Wenn alle Uhren in Berlin plötzlich unterschiedlich falschgehen würden, auch nur um den Spielraum einer Stunde, so wäre sein ganzes wirtschaftliches und sonstiges Verkehrsleben auf lange hinaus zerrüttet [und] die Größe der Entfernungen [würde] alles Warten und Vergebenskommen zu einem gar nicht aufzubringenden Zeitaufwand machen.“ „So ist die Technik des großstädtischen Lebens“, wie Simmel (in offensichtlicher Nichtbeachtung von Neapel, Marseille oder Marrakesch) folgert, „überhaupt nicht denkbar, ohne daß alle Tätigkeiten und Wechselbeziehungen aufs pünktlichste in ein festes, übersubjektives Zeitschema eingeordnet würden.“ (GG 120) Das erfordert die Unterdrückung der persönlichen Neigungen des Individuums, die die Uhrwerks-Einheit des Ganzen bedrohen, was den „Ausschluß jener irrationalen, instinktiven, souveränen Wesenszüge und Impulse begünstig[t], die von sich aus die Lebensform bestimmen wollen, statt sie als eine allgemeine, schematisch präzisierte von außen zu empfangen“ (GG 120). Indes, trotz dieser unpersönlichen Ordnung bleibt die Stadt für Simmel der Ort größter „persönlicher Freiheit“ und „persönlicher Lebensform“, gerade durch die Faktoren, die ihrer Unpersönlichkeit bedürfen (GG 120 ff.). Das noch tiefer liegende Ordnungsprinzip, das dieses Paradox allererst hervorbringt und das Simmel nur andeutungsweise erkennt und ausdrücklich zu benennen versäumt, liegt in der Ökonomie der Abwesenheit, die auch den urbanen Ästhetiken von Benjamin und Baudelaire zugrunde liegt. Bevor ich darauf eingehen werde, wie diese Ordnung stiftende Ökonomie der Abwesenheit in den genannten Theorien operiert, möchte ich auf ihren Stellenwert in den 10

Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, zitiert bei Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, in: Illuminationen, Frankfurt/M. 1977, S. 197 (im Folgenden zitiert als „ÜMB“).

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Ausführungen des US-amerikanischen Stadttheoretikers Lewis Mumford eingehen, dessen Vision der Urbanität gewinnbringend mit derjenigen Simmels kontrastiert werden kann. Mumfords Prinzipien urbaner Ordnung zeichnen ein stärker biologisches, affektiv soziales und ästhetisches Bild der Stadt.11 Im Unterschied zu Simmels Vorstellung der Stadt als „gesellschaftlich-technischem Mechanismus“, der sein Vorbild in einer mechanischen, uhrgleichen Einheit und Bildern von „Pünktlichkeit, Berechenbarkeit, [und] Exaktheit“ hat, die nahe legen, soziale Beziehungen am besten nach dem Muster rigider, zeiteffizienter Zugverbindungen aufzubauen (GG 116, 120), spricht Mumford von einem antimechanischen „Biotechnik“-Ansatz, der die dynamische „Flexibilität organischer Programme“ hervorkehrt, die Veränderungen besser handhaben können, um „eine neue biologische und soziale Umgebung zu schaffen, in der die höchsten Möglichkeiten menschlicher Existenz realisiert werden können“ (CC 381, 478, 492). Dies wird durch die dynamische Einheit ästhetischer Erfahrung symbolisiert. Die Stadt ist Mumford zufolge „ein ästhetisches Symbol kollektiver Einheit“; sie fördert nicht nur Kunst, indem sie eine komplexe, anspruchsvolle Bühne persönlichen Ausdrucks darstellt (was auch Simmel betonte). Die Stadt „ist [auch] Kunst“ (CC 480, 492). Da Kunst in kommunikativer Hinsicht sozial ist, sind „soziale Fakten primär“ in der Stadtplanung. „Das wesentliche Element jedes gelungenen Stadtentwurfs ist der soziale Nukleus: Die Anordnung von Schulen, Bibliotheken, Theatern und Kommunikationszentren und ihre Verbindung untereinander“, weniger das Versorgungs- und Transportsystem (CC 483). Wenn die traditionellen und undifferenzierten sozialen Bindungen der Kleinstadt verloren gegangen sind, sollte man ein multifunktionales soziales Band durch Bildung partieller Bindungen anstreben, um „einen komplexen und vielfarbigen Strang“ zu produzieren. Das ästhetische Ziel der Städteplanung sei „die adäquate Dramatisierung kommunalen Lebens“, so dass individuelle und kollektive Aktivitäten einen umfassenderen Sinn erhalten (CC 481, 485). Auch wenn die Frage nach der praktischen Durchführbarkeit von Mumfords Programm hier offen bleiben muss, können doch einige interessante Schlussfolgerungen aus der Logik seiner biologischen und ästhetischen Metaphern gezogen werden. Zunächst umfassen Leben und ästhetische Erfahrung gleichermaßen die Notwendigkeit von Veränderung und Konflikt wie die von Harmonie. Ohne einen Spielraum für Veränderungen und Konflikte kann es keine Weiterentwicklung des Menschen und kein ästhetisches Drama geben. Die fehlerlose Gleichmäßigkeit eines uhrwerkartigen Mechanismus kann lässt dafür keinen Platz. Eine reibungslose soziale Harmonie führt zum Verkümmern solcher Potentiale. Das städteplanerische Abzielen auf die ästhetische Einheit der Stadt bedarf also ihrer Flecke der Abwesenheit, ihrer disharmonischen Konflikte, ihrer Unterbrechungen, ihrer „Diskontinuität und Desorientierung“.12 Als Vertreter eines postmodernen Pragmatismus möchte ich hinzufügen, dass die Stadt, wie die Kunst und das Leben, auch Flecke der Kontingenz benötigt, Abwesenheiten des Ge-

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Lewis Mumford, The Culture of Cities, New York 1971, S. 486–493 (im Folgenden zitiert als „CC“). Richard Sennett, Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Frankfurt/M. 1991, S. 285.

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planten und Vorbestimmten, Lücken, die es zu interpretieren und mit Bedeutung zu füllen gilt. Eine weitere Schlussfolgerung, die aus der Analogie mit biologischen Organismen und Kunstwerken gezogen werden kann, betrifft die Begrenzung des Stadtumfangs. Mumford beklagt die aufgedunsene, immer neue Vororte verschlingende Megalopolis und insistiert auf einer Vorstellung des gelungenen Stadtlebens, zu der es dazu gehört, die äußere Umgebung zu respektieren und mitzuernähren. Diese Abwesenheit spielt für die Stadt nicht allein als das strukturierende „Andere“ und als Freiraum eine wesentliche Rolle, sondern auch als Quelle neuer Ressourcen sowie anderer Lebenshaltungen und -weisen, welche die urbanen Ideen sowohl in Frage stellen als auch bereichern können. Die für Mumford wichtigste Planungseinheit ist deshalb nicht einfach die Stadt, sondern die Region, als deren „Zellkern“ die Stadt funktioniert, die ihre Grenzen respektiert und der sie umgebenden „Zelle“ weder den Raum noch die Funktionen streitig macht. Mumford spricht sich sogar für funktionale Lücken oder Abwesenheiten innerhalb der Stadt selbst aus, um einen Ausgleich für ihre Dichte zu schaffen. Insofern zieht er einem dichten und zentralisierten Urbanismus eine polynukleare Stadt mit verteilten Funktionen vor, die auch Freiräume und Lücken beinhaltet. Im Urbanismus wie im Regionalimus nennt Mumford diese Logik „funktionales Spotting“ (CC 491). Sie setzt, wie Tucholskys „Flecke“, ein funktionales Spiel von An- und Abwesenheiten in Gang, das dem Leben eine umfassendere Bedeutung und ästhetische Kraft verleiht und es zugleich handhabbarer macht.13 13

Ein weiterer wesentlicher Bezug auf Abwesenheit als Instrument der Ordnung und des Umgangs mit der Komplexität einer Stadt sollte hier erwähnt werden: die Nutzung leerer Formen oder Matrizes zur Organisation und Rationalisierung der Vielfalt und der komplexen Bewegungen der Stadt. Die rechtwinkligen Straßengitter stellen eine solche leere Ordnungsform dar, aber auch das individuelle Straßenformat der parallelen Streifen – die gerade in Berlin so auffällig sind –, die eigens für Fußgänger und Fahrradfahrer angelegt werden, für Hunde, die einer linearen Baumreihe bedürfen, um ihr Geschäft erledigen zu können und für Motorradfahrer, die eine eigene Spur zum Parken und Fahren haben. Diese Struktur leerer, paralleler Ordnungslinien, die die Art der Bewegung und ihre Grenzen markiert, kann auch in der Ordnung von Konzentrationslagern wie Sachsenhausen festgestellt werden, mit ihren fortlaufenden Demarkationen zwischen der Laufspur, auf der die Häftlinge gehen mussten, dem „Niemandsland“, der Mauer und den Streifen der Patrouille. Richard Sennett, der auf die „Logik der Leere“ der Stadtraster hingewiesen hat, bringt sie mit der temporalen Leere der mechanischen Zeit in Verbindung, mit dem „leeren Raum“, durch den Zeit objektiv und sichtbar gemacht werden konnte, was Ordnung diverser Aktivitäten erlaubte. Wie Simmel sieht auch Sennett die in der Renaissance gemachte Erfindung der mechanischen Uhr als zentral an für die Entstehung der Metropolen an, und bemerkt, dass alte Gebäudefassaden oftmals umgebaut oder abgerissen wurden, um einen ungestörten Blick auf die zentralen Uhren der Stadt zu ermöglichen (Civitas, S. 127–131). Daran sehen wir, wie eine abstrakte Form der Abwesenheit – das leere Raster mechanischer Zeit – eine konkrete räumliche Abwesenheit fehlender, abgerissener Gebäuden produziert. An dieser Stelle sei auch daran erinnert, dass ich den verschiedenen Variationen der Abwesenheit im städtischen Leben keine substantielle Essenz unterschieben möchte. Genauso wenig muss es eine feststehende Bedeutung des Begriffs der Abwesenheit geben, um ihn sinnvoll in einem theoretischen Diskurs wie diesem anwenden zu können.

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3. Simmels Hauptargument für die durch das Großstadtleben ermöglichte einzigartige Freiheit des Individuums bezieht sich wesentlich auf Abwesenheit als Medium der Bewältigung von Urbanität, auch wenn seine Position nicht so klar artikuliert wird und in vielen Details kaum überzeugt. Zentral für ihn ist die Einsicht, dass sich die Freiheit der Großstadt dem größeren Intellektualismus verdankt. Das moderne Stadtleben wird dafür gepriesen, Geist und Bewusstsein zu schärfen, weil diese benötigt werden, um mit den „zusammengedrängten Nervenreize[n]“ zurechtzukommen, die aus der spezifisch urbanen Fülle sinnlicher Stimuli, Schocks und Unregelmäßigkeiten resultieren. Aber erfahren wir dieses Durcheinander und die Überlastung mit Sinneseindrücken nicht auch auf den Kamelmärkten der Beduinen, im Vergnügungspark eines Vorortes oder im wilden Dschungel – dem paradigmatischen Topos Angst einflössender Undurchsichtigkeit und abrupter, heftiger Schocks im Stadtleben? Wenn der Umgang mit der Komplexität lebendiger, sinnlicher Reize überdies dazu beiträgt, unsere geistigen Kräfte zu stärken, warum sollte Simmel dann eine perfekte und reibungslos funktionierende Ordnung als das Ideal städtischer Organisation ansehen? Würde ihre Umsetzung nicht den Verstand der Stadtbewohner abstumpfen? Wessen Bewusstsein ist minimaler als das eines UBahnfahrers, der in alltäglicher, beinahe hypnotischer Gewohnheit den gleichen Zug und dann den Anschlusszug nimmt, dessen eingeschliffene Routine ihn gedankenlos zur Arbeit treibt, geradeso wie ein Fließband ihn gedankenlos mitführen könnte? Auch wenn wir diese beunruhigenden Fragen beiseite lassen, können wir festhalten, dass Simmel zwei auf unklare Weise miteinander zusammenhängende Beschreibungen des geschärften städtischen Bewusstseins anbietet: Erstens zügelt es die „irrationalen, instinktiven […] Impulse“ und „emotionalen Beziehungen“ und entwickelt daraus eine intellektualisierte Haltung der „Berechenbarkeit“, der „Exaktheit“ und der „quantitativen“ Werte, die Simmel nicht nur mit dem Geldsystem in Verbindung bringt, sondern auch mit der „allgemeinen Verbreitung von Taschenuhren“ (GG 119 ff.). Zweitens nennt er als Hauptmerkmal der urbanen Mentalität die „Blasiertheit“. Diese Haltung, von der Simmel sagt, sie sei „unbedingt der Großstadt vorbehalten“, resultiert aus den gleichen „schnell wechselnden und in ihren Gegensätzen eng zusammengedrängten Nervenreizen“, die einen kalten urbanen Intellektualismus hervorrufen. Die Nerven werden derartig aufgerieben, dass sie darin versagen, „auf neue Reize mit der ihnen angemessenen Energie zu reagieren“. „Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, […] so dass die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem Blasierten in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert, dem anderen vorgezogen zu werden.“ (GG 121) An dieser Stelle scheint Simmel erneut Verschiedenes durcheinander zu bringen, denn (physiologisch gesprochen) sind abwechslungsreiche Reize für die Nerven sehr viel weniger ermüdend und abstumpfend als anhaltend identische Sinneswahrnehmungen. Darüber hinaus lässt sich die blasierte Haltung nivellierender Gleichgültigkeit durchaus auch außerhalb der Reizüberflutung der Metropolen antreffen. Tatsächlich ist die Leere der Wüste ein klassischer Ort ihres Auftretens. Als Offizier des Nachrichten-

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dienstes war ich lange im Sinai stationiert und musste mich und meine Soldaten vor jener Gefahr bewahren, die von den israelischen Militärärzten als „Apathie“ diagnostiziert wurde. Diese Bezeichnung ist äußerst aufschlussreich: Die Abwesenheit von Empfindungen und einer affektiven Verwicklung in die Situation führt zu einer Zurückbildung des Unterscheidungsvermögens. Wir reagieren nicht auf Unterschiede, weil uns diese einfach egal sind; wir ziehen uns geistig zurück in ein pathologisches Desinteresse: wir sind abwesend. Für uns unfreiwillige Wüstenbewohner war die Abwesenheit affektiver Involvierung auf die Abwesenheit von Dingen zurückzuführen, für die man sich in diesem Landstrich hätte interessieren können. In der Metropole dagegen weist die Abwesenheit von Empfindungen bei den „Blasierten“ auf einen notwendig gewordenen affektiven Rückzug hin, da es zu viele Menschen, Dinge und Aktivitäten gibt, denen man sich instinktiv zuwenden würde. (Man denke nur an die vielen Bettler und Straßenmusikanten, an denen man im alltäglichen Stadtleben lernt, ungerührt vorbeizugehen.) Diese schützende Distanzierung durch affektive Abwesenheit stellt jene Tiefenlogik dar, die dem von Simmel diagnostizierten urbanen Intellektualismus und der Blasiertheit gemeinsam ist. Eine solche Logik der Abwesenheit liegt auch dem Mechanismus zugrunde, auf den Simmel mit seiner anderen Erläuterung der Freiheitssteigerung in der Großstadt verweist. Gemeint ist die Auflösung traditioneller enger sozialer Bindungen, die das Individuum zwar auch bilden und stärken, vor allem aber stark einschränken. Der größere Umkreis des städtischen Lebens umfasst zu viele verschiedene Menschen in zu vielen verschiedenen, schnell wechselnden Beziehungen, als dass sich starke affektive Bindungen an Mitmenschen herausbilden könnten. Dies erscheint weder als psychologisch gesund noch als überhaupt möglich. Folglich entsteht eine Haltung, die Simmel als „Reserviertheit“ und „Gleichgültigkeit“ bezeichnet. Durch sie werden die Städter von den sozialen Verpflichtungen der höflichen Interessiertheit (und von sozial fest verwurzelten Vorurteilen) befreit, wie sie im Leben der „Kleinstadt“ üblich und notwendig sind. Diese Reserviertheit wird Simmel zufolge „nie stärker gefühlt als in [der] Unabhängigkeit [und Einsamkeit] des Individuums [im] dichtesten Gewühl, weil die körperliche Nähe und Enge die geistige Distanz erst recht anschaulich [und psychisch notwendig] macht“ (GG 126). Dieser durch einen Rückzug des Intellekts eingeleitete Rückzug des Selbst unterliegt der von mir betonten Logik der urbanen Abwesenheit, der für die Bewältigung der explodierenden Fülle der urbanen Präsenz eine entscheidende Bedeutung zukommt. Urbane Abwesenheit stellt zwar ein Heilmittel dar, immunisiert aber nicht gegen etwaige unerwünschte Nebenwirkungen – wie die urbanen Gefahren der Einsamkeit und der Gefühllosigkeit. Die Logik der Abwesenheit liegt auch Simmels abschließenden Bemerkungen zur persönlichen Freiheit des Stadtlebens zugrunde. Wird das Individuum seiner subjektiven Spontaneität, seiner affektiven Impulse und seiner bedeutsamen sozialen Bindungen beraubt, droht die vollständige Auslöschung der Persönlichkeit durch die überwältigende Organisation des Stadtlebens, die das Individuum auf eine „quantité négligeable“ reduziert, auf ein „bloßes Staubkorn“ in der enormen Stadtmaschinerie. Angetrieben durch die Erfahrung der Leere und die Angst vor der totalen Nichtigkeit, reagiert das Individuum, indem es „ein Äußerstes an Eigenart und Besonderung aufbie-

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ten muß“ (GG 129 f.). Die moderne Metropole bringt ein neues Verständnis persönlicher Freiheit hervor: Freiheit besteht hier nicht allein in individueller Unabhängigkeit von repressiven sozialen Bindungen, sondern in der „Ausbildung persönlicher Sonderart“ als „qualitative Einzigkeit“, um so dem konformistischen Druck der städtischen Massen zu entkommen, in dem Individualität und qualitative Differenzen untergehen (GG 130 f.). An dieser Stelle begegnen wir den Baudelaireschen Figuren des Dandys und des Flaneurs, die der utilitaristischen Uniformität des Großstadtlebens zu trotzen versuchen. Für Walter Benjamin und seine politische Vision der Straßen „als Wohnort des Kollektiven“ ist der Flaneur besonders wichtig, weil er sich nicht nur gegen, sondern durch die konformistische Menschenmasse und die Straßen, die diese teilen, definiert. Benjamin ist im Gegensatz zu Baudelaire zurückhaltender dabei, den Flaneur vom „Mann der Menge“ zu unterscheiden. Vom „manischen Habitus“ der „Großstadtmenge“, die hektisch ihren praktischen Geschäften nachgeht, distanziert sich der Flaneur durch die Abwesenheit praktischer Absichten und Dringlichkeiten. Er verlangt nach seinem „Privatisieren“ und seinem „Spielraum“, um nicht von der Masse „bedrängt“ und überwältigt zu werden. Im Unterschied zum provinziellen und verwöhnten Aristokraten, kann der Flaneur jedoch auch „die Versuchung, in einem Menschenstrom sich zu verlieren“, genießen, die vorübergehende Abwesenheit des Drucks, sich selbst bewusst zu sein (ÜMB 198, 204 ff.). Mit der Masse verbunden und doch zugleich abwesend, hat der Flaneur Ähnlichkeiten mit den Straßen in Baudelaires Versen, deren Schönheit daher kommt, dass sie die Masse andeuten und zugleich einen verlassenen Raum eröffnen, in dem Bewegungsfreiheit und Erkundungen aller Art möglich sind. Die gleiche Strategie ästhetischer Abwesenheit kann man auf jenen bezaubernden Fotos der leeren Prager Straßen erkennen, die ihren Reiz verlieren, sobald das Getümmel der Massen die Straßen der Stadt füllt. Der Flaneur wird von Benjamin als wesentlich „aus dem Rahmen [fallend]“ charakterisiert und ist weder im geschäftigen Treiben noch dort zu Hause, „wo das Privatisieren den Ton angibt“ (ÜMB, 204 ff.). Diese Abwesenheit eines eigenen Ortes oder eines konkreten Ziels hält ihn in ständiger Bewegung durch die Straßen der Stadt. Er widersteht jeder verlockenden Präsenz, die ihn aufhalten könnte, und wird so in noch entlegenere Gefilde und zu entfernteren Möglichkeiten getrieben, die die Metropole unaufhörlich anzubieten verspricht. Man beachte die konstitutiven Abwesenheiten in der folgenden Beschreibung einer Benjaminschen Flanerie aus dem Passagen-Werk: „Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte. Das Gehn gewinnt mit jedem Schritte wachsende Gewalt; immer geringer werden die Verführungen der Läden, der bistros, der lächelnden Frauen, immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Straßenecke, einer fernen Masse Laubes, eines Straßennamens. Dann kommt der Hunger. Er will nichts von den hundert Möglichkeiten, ihn zu stillen, wissen. Wie ein asketisches Tier streicht er durch unbekannte Viertel, bis er in tiefster Erschöpfung auf seinem Zimmer, das ihn befremdet, kalt zu sich einläßt, zusammensinkt.“14 14

Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Frankfurt/M. 1982, Bd. 1, S. 525.

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Die Abwesenheit eines Ziels, die Vorliebe für die abwesende „nächste Straßenecke“ und die „ferne Masse Laubes“ gegenüber der gegenwärtig greifbaren leiten die Bewegung des Flaneurs. Der bloße „Name“ einer Straße, der neu zu erkundende Räume signalisiert, zieht ihn deswegen stärker an als der greifbare Charme von Läden, Bistros und Frauen auf den von ihm abgeschrittenen Straßen. Der Hunger, der den Flaneur ausmacht, markiert die Anwesenheit einer Abwesenheit, die er nicht füllen möchte, da sie ihren eigenen Rausch mit sich bringt; das gleiche gilt für den Mangel eines beruhigenden Wissens über die „unbekannten Viertel“ seiner Flanerie und seine ständig schwindenden Kräfte. Sogar sein Zimmer zeichnet sich durch die Abwesenheit jener Vertrautheit und Wärme aus, die das eigene Zuhause zu charakterisieren pflegen. Große multiethnische Städte wie Paris oder New York sind berühmt dafür, Heimat der Heimatlosen zu sein. Sie sind nicht einfach nur die Heimat jener, die kein Obdach haben, sondern spezifischer noch derjenigen, denen eine Heimat fehlt. Der fremde Großstadtbewohner, der ständig „fehl am Platz“ ist, empfindet dies aufgrund all der anderen Fremden kaum. Für Großstädter mit Sensibilität für das Fremdsein stellt die Flanerie noch immer den sichersten öffentlichen Zeitvertreib dar. Man kommt einfach nicht in die Verlegenheit, als Fremder entlarvt zu werden, wenn man sich nur im richtigen Rhythmus durch die Straßen bewegt. Wendet man sich den Versuchungen der Läden, der Bistros und der Frauen zu, muss man sich der eigenen Fremdheit aussetzen – wenn auch nur durch den eigenen Akzent. Es ist verlockend, Benjamins asketisch angetriebenen Flaneur (vielleicht im Unterschied zu Baudelaires Bild) als urbanes Analogon zum wandernden Juden zu verstehen. Obwohl er kein konkretes Ziel hat, scheint er sich nach einer utopischen Heimat zu sehnen, nach einem abwesenden Ort, der unermüdlich, aber erfolglos gesucht wird: in der Hoffnung auf unbekannte Viertel, in entfernten Straßen mit magischen Namen, die einst präsent waren und nun neueren, abwesenden weichen müssen. Als jüdischer Mitreisender und abtrünniger Israeli frage ich mich, ob Jerusalem ein solcher magischer Name ist oder nur das fremde, kalte Zimmer (ein Armutszeugnis einer Heimat), in das der wandernde, frei denkende Jude zurückkehrt, um in tiefster Erschöpfung zusammenzusinken. Es ist natürlich beides. Jenseits der ermüdenden jüdischen Frage erwartet uns die umfassendere Problematik des ethnischen Anderen, für die der Jude lange als gequälter Statthalter herhalten musste. Von New York bis Paris, von London bis L. A. stellt die bunte ethnische Vielfalt der kosmopolitischen Stadt eine ihrer wichtigsten visuellen Dimensionen dar – die sowohl in ästhetischer als auch in politischer Hinsicht verschiedenste Bedeutungen und Versprechen umfasst. Trotz des großen türkischen Bevölkerungsanteils fehlt Berlin dieser Aspekt bisher, und die lange Tradition von Ausländerhass und ethnischer Gewalt gibt nicht gerade Anlass zur Hoffnung.15 Von all den meine Berlin-Erfahrungen prägenden Abwesenheiten ist die grundlegendste paradoxerweise nur oberflächlich, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Sie betrifft den Mangel an nichtweißen Gesichtern, insbesondere eines Gesichts, das meine ersten Tage in Berlin verschönerte. 15

Man sollte nicht vergessen, dass Berlin in früheren Jahrhunderten durchaus eine willkommene Zufluchtsstätte für europäische Flüchtlinge darstellte. Seit den 1930er Jahren hat sich jedoch eine wahre Tradition der Feindseligkeit „fremden“ Bewohnern gegenüber etabliert, die insbesondere Angehörige nicht-christlicher oder nicht-europäischer Gruppen trifft.

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Je t’adore à l’égal de la voûte nocturne, O vase de tristesse, ô grande taciturne, Et t’aime d’autant plus, belle, que tu me fuis, Et que tu me parais, ornement de mes nuits, Plus ironiquement accumuler les lieues Qui séparent mes bras des immensités bleues.16

4. Benjamin zitiert diese Zeilen von Baudelaire nicht, um an eine abwesende Geliebte zu erinnern, sondern um die wesentlich abwesende, vergängliche und degenerierte Qualität des urbanen Eros zu betonen, die „die Stigmata zum Vorschein kommen [lässt], die das Dasein in einer Großstadt der Liebe beibringt“. Im Unterschied zu den dauerhaften Nähebeziehungen, wie sie in Goethes „Keine Ferne macht dich schwierig, kommst geflogen und gebannt …“ evoziert werden, wirft Baudelaires urbane Liebe eher ein Schlaglicht auf die Verheißungen der Abwesenheit und des Dahinschwindens, sie blüht im „Zauber der Ferne“ (ÜMB 201, 227). Sollte uns dies überraschen? Flüchtigkeit stellt einfach die zeitliche Dimension der Abwesenheit dar, während Ferne eine Kluft benennt, die es durch Bewegung zu überbrücken gilt, und Eros (wie Sokrates wusste) eine Form der Bewegung umfasst, die durch einen Mangel motiviert ist. Um den Eros räumlicher und zeitlicher Abwesenheit mit dem fesselnden Treiben der Stadt in Verbindung zu bringen, verwendet Baudelaire das Bild der schönen, verschleierten, fliehenden Heldin seines Liebessonetts A une Passante. Nach einer plötzlichen, stummen und flüchtigen Begegnung mit den Blicken des Dichters17 in der Straße, die 16

Charles Baudelaire, La Chevelure [Das Haar] in: Die Blumen des Bösen, Leipzig 1973 (Übersetzung von Sigmar Löffler): Ich schau zu dir wie nach der Sternenöffnung hin, O Kelch der Traurigkeit, o große Schweigerin! Und lieb dich, Schöne, mehr, weil du dich mir verweigerst und weil du, wie mir scheint, Zier meiner Nacht, nur steigerst Ironischer die Zahl der Meilen, die so weit Mich trennen von der blauen Unermesslichkeit

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Benjamin unterstreicht die unentbehrliche Funktion der Augen im Stadtleben und zitiert Simmels Beharren auf dem urbanen Primat des Sehsinns: „Die Hauptursache davon sind die öffentlichen Verkehrsmittel. Vor der Entwicklung der Omnibusse, der Eisenbahnen, der Tramways im neunzehnten Jahrhundert waren die Leute nicht in die Lage gekommen, lange Minuten oder gar Stunden sich ansehen zu müssen, ohne aneinander das Wort zu richten.“ (ÜMB 226). Aber muss man sich stundenlang ansehen? Die unterschiedliche Rolle der Augen in verschiedenen Städten ist äußerst lehrreich. Wer in der New Yorker U-Bahn so starren würde wie in Berlin, kann sich mindestens einer scharfen Bemerkung sicher sein. Der Eros der Pariser Blick-Spiele hingegen entstammt nicht langem und direktem Anstarren (welches einen, wie das französische Wort dévisager nahe legt, das Gesicht verlieren lässt), sondern funktioniert als Spiel kurzer Blicke und dazwischen liegender kurzer Pausen; wieder eine Ästhetik des Spiels von An- und Abwesenheit.

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„betäubend heulte“, passiert ihn die unbekannte Witwe in „großer Trauer“. Ihr Weg in die Abwesenheit wird poetisch durch Bilder von Zeit und Raum heraufbeschworen, mit Ausdrücken wie „woanders, weit von hier“, „zu spät“ oder „nie“: Un éclair…puis la nuit! – Fugitive beauté Dont le regard m’a fait soudainement renaître, Ne te verrai-je plus que dans l’éternité? Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être! Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais, O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!18

Benjamin beschreibt diese flüchtige Begegnung traurig als „Abschied für ewig“ und deswegen als „Katastrophe“. Mir scheinen diese Zeilen indes doppeldeutiger und zugleich Ausdruck auch der positiven Möglichkeiten urbaner Abwesenheit zu sein. Die Chance eines zweiten Zusammentreffens bleibt offen, wie wir an dem Fragezeichen und dem „peut-être“ sehen. Die ständige Bewegung in der Stadt-Passage, durch die sie kam und ging, kann sie auch zurückbringen. „Woanders, weit von hier“ – das kann noch immer innerhalb der großen Metropole liegen. Das „peut-être“ markiert den produktiven Raum der Möglichkeiten, so wie auch Wahlfreiheit und Handlungsspielraum suggeriert werden. Warum folgt der Flaneur nicht der vorübergehenden Frau, um sie besser kennen zu lernen? Vielleicht fürchtet er die Konsequenzen einer näheren Begegnung und vielleicht sogar zu Recht? Diese Topoi des Fließens und der Kontingenz, die zugleich Möglichkeiten der Wahl und des Handelns, der Bedeutung und des Werts eröffnen, sind zentral für den Pragmatismus und seine Ästhetik. Ich möchte jedoch noch kurz beim urbanen Eros und den ethnischen Anderen bleiben, die durch die mysteriöse verschleierte Dame (die den Verlust einer Heimat oder eines Ehemanns betrauert) personifiziert werden könnten. Die Witwe kann aber auch für die Vielfalt verschiedener Menschen, Produkte und Lebensweisen stehen, die das Stadtleben zugleich bereichern und verwirren. Wir wünschen uns die Mannigfaltigkeit der urbanen Fülle, können jedoch nicht alles auf einmal genießen. Wie Baudelaire wusste, gibt es einfach zu viel, zu viele einnehmende Augen, die wir in den Straßen treffen, als dass wir ihnen allen nach Hause folgen könnten. Auch das lyrische Ich war in Bewegung, vielleicht schon auf dem Weg zu einem Rendezvous mit einem anderen funkelnden Blick oder sogar nach Hause zur ruhigen Wärme vertrauter Augen.

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Charles Baudelaire: „A une Passante“ [Einer Dame]; in der Übertragung Benjamins: Ein Blitz, dann Nacht! Die Flüchtige, nicht leiht Sie sich dem Werdenden an ihrem Schimmer. Seh ich dich nur noch in der Ewigkeit? Weit fort von hier! zu spät! vielleicht auch nimmer? Verborgen Dir mein Weg mir wohin du mußt O du die mir bestimmt, o du die es gewußt!

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Auch die wundervolle Verschiedenartigkeit der Kulturen, die wir in kosmopolitischen Städten antreffen, von denen wir lernen und die wir lieben können, stellt ein Zuviel dar. Wir können sie nicht alle nach Hause verfolgen und in der stickigen, permanenten Bindung an eine altmodische Gemeinschaft vereinen. Das muss uns jedoch nicht zu einer neuen Form der multikulturellen Ghettoisierung verdammen, die Pluralität nur respektiert, indem sie essentialistische ethnische Identitäten projiziert und zu kontrollieren trachtet. Man erinnere sich an Benjamins Vorstellung von den Straßen als „Wohnraum des Kollektiven“. Die Straßen, durch die sich zahlreiche Klassen, Kulturen und Ethnien bewegen und in denen sie sich mischen, können ein dynamisches, hybrides Kollektiv schaffen. Dieses Kollektiv muss sich als freiwilliges und bewegliches konstituieren, da dieselben Straßen ebenso dafür genutzt werden können, sich wieder zu entfernen. Es gibt bei weitem zu viele Straßen in einer Großstadt und ihre Anordnung ist zu komplex, als dass sie von einem panoptischen Punkt aus von einer Zentralmacht kontrolliert werden könnten. Deshalb können die Straßen der Stadt die Vielfalt, die sie präsentieren, zugleich auf clevere Art und Weise verbergen. Ihr endloses Angebot wechselnder, verborgener, vorübergehend von der Polizei unüberwachter Flecke kann sogar alternative Formen der Ästhetik und der Politik beherbergen. Wenn die Intensität der Erfahrungen aber nach Erleichterung verlangt, bieten uns wieder andere Straßen die gewünschte Abwesenheit (was nicht mit Blasiertheit zu verwechseln ist). Die meisten Großstädte verfügen auch über ein unterirdisches Verkehrsnetz, das Fluchtwege eröffnet und erotische Bewegungen in der Tiefe unter der Stadt ermöglicht. Auch wenn die festen Routen und finsteren Haltestellen der U-Bahn kaum mit dem imaginierten Chic und der Freiheit der Baudelaireschen Flanerie mithalten können, stellen sie – im leeren Abteil eines Sechs-Uhr-Zuges am Sonntag – zumindest einen exemplarischen Ort zur Verfügung, um über die Vielfalt und den Wert urbaner Abwesenheit nachzudenken. Aus dem Amerikanischen von Heidi Salaverría

Kapitel V

Tatort: Kunst als Dramatisierung

1. „Dramatisiere, dramatisiere!“, war der beharrliche Appell, von dem das künstlerische Genie Henry James’ verfolgt wurde.1 Der berühmte Romancier wusste, dass er im Theater erfolglos war. Seinen Stücken wurde fast allen die Aufführung verweigert und eines der beiden einzigen aufgeführten wurde auf der Londoner Bühne rundweg ausgebuht. Und doch erkannte James mit tapferer Ehrlichkeit, dass das Grundprinzip des Dramas den Schlüssel zu künstlerischer Größe darstellt. Er entwickelte die schöne Unterscheidung zwischen „theatralem Stoff“ und „dramatischem Stoff“ – zwischen konkreter Bühnenaufführung und dem, was er das tiefere „göttliche Prinzip des Szenarios“ nannte (welches ebenso in Romanen und in Film und Fernsehen realisierbar ist). Dieses wesentlich dramatische Prinzip hat James bewusst in der Komposition seines literarischen Spätwerks angewendet, das seine große Karriere krönen sollte: „Die szenische Methode“, schreibt er, „ist mein Absolutes, mein Imperativ, meine einzige Erlösung.“ Diese Erlösung wird an seinem posthumen dramatischen Erfolg ersichtlich, an den häufigen Adaptationen seiner Werke für Fernsehspielfilme, Kinofilme und sogar für zwei Opern von Benjamin Britten.2 James’ Behauptung der Überlegenheit des Dramas hätte sich auf die Autorität der antiken Philosophie stützen können, doch war sie auch in seinen und in späteren Zeiten nicht unüblich. So stimmte etwa Nietzsche, der nur ein Jahr jünger war als James, spontan Richard Wagners Eingeständnis zu, „dass vom Theater aus eine unvergleichliche Wirkung, die grösste Wirkung aller Kunst ausgeübt werden könne“.3 Einige Generationen später sollte James’ Landsmann und anglophiler Schriftstellerkollege T. S. Eliot die Überlegenheit des Dramas als „ideales Medium für die Dichtung“ erneut beschwören. Das poetische Drama, welches in sich die Kraft bedeutungsvoller Handlung mit der Schönheit musikalischer Ordnung verbindet, könne zwei kostbare ästhetische Werte 1

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Henry James, Preface to „The Altar of the Dead“ in: The Art of the Novel, New York 1934, worin auch die Variation „Dramatisiere es, dramatisiere es!“ dreimal vorkommt (S. 249, 251, 260). Diese Zitate von Henry James sind dem einleitenden Essay von Leon Edel in seiner Ausgabe von The Complete Plays of Henry James entnommen (New York 1990, S. 10, 62, 64). Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen IV, Richard Wagner in Bayreuth, Kap. 8, KSA, Bd. 1, S. 472.

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umfassen, die sich nicht leicht in einer einzigen Form vereinen lassen. Und durch die theatrale Aufführung, so argumentierte Eliot weiter, ermögliche das Drama dem Poeten, ein „so breites und vielfältiges Publikum wie nur möglich“ zu erreichen.4 Eliot bemühte sich deswegen selbst unermüdlich, für das Theater zu schreiben, wo er sich anfangs indes kaum eines größeren Erfolges erfreute als James. (Der sensationell erfolgreiche Broadway-Hit „Cats“ ist, auch wenn er auf Eliots leichten Versen aufbaut, eine posthume Dramatisierung von Werken, die tatsächlich niemals für das Theater, vom Musical ganz zu schweigen, geschrieben worden waren.) Vom Standpunkt des praktizierenden Künstlers (eher als von dem des Philosophen) aus gesehen, scheint der Vorrang des Dramas sich jedoch nicht alleine davon abzuleiten, dass es mehr Menschen erreicht und sie stärker und umfassender bewegt als andere Künste – was heute eher für das Kino als für das Theater zutreffen mag. Das Drama bietet darüber hinaus (wage ich dies als Amerikaner auszusprechen?) den Anreiz, dass ein erfolgreiches Theaterstück dem Autor das schnellste (wenn auch schließlich nicht immer das größte) Einkommen verschaffen kann. Wir wissen aus James’ Privatkorrespondenz, dass Geld sicherlich ein Motiv für sein Interesse am Schreiben für das Theater bildete. Doch verfälscht das Vorhandensein dieses Motivs in keiner Weise die Ehrlichkeit seiner Lobeshymnen auf das Drama. Schließlich pries er es als die „vornehmste“ aller Künste, noch lange bevor er je ernsthaft an eine Karriere als Theaterschriftsteller dachte. James betrachtete das Drama als vornehmste Kunst, weil es die Verknüpfung der strengsten formalen Bedürfnisse „meisterhafter Strukturen“ mit den höchsten Ansprüchen an die Bedeutsamkeit des „Themas“ erfordert.5 In diesem Kapitel möchte ich über diese wohl ziemlich vertrauten Behauptungen über den hervorragenden Einfluss und die Vornehmheit des Dramas hinausgehen, weil ich denke, dass der Begriff des Dramas zwei der tiefsten und wichtigsten Bedingungen der Kunst verkörpert und vereint und daher den Schlüssel für eine nützliche Definition von Kunst insgesamt in sich tragen könnte. Was aber ist eine nützliche Definition der Kunst? Darüber werden wir uns vielleicht niemals endgültig verständigen können, aber es lässt sich doch einsehen, dass sie sich von gewöhnlichen, als formal gültig und wahr angesehenen Definitionen der Kunst unterscheiden wird. Die Suche nach einer wahren Definition der Kunst zielt normalerweise auf eine Reihe wesentlicher Eigenschaften, die allen Kunstwerken gemeinsam sind und diese von anderen Objekten unterscheiden. So sollen notwendige oder hinreichende Kriterien für die Existenz eines Kunstwerkes isoliert werden. Der Zweck solcher formalen Definitionen besteht in einer Bestimmung der Extension des Begriffs der Kunst.6 Eine Definition kann sich aber durchaus als nützlich für die Ästhetik erweisen, 4

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T. S. Eliot, The Use of Poetry and the Use of Criticism, London 1964, S. 152–153. Vgl. auch Poetry and Drama, in: On Poetry and Poets, London 1957, S. 72–88. Vgl. The Complete Plays of Henry James, S. 34 f. Vgl. Robert Stecker, Artworks. Definition, Meaning, Value, University Park 1997, S. 14. Stecker hält eine solche Definition dennoch für notwendig. Obwohl er sich auf meinen Einwand bezieht, dass diese meistens nicht sehr informativ ausfallen (S. 17), führt er keine Gegenargumente an. Dass diese Definitionsversuche nicht sehr erfolgreich sind und dass sie ihre erklärte Aufgabe nicht vollständig erfüllen können, hat verschiedene Gründe – etwa den offenen, kreativen Charakter der

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ohne im formalen Sinne wahr zu sein, also ohne die genaue Extension dessen, was als Kunst akzeptiert wird, zu bestimmen. So würde etwa eine normativ anspruchsvolle Definition der Kunst, die sich auf gelungene Werke beschränkt, weder dem geläufigen Begriff der Kunst gerecht werden noch logisch haltbar sein, da sie schlechte Kunst begrifflich auszuschließen scheint. Wenn eine solche fehlerhafte Definition aber zur Bestimmung dessen dienen kann, was gelungene Kunst ist und was das Gelungene an der gelungenen Kunst ist, dann ist sie aus der Perspektive der Ästhetik vielleicht viel nützlicher ist als eine wahre Definition, die sowohl die schlechte als auch die gute Kunst abdeckt und gegenüber dieser Unterscheidung gleichgültig bleibt. Aus der Perspektive des von mir vertretenen Pragmatismus ist die Nützlichkeit einer Definition viel wichtiger als ihre formale Wahrheit (auch wenn beides manchmal zusammenfallen kann). Deshalb habe ich an anderer Stelle Deweys Bestimmung der Kunst als Erfahrung zwar dafür kritisiert, dass sie hoffnungslos inadäquat ist, aber dennoch die These vertreten, dass sie nützlicher als eine andere pragmatistische Definition ist, die aufgrund ihrer Extension zutreffender zu sein scheint – die Bestimmung der Kunst als historisch bestimmte und sozial kontextualisierte Praxis.7 Wenn der Wert einer Definition der Kunst aber in ihrem Beitrag zu unserem Verständnis und unserer Erfahrung der Kunst liegt, dann kann dies offensichtlich auf verschiedene Weisen verstanden werden. Solche Definitionen können etwa nützlich sein, indem sie uns evaluative Standards zur Beurteilung von Kunst an die Hand geben. So hat Morris Weitz die Ansicht vertreten, dass die Suche nach einer endgültigen Definition der Kunst im Sinne notwendiger und hinreichender Bedingungen zwar fehlgeleitet und zum Scheitern verurteilt sei, dass normativ anspruchsvolle Bestimmungen der Kunst aber dennoch als Empfehlungen nützlich sein könnten, die uns für die Bewertung von Kunst bestimmte Kriterien nahe legen.8 Nicht normativ aufgeladene Definitionen können aber auch und in anderer Hinsicht von Nutzen sein. Sie können etwa bestimmte Merkmale von Kunst betonen, die bisher keine hinreichende Aufmerksamkeit erfahren haben. Definitionen mögen uns auch dabei helfen, verschiedene Aspekte von Kunst in eine klarere Konstellation zueinander zu setzen: etwa, indem sie Merkmale kombinieren oder Strömungen versöhnen, die andernfalls unverbunden nebeneinander zu stehen oder sogar in Konflikt miteinander zu geraten scheinen. Wenn der Wert ästhetischer Definitionen also in ihrem Beitrag zur Verbesserung unseres Kunstverständnisses liegt, welchen Nutzen könnte es dann haben, Kunst als Dramatisierung zu definieren? Vielleicht trifft diese Definition ja ein wirkliches Unterscheidungskriterium der Kunst. Ich werde im Folgenden jedoch bescheidener sein und

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Kunst selbst und die Unterschiedlichkeit der Modi, in denen Kunst mit anderen Praktiken in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen verbunden ist und sich doch zugleich von ihnen abhebt. Für eine weiterführende Kritik an solchen essentialistischen Definitionsangeboten, die ich auch als „Verpackungstheorien der Kunst“ bezeichne, vgl. Richard Shusterman, Pragmatist Aesthetics. Living Beauty, Rethinking Art, New York 2000², S. 38–45. Vgl. ebd., S. 34 f., 46–61. Vgl. Morris Weitz, The Role of Theory in Aesthetics, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 15 (1956), S. 27–35; Richard Shusterman, Kunst Leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, Frankfurt/M. 1994, S. 29–34.

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dafür argumentieren, dass diese Definition zumindest dazu dient, die beiden mächtigsten Hauptströmungen zu integrieren und zu versöhnen, die die gegenwärtige Ästhetik dominieren und polarisieren: Wir können sie Naturalismus und Historismus nennen.9

2. Der Naturalismus definiert die Kunst als etwas in der menschlichen Natur tief Verwurzeltes, welches demgemäß in der einen oder anderen Form in jeder Kultur Ausdruck findet. Diese Sichtweise, die mindestens seit Aristoteles existiert, sieht Kunst als etwas an, das aus den natürlichen menschlichen Bedürfnissen und Trieben erwächst: aus einer Neigung zur Mimesis, einem natürlichen Verlangen nach Balance, Form oder bedeutsamem Ausdruck, einem Durst nach einer gesteigerten ästhetischen Erfahrung, die dem lebendigen Geschöpf nicht allein Freude bereitet, sondern auch einen gesteigerten Lebenssinn verschafft.10 Kunst gründet dieser Argumentation zufolge nicht nur zutiefst in natürlichen Kräften, Energien und Rhythmen, sondern stellt auch ein wichtiges Mittel und Medium für das Überleben und die Perfektion der menschlichen Natur dar. Deswegen halten viele Verfechter des ästhetischen Naturalismus die Kunst des Lebens selbst für die höchste Kunst und das unwiderstehlichste Drama.11 Auch wenn Kunst entscheidend von der sie umgebenden Gesellschaft und Kultur sowie ihrem institutionellen Rahmen geformt wird: Der Naturalismus beharrt darauf, dass Kunst – im besten, wahrsten und stärksten Sinne – die Fülle und Energie des Lebens ausdrückt. Diese Strömung des ästhetischen Naturalismus prägte die deutsche Philosophie vor allem durch Friedrich Nietzsche. In seiner frühen Studie zu den Ursprüngen des Dramas in der Antike behauptet Nietzsche, dass die Kunst einen natürlichen Ursprung habe, dass sie „als lebendiges Spiel“ aus „dem phantastischen Überschwang des Lebens, […] aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt“ und ihre Kraft „aus der Fülle des Daseins“ bezieht, die sie zugleich ausdrückt.12 Die gesteigerte Erfahrung ästhetischer Ekstase, die Nietzsche von der frühen griechischen Tragödie bis zurück zur religiösen Raserei der Dionysier nachzeichnet, wird als „der höchste, nämlich dionysische Ausdruck der Natur“ verteidigt. Im Unterschied dazu verurteilt er „die Kultur der Oper“ und ihren „stilo rappresentativo“ als „etwas so gänzlich Unnatürliches“ (GT 88, 9

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Ich bin mir natürlich dessen bewusst, dass den Bezeichnungen „Naturalismus“ und „Historismus“ innerhalb der Ästhetik ganz verschiedene Bedeutungen zukommen, die oft weit spezifischer sind, als die allgemeine Verwendungsweise, auf die ich mich in diesem Kapitel beziehe. Siehe Aristoteles, Poetik, 4, 1448 b: „Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. […] Da nun das Nachahmen unserer Natur gemäß ist, und ebenso die Melodie und der Rhythmus – denn daß die Verse Einheiten der Rhythmen sind, ist offenkundig –, haben die hierfür besonders Begabten von den Anfängen an allmählich Fortschritte gemacht und so aus den Improvisationen die Dichtung hervorgebracht.“ (Übersetzung von Manfred Fuhrmann) Zu einer detaillierteren Ausführung dieser Themen vgl. Kunst Leben; sowie Kap. 1 in diesem Buch. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Sämtliche Werke, Stuttgart 1964, Bd. 1, S. 57, 86 (im Folgenden zitiert als „GT“).

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152). Kunst, die aus dem tiefsten Urquell der Natur aufsteigt und „das ewige Leben jenseits aller Erscheinung und trotz aller Vernichtung“ (durch ihre „ästhetische Lust“) zelebriert, ist für Nietzsche „nicht nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit“ und eine „Rechtfertigung der Welt als eines ästhetischen Phänomens“ (GT 138, 186 f.). John Dewey entwickelte eine mit einem ganz ähnlichen Naturalismus verbundene pragmatistische Ästhetik. Er insistiert, „daß Kunst – diejenige Tätigkeitsform, die mit Bedeutungen erfüllt ist, welche unmittelbar genossen werden können – die vollendete Kulmination der Natur ist und daß ‚Wissenschaft‘ eigentlich die Dienerin ist, welche die Vorgänge in der Natur zu diesem glücklichen Ergebnis hinführt“.13 Deweys Kunst als Erfahrung beginnt mit dem Kapitel „Das lebendige Geschöpf“. Das Hauptziel des gesamten Buches ist „die Wiederherstellung der Kontinuität zwischen der ästhetischen Erfahrung und den gewöhnlichen Lebensprozessen“ (KE 18). Ästhetisches Verstehen darf Dewey zufolge nie vergessen, dass die Wurzeln von Kunst und Schönheit in den „grundlegenden Lebensfunktionen“ liegen, in den „biologischen Tatsachen“, die der Mensch mit „Vogel und Säugetier“ teilt (KE 20). Selbst in unseren am stärksten verfeinerten Künsten, die am weitesten von der Natur entfernt zu sein scheinen, „besteht die organische Grundlage weiter fort und bildet das belebende Fundament“ (KE 35). Es stellt die stützende Quelle für die emotionalen Energien der Kunst dar, deren wahres Ziel es ist, „dem ganzen Geschöpf in seiner einheitlichen Vitalität zu dienen“. „Dem Rhythmus einer jeden Kunst und eines jeden Kunstwerkes liegt“, so Deweys Schlussfolgerung, „das Schema der Beziehungen des Lebewesens zu seiner Umgebung zugrunde“. Deswegen ist „in seinem umfassendsten und tiefsten Verständnis“ der „Naturalismus für die gesamte Kunst unumgänglich“ (KE 174 f.). Nietzsches und Deweys leidenschaftlicher ästhetischer Naturalismus hat eine gemeinsame, jedoch nur unzureichend anerkannte Quelle in Ralph Waldo Emerson. Emerson war ein Prophet, der voller Begeisterung den Gospel der Natur predigte und sich dabei von ihren vielfältigen und geistvollen Formen und Zweckmäßigkeiten faszinieren ließ. Kunst ist aus seiner Sicht nur ein Beispiel unter anderen für diese Vielfalt. „Kunst“, wie Emerson sie definiert, „ist durch das menschliche Destilliergefäß hindurchgegangene Natur“.14 Die Kunst ist kein Selbstzweck, sondern hat ihr Ziel darin, die Natur zu vervollkommnen – durch die Steigerung der Lebendigkeit des menschlichen Ausdrucks. Deswegen „sollte Kunst erheitern“, indem sie die „gesamte Energie“ einer Person in Anspruch nimmt und völlig „den Lebensprozessen“ dient. „Die Aufgabe der Kunst steht über den Künsten“, schließt Emerson. „Sie hat nichts Geringeres zum Ziel als die Erschaffung des Menschen und der Natur.“ (RWE 192–194) Mit der Lobpreisung der Gaben der Natur – ihrer wunderbaren Formen und zweckmäßigen Symbolik – antizipiert Emerson Deweys Behauptung, die Kunst entnehme ihre Formen und Symbole der natürlichen Umgebung: etwa den spitz zulaufenden Stil gotischer Architektur den aufragenden Bäumen des Waldes. Auch die Laudatio auf die 13

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John Dewey, Erfahrung und Natur, Frankfurt/M. 1995, S. 337; Kunst als Erfahrung, Frankfurt/M. 1980 (im Folgenden zitiert als „KE“). Ralph Waldo Emerson, Nature, in: R. Poirier (Hg.), Ralph Waldo Emerson, New York 1990, S. 12 (im Folgenden zitiert als „RWE“).

