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German Pages 354 [355] Year 1986
WERNER W. ERNST
Legitimationswandel und Revolution
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 49
Legitimationswandel und Revolution Studien zur neuzeitlichen Entwicklung und Rechtfertigung politischer Gewalt
Von
Werner W. Ernst
DUNCKER &
HUMBLOT I
BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Ernst, Werner W.: Legitimationswandel und Revolution: Studien zur neuzeitl. Entwicklung u. Rechtfertigung polit. Gewalt I von Werner W. Ernst. - Berlin: Duncker und Humblot, 1986. (Beiträge zur Politischen Wissenschaft; Bd. 49) ISBN 3-428-06056-3 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Gedruckt 1986 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany
© 1986
ISBN 3-428-06056-3
Vorwort Die politischen Theorien der Neuzeit setzen die Tradition alteuropäischen Machtdenkens fort. Ich habe im Hauptteil versucht, sie analog zum realgeschichtlichen Politikgeschehen immanent zu kritisieren. Ich bin dort also, soweit mir das bewußt war, nicht von der objektiv-strukturellen Betrachtungsweise abgegangen, die immer schon "Macht" voraussetzt, um sie hernach begründen zu können. Freilich legt das "Bürgertum" auch Wert auf eine moralische Anschauung, welche seine Theoretiker mühsam mit der "Macht" zu versöhnen trachten. Die dabei auftretenden Ungereimtheiten sind so offenkundig, daß "spätbürgerliches" wie auch "sozialistisches" Denken eine Variante ausbilden, die "Macht" explizit mit "Politik" in eins setzt. Dem hatte ich dann objektiv nichts mehr hinzuzufügen. Ich halte diese Theorie auf der Höhe der Zeit und den objektiven politischen Gegebenheiten für angemessen. Wenn ich damit aber den Eindruck hinterlassen haben sollte, daß ich bestimmte Gewaltverhältnisse bejahe, dann wird die "Einführung" diesen Eindruck, wie ich hoffe, revidieren. In der Einführung versuche ich "subjektiv" nachzuholen, was sich im Hauptteil aus objektiven Gründen versagt. Subjektives Leben und Denken lassen sich mit den objektiv bestehenden Herrschaftsverhältnissen aber nicht "versöhnen", "vermitteln". Deshalb habe ich auch der ganzen Arbeit die Form gegeben, die von einer solchen "Versöhnung" Abstand nimmt. Der Bruch zwischen "herrschaftslosem Subjektivismus" und "objektiver Herrschaft" ist offenkundig, auch der zwischen den unterschiedlichen Darstellungsformen von "Einführung" und "Hauptteil". Da eine Zusammenfassung des Hauptteils ein neuerliches Eingehen auf die Einführung erforderte und damit sich im Sinne eines Regelsehen Dreischritts erst recht wieder eine auf der bloßen Denkebene nicht zu vermittelnde "Vermittlung" nahelegte, wurde darauf verzichtet. Die Form des Hauptteils nimmt ganz die einer Verbindung von Revolution und Legitimation verpflichteten Darstellung an. Die chronologisch geordneten Kapiteleinteilungen resp. -Überschriften gehen von den entsprechenden Einheiten revolutionärer politischer Gewaltstrukturen und epochalen Denkbewegungen bzw. Denkern aus ("Legitimationswandel in der Niederländischen und Englischen Revolution", "Französische Aufklärung, Rousseau und die Französische Revolution", "John Stuart Mill und der Liberalismus", "Lenin/Trotzki und die Russische Revolution", "Mao Tse-tung und die Chinesische Revolution"), oder aber kennzeichnen ein bestimmtes, z. T.
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Vorwort
auch epochenübergreifendes politisches Problem ("Revolutimisbegriff", "Staatsgewalt", "Demokratie", "Ethik"). Lehren, Anregungen, Ermunterungen und Hilfestellung (im weitesten Sinn) wurden mir im Laufe von Jahren in vielerlei Richtung zuteil. Was diese Schrift betrifft, erfuhr ich grunds;itzliche Kritik und wichtige Hinweise durch Univ.-Prof. Dr. Anton Pelinka und Univ.-Prof. Dr. Franz Horner. Univ.-Prof. Dr. Heinrich Schneider hat sich in denkbar ausführlichster Weise mit der Arbeit auseinandergesetzt Fachlicher Rat und Richtigstellungen wurden mir durch ihn in einem Maß erteilt, wie ich es im einzelnen und an vielen Stellen gar nicht kenntlich machen konnte. Doch weiß ich nur zu gut, daß er wie auch Franz Hornerzwar für den Hauptteil, nicht aber die Einführung einstehen können wird. - Philosophische Anregungen erhielt ich in regelmäßigen Gesprächen mit meinen Kollegen Univ.-Prof. Dr. Arno Anzenbacher, Dr. Werner Gabriel und Dr. Leo Specht. Fragen der "Macht" diskutierte ich mit Univ.-Prof. Dr. Egon Matzner. Univ.-Prof. Dr. Ernst Bruckmüller erörterte mit mir sozialgeschichtliche Hintergründe. Frau Mag. Gerda Neyer leistete mir formalen, aber auch substantiellen Beistand, ohne den das Manuskript in der gebotenen Zeit nicht abgeschlossen worden wäre. Meine Frau, Dr. Ursula Ernst, hat viele Problemschwerpunkte mit mir besprochen. Es gibt viele Gedanken in der Einführung, von denen ich nicht mehr weiß, ob sie von ihr oder von mir stammen. - Das Schreiben der Korrekturen besorgte Frau Maria Bodzenta, die auch das Namenverzeichnis anfertigte. Ihnen allen danke ich aus ganzem Herzen. - Es erübrigt sich freilich zu sagen, daß etwaige methodische und inhaltliche Mängel ausschließlich mir zuzuschreiben sind. Wien und Innsbruck, im Sommer 1985
Werner W. Ernst
Inhaltsverzeichnis
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Kapitel: Legitimationswandel in der Niederländischen und Englischen Revolution . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2. Kapitel: Thomas Hobbes und die Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3. Kapitel: Der liberale Ansatz: J. Locke, D. Hume, Ch. de Montesquieu . . . . . . . . . . . . . 93 Literatur 4. Kapitel: Französische Aufklärung, Rousseau und die Französische Revolution Literatur 5. Kapitel: Nachtrag zum Revolutionsbegriff Literatur 6. Kapitel: Legitimitätsvorstellungen bei Kant und Hegel Literatur
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7. Kapitel: John Stuart Mill und der Liberalismus .... . . . ........ . ......... . . . ... 194 Literatur . ...... . .. . . . .. . . ...... . . . .. .... . ............... . ..... . . 219 8. Kapitel: "Liberale Demokratie" und "Soziale Demokratie" Literatur
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9. Kapitel: Lenin/Trotzki und die Russische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Literatur . ...... . . . ... . . . . ........ . ... . . . . .... . ........ ... .... .. . 283
Inhaltsverzeichnis
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100 Kapitel: Sozialistische Revolution und Ethik bei Go Lukftcs und R. Luxemburg Literatur
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11. Kapitel: Mao Tse-tung und die Chinesische Revolution Literatur
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Einführung Ich habe lange gezögert, diese Einführung zu schreiben. Die Gründe hierfür seien in der Folge näher erläutert. Die Untersuchung im Hauptteil stellt ihrer ursprünglichen Intention nach den Versuch dar, meine Studien zur "Sozialdemokratie" und "Logik der Revolution" auszuweiten und unter der Problemstellung "Legitimationswandel und Revolution" zusammenzufassen. Schon der Titel soll kenntlich machen, daß an eine sowohl ideengeschichtliche wie auch realgeschichtliche Befassung mit politischer Gewalt gedacht ist. Die Änderung von Rechtfertigungsvorstellungen über politische Gewalt und die Transformation politischer Gewaltausübung (Revolution) als solche bilden zwar methodisch unterschiedene, im historischen Ablauf jedoch zusammengehörige und gleichermaßen wichtige, objektive Betrachtungsebenen. Die Darstellungsform im Hauptteil ist also ausschließlich objektivistisch, d.h. zieht den historischen Betrachter nicht auch ins Blickfeld. Objektiv gestellt ist die real- und ideengeschichtlich aufeinander bezogene Frage: Was ist wann und wie reell an Ideen politischer Herrschaftsausübung (oder herrschaftlichen Ideen?) und was wann wie wiederum ideell an realen Gewalt-Strukturen? Diese jeweils im geschichtlichen Kontext zu klärende Frage zielt auf das Grundproblem gesellschaftlicher Dialektik von Begründungsform und Herrschaftsform. Es gibt einen Zusammenhang von Denken und Herrschen, dem auch das Denken über diesen Zusammenhang unterliegt. Was aber bedeutet diese Machtbetroffenheit des Denkens, wozu auch wissenschaftliche Betrachtungsweisen und ihre Rationalitätsbegriffe gehören, in Anbetracht der konkreten Themenstellung von Gewalt und ihrer Legitimierung? In Beantwortung dieser Frage ginge es nicht darum, Gewalt "äußerlich", "materiell", sondern in der "ideell-kognitiven" Form von Denken aufzuzeigen. Dabei meine ich mit "Gewalt" in der Denkform wiederum nicht die rein äußerliche Betrachtung, ob eine "Idee" oder "Weltanschauung" gewaltmäßige Elemente birgt, sondern diese (meine) Betrachtung über eine "Idee" oder "Weltanschauung" selbst. Die Problemstellung, die Denkgewalt in dieser (auch meiner) Betrachtung über Gewalt und ihrer Rechtfertigung selbst als vorausgesetzt denken zu müssen, findet sich nur hier in der Einführung, nicht aber im Hauptteil der Arbeit. Sie soll den "subjektiven Auftakt" zur eigentlichen Abhandlung über fünfhundert Jahre bürgerliche Gewaltgeschichte bilden. Diese hinter-
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Einführung
läßt nämlich ohne Lektüre der Einführung einen gewissen Eindruck von Ratlosigkeit: Mit den bisherigen Revolutionen und ihren Rechtfertigungen sind die alten Fragen nach dem "guten Leben" und die nach der "legitimen Herrschaft" unzureichend gestellt oder offen geblieben. Ich habe im nachhinein die im Hauptteil ausgesparte Frage nach den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit auch "machtlosen" Tuns und Denkens gestellt. Ihre Formulierung und Beantwortung erschien mir sogar als "Alternative" für den hinzugekommenen Umstand, mich der faktischen Ausübung wissenschaftlicher Herrschaftsgewalt gebeugt haben zu müssen. Das Thema "politische Gewalt" wurde somit auch ein unmittelbar praktisches, das sich in direkter Auseinandersetzung mit den Herrschaftsorganen wissenschaftlicher Denkgewalt abklärte. - Alles in allem geht es in dieser Einführung also um die Frage, wie nun der Zusammenhang von "objektiven Gewaltverhältnissen" mit "subjektiver (Denk-)Gewalt" - gewaltmäßig, oder nicht?- zu denken ist. Zunächst möchte ich beim "Besonderen" beginnen. Menschen, Dinge (Natur-Dinge, bereits bearbeitete Naturl) sind das, was sie sind, durch sich selber; sie bestehen in ihrer Besonderheit. Ihr Zweck ist es also, sie selbst, eigen zu sein (Eigenwert).- Dadurch, daß das "Besondere" die Eigenheit ist, hat es aber auch kein Gegenteil. Es gibt nur andere Besonderheiten, die untereinander in keiner Beziehung der Negation stehen. Wie könnten sie auch, wenn sie doch alle anders sind? Wenn überhaupt, bilden sie Ergänzungen oder Symbiosen. Damit aber ergibt sich das Problem einer noch aus-' stehenden allgemeinen Betrachtungsweise, welche der Unvergleichbarkeit von Besonderheiten genügte, der Zusammenschau oder Ansehung in einer Form des Belassens der Dinge, also nicht ihres Gleich-Machens. Der Generaleinwand gegenüber diesem Versuch, das Besondere resp. die Besonderheit als Konkretum zum Ausgangspunkt aller Überlegungen zu machen, wird natürlich lauten, daß damit dem Problem der "Vermittlung" für den Kollisionsfall (wenn ein Besonderes gegen ein anderes steht) aus dem Weg gegangen ist. Das "Allgemeine", heißt es, würde ja gerade die tragende Rolle für eine Beurteilung einander konfligierender Besonderheiten, Dinge, Existenzen, Interessen, Ansprüche, Wünsche, Bedürfnisse, Vorstellungen, Normen etc. innehaben. Das "Allgemeine" als "Maß" und "Richtschnur" sei unabdingbare Voraussetzung für Handeln und Denken des Men1 Ich weiß, daß diese Unterscheidung große Probleme aufwirft. Zunikhst ist zu bemerken, daß auch die Natur-Dinge als "Natur an sich", ungetätigte, unbesessene Natur, insoweit bearbeitet sind, als der Mensch eine Vorstellung von ihnen hat. Da aber auch der Mensch ein Stück Natur ist, ist auch diese Vorstellung letztlich auf Natur bezogen. Eine weitere Schwierigkeit betrifft den Begriff "bereits bearbeitete Natur". Hier muß wiederum unterschieden werden zwischen "bearbeiteter Natur", die durch "Produktionsarbeit" verändert wurde, und "bearbeiteter Natur" im Sinne der "Kunst-Natur". Wie auch immer die "veränderte Natur" aussehen mag- sie ist Besonderheit wie auch der Mensch, der sie geschaffen hat.
Einführung
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sehen.- Diese "Idee", die als "Gemeinsames" den formalen Ausgangspunkt gängiger politischer Theorien bildet, habe ich in den Hauptabschnitten selber immer wieder aufzuspüren versucht, ohne sie allerdings auf den ihr eigenen Gewaltcharakter hin untersucht zu haben. Dies soll, wie folgt, hier nachgeholt werden. Das "Allgemeine" heute wird als "Abstraktionsgewalt" zu verstehen sein, demgegenüber ein (noch) unaussprechbares, zukünftig neues ,;Allgemeines" erst herzustellen wäre. Die Bedeutung dieser noch ausstehenden Tätigkeit kann nun aber deshalb im Medium reinen Denkens nicht erfaßt werden, weil die gewaltmäßige Denkform dieser Vorstellung neuerlich den Stempel der Gewalt aufdrücken würde. Dieses Manko haftet also der Sache selber an und ist deshalb, auch wenn das kognitive Bedürfnis danach drängt, auf dieser Ebene nicht aus der Welt zu schaffen. So ist es auch nicht vorzuwerfen. Wieder auf das Besondere zurückkommend möchte ich festhalten, daß der Eigenzweck von Dingen in und an ihnen selbst besteht. Wenn nun aber die Dinge in den Dienst eines ihnen äußerlichen Zwecks gestellt werden, so spreche ich von "Macht" oder "Verfügungsgewalt". "Macht" heißt, daß die Dinge daran gehindert werden, ihren Eigenzweck auszubilden - um eines Fremdzwecks willen. Indem ich "Macht" als einen Akt der Verfügung über die Dinge, eines ihnen äußerlichen Zwecks wegen, bestimme, verwehre ich mich gegenüber der bekannten Trennung von Mittel- und Zweckfragen. Von dieser Trennung ausgegangen, ist es nämlich ein Leichtes, kraft Definition zu behaupten, daß sich "Macht" bloß auf die Mittelfrage bezöge und beim Zweck es dann darauf ankäme, ob es sich um den Eigenzweck bzw. einen Fremdzweck handelt. Anders versuche ich davon auszugehen, daß der Eigenzweck bereits der Sache selbst inhärent ist und nicht erst über die Sache verfügt zu werden braucht, um ihren Eigenzweck im Unterschied zum Fremdzweck zu bestimmen. Wenn nämlich der Eigenzweck mit der Sache selbst zusammenfiele, dann bedürfte es überhaupt nicht der Grenzziehungen, die u.a. der "Verfügungsgewalt" die Rechtfertigung dafür bieten, als "immer schon" vorausgesetzt gelten zu können; dann könnte auch von "Machtfreiheit" im Sinne von "Gewährenlassen" oder "mimetischer Annäherung" (Adorno) die Rede sein. Die "Macht" jedenfalls, die sich unabdingbar wähnt, braucht die Dualitäten von Mittel und Zweck, Macht und Machtmißbrauch -um des eigenen Überlebens willen. Ich hingegen möchte."Macht" stets nur in dem Sinne verwenden, als sie dem Eigenzweck der Dinge abträgliches, weil ihnen selbst fremdes und über sie verfügendes Denken und/oder Handeln bedeutet. Demgegenüber würde ein dem Eigenzweck der Dinge verbundenes Denken und Handeln "Macht" selbst unterlaufen. Freilich muß dies unter den gegenwärtigen realen Macht-Bedingungen fiktiv anmuten. Darauf, was es heißt, unter Bedingun-
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Einführung
genvon Macht von einer "anderen", nämlich "machtlosen" Lebens- und Denkform zu sprechen, werde ich später eingehen. Ich möchte zusammenfassen: "Macht" soll jenes Prinzip verfügender Gewalt heißen, das die Dinge eines fremden Zweckes wegen ihres Eigenzwecks beraubt. Man muß auch sagen, daß "Macht" die Dinge ebenso in ihrem Verhältnis untereinander entfremdet. Macht "verfügt über", "beherrscht", "herrscht über", "subsumiert", "unterwirft", "gei>:raucht", "verwendet" die Dinge für ein ihnen "Äußeres", "Fremdes" und entfr~mdet sie dabei sich selber. Sie mediatisiert die Dinge in Richtung eines "Äußeren", wie "Geld", "Vermögen", "Grund und Boden", "Eigentum", "Herkunft", "Ansehen", "Bildung", "Beruf", "Status" u.v.a.m. Indem "Macht" stets die Funktion des "In-den-Dienst-eines-fremden-Zwecks-Stellens" übernimmt, ist sie selbst den Dingen gegenüber ein "Fremdes". Alle Zwecke, wohin Macht führt, sind auch Machtzwecke. Im Kontext von Macht fallen also Mittel und Fremd-Zweck zusammen. D.h. Macht ist sowohl Mittel zum Fremd-Zweck wie auch dieser Fremd-Zweck selbst (Fremdzweck als Selbstzweck). Wenn nun von realen Machtverhältnissen ausgegangen werden soll2 und gesagt wurde, daß die Dinge auch im Verhältnis zu sich selbst entfremdet sind, dann unterliegt auch das Denken über Macht noch dieser Fremdbestimmung_. Dieses Problem soll zunächst an Hand eines Definitionsbeispiels aufgezeigt werden, das die Objektivität einer Sache auch im Falle der Macht sichergestellt zu haben meint. Daß in die Machtdefinition bereits jener Verfügbarkeitsaspekt eingeht, um den es der "Macht im Denken" (Begriffsgewalt, Denkgewalt) einzig zu tun ist, bleibt dabei verborgen. · M. Webers berühmte Definition von "Macht" lautet: "jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht3."- Es ist immer wieder bemerkt worden, wie wichtig das Wort "auch" in dieser Definition ist. Gegen Widerstreben sich durchsetzen können und sich gar nicht durchsetzen zu brauchen, weil der Übermächtigte nicht widerstrebt, sind die beiden konterkarierten Fälle von Machtausübung, die mit dieser Definition abgedeckt scheinen. M. Weber läßt es offen, ob im konkreten (empirischen) Fall Macht gegen Widerstreben - oder nicht - zur Durchsetzung gelangt. Allerdings läßt das Wort "durchsetzen" auch für den Fall ohne Widerstreben 2 Auszugehen ist "von den objektivierten, institutionellen Mächten, von denen.die Sozialprozesse, und damit die Individuen bis in ihre vermeintlich irreduzible Psychologie hinein, abhängen". (Th. W. Adorno, Soziologische Schriften I, Frankfurt 1972Ges. Schriften VIII-, 460.) Als gesellschaftliches Strukturprinzip der Objektivierung von Macht fungiert die Tauschwertproduktion. Dieser Zusammenhang wird weiter unten erörtert. 3 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, herausgegeben von J. Winckelmann, 1. Halbband, Köln- Berlin 1964, 38.
Einführung
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noch ein gewalttätiges Moment erahnen, dessen gesellschaftliche Rolle zur Abstützung und Begründung von Herrschaft4 für M. Weber außer Zweifel steht5. In diesem Sinne spreche ich dann für alle nur erdenklichen Fälle von Machtausübung von "Durchsetzungsgewalt". Das tue ich aber nur, weil ich -anders wie M. Weber- auf kategorialer Ebene nicht bereits unterstellt haben möchte, wonach gefragt wird: die Möglichkeit unterscheiden zu können zwischen "gegen Widerstreben" (= Gewalt) und "nicht gegen Widerstreben". Gegenüber der bloßen Annahme, auch feststellen zu können, ob es im Machtspektrum keine Gewalt gibt, gehe ich zunächst auch dort noch von "Gewalt" aus, wo die Willen anderer sich an den übermächtigen Willen eines Einzelnen oder mehrerer Einzelner scheinbar friedlich binden. Wenn ich selbst für diesen Fall das Gewaltmoment nicht ausgeklammert sehen möchte, umso mehr werde ich es für jede andere Form von Fügsamkeit der Unterworfenen behaupten. M. Weber betrachtet die Fügsamkeit der Übermächtigten als abhängige Variable des Faktors "Legitimitätsglauben" 6, dem diese zu Zwecken der Rechtfertigung für ihr (subjektiv) als sinnvoll angesehenes Tun anhängen (traditional, rational oder charismatisch)?. Indem ich hier an Weber anschließe, darüber hinaus aber den Zusammenhang von Machtausübung und (zu) legitimierender Gefolgschaft als Gewaltakt begreife, ist "Denken" nicht nur in Hinblick auf diesen Zusammenhang, sondern gerade auch als davon losgelöst, d. i. von (seiner) Macht abstrahierendes Denken, Gewaltmoment. Demgegenüber ließe sich im weiteren mit M. Weber einwenden, daß die "Durchsetzungsgewalt" durch das Wort "Chance" eine Einschränkung erfährt. "Chance", u.zw. die "Chance" des Machthabers, hat auch die Bedeutung, "Macht" nicht wahrnehmen zu müssen, zu sollen oder wollen. "Macht" nicht wahrzunehmen, kann beispielsweise den "Verzicht" auf "Durchsetzungsgewalt" bedeuten, u.zw. gerade für den Fall, daß diese zur Machterhaltung notwendig wäre. Diese (kleine) "Chance" hat in einem 4 Unter "Herrschaft" sind bereits stabilisierte Machtbeziehungen bzw. institutionalisierte Formen politischer Macht zu verstehen. (R. Aron, Zwischen Macht und Ideologie, Politische Kräfte der Gegenwart (Etudes politiques), Wien 1974, 75.) 5 Chr. v. Ferber, Die Gewalt in der Politik. Auseinandersetzung mit Max Weber, Stuttgart- Berlin- Köln- Mainz 1970, 66. & Legitimität sei an die "Vorstellung" vom "Bestehen einer legitimen Ordnung" gebunden (M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 22) und umfasse "die Chance", von den Beteiligten auf der Grundlage von Glauben, Gewißheit oder Hingabe angenommen zu werden. 7 Eine "Zweigleisigkeit" von Webers Legitimitätsbegriff besteht bereits darin, daß die Rechtfertigungsideologien traditioneller Herrschaftsformen durch den Zugriff empirischer Begriffssprache als durchsc~?:aut gelten. Die Methode dient demnach nicht bloß Beschreibungs-, sondern auch Uberholungszwecken. Zu diesem Problemkreis: F. W. Stallberg, Herrschaft und Legitimität. Untersuchungen zu Anwendung und Anwendbarkeit zentraler Kategorien Max Webers, Meisenheim am Glan 1975, 29f. und 146f.
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Einführung
bereits als "Macht" definierten Machtfeld nur der Machthaber. Für den Übennächtigten hingegen steht dieses Verhalten nicht zur Disposition. Mit diesem theoretischen Hinweis sollte von "Macht" ausgehend die Möglichkeit ihrer eigenen Negation nachgewiesen werden. Damit erscheint auch die ursprüngliche Behauptung, daß alles Gewalt sei, in anderem Licht. Sie bezieht sich eben nur auf "Macht", wogegen die Möglichkeit von "Machtfreiheit" nunmehr abgegrenzt wurde. Ein anderes Beispiel dafür, Macht nicht wahrzunehmen (das Wort "wahrnehmen" hat eine aktive und passive Bedeutung; hier kommt es darauf an, daß von der Aktivität, Macht auszuüben, nicht Gebrauch gemacht wird), ist die "Interesselosigkeit an Macht". Hiebei ginge es nicht um ein "Opfer", einen "Verzicht", nicht darum also, sich richtungsgebunden für "Ohnmacht" als das der "Macht" Entgegengesetzte zu entscheiden (die "Obsession" von "Heiligen"). Vielmehr drückt sich in "Interesselosigkeit an Macht" als Beispiel für "Chance" noch ein "Anderes" als "Macht" aus, das weder einen Widerspruch noch den Gegensatz zu "Macht" bildete. Um eine solche Bestimmung auch noch weiter auszuführen, hätte Weber allerdings zu einem anderen als den Machtbegriff übergehen müssen, der sich scharf vom erfolgreichen strategischen Handeln abgrenzt. Gemeint ist ein an "Bedingungen eines zwanglos herbeigeführten Konsenses" orientiertes Handeln ("verständigungsorientiertes Handeln")B. Da M. Weber zwischen strategischem Handeln, das Kommunikationsprozesse nur soweit zuläßt, als sie den Machthabern Funktion des eigenen Erfolgs bilden, und einem Handeln, das an Verständigung als einem Selbstzweck orientiert ist, nicht unterscheidet, bleibt sein Machtbegriff eigentümlich unbestimmt. Diese Unbestimmtheit ergäbe sich aber auch dann noch, wie zu zeigen sein wird, wenn verständigungsorientiertes Handeln unter "Macht" subsumiert würde. Zwischen "Chance" und "Durchsetzen" klafft eine Lücke, die mit einem verallgemeinerten Begriff von "Machthandeln" überhaupt nicht abzudecken ist. Wenn hingegen "Macht" sich ausschließlich auf die Verfolgung eines Fremdzwecks (den Dingen selbst äußerlichen Zwecks) bezöge und ein anderer Begriff auf die eines für andere Zwecke nicht instrumentalisierbaren Eigenzwecks (der Dinge), dann wäre die Ambivalenz beseitigt, wann und wo nun Gewalt oder nicht am Werk sei9. Da M. Webers Machtdefinitionihrem hohen Abstraktionsgrad gemäß auf die Verfolgung von sowohl Eigenzwecken wie auch Fremdzwecken (auf 8 J. Habermas, Hannah Arendts Begriff der Macht, in: J. Habermas, Politik, Kunst, Religion, Stuttgart 1978, 103 - 126. 9 Offenbar will M. Weber auch keiner Dlusion aufsitzen, wenn er die Gewalt als ,.unentbehrlich" für das ,.Politische" ansieht. Die ,.Androhung" (,.Anwendung") von ,.Gewaltsamkeit" sei ,.spezifisches Mittel" und ,.ultima ratio" des politischen Herrschaftsverbands. (M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 39 und ff. Hiezu auch: Chr. v. Ferber, Die Gewalt in der Politik, insbes. Fußnote 40 auf 114.)
Einführung
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den Menschen bezogen: Eigenständigkeit, Selbsttätigkeit, Autonomie oder Fremdbestimmtheit, Zwang, Gewalt) appliziert werden kann, geht die Relevanz dieses Unterschieds verloren. Das äußert sich auch darin, daß innerhalb des Machtspektrums zwar jede Form von Willensausdruck des Machthabers bis hin zur Gewaltanwendung impliziert ist, nicht aber die des (der) Übermächtigten. Der Wille der Übermächtigten hat beiM. Weber den Ausdruck der Fügsamkeit, ist also gerade nicht Macht. Art und Grad der Fügsamkeit wiederum würden erklärt über die spezifischen Legitimitätsvorstellungen, mit denen die Übermächtigten einen subjektiven Sinn verbinden. Damit erfolgt aber keine Begründung der Machtverhältnisse, sondern bloß ihre Bestätigung. Machtpositionen und die Notwendigkeit von Rechtfertigung solcher Machtpositionen über bestimmte Legitimitätsvorstellungen sind bei Weber bereits vorausgesetzt. Worin die Macht der Machthaber und "der Zwang der Rechtfertigung des Handeins ihrerseits gründen, welche Situation die Notwendigkeit heraufführt, seinem Tun einen Sinn zu verleihen, wird von ihm nicht weiterentwickeltto." M. Webers neukantianischer Ansatz einer aus der "Sinnorientierung" von Handeln stammenden Akzeptanz von Macht löst im Grunde nicht die Frage nach der Macht, sondern läßt sie im Gegenteil offen. Auf das Problem "realer" Diskrepanz von Eigenständigkeit und Fremdbesti~theit gibt Webers Definition keine Antwort. Soweit also "Macht" "durchschaut" wird als jedwede Willensäußerung des Machthabers und dessen Durchsetzungsgewalt, ist alles undurchschaut geblieben. Webers definitorischer Zugriff läßt es gar nicht zu, zwischen Begriffsgewalt, d. i. die Einschränkung, die der Gegenstand durch Webers Denkweise erfährt, und der zur Erklärung anstehenden "realen" Macht zu unterscheiden. Die im Webersehen Sinne "durchschaute" Macht ist also selber Macht, weil durch Denkgewalt zustandegekommen. Ich setze hinzu: Wer sie übernimmt, ist ebenso fremdbestimmt. Ich möchte nun aber nachtragen, daß auch J. Habermas mit seiner auf kategorialer Ebene getroffenen Unterscheidung von strategischem Handeln und an zwangloser Verständigung als Selbstzweck orientiertem Handelnll im Rahmen des Machtbegriffs verbleibt. Offenbar ist für Habermas auf der Ebene tatsächlich bestehender Machtverhältnisse (noch) keine Entlegierung der beiden Handlungstypen in Sicht. Deshalb schlägt er die "Verständigung derer, die sich beraten, um gemeinschaftlich zu handeln"t2, ebenso dem Machtbegriff zu: Verständigungsorientiertes Handeln "bedeutet Macht, 1o Chr. v. Ferber, Die Gewalt in der Politik, 65. u "Wir wollen die über strategisches Handeln ausgeübte Gewalt als die Fähigkeit verstehen, andere Individuen oder Gruppen daran zu hindern, ihre Interessen wahrzunehmen." - "LegitiJ!le Macht entsteht nur unter denen, die in zwangloser Kommunikation gemeinsame Uberzeugungen bilden." (J. Habermas, Hannah Arendts Begriff der Macht, 117.) 12 Ebenda, 105.
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Einführung
soweit sie auf Überzeugung und damit auf jenem eigentümlich zwanglosen Zwang beruht, mit dem sich Einsichten durchsetzenta."
In der Auffassung, daß Macht auch eine "positive" Bedeutung hat ("legitime Macht"), ist Habermas noch der traditionellen Theorie der Macht verhaftet. Er würdigt Hannah Arendts hergeleiteten Begriff der kommunikativ erzeugten Macht, der streng gegenüber den instrumentellen Tätigkeiten abgegrenzt ist, kritisiert aber das Fehlen der Unterscheidung zwischen strategischem und instrumentellem Handeln, sodaß kommunikatives Handeln als die einzige politische Kategorie erscheinen müsse. Strategisches Handeln sei zwar wie instrumentelles Handeln erfolgsorientiert, jedoch im Gegensatz zu diesem an die soziale Interaktion gebunden und deshalb wie auch das kommunikative soziales Handeln. Instrumentelles Handeln hingegen sei nicht-soziales, von einem einzelnen Aktor ausgeführtes Handeln. Indem nun H. Arendt kommunikativ erzeugte Macht von instrumentellem Handeln abgrenzt, instrumentelles mit strategischem Handeln aber gleichsetzt, blende sie alle strategischen Elemente als "Gewalt" aus der Politik aus. Ein auf das kommunikative Handeln restringierter Politikbegriff führe jedoch seinerseits zu falschen, weil unpolitischen Einschätzungen der Sphären von Produktion, Administration und den Tätigkeiten des Denkens (theoretische Erkenntnis). Damit aber blieben auch alle Erscheinungen struktureller Gewalt notwendig unverstanden. Habermas' Kritik an Arendt ist nicht so groß, daß das Trennende überwöge. Vielmehr gibt sie Aufschluß darüber, wie sehr sie selbst noch "traditioneller Theorie" (M. Horkheimer) verbunden ist. So verwendet auch Habermas ein kommunikatives Handlungsmodell, das er gegenüber Arendt zwar verfeinert, jedoch ebenso wie sie für einen positiven Machtbegriff heranzieht. Ich unterstelle nun Habermas keineswegs, daß er damit "Macht" verewigen möchte. Wahrscheinlich verwendet er deshalb (noch) den Begriff "legitimer Macht", weil- wie ich bereits sagte- die tatsächlich bestehenden Machtverhältnisse es (noch) nicht erlauben, kommunikatives und strategisches Handeln auseinanderzuhalten. Der Preis, den nun aber Habermas dafür entrichten muß, daßer-im Gegensatz zu H. Arendt- strategisches Handeln zusammen mit kommunikativem Handeln dem Machtbegriff zurechnet, ist der der Ambivalenz. Dabei ist nicht die Vermischung von kommunikativem mit strategischem Handeln in der Realität das Problem, sondern die Unbestimmtheit, die strategisches Handeln auf kategorialer Ebene mit Hinblick auf den Begriff "Gewalt" erfährt. Die bereits in Fußnote 11 angeführte, bislang unhinterfragt gebliebene Bestimmung lautet: "Wir wollen die über strategisches Handeln ausgeübte Gewalt als die Fähigkeit verstehen, andere Individuen oder Gruppen daran zu hindern, ihre Interes13
Ebenda.
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sen wahrzunehmen." -Kehrt hier nicht das Problem wieder, das wir bereits beiM. Weber angetroffen haben, daß dort, wo etwas gegen andere(s) durchgesetzt wird, überhaupt nicht gesagt werden kann, daß keine Gewalt im Spiel ist? Das gilt umso mehr für den Begriff strategischen Handelns, den Weber in Hinblick auf Macht ja gar nicht eigens ausdifferenziert hat. Gewiß ist die Formel "über strategisches Handeln ausgeübte Gewalt" insofern distinkt, als sie ihre Bedeutung auch noch im Zusammenhang mit kommunikativem, auf Verständigung beruhendem Handeln behält. Doch was heißt das? Das gemeinsam in Vernunftansprüchen gründende kommunikative Handeln erlaubt sich, wenn es ein solches Vorgehen für richtig erachtet, gegenüber anderen Individuen und Gruppen strategische Gewalt auszuüben. Ich frage mich: Welche inhaltlichen Bestimmungen für einen Konsens rechtfertigen ein gewaltmäßiges Vorgehen gegenüber anderen? Und was ist in diesem Zusammenhang von intern kommunikativer Basis und externem strategischem Verhalten noch "legitime Macht"? (Etwa der Hinweis, daß andere keine kommunikative Praxis zulassen oder fördern? Wo aber besteht schon eine derart ausgebildete kommunikative Basis, daß sie unter Zuhilfenahme dieses Hinweises strategische Gewalt gegenüber anderen rechtfertigen würde?) Muß nicht auf kategorialer Ebene noch vor jedem Hinweis auf die Tatsache strategischen Denkensund Handeins die universale Geltung von Vernunftansprüchen, derjenigen gemeinsamen Basis also, woraus kommunikatives Handeln seine Kraft bezieht, außer Streit gestellt sein? Diese Geltung ist doch für alle Menschen gleich?! Warum darf dann aber Strategie noch eine Rolle spielen? - Oder aber: Ist nicht auch gewaltloses strategisches Denken und Handeln möglich, das ja seine Bestimmung am eigenen Erfolg hat? Handlungstheoretisch hieße aber der eigene Erfolg wiederum, sich gegen andere durchgesetzt haben. Das gälte auch ohne Annahme eines Nullsummenspiels, z.B. für unterschiedliche und einander abwechselnde Machtakte in unterschiedlichen Machtbereichen, wo Machtgewinn des einen nicht zugleich Machteinbuße des anderen bedeuten muß. Durchsetzung mittels bereits bestehendem Machteinfluß ist es allemal (Durchsetzungsgewalt! ). Der Gedanke schließlich, daß erfolgsorientiertes Handeln von der ganzen Menschheit gleichermaßen gewünscht wird (Übereinstimmung hinsichtlich des gemeinsamen Erfolgs), erlaubte keinen Unterschied mehr gegenüber kommunikativem Handeln. Das Erfolgsprinzip wäre gewissermaßen geläutert, verlöre seine Eigennützigkeit, indem sich bereits alle für die Gemeinsamkeit entschieden. Das konnte wohl Habermas mit strategischem Handeln nicht meinen. Bliebe also strategisches Handeln in der Bedeutung von "Durchsetzungsgewalt" gegenüber anderen, wobei der Gewaltcharakter mehr oder weniger augenscheinlich sein kann. 2 Ernst
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Ich denke, daß eine Machttheorie, die sich zugleich der Handlungstheorie versichern möchte- gleichgültig, ob es sich dabei um einen mehr aristotelischen oder mehr Webersehen Zugang handelt - in die Irre führt. Die gewünschte Abgrenzung von Macht und Gewalt, legitimer und illegitimer Machtl4 kann so nicht getroffen werden. Jedenfalls sind die auftretenden Ambivalenzen an Hand der hier demonstrierten Beispiele offenkundigls. An einer einzigen Stelle scheint mir das kommunikative Handlungsmodell von Habermas plausibel, dort nämlich, wo die universale Geltung von Vernunftansprüchen, denen sich kommunikatives Handeln verdankt, bereits hergestellt ist und infolgedessen sich Strategien und überhaupt "Macht" erübrigen. Das aber ist auch der Ort, wo Handlungen nicht mehr das Medium für die Durchsetzung von Gewalt bilden. Dies ist ein Grenzfall. Ansonsten steht Habermas auf dem Bode!'l traditioneller Machttheorie, in der "Macht" bereits als Voraussetzung menschlichen Handeins unterstellt ist und von der irrtümlich die Gewalt abzusondern versucht wird. Dort hingegen, wo menschliche Handlungen nicht gleichbedeutend sind mit der Rolle von Unterwerfungsakten, haben Vernunftansp~che Geltung gewonnen, die der Besonderheit von Menschen und Dingen Rechnung tragen. Ich spreche von Menschen und Dingen, die nebeneinander, also in keinem Unterordnungsverhältnis zueinander stehen.- Damit meine ich, nicht in die "humanistische Flllle" aller Handlungstheorie geraten zu sein, die "Macht" aus dem Blickwinkel der Oberherrschaft des Menschen betrachtet. Bei Habermas garantiert das, wie gesagt, nur die Stelle, wo strategisches Handeln und damit Macht überflüssig sind. Hier herrscht niemand und niemandes Zweck. Hier ist der Eigenzweck von Menschen und Dingen. Dieser ist bar jeglicher Herrschaft. Die traditionelle Machttheoriel6 hingegen unterwirft sich ihr Erkenntnisobjekt bereits mit jenem Herrschaftsanspruch, den sie gleichzeitig so gern 14 Nach U. Matz (Politik und Gewalt. Zur Theorie des demokratischen Verfassungsstaates und der Revolution, Freiburg-München 1975, 49) ließen erst die in der Folge von "Macht" stehenden Handlungsmodalitäten ethische Unterscheidungen nach dem Muster von "gut" und "böse" zu, auf den politischen Bereich bezogen: "legitime" und "illegitime" Herrschaft. Auch der deutsche Begriff "Gewalt" sei auf der Handlungsebene angesiedelt. "Macht und Gewalt sind damit ihrer Natur nach schlechthin unvergleichbar, da kategorial verschieden." 15 Das gilt auch für Macpherson's "entwicklungsbezogenen", positiven, Machtbegriff .("developmental power"). Dieser ist definiert als die Fähigkeit des Menschen "zum Gebrauch der eigenen Anlagen und seiner Fähigkeit zum Gebrauch der Anlagen anderer Menschen". (C. B. Macpherson, Demokratietheorie, München 1977, 81.) Abgesehen von der durch den schlecht übersetzten Begriff "Gebrauch" sich nahelegenden instrumentellen und strategischen Sichtweise, stellt sich die Frage, warum denn auf diese Weise von "Macht" überhaupt noch die Rede sein soll. Offenbar ist auch hier der Wunsch, "Macht" und "Gewalt" differenzieren zu wollen, der Vater des Gedankens (der Definition). Das Problem der Definitionsgewalt stellt sich für Macpherson genausowenig wie für H. Arendt. 16 Hiezu zähle ich auch jene anthropologischen Vertretet:, die "Angst" und "Furcht" als menschliche Grundkategorien betrachten, zu denen der Begriff "Macht"
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durchschauen möchte. Indem sie Macht verewigt, reproduziert sie sich dabei selbst. Dieser Zirkel erklärt den traditionellen Hang zur Fundamentalisierung von "Macht"17 • So auch bei H. Arendt. Indem diese "kommunikatives Handeln" mit "Macht" gleichsetzt, gelangt sie notwendigerweise zu einem positiv besetzten Begriff von Zweck: "Zweck in sich" 18, Eigenzweck. Das ist genau jene Bestimmung, die ich gerade nicht auf "Macht" anwende, sondern auf die Besonderheit der unterschiedlichen Dinge. Hierbei handelt es sich aber nicht bloß um ein terminologisches Problem. Dadurch nämlich, daß Arendt den "Selbstzweck Macht" nicht auch als "Fremdzweck" faßt, sondern sich der Dualität von Zweck und Mittel bedient, bestimmt sich das Gegenüber "Gewalt" wie selbstverständlich als "Mittel". "Macht" sei ein anthropologischer, substantieller Begriff, "Gewalt" jedoch instrumentellen Charakters. Mit den Worten Arendts: Macht ist "überhaupt erst die Bedingung", "in Begriffen der Zweck-Mittel-Kategorie zu denken und zu handeln"19. Hingegen: "Gewalt ist ihrer Natur nach instrumental; wie alle Mittel und Werkzeuge bedarf sie immer eines Zwecks, der sie dirigiert und ihren Gebrauch rechtfertigt. Und das, was eines anderen bedarf, um gerechtfertigt zu werden, ist funktioneller aber nicht essentieller Art20." in einem bestimmten Verhältnis stehe. Damit ist freilich auch der Machtbegriff eine anthropologische Grundkategorie. G. Ferrero etwa geht davon aus, "daß die Macht ihren Untertanen Furcht einflößt und vor ihnen Furcht hat". (G. Ferrero, Macht, Bern 1944, 73.) Aufgabe der Politik sei es, mit Hilfe von Legitimitätsprinzipien- Ferrero nennt deren vier- diese Furc~t zu bannen. Je anerkannter die Legitimitätsprinzipien, desto mehr befreiten sie von Angsten. Furcht und die Legitimität von Macht sind also ~ier Komplementärbegriffe, die als dem Menschsein zugehörig vorgestellt werden. Ahnlieh faßt C. F. v. Weizsäcker Furcht als anthropologische Konstante, der gegenüber Macht als notwendige Reaktionsbildung erscheint. Furcht wird als "affektive Wahrnehmung einer Gefahr" und Angst als "die Furcht vor unserer eigenen Unfähigkeit zum Frieden" definiert. (C. F. v. Weizsäcker, Wege in der Gefahr, MünchenWien 1976, 147.) Machtstreben heißt dann Ausbau resp. Absicherung des eigenen Herrschaftsbereiches, um die Furcht vor Gefahren zu verringern. Bei Ferrero und Weizsäcker bilden Angst und Macht jene Grundkategorien, die Legitimitäts- resp. Herrschaftsprinzipien notwendig machen, deren Vernunftcharakter im Rahmen einer Theorie der Politik außer Streit gestellt ist. Damit aber bleibt der Status von Angst ungeklärt, das hobbesistische Menschenbild insgesamt unbefragt. Beiden gemeinsam ist auch der Fortschrittsgedanke, daß im Kampf gegen die Ängste sich Macht "vermenschlicht" und "zivilisiert" (G. Ferrero, Macht, 73): "Fortschritte in der Evolution sind neu gefundene Wege in der Gefahr." (C. F. v. Weizsäcker, Wege in der Gefahr, 148.) 17 Neben den bereits Erwähnten exemplarisch U. Matz (Politik und Gewalt, 46f.): "Der Begriff der Macht (dynamis, potentia) ist zunächst einer der Grundbegriffe der allgemeinen Philosophie und als solcher schon bei Aristoteles präzise entwickelt; sein Bedeutungsfeld beschränkt sich infolgedessen primär nicht auf den sozialen und politischen Bereich, ohne daß er doch deswegen schon mehrdeutig sein müßte. Die soziale und politische Macht erscheint vielmehr zunächst als eine besondere Art der Macht im allgemeinen, die als eine ontologische Grundkategorie aufgefaßt wird. In diesem Sinne ist Macht das Vermögen(= die objektive Möglichkeit) zu sein, zu existieren bzw. zur Existe~z bringen zu können, und damit ist sie geradezu konstitutiv für alle Seinsbereiche." 1s H. Arendt, Macht und Gewalt, München 1970, 52. 19 Ebenda, 53. 2o Ebenda, 52. 2•
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Diese Ontologisierungsversuche von "Macht" enden schließlich in dem bereits skizzierten Zirkel, immer schon unterstellen zu müssen, was erklärt werden soll. Ganz allgemein gilt, daß in jeden definierten Begriff Denkgewalt eingeht (im Sinne von Grenzziehung und Ausschließung, aber auch Subsumption). Der Begriff schafft seiner ureigenen Funktion nach Identität, Eindeutigkeit und suggeriert dadurch, eine besondere Entität zu sein- auch dann noch, wenn er sich wie im Positivismus bloß als Behelf, Werkzeug oder Krücke ausgibt. Adorno bestimmt diese Denkgewalt als "jene stillschweigende Zuerkennung des Vorrangs ans Allgemeine gegenüber dem Besonderen, worin nicht nur der Trug des Idealismus besteht, der die Begriffe hypostasiert, sondern auch seine Unmenschlichkeit, die das Besondere, kaum daß sie es ergreift, schon zur Durchgangsstation herabsetzt und schließlich mit Leiden und Tod der bloß in der Reflexion vorkommenden Versöhnung zuliebe allzu geschwind sich abfindet. .. "21- Wie gesagt, diese Macht = Gewalt geht von allen Begriffen aus und verdankt sich dem Identitätsprinzip als solchem, das sowohl begriffliche Abgrenzung wie auch Subsumption ermöglicht. "Das Verderben kommt vom Gedanken als Gewalt, dem Abkürzen des Wegs, der einzig durchs Undurchdringliche hindurch das Allgemeine findet, dessen Gehalt in der Undurchdringlichkeit selber bewahrt ist, nicht in der abgezogenen Übereinstimmung verschiedener Gegenstände22." Das Problem des "Gedankens als Gewalt" tritt nun beim Macht- und Gewaltbegriff in spezifischer Weise auf. Hier, wo der Begriff (von Macht und Gewalt) mit dem Vorgang des Begreifens zusammenfällt, besteht ein besonderer Zirkel: Die Reflexivität von begrifflicher Tätigkeit und Begriff als solchem verunmöglicht endgültig ein Heraustreten, ein Distanzieren, das als Bedingung für Objektivität bereits bei allen anderen Begriffen als Schein entlarvt werden kann. "Macht" bedeutet mithin auf der Ebene des Denkens wie auch des funktionalen Handeins "Gewalt" im Sinne von "Verfügung", "Vereinnahmung", "Zurichtung". Das ist keine vom Denken gezielt gesetzte Definition, sondern eine ihm inhärente Bestimmung, über die der Begriff als solcher, d.i. der von dieser Denktätigkeit abstrahierende Begriff, nicht hinausgelangt. Die Betrachtungsweise also, die der Reflexivität von "Macht" Rechnung tragen möchte, muß für sich die Gewalt voraussetzen, von der sie geprägt ist. Allerdings kann sie für einen zukünftigen Zustand die "Entmachtung von Macht", schließlich ein "Leben ohne Macht" nicht ausschließen. "Machtlos" stünde für ein "anderes" Ausdruckshandeln und ein "anderes" Ausdrucksdenken, als es "Verfügung" und "Unterwerfung" und die diesen adäquate 21 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt 1969, 90. 22 Ebenda, 94.