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intensive Erhabenheit ästhetischer Erfahrung nimmt Emerson vorweg. Sowohl Dewey als auch Nietzsche sollten sie später als die höchste Errungenschaft der Kultur hervorheben: ekstatische Grenzerfahrungen, die weitaus tiefgreifendere Transformationen und kreativere Einsichten mit sich bringen als jede diskursive und wissenschaftliche Form der Wahrheit. „Der Dichter gibt uns nur die außergewöhnlichen Erfahrungen – ein Gott, der von Gipfel zu Gipfel schreitet.“ „Dichtkunst“, fährt Emerson fort, (mit einer Formulierung, die erst Nietzsche berühmt machen sollte) „ist die fröhliche Wissenschaft […] und der Dichter der wahrhaftigere Logiker“, einer, „der unsere Ketten sprengt und uns in neue Szenen eintreten lässt.“ (RWE 443, 455 f.) Der ästhetische Naturalismus dieser Philosophen ist mehr als romantische Sentimentalität und kann in den Ergebnissen der gegenwärtigen Naturwissenschaften Bestätigung finden. Evolutionsforscher erkennen heute an, dass im Großen und Ganzen diejenigen Dinge, die uns Freude bereiten, auch das Überleben und die Weiterentwicklung der Spezies fördern. Wir haben nämlich nicht durch bewusste Planung überlebt und uns weiterentwickelt, sondern das gewählt, zu dem uns die natürliche Freude unreflektiert getrieben hat. Die intensiven Freuden der Sexualität drängen uns etwa zur für das Überleben der Spezies notwendigen Fortpflanzung, selbst wenn es nicht im rationalen Eigeninteresse der jeweiligen Individuen liegt, die Risiken in Kauf zu nehmen, die solche intimen Begegnungen mit sich bringen. Auch der Schönheit und den Freuden der Kunst kann dementsprechend ein evolutionären Wert zugeschrieben werden: nicht nur weil sie unsere Wahrnehmung, unsere handwerklichen Fähigkeiten und unseren Sinn für Strukturen schärfen, sondern auch, weil so bedeutsame Bilder entstehen. Und diese tragen durch die gemeinsame Wertschätzung symbolischer Formen dazu bei, einzelne Individuen an eine organische Gemeinschaft zu binden. Schließlich hat die Freude an der Kunst – als Freude – einen evolutionären Wert, da sie das Leben lebenswert erscheinen lässt, was die beste Garantie dafür darstellt, dass wir uns nach Kräften bemühen werden, zu überleben. Die Beständigkeit der Kunst selbst, ihre leidenschaftliche Verfolgung trotz Armut und Unterdrückung und ihre eindringliche mächtige, transkulturelle Präsenz, all das kann durch solche naturalistischen Wurzeln erklärt werden. Denn – wie Emerson, Nietzsche, Dewey und andere lebensbejahende Ästhetiker festgestellt haben – es liegt etwas in der Lebendigkeit und Intensität der ästhetischen Erfahrung von Kunst, das unsere natürliche Vitalität erhöht, indem es zutiefst verkörperten menschlichen Bedürfnissen antwortet. Die vom Naturalismus betonte transformative Kraft der ästhetischen Erfahrung ist jedoch keinesfalls auf rein positive Erfahrungen der Einheit und der Freude beschränkt, wie die obigen Zitate vielleicht nahe legen. Da auch die Natur nicht nur vereinigend, sondern auch störend und trennend wirken kann, reicht der Naturalismus über die fröhliche Affirmation organischer Ganzheit hinaus. Fragmentierende und intensive Begegnungen mit unangenehmen Widerständen können eine stärkende und belebende ästhetische Erfahrung stimulieren, deren Möglichkeit von Theoretikern des Erhabenen schon vor langer Zeit erkannt worden ist. Wenn die durch die Kunst der Gegenwart ermöglichten Erfahrungen oft ebenso disruptiv wie intensiv sind, kann der Naturalismus eine solche Ästhetik des Widerstands deshalb durchaus integrieren. Diese zeichnet gerade die verstörende und gegen soziale Konventionen gerichtete Kraft der Kunst aus, die auf

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experimenteller Abweichung beruht, auch wenn sie ihre oppositionelle Attraktivität natürlich teilweise ebenfalls wieder sozialen Konventionen verdankt. In kritischer Abgrenzung zum ästhetischen Naturalismus definiert der Historismus den Kunstbegriff im engeren Sinne als partikulare historisch-kulturelle Institution, die durch die westliche Moderne hervorgebracht worden ist. Anhänger dieser Sichtweise betrachten frühe und nichteuropäische Kunstformen nicht als Kunst im eigentlichen Sinne, sondern als Kunsthandwerk. Sie bringen keine Kunstwerke hervor, sondern rituelle und mit traditionellen Bedeutungen besetzte Objekte, die bestenfalls Vorläufer und unvollkommene Analogien der autonomen Kunst der Moderne darstellen. Der Historismus betont, dass unsere gegenwärtigen Vorstellungen von Kunst und von ästhetischer Erfahrung bis zum 18. Jahrhundert keine definitive Gestalt angenommen hatten.15 Und ihre momentane „autonome“ Form habe die Kunst erst durch soziale Entwicklungen des 19. Jahrhunderts erhalten, die ihre modernen Institutionen etablierten und die um die Jahrhundertwende im Begriff des „l’art pour l’art“ kulminierten. Pierre Bourdieu, ein rigoroser und systematischer Vertreter des Historismus, formuliert diese Einsicht folgendermaßen: „Die Fundierung der ästhetischen Haltung und des Kunstwerkes“ ist ganz und gar nicht in der Natur „zu lokalisieren“, sondern vielmehr „in der Geschichte der Kunst-Institution“, welche die „sozialen Bedingungen der Möglichkeit“ für Kunst und ästhetische Erfahrung hervorbringt. Deswegen „ist das Auge des Kunstliebhabers des 20. Jahrhunderts, auch wenn es eine Gabe der Natur zu sein scheint, in Wirklichkeit ein Produkt der Geschichte.“16 Die Kunst des 20. Jahrhunderts hat dem Historismus zufolge diese Autonomie angenommen und sich selbst als Kunst zu ihrem eigenen vorrangigen Zweck und ihrem primären Thema gemacht. Da sich die Kunst durch einen soziohistorischen Differenzierungsprozess von ihrer lebensweltlichen Umgebung abgelöst hat, werden scheinbar auch Bedeutung und Wert der Kunst schlicht durch das soziale und institutionelle Setting konstituiert, das die Kunst vom restlichen Leben abhebt. Natürlich ist es der soziohistorische institutionelle Kontext, der ein Ready-Made zu einem Kunstwerk macht und es von seinem nichtkünstlerischen Gegenstück unterscheidet. Museen, Galerien und andere Kunstinstitutionen stellen deswegen nicht einfach Kunst aus, sie eröffnen allererst den sozialen Raum, ohne den Kunst nicht einmal als solche konstituiert werden kann. Die analytischen Philosophen Arthur Danto und George Dickie schließen sich Bourdieu in der Betonung dieser Kontextualität an. Wie auch andere Vertreter des Historismus folgern sie daraus, dass ein Objekt allein durch den historisch variablen sozialen Rahmen der Kunstwelt zum Kunstwerk wird. Der Status von Objekten als Kunstwerke hängt also schlechterdings nicht von Schönheit, gelungener Form oder angenehmer ästhetischer Erfahrung ab, die von der zeitgenössischen Kunst allesamt als nebensächlich, wenn nicht gar als völlig passé eingestuft werden. Einige Vertreter des Historismus beharren ferner darauf, dass sogar die scheinbar breiter gefassten Begriffe des ästheti15

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Vgl. z. B. den in der analytischen Ästhetik häufig zitierten Aufsatz von Paul O. Kristeller, The Modern System of Art, in: Journal of the History of Ideas, 11/12 (1951/2). Pierre Bourdieu, The Genesis of Pure Aesthetic, in: Richard Shusterman (Hg.), Analytic Aesthetics, Oxford 1989, S. 148 f.

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schen Objekts und des ästhetischen Genusses von den historischen Institutionen der Kunst determiniert werden. Sie gehen nämlich davon aus, dass diese Institutionen die allgemeine Form der ästhetischen Wertschätzung prägen, indem sie die Bedeutung des Ästhetischen selbst definieren. Es wäre unklug, sich nun einfach zwischen Naturalismus und Historismus zu entscheiden, da beide gravierende Schwächen aufweisen.17 Die naturalistische Sichtweise legt nicht ausreichend Rechenschaft ab über die sozialen Institutionen und die historischen Konventionen, die Kunstpraktiken strukturieren und ihre Rezeption beherrschen. Andererseits kann der soziohistorische Blick die Ziele nicht angemessen erklären, für die Kunstpraktiken und -institutionen entwickelt worden sind. Auch auf die Frage, welchen menschlichen Vermögen diese dienen sollen und warum scheinbar auch nichtwestliche, nichtmoderne Kulturen Kunstpraktiken entwickelt haben, findet man hier keine adäquate Antwort. Die einfache Definition der Kunst als Produkt der Moderne stellt die tiefe historische Kontinuität in Frage, die für die Tradition westlicher Kunst konstitutiv ist: von den Griechen und Römern über das Mittelalter und die Renaissance bis in die Moderne, von der dann behauptet wird, dass sie der Ursprung der Kunst als solcher sei. Ein weiterer Grund gegen die einfache Wahl zwischen ästhetischem Naturalismus und historistischem Konventionalismus, zwischen gelebter Erfahrung und sozialen Institutionen, besteht in der wechselseitigen Abhängigkeit dieser sich gegenüberstehenden Begriffe. Dass wir selbst natürliche Sprachen als durch soziale Konventionen und Geschichte konstituiert ansehen, zeigt, wie unsinnig eine solche Dichotomie von Natur und Gesellschaft bzw. Geschichte eigentlich ist. Natürliches Leben ist ohne Geschichte ebenso bedeutungslos, wie Geschichte ohne Leben unmöglich ist. Doch auch wenn man dies einsieht, bleibt doch eine beunruhigende Spannung zwischen den beiden Ansätzen bestehen. Auf der einen Seite sieht der Naturalismus das Wesen der Kunst in der lebendigen Intensität der Erfahrung von Schönheit und Bedeutung, darin, wie die Kunst Themen verhandelt, die unsere menschliche Natur zutiefst ansprechen und uns direkt affizieren und stimulieren. Dem steht die Behauptung des Historismus gegenüber, dass die wesentlichen Eigenschaften der Kunst rein gar nichts mit der vitalen Natur ihrer Erfahrung zu tun haben. Das Wesen der Kunst konstituiere sich vielmehr erst durch den sozialen Rahmen, der ein Objekt zum Kunstwerk macht. Nur innerhalb dieses Rahmens wird das Kunstwerk als solches präsentiert, und zugleich 17

Ein weiterer Grund dafür, sich einer einfachen Entscheidung zugunsten einer der beiden Alternativen zu widersetzen, hängt mit einem allgemeinen Prinzip des pragmatistischen Pluralismus zusammen, das ich als „inklusive disjunktive Einstellung“ bezeichne. Die vertraute logische Disjunktion „entweder p oder q“ wird hier pluralistisch aufgefasst, so dass sie entweder eine oder beide Alternativen einschließt (wie es in der üblichen propositionalen Logik und in alltäglichen Situationen der Fall ist, in denen man mehr als eine Sache wählen kann, z. B. entweder Wein oder Wasser oder beides). Damit hebt sie sich ab vom exklusiven Sinn eines „Entweder/Oder“, bei dem eine Alternative die andere strikt ausschließt (wie es ja tatsächlich manchmal im Leben und in der Logik der Fall ist). Mit der pragmatistischen inklusiven Einstellung sollten wir zunächst annehmen, dass alternative Theorien oder Werte irgendwie vermittelt werden können, bevor das Gegenteil begründet wird. Das scheint die Wege der Forschung am ehesten offen zu halten und unsere Chancen zu steigern. Ich verteidige dieses Prinzip in der Einleitung zur zweiten Auflage von Pragmatist Aesthetics.

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wird institutionell geregelt, wie es behandelt und erfahren werden sollte. Dem Verlangen nach erfahrungsmäßiger Intensität steht damit das Erfordernis eines sozialen Rahmens gegenüber, ohne den keine künstlerische Substanz, und damit keine Erfahrung möglich ist.

3. Ich möchte nun vorschlagen, dass ein Verständnis von Kunst als Dramatisierung eine Möglichkeit der Versöhnung des verbleibenden Konflikts zwischen ästhetischem Naturalismus und soziohistorischem Kontextualismus eröffnet. Die englische Sprache der Gegenwart, aber auch das Deutsche, kennt zwei Hauptbedeutungen des Verbs „dramatisieren“. Diese bilden nun interessanterweise die beiden genannten Momente der erfahrungsmäßigen Intensität und des sozialen Rahmens ab. In der eher technischen Bedeutung meint dramatisieren „etwas auf die Bühne bringen“, etwa indem man ein Ereignis oder eine Geschichte aufgreift und im Rahmen einer theatralen Aufführung präsentiert oder in die Form eines Stückes oder eines Szenarios bringt. Dieser Sinn von „dramatisieren“ beleuchtet die Tatsache, dass Kunst tatsächlich das Hineinstellen von etwas in einen Rahmen, in einen besonderen Kontext oder auf eine Bühne erfordert. So wird das Werk vom Alltagsleben abgesetzt und als Kunst markiert. Kunst besteht im Auf-dieBühne-Bringen oder im Einrahmen von Szenen. Das geläufige französische Synonym für diese Bedeutung ist natürlich „mise en scène“, ein aufschlussreicher Begriff, den Nietzsche selbst in Ecce Homo verwendet, um das künstlerische Genie der Pariser zu preisen: „Man hat nirgendswo sonst diese Leidenschaft in Fragen der Form, diesen Ernst in der mise en scène – es ist der Pariser Ernst par excellence.“18 Doch weist das Verb „dramatisieren“ neben der Idee des Auf-die-Bühne-Bringens und des Einrahmens nicht nur im Englischen noch eine weitere Hauptbedeutung auf, die eher mit dem Begriff der Intensität zu tun hat. „Dramatisieren“, so der Duden, bedeutet „etwas aufregender, schlimmer oder bedeutungsvoller darstellen, als es eigentlich ist“. In diesem Sinne unterscheidet sich Kunst von der gewöhnlichen Realität nicht durch ihren fiktiven Handlungsrahmen, sondern durch die größere Lebendigkeit der Handlung und der Erfahrung. Dadurch wird Kunst nicht der Idee des Lebens als solcher gegenübergestellt, sondern vielmehr dem Leblosen und Stumpfsinnigen. Von seiner griechischen Wurzel her verweist der primäre Sinngehalt des Wortes „Drama“ stärker auf eine wirkliche Tat oder Handlung als auf eine formalen Einrahmung oder eine auf die Bühne gebrachte Aufführung. Damit ist angedeutet, dass die Kraft des Dramas sich – zumindest teilweise – nicht von dem Bühnenrahmen ableitet, sondern von der mitreißenden Energie der intensiven Handlung selbst. Das Handeln ist nämlich nicht nur eine Notwendigkeit des Lebens, sondern auch die es antreibende Kraft. Wie aber können wir einer Handlung oder einer Tat Sinn verleihen, ohne sie mit Bezug auf den sie einrahmenden Kontext zu verstehen? Ich werde auf diese enge Verknüpfung von Tat und Ort zurückkommen, die schon der Titel dieses Kapitels anklingen lässt. Zunächst möchte ich jedoch nochmals un18

Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, Warum ich so klug bin, § 5, KSA, Bd. 6, S. 288 f.

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terstreichen, was ich eben ausgeführt habe: Der Begriff der Dramatisierung umfasst tatsächlich beide Momente – die Intensivierung durch Aktion und den strukturellen Rahmen –, die von der naturalistischen und der historistischen Theorie jeweils exklusiv für die Definition der Kunst in Anspruch genommen werden. Das Verständnis von Kunst als Dramatisierung mag deswegen als eine handliche Formel für Synthese und Versöhnung dienen, die diese lang währende und unfruchtbare Gegenüberstellung in der Ästhetik entbehrlich werden lässt. Um sicherzustellen, dass wir nicht zu viel Philosophie in die Bedeutung des einzelnen Wortes „Dramatisierung“ hineinlegen, wenden wir uns nun dem Synonym zu, dem vor allem in der deutschen Debatte oft der Vorzug gegeben wird: „Inszenierung“. Hier ist die Verwandtschaft zum französische „mise en scène“ noch deutlicher. Beide Begriffe leiten sich natürlich vom lateinischen „scaena“ (der Bühne oder Szene des Theaters) ab, welches wiederum auf das griechische σκηνή (skene) zurückgeht. Dessen primäre Bedeutung war ursprünglich nicht theatralisch, sondern hob eher auf die generische Kennzeichnung von Orten ab und bezeichnete einen überdachten Ort, ein Zelt, einen Wohnort, einen Tempel etc. Der Begriff der Inszenierung, mit seiner direkten Anrufung einer Szene als Bühne oder Ort, scheint das einrahmende Moment der Kunst stärker zu betonen als die Intensität von Handlungen und Erfahrungen. Doch sollten wir daraus nicht schließen, dass dieser Begriff jenes andere Moment ignoriert, das wir im Begriff des Dramas vorgefunden hatten. Erstens impliziert mise en scène, dass etwas Bedeutsames eingerahmt oder in Szene gesetzt worden ist. Die Szene der mise en scène stellt keinen rein neutralen Raum dar, sondern eine Stätte, an der sich Entscheidendes ereignet. Sogar in dem Wort „Szene“ schwingt diese Konnotation von Intensität mittlerweile mit. Umgangssprachlich bezeichnet die „Szene“ nicht nur irgendeinen wahllosen Ort, sondern den Ort, „wo etwas los ist“. Sie bezeichnet den Brennpunkt der aufregendsten Aktivitäten, die sich etwa im kulturellen oder nächtlichen Leben einer Stadt abspielen. Und „eine Szene machen“ meint nicht, etwas an einem spezifischen Ort zu tun, sondern die exzessive – tätige – Zurschaustellung von Emotionen. Kurz, so, wie die Handlungen oder Taten des Dramas den Rahmen des Orts implizieren, so impliziert der Ort der Szene etwas Lebendiges, Vitales, Aufregendes, das eingerahmt wird. In der mit dem Begriff der Szene angesprochenen Wechselseitigkeit von intensivierter Erfahrung und bedeutsamen Orten tritt nicht lediglich eine oberflächliche Übereinstimmung des Englischen und des Deutschen zutage. Der Begriff der Szene als Ort intensiver Erfahrungen führt bis zu den tiefsten antiken Wurzeln zurück. Von Euripides wirkungsvoll zur Bezeichnung eines Tempels eingesetzt, diente das Wort skene (zusammen mit seiner Ableitung skenoma) auch als Ausdruck für das heilige Tabernakel des Alten Testaments. Von diesem wurde gesagt, dass Gott darin gegenwärtig sei. Im hebräischen Original ist das Wort für Tabernakel ‫ן‬KSM, abgeleitet von dem für göttliche Gegenwart ‫ה‬n‫י‬cS. Beide haben den gleichen dreigliedrigen Wortstamm ‫שכן‬, der „wohnen“ bedeutet. Deswegen benennt die Szene der skene nicht einfach den Ort eines Schauspiels, sondern den Wohnort Gottes, den geheiligten Ort göttlicher Aktivität und Erfahrung, eine Stätte überwältigender Exaltation – wie die Bibel wiederholt verkündet: „die Herrlichkeit des Herrn erfüllte die Wohnstätte“ (Ex 40,34) und übte eine derartige göttliche Intensität aus, dass sogar der unerschütterliche Moses davon übermannt wur-

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de. Diese hebräische skena, die Mischkan, ist das Theater, das Gott Moses aus den Schenkungen kostbarer Metalle, Stoffe und Juwelen zu errichten befiehlt. Wir stellen also fest: Derselbe Sinngehalt göttlicher Wurzeln des Dramas oder der mise en scène, seine Rolle als geheiligter Ort intensiver Erfahrungen, ist auch in der antiken hebräischen Kultur lebhaft präsent. Er findet sich nicht nur im griechischen Kult des Dionysos, dem Nietzsche, der Sohn eines Geistlichen, später Tribut zollen sollte.

4. Das Drama, wie Aristoteles es vor langer Zeit beschrieb, stellt die Aufführung einer Handlung innerhalb eines wohlstrukturierten formalen Rahmens dar, die „eine bestimmte Größe hat“, „in sich geschlossen und ganz“ ist und „Anfang, Mitte und Ende hat“.19 Wenn das Drama, das Kunst ganz allgemein definiert, ein komplexes Spiel von gesteigerter Erfahrung und formalem Rahmen verkörpert, dann sollte gelungene Kunst keines der beiden Momente ignorieren. Eine reine Konzentration auf den Rahmen wird schließlich zu einem nackten und sterilen Formalismus führen, durch den sich die Kunst von den inspirierenden Interessen und Energien des Lebens entfremdet. Die durch eine rücksichtslose Lust auf Erlebnisintensität motivierte Versuchung, die Anstrengungen der Kunst zur Kultivierung ihres formalen Rahmens brüsk zurückzuweisen, droht jedoch in einer vergleichbaren Einöde zu enden: einem seichten Sensationalismus ohne jede beständige Form. Das aber würde uns am Ende der Fähigkeit berauben, partikulare Kunstwerke voneinander und von anderen Dingen zu unterscheiden. Sogar Genres wie Performance und Happening, die am wirkungsvollsten die Starrheit jenes Rahmens in Frage gestellt haben, der die Kunst isoliert, beziehen sich auf diesen Rahmen. Sie benötigen ihn nämlich, um ihren eigenen künstlerischen Status zu behaupten und sich selbst jene Bedeutung zu geben, die sie beabsichtigen. Wenn gelungene Kunst jedoch fundamental dramatisch sein muss – im genannten doppelten Sinn: als intensive Erfahrung, die von einem speziellen formalen Rahmen umfasst und geformt wird –, wie passen diese beiden Dimensionen des Dramas dann zusammen? Wie kompatibel können sie sein, da sie doch in unterschiedliche Richtungen zu weisen scheinen? Das ist insbesondere dann ein Problem, wenn wir die populäre Annahme akzeptieren, dass gelebte Leidenschaft keine formale Inszenierung verträgt und dass der distanzierende Rahmen der Kunst umgekehrt die Intensität von Affekten und Handlungen des wirklichen Lebens aushöhlt. Doch wird die Wirkungsmacht der Kunst durch die Infragestellung dieser beiden Dogmen möglicherweise verständlicher. Ich werde abschließend also dafür argumentieren, die scheinbare Spannung zwischen dem explosiv vitalen Lebensgefühl der Kunst und ihrem formalen Rahmen, die dem Konflikt zwischen ästhetischem Naturalismus und künstlerischem Historismus zugrunde liegt, als nicht weniger produktiv und wechselseitig verstärkend anzusehen als die vertraute Spannung zwischen Form und Inhalt, zu der sie offenkundig in Beziehung steht. 19

Aristoteles, Poetik, 7, 1450 b (Übersetzung von Manfred Fuhrmann).

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Ein Rahmen stellt für das von ihm Eingeschlossene nicht einfach eine isolierende Barriere dar. Durch die Rahmung wird das Objekt, die Handlung oder die Empfindung deutlicher fokussiert – und damit geschärft, betont und belebt. Die Intensität der Empfindungen und die Sensibilisierung für die gerahmten Handlungen rechtfertigen den Akt des Einrahmens. Umgekehrt wäre ein Rahmen ohne bedeutsamen Gehalt unbefriedigend, so dass wir angesichts eines leeren Rahmens oder einer weißen Leinwand in einer Galerie automatisch einen bedeutsamen Inhalt auf die scheinbare Leere projizieren – selbst wenn es sich um den interpretativen Inhalt handelt, dass Kunst keines anderen Inhaltes bedürfe als sich selbst und des wesentlichen Aktes des Einrahmens. Auch aus den anderen Künsten ließen sich hier Beispiele anführen, etwa John Cages berühmtes Stück 4’33’’ und das Duet der zwei bewegungslosen Tänzer des Choreographen Paul Taylor. Eine Handlung ohne einen rahmenden Ort ist sinnlos, und umgekehrt enthält unsere Vorstellung eines Rahmens, eines Ortes oder einer Bühne die Implikation, dass irgendeine bedeutsame Aktivität stattfindet. Große Schriftsteller wie Henry James werden dafür gerühmt, ihre fiktiven Szenen auf packende Weise wirklichkeitsnah und lebendig zu schildern. Das gelingt ihnen nicht etwa durch lange und umständliche Beschreibungen der Umgebung, sondern vermittelt über die unwiderstehliche Intensität der Handlung, die sich innerhalb dieses Settings vollzieht und die von leidenschaftlichen Gedanken und Empfindungen durchdrungen und begleitet wird. Diese Lektion über ästhetischen Realismus findet eine Bestätigung in der psychologischen Theorie von Henrys berühmtem Bruder, dem Philosophen William James. Dieser behauptete, dass unsere unmittelbare Wirklichkeitsvorstellung „einfach die Verbindung zu unserem affektiven und aktiven Leben bedeutet. […] In diesem Sinn ist all jenes real, das unser Interesse erweckt und stimuliert.“20 Obwohl der dramatisierende Rahmen von Kunst Empfindungen intensivieren und unser Realitätsgefühl dadurch steigern kann, dürfen wir nicht die andere Funktion des Rahmens vergessen. Diese ist unserem Nachdenken über Kunst weitaus vertrauter: Ein Rahmen konzentriert nicht nur, er grenzt auch ab. Er stellt also nicht nur einen Fokus dar, sondern auch eine Grenze, die das, was eingerahmt ist, vom restlichen Leben abtrennt. Dieser wichtige Effekt, der das Eingerahmte tendenziell „entwirklicht“, steht nicht nur hinter der ästhetischen Tradition, Kunst scharf von der Wirklichkeit abzugrenzen. Er stellt auch den Angelpunkt einflussreicher Theorien der ästhetischen Distanz dar. Der Aspekt der Rahmung inspiriert den ästhetischen Historismus, der, wie wir gesehen haben, die Kunst und das Ästhetische durch die soziale Abgrenzung von anderen Bereichen definiert. Hier wird Kunst gänzlich in Begriffen eines spezifischen, historisch konstruierten institutionellen Rahmens bestimmt, der ein Objekt zu einem Kunstwerk oder seine Wertschätzung zu einer explizit ästhetischen Erfahrung macht. In diesem Knoten produktiver ästhetischer Spannung, der gesteigerte Erfahrung mit formaler Inszenierung verknüpft, sollte noch ein weiterer Strang benannt werden: Gerade die Abgrenzung der Kunst vom alltäglichen Leben ermöglicht die Empfindung gelebter Intensität und erhöhter Realität in der Kunst. Weil ästhetische Erfahrung in einem Rahmen stattfindet, der vermeintlich unabhängig ist von den belastenden Einsätzen des 20

William James, Principles of Psychology, Cambridge/MA 1983, S. 924.

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FORMEN ÄSTHETISCHER ERFAHRUNG

so genannten wirklichen Lebens, fühlen wir uns viel freier und sicherer, uns den intensivsten und vitalsten Empfindungen hinzugeben. Wie bereits Aristoteles in seiner Theorie der Katharsis andeutet, erlaubt es uns der Rahmen der Kunst sogar, die verstörendsten Leidenschaften des Lebens intensiver zu empfinden. Dies tun wir nämlich innerhalb eines schützenden Rahmens, in dem die störenden Kehrseiten unserer Affekte aufbewahrt und geläutert werden können, so dass weder das Individuum noch die Gesellschaft ernsthaft Schaden erleiden. Der bändigende Rahmen der Kunst intensiviert paradoxerweise also gerade unsere leidenschaftliche Verwicklung, indem andere Hemmungen von der gelebten Intensität abgehalten werden. Von den Fiktionen der Kunst wird deswegen oft gesagt, sie fühlten sich auf sehr viel lebhaftere Weise wirklich an als Vieles von dem, was wir üblicherweise für das wirkliche Leben halten. Es ist, als weise uns die Trennung der Kunst von der gewöhnlichen Realität einen indirekten Weg, das Wirkliche weitaus ausschöpfender und tiefer wertzuschätzen, indem sie uns mit einer Wirklichkeit in Kontakt bringt, die zumindest in ihren erfahrungsmäßigen Tiefen gelebter Empfindung überlegen ist. Diese Argumentation scheint in Nietzsches berühmter Lobpreisung der Tragödie vorweggenommen zu sein: Diese durchdringe den alltäglichen Schleier solider, voneinander getrennter Gegenstände – eine apollinische Traumwelt klarer Formen und unterschiedener Personen, die vom principium individuationis beherrscht wird –, um unsere Erfahrung für die tiefere dionysische Wirklichkeit wahnsinnigen Einsseins und Fließens freizusetzen. An dieser Stelle mag eingewendet werden, dass solche Argumente den Begriff der Wirklichkeit selbst korrumpieren. Dieser müsse für die Welt des alltäglichen Lebens reserviert werden und habe nichts mit dem Begriff der Kunst, mit Rahmung oder Inszenierung zu tun, die nur als Signum des Unwirklichen zu verstehen seien. Darauf könnte man etwa mit dem Hinweis auf die konstruierten Fiktionen und inszenierten Experimente antworten, die in die Formung der anerkannten Wirklichkeit der Naturwissenschaft eingehen. Aber auch die Realitäten des Alltagslebens spielen sich stets auf Bühnen und in diversen institutionellen Rahmen ab. In der Tat kann es so scheinen, als sei „die ganze Welt […] eine Bühne“, wie Shakespeare bemerkt – eine Bühne, auf der das Leben selbst nichts weiter ist als ein „armer Komödiant, der seine Zeit abstolzt und abschnauft auf der Bühne und nie mehr gehört wird dann“.21 Damit kommt mit Bezug auf den alten Streit zwischen Philosophie und Literatur die Frage auf, ob die Kunst deshalb so oft als bloß inszenierte Imitation des Lebens diffamiert wird, weil sich das wirkliche Leben selbst nach dem Vorbild dramatischer Performanz richtet. Ich werde mich an dieser Stelle nicht weiter vorwagen und die Frage nach dem wirklichen Wesen der Wirklichkeit beiseite lassen. Vielleicht handelt es sich dabei sogar um eine aussichtslose Frage, weil sie auf einem Substantiv beruht, das sich vom Adjektiv „wirklich“ ableitet. Dieses ist – wie John L. Austin für das englische „real“ gezeigt hat – auf so eigenwillige Weise variabel und in komplexer Weise vom Kontext abhängig, dass jeder Versuch, einen signifikanten Kern als Wesen der Wirklichkeit ausfindig zu 21

William Shakespeare: Wie es euch gefällt, II, 7, 139 (Übersetzung von Herbert Geisen und Dieter Wessels); Macbeth, V, 5, 23 (Übersetzung von Frank Günther).

TATORT: KUNST ALS DRAMATISIERUNG

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machen, „zum Scheitern verurteilt ist“.22 Ich möchte deshalb mit einer Erinnerung an folgendes Paradox schließen: Die scheinbare Ablenkung vom wirklichen Leben durch Kunst kann eine indirekte Hinführung zum Leben selbst darstellen, da sie uns dazu bringt, das Leben intensiver zu erfahren – durch die ansteckende Wirkung ästhetischer Erfahrung und die Befreiung von affektiven Hemmungen. Die lange unhinterfragte Dichotomie von Kunst und Leben sollte also nicht zu streng verstanden werden. Wir haben es hier bestenfalls mit einer funktionalen Unterscheidung zu tun, und auch die scheint sich mit der Idee der Lebenskunst aufzulösen. Die Logik dieser Paradoxie birgt meines Erachtens jedoch noch radikalere Implikationen für die Verteidigung eines Begriffs, der viel stärker als die Kunst für seine frivole Ablenkung vom Leben diffamiert worden ist – ich meine den Begriff der Unterhaltung, den frühere Philosophen regelmäßig dazu verwendet haben, um die Dramatisierungen der Oper zu verunglimpfen. Heute dient er jedoch hauptsächlich dazu, die populären Kunstformen der Gegenwart zu verurteilen, inklusive solcher Fernsehserien wie „Tatort“. Wie wir gesehen haben, erfasst allerdings schon der Titel dieser Serie nicht nur die tiefsten Dimensionen der Kunst, sondern auch die elementaren praktischen und raumzeitlichen Dimensionen des menschlichen Lebens.23 Die scheinbare Ablenkung vom wirklichen Leben durch Unterhaltung stellt tatsächlich einen wertvollen und notwendigen Umweg dar, der unser Leben intensivieren, unsere Batterien wieder aufladen und uns einen umfassenderen Blick auf die Welt eröffnen kann.24 Aus dem Amerikanischen von Heidi Salaverría und Robin Celikates

22 23

24

John Austin, Sinn und Sinneserfahrung, Stuttgart 1975, S. 94. Dieses Kapitel geht auf den Eröffnungsvortrag zurück, den ich bei der Konferenz „Ästhetik der Inszenierung“ im März 2000 an der Frankfurter Oper gehalten habe. Ich danke der Frankfurter Oper für die Einladung sowie Josef Früchtl, Heidi Salaverría, Rita Felski und Julie van Camp für hilfreiche Kommentare. Vgl. das zweite Kapitel des vorliegenden Buches sowie meinen Artikel: Come Back to Pleasure, in: Let’s Entertain. Life’s Guilty Pleasures, Minneapolis 2000, S. 33–47.

Teil II Somästhetik und Lebensstil

Kapitel VI

Somästhetik: Vorschlag einer Disziplin

1. „Die Schönheit [ist] ein großer Vorzug“, schrieb Michel de Montaigne, „und keiner ist so stumpf und dumpf, daß er sich von ihrem Liebreiz nicht irgendwie angesprochen fühlte. […] Der Körper hat einen erheblichen Anteil an unserem Sein und bekleidet darin einen hohen Rang; daher ist es recht und billig, seinem Bau und seiner Gliederung Beachtung zu schenken.“1 Das Augenmerk liegt bei Montaignes somatischem Interesse offensichtlich nicht auf der Physiologie des Körpers, sondern auf seiner ästhetischen Rolle, dem ihm innewohnenden Schönheitspotential. Dieses ästhetische Potential ist mindestens ein doppeltes: Der (fremde und der eigene) Körper kann als Objekt, das von unseren (äußeren) Sinnen wahrgenommen wird, Quelle schöner Sinneswahrnehmungen oder (in Kants berühmter Formulierung) schöner „Vorstellungen“ sein. Daneben gibt es jedoch auch die schöne Erfahrung des eigenen Körpers von innen – das Glühen des durch Endorphine angeheizten Herz-KreislaufSystems, das genussvoll-langsame Bewusstwerden einer verbesserten, tieferen Atmung, die kribblige Erregung, die durch die differenziertere Wahrnehmung weiterer Wirbel des Rückgrats entsteht. Wenn dieser Appell an die propriozeptive Schönheit persönlicher leiblicher Erfahrungen merkwürdig idiosynkratisch erscheint oder an „New Age“ erinnert, sollte man sich an die Bemerkungen von Jean-Marie Guyau erinnern, dem einst berühmten Autor von Les problèmes de l’esthétique contemporaine: „Tief einzuatmen, zu spüren wie das eigene Blut durch seinen Kontakt mit der Luft purifiziert wird und wie das gesamte Kreislaufsystem neue Aktivität und Kraft gewinnt, das ist wirklich ein fast vergiftender Genuss, dessen ästhetischen Wert man kaum bestreiten kann.“2 Statt diesen Wert zu bestreiten, will ich im vorliegenden Kapitel Montaignes und Guyaus Plädoyer zugunsten einer verstärkten ästhetische Aufmerksamkeit für den Körper unterstützen und zugleich systematischer gestalten. Im Zuge meiner Beschäftigung mit der konstitutiven und komplexen Rolle des Körpers in der ästhetischen Erfahrung habe ich bereits die Idee einer körperzentrierten Disziplin vorgeschlagen, die ich

1 2

Michel de Montaigne, Essais, Frankfurt/M. 1998, II.17 (Über den Dünkel), S. 318. Jean-Marie Guyau, Les problèmes de l’esthétique contemporaine (1884), Paris 192511, S. 20 f. (in der englischen Übersetzung von 1947 findet sich das Zitat auf S. 23).

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SOMÄSTHETIK UND LEBENSSTIL

„Somästhetik“ nenne.3 Da ich mich dabei noch schüchtern vortastete, blieb mein Vorschlag sehr vage. Zwar legte ich die Somästhetik als eine Möglichkeit nahe, die es wert ist, erforscht zu werden, wagte es indes nicht, mir eine Definition samt systematischer Darstellung ihrer Themen, Begriffe, Ziele und Praktiken anzumaßen. Nach fast drei Jahrtausenden Philosophie eine neue philosophische Disziplin vorzuschlagen, mag wie ein leichtsinniger und arroganter Akt erscheinen. Obendrein eine Disziplin anzuempfehlen, die sich auf den Körper konzentriert, könnte der Hybris nur noch Absurdität hinzufügen. Auch auf dieses Risiko hin möchte ich im Folgenden die grundlegenden Ziele und Elemente der Somästhetik umreißen und erklären, wie sie einige der wesentlichsten Anliegen der Philosophie voranbringen könnte. Ich möchte dabei ihre potentielle Nützlichkeit aufzeigen, nicht ihre radikale Neuartigkeit. Wenn die Somästhetik radikal ist, dann nur in dem Sinne, dass sie zu einigen der tiefsten Wurzeln der Ästhetik und der Philosophie zurückkehrt. Um zu zeigen, wie fest die Somästhetik in der ästhetischen Tradition verankert ist, beginne ich mit einer Diskussion desjenigen philosophischen Textes, auf dem die moderne Ästhetik aufbaut, Alexander Baumgartens Aesthetica (1750/1758). Baumgartens ursprüngliches ästhetisches Projekt wird sich als von weitaus größerer Tragweite und praktischem Nutzen erweisen, als heute gewöhnlich angenommen wird. Es impliziert sogar ein umfassendes Programm der Selbstperfektion im Rahmen einer philosophischen Lebenspraxis. Im Anschluss daran skizziere ich die Disziplin der Somästhetik und zeige, inwiefern sie mit Baumgartens Projekt den erweiterten Umfang, die vielfältigen Dimensionen und die praktische Ausrichtung der Ästhetik teilt. Überdies verfolgt die Somästhetik genau jene Ziele, denen seitens der Philosophie traditionellerweise die größte Bedeutung zugesprochen wird: Wissen, Tugend und das gute Leben. In Weiterführung von Baumgartens umfassend verstandener Vision der Ästhetik und ihrer praktischen und perfektionistischen Ideale umfasst die Somästhetik darüber hinaus jedoch ein weiteres wesentliches Charakteristikum, das Baumgarten in seinem ästhetischen Programm leider auslässt – die Kultivierung des Körpers. Allzu häufig muss man für die moderne Philosophie die gleiche unheilvolle Vernachlässigung konstatieren. Ich schließe deshalb mit der Diskussion zweier moderner Philosophen, John Dewey und Michel Foucault, die meine Idee der Somästhetik auf unterschiedliche Weise exemplifizieren, obwohl sie dieses Feld als solches nicht ausdrücklich thematisieren. Das Kapitel endet mit einer wichtigen theoretischen Frage, der sich auch die Somästhetik stellen muss: Sie bezieht sich auf die Möglichkeit, individuelle körperbezogene Präferenzen und Praktiken mit Bezug auf allgemeinere somatische Werte und Normen zu beurteilen.

3

Vgl. Richard Shusterman, Kunst Leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, Frankfurt/M. 1992, S. 52 f., 241–246; Philosophie als Lebenspraxis. Wege in den Pragmatismus, Berlin 2001, Kap. 4, 5, 6. Der Begriff wurde eingeführt in: Vor der Interpretation, Wien 1996, S. 132 (überarbeitete deutsche Übersetzung von: Sous l’interprétation, Paris 1994).

SOMÄSTHETIK: VORSCHLAG EINER DISZIPLIN

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2. Als Alexander Baumgarten den Begriff „Ästhetik“ prägte, um eine formale philosophische Disziplin zu begründen, ging seine Vorstellung dieser Disziplin weit über das hinaus, was heute unter philosophischer Ästhetik verstanden wird, nämlich die Theorie des Kunst- und des Naturschönen.4 Indem Baumgarten ihren Namen von dem griechischen Wort aisthesis (Sinneswahrnehmung) ableitete, zielte er auf eine neue philosophische Wissenschaft als allgemeine Theorie der sinnlichen Wahrnehmung. Solch eine Ästhetik sollte die Logik ergänzen und mit dieser zusammen eine verständliche Theorie des Wissens darstellen, die Baumgarten Gnoseologie nannte. Auch wenn er seinem Lehrer, dem Leibnizianer Christian Wolff, darin folgte, sinnliche Wahrnehmung als „niederes Vermögen“ zu bezeichnen, war es nicht Baumgartens Ziel, sie als minderwertig zurückzuweisen. Stattdessen argumentiert die Aesthetica für den kognitiven Wert der sinnlichen Wahrnehmung, und feiert deren reichhaltiges Potential – nicht nur für die Verbesserung des Denkens, sondern auch für die der Lebensweise. In den Prolegomena des Buches behauptet Baumgarten, dass ästhetische Übungen zu einer Vermehrung des Wissens in vielerlei Hinsicht führen können: indem sie verbesserte Sinneswahrnehmungen als „geeignete Materialien“ für die Wissenschaften bereitstellen; „das wissenschaftlich Erkannte dem Fassungsvermögen jedes beliebigen Menschen“ anpassen; die „Verbesserung der Erkenntnis auch über die Grenzen des deutlich Erkennbaren [d. h. Logischen] hinaus“ vorantreiben; und „gute Grundlagen leg[en] für alle kontemplativen geistigen Betätigungen und für die freien Künste“. Schließlich verleiht die Verbesserung der sinnlichen Wahrnehmung durch ästhetische Studien ceteris paribus „allen anderen Menschen gegenüber eine bestimmte Überlegenheit“, nicht allein im Denken, sondern auch in der „Praxis des täglichen Lebens“ (A § 3). Ein Hinweis auf diese weit reichende Nützlichkeit, die Baumgarten für die Ästhetik in Anschlag bringt, findet sich schon in seiner einleitenden Definition der Disziplin: „Die Ästhetik (als Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens) ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.“ (A § 1) Diese alle sinnlichen Wahrnehmungen umfassende Bestimmung erlaubt es Baumgarten, die Ästhetik von bereits etablierten Disziplinen wie der Poetik und der Rhetorik zu unterscheiden. Wie auch diese Disziplinen (und ihre strengere Schwester, die Logik), stellt die Ästhetik nicht nur ein theoretisches Unternehmen, sondern auch eine normative Praxis dar – eine Disziplin, die praktische Übungen umfasst und die darauf zielt, einen nützlichen Zweck zu erfüllen. „Das Ziel der Ästhetik“, schreibt Baumgarten, „ist die Vollkommenheit (Vervollkommnung) der 4

Baumgarten benutzt den Begriff zuerst in Abschnitt 116 seiner Doktorarbeit von 1735 (Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertintibus). Nachdem er 1742 und 1749 Vorlesungen über Ästhetik an der Universität Frankfurt/Oder gehalten hatte, veröffentlichte er eine lange, lateinisch verfasste Abhandlung mit dem Titel Aesthetica im Jahre 1750, die 1758 mit einem kürzeren zweiten Teil vervollständigt wurde. Die Zitate sind der gekürzten lateinisch-deutschen Ausgabe entnommen (Alexander Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „Aesthetica“ (1750/58), Hamburg 1988; im Folgenden zitiert als „A“).

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SOMÄSTHETIK UND LEBENSSTIL

sinnlichen Erkenntnis als solcher. Damit aber ist die Schönheit gemeint“, wobei die ihr gegenübergestellte „Unvollkommenheit“ (die „Hässlichkeit“ [deformitas]) vermieden werden sollte (A § 14). Die Ästhetik als systematische Disziplin der Perfektionierung der sinnlichen Erkenntnis (aesthetica artificialis) ist davon zu unterscheiden, was Baumgarten „die natürliche Ästhetik“ (aesthetica naturalis) nennt, und baut zugleich auf dieser auf. Letztere definiert er über die angeborene Funktionsweise unserer Wahrnehmungsvermögen und ihre natürliche Entwicklung durch einen nicht-systematisierten Prozess des Lernens und Übens. Das ästhetische Ziel einer ständigen Perfektionierung unserer sinnlichen Wahrnehmungen erfordert die entscheidende Mitwirkung der natürlichen Fähigkeiten unserer unteren (also auf die Sinne bezogenen) Erkenntnisvermögen. Baumgarten betont insbesondere die „Veranlagung, scharf zu empfinden“, die „Einbildungskraft“, die „Veranlagung zur durchdringenden Einsicht“, „ein gutes Gedächtnis“, eine „dichterische Anlage“, den „guten Geschmack“, eine „seherische Veranlagung“ und die „Fähigkeit, die Vorstellungen auszudrücken“. Aber all diese müssen, so argumentiert er, von den „oberen Erkenntnisvermögen“, dem „Verstand“ und der „Vernunft“ geleitet werden (facultates cognoscitivae superiores […] intellectus et ratio) (A §§ 30–38). Das perfektionistische Projekt der Ästhetik muss jedoch auch über diese oberen und unteren auf natürliche Weise entwickelten Vermögen hinausgehen und bedarf der Ergänzung durch ein zweiteiliges systematisches Lehr-Programms: Der erste Teil (askesis oder exercitatio aesthetica) besteht aus praktischen Übungen, während derer man durch wiederholtes Ausführen bestimmter Handlungen eine harmonische geistige Einstellung zu einem Thema oder einen Gedanken herausbildet (A § 47). Das ästhetische Exerzieren wird dem mechanischen Exerzieren von Soldaten gegenübergestellt, da es Baumgarten zufolge auch Improvisation und Spiel sowie Übungen in der ausgebildeten Kunstlehre umfasst (A §§ 52, 55, 58). Der zweite Teil der ästhetischen Instruktion ist auffallend theoretisch. Zu dieser ästhetischen Lehre (die Baumgarten mathesis und disciplina aesthetica nennt) gehört die schöne Bildung (pulchra eruditio), deren „wichtigere Teile […] die Wissenschaften [sind], die sich mit Gott, mit dem Universum, dem Menschen, vor allem soweit es um seine moralische Stellung geht, mit der Geschichte ohne Ausschluß der Sage, mit den Altertümern und dem Wesen der sprachlichen und künstlerischen Ausdrucksmittel beschäftigen“ (A §§ 62–64). Die theoretische Disziplin der Ästhetik muss jedoch auch eine allgemeine „Theorie vom Wesen der schönen Erkenntnis“ (theoria de forma pulchrae cognitionis) umfassen, um die bereits etablierten Regeln und Theorien der spezifischen ästhetischen Disziplinen der Redekunst, Poetik, Musik etc. zu ergänzen (§§ 68 f.). Die zentralen Ziele, Begriffe und Strukturelemente von Baumgartens Projekt der Begründung der Ästhetik verdienen eine weitaus größere Aufmerksamkeit als in dieser kurzen Darstellung.5 Meine grobe Skizze sollte dennoch ausreichen, um das pragmatistische Potential aufzuweisen und ein Thema hervorzuheben, das bei Baumgarten

5

Wenn es schon schockierend genug ist, wie wenig bekannt Baumgartens Werk in der heutigen Ästhetik zu sein scheint, so besteht der wahre Skandal darin, dass die Aesthetica bis heute nicht ins Englische übersetzt worden ist.