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gewaltmäßige Begriffstätigkeit bedeuten. Dieser "andere" Ausdruck dürfte nicht selbst wiederum von der Begriffsgewalt vereinnahmt werden. - Ausgehend von der Machtdefinition M. Webers habe ich bereits auf ein Beispiel von "Andersartigkeit" hingewiesen. Ich sprach davon, die "Chance", den Willen durchzusetzen, auch als "Interesselosigkeit an Macht" deuten zu können. Darin drückt sich, wie ich formulierte, noch ein "Anderes" als "Macht" aus, das weder einen Widerspruch noch den Gegensatz bildete. Freilich steht auch dieser (abstrakte) Hinweis noch im Zirkel der Begriffsgewalt. Er sollte nur den Machtfundamentalismus brechen helfen, ohne dabei die Illusion genährt zu haben, der Denkgewalt entronnen zu sein. Woran aber liegt es, den faktischen Bedingungen von Gewalt im Leben wie im Denken (noch) nicht Einhalt gebieten zu können? Was sollen wir in Anbetracht dessen tun? Bevor diese Fragen zu beantworten versucht werden, möchte ich noch auf den Begriff "Fremdbestimmung" näher eingehen. Der aufklärerische Gegenbegriff zu "Fremdbestimmung" ist "Selbstbestimmung". Im folgenden wird an Hölderlin - und nicht, wie in diesem Zusammenhang zu erwarten, an Hegel oder Kant (mit den beiden großen idealistischen Aufklärern beschäftige ich mich in einem Hauptkapitel) gezeigt, wie schwierig es ist, von "Fremdbestimmung" loszukommen und zur "Selbstbestimmung" zu gelangen. "Fremdbestimmung" wird hier auf der Ebene praktischen Lebens als "Herrschaft" bezeichnet. Sie übt auf "Selbsttätigkeit" Druck aus, vermindert deren Kraft bzw. schränkt sie ein. Darüber hinaus aber kann "Herrschaft" auch durch Privilegierung, Förderung und Schaffung von Anreizen und Gelegenheiten ausgeübt werden. Hölderlin empfindet diesen Herrschaftsaspekt sehr deutlich, wenn er in einem Brief aus Jena, 1794, an seinen Freund Neuffer schreibt: "Die Nähe der wahrhaft großen Geister, und auch die Nähe wahrhaft großer selbsttätiger mutiger Herzen (gemeint sind vor allen Fichte und Schiller, W. E.) schlägt mich nieder und erhebt mich wechselweise, ich mus mir heraushelfen aus Dämmerung und Schlummer, halbentwikelte, halberstorbne Kräfte sanft und mit Gewalt weken und bilden, wenn ich nicht am Ende zu einer traurigen Resignation meine Zuflucht nehmen soll ... 23." In Hölderlin widerstreiten hier zwei verschiedene Stimmungen. Die eine erhebt sich im Angesicht von Menschen, die die Fähigkeit zur Seihsttätigkeit entwickelt haben und denen man es gleich machen möchte. Gleichzeitig aber hindert eben dieses Gleich-Machen-Wollen die eigene Selbsttätigkeit. Das ist es, was Hölderlin dann niedergeschlagen stimmt. Als unzweifelhaft richtig gilt ihm die Ambition, in der Nähe von Menschen zu sein, die - ich verwende nun meine Ausdrücke, welche aus den angegebenen Gründen nicht als ("positive") Macht gewertet werden mögen - "eigenständig", 23
Zit. in: L. van de Velde, Herrschaft und Knechtschaft bei Hölderlin, Assen 1973, 3.
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"zuständig", "unabhängig", "frei" oder "autonom" sind. Ein und dieselbe Ambition aber kann unterschiedliche Reaktionen auslösen. Unempfindsamere Seelen als Hölderlin werden in der Regel die Selbsttätigkeit anderer Menschen imitieren, oder aber zum Ausgangspunkt für Sekundärtätigkeiten nehmen, wozu ich Auslegekunst und einen Großteil von Kritik und I:.ehrtätigkeit zähle. Als sekundär sind diese Tätigkeiten nur für den Fall zu bezeichnen, daß sich ihr Interesse ausschließlich auf einen Fremdzweck bezieht (im vorliegenden Fall die Selbsttätigkeit anderer), d. h. daß Mittel eingesetzt werden, um diesen Fremdzweck verfügbar, disponibel zu machen -nicht aber vergleichbar um des Eigenzwecks willen. Hölderlin ist gleichermaßen weit davon entfernt, die Selbsttätigkeit anderer Menschen zu imitieren wie Sekundärtätigkeiten auszuüben. Beides ist für ihn Herrschaft = Fremdbestimmung, also genau das, was er zu überwinden trachtet. Von zwei Reaktionen hingegen ist er betroffen. Sie beziehen sich auf die eigene Selbsttätigkeit, die angesichts der ungeheuren Selbsttätigkeit anderer "großer Geister" in einem Fall eine Stimulierung, im anderen aus demselben Grund eine Hemmung erfährt. Es sei nun betont, daß dieses Dilemma unter den theoretisch denkbar besten Voraussetzungen auftritt. Und unter diesen idealen Bedingungen, also abstrakt, wird es vorerst auch diskutiert. Gewiß ergibt sich im Lichte tatsächlich bestehender Begriffsgewalt und struktureller Gewaltverhältnisse ein anderer Ausgangspunkt. Wählte man diesen, würde er später seinerseits, u.zw. durch die Perspektive individueller Selbsttätigkeit relativiert und korrigiert werden. Dialektisch betrachtet muß einmal von einem "Begriff" ausgegangen werden, der dann im Zuge weiterer Denktätigkeit verändert wird. Dieser anfänglich "gesetzte" Begriff ist hier der "Eigenzweck", "Eigenwert" oder die "Besonderheit", auf den Menschen bezogen: die "Selbsttätigkeit". Die mit Hölderlin gewählte Ausgangslage soll nun weiter beschritten werden. Die These ist, daß "Selbsttätigkeit" der einen zunächst "Fremdbestimmung" für die anderen bedeutet. An der "Fremdbestimmung" aber liegt es, nicht zur "Selbsttätigkeit" zu gelangen. Aus diesem Dilemma gibt es keinen anderen Ausweg als wiederum nur "Selbsttätigkeit". Das aber hieße, sich von der "Selbsttätigkeit" anderer, die "Fremdbestimmung" ist, zu lösen. Damit aber eröffnet sich ein weites Feld, "Selbsttätigkeit" zu üben, indem die "Selbsttätigkeit" anderer gleichsam noch einmal, aber "eigenständig" und das heißt doch wiederum "anders" praktiziert wird. Alle bisherige "Fremdbestimmung" würde solcherart in "Selbsttätigkeit" transformiert werden. Das weite Feld wäre Natur, soziale Umwelt und alle Überlieferung. Das Problem der "Aneignung" von "Natur" und des "Selbstbewußtseins" anderer Menschen, um selbst zu Bewußtsein zu gelangen (eigenes "Selbstbewußtsein"), hat in Hegels "Phänomenologie des Geistes" eine eingehende Erörterung erfahren. Die entsprechenden, bekannten Textstellen müssen
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hier nicht neuerdings "ausgelegt" werden. Stattdessen zitiere ich ein weiteres Mal Hölderlin, um dann mit eigenen Worten zu sagen, was ich unter "eigenständiger Aneignung" von Überlieferung, d. h. "Selbsttätigkeit im Denken" verstehe. "Wir träumen von Bildung, Frömmigkeit p. p . und haben gar keine, sie ist angenommen - wir träumen von Originalität und Selbstständigkeit, wir glauben lauter Neues zu sagen, und alles diß ist noch Reaction, gleichsam eine milde Rache gegen die Knechtschaft, womit wir uns verhalten haben gegen das Altertum. Es scheint wirklich fast keine andere Wahl offen zu seyn, erdrükt zu werden von Angenommenem, und Positivem, oder, mit gewaltsamer Anmaßung, sich gegen alles erlernte, gegebene, positive, als lebendige Kraft entgegenzusezen24". Sehr feinsinnig drückt hier Hölderlin die Schwierigkeit der "eigenständigen Aneignung" von Überlieferung aus. Alles, was Erziehung und Bildung ausmacht, seien sie "traditionell" orientiert oder "aufklärerisch", wird zweifelhaftangesichtsder "Vorgegebenheit" von Existenzweisen, Zuständen oder Ereignissen. Sowohl deren Übernahme wie auch Ablehnung stehen unter einer "Obsession". Zunächst ist alles "Fremdbestimmung", gleichgültig, ob man sich dessen eingedenk ist oder nicht. Unreflektierte Übernahme wie auch bewußte Entgegensetzung gehen (noch) von keiner eigenständigen, d.h. selbsttätig erworbenen "Substanz" aus. Im Anfang gibt es daher keine "Lösung". Eine solche stellt sich, wenn überhaupt, erst in und durch die Tätigkeit ein. Nur im besten Fall wird sie zur Selbsttätigkeit. Die Fehler des Traditionalismus wie auch der Aufklärung sind bekannt: In beiden Fällen, wenn wir sie als Doktrin denken, ist nicht "Selbsttätigkeit" als "Selbstaneignung" am Werk, sondern ein "Äußeres", für das, oder gegen das wir sind. "Für" und "gegen", wie auch immer feindlich sie einander gegenüberstehen mögen, stehen unter ein und derselben Obsession, sich auf ein "Äußeres", einen "Fremdzweck" zu beziehen. Erst die Einsicht in diese Obsession und der Versuch sie zu überwinden, wiese in die Richtung von "Selbsttätigkeit". Ich bleibe beim Versuch der "Selbstaneignung" von Bildungsgut, also "Selbsttätigkeit" auf der Ebene des Denkens. Die Frage ist: Warum sollten wir nicht selber denken, was andere bereits gedacht haben, ohne uns ständig auf sie berufen zu müssen? "Selbsttätigkeit im Denken" wäre doch das eigenständige Überdenken von Leben aus dem Leben heraus, d. h. der "eigene" Gedanke. Aber sind andere, womöglich alte, bekannte Denker (-innen) dadurch, daß sie "hervorragen", nicht gerade auch "eigen"? Gibt man sich mit ihnen nicht deshalb ab, weil sie etwas "Besonderes" sind25? 24 F. Hölderlin, Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben, zit. in: L. van de Velde, 5. 25 Dem steht allerdings der auf Bescheidenheit pochende Alltagsspruch entgegen: "Du brauchst nicht glauben, daß Du etwas Besonderes bist!"
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Und könnte es nicht sein, daß alles Denken gerade in der "Besonderheit", "Eigenheit" einander ähnelt, so daß sein Glück darin läge - wie Adorno sagt-, "daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen"26? Unter diesem Blickpunkt scheint es unabweisbar, sich mit "anderem" Denken auseinanderzusetzen und dadurch zu lernen. Geht einem hingegen das eigene Besondere, d. i. die in Bewegung begriffene Besonderung in der Selbsttätigkeit (hier: des Denkens) nicht auf, so ist es gleichgültig, ob die Fremdbestimmung in der Übernahme solchen Denkens oder in dessen Verneinung oder gar Ignorierung besteht. Jede andere, von der Selbsttätigkeit abweichende Form des Denkens, ob aktiv oder passiv, ist also Herrschaft (Fremdbestimmung), die das Wissen nicht um seiner selbst willen achtet, sondern darüber verfügt, es als Mittel zum Fremdzweck (aus-)nützt. Stelle ich tradiertes Wissen, das einmal für den, der es gedacht hat, selbsttätig erworbenes Wissen ("Substanz") war, solcherart in den Dienst von Macht, dann scheint es so, als wäre es niemals "Substanz" gewesen. Das ist einer der Gründe, warum viele Menschen irrtümlich die Auseinandersetzung mit vergangenem Wissen scheuen oder ablehnen. (Ein anderer Grund ist das Ressentiment gegenüber allem "Fremden" bzw. "Nicht-Willfährigen", das selber nicht auf Macht beruht; wird die "Substanz" allein deshalb, weil sie im Dienst der Macht steht, als substanzlos entlarvt und von Grund auf als Schimäre angesehen, kann auch das, was sich tatsächlich dieser Macht verweigert, nicht mehr als "Substanz" erkannt werden. Sowohl Wissen, das sich den Anschl;!in von "Substanz" gibt, d.h. für (Macht-)Zwecke gebraucht (=mißbraucht) wird, als auch wirklich substanzhaftes Wissen scheinen dann suspekt.) Das einmal selbsttätig erworbene Wissen von früher (Überlieferung) wird hingegen nur dann als substantiell erkannt werden, wenn die eigene "Selbsttätigkeit" im Schwange ist, d.h. Besonderes und Besonderung in eigenständig gemachter Erfahrung gründen, die ihrerseits eine existentielle Antwort im Rahmen selbsttätigen Denkens ermöglicht. Unter dieser Voraussetzung lese und denke ich- substantiell- "Vorgegebenes" nach, als hätte ich es selber bereits geschrieben oder gedacht. Dieser Zusammenhang ergibt sich dadurch, daß, wie bereits gesagt, das selbsttätig erworbene Wissen anderer dem eigenen in seiner Besonderheit ähnelt, d.h. auch als existentielle Antwort auf die eigenen Probleme gelten kann. Jede Form anderen Lesensund Denkens wäre eines äußeren (Macht-)Zweckes wegen, d. h. technisch-instrumenteller, oder strategischer Art, Menschen, Umwelt und Dinge in den Griff zu bekommen (Kontrolle, um die Macht zu sichern!). Wenn Erkenntnis bedeutet, eigenständig gemachte Erfahrungen aus sich heraus sprechen zu lassen (nicht auf, sondern in die Sache eingehen; Erfah26
Th. W. Adomo, Negative Dialektik, Frankfurt, Ausgabe 1970, 190.
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rungen, die be-griffen zum Begriff werden, d. i. Hegels Arbeit am Begriff), dann ist eben diese Erkenntnis für denjenigen, der sie hört oder liest, aber selbst nicht gemacht hat, offenkundig etwas anderes. Im ersten Fall ist (sinnliche) Erfahrung zur Erkenntnis "verarbeitet" worden, im zweiten verdankt sich die Erkenntnis dem Verstandesdenken und dem bereits vorhandenen, weil von anderen bereits in Selbsttätigkeit entwickelten Begriff. Dieser betrifft übernommenes, angelerntes Wissen zum Zwecke der Verfügbarkeit (Wissen=Macht als Machtwissen), jener ist aus der Besonderung, die ihren Zweck in sich hat, hervorgegangen. Dieser beruht auf einer Abstraktion, d. h. es wird abgesehen von der "Betroffenheit", die jener als konstitutiv voraussetzt: an Leib und Seele zu erfahren, empfinden, was hernach in Begriffe umgewandelt, verarbeitet wird. In diesem Fall erfolgt keine "Berührung" durch Existenzweisen, Zustände oder Ereignisse aus dem Leben, die im Unterschied dazu in jenem für so wichtig erachtet werden, daß sie auch ihren begrifflichen Ausdruck erhalten, der in diesem irrtümlich als konstitutiv vorausgesetzt gilt. In der Tat gehen Begriffe auf Erfahrungen zurück, die nach einem begrifflichen Ausdruck bereits haben drängen lassen27. Der durch sinnliches BeGreifen induzierte Begriff wird aber durch das reine Verstandesdenken von seiner Genesis abgekoppelt. So gelangt etwa Kant zu der als naturhaft angesehenen Trennung der Fragen der Geltung von denen der Herkunft. Ganz allgemein löscht das von Begriffen a priori ausgehende abstrakte Denken die Erinnerung an sein Zustandekommen. Es legt sogar seine scheinbare Selbständigkeit (von der subjektiven, sinnlichen Erfahrung) als Tugend aus, indem es sie als notwendige Bedingung für Objektivität ausgibt. Faktisch aber herrscht die in wissenschaftlicher Gewandung auftretende Denkgewalt über Menschen und Dinge, die Begriffen unterworfen werden, denen in einem ganz bestimmten Sinne eine höhere Entität beigemessen wird ("Wesen" ! ) als denen, die sich subjektiver, sinnlicher Erfahrung verdanken (das Feld der "Erscheinung"!). Dieser herrschende Begriffsrealismus, zu dem selbstverständlich auch der "Positivismus" zu zählen ist (hier werden nur die Vorzeichen verändert: das, was vordem "Erscheinung" hieß, wird nun zur alleinigen, Gültigkeit beanspruchenden Tatsachenwahrheit! ), ist der den gegebenen materiellen Herrschaftsverhältnissen erwachsende und diesen angemessene ideelle Herrschaftsaspekt. Die große Mehrheit derjenigen, die mit "Wissen" "arbeiten", herrschen mit diesem Wissen über das Leben und mithin auch über "substantielles Wissen" (einstmals mittels eigenständiger Erfahrung und Denkarbeit selbst geschaffenes Wissen). Als Kritiker, Exegeten, Lehrer, "Schrift27 " •.• es ist bloßer Aberglaube der aufbereitenden Wissenschaft, die Begriffe wären an sich unbestimmt, würden bestimmt erst durch ihre Definition." (Th. W. Adorno, Noten zur Literatur I, Frankfurt 1968, 27.)
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Gelehrte" (Anhänger und Epigonen von "Kirchen" und "Schulen", die einstens von selbsttätigen Menschen gegründet wurden) wachen sie über fremde, weil nicht von ihnen stammende Gedanken, die sie zu Begriffssystemen konservieren (Ideologien und Weltanschauungen). Indem sie das außerordentliche Leben und Werk anderer Menschen sezieren, gelangen sie aus eigenem nicht zu der "Selbsttätigkeit", die jene auszeichnet. Ihre Arbeit ist Sekundärtätigkeit, sofern sie nicht im Gegenteil dem Eigenzweck von Selbsttätigkeit zum Vergleich dient. Sie kennen nicht den inneren Zusammenhang von sinnlicher Erfahrung und Wort und verstehen so auch gar nicht das Wort, dem sie paradoxerweise doch ihr ganzes Leben widmen. Sie "verfügen", "befinden" bloß darüber und sind stets darauf bedacht, das Monopol auf die "wahre" Auslegung nicht zu verlieren. Eben dies ist ihnen möglich, weil die Denkform, derer sie sich bedienen, schon diejenige der Abstraktion vom sinnlichen Ursprung der Wörter ist. Die Denkgewalt, die in der Trennung der verstandesmäßig erlaßbaren Bedeutung des Begriffs von seinem angestammten Sinn, der Sinnlichkeit, besteht, ist gleichzeitig die Bedingung für das faktische Bestehen dieser Denkherrschaft. Selbsttätiges Denken hingegen würde sich im selbsttätigen Denken anderer gleichsam wiedererkennen (kraft der Anähnelung im Besonderen). Es erlebte im anderen noch einmal, was der Begriffstätigkeit vorausging: die gemeinsam gemachte Erfahrung. Etst die "Selbsttätigkeit" im Leben wie im Denken ermöglicht für-wahr-halten, weil bereits zuvor Menschen, Umwelt, Dinge wahr-genommen wurden. Die Wahr-Nehmung wird durch den begrifflichen Ausdruck noch einmal evoziert. Nur wenn diese beiden Momente zusammenkommen: Wahr-genommen-Haben (=sinnliche Erfahrung) und Wort (=Begriff), ist Leben so wie Denken, Denken so wie Leben. So verstehe ich auch, ganz ohne Idealismus, den Satz des Parmenides: "Denken und Sein gehören in das Selbe und aus diesem Seiben zusammen2s." Sein steht hier für die gegenständliche Welt als Objekt, Denken für die tätige Seite des Subjekts, wobei diese Tätigkeit nicht nur als Denkarbeit im za Der Umstand, daß es unterschiedliche Übersetzungen und Auslegungen des Fragments 3 und Fragments 8, Vers 34 gibt, erschwert nicht, sondern erleichtert eher die eigene Interpretation. Dabei stehe ich der Deutung von U. Hölscher nahe: "Parmenides befindet sich in der extremen Gegenposition zur (idealistischen, W. E.) Erkenntniskritik: nicht das Sein ist im Denken verwurzelt, sondern das Denken im Sein." (Parmenides, Vom Wesen des Seienden. Die Fragmente, griechisch und deutsch, herausgege,):>en, übersetzt und erläutert von U. Hölscher, Frankfurt 1969, 99.) In Hölschers Ubersetzung lautet Fragment 3: "Denn dasselbe kann gedacht werden und sein" (17) und Fragment 8, Vers 34: "Das Selbige aber ist zu erkennen, und zugleich der Grund, weshalb eine Erkenntnis seiend ist." (25.)- Beide Sätze, darüber herrscht Konsens, sollten zusammen gelesen werden. Die von Philosophen oft vorschnell gefaßte einfache Gleichung "Erkenntnis und Sein (sc. des Gegenstandes der Erkenntnis) sind dasselbe" wird aus eben dieser speziellen Übersetzung des Fragments 3 herausgelesen. Demgegenüber meine ich mit U. Hölscher, daß die Identität im Gleichsein mit sich selbst besteht und im Begriff "dasselbe" (Seiende) ihren adäquaten Ausdruck hat.
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engeren Sinn, sondern als menschlich sinnliche Praxis (das, was ich "Leben" nenne) zu sehen ist. Prägnant formuliert dies Marx (in der von Engels redigierten Form): "Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus.. . ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher geschah es, daß die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde - aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt29." Setzen wir an die Stelle des Fremdworts "Objekt": Sache- und für die Tätigkeit von menschlich sinnlicher Praxis und Denken zusammengenommen: Tat, so ergibt sich als reizvolle Bezeichnung für den gesamten Erkenntnisvorgang die deutsche Wortkombination: Tat-Sache.- Was bedeutet nun der Satz des Parmenides, wenfl für Denken: Tat - und Sein: Sache steht? Die Interpretation lautet dann: das Selbst ist die Tat-Sache als die unvergleichliche Besonderheit. D.h. die Tat-Sache bleibt sich, indem sie besonders ist, gegenüber allen anderen Tat-Sachen gleich (das ist die begriffslogische Bedeutung von: das Selbe). Man kann auch sagen: Das Selbe hält dadurch, daß es besonders (einmalig, einzigartig, unvergleichlich) ist, die äußerste Ungleichheit gegenüber allen anderen Besonderheiten aus (dasSelbe* andere Sachen). Wenn nun Tat und Sache in das Selbe fallen, als Tatsache, und diese Tatsache nur mit sich selbst gleich ist, wie kann sie dann trotzdem vergleichbar gemacht werden mit anderen Tatsachen? Gibt es da nicht ein Prinzip, welches das Unmögliche wahrmacht, die Tatsachen sich unterwirft und sie in Hinblick auf ein Fremdes zu-(recht-)richtet, so daß sie in dieser Hinsicht dann eben doch als gleich gelten können?- Die Antwort wurde bereits von allem Anfang an vorweggenommen: es ist das Identitätsprinzip. Dieses wiederum korrespondiert dem gesellschaftlich-materiellen Abstraktionsprinzip (Realabstraktion), des Tauschwerts. Ich rekapituliere meine Schreibabsicht: Habe ich im Hauptteil eine objektiv ansetzende, sowohl auf die Rechtfertigung politischer Gewalt wie auch auf die Realgewalt selbst bezogene Geschichtsschreibung versucht und es dabei belassen, soll die Einführung eine die subjektive Bezugsebene berücksichtigende Betrachtung "besonderen" Lebens und Denkens sein. Freilich, eine "theoretische" Lösung ergibt sich auch so nicht. Doch wird u. a. erklärt, warum eine solehe nicht möglich ist. Auch die subjektive Betroffenheit in der "Selbsttätigkeit" ist ein Moment von Gewalt-Praxis, die im weitesten Sinn gesellschaftlich und politisch vermittelt ist. Von der "großen" (politi29 F. Engels, Redigierte Thesen von Karl Marx über Feuerbach, These 1, abgedruckt in: Marx I Engels Studienausgabe in 4 Bänden (herausgegeben von I. Fetscher), Frankfurt 1966, Band I, 142.
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sehen) Gewalt und ihrer Rechtfertigung ist im Hauptteil die Rede, nicht aber "subjektiv", von der Warte des einzelnen Menschen betrachtet. Deshalb wird dies hier nachgeholt und sogar an den Anfang gestellt. Was aber ist zu tun, wenn das subjektive Leben und Denken als Momente eines Gewaltzusammenhangs im Sinne von "Fremdbestimmung" begriffen werden müssen? Gibt es einen Ausweg aus dem Zirkel, daß "Selbsttätigkeit", indem sie die "Fremdbestimmung" "besiegen" möchte, in den Dienst eines äußeren Zwecks, dem der Macht, tritt und dadurch im Stadium der "Fremdbestimmung" verbleibt? Wie sehr ist die "Selbsttätigkeit" bereits im Ansatz äußerlich geprägt? Wie hängen überhaupt Denkgewalt und gesellschaftlich-materielle Gewalt zusammen? An der "Selbsttätigkeit" insgesamt hindert das (Re-)Produktionsprinzip in Tauschwertgesellschaften, das mit der abstraktiven Denkgewalt untrennbar verbunden ist. (Reales) Tauschwertprinzip und Denkabstraktion haben strukturanaloge Formen. Die Art der Bewertung, wie sie durch die Struktur von Tauschwertgesellschaften vorgegeben ist, ist die der Gleichsetzung über ein allgemeines Äquivalent, nämlich des im Preis sich ausdrückenden Tauschwerts (Realabstraktion). In Absehung vom Gebrauch resp. Nutzen der Sache, ihrer Besonderheit, erfolgt ein Urteil über sie. Das Prinzip des Tauschwerts ermöglicht ein "Allgemeines" als Maßstab für die Vergleichbarkeit von Unterschiedenem (Denkabstraktion)30. Der unzweifelhaft wichtige Denkschritt einer Abstraktion ist in Tauschwertgesellschaften mit dem Makel behaftet, daß er sich über das Konkrete, Besondere, alles dessen also, für das Mensch, Natur, Sachen eigentlich stehen: sie selbst zu sein, hinwegsetzt. Diese Denkabstraktion ist nicht dazu da, über das "Allgemeine" an der besonderen Natur, oder dem besonderen Menschen, Zustand, Ereignis gebrauchsmäßigen, sinnlichen und liebevollen Anteil nehmen zu lassen, sondern im Gegenteil, sie als Mittel für einen Fremdzweck zu benutzen. Deshalb ist auch darüber, was "Nutzen", "Gebrauchswert", "lustvolle" und "liebevolle Anteilnahme" bedeuten könnten, im besonderen überhaupt keine Aussage möglich. Das verhindert ja gerade Real- und Denkabstraktion. Wird es dennoch versucht, erfolgt dies wiederum nach demselben Muster abstraktiver Gewalt. Selbst die Sinnlichkeit wird noch von ihr ereilt. Da die Gewalt bereits von Kindheitsbeinen an in den Köpfen steckt, ist die Option !Ur Sinnlichkeit von eben dieser Gewalt geprägt. Noch in der blindwütig-sinnlichen Orgie ist etwas vom Abstrakten des Verstandes, das nicht die Nähe zum Fremden, nicht das besondere DU, sondern die Vereinnahmung des Besonderen, seine Subsumption unter ein 30 Zur Analyse der Tauschabstraktion die ganz wichtigen Seiten aus: A. SohnRethel, Geistige und körperliche Arbeit, Frankfurt 1970, 45- 57 und 88- 91; ebenso: Th. W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, in: Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt 1969, 155.
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ihm äußerliches Allgemeines (die Gleichsetzung aller Sexualsubjekte als Sexualobjekte unter die "Idee" der Sinnlichkeit) betreibt. Auch meine Überlegungen über das "Besondere", die "Besonderung", "Selbsttätigkeit", "Eigenständigkeit", "Freiheit", "Zuständigkeit", "Unabhängigkeit" usw. unterliegen der Gewalt des Tauschwertprinzips. Sie bleiben abstrakt. Gewiß werden sie dadurch nicht überflüssig, sondern bestätigen nur den Zirkel, über den ich hier Einsicht gewinnen möchte. Subsumption im Denken- und nichts anderes geschieht auch hier- ist ein Ausdruck für die reale Unterwerfung unter das vom Tauschwert erkürte "Allgemeine", "Hauptsächliche", "Dominierende" (das "Wesen", die "Idee", die "Substanz"), in deren Dienst sich alles Besondere zu stellen hat. Diese sind der archimedische Punkt nicht nur logischen, sondern auch gesellschaftlichmoralischen Urteils. In deren Licht wird alles Besondere getrennt, gewichtet, gerichtet; es gibt Höheres und Minderes, Besseres und Schlechteres, d.h. Hierarchisierung und Diskriminierungal. Unter diesen gesellschaftlichen Denk-Bedingungen von einer "anderen", nämlich "machtfreien" Lebens- und Denkform zu sprechen, muß in der Tat -wie ich bereits zu Anfang der Einführung erwähnte- fiktiv anmuten. Und doch soll im weiteren ein sprachlicher Ausdruck für den Gedanken gefunden werden, wie ein dem Eigenzweck der Dinge verbundenes Denken und Handeln "Macht" unterlaufen könnte. Fiktiv dabei ist der Gedanke als solcher- nicht aber der Versuch begrifflicher Veränderung, der diesem Gedanken eine neue Form gibt. Wenn auch das System (noch) nichts anderes herzugeben scheint als "Macht", d.i.- wie an eben der Stelle zu Anfang der Einführung formuliert - dem Eigenzweck der Dinge abträgliches, weil ihnen selbst fremdes und über sie verfügendes Denken und/oder Handeln, ist doch in keiner Weise gesagt, daß es dabei bleiben muß. Freilich, der begrifflichen Veränderung (neue Ausdrucksform!) muß eine Änderung in der Lebenshaltung (neues Ausdruckshandeln!) korrespondieren. Darüber und in welchem Verhältnis zu den "objektiven" Gewaltbedingungen der dieser Auffassung zunächst innewohnende Subjektivismus steht, wird noch die Rede sein. 31 Die gegenseitige Entsprechung von "Realabstraktion" und "Denkabstraktion" ergibt sich durch ihre strukturanaloge Form. In keiner Weise ist darin ein Verursachungsprinzip von Denken resp. Herrschaft zu sehen. Jeder Vorwurf eines ökonomischen Reduktionismus muß daher zurückgewiesen werden. "Nicht der Tauschprozeß selbst hat sich zur totalen Herrschaft über alle verholfen, sondern es war Herrschaft selbst, die ihm dazu verhalf und ihn nur als Medium ihrer universellen Ausbreitung benutzte." (J. F. Schmucker, Adorno- Logik des Zerfalls, Stuttgart 1977, 58.) Die (historische) Ursache von Herrschaft steht hier gar nicht zur Diskussion. Ein möglicher Erklärungsversuch u.a. ist: M. Horkheimer I Tb. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947), Frankfurt 1969. Darin erfolgt eine Konkretisierung des Gedankens, daß die Herrschaft des Menschen über den Menschen und die Natur die Folge dialektischen Umschiagens der archaischen Herrschaft der Natur über den Menschen is~.
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Vorerst aber zum sprachlichen Problem: Könnte es nicht sein, daß wir der alten Denkform gegenüber nicht von einem "Außen", "Anderen", "Fremden" sprächen, sondern zu einem neuen Ausdruck gelängen, der eher "AnGreifen" als "Angriff" im Sinne eines Streits, eher "Aufnahme" oder "Annahme" als "Ent-gegen-Setzung", "Ab-Grenzung" bedeutet? Die Denkform der "Ab-Grenzung", der Definition, des "Gegen-Satzes" nämlich ist, wie mehrmals betont, der Praxis der Gewalt adäquat, die es ja gerade zu überwinden gilt. Wenn ich vorgängig meine eigene "gewaltmäßige Betrachtung" über "Ideen" oder "Weltanschauungen" zu überkommen versuche, werde ich auch der sprachlichen ~,Eigenheit" innewerden müssen, daß Ausdrücke wie "Sichten", "Betrachten", "Anschauen" die Sinne, die "WahrNehmung" betreffen, "Denken", "Er-Kennen" hingegen auf die intelligible Natur des Menschen bezogen sind. Daß in der unreflektierten Zuordnung solcher Begriffe selbst etwas von der Gewalt steckt, von der so gesprochen wird, als könnte man das von sicherem Boden aus, ist offensichtlich. Hier wiederholt sich gedanklich nur, was "real", also "äußerlich" stattfindet und von dem sich der "Denkende", der "Theoretiker" zumeist überhoben wähnt. Jeder, der nachdenkt über Begriffe wie "Anschauung", "Wahrnehmung", "Begriff", "Betrachtung", "Besinnung", "Beobachtung", "Bezeichnung", "Hinweis" und viele andere mehr, gelangt einmal zu dem, was Adorno an Heidegger als "Bindestrich-Philologie" kennzeichnet: "An-Schauen", "Wahr-Nehmen", "Be-Greifen" usw. In dieser Schreibweise wird die sinnliche Qualität des Ausdrucks, das ist die Bezogenheit auf Natur, hervorgehoben, die der kognitive Ausdruck von zum Beispiel "Weltanschauung" oder "Begriff" gar nicht mehr herzugeben scheint. Die in wissenschaftlicher Gewandung auftretenden Begriffe bestehen auf ihre Emanzipation: von Natur und wollen nicht mehr an ihre Herkunft erinnert werden. Andererseits wird aber durch die Art der Anwendung kognitiver Begriffe auf die Wirklichkeit auch wieder unterstellt, sie hätten mit ihr etwas zu tun. Sie verweisen also auf eine Wirklichkeit, von der sie sich gleichzeitig unabhängig wähnen. Dieser Widerspruch ist ein Ausdruck für die Schwäche dieser Denkform. Er deutet auf ein gestörtes Verhältnis des Menschen und seines Denkens zur Natur. Darin, in der besonderen Struktur eines falschen Verhältnisses des Menschen zur Natur erblicke ich die Voraussetzung für Gewalt. Die Frage ist nun, wie sollte diese eben von mir selbst abstrakt vorgenommene Bestimmung eines gestörten Verhältnisses des Menschen zur Natur (und dadurch auch der Menschen untereinander) "verändert" werden?Offenbar ginge es darum, bei dieser Abstraktion nicht sein Bewenden zu lassen. Doch wie wäre ein kognitiv-begrifflicher Ausdruck zu "verändern", wenn er bereits die Bedingung von Gewalt in sich hat, über die als ein ihm "Äußerliches" er zu sprechen sich anmaßt? Ist die Alternative zur "Entge-
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gen-Setzung" denn nicht selbst "Ent-gegen-Setzung", nämlich gegenüber der Denkform von Entgegensetzung? Dies wäre doch der Generaleinwand eines "Idealismus", der stets dem "anderen" diejenigen Voraussetzungen nachzuweisen trachtet, die er selbst glaubt explizit eingegangen zu sein (Transzendentalphilosophie). Ihm zufolge verhielte es sich bei dem Versuch einer "Veränderung" der Gegensatz-Logik neuerlich um eine "Ent-gegenSetzung". Doch ist das auch wahr? Mitnichten! Hier gibt es einen kleinen, aber umso bedeutsameren Unterschied in der Denkform-und zwar die besondere Qualität dieses ausschließlich im Gegen-Satz zum Gegen-Satz stehenden Gegen-Satzes. Es wäre ein rein dialektischer Trick zu behaupten, daß der Gegen-Satz zum gegensätzlichen Denken eben deshalb, weil er diesen Gegen-Satz bilde, selbst schon gegensätzliches Denken sei. Gerade hier kommt es auf die Besonderheit an, nicht gegensätzlich zu sein- ausgenommen gegenüber der Gegensätzlichkeit. Demgegenüber ist die Gegensätzlichkeit gegenüber allem anderen Gegensätzlichen und Nicht-Gegensätzlichen gegensätzlich. Diese gegen-sätzliche Denkform, die in ihrer rein kognitiven Begrifflichkeit abstrakt bleibt, d.h. dem Besonderen in seiner Eigenheit nicht Rechnung trägt, habe ich Denkgewalt genannt. Sie durchherrscht sowohl das formal-logische Denken wie auch die Dialektik Regelscher Provenienz. Entweder werden Gegen-Sätze im Sinne der Gegensatz-Logik hypostasiert, oder aber "dialektisch" auf höherer Abstraktionsstufe "aufgehoben". In beiden Fällen sind die Unterschiede nicht um ihrer selbst willen da.- In einer "liebevollen" Unterscheidung so/anders, nah/fern gälten Menschen und Dinge kraft ihrer Besonderheit. Das "Andere", "Fremde" fände als das Besondere- und nicht über den denunziatorischen Begriff des "Allgemeinen" scheinbar- Anerkennung. Mit anderen Worten: An die Stelle identitärer Gleichsetzung, dergegenüber alles "andere" als Abweichung fungiert, träte ein "ln-der-Verschiedenheit-Leben", "In-der-besonderen-und-unterschiedenen-Sache-Stehen", ein "Im-Zeichen-der-Nicht-Identität-Denken". Darin erst ließe sich ein "Anderes" als "Macht" sichtbar machen. Wie aber steht es mit einer notwendigen "Änderung des Lebens" selbst, die doch in der Tat erst zu einerneuen Begrifflichkeit führt? Was heißt der "neuen Ausdrucksform" gemäßes "neues Ausdruckshandeln "? - Ich werde versuchen, wenn auch nur kursorisch, einige Hinweise zu geben. "Es anders machen" hieß in der Vergangenheit stets gegensätzliches Handeln, d.h. gegen ein Handeln gerichtet, das abgelehnt wird. Sowohl subjektiv-individuelle wie auch politisch-revolutionäre Anstrengungen zur "Selbstverwirklichung" verhießen "so nicht!". Was dabei inhaltlich als "neue" Besonderheit erscheint, ist in Wahrheit die Negation einer "alten". M.a.W.: Solange die Form der Negation, der Ab-Grenzung, mithin der Gewalt den Inhalt des Handeins prägt, kann der "eigene", "neue", "alterna-
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tive" Inhalt nicht gefunden werden. Je ausschließlicher, gegen-sätzlicher die Parteiungen ihr Verhältnis zueinander bestimmen ("Auseinander-Setzungen"), desto stärker bleiben sie derselben Gewaltform verhaftet, die ihre "alternativen" Inhalte mit denen der anderen "gleichmacht" (Äquivalenzprinzip, Tauschwert). "Gleichgemacht" heißt dann gleiche Geltung beanspruchen können, schließlich gleich gültig sein. Deshalb ist es in der Tat gleich-gültig, für wen der gegensätzlichen Kontrabenden Stellung bezogen wird.- Man bedenke die Gegen-Sätze von z.B. Christen und Andersgläubigen, von Konservativen und Aufklärern, von Reaktionären und Fortschrittlichen - und all die Kriege, welche die praktischen Manifestationen solcher Grenzziehungen sind. Solange also "Lehren" bzw. "Bewegungen" zu "anderen" in einem Verhältnis der Negation stehen, beteiligen sie sich an der Reproduktion gewaltmäßigen Lebens. "Es anders machen" kann ihnen nie gelingen, weil das Gegen-Sätzliche (die Gewaltform!) das scheinbar Neue mit dem Alten mehr verbindet, als der weltanschauliche Vorwand (Inhalt!) sie trennt. M.a.W.: Alle Systeme haben mehr Gemeinsamkeiten als sie inhaltlich scheinen resp. ideologisch weismachen mögen. Wie aber das strukturelle Äquivalenzprinzip als gesellschaftliche Gewaltform und die Denkgewalt sprengen? Was heißt in Anbetracht dieser universalen Gewalt, einer Weltstruktur von Gewalt, die sich in Gegen-Systemen manifestiert, noch Revolution? Ich beginne beim Subjekt, denn auch die Gruppierungen, die sich zur Aufgabe machen, aus der Gegen-Sätzlichkeit herauszutreten, d.h. sich von der Macht- und Gewaltform zu lösen ("Alternativen"), verstehen sich zuallererst als "subjektiv" und "eigen". R. M. Rilkes Gedicht "Archaischer Torso Apollos" endet mit den Sätzen: "da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern."- Die Besonderheit der im Pariser Louvre stehenden Plastik besteht nach Rilkes Empfindung darin, eine Gestalt abzugeben, die der Augen gar nicht bedarf, um sehen zu können. Schon die kleinste Ausnehmung des Körpers birgt ein ganzes Schauen: erbarmungslos, unbestechlich. Dieser Blick sieht und durchdringt alles. Niemand und nichts bleiben ihm verborgen. Trug und Lüge sind sinnlos. - Das gewaltmäßige Leben ist offenkundig geworden. Jeder begreift mit einem Mal das Gebieterische der Worte "Du mußt dein Leben ändern!": keiner Äußerlichkeit wegen den Eigenzweck, das Besondere von Natur und Dingen aufs Spiel setzen; um keiner Machtwillen sein eigenes Selbst oder das der anderen preisgeben; kurz: "machtlos" leben! Was aber heißt unter den gegenwärtigen objektiven Macht- und Gewaltbedingungen subjektiv "machtlos" leben32? Ich gestehe noch einmal, daß aus dem Zirkel gewaltmäßigen Lebens nicht mit der herkömmlichen Hand-
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lungspraxis und Denkform ausgeschert werden kann. Deshalb habe ich auch von einer "anderen" Denkhaltung gesprochen, der eine Äußerung im Leben entsprechen muß. Doch verdanken sich diese meine Andeutungen nicht selbst wieder der Form der Abstraktion, die den realen Gewaltverhältnissen sich angleicht, anstatt sie aus der Welt zu schaffen? Ich glaube, daß das anstehende Problem in der Tat konkret und zunächst "subjektiv" zu bewerkstelligen ist. "Subjektiv" soll aber hier, weil nicht gegen-sätzlich gemeint, nicht unobjektiv heißen, sondern die Objektivität gerade fördern helfen. Was aber bedeutet das? "Subjektiv" meint die eigene Ausgangsposition gesellschaftlicher Privilegierung in den Denkprozeß miteinbeziehen. Daß ich so denken kann, wie ich es hier auf diesem Blatt Papier niederschreibe, ist kein Zufall. Wenn ich mir die Sonderbarkeit leisten kann, unter universalen Gewaltbedingungen von "Machtlosigkeit" zu reden, dann beweist dies zunächst bloß, daß ich für mich so etwas denke. Dieser krude (subjektive) "Idealismus" hat seine Ursache ausschließlich in der Bevorteilung, die mein Leben unter strukturell ungleichen Bedingungen erfährt33. Eingedenk dieser Ausgangslage wird offenbar, daß man sich auf den "Luxus" der Überlegung eines "machtlosen Lebens" nichts einzubilden habe. Das gälte nicht nur für bloßes Reden, sondern darüber hinaus für das tatsächliches Bemühen. Die Floskel "Du hättest das ja auch tun können! " hingegen spielt das Privileg aus, ohne es zu nennen. Sie impliziert gerade jene abstrakte Gleichheit in der Ausgangssituation und tut damit dem Anderen Gewalt an. "Macht" erscheint immer, wie ich zu zeigen versucht habe, im Medium äußerer- d. i. gerade nicht Menschen und Dingen innewohnender- Zwecke. "Geistige Macht", dieser von vielen Machthabern und auch Machtbegehrenden verwendete Begriff, bezieht sich deshalb ausnahmslos auf Fremdzwecke im Bereich der Ideologie. "Geistige Macht" ist das realer Herrschaft adäquate herrschaftliche Denken, eben jene Abstraktionsgewalt, die über Menschen und Dinge im Sinne instrumenteller Vernunft verfügt. Beim Begriff 32 Für die an Nietzsche geschulten französischen Poststrukturalisten gibt es keine "Subjektivität", die ein "machtloses Leben" garantieren könnte. Ganz im Gegenteil ist etwa J. Baudrillard eingedenk dessen, "daß Macht nicht diese einseitige Fähigkeit des Verfügens über den Willen anderer ist, sondern daß Macht immer die subtile und vieldeutige Praxis des eigenen Verschwindens mit einbezieht". (J. Baudrillard, Die fatalen Strategien (1983), München 1985, 95.) Das, wasich als "subjektiv machtlos" bezeichne, ist für Baudrillard sogar die flinktionalste Form von Macht; sie "darf niemals die eigene Kontinuität im Auge haben, wenn sie wirklich funktionieren will: sie muß vielmehr ihren eigenen Tod anstreben". (Ebenda, 94.) - Dieser nachhaltige Macht-Reduktionismus bedarf im weiteren der Korrektur. Darauf verweise ich auch im Zusammenhang mit Foucault in den Fußnoten 33 und 36. 33 "Diese Macht/Wissen-Beziehungen sind darum nicht von einem Erkenntnissubjekt aus Z\! an·alysieren, das gegenüber dem Machtsystem frei oder unfrei ist." (M. Foucault, Uberwachen und Strafen, Frankfurt 1976, 39.) Foucaults durchgängiger Macht-Objektivismus läßt es freilich nicht zu, daß ich ihn hier: bloß affirmativ zitiere. Siehe daher auch: Fußnote 36.
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"machtlosen Lebens" hingegen handelte es sich nicht neuerlich um einen Machtanspruch - weder geistig, noch materiell; materiell nicht, weil das doch gerade dem Bestreben entgegenstünde, aber auch geistig nicht, weil das Denken eben nicht auf den Gebrauch oder Nutzen eines Menschen oder Sachen selbst äußerlichen (Macht-)Zweckes wegen abzielt. Da diese (machtlose) Einsicht aber zweifellos etwas (subjektiv) Ideelles ist und auf sie nicht verzichtet werden kann, verbliebe als problematisierbarer Gesichtspunkt einzig der materielle Bezug. Deshalb müßte der Begriff "Machtlosigkeit" mit der Beifügung "materiell" versehen werden34. Nicht jedes Denken bedeutet also geistige Macht. Nur vom Blickpunkt der Herrschaft und des herrschaftlichen Denkens aus sind Ideen, Vorstellungen, Gedanken, Ziele, Zwecke immer schon Macht. Nach dem, was über Abstraktionsgewalt gesagt wurde, kann das nicht mehr verwundern. Das Machtdenken, das ja ausnahmslos instrumentelles und strategisches Denken ist, ignoriert notwendigerweise eine andere Denkform. Mithin muß jede Art "geistiger Beitrag" "geistige Macht" bedeuten. In diesem Kontext steht auch der alles verschleiernde Herrschaftsanspruch: "Wissen ist Macht". Abstrahiert wird gerade von der Differenz, wie mit Menschen und Dingen umgegangen wird und wie dementsprechend auch das Denken sich darüber gestaltet. Für den Machtmenschen gilt im Denken wie im Handeln eine einzige Form, die des Beherrschens-und Beherrscht-Werdens35, Damit taucht er die Welt, aber auch sich selbst, in die Hegeische Nacht, in der alle Kühe schwarz sind. 34 Ich exwähnte bereits das strukturelle Merkmal der Ausgangssituation. Hiezu gehören auch Erziehung und Bildung, die im Gegensatz zu Machtansprüchen unverzichtbar sind. So ist auch die einer bestimmten Bildungsstufe entsprechende, subjektive Einsicht, "machtlos" leben zu wollen, unverzichtbarer Bestandteil von "Selbstbestimmung". Wenn ich von "materieller Machtlosigkeit" spreche, meine ich auch die Preisgabe von Machtgelüsten, die als solche auf politische Herrschaft bezogen sind und nicht immer offenkundig machen, daß auch materielle Privilegien eine Rolle spielen. Wozu aber sollte denn Machtausübung sonst gut sein, wenn nicht materieller Bevorteilung bzw. Absicherung der Mächtigen wegen? Dabei ist der materielle Aspekt oft nicht augenscheinlich (es gibt auch "bescheidene" Machthaber!). Immer jedoch geht es um Machtausübung, die auf Menschen, Gruppen oder Klassen machtbindend wirkt. Diese Interessensphalanx nützt den Mächtigen erst recht im materiellen Sinn. (Auch die unentgeltlichen Leistungen, wie sie durch "Verbindungen" hergestellt werden, sind materiell zu nennen.) Der Zusammenhang von "Machtausübung" und "materieller Privilegierung" ist also in jedem Fall gegeben. Diejenigen, die ihn - theoretisch streitig zu machen versuchen, stehen in dem Widerspruch, selbst auf beides nicht verzichten zu können. Nur das ergäbe aber den Nachweis. Würden sie es dennoch tun, wären sie ja "machtlos" und hätten auch das Wissen darüber. 35 "Im Prinzip sind alle, noch die Mächtigsten Objekte." (Th. W. Adorno, Minima Moralia, 39.) Damit wird auch jede Form von Nullsummenannahme ("Jede Klasse oder gesellschaftliche Gruppe hätte so viel Macht, wie eine andere nicht hat") hinfällig. Relativ unerheblich sind dann allerdings auch die von der funktionalen Machttheorie angestrebten Nachweise einer Machtstreuung resp. "Verherrschung" (K. 0 . Hondrich). Siehe: Fußnoten 75 und 76 von Kap. 8.
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Der Denkabstraktion des Machtmenschen aber korrespondiert das ganz praktische Motiv, keine Bestrebungen aufkommen zu lassen, welche die Macht als solche hinterfragen. Herrschaften müssen es als Mfront gegen sich betrachten, wenn das Leben künftig "herrschaftslos" gestaltet werden soll. Freilich, diese Herrschaften haben immerhin das Argument für sich, daß alle bisherigen politischen Bewegungen, die im Zeichen der Emanzipation standen (bürgerliche wie proletarische), Machtinteressen durchsetzten. Darüber hinaus können sie auf die Tatsache hinweisen, daß die- zumindest für die Zeit nach der Revolution - für alle Menschen als gültig gedachten Emanzipationsforderungen, wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden, im Augenblick ihrer praktischen Durchsetzung partikularen Machtinteressen einer neuen Klasse, Schichte oder Gruppe dienten. (Diese Erkenntnis hat auch Anteil an der gegenwärtigen Revolutionsmüdigkeit vieler Menschen in der 1. und 2. Welt.) Bezüglich der "subjektiven" Forderung nach "Machtfreiheit" resp. "-losigkeit" gehen die Hinweise, daß es sich bei allen Revolutionen der Neuzeit 1. um Macht und 2. nicht einmal um Macht für alle, wie die Revolutionäre für den Fall des Gelingens der Revolution versprachen, sondern bloß um partikulare Herrschaft handelte, allerdings ins Leere. Bei diesen Hinweisen herrscht nicht nur Stillschweigen über den historischen Zusammenhang von Revolution und Restauration, mithin der Tatsache, daß vor der Revolution erst recht eine partikulare (Klassen-)Herrschaft bestand, sondern darüber hinaus wird die Möglichkeit einer herrschaftsfreien Gesellschaft überhaupt in Abrede gestellt. In der Tat gab es - außer einigen gewaltlosen Pazifisten unter den Anarchisten -noch keine bedeutsame politische Bewegung, die "Herrschaftsfreiheit" forderte und mit der Praxis eigener Herrschaftslosigkeit verband. Selbst diejenigen Revolutionäre, die von "Herrschaftslosigkeit", oder vom "Absterben des Staates" sprachen, meinten wie selbstverständlich, daß hiezu "Macht" vonnöten sei. Mit der zuletzt angestellten Überlegung einer Verbindung individueller Praxis von "Herrschaftslosigkeit" mit der politischen Forderung nach "Herrschaftsfreiheit" bin ich am Schluß dieser Einführung angelangt. Zu fragen ist nach der Vermittlung zwischen dem "voluntaristisch-subjektiven" Postulat der "Machtlosigkeit" mit dem "objektiven" von "Machtfreiheit". Solange ich objektiv-strukturell argumentierte, konnte ich immer nur auf die "universalen Gewaltbedingungen" hinweisen, die auch ihre Entsprechung im Denken, in der Abstraktionsgewalt hätten. Erst auf subjektivpraktischer Ebene gestand ich mir zu, (utopische) Idealvorstellungen zu entwickeln, die freilich nur Sinn geben, wenn sie sich mit Taten verbinden. Wie aber verhält sich eine solche subjektive Tat - und mehr ist es ja nicht - zur "Politik"? Zunächst ist daran zu erinnern, daß auch diese subjektive Tat in a•
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der objektiven Ausgangsposition "materieller Privilegierung" (Macht) gründet. Nichtsdestoweniger bleibt sie voluntaristisch. Doch kann man nicht sagen, daß, wenn auch nur ein Einziger "machtlos" lebt, Macht gebrochen wird? Gemeint ist mit dieser Frage nicht, ob sich am Fortbestehen struktureller Machtverhältnisse etwas ändern könnte, sondern, daß "Macht" zu Unrecht mit der Selbstgewißheit auftritt, daß ohne sie kein Zusammenleben möglich sei. Denken wir einmal getrost, daß mehrere Menschen gemeinsam ein "machtloses Leben" führen. Was heißt das für die Machthaber, aber auch für die überwiegende Mehrheit Machtbegehrender? Wenn Machtlosigkeit in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik über den bloßen Einzelfall hinaus Schule machen würde, ergäbe dies Machteinbußen bei den betroffenen Herrschenden. Diese werden im Gegenzug alle "Machtlosen" als "im Grunde Machtbegehrende" denunzieren und feststellen, daß ihre eigene Macht allemal besser sei als die Macht der "anderen"; 1. weil sie nur in Machtkategorien denken können, 2. weil ihnen als Machthaber in der Tat Gefahr droht, überflüssig zu werden. Für die Machthaber stellt sich also das Problem der "Machtlosigkeit" tatsächlich als Macht dar insofern, als ihre Herrschaft dadurch betroffen ist. Für die überwiegende Mehrheit Machtbegehrender, die weniger oder keine Macht besitzen bzw. minderprivilegiert sind, bedeutet hingegen das "machtlose Leben" einer mehr oder weniger großen Gruppe keine Macht. Zwar wird sie diese als "fremd" empfinden, aber nicht als feindlich, weil "Machtlose" nicht unterdrücken und ausbeuten. Vielleicht werden die "verhinderten Machthaber" die "Machtlosen" sogar als "anziehend" empfinden und sich ihnen nach und nach anschließen. Von sich aus aber werden sie eine Dynamik der "Machtfreiheit" in aller Regel nicht auslösen können. Zu sehr scheinen sie als von Macht Betroffene selber an Macht orientiert und forderten, wenn überhaupt, für den Fall der Revolution "Gegen-Macht" im Sinne der alten Revolutionsvorstellung. Nun aber genug der (voluntaristischen) Utopie. Woran einzig festgehalten werden soll, ist die privilegierte Einsicht, daß "Machtlosigkeit" die Zurückweisung der Eigenzweck und Besonderheit untergrabenden Macht bedeuten müsse. Wissen verstünde sich dann als von Macht gereinigtes Wissenas. An as Für Foucault steht selbst dieser Gedanke noch unter dem Banne der Macht: "Man muß wohl auch einer Denktradition entsagen, die von der Vorstellung geleitet ist, daß es Wissen nur dort geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert sind, daß das Wissen sich nur außerhalb der Befehle, Anforderungen, Interessen der Macht entfalten kann." (M. Foucault, 39.) Unter "Macht" fiele daher auch alles "subjektive" Reden. Was aber, wenn "subjektiv" reales "machtloses" Handeln bedeutete? Ist Foucaults Leben nicht "subjektive Alternative" gewesen gegenüber seiner "objektiven", der Macht selbst verfallenden Machttheorie?- Auch für Baudrillard macht es keinen Sinn, zwischen "Machtwissen" und einer von Macht gesonderten "Wahrheit" zu unterscheiden. Macht bloßstellen würde selbst wieder eine Machtstrategie vorausset-
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der Subjektgebundenheit dieser Einsicht wird gleichzeitig deutlich, daß es nicht darum gehen kann, was herkömmliche Weltanschauungen, Ideologien, Religionen und Denksysteme an machtdurchtränkten Idealen den besonderen und darin ungleichen Menschen abverlang(t)en. Diese hier vorgestellte "subjektive" Position ist subjektiv in der Tat und damit auch gesellschaftlich wirksam. Sie ist aber nicht totalitär, weil sie sich als unverallgemeinerbar weiß. Der Mensch, der sie lebt, tut das für sich. Damit verfällt seine "Herrschaftslosigkeit" nicht dem Trug, daß er andere mit ihr befreien könnte, etwa neuerlich nach der abstraktiven Herrschaftsformel "Die anderen könnten das ja auch!" . Im Gegenteil bleibt er eingedenk der Tatsache, daß "außerhalb", d.h. objektiv Herrschaft weiterbesteht. Über den Zusammenhang von Subjektivität (hier: die "Herrschaftslosigkeit" des "Nur-für-sich") mit der Objektivität universaler Herrschafts-, d. s. Gewaltbedingungen, gelangen wir auch zu der Verhältnisbestimmung, wie sie durch den Ausdruck Tat-Sache bereits erfolgt ist. Alle hehren Ideale, die Formen positiver Begrifflichkeit hingegen setzen sich über die "subjektive Tat" hinweg. Sie sind nicht Tat-Sachen, sondern bloß die Abstraktions- und Denkgewalt, welche die Stelle von Tat-Sachen einnimmt. Das Abstrakte anstatt des Konkreten, die Macht anstatt der Tat-Sache aber verunmöglichen gerade das, was sie als Wahrheit weiszumachen scheinen: daß das Allgemeine, wie die "Menschheit" oder "Gesellschaft", über der "Besonderheit" und dem "Besonderen" stünde. Deshalb muß paradoxerweise der Eigenzweck, also gerade das Konkrete, Besondere die Rolle des Allgemeinen übernehmen, Tat-Sachen, d.h. von Macht freies Leben und Wissen, anzustreben. Das Allgemeine wäre nur dann wirklich das gesellschaftliche Allgemeine, wenn es den zwischen machtlosem Subjekt und (macht-)freier Gesellschaft versöhnten Zustand bereits zur Voraussetzung hätte - und nicht fälschlicherweise den idealistischen Gedanken. Damit erfährt der voluntaristische Subjektivismus, der ja so voluntaristisch auch wieder nicht ist, da auch er sich letztlich den objektiven, ihn aber begünstigenden Herrschaftsbedingungen verdankt und daraus die Konsequenz von "Herrschaftslosigkeit" zieht, seine nachträgliche Begründung37. Dieser gewaltlose Subjektivismus ist unter den gegebenen objektizen- u.zw. diejenige funktionalster, ausgefeimtester Art, "die Macht nicht direkt anzugreifen und sich ihr zu widersetzen, sondern sie dazu zu treiben, daß sie die obszöne Position der Wahrheit und der absoluten Evidenz einnimmt". (J. Baudrillard, 95.) Dagegen behaupte ich, daß Macht bloßstellen in der Regel Macht bedeutet, nicht aber, wenn es sich um ein Bestreben handelte, das- wie ich "subjektiv" bestimmt habe- fremde Macht ins Leere greifen ließe, d.h. keine Gegen-Macht bildete. 37 Ich wäre auch mit dem Begriff "idiosynkratischer Subjektivismus" einverstanden, wie A. Söllner die erkenntniskritische Position Adornos benennt. (A. Söllner, Angst und Politik. Zur Aktualität Adornos im Spannungsfeld von Politikwissenschaft und Sozialpsychologie, in: Adorno-Konferenz 1983, 340.) Damit ist ausgesprochen, daß mein latenter Widerwille gegen alle Gewalt in die Untersuchung selbst eingeht.
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ven Gewaltbedingungen der einzige Garant dafür, daß es anders auch geht. Was das politisch heißt, weiß freilich (noch) niemand. Jedenfalls ist seit Bestehen der sogenannten "neuen sozialen Bewegungen" (Basisbewegungen, Randgruppenformierung, Jugendbewegung, Bürgerinitiativen, AntiAKW-Bewegung, die Grünen, neue Kulturbewegungen, die Frauenbewegung und die Friedensbewegung) eine "Alternative" feststellbar, die meine "subjektiven" Einzelbemerkungen doch auch in einem politischen Licht erscheinen lassen. Neuerdings scheint es sogar Anzeichen für eine "neue Objektivität" zu geben, eine Objektivität jedoch, welche die subjektive Betroffenheit von gewaltsamen Tatsachen und Ereignissen zur Voraussetzung hat. Den anfänglichen Dogmatismus von ausschließlich dem GegenSatz sich verdankendem Voluntarismus, Subjektivismus, Relativismus und Ästhetizismus halte ich für gebannt. Die "Alternative" dieser Bewegungen ist, wenn ich recht sehe, eine Verkörperung des Prinzips von "Nicht-Identität", wie es Adorno formulierte. Die vielfältigen und in sich inhomogenen Gruppen repräsentieren für mich je verschiedene Eigenzwecke und können und wollen auch nicht suggerieren, daß alle Besonderheiten in einem "Allgemeinen" "aufgehoben" wären. "Alternative" bedeutet also nicht neuerlich Einheitlichkeit im Sinne einer Vereinnahmung von Besonderem durch das "Allgemeine", sondern gerade die Preisgabe des alten Identitätsdenkens. Das muß die alten Mächte irritieren. Diese Ideologen vom alten Schlag können den Ruf nach "Herrschaftslosigkeit", nach dem "Aderlaß der Macht" nicht verstehen, weil er außerhalb ihres Systems steht. "Machtfreiheit" läßt sich über die "subjektive Machtlosigkeit", nicht aber von einem System herkommend, mithin nicht ideologisch begreifen. Deshalb müssen Macht-Haber und -Denker gleichsam perennierend stets auf das eine hinweisen, daß es keine "machtfreie" P.olitik gebe (im Klartext: daß es ohne sie als Machtmenschen nicht gehe). Das aber ist, nach allem was gesagt wurde, offenbar falsch. Was sie in ihrem Selbstverständnis scheinbar "bestätigt", ist das Problem von (kritischer) Theorie als solcher, die, wenn sie nicht ideologisch sein möchte, eine Verwechslung mit der Realität ausschließen und sich jeder unwahren Affirmation enthalten muß38. Das erweckt in den Machtmenschen den Eindruck, als sei (kritische) Theorie etwas "über den Wolken". In Wahrheit nimmt Theorie von einer unwahren Affirmation, in meinem Fall: allgemeine Aussagen über "machtfreie" Politik zu treffen, deshalb Abstand, weil die gedankliche Verfügung über ein objektives "Noch-Nicht" das Ausfüllen leerer, noch zukünftiger Realität mit dem Machtdenken der Gegenwart wäre.
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R. Bubner, Adornos Negative Dialektik, in: Adorno-Konferenz 1983, 37.
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Literatur zur Einführung Adorno, Th. W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt 1969 -
Negative Dialektik, Frankfurt, Ausgabe von 1970
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Noten zur Literatur I, Frankfurt 1968
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Soziologische Schriften I, Frankfurt 1972
-
Zu Subjekt und Objekt, abgedruckt in: Th. W. Adorno, Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt 1969
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Einführung
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Erstes Kapitel
Legitimationswandel in der Niederländischen und Englischen Revolution Die im Mittelalter spezifischen Bedingungen von Herrschaft! - feudale Abhängigkeiten und ständische Gliederung- bestehen nebst anderen in territorialer Gebundenheit und Hörigkeit von Bauern den Grundherren gegenüber. Letztere sind aber in der Regel selber nicht Eigentümer, sondern haben die Güter von höhergestellten Adeligen als Lehen. Die Abstufung hierarchischer Verfügungsgewalt, den Monarchen miteingeschlossen, ist nach Zeit und Ort verschieden2. Eine Aufgliederung besteht auch auf horizontaler Ebene: Jedes Landstück untersteht unmittelbar irgendeinem Herren, der wiederum andere Herrschaftsträger über sich hat. Dieser Struktur entspricht die Art der Legitimation von mit der Innehabung und Ausübung je unterschiedlicher Herrengewalten, Befugnisse und Pflichten betrauten gesellschaftlichen Ständen. Mit der Entwicklung zum modernen Flächenstaat und der Herausbildung einer zentralen und absoluten Staatsgewalt ändern sich auch die Bedingungen der Rechtfertigung politischer Herrschaft. Je nach dem nun, von welcher Position gesellschaftlichen Standes (von welcher Stufe gesellschaftlicher Veränderung) aus die Legitimationsprobleme beurteilt werden, sie erweisen sich als abhängig vom Standpunkt (und/oder -ort) des Betrachters. Faßt man etwa die im Zeichen des Absolutismus stattfindende Herstellung des einheitlichen Untertanenverbandes als Voraussetzung für die bürgerliche Gesellschaft, deren politische Machtübernahme uns erst einen· I Von einheitlicher Sozialstruktur in Antike und Mittelalter kann nicht gesprochen werden. Die Krise der Antike kündigt sich in der Form von "unerbittlichen Grenzen der Produktionsweise der Sklaverei" an. (P. Anderson, Von der Antike zum Feudalismus. Spuren der Übergangsgesellschaften, Frankfurt 1978, 111.) Die Mobilität von Sklaven- sie selbst und ihre Produkte sind Waren- wird immer mehr eingeschränkt. Den Feudalismus schließlich prägt eine Produktionsweise, in der weder die Arbeit noch die Produkte der Arbeit Waren sind. (Ebenda, 175.) 2 Über die Unterschiede der einzelnen Feudalgesellschaften und die Schwierigkeit, einen Idealtypus von Feudalismus zu skizzieren, siehe: Feudalismus- Materialien zur Theorie und Geschichte, herausgegeben von L. Kuchenbuch, Frankfurt - Berlin Wien 1977, insbesondere: 0. Brunner, Feudalismus, ein Beitrag zur Begriffsgeschichte; M. A. Barg, Zum Feudalismusbegriff in der gegenwärtigen bürgerlichen Geschichtsschreibung; M. Weber, Feudalismus und Patrimonialismus; M. Bloch, Europäischer Feudalismus.
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Begriff von Revolution im modernen Sinn des Wortesa gibt, lassen sich im Rahmen einer Rekonstruktionslogik die Formen ständischen Mitspracherechts als Hemmschuh einer zu einem größeren Staatsganzen hinzielenden Entwicklung begreifen.- Wie aber, wenn diese frühen, privilegierten Freiheitsformen als Strukturkerne später wiedergeforderter Freiheit begriffen werden?! Der Absolutismus hat offenbar Freiheiten abgeschafft, die er durch keine anderen als die des allmächtigen Souveräns ersetzte. Der bürgerliche Liberalismus jedoch ist bestrebt, diese für sich wieder zurückzuerobern. Ist das gegen die strukturellen Erfordernisse des Territorialstaates auftretende ständische Partikularrecht aber tatsächlich als Freiheit zu begreifen?- Die heraufbeschworene Konfliktsituation hat jedenfalls auch in der Theorie ihren Niederschlag gefunden. Die germanische Rechtsauffassung von der Konsensgebundenheit der Herrschaft, basierend auf allen maßgeblichen gesellschaftlichen Kräften, wird für den ideologischen Widerstand gegenüber den Zentralisierungstendenzen der nächsten Jahrhunderte mobilisiert. Das Auseinanderfallen von oikodespotischer Herrschaft und Politik gilt nur summa summarum. Ein einziges "Haus", das des souverän gewordenen Fürsten, bemächtigt sich der politischen Herrschaft, von der alle anderen "Haus-Herrn" ausgeschlossen werden4 • Insgesamt privatisiert nun die ·societas, bestehend aus lose zusammengehaltenen Herren-Herrschaften, gegenüber einem omnipotenten Universalherrn. Politik basiert nicht mehr auf der Struktur von oikos-Herrschaften, deren Schirmherren Teilhaberrechte im Sfaat besitzen, sondern verfällt dem "Haus" des einen, zum Souverän gewordenen "Hausherrn", nun Territorialherrn. Die produktiveren Sektoren der neu entstehenden Wirtschaftsgesellschaft, die vom städtischen Handelskapital getragen werden, verbinden sich dabei mit dem Territorialfürsten. In den Städten und in den nicht mehr feudalherrenabhängigen Territorien, wo keine übergeordnete Territorialgewalt mehr durchsetzbar ist, üben die Handelskaufleute selbst politische Gewalt aus. Beispiele politischer Herrschaft des städtischen Patriziats finden sich in Oberitalien, in den deutschen Reichsstädten und z. T. auch in den Niederlanden. Neben der Zurückdrängung der Feudalgewalt erleiden auch die traditionellen Zunftschranken Einbruch, die der Veranlagung bürgerlichen Kapitals entgegenstanden. Der politische Machtanspruch des absoluten Herrn verbindet sich kurzzeitig mit dem wirtschaftlichen des Bürgertums. Ihr gemeinsamer Gegner, der ehemals auch politisierende Feudalherr, wird politisch entmachtet. Sein Kampf gegen die absolute Herrschaft bildet den a Siehe Kapitel: "Nachtrag zum Revolutionsbegriff". 4 Hiezu: N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation (1939), Frankfurt 1977, Bd. 2, Zweiter Teil. Zur Soziogenese des Staates, 123- 311. Hierauf wird später noch eigens eingegangen.
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letzten Versuch, das Legitimitätsprinzip einer auf Konsensbasis beruhenden Teilhabe an der Herrschaft für sich zu beanspruchen. Vergebens wird noch an der alten Adelsverfassung festgehalten, die bislang Freiheit bedeutete. Die autonome Machteinbuße des landsässigen Adels erfolgt endgültig um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert mit dem Verlust des Fehderechts. Rechtsprechung und Verwaltung werden dem Souverän übertragen. Der Landadel muß sich mit dem absoluten Staat arrangieren und wird zunehmend zu Hof- und Staatsdienst herangezogen. Der Vergrößerung des Verwaltungsapparats und des Militärkörpers aber entspricht der Machttransfer vom Landadel auf den HofadeL Die alten politischen Freiheiten (in Form von Privilegien) weichen staatlicher Souveränität.Die revolutionären Ereignisse in den Niederlanden und in England sind durch eine Vielheit von unterschiedlichen Kräftebeziehungen geprägt, in denen weder die feudalen Stände, noch die Staatsgewalt, noch das Bürgertum resp. seine verschiedenen Interessensfraktionen eindeutig voraussehbare Haltungen einnehmen. Dadurch läßt sich auch der Ausgang der gewalttätigen Auseinandersetzungen nicht präjudizieren. Allianzen werden kurzfristig geschaffen, die andererseits wieder fraktioneile Aufsplitterung fördern, um ihrerseits Widerparte von gestern erneut zu einigen. So ergeben sich vielerlei Variationsmöglichkeiten von Koalitionen. Man braucht nur Kirche, Hofadel, Landadel, städtisches Bürgertum und die Klasse unfreier, z. T. leibeigener Bauern als, was die Reihe möglicher Allianzen angeht, selbst wieder gespalten annehmen, um die Kompliziertheit der Dynamik faktischer Gewaltverhältnisse erahnen zu können. Im 16. Jahrhundert stehep. in Westeuropa zentrale Herrschaftsmacht, Kirche und die ständischen Ordnungsgewalten einander feindlich gegenüber. Der mächtige Aufschwung des städtischen Handels hat ein ökonomisch selbstbewußtes Bürgertum geschaffen, dessen Expansionsdrang zusehends mehr an die Grenzen der Feudalverfassung stößt. Daneben schreiten Bauern und plebejische Schichten zu Revolten und erweitern dadurch den politischsozialen Manövrierspielraum der Zentralgewalt. Indem die römisch-katholische Kirche auch in weltlicher Hinsicht ihren Herrschaftsbereich absichert, tritt sie mit dem sich wirtschaftlich emanzipierenden Bürgertum in ein Spannungsverhältnis. Beide wetteifern um die Gunst der Fürstenherrschaft. Die reformatorische Kritik an der auch säkulare Herrschaft ausübenden römischen Kirche5 kommt dabei auf legitimato5 "Gottes Wort soll hier streiten; wenn's das nicht ausrichtet, so wird's wohl unausgerichtet bleiben von weltlicher Gewalt, ob sie gleich die Welt mit Blut füllet. Ketzerei ist ein geistlich Ding, das kann man mit keinem Eisen hauen, mit keinem Feuer verbrennen, mit keinem Wasser ertränken." (M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523), in: Martin Luther, Studienausgabe, 181.) -Weder die katholische Kirche über politische Herrschaft noch diese selbst können
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rischer Ebene dem Interesse des Frühbürgertums entgegen. Luthers ZweiReiche-Lehre, die strenge Trennung von weltlichem und göttlichem Reichs, bietet hiezu eine Richtschnur. Sie mag als theoretischer Rahmen für eine religiöse Erneuerungsbewegung gelten, die darin, Politik von Religion trennen zu wollen, politisch wird. Diese Konsequenz liegt außerhalb der Absicht Luthers selbst. So können wir bei ihm auch keine eigentliche Lehre von der Politik feststellen. Die Dichotomisierung von christlichem Glaubensgut und Politik birgt jedoch einen revolutionären Keim, der sich in der Folge als politischer erweist7• Als revolutionäre Änderungen in Deutschland ergeben dieser Lehre nach Richter in Fragen religiöser..Grundüberzetigung sein; es bleibt dem Gewissen jedes einzelnen anheimgestellt, in Ubereinkunft mit der Lehre Christi zu leben. Diesen den eigentlichen Kern reformatorischer Lehre bildenden Gesichtspunkt finden wir ebenso bei Calvin vor. 6 Luther separiert die Menschen in Kinder Gottes und solche, die es nicht sind. Dementsprechend ergeben sich auch zwei Reiche: "Hier müssen wir Adams Kinder und alle Menschen teilen in zwei Teile: die ersten zum Reich Gottes, die andern zum Reich der Welt. Die zum Reich Gottes gehören, das sind alle Rechtgläubigen in Christo und unter Christo. Denn Christus ist der König und Herr im Reich Gottes . . ." (M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, 167.) Da es nun einmal gute und schlechte Menschen gibt, hat Gott zwei "Regimenter" geschaffen: das Reich Gottes für die Christen, das Reich der Welt für alle, die nicht Christen sind (168). Diejenigen, die für das Reich Gottes leben, "bedürfen keines weltlichen Schwerts noch Rechts. Und wenn alle Welt rechte Christen, das ist rechte Gläubige wären, so wäre kein Fürst, König, Herr, Schwert noch Recht not oder nütze". (167.) Die anderen jedoch, die keine Kinder Gottes sind, müßten durch weltliche Gesetze gezwungen werden, "daß sie äußerlich ihre Bosheit mit Werken nicht dürfen nach ihrem Mutwillen üben" . (168.) Das "weltliche Regiment" erstreckt sich - nach Luther - nicht weiter als über "Leib und Gut, und was äußerlich ist auf Erden". (176.) Hierauf also hat sich die politische Herrschaft zu beschränken. Da Gott aber auch Schöpfer dieser Welt ist, leitet sich die ihr zugehörige Gewalt von seinem Willen her. Widerstand gegen die Gewalt heißt daher auch Widerstand gegen die göttliche Ordnung: "Die Gewalt aber, die allenthalben ist, die ist von Gott verordnet. Wer nur der Gewalt widersteht, der widersteht Gottes Ordnung. Wer aber Gottes Ordnung widersteht, der wird ihm selbst die Verd~mnis erlangen." (165.)"Der Obrigkeit soll damit kein Freibrief für den Mißbrauch ihres Amtes geschrieben sein. Sie wird ihrer Strafe nicht entgehen. Aber die Strafgewalt über sie hat sich Gott selber vorbehalten. Er will über sie Richter und Meister sein; er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und rottet ihre Wurzel mit Namen und Gedächtnis aus." (J. Heckel, Lex charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers, München 1953, 112f.) Wie sehr Luthers Zwei-Reiche-Lehre mit der Anerkennung weltlicher Obrigkeit verbunden und gerade darin poJitisch ist, davon zeugt seine profürstliche Haltung im Konflikt mit Thomas Müntzer. Uber diesen Zusammenhang siehe: C. Hinrichs, Luther und Müntzer, Ihre Auseinandersetzung über Obrigkeit und Widerstandsrecht, Berlin 1952, 154f. 7 Der von der religiösen und der Glaubens-Sphäre abstrahierende Politikbegriff ist teils strategischer, teils moralischer Art. Die moralische Seite von Politik jedoch, die eine derartige Abstraktion erlaubt, überläßt es dem subjektiven Gewissen, was zu geschehen hat oder nicht. Daraus ergibt sich eine Tendenz zur Verinnerlichung resp. Individualisierung, wie sie der reformatorischen Gewissensmoral eigen ist. Dem Rechtssystem wiederum erwächst daraus das Problem, daß "das Gewissen als letztentscheidende Instanz sozialen Verhaltens keine Ordnung garantiert, die gesellschaftserhaltend ist, und daß die Organe (Repräsentanten) der Gesellschaft als letztentscheidende Instanz sozialen Verhaltens keine Ordnung garantieren, die dem einzelnen eine moralische Existenz ermöglicht". (A. Podlech, Das Grundrecht der
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sich: die von Rom unabhängigen Landeskirchen, die sich dem werdenden kleinstaatliehen Absolutismus unterwerfen; durch Säkularisation erzielte Besitzverschiebungen zugunsten des Fürsten, Adels und Bürgertums; der Autoritätsschwund der römischen Kirche; Verwaltungs- und Rationalisierungseffektes. Zunächst ist festzustellen, daß auch die Reformation die weltliche Herrschaft grundsätzlich als von Gott gewollt und darin göttlichen Ursprungs darstellt. Daraus folge jedoch keineswegs eine Suprematie der Politik über den Glauben, da beide Sphären streng voneinander getrennt zu denken seien. So unterliege der religiöse Bereich ausnahmslos dem Glauben und Gewissen jedes einzelnen- bei Vorgabe der göttlichen Lehre.- Da die römische Kirche jedoch beide Bereiche miteinander vermische und politische Interessen unter dem Vorwand geheiligter, religiöser Werte durchsetze, habe sich das Glaubensvolk gerade im Namen des Glaubens ihr gegenüber zur Wehr zu setzen. Bekanntlich hat Luther Widerstand dort gebilligt, wenn auch nicht dazu aufgerufen, wo christlicher Glaube und moralische Praxis selbst hätten preisgegeben werden müssen: "Wenn nun dein Fürst oder weltlicher Herr dir gebietet, mit dem Papst zu halten, so oder so zu glauben, oder gebietet dir, Bücher von dir zu tun, sollst du also sagen: ,Es gebührt Lucifer nicht neben Gott zu sitzen. Lieber Herr, ich bin Euch schuldig zu gehorchen mit Leib und Gut, gebietet mir nach Eurer Gewalt Maß auf Erden, so will ich folgen. Heißt Ihr aber mich glauben und Bücher von mir tun, so will ich nicht gehorchen. Denn da seid Ihr ein Tyrann und greift zu hoch, gebietet, da Ihr weder Recht noch Macht habt, usw.'9."- Auch wenn es der Kaiser sein sollte, der - der katholischen Sache wegen - gegen die reformierten Länder Krieg führe, könne ein "wahrhaft" Gläubiger ihm nicht gehorchen. "Und wer ihm gehorcht, der soll wissen, daß er Gott ungehorsam ist und seinen Leib und seine Seele auf ewig verpfändet. Denn der Kaiser handelt dann nicht nur gegen Gott und das göttliche Recht, sondern auch gegen sein eigenes kaiserliches Recht. .. "lo. Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, Berlin 1969, 27.)- Früher oder später mußte sich jene "anarchistische Interpretation" der Gewissensfreiheit regen, "daß keine Rechtsnorm für jemanden rechtlich verbindlich ist, die ihn zu einem Verhalten abweichend von seinem Gewissen zwingt". (29.) Der darin enthaltene revolutionäre Keim ist unübersehbar. s G. Brendler, Zur Problematik des frühbürgerlichen Revolutionszyklus, in: M. Kossok (Hg.), 39f.- Anders als im "Reich", wo die evangelischen Kirchen sich unter den Schutz des Landesfürsten stellten und staatsrechtlich abgesichert wurden, schloß die niederländisch-reformierte Kirche ein Landeskirchenturn und seine staatskirchenrechtliche Rechtfertigung aus. Hiezu: E. Conring, Kirche und Staat nach der Lehre der niederländischen Calvinisten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Neukirchen- Vluyn 1965. 9 M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, 180. 1o M. Luther, Warnung an seine Lieben Deutschen (1530/31), in: Martin Luther, Studienausgabe, 239.
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Für deri Fall also, daß politische Gewalt ihren Einfluß auf die religiöse Sphäre geltend machen würde, wie dies die katholischen Länder den protestantischen gegenüber anstrebten, könne Gegenwehr nicht Aufruhr bedeuten. Luther "wills gehen und geschehen lassen, daß sie es Notwehr nennen und will sie darin zum Recht und zu den Juristen weisen"ll. Anders als bei Luther, dessen Staat sich vom Reich des Himmels scharf abgrenzt, bilden für Calvin Diesseits und Jenseits keine unabhängig voneinander bestehenden Welten, die Grenze zwischen religiöser und weltlicher Vollkommenheit ist fließendt2. Calvin bestimmt die staatliche Ordnung als einen Zustand, den die Menschen nach Gottes Willen zu entwickeln hätten. In der Teilnahme des Volkesam Staat werde mittelbar auch Gott gedient. Gewiß trennt auch Calvin Kirche und Staatt3. Die "Souveränität Gottes" verlangt jedoch ein Staatsprinzip, das sich am Willen Gottes orientiert: "Christus ist auch der König des Staates, und kann kein anderes Regiment desselben wollen, als das seinen Geboten entspricht" 14• Mit anderen Worten: Calvins "Souveränität Gottes" und sein theokratischer Staatsbegriff sind aufeinander bezogen. Der Mensch als Bindeglied hat die Pflicht, das "Königreich Christi auf Erden" zu gründen. Kirche und Staat bilden dessen "Außenbollwerk"15. Da die Obrigkeit für ihre Politik in erster Linie Gott gegenüber Verantwortung und damit dem Volk selbst nicht Rechenschaft schuldet!&, ist ein Widerstandsrecht der Untertanen, sofern sich dieses nicht auf die Übertretung göttlicher Gebote bezieht, ausgeschlossen 17. Wenn auch Calvin bezüglich des Widerstandsrechts zu denselben Konsequenzen gelangt wie Luther, sind doch die Prämissen andere. Calvin geht bereits davon aus, daß die Mitglieder des Volkes Gottes auch das Staatswesen beeinflussen: "So wirkt die Kirche ... von unten empor auf den Staat, läßt ihren Hauch einströmen in alle seine Grundsätze, Handlungen, Einrichu Ebenda, 231. H. Baron, Calvins Staatsanschauung und das Konfessionelle Zeitalter, Berlin München 1924, 15. 13 "Die zwei Institutionen haben eigentlich den gleichen Zweck - sowie sie in der ersten Zeit des alten Bundes auch wirklich in Eins verschmolzen waren in der Person des Moses -, und unterscheiden sich nur darin, daß die Kirche ihre Macht über die Seele ausübt und auf das ewige Leben abzielt, der Staat hingegen mit dem äußern Menschen es zu thun hat, und auf die rechte Anordnung des Lebens in dieser Welt sich beschränkt." (1. Calvini, in: E. Stähelin, Johannes Calvin. Leben und ausgewählte Schriften, Bd. I, Elberfeld 1863, 321.) 14 Ebenda. u H. Baron, 44. u Bezug genommen wird hier auf den berühmten Abschnitt "De politica administratione" aus: I. Calvini, lnstitutio Christianse Religionis (in der Ausgabe A. Tholuck, Berolini, apud Gustavum Eichler. 1835, Pars altera, IV; 20, 475ff.). - Für Hinweise danke ich Friedrich Heer. n H. Baron, 87ff. 12
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tungen, giebt ihm Antrieb und Richtung, macht ihn zum christlichen Staat im vollen Sinne des Wortes und die Obrigkeit zur christlichen ObrigkeitiB." Bei Calvin sind- im Gegensatz zu Luther- Staat und Volk nicht einfach weltliche Mächte. Vielmehr richten sich diese nach religiösen Forderungen und transzendieren dadurch bereits Inner-Weltliches. Darüber hinaus zielen die göttlichen Gebote "nicht an die Einzelseelen allein", sondern "zugleich an eine größere Gruppe, in welcher jeder Einzelne als ein dienendes Glied erscheint" 19. Demnach bildet nach Calvin die reformierte Kirche eine "Volksgemeinschaft", ein "heiliges Volk"20, durchaus nach dem Vorbild des alttestamentarischen Bundes zwischen Gott und Israel. Mit dieser Konzeption stellt sich Calvin bewußt gegen die Tradition des christlichen Universalismus wie auch gegen das bloß politische Prinzip der Territorialstaatlichkeit21. Inwieweit nun die calvinistische Lehre zum Sprengsatz für gesellschaftliche Veränderungen wurde, die weit über den kirchlichen Bereich hinausgehen, soll über die durch die calvinistische Bewegung geprägte Legitimitätsgeschichte von Niederländischer und Englischer Revolution erörtert werden. Der Calvinismus, der von der Lehre Calvins selbst unterschieden werden muß, spielt im Kampf der niederländischen Stände gegen die spanische Zentralgewalt und um den Erhalt ihrer alten Rechte und Privilegien eine gewichtige legitimatorische Rolle22. Dabei erfolgt im Zuge verschärfter realer Konfliktaustragung auch eine sukzessive Radikalisierung argumentativer Rechtfertigung23. 1s I. Calvini, in: E. Stähelin. Calvin faßt dabei Kirche und Staat nicht bloß für sich als Organismus, sondern auch in ihren gegenseitigen Verschränkungen. Hiezu: J. Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche, Breslau 1937, 581f. 19 H. Baron, 59. 2o Die communicatio sanctorum, die Kirche, ist .,das einheitliche heilige Corpus Christi. Darum muß auch Gott in Christus allein ihr Herrscher sein". (Th. Werdermann, Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung, in: Calvinstudien, 268.)- Die Christokratie ist in der ,.institutio" zwar gedanklich festgehalten, ihre äußere Durchführung erfolgt jedoch erst durch den späten Calvin. 21 H. Baron, 59. 22 Vgl.: R. Saage (Herrschaft, Toleranz, Widerstand. Studien zur politischen Theorie der Niederländischen und der Englischen Revolution, Frankfurt 1981), der sich auf umfangreiches Material in Form von calvinistischer Pamphlet-Literatur stützt. 2a Den argumentativen Fortgang in der Niederländischen Revolution prägen in ihrer Spätphase die calvinistischen Monarchomaehen (R. Saage, 33ff.). Der Begriff ,.Monarchomachen" (Königsbekämpfer) ,.wurde geprägt im ersten Jahr des 17. Jahrhunderts. Er sollte alle politischen Theoretiker, die damals die Rechte des Königtums durch theoretische Argumente einzugrenzen oder zu beschneiden gesucht hatten oder noch suchten, zu einer Gruppe zusammenfassen. Monarchomachen: Bei dem hohen Klang des Begriffs Monarch steckte darin von vornherein etwas polemisch Abwertendes". (J. Dennert (Hg.), Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen, Köln und Opladen 1968, Einleitung, IX.)
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Zunächst ist es der Krönungseid der "Joyeuse Entree" von Brabant24, worauf sich die frühe niederländische Opposition beruft. Dabei handelt es sich um einen dem Lehensrecht verbundenen Rechte- und Pflichtenkatalog von Herrschern und Beherrschten, dessen Funktion es ist, nicht Herrschaft zu konstituieren, sondern "ein lange bestehendes, quasi ,natürliches' Herrschaftsverhältnis erneut zu bestätigen"25. Noch ist die niederländische Widerstandsbewegung peinliehst darauf bedacht, den in diesem Vertrag geschaffenen Legitimitäts- und Legalitätsrahmen nicht zu überschreiten. Auch nach dem Bildersturm von 1566 hält der Kooperationswille niederländischer Calvinisten mit Philipp li. einige Zeit an. Ebenso knüpft auch die gemäßigtere Opposition unter Wilhelm von Oranien- unter indirektem Hinweis auf die "Joyeuse Entree"26- an den durch "historische Präzidenzien" abgesicherten "status-qua-orientierten Anspruch "27 an, die alten Rechte und Privilegien zu schützen. Allerdings seien die Untertanen nur so lange an die Einhaltung des Herrschaftsvertrages gebunden, als der König nicht seinerseits dagegen verstoße. - Die tatsächlichen Verstöße des Monarchen gegen die "Joyeuse Entree" werden zu diesem Zeitpunkt nicht ihm, sondern seinen Ratgebern angelastet2a. Das Wüten der Diktatur des Herzogs von Alba allerdings hat die niederländische Opposition gegen die spanische Krone über die von der "Joyeuse Entree" vorgegebenen Rahmenbedingungen auch ideell hinaustreiben lassen. Aus dem oppositionellen politischen Schrifttum seit 1568 läßt sich nach R. Saage- ablesen, daß nicht nur der bewaffnete Aufstand (im Gegensatz zur bloßen Gehorsamsverweigerung) der Stadtmagistrate eine Rechtfertigung findet29, sondern eine insbesondere für die Spätphase der Revolution entscheidende argumentative Differenzierung vorgenommen wird: "Der König ist die Personifikation der Souveränität; gleichzeitig werden jedoch Souveränität und die real existierende Verfassung nicht als getrennte Sphären, sondern als Einheit begriffen. Wenn also Alba gegen die Verfassung, also gegen die tradierten Freiheiten und Privilegien handelt, unterminiert er die Souveränität und greift damit zugleich auch den Souverän, d. h. 24 Abgedruckt auf Holländisch und Englisch in: G: Griffiths (Hg.), Representative Govemment in WesternEuropein the SiXteenth Century. Commentary and Documents for the Study of Comparative Constitutional History, Oxford 1968, 346 - 350. 25 R. Saage, 39. 2s The prince of Orange's warning to tlie inhabitants and subjects of the Netherlands, 1. September 1568, abgedruckt in: E. H. Kossman I A. F. Mellink (Hg.), 84. 27 R. Saage, 241. 2a " •.• the cardinal and his adherents and those who collaborated with him in Spain ... distort the truth with false and deceitful practices and denunciations so that the gracious king, ill-informed . . ., thought that our loyal advice, actions and services originated from ambition and that his good loyal subjects were rebellious, disobedient and refractory . .. " (The prince of Orange's waming, 85.) 29 Dahingehend äußert sich bereits Wilhelm von Oranien in dem zitierten Dokument vom 1. September 1568.
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den König selber an. Aus diesem Sachverhalt, so wird weiter gefolgert, resultiert die Pflicht der loyalen Untertanen, den Aggressor zu strafen und ihn mit allen Mitteln an der Fortführung seiner politischen Verbrechen zu hindern30." Seit 1574 bricht sich die Auffassung Bahn, daß die Stände als die "natürlichen" Repräsentanten des Volkes dem König übergeordnet seien31. Die "Vindiciae contra tyrannos"32 von 1579 schließlich, einer der berühmtesten calvinistisch-monarchomachischen Schriften, bekräftigen das mittelalterliche Rechtsverständnis noch einmal dahingehend, daß die positiven Gesetze Anpassungsnormen an die "Gerechtigkeit" und damit das Gesetz Gottes und der Natur "repräsentieren". Die positiven Gesetze verfügen- der calvinistisch-monarchomachischen Auffassung nach- "weder über eine autonome Quelle, noch werden sie als das Kunstprodukt eines menschlichen Willens begriffen: sie haben lediglich Korrekturfunktionen inne, die darin bestehen, den übergeordneten Gesetzen Gottes und der Natur hinreichend Geltung zu verschaffen33." Diese "Repräsentations"-Auffassung bezieht sich ebensosehr auf den institutionellen Bereich. Das "Volk" wird auf den entsprechenden realen Stufen sozio-politischer Hierarchie "repräsentiert" in Form der Provinzialund Generalstände, der Stadtmagistrate, mithin von Amtsinhabern. Für das Widerstandsrecht ergibt sich daraus, daß amtslose Bürger auch dann nicht zum Aufstand befugt sind, wenn der Tatbestand legitimen Widerstands gegeben ist (wenn der Herrscher zum Tyrannen wird). Als Ausnahmen gelten Amtslose, die sich gegen einen von außen das Gemeinwesen überfallenden Tyrannen wehren, wenn dies die maßgebenden Magistrate verabsäumen, und solche, die gewissermaßen als "Auserwählte Gottes" fungieren. 3o R. Saage (30) in Anlehnung an die von E. H. Kossman I A. F. Mellink, Einleitung, vorgenommene Interpretation eines Passus des zitierten Dokuments von Wilhelm von Oranien. Kossman I Mellink (16) meinen: " ... the author (the prince of Orange, W. E.) then finds that it is the Spanish intruders who are waging war upon the benevolent sovereign and that the inhabitants of the Netherlands are obliged to interfere in this struggle and support him against Alva .. . the prince is the personification of the sovereignty; sovereignty and constitution arenot opposites, indeed they are identical. If a man acts contrary to the constitution, as Alva was obviously doing, he undermines the basis of sovereignty and attacks the sovereign. It is then the duty of the loyal subjects - subjects to the sovereign constitution personified by the king- to punish him for this and to prevent him by all possible means from perpetuating his crimes." -Die historische Fundierung der Unterscheidung zwischen König und Königreich besorgt schließlich 1573 Franz Hotman, Franeo Gallia, abgedruckt in: J. Dennert (Hg.), Kap. XIX, 284: "Der König ist der alleinige und einzige Herrscher und gleichsam das Haupt des Gemeinwesens. Das Königreich aber ist die Gesamtheit der Bürger und Untertanen, gleichsam der Körper des Gemeinwesens." - Den Hinweis, nicht das Zitat, entnehme ich R. Saage, 37. 31 R. Saage, 37. 32 Strafgericht gegen die Tyrannen oder Die legitime Macht des Fürsten über das Volk und des Volkes über den Fürsten von dem Franzosen Stephanus Junius Brutus, Edinburgh 1579, abgedruckt in: J. Dennert (Hg.), 61 - 202. 33 R. Saage, 57.