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erstaunlicherweise nicht auftaucht, obwohl es schon aus logischen Gründen unverzichtbar ist: die Kultivierung des Körpers. Die Ästhetik wird als Wissenschaft von der sinnlichen Wahrnehmung mit dem Ziel der Perfektionierung definiert. Nun gehören die Sinne offensichtlich zum Körper und werden von dessen jeweiliger Verfassung stark beeinflusst. Unsere sinnliche Wahrnehmung hängt folglich davon ab, wie unser Körper fühlt und funktioniert, was er begehrt, tut und erleidet. Dennoch lehnt es Baumgarten ab, das Studium und die Perfektion des Körpers in sein ästhetisches Programm mit einzubeziehen. Unter den zahlreichen Wissensfeldern, die seine Ästhetik umfasst – von der Theologie bis zu den antiken Sagen –, finden sich weder Physiologie noch Physiognomie oder ähnliches. Auch im breiten Spektrum der ästhetischen Übungen, die Baumgarten nennt, sucht man vergeblich nach explizit körperlichen Übungen. Im Gegenteil, es scheint ihm viel daran zu liegen, von einem rigorosen Körpertraining abzuhalten, und er denunziert ausdrücklich, was er den „zügellosen Wetteifer“ nennt, den er mit anderen vermeintlich somatischen Übeln wie „Leidenschaft“, „Ausschweifung“ und „Orgien“ auf eine Stufe stellt (A § 50). Diese Vernachlässigung des körperlichen Trainings und seiner Theoretisierung im Rahmen der Ästhetik erscheint umso erstaunlicher, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Baumgarten den Körper im Wesentlichen mit den niederen Sinnesvermögen identifiziert, insbesondere mit jenen Vermögen, deren Wahrnehmungen gerade den Gegenstandsbereich seiner Ästhetik bilden. „Die unteren Erkenntnisvermögen, die Sinnlichkeit“ (facultates inferiores, caro), so schreibt Baumgarten, sollen nicht „geweckt“ werden, auf dass sie in einen verderblichen Zustand geraten, sondern stattdessen durch ästhetisches Training kontrolliert, verbessert und angemessen geleitet werden (A § 12). Baumgartens Bezeichnung des Körpers als „Fleisch“ – ein Terminus, der immer noch nach Sünde klingt – offenbart seinen theologisch inspirierten Widerwillen gegen das Somatische; und die Konnotationen des lateinischen caro (im Gegensatz zum gebräuchlicheren carnis) sind besonders negativ.6 Solche Hinweise legen ein religiöses Motiv für Baumgartens Ausschluss des Körpers aus seinem ästhetischen Projekt einer Wissenschaft der Sinne nahe.7 Auch andere, eher 6

7

Dies wird häufig als Negativkontrast zur Seele gebraucht, wie etwa in Senecas berühmter Bemerkung (Briefe an Lucilius, 65. Brief, § 22, Hamburg 1993, S. 236): „In hoc obnoxio domicilio animus liber habitat. Numquam me caro ista compellet ad metum, numquam ad indignam bono simulationem.“ („In dieser vom Schicksal abhängigen Behausung wohnt mein Geist in voller Freiheit. Nie soll mir diese Fleischhülle ein Anlaß werden zur Furcht, niemals zu einer eines ehrenhaften Mannes unwürdigen Heuchelei.“) Caro wird im gewöhnlichen Latein auch benutzt, um jemanden mit Verachtung zu strafen – caro putida (verdorbenes Fleisch) (vgl. Harpers Latin Dictionary, New York 1907, S. 294). Baumgarten hat einen pietistischen Familienhintergrund und war sich natürlich der großen Risiken bewusst, mit denen die frühen Philosophen der Aufklärung noch konfrontiert waren, wenn ihre Philosophien mit der kirchlichen Doktrin in Konflikt gerieten. Sein philosophischer Lehrer, Christian Wolff, wurde aus Halle verstoßen (wo Baumgarten studiert hatte und später lehrte), weil seine Lehre die dortigen religiösen Führer erboste. Texte Spinozas und seiner Nachfolger wurden aufgrund ihrer heterodoxen Ansichten zu Gott und zur Einheit von Körper und Seele zu dieser Zeit verboten und verbrannt. Kurz, der dominierende religiös-ideologische Kontext, in den Baumgarten seine Ästhetik einführen musste, hätte körperzentrierte Philosophien wohl kaum toleriert.

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SOMÄSTHETIK UND LEBENSSTIL

philosophische Gründe kommen jedoch in Betracht: In der rationalistischen Tradition, deren Erbe – von Descartes über Leibniz bis Wolff – Baumgarten angetreten hat, wurde der Körper als bloße Maschine angesehen. Daher konnte er niemals wirklich als Ort von Empfindungen oder sinnlichen Wahrnehmungen und schon gar nicht von Wissen verstanden werden. Auf der anderen Seite waren diese Philosophien, die den Körper aufs schärfste vom wahrnehmenden Bewusstsein abtrennten, selber maßgeblich von religiösen Doktrinen inspiriert, die den Körper im Namen der Erlösung der immateriellen Seele diffamierten. Welche Gründe auch immer Baumgarten zur Vernachlässigung des Körpers in der Ästhetik veranlasst haben mögen, sie rechtfertigen nicht die Fortführung dieses Versäumnisses. In einer genealogischen Untersuchung müsste man einmal die hartnäckige Tradition der Vernachlässigung der Somästhetik nachzeichnen und erklären, warum sich die Ästhetik nach Baumgarten vom weiten Feld sinnlicher Wahrnehmung auf den engen Pfad der Schönheit und der Kunst zurückgezogen hat. Wir könnten außerdem nach den Ursachen des Verschwindens der anfänglich pragmatischen und meliorativen Motive der Ästhetik (man denke an Baumgartens Definition dieser Disziplin zur Perfektionierung von Wahrnehmung und Praxis) fragen. Mit anderen Worten: Wie kam es dazu, dass die Ästhetik, wie auch die Philosophie im Allgemeinen, von einer angesehenen Lebenspraxis zu einer relativ unbedeutenden spezialisierten Universitätsdisziplin zusammengeschrumpft ist?8 So faszinierend solche Untersuchungen auch sein mögen, in diesem Kapitel sind meine vorrangigen Ziele eher rekonstruktiv als historisch: 1) die Wiederbelebung von Baumgartens Idee der Ästhetik als einer das Leben verbessernden Disziplin der Wahrnehmung, die weit über Fragen der Schönheit und der Kunst hinausreicht und die sowohl Theorien als auch praktische Übungen umfasst; 2) die Beendigung der Vernachlässigung des Körpers, die Baumgarten auf folgenreiche Weise in die Ästhetik einführte (und die durch die große idealistische Tradition der Ästhetik des neunzehnten Jahrhunderts noch verstärkt worden ist); 3) der Vorschlag einer erweiterten, somatisch ausgerichteten Ästhetik, die bedeutsame Beiträge zu zahlreichen philosophischen Auseinandersetzungen liefern kann und deshalb eine bessere Einlösung des alten Versprechens der Philosophie ermöglicht, eine Lebenspraxis zu sein.

3. Die Somästhetik kann vorläufig als kritische und meliorative Untersuchung der Erfahrungen und des Gebrauchs des Körpers als Ort sinnlich-ästhetischer Wertschätzung (aisthesis) und kreativer Selbsterschaffung definiert werden. Sie beschäftigt sich deswegen auch mit den Erkenntnissen, Diskursen, Praktiken und Körperdisziplinen, die diese somatische Sorge strukturieren oder verbessern können. Wenn wir traditionelle philosophische Vorurteile dem Körper gegenüber beiseite lassen und uns stattdessen einfach an die zentralen Ziele der Philosophie – Wissen, Selbsterkenntnis, richtiges 8

Vgl. Richard Shusterman, Philosophie als Lebenspraxis. Wege in den Pragmatismus, Berlin 2001.

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Handeln, gutes Leben und Gerechtigkeit – erinnern, dann sollte der philosophische Wert der Somästhetik in vielerlei Hinsicht deutlich werden. 1. Da Erkenntnis zum größten Teil auf sinnlicher Wahrnehmung basiert, deren Verlässlichkeit sich oftmals als fragwürdig erweist, hat die Philosophie sich immer mit der Kritik der Sinne beschäftigt, deren Grenzen sie aufzuzeigen und deren Täuschungen sie zu vermeiden trachtet, indem die Sinne dem diskursiven Verstand untergeordnet werden. Die Arbeit der Philosophie hat sich (zumindest in der westlichen Moderne) auf diese Art von sekundärer kritischer Analyse sinnlicher Propositionen beschränkt, die die traditionelle Epistemologie konstituiert. Die durch die Somästhetik vorgeschlagene Ergänzung besteht dagegen darin, die aktuellen funktionalen Vorgänge der sinnlichen Wahrnehmung durch eine verbesserte Anleitung unserer Körper zu korrigieren, da die Sinne dem Soma angehören und von diesem geformt werden. Diese somästhetische Strategie weist antike philosophische Wurzeln auf. Sokrates selber unterstrich die grundlegende Rolle der somatischen Sorge: „Er machte auch Körperübungen“ und war durch regelmäßiges Tanztraining und ein einfaches Leben „in guter Form“. „Der Körper“, so erklärt Sokrates, „ist zu jeder menschlichen Tätigkeit […] erforderlich. Überall aber, wo man sich des Körpers bedient, kommt es wesentlich auf seine Gesundheit an. Selbst da, wo es allem Anschein nach am wenigsten um körperliche Tätigkeit geht, beim Denken, vermag keiner zu sagen, ob nicht viele gerade deshalb ohne Erfolg bleiben, weil sie körperlich nicht gesund sind.“9 Sokrates war damit alles andere als heterodox. Eine Reihe antiker griechischer Philosophen trat im Streben nach Weisheit und Tugend ebenfalls für körperliche Übungen ein. Aristipp betonte, das „körperliche Training fördere den Tugendgewinn“, da ausgebildete Körper über eine geschärfte Wahrnehmung, eine größere Disziplin und Gewandtheit verfügen, sich in Denken, Haltung und Handlung anzupassen. Zenon, Begründer des Stoizismus, drang gleichermaßen auf regelmäßige körperliche Übungen und behauptete, „sich um die Gesundheit, die Sinnesorgane [zu] kümmern“, sei eine unbedingte Pflicht. Der Begründer des Kynismus war sogar ein noch ausdrücklicherer Verfechter von Körperübungen, da er sie für die sinnliche Erkenntnis und die Disziplin, nach denen Weisheit und ein gutes Leben verlangen, als grundlegend ansah. Diogenes praktizierte die somatische Disziplin, die er selber predigte, und experimentierte dabei mit einer Vielzahl von Körperpraktiken, um sich selbst zu testen und abzuhärten: Er aß rohe Nahrungsmittel, lief barfuss im Schnee, masturbierte in der Öffentlichkeit und ließ tätliche Angriffe von Trunkenbolden über sich ergehen.10

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Vgl. Diogenes Laertius, Leben und Lehre der Philosophen, Stuttgart 1998, II.22, S. 101; Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, Berlin 1955, III.12, S. 142. Von Diogenes dem Kyniker wird gesagt: „Er gab auch Beispiele an, daß man durch Übung leicht zur Tugend gelangt, […] denn gute Kondition und Kraft sind unerläßlich für Geist und Körper.“ Sogar der vor-sokratische Kleobulos, ein Weiser, der sich durch „Körperkraft, Schönheit und Kenntnis ägyptischer Weisheit“ auszeichnete, riet den Menschen in ihrem Streben nach Weisheit auch: „Den Körper tüchtig trainieren!“ Die Zitate dieses Absatzes stammen aus Diogenes Laertius, Leben und Lehre der Philosophen (zu Aristipp: S. 127, zu Kleobulos: S. 75, 77, zu Diogenes: S. 265, 280, zu Zenon: S. 335 f.).

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SOMÄSTHETIK UND LEBENSSTIL

Die Wertschätzung somatischer Übungen als ein entscheidendes Mittel zur Erlangung philosophischer Erleuchtung stellt das Herzstück asiatischer Praktiken wie Hatha Yoga, Zen Meditation und T’ai chi ch’uan dar. Wie der japanische Philosoph Yuasa Yusuo betont, wird das Konzept „persönlicher Kultivierung“ oder des shugyo im östlichen Denken als „philosophische Grundlage“ vorausgesetzt. Das shugyo-Training umfasst eine wesentlich körperliche Komponente, da „wahre Erkenntnis nicht einfach durch die Mittel theoretischen Denkens erlangt werden kann“, sondern nur „durch ‚körperliche Wertschätzung oder Verwirklichung’ (tainin oder taikotu)“.11 Wie diese alten asiatischen Praktiken versuchen auch zeitgenössische westliche Körperdisziplinen wie die Alexander-Technik, die Feldenkrais-Methode und die Bioenergetik die Sinnesschärfe, die Gesundheit und die Kontrolle über unsere Sinne zu verbessern, indem sie eine erhöhte Aufmerksamkeit und Beherrschung im Verhältnis zu den Körperfunktionen kultivieren, während sie uns zugleich von körperlichen Gewohnheiten und Defekten befreien, die die sinnlichen Vorgänge beeinträchtigen.12 Die Erkenntnis von Tatsachen in der Welt wird aus dieser somästhetischen philosophischen Perspektive nicht durch die Verleugnung unserer körperlichen Sinne verbessert, sondern durch ihre Perfektionierung. 2. Wenn Selbsterkenntnis (und nicht die bloße Erkenntnis der Fakten) das primäre kognitive Ziel der Philosophie darstellt, dann darf die Erkenntnis der eigenen körperlichen Dimensionen nicht außer Acht gelassen werden. Die Somästhetik, die sich nicht nur einfach mit der äußeren Form oder Darstellung des Körpers, sondern auch mit seiner gelebten, leiblichen Erfahrung, mit dem Erleben, beschäftigt, strebt eine Erhöhung der Sensibilität für unsere leiblichen Zustände und Empfindungen an. Damit verschafft sie uns bessere Einblicke in unsere wechselnden Stimmungen und in unsere bleibenden Haltungen. So kann sie körperliche Fehlfunktionen aufdecken und lindern, die normalerweise unbemerkt bleiben, obwohl sie unser Wohlbefinden und unsere körperlichen Vorgänge beeinträchtigen. Dabei kann man an folgende zwei Beispiele denken: Wir beachten nur selten unsere Atmung, dabei können ihr Rhythmus und ihre Tiefe uns schnell und verlässlich Aufschluss über unsere emotionale Befindlichkeit geben. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Atmung richten, können wir darauf gestoßen werden, dass wir wütend, angespannt oder ängstlich sind, während wir andernfalls möglicherweise diese Empfindungen nicht bewusst wahrnehmen und auf diese Weise ihre Täuschungen ausgesetzt sind. Ebenso kann eine chronische Muskelverspannung nicht nur Bewegungen einschränken, sondern in Spannungen und Schmerzen resultieren, die nichtsdestotrotz unbemerkt bleiben, weil sie zur Gewohnheit geworden sind. Als unbemerkte können die chronischen Verspannungen nicht behoben werden, ebenso wenig wie die daraus hervorgehenden 11

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Yasuo Yuasa, The Body. Toward an Eastern Mind-Body Theory, Albany 1987, S. 25. In Yuasas späterem Buch (The Body, Self-Cultivation, and Ki-Energy, Albany 1993) wird der Terminus shugyo als „Kultivierung des Selbst“ übersetzt. Von den beiden chinesischen Zeichen abgeleitet, die jeweils für „Meisterschaft“ und „Praxis/Übung“ stehen, meint shugyo wörtlich „eine Übung beherrschen“, aber die Idee, dass dazu die Kultivierung des Selbst erforderlich sei, ist darin enthalten und grundlegend. Vgl. hierzu das folgende Kapitel.

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Behinderungen und Zustände des Unwohlseins. Doch von dem Moment an, in dem man sich diese somatischen Vorgänge klar gemacht hat, besteht eine Chance, sie zu modifizieren und ihre ungesunden Konsequenzen zu vermeiden, die nicht allein Schmerzen mit sich bringen, sondern auch eine Abstumpfung der Sinne und eine Verringerung der ästhetischen Sensibilität und Freude. 3. Ein drittes zentrales Ziel der Philosophie ist das tugendhafte und richtige Handeln, für das wir Erkenntnis und Selbsterkenntnis, aber zugleich auch einen wirkungsvollen Willen benötigen. Da Handlungen allein durch den Körper vollzogen werden können, hängt unsere Willenskraft – die Fähigkeit, so zu handeln, wie wir handeln wollen – von unserer körperlichen Wirksamkeit ab. Durch die somästhetische Erkundung und Schulung unserer leiblichen Erfahrung können wir den aktuellen Verlauf wirkungsvoller Willensausübung greifbar nachvollziehen und zu einer besseren Beherrschung der konkreten Anwendung des Willens im Verhalten gelangen. Die richtige Handlung zu wollen und zu begehren wird so lange erfolglos bleiben, wie wir unsere Körper nicht dazu bewegen können, sie auszuführen. An unsere überraschende Unfähigkeit, die einfachsten körperlichen Aufgaben auszuführen, reicht nur noch unsere verblüffende Blindheit dieser Unfähigkeit gegenüber heran. Diese Fehler resultieren aus einer unzureichenden somästhetischen Achtsamkeit. Man denke nur an den verzweifelnden Golfer, der seinen Kopf unten und seine Augen auf dem Ball zu halten versucht und felsenfest überzeugt davon ist, genau das zu tun, während er gerade kläglich daran scheitert. Sein bewusster Wille ist erfolglos, weil er von zutiefst eingewurzelten somatischen Gewohnheiten überrumpelt wird. Und diese Unfähigkeit bemerkt er noch nicht einmal, weil seine habituelle Sinneswahrnehmung derartig unangemessen und verzerrt ist, dass es sich anfühlt, als werde die intendierte Handlung tatsächlich wie gewollt ausgeführt. Viel zu oft verhalten wir uns wie der linkische Golfspieler, dessen Wille, wie stark er auch sein mag, dennoch machtlos bleibt, da es ihm an somatischer Sensibilität (der körperlichen aisthesis) mangelt, die für die Wirksamkeit des Willens unerlässlich ist. Solche somatischen Fehlwahrnehmungen und Schwächungen des Willens bremsen unsere Bemühungen um ein tugendhaftes Verhalten. Deswegen verlangt Tugend selbst nach einer somatischen Perfektionierung des Selbst. Die heutigen Vertreter eines solchen Denkens sind Körper-Therapeuten außerhalb des allgemein anerkannten Rahmens der akademischen Philosophie, doch finden ihre Argumente unter den antiken Philosophen Fürsprecher. Diogenes der Kyniker war nicht der Einzige, der eine somatische Perfektionierung des Selbst praktizierte und rigorose Körperübungen verfocht, die, „wenn sie ständig betrieben [werden], Anschauungen entstehen [lassen], die das Handeln erleichtern“.13 4. Das Verfolgen von Tugendhaftigkeit und Selbstbeherrschung ist traditionellerweise in das ethische Streben nach einem besseren Leben eingebunden. Wenn die Philosophie sich mit dem Streben nach Glückseligkeit befasst, dann verdient die Auseinandersetzung der Somästhetik mit dem Körper als Ort und Medium unserer Freuden deutlich mehr philosophische Aufmerksamkeit. Sogar die Glücksgefühle und Stimulationen durch so genanntes reines Denken sind (für uns körperliche Menschen) von somatischen Umständen beeinflusst und bedürfen bestimmter Muskelkontraktionen. Sie können 13

Diogenes Laertius, Leben und Lehre der Philosophen, S. 280.

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deswegen durch verbesserte somatische Achtsamkeit und Disziplin intensiviert oder besser genossen werden. Eine eher traurig stimmende Kuriosität der neueren Philosophie ist es, dass sich die ontologische und erkenntnistheoretische Forschung verstärkt mit dem Thema Schmerz befasst, sich jedoch kaum um seine psychosoziale Handhabung, Beherrschung und Transformation in Ruhe oder Freude kümmert.14 5. Diese vier vernachlässigten Punkte erschöpfen noch nicht alle Bereiche, in denen der Körper für die Philosophie eine zentrale Rolle spielt. Michel Foucaults aufschlussreiches Bild vom Körper als gelehrigem und formbarem Ort der Einschreibungen sozialer Macht enthüllt die wesentliche Rolle, die die Somatik für die politische Philosophie und das Streben nach Gerechtigkeit spielen kann. Sie eröffnet ein anderes Verständnis der Ausübung und Reproduktion komplexer Machtverhältnisse, die nicht in Gesetzen expliziert oder offiziell durchgesetzt werden müssen. Ganze Herrschaftsideologien können deshalb in verdeckter Form materialisiert und aufrechterhalten werden, indem man sie in somatischen Normen kodiert, die als körperliche Gewohnheiten normalerweise als selbstverständlich hingenommen werden und dem kritischen Bewusstsein deswegen entgehen. So stellen beispielsweise die verbreiteten Auffassungen darüber, dass „anständige“ Frauen leise sprechen, schlank bleiben, appetitliche Speisen zu sich nehmen, ihre Beine beim Sitzen eng zusammenhalten, die passive bzw. untergeordnete Rolle in (heterosexuellem) Sex einnehmen etc., verkörperte Normen dar, die die soziale Entmachtung der Frauen aufrechterhält, während man ihnen offiziell volle Freiheit zugesteht. Wenn repressive Machtverhältnisse uns jedoch belastende Identitäten aufdrängen können, die in unseren Körpern kodiert und aufrechterhalten werden, dann können diese repressiven Verhältnisse selber durch alternative somatische Praktiken in Frage gestellt werden. Dieser Frage hat sich in jüngster Zeit die feministische und die queer-bodyTheorie produktiv angenommen, zugleich war diese foucaultsche Botschaft schon lange Teil der körpertherapeutischen Programme etwa von Wilhelm Reich und Moshe Feldenkrais. 6. Über die bereits erwähnten grundlegenden epistemologischen, ethischen und soziopolitischen Fragestellungen hinaus spielt der Körper in der Ontologie eine wesentliche Rolle. So wie Nietzsche und Merleau-Ponty die ontologische Zentralität des Körpers als Knotenpunkt aufzeigen, von dem aus unsere Welt und damit wechselweise wir selbst konstruktiv entworfen werden, so untersucht die analytische Philosophie den Körper als Kriterium der personalen Identität und als ontologischen Grund, um (durch das Zentralnervensystem) mentale Zustände erklären zu können.15

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Freude ist natürlich nicht die einzige wertvolle Empfindung, die von der Somästhetik und der Ästhetik im Allgemeinen untersucht und angestrebt werden sollte. Aber die Infragestellung des evaluativen Monopols der Freude sollte auch nicht zur Trivialisierung ihres Werts, ihrer Tiefe und Bandbreite führen. Vgl. die verschiedenen Stellungnahmen zu dieser Debatte: Alexander Nehamas, Richard Shusterman über Freude und ästhetische Erfahrung; Wolfgang Welsch, Rettung durch Halbierung?; Richard Shusterman, Provokation und Erinnerung. Alle drei Texte sind erschienen in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 47 (1999), 1. Vgl. zu Merleau-Ponty: Richard Shusterman, The Silent, Limping Body of Philosophy, in: Taylor Carman/Mark Hansen (Hg.), The Cambridge Companion to Merleau-Ponty, Cambridge 2005.

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7. Schließlich bestätigen somatische Therapeuten wie Reich und Feldenkrais – außerhalb des legitimierten Bereichs der Philosophie – grundlegende Wechselwirkungen zwischen dem eigenen Körper und der eigenen psychologischen Entwicklung. Somatische Fehlfunktionen werden sowohl als Produkt als auch als verstärkende Ursache persönlicher Probleme angesehen, die selbst wiederum die Arbeit am eigenen Körper als Heilmittel erfordern können. Ähnliche Behauptungen werden von Yogis und Zenmeistern, aber auch von Bodybuildern und Kampfsportlern erhoben. In diesen diversen Disziplinen bildet das somatische Training den Kern einer Ethik der Selbstsorge, eine Voraussetzung für geistiges Wohlbefinden und psychologische Selbstbeherrschung. Diese sieben Punkte mögen uns daran erinnern, dass es bereits eine Fülle an Diskursen über den Körper in der gegenwärtigen Theorie gibt. Diese Körperdiskurse tendieren jedoch dazu, zwei wichtige Punkte auszuklammern: Erstens bedarf es eines strukturellen Überblicks oder einer Architektonik, um die sehr unterschiedlichen, scheinbar nicht zu vereinbarenden Diskurse in einem produktiveren systematischen Feld zu integrieren. Es wäre nützlich, einen umfassenden Rahmen zu haben, der den Diskurs der Biopolitik mit dem der Bioenergetik-Therapie verbinden kann, der vielleicht sogar die ontologischen Ansichten der analytischen Philosophie zur psychosomatischen Supervenienz mit den Supersatz-Prinzipien der Bodybuilder in einen Zusammenhang bringen kann.16 Der zweite Punkt, der in den meisten gegenwärtigen philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Körper fehlt, ist eine klare pragmatische Ausrichtung – etwas, das das Individuum direkt in eine Disziplin verbesserter somatischer Praxis übersetzen kann. Beiden Defiziten kann durch das vorgeschlagene Feld der Somästhetik begegnet werden, da diese sowohl eine theoretische als auch eine praktische Disziplin darstellt.

4. Die Somästhetik umfasst drei fundamentale Dimensionen: 1. Die analytische Somästhetik beschreibt den grundlegenden Charakter körperlicher Wahrnehmungen und Praktiken sowie ihre Funktion innerhalb unserer Erkenntnis und unserer Wirklichkeitskonstruktionen. Diese theoretische Dimension umfasst traditionelle ontologische und erkenntnistheoretische Fragestellungen bezüglich des Körpers, impliziert aber zugleich die Art soziopolitischer Fragen, die Foucault und Pierre Bourdieu in den Mittelpunkt ihrer Arbeit gestellt haben: Fragen danach, wie der Körper einerseits durch Macht geformt und andererseits als Instrument genutzt wird, um diese zu erhalten; wie körperliche Normen der Gesundheit, des Geschmacks und der Schönheit und selbst die elementarsten Kategorien von sex und gender konstruiert werden, um soziale Kräfteverhältnisse widerzuspiegeln und zu stützen. Foucaults Herangehensweise an diese somatischen Fragen ist typischerweise genealogisch und zeichnet die historische Entstehung verschiedener Körper-Doktrinen, -Nor16

Während „Supervenienz“ für den Leser ein vertrauter Begriff sein mag, bedarf derjenige des Supersatzes möglicherweise der Erklärung: „Supersätze sind zwei Sätze unterschiedlicher Übungen, die ohne zu pausieren unmittelbar hintereinander ausgeführt werden.“ Vgl. zu den Details: Arnold Schwarzenegger, Das große Bodybuilding Buch, München 1986, S. 151.

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men und -Praktiken nach. Bourdieus Arbeiten erweitern diese deskriptive Herangehensweise durch eine soziologisch detaillierte Analyse der sozialen Konstitution und Einsetzung von Körpernormen, die darüber hinaus durch vergleichende Analysen ergänzt werden können, die die Körperkonzeptionen und die Körperpraktiken zweier oder mehrerer Kulturen einander gegenüberstellt. Der Wert einer solchen sozialhistorischen Analyse schließt jedoch nicht aus, dass es Raum für somästhetische Analysen gibt, die universalistischere Tendenzen aufweisen, wie man sie bei Merleau-Ponty und in den ontologischen Standardtheorien des Körper-Geist-Verhältnisses findet, wie dem Dualismus, dem Epiphänomenalismus, dem eliminativen Materialismus, dem Funktionalismus, der Emergenzphilosophie und ihren jeweiligen Untergruppen. 2. Im Unterschied zur analytischen Somästhetik, deren Logik (ob nun genealogisch oder ontologisch) deskriptiv ist, hat die pragmatische Somästhetik einen unverkennbar normativen, präskriptiven Charakter – indem sie spezifische Methoden der somatischen Verbesserung vorschlägt und sich ihrer vergleichenden Kritik annimmt. Da die Durchführbarkeit einer jeden vorgeschlagenen Methode von bestimmten (ontologischen, physiologischen oder sozialen) körperlichen Tatsachen abhängen wird, setzt diese pragmatische Dimension die analytische stets voraus. Sie überschreitet die bloße Analyse aber nicht einfach, indem sie die Ergebnisse ihrer Arbeit bewertet, sondern indem sie zahlreiche Methoden vorschlägt, um bestimmte Tatsachen durch Modifikationen des Körpers und der Gesellschaft zu verbessern. In der langen Entwicklungsgeschichte des Menschen wurde eine Vielzahl pragmatischer Disziplinen entwickelt, um unsere Erfahrungen und den Gebrauch unseres Körpers zu verbessern: diverse Diäten, Piercing und Scarification, Tanzformen und Kampfkünste, Yoga, Massage, Aerobics, Bodybuilding, S/M und so moderne psychosomatische Therapien wie die Alexander-Technik, die Feldenkrais-Methode, die Bioenergetik und das Rolfing. Diese vielfältigen Methodologien der Praxis können grob in darstellungsorientierte und erlebnisbezogene Formen unterteilt werden. Die Somästhetik der Darstellung betont die äußere Erscheinung des Körpers, wohingegen die Disziplinen des Erlebens ihren Fokus eher auf die ästhetische Qualität „innerer“ Erfahrungen richten. Solche erlebnisbezogenen Methoden zielen darauf, dass wir uns im doppelten Sinn „besser fühlen“ (eine Doppeldeutigkeit, die sich im Begriff der Ästhetik spiegelt): durch eine Steigerung der Qualität unserer Erfahrungen und durch eine Schärfung und Sensibilisierung unserer Achtsamkeit gegenüber leiblichen Erfahrungen. Kosmetische Praktiken (vom Make-up über das Frisieren bis zur plastischen Chirurgie) exemplifizieren die Somästhetik der Darstellung, wohingegen Praktiken wie Yoga, Zazen-Meditation oder Feldenkrais’ „Bewusstsein durch Bewegung“ für die erlebnisbezogene Seite sowohl im Sinne einer erhöhten Qualität als auch im Sinne der Wahrnehmungsschärfe paradigmatisch sind.17 17

Ich behaupte natürlich nicht, dass Disziplinen wie Yoga oder Zazen oder die Feldenkrais-Methode ausschließlich oder primär wegen ihrer ästhetischen Erfahrung verfolgt werden. Aber in der Tat unterstreichen sie ihre ästhetischen Dimensionen und Vorzüge. Vgl. z. B. das alte Hatha Yoga Pradipika von Svatmarama Swami (Allabad 1915), das davon spricht, wie „der Körper eines Yogis göttlich, strahlend und gesund wird und einen göttlichen Duft verströmt“, so dass er oder sie „dem Gott

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Einige populäre Körperpraktiken (wie etwa Aerobics) fallen weder ausschließlich in die eine noch in die andere Kategorie. Dennoch bleibt die Unterscheidung „Darstellung vs. Erleben“ nützlich, insbesondere um bestimmten Positionen entgegenzutreten, die die Somästhetik als intrinsisch oberflächlich und spirituell ausgehöhlt verdammen. Horkheimers und Adornos berühmte Kritik der Somatik liefert hierfür ein gutes Beispiel: „Die romantischen Versuche einer Renaissance des Leibes“ müssen ihnen zufolge scheitern, weil sie in unserer Kultur implizit die „Spaltung […] in den Geist und seinen Gegenstand“ verstärken. Als ein Objekt der Sorge, wird der Körper als bloß physisches Ding („das tote Ding, corpus“) im Gegensatz zum inneren lebendigen Geist in vergegenständlichter Form entäußert.18 Aufmerksamkeit für den Körper ist demnach immer entfremdete Aufmerksamkeit für eine externe Repräsentation außerhalb des eigenen geistigen Selbst. Darüber hinaus wird der Körper in der Dimension der Darstellung unweigerlich von den korrupten Meistern des Bildes – der Werbung und der Propaganda – dominiert und eingesetzt. „Die Lobpreisung der Vitalphänomene, von der blonden Bestie bis zum Südseeinsulaner, mündet unausweichlich in den Sorongfilm, die Vitamin- und Hautcremeplakate ein, die nur die Platzhalter des immanenten Ziels der Reklame sind: des neuen, großen, edlen, schönen Menschentypus: der Führer und ihre Truppen.“ (DA 248) Enthusiasten der schönen Körper und des Körpertrainings sind aber nicht nur oberflächlich; sie werden in noch finsterer Weise in die Nähe von faschistischen Mördern gerückt, die den menschlichen Leib als bloßen „Stoff und Materie“ (DA 248) und als biegsames mechanisches Werkzeug behandeln, dessen Teile gedrillt und geschärft werden müssen, damit sie jedweder Macht, die sie kontrolliert, effektiver dienen. Derartiger Nazi-Logik zufolge sollten Körper, die nicht mehr in Schuss sind, zu Seife zusammengeschmolzen oder zu irgendeinem anderen nützlichen Ding wie einen Lampenschirm verarbeitet werden. „Die […] den Körper priesen, die Turner und Geländespieler, hatten seit je zum Töten die nächste Affinität. […] Sie sehen den Körper als beweglichen Mechanismus, die Teile in ihren Gelenken, das Fleisch als Polsterung des Skeletts. Sie gehen mit dem Körper um, hantieren mit seinen Gliedern, als wären sie schon abgetrennt. […] Sie messen den anderen, ohne es zu wissen, mit dem Blick des Sargmachers [und] nennen den Menschen [also] lang, kurz, fett und schwer. […] Die Sprache hält mit ihnen Schritt. Sie hat den Spaziergang in Bewegung und die Speise in Kalorien verwandelt.“ (DA 249 f.)

Vor mehr als fünfzig Jahren formuliert, bleibt die Kritik von Horkheimer und Adorno eine gewichtige Zusammenfassung der schwerwiegendsten gegenwärtigen Anschuldigungen gegenüber der Körperästhetik. Indem sie verführerischen Bildern körperlicher Schönheit und Vorzüglichkeit Vorschub leistet, steht die Somästhetik als ein Werkzeug der kapitalistischen Werbung und der politischen Repression unter Anklage. Sie entfremdet, vergöttert und fragmentiert den Körper und behandelt ihn als äußerliches Mit-

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der Liebe an Schönheit nahe kommt“ (S. 23, 57). Vgl. auch Dogens Principles of Seated Meditation, in Carl Bielefeld, Dogen’s Manuals of Zen Meditation, Berkeley 1988. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1988, S. 247 f. (im Folgenden zitiert als „DA“).

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tel und als Mechanismus, der in separate Bereiche intensiver Bearbeitung anatomisch zerlegbar wird zum Zweck ostentativ messbarer Resultate und für den Verkauf zahlloser Waren, die vermarktet werden, um gerade diese Resultate zu erzielen. Daher unsere ständige Sorge um Körpermaße, deswegen die spezialisierten „Fitness“-Klassen, die den Bauchmuskeln, Oberschenkeln und Hinterteilen gewidmet sind; deswegen auch die Billionen-Dollar-Kosmetikindustrie mit ihren spezialisierten Produkten für die verschiedenen Körperteile. Eine somatische Ästhetik, so wird weiter argumentiert, müsse daher Individualität und Freiheit untergraben, da sie auf die Konformität mit standardisierten Körpermaßen und -modellen drängt, die in ihrer Zweckrationalität oder Attraktivität vermeintlich optimal sind. Diese Modelle reflektieren und verstärken darüber hinaus repressive soziale Hierarchien (so wie das nordamerikanische Ideal des groß gewachsenen, schlanken, blonden, blauäugigen Körpers offensichtlich dem Privileg dieser dominanten ethnischen Gruppe dient). So schlagkräftig solche Vorwürfe auch sein mögen, sie hängen doch alle davon ab, ob man die Somästhetik als eine Theorie begreift, die den Körper darauf reduziert, ein äußerliches Objekt zu sein, und diesen zu einem mechanischen Instrument atomisierter Teile, messbarer Oberflächen und standardisierter Schönheitsnormen macht. Sie ignorieren die subjektive Rolle des Körpers als Leib, als lebendiger Ort schöner, persönlicher Erfahrungen. Die erlebnisbezogene Dimension der Somästhetik steht dieser Veräußerlichung des Körpers als entfremdetem Ding, das im Gegensatz zum lebendigen Geist der menschlichen Erfahrung zu verstehen ist, jedoch deutlich entgegen. Ebenso wenig bedarf es notwendigerweise eines standardisierten Normenkataloges äußerer Maßstäbe (etwa eines optimalen Pulses), um gute somästhetische Erfahrung auszuzeichnen.19 Die Blindheit der Kulturkritiker gegenüber der leiblichen Erfahrung ist verständlich und noch immer weit verbreitet, da die Somästhetik der Darstellung in unserer Kultur weitaus stärker ins Auge springt und dominanter ist. Dies kann kaum verwundern in einer Kultur, die zu großen Teilen auf der Trennung von Körper und Geist aufgebaut und wirtschaftlich von einem konsumorientierten und unsicherheitsgenerierenden Kapitalismus geleitet ist, der durch die Vermarktung von Körperbildern angetrieben wird. Gerade aus diesem Grund benötigt das Feld der Somästhetik – mit seiner grundlegend erlebnisbezogenen Dimension – jedoch eine sorgfältigere und rekonstruktive Aufmerksamkeit seitens der Philosophie. Die Differenzierung in darstellungsorientierte und erlebnisbezogene Aspekte ist insofern nützlich, um die Somästhetik gegen Vorwürfe zu verteidigen, die ihre innere, erfahrungsmäßige Tiefe vernachlässigen. Diese Unterscheidung sollte jedoch nicht als strikt ausschließlich aufgefasst werden, denn zwangsläufig ergänzen sich Darstellung und Erleben, so wie Außen und Innen sich ergänzen. Woran uns die kommerzielle Werbung ganz richtig erinnert: Unser Äußeres beeinflusst, wie wir uns fühlen, und umgekehrt. Praktiken wie Schlankheitskuren oder Bodybuilding, die anfänglich zum Zweck attraktiver Darstellung durchgeführt wurden, führen oft dahin, dass sie besondere Gefühle 19

Was nicht heißen soll, dass die Somästhetik des Erlebens keine Normen oder Ideale festsetzen kann: Das bekannte Hochgefühl von Läufern oder der „pump“ von Bodybuildern könnten als Standards oder als erfahrungsmäßige Erfolge angesehen werden.

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hervorrufen und schließlich um ihrer selbst willen angestrebt werden. Die Diätetikerin wird durch das Verlangen nach dem inneren Hungergefühl magersüchtig; der Bodybuilder wird süchtig nach dem Hochgefühl des „pump“. Umgekehrt wenden somatische Methoden, die nach leiblichen Erfahrungen streben, Mittel der Darstellung oft zur Körperpositionierung an, die notwendig ist, um die erwünschte Erfahrung zu bewirken. Das kann das eigene Bild im Spiegel sein, bei dem der Blick sich auf einen Körperteil wie die Nasenspitze oder den Bauchnabel konzentriert, das kann aber auch einfach die imaginäre Visualisierung einer Körperform sein. Andererseits nutzt eine darstellungsorientierte Praxis wie Bodybuilding auf ganz ähnliche Weise die genaue Achtsamkeit gegenüber den im Erleben gegebenen Anhaltspunkten (wie der optimalen Belastung, der Körperausrichtung und der vollständigen Muskelausdehnung), um damit ihre skulpturalen Zwecke äußerlicher Form zu erzielen. Die Unterscheidung „Darstellung vs. Erleben“ ist nicht nur nicht logisch ausschließlich, sie ist darüber hinaus auch nicht erschöpfend. Eine dritte Kategorie, die der performativen Somästhetik könnte für Disziplinen eingeführt werden, die primär der körperlichen Stärke oder Gesundheit gewidmet sind (wie etwa die Kampfsportarten, Leichtathletik, Gymnastik und Gewichtheben – welches vom Bodybuilding unterschieden werden muss). In dem Ausmaß jedoch, in dem solche performativ orientierten Praktiken entweder auf die äußere Darstellung von Stärke und Gesundheit oder alternativ auf das innere Erleben solcher Kräfte zielen, kann man sie entweder eher der darstellungsorientierten oder der erlebnisbezogenen Seite zurechnen. 3. Freilich, wie auch immer wir die verschiedenen Methodologien der pragmatischen Somästhetik klassifizieren, sie müssen zudem von den tatsächlichen Praktiken unterschieden werden. Ich nenne diese dritte Dimension praktische Somästhetik. Dabei handelt es sich nicht darum, Theorien oder Texte zu produzieren, noch nicht einmal solche, die pragmatische Methoden der somatischen Selbstsorge schildern. Stattdessen geht es um die tatsächliche Praxis einer solchen Sorge durch eine intelligente und disziplinierte Arbeit am eigenen Körper, die nach somatischer Selbstverbesserung strebt (sei es nun im darstellungsorientierten, im erlebnisbezogenen oder im performativen Sinne). Diese praktische Dimension, die sich nicht mit dem Diskurs, sondern mit der Umsetzung beschäftigt, wird von akademischen Körper-Philosophinnen und -Philosophen, die sich dem philosophischen logos verschrieben haben, am stärksten vernachlässigt, was typischerweise mit der restlosen Textualisierung des Körpers endet. Für die praktische Somästhetik gilt, je weniger gesagt wird, desto besser, wenn das heißt, dass tatsächlich umso mehr getan wird. Aber unglücklicherweise wird die tatsächliche Arbeit am Körper einfach aus der philosophischen Praxis ausgeschlossen, denn was in der Philosophie ungesagt bleibt, bleibt für gewöhnlich auch ungetan. Deswegen muss die konkrete Aktivität der Beschäftigung mit dem Körper hier als wesentlich praktische Dimension der Somästhetik betont werden, deren Ziel als umfassende philosophische Disziplin Selbsterkenntnis und Selbstsorge sind.

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5. Nach diesen Erläuterungen zum Verständnis der Somästhetik und der Unterscheidung dreier wesentlicher Dimensionen sowie der darstellungsorientierten und der erlebnisbezogenen Aspekte, wende ich mich nun der Frage zu, die der noch nicht erläuterte Teil des Titels dieses Kapitels aufwirft. Wenn die Somästhetik als „Vorschlag einer Disziplin“ eingeführt werden soll – was für eine Art von Disziplin könnte das dann sein? In welchem Verhältnis wird sie oder soll sie zu den etablierten Disziplinen der Ästhetik und der Philosophie stehen? Die erste Frage ist leichter zu beantworten. Die Bezeichnung der Somästhetik als Disziplin spielt mit der doppelten Bedeutung von Disziplin: als Bereich des Lernens und Lehrens und als körperliche Form des Training und der Übung. Natürlich kann die analytische Dimension der Somästhetik auch systematische Formen des Wissens umfassen, etwa historische und anthropologische Studien über Körper-Normen, -Ideale und -Praktiken oder psychologische und ontologische Theorien des Körper-GeistVerhältnisses. Diese vielfältigen Wissensformen, die den Gebrauch des Körpers als Ort der Erfahrung von Schönheit erhellen können, werden für gewöhnlich in verschiedenen und von einander getrennten Disziplinen organisiert. Eine Motivation für den Vorschlag der Somästhetik als Disziplin ist deshalb die Errichtung eines disziplinären Rahmens, der die vielfältigen körperbezogenen Forschungen strukturell verknüpft und auf fruchtbare Weise miteinander vereint, die gegenwärtig noch in relativ unverbundenen Untersuchungen und in scheinbar inkommensurablen Disziplinen verfolgt werden. Ein ähnliches Argument trifft auch mit Bezug auf die pragmatische Somästhetik zu. Von Diät-Ratgebern über Yoga-Lehrbücher und von Fitness-Videos über BodybuildingHandbücher bis zu den Ratgebern für psychosomatische Therapien finden wir ein verwirrend breites Angebot an Theorien, die den Gebrauch, die Gesundheit und die Erfahrung unseres Körpers verbessern sollen. Sie alle unter der gemeinsamen Rubrik der Somästhetik zu versammeln, kann eine produktivere Ordnung in diese konfuse Überfülle bringen, indem wir nach elementaren gemeinsamen Prinzipien und Unterscheidungskriterien suchen, nach denen die diversen Praktiken klassifiziert und aufeinander bezogen werden können. Im Unterschied dazu erfasst jene Form der Aktivität, die ich als praktische Somästhetik bezeichne, den zweiten Sinn des Begriffs der Disziplin – nicht als Theorie, sondern als tatsächliches Training und als Praxis des Körpers. Welchen Ort kann diese dreiteilige Disziplin der Somästhetik dann aber in der allgemeinen disziplinären Matrix der Wissenschaften einnehmen? Gibt es eine komfortable Nische für sie in einer der bereits etablierten Disziplinen oder muss sie für einen eigenen disziplinären Ort kämpfen? Schon die Bezeichnung impliziert ja, dass die Somästhetik sich wohl am besten als Unterabteilung der schon etablierten Disziplin der Ästhetik eignen könnte, welche durch den Einschluss der Somästhetik wiederum erweitert und transformiert werden würde. Um die Attraktivität dieser Option herauszustellen, habe ich am Anfang dieses Kapitels gezeigt, inwiefern die Somästhetik einen unentbehrlichen Teil eines umfassenden Projekts der Ästhetik darstellt, auch wenn sie aus Baumgartens Gründungsprogramm der modernen Ästhetik ausgeschlossen worden war. Die Wertschätzung körperlicher

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Schönheit und Sinnesschärfe war jedenfalls schon lange vor Baumgartens Ästhetik für die Beschäftigung mit ästhetischen Fragen zentral – nicht nur bei den Griechen und Römern, sondern auch in den asiatischen philosophischen Traditionen.20 Auch in der westlichen Moderne hat diese Einstellung zum Teil überlebt, wenn auch durch die dominante idealistische Tradition in der Ästhetik verdunkelt. Man denke nur an David Hume (einen Zeitgenossen Baumgartens) und an Friedrich Nietzsche. Mit seiner normativen Konzeption einer „Vollkommenheit der Sinne“ zielt Humes Betonung der Praxis als Methode zur Schärfung der sinnlichen Wahrnehmungs- und Beurteilungsfähigkeit gewiss in die Richtung einer Somästhetik. Das gleiche gilt für Nietzsches Zelebrieren des Körpers und sein Eintreten für eine „immer größere Vergeistigung und Vervielfältigung der Sinne“, um das ästhetische Potential des Körpers zur Realisierung der das Leben verbessernden Werte zu fördern.21 Solche Beispiele zeigen auch, dass es – bei der tatsächlichen Vielfalt der ästhetischen Gebrauchsweisen und Freuden des Körpers – keinen Grund gibt, unsere winzigen Augenmuskeln oder die unsichtbaren Geschmacksknospen aus dem Bereich der somästhetischen Übungen auszuschließen, die nicht auf das grobschlächtige Bild des bloßen Aufbaus von Muskelmasse im Bizeps beschränkt werden sollten. Die Somästhetik scheint sich also am einfachsten als Subdisziplin der Ästhetik verstehen zu lassen, als stärker auf den Körper ausgerichtetes Gegenstück zu anderen bereits etablierten Unterabteilungen wie etwa der Musik-Ästhetik, der visuellen Ästhetik oder der Natur-Ästhetik. Gegen diesen bescheidenen Vorschlag lassen sich allerdings zwei Einwände erheben: Erstens scheint die Somästhetik, während die anderen Subdisziplinen durch ein spezifisches künstlerisches Genre oder eine spezielle Kategorie ästhetischer Objekte definiert werden können, das Ganze der Ästhetik zu umfassen. Sie versteht den Körper nämlich nicht nur als Träger ästhetischen Werts und Objekt ästhetischer Selbsterschaffung, sondern auch und vor allem als sinnliches Medium, das unseren Umgang mit allen anderen ästhetischen (und oft auch nicht-ästhetischen) Objekten vermittelt und strukturiert. So lässt sich etwa leicht sehen, wie die somästhetische Verbesserung der Sinnesschärfe, der Muskelbewegungen und der Aufmerksamkeit auch das Verständnis und die Praxis der traditionellen Künste wie Musik, Malerei und Tanz (einer somästhetischen Kunst par excellence) verbessern kann. Auch unsere Wertschätzung der natürlichen und der künstlichen Umwelten, die wir bereisen und bewohnen, kann davon nur profitieren. Überdies droht die Somästhetik den engen Rahmen der Disziplin der Ästhetik zu sprengen, da sie sich auch solchen Aktivitäten widmet, die normalerweise nicht als ästhetisch gelten – dazu gehören nicht nur Kampfkunst, Sport, Meditationspraktiken und psychosomatische Therapien, sondern auch das philosophische Unternehmen der Selbsterkenntnis und der Selbstbeherrschung im Dienste einer tugendhaften Lebensführung.

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Vgl. die Darstellung der klassischen indischen Ästhetik des Körper und seiner sinnlichen Freuden in Rekha Jhanji, The Sensous in Art. Reflections on Indian Aesthetics, Delhi 1989. Vgl David Hume, Über den Maßstab des Geschmacks, in: Jens Kulenkampff (Hg.), Der schwache Trost der Philosophie, Göttingen 1997, S. 86. Das Nietzsche-Zitat stammt aus: Der Wille zur Macht, Stuttgart 1964, § 820.

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Auf diesen ersten Einwand kann man die folgende relativ unverblümte Antwort geben: Umso schlimmer für die (derart eng verstandene) Ästhetik! Da der Begriff „Ästhetik“ offen und grundsätzlich umstritten ist, kann man darunter natürlich auch bisher als nicht-ästhetisch verstandene Themen und Praktiken fassen. Darüber hinaus sind einige dieser scheinbar neuartigen Themen auch im Feld der Ästhetik keineswegs unbekannt. Weitaus älter und bedeutender als das neuere Interesse an einer Ästhetik des Sports ist etwa die gewichtige Tradition, die die Ästhetik als Schlüssel für eine Ethik des guten Lebens und eine entsprechende Lebenskunst versteht. Diese Tradition kommt in Schillers Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ und in den Schriften Kierkegaards, bei Nietzsche und beim späten Foucault kraftvoll zum Ausdruck. Ein zweiter Einwand gegen die Subsumtion der Somästhetik unter die Ästhetik könnte folgendermaßen lauten: Wenn die Ästhetik eine Unterabteilung der Philosophie ist und die Somästhetik eine Subdisziplin der Ästhetik sein soll, dann muss aufgrund der Transitivität die Somästhetik ebenfalls eine Unterabteilung der Philosophie sein. Wenn sie nun auch unbestreitbar philosophische Elemente beinhaltet, so scheint die Somästhetik doch zu viele andere Aspekte einzuschließen, die sie von der Philosophie gerade trennen. Sie umfasst nicht nur anthropologische, soziologische und historische Formen des Wissens über den Körper, sondern auch physiologische und psychologische Forschungen. Obendrein muss ihre praktische Dimension, also ihr nicht rein theoretisches Interesse an Körperpraktiken, der philosophischen Tradition fremd, wenn nicht gar bedrohlich erscheinen. Für Kampfkunst, Mode, Kosmetik, Bodybuilding und Diäten ist in der Philosophie scheinbar kein Platz. Wenn sich die Philosophie primär als Theorie definiert, dann versperrt die praktische Dimension der Somästhetik den Eintritt in den Bereich der Philosophie. Auf diese Einwände sehe ich zwei mögliche Erwiderungen. Zum einen könnte für ein breiteres Verständnis von Philosophie plädiert werden. Eine solche Konzeption würde nicht nur die Relevanz historischer, anthropologischer, soziologischer und anderer empirischer Erkenntnisse für die Philosophie einräumen, sondern diese auch über den Bereich der Theorie hinaus auf die antike Idee der Philosophie als körperlicher Praxis – als Lebensweise – ausdehnen. Das Ideal einer Philosophie, die die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften aufgreift und zugleich auf eine verbesserte Lebensführung zielt, mag uns aufgrund der verschulten Ausbildung und des professionellen Selbstbildes als Experten für Begriffsanalyse merkwürdig erscheinen. Vielleicht handelt es sich ja tatsächlich um ein unerreichbares Ideal und sicherlich lässt es sich kaum durch die gewöhnliche Unterrichtspraxis realisieren.22 Dennoch gibt es dieses traditionelle und aus 22

Man stelle sich nur die Reaktion auf einen Philosophieprofessor vor, der sein Seminar zum Thema Somästhetik dazu auffordert, sich mit Wilhelm Reichs Körpertherapie zu beschäftigen, indem sich alle im Raum hinlegen und den „Orgasmusreflex“ üben sollen. Wäre es leichter, dazu aufzufordern, Gewichte zu heben oder Yoga- und Atemübungen durchzuführen? Selbst eine Aufforderung zum Tanzen oder Singen würde heute wahrscheinlich einen Schock auslösen. Die philosophischen Schulen der Antike (aber auch spätere religiöse Gemeinschaften) waren in dieser Hinsicht weniger zurückhaltend und unterrichten ihre Schüler in einem weitaus holistischeren Sinne. Zur Kritik des Ausschlusses somatischer Erfahrungen und Praktiken aus einer zunehmend sprachphilosophisch orientierten Philosophie vgl. Richard Shusterman, Vor der Interpretation.