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Entschieden abgelehnt werden alle Aufstände, die "von unten" kommen, wie die Aktivitäten von Wiedertäufern und Anarchisten jeder Art. Diese erscheinen den Monarchomaehen mindestens genauso verurteilenswert wie die Tyrannenherrschaft selber34. Diese Verbindung von Widerstandsrecht und institutionellem Repräsentationsgedanken, der im Zuge immer gewalttätigerer Auseinandersetzungen zwischen spanischer Herrschaftsgewalt und niederländischen Aufständischen das Volk(=Stände) sogar über den König stellt, wird zur argumentativen Chiffre, die den Abfall der Generalstaaten von der Zentralgewalt gewissermaßen einläutet. Wenn es den Ständen und nicht mehr dem absolutistisch regierenden König zukommen soll, über die das Gemeinwesen betreffende Ämtervergabe zu befinden, ist der praktische Bruch wohl als unvermeidlich angenommen. Das spätestens seit 1579 verfolgbare argumentative Einpendeln der antispanischen Opposition auf die Theorien der calvinistischen Monarchomaehen unterstreicht den gewollten Affront: Mit der Vertragsbrüchigkeit des Königs sei auch seine Souveränität verwirkt, die das Volk repräsentierenden Stände hätten nun auch das Recht auf Absetzung des Souveräns. Die Legitimitätskrise, die von der passiven Gehorsamsverweigerung im Sinne der "Joyeuse Entree" bis hin zur formellen Absetzungsgewalt des "Volkes" über den König als eines quasi natürlichen Rechtes reicht, dauert auch nach 1581 an. Offenbar haben die Aufständischen in ihrer Rechtfertigung mit dem feudalen Herrschaftsvertrag der "Joyeuse Entree" nicht mehr das Auslangen gefunden. Erst ihr Rekurs auf die Denkmuster der calvinistischen Monarchomaehen läßt sie die Absetzung des Monarchen legitimieren. In den "Vindiciae" geht das mittelalterliche Widerstandsrecht35 eine SymStrafgericht gegen die Tyrannen, in: J. Dennert (Hg.); R. Saage, 50f. Gemeint ist damit die Auffassung, daß ein verletzter Rechtszustand nicht verändert, sondern rückgängig gemacht werden muß. Es geht um die Wiederherstellung von Rechtmäßigkeit (Hiezu grundlegend: F. Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im frühen Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, MünchenKöln 1954.) In diesem Sinn ist also das Widerstandsrecht defensiv auszulegen. - Nach R. Nürnberger (Die Politisierung des Französischen Protestantismus. Calvin und die Anfänge des protestantischen Radikalismus, Tübingen 1948, 23) ist das Widerstandsrecht der Monarchomaehen nicht direkt beeinflußt von Calvin: "Bedeutung gewinnen die Gedanken eines ständischen Oppositionsrechts erst im protestantischen Radikalismus. Sie werden dann aber nicht von Calvin her entwickelt, über dessen Grenzen der protestantische Radikalismus in Frankreich sehr bald hinausdrängt, sondern von Hotmann, dem sich Calvin widersetzt, in die Debatte geworfen." - "Das Problem des Widerstandsrechts bei Calvin" behandelt unter demselben Titel: E. Wolf, in: A. Kaufmann in Verbindung mit L. E. Backmann (Hg.), Widerstandsrecht, 152- 169. Wolf betont den Zusammenhang zwischen Calvins Bemühungen, "die Kompetenz der Stände gegenüber der Krone in das französische Staatsrecht einzubauen oder wieder einzubauen" (162), mit den Legitimierungsverfahren der Monarchomaehen Hotmans und Brutus'. Bei ersterem handle es sich jedoch um das Problem des Tyrannenmordes, bei letzterem um den Kampf gegen die absolutistische Monarchie (ebenda). Darüber hinaus gelte für Calvin: "Wo es in einem Staat Volksbehörden, Stände, Ephoren, Tribunen gibt, da ist es deren Pflicht und Recht, für die Freiheit des Volkes gegen tyr;m34
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biose mit einem Menschenbild ein, das sich nicht mehr bruchlos in das alteuropäische Verfassungsdenken einfügt. Die Rede ist von "Freien", "die im vorstaatlichen Zustand mehr zum Befehlen als zum Gehorsam neigen und die mit der Entstehung des ,Mein' und ,Dein' in einen ,bellum omnium contra omnes' verwickelt werden, der ari die Konzeption von Hobbes und Locke erinnert"36. Daraus würden allerdings in der Niederländischen Revolution- nach R. Saage- noch keine individualistischen resp. liberalen Konsequenzen gezogen: Das "Volk" erscheint auch weiterhin "als eine a priori dem einzelnen vorgegebene Ganzheit, die ständisch strukturiert ist" 37. Saage widerspricht damit der These, daß bereits die calvinistischen Monarchomaehen den Herrschaftsvertrag als von auf sich bezogenen einzelnen, also Individuen, geschlossen betrachten. In keiner Weise sei hier ein Vorläufer des bürgerlichen Vernunftrechts erwachsen. Vielmehr treffe die Ansicht E. Troeltschs zuaa, die auch J. Dennert bestätigt39, daß die calvinistischen Theoretiker noch gänzlich der teleologisch-organischen "Staats"Auffassung des Aristoteles•o verbunden seien41 • Dies schließe freilich nicht nische Herrscher vorzugehen (...). Und zwar ist der Fall des Vorgehens zunächst gegeben, wenn der Herrscher den Gehorsam gegen Gott bedroht." (155.) Calvins Widerstandsrecht sei primär theologischer Art (157) . .,Das Entscheidende" -nach Wolf- sei, .,daß Calvin die Stände eben als populares magistratus, als die Volksbehörden zur Mäßigung königlicher Willkür ansieht, daß er sie staatsrechtlich und politisch in Anspruch nimmt, und zwar ohne jegliche abstrakte politische Theorie, ohne naturrechtliche Doktrin, ohne die im Mittelalter ... erneuerte Theorie von der Volkssouveränität, ohne die Konstruktion des Herrschaftsvertrages ... " (160f.) :J6 R. Saage, 108f.; Strafgericht gegen die Tyrannen, in: J. Dennert (Hg.), 129: .,Fürs erste ist es klar, daß die Menschen von Natur aus frei sind, daß sie die·Abhängigkeit hassen und mehr zum Befehlen als zum Gehorsam geboren sind. Nur eines großen Vorteils wegen haben sie es freiwillig geduldet, sich von anderen regieren zu lassen. Um den Vorschriften eines anderen zu gehorchen, haben sie gleichsam dem eigenen Naturgesetz entsagt."- "Als aber der Unterschied von Mein und Dein in die Welt kam und unter den Bürgern Kämpfe um Besitz, bald auch unter den Nachbarvölkern Kriege um die Grenzen entstanden, da begann das Volk seine Zufluc~~ zu einem Mann zu nehmen, der gerecht und tapfer dafür sorgen sollte, daß nicht die Armeren von den Reichen, sie alle von den Nachbarn Gewalt erlitten." (Ebenda, 130.) 37 R. Saage, 109. 38 .,Insbesondere ist die hierbei eingeführte Vertragslehre weit entfernt von ihrer späteren rein rationalistischen Verwertung, die sie in dem von der Theologie emanzipierten klassischen modernen Naturrecht der Aufklärung erfuhr. Nirgends handelt es sich um das Zustandekommen der Gesellschaft selbst durch den grundlegenden Gesellschaftsvertrag. Die wird vielmehr immer im Lichte der aristotelisch-organischen Theorie gesehen ... " (E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, 691; ebenso: 679, 692 und Anm. 374 auf 692f.) 39 J. Dennert (Hg.), Einleitung, LXIIf. 40 Aristoteles geht von der Einheit von Polis und Koinonia aus (koinonia politike). Koinonia (resp. communitas) heißt zunächst nichts anderes als .,Verbindung", .,Vereinigung" . .,Staat" ist diesem Sprachgebrauch nach gleichbedeutend mit politischer Gemeinschaft. Aristoteles meint hiezu, daß .,diejenige Gemeinschaft, welche die vornehmste von allen ist und alle anderen in sich schließt ... ", .,der sogenannte Staat und die staatliche Gemeinschaft (politike koinonia)" ist. (Aristoteles, Politik, in der Übersetzung von F. Susemihl, Leck I Schleswig 1965, 7, 1251a 7.) .,Staat" und .,Gesellschaft" sind hier noch nicht- wie in der Neuzeit- auseinandergetreten. Erst durch die Verwirklichung von Marktbeziehungen in allen Lebensberei4•
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aus, daß die linken Calvinisten in eine Richtung weisen, "deren innovatorische Qualität sich erst im 17. Jahrhundert voll entfalten sollte: die vom Staat garantierte Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Sphäre, die Säkularisierung des Staatszwecks, die Institutionalisierung individueller Grundrechte und nicht zuletzt die Teilung und Kontrolle der politischen Gewalten42 ." Jedenfalls erfolgt- zumindest im Ansatz- bereits in der Niederländischen Revolution der Übergang von einem durch den Rückgriff auf einen historischen Vertragsabschluß geprägten Legitimationsverfahren zu einem abstrakt-ahistorischen. Am Ende dieses Prozesses steht die Einsicht des Menschen als vernünftigen Wesens, daß das "Volk" vor dem König ist, es diesen sich vielmehr selbst gegeben hat, mithin auch seine Abberufung rechtens fordern kann. Die abstrakte Denkungsart, die in der Englischen Revolution den entscheidenden Schritt einer Abhebung der Einzelmenschen vom Gemeinwesen unternimmt, um sie hernach wieder summarisch zusammenzusetzen, und die schließlich in der Französischen Revolution zu einem auf eben entsteht "Gesellschaft" als moderner Begriff. Das System grundständischer Herrschaft wird durchbrochen, was den Obrigkeitsstaat als einen von der Sphäre der Produktion enthobenen administrativen Gewaltapparat entstehen läßt. (J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 5. Auflage, Neuwied und Berlin 1971, 172.) Aristoteles geht in seiner Untersuchung über die "Staats"-Verfassung schon von der vorgegebenen Struktur der Polis aus. Man "muß zuvörderst den Staat (polis) ins Auge fassen und feststellen, was der Staat (seinem Wesen nach, W. E.) ist". (Aristoteles, 80, 1274b 33- 34.) Die Polis wird als "von Naturursprünglicher als das Haus und jeder einzelne von uns" gedacht. (Ebenda, 11, 1253 a 19.) Ihr Wesen ist es, nicht selbst die institutionalisierte Gewähr für eine auf Freiheit und Gleichheit verpflichtete Bürgerschar zu bilden, sondern umgekehrt politische Vereinigung (politike koinonia), die dem seiner Natur nach auf die staatliche Gemeinschaft hingeordneten Menschen (zoon politikon) zur Basis politischer Herrschaft geworden ist. (Aristoteles, 10, 1253 a 2- 3; M. Riede!, Herrschaft und Gesellschaft. Zum Legitimationsproblem des Politischen in der Philosophie, in: Z. Batscha (Hg.), 129. - Zoon politikon ist demnach nicht gleichbedeutend mit animal sociale.) Im Vordergrund steht also bei Aristoteles die Wesensbestimmung des Menschen im Verhältnis zur Polis. Außerhalb des "staatlichen" Zustands gibt es keine "Natur", weil die kleineren gesellschaftlichen Einheiten wie Hausverwaltung (oikonomia) und Ehe (gamike) gewissermaßen Strukturkerne ausbilden, die ihre Wesensart erst im höheren Ganzen der Polis garantiert finden. (Zum Problem des "Anfangs" der Polis vgl.: M. Riede!, Zum Verhältnis von Ontologie und politischer Theorie bei Hobbes, in: R. KoseHeck IR. Schnur (Hg.), 109f.) Als der der Bestimmung des Menschen entsprechende Zustand gilt hier ausschließlich das Allgemeine, die Polis, mit der jedem Bürger auferlegten Norm, das Gerechte zu verwirklichen. 41 "Die sittliche Grundlage des ,Pactum' der Monarchomaehen ist also die gleiche, wie die Legitimität: Eine höhere Gerechtigkeit." (J. Dennert (Hg.), Einleitung, LXII.) Für J. W. Allen (A History of Political Thought in the Sixteenth Centu.ry, 1928, 3. Auflage: London 1951) ist die Theorie der Vindiciae viel eher mittelalterlich als protestantisch (303). Die calvinistische politische Theorie insgesamt leite sich nicht von Calvin, sondern von der Denkweise des späten Mittelalters her (William of Occam, Niebolas of Cusa, Thomas of Aquinas) (313). Auch stellt Allen den Zusammenhang zwischen Marsilius von Padua (Defensor Pacis) und den Vindiciae her (327). Bezüglich Marsilius siehe: Fußnote 47. · 42 R. Saage, 109.
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Individualrechten beruhrenden abstrakten Forderungskatalog führt, ist das eigentlich revolutionäre Denken. Dieser im Gefolge der calvinistischen Reformation sich ausbildende ahistorische Denkstilliegt also im Keim bereits in der Niederländischen Revolution vor. Hier trifft er mit den Bedingungen des Frühbürgertums43 auf politisch-revolutionäre Weise zusammen44. Das städtische Bürgertum ist nicht mehr bereit, seinen Anspruch auf freie Verfügbarkeit über Handelsund im Ansatz schon Manufakturkapital durch den spanischen Absolutismus einschränken zu lassen. Der Bildersturm von 1566, der ähnlich wie der deutsche Bauernkrieg von unteren Schichten ausgeht, wird zwar gemeinsam durch Bürgertum, Adel und Regierung blutig unterdrückt, doch setzt sich im weiteren der Gegensatz zum Absolutismus, der Republikanismus, durch. Die städtische Plebs bildet - wie in Deutschland die leibeigenen Bauern die Schubkraft revolutionärer Entwicklung. Während das deutsche Bürgertum nicht mehr von der Allianz mit dem Fürsten abläßt, der ihm Besitzerweiterung im regionalen Rahmen garantiert, gebietet das niederländische Bürgertum dem spanischen Hegemoniestreben Einhalt und bleibt nicht bei einer reformatorischen Schwächung des Spätfeudalismus stehen, sondern kämpft gegen diesen frontal an. Ausdruck dieses politischen Kampfes ist der schrittweise Abfall der Nordprovinzen bis zur förmlichen Absetzung Philipps II. als niederländischen Souverän im Jahre 1581. Bei allen Auseinandersetzungen mit der Fremdherrschaft hatte die niederländische Bourgeoisie ihren Bündnispartner, den Adel, fest im Griff. Im Gegensatz zu Deutschland resultierte aus dieser Kräftekonstellation die erste große politische Revolution. Für den Adel gab es kein Zurück mehr. Hatte in Deutschland letztlich der Adel die Bourgeoisie dominiert, und konnte deshalb die Revolution nicht vollendet werden, war es in den Niederlanden vielmehr umgekehrt45: Die reformatorische Saat erbrachte hier zur Gänze eine revolutionäre Ernte. Der Zusammenhang von Reformation und Revolution besteht also zu diesem frühen Zeitpunkt historisch nur für die Niederlande. Die Antifürstenstellung wird hier in größerem Ausmaß von städtischen Zentren getragen und nicht wie im "Reich" von einem Landadel. In Frankreich hat der Gegensatz zwischen den Konfessionen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine andere Entwicklung genommen. Hier trafen die sozialgeschichtlichen Bedingungen der "frühbürgerlichen Revolution" wie in den Niederlanden (im 16. Jahrhundert) und in England (im 17. Jahrhundert) nicht zu. Der französische Bürgerkrieg hat das Land bis hart 43 Bereits zitiert in Anmerkung 8: G. Brendler, Zur Problematik des frühbürgerlichen Revolutionszyklus, in: M. Kossok (Hg.), 39f. 44 Siehe: Fußnote 8. 45 G. Brendler, 43.
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an den Abgrund geführt und ein Klima der Unversöhnlichkeit zwischen den rivalisierenden Kräften geschaffen. In einer solchen Situation vermag der (absolute) Staat ·als ein Mittler erscheinen, der die intoleranten, miteinander im Streit liegenden Klassen zur Raison bringt und die Anerkennung seiner Souveränität erzwingt. Es ist die Zeit Bodins, in der sich die Frage geradezu aufdrängt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, daß ein Gemeinwesen funktioniert. - Bodin ist es dann auch, der den Staat durch seine Zweckbestimmung, den Bestand der Gemeinschaft zu garantieren, definiert: "Die Republik ist eine, untereinander eine Gemeinschaft bildende und durch höchste Gewalt und Vernunft ausgestattete Menge von Familien und Sachen46." Schon Marsilius von Padua hat einen methodischen Ansatz gewählt, der Herrschaft formal bestimmt - und zwar über die Frage, was Herrschaft rechtfertigt: die Notwendigkeit der Gesetzgebung. Der Gesetzgeber sei der wahre Souverän47 • Bodin nun bezieht die Frage nach der Souveränität auf 46 J . Bodin, De republica libri sex, latine ab autore redditi, multo quam antea locupletiores.- Parisiis, Jacobus Du Puys 1586. P. Graf Kielmansegg (Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität, Stuttgart 1977, 86) zitiert aus: R. W. und A. J. Carlyle, A History of Medieval Political Theory in the West, Bd. 6, 418. Die Zitate wurden von mir aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt. 47 Sein in "Defensor Pacis" (1324) niedergelegtes Konstruktionsprinzip, der Kausalnexus, verlangt eine Antwort auf die Frage, was als causa effectiva prima für die Ausübung von Herrschaft anzusehen ist. Marsilius unterscheidet zwischen göttlicher und weltlicher Legitimität: "In den meisten Fällen und fast überall bildet Gott die Regierungen durch den Geist der Menschen, denen er die Entscheidung über eine solche Einsetzung überlassen hat. Welches diese Ursache ist und mit welcher Handlung sie solche Gewalten einsetzen muß, kann durch menschlichen Gewißheitsbeweis aus dem, was für den Staat besser oder schlechter ist, festgestellt werden." (Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens (Defensor pacis), lateinisch und deutsch, übersetzt von W. Kunzmann, eingeleitet von H. Kusch, Berlin (Ost) 1958, Teil I, Kap. IX, § 2, 81.) Die "entfernte Ursache" jedoch, Gott als Urheber irdischer Macht, sei keiner Beweisführung zugänglich. "Sondern wir nehmen es in schlichter Gläubigkeit ohne verstandesmäßige Begründung hin." (Ebenda, 79.) Da über die göttliche Legitimität nichts weiter ausgesagt werden könne, müsse man sich auf die Darstellung "von der Gesetzgebung und der Einsetzung der Regierung, die unmittelbar aus der Entscheidung des menschlichen Geistes hervorgehen", konzentrieren. (Ebenda, Teil I, Kap. XII, § 1, 117 und 119.) Marsilius' Bestimmung der Ursache von Herrschaft, die Gesetzgebung, ist aber mit einem Begriff von "Volk" zusammengedacht, der ihn als in die Nähe der modernen Volkssouveränitätslehre gelangend erscheinen läßt: "Gesetzgeber oder erste und spezifische bewirkende Ursache des Gesetzes ist das Volk oder die Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit durch ihre Abstimmung oder Willensäußerung, die in der Vollversammlung der Bürger in einer Debatte zum Ausdruck gekommen ist; diese Mehrheit schreibt vor oder bestimmt unter zeitlicher Buße oder Strafe, daß im Zusammenleben der Menschen etwas getan oder unterlassen werden soll ... " (Ebenda, Kap. XII, § 3, 119.)- Der Bedeutungswandel des Begriffs "Volk" (populus) erfolgte bereits vor Marsilius, während "Souveränität" als Begriff, eine Abwandlung des Wortes "superior", nach ihm, und zwar erst im 16. Jahrhundert in Frankreich auftritt. F. A. Freiherr v. d. Heydte (Die Geburtsstunde des souveränen Staates, Regensburg 1952) und A. Dempf (Sacrum imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der Politischen Renaissance, 4. unveränderte Auflage, München- Wien 1973, 209) glauben allerdings die "Volks"-Souveränitätslehre erstmals bei Johannes Quidort von Paris, 1303 (De regia potestate et papali; Über königliche und päpstliche Gewalt: Textkritische Edition mit deutscher Ubersetzung,
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die des Zusammenhalts der Gesellschaft. Für ihn gilt die Existenz des Gemeinwesens nur dann als gesichert, wenn sie in "majestas" gründet. "Majestas" sei "die in Bezug auf die Bürger und Untergebenen höchste und von den Gesetzen unabhängige Gewalt"48. Darin nun, daß Bodin die höchste Gewalt über die Staatsbürger und ihre Gesetze stellt, entfernt er sich vom mittelalterlichen Gesichtspunkt eines Primats der "Teilhabe an der Gesamtheit". Die Herrschaft müsse alle Gewalt bei sich vereinen, um das soziale Ganze zusammenzuhalten. Dieser Perspektivenwechsel von teilnehmender zu nichtteilnehmender Gesamtheit an der Herrschaftsausübung steht freilich im Zeichen des Absolutismus. Der absolutistische Staat soll sich durch ständische Privilegien nicht mehr eingeschränkt fühlen, wie immer diese traditionelllegitimiert sein mögen4 9. Wenn es auch die Gesamtheit ist, die allein Herrschaft zu rechtfertigen vermag, folgt daraus für den Absolutismus nicht, daß sie auch an dieser Herrschaft teilnimmt. Die Differenz zwischen der Legitimierung von Herrschaft durch die Gesamtheit und dieser Herrschaft selbst bleibt Stuttgart 1969) ausgesprochen zu finden, wogegen Marsilius sie nur zur Mehrheitssouveränität ausbaute. An Hand einschlägiger Textstellen von Quidort weist F. Bleienstein nach, "daß Quidort zwar ein klares Bewußtsein von der Souveränität des Volkes entwickelt hatte, damit aber auf dem Gebiet der Staatstheorie merklich zurückhielt und sie nur in sehr gemäßigter Form vertrat oder vertreten wollte, um die Position des (französischen) Königs nicht zu schwächen". (F. Bleienstein, Zur Säkularisierung der Staatsidee, in: Konkretionen politischer Theorie und Praxis, 35.) 48 "Die höchste Macht ist daher gleichsam der Angelpunkt des Staates, worauf sich Verwaltung und die Gesetze stützen und durch dessen Kraft und Macht die Organe, Körperschaften, die Familie, die einzelnen Bürger wie in einem Körper zusammengehalten werden." (Siehe: Fußnote 46.)- "Es ist eindeutig, daß die Souveränität nach ihm (Bodin, W. E.) ein Begriff ist, der einem (Hervorhebung von mir) Herrscher zukommt, weil sonst die Momente der Absolutheit und der Ständigkeit nicht erfüllt sind und damit die Definition hinfällig wird." (J. Dennert, Bemerkungen zum politischen Denken Jean Bodins, in: Jean Bodin, Verhandlungen, 225, Fußnote 36.) 49 Die zeitgenössischen Religionskriege haben Bodin darin überzeugt, daß die ständische Beteiligung an Herrschaft zu ihrem Zerfall beiträgt und der Anarchie Tür und.· Tor öffnet. (Hiezu: J . H. M. Salmon, Bodin and the Monarchomachs, in: Jean Bodin, Verhandlungen, 361.) Im Gegensatz also zu den calvinistischen Monarchomachen, für die die Stände als Repräsentations01:gane des Volkes dem König übergeordnet sind und dessen Rechte und Pflichten in Ubereinstimmung mit den Gesetzen Gottes und der Natur selbst überwachen, basiert Bodins Souveränitätskonzept auf der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Herrschers, ohne selbst diesen Gesetzen unterworfen zu sein. Bodins Lehre duldet keine Teilung der politischen Gewalt des Souveräns mit den Ständen. Überhaupt hat man den Eindruck, als wären die Grundzüge der "Six Livres de la Republique" in Opposition zu den Monarchomaehen geschrieben. (J. H. M. Salmon, ebenda.) Dabei sollten Bodins absolutistische Neigungen nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch er den Ständen unverzichtbare gesellschaftliche Funktionen zuschreibt. So hebt Bodin hervor, "daß eine Anhörung der Stände und ihre Zustimmung zwar nicht eine Sache der necessitas, aber der humanitas sei". "Estats du peuple", "corps" et "Colleges" "dienen zu Schutz und Verteidigung des Fürsten, bewilligen ihm Steuern, sichern die Aushebung von Truppen. Sie ermöglichen, daß der Fürst die Beschwerden seiner Untertanen hört und die Schäden in seinem Land erfährt." (U. Scheuner, Ständische Einrichtungen und innerstaatliche Kräfte in der Theorie Bodins, in: Jean Bodin, Verhandlungen, 395.)
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also in der Neuzeit bestehen, nur haben sich im Absolutismus die Vorzeichen geändert. Diese Staatsauffassung lehnt die Herrschaftsausübung durch die Stände, die das Volk, die Nation bilden, deshalb ab, weil sie darin die Tendenz zu Zersplitterung und Machteinbuße erblickt. Das hindert sie jedoch nicht, im Wege der Abstraktion die Gesamtheit als Legitimierungsinstanz vorauszusetzen, um Herrschaft als ein exklusiv-monolithisches Gewaltverhältnis zu begründen. Ständische Herrschaftsformen, die auf ererbter Privilegienordnung beruhen, bedeuten die Machtteilhabe der erst teilweise von der Gewaltmonopolisierung betroffenen Herren, die in ihren Herrschaftsbereichen "rechte Gewalt" immer noch ausüben. Ihnen stellt sich, insbesondere in Frankreich, die absolutistische Legitimierungsideologie entgegen, deren wenngleich unterschiedliche Explikationsformen allemal darauf abstellen, die Notwendigkeit einer Übertragung der Verfügungsgewalt an ein spezifisches Zentralorgan zu begründen. Hier steht man auf dem Standpunkt, daß die politische Macht an einem Ort und in einer Instanz zusammengezogen, unteilbar und als solche allgewaltig sein müsse. Die Gesamtheit, in der ursprünglich alle Gewalt beschlossen lag, soll paradoxerweise legitimieren helfen, daß durch sie Herrschaft auf Dauer nicht gewährleistet sein kann. Sie müsse auf ihren originären Machtanspruch verzichten. Das Paradoxe dieser Aussage erklärt sich aus der Umkehrung der alten Staatsauffassung: Dort wird von einem "natürlichen" Zustand der Hinordnung auf die Gesamtheit (=Stände) als Basis von Herrschaftsgewalt ausgegangen, hier soll die Gesamtheit die Legitimierungsfunktion übernehmen für eine Herrschaft, an deren Ausübung zu partizipieren ihr versagt ist. Durch dieses Umkehrverfahren hat sich das Naturrecht mit sich selbst in Gegensatz gebracht. Als "Natur" wird nun auch bezeichnet, was früher schlicht als "Un-Natur", resp. Unmöglichkeit zu denken, gegolten hätteso. Darauf wird- im Zusammenhang mit Hobbes- nochmals zurückzukommen sein. Vor Bodin ist Herrschaft noch nicht in der Weise definiert worden, sowohl absoluten wie auch dauerhaften Wesens zu sein51. Erst die absolutistische 50 Mit "früher" ist hier die aristotelische Auffassung gemeint, worauf in Fußnote 40 eingegangen wurde. Als umfassendes Unternehmen 'ideeller Naturrechtstheorie, welche die Differenz zur existentiellen Basis des Menschen selber in die Reflexion aufnimmt, ist sie zum Prototyp geworden, gegen den sich die individualistischen Ansätze moderner Herrschaftstheorien richten. Später wird auf den gravierenden Denkumbruch in der Deutung des Naturzustands näher eingegangen, wie er durch den Ansatz von Hobbes augenscheinlich geworden ist. Hobbes entwickelt den Naturzustand des Menschen über ein Denkverfahren, das kraft seines methodischen Stellenwerts aus ihm gerade herausführen soll. Nicht nur, daß es sich hiebei um eine Fiktion handelt, dient der Naturzustand auch dazu, der Vernunft gegenübergestellt zu werden. Natur ist hier ein begriffliches Konstrukt, das die Vernunft auf den Plan ruft, um sich ihr entgegenzustellen.
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Legitimierungsideologie soll erklären helfen, warum keine andere als die die Gesamtheit ausschließende Herrschaftsgewalt möglich ist. Hobbes schließlich führt die Geltung einer unteilbaren, allerhöchsten Staatsgewalt auf die Idee einer Verzichtleistung zurück: Die Gesamtheit habe sich aus freien Stücken um ihr Recht auf Herrschaftsteilhabe gebracht. Bodins Zuspitzung auf die Souveränitätsfrage stellt sich als Problem ebenso der gegen den Absolutismus ankämpfenden Bewegung. In der Niederländischen Revolution läßt sich die Legitimierung einer auf religiöser Toleranz und Anerkennung der alten ständischen Rechte basierenden Herrschaft nicht mit der Ideologie von einem absoluten Königtum vereinbaren. (Der spanische König und seine niederländische Staathalterschaft verhinderten ja gerade eine solche Entwicklung. Demnach mußte sich die Souveränitätsfrage in eine Richtung entwickeln.) Die niederländischen Stände fordern politische Beteiligungsrechte zuzüglich religiöser Toleranz, was ihnen der König kraft seiner Souveränität und legislativen Kompetenz verwehrt. Unter Umgehung einer präzisen Definition dessen, was Souveränität ist, verhalten die Aufständischen sich jedoch so, als läge diese ganz bei ihnen. Erst seit 1587 setzen sie argumentativ "Souveränität" mit der Verfassung gleich, deren Grundlage der von den calvinistischen Monarchomaehen angenommene Herrschaftsvertrag bildet. Mithin unterscheidet sich diese Auffassung von Bodins Souveränität als einem von der Verfassung abgehobenen Prinzip mit dem ausschließlichen Recht der Gesetzgebung52. Was sich in den Niederlanden bereits als praktisches Problem des Ringens um ausschließliche (absolute) Herrschaftsgewalt abzeichnet, jedoch noch einmal im Sinne der Legitimitätsansicht eines durch die Stände "repräsentierten" "Volkes" entschieden wird, hat in Frankreich seine absolutistische und in England letztendlich demokratische "Lösung". Bodins formale, an der Gesetzgebungskompetenz anknüpfende, unteilbare Souveränität erscheint dort in der Instanz des absoluten Staates, der allein religiöse Toleranz zu garantieren und den Bürgerkrieg zu beendigen vermag, hier in Form der Volksvertretung im Parlament. Bodin steht also geistesgeschichtlich genau an dem Punkt, wo der Souverän nur zuzugreifen braucht, die summa potestas gegen alle Formen partikularer Machtbestrebungen in die Hand zu nehmen. Die Frage ist nur, ob Fürsten- oder Volkssouveränität53. J. Dennert, Bemerkungen zum politischen Denken Jean Bodins, 230. "Für die Aufständischen in den Niederlanden liegen keine Hinweise dafür vor, daß sie sich von der Rechtskonzeption der calvinistischen Monarchomaehen distanziert hätten: in den ,Vindiciae' aber wird das mittelalterliche Rechtsverständnis reproduziert, wonach die positiven Gesetze nichts weiter sind als eine Art ,Ausführungsbestimmung' der Gesetze Gottes und der Natur." (R. Saage, 243.) 53 Siehe Fußnote 47 mit den Hinweisen zur "Volkssouveränitätslehre" und zu Marsilius von Padua. 51
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Die Chance einer absolutistischen Herrschaft ergibt sich in dem Maße, als die strukturelle Verflechtung der Gesellschaft eine Dynamik begünstigt, der N. Elias den Namen "Königsmechanismus" gab: "Die Stunde der starken Zentralgewalt innerhalb einer reich differenzierten Gesellschaft rückt heran, wenn die Interessensambivalenz der wichtigsten Funktionsgruppen so groß wird und die Gewichte sich zwischen ihnen so gleichmäßig verteilen, daß es weder zu einem entschiedenen Kompromiß, noch zu einem entschiedenen Kampf und Sieg zwischen ihnen kommt54." N. Elias hat den Prozeß der Staatenwerdung insbesondere am Beispiel Frankreichs eindrucksvoll beschrieben55. Die Entstehung des modernen Flächenstaates gehe auf die um die Jahrtausendwende einsetzenden Konkurrenzkämpfe um die politische Macht zurück. Die einzelnen auf Dominialbesitz gründenden Herrschaften bemühten sich um politische Vormachtstellung im Rahmen eines Territoriums. Zunächst haben die einzelnen, weit voneinander entfernt liegenden Grundherrschaften ihre Besitzungen vermehrt. Je näher sie einander kamen, umso existenzbedrohender wurden sie füreinander. Die politische Vorherrschaft in einem bestimmten Gebiet konntenuteiner auf Kosten der anderen gewinnen. Sich dem Konkurrenzkampf entziehen wollen hieß, bezüglich Besitz, Verteidigungsstellung und finanziellem Potential den kürzeren ziehen. Dem politischen Monopolisierungsinechanismus war im Grunde jeder ausgesetzt. Schließlich reproduzierte sich der Kampf um Hegemonie auf höherer Stufenleiter: Wurde die ,Vormachtstellung im kleineren Gebiet erreicht, erfolgte ein neuerlicher Anlauf im weiteren Umfeld56. 54 N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation (1939), Frankfurt 1977, Bd. 2, 236. Materialien - auch zu methodischen Fragestellungen - zu Norbert Elias' Zivilisationstheorie, der wir hier folgen, finden sich in dem gleichlautenden Sammelband, herausgegeben von P. Gleichmann, J . Goudsblom und H. Korte, Frankfurt 1979. 55 Abschnitt: Zur Soziogenese des Staates, 123- 311. 56 Elias hält dabei stets am konkret historischen Bezug fest: Das westfränkische Reich ist schon im 12. Jahrhundert in eine Reihe unterschiedlicher Herrschaftseinheiten zerfallen, die allesamt frei vom kaiserlichen Ehrenprimat sein wollten. Der König, der zunächst nichts anderes ist als ein großer Feudalherr, der die anderen Grundherrn im Machtkampf ausschaltete, beansprucht auch nach außen hin Souveränität. Zugleich wehrt er sich gegen die päpstliche Gewalt, die ihm seinen Rang streitig machen möchte. Ähnlich wie in Frankreich entwickeln sich auch in England Zentralisierungstendenzen. Zur Zeit Wilhelm des Eroberers ist England selbst Territorialherrschaft des westfränkischen Reiches. Im Zuge weiterer Monopolisierung bildet sich schließlich eine eigenständige Monopolherrschaft heraus, die sich umgekehrt nach Frankreich hin ausdehnt. Im deutsch-römischen Imperium ist die Entwicklung hegemonistischer Ausweitung ursprünglich getrennter Territorien gehemmt worden. Die Größendimension des Reichs und die viel größeren Interessensgegensätze als im westfränkischen Gebiet haben zwar denselben Konkurrenzmechanismus entfachen lassen, ohne jedoch eine Hegemonisierung resp. Monopolisierung nach sich zu ziehen, im Gegenteil: Einzelne Hegernone verbrauchten sich in den neuerlichen Anläufen zu mehr Vorherrschaft;
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Mit der Herausbildung einer Zentralgewalt ist langfristig auch das Militär- und Steuermonopol entstanden. Beide bildeten die eigentliche Voraussetzung einer Herrschaftseinheit, die wir Staat nennen können. Zunächst bezog der Zentralherr die Einnahmen aus seinem persönlichen Haus- oder Dominalbesitz, d.h. der Staatshaushalt entwickelte sich ursprünglich aus dem "Privathaushalt" der Krondomänen. Je größer jedoch das Land, das dem Zentralherrn zu freier Verfügung stand, desto unübersehbarer auch seine Bewirtschaftung und Verwaltung. Ab einem bestimmten Punkt der Besitzgröße mußte also das Herrscherhaus Machtbefugnis an Verwaltungsbeamte delegieren. Dadurch wurde der König seinerseits abhängig und auf den Verwaltungsstab und seine Effektivität angewiesen. Die Notwendigkeiten, ein großes Land zu regieren und gegen äußere Feinde zu schützen, erforderten einen immer größeren Monopolapparat, der schließlich- der "privaten" Hof- und Domänenverwaltung entwachsen"öffentlich" geworden ist. Dies ist der wesentliche Schritt in Richtung "neutrale" Staatsmacht57. Der die öffentliche Gewalt für Gemeinschaftszwecke einsetzende Staat bewahrt seine Stellung auch dadurch, daß er zwischen konfligierenden Gruppen, Ständen, Schichten oder Klassen vermittelt, ohne dabei eine Harmonie herbeiführen zu wollen. Immer dann, wenn Interessensgegensätze manifest und womöglich in Form gewalttätiger Auseinandersetzungen ausgetragen werden, tritt der Staat in seiner Funktion als interessensausgleichende Instanz auf. Bilden Beherrschte hingegen mächtige Allianzen, so muß der Staat Gegen-Allianzen fördern, um den Widerspruch der einzelnen Akteure untereinander größer zu machen, als es der zwischen Staat und Beherrschten ist. Herrschaft erhält sich am Leben, indem die zahlenmäßig stets stärkeren Beherrschten sich spalten. Ihre partikularen Bestrebungen erlauben es nicht, Herrschaft abzuschütteln, solange diese aus der Uneinigkeit jener Nutzen zieht58. Als oberste Regulations- und Koordinationsstelle hat der Staat eine Funktion erworben, die ihn vor allen anderen. unentbehrlich werden läßt. Mächtigen Widerparten gegenüber muß er mit der Bevorteilung anderer Haus- oder Dominialgut gingen als Machtbasis verloren. Dezentralisierung war die Folge. Die auf weite Sicht entstandene Verfestigung zentrifugaler Kräfte brachte es mit sich, daß noch Kaiser Karl V. von der Gunst lokaler Ständeversammlungen abhängig war, Steuern einzutreiben oder nicht. König Franz I. hingegen hatte schon längst das uneingeschränkte Steuermonopol. 57 Der Staat ist also aus dem gewalttätigen Ausscheidungsverfahren verschiedenster Einzelherrschaften hervorgegangen. Es gab für keinen ein Zurück: Alle Grundherrschaften wurden in den Konkurrenzkampf verwickelt. Jeder mußte, um zu überleben, den anderen auszuschalten versuchen. Jedoch einer nur, der Stärkste, konnte siegen. 58 N. Elias, 237ff.
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antworten, um diese mehr an sich zu binden und jene in die Schranken zu weisen. In jedem Fall aber bemüht sich der Staat um innergesellschaftliche Balance, nicht weil ihm an einem Miteinander der einzelnen Interessensgruppierungen liegt, sondern im Gegenteil, am Gegeneinander. Nur sollen diese Gegensätze ein Gleichgewicht bilden, das herzustellen eben die Aufgabe des Staates ist. Mit der Herausbildung einer Hyper-Herrschaft, eines Hegemons, ist also auch die Funktion der Bestandserhaltung und die Notwendigkeit einer Balanceapparatur verbunden. Historisch gesehen ist dies der Übergang zum Absolutismus. Es ist die Zeit, wo die Stände endgültig und nach langem Ringen den Ansprüchen des Monarchen nach unbedingter und ungeteilter Gewalt unterliegen oder aber, wie im Falle der Niederlande bzw. Englands, eine bürgerlich-revolutionäre Entwicklung einleiten, die dem aufkommenden Absolutismus den Boden entzieht. Während in Frankreich unter Mazarin und Ludwig XIV. der Absolutismus beinahe seine ideale Form erlangt, kommt es bei den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in England längerfristig eben doch zu einem "entschiedenen" Sieg, der nach Elias das Kriterium einer nicht-absolutistischen Verfassung bildet. In Frankreich scheitern alle Revolten und Bürgerkriege, soweit sie sich zum Ziel setzen, den Entscheidungsspielraum des Regenten einzuschränken. Die Rivalitäten und Interessensgegensätze der zum Aufstand bereiten Gruppen untereinander sind so groß, daß ein gemeinsames Vorgehen gegen den Souverän unterbleibt. "Jede von ihnen möchte das Königtum zu ihren Gunsten beschränken und jede von ihnen ist gerade stark genug, um zu verhindern, daß das einer anderen gelingt. Sie alle halten sich gegenseitig in Schach und finden sich dementsprechend am Ende wieder, resigniert, in die gemeinsame Abhängigkeit von einem starken König59." Im Gegensatz zur frühbürgerlichen Revolution in den Niederlanden, wo das expandierende Kaufmannskapital einen mächtigen dritten Stand schuf, der als einheitliche Klasse den spanischen Absolutismus hinwegfegte, sind die materiellen Bedingungen in Frankreich andere. Hier stehen die feudalen Fesseln einem heraufziehenden Kapitalismus noch im Wege. Das Zeitalter der Glaubenskriege wirft die bürgerliche Bewegung noch um ein weiteres zurück. Dies gilt gerade auch für die deutschen Lande. Die Englische Revolution, der wir uns nun widmen, umspannt ein Konfliktfeld, das sich zunächst am Gegensatz von Königtum und parlamentarischer Entscheidungsgewalt entzündet. Der legitimatorische Argumentationszusammenhang der Royalisten ist weiterhin ein traditionell-natur59
Ebenda, 250.
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rechtlicher. Durchaus im Sinne von Aristoteles wird der Mensch als auf das Gemeinwesen bezogen gedacht. Für die Royalisten beruht herrschaftliche Gewalt nicht auf Übereinkunft der Menschen, sondern auf dem Willen Gottesso. Hiezu gehört ihre antiaristotelische Analogiebildung zwischen patriarchalischer Befehlsgewalt des Herren über das ganze Haus und der königlichen Herrschaft über das Volk6 1• Als materielles Korrelat dieser Auffassung erweist sich die "natürliche" Ordnung feudalen Grundbesitzes mit dem wirtschaftlichen Ziel der Selbstversorgung. Anders die durch das Parlament vertretenen Handels-, Gewerbe- und Manufakturinteressens2. Die im Zuge fortschreitender Kapitalisierung sich anbahnende ökonomische Entwicklung läßt die formal-rechtlichen Bedingungen des auf privater Akkumulation beruhenden Produzierens auch auf die Argumentationsebene der Rechtfertigung von Herrschaft beziehen. Der privatrechtliche Vertrag wird schließlich zum Modell des Gesellschaftsvertrags genommen. Damit erfolgt aber ein Bruch im traditionellen Denken. Herrschaft beruht nun nicht mehr auf der konstitutiven Grundlage einer im Einklang mit dem Willen Gottes und den Gesetzen der Natur stehenden Ordnung, sondern basiert auf einem ursprünglichen Vertrag, der durch die Übereinkunft von Freien und Gleichen eingegangen wurde. 60
R. Saage, 151 und f.
Aristoteles' Trennung von oikos und polis zeugt geradezu von einem Strukturgegensatz von väterlicher und politischer Gewalt. Neben der Herrschaftsform, die sich nach den Regeln guten und gerechten Lebens aus der Beziehung freier Bürger im "Staate" (Aristoteles, 93, 1279a 21.) ergibt, hat Aristoteles auch noch ein anderes zwischenmenschliches Verhältnis vor Augen, das "von Natur aus" gilt: die Herrschaft vom Herrn über den Knecht. Die dem Begriff inhärente Bedeutung stellt Aristoteles in Gegensatz zur "R~gierung des Staatsmannes", die eine "über Freie und Gleichgestellte", diejenige des Herren (Herren-Herrschaft) hingegen "eine solche über Sklaven" ist. (Aristoteles, 19, 1255 b 15- 20.) Die Herren-Herrschaft der Hausverwaltung kann freilich auf die Beziehung von Sklaven und "Haushofmeistern" eingeschränkt werden, dann nämlich, wenn es die Herren "nicht nötig haben, sich selbst damit zu placken", um sich "mit der Politik oder mit der Philosophie (zu) beschäftigen". (Aristoteles, 20, 1255 b 36 - 38.) Diese Klassenlehre ist es, die Aristoteles gerade das Legitimationsproblem lösen läßt. Politische Herrschaft hebt sich zwar von Herren-Herrschaft ab, die unbeschränkter und unbegrenzter Verfügung über ("von Natur") Unfreie mächtig ist; doch baut sie zugleich auch auf ihr auf. Die "bürgerliche Gesellschaft" basiert- aristotelischer Lehre gemäß - auf in häuslichen Gemeinschaften die bürgerliche Existenz sichernden, lebenserhaltenden Arbeiten. Diener, Sklaven und Leibeigene gehören dem oikos ebenso an wie Taglöhner, für Lohn arbeitende Handwerker und Frauen. Diese alle gehören der koinonia politike nicht an, weil sie ein Teil des Hauses sind und ihnen deshalb die politische Stellung fehlt, die für den "staatlichen" Bereich in Frage kommt. 62 Zur Interpretation und Analyse der zur Revolution hinführenden Entwicklung siehe vor allem: Ch. Hill, Puritanism and Revolution. Studies in Interpretation of the English Revolution of the 17th Century, London 1958. Wie schwer freilich eine Rekonstruktion der Zuordnung ökonomischer Interessen der einzelnen Members of Parliament ist, davon zeugt insbesondere Hills Auseinandersetzung mit diesbezüglichen Interpretationen des Bürgerkriegs im Unterabschnitt IV von Kap. 1, 14- 21. Siehe auch: Ch. Hill, The Century of Revolution 1603 - 1714, Edinburgh 1961. 61
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Herrschaft ist dieser Auffassung gemäß nicht bereits Voraussetzung, sondern entsteht erst durch den Willen der Menschen. Vor Vertragsschluß sind die Menschen offenbar herrschaftsfrei, "natürlich". Erst durch den Herrschafts- und Gesellschaftsvertrag erfolgt das gemeinschaftliche Zusammenleben nach dem Willen der einzelnen. Das Leben ist damit in die Hände der Menschen gelegt und ihr "künstliches" Produkt. Dieser Übergang vom traditionellen zum individualistischen Naturrecht in der Englischen Revolution erfolgt bereits in den Streitschriften von Parlamentaristen63, noch bevor Th. Hobbes diesen Topos übernimmt. "Natur" ist nun nicht mehr die Einheit von Einzelnen und Gesamtem, sondern der Zustand der Abstraktion vom Gesamten. Die Einheit der Individuen mit dem Gesamten ist jetzt ein Werk der einzelnen selber und bedeutet gerade die Preisgabe eines als "natürlich" begriffenen Zustandes. An die Stelle aristotelischer "Natur" ist eine abstraktive "Natur" getreten, und zwar gerade zu dem Zweck, sie hinter sich zu lassen64.- Der Mensch als Individuum, als ein auch von der Gesellschaft losgelöst gedachtes Wesen, feiert seine Urstände. Wenn es so ist, daß das Volk seinen Herrscher beauftragt hat, für die Sicherheit aller Sorge zu tragen, so läßt sich als extreme Argumentationsform daraus ableiten, daß im Grunde das Volk darüber entscheidet, ob diese Sicherheit gewahrt ist. Der König übt dieser Ansicht gemäß bloß sein Herrschaftsrecht aus, das ihm wieder genommen werden kann, wenn das Volk es will. Aus der "bloßen Freiheit und dem Recht frei geborener Menschen, regiert zu werden, wie sie es für angemessen halten", folgt für John Milton, der damit den Rahmen alteuropäischen politischen Denkens sprengt, den König "so oft, wie es (das Volk, W.E.) dies für notwendig hält, entweder zu wählen oder abzuweisen, ihn zu beschäftigen oder zu entlassen, obwohl er kein Tyrann ist"65. Gewiß läßt sich das individualistische Naturrecht auch gemäßigter interpretieren, wobei insbesondere für das Widerstandsrecht gegen den König Einschränkungen gemacht werden. Doch bildet es selbst für den rechten Flügel der parlamentarischen Opposition, die Presbyterianer, die ideologische Plattform. Was den Zeitabschnitt der sogenannten "Großen Rebellion" (1642-1649) angeht, umfaßt das Manövrierfeld in seiner Ausgangslage zwei HauptakR. Saage, 153f. Siehe 17 und Fußnote 50. 65 J. Milton, The Tenure of Kings and Magistrates, London 1648, 13, zit. nach R. Saage, 159.- "The strength and originality of 'The Tenure' come from its frank acceptance of revolution as a force in history. Milton was one of the first Englishmen publicly to defend the right of the people to call their kings to account, just as in 1660 he was to be the last Englishman to nail his colours to the republican mast." (Ch. Hill, Milton and the English Revolution, New York 1978, 167.) 63 64
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teure: die eine politische Beteiligung fordernden Puritaner ("Rundköpfe") einerseits und die den absolutistischen Kurs des Königs unterstützenden, royalistischen "Kavaliere". Im Fortgang der Auseinandersetzungen verändert sich diese Grundstrukturss. Je nach besonderen Interessen spaltet sich die bürgerlich-reformatorische Bewegung der Puritaner in Independente und Presbyterianer auf. Erstere repräsentieren die Interessen von Gewerbe und Manufaktur- hinzu kommt noch der sogenannte "Neue Adel" im Heer-, letztere zumeist die des Handelskapitals; sie stützen sich auf die parlamentarische Vertretung und auf die höheren Offiziere im Heer67 • Die ideologischen Unterschiede von Presbyterianern und Independenten beziehen sich insbesondere auf die Auslegung parlamentarischer Souveränität und die Religionsfreiheit. Die Presbyterianer anerkennen zwar die über den freien Willen des Volkes hergeleitete Souveränität des Parlaments, doch verstehen sie diese als identisch mit der Volksso~veränität6B. Darüber hinaus halten sie an der Monarchie und dem "House of Lords" auf dem Stand von 1641 fest. Gegenüber den Sekten und Radikalen, die sich überwiegend aus den Unterschichten rekrutieren, fordern sie eine einheitliche Staatskirche, welche Abweichungen von den durch sie repräsentierten Glaubenswahrheiten unterbinden soll. Demgegenüber bekennen sich die Independenten zur Religions- und Meinungsfreiheit, zumindest so lange, als sie bis zu ihrer Machtübernahme der Unterstützung auch der sektiererischen Gruppen bedürfen. Als überzeugte Vertreter der Volkssouveränität stehen sie bezüglich der Anfälligkeit für Machtmißbrauch dem Parlament genauso skeptisch gegenüber wie dem König. Die Heeresreform ("New Model Army"), die den Independenten unter Cromwell gegenüber den Presbyterianern ein Übergewicht verschaffte, ermöglicht einen Sieg (über die Royalisten) im darauffolgenden Bürgerkrieg (1644- 45). Danach gelangt der Gegensatz zwischen Independenten und Presbyterianern vollends zum Durchbruch (1646- 47). Wieder geht es um das Heereswesen, das zur Domäne der Independenten geworden ist. Die Presbyterianer des Parlaments wollen keinen gleichberechtigten politischen Faktor neben dem Parlament. Die Independenten jedoch, die auf den Beibe66 Allgemein zum Fortgang der Englischen Revolution: Ch. Hill, The World Turned Upside Down. Radical Ideas during the English Revolution, London 1972; G. E. Aylmer, The Struggle for the Constitution, 1603- 1689..England in the Seventeenth Century, London 1968, Chapter 4, Civil War and Revolution, 106 - 139. 67 Über den Gegensatz zwischen ,Presbyterians' und ,Independents' vgl. insbes.: Ch. Hill, The Century of Revolution, 126- 129; ebenso: H. N. Brailsford, The Levellers and the English Revolution (edited by Ch. Hill), London 1961, 21-23. 68 Ich referiere kurz die unterschiedliche Herrschaftslegitimierung der parlamentarischen Opposition in der Englischen Revolution gemäß dem von R. Saage verwendeten pamphletischenMaterial (zusammenfassend: 234ff.). Ebenso: H. N. Brailsford, 23-34.
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halt ihrer Machtbasis nicht verzichten wollen, schlagen gegen die Presbyterianer los und besiegen sie. Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen kommt es zu einer neuerlichen Schichtung des revolutionären Lagers. Aus den Independenten geht ein "linker" Flügel hervor, die Levellers, die kleingewerbliche und Handwerksinteressen vertreten&9. Auch die unteren Ränge in der New Model Army sympathisieren mit den Levellers. Diese sind es, die die natürlichen Rechte jedes einzelnen als abstrakte Waffe auch gegen die Independenten wenden, als diese nach ihrer Machtübernahme keine weiteren Reformen mehr zulassen. Sowohl in der Wahlrechtsfrage wie auch in der Einschätzung des Toleranzprinzips weichen die Levellers von den Independenten ab. Die Debatten von Putney (1647) wie auch die von Whitehall (1648) demonstrieren deutlich das Interesse der Levellers an einer weiteren Revolutionierung der Gesellschaft: Neben der Forderung nach uneingeschränkter Religions- und Meinungsfreiheit, die ja zu diesem Zeitpunkt dem religiösen Widerpart von Katholiken und Anglikanern am meisten zugutegekommen wäre und deshalb von Cromwell abgelehnt wurde, setzen sich führende Levellers auch für das allgemeine Männerwahlrecht ein.- Nach dem neuesten Forschungsstand zu schließen7 o, kann allerdings von keiner einheitlichen Orientierung der Levellers in der Wahlrechtsfrage die Rede sein. In der Tat einigen sich die Levellers mit den Independenten darauf, daß Lehrlinge, Bedienstete und Almosenempfänger (Menschen, die in Abhängigkeit vom Willen anderer stehen) vom Wahlrecht ausgeschlossen bleibenn. (Bei den Dienstnehmern handelt es sich freilich um die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung- landlose Bauern, städtische Lohnabhängige-, wobei die Frauen außer Betracht bleiben. Dieser Wahlrechtsmodus geht allerdings weit über das von den Independenten zur Diskussion gestellte Wahlrecht für Grundbesitzer und freie Zunftangehörige hinaus.) Haben sich die Presbyterianer den Forderungen der Radikalen und Unterschichten gegenüber verwahrt und aus Angst, ihre durch die Revolution 69 G. A. Aylmer (Hg.), The Levellers in the English Revolution, Ithaca, N. Y. 1975; T. C. Pease, The Leveller Movement, Gloucester, Mass. 1965; J. Frank, The Levellers: A History of The Writings of Three Seventeenth Century Social Democrats: John Lilburne, Richard Overton, William Walwyn, New York 1969; W. Haller, Liberty and Reformation in the Puritan Revolution, New York 1966; H. Shaw, The Levellers, London 1968; H. N. Brailsford, The Levellers and the English Revolution; Ch. Hill, The Century of Revolution, 129 - 133, zur Abgrenzung vom kapitalistischen Interessenshorizont der Londoner City: 154f. 70 Gegen die weiter zurückliegende Auffassung von Historikern, daß die Levellers Vertreter des allgemeinen Männerwahlrechts waren, stellt sich C. B. Macpherson (Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt 1967). R. Saage bemängelt auch an dessen Standpunkt eine Verabsolutierung, demgegenüber die Levellers in Wahrheit eine uneinheitliche Linie vertreten hätten (R. Saage, 197ff.). n Ebenda, 196.
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erreichten Positionen wiederum zu verlieren, mit den Königstreuen versöhnt72, grenzen sich die Levellers nun nach unten hin ab. Sie sind durch die independentenMachthaberunter Legitimationsdruck geraten, umso mehr, als das Auftreten der links von ihnen agierenden "wahren Levellers", auch "Diggers" genannt, sie zu einer solchen Abgrenzung zwingt. Aufruhr, Anarchie und Gleichmacherei werden für verwerflicher erklärt als die Tyrannei, der sie gerade entgegenwirken sollen73. Die "Diggers", die für die Interessen der besitzlosen Landbevölkerung eintretend, vergesellschaftete Produktions- und Distributionsformen fordern74, werden für die Levellers zum Stein des Anstoßes. Die Independenten mochten so lange darüber hinwegsehen, als sie die Levellers als Bündnispartner nötig hatten. Noch 1648, als die Royalisten gemeinsame Sache mit den Presbyterianern machen75, ist- um der Revolutionwillen- eine Koalition zwischen Independenten und Levellers unerläßlich. Im Dezember 1648 erfolgt die später berühmt gewordene Austreibung der Presbyterianer aus dem Parlament. 1649 treten die "wahren Levellers" in Erscheinung, was als Reaktion darauf zu sehen ist, daß sich die Levellers im Angesicht der Konterrevolution unter die Patronanz der Independenten stellten. Der Versuch einer Konsolidierung der Independentenrepublik als Herrschaftsorgan großgewerblicher Interessenspolitik hat allerdings auch den Gegensatz zu den Levellers wieder manifest werden lassen. Gemeinsam mit den "Diggers" rebellieren sie gegen die autoritäre, im Interesse des Bürgertums betriebene Regierungspolitik. Die Levelleraufstände vom Frühjahr 1649 werden jedoch blutig niedergeschlagen. Die Restauration läßt zwar noch etwas auf sich warten, die links von den Independenten angesiedelten revolutionären Kräfte sind jedoch ausgeschaltet. Dem Scheitern der Politik des Rumpfparlaments folgt Cromwells Militärdiktatur76 . Die in der Englischen Revolution explizit zum Durchbruch gelangenden individualistisch-naturrechtliehen Legitimationsmuster aber sind nicht mehr rückgängig zu machen. Ihre theoretische Abrundung erfolgt schließlich durch den großen politischen Lehrmeister der europäischen Geistesge72 Vgl.: V. Pearl, London's Counter-Revolution, in: G. E. Aylmer (Hg.), The Quest for Settlement 1646- 1660, 29 - 56. 73 A Manifestation, in: G. E. Aylmer (Hg.), The Levellers in the English Revolution, 154. - Vgl. auch: The (third and final) Agreement, ebenda, 167. 74 Materialien hiezu finden sich in den beiden Herausgeberbänden: A. S. P. Woodhouse, Puritanism and Liberty. Being the Army Debates (1647- 1649), London 1965 und R. W. Kenny, Gerrard WinstanleY.1 The Law of Freedom in a Platform or, True Magistracy Restored, New York 1973. Uber "The True Levellers" findet sich auch ein Kapitel bei: H. N. Brailsford, 656- 670. 75 1647 wechseln die Presbyterianer endgültig in das konterrevolutionäre Lager über. Hiezu: V.Pearl. 76 Ch. Hill, The Century of Revolution, nach der Ausgabe New York 1966, 137.
5 Ernst
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schichte, Th. Hobbes. Dieser kann bereits auf das von Calvin grundgelegte, über die calvinistisch-monarchomachische Pamphletistik und Mundpropaganda weiterentwickelte und die Niederländische Revolution begleitende Spektrum von Legitimierungsideen oder -Doktrinen als -Verfahren zurückgreifen, das in der Englischen Revolution offen mit dem traditionellen Herrschaftsdenken bricht. Die bei Calvin in der Konsequenz seines Denkens sich bereits abzeichnende Säkularisierung und die im Protestantismus allgemeine Tendenz der Individualisierung bilden in weiterer Folge wichtige Voraussetzungen für das Entstehen von ~apitalismus, moderner Demokratie und die Erklärung der Menschenrechte77 • M. Weber7B, E. Troeltsch und G. Jellinek sind sich darin einig, daß zwischen den Lehren der Reformatoren und den späteren Bewegungen, die sich auf sie berufen, unterschieden werden muß. Das Prinzip der "Bewährung" faßt Calvin noch nicht so konkret, daß es als besonderes Zeichen der Prädestination auch im bürgerlichen Berufsleben aufschiene. Vielmehr prägt dieser Gedanke erst den späteren Calvinismus. Demnach trug erst die Anwendung der Prädestinationslehre Calvins und die sich in der Folge herausbildende ethische Gesinnung, nichts für sich selbst zu machen, sondern für die Gemeinschaft, zum "Geist des Kapitalismus" bei. Die calvinistische Askese bildet- dieser These nach- eine Voraussetzung für die Notwendigkeiten von Kapitalakkumulation, der Reinvestition. Erst die Forderung an sich selbst, den über die bloße Subsistenz hinausgehenden Mehrertrag nicht konsumieren zu dürfen, hat ideelle Bedingungen geschaffen für den unbegrenzten Wiedereinsatz von Kapital. Calvinismus, Pietismus und protestantische Sekten bilden dazu den ideologischen Hintergrund. E. Troeltsch vergleicht in seiner berühmten Arbeit "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt"79 den Altprotestantismus Luthers, Calvins und ZwinglisB0 mit dem Neuprotestantismus der sektiererischen Freikirchen um das Ende des 17. Jahrhunderts. Dabei untersucht er die These G. Jellineks, daß die moderne Version der Menschenrechte erstmalig in den Verfassungen der nordamerikanischen Staaten zum Ausdruck gelangte und darin ihrerseits eine Ableitung aus den puritanisch religiösen Prinzipien erfuhr81. Die Menschenrechte basierten auf der religiöFür Hinweise danke ich Martin Greiffenhagen. M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen 1934. -Methodisch gesehen lassen wir uns in der Darstellung des geschichtlichen Stellenwerts von Reformation von dem Ansatz R. Döberts leiten: R. Döbert, Die evolutionäre Bedeutung der Reformation, in: Seminar: Religion und gesellschaftliche Entwicklung. 79 E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, 3. Auflage, München- Berlin 1924. 80 Einen Einblick in das Werk Zwinglis gewährt: A. Farner, Die Lehre von Kirche und Staat bei Zwingli, Tübingen 1930. 8! G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte (Leipzig 1895), 3. Auflage, München 1919: "Die 77
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sen Überzeugung von einem von Gott und Natur verliehenen, uneingeschränkten und unteilbaren Recht, das auch keine politische Gewalt schmälern dürfe. Jellinek betont also die religiöse Grundlage für die Erklärung der Menschenrechte und ihre Abstammung aus calvinistisch-puritanischem Geist, der nicht mit dem naturrechtliehen und in der Folge positiv-utilitarischen Denken der Engländer zusammenfälltB2. Troeltsch bestreitet nun, daß die calvinistischen Puritanerstaaten in Nordamerika die religiöse Basis für die Menschenrechte abgaben, da diese in Wahrheit die Gewissensfreiheit als gottlose Skepsis bekämpftenB3. Für Toleranz und Gewissensfreiheit seien die Baptisten in Rhode-Island (Roger Williams) und die Quäker in Pennsylvanien eingetreten. Troeltsch folgert daraus: "Der Vater der Menschenrechte ist also nicht der eigentliche kirchliche Protestantismus, sondern das von ihm gehaßte und in die Neue Welt vertriebene Sektenturn und der Spiritualismus .. .B4 . " Diese "Stiefkinder der Reformation" hatten aber- nach Troeltsch- bereits in der großen religiösen Bewegung der Englischen Revolution, dem lndepentismus, ihren großen Auftritt (0. Cromwell)Bs. Hier seien die ideellen Fäden zusammengelaufen zwischen den Resten des alten englischen Täuferturns und den Emigranten in Amerika und Holland. Hier liege die Wiege des späteren nordamerikanischen Täufer- und Quäkertums: "Täuferisches Freikirchentum, demokratische und kommunistische Ideen, spiritualistische Independenz, pietistischIdee, unveräußerliche, angeborene, geheiligte Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs. Was man bisher für ein Werk der Revolution gehalten hat, ist in Wahrheit eine Frucht der Reformation und ihrer Kämpfe.". (57.) · 82 "Aber trotzaller Wirksamkeit naturrechtlicher, aufklärerischer und ökonomischer Lehren kann aus ihnen allein nicht die Idee einer Erklärung der Rechte abgeleitet werden, wie sie zuerst in Amerika Verwirklichung fand." (G. Jellinek, 63.) 83 Dies gesteht G. Jellinek für bestimmte Kolonien selber ein: Ebenda, 54.- Eine Zusammenfassung dieser Diskussion liegt vor in: R. Schnur (Hg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt 1964. 84 E. Troeltsch, 62. Die calvinistischen "Pilgerväter" von Plymouth und Boston und die übrigen puritanischen Siedler an der Massachusetts-Bay, aber auch die durch eine stärkere Beteiligung des Volkes sich auszeichnenden Niederlassungen im Tal des Connecticut River (Th. Hooker) seien keineswegs demokratisch gewesen. "Dem Geist des Calvinismus war die Demokratie fremd, auch im puritanischen Neu-England." (H. G. Keller, Die Wurzeln der amerikanischen Demokratie, Bern 1958, 31. Der religiöse Individualismus und die Gemeindeidee Calvins hätten jedoch die neuzeitliche Demokratie vorbereiten und begünstigen helfen; ebenda, 32.) Unmittelbar demokratischen Einfluß ausüben mußte aber R. Williams, der Gründer von Rhode Island, indem er die unbeschränkte Religionsfreiheit und die Trennung von Staat und Kirche forderte: "Ich bekenne, daß ich dieser Verteidigung der Gewissensfreiheit in Dingen des Gottesdienstes unparteiisch auch für die Gewissensfreiheit der Papisten plädierte, der größten Feinde und Verfolger (in Europa) der Heiligen und Gläubigen Jesu. Ich bin nur für das eingetreten, was ihnen rechtlich zusteht." (R. Williams, The bloody tenant yet more bloody by the Cottons endevour to wash it white in the blood of the Lamb (1652), übersetzt und zitiert in: J. Lecler, Geschichte der Religionsfreiheit, Bd. li, 576.) 85 Den Zusammenhang von englischem und neu-englischem Sektenturn stellt auch her: R. B. Perry, Amerikanische Ideale (Puritanismus und Demokratie), Bd. I, Nürnberg 1947, 405- 415. s•
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radikalisierter Calvinismus, altcalvinistische Ideen vom Revolutionsrecht, von der Volkssouveränität und vom christlichen Staate: alldas verband sich mit Folgen der politischen Katastrophen und den Forderungen altenglischen Rechtes8&." Für Troeltsch konnten erst im Sektendasein der Freikirchen und ihrem Ideenkonglomerat Forderungen laut werden wie die Trennung von Staat und Kirche, die Koexistenz verschiedener Religionsgemeinschaften, Überzeugungs- und Meinungsfreiheit und die für Jellinek entscheidende religiöse Idee, die sich dann als liberale herausstellen sollte, eines durch Gott gegebenen Rechts auf die Unantastbarkeit persönlichen Lebens durch den Staat. In alldem erblickt Troeltsch das Ende der mittelalterlichen Kulturidee. An die Stelle der staatlich-kirchlichen Zwangskultur sei die kirchenfreie, individuelle Kultur getreten, die ursprünglich religiöse Idee sei zusehends mehr säkularisiert und schließlich durch Rationalismus, Skeptizismus und Utilitarismus abgelöst worden. Was sich anfänglich als religiöse Erneuerungsbewegung verstanden hat (Reformation), führt in der Folge zu fatalen Konsequenzen: Indem der Protestantismus die durch den Katholizismus gehemmte Entwicklung begradigt und die ideellen Voraussetzungen zur Entfachung des modernen Zeitalters liefert (Individualismus, Moralismus und Säkularisierung), schaufelt er sich langfristig sein eigenes Grab. Troeltsch findet darin die eingangs formulierte These bestätigt, "daß der Protestantismus durch die Zerbrechung der Alleinherrschaft der katholischen Kirche die Kraft der kirchlichen Kultur trotz vorübergehender Wiederbelebung überhaupt gebrochen hat"87. Dieser weite Vorgriff in der Denkgeschichte soll einen Rahmen abstecken helfen, der durch ein genaueres Eingehen auf die Voraussetzungen und Konsequenzen individualistischen Naturrechts noch zu füllen ist. Hiezu bietet sich zuallererst die Herrschaftslehre von Th. Hobbes an. Als Zeitgenosse der Englischen Revolution sieht er sich mit Problemlagen konfrontiert, die er theoretisch zu lösen versucht.
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87
E. Troeltsch, 62f. Ebenda, 46.
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Zweites Kapitel
Thomas Hobbes und die Staatsgewalt Hobbes erlebt die Jahre der Großen Rebellion nicht in seinem Land. 1642 emigriert er nach Frankreich, um erst 1653 nach England zurückzukehren!. Der Bürgerkrieg, an dem sich über verschiedene Phasen der Entwicklung hinweg alle bestehenden Interessensgruppierungen beteiligen, bestätigt ihn in der Meinung, daß die Gesellschaft eines Trägers absoluter Gewalt bedürfe. Hobbes' politische Traktate, die vor seiner Emigration in England erschienen sind, sollten die Notwendigkeit der absoluten Souveränität des K?nigs begründen helfen. Freilich hat er damit die gegen den König gerichtete Entwicklung in England nicht aufhalten können. 1640 hat Hobbes die "höchste Gewalt" allein dem König zugesprochen2 • Elf Jahre später verdichtet er in dem in London erscheinenden "Leviathan" den Gedanken von der Souveränität zu einer Theorie absoluter Herrschaft schlechthin. Diese Theorie kann für jede Herrschaftsform die Legitima1 Betreffend die sozio-ökonomischen Bezüge (verbürgerlichende ,gentry', ,nobility' resp. ,peers', ,city') und die Klassenzugehörigkeit von Hobbes siehe: B. Willms, Die Antwort des Leviathan. Thomas Hobbes' politische Theorie, Neuwied und Berlin 1970, 43- 75. Dabei unterscheidet Willms sehr wohl die Ebene allgemein-theoretischer Begründung von der zeitbedingten, situativen Einschätzung Hobbes', die ihn auf der Seite des Royalismus erscheinen läßt. Insgesamt gelte: "Hobbes konnte sich mit keiner Partei identifizieren, und sein Eintreten für die ungeteilte Souveränität des Königs war kein Royalismus im Sinne der Vertretung eines partikularen Interesses ... " (Ebenda, 74.) M. Kriele hingegen hebt die praktische Konsequenz von Hobbes' politischer Philosophie hervor, die sie in der Auseinandersetzung mit den Parteiungen rund um den Bürgerkrieg notwendig haben mußte. Insbesondere die Stellungnahmen der von Kriele als "Reform-Konservative" eingestuften englischen Juristen veranlassen ihn, Hobbes als einen parteiischen Denker zu betrachten: "lt was not Hobbes's intention to create a party philosophy, but a philosophy which could be applied to the realm as a whole, and which would explain how general peace might be brought about. If the supposition of the English Jurists, that the Absolutists formed one Civil War Party (moreover the party which was causing the war), is right, then Hobbes's theory (as the theory of an Absolutist, W. E.)- whether he liked it or not- was in effect a party philosophy." (M. Kriele, Notes on the Controversy between Hobbes and English Jurists, in: R. Koselleck IR. Schnur (Hg.), 217; eingehender das Buch von M. Kriele zum selben Thema: Die Herausforderung des Verfassungsstaates. Hobbes und englische Juristen, Neuwied und Berlin 1970.) 2 Hiefür spricht nicht ein traditionell-royalistischer Beweggrund,· sondern vielmehr der ab Beginn der Jahrhundertwende bis 1640 sich im Bemühen um eine neue Ordnung abzeichnende Denkhorizont. Die dabei aufkeimenden Freiheitstendenzen bedeuten nicht "Schutz der Freiheit vor dem Staat", sondern richten sich "gegen die Kirchen und gegen den Adel", was sich in der allgemeinen Formulierung ausdrückt,
2. Kap.: Thomas Hobbes und die Staatsgewalt
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tionsgrundlage bilden, wenn die absolute Gewalt in der von Hobbes geforderten Weise auch ausgeübt wird. Daraus erklärt sich, daß Hobbes unter Cromwells Herrschaft wieder nach England zurückkehren kann. Auch diese Diktatur beansprucht "höchste Gewalt" für sich. Die Wirrnisse von Reformation, frühbürgerlicher Revolution (Niederlande) und bürgerlicher Revolution (England) manifestieren sich ideengeschichtlich als die bis dahin größte Erschütterung traditioneller Legitimität. Die feudale Idee materieller Herrschaftsteilhabe durch die Stände wird brüchig, indem auch andere, neu entstandene Schichten, Stände, Klassen und Gruppen nach soziaier und politischer Macht trachten3 • Die gewalttätigen Auseinandersetzungen der verschiedensten Interessensgruppierungen fördern jedoch die Monopolisierung vo.n Herrschaft, die sich in der Rolle des Vermittlers den Anschein gibt, als wäre sie selbst nichts Partikulares, sondern repräsentiere als solche bereits das Gemeinwohl. Bildeten in der Hochblüte des Feudalismus die Stände und der Monarch die politische Macht, die sie gegenseitig abzustimmen hatten, und glaubten sie in der "Herrschaftsteilhabe" das Allgemeininteresse vollzogen, ändert sich mit dem gewichtigen Auftreten des Bürgertums auch diese Legitimationsbasis. Nicht mehr der Beitrag des einzelnen im Verhältnis zu einer vorgegebenen Allgemeinheit steht weiter zur Diskussion, sondern der besondere Interessensanspruch einzelner, die nun unabhängig oder isoliert von der übrigen Gesellschaft betrachtet werden. Die besitzindividualistischen Bestrebungen des Bürgertums sind die materielle Seite dieser zur Abstraktion neigenden "man habe Freiheit nur dann, wenn man dem Befehl des einen Monarchen gehorche".
(R. Schnur, Individualismus und Absolutismus. Zur politischen Theorie vor Thomas
Hobbes- 1600- 1640, Berlin 1963, 78.) Daß sich die Herausbildung des Individualismus und der Absolutismus nicht ausschließen, sondern im Gegenteil ergänzen, wird bei Hobbes überdeutlich. Auf die historische Situation bezogen: "Weil die alte Ordnung infolge des Konfessionsstreites zerbrach, wurde eine neue Ordnung gesucht, und eben weil man von der weiteren Diskussion über konfessionelle Fragen nur weiteres Unheil, d. h. die Fortsetzung oder den erneuten Ausbruch des Bürgerkrieges befürchtete, wollte man die Diskussion darüber abbrechen: Die mit größter Mühe erreichte Ordnung war das einzige, was man für gesichert hielt." (Ebenda, 58.) Auch M. Oakeshott weist in seiner "Introduction to Leviathan" auf den Zusammenhang von Individualismus und Absolutismus hin (wiederabgedruckt in: M. Oakeshott, Hobbes on Civil Association, Berkeley and Los Angeles 1975, 60 - 64.) 3 Die über Revolutionen sich herstellende neue Legitimität wird ~~so durch gesellschaftliche Vorgänge, wie Klassenumschichtungen hervorgerufen. Uber die Hintergründe des "neuen Denkstils", den auseinanderzusetzen das eigentliche Anliegen dieser Untersuchung bildet, bemerkt K. Mannheim: "Solange die sich bekämpfenden Parteien dieselbe Welt vertraten, sozusagen nur von einem anderen Pole her, solange etwa eine Dynastie die andere, eine Adelsklique die gegenüberstehende bekämpfte, konnte es nicht zu einer so weitgehenden Destruktion kommen. Nur weil in der modernen Welt die entscheidenden sozialen Polaritäten von einem grundverschiedenen Weltwollen getragen sind, wurde auf der geistigen Ebene eine solche Vertiefung und Auflockerung möglich." (K. Mannheim, Ideologie und Utopie, 2. Auflage, Bonn 1930, 18.)
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2. Kap.: Thomas Hobbes und die Staatsgewalt
Sicht vom Menschen, der sich als bürgerliches Subjekt auf sich selbst gestellt weiß4. Dem strukturellen Auseinanderfallen von "Staat" und "Gesellschaft", mithin auch von Staat und einzelnem, entspricht also auf ideeller Ebene die Vorstellung von einem vom Gesamten abgelösten Individuum. Abstrahiert wird also von einer "Staats"-Gesellschaft (im alten Wortsinn), die sich so nicht mehr begreifen läßt. Diese Sichtweise geht nicht von vornherein von einer prästabilierten Harmonie von Allgemeinem und Besonderem aus, sondern anerkennt zunächst das Bestehen einander entgegengesetzter Interessen. Auf materieller Ebene betrachtet, ergibt sich diese Situation durch das Aufeinanderprallen von klerikalen und weltlichen Gewalten, ·von alteingesessenen Feudalrechten und bürgerlichen Emanzipationswünschen und ihren zeitlich und lokal veränderbaren Allianzen. Der auch zum eigenen Vorteil Vermittlungsdienste anbietende Staat ist der langfristige Nutznießer dieser permanenten Bürgerkriegsgefahr. Da das Bürgertum noch vielfach zu schwach ist, die politische Herrschaft zu übernehmen, usurpiert der Landesherr oder der Fürst die allerhöchste Gewalt, die majestas. Die Stände, welche an der alten Herrschaftsordnung festhalten, sträuben sich ebenso wie das Bürgertum gegen den Absolutismus. In den meisten Ländern Europas arrangiert sich schließlich das Bürgertum mit dem absolutistischen Staat. Dem Feudaladel ist dadurch der größte Nachteil erwachsen. Später ändert sich allerdings die Situation wieder dahingehend, daß der Staat seine Allianz mit dem stärker werdenden Bürgertum kündigt, um mit dem Landadel gemeinsame Sache zu machen.- Der Absolutismus kann gegebenenfalls als Zwischenstufe bürgerlicher Emanzipation begriffen werden, wo sich die ideologischen Grundlagen für das Bürgertum ausbilden, die für seine auch politische Emanzipation erforderlich sind. Die Englische Revolution schließlich ist - trotz oder gerade wegen des Königs - durch ein Bündnis von Adel und Bürgertum gekennzeichnet, das einen Absolutismus entbehrlich macht: Wo das Bürgertum stark ist und es jede andere Klasse für sich genommen an Macht überwiegt, hat der Absolutismus sein Substrat verloren. Das individualistische Naturrecht (Vernunftrecht) hingegen hat für beide Herrschaftsformen die Legitimationsbasis geliefert. Nachdem die Individuen nun einmal aus der Gesamtheit herausgefallen sind, kommt es darauf an, wie sie wieder gedanklich verbunden werden können: Die Idee soll helfen, die tatsächliche gesellschaftliche Dualität von Gesamtem und Einzelnem zu überbrücken. Dies leisten die neuzeitlichen Theorien des Staates. 4 Zur genaueren geschichtlichen Herleitung vgl.: A. Müller-Armack, Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Stuttgart 1959.
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Für Hobbes etwa sind die Individuen durch ihre partikularen Bestrebungen bestimmt5. Abhilfe gegen die Zerstörerischen Auswirkungen des Konkurrenzkampfes gegensätzlicher Wünsche kann ihm zufolge nur der Staat schaffen, der als höchste Gewalt Recht garantiert. Diese Konzeption kommt jeder Rechtfertigung staatlicher Herrschaft entgegen. Sie war nicht nur für den Absolutismus zu gebrauchen. Auch die nachfolgende bürgerliche Herrschaft kann sie verwenden, wenn sie sich neuen Gruppierungen und Klassen gegenübersieht. Im Vollzug ihres politischen Emanzipationskampfes jedoch geben die Bürger ihre Interessen als allgemeine Individualrechte aus. Der Staat, den sie fordern, soll jeden einzelnen in seinen Rechten gewähren lassen. Nur für den Fall, daß diese in Gefahr stünden, von anderen verletzt zu werden, müsse der Staat eingreifen (Locke). Auch diese liberale Variante bürgerlicher Herrschaftsideologie - im Gegensatz zu totalitären Fassungen des Vernunftrechts- anerkennt den Staat als notwendiges Instrument, die Individuen voreinander zu schützen. Im Gegensatz zu Hobbes soll hier der Primat des Individuums auch faktisch Geltung beanspruchen können. Immerhin wird jedoch auch in der liberalen Theorieder Staat als Schutzorgan mit Streitschlichtungsgewalt angesehen. Erst die einander widerstreitenden Interessen des Bürgertums lassen die Fiktion vom Primat des Gesamten wieder aufkommen (Rousseau, Regel). Gegenüber den liberalen Partikularbedürfnissen einzelner soll der Staat als Prinzip der Sittlichkeit den Vorrang innehaben. Das Individuum ist erst dann wahrhafter Staatsbürger, wenn es kraft seiner Einsicht sich dem Gemeinwohl unterordnet. Die einzelnen hätten im Staat ihre Erfüllung zu suchen, in ihm ihrer Bestimmung nachzukommen. Mit der Setzung des Individuums als Subjekt seiner Welt, um die Diktion von B. Willms aufzunehmen6, erfolgt eine gravierende Umwälzung der Legitimationsgrundlage für Herrschaft. Die Tatsache klassenspezifischer, gewalttätiger Auseinandersetzungen, die auf der Grundlage subjektiv-partikularer Interessensansprüche ausgetragen werden, verlangt riach einer ihr adäquaten Erklärung. Einzelne Einb:Diche wie Nominalismus und Ockhamismus hat das klassische Naturrecht schon im Mittelalter erfahren. Im übrigen gelten bereits seit dem Auftreten naturrechtlicher Denkweise unterschiedliche Interpretationsformen, die H. Welzel, auf zwei reduzierend, durch das Begriffspaar "ideell/existentiell" gekennzeichnet hat7. s Über den Individualismus als Ordnungsidee siehe: K. Pfibram, Die Entstehung der individualistischen Sozialphilosophie, Leipzig 1912, 43ff. 6 "Das bürgerliche Subjekt macht sich in seinem Anfang zum Subjekt der Weltgeschichte . . ." (B. Willms, Thomas Hobbes oder die Konstituierung des bürgerlichen Subjekts, in: B. Willms, Revolution und Protest oder Glanz und Elend des bürgerlichen Subjekts, Stuttgart- Berlin- Köln 1969, 23.)
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2. Kap.: Thomas Hobbes und die Staatsgewalt
Im Verlauf der Englischen Revolution bahnt sich über die Herrschaftsrechtfertigung parlamentarisch-oppositioneller Gewalt die Umwandlung vom alten Naturrecht in individuelles Naturrecht (auch rationales Naturrecht oder Vernunftrecht genannt) ans, wovon bereits im vorhergehenden Kapitel die Rede war. Erklärt sich nach Aristoteles der gesellschaftliche Naturzustand der freien Bürger stets als durch die Polis vermittelt und bestimmt, ist es im Vernunftrecht gerade umgekehrt: Die Natur des Menschen bezieht sich auf das Außergesellschaftliche, Außerstaatliche. Die Besonderheit des Menschen liegt in seiner Triebnatur, in seinen Wünschen, Sehnsüchten und Neigungen9. Vorwegnehmend sei bemerkt, daß beispielsweise Hobbes' durch die individuellen Naturen von Einzelmenschen definierter Naturzustand eine für ihn notwendige gedankliche Konstruktion ist1o. Was von Aristoteles als denkunmöglich bezeichnet worden wäre, gilt hier als methodische Voraussetzung, den tatsächlichen Gesellschaftszustand-im Gegensatz zum Naturzustand - überhaupt erst begreifen zu können. Die Fiktion von einem Zusammenleben, das ohne gemeinschaftliche, d.h. ohne mit überindividuellen Aufgaben betraute Organisation auszukommen gedenkt, soll gerade die Notwendigkeit ihres Gegenteils erklären. Hobbes läßt sich sozusagen auf 7 H. Welzel (Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1951) unterscheidet "ideelle" von "existentieller" Interpretation des Naturrechts. Erstere erblickt das Allgemeine im Menschen in dessen geistiger Natur, der Idee, die die Richtschnur für rechtmäßiges Handeln bildete; letztere stellt auf die vital-triebhaften Anlagen des Menschen ab, wie Bedürfnisse, Wünsche, Eigen-Nutzen und -Interesse. s Der Bruch im Naturrechtsdenken zwischen "klassischem Naturrecht" und "modernem Naturrecht" bildet auch den Ausgangspunkt der Studie von L. Strauss, Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1956 (Frankfurt 1977). 9 H. Pfeils Rekonstruktionsversuch der Entwicklung von Sensualismus und methodologischem Psychologismus (Der Psychologismus im englischen Empirismus, Faderborn 1934) läßt unverständlicherweise eine Befassung mit Th. Hobbes vermissen. IO Hobbes will "die Unvollkommenheit u.a. der patriarchalischen Gemeinwesen, allgemein aller bisherigen Gemeinwesen, wie sie sich in der beständigen Gefahr von Bürgerkriegen zeigt, auf ihren präzisesten Ausdruck bringen, und zwar so, daß er damit zugleich die Möglichkeit für die radikale Beseitigung dieses Mangels ... aufweist. Darum konstruiert er über die historische Feststellung ... hinausgehend, als den schlechthin mangelhaften Zustand des Menschengeschlechts das Fehlen jeder, auch der mangelhaftesten Ordnung . .. ". (L. Strauss, Hobbes' politische Wissenschaft, Neuwied und Berlin 1965, 104.) "To consider society as if dissolved is to imagine its members in a state of nature; and this is how Hobbes's civil philosophy opens. His account does not presuppose that such a state of naturehasever existed historically. It is an 'ideal' or limiting case in which every vestige of authority and organization has been imagined away ... " (J. W. N. Watkins, Hobbes's System of ldeas. A Study in the Political Significance of Philosophical Theories, London 1965, 72.) "Die ausgehend vom Naturzustand dargestellte Geschichte wird zu einer nominalistisch-fiktiven, nichtsdestoweniger rational notwendigen ,Naturgeschichte' des Menschen. Gegenüber allen historischen Fakten entfaltet sie normative Kraft, sie ist ihnen gegenüber das logische Prius. Fakten können ihr gegenüber allenfalls bestätigende Funktion haben, jedoch keine falsifizierende." (H. Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1973, 48; siehe auch: 38.) Ebenso auch: C. B. Macpherson, 32 und P. J. Opitz, Thomas Hobbes, in: E. Voegelin (Hg.), Zwischen Revolution und Restauration, 57.
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einen Gedanken ein, der in die Aporie führend, das Gegenteil von dem fordert, was gedanklich den Ausgangspunkt bildete. Hobbes braucht dann den Staat, weil seine Abstraktion eines staatenlosen, bloß auf die individuellen Eigenexistenzen zurückgenommenen' Lebens destruktive Konsequenzen nach sich zögen. Diese Abstraktionstechnik, die hier als repräsentativ für neuzeitlichrevolutionäres Denken angenommen wird12, ist ohne Bürgertum und seinen Besitzindividualismus unbegreiflich. Die Individualisierung früher vergesellschafteter Formen des Zusammenlebens, die materielle Struktur von auf sich rückbezogenen Individuen also, die in ihrer Summe die Gesellschaft bilden, ist adäquat jener geistigen, wissenschaftlichen und kulturellen Epoche, die "bürgerliche" genannt wird. Freilich verfestigen sich die Abstraktionsneigungen und spekulativen Denkoperationen erst später. In Aufklärung und Idealismus erreichen sie einen Höhepunkt, wo gesellschaftstheoretische Fragestellungen zu in den Dualismus von Genesis und Geltung zerfallenden Begründungsbemühungen führen. Alle philosophischen Spekulationen, die sich mit dem Problem der Geltung beispielsweise des Staates befassen, abstrahieren methodisch bewußt von der historischen Fragestellung seiner Herleitung. u "Der methodische Kunstgriff, die notwendigen Beziehungen der Menschen untereinander unter Abstraktion von allen staatlichen und politischen Verhältnissen darzustellen, dient nur dazu, die Unmöglichkeit der bürgerlichen Gesellschaft als eines sich selbst steuernden und bestimmenden ,Systems der Bedürfnisse' zu erweisen und somit die Notwendigkeit einer souveränen, in ihren Dezisionen von der individuellen Zustimmung der Bürger notwendigerweise unabhängigen Staatsgewalt zu begründen, welche auch den Funktions- und Interessenzusammenhang einer bürgerlichen Markt- und Handelsgesellschaft, der in seinen Grundvoraussetzungen von Hobbes durchaus bejaht wird, gewährleistet. Rein von seiner inhaltlichen Bestimmung her hat also das Naturzustandskonzept bei Th. Hobbes zunächst eine negative konstituierende Funktion für seine politische Theorie." (H. Medick, 35.) 12 B. Willms nennt vier Momente des revolutionären Denkens bei Hobbes: "das autonome Individuum und seine Bedürfnisse, der poietische Subjektivismus, der possessive Individualismus und die Figur der Sozialvernunft der abstrakten Subjekte: der Vertrag." (B. Willms, Thomas Hobbes oder die Konstituierung des bürgerlichen Subjekts, 23.) Die "revolutionäre Dimensionierung ist erst vollständig, wenn der Aspekt des Poietischen in ihr hinreichend deutlich gemacht ist. Die Theorie des Menschen, also des bürgerlichen Subjekts, ist bei Hobbes poietischer Subjektivismus, das heißt in die Selbstbestimmung ist das Moment des Spontanen, des Entwerfenden, des Herstellens mit hineingenommen". (Ebenda, 27.) W. Hennis (Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied und Berlin 1963, 47) formuliert, bezugnehmend auf Hobbes: "Die Probleme der politischen Philosophie beziehen sich nicht mehr auf das richtige Leben, auf Praxis, sondern auf ein Werk, eine Produktion, sie ist im Kern ,Poietik', um die allein angemessene alte Terminologie zu gebrauchen."- Einen Vergleich des poietischen Ansatzes bei Hobbes und Vico unter Hinweise auf Epikur und Gassendi versucht: A. Funkenstein, Natural Science and Social Theory: Hobbes, Spinoza and Vico, in: G. Tagliacozzo I D. Ph. Verene (eds.), Giambattista Vico's Science of Humanity, 187- 212, insbes.: 191. Siehe auch: Fußnote 48 dieses Kapitels in dieser Arbeit.