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guten Gründen anziehende Modell der Philosophie, in welches auch die Somästhetik als Subdisziplin gut hineinpassen würde. Natürlich kann man die große Breite somatischer Forschungen und ihre konkrete Umsetzung in körperlichen Praktiken auch auf andere Weise berücksichtigen, und die Somästhetik dennoch als Subdisziplin der Ästhetik betrachten. Wir können die Ästhetik etwa als über den Bereich der Philosophie hinausgehende Disziplin verstehen. Eine derart erweiterte Konzeption der Ästhetik, die sich stärker an den Geistes- und den Naturwissenschaften anlehnt, wurde bereits von wichtigen Theoretikern des 20. Jahrhunderts wie Max Dessoir und Thomas Munro vertreten. Gegen die Beschränkungen der traditionellen Philosophie des Schönen und der Kunst versuchten sie die Ästhetik als interdisziplinäres Feld des Wissens zu etablieren, das von der Philosophie unabhängig sein und über eigene Zeitschriften und Institute verfügen sollte.23 Indem wir diese Vorstellung noch stärker ausbauen, können wir die Ästhetik als eine Disziplin bestimmen, die sich neben theoretischen Fragen auch mit Anleitungen zur Produktion, Performanz und Kritik künstlerischer und anderer ästhetischer Praktiken beschäftigt. Auch wenn ein derart breites Verständnis den meisten Philosophie-Seminaren fremd ist, findet sich diese Auffassung der Ästhetik doch in vielen anderen Schulen, etwa der Musik, der Kunst, des Tanzes und des Kochens. Welcher der beiden Optionen für die Etablierung der Somästhetik sollten wir nun den Vorzug geben? Als Philosoph, der sich für eine breitere und stärker praxisorientierte Konzeption seiner Disziplin einsetzt, würde ich es bevorzugen, die Somästhetik in die Philosophie eingehen zu lassen und die Philosophie auf diese Weise wieder attraktiver und interessanter zu machen. Ich habe zudem Zweifel daran, dass die Ästhetik als eigenständige – von der Philosophie unabhängige – Disziplin institutionell stabil genug ist, um die Herausforderung der Integration der Somästhetik zu meistern. Aus mindestens drei Gründen sollte es uns aber nichts ausmachen, die Details der institutionellen Einbindung offen zu lassen. Da es sich erstens um einen neuartigen, noch immer skizzenhaften Vorschlag handelt, sollte man die disziplinäre Ausrichtung der Somästhetik nicht zu stark fixieren, damit genügend Freiraum für eine Weiterentwicklung in verschiedene Richtungen bleibt. Zweitens muss die Somästhetik, um sich weiterentwickeln zu können, als kollektives Projekt einer Gemeinschaft von Theoretikern und Praktikern und nicht als Sichtweise eines einzelnen Individuums verstanden werden. Die Gemeinschaft, nicht der einzelne Theoretiker, wird die disziplinäre Heimat der Somästhetik und ihre Grenzen am besten definieren können. Der dritte Grund, aus dem ich die detaillierten Fragen der Zuordnung und Demarkation gerne offenlassen möchte, ist, dass es weitaus wichtigere und interessantere Fragen im Feld der Somästhetik zu bearbeiten gibt. 23

Vgl. Max Dessoir (der die Deutsche Gesellschaft für Ästhetik und die Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft gründete), Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Stuttgart 1906; Thomas Munro, Aesthetics and Philosophy in American Colleges; Society and Solitude in Aesthetics; Aesthetics and Science. Its Development in America; alle in: Journal of Aesthetics and Art Criticism, 4 (1946), S. 185–187; 3 (1945), S. 33–42; 9 (1951), S. 161–207. Vgl. zu Munro, der Gründung des Journals und dem Aufbau der Ästhetik als eigenständiger Disziplin Richard Shusterman, Aesthetics Between Nationalism and Internationalism, Journal of Aesthetics and Art Criticism, 51 (1993), S. 157–167.

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6. Wir können zu einigen dieser zentralen Fragen einen Zugang bekommen, indem wir zwei Philosophen des 20. Jahrhunderts, John Dewey und Michel Foucault, einander gegenüberstellen, die in ihren Arbeiten auf exemplarische Weise alle drei Dimensionen der Somästhetik abgedeckt haben. Inspiriert durch seine Auseinandersetzung mit Charles Darwin und William James, entwickelte Dewey eine naturalistische Darstellung der Emergenz dessen, was er „Körper-Geist“ nennt. Diese ontologische Theorie war jedoch zusätzlich durch seine Studien der pragmatischen „Körper-Geist“Methodologie der Alexander-Technik angeleitet, die Dewey zwanzig Jahre ausübte, der er (im Alter von neunzig Jahren) seine gute Gesundheit zuschrieb und die er in zahlreichen Essays rühmte.24 Foucaults passioniertes Praktizieren der Somästhetik in allen drei Hauptzweigen ist nicht weniger bemerkenswert als Deweys, indes radikal davon unterschieden. Der analytische Genealoge, der zeigte, wie „gelehrige Körper“ systematisch durch vermeintlich harmlose Körper-Disziplinen geformt werden, um bestimmte soziopolitische Programme voranzubringen, tritt auch als pragmatischer Methodologe hervor, der alternative Körperpraktiken vorschlägt, um damit die repressiven Ideologien zu überwinden, die in unseren gelehrigen Körpern verankert sind. Unter diesen Alternativen stechen konsensuelle S/M-Praktiken besonders heraus, deren Erfahrungen Foucault zufolge nicht nur die Hierarchien des Denkens in Frage stellen, sondern auch das Privilegieren einer genitalen Sexualität, die wiederum Heterosexualität privilegiert. Foucault befürworte auch wiederholt harte „Drogen, die sehr intensive Lust bereiten können“, und trat dafür ein, dass sie „ein Teil unserer Kultur werden müssen“.25 Indem Foucault derart kühn diejenige Somästhetik praktizierte, die er predigte, erprobte er seine bevorzugten Methoden (harte Drogen und homosexuelle S/M-Praktiken) und experimentierte mit seinem eigenen Körper und dem anderer. In Philosophie als Lebenspraxis habe ich die Grenzen von Foucaults favorisierten Methoden untersucht und zugleich somästhetische Alternativen betont, die er vernachlässigt und die ich zu praktizieren bevorzuge.26 Man kann den Wert von Drogen und S/M für eben jene Projekte der Somästhetik jedoch kaum bestreiten, mit denen Foucault persönlich am stärksten beschäftigt war, Projekte der radikalen Erneuerung, der Befreiung der Schwulen und des eigenen, durchaus problematischen Lustgewinns. In der Tat bestätigt dies eine sprichwörtliche Weisheit – „different strokes for different folks“ –, die nicht nur für S/M-Praktiken gilt. Müsste nicht bis zu einem gewissen Ausmaß dieser Pluralismus die Maxime sein, und zwar nicht nur für die Somästhetik, sondern für die ganze Idee der Philosophie als einer Lebensweise, einer disziplinären ästhetischen Praxis, deren größtes Kunstwerk unser Selbst ist? Wenn Emerson und Nietzsche recht damit haben, dass jedes Selbst grundsätzlich einzigartig ist (ein unwiederholbares Produkt von Myriaden kontingenter Umstände), sollte dann nicht jedes Selbst einer eigenen speziellen Philosophie und Kör24 25 26

Vgl. Shusterman, Philosophie als Lebenspraxis. Michel Foucault, Foucault Live, New York 1996, S. 384, S. 378 f. Vgl. auch Richard Shusterman, The Self as a Work of Art, in: The Nation, 30. Juni 1997, S. 25–28.

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perpraxis bedürfen? „Jeder Mensch“, so Thoreau, „ist der Erbauer eines Tempels, seines Körpers, für den Gott, dem er dient, nach einem Stil, der ausschließlich sein Eigen ist; auch kann er dem nicht entgehen, indem er statt seiner Marmor ausmeißelt. Wir sind alle Bildhauer und Maler, und unser Material ist unser eigen Fleisch, Blut und Knochengerüst. Alles Edle fängt sofort an, die Züge eines Menschen zu verfeinern, jede Gemeinheit und Sinnlichkeit, sie zu vertieren.“27 Aber teilen nicht, auf der anderen Seite, unsere verkörperten Selbste entscheidende Gemeinsamkeiten biologischer Machart und gesellschaftlicher Prägung, die einige interessante Verallgemeinerungen über Werte und Risiken unterschiedlicher somatischer Methoden erlauben? Wie könnten die Philosophie und die Wissenschaft (vielleicht sogar das praktische Leben) ohne solche Verallgemeinerungen auskommen? Die Somästhetik muss die Ansprüche der körperlichen Verschiedenheit und der Freiheit des Geschmacks mit jenen objektiven Körpernormen und -bedürfnissen versöhnen, die die strittige Natur-Kultur Unterscheidung verschwimmen lassen. Wenn sie sich auf keine feststehende Definition der körperlichen Schönheit oder der Freude beziehen kann, so muss die Somästhetik dennoch ihre Urteile darüber rechtfertigen, dass bestimmte somatische Formen, Funktionen und Erfahrungen besser als andere sind. Hier stellen sich schwierige Probleme, die in der Ästhetik aber keineswegs unbekannt sind, denn sie drücken im Wesentlichen die vertrauten theoretischen Spannungen zwischen ästhetischer Subjektivität und normativen Standards, zwischen individuellem Geschmack und sensus communis aus, die seit Hume und Kant das Zentrum der modernen Ästhetik durchziehen. Auch hier bleibt die Somästhetik fest in den Problemen der traditionellen ästhetischen Theorie verankert. Wir haben es aber auch mit praktischeren (und existentiell relevanteren) somästhetischen Fragen zu tun, denen seitens der philosophischen Ästhetik mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Im postmodernen Zustand der pluralistischen kulturellen Verwirrung erscheint uns die Ideologie der vielfältigen zur Auswahl stehenden Lebensstile völlig natürlich. Wie sollten wir unser verkörpertes Selbst pflegen, formen und dafür sorgen? Mit halluzinogenen Drogen oder vegetarischer Diät, mit rasiertem Kopf oder Dreadlocks, mit Genitalschmuck und Ledermasken oder mit Steroiden und SilikonImplantaten, durch Piercing und Aerobics oder Yoga-Übungen? Gibt es brauchbare Kriterien, um aus diesem Angebot höchst unterschiedlicher somästhetischer Programme auszuwählen? Welche Kombinationsmöglichkeiten sind sinnvoll und möglich? Warum werden die philosophisch anspruchsvollen und kritisch-reflexiven somatischen Disziplinen der asiatischen Philosophie aus unserem Philosophieverständnis noch immer ausgeschlossen? Diese Fragen stellen nur einen Bruchteil des Themenbereichs dar, der von der vorgeschlagenen Disziplin der Somästhetik gesichtet und zur Diskussion gestellt werden soll. Wenn sie noch nicht systematisch behandelt worden sind, durch Baumgartens ursprüngliche Definition der Ästhetik aber durchaus impliziert und durch die klassische Idee der Philosophie als verkörperter Lebenspraxis aufgeworfen werden, dann verdient die Somästhetik einen Ort im Bereich der Philosophie. Die genaue Bestimmung dieses Ortes, den sie schließlich im weiten Feld der Philosophie einnehmen soll, kann hier nicht vor27

Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern, Zürich 1979, S. 221.

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weggenommen werden. Die Beantwortung solcher Fragen hängt nämlich nicht nur von der Richtung ab, die die Somästhetik zukünftig einschlagen wird, sondern auch von den Transformationen des grundsätzlich umstrittenen Feldes der Philosophie selbst, die auch die jeweiligen Subdisziplinen verändern werden. Für den Anfang jedoch scheint die Somästhetik am besten innerhalb einer erweiterten Disziplin der Ästhetik aufgehoben zu sein. Eine dergestalt erweiterte Ästhetik würde der zentralen Rolle des Körpers in der ästhetischen Wahrnehmung und Erfahrung eine systematischere Aufmerksamkeit zukommen lassen und auch die bisher marginalisierten ästhetischen Dimensionen von Körpertherapie, Sport, Kampfkunst, Kosmetik etc. mit einbeziehen. Um aber die praktischen Dimensionen der Somästhetik integrieren zu können, muss die Aufmerksamkeit im Feld der Ästhetik auch auf tatsächliche und spezifische körperliche Praktiken ausgedehnt werden, die eine somästhetische Perfektionierung anstreben. Die Berücksichtigung dieser Arbeit am Körper mag Lehre und Praxis der Ästhetik im Rahmen der Universität erschweren, könnte durch die umfassende Einbeziehung des verkörperten Selbst die Disziplin als Ganze aber sicherlich sehr viel aufregender und anziehender gestalten. Aus dem Amerikanischen von Heidi Salaverría und Robin Celikates

Kapitel VII

Die somatische Wende in der heutigen Kultur

1. Am Ende der Dialektik der Aufklärung, auf die wir uns schon im letzten Kapitel bezogen haben, in einem Abschnitt, der die Überschrift „Interesse am Körper“ trägt, beklagen Horkheimer und Adorno die Rolle, die dem Körper in der „neueren Kultur“ zugewiesen wird: „Der Körper wird als Unterlegenes, Versklavtes noch einmal verhöhnt und gestoßen und zugleich als das Verbotene, Verdinglichte, Entfremdete begehrt.“ Und sie gelangen zu dem traurigen Schluss, dass diese somatische Katastrophe nicht mehr rückgängig zu machen sei: „Der Körper ist nicht wieder zurückverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so ertüchtigt wird.“1 Heute trainieren Millionen von US-Amerikanern eifrig ihren Körper, um diese beiden Philosophen Lügen zu strafen; und auch die Europäer zeigen Anzeichen eines erhöhten Engagements derselben Art. Diese somatische Hingabe findet ihren Ausdruck nicht nur in der wachsenden Zahl von Menschen, die sich intensiv und programmatisch auf Praktiken der Verbesserung ihres Körpers einlassen, sondern auch in einer immer größeren Vielfalt solcher Praktiken. Das Schmücken des Körpers ist stets eine Form ästhetischen Ausdrucks gewesen, doch heute scheint man diese alte Kunst zu neuen Grenzen voranzutreiben, aber natürlich auch zu neuen Profiten. Neben dem milliardenschweren Geschäft mit Kosmetika, Kleidung und Haarpflegemittel ist in letzter Zeit eine Industrie für Diätnahrungsmittel entstanden (die ganze Diätprogramme verkauft, mit Anleitungsmaterial und den zugehörigen Nahrungsmitteln, das Ganze abgerundet durch ein Netz von Beratungsstellen) und dazu ein lebhafter Markt für Videos mit Fitnessprogrammen und Kosmetikkursen zum bequemen Gebrauch in den eigenen vier Wänden. Die plastische Chirurgie hat einen beträchtlichen Aufschwung erlebt und erweitert ihre Aktivitäten vom Gesicht auf den ganzen Körper: Brustimplantate, Verringerung des Hüftumfangs durch Absaugen von Fett, Gesäßformung und Wadenvergrößerung.2 Neue Fortschritte in der Biotechnologie er1 2

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1988, S. 247 f. Wie das Magazin Cosmopolitan berichtet, wurden 1989 im Bereich der plastischen Chirurgie 681000 Operationen vorgenommen. Das entsprach einer Steigerung von mehr als 80 Prozent gegenüber 1981: mehr als die Hälfte der Patienten war zwischen achtzehn und fünfunddreißig Jahre alt (Populär Plastic Surgery, in: Cosmopolitan, Mai 1990, S. 96). Zu

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möglichen Organtransplantationen, Prothesen, Medikationen und sogar Gentherapien, die unsere Körpererfahrung dramatisch verändern und unsere Leistung verbessern können. In der postmodernen städtischen Kultur ist die Zahl der Gymnastik- und Fitnessstudios beträchtlich gestiegen; sie haben die Kirche und das Museum als privilegierte Orte einer auf die Verbesserung des Selbst gerichteten Lehre weitgehend verdrängt, die in seiner Freizeit zu besuchen man als Pflicht sich selbst gegenüber empfindet, auch wenn dies mit Unannehmlichkeiten und Mühen verbunden ist. Die heutigen Fitnessstudios haben wenig gemein mit den früheren Formen von Turnen und Gymnastik (Ringe, Pferde, Barren etc.); sie bieten ein breites Spektrum körperlicher Möglichkeiten: Hanteln und Bodybuilding-Geräte aller Art, Geräte zur Stärkung des Herz-KreislaufSystems, Massagen zur Entspannung der Muskulatur, Aerobics und Gymnastikkurse, die sich nach Intensität oder Stil der Bewegung und nach Art der Musik unterscheiden und sich dabei vielfach auf bestimmte Körperteile konzentrieren. Das Fitnessstudio in meiner alten Nachbarschaft in Manhattan hat unter der patentierten Bezeichnung „Brand New Butt“ einen Kurs angeboten, der sich ausschließlich dem Gesäß widmete. Andere Kurse haben aus der neuen Vielfalt der somatischen Übungstechniken eklektisch eine exotische Mixtur aus „The Urban Yoga Workout“ zusammengebraut, die nach Auskunft des Werbeprospekts „Hatha-Yoga mit verschiedenen westlichen Fitnessdisziplinen, An-den-Händen-Fassen, Massage und New-Age-Musik verbindet“.3 Wie sich an dieser Kursbeschreibung zeigt, hat das verstärkte und eklektische Körperbewusstsein der Postmoderne zu einer Wiederbelebung des Interesses an alten asiatischen Praktiken wie Yoga und Taichi geführt, die mit dem Übergang vom Kalten Krieg ins New Age ebensoviel Aufmerksamkeit gefunden haben wie die Kampfsportarten Judo und Karate. Der Körperboom ist werde auf bestimmte ethnische Gruppen noch auf bestimmte Altersgruppen beschränkt. Zweifellos ist er eng verbunden mit der Jugendkultur und dem Wunsch, jung zu bleiben, doch seine Anhänger kommen aus allen Altersgruppen. Fitnessstudios, Yogakurse und Kliniken für plastische Chirurgie sind sämtlich Orte, an denen Junge und Ältere gemeinsam schwitzen. Schließlich ist auch die Seele von dem verstärkten Interesse am Körper angesteckt worden, wie wir an der gewaltigen Zunahme neuer körperorientierter Psychotherapien und anderer somatischer Disziplinen erkennen können, deren Ziel geistige Gesundheit und Glück sind. Tatsächlich ist der Körper sogar zu einem modischen Objekt der Aufmerksamkeit im traditionell leibfernen Bereich der akademischen Kulturtheorie geworden. Das zeigt sich in der langen Liste neuer wissenschaftlicher Bücher und Aufsätze, die sich mit dem Körper befassen; inzwischen gibt es sogar eine ganze Buchreihe, die diesem Gegenstand gewidmet ist.4 Wahrscheinlich ist das akademische Interesse am

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weiteren Einzelheiten und einer Kritik am postmodernen Hang zur Formbarkeit des Körpers siehe Susan Bordo, Unbearable Weight. Feminism, Western Culture, and the Body, Berkeley 1993. Ich zitiere hier aus dem Kursprogramm des Fitnessstudios Crunch (54 East 13th Street, Manhattan, New York) aus dem Jahre 1993. Zu den bekannteren Büchern dieser Art zahlen Elaine Scarrys Der Körper im Schmerz, Peter Browns The Body and Society, Susan Suleimans The Female Body in Western Culture und das

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Körper zu einem Gutteil lediglich das Interesse an einem neuen Gegenstand für die theoretische Arbeit. Und ganz gewiss besteht der größte Teil dieser Arbeit lediglich darin, „den kulturellen Körper zu schreiben“ (das heißt darzustellen, wie der Körper als Symbol oder Thema in der Literatur funktioniert und wie er von der Geschichte geformt worden ist); sehr viel seltener fragt man dagegen, wie der Körper heute tatsächlich funktioniert und wie sich seine Leistungsfähigkeit oder das Körpererleben verbessern ließe. Dennoch spricht die wachsende Popularität solcher Titel (auch wenn der Inhalt oft wenig mit dem Körper als solchem zu tun hat) für ein verstärktes somatisches Interesse. All diese Phänomene müssten eingehender dargestellt werden, als ich es hier tun kann, doch eines ist klar: Sie sprechen eindeutig für eine vertiefte Beschäftigung mit dem Körper. Die eigentliche Frage ist die philosophische Bedeutung dieser Entwicklung: Was sagt dieses Körperbewusstsein über unsere Gesellschaft, unsere Werte und die Entwicklung des Denkens aus? Sollten wir darin ein Indiz für das Scheitern der Zivilisation erblicken, wie Horkheimer und Adorno, oder wäre es angemessener, von einem Erfolg zu sprechen? Und um welche Art von Scheitern oder Erfolg handelt es sich? Verweist die somatische Wende auf eine Krise oder eine Ablehnung des modernen Rationalismus, oder haben wir es umgekehrt mit einer Anwendung und Erweiterung dieses Rationalismus auf einen bislang vernachlässigten und nichtkolonisierten Bereich zu tun? Und auch hier stellt sich die Frage nach der normativen Bedeutung. Wenn die neuerdings zu verzeichnende Hinwendung zum Körper eine Ablehnung des rationalistischen Ideals zum Ausdruck bringt, ist dies dann notwendigerweise schlecht? Und wenn er umgekehrt das Rationalisierungsprojekt der Moderne erweitert, stellt der voll rationalisierte und disziplinierte Körper dann eine humanistische Utopie dar oder einen kybernetischen Albtraum? Diese grundsätzlichen Fragen nach Bedeutung und Wert der Somästhetik führen uns zu speziellen Fragen nach der zukünftigen Rolle und Ausrichtung der Philosophie. Die Philosophie, die sich traditionell mit dem Leben des Geistes befasste und sich bemühte, ihn von Irrtum, Vorurteil und korrumpierenden Begierden zu reinigen, erblickte im Körper und seinen Sinnen eine Hauptquelle für diese Gefahren. Müssen wir angesichts dieser Tatsache annehmen, dass die neue somatische Orientierung de facto, wenn nicht sogar explizit eine kulturelle Ablehnung des philosophischen Unternehmens bedeutet? Seit ihren Anfängen in Griechenland hat die Philosophie den Anspruch erhoben, uns Weisheit in der Lebenskunst zu bieten, und seit Jahrtausenden suchen Menschen, die sich von der Sokratischen Frage „Wie sollen wir leben?“ bedrängt fühlen, in der Philosophie einen Führer der Verwirrten. Heute suchen sie anderswo: in der rasch wachsenden Literatur über Selbsthilfe und Populärpsychologie nämlich, die weitaus höhere Auflagen erreicht als die Standardtexte der Philosophie. Viele dieser Bücher befassen sich mit der Somatik. Wie soll die Philosophie auf diese Herausforderung reagieren? Höchstwahrscheinlich wird sie in der Weise reagieren, dass sie sich in einen irrelevanten akademischen Konservatismus zurückzieht, an ihre glorreiche Vergangenheit erinnert und sich auf ihre institutionelle Macht als Teil eines Universitätssystems beruft, gewaltige vierbändige Werk Fragments Toward the History of the Human Body im New Yorker Zone Verlag. Die State University of New York Press hat zudem eine Buchreihe ins Leben gerufen, die ausschließlich dem Thema des Körpers gewidmet ist.

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das als zentraler Mechanismus der gesellschaftlichen Reproduktion fungiert. Doch es gibt auch eine mutigere und interessantere Möglichkeit. Die Philosophie kann sich auf die Somatik als einen neuen Bereich kritischer Theorie und sogar als eine neue Dimension oder einen neuen Modus philosophischer Praxis einlassen. Da die Philosophie auf die Erforschung fundamentaler menschlicher Erfahrung und der richtigen Lebensführung ausgerichtet ist, könnte sie ohne weiteres somatischen Praktiken Rechnung tragen, die unser körperliches Erleben erkunden und verändern, womit sie zugleich auch unseren Geist beeinflussen. Diese Praktiken lassen sich nach ihren Voraussetzungen, Wirkungen und Ideologien analysieren, denn viele somatische Disziplinen haben nicht nur praktische Übungen, sondern auch einen theoretischen Rahmen entwickelt. Es gibt noch eine radikalere pragmatische Möglichkeit. Wenn wir die somatische Erfahrung als unverzichtbare und unschätzbare Dimension der Erfahrung anerkennen und, wie die Griechen und die Vertreter der Postmoderne, in der Philosophie letztlich ein in Vernunft gründendes Herangehen an das Problem der Lebenspraxis erblicken5, dann können wir auch die somatische Forschung – einschließlich der konkreten Erprobung und Verbesserung des eigenen Erlebens durch körperliche Übungen – als wesentlichen Bestandteil des philosophischen Lebens begreifen. Durch seine Studien über Sokrates und Diogenes (wie auch durch seine eigenen Experimente mit den somatischen Extremen des Drogenkonsums und eines sadomasochistischen Sex) erkannte Foucault, dass Philosophie nicht nur eine Sache von Texten, sondern eine körperliche Lebenspraxis sein kann: „Der bios philosophicus ist die Animalität des Menschseins, als Herausforderung erneuert, als Übung praktiziert – und dem anderen als Skandal entgegengeschleudert.“6 Der Skandal liegt, so denke ich, nicht in der Somatik als solcher, sondern in den von Foucault gewählten Methoden und seiner Vorliebe für avantgardistischen Extremismus. Denn eine Reihe von Somatikern sind durchaus der Meinung, dass sie einen theoretischen Rahmen und praktische Methoden für ein gar nicht skandalöses, gesundes Leben der leiblichen Erforschung der menschlichen Erfahrung sowie der Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung anbieten. Natürlich erscheint jeder auf den Körper erweiterte philosophische Blick als skandalös, weil er den Idealismus vor den Kopf stößt, der in der Philosophie immer noch allgegenwärtig ist und sich zum Beispiel in der Entschlossenheit der sprachphilosophischen Wende zeigt, alles aus der philosophischen Forschung auszuschließen, was unterhalb der Sprache oder des Logos liegt. Eines der wichtigsten Ziele dieses Kapitels liegt gerade darin, diesen Skandal zu entschärfen und die Philosophie für die Vielfalt somatischer Ansätze zu öffnen, indem ich diese Disziplinen einer philosophischen Analyse und Strukturierung unterziehe. Das erstaunliche Wachstum der Somatik ist eine historische Erscheinung. Wollen wir ihre Bedeutung verstehen, müssen wir zunächst die geschichtlichen Gründe für ihre Entstehung begreifen. Zwar liegt deren Erforschung weit außerhalb der Möglichkeiten 5

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Zu einer Diskussion dieser Frage vgl. Richard Shusterman, Kunst Leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, Frankfurt/M. 1994, Kap. 5: Postmoderne Ethik und Lebenskunst. Das Zitat stammt aus einer der letzten Vorlesungen Michel Foucaults (über den Kyniker Diogenes); zitiert nach James Miller, The Passion of Michel Foucault, New York 1993, S. 363.

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einer kurzen Untersuchung wie der vorliegenden, doch es sei zumindest auf zwei methodologische Punkte verwiesen, die jeder Untersuchung dieser Art vorangehen und sie anleiten sollten. Zunächst einmal ist der Boom der Somatik als komplexes gesellschaftliches Phänomen kausal überdeterminiert. Es gibt viele verschiedene (und zum Teil einander widersprechende) Gründe für die Wiederauferstehung des Körpers als Objekt vielfältiger und hingebungsvoller Aufmerksamkeit in der heutigen Kultur. So kann man die Ursachen in gesellschaftlichem Konformismus sehen (in dem Wunsch, bestimmten sozial vorgegebenen und von der Werbung propagierten Körperformen zu entsprechen), aber auch in einem verstärkten Individualismus. Man kann darin ein Geschenk der durch die Technik ermöglichten Freiheit erblicken, aber auch eine Reaktion auf unsere Versklavung durch die Technik und die daraus resultierende Angst vor der Verkümmerung unseres Körpers. Der Verlust an religiösem Empfinden ist ohne Zweifel eine wichtige Ursache für den Körperboom, aber ein verstärktes religiöses Interesse ist gleichfalls mitverantwortlich für die Faszination, die somatische Praktiken, insbesondere in ihren fernöstlichen Ausprägungen, auf das „New Age“ ausüben. Zum zweiten ist die Vielzahl der Ursachen teilweise Ausdruck der Vielfalt der Phänomene, die unter die Kategorie „Körperpraktiken“ fallen. Es handelt sich in der Tat um ein sehr buntes Gemisch, das von meditativem Atmen bis hin zu Brustchirurgie, Schlankheitskuren und Bräunung reicht, von der entfesselten Raserei des Hochleistungsaerobic und der gewaltigen Kraftentfaltung des Gewichthebens bis hin zu den stillen, sanften Bewegungen der Alexander-Technik. Eine solche Vielfalt der Praktiken nimmt dem Gedanken an eine einzige Ursache oder einen gemeinsamen Ursachenkomplex jede Plausibilität; zugleich ist es aber auch unsinnig, von somatischen Praktiken global zu behaupten, sie seien rational oder irrational, befreiend oder versklavend, gut oder schlecht. Das Generalisieren mag zwar zu den Aufgaben des Philosophen gehören, doch in unserem Falle ist es nötig, sehr viel spezifischere Generalisierungen einzuführen. Wir müssen daher einige Unterscheidungen treffen, die das Feld der Somatik strukturieren.

2. Somatische Praktiken lassen sich erstens danach klassifizieren, ob sie eher holistisch oder eher partikular ansetzen. Zahlreiche Praktiken beschränken sich auf bestimmte Teile des Körpers – etwa Frisieren und Nägellackieren, Schönheitsoperationen und Brust- oder Bizepsvergrößerungen. Auch wenn wir uns einer Ganzkörperbräunung unterziehen, behandeln wir doch nur unsere Haut oder die Oberfläche des Körpers. Im Gegensatz dazu sind einige Praktiken emphatisch am ganzen Körper, ja, an der ganzen Person als integraler Einheit ausgerichtet. So sehen etwa Hatha Yoga, T’ai chi ch’uan und die Feldenkrais-Methode eine Reihe körperlicher Positionierungen vor, um das harmonische Funktionieren und die Energie des Körpers als harmonischer Einheit zu befördern. Indem sie unter die Haut gehen und nicht an unseren sichtbaren Muskeln halt machen, werden wir in die Lage versetzt, unseren Körper besser zu bewegen. Wichtiger noch: Diese körperliche Harmonie wird als elementar für eine erhöhte geistige Auf-

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merksamkeit und psychische Balance angesehen, da die Abtrennung des Körpers vom Geist zurückgewiesen und die aufgeklärte Verbesserung der gesamten Person angestrebt wird. Die Namen der beiden markenrechtlich geschützten Feldenkrais-Praktiken – „Awareness Through Movement“ und „Functional Integration“ – stellen einen klaren Ausdruck dieser Perfektionierung des Holismus von Körper und Geist durch ein angeleitetes Training unseres sensomotorischen Kreislaufs dar.7 Somatische Praktiken unterscheiden sich zudem darin, ob sie primär auf das praktizierende Individuum selbst oder auf andere ausgerichtet sind. Ein Masseur oder eine Chirurgin beschäftigen sich meistens mit anderen, T’ai chi ch’uan oder Ausdauertraining zielen eher auf den eigenen Körper. Diese Unterscheidung ist natürlich nicht als zu rigide aufzufassen, da viele Praktiken beide Dimensionen umfassen. Wie man Make-up am eigenen und an einem fremden Körper auftragen kann, so zielen auch die meisten sexuellen Praktiken nicht nur auf die eigene Lust, sondern auch auf die des anderen. Zudem scheint sogar die Arbeit am eigenen Körper oft dem Verlangen zu entspringen, anderen zu gefallen, und Praktiken, bei denen (wie in der Massage) der Körper der anderen im Mittelpunkt steht, können auch einem selbst Freude bereiten. Trotz dieser Unschärfe (die auch der wechselseitigen – sogar begrifflichen – Abhängigkeit von Selbst und Anderem geschuldet ist) kann die Unterscheidung zwischen einer auf das Selbst und einer auf andere gerichteten Somatik zumindest zur Zerstreuung des Vorurteils beitragen, die Beschäftigung mit dem eigenen Körper führe notwendig zu einem egoistischen Rückzug aus der Gesellschaft. Im letzten Kapitel hatte ich die Disziplin der Somästhetik vorgeschlagen und dabei eine weitere zentrale Unterscheidung eingeführt, diejenige zwischen solchen somatischen Praktiken, die sich auf die äußere Erscheinung des Körpers, auf seine wahrnehmbare äußere Form konzentrieren, und solchen, bei denen im Vordergrund steht, wie der Körper von innen her empfunden wird, also die Qualität des leiblichen Erlebens. Erstere können wir unter dem Begriff einer „Somatik der Darstellung“ zusammenfassen (Beispiele sind Kosmetik, plastische Chirurgie und Bodybuilding), letztere unter dem Begriff einer „Somatik des Erlebens“ (Beispiele dafür sind Yoga und andere Disziplinen der Übung des Körperbewusstseins). Mit dieser Unterscheidung möchte ich keine strenge Dichotomie zwischen Darstellung und Erleben oder Außen und Innen unterstellen. Zunächst einmal wissen wir, dass Selbstdarstellung und Erleben aufgrund der sozialen Konstruktion des Selbst eng miteinander verknüpft sind, und wie die Hegelsche und postmoderne Logik der Komplementarität demonstriert, konstitutieren und erhalten Innen und Außen sich wechselseitig. Zum zweiten ist bereits auf einem weniger abstrakten Argumentationsniveau klar: Wie man sich fühlt, hat Einfluss darauf, wie man aussieht; und umgekehrt gilt: Wie man aussieht, hat Einfluss darauf, wie man sich fühlt (die Werbung für Bekleidung und 7

Feldenkrais betont, dass die Aufmerksamkeit durch Bewegung verbessert werden kann, und unterscheidet sich darin von asiatischen Praktiken wie Yoga oder Zazen, die eher statischen Charakters sind (im Gegensatz zum ebenfalls bewegungsorientierten T’ai chi ch’uan). Man könnte jedoch die These vertreten, dass Bewegung – insbesondere die richtig kontrollierte Bewegung des Atmens – für die Ruhe der meditativen Disziplinen von zentraler Bedeutung ist. Insofern haben alle Körperdisziplinen mit Bewegung zu tun.

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Hautcremes wird nicht müde, uns dies nachdrücklich vor Augen zu führen). Außerdem lösen gewisse Praktiken, die primär zu Darstellungszwecken ausgeführt werden (Aerobic, Schlankheitskuren, Bodybuilding) Gefühle aus, die man um ihrer selbst willen schätzen oder suchen kann (wodurch dann aus einer Schlankheitskur eine Anorexie werden mag). Und schließlich setzen auch Praktiken, die auf das innere Erleben zielen, häufig Darstellungsmittel ein (zum Beispiel das eigene Bild im Spiegel), die es ermöglichen sollen, die für das erwünschte Erleben nötige Körperhaltung einzunehmen, während umgekehrt Darstellungspraktiken ein verbessertes Körperbewusstsein anstreben mögen, um ihre Ziele zu erreichen. Der Bodybuilder etwa muss die Unterscheidung zwischen der schmerzenden Anstrengung, die zum Muskelaufbau gehört, und anderen Schmerzen, die auf Verletzungen hinweisen, aus eigener leiblicher Erfahrung kennen. Trotz dieser Komplexität und der zahlreichen Grenzfälle ist die – auch im vorangehenden Kapitel getroffene – Unterscheidung zwischen darstellungs- und erlebnisbezogener Somästhetik, zwischen Praktiken, die primär auf unsere äußere Form abzielen, und solchen, die sich darauf richten, dass wir uns im schon bemerkten doppelten Sinne eines befriedigenderen Erlebens und einer geschärften Wahrnehmung „besser fühlen“. Ein Grund für die Unterscheidung zwischen darstellungs- und erlebnisbezogenen Praktiken liegt in der Möglichkeit, dadurch den massivsten Argumenten der an der Somatik geübten Kulturkritik zu entgehen, die sich sämtlich auf die Somatik der Darstellung konzentrieren. Weil die Somatik des Erlebens eine wachsende und viel versprechende Kraft darstellt und bisher vergleichsweise wenig behandelt worden ist, werde ich mich im Folgenden darauf konzentrieren, die philosophische Bedeutung einiger ihrer Praktiken und die zugehörigen Theorien zu untersuchen. Einen wesentlichen Aspekt der Untersuchung – wesentlich für die Frage der Philosophie und der Moderne – bildet die Einstellung gegenüber dem Rationalismus. Um diesen Aspekt zu erfassen, werde ich drei der in Nordamerika populärsten und erfolgreichsten Formen erlebnisbezogener Somästhetik diskutieren, die ihre praktischen Methoden auch theoretisch begründen: die Alexander-Technik, die Bioenergetik und die Feldenkrais-Methode. Diese drei unterschiedlichen Ansätze nehmen nicht nur unterschiedliche Positionen auf der Rationalismusskala ein, sie interpretieren die in letzter Zeit zu erkennende Zunahme des Interesses am Körper auch auf unterschiedliche Weise. Bevor wir die drei somatischen Schulen behandeln, wollen wir daher kurz auf einige Gründe eingehen, die für das Wachstum der erlebnisbezogenen Somatik in der westlichen Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts verantwortlich waren, und dabei auch die von den Somatikern selbst genannten Ursachen einbeziehen.

3. Es dürfte hilfreich sein, diese Ursachen um drei allgemeine Fragen der heutigen Kultur zu gruppieren: das Problem der personalen Identität, die Herausforderung an die traditionelle geistige Autorität und das Bedürfnis nach einem neuen Verhältnis zur Natur (einschließlich der menschlichen Natur) als Folge der raschen Modernisierung und des

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technischen Wandels. Alle drei Fragen weisen deutliche Berührungspunkte mit dem Thema des letzten Kapitels auf: der Neubewertung des Körpers als primärem Medium des Strebens nach Selbstverwirklichung in einer zunehmend komplexen und sich ständig verändernden Welt. 1. Die somatische Wende könnte Ausdruck des Bedürfnisses sein, in einer durch raschen Wandel geprägten, zunehmend verwirrenden Welt einen stabilen persönlichen Halt zu finden und zu pflegen. In der postmodernen Lebenswelt mit ihrem interkontinentalen und multikulturellen Austausch sind die Umwelten und Sprachspiele, die unsere Identität bestimmen, zu vielfältig und veränderlich, als dass sie uns ein stabiles IchGefühl bieten könnten. Auch das Netz unserer Beziehungen zu anderen erscheint zu zerbrechlich und fragmentiert, als dass es eine stabile Identität zu vermitteln vermöchte. Unser Körper jedoch ist in diesem verwirrenden postmodernen Strom stets bei uns. Der Körper als ständiger Begleiter bietet eine Grundlage für personale Identität und bedarf der Pflege, damit er diese Aufgabe erfüllen kann. Angesichts dieser Funktion der Grundlegung des Selbst kann es nicht überraschen, wenn es zu den zentralen Zielen und Metaphern der erlebnisbezogenen Somatik (und insbesondere der Bioenergetik) gehört, den Körper zu erden, ihm das Gefühl eines festen und stabilen Halts auf dem Erdboden zu geben, damit er in ähnlicher Weise der Persönlichkeit Halt zu bieten vermag.8 Ein weiterer Aspekt unseres postmodernen Identitätsproblems ist der Verlust des Glaubens an die Einheit des Subjekts, da Einheit und Verlässlichkeit des Bewusstseins in unserer Zeit zunehmend in Frage gestellt werden. Während wir uns früher mit unserem Bewusstsein identifizieren und uns auf die klare Innenschau unseres Verstandes verlassen konnten, ist solch ein Vertrauen seit Freud nicht mehr möglich. Und da das bewusste Denken seine einzigartige Autorität über das Selbst verloren hat und seinerseits von Kräften geprägt wird, die unterhalb des Bewusstseins liegen und zu einem Gutteil somatischer Natur sind, wird der Körper wieder zum Ort der Selbstdefinition, über den sich sogar das Bewusstsein umformen lässt. Moshe Feldenkrais spricht ein ganz anderes Problem der Identität an, die Frage nämlich, wie sich die eigene Individualität angesichts eines intensiven gesellschaftlichen Konformitätsdrucks aufrechterhalten lässt. Obwohl unsere liberale Kultur ausgesprochen individualistisch und privatistisch erscheinen mag, so argumentiert Feldenkrais (in seltsamer Übereinstimmung mit Foucault), neutralisiert sie in Wirklichkeit das Private und Individuelle über einen allgegenwärtigen Normalisierungsapparat, der selbst den „persönlichen“ Geschmack und die Werte prägt. Diese „Erziehung“, schreibt Feldenkrais, unterdrückt „durch Strafen und Entzug ihrer Unterstützung […] jede Neigung, die nicht ‚zur Regel‘ gehört, und versieht gleichzeitig den einzelnen mit Wertungen, die ihn zwingen werden, spontane Bedürfnisse und Wünsche zu überwinden und von sich 8

Vgl. Alexander Lowen, Bioenergetics, New York 1975, S. 196 f. Lowen erklärt dort, die Erdung sei in bewegten Zeiten besonders wichtig für die Stabilisierung des Individuums, sie biete „ein Überdruckventil für die Entladung überschüssiger Erregung […]. In der menschlichen Persönlichkeit könnte der Aufbau von Erregung gefährlich sein, wenn der Betreffende keinen Grund unter seinen Füßen spürt. Das Individuum könnte sich spalten, hysterisch werden, Angst empfinden oder zusammenbrechen […]. Deshalb ist die Erdung ein zentrales Ziel der bioenergetischen Arbeit.“

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zu tun. Infolgedessen leben die meisten erwachsenen Menschen hinter einer Maske“, hinter einer gesellschaftlichen Maske, die dem Glück im Wege steht, weil sie „das individuelle organische Leben und die Befriedigung, die starke organische Impulse fördern“, nicht berücksichtigt. Obwohl diese Sozialisation unser persönliches somatisches Leben beschränkt, ist unser Körper immer noch eine potentielle Quelle individueller Befriedigung. Die Hinwendung zur Somatik lässt sich daher als eine notwendige Abwehrreaktion gegen den Trend zu einer Gesellschaft erklären und rechtfertigen, „die so uniform als möglich ist“9. 2. Im wachsenden Interesse am Körper spiegelt sich auch der Zusammenbruch der religiösen Autorität des Christentums, das den Körper so viele Jahrhunderte lang als Feind der göttlichen, unsterblichen Seele und damit als Bedrohung für wahres Glück verteufelt hat. Die Säkularisierung unserer Kultur ermutigt dazu, unser Selbst und unser Glück weltlicher und körperlicher zu denken; deshalb erlangt die Sorge um den Körper zentrale Bedeutung für die Sorge um das Selbst und wird mit nahezu religiöser Inbrunst praktiziert. Das neuere Denken hat auch eine geistige Autorität in Frage gestellt, die nicht mit der metaphysischen Religion identisch ist – die Vernunft. Einst als autonomes, ahistorisches, die Wahrheit gewährleistendes Prinzip verehrt, das uns als menschliche Wesen definiert und als Kriterium für den Wert des Menschen dient, gilt die Vernunft nun zunehmend als etwas historisch Wandelbares, das zutiefst durch gesellschaftliche und materielle Bedingungen determiniert ist. Sie gilt nun nicht mehr als gottgegebener, transzendentaler Enthüller ewiger Wahrheiten, sondern in pragmatischer Manier als evolutionäres Werkzeug physischen Überlebens, das weniger im Dienste der Wahrheit steht als im Dienste der Anpassung an veränderte materielle Bedingungen und das sich in gewissem Sinne selbst an diese Veränderungen anzupassen hat. In Anlehnung an die Humesche Auffassung, wonach die Vernunft die Sklavin der Leidenschaften ist, sagt der Somatiker Stanley Keleman, „das Gehirn ist der Diener des Körpers, nicht umgekehrt“10. Und wenn es der letzte Zweck von Vernunft und Wahrheit ist, unsere physische Existenz zu sichern, weshalb sollten wir uns diesem Ziel nicht unmittelbar zuwenden und direkt am Körper arbeiten? Die Verschiebung von einer Idealisierung der Wahrheit um ihrer selbst willen zu deren Einschätzung als Werkzeug für eine verbesserte Erfahrung zeigt, welch eine ausgeprägte Wende zum Ästhetischen unsere Kultur und sogar unsere akademische Philosophie erfahren haben.11 Zwar war der Hedonismus schon immer präsent, doch in der säkularisierten Postmoderne ist er zu einer herrschenden Ideologie geworden, in der „Spaß zu haben“ zu den höchsten Pflichten zu zählen scheint. Da der Körper nicht nur eine reiche Quelle von Lust ist, sondern zugleich auch das Medium, das die Voraussetzung jeglichen affektiven Erlebens bildet, liegt auf der Hand, dass die somatische Wende Teil der ästhetischen Wende unserer Kultur ist. Denn sie sucht das Körperbewusstsein und die Körperfunktionen zu verbessern, um das körperliche Erleben lustvoller zu 9 10 11

Vgl. Moshe Feldenkrais, Der aufrechte Gang, Frankfurt/M. 1968, S. 24–27. Stanley Keleman, Your Body Speaks Its Mind, Berkeley 1981, S. 119. Vgl. dazu Richard Shusterman, Postmodernism and the Aesthetic Turn, in: Poetics Today, 10 (1989), S. 605–622.

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machen. Wie F. M. Alexander ausführt, können ein geschärftes somatisches Bewusstsein und die „Lust, die […] ganz normale und nützliche Alltagsbeschäftigungen bieten“, genügend Befriedigung bereiten, um uns von „maßlosen und schädlichen Wünschen nach bestimmten Attraktionen und Stimulationen“ wie auch von dem problematischen Streben nach Lust um ihrer selbst willen zu befreien.12 3. Unter dem Einfluss des Evolutionsgedanken sehen viele Somatiker in der gegenwärtigen Zunahme des Interesses an Körperpraktiken eine Reaktion auf eine Evolutionskrise, das Bedürfnis, unser Verhältnis zu uns selbst wie auch zu unserer Umwelt neu zu gestalten. Diese Auffassung bildet die Motivationsgrundlage der Theorie von Alexander: „Der Mensch ist kein Tier mehr“, das sich auf seine natürlichen Instinkte verlassen könnte. Der rasche Wandel der modernen Zivilisation hat alte instinktgesteuerte Körpergewohnheiten unzuverlässig und unangemessen werden lassen und dadurch ein Gefühl physischer Unzulänglichkeit erzeugt, dem man mit Übungen zur „physischen Kultur“ zu begegnen versucht. Alexander meint jedoch, das somatische Rezept für eine erfolgreiche Anpassung könne nicht in bloßem körperlichem Training bestehen, sondern erfordere in erster Linie die „mentale“ Beherrschung bewusster Körperkontrolle, da nur sie die fortwährende Flexibilität zur Anpassung somatischer Funktionen an den raschen Wandel und die wachsende Komplexität der Umwelt gewährleisten könne. Da wir den unbewussten (und unbewusst entwickelten) Körpermechanismen, die wir über Jahrmillionen evolutionärer Anpassung erworben haben, nicht trauen können, müssen wir das Evolutionsgeschenk, das unser Bewusstsein darstellt, nutzen, um unser körperliches Verhalten zu reformieren und zu lenken, wobei wir es in derselben Richtung fortentwickeln sollten, die auch die Evolution der Zivilisation nimmt – in Richtung größerer Bewusstheit, Rationalität und Kontrolle.13 Wie Alexander, so erkennen auch die Bioenergetiker Lowen und Keleman, dass der rasche Wandel der fortgeschrittenen technologischen Gesellschaft eine Krise unseres Körpers ausgelöst hat, die eine erhöhte somatische Aufmerksamkeit verlangt. Doch sie sehen darin keine Aufforderung, durch fortgeschrittene Techniken somatischer Kontrolle die Flucht aus der Natur anzutreten, vielmehr erblicken sie die Erklärung für das verstärkte Interesse am Körper in der Sehnsucht, zu den alten, geliebten Rhythmen des natürlichen Lebens zurückzukehren, die aufgrund unseres evolutionären Erbes immer noch tief in unserer Psyche verwurzelt sind, von unserer rationalisierten technologischen Kultur jedoch frustriert und verbogen werden. Die verstärkte Sorge um den Körper ist daher erforderlich als Ausgleich für diese „lebensfeindliche Kultur“, die „nicht auf die Werte und Rhythmen des lebendigen Körpers abgestimmt ist, sondern auf Ma-

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F. M. Alexander, Constructive Conscious Control of the Individual, New York 1924, S. 307. F. M. Alexander, Man’s Supreme Inheritance, New York 1918, S. 311 und S. 5–39; siehe auch Der Gebrauch des Selbst, München 1993, S. 37, wo er von der Erkenntnis berichtet, dass „in unserem gegenwärtigen Zustand der Zivilisation, die eine dauernde und rasche Anpassung an eine schnell wechselnde Umgebung verlangt, die unüberlegte, instinktive Steuerung des Gebrauchs, die den Ansprüchen des Hundes oder der Katze genügt, für die Ansprüche des Menschen nicht mehr ausreicht“.