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Auf die spezifisch aufklärerische und idealistische Rechtfertigung staatlicher Gewalt wird noch einzugehen sein. Vorerst gilt es jedoch, die Konsequenzen Hobbes'schen Denkens und seiner Machttheorie kurz zu erläutern13. Hobbes hat den Menschen als Machtwesen konzipiert: "Der Hunger nach Macht, Reichtümern, Wissen und Ansehen ist vor allen anderen Leidenschaften entscheidend für die Kraft unseres Verstandes. Man kann auch alles auf den Hunger nach Macht zurückführen, denn sowohl Reichtum als auch Wissen und Ansehen sind nur verschiedene Formen der Macht14." Eigeninteresse und Glücksstreben verlangten nach dem Einsatz von Machtmitteln15. Bliebe die Macht theoretisch unberücksichtigt, erläge man ideologischen Täuschungsmanövern, der praktische Verzicht auf Macht aber käme einer Übervorteilung durch andere gleich. "Wettstreben, Argwohn und Ruhmsucht"16 bildeten sich erst als Folge des Strebens nach Selbsterhaltung17 und Glücksverlangens. Dabei schränkt Hobbes ausdrücklich ein: "Nicht etwa, daß der Mensch ausschließlich nach immer größerem Wohlbehagen strebte oder mit seiner geringen Macht nicht zufrieden sein könnte, er kann sich nur seine gegenwärtige Macht und die Mittel, die ihm jetzt Glück schenken, nicht sichern, ohne immer noch mehr zu erwerben1s." Schon um seiner Sicherheit willen wird ein jeder dem anderen zuvorzukommen versuchen. Hiebei unterscheiden sich die Menschen im Grad von Machtgier und Eitelkeit19. Die größeren Machtanstrengungen der einen 13 Zur philosophischen Einordnung siehe: K.-H. Ilting, Hobbes und die praktische Philosophie der Neuzeit, in: Philosophisches Jahrbuch (Max Müller), 72. Jg., München 1964/65, 84ff. und: W. Röd, Die Philosophie der Neuzeit, 1. Von Francis Bacon bis Spinoza (Geschichte der Philosophie, herausgegeben von W. Röd, Bd. VII), München 1978, zu Hobbes: 148 - 173 und 243 - 250. 14 Th. Hobbes, Leviathan, Reinbek 1965, 1. Teil, VIII, 57. 15 0 . Höffe, Zur Vertragstheorie: Hobbes, Kant und Rawls im Vergleich, unveröff. Man. 1976, 6. 16 Th. Hobbes, XIII, 98. 17 Hobbes hat den Begriff "Selbsterhaltung" nicht biologistisch gefaßt: "Selbsterhaltung" sei "nicht die nackte biologische und ökonomische Erhaltung des Lebewesens Mensch mit den seiner Natur verfügbaren Mitteln. Sie meint ein Daseinsprogramm, unter das der Mensch in einer geschichtlichen Situation seine Existenz stellt und in dem er sich vorzeichnet, wie er es mit der ihn umgebenden Wirklichkeit aufnehmen und wie er seine Möglichkeiten ergreifen will." (H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966, 91.) 1a Th. Hobbes, XI, 77. - In diesem infiniten Macht-Progreß ist "Selbsterhaltung" auch nicht statisch zu denken. G. Buck (Selbsterhaltung und Historizität, in: R. KoseHeck I W.-D. Stempel (Hg.), Geschichte - Ereignis und Erzählung, Poetik und Hermeneutik V, München 1973) setzt "Selbsterhaltung" gleich mit "Selbststeigerung" (37), indem er ihr die inverse Bedeutung der "alten Teleologie" gibt und damit neuerlich zu einem Aspekt von Finalität gelangt (38). 19 Eitelkeit als wesentliche Bestimmung von Macht läßt L. Strauss zu der Deutung gelangen, daß Hobbes das Machtstreben der Menschen rtioralisch aufgefaßt habe. Daß Hobbes vom Moralischen abstrahiere, sei nur scheinbar so. (L. Strauss, Hobbes' politische Wissenschaft, 21 - 24; ,.die scheinbare moralische Indifferenz entsteht lediglich
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jedoch ließen auch die Genügsameren nicht zur Ruhe kommen. Da die Machtmittel knapp sind, werden die auf Ausweitung ihrer Macht Bedachten zur Gefahr für die an der Beibehaltung ihrer Macht Interessierten. Diese können sich Hobbes zufolge nicht anders wehren, als selber in die Machtoffensive zu gehen. Mit den Worten Hobbes': "Die aber, die glücklich wären, sich in schmalen Grenzen zu begnügen, würden schnell untergehen, wenn sie sich- ein jeder für sich- verteidigen würden und nicht danach trachteten, durch Eroberungen ihre Macht zu vergrößern20." Hobbes' Machtmechanismus21 vollzieht sich nach derselben Dynamik, wie dies N. Elias für die Konzentration staatlicher Herrschaft historisch nachzuweisen versucht: Herrschaft erwächst zunächst aus den Knappheitsbedingungen von Grund und Boden; Macht hingegen ist allgemeinerer Natur und bildet den Ausgangspunkt für gesellschaftliche Vorrangstellung schlechthin. Der Kampf um Macht ist nach Hobbes ein Kampf um knappe Chancen, sich andere Menschen verfügbar zu machen. Trotz unterschiedlicher Interessenslage und Bedürfnisstruktur bilde Macht für jeden Menschen die Voraussetzung zur Erfüllung seiner Wünsche22. Die Konkurrenz treibt dabei zum Äußersten, in einen Kampf auf Leben und Tod23. durch Abstraktion von der notwendigen moralischen Differenz, die von Hobbes selbst alsbald hervorgehoben wird. (Ebenda, 24.)) In diesem Zusammenhang trete auch eine bei Hobbes grundsätzlich angelegte "methodische Inkonsistenz" auf, die B. Willms das "Strauss-Problem" nennt. (B. Willms, Der Weg des Leviathan. Die Hobbes-Forschung von 1968 - 1978, Beiheft 3 zu "Der Staat", Berlin 1979, Kap. IV, 72.) 20 Th. Hobbes, XIII, 98. 21 Über das kontinuierliche, spontane, grenzenlose Begehren nach Macht auch: L. Strauss, Hobbes' politische Wissenschaft, 19; vor ihm bereits: F. Tönnies, Thomas Hobbes. Leben und Lehre, Wiederabdruck der 3. Auflage Stuttgart 1925, StuttgartBad Cannstatt 1971, 179. 22 In Anlehnung an C. F. von Weizsäcker (Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, München- Wien 1977) unterstreicht U. Weiß (Das philosophische System von Thomas Hobbes, Stuttgart- Bad Cannstatt 1980, insbesondere 115 - 124) den universalen Aspekt von Hobbes' Macht-Begriff: Irreduzibilität, Grenzenlosigkeit, Selbstbezogenheit, akkumulative Tendenz und Humanum (115, Fußnote 139). "Macht ist bei Hobbes das tiefste anthropologische Prinzip, und daß es ,von Natur' ist, heißt gerade, daß es vor und unter aller Sozialität anzusetzen ist." (Ebenda, 122.) Weiß wendet sich gegen jedweden soziahistorischen Erklärungsansatz von Hobbes' Denkweise, vor allem geg~~ C. B. Macphersons Versuch, Hobbes' Begriff von Macht mit der heraufziehenden Ara einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in Verbindung zu bringen. "Indem Macht zurückgebunden wird auf eine gesellschaftliche Formation, geht ihre umfassende und fundamentale Geltung verloren." (Ebenda.) In dem Bestreben, Hobbes' Ansatz gerecht zu werden, lehnt Weiß jedes andere methodische Herangehen an Hobbes ab. Weiß vermag nicht zu sehen, daß die systemimmanente Darstellung einer Theorie selbst wieder auf einem metatheoretischen Hintergrund angelegt ist, nämlich: sie historisch vermitteln zu müssen. Man mag Hobbes begreifen und ihn trotzdem historisch relativieren, andernfalls würde jegliches Verstehen zugleich Akzeptieren bedeuten. 23 Nach L. Strauss sei der Tod als summum malum "der einzige absolute Maßstab", der "eine einheitliche Orientierung des menschlichen Lebens möglich" mache. Der Mensch habe "nur durch den Tod ein Ziel . .. -nämlich das .. . Ziel der Vermeidung des Todes". (Hobbes' politische Wissenschaft, 25.) Strauss folgert hieraus, daß für
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Dieses Thema taucht unter anderer Perspektive auch bei Regel auf: im Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis. Dieses hat bereits strukturelle Ungleichheit zu seiner Voraussetzung2•. Anders bei Hobbes. Er sieht die Menschen von Natur aus als gleich an, "sowohl in ihren körperlichen als auch in den geistigen Anlagen"25. "Man nehme nur die Körperstärke: Selbst der Schwächste ist stark genug, auch den Stärksten zu vernichten; er braucht sich nur einer List zu bedienen oder sich zu verbinden mit anderen, die in derselben Gefahr sind wie er2s." Die fundamentale Gleichheit aller Menschen27 liegt also in der Fähigkeit zu töten und der Möglichkeit, getötet zu werden. Hobbes bestimmt hier Gleichheit "empirisch-pragmatisch, nicht sittlich"28. Der Zustand, in dem ein Krieg "jeder gegen jeden" tobt und "jeder des anderen Feind ist", heißt Naturzustand. Im "Krieg aller gegen alle" herrscht völlige Freiheit. Unter Freiheit versteht Hobbes - im Gegensatz zu idealistischen Positionen -, "daß man frei ist von jeglicher Behinderung"29. Diese Freiheit3D jedes einzelnen ist nur ein Hobbes die Todesfurcht, welche zur Vermeidung des Todes beiträgt, das gegenüber dem positiven Prinzip der Erhaltung des Lebens vorrangigere sei. (Ebenda, 24.) 24 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke 3, Frankfurt 1970. Darin: B. Selbstbewußtsein, IV. A. Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft. 25 Th. Hobbes, XIII, 96. 26 Ebenda, 97.- Gegen die Annahme der Kräftegleichheit führt F. Borkenau ins Treffen: .,Der Klassenkampf, und ebenso der Kampf zwischen Völkern, ist normalerweise durchaus kein Kampf zwischen gle~~h Starken und es ist daher keineswegs absurd, ihn zu führen." (F. Borkenau, Der Ubergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, unveränderter Nachdruck der Ausgabe Paris 1934, Darmstadt 1971, 469.) 27 Hobbes begreift Gleichheit universell und grenzt sich damit explizit von der aristotelischen Ansicht proportionaler Gleichheit ab. Diese bezieht sich auf die (wenigen) Freien in der sinnhaften Gemeinschaft, der Polis, welche abgehoben ist von der die Unfreien (und damit in bezugauf die Freien Ungleichen) bergenden Sphäre manueller Arbeit und des Hauses. (Hiezu: R. Spaemann, Bemerkungen zum Problem der Gleichheit, in: Zeitschrift für Politik 3/1975.) Der entsprechende Passus Hobbes' gegen die aristotelische Gleichheitsauffassung lautet: .,Ich weiß wohl, daß Aristoteles in der ,Politik' seiner Lehre die Unterscheidung der Menschen in mehr oder weniger zum Befehlen geeignete zugrundelegt, d. h. die klügeren zum Herrschen auserwählt(...) und diejenigen, die zwar kräftig sind, sich aber nicht wie er selbst mit Philosophie beschäftigen, zum Dienen bestimmt ganz so, als beruhe die Unterscheidung von Herr und Diener nicht auf menschlicher Ubereinkunft, sondern auf verschiedener Geisteskraft; das aber widerspricht nicht nur der Vernunft, sondern auch der Erfahrung. Es werden nämlich nur sehr wenige als so töricht angesehen werden können, daß sie sich lieber von anderen beherrschen ließen, als selbst über sich zu bestimmen." (Th. Hobbes, XV, 122.) 2s Siehe: Fußnote 15. 29 Th. Hobbes, V, 33. 30 Daß diese (individuelle) Freiheit Vorrang hat jedweder Verpflichtung der Allgemeinheit gegenüber, macht für L. Strauss den hauptsächlichen Unterschied zwischen klassischer und moderner Politikauffassung aus. (Hobbes' politische Wissenschaft, 150ff.) (Individuelles) .,Recht" im Sinne von .,Anspruch", nicht .,Norm", .,Gesetz" im
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anderer Ausdruck für die grundlegende Gleichheit des Menschen im Naturzustand, wo jeder auf Kosten anderer seinen Machtvorteil nützt. Soweit der Überlebenskampf unter Knappheitsverhältnissen stattfindet, ist die Ausweitung der Macht des einen Machteinbuße des anderen. Jeder muß in diesem Konkurrenzkampf, der die Dispositionen realer Verfügungsgewalt zuteilt, seinem Eigennutzen nachgehen, ansonsten würde über ihn verfügt. Selbst im Unterliegen bleibt Freiheit noch als Machtstreben erhalten. Die Konfrontation individueller Bestrebungen schafft Unsicherheit, die aus der Unwissenheit eines jeden über jeden resultiert. Darin bestünden ja gerade Gleichheit und Freiheit, daß niemand wirklich über die individuellen Besonderheiten des anderen Bescheid wisse. Ungewißheit und Angst seien es, die zu einer Verbreiterung der Machtbasis zwängen. Hobbes' Machttheorie wird im weiteren als Beitrag zur Legitimierung von Staatsgewalt zu sehen sein. Dabei muß zunächst auf das individualistische Menschenbild eingegangen werden, das für das neuzeitliche Bürgertum charakteristisch ist und in Hobbes eine unhistarische Ausgangslage für die als absolute und ungeteilte Staatsgewalt begriffene Souveränität bildet. Hobbes mag dahingehend als liberal gelten, als er die politische Ordnung bzw. die Staatsgewalt mit dem Hinweis auf ihre Zweckdienlichkeit als Mittel zur Realisierung von Interessen der Individuen (v. a. des Überlebens bzw. Sicherheitsinteresses) rechtfertigt und die besonders für den Wirtschaftsliberalismus bedeutsame Ansicht vertritt, daß der Wert des Menschen sein Nutzen ist, der ihm im Kräftespiel des Marktes zuerkannt wird. Ohne Verwendung idealistischer Schminke faßt Hobbes zusammen: "Die Geltung oder der Wert eines Menschen ist, wie bei allen anderen Dingen, sein Preis, d. h. die Gegenleistung, die man für den Gebrauch seiner Macht zu erbringen bereit wäre. Es ist also kein absoluter Wert, sondern ein Wert, der abhängt von dem jeweiligen Bedarf und Urteil anderer. In Kriegszeiten oder wenn ein Krieg auszubrechen droht, ist ein guter Heerführer von sehr großem Wert, im Frieden jedoch ist sein Wert nur gering. Ein erfahrener und unbestechlicher Richter ist sehr wertvoll im Frieden, im Krieg jedoch weniger. Wie überall im Leben bestimmt nicht der Verkäufer den Preis der Ware, sondern der Käufer. Ein Mensch mag sich selbst so hoch einschätzen, wie er will, sein wirklicher Wert zeigt sich in dem Urteil der anderen3t." Hier wird offenbar, wie sehr Hobbes aus seiner Zeit heraus argumentiert. C. B. Macpherson hat das Gesellschaftsmodell, auf das sich Hobbes bezieht, "Eigentumsmarktgesellschaft" genannt. Hierin drückt sich im Gegensatz zur "einfachen Marktgesellschaft", "in der zwar Produktion und Verteilung Sinne von "Verpflichtung", das "Right of Nature", nicht das "Law of Nature", sei nach Hobbes das Fundament von Moral und Politik (149). 31 Th. Hobbes, X, 68. 6 Ernst
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von Gütern und Dienstleistungen durch den Markt reguliert werden"32, ein ökonomisches System aus, "auf dem alles der Konkurrenz unterliegt. Wie die Waren werden auch Arbeit, Boden und Kapital vom Markt bestimmte Größen: die Preise für sie alle werden durch den zwischen Käufern und Verkäufern herrschenden Wettbewerb festgelegt, so daß das Angebotene auch gekauft und das Begehrte auch angeboten wird33," Der wesentliche Unterschied der "Eigentumsmarktgesellschaft" zur "einfachen Marktgesellschaft" liegt also darin, daß in ihr Arbeit selbst zur Marktware geworden ist. Hobbes drückt dies so aus, daß der Wert des Menschen, sein Machtwert, sich über den Markt bestimmt34. Hobbes' System erweist sich damit als historisch abhängig von der ökonomisch-liberalen Aufstiegsphase, mit der der politische Herrschaftsanspruch des Bürgertums verbunden ist. Der alle Lebensbereiche durchdringende Marktmechanismus durchbricht die Struktur ständischer Herrschaftsformen und setzt die soziale Sphäre frei, die Gesellschaft im modernen Wortsinn. Dadurch, daß dem Staat nun öffentliche, von der Privatsphäre abgekoppelte Kompetenzen zukommen und keine mehr der Produktion, muß ihm von den Privatrechtssubjekten neue Legitimität zuerkannt werden. Hobbes bietet dazu die theoretische Rechtfertigung, indem er der Heraufkunft des Liberalismus entsprechend den Menschen individualisiert und den Staat zum Garanten für dessen Schutz und Sicherheit erklärt35. Daß Hobbes das Denken des wirtschaftlichen Liberalismus gewissermaßen einläutet, ist bereits dem Hinweis auf den Käufermarkt entnommen worden. Nur die von anderen subjektiv zuerkannte Macht soll den Wert des Menschen ausmachen, nicht dessen SelbstwertgefühL Die liberale Fiktion dabei ist, daß über alle Ungleichheit der Menschen hinaus die Gleichheit in der Unsicherheit größer ist. Die Fiktion von einer unsichtbaren Machtzuweisung soll eine fundamentale Gleichheit vortäuschen, hinter der alle indiC. B. Macpherson, 65 f. Ebenda, 69f. Den Zusammenhang von Hobbes' Theorie und frühbürgerlichkapitalistischer Gesellschaftsordnung, insbesondere der Institution "Privateigentum" betonen auch: R. Zur Lippe, Bürgerliche Subjektivität: Autonomie als Selbstzerstörung, Frankfurt 1975, 11 und W. Fach, "Gemeinwohl" im Ursprung, in: W. Fach I U. Degen (Hg.), Politische Legitimität, 200- 237. Siehe auch die Macpherson zustimmende Hobbes-Interpretation von: H. Neuendorff, Der Begriff des Interesses. Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx, Frankfurt 1973, Kap. II. Hobbes, 32 - 72; W. Röhrich, Sozialvertrag und bürgerliche Emanzipation von Hobbes bis Hegel, Darmstadt 1972, 5- 23. Im Anschluß an F. Tönnies auch: F. Borkenau, 459f. Borkenau bezeichnet Hobbes auch als "Ideologe(n) des bewußtest bürgerlichen Teils der landed gentry" (451). 34 B. Willms (Die Antwort des Leviathan, 102) spricht in diesem Zusammenhang von der "Konvertibilität aller menschlichen Eigenschaften in die Währung ,Macht'". 35 In diesem Sinn ist Hobbes als "Liberaler" anzusehen (F. Tönnies, Thomas Hobbes, 222; J. Habermas, Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt 1971, 72; C. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Harnburg 1938, 84ff.; L. Strauss, Hobbes' politische Wissenschaft, 168). 32 33
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viduellen Besonderheiten zurücktreten. J. Rawls hat in diesem Zusammenhang von .,einem Schleier des Nichtwissens" gesprochenas, der zum Vertragsabschluß zwingea7. Hobbes bestimmt die verschiedenen Interessensund Bedürfnislagen der einzelnen als derart einander entgegengesetzt, daß tatsächlich jeder des anderen Wolf ist. Die unterschiedlichsten Triebwünsche, die im Kampf aller gegen alle in Konkurrenz zueinander treten, werden aber überdeckt durch ein gleiches, generalisiertes Befriedigungsmittel, die Macht. Die ursprünglich angelegten Ungleichheiten erschöpfen sich in der Unterordnung unter die formalen Voraussetzungen des Marktmechanismusaa. Die Machtansprüche eines jeden gegen jeden im Naturzustand sind so gewaltig, daß sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt von als Monaden verstandenen Individuen verunmöglichen. Die Gesellschaft ist in Einzelwesen aufgesplittert, die nur egoistische Interessen kennen. Für die Staatstheorie ergibt sich nun, daß die gegenseitige Angst aller vor allen, die Todesfurcht, in den gemeinsamen Wunsch nach Sicherheit mündet. Die Garantie darüber soll ein sich verewigender, die Gesellschaftsmitglieder beherrschender Souverän übernehmen. Im Zuge dieser Argumentation plädiert Hobbes - wie übrigens auch Bodin - deshalb für erbliche Thronfolge, weil die neuerliche Bestimmung darüber, wer die oberste Gewalt ausübende Person sein soll, notwendig in den Naturzustand zurückführe, dem man durch die Übertragung aller Rechte an den obersten Souverän ursprünglich gerade zu entrinnen beabsichtigte. Damit aber bliebe der Zweck, zu dessen Erfüllung der Staat einstens eingesetzt wurde, unerreicht. Deshalb hat es die höchste Aufgabe des Staates zu sein, dem Urvertrag gemäß die allerhöchste Gewalt zu inkorporieren- soweit sie die Selbsterhaltung der Bürger gewährleistet. Hobbes setzt ein bestimmtes Menschenbild bereits voraus. Ich möchte es anarcho-individualistisch nennena9. Für ihn resultieren deshalb die von der J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975, 29. "Der Vertrag ist weder eine historische noch eine logische Konstruktion", sondern "das allgemeine gesellschaftsstiftende Prinzip der Vernunft in ihrer ursprünglich subjektiv-autonomen Bestimmung." (B. Willms, Die Antwort des Leviathan, 117 resp. 118.) 38 C. B. Macpherson, 101. 39 Die Wort-Verbindung "Anarcho-Individualismus" soll andeuten, daß die Menschen im vorstaatlichen Zustand zwar herrschaftslos leben, d. h. über sich keine Herrschaft dulden, jedoch in sich, d. h. kraft ihres individuellen Seins, den Drang zum Herrschen verspüren. Jeder einzelne möchte den anderen beherrschen, also Herr über den anderen sein. U. Weiß schlägt sogar vor, "von einer Summe vereinzelter ,Mon-archen' (zu) sprechen, ohne freilich die staatlichen Implikationen des Begriffs Monarchie damit zu verknüpfen. Die Mon-archen des Naturzustands sind keine politische Institution, sondern bloß individuelle, auf (Vor-)Herrschaft abzielende Aktionszentren". (U. Weiß, Das philosophische System von Thomas Hobbes, 136f.) Von diesem Gesichtspunkt aus ließe sich sogar der "Monarch im staatlichen Zustand" als derjenige begrei36 37
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klassischen Naturrechtstradition begründeten Tugenden nicht aus Naturanlagen, denn, wenn es solche gäbe, "so müßten sie auch einem Menschen, der ganz allein auf der Welt lebte, eignen ... Es kennt sie aber nur der Mensch in der Gesellschaft, nicht der im N aturzustand40." Hobbes' methodischer Zugang zur Gesellschaftsbetrachtung bezieht sich also auf die Frage, wie die Dinge im Naturzustand aussehen würden. Der Naturzustand ist aber gerade durch die liberalistische Fiktion charakterisiert, "in der sich das zoon politikon seiner Gemeinschaftlichkeit und Mitmenschlichkeit beraubt, um sich gegenüber dem Anderen in seine Gegenmenschlichkeit, ins Privateste - da alle anderen individuellen Ansprüche und Wirklichkeiten Ausschließende- des eigenen Herrschaftswillens einzukapseln41." Dies schließt - nach Hobbes - nicht aus, daß sich die Menschen auch im Naturzustand ihrer Sicherheit wegen und zu gegenseitiger Unterstützung gegenüber Dritten zusammenfinden. Diese Gruppenbildungen seien jedoch zufälliger Art, "weil sie nur entstehen, wenn die Bedürfnisse einzelner zufällig konvergieren " 42 . Ebenso sei der Mensch bereits im Naturzustand ein religiöses oder abergläubisches Wesen, woraus sich die verschiedensten ideologischen und konfessionellen Probleme (Häresien) ergäben43. Im übrigen stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, welchen Stellenwert die Theologie in Hobbes' politischem Denken einnimmt44. In Anbetracht der religiösen Teile im "Leviathan" wird man sagen müssen, daß Hobbes sich methodischer Abstraktionen bedient, d. h. von einem praktischmoralischen und religiösen Kontext absieht, um hernach den Zusammenhang wieder herzustellen. Die Abstraktionen, zu denen auch die Suspenfen, "dem seine volle Natürlichkeit, sprich die Freiheit des Beherrschens anderer, belassen wurde". (Ebenda, Fußnote 214.) 40 Th. Hobbes, XIII, 101. u U. Weiß, 137. 42 Ebenda, 138. 43 Th. Hobbes, I, Kap. 14, 15. 44 Für B. Willms ist es ausgemacht, daß das von Hobbes konstruierte politische System der Ergänzung und Vermittlung durch das Christentum bedarf: "Erst der Christ begreift irdische Herrschaft als die Verwirklichung der Wahrheit Gottes, d.h. auch als die Verwirklichung seiner eigenen Substanz. Mit dieser hier abstrakt vorweggenommenen These wäre der Stellenwert der Theologie im System von Hobbes' politischer Philosophie anzugeben . . ." (Die Antwort des Leviathan, 185.) Pointierter argumentiert K.-M. Kodalle, für den erst der theologische Gesichtspunkt Politik, wie sie sich im und durch den Vertragsabschluß konstituiert, erklärt. (K.-M. Kodalle, Thomas Hobbes- Logik der Herrschaft und Vernunft des Friedens, München 1972; ebenso: K.-M. Kodalle, Subjektivität und Staatskonstitution. Freiheit, "absolute" Wahrheit und das Systemmore geometrico, in: R. Schnur (Hg.), Staatsräson, 301323.) Zum Bereich "Politische Theologie" und Thomas Hobbes aber vor allem das gleichnamige Buch von C. Schmitt (München und Leipzig 1934). Die Position Schmitts in diesem Zusammenhang der Hobbes-Forschung läßt B. Willms von einem "SchmittProblem" sprechen: B. Willms, Der Weg des Leviathan, Kap. VII, 114.
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dierung der metapolitischen Richtigkeits-oder Wahrheitsfrage gegenüber Weisungen des Souveräns gehört, legen den Grundstein "eines wert- und wahrheitsneutralen, positivistisch-technischen Denkens45 ." In diesem Sinn kann durchaus behauptet werden, daß Hobbes bereits einen technisch-instrumentellen Begriff von Macht, Staatshandeln, überhaupt von Politik verwendet, der im "grundsätzlichen Verzicht auf die Frage nach dem Richtigen und Guten" besteht46. Die bereits vor Hobbes einsetzende Entwicklung instrumentellen Denkens "hat man teils auf Einfluß Machiavellis, teils auf den Einfluß der aufkommenden Naturwissenschaften zurückgeführt .. . Aber man wird bei der Suche nach den Ursachen dieser Technisierung des politischen Denkens ein wichtiges Glied nicht außer acht lassen dürfen: Die Übertragung technischer Vorstellungen auf die Politik setzt voraus, daß dieser Bereich anders orientiertem Denken entzogen wird, und dies bedeutet, daß die Menschen aus konkreten Gründen diese andere Denkweise für die Politik nicht mehr angemessen halten: Viele Denker, die die neue Denkweise propagieren, waren Gegner Machiavellis, konnten also schwerlich von ihm beeinflußt werden. Die moderne Naturwissenschaft hingegen kam zum Durchbruch als jenes Denken, dessen Entstehen früher zu beobachten ist, nämlich bereits etliche Jahre vor 1600, so daß sie nicht sonderlich stark diese Entstehung beeinflußt haben kann47 . " Hobbes' instrumentell-technische Betrachtungsweise ist von der bereits oben angeführten individualistischen begleitet, die im Eigennutzen und Begehren jedes einzelnen ansetzt4s. Dessen psychologische und biologische C. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, 69. L. Strauss, Hobbes' politische Wissenschaft, 147. Vgl. hiezu auch die Ausführungen von: J. Habermas (Theorie und Praxis, 75- 79) über die Entstehung des sozialtechnischen Machtwissens; ebenso die Interpretation von W. Hennis (Politik und praktische Philosophie, 47 und 49: Hobbes' politisch- philosophischer Gesichtspunkt sei es, "einen Zustand herstellen zu können, der das von allen erwünschte Leben möglich macht. Dieser Zustand, dieser artifizielle Status ist der Leviathan. Für die Gewährleistung dieses Zustandes kommt es nun aber gerade nicht darauf an wie die Menschen leben, auf ihre Praxis, geschweige denn darauf, wie sie leben sollten, sondern alles hängt von der richtigen Errichtung, der richtigen Bauweise dieses artificial body ab".) und M. Riedel (Zum Verhältnis von Ontologie und politischer Theorie bei Hobbes,.in: R. KoseHeck IR. Schnur (Hg.), 107: "das Herstellen der Einzelnen zielt bei Hobbes nicht mehr darauf, mit der Herstellung des Werkes zugleich die Bedingungen seines ,Gebrauchs', und das heißt für die klassisch-politische Philosophie: des Handeins als Gut-Handeln zu schaffen, sondern das Werk im vorhinein auf der Basis einer Technik zu errichten, die das Tugendhandeln der Bürger entbehrlich macht."). 47 R. Schnur, Individualismus und Absolutismus, 65. 48 Wie bereits beim Begriff "Selbsterhaltung" im besonderen angemerkt, ist Hobbes auch im allgemeinen kein Reduktionismus dergestalt vorzuwerfen, daß er die menschliche Natur als solche auf die Sinnes- und Triebebene zurückführe. Im Gegenteil, Hobbes geht auch von einer Subjektvernunft des Menschen aus, deren Prinzip das des gleichzeitigen Konstruierens und Herstellens, Verstehens und Machens ist. Hiezu: A. Child, Making and Knowing in Hobbes, Vico, and Dewey, Berkeley, Los Angeles 1953, 302f.; B. Wilbns, Die Antwort des Leviathan, 79ff.; A. Baruzzi, Mensch 45
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Triebnatur entscheide über die utilitaristischen Richtmaße, die jenseits von Gut und Böse angesiedelt sind: "Einen jeden Gegenstand seiner Neigung und Begierde wird man für sich selbst gut nennen, den des Hasses und der Abneigung dagegen schlecht. Was man verachtet, erscheint einem gering und unbeträchtlich. Die Bezeichnungen gut, schlecht und verachtenswert sind immer nur von dem abhängig, der sie gebraucht. Es gibt nichts, was in sich und absolut gut, schlecht oder verachtenswert wäre, und es gibt auch keine Regel für Gut und Böse, die auf die Natur der Gegenstände selbst gegründet wäre49." Hobbes gelangt durch die Abstraktion (Fiktion) eines bloß für sich seienden Individuums - wie vor ihm schon englische Revolutionäreso - zu einer Aristoteles und der klassischen Naturrechtslehre entgegengesetzten Gesellschaftsauffassung. Interessant dabei ist, daß Hobbes Aristoteles, Cicero oder andere klassische politische Philosophen keineswegs mißversteht, wenn er behauptet, daß diese alle in einer staatlichen Gemeinschaft lebten und "ihre Lehren nicht nach den Gesetzen der Natur (entwickelten), sondern( ... ) sich an der Wirklichkeit ihrer Staaten (orientierten)" 51 • Hobbes wirft den Klassikern vor, die gesellschaftliche Praxis ihrer Zeit in Theorie umgeformt zu haben. Er selbst glaubt sich seiner Zeit enthoben, wenn er die ·" natürlichen Gesetze" zum alleinigen Urteilsmaß macht. Hobund Maschine. Das Denken sub spezie machinae, München 1973, 49ff.; L. Strauss, Naturrecht und Geschichte, 178 ff. Bereits mit Blickrichtung auf Kants "Revolution der Denkart" wird Hobbes interpretiert von J . Dennert, Die ontologisch-aristotelische Politikwissenschaft und der Rationalismus. Eine Untersuchung des politischen Denkens Aristoteles', Descartes', Hobbes', Rousseaus und Kants, Beiträge zur Politischen Wissenschaft 11, Berlin 1970, 115ff.- Siehe auch bereits Fußnote 12. 49 Th. Hobbes, VI, 39f. Hobbes' Position der Sittlichkeit stellt sich - im Kontext der Realentwicklung betrachtet - als eine Art "Wert-Suspension" dar, die "der Zerfall der politischen Gemeinschaften und Handlungsmaximen im konfessionellen Bürgerkrieg" mit sich brachte, jedoch nicht als "wertfeindlich" einzustufen ist. Vielm~hr handelte es sich um das "Bemühen, vom Streit um materiale Fragen wegzukommen und insoweit neutrales Gebiet zu erreichen, auf dem eine allgemeine Verständigung möglich erschien ... (Deshalb) mußte das Denken von der Frage nach dem Wesen der Sachen zu ihrem Funktionieren lenken. Das konnte umso eher geschehen, als bereits die Politiques dem Staate einen theologisch weisungsfreien Bereich zuwiesen, der also seine eigenen Sachgesetzlichkeiten besitzen mußte." (R. Schnur, Individualismus und Absolutismus, 40, 64 und 65.) Nach Hobbes ist das Objekt moralischen Bemühens der Frieden. Als Moralphilosoph der Individualität war es ihm hauptsächlich um die Motive der Menschen zu tun, am bürgerlichen Recht festzuhalten; "he is less concerned with what a man might otherwise do with his life than with the minimum conditions in which the endeavour for peace could be the pattern of conduct for even the least well-disposed man. These minimum conditions are that there shall be one law for the lion and the ox and that both should have known and adequate motives for obeying it." (M. Oakeshott, The Moral Life in the Writings of Thomas Hobbes, reprinted in: M. Oakeshott, Hobbes on Civil Association, 125.) 5o Hiezu: Kap. 1 dieser Arbeit. 51 Th. Hobbes, Zweiter Teil, XXI, 169.
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bes erkennt dabei nicht, daß sich seine Naturrechtskonstruktion ebenso gravierenden Einwänden aussetzt wie ihr klassischer Antipode. Hobbes abstrahiert zunächst gänzlich von gesellschaftlichen Gegebenheiten, um den Menschen als das begreifen zu können, was er seiner "Natur" nach ist: ein bloß auf sich bezogenes, seinem individuellen Nutzen ergebenes Individuum. Versucht Aristoteles das Wesen des griechischen Staates von seiner Erscheinung zu lösen, folgert Hobbes die Notwendigkeit eines Staates empirischpragmatisch, nachdem er methodisch bereits eine von Gesellschaft gereinigte "Natur" zum Ausgangspunkt nahm52. Tatsächlich übernimmt Hobbes ein Zerrbild vom Menschen, dessen Charakteristika sich in den Konkurrenzkämpfen einer im Aufstieg begriffenen liberalen Ära ausbilden. Die Gleichheit aller vor den Bedingungen, wie sie der liberale Marktmechanismus schafft, läßt Hobbes der Fiktion erliegen, als wären die Menschen auch gesellschaftlich gleich. Mit den Worten von Hobbes: "Es werden ... nur sehr wenige als so töricht angesehen werden können, daß sie sich lieber von anderen beherrschen ließen, als selbst über sich zu bestimmen. Und sooft es zwischen denen, die sich selbst für weise hielten, und den anderen, die der eigenen Weisheit mißtrauten, zu einem gewaltsamen Kampf kam, trugen letztere den Sieg davon; nur ganz selten blieben die anderen einmal Sieger. Sind die Menschen von der Natur gleich geschaffen worden, so müssen sie diese Gleichheit auch anerkennen. Aber selbst wenn sie von Natur her nicht gleich wären, würden sie doch von ihrer Gleichheit überzeugt sein. Sie würden nur dann einem Frieden zustimmen, wenn ein jeder die gleichen Bedingungen vorfände. Man muß eine solche Gleichheit also auf jeden Fall annehmens3." Für Hobbes ist der Gedanke, daß die einenkraftihrer Natur zum Dienen und die anderen zum Herrschen bestimmt sind, geradezu abwegig. Seine Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen in der Unterordnung unter die formalen Bedingungen des Konkurrenzkampfes macht die Polemik gegen Aristoteles verständlich. Unverstanden bleibt Aristoteles freilich darin, die Struktur ideeller Schichtung mit Hilfe eines proportionalen Gleichheitsbegriffs auch auf ungleiche Rechte und Pflichten bezogen zu haben54. Aristoteles hat bei aller Anerkennung seiner ökonomischen Einsichten - im Gegensatz zu Hobbes - das Modell von alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden Marktbeziehungen, denen die Menschen unter52 Der Unterschied zwischen beiden ist jedoch der, daß Hobbes schlichtweg den Naturzustand vom status civilis trennt, Aristoteles hingegen an einem teleologiegeschichtlich begründeten Verwirklichungscharakter von Natur festhält. 53 Th. Hobbes, Erster Teil, XV, 122.- Borkenau spricht von einer "Vermischung von Klassenkampf und Konkurrenzkampf" in dieser "Lehre von der natürlichen Gleichheit der Menschen" und stellt fest: "Nur unter der Voraussetzung dieser Gleichheit kann die Existenz von Klassen negiert werden." (F. Borkenau, 464.) 54 Hiezu bereits: Fußnote 27.
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geordnet und worin sie einander gleich sind, noch nicht zur Verfügung. Andererseits ist die Hobbes'sche Einsicht, daß sich niemand zur Unterwerfung zwingen lasse, auch eine Erfahrung der klassischen Staatsphilosophen. Hobbes bedarf jedoch keiner traditionell begründeten Legitimität mehr. Die liberalistischen Marktformen schaffen eine Gleichheit, der gegenüber herkömmliche Legitimierungsverfahren von Ungleichheit zusehends versagen. Die Gleichheit der Unsicherheit, wie sie der Markt hervorzubringen scheint, läßt auf die klassenspezifische Herleitung eines Rechte- und Pflichtenkatalogs verzichten. Hobbes blendet durch seinen theoretischen Ansatz gleich zwei Probleme aus: a)die faktische, durch Klassenzusammensetzung erfah-· rene Ungleichheit der Menschen, b)einen hierarchisch strukturierteti, also in der Zuordnung der Klassen ungleichen Sittenkodex, der seine Legitimierung aus einer transzendenten Ordnung erfährt. Die liberale Fiktion von der Gleichheit der Menschen (die Folgen aus der Unterordnung der Menschen unter die Bedingungen des Marktes werden als für alle gleich angesehen) entbindet Hobbes des Problems, einen transzendenten Rechtfertigungsgrund hierarchisch abgestufter Standesmoralen suchen zu müssen. Seine Legitimationsbasis ist eine andere. Für ihn genügt es, die durch den Kampf auf Leben und Tod für alle gleichermaßen bestehende Unsicherheit als Naturzustand zu begreifen, demgegenüber es nur eine Alternative allseitigen Überlebens gibt, den Staat. Die Argumentation scheint bestechend zu sein, baute sie eben nicht auf einer Fiktion auf. Die Gleichheit in der Unsicherheit, von der Hobbes spricht, ist dem Modell des Marktmechanismus einer auch die Arbeit als Ware betrachtenden Gesellschaft entnommen. So weit deckt sich Hobbes' Ansatz mit dem Modell der Eigentumsmarktgesellschaft. Was sich hingegen nicht deckt, ist die spezifisch-atomistische Sichtweise, die in dem Satz gipfelt: "Jeder wird nur von seiner eigenen Vernunft geleitet"55, und keine Interessenskongruenz anerkennt. Die individuelle Vereinzelung ziehe gesellschaftlich gesehen unaufhebbare Zersplitterung nach sich.- Demgegenüber, so Macpherson, impliziere das Modell der Eigentumsmarktgesellschaft nebst über Tauschbeziehungen vermittelten ökonomischen auch politische Klassenbindungen, welche die tendenziell anarchische kapitalistische Produktionsweise als solche garantieren. Hobbes' Gedanke jedoch, daß die Gesellschaft im Naturzustand notwendig in Einzelinteressen (individuelle Machtbedürfnisse) zersplittert sei, schließt "die Möglichkeit einer Klassenbindung (aus), die den auseinanderstrebenden Kräften der Marktgesellschaft entgegengewirkt"56. Ich habe in einer kurzen historischen Skizze hinsichtlich der Englischen Revolution der vierziger Jahre des 17. Jahrhunderts zum Ausdruck bringen 55 56
Th. Hobbes, Erster Teil, XIV, 102. C. B. Macpherson, 111.
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wollen, daß unterschiedliche Machtansprüche gegeneinanderstanden. Die Theorie Hobbes' ist sicherlich dadurch beeinflußt worden. Das Fehlen eines starken (absolutistischen) Staates, bzw. der Kampf gegen diesen, verstärkte die politische Atomisierung einander entgegengesetzter Interessensfraktionen. Diese Zeit macht verständlich, warum Hobbes den Gedanken von Herrschaft weniger aus dem Zusammenhang von gesellschaftlichen Klassenverhältnissen und Staatsstruktur entwickeln konnte57. Seine Theorie des Naturzustands geht zu sehr von gegensätzlichen Interessen der Menschen aus, wodurch über das Bestehen einer gemeinsamen Klassenbasis hinweggetäuscht wird. Als gemeinsames Interesse der Menschen ergibt sich für Hobbes das Interesse an einer übergeordneten Macht zwecks Erhaltung des Lebens. Demnach wären also - dieser Konstruktion nach - alle Interessen darin einig, daß es einen Staat geben müsse, der die Staatsbürger gleichermaßen voreinander schützt. Vom Souverän wird angenommen, daß er jedermann gegenüber gleichen Schutz gewährt. Die Notwendigkeit des Staates soll auf diese Weise außer Streit gestellt werden. Die Frage seiner historischen Herleitung und das Eingehen. auf die faktische Unterdrückungsgewalt wird jedoch unabhängig davon gesehen. Das Vertragshandeln der Untertanen einmal vorausgesetzt, biete es diesen immer noch mehr Vorteile als Nachteile, der über den Umstand von Unterdrückung und der Bevorzugung bestimmter Klassen durch den Staat entstehe. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Hobbes a)einen Staatsbegriff, der ·auf den Klassencharakter der jeweiligen Gesellschaft Bezug nimmt, b)den Gedanken auch einer Partikularität des Staates bzw. des Eigeninteresses an seinem Bestehen, wie aus der Entwicklung von Einzelherrschaft bis hin zur suprema potestas zu ersehen ist, in seine Konzeption vom Herrschaftsvertrag selbst nicht hineingenommen hat. Beides hätte ja den Herrschaftsvertrag gerade um seinen Vorteil gebracht, um dessentwillen er abgeschlossen wurde: in Absehung (nicht: Negierung!) der Lebensbedingungen, im Naturzustand, d.h. diese als nicht lebenswert begreifend und darum überwindend, gemeinschaftliches Handeln in Frieden zu ermöglichen. Die vereinzelten und alle gegen alle kämpfenden Individuen hätten 57 Freilich hat Hobbes- wie alle klassischen Staatsphilosophen vor ihm auch- die Unterdrückungs- und Ausbeutungsfunktion des historisch bestehenden Staates gesehen. So etwa unterscheidet er den "politischen oder institutionellen Staat" vom "Eroberungsstaat". Letzterer würde durch "natürliche Kraft" errungen-" wenn man sich z. B. seine Kinder und deren Kinder durch die Drohung, sie umkommen zu lassen, untertan macht oder wenn man sich im Kriege seine Feinde unterwirft, indem man sie am Leben läßt". (Th. Hobbes, Zweiter Teil, XVII, 137.)- Worauf es Hobbes jedoch ankommt, ist die Beschreibung des "Wesens" des Staates (ebenda) als "institutionellen Staat". Genau dies aber erfolgt in Absehung von den Bedingungen des "Eroberungsstaates", sonst bedürfte es nicht der begrifflichen Abgrenzung.
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den Staat geschaffen- zu jedermanns Bestem. -In dieser Denkkonstruktion von Hobbes, nicht an seinen Zugeständnissen an die historische Realität, muß demnach der Staat gegenüber den Bürgern notwendig als neutral erscheinen, wenn schon nicht als gut. Im Vordergrund steht ein Staat, der für einen jeden die Gewähr dafür bietet, vor dem anderen sicher sein zu können. In dieser Hinsicht bleibt dem Staat nichts Partikulares, da er für alle da ist. Die Zeit der "Great Rebellion" in England, die in Wahrheit "Great Revolution" heißen müßte, wurde bereits kurz umrissen. Hobbes mag durch sie in der Meinung bestärkt worden sein, daß es so etwas wie einen Klassenzusammenhalt oder ein Klasseninteresse nicht gibt58. Das politische Chaos unter Richard Cromwell und die daran anschließende Restaurationsperiode unter König Karl II. bilden nur noch weitere Zeitabschnitte politischer Instabilität. 1679 stirbt Hobbes. Es war ihm nicht gegeben mitzuerleben, wie Tories, Whigs und die anglikanische Kirche neun Jahre später gemeinsam gegen den absolutistisch regierenden Jakob II. und seine rekatholizierende Politik konspirieren, um schließlich Wilhelm von Oranien III. zu küren. Die "Bill o{ Rights" von 1688/89 soll gleichzeitig verhindern, daß der König neuerdings zu absolutistischer Politik greift. Mit diesem Zeitpunkt hat das Bürgertum als Klasse zu sich gefunden. Die Klassenbildung ist offenbar doch stärker, als es die zuvor zersplitterten, in Partikularinteressen zerfallenden Fraktionen vermuten ließen. - Einheiligkeit herrscht auch in der Benennung der Ereignisse von 1688 als "glorreiche Revolution". Die - bei Betonung des später erst auftretenden, modernen Sinngehalts von Revolution - tatsächlich revolutionären 40er Jahre des 17. Jahrhunderts werden hingegen "Rebellion" genannt.
Literatur zum Zweiten Kapitel Baruzzi, A.: Mensch und Maschine. Das Denken sub spezie machinae, München 1973 Blumenberg, H.: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966 Borkenau, E.: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode (Paris 1934), Darmstadt 1971 Buck, G.: Selbsterhaltung und Historizität, in: R. KoseHeck I W. D. Stempel (Hg.), Geschichte- Ereignis und Erzählung, Poetik und Hermeneutik V, München 1973 Child, A.: Making and Knowing in Hobbes, Vico and Dewey, Berkeley & Los Angeles 1953 sa Dies ist der hauptsächlichste Einwand von C. B. Macpherson, 112.
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2. Kap.: Thomas Hobbes und die Staatsgewalt
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Drittes Kapitel
Der liberale Ansatz: J. Locke, D. Hume, Ch. de Montesquieu John Locke's "Two Treatises of Government" (1690) erscheint nach der "Glorious Revolution", die es zu rechtfertigen giltl. An dieser Arbeit ursprünglich gerichtet gegen das 1680 erschienene Buch "Patriarcha" von Sir Robert Filmer und dessen absolutistischer Theorie- hat Locke seit 16812 geschrieben. Doch dürften auch Teile von früher darin enthalten sein. Lokkes solidarische Haltung gegenüber seinem Dienstherrn und Freund, dem first Earl of Shaftesbury, der gegen das absolutistische Königtum Karls II. opponierte und 1683 nach Holland flüchtete, ließ ihn bald nachfolgen3 • Doch auch im holländischen Exil erfolgte zunächst keine Fertigstellung des Werkes. Locke hat sich damit bis 1689 Zeit gelassen. Erst nach seiner Rückkehr in die Heimat hält er den Zeitpunkt einer endgültigen, wenn auch bezüglich des 1. Teils unvollständigen• Fassung für gekommen. Die in den "Two Treatises" beinhaltete, lang ausgereifte politische Theorie trachtet zu versöhnen, was realgeschichtlich durch die "Glorious Revolution" versöhnt wurde: eine (wiederum) "natürliche" politische Ordnung mit den Bedingungen bürgerlicher Herrschaft. Kontinuitätsdenken erweist sich dabei als gewichtiger Legitimierungsfaktor. Die Entwicklung des politischen Systems Englands hat auch durch die Revolution den Nimbus der Kontinuität nicht verloren. Daß der Name "Revolution" gerade auf 1688 Anwendung findet, hat seinen spezifischen (Rechtfertigungs-)Grund. Mit der wohligen Abrundung von "glorreich" bedeutet er die Rückkehr zu naturgemäßer und richtiger Ordnung (zu der "Merry Old England" immer wieder zurückfinde! )5. Siehe: Fußnote 29. Populäre Erklärungsversuche legen nahe, daß die "Two Treatises" nach 1688 geschrieben wurden. Tatsächlich hat Locke zu diesem Zeitpunkt Ergänzungen und Revisionen angestellt, um die Entthronisierung von Jakob II. nachträglich zu rechtfertigen. Die vor Lockes Emigration nach Holland verfaßten Teile haben jedoch den auch im Interesse Shaftesburys stehenden Charakter direkter Kritik an der Königsgewalt Karls II. Hiezu insbesondere: P. Laslett, lntroduction to Lockes' "Two Treatises of Government", Cambridge 1960. 3 J. D. Mabbott, John Locke, London 1973, 11. 4 R. I. Aaron, John Locke, 3. ed., Oxford 1971, 274. 5 In diesem Sinn meint E. Burke: "Die Revolution (von 1688, W. E.) hatte zur Absicht, unsere alten unstreitigen Rechte und Freyheiten, und die alte Regierungsform, die unsere einzige Sicherheit für diese Rechte und Freyheiten ist, aufrecht zu 1
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3. Kap.: Der liberale Ansatz: J. Locke, D. Hume, Ch. de Montesquieu
Die tatsächlich revolutionären Verhältnisse in England sind "durch Uminterpretation zu verleugnen" versucht wordens. I. Fetscher nennt dies "die Fähigkeit der englischen Ideologie, tatsächliche Veränderungen als Fortsetzungen der Tradition umzudeuten7." So sprächen englische Juristen auch vom Erbfolgeanspruch Königin Marys, der Frau Wilhelm von Oraniens, anstatt die Diskontinuität revolutionärer Entwicklung anzuerkennen.- In Wahrheit sei der Wille des Parlaments, den König zu verjagen und einen anderen einzusetzen, der diesen Willen auch respektiere, mehr als ein dynastischer Wechsel. Wie immer man das englische Legitimitätsstreben, Kontinuität in der politischen Entwicklung vorscheinen zu wollen, bezeichnen mag, Locke steht in eben dieser Tradition und muß von da her verstanden werden. Widersprüche und Doppeldeutigkeiten erklären sich auf diesem Hintergrund. Daß die (glorreiche) "Revolution" traditionell-naturrechtlich legitimiert werden konnte, hing wohl mit ihrem damaligen Bedeutungsgehalt zusammen, der ein anderer war wie etwa der der Französischen. Darauf wird im Kapitel über den Revolutionsbegriff noch einzugehen sein. Ähnlich Hobbes' geht auch Locke von einem Naturzustand der Menschheit aus, allerdings mit christlich-naturrechtlicher Basis. Für Locke ist das Leben dem heiligen und unabänderlichen (Natur-)Gesetz unterworfen und darf daher nicht als willkürlich betrachtet werden. Locke's state of nature "is not asocial; nor is it psychologically or logically prior to society. It is neither a piece of philosophical anthropology nor a piece of conjectural history. Indeed it has literally no transitive empirical content whatsoever. For empirical specification, in Locke's conception, was in itself contamination by history and the analytical function of the concept lay precisely in its ahistoricity. In itself it is simply an axiom of theology. lt sets human beings in the teleology of divine purposess." Andererseits hat Locke den Naturzustand wieder so weit der historischen Realität angenähert, daß er in der Wildnis Amerikas vorgefunden werden könne. Soziabilität und Ökonomie sind in ihm aufgenommen. Wie für Hobbes ist auch für Locke der Naturzustand als analytisches Beweismittel anzuhalten." (E. Burke, Betrachtungen über die französische Revolution, bearbeitet und mit einer Einleitung versehen von F. Gentz, Erster Theil, Hohenzollern 1794, 109.) s I. Fetscher, Herrschaft und Emanzipation, München 1976, 83. 7 Ebenda, 86. -Als Beispiel wäre hier Burke zu nennen, wenn er sagt: "Alle Reformen, die wir bisher vorgenommen haben, sind von dem Grundsatz der Achtung für das Alte ausgegangen ... " (E. Burke, 110.) Selbst die älteste Reform, die Magna Charta, hing mit einem früheren "Freyheitsbrief" zusammen, der auf noch älteren Reichsgesetzen beruhte. (Ebenda.) s J. Dunn, The Political Thought of John Locke. An Historical Account of the Argument of the 'Two Treatises of Government', Cambridge 1969, 103.
3. Kap.: Der liberale Ansatz: J. Locke, D. Hume, Ch. de Montesquieu
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sehen, das Wesen des Staates zu eruieren, indem man von einem Zustand ohne Staat ausgeht. Im Gegensatz zu Hobbes führt allerdings bei Locke die absolute individuelle Souveränität nicht zu Chaos, sondern findet im Naturgesetz ihren Orientierungsrahmen9• Erst entsprechendes ökonomisches Wachstum und zivilisatorische Entwicklung würden einen Staat erforderlich machen, der die komplizierter gewordenen Eigentums- resp. Kapitalverhältnisse zu schützen hatiO. Mit der Hereinnahme von Soziabilität und einem Mindestmaß an Ökonomie in den Naturzustand läßt Locke neben der christlich-naturrechtliehen Perspektive auch und im besonderen eine liberale aufkommen. So bestimmt er etwa den Menschen als Person, die das Recht auf Eigentum ("proberty") an sich selbst verkörpert11 . Zweifellos steht Locke damit am Anfang der Tradition liberaler Eigentumsauffassung, welche die Arbeit des Menschen so sehr als sein Eigentum (im weitesten Sinn!) ansieht, daß er darüber ebenso frei verfügen kann wie über Grund und Boden, Güter aller Art und Kapital. Locke nimmt immer da, wo gesellschaftliche Bedingungen (des Frühkapitalismus) in Widerspruch treten mit naturrechtlich formulierbaren Postulaten, Partei für die konkreten Erfordernisse bürgerlicher Ökonomie. So transformiert er das anfänglich auf Gemeinbesitz bezogene Eigentumsrecht in ein auf Privatbesitz eingeschränktes. Darüber hinaus erklärt er über die Erfindung des Geldes die Naturrechtsregel als überholt, daß jeder nur soviel besitzen darf, wie er nutzen kann12. Durch die Geldwirtschaft würden auch andere Produktionsfaktoren zu Kapital, sodaß Begrenzungen der Eigentumsgrößeauf das Maß, nichts ungenutzt verderben zu lassen13, sowie die Einschränkungaufgrund des Bedarfs der anderen14, überflüssig wären. Macpherson macht zuzüglich noch auf eine weitere, "angebliche" Einschränkung des Eigentumsrechts bei Locke aufmerksam. Es dürften nur so viele Güter approbiert werden, "wie man mit seiner eigenen Arbeit vermischt hat"lS. Er weist nach, daß diese Einschränkung von allem Anfang an nicht ernst gemeint sein könne, weil Locke die Lohnarbeit bereits im Naturzustand denke16• Die Arbeit des Knechtes würde durch den Eigentumstitel an ihr genauso angeeignet werden dürfen wie die Früchte eigener, also vertraglich nicht übereigneter Hände Arbeit17. K. I. Vaughn, John Locke. Economist and Social Scientist, Chicago 1980, 79. Ebenda, 80 ff. u J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt -Wien 1967, Buch II, § 27, 218. 12 Ebenda, § 36, 223 - 224. u Ebenda, § 46, 230- 231. 14 Ebenda, § 36, 223. 15 C. B. Macpherson, Die Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt 1967, 241. 16 Ebenda, 241ff. 9
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3. Kap.: Der liberale Ansatz: J. Locke, D. Hume, Ch. de Montesquieu
Damit freilich reproduziert Locke das Dilemma des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, moralischen Pflichten gegenüber anderen entgegen den Systemerfordernissen der alle Lebensbereiche durchdringenden Konkurrenz nachzukommen. Der Arbeitsbegriff als Produktionsfaktor bürgerlicher Ökonomie ist sozial nicht definiert: "Ist es nun die Arbeit, des Menschen unbedingtes Eigentum, wodurch die Appropriation gerechtfertigt und Werte geschaffen werden, so überragt das individuelle Recht auf Aneignung jede moralische Forderung der Gesellschaft. Der traditionelle (christliche, W. E.) Standpunkt, Eigentum und Arbeit seien gesellschaftliche Funktionen und der Besitz von Eigentum bringe soziale Pflichten mit sich, wird damit untergraben Ia." Locke repräsentiert mit seiner Theorie den Widerspruch zwischen den moralischen Zielen und den ökonomischen Bedingungen eines humanistisch gesinnten Bürgertums in einer Eigentumsmarktgesellschaft. Postuliert wird die ursprüngliche Gleichheit von natürlichen Rechten, die jedoch an der Institution des Eigentums ihre Schranke haben. Locke geht zunächst von einem "Zustand der Gleichheit" aus, "in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind, da niemand mehr besitzt als ein anderer . .. "19. Da es einem jeden freistünde, Arbeitskraft wie andere Produktionsfaktoren auch auf dem Markt feilzubieten, sind die Folgen einer Klassenbildung in Eigentümer und Eigentumslose ebenso natürlicher, also rechtmäßiger Art. Locke gliedert demnach den ungleichen Besitzstand in den Naturzustand ein und erklärt die historische Ausdifferenzierung von aus dem Warencharakter der Arbeitskraft resultierenden Klassen als naturgegeben2o. Die Grundvorstellung unterschiedlicher Klassen in jeder menschlichen Gesellschaft wird unter der Hand zu einer unterschiedlicher natürlicher Rechte2 1 • Damit hat Locke das der Eigentumsmarktgesellschaft angemessenste (liberale) Ideologem ausgesprochen, daß die Menschen formal gleich und gerade deshalb für materielle Ungleichheit selbst verantwortlich seien. Der abstrakte Begriff der Marktgleichheit bildet dazu den Ausgangspunkt. 17 Freilich könnte man einwenden, daß Locke den Begriff "property" ganz weit faßt, etwa im Sinn des Lateinischen "propria". Damit wäre der Gesamtbereich der dem Menschen gegebenen Rechte umschrieben, wie z.B. auch Glück, Freiheit, Gesundheit etc. Das "Sacheigentum" bildete dann nur ein sekundäres, aus den personalen Rechten abgeleitetes Recht. -Dies löste jedoch genausowenig das von Macpherson hier angesprochene Problem. Im Gegenteil: Locke erscheint "mehrdeutig", "inkonsistent" und "unklar". (J. D. Mabbott, 150 und 161.) 1a C. B. Macpherson, 249. 19 J. Locke, Buch II, § 4, 201. 2o Lockes Eigentumslehre kann als "zentrale(r) Teil seiner politischen Lehre" angesehen werden. Vgl. hiezu: L. Strauss, Naturrecht und Geschichte, Frankfurt 1977, zit. nach der Ausgabe Stuttgart 1956, 244 ff. - Die Interpretation o. a. Problems der Lokkeschen Eigentumslehre teilt mit Macpherson: W. Euchner, Naturrecht und Politik bei John Locke, Frankfurt 1979, zit. nach der Ausgabe Frankfurt 1969, 84ff. 21 C. B. Macpherson, 261.
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Um aus der besonderen historischen Realität natürliche Rechte ableiten zu können, abstrahiert man von den klassenspezifischen Unterschieden. Hernach können alle faktischen Abweichungen restlos dem Individuum angelastet werden. Die Gleichheit wird so zum Vorwand der Ungleichheit. Wenn jeder in abstracto die Gleichheit seines eigenen Vorteils wegen beansprucht, jemand konkret aber darauf verzichtet oder im gegenseitigen Austausch von nutzenbringenden Gütern, Kapital und Arbeitskraft schlechter gestellt werden kann, ist ihm dies selbst zuzuschreiben. Der einzelne ist dafür verantwortlich. Die - wie mit dem Marktmodell behauptet wird prinzipielle Gleichheit rechtfertige die reale Ungleichheit, da die einen ihr Eigentumsrecht zu weiterer Akkumulation benützten, währenQ die anderen ihre Arbeitskraft bloß verkauften, um zu leben und nicht zu akkumulieren. Locke präsentiert sich als liberaler Denker, der die formale Gleichheit des Marktes mit der materiellen Ungleichheit der Menschen zu versöhnen trachtet. Da vor d~n Bedingungen des Lebens, gemeint ist das Konkurrenzverhältnis unter Knappheitsbedingungen, tatsächlich alle Menschen gleich sind, hinge es von jedem einzelnen ab, dem sein Bestes abzugewinnen. Dabei können andere übervorteilt werden. Diese Ungleichheit ist nur die Kehrseite abstrakter Marktgleichheit. Das, was die Menschen aus ihrer Gleichheit machen, liege ebenso in ihrer Natur begründet. Sowohl Gleichheit wie auch Ungleichheit bezögen sich auf den Naturzustand. Die Ambivalenz menschlichen Lebens ist somit gottgegeben. Lockes großartiges Legitimationswerk einer historisch sich anbahnenden Epoche weist dem Liberalismus den Weg. Seine Doppeldeutigkeit in der Theorie22 erlaubt es später sowohl Anhängern der Amerikanischen Revolution wie auch Anhängern und Gegnern der Französischen sich auf ihn zu berufen23. Gerade weil Locke nicht explizit für eine bestimmte Interessensbasis eintritt, sondern das Eigentumsrecht in abstracto sichergestellt sehen möchte, kann seine politische Herrschaftstheorie zur tragfähigen Ideologie 22 Den Widerspruch in Lockes Ausgangsposition umschreibt W. Euchner folgendermaßen: "Da er an der traditionellen Uberzeugung festhielt, daß sich der gesellschaftliche Reichtum im Einklang mit dem Gesetz der Natur schaffen lasse, obwohl sein eigenes System dauernd mit dieser Lehre in Widerspruch geriet, konnte er nicht zugeben, daß jener Reichtum aus dem Antagonismus der einzelnen resultiere, dessen Mechanismus sie nur zu oft zwingt, gegen ihre naturrechtliehen Pflichten zu verstoßen." (W. Euchner, 94f.) Auch H. Chiout (Gesellschaft und Eigentum. Untersuchungen am bürgerlichen Gesellschaftsmodell von John Locke unter besonderer Berücksichtigung des Second Treatise, Phil. Diss., München 1973) hält sich an diese Interpretation. 23 "From Voltaire and Jonathan Edwards, from Condillac and Thomas Jefferson, from Thomas Hodgskin or the Marquis de Condorcet, the testimonies are clear, eloquent and contradictory. The man whose . .. doctrine in his own lifetime was seen as the indictment of the British ascendancy in lreland, the man whose name stood between the leader of the first British working-class political organization and the gallows, the man above all whom hysterical conservatives all over Europe would blame for the collapse of the Ancien Regime." (J. Dunn, 6f.)
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3. Kap.: Der liberale Ansatz: J. Locke, D. Hume, Ch. de Montesquieu
bürgerlicher Staatsgewalt werden. Lockes Eigentumsbegriff, der die Grenze liberaler Freiheit markiert - die Freiheit des Eigentums eines jeden findet ihre Einschränkung am Eigentum der anderen-, wird zur zentralen Voraussetzung politischer Schutzherrschaft. Staatliche Gewalt hat ihre Rechtferti.: gung darin, "für die Regelung und Erhaltung des Eigentums Gesetze mit Todesstrafe und folglich auch allen geringeren Strafen zu schaffen, wie auch das Recht, die Gewalt der Gemeinschaft zu gebrauchen, um diese Gesetze zu vollstrecken und den Staat gegen fremdes Unrecht zu schützen, jedoch nur zugunsten des Gemeinwohls"24. Vom Primat des Gemeinwohls einmal abgesehen, zeichnet Locke hier einen der auf Privateigentum an Produktionsmitteln basierenden bürger- · liehen Gesellschaft adäquaten Staatsbegriff. Die Adäquanz besteht darin, daß die komplizierter werdenden ökonomischen Aktivitäten den Staat bedingen. Liberaler Ausgangspunkt dabei ist, daß die wirtschaftlichen Tätigkeiten als vorrangig gedacht werden. Sie existieren ja bereits im Naturzustand, wo die Menschen Gottes Auftrag zum Überleben erfüllen und sich spontan, jedoch am Naturgesetz orientierend entwickeln. Der Staat hingegen geht erst aus einer wirtschaftlichen Expandierung hervor, ist menschengeschaffen, nicht spontan und bedarf der Legitimierung in Form bewußter Übereinkunft aller Individuen25. Oberstes Ziel politischer Gewalt sei es, die Freiheit des Eigentums eines jeden zu schützen. Fiktion dabei ist wiederum die dem Modell des Marktes entnommene Vorstellung formaler Gleichheit, die auch jeden, der wolle, in den Stand des Eigentums setze. Tatsächlich ist die Ungleichverteilung von Besitz und Vermögen durch den Marktmechanismus schon präjudiziert. Selbst wenn der Naturzustand, wie in der einen Variante bei Locke, noch ohne Privateigentum zu denken ist, zöge doch gerade die Konkurrenz um knappe Güter und Arbeitskraft UngleichheiteninAneignung und Verteilung nach sich, die dem einen mehr, dem anderen weniger bescherten. Das Mehr der einen könnte sich durch nochmaligen Ernsatz akkumulieren, womit die Möglichkeit neuerlicher Aneignung von Kapital gegeben ist. Privateigentum hätte also gerade im Mechanismus des Marktgeschehens seine Entstehungsursache. Locke hat diesen theoretischen Sachverhalt gewiß bemerkt, wenn er in seiner zweiten Interpretationsvariante des Naturzustands2& den Klassendualismus schon eingebaut sieht und damit von allem Anfang an zwischen Eigentümern und Nichteigentümern unterscheidet. Lockes Gleichheitsbegriff konsequent weitergedacht, schlägt also um in Ungleichheit, die sich in individuell verfügbarem Eigentum manifestiert 24 25
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J. Locke, Buch II, § 3, 200. K. I. Vaughn, 96. C. B. Macpherson, 273.
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und unter allen Umständen zu schützen sei. Eigentumstheorie gipfelt in Staatstheorie. Der Staat wird legitimiert durch seine Funktion, Privateigentum zu erhalten und zu schützen. Wie Hobbes leistet auch Locke in Hinsicht auf den individuellen Menschen methodische Abstraktionen, die die hypothetische Ausgangslage zur Ableitung der Staatsgewalt bilden sollen27 • Beide werden durch dieses unhistorische Verfahren dazu verleitet, die gesellschaftlichen Bedingungen, denen sie ausgeliefert sind, als allgemein zu setzen. Hat Hobbes aber auch von den traditionellen Wertvorstellungen des christlichen Naturrechts abstrahiert, um den Menschen gleichsam dekompositorisch in seiner sinnlichen Bedürfnisstruktur zu erfassen, besteht Locke hingegen weiterhin auf klassisch-naturrechtliche Elemente. Liberale und christliche Anschauungen stehen bei Locke unvermittelt nebeneinander wie in der bürgerlichen Gesellschaft eben auch28, Hobbes' atomistische Sichtweise ist dem Konkurrenzmodell verhaftet; die in sich zersplitterte Gesellschaft erlaubt keine Interessengemeinsamkeit. Die Gleichheit in der Unsicherheit verhindert fundamentale Kräfteallianzen, die ihr Interesse auch über die Staatsgewalt hätten wahrnehmen können. Der Staat kommt deshalb als ein dritter Faktor ins Spiel und übernimmt als solcher- in Abgrenzung zum Naturzustand-jedermanns Schutz. Ein Vertrag regelt die Abtretung aller Rechte seitens der Individuen an den Souverän. Demgegenüber implizieren Lockes Bestimmungen des Naturzustands eine Klassenspaltung von Eigentümern und Eigentumslosen. Im Gegensatz zu Hobbes besteht bei Locke der besondere Vertragsinhalt zwischen Individuen und Souverän darin, daß der Schutz des Eigentums garantiert werde. Damit kann aber der Staat nicht mehr - wie bei Hobbes - als neutral erscheinen. Er wird zum notwendigen Vollstrecker von Eigentümerinteressen. Alle Nichteigentümer haben diese Verfassung zu respektieren. Locke scheint gerade ob seiner Doppeldeutigkeiten und Widersprüche den bürgerlichen Staat präziser fassen zu können als Hobbes. Auch wenn Hobbes das individualistische Menschenbild konsequenter zu umreißen imstande ist, muß er doch notwendig in der Analyse von dessen gesellschaftlicher Auswirkung dem entscheidenden Fehler erliegen, keine Interessensbasis für den Klassenzusammenhalt ausfindig zu machen, die als solche auch auf den Staat durchschlüge. So bleibt der Staat eine indifferente, wenn 27 Die "Künstlichkeit" von Lockes Vorstellung von "Individuum" und "Staat" kritisiert: R. I. Aaron, 284ff. 28 Freilich gibt es auch Autoren, die Locke mehr der Tradition des klassisch-scholastischen Naturrechts zurechnen, wie auch solche, die ihn ausschließlich als modernen Denker orten. Daneben gibt es- wie immer- auch um eine Vermittlung dieser Deutungsversuche bemühte Interpreten. Auf diese Kontroversen weist hin: H. Chiout, 64, Fußnote 3.
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auch gesellschaftlich notwendige Gewalt, die keiner spezifischen Klassenfraktion verbunden und damit für alle Menschen im Vergleich zum Natur"'zustand von Nutzen ist. Für Locke hingegen besteht die Hauptaufgabe des Staates in der Regelung und Erhaltung des Eigentums. Darin aber, daß das Eigentum zu schützen ist, wird deutlich das Interesse derer ausgesprochen, die solches besitzen. Locke mag als bürgerlicher Staatsdenker par excellence angesprochen werden. Der Umstand, daß er für bestimmte Fälle ein Widerstandsrecht vorsieht, läßt auch (bürgerlich-)revolutionäre Anliegen rechtfertigen29. Für Hobbes endet bekanntlich die Gehorsamsverpflichtung des einzelnen dort, wo sein Recht auf Leben auf dem Spiel steht. Kann eine Herrschaftsform den Schutz des Lebens nicht mehr gewährleisten, muß dies eine andere an deren Stelle. Demgegenüber reagiert Locke weit empfindlicher auf die Tatsache von Regimewechsel, Verfassungsänderungen, politischen Umstürzen wie Revolution und Restauration. Für den Fall, daß der Staat dem bürgerlichen Interesse auf Schutz des Eigentums nicht nachkommt, muß .,die Gewalt in die Hände derjenigen zurückfallen, die sie erteilt haben und die sie nun von neuem vergeben können ... Und so behält die Gemeinschaft beständig eine höchste Gewalt für sich, um sich von den Angriffen und Anschlägen einer Körperschaft, selbst ihrer Gesetzgeber, zu sichern, so·oft diese so töricht oder schlecht sein sollte, Pläne gegen die Freiheiten und Eigentumsrechte der Untertanen zu schmieden und zu verfolgen30." Locke behält es also dem Volk vor, Restaurationsversuche, welche die freie Verfügbarkeit von Kapital und Arbeitskraft einschränken, ebenso abzuwehren wie Revolutionen, die den institutionellen Schutz von Eigentumsrechten untergraben. Lockes Betrachtungen über das Eigentum ergeben ein präzises Bild vom strukturellen Kern bürgerlicher Gesellschaft und der Notwendigkeit des Staates für Eigentümer. Zwar hat Locke nicht ungeschminkt die Staatsgewalt als Funktion im Interesse bloß ein~r Klasse formuliert, wie dies später die englischen liberalen Ökonomen tun, doch ergibt sich diese Aussage notwendig aus Lockes Verbindung von Eigentum und Naturzustand. Locke hat noch keine ökonomische Theorie zur Hand, welche die im freien Wettbewerb akzentuierten egoistischen Handlungen der Wirtschaftssubjekte mit 29 Tatsächlich geht es Locke ja im Second Treatise um eine "theoretical proclamation of the ultimate right of rev.olution". (J. Dunn, 48.) "lt is not a book about how to construct govemments or about just when it is desirable to resist but a book about why under some circumstances men hav.e a right to resist. " (Ebenda, 50.) Präziser: "The immediate aim of that treatise is apparent: to justify the Revolution of 1688 and to help 'establish the throne of our great restorer, our present King William'." (R. I. Aaron, 270.) Siehe auch: W. S. Carpenter in seiner Introduction zu Locke's Two Treatises in der Ausgabe London- New York 1924, VII. 30 J . Locke, Buch II, § 149, 301:.
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dem gesellschaftlichen Gemeinwohl versöhnt. Dies bleibt Mandeville, A. Smith, J. B. Say und noch später der neoklassischen Wirtschaftstheorie vorbehalten. Locke stellt dem liberalen Menschenbild bürgerlicher Gesellschaft Postulate christlichen Naturrechts zur Seite. - Mit moralischen Imperativen allein wird jedoch der Widerspruch zwischen individuellen Interessen der Mitglieder einer Gesellschaft und den Erfordernissen der Systemerhaltung nicht behoben. Locke muß als Nicht-Ökonom an einer solchen Aufgabe scheitern. Seinem Kategoriensystem, das den Gegensatz von Einzelnutzen und einem im Interesse der Sozietät stehenden (Gemein-)Handeln kennt, fehlen die analytischen Kriterien für eine Befassung auf materiell-struktureller Basis. Gerade deshalb beansprucht er noch Elemente christlicher Legitimitätslehre, um dadurch zumindest auf ideeller Ebene einen Ausgleich zu schaffen. Langfristig gesehen ist jedoch der beschriebene Widerspruch durch das Festhalten an Denkformen traditionellen Naturrechts nicht zu versöhnen. Die Legitimitätsgrundlage christlicher Morallehre verliert deshalb an Terrain, weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen, auf die sie einstmals paßte, veränderten. Hobbes begreift dies als einer der ersten und schafft deshalb ein neues Rechtfertigungssystem3 1. Locke wiederum fällt hinter Hobbes zurück, wenn "er sich zwischen den Relikten traditioneller Werte und den neuen bürgerlichen Werten nicht zu entscheiden"32 weiß. Hobbes hingegen ist auf konsequentere Weise Utilitarist, als daß er moralischer Forderungen bedürfte. Er trifft die bürgerliche Gesellschaft in ihrem Kampf um die Macht an und kann sie deshalb noch als unkonsolidiert betrachten. Anders Locke. Für ihn hat sich die bürgerliche Gesellschaft bereits etabliert, wobei der Staat die Schutzfunktion der Besitzenden gegenüber den Nicht-Besitzenden übernimmt. Locke geht also schon von einem Klassendualismus aus. - Diese Konstruktion nun bedarf, gerade weil sie unchristlich ist, einer christlich-naturrechtliehen Ergänzung. Beides steht in der Theorie von Locke unvermittelt nebeneinander. Da eine Versöhnung aus logischen Gründen nicht möglich ist, bleibt der Gegensatz auch weiterhin bestehen. Locke drückt den Geist einer historischen Epoche aus, die noch nicht als abgeschlossen gelten kann. Auch heute noch leben wir in einer Welt von 31 "Hobbes's problern is the construction of political society from an ethical vacuum. Locke never faced this problern in the Two Treatises because his central premise is precisely the absence of any such vacuum." (J. Dunn, 79.) Ebenso: J. D. Mabbott, 146, der allerdings darauf hinweist, daß diese Betrachtungsunterschiede sich nicht unmittelbar auf die Konstruktion des Naturzustandes auswirken: "Hobbes allows hisnatural man no moral standards and no rights . . . For Locke, most men fail to live up to their moral standards; and it is an open question whether one would wish to live among a lot of amoral men or a lot of immoral men." 32 C. B. Macpherson, 248.
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Ideen, die keine Entsprechung haben in den materiellen Interessen, die sich aus den strukturellen Bedingungen der Gesellschaft speisen. Locke verkörpert durch seine Theorie wie kaum ein anderer diesen Gegensatz. Insgesamt gesehen kann jedoch davon ausgegangen werden, daß der Ansatz des rationalen Naturrechts, der Naturzustand, eine wissenschaftlich fruchtbare Entwicklung von empirisch gehaltvolleren Theorien eingeleitet hat. H. Medick geht sogar so weit, die modernen Sozialwissenschaften "aus der positiven Emanzipationsgeschichte der modernen Naturrechtstradition"33 zu erklären. Medick befaßt sich mit den Ursprüngen schottischer Aufklärungsphilosophie. Diese im 18. Jahrhundert zur höchsten Blüte gelangende Periode bringt Geschichtstheoretiker hervor, die menschliche Geschichte als eine "Naturgeschichte der Gesellschaft" begreifen und den empirischen Erfahrungshorizont zu erweitern trachten. Am Beispiel Lockes, der noch dem 17. Jahrhundert zuzurechnen ist, wird allerdings offenkundig, daß das Vernunftrecht noch eine Weile mit dem traditionellen Naturrecht koexistiert. Darüber hinaus gilt jedoch, wenn wir Medick folgen, daß die schottische Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten, das vorhergehende Jahrhundert ablösenden "Theorieinstitutionen"34 der bürgerlichen Gesellschaft wird. Durch sie erfolgt eine Verfeinerung empirischer Naturrechtskonzeptionen des 17. Jahrhunderts. Medick formuliert dies folgendermaßen: "Das Naturzustandstheorem fungiert ... in den politisch-sozialen Theorien des 17. Jahrhunderts gewissermaßen als ein methodischer Katalysator, mit Hilfe dessen - im noch abstrakten Gewand vernunftrechtlicher Systemkonstruktionen jene spezifischen Erfahrungen und Leitbilder erstmals zusammenhängend darstellbar und generalisierbar wurden, die im 18. Jahrhundert den Gegenstand der sozialen Einzelwissenschaften und der in ihnen enthaltenen Theorie der bürgerlichen Gesellschaft bildeten3s."
Die traditionellen Vorstellungen des am Übergang zur Neuzeit stehenden Hugo Grotius, der wie später noch Leibniz dem ideellen Zweig des Naturrechts zuzuordnen ist, aber auch diejenigen bereits dem rationalen Naturrecht verbundenen von Samuel Pufendorf und John Locke werden von der schottischen Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts "zu einerneuen Synthese von 'Jurisprudence, History and Philosophy' (Dugald Stewart) fortentwickelt"36. Die bekanntesten, unter dem Einfluß der Newtonsehen Methode stehenden, am naturrechtliehen Anspruch auf methodisch-syste33 H. Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith, Göttingen 1973, 20. 34 Gemeint ist hier der Aspekt von Herrschaft, die Theorien -wie auch immer sie geartet sein mögen - ausüben. 35 H. Medick, 23. 36 Ebenda, 142f.
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matische Erkenntnis jedoch weiterhin festhaltenden Theoretiker sind John Millar, Adam Ferguson,Dugald Stewart, William Robertson, David Hume und Adam Smith. Das rationale Naturrecht hat durch zwei Jahrhunderte hindurch in immer aussagekräftigeren Theorien die bürgerliche Gesellschaft zu umreißen versucht37. Es hat dort, wo die politische Emanzipation des Bürgertums ausstand, der Revolution den Weg gewiesen. Für die Revolutionen in den Niederlanden und in England hat noch der traditionelle Legitimitätshorizont gegolten, wenn auch in reformatorischem Licht. - Legitimitätsgrundlagen verschieben sich nämlich langsam, jedenfalls nicht gleichzeitig mit den ihnen entsprechenden strukturellen Veränderungen der Gesellschaft. Darauf kann nicht ausdrücklich genug hingewiesen werden. Der großartige Neuentwurf einer Rechtfertigung für politische Gewalt von Thomas Hobbes deutet die materiellen Veränderungen in Richtung bürgerliche Gesellschaft bereits an. Die lange Ablehnung, die er erfährt, weist auf ein Allgemeines hin, was es mit neuen politischen Theorien auf sich hat: Sie kommen erst zum Zug, wenn sie für. die Praxis unabkömmlich geworden sind, d. h. Praxis ermöglichen. Offenbar ist bürgerliche Praxis noch lange mit traditionellen Rechtfertigungsweisen ausgekommen, auch dort, wo sich Revolutionen bereits einstellten. Zweifellos aber hat das rationale Naturrecht in Form der Aufklärung Revolutionen Vorschub geleistet. Der Unterschied zwischen Englischer und Französischer Revolution wird daran deutlich, daß erstere Aufklärung im Gefolge, letztere sie zur Voraussetzung hat. Neben zeitlichen gibt es auch inhaltliche Differenzen. Die schottische Aufklärung beispielsweise ebnet durch ihr methodisches Instrumentarium den Erfahrungswissenschaften den Weg. Sie kann dabei an den Erkenntnissen Hobbes' und Lockes anschließen. Die französische und deutsche Aufklärung hingegen verfolgen vielfach idealistische Hoffnungserwartungen in der Gewandung moralisierender Philosophie. - Darauf wird noch zurückzukommen sein. Exemplarisch für den Erklärungsversuch der Aufklärung steht für uns D. Hume. Locke hat -wie erinnerlich - die Klassenspaltung von Besitzenden und Besitzlosen in den Naturzustand eingebunden. Hume hingegen geht auf den bei Hobbes abstrakt vertretenen Ausgangspunkt von der Selbstsucht des Menschen zurück und nennt dafür empirische Gründe, vor allem wirtschaftliche Interessen. Trotzdem - und das macht die Eigenart Humes aus - legt er sich auf keine egoistische Wurzel menschlichen Gefühls- und 37 Am Ende dieser Denkentwicklung steht ein in sich abgerundetes System politischer Wissenschaft. Hiezu: L. Kramm, Die politische Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft, Berlin 1975.
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Triebvermögens fest, im Gegenteil: "Wir rühmen oft tugendhafte Handlungen aus längst vergangenen Zeiten und entfernten Ländern, wobei auch das feinste Einfühlungsvermögen keine Spur von Selbstinteresse entdecken oder irgendwelchen Zusammenhang zwischen unserer augenblicklichen Glückseligkeit und Sicherheit und so fernliegenden Vorgängen nachweisen könnte. Eine großmütige, tapfere, edele Tat, die ein Gegner vollbracht, löst unsere Billigung aus, während sie vielleicht in ihren Folgen unserem persönlichen Interesse anerkanntermaßen nachteilig ist3a." Hume stellt überhaupt "Moral" noch über den Ausdruck "Gefühle". Bei
A. Smith hingegen sind beide bereits eine Verbindung eingegangen ("ethi-
sche Gefühle", engl.: "moral sentiments"), die bei den ihm nachfolgenden Wirtschaftsliberalen wie Say, Maltbus und Ricardo, von der Grenznutzenschule und der neoklassischen Nationalökonomie ganz zu schweigen, eine Reduktion auf den relativen Nutzen erfährt. Hume geht noch von moralischen Beurteilungskriterien "persönlicher Schätzbarkeit" aus: "Wir werden jedes geistige Merkmal ins Auge fassen, das einen Menschen zum Gegenstand der Achtung und Zuneigung, oder aber des Hasses und der Verachtung macht, jede Gewohnheit, jedes Gefühl und jede Fähigkeit prüfen, die als Aussage über einen Menschen Lob und Tadel einschließt und in jeder rühmlichen oder unrühmlichen Darstellung seines Charakters und Wesens auftreten kann39. "
Auch wenn für Hume die "Nützlichkeit" "alleinige Quelle der hohen Wertschätzung ist40", so ist dieser Begriff nicht gleichbedeutend mit dem modernen, durch den ökonomisch-liberalen Einfluß geprägten. "To turn Hume into a Utilitarian ... one would have to transpose all that he says into the key appropriate to normative ethics ... Hume is not, in general, trying to make moral recommendations by means of a supreme moral principle, but giving a psychology of ethical evaluation. So his objectives arenot the same as those of Bentham or Mill41." - Hume meint, "daß bei unserer generellen 38 D. Hume, Untersuchung über die Prinzipien der Moral, übersetzt und eingeleitet von C. Winckler, Harnburg 1972, 57.- Hume hat dieses Werk selbst als sein "unvergleichbar bestes" eingeschätzt. (E. C. Mossner, The Life of David Hutne, Edinburgh 1954, 224.) "The inspiration of Hume's ethics has in this work become more 'classical' than in the Treatise (of Human Nature, W. E.): sympathy, the source of morality and moral judgements, now means fellow-feeling, humanity - what moves men to praise or blame is what touches their common humanity. The Enquiry may appear to have shed the sociological relativism implicit in the moreoriginal and suggestive version of sympathy expounded in the Treatise." (D. Forbes, Hume's Philosophical Politics, Cambridge 1975, 109.) 39 D. Hume, 8. Ebenda, 74. 41 T. Penelhum, Hume, London 1975, 144.- "Humes Argument geht von den Empfindungen aus, die, von einer unabhängigen Ursache bewirkt, einen natürlichen und direkten Einfluß auf das Selbstgefühl haben." (A. Schaefer, David Hume. Philosophie und Politik, Meisenheim ~~om Glan 1963, 66.)
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Billigung von Charakteren und Sitten die Nützlichkeitstendenz der sozialen Tugenden uns nicht aus irgendwelcher Rücksicht auf unser Selbstinteresse bewegt, daß sie vielmehr einen viel umfassenderen und weiterreichenden Einfluß übt. Es wird deutlich, daß eine Tendenz auf das allgemeine Wohl und auf die Förderung des Friedens, der Eintracht und der Ordnung innerhalb der Gesellschaft uns immer für die sozialen Tugenden einnimmt, indem sie an die menschenfreundlichen Grundzüge unseres Wesens rührt42 ." Tatsächlich stehen also bei Hume "Nützlichkeit" und Wohlempfinden (das Gefühl des "Angenehmen") im Dienste von auf die Sozietät bezogenen Tugenden43, die jedoch nicht von jenen abgehoben sind. Interessen und Nutzenerwägungen werden mit Moral auf derselben Ebene in Zusammenhang gebracht, wenn sie auch nicht mit dieser zusammenfallen44. Deshalb kann Hume auch empirische Gründe für die Ethik namhaft machen, was später für Kant, der beides methodisch voneinander trennt, ein Ding der Unmöglichkeit ist. Die Gegenüberstellung von Egoismus und Altruismus, die A. Smith in seiner "Theorie der ethischen Gefühle" mit allem Nachdruck ablehnt, gibt es bei Hume als Prinzipiengegensatz noch nicht. Für ihn bestehen Neigungen in "sympathy", Mitgefühl, das nicht auf den Nenner von Selbstsucht resp. Eigennützigkeit reduzierbar ist: "Mittels der sympathy, in der uns Fremdbewußtsein zugänglich wird, vollzieht sich die Teilnahme an Stimmungen und Meinungen, die nicht mehr der einzelnen Person allein zugehören, sondern als 'intercourse of sentiments' gesellschaftlicher Art sind45." Smith übernimmt diesen Gedanken von seinem großen Lehrer46, ohne sich jedoch über den durch seine theoretischen Widersacher bereits vorgegebenen Dualismus hinwegsetzen zu können. Der Widerspruch zwischen EgoisD. Hume, 75. V. Rüfner, Der Kampf ums Dasein, Halle (Saale) 1929, behauptet für Hume bereits das Gegenteil (Kap. III/3b). 44 Dem entspricht auf der erkenntnistheoretischen Ebene eine bereits Locke zurechenbare Blickrichtung, "in which no radical lines are drawn between thinking, imagining, meaning, understanding." (J. Bennett, Locke, Berkeley, Hume. Central Themes, Oxford 1971, 222.) Bei Hume erfolgt eine Assimilation des Intellektuellen mit dem Sensorischen. So erweist sich auch die Unterscheidung zwischen "ideas" und "impressions" bloß als eine graduelle. Unter "impressions" fallen alle sinnlichen Wahrnehmungen wie Leidenschaft und Emotionen, wogegen "ideas" deren blasse Vorstellungen ("faint images") im Denken und Urteilen bedeuten. (Ebenda.) 45 A. Schaefer, 110. - Hume läßt sich bezüglich seiner Morallehre weder unter die Parteiung "Rationalisten" versus "moral sense Schule" noch unter diejenige von "Egoisten" versus "Altruisten" subsumieren. (A. Schaefer, 106.) 46 "Jene ganze Erklärung der menschlichen Natur jedoch, welche alle Empfindungen und Neigungen aus der Selbstliebe ableitet, . .. scheint mir aus einem verworrenen Mißverständnis des Sympathiesystems entsprungen zu sein." (A. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, herausgegeben und eingeleitet von W. Eckstein, Harnburg 1977, 529.) "Die Sympathie kann jedoch in keinem Sinne als ein egoistisches Prinzip betrachtet werden." (Ebenda, 528.) 42
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mus und Altruismus ist für die Zeit nach Hume faktischer Bestandteil bürgerlichen Denkens. Smith kann sich nur mehr dagegen aussprechen und gerät dabei- bis auf den heutigen Tag-selber in den Ruf, das Verhalten der Menschen auf ihr egoistisches Eigeninteresse zurückgeführt zu haben. Dieser Vorwurf trifft ihn insbesondere für sein Werk "lnquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations", worin tatsächlich- zumindest, was den Wirtschaftsbereich angeht - der Egoismus zum Grundmotiv allen menschlichen Handeins wird47. Daraus hat sich für diejenigen, die sich der Mühe unterzogen, auch die "Theory of Moral Sentiments" zu lesen, ein Widerspruch im Denken von A. Smith ergeben. Wenn sich auch Smith bemüht, beides-Eigennutzen und Altruismusunter den Begriff der "Sympathie" zu subsumieren, bleibt doch der Gegensatz als solcher bestehen, der einer der liberalen Gesellschaft selber ist. Hume hat es in seiner Theorie noch leichter gehabt, Moral und Nützlichkeit auf derselben Ebene für kompatibel zu erachten. Der bürgerliche Dualismus ist mit seiner ganzen Schärfe erst über die Grundlegung der politischen Ökonomie hervorgetreten. Erst hier ist mit aller Deutlichkeit die egoistische Bedürfnisstruktur des Wirtschaftssubjekts nachgewiesen worden, über die nur mehr eine getrennt davon konzipierte Ethik anders hat denken können. Hobbes setzte die Selbstsucht des Menschen bereits voraus, für Hume stellt sie sich als empirisches Motiv wie andere, der Gefühls- und Empfindungswelt entstammenden Eigenschaften auch, Smith präzisiert in der Folge den Eigennutzen als eine für das liberale Marktsystem unabdingbare Größe4B. Doch zurück zu Hume. Interessant ist, daß er bereits vor A. Smith die Selbstsucht mit der ökonomischen Knappheitshypothese in Zusammenhang bringt. Solange das Güterangebot geringer sei als es der Bedürfnisnatur der Menschen entspreche, strebten alle nach dem Besitz dieser Güter. Das Eigenstreben wird gerade dadurch zur Selbstsucht, daß eine vollständige Befriedigung unter Knappheitsbedingungen nicht möglich ist. Überpointiert: Die Besitzgier ist eine der modernen bürgerlichen Gesellschaft systemimmanente Eigenschaft. 47 Die Hilfestellung, die der Mensch von seitenseiner Mitmenschen braucht, könne -nach A. Smith- nicht allein durch ihr Wohlwollen garantiert werden: "Er wird sein Ziel wahrscheinlich viel eher erreichen, wenn er deren Eigenliebe zu seinen Gunsten zu nutzen versteht, indem er ihnen zeigt, daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, das für ihn zu tun, was er von ihnen wünscht ... Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Bauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen - sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil." (A. Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, Übersetzung und Würdigung von H. C. Recktenwald, München 1974, 17.) 48 Smith habe den Hobbesschen Naturzustand institutionalisiert, schreibt: L. Kramm, Was ist Polit~sche Ökonomie?, in: M. Hereth (Hg.), 222.
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Die Selbstsucht aller führe zu unüberschaubarer, chaotischer Güteraneignung. Individuelle Zurechnung resp. Unterscheidung gebe es nicht. Daher müßte eine Form ausschließlichen Gebrauchs von Sachen durch einzelne gefunden werden, um Ordnung in das Chaos zu bringen. Diese Form ist nach Hume die Institution des Privateigentums. Mit den Worten Humes: "Die Selbstsucht des Menschen wird dadurch angestachelt, daß wir im Verhältnis zu unseren Bedürfnissen nur wenig Güter besitzen. (Nun,) um diese Selbstsucht in Schranken zu halten, mußten die Menschen aus der Gemeinsamkeit (des Besitzes) heraustreten und zwischen ihren Gütern und denen anderer unterscheiden49." Hume stellt sich den Naturzustand auf der Grundlage von Gemeineigentum und unter Knappheitsverhältnissen vor. Dabei werden die einzelnen Menschen weder als gänzlich eigennützig, noch uneigennützig vorgestellt. Nach der Aneignung von Gütern nun, würde niemand mehr wissen, was ihm zustehe, da im Grunde ja alles allen gehöre. Hume anerkennt bei der Lösung dieses Dilemmas keine traditionellen Gerechtigkeitskriterien, nach denen knappe Güter verteilt werden könnten. Die Menschen sind unberechenbar insoweit, als sie das haben möchten, was ihnen beliebt - und das eben ist grundsätzlich knapp. Jedenfalls gibt es für Hume nur den einen Ausweg, der Anarchie um knappe Güter zu entgehen: Die Menschen verlassen den Naturzustand, der sie durch Kollektiveigentum auszeichnet und überführen die ursprünglich willkürlich aneigenbaren Güter in den ausschließlichen Gebrauch des einzelnenso. Ausschließliche Verfügungsgewalt über Sachen aber heißt Privateigentum als Rechtstitel51, Hume setzt - ähnlich Locke - die Rechtsordnung52 ein, die den Staat als ihren Garanten notwendig macht. Die politische Gewalt erhält also auch hier ihre Rechtfertigung in der Wahrung des Interesses von Privateigentümern. Dieser dem bürgerlichen Partikularinteresse entsprechende Stand49 D. Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, eingeführt und herausgegeben von R. Brandt, Harnburg 1973, Drittes Buch, 238. 5o P. Henseler, Die Begründung der Staatsfunktion bei David Hume, in: Der öffentliche Sektor, Wien, 2/1977, 30. "Zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Daseins findet der Verstand das Mittel in der Beseitigung der gefährlichen Unsicherheit durch feste Bindung des Besitzes an die Person des Besitzers. Der allgemein gewordene Sinn für das Gemeinwohl, die gefühlsmäßige Bindung an die Gemeinschaft, in die man hineingeboren ist, und die Gleichheit der Lebensbedingungen lassen alle zur gleichen Einsicht kommen, die in der Konvention allgemeiner Achtung privaten Eigentums ihren Ausdruck findet." (A. Schaefer, 122.) 51 Hiebei zeigt sich wieder, daß Hume den Gegensatz von Eigennutzen und Gemeinnutzen noch nicht in dualistischer Strenge denkt. Gerade das Eigentum steht bei ihm für folgenden Gedanken: "In a wholly selfish state property would be impossible, andin a wholly benevolent state it would be unnecessary." (T. Penelhum, 156.) 52 "Die Rechtsordnung hat nur in der Selbstsucht und der beschränkten Großmut der Menschen, im Verein mit der knappen Fürsorge, die die Natut für ihre Bedürfnisse getragen hat, ihren Ursprung." (D. Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, 239.)
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punkt ergibt sich aus den Erfahrungen der Eigentumsmarktgesellschaft. Durch die Hineinnahme der Knappheitshypothese in den Naturzustand wird ein historischer Sachverhalt zum überhistorisch-konstanten. Diese Prämisse läßt erst die logische Ableitung des Privateigentums und des Staates zu. Wie schon Hobbes und Locke verlegt auch Hume zweifelhafte Annahmen in den Naturzustandsa. Das Naturzustandstheorem wird zum Sammelpunkt fiktiver Sachverhalte, deren Funktion es ist, Abgrenzungen im Sinne empirischer Urteile überhaupt erst zu ermöglichen. Tatsächlich haben die angelsächsischen Philosophen grundlegende Bestimmungen der bürgerlichen Gesellschaft umrissen. Ihr Liberalismus speist sich aus dem Modell des freien Marktes. Der Informationsgehalt ihrer Theorien ist hoch. Hume stößt am weitesten in Richtung empirische Engführung vor, um darin später noch von A. Smith übertroffen zu werden. Beide gelten uns als exemplarische Vertreter schottischer Aufklärungsphilosophie, die den Menschen im Zusammenhang konkreter gesellschaftlicher Erfahrungen zu begreifen versuchen. Die kontinentale Aufklärung nun umfaßt neben den liberalen resp. empirischen, zumeist an den Angelsachsen orientierten Ansätzen (Montesquieu, Voltaire) auch solche des "Demokratismus". Letztere basieren auf der Vorstellung politischer Teilhabe an der Gestaltung des Gemeinwesens durch die überwiegende Mehrheit des Volkes. Demokratie bedeutet hier die Herrschaft des "gemeinen Volkes" 54 im radikalen Wortsinn. Dieser Begriff ist so alt wie die Demokratiegeschichte selbst. Er meint die Herrschaftsgewalt in den Händen des demos (lat. plebs). Demokratie dieses Sinngehalts heißt also anders ausgedrückt Herrschaft nur der zuvor unterdrückten, abhängigen und mittellosen Klassenss. "Liberalismus" hingegen ist eine politische Doktrin, die ihr Modell aus einer spezifischen Form des Wirtschaftens bezieht. Sie umfaßt "die Gesellschaft und die Politik der Wahlfreiheit, die Gesellschaft und die Politik der Konkurrenz, die Gesellschaft und die Politik des Marktes: die liberale Gesellschaft und de(n) liberale(n) Staats6." Erst die Paarung des Liberalismus mit der Demokratie ergibt die "liberale Demokratie", die wir für gewöhnlich mit Demokratie schlechthin identifi53 "Wieder tritt uns der konstruierte Mensch des Naturrechts entgegen, der in ahistorischer Gleichheit, völlig indifferent gegen materielle und moralische Besonderheiten der Zivilisationsanfänge, Institutionen antizipiert, die gerade das heutige Leben charakterisieren." (A. Schaefer, 122.) 54 Siehe dazu: A. Rosenberg, Demokratie und Sozialismus, Frankfurt 1962. 55 Über die Entwicklung des Demokratiebegriffs und seine unterschiedliche Anerkennung siehe: Ch. Meier, Entstehung des Begriffs "Demokratie", Frankfurt 1970, insbes.: 15- 69. 56 C. B. Macpherson, Drei ]formen der Demokratie, Frankfurt 1967, 13.
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zieren. Hobbes, Locke und Hume z.B. sind zunächst Liberale, weil ihre politischen Theorien dem Modell der "Eigentumsmarktgesellschaft" folgen. Gewiß könnte Locke auch als liberaler Demokrat bezeichnet werden - als solcher wird er auch von vielen Interpreten gesehen-, weil er die legislative Gewalt aus prinzipiellen Gründen in die Hände des "Volkes" legt. Dagegen spricht allerdings, wie bereits hervorgehoben, daß Locke die Gesellschaft unter dem Blickpunkt des Eigentums beurteilt, zu dessen Schutz der Staat da sei. Würde das Eigentum - und das heißt klassenspezifisch gesprochen: das Eigentümerinteresse- eingeschränkt werden, käme der Staat also seiner diesbezüglichen Schutzfunktion nicht nach, sei "das Volk" berechtigt, die höchste Gewalt abzuberufen. Nur eine Staatsgewalt, die die Freiheiten und Eigentumsrechte der "Untertanen" zu garantieren vermag, hat Anspruch auf Gehorsam. Mit anderen Worten: Wenn Locke von "Volk" oder auch von "Untertanen" spricht, meint er eigentlich Eigentümer. Damit bezieht sich obige Rechtskonstruktion auf einen Klassenstandpunkt, der mit dem Gedanken politischer Teilhabe aller an der herrschaftlichen Verwirklichung des Gemeinwohls nicht vereinbar ist57. In Locke erkennenn wir den Prototyp eines Liberalen, der noch nicht ganz zum Demokraten geworden ist. Dazu bilden die englischen Verhältnisse der damaligen Zeit den Hintergrund. Aber auch bezüglich der englischen Liberalen ab Mitte des 18. Jahrhunderts bis über die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinaus gilt: "Die liberalen Demokraten, wie wir sie kennen, waren zuerst liberal und dann demokratisch5B. " Tatsächlich besteht der Liberalismus schon, bevor die Demokratie in Gestalt der Verbindung von Volkssouveränität und Mehrheitsherrschaft in der westlichen Welt Eingang findet. Die durch die bürgerliche Revolution in England sanktionierten liberalen (Rechts-)Verhältnisse bilden z. T. auch das Vorbild für festländische politische Auffassungen. Als Beispiel hierfür stehen die Aufklärer Montesquieu und Voltaire. Quer dazu stehen- wie bereits erwähnt- die ebenfalls aufklärerischen Positionen des radikalen Demokratismus, vor allen Rousseau. Beide, hier in ihrer "reinen Form" einander gegenübergestellten, in Wirklichkeit zumeist legierten Anschauungen ergeben das ideologische Kräftefeld, das die Französische Revolution vorbereiten hilft. In der Umsetzung 57 Dagegen mag man einwenden, daß Locke erstens das Recht auf Eigentum mit der Pflicht koppelt, dem Gemeinwohl nicht abträglich zu sein, und zweitens die herrschaftliche Aufgabe der Durchsetzung des Gemeinwohls als anvertrautes Amt begreift. Locke beziehe sich damit auf das "Gemeingut der älteren europäischen politischen Vorstellungswelt." (W. Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung, Festgabe für R. Smend, Tübingen 1962, 54.Auf diese Arbeit wird später noch zurückzukommen sein.)- Unsere Kritik hingegen betont gerade die Zwischenstellung Lockes im Übergang von traditioneller und moderner Theorie, daß ihm eine Rechtfertigung strukturell bürgerlicher Verhältnisse mit Hilfe der Ethik nur in Absehung des Klassenstandpunkts gelingt. ss C. B. Macpherson, Drei Formen der Demokratie, 13.