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schinen und materielle Produktion“.14 Für Lowen ist diese Reaktion Ausdruck eines allgemeinen Gesetzes: „Im selben Maße, wie die Kultur sich von der Natur und dem Leben des Körpers entfernt, wächst auch das Bedürfnis nach speziellen Aktivitäten, die den Körper fordern und mobilisieren.“15 Thomas Hanna, der seine Universitätskarriere als Philosoph aufgab und Somatiker wurde, nennt als weiteren Grund für den Boom des Körpers die technische Revolution. Danach handelt es sich weder um einen Evolutionsschub noch um eine kompensatorische Vereinigung mit der beständigen Gegenwart unserer evolutionären Vergangenheit, sondern schlicht um ein Mittel, mit der Last der verlängerten Freizeit auf angenehme Weise fertig zu werden. Hanna, der 1970 schreibt (also noch unter dem Eindruck der 1960er Jahre und vor der Energiekrise von 1973 wie auch vor den Hunger- und Umweltkatastrophen der jüngeren Zeit), behauptet vehement, die postindustrielle Gesellschaft habe eine neue technologische Umwelt geschaffen, die dem Menschen so viel Unterstützung zukommen lasse, dass es nicht mehr erforderlich sei, das Denken voranzubringen (das man dem Computer überlassen könne) oder den Stress des modernen Lebens zu lindern (der sich gleichfalls durch technische Mittel beseitigen lasse). Daraus folge, „dass die einzige verantwortliche Anpassung an die herrschende Realität einer technologischen Umwelt die Kultivierung lustvollen Erlebens [der eigenen somatischen Antriebe] und das Erlernen eines lustvollen Verhaltens“ sei. „Wir wissen nicht, was wir [sonst noch] tun sollten, weil in dieser Umwelt wenig zu tun bleibt.“16 Aus der Sicht unserer geplagten Zeit ist es leicht, sich über Hannas fröhlichen Optimismus und seinen müßiggängerischen Ästhetizismus lustig zu machen. Dennoch ist auch etwas Wahres an dem Gedanken, dass das verstärkte Interesse unserer Kultur am Körper etwas mit der Verlängerung unserer Freizeit zu tun hat. Gewiss haben arbeitssparende Technologien dazu beigetragen, aber dasselbe gilt wahrscheinlich auch für die privatistische Ideologie des Liberalismus und für das verringerte Engagement, das die „Umwelt“ des sozialen und politischen Lebens von uns fordert. Auch die ständig nach neuen und größeren Profiten strebende Werbung für Produkte der Körperpflege hat das Interesse an der somatischen Selbstsorge weiter gesteigert. Die vielleicht wichtigste Ursache für den gegenwärtigen Körperboom wird von den hier diskutierten Therapeuten und Denkern der Somatik jedoch nicht behandelt, da sie erst kürzlich virulent geworden ist. Ich beziehe mich auf das Aufkommen diverser Technologien zur umfassenden Veränderung des körperlichen Aussehens und Funktionierens – von bisher unbekannten chirurgischen Eingriffen und neuartigen Prothesen zu künstlicher Befruchtung, genetischem Engineering und zur Robotik –, die unser gewohntes Verständnis der Natur und der Grenzen des menschlichen Körpers in eine tiefe Krise stürzen. Diese Art der radikalen somatischen Transformation – die durch USamerikanische Fernsehshows wie Extreme Makeover schon erstaunlich breitenwirksam 14 15 16

A. Lowen, Bioenergetics, S. 50, 71. Ebd., S. 70. Thomas Hanna, Bodies in Revolt, New York 1970, S. 7, 9, 212, 216, 297. Hannas spätere Arbeiten sind nüchterner und zeigen im Wesentlichen eine Entwicklung hin zur Theorie und Praxis von Feldenkrais.

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geworden ist – verleiht Fragen der körperlichen Identität und der somatischen Selbstverwirklichung eine neue praktische Dringlichkeit.17

4. Nachdem wir die allgemeine Bedeutung der Hinwendung zum Somatischen skizziert haben, können wir uns auf die primäre Frage konzentrieren, welche Bedeutung dies alles für die Philosophie hat. Ist es möglich, die neuen somatischen Praktiken in eine wieder belebte leiborientierte Philosophie zu integrieren? Lassen wir die traditionelle Verachtung der Philosophie für den Körper einmal beiseite und halten uns an die zentralen Zielsetzungen der Erkenntnis, der Selbsterkenntnis und des richtigen Handelns, dann spricht auf den ersten Blick einiges dafür, dass die Somatik des Erlebens für die Philosophie von Bedeutung ist. 1. Da Erkenntnis weitgehend von den Sinneseindrücken abhängt, deren Verlässlichkeit jedoch in Frage steht, hat die Philosophie sich stets mit einer Kritik und Umerziehung der Sinne befasst, indem sie deren Grenzen aufzeigte und den Gefahren der Irreführung durch eine rationale Analyse begegnete. Genau darum geht es auch der erlebnisbezogenen Somästhetik. Sie versucht, die Schärfe und Leistungsfähigkeit unserer Sinne zu erhöhen, indem sie die Aufmerksamkeit für deren körperliches Funktionieren und Erleben kultiviert und indem sie uns von körperlichen Gewohnheiten oder Defekten befreit, die die Leistungsfähigkeit unserer Sinne beeinträchtigen. Das Auge ist ein biologisches Wunder, und das Geschenk der Wahrnehmung auch über weite Distanzen hat der Philosophie lange als Metapher des Wissens und der Weisheit gedient. Unsere Augen würden uns aber nur wenige Informationen über unsere Umwelt liefern können, wären wir nicht in der Lage, unseren Kopf zu heben und zu drehen. Wenn wir aufgrund eines steifen Nackens (der meist auf schlechte Körpergewohnheiten zurückzuführen ist) nicht dazu fähig sind, unseren Kopf zu drehen und hinter uns zu schauen, werden wir weniger (auch weniger verlässlich) wahrnehmen. Auch wenn unsere Handmuskulatur zu angespannt ist, können wir keine feinen Unterschiede ertasten. Eine zentrale epistemologische Prämisse der erlebnisbezogenen Somästhetik besagt, dass selbst scheinbar normale, gesunde Menschen aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit für den Körper und aufgrund eines falschen Gebrauchs ihrer Sinne unter Fehlwahrnehmungen leiden (Alexander spricht hier von einer „unzuverlässigen Sinneseinschätzung“18). Doch so unzuverlässig die Sinne auch sein mögen, es ist unmöglich, sie zu umgehen und die Welt allein durch Vernunftgebrauch zu erkennen. Die übliche Antwort darauf ist der Einsatz der Vernunft zur Korrektur der Sinneseindrücke. Interessant an somatischen Ansätzen wie dem von Alexander ist nun, dass diese Korrektur nicht über eine nachträgliche, kritisch-diskursive Prüfung der aus den Sinnesdaten gewonne17

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Vgl. für eine weiterführende Diskussion: Jerrold J. Abrams, Pragmatism, Artificial Intelligence and Posthuman Bioethics: Shusterman, Rorty, Foucault, in: Human Studies, 27 (2004), S. 241– 258. F. M. Alexander, Constructive Conscious Control of the Individual, S. 36.

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nen Aussagen erfolgt, wie es in der traditionellen Epistemologie geschieht. Vielmehr setzt die Korrektur bei den aktuellen funktionalen Leistungen unserer Sinne an und versucht, unseren Körper einer rationaleren und bewussteren Lenkung zu unterwerfen, denn die Sinne gehören zu unserem Körper, bewegen sich mit ihm und hängen von ihm ab, sie bilden mit ihm zusammen ein „kinästhetisches System“, wie Alexander es ausdrückt.19 Die Bioenergetik arbeitet gleichfalls auf ein verbessertes sensorisches Erleben hin, allerdings ohne die Betonung rationaler Kontrolle, die wir bei Alexander finden. Sie führt die Fehlfunktionen der Sinne nicht auf interne Unzulänglichkeiten zurück, sondern auf diverse somatische Verfestigungen, Blockaden und Sensibilitätsdefekte, die aus unserer persönlichen und sozialen Erfahrung resultieren; durch Arbeit am Körper kann man diese Hindernisse aus dem Weg räumen, so dass sich auf natürliche Weise wieder eine präzise Wahrnehmung einstellt. 2. Für die Philosophie, die sich mit der Sokratischen Frage „Wie sollen wir leben?“ befasst, ist die Selbsterkenntnis ebenso wichtig wie die Erkenntnis der Welt. Und natürlich geht es auch der erlebnisbezogenen Somästhetik um Selbsterkenntnis. Sie erhöht nicht nur die Aufmerksamkeit für unser eigenes Empfinden und fördert damit die Einsicht in unsere wechselnden Stimmungen wie sie auch unsere dauerhaften Einstellungen, sondern sie zeigt auch Aspekte unseres somatischen Verhaltens auf, die normalerweise unbemerkt bleiben, obwohl sie unter Umständen unser Wohlbefinden und unsere Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Betrachten wir einige Beispiele. Wir schenken unserem Atem nur selten Beachtung, doch sein Rhythmus und seine Tiefe geben uns rasch und verlässlich Aufschluss über unseren emotionalen Zustand. Bewusstes Atmen kann uns daher auch bewusst machen, ob wir ärgerlich oder ängstlich sind, während diese Gefühle uns ansonsten unbewusst wären und uns leiten oder fehlleiten könnten. Ähnlich unbemerkt, weil längst habituell, kann auch die chronische Verspannung bestimmter Muskeln bleiben, die nicht nur unsere Bewegung beeinträchtigt, sondern auch zu Spannungen und Schmerzen führt. Solange diese chronischen Verspannungen unerkannt bleiben, können weder sie noch die daraus resultierenden Beeinträchtigungen und Unannehmlichkeiten behoben werden. Hebt man solche Körperfunktionen jedoch ins Bewusstsein, besteht die Möglichkeit, sie zu verändern und ihre unangenehmen Folgen auszuschalten. Tatsächlich war das Streben nach Selbsterkenntnis der eigentliche Auslöser für Alexanders somatische Forschung. Als Schauspieler, dem immer wieder die Stimme versagte, wenn er rezitierte, obwohl sich an seinem Stimmapparat keine anatomischen Defekte feststellen ließen, entdeckte er schließlich, welche Verhaltensfehler für seine Stimmprobleme verantwortlich waren. Als er sich im Spiegel betrachtete, erkannte er, dass er beim Rezitieren den Kopf nach hinten warf, die Luftröhre einzwängte und durch den Mund atmete. Nach mehrmonatigem Experimentieren gelang es ihm endlich, seine Kopfbewegungen (durch eine detaillierte Strategie bewusster Konzentration) zu kontrollieren und alle unerwünschten Effekte auszuschalten, so dass seine Stimmprobleme für immer verschwanden. Damit hatte Alexander den Schlüssel zu seinem System bewusster konstruktiver Kontrolle gefunden. 19

F. M. Alexander, Man’s Supreme Inheritance, S. 22.

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3. Ein drittes zentrales Ziel der Philosophie ist das richtige Handeln, für das Erkenntnis und Selbsterkenntnis erforderlich sind, aber auch Willenskraft. Da wir als physische Wesen nur auf dem Wege über unseren Körper handeln, hängt unsere Willenskraft – die Fähigkeit, so zu handeln, wie wir es wollen – von der somatischen Wirksamkeit ab.20 Auch auf diesem Gebiet sollte daher die erlebnisbezogene Somästhetik einiges zu bieten haben. Denn durch die Erforschung und Verfeinerung unserer Körpererfahrung können wir ein praktisches Verständnis der aktuellen Mechanismen wirkungsvollen Wollens und damit auch eine bessere Beherrschung des Willens erlangen, so dass wir ihn erfolgreicher bei der Verwirklichung richtigen Handelns einzusetzen vermögen. Das richtige Handeln zu erkennen oder zu wünschen reicht nicht aus, wenn wir unseren Körper nicht dazu bringen können, es auch zu vollbringen; und unsere erstaunliche Unfähigkeit, selbst die einfachsten körperlichen Aufgaben zu erfüllen, wird nur noch von unserer erstaunlichen Blindheit hinsichtlich dieses Unvermögens übertroffen, das aus einem Mangel an Körperbewusstsein und aus unzulänglichen kinästhetischen Gewohnheiten resultiert. Auch dafür bietet Alexanders persönliche Geschichte ein gutes Beispiel. In einer frühen Phase seiner Selbsterforschung und Behandlung, während er sich willentlich bemühte, den Kopf gerade zu halten, und auch das Gefühl hatte, darin Erfolg zu haben, blieben seine Stimmprobleme dennoch unverändert, und eine genaue Beobachtung im Spiegel zeigte, dass er seinen Kopf in Wirklichkeit immer noch zurückwarf. Ähnliches passiert dem Golfspieler, der sich bemüht, den Blick auf den Ball gerichtet zu halten, und auch davon überzeugt ist, dass er dies tut, obwohl ihm dies in Wirklichkeit elendig misslingt. Unser bewusstes Wollen ist so ohnmächtig, weil tief verwurzelte somatische Gewohnheiten es durchkreuzen, und wir bemerken dieses Scheitern nicht einmal, weil unsere habitualisierte Sinneswahrnehmung so unzulänglich und verzerrt ist, dass wir das Gefühl haben, wir führten die Handlung tatsächlich so aus, wie wir es wollen.21 Daher, so führt Alexander aus, besteht ein realer Bedarf nach einer somatischen Arbeit, die unser Körperbewusstsein umerzieht und unsere körperlichen Mechanismen einer bewussteren Kontrolle unterwirft. Anderenfalls wird das richtige Handeln ein Sklave der körperlichen Gewohnheiten und ihres Mangels an Sensibilität bleiben. Der große US-amerikanische Philosoph John Dewey akzeptierte diese Argumentation und übernahm sie in seine Schriften, vor allem aber studierte er diese Technik hingebungsvoll und wurde zu einem begeisterten Anhänger der Alexander-Methode.22 20

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Manche Philosophen bestreiten sogar, dass Willensakte sich von jeglichem körperlichen Tun trennen lassen (womit natürlich nicht notwendig die gewollte körperliche Bewegung gemeint ist). Vgl. F. M. Alexander, Constructive Conscious Control of the Individual S. 208 f.: „Wenn der Organismus unvollkommen funktioniert, kann man nicht immer korrekt ausführen, was einem gesagt wird.“; Der Gebrauch des Selbst, S. 33: „Es ist ein landläufiger Glaube, anzunehmen, es genüge, gesagt zu bekommen, wie wir eine falsche Art, etwas zu tun, korrigieren müssen, um es richtig zu machen, und daß alles in Ordnung sei, sofern wir nur fühlen, daß wir es tun. Meine ganze Erfahrung läuft jedoch darauf hinaus, daß dieser Glaube eine Täuschung ist!“ Vgl. John Dewey, Erfahrung und Natur, Frankfurt/M. 1994. Dewey verbrachte mehr als zwanzig Jahre seines späteren Lebens in Alexanders Behandlung und schrieb Einleitungen zu dreien seiner

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4. Das Streben der Philosophie nach Wissen, Selbsterkenntnis und richtigem Handeln zielt im Ganzen ab auf ein gutes Leben. Aufmerksamkeit für den Körper als Ort und als Medium der Freude und des Handelns ist dabei ein integraler Bestandteil des Strebens nach Glück.23 Selbst Asketen, die ihre Körper auf der Suche nach einer höheren Form des Glücks züchtigen, räumen diesen dadurch einen zentralen Platz ein und erfahren eventuelle Befriedigung auf leibliche Weise. Gerade durch die Steigerung der somatischen Disziplin und ein durch somatisches Training ermöglichtes Aushalten der Schmerzen und Entbehrungen meinen Asketen eine Form des gegen alle Widrigkeiten immunen Glücks erreichen zu können. Die erlebnisbezogenen Methoden von Feldenkrais und Alexander fördern unser Wohlergehen durch erhöhte Körperkontrolle jedoch auf weit weniger schmerzhafte, aber ebenso disziplinierte Weise. Da Leben Bewegung ist, wird die Verbesserung der Qualität und des Erlebens der Bewegung Feldenkrais zufolge zugleich unser Leben verbessern. Und auch im Zentrum der Reichschen Somatik steht die Förderung des Glücks durch die Befreiung unterdrückter Freuden. Für Reich stellt der Verlust der organischen Fähigkeit, Lust zu empfinden, vor allem durch die Unterdrückung des Sexualtriebs, die Hauptquelle unserer Neurosen und die Ursache unseres Scheiterns bei der Verwirklichung eines Lebens in Lust und Liebe dar.24 Obwohl die erlebnisbezogene Somästhetik offenbar einige der zentralen Zielsetzungen der Philosophie teilt und voranbringt, folgt daraus nicht, dass sie der Philosophie als Disziplin einverleibt werden könnte. Selbst wenn wir in der Philosophie nicht bloß eine Abteilung technisch-theoretischer Fragestellungen erblicken, sondern eine Lebenspraxis, die auch das konkrete Streben nach dem guten Leben einschließt, stellt sich die Frage, ob die somatischen Disziplinen wirklich mit den Grundprinzipien und Methoden der Philosophie als Praxis vereinbar sind. Wenn Philosophie ihrem Wesen nach der Vernunft verpflichtet ist, dann hängt die Hoffnung auf die Integration somatischer Praktiken in eine revitalisierte Philosophie von dem Maß an Rationalität ab, das diese Praktiken verkörpern und entwickeln. Wie rational und rationalistisch sind die Disziplinen der erlebnisbezogenen Somästhetik? Keine der drei hier diskutierten Formen ist irrational, so meine ich, auch wenn sie sich hinsichtlich ihres Maßes an Rationalismus, verstanden als Privilegierung der Vernunft gegenüber allen sonstigen Faktoren, beträchtlich unterscheiden. Während Alexander den rationalistischen Pol repräsentiert, steht die Bioenergetik für die anti-rationalistische Position. Feldenkrais liegt irgendwo dazwischen, wenn auch etwas näher bei Alexander. Es ist hier nicht möglich, diese drei somatischen Schulen auch nur knapp zu skizzieren, und in jedem Falle schließen die Be-

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Bücher. Auch Aldous Huxley schätzte Alexander sehr und bezeichnete ihn als einen „überaus bedeutsamen, weil überaus praktischen Philosophen“. Vgl. die Titelseite von Man’s Supreme Inheritance. Eine gute Darstellung der Alexander Technik und der Beziehung Deweys zu Alexander, findet sich bei: F. Jones, Body Awareness in Action. A Study of the Alexander Technique, New York 1979. Vgl. mit Bezug auf Ludwig Wittgenstein: Richard Shusterman, Wittgensteins Somästhetik, in: Joachim Küpper/Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt/M. 2003, S. 67–93. Vgl. Wilhelm Reich, The Function of the Orgasm, New York 1973, S. 12, 256.

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schränkungen des Druckmediums eine angemessene Darstellung ihrer praktischen Anteile aus. Diese Beschränktheit des Mediums ist interessant, weil unsere geistige Kultur, die das gedruckte Wort privilegiert, die traditionellen Geringschätzung für somatische Praktiken noch verstärkt und auch weiterhin ein Hindernis für die Aufnahme des Somas in die philosophische Arbeit darstellt, ein Hindernis, das ich paradoxerweise noch verstärke, indem ich dieses Kapitel schreibe, das sich doch gerade dafür einsetzt, dieses Hindernis zu überwinden. Was sich in Worten schnell und einfach sagen lässt, kann Monate und Jahre der Praxis benötigen, um in unseren Körpern verwirklicht zu werden. Wie ich aus eigener Erfahrung als ehemaliger Anfänger in diesen Disziplinen weiß, erfordert ein wirkliches Verstehen der Somästhetik nicht weitere Worte, sondern das Handeln.

5. Die Alexander-Technik, die Bioenergetik und die Feldenkrais-Methode sind sämtlich stark dem Evolutionsgedanken verhaftet und in ihren Zielsetzungen zutiefst melioristisch. Tatsächlich ist ihnen ein Optimismus hinsichtlich der unbegrenzten Möglichkeiten menschlichen Fortschritts und menschlicher Vervollkommnung gemein, der so stark ist und so deutlich ausgesprochen wird, dass er dem postmodernen Intellektuellen fast verdächtig naiv erscheint. Alexander sieht in seiner Methode der bewussten somatischen Kontrolle ein notwendiges Mittel für die Fortsetzung der Evolution der Menschheit hin zu einer höheren, vollkommeneren Lebensweise. Der Fortschritt der Evolution verdankt sich dem menschlichen Bewusstsein, das uns über die bloß physische Existenz hinausgehoben und befähigt hat, uns zu verbessern und unseren Lebensbedingungen anzupassen. Doch da diese Lebensbedingungen heute zu komplex und zu veränderlich geworden sind, als dass wir sie noch mit ererbten Instinkten und fest gefügten Gewohnheiten meistern könnten, brauchen wir ein noch höheres Maß an Bewusstheit in der Lebensführung, und dies nicht nur in der Erfindung und Anwendung von Ideen und Werkzeugen, sondern auch bei der Prägung und Lenkung unseres körperlichen Selbst. Kurz gesagt, „die allumfassende Pflicht des Menschen in der gegenwärtigen Phase evolutionärer Unbeständigkeit ist die fortwährende individuelle Kultivierung einer fundamentalen, konstruktiven, bewussten Kontrolle des psychophysischen Organismus und seiner Möglichkeiten“.25 „Durch die Anwendung dieses Grundsatzes auf die bewusste Kontrolle“, so führt Alexander aus, „kann sich mit der Zeit eine vollständige Beherrschung des Körpers entwickeln, die zur Eliminierung aller physischen Defekte führt.“26 Dieser Grundsatz bewusster Kontrolle wird mit Vernunft gleichgesetzt. Alexander verwirft nicht nur die unbewusste Steuerung durch Gewohnheit und Instinkt, sondern auch die Steuerung durch bewusstes Wollen und Wünschen; stattdessen verlangt er einen „verstärkten Vernunftgebrauch“ und die Anwendung des „bewussten Gebrauchs 25 26

F. M. Alexander, Constructive Conscious Control of the Individual, S. 311. F. M. Alexander, Man’s Supreme Inheritance, S. 56.

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der menschlichen Vernunft“ zur Lenkung des leiblichen Selbst.27 Da die bewusste, vernunftgeleitete Kontrolle die fortgeschrittene Menschheit nicht nur von den Tieren, sondern auch von den Primitiven unterscheidet28, liegt das Ziel der Somästhetik nicht bloß in der Schaffung eines besseren Körpers, sondern darin, den Körper „in Einklang mit der Vernunft“ zu bringen.29 Selbst in der somatischen Therapie muss „die richtige mentale Einstellung der Ausführung des [körperlichen] Aktes vorausgehen“.30 Die bewusste, vernunftgeleitete Kontrolle arbeitet auf dreierlei Weise: als Hemmung, als Entdeckung von Mitteln und als disziplinierte methodische Konzentration auf die Mittel statt auf das unmittelbare Erreichen des Ziels. Für Alexander hat die Menschheit ihre Fortschritte nur aufgrund einer „vernunftgemäßen Hemmung“ gemacht, die es uns ermöglichte, unsere Instinkte und Handlungsgewohnheiten zu durchbrechen und damit unter unsere Kontrolle zu bringen, wodurch der Weg zu einer alternativen, bewussteren und vernünftigeren Kontrolle eröffnet wurde.31 Diese Hemmung ist auch das besondere Kennzeichen der therapeutischen Praxis von Alexander. Falls unser kinästhetisches System Defekte aufweist, wird man kaum etwas erreichen, wenn man lediglich versucht, den Körper nach den Anweisungen des Therapeuten zu bewegen, so detailliert diese Anweisungen auch sein mögen (zum Beispiel vom Stuhl aufzustehen, ohne die Schultern zusammenzuziehen und den Kopf zurückzulegen). Wahrscheinlich wird es uns nicht gelungen, diese Anweisungen korrekt auszuführen, und wahrscheinlich werden wir unseren Misserfolg nicht einmal bemerken, da unsere kinästhetische Wahrnehmung gestört ist. Auch kann der Lehrer uns kein besseres Gefühl für unsere Bewegung vermitteln, wenn wir weiterhin aufgrund von Gewohnheiten handeln und fühlen. Der Kreislauf von gewohnheitsmäßigem Handeln und Erleben muss daher gehemmt werden: „Die Hemmung muss als erstes erfolgen, sie ist und bleibt der primäre Faktor in jeder neuen Erfahrung und muss herbeigeführt werden im Zuge der Kultivierung und Entwicklung verlässlicher Sinneseinschätzungen, von denen ein befriedigender Standard der [psychophysischen] Koordination abhängt.“32 Nach dieser Hemmungsmethode sagt der Lehrer dem Schüler: „Wenn er eine Anweisung erhält, so darf er nicht versuchen, sie auszuführen; vielmehr muss er den Wunsch, dies zu tun, bei jeder Anweisung, die er erhält, zurückdrängen. Stattdessen muss er die Anleitungen, die er erhält, projizieren, während der Lehrer durch seine Manipulationen 27 28

29 30 31 32

F. M. Alexander, Constructive Conscious Control of the Individual, S. 64, 243. Alexanders Evolutionismus ist durchsetzt mit höchst problematischen Elementen von Rassismus und Chauvinismus. Er schreibt: „Die steuernden und leitenden Kräfte sind bei den wilden vierfüßigen Tieren und den wilden schwarzen Rassen praktisch dieselben; daraus können wir ersehen, dass in evolutionärer Sicht der mentale Prozess dieser Rassen nicht mit ihrer körperlichen Entwicklung Schritt gehalten hat.“ In ähnlicher Weise führt er den Ersten Weltkrieg auf die irrationale, unbewusste Selbsthypnose und die „Verrücktheit“ der deutschen Mentalität zurück (Man’s Supreme Inheritance, S. 72, 161–175). Ebd., S. 117. Ebd., S. 74. F. M. Alexander, Constructive Conscious Control of the Individual, S. 44. Ebd., S. 152.

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die nötigen Anpassungen und Koordinationen vornimmt, wobei er für den Schüler die jeweils erforderliche Bewegung oder die nötigen Bewegungen ausführt und ihm die neue verlässliche Sinneseinschätzung vermittelt und die bestmögliche Gelegenheit bietet, die verschiedenen Anleitungen miteinander zu verknüpfen, bevor er sie in die Praxis umsetzt.“33 Diese Praxis vermittelt dem Schüler zugleich die Erfahrung, „von der Überlegung […] gelenkt zu werden“34 statt von habitualisierten Reaktionen. Das hilft ihm, eine Serie körperlicher Anweisungen korrekt auszuführen, die der Lehrer ausformuliert hat, weil sie am ehesten geeignet sind, die erwünschte Bewegung herbeizuführen, und die der Schüler diesmal tatsächlich ausführt, während er die Anweisungen beständig im Geiste wiederholt. Doch auch während er diese positiven Anweisungen projiziert und ausführt, muss er weiterhin stets an die erforderlichen präventiven Hemmungen denken.35 Gegen den Vorwurf, diese Betonung der Hemmung führe zu einer sklavischen Unterdrückung des Menschen, wendet Alexander ein, in Wirklichkeit diene sie eindeutig den Wünschen der betreffenden Person und werde ihr allein durch den eigenen Verstand auferlegt.36 Doch dieses Ideal einer vernunftgeleiteten Kontrolle steht eindeutig im Widerspruch zum Ideal freier Spontaneität, und entsprechend grimmig kritisiert er alle Entwicklungen in Erziehung und Kultur, die zu freiem Ausdruck ermuntern.37 Die Vernunft ist natürlich auch wesentlich beteiligt beim Auffinden und Umsetzen der richtigen positiven Direktiven, deren Befolgung zu einer koordinierten Bewegung führt.38 Alexander bezeichnet diese Anweisungen als „Mittel-wodurch“, und die Forderung, sich ausschließlich auf diese Mittel oder Direktiven zu konzentrieren statt auf das somatische Ziel, dem sie dienen sollen, ist ein weiteres Kennzeichen seiner Methode. Nicht dass die Ziele so bedeutungslos wären, aber sie lassen sich am besten erreichen, wenn man sie nicht direkt angeht. Die Logik dieses indirekten Vorgehens liegt auf der Hand: Wenn der Schüler sein Ziel direkt angeht, „wird er seinem gewohnten Verfahren folgen“; und da seine schlechten somatischen Angewohnheiten gerade der Grund für seine Therapie sind, kann ein derart direktes Vorgehen nur die schädlichen Gewohnheiten und die mangelhafte Kinästhesie verstärken.39 Des Weiteren soll die Konzentration auf die Mittel statt auf das Ziel die Leistungsangst des Patienten weitgehend ausschalten, insbesondere wenn die Ziele Handlungen betreffen, die der Patient aufgrund 33 34 35

36 37

38 39

Ebd., S. 152 f. F. M. Alexander, Der Gebrauch des Selbst, S. 43. F. M. Alexander, Constructive Conscious Control of the Individual, S. 161–167; Der Gebrauch des Selbst, S. 45 f. F. M. Alexander, Constructive Conscious Control of the Individual, S. 186–188. F. M. Alexander, Man’s Supreme Inheritance, S. 124–128, 131. Alexander würde allerdings behaupten, dass die Anhänger freier Spontaneität diese niemals verwirklichen könnten, da man ohne die „vernunftgeleitete Kontrolle seines physischen Seins“ niemals wirklich frei handeln, das heißt sicherstellen könne, dass der Körper wirklich dem freien Willen gehorche und nicht eingewurzelten Gewohnheiten (ebd., S. 136 f.). F. M. Alexander, Constructive Conscious Control of the Individual, S. 67. Ebd., S. 154.

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wahrgenommener eigener Mängel mit Angst besetzt hat.40 Und schließlich sind rational bestimmte, disziplinierte somatische Mittel allgemeiner als spezifische Ziele. Sie erweitern das Bewusstsein und die psychophysischen Funktionen über die jeweiligen Wünsche hinaus. Hat man sie erst einmal erlernt, kann man sie auf viele weitere Ziele anwenden, ja sogar neue Ziele aus ihnen entwickeln.41 Nach Alexander muss der Schüler sich also davor hüten, „direkt an seinem ‚Ziel‘ zu arbeiten, und seine Aufmerksamkeit stattdessen ganz auf die Mittel richten, durch die sich dieses Ziel erreichen lässt“.42 Alexanders Betonung der Vernunft findet schließlich ihre Radikalisierung in einer scharfen Kritik an emotional gelenktem Verhalten und an allem, was das verkörperte Selbst von einer rationalen Steuerung ablenkt.43 Anders als die meisten Physiotherapeuten (einschließlich seiner eigenen Anhänger), die ein enges Verhältnis zu Tanz und Musik haben, verurteilt Alexander diese Künste, weil sie die überlegte Steuerung durch „Erregung“ überwältigten und dabei eine „übermäßige Exaltation des gesamten kinästhetischen Systems“ herbeiführten, die Ähnlichkeit mit der Trunkenheit habe.44 Man sollte einen ähnlichen Angriff auch auf die Sexualität erwarten, doch dieses Thema wird mit einem Schweigen gestraft, das einem noch härteren Verdammungsurteil gleichkommt. Bei einem Somatiker (der zudem noch die diversen physischen Vorzüge seines Programms herausstreicht) ist solch ein Schweigen nicht Ausdruck von Nichtbeachtung, sondern von Zensur. Denn was könnte er in der Sexualität anderes sehen als das ererbte, vernunftlose Mittel der Reproduktion, das bislang für die Evolution hin zu größerer Rationalität notwendig gewesen sein mag, nun aber durchaus rationaleren Mitteln weichen könnte? Alexanders rationalistische und evolutionistische Ideologie findet ihren schlagendsten Ausdruck in seiner Anatomie des Körpers und in der konkreten Praxis seiner Arbeit am Körper. Zunächst einmal sieht er den Körper durch eine einzige pyramidenförmige Hierarchie geeint; diese Hierarchie kennt nur einen, alles beherrschenden zentralen Mechanismus, den er als „primäre Steuerung“ bezeichnet und der den Brennpunkt seiner somatischen Arbeit zur Herstellung kinästhetischer Kontrolle bildet. Außerdem ist diese „primäre Steuerung“ punktförmig im Kopf-Nacken-Bereich lokalisiert und damit auf natürliche Weise mit dem Höchsten des menschlichen Körpers assoziiert, das sich nicht nur im wörtlichen Sinne „oben“ befindet: mit dem Gehirn, dem Sinnbild jener Vernunft, welche unseren evolutionären Fortschritt und Vorteil ausmacht. Die evolutionäre Metapher des Aufstiegs findet sich selbst in Alexanders praktischen Anweisungen und Übungen zur besseren somatischen Koordination deutlich ausgesprochen. Seine Arbeit am Körper zielt darauf, das Rückgrat, das den Kopf trägt und nach unten abstützt, zu strecken, damit wir ein besseres Gefühl der Koordination und Kontrolle erlangen (das zumeist als ein Gefühl erhebender Leichtigkeit empfun40 41 42 43 44

Ebd., S. 210 f. Ebd., S. 214 f., 308–310. Ebd., S. 155. Ebd., S. 207 f.; Man’s Supreme Inheritance, S. 26, 90. Ebd., S. 124 f.

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den wird). Beständig wird man aufgefordert, sich zu strecken, „den Kopf nach vorn und nach oben“ zu bringen; die somatische Sünde par excellence war für ihn, „sich hängen zu lassen“.45 Wir haben es hier mit einer Somatik der Vertikalität und des Aufstiegs zu tun. Obwohl viele seiner Schüler heute Manipulationen am Patienten vornehmen, während dieser auf einem Tisch liegt (wodurch sich Probleme mit der üblichen Schwerkraft und schlechten Angewohnheiten vermeiden lassen), arbeitete Alexander nicht am liegenden Körper (weil ihn dies zu sehr an die Passivität bei Hypnose und Psychoanalyse erinnerte). Bei seiner berühmtesten und charakteristischsten Übung musste der Patient von einem Stuhl aufstehen. Wurde diese Übung korrekt ausgeführt (alleine oder mit leichten manipulativen Berührungen durch den Lehrer), erschien dieser Aufstieg (von dem es heißt, „man denkt sich aus dem Stuhl empor“) erstaunlich mühelos, fast so, als vermöchte die bewusste somatische Lenkung sich über die Schwerkraft hinwegzusetzen.46 Angesichts des rationalistischen Ideals soll sich die Manipulation durch den Lehrer auf ein Minimum beschränken und sehr vorsichtig erfolgen, denn das Ziel ist es, dem Schüler lediglich die neue Erfahrung einer besseren somatischen Koordination zu vermitteln.47 Eine wirkliche somatische Veränderung lässt sich letztlich nur durch die überlegte Steuerung durch den Schüler selbst erreichen (also durch die Wiederholung und Beherrschung der „Mittel-wodurch“), nicht aber über eine körperliche Manipulation durch andere. Zur Förderung dieser Kontrolle setzt Alexanders Methode auf Ruhe, einschließlich langsamer, ruhiger Körperbewegungen, denn die Ruhe verleiht der Vernunft und ihren Hemmungsmechanismen größere Wirkung. Gewalt, Schocks und Schütteln sind streng verpönt.48 Genau dies aber sind beliebte Strategien der Bioenergetik, die den stärksten Gegensatz zu Alexanders Rationalismus bildet. Diese von Alexander Lowen begründete Schule der Somatik entlehnte einen Gutteil ihrer Theorie und Praxis dem Werk von Wilhelm Reich, bei dem Lowen lernte und sich auch in Behandlung befand.49 Während bei Alexander der Begriff der bewussten Kontrolle im Vordergrund steht, ist der Schlüsselbegriff und das Ziel der Bioenergetik der Energiefluss. Obwohl er von Reich inspiriert wurde, der die Existenz einer neuen Form von Energie, Orgon genannt, behauptete, die man in einem eigens dafür gebauten Apparat zu therapeutischen Zwecken sammeln könne, ist Lowens Modell des Energieflusses vager und bildhafter und eben deshalb vielleicht auch vernünftiger. Am besten verdeutlichen kann man sich diese Vorstellung „am Beispiel des Blutstroms […], der energetisch aufgeladenen Körperflüssigkeit. Wenn das Blut an einen Punkt des Körpers gelangt, 45

46 47 48 49

Vgl. F. M. Alexander, Constructive Conscious Control of the Individual, S. 180; F. Jones, Body Awareness in Action, S. 76. Ebd., S. 71, 76. F. M. Alexander, Constructive Conscious Control of the Individual, S. 176. Vgl. F. Jones, Body Awareness in Action, S. 14. Lowen war selbst ein einflussreicher Lehrer; unter seinen Schülern finden wir den populären Somatiker Stanley Keleman, der seine eigene Variante der „Energieforschung“ entwickelt hat.

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bringt es Leben, Wärme und Erregung dorthin. Es ist Repräsentant und Träger des Eros“.50 Es gibt noch weitere somatische Ströme, die mit Energie oder Erregung geladen und daher in der Lage sind, unser Erleben zu intensivieren und zu bereichern. „Empfindungen, Gefühle und Emotionen sind Wahrnehmungen von Bewegungen innerhalb des relativ flüssigen Körpers“, der zu 99 Prozent aus Wasser besteht, wie Lowen bemerkt. „Das Gefühlsleben eines Menschen hängt von der Motilität seines Körpers ab, die ihrerseits eine Funktion des Erregungsstroms durch diesen Körper ist. Da der Körper ein energetisches System darstellt, befindet er sich in einem beständigen Energieaustausch mit der Umwelt“, wobei er „erregt oder aufgeladen wird durch den Kontakt mit positiven Kräften“ (wie einem „strahlenden, klaren Tag, einer schönen Aussicht, einem glücklichen Menschen“), und umgekehrt auch solche Energie freisetzt.51 In scharfem Gegensatz zu Alexanders Rationalismus stellt die Bioenergetik eine Lebensphilosophie dar, der das „Leben als Bewegung“ von Gefühlen gilt („das pulsierende Steigen und Fallen der Erregung im Körper“) und die deshalb für das Ziel eines intensiveren Lebens durch einen „größeren Strom von Gefühl“ oder Energie eintritt.52 Während Alexander die Vernunft und den Kopf privilegiert, legt Lowen das Schwergewicht auf das Gefühl und das Herz, das Energiezentrum, das den Gefühlsstrom stimuliert: „Ziel jeder Therapie ist es, dem Menschen zu helfen […], sein Herz zu weiten“ und nicht nur den Verstand; „das Herz ist der König oder sollte es sein […], [denn es ist] das Zentrum des Lebens“53 und die Quelle von Gefühlen, die uns mit der Welt verbinden. Während Alexander eine strikte Kontrolle der Emotionen verlangt, dringt Lowen auf deren freien Fluss als Mittel der Energiesteigerung und der Intensivierung des Kontakts mit der Energie spendenden Umwelt. Die Freisetzung von Emotionen „erzeugt einen Strom von Gefühl und Erregungsenergie aus dem Kern oder Herzen des Menschen hin zu den peripheren Strukturen und Organen […] und von dort […] zur Außenwelt“; und solch ein freier Fluss vermittelt uns ein lustvolles Lebensgefühl und den Eindruck, in der Welt zu Hause zu sein.54 Während Alexander also für eine programmatische Hemmung eintritt, beklagt Lowen solch eine Hemmung als ungesunde „Blockade des freien Flusses der Erregung und des Gefühls“, die schließlich zur Verringerung der somatischen Energie durch einen frustrierten Rückzug führt.55 Obwohl bewusste Hemmung zuweilen notwendig sei, meint Lowen, ihr exzessiver Einsatz in unserer Kultur führe zu Muskelverspannungen, die derart habituell und unbewusst aufrechterhalten würden, dass sie sich zu permanenten Krämpfen oder Blockaden entwickelten. Solche lang anhaltenden Verspannungen sind nicht nur die Ursache für Rückenschmerzen und andere Leiden; die damit verbundene Blockade der Gefühle und der Energie bedeutet zugleich auch eine

50 51 52 53 54 55

A. Lowen, Bioenergetics, S. 51. Ebd., S. 50–52. Ebd., S. 224, 240. Ebd., S. 89, 114. Ebd., S. 139. Ebd., S. 88, 144.

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Minderung der Lebensqualität, die selbst noch das Denkvermögen beeinträchtigt, da auch das Denken von somatischen und emotionalen Energien abhängt.56 So wie Alexander die Höherentwicklung des Menschen mit der Entwicklung der Vernunft gleichsetzt, sieht die Bioenergetik den Evolutionsfortschritt des Menschen in einem „höher geladenen Energiesystem“ begründet. „Die Vergrößerung des Gehirns, das verstärkte sexuelle Interesse, die größere sexuelle Aktivität des menschlichen Tiers und der aufrechte Gang sind das Ergebnis einer erhöhten Energieaufladung des menschlichen Organismus.“57 Während Alexander unter Fortschritt jedoch die weitere Überwindung der tierischen Natur in Richtung größerer rationaler Steuerung und Hemmung versteht, sieht Lowen den wahren Fortschritt in einer Rückwendung zum natürlichen „Leben des Körpers“, in einer Abwendung von der übermäßig gehemmten und blockierten „zweiten Natur“ der „lebensfeindlichen modernen Zivilisation“ und einer Hinwendung zur stärker animalischen „ersten Natur […], die sich all die Schönheit und Anmut bewahrt hat, mit der Tiere bei der Geburt gewöhnlich ausgestattet sind“.58 Im Gegensatz zu Alexanders Somatik des Aufstiegs – mit ihrem Streben nach einer Höherentwicklung durch rationalere Steuerung und mit ihrer pyramidenförmigen somatischen Hierarchie, deren leitendes Zentrum der Kopf ist – präsentiert Lowen gleichsam eine Somatik des Abstiegs. Sie soll uns helfen, wieder zu einem natürlicheren Leben zurückzufinden, zu einem freien Gefühlsfluss, zur Überwindung der somatischen Blockaden und der oft schmerzhaften Muskelverspannungen aufgrund von Hemmungen, die vielfach aus allzu hoch angesetzten Idealen resultieren. Zu diesem Zweck entwickelt Lowen die Idee und die therapeutische Praxis einer Erdung, die uns wieder in engeren Kontakt zu unserer eingebundenen, animalischen Natur bringen und uns lehren soll, diese Natur zu akzeptieren. „Die Erdung oder das Bestreben, den Patienten wieder in Berührung mit der Realität, mit dem Boden, auf dem er steht, mit seinem Körper und seiner Sexualität zu bringen, ist zu einem der Ecksteine der Bioenergetik geworden“; „die Arbeit ist in erster Linie nach unten gerichtet – das heißt, sie soll den Menschen wieder in seine Beine und Füße bringen.“59 Und dieser nach unten gerichtete Pfad führt am ehesten durch die Beckenregion der Genitalien. Wie Reich, so glaubt auch Lowen, dass Sexualität und Orgasmus „von entscheidender Bedeutung“ für die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des freien und erhöhten Energieflusses, für die Überwindung der muskulären und emotionalen Blockaden durch die überwältigende Kraft der Entladung im Orgasmus seien. Ein Teil der Arbeit der Erdung zielt darauf ab, dass wir unsere Sexualität besser akzeptieren und zum Ausdruck bringen lernen, indem wir vertrauter werden mit den unteren 56 57 58 59

Ebd., S. 65. Ebd., S. 227. Ebd., S. 71, 104. Ebd., S. 40, 196. Daraus folgt jedoch nicht, dass wir es hier mit einer umgekehrten somatischen Pyramide zu tun hätten, bei der die primäre Steuerung von den Füßen ausginge. Denn im Gegensatz zu Alexanders zentralisierend-hierarchischer Sicht weist die Bioenergetik sechs Körperregionen als wesentlich für den Energieaustausch mit der Welt aus: den Kopf, die beiden Arme, die beiden Beine und die Genitalregion (ebd., S. 139).

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Bereichen unseres Körpers und indem wir die Angst davor überwinden, die bewusste Kontrolle den unwillkürlichen Rhythmen des Körpers zu opfern, wie es in den „Konvulsionen des Orgasmus“ geschieht. „Tiefe sexuelle Empfindungen in der Beckenregion“ sind für viele Menschen deshalb beängstigend, weil sie an solch einen „Verlust der Kontrolle“ erinnern.60 Müssen wir uns nicht vor solch einem Verlust der bewussten Kontrolle fürchten, weil er einen Verlust der Selbstkontrolle oder sogar des Selbst bedeutet? Ist dieser angeblich freie Fluss nicht vielmehr die Versklavung des Selbst durch unbewusste, nicht dem Willen unterworfene Kräfte, wie Alexander behaupten würde? Eine derart negative Schlussfolgerung ergibt sich nur, wenn wir Selbst und Selbstkontrolle mit dem bewussten Ich und seinem Willen gleichsetzen, während Lowen im Unbewussten eine integrale Dimension des Selbst erblickt, die nach Ausdruck verlangt und Ausdruck verdient, da nur so ein unerlässlicher Hintergrund und Ausgleich für das Bewusste entsteht.61 Die Bioenergetik behauptet, „der Mensch ist sein Körper“ in seinen bewussten und unbewussten Funktionen, und ein wesentliches Ziel der somatischen Arbeit liegt darin, uns Zugang zum unbewussten körperlichen Selbst zu verschaffen und uns zu lehren, es anzunehmen.62 Diese Somatik des Abstiegs führt zu einer erstaunlichen Wertschätzung der unwillkürlichen Grundbewegungen des Körpers, die ihr als „das Wesen seines Lebens“ und als „überaus bedeutungsvoll“ gelten. Da Lachen, Schluchzen, Weinen und Zittern „spontan, ungewollt oder unwillkürlich sind, bewegen sie uns auf eine tiefe, bedeutungsvolle Weise. Und die befriedigendste, bedeutungsvollste unter diesen unwillkürlichen Reaktionen ist der Orgasmus, bei dem das Becken sich spontan bewegt und der ganze Körper sich in der Ekstase der Entladung zusammenzieht.“63 Das motivierende Ideal dieser Somatik ist eindeutig nicht der Rationalismus, sondern der Hedonismus intensiven Erlebens. Die bioenergetische Ideologie des Flusses und des Abstiegs kommt auch in der somatischen Praxis zum Ausdruck. Anders als Alexander, der eine Streckung des Körpers bevorzugt, arbeitet die Bioenergetik weitgehend mit einem gebeugten oder liegenden Körper. Zu ihren Erdungsübungen gehört nicht nur das Bücken, bei dem Hände und Füße festen Halt auf dem Boden finden, sondern auch die wiederholte Erfahrung des Fallens, und zwar aus Stellungen, die man aufgrund der Muskelanspannung nicht lange einhalten kann. Die Erfahrung des Fallens macht uns bewusst, dass es reale Grenzen für die bewusste somatische Steuerung gibt, und zugleich führt sie uns vor Augen, dass weder der Verlust der Kontrolle noch die daraus resultierende Berührung mit dem Boden schmerzhaft oder gefährlich sind. Andere Übungen zielen darauf ab, bestimmte Körperteile (vor allem die Beine und das Becken) zu schütteln und in unkontrollierbare Schwingungen zu versetzen. Das hilft bei der Lösung habitualisierter Muskelverspannungen, „das Vibrieren des Körpers“ ermöglicht es dem Menschen aber auch, „die unwillkürlichen Bewegungen des Körpers […] als Ausdruck seines 60 61

62 63

Ebd., S. 197. „Mit ‚Selbstausdruck‘ sind die freien, natürlichen und spontanen Aktivitäten des Körpers gemeint […], und diese Aktivität ist in der Regel nicht bewusst.“ (Ebd., S. 261 f.) Ebd., S. 54, 319 f. Ebd., S. 243 f.

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Lebens und dessen vibrierender Kraft zu erleben und zu genießen. Wenn ein Mensch davor Angst hat und meint, er müsse sich jederzeit voll unter Kontrolle haben, verliert er seine Spontaneität und endet als rigide eingebundene Persönlichkeit.“64 Auch Angst, Schocks und andere starke Gefühle werden eingesetzt, um die fest verankerten Blockaden, die „Haltungsmuster“ des Patienten zu überwinden, desgleichen starker, zuweilen schmerzhafter physischer Druck seitens des Therapeuten, der Muskelverspannungen oder Krämpfe lösen und dadurch den freien Energiefluss ermöglichen soll. Bevor sich der Patient seiner psychophysischen Spontaneität überlassen kann, muss er sich, seinen Geist und seinen Körper, den heftigen Manipulationen eines anderen überlassen. Offensichtlich sind wir damit weit entfernt von Alexanders Methode ruhiger, kontrollierter, emotionsloser Konzentration, bei der die Berührung durch den Therapeuten so leicht und zart ist, dass sie fast unmerklich erscheint. Moshe Feldenkrais, der ursprünglich eine traditionelle Karriere als Ingenieur und Atomphysiker absolvierte, entwickelte eine eigenständige Somatik des Erlebens, die zwischen Alexanders rationalistischem Voluntarismus und dem emotionalen Involuntarismus der Bioenergetik angesiedelt ist. Da sie der Alexander-Technik jedoch ziemlich nahe steht, werde ich sie hier nur sehr knapp darstellen und mich auf die Übereinstimmungen und die Unterschiede im Verhältnis zu Alexander konzentrieren. Dabei werde ich auch die Kritik an der Bioenergetik streifen, der Feldenkrais vorwirft, sie stütze sich auf Theorien der Energie und des menschlichen Instinkts, die im Widerspruch zu gesicherten wissenschaftlichen Erfahrungen stehen.65 Feldenkrais teilt Alexanders Zielsetzung einer gesteigerten Bewusstheit und einer überlegten Kontrolle des Körpers, und wie Alexander glaubt er, dass dies einen erstrebenswerten evolutionären Fortschritt darstellen würde, der eine größere psychophysische Flexibilität in einer komplexen, durch raschen Wandel geprägten Umwelt mit sich bringen werde.66 Während Alexander diese Kontrolle jedoch eng mit der Vernunft identifiziert, sieht Feldenkrais sie in einem umfassenderen und stärker naturwissenschaftlichen Zusammenhang mit dem Nervensystem assoziiert, in dem die Muskeln und Empfindungen das vernünftige Denken ebenso beeinflussen wie das Denken die Muskeln. Obwohl beide eine Umerziehung des kinästhetischen Systems zu einem geschärften somatischen Bewusstsein und effektiverer Bewegung anstreben, sieht Feldenkrais den Schlüssel zu dieser Umerziehung nicht in Alexanders primärer Steuerung. Ihm schwebt dabei nicht eine zentrale Lenkungspyramide, sondern eine Vielfalt somatischer Steuerungsmuster vor, und er setzt sich zum Ziel, diese Vielfalt durch seine praktische Arbeit noch zu erweitern. Diese Arbeit konzentriert sich auf bestimmte Muskel- und Gelenkverbindungen in Becken, Beinen, Armen und Unterleib sowie im Kopf-Nacken-Bereich und versucht ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass bestimmte Handlungen sich auf vielerlei Weisen ausführen lassen; wir sollen ein Gespür für die qualitativen Unterschiede zwischen diesen Möglichkeiten entwickeln und lernen, die wirkungsvollsten auszuwählen.

64 65 66

Ebd., S. 243. Siehe Moshe Feldenkrais, Das starke Selbst, Frankfurt/M. 1992, S. 13 f., 60, 97–124. Moshe Feldenkrais, Der aufrechte Gang, S. 84 f.; Das starke Selbst, S. 131.

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Die Feldenkrais-Technik umfasst in ihrer Vielfalt zwei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Praktiken: Erstens eine Gruppe von langsamen und sanften Übungen, die verschiedene Anordnungen und Bewegungen des Rumpfes und der Glieder beinhalten, dabei eine gewisse Ähnlichkeit mit Yoga aufweisen und zweitens eine Behandlung durch den Lehrer, der durch Manipulationen am Körper des Patienten die Besonderheiten seines neuromotorischen Funktionierens ermittelt und dem Patienten dann ein Bewusstsein davon wie auch von den Möglichkeiten der Steuerung seiner motorischen Funktionen verschafft.67 Die Manipulationen sind in der Regel kräftiger als die leichte Berührung, die Alexander empfiehlt, aber sehr viel sanfter als in der Bioenergetik. Denn das Ziel ist nicht, die Blockade durch einen Schock zu überwinden, sondern eine subtile sensorische Information zu übermitteln. Es handelt sich also eher um eine Lehre als eine Therapie, und deshalb werden die Sitzungen zur Funktionalen Integration auch Lektionen genannt. Im Gegensatz zur Alexander-Technik werden beide Übungsformen im Liegen ausgeführt, nicht nur um die übliche Wirkung der Schwerkraft auszuschalten, sondern auch um den Patienten zu desorientieren und damit bewusster für seine Bewegungen und deren verschiedene Möglichkeiten zu machen. Die Hemmung ist für Feldenkrais von ebenso zentraler Bedeutung wie für Alexander, auch wenn sie bei ihm einen etwas anderen Ausdruck findet. Er legt weniger Nachdruck auf die Methode, unwillkürliche Bewegungen explizit durch Anweisungen zu hemmen (obwohl auch er dazu auffordert, die Bewegung zu denken, bevor man sie ausführt). Feldenkrais erkennt den Wert der Hemmung für die Auflösung schlechter Angewohnheiten im Bereich neuromotorischer Funktionen an, liefert aber auch eine überzeugende wissenschaftliche Darstellung der Gründe, weshalb die Hemmung wichtig für effektives Handeln ist. Da die Erregung in der motorischen Hirnrinde dazu tendiert, sich auszubreiten, bedarf es der Hemmung, um „ungewollte Kontraktionen der Muskeln“ zu verhindern, die durch unsere Handlungsabsichten ausgelöst werden könnten, unser Handeln aber nur stören würden. „Das Gefühl der Schwierigkeit und des Widerstands gegen eine Handlung entsteht indirekt durch die nur unvollständige Hemmung der Zellen, so dass es nicht zur Bildung des gewünschten Musters der Muskelkontraktion kommt.“68 Wenn wir den antagonistischen oder reziproken Charakter unseres somatischen Funktionierens erkennen, begreifen wir zugleich, dass die Hemmung der Erregung in einem Bereich zu ihrer Erhöhung in einem anderen Bereich führt.69 Damit tritt Feldenkrais auch der Behauptung der Bioenergetik entgegen, wonach Hemmung unvermeidlich zu einer Minderung der Erregung, der Vitalität und des Leistungsvermögens führt.70 67 68 69 70

Vgl. Yochanan Rywerant, The Feldenkrais Method. Teaching by Handling, New York 1983. Ebd., S. 124. Ebd., S. 188. Auch das physiologische Phänomen der Induktion in reziproken oder antagonistischen Systemen belegt die Komplementarität von Hemmung und Erregung: „Alle antagonistischen oder reziproken Funktionen weisen auch das Phänomen der Induktion auf, d. h. je länger die eine erregt und infolgedessen die andere gehemmt wird, desto größer der Ausbruch von Erregung in der zweiten, wenn die Hemmung aufgehoben wird.“ (Ebd., S. 222)

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Wie Alexander, so kritisiert auch Feldenkrais die uns einengende Gewohnheit, Ziele direkt anzugehen. Es komme hingegen entscheidend darauf an, erst einmal die allgemeinen Mittel der Selbsterkenntnis und der Selbstbeherrschung zu erwerben (zu denen auch das Lernen des Lernens gehört). Doch auch hier entwickelt Feldenkrais (vor allem durch seine Darstellung von Hemmung und Induktion) eine ausgefeilte wissenschaftliche Erklärung für die These, dass für die Verwirklichung bestimmter somatischer Zielsetzungen ein indirektes Herangehen erforderlich sei, vor allem wenn dabei unwillkürliche Handlungen und automatische Systeme im Spiel sind.71 Durch den Einsatz solcher indirekten Mittel wird Feldenkrais zufolge „die Selbstkontrolle des Menschen potentiell absolut“.72 Hier zeigt sich ein ähnlicher Glaube an den Fortschritt und die Vervollkommnung des Menschen wie bei Alexander. Zwar teilt auch die Bioenergetik diesen Optimismus und den Wunsch nach einer beständigen „Weiterentwicklung“, doch geht beides, wie wir gesehen haben, in die entgegengesetzte Richtung einer weniger bewussten, unwillkürlichen Steuerung.73 In einer wesentlichen Dimension setzt sich Feldenkrais deutlich von Alexander ab und nähert sich der Bioenergetik, nämlich in seiner Anerkennung der Bedeutung und des hohen Wertes von Affektivität und Sexualität. Zwar sieht er in unseren Emotionen, insbesondere in solchen der Abhängigkeit, eine wesentliche Ursache für falsche Bewegungen und zwanghaftes Verhalten (wenn etwa der Wunsch, der Mutter zu gefallen, zu übermäßigem Essen und dem Gefühl führt, erst dann satt zu sein, wenn man bereits viel zuviel gegessen hat). Feldenkrais behauptet jedoch an keiner Stelle, dass Affektivität etwas Niedriges, Verderbliches und Tierisches sei, das es zu überwinden gelte. Er erkennt den wesentlichen Beitrag an, den die Emotionen zu einem gelungenen Leben leisten, und verlangt lediglich, dass wir lernen, unser Handeln aus der Abhängigkeit von zwanghaften, emotional stimulierten Mustern zu befreien. Wir erweitern zugleich auch das Spektrum unserer Emotionen, indem wir sie aus ebendiesen zwanghaften, muskulär-emotional verwurzelten Mustern lösen. Erst dadurch erlangen wir die Fähigkeit, „die drängenden Affekte auf Gegenstände eigener Wahl zu richten“.74 In scharfem Gegensatz zu Alexander und gemeinsam mit der Bioenergetik ist Feldenkrais der Ansicht, dass die Sexualität für ein richtiges psychophysisches Funktio71

72 73 74

Vgl. ebd., S. 220–235, soweit es das parasympathische System und die Sexualität betrifft, und S. 165–169: „Alle absichtliche Lenkung des Selbst-Gebrauchs zieht Muskeln zusammen.“ Wenn wir eine Streckung erreichen wollen, müssen wir daher die gewohnten Kontraktionen hemmen oder neue Kontraktionen in antagonistischen Muskeln auslosen, durch die dann die Streckung induziert wird. Da auch diese Kontraktionen den Körper verrenken oder verfestigen, gelangt Feldenkrais zu dem Schluss: „Die optimale Stehstellung erhält sich nicht, indem man etwas Bestimmtes tut, sondern indem man buchstäblich nichts tut, d. h. indem man alle Handlungen absichtlichen Ursprungs ausschaltet.“ „Wie wir gesehen haben, kann schlechte Haltung nicht durch Absicht behoben werden, wohl aber kann Absicht sie […] verändern, allerdings nicht, indem sie die Kontraktion löst, die zu lösen nötig wäre, sondern indem sie kompensatorische hinzufügt.“ Ebd., S. 134. A. Lowen, Bioenergetics, S. 15, 33, 104. M. Feldenkrais, Das starke Selbst, S. 141–143.

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nieren von zentraler Bedeutung ist. „Ein voller Orgasmus, begleitet von intensiver Befriedigung ist eine physiologische Notwendigkeit für die Funktionen des Schutzes, der Selbstbehauptung und der Erholung.“75 Dann erfahren wir eine Entladung der aufgebauten Spannungen, darunter auch jener, die aus der Bemühung um bewusste Kontrolle resultiert. „Dementsprechend kann der allgemeine Gebrauch des Selbst nicht geändert und verbessert werden ohne die Wiedererlangung der sexuellen Spontaneität.“ Aus diesem Grunde zielt Das starke Selbst auf die Überwindung von Problemen, die das sexuelle Verhalten beeinträchtigen; deshalb auch konzentriert sich die Feldenkrais-Technik in hohem Maße auf den Unterleib, denn „zuvörderst ist dem Becken seine volle Beweglichkeit wiederzugeben“.76 Ein weiterer Grund liegt darin, dass Feldenkrais die zentrale Quelle von Kraft und Kontrolle im Becken lokalisiert, welches das Rückgrat trägt, das seinerseits den Kopf und die Rippen hält.77

6. Auch wenn die somatische Wende in der Philosophie sicherlich genauer analysiert (und auf die Probe gestellt) werden muss, kann unsere Schlussbemerkung nur äußerst knapp und provisorisch ausfallen. Wenn die These plausibel ist, dass die Somatik des Erlebens in die Philosophie, verstanden als vernünftig angeleitete Suche nach einem besseren Leben durch Erkenntnis, Selbsterkenntnis und richtiges Handeln, integriert werden kann, dann dürften sich die stärker rationalistischen Ansätze von Alexander und Feldenkrais eher dafür eignen als die Bioenergetik. Denn die Philosophie betont eher die rationale, bewusste Steuerung und Autonomie als die Emotionalität, den Schock, die Hingabe an die Triebe, die unwillkürliche Steuerung und die Manipulation durch andere, wie sie von der Bioenergetik propagiert werden. Unter den beiden geeigneten Kandidaten wiederum dürfte die Feldenkrais-Methode die aussichtsreichere sein, auch wenn sie in einem traditionellen Sinne nicht so rationalistisch ist wie die Alexander-Methode.78 Da Feldenkrais die Bedeutung der Affektivität, der Sexualität und unterschiedlicher Zentren unseres neuromotorischen Systems anerkennt, statt allein auf Vernunft und die primäre Steuerung durch den Kopf zu setzen, scheint er besser in der Lage zu sein, auf den Körper zu hören, statt ihn zu kommandieren. Er entwickelt eine eher dialogische, ausgeglichene und sensible somatische Form der 75 76 77

78

Ebd., S. 14. Ebd., S. 232. „Gute Haltung ist nur möglich bei guter Kontrolle der Beckengelenke. Die Beckengelenke werden von den stärksten Muskeln unseres Körpers bewegt […]. Die Kraft eines Körpers hangt also von der Kraft des unteren Unterleibs und der Beckengegend allgemein ab.“ (Ebd., S. 248) Ich sollte noch anmerken, dass diese Meinung und die obige Darstellung der AlexanderTechnik und der Feldenkrais-Methode nicht nur auf dem Studium der entsprechenden Schriften beruht, sondern auch auf einem mehrjährigen Experimentieren mit ihrer Praxis. Dies brachte mich zu dem Entschluss, ein professioneller und geprüfter FeldenkraisTherapeut zu werden, wozu ich eine vierjährige Ausbildung absolvieren musste.

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SOMÄSTHETIK UND LEBENSSTIL

Rationalität, während Alexander vielfach wie die harsche, hochmütige Stimme der selbstgerechten, diktatorischen Vernunft klingt, wie die negativ männliche Stimme einseitiger, ganz dem Willen unterworfener Kontrolle. Auch wenn dies die herkömmliche Stimme der Philosophie sein mag, müssen wir doch nicht glauben, dass es ihre wahre Stimme ist. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff und Robin Celikates

Kapitel VIII

Selbstbildung zwischen Kulturen

Das Leben ist ein unbestimmtes Privileg; wenn man seine Fahrkarte bezahlt hat und das Zugabteil betritt, weiß man nicht, welche Gesellschaft man vorfinden wird. Ralph Waldo Emerson

1. So wie die neuen Medien des Cyberspace unsere technologischen Vorstellungen beherrschen, hat der Multikulturalismus unsere kulturellen Belange besetzt. Als eines der lautesten Stichworte der letzten Zeit scheint er (fast im kybernetischen Sinn von Lärm) weniger eine klare Botschaft zu vermitteln, als, wenn auch in mancher Hinsicht vielleicht konstruktive, Verwirrung zu stiften. Wie auch der verwandte Begriff der Globalisierung, ist der Multikulturalismus ambivalent und umstritten. Beide Begriffe werden einerseits als Zwillingsschlüssel zu einer neuen, in allen Regenbogenfarben schillernden Weltgemeinschaft gerühmt, andererseits aber auch oft als eine virulente Bedrohung der Wurzeln und der Lebensfähigkeit echter Gemeinschaft und Kultur empfunden. Durch eine ungeheure Anzahl neuer Konsumenten und enorme Mengen kostengünstiger Waren von fremden Märkten bedroht die Globalisierung die Stabilität unserer eigenen Wirtschaft und verursacht so nicht nur anhaltende soziale Ängste, sondern häufig auch eine Bedrohung des Arbeitsmarktes durch Fabrikschließungen und Massenentlassungen. Sich wechselseitig verstärkende Befürchtungen, Märkte an die preiswerteren ausländischen Produzenten zu verlieren, haben einige der schwer verdienten, staatlich geschützten Vergünstigungen der Arbeitnehmer in der noch immer nicht vollständig vereinigten Europäischen Union unterhöhlt. Die Globalisierung, die als das Ende der Jahrhunderte währenden, grausamen imperialistischen Kriege gefeiert worden war, wird nun als Waffe verwendet; sie wird dazu eingesetzt, die imperialistischen Ziele multinationaler Wirtschaftskonglomerate zu fördern, indem sie die protektionistischen Gesetze nationaler Wohlfahrtsstaaten (die wiederum als obsolete Merkmale eines engstirnigen Chauvinismus verurteilt werden) unterminiert. Nichtsdestoweniger benutzen rechtsradikale Nationalisten den Wahlspruch der Globalisierung, um rassistischen Hass auf ausländische Arbeitnehmer und Einwanderer zu

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schüren.1 Mit der Einführung westlicher Vertragsvorschriften und Geschäftspraktiken in den entferntesten Winkeln der Welt schreibt sich die Globalisierung selbst den Anspruch zu, Menschenrechte und individuelle Freiheit gegen die Tyrannei traditioneller sozialer Bindungen durchzusetzen. Aber es scheint oft, als zerstöre sie diese traditionellen Kulturen (mit ihren unterschiedlichen Werten) einfach nur, um die universelle Herrschaft des Dollars zu etablieren. Stärkt die Globalisierung wirklich den intrinsischen Wert der Person oder einfach nur die kommerzielle Funktion des Verbrauchers? Wenn an der Globalisierung überhaupt etwas klar ist, dann ist es ihre Komplexität, ihre Ambiguität und ihre Umstrittenheit. Der Multikulturalismus verkörpert meines Erachtens dieselben Widersprüche und ähnliche emotionale Schwankungen. Als jemand mit doppelter Staatsangehörigkeit, dessen philosophische Karriere drei Kontinente und vier Sprachen umspannt, bin ich manchmal stolz auf meine multikulturelle Erziehung. Genau so oft werde ich mir jedoch beschämt bewusst, gerade deshalb überhaupt keine konsistente kulturelle Bildung genossen zu haben und genau jene Art des wurzellosen jüdischen Intellektuellen darzustellen, die T. S. Eliot einst als Bedrohung der westlichen Zivilisation verurteilt hat. Und als eine Schönheit japanischer Herkunft zur ersten großen Liebe meines Lebens wurde, wusste ich nicht, ob ich mich für meine Offenheit, eine interethnische Beziehung einzugehen, beglückwünschen sollte oder ob ich mich als einen postkolonialen weißen Eindringling verachten müsste, der die erotische Faszination für das exotische Andere ausnutzt. War es vielleicht schon falsch, von ihr überhaupt in ethnischen Kategorien zu denken? Ich nehme an, die meisten Leser können von ihren eigenen Anekdoten des multikulturellen Unbehagens berichten. Wie wir unsere spezifische „Subjektposition“ und persönliche Parteinahme in den Kämpfen zwischen den Kulturen auch immer bestimmen mögen, wir können nicht umhin zu sehen, dass der Multikulturalismus ein Gewirr von Ambiguitäten und Ambivalenzen hervorruft. Seine unterschiedlichen Bedeutungen und seine wechselnden Verwendungsweisen (die vielleicht zu verschieden und konfliktbeladen sind, um überhaupt ein kohärentes Konzept abzugeben) erzeugen eine Reihe von Kontroversen. Nur die folgenden fünf Streitpunkte sollen hier näher betrachtet werden: 1. Gepriesen wird der Multikulturalismus dafür, den Ausdruck von Differenz angesichts eines starken Homogenisierungsdrucks zu fördern und gegenüber den etablierten Privilegien dominierender ethnischer Identitäten das Recht auf kulturelle Andersartigkeit zu bestätigen. Das radikale Beharren auf dieser Andersartigkeit bewirkt jedoch, folgt man den Kritikern, eine ungesunde Spaltung der Gesellschaft in oppositionelle Gruppen; auf diese Weise wurden die Vereinigten Staaten eines geteilten nationalen Identitätsgefühls beraubt. Dessen vereinigende Kraft ist jedoch nicht nur eine Bedingung effektiven politischen Handelns, sondern auch der erfolgreichen Absicherung eben jener Ziele, die mit dem Multikulturalismus verbunden werden: mehr Freiheit und Wohlstand für alle. 2. Zustimmung erfährt der Multikulturalismus einerseits wegen der durch ihn ermöglichten Stärkung der Selbstachtung ethnischer Minoritäten, die in der Anerkennung der Legitimität der jeweiligen Kulturen besteht; andererseits wird er angeklagt, weil er die 1

Für eine scharfe Kritik der Globalisierung aus europäischer Perspektive siehe Pierre Bourdieu, Gegenfeuer, Konstanz 2004.

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öffentliche Aufmerksamkeit von den tiefergehenden Problemen der Armut und der politischen Ungerechtigkeit ablenke. Für diese die Fragen kultureller Anerkennung rahmenden Problemzonen können auf kulturellem Wege allein jedoch keine zufrieden stellenden Lösungen gefunden werden. Auch ich wurde mit diesem Problem konfrontiert. Meine Argumentation für die künstlerische Legitimität der Rap-Musik wurde teilweise missverstanden: Ich wurde der Annahme bezichtigt, dass die ästhetische Anerkennung auch die wirtschaftliche und politische Freiheit mit sich bringe (oder deren Mangel ausgleiche), und dass der künstlerische Wert des Rap so die Übel von Ghettokriminalität und Armut verdecke oder entschuldige. Obwohl ich hier auf unschuldig plädiere, erkenne ich die Gefahr, kulturelle Akzeptanz mit sozialem Machtzuwachs zu verwechseln, obgleich ich auf einer begrenzten (aber dennoch wichtigen) Wirkungskraft der Ästhetik in der Politik bestehe. 3. Gerühmt dafür, die etablierten kulturellen Traditionen verschiedener ethnischer Gruppen zu respektieren und sie vor der Erosion durch den assimilatorischen Druck mächtigerer Kulturen zu schützen, wird der Multikulturalismus andererseits dafür verdammt, das grundlegendste Menschenrecht auf Freiheit zu verletzen. Manche Kritiker preisen das multikulturelle Ideal einer Pflege der eigenen Kultur, wie sie im französischsprachigen Quebec betrieben wird, wo Einheimische und neue Immigranten in französischsprachigen Schulen erzogen werden müssen; andere hingegen bezichtigen die gleiche Politik der repressiven Verletzung der persönlichen Freiheit und der reaktionären Verweigerung eines umfassenderen, fortschrittlicheren Multikulturalismus durch kulturelle Verschmelzung und produktive Vermischung. 4. Gepriesen wird der Multikulturalismus einerseits für den neuartigen kulturellen Reichtum, den die Verschiedenartigkeit außereuropäischer Traditionen mit sich bringt; andererseits wird er für die Verarmung unserer eigenen Kultur verantwortlich gemacht, da er einen kohärenten Kanon und damit einen einheitlichen pädagogischen Fokus unmöglich gemacht habe. Mehr ist weniger, wird kritisiert, wenn die Feder ihre Farbe nur dilettantisch aus den kulturellen Tintenfässern ethnischer Andersartigkeit gewinnt. Und noch schlimmer: Der Multikulturalismus scheint einer respektlosen Ausplünderung der kulturellen Güter benachteiligter Anderer Vorschub zu leisten. Für die Verteidiger des traditionellen Kanons bedeutet multikultureller Eklektizismus deshalb auch eine Bedrohung. Indem er so viele neue Werke, Stile und Standards in einen wohlfeilen Kanon einbringt, formt er unsere künstlerischen Traditionen radikal um. Der Wert unseres kulturellen Erbes werde dadurch bedroht, dass die Integrität der traditionellen Strukturen angezweifelt wird, durch die künstlerische Werke erst ihre Bedeutung erlangen. Darüber hinaus scheint der Multikulturalismus manchmal die Berechtigung ästhetischer Werturteile in Frage zu stellen, indem er die neuen Werke und Stile eher auf der Basis universeller Ansprüche ethischer Fairness als durch konkrete ästhetische Rechtfertigung einführt. Nichts könnte gefährlicher für das Anliegen von Kultur an sich und die Würdigung von Differenz sein. 5. Während dem Multikulturalismus schließlich und endlich der Anspruch zugeschrieben wird, die Verschiedenartigkeiten der Kulturen zu unterstreichen, argumentieren Kritiker, dass er in Wahrheit echte kulturelle Unterschiede eher verwische, indem er Kulturen mit Fiktionen der Rasse verwechsle und sie durch das oberflächliche Kriteri-

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um der Hautfarbe individuiere. Die Bestätigung der multikulturellen Rechte der amerikanischen Ureinwohner scheint weniger Ausdruck von Respekt für die Besonderheiten der Navajo-, Seminolen-, Cherokee- und Apachen-Kulturen zu sein als des Hauptanliegens, sie alle als Opfer politischer Ungerechtigkeit zu assimilieren, welche der Unterstützung einer Politik der affirmative action bedürfen. Dasselbe könnte man über die verschiedenen Kulturen mit afrikanischen Wurzeln sagen, die in der amerikanischen Diaspora existieren und die unter dem Begriff „afroamerikanisch“ unterschiedslos in einen Topf geworfen werden. Noch deutlicher wird die monokulturalistische Verschwommenheit multikulturalistischer Konzepte im asiatisch-amerikanischen Bereich, wo die enormen Unterschiede zwischen japanischen, chinesischen, koreanischen, indischen und anderen asiatischen Kulturen einfach ignoriert werden. All dies legt nahe, dass die heutige Idee des Multikulturalismus durchaus nicht wirklich auf dem Respekt für kohärente Kulturen beruht, sondern vielmehr auf der traurigen Erkenntnis der schweren sozialen Ungerechtigkeiten, die US-Amerikaner (und Europäer) systematisch anhand rassischer Leitlinien begehen, wobei der Begriff „Kultur“ den der „Rasse“ euphemistisch substituiert. Wenn ein Begriff seine Bedeutung durch Kontraste erhält, fragt man sich in der Tat, was denn der Gegenbegriff zu Multikulturalismus ist. Eher als „Monokulturalismus“ (ein selten verwendetes oder diskutiertes Wort), wird als Antonym gewöhnlich „Eurozentrismus“ genannt; dieses Wort verleugnet jedoch die großen kulturellen Unterschiede in Europa selbst, die mit Sicherheit reicher und tiefer sind als die fünf ethnorassischen Kategorien, aus denen das multikulturelle Pentagon der USA besteht. Dass „Multikulturalismus“ ein verwirrendes und umstrittenes Konzept bezeichnet, bedeutet allerdings nicht, dass der Begriff unbrauchbar ist. Auch vage Wörter haben noch eine Bedeutung; sie eignen sich wegen ihrer Verschwommenheit sogar ausgezeichnet als politische Schlagwörter. Mit Bezug auf die philosophische Verwendung des Begriffs „Multikulturalismus“ müssen wir jedoch in Betracht ziehen, wie sich seine genaue Bedeutung entsprechend den spezifischen Kontexten der multikulturellen Debatte – von Nation zu Nation, von Disziplin zu Disziplin, von Zeitalter zu Zeitalter – verschiebt. In den Vereinigten Staaten − einem Land mit einer nichtethnischen Ideologie, das Kirche und Staat trennt und sich brüstet, ein Land der Immigration aus verschiedenen Kulturen und Ethnien zu sein, dessen Geschichte aber dennoch von der dominanten angelsächsischen Kultur geprägt ist − werden sich die dringlichsten Fragen der multikulturellen Debatte von jenen eines Landes wie Deutschland unterscheiden. Die deutsche Ideologie des Nationalen behauptet nämlich noch immer (trotz demografischer Fakten und der neueren Gesetzgebung), dass Deutschland „kein Einwanderungsland“ sei. Stattdessen wird die Frage nationaler Identität mit der romantischen Idee einer besonderen Kulturnation verbunden, die sich durch eine allen gemeinsame, verbindende Sprache, Tradition und Abstammung auszeichnet. Zudem kämpfen auch die aufgeklärten Nachkriegsgenerationen noch immer mit den lebendigen Erinnerungen an den staatlich gelenkten Genozid der Nazis an fremden Ethnien.2 2

Siehe Jürgen Habermas, Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat, in: Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M. 1997², S. 271 ff. Als Ergebnis eines vieldiskutierten neuen Ein-

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Während sich in Deutschland die multikulturelle Debatte auf die Probleme von Staatsbürgerschaft, sozialer Eingliederung und Sicherheit vor Gewalt konzentriert und vor allem auf die große Zahl (vorwiegend türkischer) „Gastarbeiter“ und deren Familien bezieht, wird in den Vereinigten Staaten das Augenmerk auf andere Brennpunkte gerichtet: Welches Maß an differenzierender kultureller Anerkennung und an ausgleichenden Begünstigungen sollte den verschiedenen durch Einwanderung entstandenen Minderheitenkulturen zugestanden werden (das bezieht sich auch auf die Kultur der nordamerikanischen Ureinwohner, die durch die Einwanderung anderer zur Minorität wurde)? Wie kann eine integrierende US-amerikanische „Leitkultur“ in dieser Vielfalt aufrechterhalten werden? Und wenn die USA nur ein Sammelbecken darstellen für die mannigfachen Bindestrich-Identitäten der Afro-Amerikaner, Asio-Amerikaner, IberoAmerikaner, Jüdisch-Amerikaner, Polnisch-Amerikaner etc. – wie lässt sich dann ein Maß an Einheitlichkeit aufrecht erhalten, das eine effektive politische Arbeit im Dienste der nationalen Interessen garantieren kann? Länder mit rivalisierenden Sprachgemeinschaften und mehr als einer offiziellen Landessprache (wie Kanada oder Finnland) stehen wieder eigenen und besonderen multikulturellen Problemen gegenüber. In Frankreich wird ein großer, auf die koloniale Vergangenheit zurückgehender Teil der ursprünglich immigrierten Bevölkerung über die Ideologie des republikanischen Egalitarismus integriert, die durch ein mächtiges, zentralistisches Bildungssystem orchestriert wird. Auch hier haben sich in letzter Zeit jedoch multikulturelle Streitigkeiten entzündet: vor allem am Verstoß gegen die schulische Kleiderordnung durch das traditionelle Kopftuch muslimischer Schulmädchen und an der Verletzung der Persönlichkeitsrechte durch religiös motivierte Rituale wie die Klitorisbeschneidung. In ein und demselben Land kann sich die genaue Bedeutung des Multikulturalismus auch von einer geschichtlichen Ära zur anderen verschieben, oft auf Grund der sich wandelnden Art und Weise, in der sich verschiedene Kulturen herauskristallisieren. So betraf der „kulturelle Pluralismus“, den Horace Kallen in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in den USA propagierte, am ehesten die verschiedenen Minderheitenkulturen der Immigranten aus Europa, die der etablierten Hegemonie der anglophonen Kultur gegenüber standen. Wie auch spätere pluralistische Bewegungen vor dem derzeitigen Boom des Multikulturalismus, wurde damals wesentlich mehr Gewicht auf religiöse Faktoren als heutige gelegt.3 Schließlich und endlich erfährt der multikulturelle Diskurs von Disziplin zu Disziplin große inhaltliche Verschiebungen. Während der Multikulturalismus in den literaturwissenschaftlichen Fächer vor allem als Gelegenheit zur Korrektur des Kanons und der erdrückenden Blindheit der kulturellen Hegemonie begriffen wird, sehen Verfassungstheorie und politische Philosophie das Problem unter ganz anderen Gesichtspunkten −

3

bürgerungsgesetzes, das im Mai 1999 in Kraft trat, wurde erst ab dem 1. Januar 2000 damit begonnen, die deutsche Staatsbürgerschaft an in Deutschland Geborene zu verleihen, deren Eltern nicht im Sinne von Abstammung und Blutsverwandtschaft deutsch sind. Aber auch jetzt bleiben strenge Beschränkungen: zum Beispiel muss sich mindestens ein Elternteil seit mindestens acht Jahren legal in Deutschland aufgehalten haben und die notwendigen Langzeit-Aufenthaltsgenehmigungen nachweisen können. Zu diesem Punkt siehe David Hollinger, Postethnic America, New York 1995.

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nämlich als einen Konflikt zwischen Gruppenrechten und individuellen Rechten. Oder mit Bezug auf das bekannte Paradoxon der Toleranz in der liberalen Demokratie: Umfasst Redefreiheit auch das Recht auf Hasstiraden? Bis zu welcher Grenze sollten wir Ansichten und Praktiken tolerieren, die selbst intolerant erscheinen? Wenn ich hier den vielfältigen Gesichtspunkten der Debatten über Multikulturalismus besonderen Nachdruck verleihe, will ich damit nicht bestreiten, dass diese Verschiedenheit in einem Zusammenspiel sich überschneidender Probleme gründet. Ich möchte aber darauf beharren, dass sich eine Analyse der Idee des Multikulturalismus der Art des philosophischen Problems bewusst sein sollte, das den Kontext unserer Fragestellung bildet. In diesem Zusammenhang motivieren mich weder die verfassungsrechtliche Frage des Konflikts zwischen Gruppen- und individuellen Rechten noch die Paradoxa liberaler Toleranz. Mein Hauptanliegen ist vielmehr die Frage, wie die Idee multikulturellen Verstehens in ein Projekt der Selbstgestaltung eingebettet werden kann, das den ästhetische Impuls in die Lebensführung integriert und Philosophie als eine kritische, melioristische Lebenskunst begreift und praktiziert.

2. Charles Taylor hat die einflussreiche These vertreten, dass die politische Agenda des Multikulturalismus – Gruppenrechte, Toleranz und Anerkennung von Andersartigkeit – dem tiefer liegenden Bedürfnis der Individuen nach distinktiven Formen des Ausdrucks und der Bildung des Selbst entspringt.4 Nach dem Zusammenbruch der traditionellen sozialen Hierarchien der Ehre entwickelte sich in der Moderne ein universalistischer und egalitärer Begriff der mit der menschlichen Persönlichkeit gegebenen Würde. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts nahm die Idee der Selbstverwirklichung der Person jedoch eine weniger abstrakte und individualisierte Form an – beeinflusst vor allem durch Rousseaus These von der Verankerung moralischer Urteile in den Intuitionen unserer natürlichen Gefühle. Diese Ansicht wurde durch Johann Gottlieb Herder in einer für das moderne Bewusstsein prägenden Weise formuliert: „Jeder Mensch hat ein eigenes Maß, gleichsam eine eigne Stimmung aller seiner sinnlichen Gefühle zueinander.“ (PA 19) Damit wird die Originalität des Ausdrucks des Selbst zentral für das moderne Ideal der Authentizität: „Es gibt eine besondere Art, Person zu sein, die meine Art ist. Ich bin aufgerufen, mein Leben in dieser Art zu leben und nicht das Leben eines anderen nachzuahmen.“ (ebd.) Ein erfülltes und authentisches Leben zu leben bedeutet Taylor zufolge also, die eigene Individualität zu artikulieren. Die für das Ideal der Authentizität konstitutiven „Ziele der Selbsterfüllung und der Selbstverwirklichung“ erfordern jedoch mehr als die dem Individuum selbst zur Verfügung stehenden Ressourcen. Die Struktur des Selbst ist nämlich ursprünglich sozial und dialogisch und wird durch unsere Interaktion mit anderen allererst konstituiert. Erst im Austausch mit anderen können wir einen Sinn entwickeln für unsere eigenen Eigenschaften, Rollen, Grenzen und unseren Eigenwert. Sogar die Bedeutung unserer zutiefst 4

Charles Taylor, Die Politik der Anerkennung, in: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M. 1993 (im Folgenden zitiert als „PA“).

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privaten Gedanken verdankt sich einer Sprache, die abhängig vom Dialog mit anderen ist und auch nur in der Interaktion mit ihnen erworben werden konnte. Wenn uns die Anerkennung der anderen für das, was wir sind, versagt bleibt, wird damit unser eigenes Selbstgefühl beeinträchtigt. Die anderen, die für unsere Identität konstitutiv sind, und deren Anerkennung eine Bedingung unserer eigenen Selbstwertschätzung darstellt, schließen nicht nur jene Bezugspersonen ein, die uns am meisten bedeuten, jene „signifikanten Anderen“ (George Herbert Mead), die uns unsere Werte vermitteln und unsere Vorbilder, Erwartungen und den Horizont unserer Selbstverwirklichung verkörpern. Über diese wichtige intime Ebene hinaus benötigen wir auch die Anerkennung größerer sozialer Gruppen, mit denen wir interagieren und an denen wir uns messen. Wenn der Charakter des modernen Selbst nicht vom Ausdruck eines allgemeinen menschlichen Wesens abhängt, sondern von der eigenen, je besonderen und authentisch gelebten Identität, dann benötigen wir mehr als die bloße Anerkennung unserer grundsätzlich gleichen Würde als menschliche Wesen. Wir sind angewiesen auf die Anerkennung des je besonderen Individuums, das wir sind. Da unsere Besonderheit jedoch auch von den charakteristischen Merkmalen der Ethnie, des Geschlechts oder der sozialen Gruppe abhängt, der wir angehören, und da die kulturellen Ressourcen dieser Kollektive auch die Mittel der individuellen Selbstbildung darstellen, scheint unser Recht auf Anerkennung der besonderen Würde als unverwechselbares Selbst wohl auch das Recht auf Anerkennung der besonderen Würde dieser Kollektive zu erfordern. Besonders im Fall von Kollektiven, die auf demütigende Weise unterdrückt worden sind, verlangt das Selbstwertgefühl des einzelnen die Anerkennung des besonderen Wertes und der Würde der Gruppe, und nicht nur den Trost, grundsätzlich als Individuum anerkannt zu werden, das mit Mitgliedern sozial angesehener Gruppen den gleichen Status der Person teilt. „Die Politik der Differenz erwächst durchaus organisch aus der Politik der universellen Würde“, während sie der im Universalismus angelegten Tendenz zur Einebnung kultureller Unterschiede entgegentritt (PA 29). Taylor argumentiert deshalb für das Recht kultureller Gruppen, ihre unterschiedlichen Identitäten zu erhalten und zu schützen, auch wenn das die persönlichen Freiheiten ihrer Mitglieder tangieren mag (wie zum Beispiel im Fall der frankophonen Bürger Quebecs, von denen verlangt wird, dass sie ihre Kinder in französischsprachige Schulen schicken). Solche Gruppenrechte lassen sich Taylor zufolge paradoxerweise aus dem Recht des Individuums auf Ausdruck seiner besonderen Identität sowie aus dem Recht auf die dafür notwendigen kulturellen Ressourcen ableiten. Die individuellen „Rechte auf kulturelle Mitgliedschaft“5 sind nämlich völlig wertlos, wenn der entsprechenden Kultur die politischen Möglichkeiten der Selbsterhaltung fehlen. Daher hält Taylor es unter gewissen Umständen für legitim, wenn kollektiven Zielen der Vorrang vor individuellen Freiheiten eingeräumt wird, um das Überleben einer gefährdeten kulturellen Spezies zu sichern (wie scheinbar im Fall der frankophonen Bürger Quebecs) (PA 44 ff.). Dagegen wenden die Verteidiger des dominanten prozeduralen Liberalismus ein, dass individuelle Rechte immer an erster Stelle stehen und absoluten Vorrang vor kollektiven Gütern haben müssen, außer die kollektiven Ziele werden selbst durch übergeordnete fundamentale Rechte von Individuen gerechtfertigt. Diese liberale Kritik be5

Vgl. Will Kymlicka, Liberalism, Community, and Culture, Oxford 1991.

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zweifelt aber nicht nur die Fundamentalität der von Taylor behaupteten Rechte, sondern betont zudem die politischen Gefahren einer bedingungslosen Anerkennung kultureller Differenzen. Der Hinweis auf das Dilemma der Toleranz des kulturellen Ausdrucks intoleranter Positionen kann dabei Fälle wie die fundamentalistische Todes-Fatwah gegen Salman Rushdie und rassistische hate speech herbeizitieren. Ich werde die Diskussion dieser wichtigen politischen Aspekte an dieser Stelle abbrechen, um vertiefend auf die auch für den Multikulturalismus grundlegende Frage der expressiven Selbstverwirklichung einzugehen. Taylors einleuchtende Argumentation muss hier durch eine genauere Betrachtung der diffizilen Dialektik ergänzt werden, die ein komplexeres Verständnis der Aufrechterhaltung von Identität durch multikulturelle Anerkennung ermöglicht. Dazu müssen wir insbesondere eine völlig neue Perspektive auf das Phänomen multikultureller Identität entwickeln, die von Taylor und anderen Philosophen bisher ignoriert worden ist. Taylor zufolge resultiert unser Bedürfnis danach, unsere Identität durch authentischen Ausdruck des Selbst zu verwirklichen, aus zwei für die Moderne charakteristischen Entwicklungen: dem Verlust einer stabilen (wenn auch nicht immer schmeichelhaften) Identität, die durch ein rigides aristokratisches System sozialer Hierarchien garantiert wurde, und einem neuen Verlangen nach einer stärker „individualisierten Identität“ (PA 17), die nicht nur Ausdruck eines allgemeinen Merkmals wie Vernünftigkeit ist. Dieses Bedürfnis, das Taylor auf die im ausgehenden 18. Jahrhundert entstandene Verteidigung des intuitiven, emotional gesteuerten moral sense gegen den übermäßigen Rationalismus von Ethiken „dürrer Berechnungen“ (ebd.) zurückführt, legt allerdings einen dritten Grund für das wachsende Verlangen nach individueller Selbstgestaltung nahe. Die Auflösung unseres Glaubens an traditionelle moralische Kodizes und die Unwahrscheinlichkeit der Ableitung allgemeiner Moralprinzipien aus einem angenommenen Wesen des Menschen haben unsere Lebensführung in zunehmendem Maße zu einer Angelegenheit von Geschmack und Stil werden lassen. Wie die Ethik damit in Ästhetik übergeht, so rückt die Kunst an die Stelle der Religion als glaubwürdigste Quelle spiritueller Werte. Das künstlerische Genie (eine positive Macht jenseits der etablierten Grenzen überkommener Gesetze) tritt als Held unserer Kultur an die Stelle des Heiligen und des Wissenschaftlers. Gleichwohl drängt uns die zunehmende Macht der demokratischen Ideologie, die künstlerische Gestaltung unseres individuellen Lebens in die eigene Hand zu nehmen (und wird darin bestärkt durch eine profithungrige Wirtschaft, die auf den Verkauf von life-styles zielt). „Jeder ist besonders“ – so klingt das paradoxe und vertraute Mantra der Werbung, wenn sie uns beschwört, unsere unverwechselbare Einmaligkeit durch den Kauf von in Massenproduktion hergestellten Gütern zu bestätigen. Taylor zufolge umfasst das Bedürfnis nach distinktiven Formen der Selbstverwirklichung ein Streben nach der Anerkennung jener kulturellen Differenz, die für die unsere Identität prägende soziale Gruppe charakteristisch ist. Die jeweilige Kultur stellt nämlich das größte Reservoir an für den bedeutsamen Ausdruck des Selbst notwendigen Ressourcen dar, die wir niemals alleine aufbringen könnten. Unser Leben bekommt eine umfassendere Bedeutung, wenn wir es als Teil eines größeren Kontextes – eines Kollektivs und seiner Geschichte – verstehen. Wenn Taylor jedoch den Künstler als Beispiel

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für eine authentische Form der Individualität anführt, bringt er ungewollt ein Problem zur Sprache. Das moderne Paradigma der künstlerischen Selbstdarstellung hat nämlich immer eine kritische Distanz zur und einen oppositionellen Standpunkt gegenüber der Gesellschaft impliziert.6 Auch die stärksten Momente künstlerischer Kreativität scheinen häufiger das Ergebnis prägender Eindrücke im Zuge kultureller Abenteuer zu sein als der limitierte Ausdruck eines ethnisch begründeten Patriotismus. Die multikulturalistische Konzeption der Selbstverwirklichung durch Bejahung kultureller Differenzen stellt uns jedoch noch vor eine weitere Schwierigkeit. Taylor und andere rechtfertigen diese Politik der Differenz, indem sie argumentieren, die Besonderheit von Minderheitenkulturen müsse mit Nachdruck betont werden, um den hegemonialen Tendenzen der Mehrheitskultur entgegenzuwirken. Diese Assimilation findet meist stillschweigend statt, indem die Besonderheiten der Minderheitenkulturen einfach ignoriert und unter einem universellen Humanismus subsumiert werden. Dann scheint es so, als drücke sich in ihnen das gleiche Wesen des Menschen aus wie in der dominanten Kultur, wenn auch auf weniger klare oder vertraute Art und Weise. Ein solcher Essentialismus beraubt, folgt man den Kritikern, die beherrschten Kulturen ihres spezifischen Wertes und Inhalts. Die Politik der Differenz beschwört jedoch eine eigene und nicht weniger gefährliche Dialektik des Essentialismus herauf. Durch die Ablehnung des traditionellen universellen Humanismus als im Dienste der Unterdrückung stehender Mythos, der die eurozentrisch-phallozentrische Hegemonie nur kaschiert, bejaht der Multikulturalismus eine anti-essentialistische Betonung kultureller Differenzen, die die historische Konstruiertheit und Komplexität menschlicher Identitäten anerkennt. In Anbetracht des tatsächlichen Preises der kulturellen Kämpfe und der problematischen Art, in der in unserer Geschichte der Unterdrückung „Minoritäten“ und ihre Kulturen identifiziert worden sind, fällt die Politik der Differenz jedoch schnell in die ihr eigene, besonders eigennützige Form des Essentialismus zurück. In einer kompetitiv organisierten Gesellschaft, deren Ideologie der Gleichheit die kompensatorische Begünstigung benachteiligter, etwa ausgebeuteter oder verfolgter, ethnischer Gruppen erfordert, versuchen einzelne Individuen sich selbst durch eine Verbrüderung mit solchen Opferkulturen Vorteile zu verschaffen. Damit wird eine gemeinsame kulturelle Essenz vorausgesetzt und auf eine oft willkürliche und opportunistische Art und Weise projiziert. Diese angenommene geteilte Essenz verdeckt die wertvollen Unterschiede der besonderen, im Namen der Essenz in einen Topf geworfenen Kulturen und ersetzt sie durch die immer gleichen primitiven Kategorien der Rasse und der Hautfarbe, die allererst in der Geschichte der Unterdrückung dieser Kulturen entstanden sind. So erinnert etwa die multikulturelle Kategorie der Asio-Amerikaner (die Asiaten des indischen Subkontinents ursprünglich gar nicht 6

Nicht nur von Künstlern, sondern auch von Philosophen wird häufig angenommen, dass sie eine kritische Distanz zu ihrer eigenen Kultur wahren und auch wahren müssen, um sich selbst authentisch äußern zu können. Das trifft nicht nur für trotzige Bilderstürmer wie Nietzsche zu, sondern sogar für Ludwig Wittgenstein, der Sprache und Kultur der „gewöhnlichen Leute“ tief verbunden war: „Der Philosoph ist nicht Bürger einer Denkgemeinde. Das ist, was ihn zum Philosophen macht.“ (Zettel, in: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt/M. 1984, § 455)

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umfasste und sie praktisch immer noch häufig ignoriert) eher an die rassistischessentialistische Vorstellung der „gelben Völker“ als an eine Politik der Anerkennung von Differenz; denn sie homogenisiert auf brutale Weise die bedeutenden kulturellen Unterschiede zwischen (und unter) Chinesen, Japanern, Koreanern, Thailändern, Vietnamesen und anderen ursprünglich asiatischen Kulturen in den USA.7 Um die Besonderheit und das spezifische Wesen einer Kultur abzusichern, müssen ihre Grenzen (besonders wenn sie leicht verletzbar oder unklar erscheinen) überwacht werden. Die Anwälte des Multikulturalismus bestehen darauf, dass sich die USamerikanische Gesellschaft für die Integration der verschiedenen Kulturen öffnen sollte, verfolgen jedoch selbst häufig separatistische Strategien des Ausschlusses im Namen der Reinheit ihrer Kultur, auch wenn sie wissen, dass die von ihnen verteidigte besondere Kultur keineswegs rein ist und ihre Besonderheit oft gerade ihrem hybriden Charakter verdankt. Die Kultur des Rap stellt in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel dar. Schon die zentrale Technik des Sampling ist ein Zeichen dafür, dass im Rap eine Ästhetik des Mischens zelebriert wird, und das ganze Genre ist das Produkt des Ineinanderblendens verschiedener Kulturen, vor allem der afrikanischen Diaspora und der amerikanischen Pop-Kultur, die im urbanen Leben zusammengeschmolzen werden. Trotz der Affirmation von Hybridität und der Streben nach einer weltweiten RegenbogenKoalition der Hip-Hop-Fans präsentiert sich die Kultur des Rap allerdings oft selbst als distinktiv und manchmal auch als exklusiv schwarze Ghettomusik. In einer Dialektik des Ausschlusses, in der abgelehnte Kulturen ihren Eigenwert durch die Ablehnung derer bestätigen, die sie ablehnen, reproduzieren die Separatisten des Rap die stolze, aber eigensinnige Strategie der Juden: Je mehr die Juden verachtet, verfolgt und in Ghettos eingeschlossen wurden, desto mehr bestanden sie auf ihrem besonderen Status als „auserwähltes Volk“ und desto höhere Hindernisse errichteten sie für die Konversion all jener, die sich mit ihrer Kultur identifizieren wollten. Solche essentialistischen und separatistisch-ausschließenden Tendenzen suchen die multikulturelle Logik der kulturellen Differenzen scheinbar unweigerlich heim. Indem der Multikulturalismus die Vorstellung eines allgemeinen menschlichen Wesens verabschiedet, um auf der Forderung nach Achtung der kulturellen Differenz beharren zu können, steht er in der Gefahr, aus solchen Unterschieden unumstößliche Barrieren zwischen füreinander undurchdringlichen Kulturen zu machen. Wenn sich die Identität der eigenen kulturellen Gruppe durch eine scharfe Abgrenzung von rivalisierenden Gruppen definiert, multipliziert man die einem wechselseitigen Verständnis im Weg stehenden Hindernisse innerhalb des multikulturellen Spektrums. Ist es aber nicht gerade das Ziel der multikulturellen Anerkennung, dass das eigene Selbst und die eigene Kultur verstanden und nicht einfach als andersartig abgestempelt werden? Die Verteidigung der Differenz scheint jedoch entscheidend, um dem kulturellen Imperialismus zu widerstehen, der auch der liberalen Standardfloskel für die Anerkennung 7

Bis in die Mitte der 1970er Jahre wurden die Inder in den Vereinigten Staaten als Caucasians registriert. Sie haben dann mit Erfolg beantragt, als Minorität reklassifiziert zu werden und sind jetzt (z. B. in der Volkszählung des Jahres 2000) als asiatische Inder kategorisiert. In der Praxis – etwa der affirmative action – wird ihr asiatisch-amerikanischer Status allerdings immer noch oft vernachlässigt.

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anderer Kulturen innewohnt: assimiliert sie und ignoriert ihre Andersartigkeit. Richard Rortys „neoliberales“ Ideal der multikulturellen Verständigung sieht demgegenüber vor, das eigene ‚Wir‘-Gefühl so auszudehnen, dass es auch jene mit einschließt, die wir nur in Form der dritten Person Plural wahrgenommen hatten.8 Solch eine gebieterische und gönnerhafte Einstellung traut einer fremden Kultur jedoch nicht im Geringsten ein eigenständiges Maß an Integrität oder einen spezifischen Eigenwert zu. Wenn Taylor richtig vermutet, „unsere Identität werde teilweise von der Anerkennung oder NichtAnerkennung, oft auch von der Verkennung durch die anderen geprägt“ (PA 13), dann ist nicht die Anerkennung als ein assimiliertes „wir“, sondern als ein geachtetes „ihr“ gefragt. Im Namen unseres Ziels der wechselseitigen Verständigung berauben wir die Anderen durch Homogenisierung und Ignoranz ihrer Differenz und verweigern ihnen damit die Anerkennung ihrer Gleichwertigkeit, die Taylor als notwendige Voraussetzung der Selbstachtung erkennt. Wie aber können wir dieses für wahre Anerkennung notwendige Verständnis einer anderen Kultur in ihren eigenen und nicht in unseren Begriffen erreichen? Wie können wir diesen scheinbaren Konflikt zwischen Anerkennung des Andersseins und gegenseitigem Verständnis überwinden? Das Problem entsteht meines Erachtens zumindest teilweise durch die einseitige Entgegensetzung von eigener Kultur und anderen Kulturen.9 Diese Einstellung liegt eindeutig Rortys Annahme zugrunde, dass die Assimilation an unsere eigene Kultur den einzigen Weg zur Anerkennung einer Minderheit durch „uns“ – die Mehrheit – darstellt. Dieser selbstbejahende Standpunkt zeigt sich jedoch auch in Taylors pluralistischer Gegenthese von der Berechtigung der selbstbewussten Forderung der Minderheitenkulturen nach „externer Anerkennung“ durch die Mehrheit. Jenseits dieser einfachen Logik der Selbstbehauptung möchte ich einen anderen Ansatz vorschlagen, der die Erkundung anderer Kulturen mit dem Ziel der Prüfung, Vertiefung und Bereicherung unseres eigenen Selbstverständnisses anstrebt.

3. Auch ein höchst aufrichtiges Streben nach einem besseren Verständnis anderer Kulturen umfasst häufig den zusätzlichen (und manchmal sogar vorherrschenden) Wunsch nach einem besseren Selbstverständnis.10 Die Suche nach einem besseren Selbstverständnis durch den Anderen als Medium entspricht dem delphischen Gebot des „Erkenne dich 8 9

10

Richard Rorty, Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989, S. 192. Ein weiterer Teil des Problems ist die fehlende Erkenntnis, wie porös und einander durchdringend verschiedene Kulturen oft sind. Obwohl ich mich auf das Verstehen der kulturell Anderen als entscheidendes Medium der Selbstverständigung und der Selbstbereicherung konzentrieren werde, bin ich der Ansicht, dass auch die Selbsterkenntnis für ein adäquates Verstehen der Anderen notwendig ist. Wir müssen unsere eigenen Überzeugungen und Standpunkte kennen, um die Anderen genauer einschätzen und ihre Ähnlichkeit mit uns wie auch ihre Differenz bewerten zu können. Verstehen setzt immer einen Hintergrund voraus, und das Selbst stellt den Hintergrund des Verstehens des Anderen dar ebenso wie der Andere den Hintergrund des Selbstverständnisses.

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selbst!“, das den zukünftigen Kurs der westlichen Philosophie dadurch bestimmen sollte, dass Sokrates es im Gespräch mit anderen zu befolgen trachtete. Die Vermittlung der eigenen Selbsterkundung durch die Verständigung mit anderen vollzieht sich nicht einfach durch eine kontrastierende Gegenüberstellung, sondern durch integrative Partizipation. Wir lernen uns selbst besser verstehen, wenn wir die kulturell Anderen in uns entdecken. Manchmal sind diese Anderen schon tief in unserem Inneren präsent und müssen nur entdeckt werden; manchmal aber lauern sie als Potentialitäten eher an den Rändern des Selbst und warten darauf, integriert zu werden. Das Selbst ist in der Lage sie aufzunehmen, weil es weder ein festgelegtes universales noch ein unveränderliches persönliches Wesen ist. Da es durch Wandel und Interaktion geformt wird, verdankt es seine Einheit nicht einem dauerhaften Kern, sondern der Stabilität und Kohärenz seiner Transformation. Beginnen wir jedoch mit der Anerkennung des produktiven Werts eines einfachen Kontrasts, der in der schon begrifflichen Interdependenz von Ich und Anderem zum Ausdruck kommt. In der Logik der Komplementarität − deren Bedeutung in der westlichen Philosophie auf Heraklit zurückzuführen ist und deren wichtigster moderner Vertreter zweifellos Hegel ist − wird alles durch sein jeweils Anderes definiert.11 Die Grenzen jeder Entität, und damit ihre Individuation, werden durch das festgelegt, was außerhalb jener Grenzen liegt, was die Umwelt konstituiert, innerhalb derer diese Grenzen errichtet und die Entitäten von ihrer Umwelt unterschieden werden können. Sich selbst als ein Selbst zu verstehen, impliziert ein Wissen darüber, dass es etwas außerhalb des Ichs gibt, etwas Anderes, im Gegensatz zu dem das Selbst bestimmt und unterschieden werden kann. Da unsere Umwelt nicht nur raumzeitlich, sondern auch sozial und kulturell strukturiert ist, ist ein Sinn für das kulturell Andere notwendig, um vor diesem Hintergrund unsere eigene Kultur und das eigene Selbst bestimmen zu können. Jenseits der bloß logischen Einsicht, dass Selbsterkenntnis die Anderen braucht, weil die Bestimmung des Selbst davon abhängt, stellen die Anderen zugleich ein Medium oder einen Gesprächspartner dar, durch den das Selbst seine Grenzen erkennen und testen kann. Diese Einsicht wird von vielen Post-Hegelianern hervorgehoben, ist aber auch schon in den an der Form des Dialogs und des Briefs orientierten Traditionen der Antike vorhanden und spielt in der fiktiven Literatur diverser Kulturen eine herausragende Rolle. Um sich selbst zu finden, muss sich der Protagonist in fremde Länder oder in die Wildnis wagen (deren natürliches Anderssein, weil es sich von der eigenen Kultur unterscheidet und eine ganz andere Lebensweise verlangt, auch auf ein kulturelles Anderssein hinausläuft). Dem kulturell Anderen entgegenzutreten, fördert nicht nur Selbstbehauptung und Selbstbewusstsein, sondern spornt uns auch dazu an, genauer zu sondieren, wer wir wirklich sind. Hans-Georg Gadamer bringt dies in seiner berühmten Diskussion des Vorurteils auf den Punkt, das er gerade aufgrund seiner einschränkenden Funktion als kognitiv befähigend versteht. Es ist nämlich unmöglich, uns unseres Vorurteils bewusst 11

Für weitere Details der Genealogie dieser Logik, ihre Entwicklung durch Nietzsche, ihre Dekonstruktion und ihre Verbindung zu der entscheidenden Idee organischer Einheit, siehe Richard Shusterman, Organic Unity: Analysis and Deconstruction, in: Pragmatist Aesthetics, New York 2000², Kap. 3.

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zu werden, solange es unbewusst wirkt. Erst die Begegnung mit einem kulturell Anderen, sogar die Begegnung mit einem Text aus der Vergangenheit, kann uns jene Vorurteile bewusst machen, die unser eigenes Verständnis leiten und unsere eigene Kultur und Persönlichkeit konstituieren.12 Wenn wir andere Kulturen jedoch als Kontrastfolie einsetzen, um unsere eigene besser zu verstehen, dürfen wir nicht vergessen, dass auch die Betonung der Unterschiede statt des gegenseitigen Verständnisses eine eigene Gefahr mit sich bringt. Wie können wir vermeiden, dass die Anerkennung solcher kulturellen Unterschiede zu einem trennenden Kampf zwischen einander gegenüberstehenden stehenden, sich selbst behauptenden kulturellen Identitäten führt, die jeweils versuchen, sich selbst durch essentielle, unersetzbare Differenzen zu definieren? Diese Frage ist außerordentlich schwer zu beantworten, nicht nur weil sie in der verwickelten Dialektik von multikultureller Differenz und wechselseitigem Verständnis wurzelt (welches dialektisch wiederum ein Verständnis auch der Differenz einschließt), sondern auch, weil die multikulturalistische Idee der Anerkennung ein komplexes Gewirr verschiedener und oft widersprüchlicher Motivationen umfasst – etwa soziale Akzeptanz, kulturelle Distinktion und ökonomische Vorteile. Wer darum kämpft, dazu zu gehören, will manchmal zugleich hervorstechen. Eine Strategie, kulturelle Kontraste zu entfalten und zugleich unüberwindliche Barrieren zwischen essentialistisch verstandenen Differenzen zu vermeiden, besteht darin, die Festigkeit kultureller Identitäten zu lockern, indem man den kontextuellen Charakter anerkennt, der ihrer Konstitution in Form von Gegensätzen in einer Umwelt zugrunde liegt. Solche Identitäten können weder sehr genau noch statisch definiert werden, sondern müssen sich mit der sich verändernden Umwelt wandeln, die ebenfalls eine Konstruktion verschiedener Elemente und ihrer variierenden Positionen ist. Deshalb können die Konstruktionen der Selbstdefinition und des Selbstgefühls in verschiedenen Kontexten verschiedene Formen annehmen, die auch abhängig sind von der Art der Anderen, die den jeweiligen Kontext bilden. Man wird sich erst richtig dessen bewusst, ein weißer Mann zu sein, wenn man plötzlich von einer großen Gruppe japanischer Frauen umgeben ist. Durch dieselbe Logik kontextueller Komplementarität wird ein patriotischer Bretone oder Korse seinen kulturellen Unterschied im Verhältnis zu Frankreich in Paris stärker als in Peking empfinden, wo er mit weitaus dramatischeren Gegensätzen konfrontiert ist. Als binationaler US-amerikanisch-israelischer Staatsbürger kenne ich die Launen kultureller Identität aus eigener Erfahrung. Da Englisch meine Muttersprache ist, wurde ich von den Israelis zum „Angelsachsen“ erklärt, während ich in Nordamerika im Kontrast zur angelsächsischen Ethnizität als Jude definiert wurde. Israel gehört geographisch zu Asien, obwohl es kulturell sehr viel näher an Europa liegt. Das Hebräische ist jedoch von ganz anderer Art als die europäischen Sprachen; und Israel wurde nicht in die Europäische Union aufgenommen, obwohl israelische Mannschaften den europäischen Sportverbänden angehören (nachdem sie aus den asiatischen Sportverbänden ausgeschlossen worden sind). Innerhalb der kulturellen Ost-West-Teilung − die genauso falsch ist wie die meisten binären Oppositionen − scheint die israelische Kultur den Ort des Bindestrichs einzunehmen (und darunter zu leiden). 12

Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, S. 270 ff.

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Als Student in Oxford schwankte ich, ob ich mich als Israeli oder als US-Amerikaner verstehen sollte, obwohl ein guter Freund, ein Sikh, eine dritte Dimension meiner ethnischen Identität aufzeigte. Da mein Vater und alle meine Großeltern aus Osteuropa kamen, war ich weder US-Amerikaner noch Israeli, sondern im Wesentlichen osteuropäischer Herkunft. Da die das Selbst bestimmende Umwelt meistens sowohl diachron aus verschiedenen historischen Perspektiven als auch synchron auf ganz verschiedene Weisen verstanden werden kann, lässt sich die Vielfältigkeit der identitätsverändernden Kontexte leicht vergrößern. In einer Welt, in der die zunehmende Mobilität und der Informationsfluss uns dazu veranlassen, unsere kontextuellen Umwelten häufig und schnell zu wechseln, überrascht es deshalb nicht, dass unser Verständnis von Identität zum Problem wird. Während dies der postmodernen Vorstellung der Auflösung des Subjekts Nahrung gibt, fördert es doch zugleich auch das gegenwärtig zu beobachtende Engagement für die multikulturelle Politik der Identität. Auf diesem Weg versuchen wir, unsere vage Vorstellung von Identität durch das Selbst stärkende distinktive ethnische Zugehörigkeiten zu schärfen, obwohl (oder vielleicht gerade weil) unsere unterschiedlichen Kulturen poröser und vermischter werden. Begegnungen mit dem kulturell Anderen befördern unser Selbstverständnis jedoch auch noch auf andere Art: nicht durch den bloßen Kontrast, sondern auch durch Weiterentwicklung oder Absorption. Mit anderen Worten: Wenn wir uns selbst auch dadurch definieren, dass wir uns mit anderen Kulturen auseinandersetzen, können wir unser eigenes Selbst durch die Assimilation von Merkmalen des Anderen sowie durch die Integration der komplexen Folgen eines solchen kulturellen Austausches überprüfen und bereichern. Durch diesen Prozess der Selbstdefinition und -entwicklung im Medium der das Selbst transformierenden Absorption des Anderen wird ein Individuum allererst „zu dem, was es ist“.13 Bei T. S. Eliot finden wir eine interessante Beschreibung dafür, wie jemandes Selbst durch ausgedehntes Lesen der Werke fremder Kulturen definiert und transformiert wird. Um die Literatur einer anderen Kultur überhaupt verstehen zu können, muss deren Bedeutungs- und Glaubenssysteme weitgehend akzeptieren: „Man muss sich selbst aufgeben, und dann wieder finden, […] aber das wiedergefundene Selbst ist niemals dasselbe, das es vorher war.“14 Wenn unreife Leser einen spannenden Autor lesen, so Eliot, „vollzieht sich eine Art von Überschwemmung, von Invasion der unterentwickelten durch die stärkere Persönlichkeit“. Je mehr Erfahrungen wir im und durch das Lesen allerdings sammeln, desto abgerundeter, gemäßigter und standfester werden unsere Überzeugungen sein. Damit wird es weniger wahrscheinlich, dass ein Autor oder eine fremde Kultur einseitig Besitz von uns ergreifen kann. 13

14

Vgl. zu dieser an den Untertitel von Ecce Homo („Wie man wird, was man ist“) angelehnten Formulierung: Shusterman, Pragmatist Aesthetics, S. 201–217. Die Zitate von Eliot stammen aus Stephen Spender, Remembering Eliot, in A. Tate (Hg.), T. S. Eliot. The Man and His Work, New York 1966, S. 56; ders., Essays Ancient and Modern, London 1936, S. 102 f.; ders., Poetry and Propaganda, in: Bookman, 70 (1930), S. 602. Für eine ausführliche Diskussion von Eliots Ansichten zum Lesen und zur Kultur vgl. Richard Shusterman, T. S. Eliot and the Philosophy of Criticism, New York 1988; ders., Eliot and Adorno on the Critique of Culture, in: Theory, Culture & Society, 19 (1993), S. 25–52.

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Da unterschiedliche kulturelle Ansichten zudem oft in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen, können wir durch die Einbeziehung einer Pluralität von Perspektiven und den Vergleich unter ihnen zu einer kritischeren Haltung gelangen. Das stimuliert wiederum die Reichhaltigkeit und den Ausdruck unserer Individualität. Ausgedehntes Lesen und andere Erfahrungen des kulturell Anderen sind deshalb „nicht als eine Art Anhäufung“ oder Sammlung von Information wertvoll, sondern „weil wir im Verlauf der Einflussnahme durch eine Kraft [einen Autor oder eine Kultur] aufhören, von dieser dominiert zu werden. Die verschiedensten Ansichten über das Leben, die in unserem Geist nebeneinander bestehen, beeinflussen einander, und unsere eigene Persönlichkeit setzt sich durch und findet für jede einen Platz in einem uns eigenen Arrangement.“ Daher drängt Eliot darauf, dass „wir die Anstrengung auf uns nehmen, in jene Welten der Poesie einzudringen, in denen wir Fremde sind“, so dass wir unsere eigene Welt und unsere eigene Kultur besser verstehen, ohne dabei in einen engstirnigen kulturellen Chauvinismus zurückzufallen. Eliot setzte, was er predigte, auch in die Praxis um. Geboren in St. Louis, Missouri, vertiefte er sich gründlich in die französische und indische Kultur, bevor er sich eingehend mit der englischen auseinandersetzte, die er sich schließlich aneignete, was bis zur Naturalisierung als britischer Staatsbürger und zur Konversion zum Anglikanismus ging. Eliots frühe Faszination für die indische Philosophie ist im Hinblick auf die Diskussion um Selbstverständnis und Selbstdarstellung im Medium des kulturell Fremden besonders lehrreich. Sein Beispiel deutet an, dass es mit Bezug auf den Anderen tatsächlich Grenzen unseres Verständnisses und der Absorption gibt, die unser stabiles und gewohntes Selbstgefühl schützen sollen. Obwohl er ursprünglich gehofft hatte, die indische Philosophie zum Hauptthema seiner Doktorarbeit zu machen, bekannte Eliot später, dass er seine Studien abgebrochen habe, weil die zur Bewältigung dieser Aufgabe notwendige Selbsttransformation ihn zu einer völlig anderen Persönlichkeit gemacht hätte, die er aus praktischen und persönlichen Gründen nicht werden wollte. Das eigene Selbst erweiternde und aufs Spiel setzende Begegnungen mit dem Anderen können bereichernd wirken, aber auch zu einer gefährlichen Destabilisierung führen. Was im Bereich der Theorie leicht und unbegrenzt erscheint, ist in der Praxis oft schmerzlich aufreibend und lähmend, wie das Beispiel von Flüchtlingen zeigt, die gezwungen sind, sich in fremden Kulturen einzurichten. Meine Schlussfolgerung besteht aber nicht in einer Ablehnung des kulturellen Reisens, sondern in der Anerkennung der damit verbundenen Risiken und Grenzen, deren Erkenntnis unsere Erfahrungsmöglichkeiten sogar noch steigern kann. Damit habe ich der folgenden ästhetischen Einsicht eine pragmatische Formulierung gegeben: Wir sollten nach kultureller Vielfalt streben, um unser Selbst zu bereichern und neu zu bestimmen – aber nur, solange dieser Vielfalt eine angemessene Einheit verliehen werden kann. Wie im gesamten Bereich der Ästhetik können auch hier keine feststehenden Regeln zur Erzeugung eines idealen Gleichgewichts angegeben werden. Geschmack, vielleicht sogar ein gewisses Maß an Genialität wird nötig sein, um diese Herausforderung zu meistern.15 15

Vgl. zu diesem Problem des Ausgleichs von Einheit und Vielfältigkeit des Selbst: Shusterman, Kunst Leben, Kap. 9; ders., Philosophie als Lebenspraxis, Berlin 2001, Kap. 1, 2, 5, 7.

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Neben Kontrastierung und Assimilation gibt es noch eine dritte Weise, in der das Verstehen des kulturell Anderen zu einem adäquateren Selbstverständnis führen kann: wenn unser kulturelles Selbst tatsächlich aus Elementen des kulturell Anderen zusammengesetzt ist und wir das bisher nicht anerkannt oder ausreichend verstanden haben. Indem wir den Anderen zu verstehen lernen, verbessern wir unser Selbstverständnis durch das Verstehen des Anderen in uns selbst. Normalerweise betrachten wir die Individualität unseres kulturellen Selbst als gegeben; wir setzen die Einheit und Autonomie unserer Kultur voraus, wobei wir ignorieren, dass unser kulturelles Selbst oft auch aus Elementen jener Kulturen besteht, die wir allzu vereinfachend als „fremd“ kategorisieren. Damit versäumen wir es, das kulturell Andere in uns selbst zu verwirklichen, und zwar in zweierlei Hinsicht: entweder, indem wir die kulturelle Andersartigkeit einfach nicht erkennen oder indem wir ihre Reichhaltigkeit nicht für uns erschließen, auch wenn wir sie erkannt haben. Betrachten wir zwei Beispiele. Die westliche Philosophie tendiert dazu, sich sowohl von der asiatischen als auch von der afrikanischen Philosophie scharf abzugrenzen (wenn sie diese überhaupt anerkennt und respektiert). Es ließe sich jedoch zeigen, dass die westliche Philosophie den asiatischen und afrikanischen Traditionen tief verpflichtet ist und diese angeblich radikal Anderen tatsächlich schon in sich aufgenommen hat. Man muss nicht auf die Debatte über „Black Athena“ eingehen und sich die radikale afrozentrische These zu Eigen machen, dass Ägypten die Hauptquelle der griechischen Philosophie ist. Wo auch immer die letzten Ursprünge liegen, es ist unbestreitbar, dass die Gedankenwelt der griechischen Antike von asiatischen und afrikanischen Quellen tief beeinflusst worden ist. Sogar Diogenes Laertius, der patriotische Chronist der frühen griechischen Philosophie, der eifrig behauptet, die Philosophie sei eine griechische Erfindung, gibt dennoch zu, dass einige der bedeutendsten griechischen Denker (wie Demokrit) nachhaltig von den indischen Gymnosophisten und den Ägyptern gelernt haben.16 Auch die europäische Philosophie der Moderne (man denke etwa an Schopenhauer) ist durchaus von asiatischen Denkrichtungen beeinflusst worden, ebenso wie die amerikanische Philosophie vermittelt über den Einfluss auf Ralph Waldo Emerson. Das Versäumnis, diese kulturell Anderen in unserer eigenen philosophischen Tradition wiederzuerkennen, stellt nicht nur eine Beleidigung für diese Anderen dar, sondern auch ein Defizit an „externer Anerkennung“; zudem aber verhindert es eine angemessene Selbsterkenntnis und ein richtiges Verständnis unserer eigenen Kultur. Für ein weiteres Beispiel, das weit außerhalb der Reichweite der Philosophie angesiedelt ist, müssen wir uns nur an das im dritten Kapitel behandelte Beispiel der Country-Musik erinnern. Der Ausdruck zutiefst patriotischer und oft sogar chauvinistischer unterstreicht den Anspruch dieser Musik, für Amerika repräsentativ zu sein. Zugleich grenzt sie sich scharf von afroamerikanischen und anderen ethnisch geprägten Musikstilen ab. Tatsächlich ist Country jedoch tief in der schwarzamerikanischen musikalischen Tradition der Vereinigten Staaten verwurzelt. Die ersten und auch heute noch stilprägenden Country-Stars, wie Jimmie Rodgers und Hank Williams, lernten ihr Handwerk bei schwarzen Musikern. Der Einfluss war ursprünglich so evident, dass Country in Plattengeschäften und Musikzeitschriften zunächst in einer gemeinsamen 16

Diogenes Laertius, Leben und Lehre der Philosophen, Stuttgart 1998, IX. 35, S. 423.

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Kategorie mit der Musik der Schwarzen auftauchte. Und der Sound der Steel Guitar, den Country-Fans als authentischstes Merkmal dieser Musikrichtung schätzen, wurde in Wirklichkeit erst in den 1940er Jahren importiert – aus Hawaii. Diese fremden ethnischen Wurzeln wurden von den heutigen Country-Fans, die sich als Beschützer einer Tradition verstehen, schnell verdrängt. Aus dem öffentlichen Bewusstsein sind sie aber nicht einfach im Lauf der Zeit verschwunden, sondern aufgrund eines Strebens nach Aufrechterhaltung einer auf einer imaginären kulturellen Reinheit basierenden Authentizität. Damit ist ein alternatives, auf einer anregenden Mischkultur basierendes Modell ausgeschlossen worden. Dem Streben nach Reinheit liegt jedoch die falsche Annahme zugrunde, dass kulturelle Identität durch die Inklusion von Elementen aus anderen Kulturen beeinträchtigt und geschädigt wird. Eine solche Annahme muss die augenfällige Tatsache leugnen, dass die meisten Kulturen im dialogischen Austausch untereinander entstandene hybride und historische Konstrukte sind und dass kulturelle Traditionen, gerade wenn sie Synthesen multikultureller Einflüsse darstellen, beständiger und vielfältiger erscheinen. So verdanken sich etwa der Ausdrucksreichtum und die Anziehungskraft der englischen Sprache zu einem Gutteil der Absorption von Elementen sowohl des Französischen als auch des Deutschen. Wenn die US-amerikanische Kultur heute mächtiger zu sein scheint als die englische, von der sie abstammt, so ist das weitgehend ein Ergebnis der (nicht immer freiwilligen oder geglückten) Integration verschiedenster pulsierender Kulturen im Zuge der aufeinander folgenden Einwanderungswellen. Sogar die jüdische Kultur verdankt ihre Langlebigkeit und ihren Reichtum, trotz der beharrlich separatistischen Ideologie des „auserwählten Volkes“, vor allem der geschickten kulturellen Anpassung und der Aneignung von Elementen der dominanten (etwa hellenistischen, arabischen und europäischen) Nachbarkulturen. Dieser kulturelle Synkretismus tritt schon in der hebräischen Kultur des Alten Testaments deutlich hervor. Wenn unser Selbstverständnis als westliche Philosophen (oder als Country-Fans) die Anerkennung jener fremden Wurzeln und Elemente erfordert, die an der Bildung unserer Traditionen mitgewirkt haben, wie lässt sich diese Form der Erkenntnis dann genauer charakterisieren? Zwei Ebenen sollten hier unterschieden werden. Das Erkennen des Anderen in unserem eigenen kulturellen Selbst kann einfach in der Anerkennung der historischen Faktizität dieser anderen Elemente bestehen. Solch eine einfache Anerkennung scheint mir jedoch nicht ausreichend für ein echtes Verstehen des Anderen in uns selbst zu sein; daher kann sie auch nicht zu einem umfassenden Selbstverständnis führen. Statt uns die Existenz des inneren Anderen einfach nur einzugestehen, müssen wir dieses kennen lernen und in unser Selbst integrieren, wir müssen es begreifen und damit allererst erschließen, was vorher nur unerkannt und implizit zu uns gehörte. Das erfordert eine personenzentrierte Disziplin der Cross-Cultural Studies, deren Grenzen und deren Erkenntnisse sich ständig auszudehnen scheinen, deren „transglobale“ Reiserisiken aber keinesfalls vernachlässigt werden dürfen. Diese Risiken sind mir aus persönlichen Erfahrungen wohl bekannt, da mein eigenes philosophisches Leben schon durch die transkulturelle Suche nach Selbstverwirklichung strukturiert worden ist, bevor ich mir dessen bewusst werden konnte. Während mir das Verlassen der US-amerikanischen Heimat im Alter von sechzehn Jahren und das darauf

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folgende Leben – Arbeit, Studium und Militärdienst – in Israel eine viel tiefere Erkenntnis meiner jüdischen Identität eröffnete, hat dies mich doch zugleich auch der USamerikanischen Kultur, die mich geprägt hatte, zutiefst entfremdet. Paradoxerweise erschwerte mir der lange Aufenthalt in Israel bei der Rückkehr in die USA die Reintegration in die dortige jüdische Gemeinde.17 Selbst heute fühle ich mich immer noch nicht zu Hause angekommen. Vielleicht werde ich das niemals können. Wie für die meisten Binationalen ist auch für mich Heimat ein anderer Ort und wird es immer – auch in Israel – sein. Obwohl ich für die bereichernden Erfahrungen in Israel dankbar bin, bedrückt mich manchmal der Verlust einer unverfälschten und eindeutigen USamerikanischen Identität, besonders wenn ich daran denke, wie sehr ich mich mit dem amerikanischen Pragmatismus identifiziere. Genau dieses Bedürfnis, meine Identität durch die erneute Aneignung eines in mir vergrabenen kulturell Anderen zu vertiefen, veranlasste mich dazu, die USA erneut zu verlassen und Berlin für achtzehn Monate zu meiner Heimat zu machen (meine dortigen Erfahrungen haben in die im vierten Kapitel vorgestellte Ästhetik des Urbanen Eingang gefunden). Als Anhänger des Pragmatismus erkannte ich, wie sehr diese klassische amerikanische Philosophie von der deutschen Kultur geprägt war und auf welch interessante Weise sie mit bestimmten Strömungen gegenwärtigen deutschen Denkens (einschließlich der philosophischen Anthropologie) konvergiert. Als weltlicher jüdischer Intellektueller erschloss sich mir die profunde Formung dieser kulturellen Identität durch die deutsche Kultur. Sogar mein Familienname trägt eine deutsche Prägung, obwohl ich keine mir bekannten deutschen Vorfahren habe. Obwohl ich die deutsche Kultur lange Zeit nicht nur als fremd, sondern auch als feindlich betrachtete (und ihre Sprache und Literatur daher mied), hat sie meine Identität zweifellos vielfach gezeichnet, was sich sogar in etwas so Persönlichem wie meinem Nachnamen spiegelt. Um diesen Prägungen einen präzisere Bedeutung geben zu können, waren bessere Kenntnisse der deutschen Kultur und Sprache erforderlich; und da ich nur begrenzt aus Büchern zu lernen imstande bin, war mir klar, dass ich für einige Zeit nach Deutschland gehen musste. Diese für die Selbsterkenntnis notwendige Auseinandersetzung mit dem kulturell Anderen erforderte zugleich eine Distanzierung von der US-amerikanischen Kultur, einschließlich der amerikanischen Philosophie. Natürlich ist der philosophische Drang zur Selbsterkenntnis nie als mühelos und sorgenfrei empfunden worden, auch wenn das Ziel Frieden und Ruhe versprach. Für mich war es in Deutschland jedoch besonders schwierig, zwischen der gesunden Askese der philosophischen Selbstverbesserung und jener verwickelten psychischen Selbstquälerei zu unterscheiden, die einen weiter vorantreibt als man gehen sollte. Im Rahmen der kosmischen Ökonomie scheinen Gewinne immer auch Verluste mit sich zu bringen. Meine eigenen Erfahrungen legen jedoch nahe, dass die Philosophie durch ihre sture Weigerung, das kulturell Andere in uns anzuerkennen und aufzunehmen, eher gravierende Verluste riskiert, denen keine Gewinne entsprechen. Dieses Plädoyer für größere Offenheit könnte auf die Einbeziehung persönlicher Erfahrungen und Zeugnisse als eines „Anderen“ des akademischen Diskurses der Philosophie ausgedehnt werden. Das mit dem persönlichen Zeugnis in den letzten beiden Absätzen einherge17

Shusterman, Philosophie als Lebenspraxis, Kap. 7.

SELBSTBILDUNG ZWISCHEN KULTUREN

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hende Unbehagen ist denn auch eher stilistischer denn philosophischer Natur. Wir können den Bezug auf autobiografische Details nicht dadurch als Argument disqualifizieren, dass wir die angebliche Zuständigkeit der Philosophie für das Notwendige gegen deren Zufälligkeit ausspielen. Für bestimmte Themen der Philosophie mag dies zutreffen, sicherlich aber nicht für jene, die ein Verständnis unseres kontingenten Selbst erfordern. Unter der Oberfläche liegen die Motivationen in diesen Fragen immer im Persönlichen, auch wenn dies auf der Ebene des expliziten Diskurses verpönt ist. Warum aber sollten wir uns überhaupt philosophisch mit unserem Selbst und dem des Anderen auseinandersetzen, wenn uns dazu nicht persönliche Erfahrungen der Unzulänglichkeit und der Wunsch drängen, unser Verständnis nicht nur in der Theorie, sondern auch in der konkreten Lebenspraxis zu verbessern? Aus dem Amerikanischen von Eva Kimminich

Kapitel IX

Genialität und das Paradox der Selbststilisierung

Genius only genius can explain. Walisisches Sprichwort

1. Spricht man über Stil, so liegt das Augenmerk im Allgemeinen auf der Kunst, obwohl dem Begriff in unserem Alltag eine viel umfassendere Rolle zukommt. In der Wahl der Kleidung, die wir tragen, der Speisen, die wir verzehren, der Umwelt, in der wir leben, aber auch des Umgangs, den wir pflegen, kann Stil unser ethisches Tun ebenso prägen wie unsere Bemühungen um Selbstverwirklichung. Stil ist daher Teil dessen, was der Philosophie der Antike und zu Beginn der Moderne auch Michel de Montaigne als „wertvollste aller Künste“ galt: die Kunst, „unser Leben recht und natürlich zu leben“. Das Leben sollte ihnen zufolge unser größtes Meisterwerk sein. Und Montaignes eigenes (auch künstlerisches) Meisterwerk der introspektiven Selbsterkundung ist tatsächlich nicht von seinem Leben trennbar.1 Bei Montaigne ist die Vereinigung von Leben und Literatur sicher besonders ausgeprägt. Ausgehend von der plausiblen Annahme, dass Kunst immer in irgendeiner Weise auf dem Leben basiert, könnte man allerdings verallgemeinern und dafür argumentieren, dass der künstlerische Stil vom eigenen Lebensstil abhängt und dass der eigene Lebensstil in den Stil der Werke eines Künstlers eingeht. Das schließt die umgekehrte Sichtweise nicht aus, dass Kunstwerke unser Leben beeinflussen, wie Platon bekanntlich argumentierte, als er die Kunst dafür verdammte, dass sie die Moral korrumpiere. Antike Denker wie Seneca waren davon überzeugt, dass Lebensstile – nicht nur von Individuen, sondern auch von Gesellschaften – auf natürliche Weise in entsprechenden literarischen Stilen zum Ausdruck kommen.2 Und moderne Denker wie Hippolyte Taine oder Pierre Bourdieu unterstreichen, wie der Stil eines Kunstwerkes von der stilistischen Disposition oder dem Habitus des Autors geprägt wird, der wiederum von den

1

2

Michel de Montaigne, Essais, Frankfurt/M. 1998, III.13 (Über die Erfahrung), S. 561; vgl. auch I. 26 (Über die Knabenerziehung), S. 92. Vgl. Seneca, Briefe an Lucilius, 114. Brief, Hamburg 1993, S. 272 ff.

GENIALITÄT UND DAS PARADOX DER SELBSTSTILISIERUNG

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allgemeineren Bedingungen seines sozialen Milieus beeinflusst ist, das die spezifischen Strukturen und möglichen stilistischen Spielräume des künstlerischen Feldes umfasst. Dennoch verfolgt die dominante Ästhetik sowohl der Antike wie der Moderne die Strategie einer Trennung von Kunst und Leben, die Aristoteles als erster scharfsichtig entfaltete, um Platons Kritik an der Kunst als ethischer Korruption zu entwaffnen. Dieser Keil wird von Aristoteles auf subtile Weise zwischen Kunst und Leben eingeführt, indem er die Kunst als poiesis (Herstellen) bestimmt und dann scharf vom wirklichen Handeln der praxis unterscheidet.3 Die Praxis und das Handeln – der Bereich des Lebens und der Ethik – hängen Aristoteles zufolge vom Charakter des Handelnden ab und wirken entsprechend auf diesen zurück. Das Ziel des Handelns liegt nicht in einem äußeren Objekt, sondern in der Tugend des Handelnden selbst, zu der die Handlung wiederum beiträgt. Im Unterschied dazu stellt das Kunstwerk ein externes Produkt eines durch Übung verbesserbaren Herstellungsprozesses dar, dessen Charakter (oder Wert) unabhängig vom Charakter des Herstellenden ist und daher keinen Einfluss auf diesen hat. Wer Schönes herstellt, kann in jeder Hinsicht hässlich und niederträchtig sein. Sein Charakter wird durch das schöne Werk auf keine Weise geadelt. Diese Trennung des Kunstwerks von der Persönlichkeit des Künstlers hat unsere ästhetische Tradition zutiefst geprägt. Im 20. Jahrhundert wurde sie nicht nur vom thomistischen Philosophen Jacques Maritain bestätigt, sondern bildete auch das Kernstück des avantgardistischen Modernismus T. S. Eliots. Eliots berühmte „unpersönliche Theorie der Poesie“ (die er in Tradition and the Individual Talent und anderen Essays formulierte) bestand in der einflussreichen Behauptung: Je größer der Dichter, desto größer der Abstand zwischen der Person, die leidet, und dem Künstler, der schafft. Die vom New Criticism propagierte Kritik des intentionalistischen Fehlschlusses (der zufolge die Bedeutung eines Textes nicht aus den Absichten des Autors abzuleiten sei) hat diese Logik der Trennung fortgeschrieben ebenso wie die noch radikalere postmoderne These vom Tod des Autors.4 Es gibt jedoch auch eine alternative ästhetische Tradition, die eine größere Einheit von Kunst und Leben und von Herstellen und Handeln vertritt. Das vorliegende Buch setzt meine früheren Bemühungen um eine Wiederbelebung dieser ästhetischen Tradition fort: nicht nur durch die Erinnerung an die antike Botschaft und ihre modernen Formulierungen bei Montaigne, Nietzsche, Dewey und Foucault, sondern auch durch ihre Weiterentwicklung im Zuge einer pragmatistischen Ausrichtung des Projekts. Die Legitimation einer Ästhetik der populären Kunst könnte zusammen mit einer verkörperten Ethik der Stilisierung des Selbst zu einem umfassenderen und demokratischeren Verständnis der Kunst beitragen. Wenn deren wichtigstes Genre, die „Kunst, gut zu leben“, von allen praktiziert werden könnte, würde sich Schönheit viel unverkürzter in moralischer Integrität, politischer Fairness und sozialer Harmonie, und nicht nur in den Werken der Kunst ausdrücken. Wenn die Gestaltung des Lebens und des Charakters aber nicht nur die höchste Kunst darstellt, sondern auch von allen praktiziert werden kann, 3 4

Beispielsweise in der Nikomachischen Ethik (VI, 1140 a 1–b 25). Vgl. für eine detaillierte Darstellung von Eliots Theorie der Unpersönlichkeit und der Begründung ihrer späteren Aufgabe: Richard Shusterman, T. S. Eliot and the Philosophy of Criticism, New York 1988.

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SOMÄSTHETIK UND LEBENSSTIL

sollte die Ästhetik dem Begriff der Selbststilisierung eine größere Aufmerksamkeit widmen. In diesem letzten Kapitel möchte ich mich einem bisher vernachlässigten, aber entscheidenden Komplex von Fragen zuwenden, der mit dem Begriff des persönlichen Stils verknüpft ist. Dabei werde ich mich vor allem auf die Theorien Ralph Waldo Emersons, Friedrich Nietzsches und Ludwig Wittgensteins beziehen. Als einflussreiche Verteidiger der Lebenskunst bestehen diese Autoren darauf, dass sich der Stil von Kunstwerken aus den Grundzügen des Lebensstils oder des Charakters des Künstlers ergibt. Wenn die grundlegende Fragestellung der Selbststilisierung darauf zielt, was ein Individuum benötigt, um Stil zu haben, so knüpfen daran unmittelbar weitere, spezifischere Fragen an: Inwiefern setzt ein individueller Stil Genialität oder Charakter voraus? Was genau ist gemeint, wenn wir von Genialität und Charakter sprechen? Und wie können diese Eigenschaften (und damit Stil) erworben werden? Beim Versuch der Beantwortung dieser Fragen verwickeln uns die Theorien Emersons, Nietzsches und Wittgensteins in ein dunkles Gewebe bedeutsamer Doppeldeutigkeiten, die sich zu einer Reihe zutiefst faszinierender Paradoxa verschärfen: Die Kraft des individuellen Stils liegt nicht in dessen Individualität, sondern gerade in einer überindividuellen Macht; das Geheimnis der Aneignung von Stil besteht darin, sich selbst treu zu bleiben und sich zugleich radikal zu verändern; die Genialität der Selbststilisierung erfordert die geduldige Disziplin perfektionistischen Strebens und glückt dennoch erst dann, wenn man loslässt und sich selbst aufgibt. Bevor diese komplizierten Verflechtungen ausgelotet werden können, sollte der Klarheit zuliebe allerdings die nicht neue Unterscheidung zwischen den Begriffen des generischen bzw. taxonomischen und des individuellen Stils beachtet werden. Offensichtlich zutreffend, aber vielleicht trivial ist die Aussage, dass ein Individuum Stil zeigt, wenn es einen Stil im taxonomischen Sinne exemplifiziert (wenn es etwa auf stoische oder epikureische Weise lebt, in einem barocken Stil malt, im Stil des 17. Jahrhunderts schreibt oder sich im Stil des petit tailleur von Chanel kleidet). Wenn wir jedoch sagen, ein Individuum habe Stil, meinen wir mehr, nämlich etwas viel Spezifischeres und Persönlicheres, das etwa die Künstlerin auch von jenen anderen unterscheidet, mit denen sie einen allgemeinen Stil teilen mag. In diesem Sinne dient der Stil wie eine ‚Signatur‘ dazu, eine Person als Individuum hervorzuheben. Deshalb kann das Exemplifizieren eines allgemeinen taxonomischen Stils nicht als hinreichende Bedingung dafür gelten, Stil zu haben. Noch scheint es eine notwendige Bedingung zu sein, denn wir können uns leicht vorstellen, von einer innovativen Schriftstellerin zu sagen, dass ihr besonderer Stil von keinem traditionellen taxonomischen Stil abgedeckt werde und dass ihr Stil doch und vielleicht gerade deswegen besonders ausgeprägt sei.5 Taxonomische Kategorien des Stils könnten aber dennoch zur Charakterisierung eines individuellen Stils behilflich sein. 5

Daraus kann dann ein eigener taxonomischer Stil entstehen, so dass wir einen Van Gogh-, Hemingway- oder Chanel-Stil in den Arbeiten anderer Künstler wieder erkennen können. Es versteht sich von selbst, dass sich generische Stile abhängig vom jeweiligen Kontext unterschiedlich stark differenzieren lassen: So können wir von einem abstrakten Stil sprechen oder genauer von einem abstrakt-expressionistischen Stil, einem abstrakt-minimalistischen Stil, etc.

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2. Was also benötigt ein Individuum, um Stil zu haben? In ihren Ausführungen zu den Quellen des individuellen Stils beziehen sich so tiefgründige Denker wie Emerson, Nietzsche und Wittgenstein häufig auf zwei weitere Begriffe: Genialität und Charakter. Etymologisch sind Charakter und Stil eng miteinander verbunden: Beide Begriffe leiten sich von den Gravur- und Schreibkünsten ab und bezeichnen ursprünglich spitze Werkzeuge, mit denen ein Zeichen in eine ebene Oberfläche eingeritzt wird. Unser jeweiliger Stil funktioniert also als ein spezifischer Aufdruck, der unserem Selbst eingraviert ist. Was den Begriff des Genies und der Genialität betrifft, so ist dieser abgeleitet von den lateinischen und griechischen Wörtern (gignere und γίγνεσθαι) für „erzeugen“ und „geboren werden“ und legt ein besonderes natürliches Merkmal oder eine angeborene Begabung des Individuums nahe. Doch die ursprünglichen Wurzeln des Genies – des Genius – reichen noch weiter zurück – bis auf das Übernatürliche, auf das der griechische Begriff daimon (δαίµων oder δαιµόνιον) verweist, der „eine Schutzgottheit oder einen wachenden Geist“ bezeichnet, „der jeder Person bei der Geburt zugeteilt wird, um über ihr weiteres Leben zu wachen und ihren Charakter zu prägen“.6 Emerson bemerkte dazu: „Die Alten glaubten, ein Genius oder ein guter Geist wache über einen jeden und leite ihn, wenn er es denn zulässt, geleitet zu werden, in guter und erfolgreicher Weise; dieser Genius lasse sich manchmal auf übernatürliche Weise vernehmen und sogar sehen – als Stern unmittelbar über dem Kopf des Geleiteten.“ Solche „Schutzgeister“ zeigten sich indes meistens doch allein ihren menschlichen Schützlingen als leise innere Stimme; wie im Fall des berühmtesten daimon der antiken Welt, dem des Sokrates.7 Später machte die wachsame und eifersüchtig monotheistische Kirche aus diesen führenden und schützenden Geistern böse Dämonen. Doch die alte Bedeutung des Genies bzw. des Genius als persönlicher, demiurgischer Geist, der uns leitet und lenkt, ist doch auch in unseren modernen Begriff des Genies eingegangen, auch wenn dieser bezeichnenderweise ganz vom inneren Charakter des Einzelnen aufgesogen worden ist. Das lässt sich nicht nur an den Ansichten Emersons und Goethes zur Verbindung des Genialen mit dem Dämonischen nachvollziehen, sondern sogar beim weitaus weniger theologisch inspirierten Nietzsche, der vor dem Verlust warnt, den erleidet, wer nicht länger auf den orientierenden Ruf des eigenen Genius hört: „Es giebt kein öderes und widrigeres Geschöpf in der Natur als den Menschen, welcher seinem Genius ausgewichen ist und nun nach rechts und nach links, nach rückwärts und überallhin schielt.“ Unser einzigartiger schützender Genius wird dabei von einer personalisierten externen Gottheit in einen individuellen inneren Geist verwandelt. Nietzsche legt jedoch nahe, dieser sei manchmal auch äußerlich sichtbar: „Ein jeder trägt eine productive Einzigkeit in sich, als den Kern seines Wesens; und wenn er sich dieser Einzigkeit bewusst wird, erscheint 6 7

Siehe die Einträge „demon“ und „genius“ in der 2. Auflage des Oxford English Dictionary. Ralph Waldo Emerson, Demonology, in: The Early Lectures, Cambridge/MA 1972, Bd. 3, S. 160. Vgl. auch die spätere Version dieses Vortrags in Emerson, Lectures and Biographical Sketches, New York 1911. In diesen Texten zitiert Emerson Goethes Charakterisierung des Dämonischen, aber nur um sie zurückzuweisen.

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um ihn ein fremdartiger Glanz, der des Ungewöhnlichen.“ So verstanden, ist Genialität auch ein unterscheidendes Zeichen (wie ein Stil oder ein Charakter), das dem Individuum durch einen mächtigen Geist – mag er von innen oder von außen kommen – eingraviert wird. „Des Menschen Charakter ist sein Schicksal [daimon]“, erklärte der alte Heraklit, während in unserer Zeit Wittgenstein eine ähnlich tiefe Verbindung suggeriert, wenn er behauptet: „Das Maß des Genies ist sein Charakter.“8 Neben der antiken Etymologie, teilen die Begriffe des Charakters, des Stils und des Genies eine systematische Doppeldeutigkeit: Alle drei schwanken zwischen einer neutralen und einer normativ auszeichnenden Bedeutung. In dem einfachen Sinn, dass jeder eine besondere Persönlichkeit oder eine besondere Art hat, Dinge zu tun, die für das Individuum charakteristisch ist und sich daher (wenn auch nur leicht) von anderen unterscheidet, hat jede und jeder Charakter und Stil – selbst wenn es ein schwach ausgeprägter und nicht besonders komplexer Charakter oder ein banaler, linkischer oder geschmackloser Stil ist. Doch das meinen wir nicht, wenn wir in normativer Hinsicht von Charakter oder Stil sprechen. Damit verbinden wir etwas Positiveres und Anspruchsvolleres als bloß eine persönliche Art, Dinge zu tun. Das Gleiche gilt für das Genie, dessen (heute kaum noch geläufige) einfache Bedeutung nur die „charakteristischen Dispositionen“ einer Person bezeichnet, ihre „Neigungen“ oder „ihre natürlichen Anlagen“. Die normativ aufgeladene Bedeutung bezieht sich jedoch auf eine „angeborene und herausragende intellektuelle Kraft“ oder eine „außergewöhnliche Fähigkeit des innovativen Schöpfens sowie des originellen Denkens, Erfindens oder Entdeckens“. Im ersteren Sinn konnte Samuel Johnson behaupten, dass „jeder Mensch Genialität besitzt“, im letzteren Sinn (den Johnson nicht kennen konnte, als er 1755 sein berühmtes Wörterbuch zusammenstellte) kann jedoch nur eine ausgesuchte Elite als wahrhaft genial gelten. In diesem erhabenen, von der Romantik geprägten Verständnis wird das Genie auch vom bloßen natürlichen Talent unterschieden.9 Doch was zeichnet Genie, Stil und Charakter im normativ hervorgehobenen Sinn tatsächlich aus? Bloße Einzigartigkeit ist nicht genug, auch nicht die Abweichung von etablierten Regeln. Denn dann würde jede Merkwürdigkeit als Stil zählen, jede Monstrosität als Charakter und jede exzentrische Maskerade als Genie. Solche Verwirrungen seien an der Tagesordnung, beschwerte sich Goethe, und es scheine, als sei es „leicht, genialisch zu sein“, da man, unternehme man „etwas Verkehrtes ohne Zweck und Nutzen“, schon als Genie gelte. Mutwillige Perversion und Regelverstoß wurden so im Namen des Genies freimütig gefördert. Um einen solchen Missbrauch zu vermeiden, bemühte sich Kant um eine Definition des Genies als besondere „angeborene Gemütsanlage (ingenium) durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt“. Da diese Regel eine nicht begrifflich fassbare Originalität verlange, sei sie von natürlichen Begabungen 8

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Vgl. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III, Schopenhauer als Erzieher, Kap. 1, KSA, Bd. 1, S. 338; Kap. 3, S. 359 (im Folgenden zitiert als „S“); Heraklit, DK 22 B 119 (Jaap Mansfeld (Hg.), Die Vorsokratiker, Bd. 1, Stuttgart 1999, S. 275); Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt/M. 1984, S. 499 (im Folgenden zitiert als „VB“). Das Zitat von Samuel Johnson (dessen Fortsetzung lautet: „mein Genie befindet sich immer im Extremen“) stammt aus einem Brief von 1780, der in der 2. Auflage des Oxford English Dictionary zitiert wird, im Eintrag zu „genius“, aus dem auch die anderen Zitate dieses Absatzes stammen.

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abzuleiten und nicht von bloß erlernten Fähigkeiten (hier spielt Kant auf ihre Inspirationsquelle im „eigentümlichen, einem Menschen bei der Geburt mitgegebenen, schützenden und leitenden Geist“ an). Andererseits muss das Genie, „da es auch originalen Unsinn geben kann“, durch seine Maßstäbe setzende Rolle als erfolgreiches Vorbild für Nachahmungen oder als „Regel der Beurteilung“ gelten können.10 Diese Exemplarizität also verleiht Stil, Charakter und Genie ihre auszeichnende Kraft. Wie aber kann sie durch Natürlichkeit eher garantiert werden als durch Einzigartigkeit? Auch in der Natur gibt es ja Unsinniges und Monströses, das nicht als Regel zur Nachahmung dienen kann. Emersons Lösung bestand darin, die Normativität des Genies noch tiefer in der Wahrheit, in einer spirituellen Wahrheit zu verwurzeln, welche die der oberflächlichen Mannigfaltigkeit der Natur zugrunde liegende, einheitliche Seele bildet. „Genialität“, so Emerson, „besteht in der spontanen Wahrnehmung und Vorstellung der Wahrheit. Ihr Ziel ist die Wahrheit. Wer denkt, das Genie befasse sich mit Einbildungen und Trugbildern, irrt. Das Genie hat nichts Fantastisches oder Irreales, sondern die wahrste Seele.“ Und diese Wahrheit ist die des Geistes – „keine Wahrheit der Tatsachen, Zahlen, Daten und Messungen, die nur armselig, niedrig und sinnlich ist, sondern ideale Wahrheit“. Emerson war nicht der Einzige, der Genialität mit Wahrheitsliebe verband. Auch Goethe, der die mysteriöse Dimension des Dämonischen sehr wohl anerkannte, befand: „Das Erste und Letzte, was vom Genie gefordert wird, ist Wahrheitsliebe.“11 Die Wahrheit aber bringt ihre eigenen Paradoxa hervor. Sind nicht Lügen und Täuschungen Teil der tiefsten Wahrheit der Natur, insbesondere der menschlichen Natur, wie Nietzsche nahe legt? In einer Welt, die „falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn“ ist, gilt: „Wir haben Lüge nötig, […], um zu leben… Daß die Lüge nötig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins… Um sie [die Aufgabe] zu lösen, muß der Mensch schon von Natur Lügner sein, er muß mehr als alles andere Künstler sein.“ Und sind nicht die größten Errungenschaften des Genies gerade Produkte unseres „Genie[s] der Lüge“? Nicht nur die Kunst, sondern „die Metaphysik, die Moral, die Religion, die Wissenschaft“, sie alle scheinen von unserem natürlichen und lebensnotwendigen Willen „zu Lüge, zur Flucht vor der ‚Wahrheit‘, zur Verneinung der ‚Wahrheit‘“ abzuhängen.12 Wenn das Genie auf den Säulen der Wahrheit und der Natur aufruht, so sind diese paradoxerweise wieder in Lügen verankert. Es ergeben sich aber noch weitere Probleme, wenn man die Herausgehobenheit des Genies durch die umfassenden Werte der Natur und der Wahrheit festlegen möchte. Alle Menschen sind nämlich Teil der Natur – und sollte nicht auch die Wahrheit (zumindest idealiter) allen Menschen gemein sein? Wie könnte das Genie dann seinen 10

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Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Werke (Hamburger Ausgabe), München 1976, Bd. 10, S. 161; Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 46, A 178 ff., Frankfurt/M. 1990, S. 241 ff. Ralph Waldo Emerson, Genius, in: The Early Lectures, S. 71, 73 (im Folgenden zitiert als „G“); Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, Werke (Hamburger Ausgabe), München 1973, Bd. 12, S. 472. Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, Stuttgart 1964, § 853, S. 576.

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exemplarischen Status erreichen, ohne einem elitären Snobismus zu verfallen? Muss das geniale Individuum nicht eine überindividuelle Kraft manifestieren, um als Genie rechtmäßig den Status eines Vorbildes reklamieren zu können? Statt dieser Verwicklung von Dilemmata auszuweichen, geht Emerson – den Dewey zutreffend als „den Philosophen der Demokratie“ bezeichnete – das Problem frontal an, indem er seiner Lösung selbst in eine weitere Paradoxie verpackt: Die Unverwechselbarkeit des individuellen Genies besteht in nichts anderem als dem tieferen Ausdruck des Alltäglichen und Gewöhnlichen. Das Genie ist in zwei zusammenhängenden Hinsichten besonders gewöhnlich. Seine Hauptleistung besteht darin, den erstaunlichen Wert, den Geist und die göttliche Würde zu enthüllen, die in den einfachsten Begebenheiten und den bescheidensten Gestalten des gewöhnlichen Lebens verborgen liegen, die wunderbare Poesie des prosaischen Alltags aufzudecken. „Wir schulden dem Genie immer das Gleiche“, so Emerson, „nämlich das Lüften des das Alltägliche verdeckenden Vorhangs, das uns die Götter sehen lässt, die sich in der scheinbar nur aus Zigeunern und Hausierern bestehenden Menge verstecken“. Das Genie ist daher am erfolgreichsten, wenn es vom gewöhnlichsten Material ausgeht und, großtuerische Offenbarungen vermeidend, danach strebt, „sein feuriges Denken in einfachen Worten auszudrücken“. „Genialität und Tugendhaftigkeit kommen, wie Diamanten, am besten vor einem schlichten Hintergrund, in einer Fassung aus Blei, in ärmlichen Umständen, zur Geltung.“13 Aber das Genie ist auch deshalb besonders gewöhnlich, weil es den vollkommensten Ausdruck des Herzens und der Seele der Menschheit darstellt. Selbst wenn es während seiner Höhenflüge einsam zu sein scheint, „das Genie ist immer repräsentativer und kommunikativer Ausdruck der Seele der Menschen“. „Das Genie setzt uns nicht von seinem eigenen Wohl, sondern vom Gemeinwohl in Kenntnis.“ (G 81, 83). Dem Genie kommt Autorität weder durch snobistisches Prestige noch durch Vermarktungstricks zu, sondern allein durch die spontane Wahrnehmung, dass es „auf umfassendere Weise das gewöhnliche Herz“ und „ein tieferes Verständnis der menschlichen Natur“ ausdrückt.14 Und gerade aufgrund dieser Gemeinsamkeit bleibt das Genie unverbraucht und zeitlos unterhaltsam, „denn das Spontane ist weder lokal noch individuell, sondern fließt aus jener inneren Seele, die allen gemeinsam ist“ (G 77). Derselbe Mensch, der das Talent seines Nachbarn aus Neid herabsetzt, hat deshalb kein Problem mit der Bewunderung wahrer Genies, weil „diese – paradoxerweise – ihm stärker ähneln als er selbst. Sie haben Teil an der Seele, wie auch er, nur mehr“. Der Ausdruck des Genies ist „die Stimme der Seele, der Schöpferin aller Menschen, die sich im einzelnen Individuum ausspricht; sobald sie verstanden wird, wird sie deshalb angenommen als eine Stimme, die aus dem Innersten des eigenen Selbst spricht“. „Das Wesen des Genies“, so Emersons Schlussfolgerung, „ist die Spontaneität selbst.“ (G 70)

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Ralph Waldo Emerson, Works and Days, in: Society and Solitude, New York 1912, S. 176; Poet, in: Collected Poems and Translations, New York 1994, S. 207; Domestic Life, in: Society and Solitude, S. 115; The American Scholar, in: R. Poirier (Hg.), Ralph Waldo Emerson, Oxford 1990, S. 145. Ralph Waldo Emerson, The Oversoul, in: Poirier (Hg.), Ralph Waldo Emerson, S. 162; G 82.

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Diese für Genialität konstitutive Spontaneität wird von dem bewundernden Beobachter nur deshalb geteilt, weil sie zunächst jenem Individuum zugehört, das sein Genie zum Ausdruck bringt, oder genauer: von seinem Genius übermächtigt und zum Handeln gedrängt wird. Genies haben nämlich keineswegs Kontrolle über ihre Genialität, sondern sind vielmehr ihre Knechte, ihre Gesandten und ihr Werkzeug. Ihre Spontaneität ist Zeugnis einer übermenschlichen Energie, die jenseits des individuellen Willens und der bewussten Kontrolle liegt. „Genialität ist keine Sache des Geschicks, der Gewohnheit, des Beherrscheins einer Praxis, des Verfahrens nach einer Regel oder welcher empirischen Fähigkeit auch immer; der Mensch kann sich ihrer nicht einfach bedienen, sie beschreiben und kommunizieren, er kann nicht einmal entsprechend handeln, da sie eine Macht ist, die ihn einschüchtert, ein Enthusiasmus, den er nicht kontrollieren kann, der ihm den Boden unter den Füssen wegreißt, ihn in diese oder jene Richtung zieht, Herrin, nicht Sklavin ist.“ (G 70)15 Dieser unfreiwillige Aspekt der Genialität wird von vielen Denkern, wenn auch auf unterschiedliche Weise, herausgestellt. So ist etwa Nietzsche zufolge das Genie in Instinkten verwurzelt, in Kräften, die tiefer als die menschliche Vernunft und die bewusste Kontrolle des Individuums liegen. Doch statt diese Kräfte wie Emerson in einer transzendenten, theologischen Konzeption der Seele zu verankern, entwirft Nietzsche ein naturalistisches Bild ihrer nicht auf den freien Willen zurückgehenden, überindividuellen Kraftquellen. Genies sind „Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt, gehäuft, gespart und bewahrt worden ist […], so genügt der zufälligste Reiz, das ‚Genie‘, die ‚That‘, das grosse Schicksal in die Welt zu rufen“ – ganz ohne individuelles Zutun. Als Abbau angestauter Energie handelt das Genie „mit Fatalität, verhängnisvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer unfreiwillig ist“.16 Wenn das Genie demnach eine Kraft bezeichnet, die jenseits persönlicher, bewusster Kontrolle liegt, so fügt dies dem Paradox, dass das individuelle Genie mehr und anderes ausdrückt als das Individuelle, eine weitere Drehung hinzu: „Der eigenste Gedanke ist nicht der eigene“, da er weder kontrolliert noch auf einen Ursprung zurückgeführt werden kann.17 Emerson behauptet das Gleiche vom Stil und stellt sich damit dessen geläufiger Definition entgegen, der zufolge Stil die überlegte Wahl zwischen verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten bezeichnet. „Der Stil eines Menschen ist seine geistige Stimme 15

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Viel später nimmt Emerson diese Ideen wieder auf (Art, in: Society and Solitude, S. 48 f.): Um ein Werk hervorzubringen, das nicht nur von seinen Kollegen, sondern „von allen Menschen“ bewundert wird, muss sich der Künstler „entindividualisieren, er darf keiner Partei, keiner Stilrichtung und keinem Zeitalter angehören, sondern muss Teil der Zirkulation der allen gemeinsamen Seele sein, wie auch alle die gleiche Luft einatmen. Sein Werk muss den Reden eines Propheten gleichen, er soll also nicht seine eigenen Worte oder Werke oder Gedankengänge hervorbringen, sondern ein ausführendes Organ des universellen Geistes sein.“ Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, § 44, KSA, Bd. 6, S. 145 f. Ralph Waldo Emerson, Quotation and Originality, in: Poirier (Hg.), Ralph Waldo Emerson, S. 438 (im Folgenden zitiert als „QO“).

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und unterliegt nur teilweise seiner Kontrolle.“ Und wie unsere normale Stimme, deren Tonlage wir ja auch zu ändern versuchen können, wird sie immer ihren unverwechselbaren Klang beibehalten.18 Dies kann durch kein Aufgebot rhetorischer Tricks verhüllt oder verändert werden: „Benutze die Sprache deiner Wahl – nie wirst du etwas anderes ausdrücken können, als was du bist.“ Und was du bist, dein Charakter („deine Natur in ihrer höchsten Form“) ist eine unnachahmliche, undurchdringliche „Kraft“, „höher als der Intellekt“ und „über unserem Willen“, wie der mysteriöse Genius oder der daimon, die unseren Charakter bestimmen sollen.19 Also sollte man niemals einen jenseits unseres Genies liegenden Stil anstreben, wie Petrarca schon lange vor Emerson nahe legte.20 Wenn Stil aber durch Affektiertheit und gewollte Posen ruiniert wird, wenn er auf den freien und zugleich gläubigen Ausdruck des Selbst angewiesen ist (weil er im Grunde nichts anderes ist), auf welche Weise sollte das Individuum sich dann selbst stilisieren?

3. „Vertraue dir selbst“, fordert Emerson kühn, und du wirst nicht nur einen unverwechselbaren Stil entwickeln, sondern auch wahre Genialität: „An die eigenen Gedanken zu glauben, überzeugt zu sein, dass das, was du in deinem Herzen für wahr hältst, für alle Menschen gilt – das ist Genie.“ Da nichts „heiliger“ ist als „die Integrität des eigenen Geistes“, stellt die Nachahmung anderer eine Art „Selbstmord“ dar, in dem das Selbst und sein Stil verloren gehen. Angepasstheit an Konventionen und etablierte Dogmen lässt den Stil verkümmern und verdunkelt das Selbst. „Aber gehe deinen [eigenen] Weg“, sagt Emerson, „und ich werde dich (er)kennen.“ (SR 30, 31, 33, 35) Durch Emerson inspiriert gibt auch Nietzsche den dringenden Rat: „Seinem Charakter ‚Stil geben‘ – eine grosse und seltene Kunst!“ – „Sei du selbst!“ (S 338) – „Gut ist jeder Stil, der einen inneren Zustand wirklich mitteilt.“21 Das Selbst zu stilisieren bedeutet, ihm vollen und freien Ausdruck zu verleihen. Angepasstheit an die Masse und ihre Konventionen ist daher tödlich für den Stil, der befiehlt, seinen eigenen Weg zu gehen und dabei dem Gesetz des eigenen Selbst zu folgen. Auch Wittgenstein vertritt die Ansicht, dass Stil, da er eine Angelegenheit des „Geistes“ und nicht der Technik sei, aus dem Inneren eines jeden erwachsen müsse. Die enge Verbindung von Stil und Cha18

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Vgl. W. Gillman u. a. (Hg.), The Journals and Miscellaneous Notebooks of Ralph Waldo Emerson, Cambridge/MA 1960, Bd. 3, S. 26. Nelson Goodman hat in der gegenwärtigen Ästhetik die Idee des Stils als bewusste Wahl zwischen Alternativen verworfen und stattdessen für ein Verständnis von Stil als (der besonderen Stimme des Individuums bei Emerson analoge) Signatur plädiert (vgl. Der Status des Stils, in: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1984, Kap. 2, v. a. S. 50 ff.). Ralph Waldo Emerson, Worship, in: The Conduct of Life, New York 1904, S. 226; Character, in: Essays, New York 1942, S. 253, 261; Self-Reliance, in: Essays, S. 38 (im Folgenden zitiert als „SR“); The American Scholar, in: Poirier (Hg.), Ralph Waldo Emerson, S. 38. Vgl. Petrarcas Sonnett Nr. 68, in dem es heißt, Stil gebe es nur im Bereich des Genius („che stilo oltro l’ingegnium no si stende“). Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, IV, § 338, KSA, Bd. 3, S. 565 f. (im Folgenden zitiert als „FW“); Ecce Homo, Warum ich so gute Bücher schreibe, § 4, KSA, Bd. 6, S. 304.

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rakter bestätigend, zitiert er den bekannten, Buffon zugeschriebenen Ausspruch: „Le style c’est l’ homme même.“ (VB 454, 561) Wenn Stil aber nur eine Frage des Ausdrucks des Selbst ist, was ist dann die Quelle der normativen ästhetischen Kraft, die ihm als bewundernswerter Errungenschaft, als „große[r] und seltene[r] Kunst“ (FW § 290) zukommt? Ist es nicht so, dass jeder unvermeidbar das eigene Selbst zum Ausdruck bringt, nicht nur durch bewusste kommunikative Handlungen, sondern auch durch unreflektiertes Verhalten – durch Körperhaltung, Gangart und Gestik, die ebenso den Stil eines Individuums manifestieren? Diese Schwierigkeit kann auch nicht dadurch umgangen werden, dass man Stil nicht als bloßen, sondern als originellen Ausdrucks des Selbst versteht. Denn sowohl Emerson als auch Nietzsche und Wittgenstein definieren Originalität als wahrhaftigen Ausdruck des Selbst. „Originalität“, so Emerson, „besteht darin, zu sein, ganz man selbst zu sein und genau zu berichten, was man sieht und was man ist.“ (QO 438) Dem lässt sich mit Wittgenstein hinzufügen: „Ja, schon das ist der Anfang guter Originalität, nicht sein zu wollen, was man nicht ist.“ – „Wenn Einer nicht lügt, ist er originell genug. Denn die Originalität, die wünschenswert wäre, kann doch nicht eine Art Kunststück sein, oder eine Eigenheit, wir immer ausgeprägt.“ (VB 534 f.) Diese Sichtweise ist sicherlich Ausdruck eines feinen Gespürs, ist sie aber wirklich überzeugend? Wie sehr wir Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit auch schätzen mögen, sie machen noch keinen originellen Stil aus. Man denke nur an all die bescheidenen, ehrlichen, und doch völlig gewöhnlichen Menschen, die nicht einmal daran denken, anders zu sein als sie sind, die aber dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – als völlig unoriginell und ohne Stil erscheinen. Natürlich können solche Menschen einen persönlichen Stil in ihrer Sprechweise oder Gestik haben, allerdings nur im von uns genannten neutralen Sinn, dem zufolge jeder einen irgendwie persönlichen Stil oder Charakter hat, so wie jeder auch über einen unverwechselbaren Fingerabdruck verfügt. Diese Art von Stil rühmen wir aber nicht und nach ihr streben wir auch nicht, denn sie ist so wenig exemplarisch wie vermeidlich. Wittgenstein behauptet zwar, die Idee des originellen Stils im Sinne der Wahrhaftigkeit und der Selbsttreue sei „von Andern schon viel besser“ erläutert worden (VB 535), liefert dafür allerdings keine Belege. Er unterstreicht diese Vorstellung jedoch noch durch die Gleichsetzung der Originalität des Genies mit mutigen Formen der Selbsttreue. Bloßes Talent sei nicht ausreichend, denn „Genie ist das Talent, worin der Charakter sich ausspricht“, worin sich „ein ganzer Mensch“ ausdrückt (VB 542). Nietzsche hat vielleicht die überzeugendsten Argumente dafür vorgebracht, dass man einen originellen Stil am ehesten dann entwickelt, wenn man einfach man selbst ist. Warum aber ist der freie Ausdruck des Selbst im Stil dann so schwierig und warum muss man sich der „Gebundenheit des Stils“ (FW § 290) unterwerfen? Ist Nietzsches Ansicht vielleicht nur Ausdruck der verbreiteten Verwechslung der neutralen mit der normativen Bedeutung, jener Doppeldeutigkeit, die der Begriff des Stils mit dem des Charakters und des Genies teilt? Nietzsches erste Argumentationsstrategie kann man „bio-ontologisch“ nennen. Die Originalität eines jeden Individuums ist durch die Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit der konkreten Umstände seiner Entstehung ontologisch garantiert. „Im Grunde

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weiss jeder Mensch recht wohl, dass er nur einmal, als ein Unicum, auf der Welt ist und dass kein noch so seltsamer Zufall zum zweiten Mal ein so wunderlich buntes Mancherlei zum Einerlei, wie er es ist, zusammenschütteln wird.“ (S 337) Der Prämisse, dass jeder auf seine Weise einzigartig, also etwa in der genauen genetischen Ausstattung und den körperlichen Merkmalen ein bisschen anders als die anderen ist, können wir durchaus zustimmen. Daraus folgt jedoch noch nicht, dass diese über triviale Unterschiede garantierte Einzigartigkeit auch schon Originalität im normativ anspruchsvollen Sinn hervorbringt. Wenn wir von Natur aus ontologisch einzigartig sind, warum stellt die Ausbildung eines originellen Stils dann eine solche Anstrengung dar, die nur von wenigen gemeistert wird? Nietzsche wehrt sich jedoch dagegen, bestimmte Dimensionen oder Grade der Einzigartigkeit als zu trivial abzulehnen. Sie alle können für die Originalität des Stils relevant sein. Er folgt Emerson sogar in der Behauptung, dass Originalität so rar und schwierig zu sein scheint, weil wir unsere Einzigartigkeit, unser „eigentliches Selbst“ normalerweise erstarren lassen, indem wir es schüchtern hinter den „Sitten und Meinungen“ der Gesellschaft verstecken. Wahre Künstler stechen gerade dadurch hervor, dass sie solchen Konventionen widerstehen und damit den „Satz“ enthüllen, „dass jeder Mensch ein einmaliges Wunder ist, sie wagen es, uns den Menschen zu zeigen, wie er bis in jede Muskelbewegung er selbst, er allein ist, noch mehr, dass er in dieser strengen Consequenz seiner Einzigkeit schön und betrachtenswerth ist, neu und unglaublich wie jedes Werk der Natur und durchaus nicht langweilig“ (S 337 f., 340). Nietzsches Rhetorik suggeriert wie diejenige Emersons eine scharfe Trennung zwischen dem einzigartigen „wahren Selbst“ des Individuums und den äußeren sozialen Sitten und Gebräuchen, die es erstarren lassen und verdecken. Eine solche Dichotomie ist aber offensichtlich problematisch, insbesondere vor dem Hintergrund von Nietzsches eigener Ontologie. Wenn wir erstens die Einzigartigkeit des Selbst als Produkt einer unendlich komplexen und unwiederholbaren Konstellation betrachten, warum sollten wir soziale Faktoren dann aus diesem „bunten Mancherlei“ ausschließen? Der individuelle Stil meiner Art des Gehens und Sprechens weicht von sozialen Sprach- und Körperpraktiken nicht nur ab, sondern entwickelt sich allererst vermittelt durch diese. Nicht nur die Sprache, sogar der genaue Stil und die Muster unserer Muskelbewegungen werden in einem sozialen Kontext erlernt. Da das individuelle Selbst auch im Ausdruck seiner Individualität sozial konstituiert ist, kann es keine Berufung auf ein „wahres Selbst“ geben, das von sozialen Praktiken und Glaubenssystemen völlig unabhängig wäre. Zweitens wird gerade in Nietzsches Metaphysik die Idee zurückgewiesen, dass das Individuum sein „eigenes wahres Selbst“ als etwas Feststehendes besitzt und autonom darüber verfügen kann – als sei es unabhängig von den auf es einwirkenden Faktoren und immun gegen Veränderungen in der Umwelt. Die Ansicht, „dass die Dinge eine Beschaffenheit an sich haben“, ist Nietzsche zufolge „eine dogmatische Vorstellung, mit der man absolut brechen muß“. „In der wirklichen Welt, wo schlechterdings alles verkettet und bedingt ist“, „bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen anderen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältnis

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zu allen andern Quanten besteht, in ihrem ‚Wirken‘ auf dieselben.“22 Auch das Selbst ist daher ein sich veränderndes Konstrukt einer Vielzahl mobiler Elemente, die in eine dynamische, sich entwickelnde und spannungsreiche Einheit gebracht werden müssen. Diese Idee des Selbst, nicht als festgelegtes Wesen, sondern als sich entwickelndes Konstrukt, fasst Nietzsche in der prägnanten Aufforderung zusammen, „zu werden, was man ist“, die Emerson mit seinem Diktum vorweggenommen hatte, dass „die Seele im Werden begriffen ist“ (SR 44).23

4. Diese These von der Doppelung des Selbst, das nicht nur aus dem besteht, was man ist, sondern – wichtiger noch – aus dem, was man werden kann, stellt Nietzsches zweite und entscheidende Strategie zur Verteidigung des expressivistischen Stilbegriffs dar. Erst auf diese Weise wird der Ausdruck (ja, überhaupt das Haben) eines Selbst zu etwas, das nicht selbstverständlich und natürlich gegeben ist, sondern eine schwierige Aufgabe und eine herausstehende Errungenschaft darstellt. Da es nicht länger als schon erreichte Gegenwart verstanden werden kann, erscheint das Selbst als Prozess der Entwicklung hin zu einem höheren Ideal. Was wir im Alltag als unser Selbst bezeichnen, ist dann nichts anderes, als die aus verschiedenen Fragmenten zusammengesetzte Ausrichtung, die sich auf eine höherstufige Zukunft hin öffnet. Demzufolge besteht die Originalität des Selbst gerade nicht in einem festgelegten, allgegenwärtigen Wesen, sondern in einer neuartigen, offen bleibenden Entwicklung auf ein höheres Selbst hin. „Ein jeder trägt eine productive Einzigkeit in sich, als den Kern seines Wesens“, an dieser aber hängt „eine Kette von Mühen und Lasten“, und nur über einen mühsamen Weg können wir Originalität erreichen. „Es giebt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann, ausser dir: wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn.“ Das „Grundgesetz deines eigentlichen Selbst, […] dein wahres inneres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermesslich hoch über dir“ (S 340 f., 359). Nun kann die normativ ausgezeichnete Form der Selbststilisierung aber kaum im gewöhnlichen Sinne der Forderung „Sei einfach du selbst“ verstanden werden. Die Selbststilisierung ist vielmehr nur dann originell und anspruchsvoll, wenn wir aufhören, unser gewöhnliches Selbst zu sein, um ein höheres Selbst zu werden. Diese Forderung zielt 22

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Nietzsche, Der Wille zur Macht, §§ 559, 560, 584, 635; S. 382, 400, 429. Auf diesen Aspekt der Metaphysik Nietzsches und sein Verhältnis zu Dekonstruktion, Pragmatismus und analytischer Philosophie gehe ich ausführlicher ein im dritten Kapitel von Pragmatist Aesthetics. Living Beauty, Rethinking Art (New York 2000²). Der Untertitel von Nietzsches Ecce Homo lautet bekanntermaßen: „Wie man wird, was man ist“. Auch in der Fröhlichen Wissenschaft (§ 270) findet sich ein ähnlicher Gedanke: „Was sagt dein Gewissen? – ‚Du sollst der werden, der du bist.‘“ Zur Zeit der Niederschrift dieses Buches las Nietzsche gerade zum wiederholten Male Emerson; der Erstausgabe stellte er sogar ein Motto Emersons voran. In Walter Kaufmanns Einleitung zur englischen Übersetzung finden sich hierzu weitere Details.

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nicht auf eine Rückkehr zur ursprünglichen, durch die Kultur nur verschütteten Natur des Selbst. Im Gegenteil, das Projekt der Selbststilisierung ist auf die Kultur angewiesen. Da man das höhere Selbst nicht schon tief in sich selbst vorfindet, bedarf man der Orientierung, um es konstruieren zu können. Exemplarische Fälle gelungener Selbststilisierung inspirieren uns und dienen als Vorbilder zur Nachahmung, auch wenn wir sie natürlich nicht sklavisch nachäffen dürfen. In diesem Sinne rühmt Nietzsche Schopenhauer als „Erzieher“, als inspirierendes Vorbild, denn: „Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben.“ (S 350). Weit davon entfernt, im freien Ausdruck der natürlichen Einzigartigkeit des Selbst zu bestehen, ist die gelungene Selbststilisierung deshalb durchaus auf Beschränkungen angewiesen, nicht nur auf eine Kultur der Vorbilder, sondern auch auf die Kunst, die das Natürliche umarbeitet und beseitigt. „Eins ist Noth. – Seinem Charakter ‚Stil geben‘ – eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine große Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: – beidemal mit langer Uebung und täglicher Arbeit daran. Hier ist das Hässliche, welches sich nicht abtragen liess, versteckt, dort ist es in’s Erhabene umgedeutet.“ (FW § 290) Diese Verteidigung des Verbergens zeigt, wie weit wir uns inzwischen von der Ansicht entfernt haben, Originalität sei eine Sache des wahrhaftigen Selbstausdrucks und bestehe einfach darin, zu sein, wer man ist. Die Idee eines höheren, auf neuartige Weise stilisierten Selbst scheint stattdessen zu erfordern, dass wir verbergen und transformieren, was wir schon sind, um zu etwas Besserem zu werden. Wie aber lässt sich dann der scheinbare Widerspruch zwischen den beiden Aufforderungen auflösen, zu sein, wer wir sind, und zugleich zu sein, was wir nicht sind und wonach wir streben? Wie können wir das expressivistische Verständnis des originellen Stils mit der Vorgabe der künstlerischen Transformation des Selbst versöhnen? Vielleicht interessieren sich Emerson und Nietzsche für diese Fragen gar nicht – verachten sie nicht beide die Idee der Widerspruchsfreiheit? Erinnern wir uns aber daran, dass gerade ihr Beharren auf der Kohärenz des Charakters und des Geschmacks das Individuum von den Forderungen der Konsistenz auf anderen (ihres Erachtens weniger gewichtigen) Gebieten dispensiert. Emerson zufolge garantiert die „Integrität“ des individuellen, die einzelnen Handlungen zusammenhaltenden Geistes eine höhere Kohärenz des Verhaltens, die Kleingeistern kapriziös und inkohärent erscheinen mag. „Stammen sie aus einem Willen, so werden die Handlungen harmonieren, wie ungleich sie auch immer erscheinen mögen.“ (SR 33, 38) Ganz Ähnliches lesen wir bei Nietzsche. Obwohl er stolz verweist auf seine „viele[n] Möglichkeiten des Stils – die vielfachste Kunst des Stils überhaupt, über die je ein Mensch verfügt hat“, betont er doch, dass es eine Kunst des Stils geben muss, eine leitende Stimme und einen Geschmack, der die vielfältigen Formen des Ausdrucks prägt: „Zuletzt, wenn das Werk vollendet ist, offenbart sich, wie es der Zwang des selben Geschmacks war, der im Grossen und Kleinen

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herrschte und bildete: ob der Geschmack ein guter oder ein schlechter war, bedeutet weniger, als man denkt, – genug, dass es Ein Geschmack ist!“24 Wittgenstein, der zweifellos größeren Wert auf logische Konsistenz legte, scheint sich dennoch im gleichen ethischen Paradox des doppelten Selbst zu verwickeln, das sowohl den wahrhaftigen Ausdruck als auch das perfektionistischen Streben zur Forderung erhebt. „Verbessere dich selbst“, sagte er oft, „und du wirst die Welt verbessern.“25 „Daß das Leben problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. Du mußt dann Dein Leben verändern.“ (VB 487) Wie aber lässt sich dieses Ideal der meliorativen Selbstverbesserung mit der bereits zitierten Behauptung versöhnen, dass der „Anfang guter Originalität“ darin bestehe, „nicht sein zu wollen, was man nicht ist“ (VB 534)? Die plausibelste Lösung für dieses Paradox besteht meines Erachtens darin, die Bemühungen um künstlerische Selbsttransformation mit der eindeutigen Anerkennung und dem wahrhaftigen Ausdruck dessen, was man ist, zu beginnen. Wittgenstein selbst schreibt: „Eine Beichte muß ein Teil des neuen Lebens sein“, denn „der ist nie groß, der sich selbst verkennt“ (VB 18, 520).26 Mit einem Wort: Man muss auf dem bereits existierenden Selbst (und seinen Talenten und Potentialen) aufbauen, sollte sich damit aber nicht zufrieden geben. Nur im Ausgang vom gegenwärtigen Selbst lässt sich ein höheres Selbst erreichen. Wenn man überhaupt nicht musikalisch, sondern nur mathematisch begabt ist, sollte man sein höheres Selbst darin suchen, nicht Musiker, sondern eben Mathematiker zu werden. Wie bewundernswert ein revolutionäres Leben hart am Abgrund entlang auch sein mag, vielleicht passt es einfach nicht zu den eigenen Talenten und Gefühlen. Um Samuel Johnson zu paraphrasieren (der wiederum ein Echo auf Montaigne darstellt): Radikale Helden (wie Heilige, Stoiker oder nietzscheanische Übermenschen) sollten wir bewundern, aber nicht nachahmen, jedenfalls dann nicht, wenn unsere Vorlieben und Talente sowie die Umstände dagegen sprechen. Das Paradox des „Wie man wird, was man ist“ – sowohl sich selbst treu zu bleiben als auch nach einem anderen, höheren Selbst zu streben – könnte sich also auflösen, wenn man sein Selbst künstlerisch und auf je eigene Weise ausgehend von den bereits existierenden Gegebenheiten und Potenzialen transformiert. Das hört sich vielleicht plausibel, aber sicher weniger packend an als die paradoxe Rhetorik Nietzsches. Dennoch sollte man diese Einsicht betonen – und vielleicht gelingt dies ja gerade im Durchgang durch ihre faszinierenden paradoxen Formulierungen. Auch in der Selbsttransformation sollte man sich allein schon deshalb treu bleiben, um einem Rückfall in vorgegebene und standardisierte Modelle eines höheren Selbst vorzubeugen. Die Kultur einer Gesellschaft stellt immer Heldenfiguren und andere anerkannte Vorbilder zur Verfügung, die uns durch ihre Macht zur konformistischen Nachahmung verleiten und so die Ausbildung neuartiger Ausdrucksformen verhindern können. Mit ihrer Verteidigung der meliorativen Selbsttransformation stellen Emerson, Nietzsche und Wittgenstein deswegen unmissverständlich klar, dass es kein verbindliches Modell des höheren Selbst gibt, das von allen verwirklicht werden müsste. Nur 24 25 26

Nietzsche, Ecce Homo, Warum ich so gute Bücher schreibe, § 4; FW § 290. Zitiert nach Ray Monk, Ludwig Wittgenstein. The Duty of Genius, New York 1991, S. 17 f. Vgl. dazu auch Richard Shusterman, Philosophie als Lebenspraxis, Kap. 1.

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wenn es mehr als einen Lebensstil, mehr als eine Lebensform gibt, können wir auf dem Nährboden des Lebens gedeihen. Diese Synthese des Meliorismus mit einem experimentellen und pluralistischen Individualismus entspricht dem Geist des Pragmatismus. Das gleiche gilt für die (Nietzsche oft fehlende) Achtung für einfache und gewöhnliche Lebensweisen, die den Wunsch nach einem besseren Leben ja keineswegs ausschließen.27

5. Die melioristisch verstandenen Begriffe des Stils und des Genies stellen uns jedoch noch vor ein weiteres zu lösendes Paradox. Auch wenn man Stil im Sinne von Charakter bestimmt, ist dieser doch (mit Nietzsche gesprochen) eine „grosse und seltene Kunst“, welche „langer Uebung und täglicher Arbeit“ bedarf. Ebenso gilt auch für das Genie, dass es auf einer gewaltigen Anstrengung des Willens, auf Mut und Fleiß beruht (in Thomas Edisons thermodynamischer Begrifflichkeit: auf der Transpiration eher als auf der Inspiration). Genialität ist auch für Wittgenstein eine Sache der Willensstärke und des Charakters, da die zu überwindenden Hürden, „[n]icht eine Schwierigkeit des Verstandes, sondern des Willens“ sind. „Der Mut, nicht die Geschicklichkeit; nicht einmal die Inspiration, ist das Senfkorn, was zum großen Baum emporwächst.“ „Genie ist Mut im Talent.“ „Mut ist immer originell.“ (VB 474, 501, 503 f.). Und auch Emerson und Nietzsche beharren auf der Notwendigkeit eines couragierten Willens und einer rastlosen Bemühung, um dem perfektionistischen Streben der Selbststilisierung zur Erfüllung zu verhelfen. Nietzsche, der schließlich berüchtigt dafür war, die Tugend der Selbstsucht zu predigen, betont, dass Größe und Selbststilisierung Willensstärke erfordern, nicht nur die Geduld des Bemühens und Erleidens, sondern die Kraft, „grosse Schmerzen zuzufügen“ – eine beharrliche Entschlossenheit, die Ablenkung durch andere zu ignorieren, um „auf seinem Wege zu bleiben“. „Wir aber wollen Die werden, die wir sind, – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selberSchaffenden!“ (FW §§ 325, 335, 338) Im Dienste jenes perfektionistischen Selbstvertrauens, das Emerson self-reliance nennt, sei ein energetisches und „feuriges“ Bemühen vonnöten, ein Wille, den eigenen Weg zu verfolgen und sich von den Meinungen anderer und den Konventionen loszusagen. Ein Mensch müsse „sich selbst als strengen Zuchtmeister verstehen“ und „seinen Willen mit Mut und Ausdauer stärken“, um sein 27

Auf diese Fragen gehe ich genauer ein in Philosophie als Lebenspraxis (Berlin 2001), Kap. 1–3, 5. Dort betone ich auch die entscheidende Rolle der Gesellschaft für die Selbstverwirklichung, die zum Teil vom manchmal einseitigen Individualismus Emersons, Nietzsches und sogar Wittgensteins verdunkelt wird. Soziale Kontexte und kulturelle Traditionen stellen meines Erachtens dem Individuum allererst die Ressourcen für einen gelingenden Selbstausdruck zur Verfügung – inklusive der kritischen Rückmeldung im Falle einer Fehlentwicklung. Eine mögliche Erläuterung des Unterschieds zwischen individueller Genialität und verschrobener Exzentrik besteht deshalb im Verweis auf ein produktives Passungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, das nicht mit Konformität gleichzusetzen ist.

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Genie, die ihm eigene „Selbst-Kultur“, verwirklichen zu können (SR 35, 46, 51). Dazu kann es erforderlich sein, sich von den Verführungen der Gesellschaft loszusagen und sogar die natürliche Verbindung mit der Familie zu lösen, wenn sie denn die Konzentration stören, welche „die kontinuierliche Aufgabe der Selbstüberschreitung“ erfordert. „Das Genie“, so Emerson, „ist die Kraft, besser und verlässlicher zu arbeiten.“28 In all diesen lautstarken Bekundungen der Willensanstrengung und des motivierten Strebens sind jedoch auch die Töne der spontanen, unfreiwilligen Selbstaufgabe kaum zu überhören. Das Genie verliert sich Nietzsche zufolge nicht in der Selbstbetrachtung, „dass es sich ausgiebt, ist seine Grösse … Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehängt“. Um Größe zu erlangen und sich damit selbst erst zu schaffen, muss man „gefährlich leben“ und „sich auf Zeiten verlieren können, wenn man den Dingen, die wir nicht selber sind, Etwas ablernen will“.29 „Keine Größe ohne Selbstaufgabe“, heißt es auch bei Emerson. Die höchste Ebene der Seele, auf die alle Anstrengungen der Kultivierung des Selbst abzielen, erfordert gerade, „sich selbst zu vergessen, in der Überraschung das Eigene hinter sich zu lassen, etwas zu tun, ohne das Was oder das Warum zu kennen“, vom Geist des Genies infiziert und überwältigt, zu seinem Instrument zu werden.30 Genialität bedeutet demnach die Aufgabe des eigenen Willens, des Stolzes und des Egos, um etwas Höheres als das Selbst zu erreichen, das dem Selbst jenseits selbstsüchtiger Besonderheit jedoch erst zur wahren Unverwechselbarkeit verhilft. „Ist, was ich tue, überhaupt der Mühe wert?“, fragt Wittgenstein und antwortet im gleichen Atemzug: „Doch nur, wenn es von oben her ein Licht empfängt. Und ist es so, – warum sollte ich mich sorgen, daß mir die Früchte meiner Arbeit nicht gestohlen werden?“ (VB 531 f.) Die Bedeutung der Genialität geht nämlich weit über die untergeordneten Ansprüche des persönlichen Eigentums und der Selbstverliebtheit hinaus. Erst das genialische „Licht von oben“ ermächtigt das Individuum soweit, dass es keines bewussten Willens und keines berechnenden Bewusstseins mehr bedarf. Das Entscheidende ist die Spontaneität; und mechanische Werkzeuge werden zu beseelten Instrumenten unseres Denkens, so wie wir denkende Instrumente einer tieferen Kraft geworden sind: „Ich denke tatsächlich mit der Feder“, schreibt Wittgenstein, „denn mein Kopf weiß oft nichts von dem, was meine Hand schreibt.“ (VB 473) Wie also lässt sich das Paradox lösen, dass wir uns im Dienste der Genialität abmühen und disziplinieren müssen und zugleich „loslassen“ und uns aufgeben sollen? Wie können Genie und Stil zugleich Ergebnis harter Arbeit und couragierter Willenskraft und spontaner Ausdruck einer Macht sein, die jenseits der willentlichen Anstrengungen des Selbst liegt? Natürliche Spontaneität und intentionales Streben scheinen nicht zusammenzugehen, wenn wir sie aber als Phasen eines auf Harmonie zielenden Prozesses verstehen und entsprechend koordinieren, können sie gemeinsam eine unglaubliche Macht erzeugen. Der Trick scheint somit darin zu liegen, dass wir unsere Bemühungen auf einen Punkt konzentrieren, an dem spontane, unfreiwillige und überpersonale Kräfte ansetzen können. 28

29 30

Ralph Waldo Emerson, Circles, in: Poirier (Hg.), Ralph Waldo Emerson, S. 168; The Transcendentalists, in: ebd., S. 105. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, § 44; FW §§ 283, 305. Emerson, Works and Days, S. 181; Circles, S. 175.

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Dies mag für mache wie ein sinnloses Mantra voller mystischer Hoffnung klingen, kann aber an den natürlichsten und gewöhnlichsten Phänomenen aus der Welt erfolgreichen Handelns erläutert werden. „Wir mahlen das Getreide und bedienen den Webstuhl nicht aus eigener Kraft“, schreibt Emerson, „aber wir erbauen die Mühle so, dass der Nordwind auf unserem Instrument spielt.“ Das gleiche gilt für die Handarbeit: „Wenig vermögen wir mit reiner Muskelkraft zu tun; wir positionieren uns aber so, dass die Schwerkraft, das Gewicht des Planeten, auf Spaten und Axt wirkt.“ Mit einem Wort: „Wir setzen nicht unsere eigene Kraft ein, außer um eine unendliche Kraft nutzen zu können.“31 Es mag allerdings all unseren Scharfsinn, unsere Kraft und unsere Anstrengung erfordern, um uns in diese Position zu versetzen. Wittgenstein macht dies durch das Bild des Kraft spendenden Lichts noch deutlicher: „Das Genie hat nicht mehr Licht als ein andrer, rechtschaffener Mensch – aber es sammelt dies Licht durch eine bestimmte Art von Linse in einen Brennpunkt.“ (VB 499) Diesem Bild können wir abschließend – in Übereinstimmung mit der pluralistischen Orientierung der behandelten Denker – eine etwas andere Wendung geben. Damit das Licht der Person den Funken des Stils einfangen und so das Leuchten des Genies entfachen kann, muss jede Person von der Färbung und Dicke der eigenen Linse, vom zu entzündenden Objekt, vom jeweiligen Brennpunkt, von der Neigung des Terrains, auf dem sie steht, und vom Winkel zur Sonne ausgehen. Darin besteht die Aufgabe sowohl für die willentliche Anstrengung wie für die gefahrenvolle Selbstaufgabe, für das Austesten der eigenen Grenzen wie für deren Überschreitung. Dabei muss jedoch jeder selbst – durch Erprobung, Mut und Ehrlichkeit – die eigene, flexible Balance zwischen diesen Elementen finden. Und so schließen wir mit einem letzten Paradox: Die endgültige Formel für Genie und Stil liegt in den nicht formulierbaren Details der tatsächlichen Praxis. Aus dem Amerikanischen von Heidi Salaverría und Robin Celikates

31

Emerson, Art, S. 42; vgl. auch Ralph Waldo Emerson, Civilization, in: Society and Solitude, S. 27: „Du beobachtest einen Zimmermann auf einer Leiter, wie er einen Balken von unten nach oben mit der Axt bearbeitet. Wie unangenehm! In was für einer ungünstigen Lage er arbeiten muss! Jetzt stell dir vor, er steht auf dem Boden und stellt das Stück Holz vor sich hin. Nicht seine schwachen Muskeln, sondern die Schwerkraft selbst führt die Axt; der Planet spaltet den Holzpflock.“ Emerson verweist häufig auf die kosmischen Naturkräfte, die dem Genie eine Macht weit über seine eigene Kraft hinaus verleihen. Wir sollten dem aber die Macht der Gesellschaft und der kulturellen Tradition hinzufügen, die ebenfalls an jener „unendlichen Kraft“ teilhaben, die aus einem einfachen Individuum ein Genie macht.

Personenverzeichnis

Abhinovagupta 57 Abrams, J. J. 152 Acuff, R. 71, 73 Adorno, T. W. 24–25, 43, 53, 131, 141, 143 Alberti, L. B. 22 Alexander, F. M. 150, 152–166, 168 Altman, R. 63, 67 Aoki, T. 61 Applebome, P. 64, 66, 67 Apted, M. 63 Arendt, H. 43, 59–61 Aristipp 125 Aristoteles 22, 48–49, 56–57, 90, 105, 112, 114, 189 Austin, J. L. 114, 115 Autry, G. 63, 70 Axelrod, A. 73 Bachtin, M. 14, 43, 45, 55 Baker, H. 91 Barthes, R. 26, 89 Baudelaire, C. 97, 99–100 Baumgarten, A. 12, 120–123, 134–135 Beardslay, M. C. 21, 22, 28, 30–34, 39 Benjamin, W. 10, 15, 25, 40, 47, 55, 75–76, 78, 83, 87, 89, 91–92, 97–101, 102 Beresford, B. 64 Bergson, H. 23 Bielefeld, C. 131 Blake, W. 90 Böhme, G. 16–17 Bourdieu, P. 14, 26–27, 43, 108, 129–130, 170, 188

Brecht, B. 87 Bridges, J. 64 Britten, B. 102 Brontë Sisters 46 Brooks, G. 66, 73, 77 Brown, P. 142 Byrne, D. 64 Cage, J. 113 Cain, C. 64 Camp, J. van 115 Cannon, D. 81 Carman, T. 128 Charles, R. 71 Chaudhury, P. J. 57 Christo 87 Cicero 49 Cline, P. 63 Conlee, J. 63 Cusic, D. 64 Danto, A. C. 10, 11, 21–22, 27, 28, 36–40, 108 Darwin, C. 72, 138 Davis, R. B. 63 Demokrit 184 Derrida, J. 26, 89 Descartes, R. 124 Dessoir, M. 137 Dewey, J. 12, 13, 21–23, 27–33, 35, 39, 40, 58, 104, 106–107, 120, 138, 154–155, 189, 194 Dick, P. K. 41 Dickens, C. 46

206 Dickie, G. 24, 31, 108 Diderot, D. 50 DiMaggio, P. 63 Diogenes Laertius 125, 127, 184 Diogenes (der Kyniker) 125, 127, 144 Dissanayake, E. 38 Duke, D. 63, 67 Eastwood, C. 64 Edel, L. 102 Eisenman, P. 88 Eliot, T. S. 37, 54, 57, 73, 102–103, 170, 182– 183, 189 Ellison, C. W. 64, 73 Emerson, R. W. 106–107, 138, 169, 184, 190– 191, 193–204 Engels, F. 91–92 Feldenkrais, M. 17, 128–130, 146, 148–149, 151, 155, 164–167 Felski, R. 115 Fluck, W. 86 Ford, H. 70 Foucault, M. 120, 128–129, 136, 138, 144, 149, 152, 189 Fournier, M. 63 Franke, A. 82, 86 Früchtl, J. 115 Fuhrmann, M. 105, 112 Gadamer, H.-G. 25–26, 53, 180–181 Geisen, H. 114 Gerold-Tucholsky, M. 87 Gigon, O. 57 Gillman, W. 196 Goethe, J. W. v. 191–193 Goodman, N. 21, 22, 27, 28, 33–36, 38–40, 196 Gourmont, R. de 54 Gramsci, A. 14, 43, 54–55 Grandmaster Flash 91 Gravina, G. V. 22 Grosz, G. 87 Guberick, L. 62 Guerra, G. 16 Günther, F. 114

PERSONENVERZEICHNIS Guyau, J.-M. 120 Habermas, J. 12, 172 Hanna, T. 151 Hannula, M. 86 Hansen, M. 128 Hegel, G. W. F. 9–10, 51 Heidegger, M. 25, 40, 53, 89 Henthoff, N. 76 Heraklit 180, 192 Herder, J. G. 174 Higgins, K. 56 Higuchi, S. 58, 61 Hollandsworth, S. 66 Hollinger, D. 173 Horkheimer, M. 53, 131, 141, 143 Hume, D. 22, 72, 135 Huxley, A. 155 Huyssen, A. 41 James, H. 102–103, 113 James, W. 23, 53, 62–63, 72, 73–75, 83, 113, 138 Jameson, F. 41 Jaucourt, M. de Chevalier de 50 Jay, M. 16, 25 Jhanji, R. 135 Joas, H. 86 Johnson, S. 50, 192, 201 Jones, F. 155 Jones, G. 71, 77 Kallen, H. 173 Kant, I. 12, 16, 22, 50–51, 59, 73, 119, 139, 192–193 Kaufmann, W. 199 Keleman, S. 149, 150, 160 Kierkegaard, S. 136 Kingsbury, P. 73 Kleobulos 125 Kogan, N. 38 Komar, V. 39 Kristeller, P. O. 108 Krüger, H.-P. 17 Kulenkampff, J. 22, 135 Küpper, J. 201

PERSONENVERZEICHNIS Kupperman, J. 32 Kurz, D. 48 Kymlicka, W. 175 Lamont, M. 63 Laurin, M. 76 Leibniz, G. W. 124 Lévinas, E. 89 Levine, L. W. 46 Lowen, A. 148, 150–151, 160–163, 166 Lukrez 49 Lynn, L. 63 Malone, W. 66, 68, 70, 71, 73 Mandrell, B. 66, 72 Maritain, J. 189 Maslow, A. H. 32 Mattick, P. 73 McCallum, J. 64 Mead, G. H. 175 Melamid, A. 39 Menke, C. 201 Merleau-Ponty, M. 130 Michael, G. 77 Miller, J. 144 Monk, R. 201 Monogatari, K. 58 Montaigne, M. de 49, 52, 119, 188–189, 201 Mumford, L. 15, 93–94 Munro, T. 137 Nehamas, A. 42, 56, 128 Nelson, G. 63 Nelson, W. 81, 82 Newcomb, P. 62 Newton-John, O. 67 Nietzsche, F. 16, 51–53, 102, 105–107, 110, 112, 114, 128, 135–136, 138, 177, 180, 189–193, 195–203 Paetzold, H. 86 Parsons, C. 64, 67 Peterson, R. 63, 64, 70, 71, 73, 76 Petrarca 196 Platon 22, 48, 90, 188–189

207 Plessner, H. 17 Poirier, R. 106 Porterfield, N. 73 Pride, C. 71 Raye, C. 73 Reich, W. 128–129, 136, 155, 162 Reisz, K. 63 Ritter, T. 63, 70 Rochlitz, R. 56 Rodgers, J. 64, 71, 73, 184 Rogers, R. 63, 70, 72 Rollins, M. 38 Rorty, R. 14, 179 Rousseau, J.-J. 174 Rushdie, S. 176 Rywerant, Y. 165 Salaverría, H. 115 Sasaki, K. 61 Scarry, E. 142 Scherpe, K. R. 41 Schiller, F. 51, 58, 136 Schleiermacher, F. D. 48 Schopenhauer, A. 184, 200 Schwarzenegger, A. 120 Searle, J. 32 Seneca 123, 188 Sennett, R. 93–94 Shakespeare, W. 114 Shusterman, R. 36, 88, 181–182, 186 Simkus, A. 63 Simmel, G. 15, 89, 91–96, 99 Sokrates 99, 125, 144, 180, 191 Spender, S. 182 Spinoza, B. de 57, 123 Stecker, R. 103 Stern, D. 32 Strait, G. 67–69, 77, 81 Suleiman, S. 142 Swami, S. 130 Taine, H. 188 Tatarkiewicz, W. 22 Taylor, C. 174–177, 179

PERSONENVERZEICHNIS

208 Taylor, P. 113 Tee-Tot 71 Thomä, D. 16 Thomas v. Aquin 22 Thoreau, H. D. 139 Tichi, C. 63 Tippin, A. 63 Tucholsky, K. 87, 94 Vattimo, G. 10 Wagner, R. 52, 102 Warhol, A. 36 Warren, L. A. 77 Washington, G. 69 Wayne, J. 66 Weber, M. 11 Weitz, M. 104

Wellmer, A. 86 Welsch, W. 42, 56, 128 Wessels, D. 114 Wilde, O. 21 Williams, H. 63, 64, 71, 184 Williams, P. 73 Wittgenstein, L. 41–42, 155, 177, 191, 196–197, 201–204 Wolff, C. 121, 124 Wolin, R. 25 Wollheim, R. 12 Wordsworth, W. 90 Young, J. Z. 38 Yuasa, Y. 126 Zemach, E. 24 Zenon 125