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revolutionärer Ideen in die Praxis dieser als klassisch geltenden Revolution der Moderne kommt freilich dem radikalen Demokratismus besondere Bedeutung zu. Auf diesen Denkprozeß selbst wird noch später zurückzukommen sein. Zuvor möchte ich jedoch auch die kontinentale Variante liberal-bürgerlicher Rechtskonstruktion zu umreißen versuchen. Was bei Hobbes und Locke schon als zeitbedingte Erfahrungsnähe und bei Hume und Smith als eine noch weitergehende "empirische Engführung" ersichtlich wird, hilft der Entwicklung des wissenschaftlichen Positivismus den Weg ebnen. Dieser Hinweis ist nötig, um die liberale Variante bürgerlicher Rechtsauffassung auch wissenschaftssoziologisch ins rechte Licht zu rücken. Montesquieu (1689-1755) steht hier prototypisch für einen an der angelsächsischen empirischen Denkungsart orientierten Liberalen, obwohl er als adeliger Beamter zweifellos noch an der Rechtmäßigkeit einer Ständeordnung festhält und als Parlamentspräsident von Bordeaux die Gewaltenhemmung von einem vorrangig gegen die absolutistische Zentralgewalt gerichteten Standpunkt aus forderts9. Seine Methode läßt den Übergang zum Positivismus bereits deutlich werdenso. B. Groethuysen stellt sogar den Abschnitt über den Positivismus dem Kapitel "Montesquieu" voransl. 59 Für Hinweise danke ich sehr Heinrich Schneider. -Daß Montesquieu anders als es seine Herkunft nahelegen würde, für die liberale Denkungsart eingenommen war, drückt sich insbesondere an seiner positive~. Wertung des englischen Systems einer konstitutionell abgesicherten Freiheit aus. Uberhaupt besticht Montesquieus weltmännische Art, die nicht zuletzt auf seinen Reiseerfahrungen in Italien (1728 - 1729) und England (1729 - 1731) beruht und einen liberalen Weitblick mit sich brachte. (Hiezu: R. Shackleton, Montesquieu. A Critical Biography, Oxford 1961.) In diesem Zusammenhang wäre auch sein Kontakt mit D. Hume zu nennen, der sich nicht bloß auf das gegenseitige Werkstudium beschränkte; von 1749 bis zu Montesquieus Tod (1755) entwickelte sich eine Brieffreundschaft zwischen den beiden. (E. C. Mossner, 229.)- Th. L. Pangle (Montesquieu's Philosophy of Liberalism. A Commentary on the Spirit of the Laws, Chicago and London 1973) unternimmt den Versuch, Montesquieu als einen der Begründer des "liberalen Republikanismus" auszuweisen, wobei Montesquieus Vorbehalte diesem politischen System gegenüber nicht unwiderruflich gewesen seien. (Die Vorbehalte beziehen sich insbesondere auf den seiner umfassenden Form nach in der Kunst, Kultur und dem gesellschaftlichen Leben Englands angeblich nicht anzutreffenden ,esprit' ; dieser sei vielmehr in einer monarchischen Ordnung beheimatet. 155ff.) 60 "Die unverkennbare methodische Ausgangsstufe des Montesquieuschen Erkenntnisweges war die Stufe der Heuristik und Kritik. Sie bestand in dem Aufsuchen, Sichten, Prüfen und Werten der Tatsachen. Die ihr gemäße Methode war die Methode der Tatsachenwissenschaften, das heißt die induktive, empirische, positive, vergleichende, genetische Methode." (H. G. Keller, Montesquieus "Esprit des Lois". Eine methodologische Studie, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, Bd. 17, Tübingen 1968, 51.) Th. Quoniam (lntroduction a une lecture de !'Esprit des lois, "archives Montesquieu" No. 7, in: Archives des lettres modernes 166, (8) 1976, 13) schreibt: "L'auteur de L'Esprit des lois (est, W. E.) un philosophe positiviste et le pere de Ia sociologie." -Es sind gerade Comte und Durkheim, die in Montesquieu ihre Methode vorgezeichnet finden; trotzdem spart Comte nicht mit Kritik an Montesquieu, indem er ihm etwa vorwirft, im Grunde die aristotelische Lehre von den Verfassungstypen übernommen zu haben. (E. Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, Bd. II, Freiburg-München 1972, 159.) 61 B. Groethuysen, Philosophie der Französischen Revolution, Frankfurt - Berlin Wien 1975.
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Montesquieus "Esprit des Lois" geht von der Faktizität von Gesetzen als Ausdruck geistiger Wesensart einer Nation oder eines Volkes aus. "Sein entscheidendes Anliegen besteht . .. in der Untersuchung der Beziehungen der positiven Gesetze zu den verschiedenen Faktoren, die sie bestimmen und ihre Mannigfaltigkeit verursachen. Er bedient sich der Vernunft, um zu erforschen, weshalb die Gesetze und Gewohnheiten eines Landes so sind, wie sie sind&2." Montesquieu untersucht die den Gesetzen innewohnende Struktursa, um daraus Schlüsse zu ziehen auf die Funktionalität einer bestimmten Form von Staatsgewalt64. Was Montesquieu also interessiert, ist die Adäquatheit einer Regierungsform in Hinblick auf den individuellen Charakter eines Volkes und den "Geist" seiner Gesetze. Der Staat gilt als Organismus, dessen unausgesprochenes Ziel es ist, in Form der Gesetze sich Bestand zu verleihen. Montesquieus Ansatz geht davon aus, Normen von der Realität abzuleitenss. Allgemeine Werte, an die sich Menschen gebunden fühlen, werden auf ihre Funktion innerhalb der Gesamtheit bezogen. Sie sind von Staat zu Staat verschieden. "Montesquieu beschränkt sich darauf, die eigenen Gesetze jedes Staates zu untersuchen und sie in ihrer unterschiedlichen Struktur zu vergleichen; er macht nicht den Versuch, aus dem Material, das ihm die Geschichte liefert, durch Induktion die allgemeinen Regeln bestimmter Formen der Gesetzgebung zu entdecken&&." Darin unterscheidet sich Montesquieu gerade von den ihm nachfolgenden, radikalen Vertretern der Aufklärung, die Frage nach der Vernünftigkeit der einen oder anderen Regierungsform nur in Verbindung mit ihrer jeweiligen historischen Ausprägung gestellt zu haben. Ihr Bestand lieferte eine zusätzliche Bestimmung, um als vergleichbarer Untersuchungsgegenstand gelten zu können. Montesquieu behandelt die jeweiligen Verfassungsformen im Zusammenhang mit sog. "Prinzipien" 67 (die Republik bedarf der "Tugend", die MonarH. G. Keller, 43. Siehe: Fußnote 66. 64 "Er möchte vor allem die Beziehungen zwischen den positiven Gesetzen und der Ordnung der Dinge aufzeigen." (H. G. Keller, 42.)- "Wenn ich in ein Land reise, untersuche ich nicht, ob es gute Gesetze hat, sondern ob man die vorhandenen gut anwendet, denn gute Gesetze gibt es überall." (Montesquieu, Aus den Bemerkungen über England, in: Einleitung von K. Weigand zu Montesquieus Vom Geist der Gesetze, Stuttgart 1965, 43.) 65 Dies hindert Montesquieu freilich nicht, die Gesetzlichkeit selber als ethische Norm in Betracht zu ziehen. Freiheit könne nur in bezug auf Gesetze bestimmt werden: "In einem Staat, das heißt einer mit Gesetzen ausgestatteten Gesellschaft, kann Freiheit lediglich bedeuten, daß man zu tun vermag, was man wollen soll, und man nicht zu tun gezwungen wird, was man nicht wollen soll ... Freiheit ist das Recht, all das zu machen, was die Gesetze gestatten." (Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, übersetzt und eingeleitet von K. Weigand, Stuttgart 1965, XI/3, 210.) 66 B. Groethuysen, 43. 67 "Zwischen der Natur der Regierung und ihrem Prinzip besteht folgender Unterschied: ihre Natur macht sie zu dem, was sie ist, ihr Prinzip bringt sie zum Handeln. Das eine ist ihre besondere Struktur, das andere sind die menschlichen Leidenschafe2
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chie der "Ehre" und "prejuge" (=Prestigestreben), die Despotie der "Furcht"). Die konkreten geschichtlichen Erscheinungsformen des "Geistes" der Gesetze machen eine stets unterschiedliche Beurteilung notwendig. Jeweils der spezifische Geist des Volkes sei auf die ihm angemessene Regierungsform zu beziehen. Der Staat des einen Volkes wird daher anders aussehen als der eines anderen. Jede Nation hat auch die Möglichkeit, ihrer Art gemäß politisch frei zu sein. Freiheit bestehe in der "Ruhe des Geistes", eben in ihrer Entsprechung als Geist der Nation. Montesquieu versucht nun, um Mißverständnisse zu vermeiden, folgende "Überlegungen" zwischenzuschalten: "Mit dem Gesagten will ich keineswegs den unendlichen Abstand zwischen Lastern und Tugenden verringern ... Ich wollte lediglich verständlich machen, daß nicht alle politischen Laster auch moralische Laster sind und daß nicht alle moralischen Laster politische Laster sindss." Dieser Hinweis Montesquieus ist offenbar notwendig, gerade weil er auf das relationale Blickfeld von "Natur" und "Prinzip", i. e. von Struktur und besonderem "Geist" abstellt. Auch wenn der Stellenwert des Moralischen hier ausdrücklich betont wird, so ist es doch an Montesquieus Methode gelegen, die ethischen Erwartungshaltungen der radikalen französischen Revolutionäre unbefriedigt gelassen zu haben. Deren moralische Ansprüche und hohe normative Standards beziehen sich später auf andere Positionen, zu denen vor allem J. J. Rousseau zählt. Montesquieus Blick über den Kanal hat ihn in Verruf gebracht, ein Epigone Lockes zu sein. Gewiß, was seine Gewaltenlehre anlangt, ist die Ähnlichkeit nicht zu leugnen. Trotzdem sind die zentralen Anliegen der beiden wesensverschieden, und Montesquieu geht einen gänzlich anderen Weg, um zu ähnlichen Schlußfolgerungen wie Locke zu gelangen. Das Gewaltenproblem fällt bei Locke deshalb in Legislative und Exekutive auseinander, weil die Eigentümerklasse keinen (übergewaltigen) Staat erlaubt, der gegen ihre Interessen regiert. Demnach müsse die höchste Gewalt stets beim "Volk", sprich: den Eigentümern liegen. Für Montesquieu hingegen stellt sich die Frage der "Gewaltentrennung" oder "Gewaltenverbindung" als Strukturgesetz staatspolitischen Ausgleichs. Der theoretische Streit, ob dabei mehr die wechselseitige Kontrolle oder die Selbständigkeit von Einzelgewalten gemeint sei, wird auch in Zukunft nicht als abgeschlossen gelten können. Meine Auffassung darüber, worauf Montesquieu nun wirklich das Hauptaugenmerk richtet, schließt an ten, die sie in Bewegung setzen. - Indes müssen bei jeder Regierung die Gesetze genausogut ihrem jeweiligen Prinzip wie ihrer jeweiligen Natur entsprechen. Deshalb muß man suchen, was dieses Prinzip ist." (Montesquieu, 111/1, 117 .) ss Montesquieu, XIX/11, 293.
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M. lmboden an, der gerade in der formulierten "Unbestimmtheit", ob Trennung oder Verbindung der Gewalten die bürgerliche Freiheit garantiere, Montesquieus Verdienst erblickt69 • Montesquieu spricht von "eine(r) bestimmte(n) Aufteilung (orig.: "distribution", W.E.) der drei Befugnisse"70. Daß auch von Gewaltenteilung ("separation des pouvoirs") die Rede ist, hat seinen Grund in der Funktionenlehre, die in der Gewaltendifferenzierung das veränderbare Moment einander abwechselnder Staatsfunktionen erkennt. Der Begriff "Gewaltenteilung" tritt in England schon während des 17. Jahrhunderts auf und etabliert sich in Frankreich nach 1748. Die Verfassungen von Virginia und Maryland haben sich später darauf berufenn. Montesquieu wird jedenfalls zum Inbegriff einer Theorie der Gewaltenteilung72 , die eher Locke zu ihrem Urheber hat. Tatsächlich ist die Gewaltenteilungslehre so alt wie die politische Theorie. M. Rostock hat präzise herausgearbeitet, daß die antike Mischverfassungslehre gewissermaßen den Vorläufer für das Postulat der Gewaltenteilung in der modernen Demokratie abgibt73. Montesquieu stehe in der Tradition des Aristoteles und Herodot, indem er das wechselnde Verhältnis von "Monokratie", "Aristokratie" und "Demokratie" als Strukturprinzip gesellschaftlichen Zusammenlebens faßt. Durch Polybios gelangte die Staatsformenlehre in die römische Staatslehre und wurde durch Cicero und die späte Stoa bis in das christliche Mittelalter weitertradiert. Marsilius von Padua bildet den vorzeitigen Abschluß dieser Schule, die zugleich den Gedanken der Mischverfassung bewahrt. Die konstitutionelle Absicherung von Freiheit verlangt nach Montesquieu, daß Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung auch verschiedenen Entscheidungsträgern zugewiesen werden: Die legislative Befugnis sei Sache "sowohl der Adelskörperschaft als auch der gewählten Körperschaft der Volksvertreter"74, die Exekutive "muß in den Händen eines Monarchen liegen" 75, die Rechtsprechung muß "von Personen ausgeübt werden, die nach einer vom Geist vorgeschriebenen Weise zu gewissen Zeiten im M. Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung, Berlin 1959, 9. Montesquieu, XII/1, 249. 71 M. Imboden, 9. 72 M. Drath, Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht, in: H. Rausch (Hg.), 2lff. Nach Drath bildet Montesquieu auch den Ausgangspunkt für die heutige Lehre von Gewaltenteilung. 73 M. Rostock, Die antike Theorie der Organisation staatlicher Macht. Studien zur Geschichte der Gewaltenteilungslehre, Meisenheim am Glan 1975, 214. - Montesquieus Anlehnung an Aristoteles wird gerade darin deutlich, daß die Gewaltenteilung als politische Antwort auf ihr soziales Substrat, die Klassengesellschaft, zu begreifen ist. 74 Montesquieu, XI/6, 217. 75 Ebenda, 218. 69 70
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Jahr aus dem Volkskörper ausgesucht werden ... In dieser Form wird die Gerichtsbefugnis... sozusagen unsichtbar und nichtig, da sie weder mit einem bestimmten Stand noch einem bestimmten Beruf verbunden ist76." Die "Richter der Nation sind ... lediglich der Mund, der den Wortlaut des Gesetzes spricht, Wesen ohne Seele gleichsam, die weder die Stärke noch die Strenge des Gesetzes mäßigen können77." Was die Staatsformenlehre betrifft, sind die Berührungspunkte zwischen Montesquieu und der Tradition gegeben. Montesquieus Methode jedoch unterscheidet sich von dem seiner geistigen Väter. Sein- modern ausgesprochen - funktionalistischer Ansatz setzt schon voraus, was das klassische, aber auch das rationale Naturrecht erst zu begründen beanspruchen. Die übermächtige Faktizität politischer Gewalt wird nicht mehr hinterfragt. Die Form ihres Funktionierens wird auf strukturellem Hintergrund zu beschreiben versucht, ungeachtet ihrer Entstehung7s. Gewiß, auch alle anderen bisher erwähnten Theoretiker abstrahieren methodisch von der Frage nach der Herkunft politischer Herrschaft. Umso mehr bemühen sie sich jedoch um deren Rechtfertigung. In Kant findet sich die methodische Trennung der Frage nach der Geltung von Herrschaft von der Frage nach ihrer Herkunft auf die Spitze getrieben. Darauf wird im Kapitel über Kant und Hegel noch näher eingegangen. Montesquieu jedenfalls erscheint als einer der ersten, der keine fundamentale Lösung des Geltungsproblems beabsichtigt. Die Tatsache des Bestehens politischer Herrschaft genügt ihm als Geltungsgrund. Damit aber, in dieser Hinsicht keine Rechtfertigung geboten zu haben, erfolgt eine (implizite) Rechtfertigung dessen, was ist. Herrschaft, soweit sie funktioniert, erweist sich als legitim. - Mit dieser Theorie ist Montesquieu auf Widerstand dort gestoßen, wo Kritik gegen Herrschaftsgewalt als solche zielt. Montesquieu kommt durch die Ausklammerung der Begründungsfrage in natürlichen Gegensatz zur radikalen Aufklärung, deren Kritik an den herrschenden Gewalten eine manifeste Krise auszulösen beginnt.
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3. Kap. : Der liberale Ansatz: J. Locke, D. Hume, Ch. de Montesquieu
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Viertes Kapitel
Französische Aufklärung, Rousseau und die Französische Revolution Denkumbrüche sind bereits vorbereitet, ehe sie sich von einem traditionellen Band loslösen (lassen). Auch die "Aufklärung" enthält Bestimmungen, die in früheren Denkbewegungen wurzeln. Die neuzeitliche Überzeugung beispielsweise, daß Glaube und Wissen, Theologie und Wissenschaft in einem Gegensatz zueinander stünden, kann auf eine Strömung der Schule des Duns Scotus zurückverfolgt und als Spätfolge einer von der Theologie ausgelösten Denkschwierigkeit angesehen werden: "die Theologie könne um ihrer ,Gläubigkeit' willenkeine Wissenschaft sein und sie zerstöre andererseits, wegen ihrer Ausrichtung auf ,Verwissenschaftlichung' der Glaubensfragen, die Haltung des Vertrauens und des Gehorsams, die zum Glauben gehörtl.'' Dieses Beispiel mittelalterlicher Wurzelung einer das neuzeitliche Denken auszeichnenden Problemstellung läßt zugleich die methodische Schwierigkeit erkennen, daß historisch bestimmte Veränderungen2 Unterscheidungen durch den Betrachter erfahren, die- etwa in Form epochaler Abgrenzungen -als Mittel zur "Stilisierung" resp. "Überpointierung" dienen. Als solche bedürfen sie aber wieder der "Korrektur" der vom Idealbegriff abweichenden Tatsachen. So wird etwa in der Person des "Aufklärers" J . J . Rousseau zu zeigen sein, wie sehr dieser noch gedanklich dem christlichen Naturrecht verbunden ist, auch wenn er als einer der bedeutendsten Vertreter des neuzeitlichen Vernunftsrechts gelten mag.
J. Mittelstrass hat eine solche "Stilisierung" der Verschiedenheit griechischen und neuzeitlichen Denkens zum Ausgangspunkt einer Korrektur genommen, welche die Gemeinsamkeit in den Vordergrund stellt. In diesem Zusammenhang spricht er von einer "ersten" (griechischen) und "zweiten" (neuzeitlichen) Aufklärung, freilich auch hier mit der Einschränkung, daß es sich nicht um "eine Wiederholung oder bloße Fortsetzung eines vorangegan1 R. Schaefßer, Glaubensreflexion und Wissenschaftslehre. Thesen zur Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte der Theologie, Freiburg - Basel - Wien 1980, 59. 2 J. Mittelstrass, Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft un!f Philosophie, Berlin- New York 1970, 64.
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4. Kap.: Aufklärung, Rousseau und die Französische Revolution
genen Denkens, das in dieser Weise schon gefragt und zu antworten gesucht hatte", handeln müsse3. Die radikale Entgegensetzung der beiden Denkstile, die es zu überwinden gelte, lautet nun: "Das griechische Denken hat die einzigartige Stellung des ,Erkennenden' zum ,Erkannten' (dem Gegenstand der Erkenntnis) noch nicht entdeckt, ,in aller Unschuld' glaubt es sich beständig geleitet von einer ,unverrückbaren' Ordnung der Dinge, die ihrerseits in der Ordnung des Denkens ihre unproblematische Entsprechung findet. Eine solche Entsprechung wird dagegen problematisch im neuzeitlichen Denken. Ordnung der Dinge und Ordnung des Denkens fallen jetzt auseinander, bis nur noch die Ordnung des Denkens übrigbleibt, die sich die Dinge als ihren unverstandenen ,Rest' zur beliebigen Verfügung hält. Mit anderen ( ...)Worten: während griechisches Denken ausgezeichnet ist durch sein Vertrauen in die Verläßlichkeit des Seienden, findet neuzeitliches Denken sein Vertrauen allein noch in der Verläßlichkeit der Vernunft ...4. " Die beiden überpointierten Standpunkte könnten nun, so wendet J . Mittelstrass ein, "dazu verleiten, in der griechischen Vernunft, die den eigentlichen Schritt zum Selbstbewußtsein noch nicht vollzogen zu haben scheint, lediglich eine mehr oder weniger naive Vorstufe der sich selbst wissenden neuzeitlichen Vernunft zu sehen"s. Dagegen sprächen aber Originalität und Eigenständigkeit des alten Denkens, dessen aufklärerischer Zug außer Zweifel stünde. Mittelstrass versucht also von einer gängigen Vorstellung abzurücken, daß es nämlich erst in der Neuzeit geglückt sei, den Menschen als Vernunftwesen ins Zentrum philosophischer Überlegungen zu stellen und ihn dadurch als aufgeklärt begreifen zu können. Nur von einer (neuzeitlichen) Aufklärung zu sprechen, lege das herabsetzende Urteil nahe, daß die von ihr abgegrenzte, ältere Denkungsart eben nicht aufgeklärt gewesen sei. Mittelstrass spricht daher auch dort, wo im griechischen Denken Gemeinsamkeiten mit der neuzeitlichen Aufklärung bestehen, von ("erster") Aufklärung. Diese, über die historisch-epochale Abgrenzung von Aufklärung hinausgehende Begriffsbestimmung hat einiges für sich. Sie trägt etwa zu einem Verständnis von Autoren wie J. Habermas bei, die einerseits die Tradition "alteuropäischer Menschenwürde" beschwören&, andererseits im politischen Kampf mit konservativen Denkhaltungen sich auf die Freiheitsforderungen im Geiste neuzeitlicher Aufklärung berufen?. Ebenda. Ebenda, 59. 5 Ebenda, 60. s J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt 1973, 196. 7 Z.B.: J . Habermas, Stumpf gewordene Waffen aus dem Arsenal der Gegenaufklärung, in: F. Duve I H. Böll I K. Staeck (Hg.), 54- 72. 3
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4. Kap.: Aufklärung, Rousseau und die Französische Revolution
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Anders fällt der Vergleich K. Löwiths zwischen Aufklärung und modernem Geschichtsdenken einerseits und den Konzeptionen der Antike und des Christentums andererseits aus. Löwith ist der Auffassung, daß die griechische Idee zyklischer Bewegung, "ewiger Wiederkehr des Gleichen, wobei der Hervorgang in seinen Anfang zurückkehrt" 8 und die eschatologische Ausrichtung christlichen Heilsglaubens "die grundsätzlichen Möglichkeiten des Geschichtsverständnisses erschöpft hätten. Auch diejüngsten Versuche einer Deutung der Geschichte sind nichts anderes als Variationen dieser zwei Prinzipien oder ihre Vermischung9." Indem Löwith diese beiden Grundpositionen vorgibt, steht auch schon der Interpretationsrahmen für das neuzeitlich-aufklärerische Denken fest. Das neuze~tlich-aufklärerische Denken sei bloßes Säkularisat des Christentums, das bei Festhalten an dem griechisch-naturrechtliehen Ordnungsgedanken eine spezifisch teleologische Sichtweise entwickelt und sich "an dem überhistorischen Geschehen von Schöpfung, Inkarnation, Gericht und Erlösung orientiert" : " ... der moderne Mensch dachte eine Philosophie der Geschichte aus, indem er die theologischen Prinzipien im Sinne des Fortschritts zu einer Erfüllung säkularisierte und auf eine ständig wachsende Zahl von empirischen Kenntnissen anwendete, die sowohl die Einheit der Weltgeschichte wie ihreri Fortschritt in Frage stellen1o." Die hier zunächst allgemein formulierte These Löwiths hat H. Blumenberg als unschlüssig erklärt. Löwith würde mit Regel darin übereinstimmen, daß mit der "Aufhebung" des spezifisch christlichen Weltbildes durch das moderne Zeitalter und dessen Bewußtsein subjektiver Freiheit "das Heilsgeschehen auf die Ebene der Weltgeschichte projiziert und die letztere auf die Ebene der ersteren erhoben" seien11 • Nicht jedoch teile Löwith Hegels Geschichtsdenken einer Selbstverwirklichung der Vernunft, da nämlich dadurch gerade das, was als Säkularisierung erscheint, als bereits im Ursprung beschlossene Konsequenz gedacht werden müsse, die theologische Vorgeschichte sei zu ihrer endgültigen Gestalt gebracht worden. "Säkularisierung wäre dann nur der Aspekt partieller Objektivierung und Analyse, denn Verweltlichung wäre nicht Entfremdung vom Ursprung, sondern die Explikation des Ursprungs selbst12." Da jedoch Löwith nicht wie Regel den gegenwärtigen Endpunkt geschichtlicher Entwicklung zum begrifflichen Ausgangspunkt nehme (das s K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, 3. Aufl., Stuttgart 1953, 14. - Auf den alten Begriff von Revolution, der diesen Gedanken beinhaltet, wird noch zurückzukommen sein. 9 Ebenda, 26. 10 Ebenda. 11 H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966, 22. 12 Ebenda.
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4. Kap.: Aufklärung, Rousseau und die Französische Revolution
Bewußtsein der Aufklärung), sondern das eschatologische und heilsgeschichtliche Denken im Christentum, sei alles Folgende, das eben jenes zu seiner Voraussetzung hat, ein entfremdetes Moment dessen. Nur durch Löwiths Festhalten an Vorgängigem erweise sich Nachfolgendes als das Geringfügigere. Es stellt sich nun die Frage, ob - entgegen Blumenbergs, hier nicht näher ausgeführten formalen Einwänden - nicht doch an Löwith sinnvoll angeschlossen werden kann, wenn wir uns konkret auf Autoren der französischen Aufklärung beziehen. Stellen Aufklärer nicht neuerlich absolute Ansprüche, die sie beim Widerpart so sehr bekämpfen? Tauschen sie alte Substanz nur gegen eine als neu deklarierte ein?- Diese und andere Fragen sollen an Hand bestimmter Autoren geprüft werden, wobei immer noch offen bleibt, ob es nicht einen anderen Begriff von Aufklärung geben kann, den- wie H. Blumenberg meint- ein unverwechselbarer, eigenständiger Denkstil prägt und dem nicht erst durch und mittels des älteren christlicheschatologischen Glaubens seine Wertigkeit zuerkannt wird13. Die bereits erwähnte, in der mittelalterlichen Theologie wurzelnde Dualität von Glauben und Wissen verfestigt sich in der Neuzeit. In der französischen Frühaufklärung schließlich gelten Glauben und der Vernunft zugängliches Wissen als miteinander unvereinbar. Auch der Zusammenhang von Religion und Moral wird problematischl4. Vom Standpunkt der Unvereinbarkeit, wie dies etwa P. Bayle vertritt, bis hin zur dezidierten Ablehnung des Glaubensbereichs (und Verabsolutierung des Vernunft- und Wissensbereichs) ist nur ein schmaler Pfad. Wird der Glaube einmal zum "Rückhalt des Absurden"l 5 , so erweist er sich unter rationalistisch-doktrinärem Blickpunkt als schlechthin irrational und sei zu bekämpfen. Verengt sich also der Standpunkt der Vernunft zum alleingültigen, d.h.läßt er keinen anderen, über Vernunftprinzipien nicht erklärbaren Sinn- oder Wahrheitsbereich zu, so wird damit dem Glauben und der Religion der Krieg angesagt. Als Kriegserklärung ist bereits Bayles Forderung nach einer "Republik der Ideen" zu verstehen: "Diese Republik ist ein außerordentlich freier 13 " •.• die genuine Verweltlichung ist nicht eine Transformation von Gegebenem, sondern primäre Kristallisatio~jener Weltlichkeit, die im Begriff der Säkularisierung allererst des unrechtmäßigen Ubergriffs über ihre Kompetenz hinaus auf das, was eigentlich nur Restbestand jener Ausgangssituation der akuten Naherwartung war, beschuldigt werden konnte. Die Differenz der Instanzen, die in der Vorstellung des unrechtmäßigen Entzuges vorausgesetzt ist, verliert unter diesem Aspekt den Zug eines fast gnostischen Dualismus und erweist sich als sekundäres Produkt innerer Vorgänge des im weitesten Sinne eschatologisch beherrschten Denkens selbst." (H. Blumenberg, 34f.) 14 P. Hazard, Die Herrschaft der Vernunft. Das europäische Denken im 18. Jahrhundert, Harnburg 1949, 70; ebenso: P. Hazard, Die Krise des europäischen Geistes. 1680- 1715, Harnburg 1939, 339ff. ts P. Hazard, Die Herrschaft der Vernunft, 71.
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Staat. Man erkennt in ihm keine andere Herrschaft an als die der Wahrheit und der Vernunft, und unter deren Auspizien führt man in aller Einfalt Krieg gegen wen auch immer. Die Freunde mögen vor ihren Freunden, die Väter vor ihren Kindern auf der Hut sein16." Bayle beteuert, daß er nicht gegen Kirche, Religion und Theologie argumentiert. Da er sich nur an Vernunftgründe halte, könne er dies gar nicht tun. Denn: Glaubenswahrheiten seien vom Standpunkt der Vernunft unbeweisbarl7. Bayles zur Schau getragene Toleranz gegenüber der Religion ergibt sich aus der Annahme der Unvereinbarkeit mit Vernunft. Daß eine offene und sogar kämpferische Parteinahme für die Vernunft, die der Religion gerade abgesprochen wird, von dieser als Bedrohung empfunden werden könnte, ist für Bayle kein Problem. -Tatsächlich erwachsen der Aufklärung aber- entgegen Bayles selbstgewisser Unbekümmertheit - auch "hypokritische" Züge, die problematisiert werden müssen. Doch davon später. In ihrem ersten Angriff gegen das als heteronom empfundene Göttliche hat die Aufklärung noch an einer Art gütiger Divinität, die Harmonie, Leben und Liebe spenden würde, festgehalten. Damit hat das bereits vom Immanent-Vernünftigen abgespaltene Transzendente eine neuerliche Trennung erfahren in einen bösen Tyrannengott, der sich die Menschen über den Aberglauben unterwirft, und in jene göttliche Harmonie1B, die selbst über den Naturbegriff noch ihren Transzendenzbezug aufrechterhalten konnte. Im Zuge der bis zur Ausschließlichkeit gehenden Trennung von göttlicher Heilslehre (kirchlichem Christentum) und diviner Natur ist der Naturbegriff schließlich seiner Divinität verlustig gegangen. "Natur", nun in der Bedeutung von immanenter Natur, hat sich auf die Seite der Vernunft und vernünftigen Wissens geschlagen, wobei der ursprünglich auch das Transzendente einschließende Begriff geleugnet wird. Damit ist auch nicht mehr an der noch von P. Bayle akzeptierten Trennung von Religion und Vernunft festzuhalten, sondern das Vernunftprinzip und der Naturalismus setzen sich selbst noch an die Stelle des Göttlichenl9. Diesen letzten Schritt unserer Interpretation gilt es freilich näher zu begründen. Im Grunde ist damit das Ergebnis unserer Befassung mit einigen Autoren der französischen Aufklärung vorweggenommen worden. Löwiths Erklärungsansatz einer Säkularisierung des Göttlichen (und damit neuerlichen Divinisierung von Natur) trifft auf einzelne Autoren zu. H. Blumen16 Zitat abgedruckt und übersetzt bei: P. Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, 140. 17 P. Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, 144. 1B T. Schabert, Natur und Revolution. Untersuchungen zum politischen Denken im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts, München 1969,42. 19 Ebenda, 45.
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berg hat aber durchaus überzeugend einen Standpunkt von Aufklärung umrissen, dem dieser Ansatz nicht gerecht zu werden vermag. Auch darauf wird mit eigenen Überlegungen noch zurückzukommen sein. Zunächst soll die 1665 erstmalig erschienene Schrift "Reflexions ou Sentences et Maximes Morales" (in der Folge kurz "Maximes" genannt) von F. de la Rochefoucauld erwähnt werden2o. Darin findet sich der Versuch einer Diagnose der höfischen Gesellschaft im siecle de Louis XIV. La Rochefoucauld hat selbst den Großteil seines Lebens in dieser Gesellschaft zugebracht. In den "Maximes" tritt er jedoch an, das "pure spectacle" beim Namen zu nennen, es sei bloßes "Maskenspiel"21 . Hinter der Maske des honnete homme stünde nicht die honnetete, sondern die nackte Eigenliebe, "amour-propre"22. Damit sind bereits die wichtigsten Begriffe genannt, die für eine bestimmte Richtung der Aufklärung konstitutiv werden. Die Erklärung des Lebens bestünde darin, die Masken zu lüften, eine Strategie der Demaskierung zu verfolgen. Doch was sollte die Menschen dazu veranlassen? Auch darauf hat La Rochefoucauld eine Antwort: die "Liebe zur Wahrheit" ("amour de la verite").- Die "Liebe zur Wahrheit" wäre nun aber etwas Allgemeines und von der "amour-propre" so Unterschiedenes, daß die sich durch die "amour-propre" auszeichnende höfische Elite Frankreichs von selbst die Maske abnehmen könnte. Doch so grundsätzlich denkt La Rochefoucauld wohl nicht. Vielmehr spricht er, als einer, der das "Maskenspiel" nicht (mehr) mitmacht, sich selbst die Fähigkeit zu, den Schleier wegzuziehen. Der Gedanke des "Entschleierns" ist es, der der Aufklärung den Weg weist, der aber seine explizit herausgestellte substantielle Grundlage bei La Rochefoucauld noch vermissen läßt. Die "amour-propre" gilt ja nur für die Teilnehmer an der Maskerade, für die Demaskierung, die La Rochefoucauld vornimmt, gilt jedoch die "amour de la verite". Ein Gemeinsames, das hinter beiden stünde, bleibt der La Rochefoucauld nachfolgenden Generation philosophischer Aufklärer zu suchen. Es ist der Weg von der "amour-propre" hin zur "amour de soi", der Weg zur "wahren Natur" des Menschen. Die Kampfansage gegenüber dem herrschenden Regime bleibt jedoch noch lange Zeit aus. Obwohl mit dem Maskenspiel wohl nur der höfische Adel gemeint sein kann, bleiben die Kategorien "Demaskierung", "Entschleierung" vorgeblich noch im Unpolitischen stecken. Doch je mehr sich die "Kritik" zu einer alternativen Theorie ausweitet, desto gefährlicher wird 2o In der Interpretation stützen wir uns auf T. Schabert, Natur und Revolution, Kap. 4, La Rochefoucauld oder das Maskenspiel, 49ff. 21 Ebenda, 53. 22 Ebenda, 49.
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sie für die herrschende Politik, auch und gerade dann, wenn sie sich unpolitisch gibt. - Auf diesen Prozeß gilt es noch einzugehen. Vordem soll jedoch noch darauf hingewiesen werden, wie sehr Begriffe wie "Demaskierung", "Entschleierung", "Entlarvung" bis hin zu "Dechiffrierung" und "Herstellen von Transparenz" das moderne Denken prägen. Sie gründen in dem aufklärerischen Anliegen, das, was man hinter der Fassade (dem Schein) vermutet, freizulegen. In dem Bestreben, auf diese Weise zu einem neuen Wesenskern zu stoßen, ist man den Weg neuerlicher Substantialisierung geschritten. Die Entlarvungsstrategie setzt nämlich voraus, daß es etwas gibt, was zu entlarven wäre. So konstruiert bereits La Rochefoucauld eine Art "Pathologie menschlicher Existenz aus Eigensucht"23, womit er Sinnlichkeit, Leidenschaften aller Art, Laster, insbesondere Lug und Trug, Heuchelei, allgemeiner aber Vorscheinen-Wollen, AnscheinErwecken u. ä. zu umschreiben versucht. Diese Charakterzüge des Menschen sollen sogar noch ihr Gegenteil verstehen machen: Hinter der (Nächsten-) Liebe stünde Selbstliebe, hinter Heiligkeit Scheinheiligkeit, hinter Moralität Selbstgerechtigkeit, etc. Die "amour-propre" erweist sich zunächst als Verlegenheitslösung. Sie dient zwar zur "Demaskierung" des höfischen Menschen, bietet jedoch kein Kriterium für eine Differenzierung von Schein und Wesen. Wenn hinter allem die "Selbstliebe" steht, also sowohl für die "Maskierung" wie auch für das "Ablegen der Maske" gilt, hat der Begriff "Maske" seinen Sinn verloren. Hinter der "Maske" steht nichts anderes als sie selbst. Es gibt nichts von ihr Unterschiedenes mehr. Wie gesagt, La Rochefoucauld geht mit der "amour-propre" nicht ins Grundsätzliche. Es bleibt der späteren Aufklärung vorbehalten, eine Differenz zu konstruieren, welche die "amour-propre" als "Entgleisungsform"24 einer grundsätzlich zum "wahren" und "natürlichen" Leben hinführenden "amour de soi" begreifbar machen soll. Diese Gegenüberstellungzweier existentieller Grundstrebungen ist für Rousseaus Anthropologie bezeichnend. Bei ihm findet allerdings die aufklärerische Begriffswelt an die der Tradition in einer Form Anschluß, die ihren Bezug zur Transzendenz nie preisgegeben hat. "Nature" wird hier nicht erst in einer Art nachträglichen Erklärung als die zur Substanz erhobene, neue, lebensspendende und sinnhafte Gottheit erkannt, über deren säkular-materielles Desiderat sich die Aufklärung nur hat täuschen können, vielmehr besteht der Zusammenhang von "Natur" und christlicher Gottheit bei Rousseau eingestandenermaßen. Insofern ist Rousseau auch nicht typisch für die Aufklärung. Anders steht es etwa mit P. Bayle, Voltaire, Morelly und Diderot, deren strenge Gegenüber23 24
Ebenda, 56. Ebenda, 64.
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4. Kap.: Aufklärung, Rousseau und die Französische Revolution
stellungvon Glauben und Vernunft sie nur mehr auf die Vernunft hat setzen lassen. Verabsolutiert werden nun- unter Beibehaltung derselben Absolutheitslogik - die gegenüber dem Glauben als selbständiges Moment gesetzte "Vernunft" und "Natur". "Vernunft", "Natur", aber auch "Kritik" und die von der orthodoxen Religion abgekoppelte "Moral" bilden in der französischen Aufklärung eine abstrakte, wiederum einheitsstiftende Begriffswelt. Dieser widerstrebt es, die bei Macchiavelli oder Th. Hobbes bereits vorausgesetzte Differenz von moralischem und instrumentell-strategischem Handeln aufkommen zu lassen. Auch eine Verhältnisbestimmung "Kritik" und "Politik" läßt auf sich warten. Zunächst ist es der Bannstrahl moralischer Entrüstung, der sich gegen alles "Unaufgeklärte" richtet. Ein universales Moralgesetz, aufbauend auf den Prinzipien der Vernunft, bildet den theoretischen Hintergrund für Rechte und Pflichten, die allen Menschen gleichermaßen zukommen. Dieser Ansatz und nicht derjenige Montesquieus bietet sich in Frankreich an, wo der Kampf gegen den Absolutismus mit dem Banner der "Vernunft" geführt wird. Anders als Montesquieu hält dieser Zweig der Aufklärung an einem absoluten Wertmaßstab fest, woran sich individuelles und kollektives Handeln orientieren müssen. P. Bayle und Voltaire stehen beispielhaft für eine Kritik, die sich vorerst noch unpolitisch gibt, um freilich darin politisch zu sein. Im ausgehenden 17. Jahrhundert spaltet sich in Frankreich die literarische Szene auf. Die Querele, jene in Pamphlets und Spottgedichten geführten Auseinandersetzungen, umfaßt auf der einen Seite die "Anciens" (Boileau, La Bruyere, La Fontaine, ...), auf der anderen die "Modemes" (Ch. Perrault, St. Evremond, Fontenelle, ... )25. Mit dieser Trennung erfolgt die ein ganzes Zeitalter kennzeichnende Frontstellung zwischen "Rückschrittlichen" und "Fortschrittlichen"26. Mit Hilfe der "modernen" Ideen soll eine erstrebenswerte, vom Grunde auf neue Zivilisation geschaffen werden27. 25 T. Schabert, Gewalt und Humanität. Über philosophische und politische Manifestationen von Modernität, Freiburg-München 1978, 59. 26 Taine erkennt in der Art der Entgegensetzungen zwischen Revolutionären und Konterrevolutionären in Frankreich mehr Gemeinsamkeit als zwischen englischen und französischen Revolutionären: "Die religiösen und monarchischen Schriftsteller entstammen derselben Familie wie die gottlosen und revolutionären Schriftsteller ... " (H. Taine, Geschichte der englischen Literatur, 2. Band, Leipzig 1878, 213.) E. Burke spricht bereits 1791, sich auf die Französische Revolution beziehend, von "Umwälzungen", "die auf religiöser Grundlage beruhen und bei denen Bekehrungssucht einer der hervorstechendsten Züge ist". (E. Burke, Gedanken über die Revolution, Wien 1950, 15.) Die religiöse Komponente der Französischen Revolution betont auch A. Tocqueville, Das Ancien Regime und die Revolution (1856), in: A. Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit, Auswahl aus Werken und Briefen, 2. Auflage, Köln und Opladen 1967, 147.
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R. KoseHeck hat den politisch relevanten Prozeß von Kritik analysiert, wie er Krise und Revolution vorbereiten hilft2B. Ich folge hier seiner Argumentation, soweit diese das ideengeschichtlich nachweisbare Selbstverständnis der radikalen Aufklärung trifft.
Bayle und später Voltaire bilden gewissermaßen den Übergang zu einer eigenständigen französischen Aufklärung, die zwar wie im Falle Voltaires noch an einer an Enthusiasmus grenzenden Anglophilie festhält, jedoch den für den radikalen Demokratismus typischen Moralismus teilt. Damit ist ein sich politisch auswirkender Denkhabitus geboren, der, an englische Aufklärung anschließend, eigenes Profil gewinnt. Montesquieu hat demgegenüber an Empirismus und liberalem Pragmatismus angelsächsischer Politikauffassung festgehalten, ohne aber deshalb als Epigone gelten zu müssen. Gewiß, Bayle und Voltaire sind keine radikalen Demokraten, wie später Morelly, Mably und Helvetius. Vielmehr ist es ihre dualistische Begriffswelt, welche die Legitimierungsgrundlage des herrschenden Systems langsam zersetzt. Neben die Unterscheidung von Moral und Religion tritt nun auch die von Moral und Politik. Beide Begriffe können voneinander losgelöst betrachtet werden. Der Ausgrenzungsmechanismus nun, dem auf praktischer Ebene die Absonderung der Kritik von Politik entspricht, ist selbst zur Ursache von Revolution geworden. Indem Kritik sich Politik enthoben wähnt, kann sieohne Rücksichtnahme- ganz sie selbst sein. Als "maßlose" Kritik hat sie die herrschende Politik ins Herz getroffen. Mit der Trennung von Politik und Kritik entfernt man sich von den sonst einsehbaren Grenzen ihrer Realisierungsmöglichkeiten. Kritik entledigt sich so aller Schranken, welche die realen Bedingungen der Politik setzen. Ihr Schein, nichts mit Politik zu tun 27 "Diese wissenschaftliche (und folglich soziale) Revol~.tion wurde gegen die ,Alten' in der Absicht betrieben, die von ihnen herstammende Uberlieferung durch die nuova sciencia der ,Modernen' zu ersetzen. Der entscheidende Akt dieser Revolution spielte sich im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert in jener Epoche ab, der Paul Hazard den Titel La crise de la conscience europeenne gegeben hat." (T. Schabert, Gewalt und Humanität, 59ff.) 2s R. Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt 1974 (erstmals 1959). Bereits J. de Maistre betont den revolutionierenden Einfluß, den der "Philosophismus" ausübte. (J. de Maistre, Marie Antonie oder Ursachen und Schilderung der Revolution, o.O. 1794, 110.) Daher sei die "Beaufsichtigung" von Wissenschaft und Kunst zu fordern. Beide würden immer dann zur Gefahr werden, wenn sie ihre Grenzen nicht erkennen. (Ebenda, 14.) F. Gentz weist im Gefolge E. Burkes .auf "die Herrschaft revolutionärer Maximen" als Quelle der Anarchie hin. (F. Gentz, Uber den Ursprung und Charakter des Krieges gegen die Französische Revolution, Berlin 1801, 44.) Ebenso B. Constant, der in den Revolutionären "die künstliche Leidenschaft für ein abstraktes Wesen, für eine allgemeine Idee" erblickt. (B. Constant, Über die Gewalt. Vom Geist der Eroberung und von der Anmaßung der Macht (1814), Bern 1942, 46.) A. Tocqueville (181) spricht von der revolutionären Denkungsart "des abstrakten und literarischen Politisierens".
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zu haben, wird zum Wesen, sie in Wirklichkeit abzulösen. Der Begriff allgemeiner Politiklosigkeit ist selber Politik geworden, Politik der Zerstörung herkömmlicher Auffassungen. P. Bayle, der französische Frühaufklärer29, besteht auf "Le regne de la critique". Kritik müsse zur "eigentlichen Tätigkeit der Vernunft" werdenao. Selbst schrankenlos, setzt sie den eigenen Gegensatz, um nicht zur Ruhe zu kommen und gegen ihr Prinzip zu verstoßen. Sie muß sich perpetuieren, allen Beharrungstendenzen zum Trotz. Kritik anerkennt nur sich selbst als oberste Urteilsinstanz. Sie hält sich explizit aus Politik heraus, da sie niemandem sonst verpflichtet sein möchte. Nicht der Staat soll seiner Form wegen kritisiert werden, sondern die geistige Auseinandersetzung müsse selber die Form einer Republik annehmen, Gelehrtenrepublik werden. Aufklärung wird hier als wissenschaftlicher Diskurs verstanden, der, in steter Fortsetzung begriffen, allein Wahrheit beanspruchen kann. Indem Fixpunkte in Bewegung geraten, Dogmen - zumeist religiöser Art - zerrinnen, erfolgen Bestimmung und Einschätzung von der Zukunft her: "Die Kritik hat die Zukunft in einen Sog verwandelt, der dem Kritiker das Heute unter den Füßen wegzieht. Unter diesen Umständen blieb dem Kritiker gar nichts anderes mehr übrig, als im Fortschritt die seiner Seinsweise zugeordnete Zeitstruktur zu entdecken. Der Fortschritt ist der modus vivendi der Kritik, auch dort, wo er- wie von Bayle -nicht als eine Aufwärtsbewegung verstanden wurde, sondern als Destruktion, als Dekadenz3 1 . " Auch Kant und Regel stehen zum Fortschrittsglauben. Regel erblickt sogar in geschichtlichen Rückwärtsbewegungen, wie kollektiven Formen der Barbarei, noch Vernunft, wenn auch als ihre List. Der "Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit"32 kann so durch nichts in der Welt aufgehalten werden. Macht Regel einen späten Versuch, Moral und Religion mit Politik zu versöhnen, trägt die französische Frühaufklärung gerade zu ihrer Entzweiung bei. Religion und Kirche hätten sich nun den Prinzipien der Vernunft und Moral unterzuordnen. - P. Bayle geht jedoch nicht so weit, auch Politik und Staat der Kritik auszusetzen, im Gegenteil: Kritik hat im Staat ihre Schranke. Gegen ihn sich erheben, käme einem Verbrechen gleich. Wie schon bei Hobbes sei die Unterwerfung einem ruhelosen, unsicheren politischen Zustand vorzuziehen, in dem keine Streitschlichtungsgewalt bestehe. "Die Vernunft, im Innern kritisch, bleibt nach außen staatstreuaa." 29 Bibliographie und Auszüge aus seinem Werk finden sich in dem von E. Labrousse herausgegebenen und eingeleiteten Band: Pierre Bayle et l'instrwnent critique, Paris 1961. 30 R. Koselleck, 89. 31 Ebenda, 90 ff. 32 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke 12, Frankfurt 1970, Einleitung, 32.
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Die gemäßigte Aufklärung hat sich allein die Mittel der Kritik zugesprochen, ohne damit der Revolution das Wort reden zu wollen. Kritik soll Revolution gerade überflüssig machen. Die Scheidung von Vernunft und Glauben, von Moral und Religion, insbesondere aber von Moral und Politik, ist dazu bestimmt, eine Herrschaft zu etablieren, die in dieser Grenzziehung ihr Politikum hat. Indem der Staat als Sanktionsgewalt zwar hingenommen wird, als der Moral enthoben aber von einer weitergehenden Beurteilung ausgeklammert bleibt, kann das nach innen verlegte moralische Gesetz gleichsam im stillen eine Krise vorbereiten, die keine äußerliche Macht mehr einzudämmen imstande ist34. Die Forderung Bayles also, sich der politischen Herrschaft kritiklos zu unterwerfen, wird angesichts einer Monopolisierung von Kritik im Bereich subjektiver Überzeugung gegenstandslos. Die Kritik treibt über sich hinaus und eliminiert gerade dadurch äußere Herrschaft, indem sie sich als einzig legitime setzt. Dem Unterwerfungspostulat von Politik korrespondiert die Wahrheitsübereignung an das Subjekt, das die Grenzziehung in der Folge sprengt. Voltaire teilt mit Bayle den Standpunkt einer Trennung von Politik und Kritik. Im Namen dieser Trennung hat Voltaire (politisch) auf die Öffentlichkeit eingewirkt35. Die weitere Entwicklung der französischen Aufklärung vollzieht sich in einer Art Übergang "von der Sammlung der Irrtümer bis zur Bestandsaufnahme des menschlichen Wissens"3 6 • "Man will sich, im Sinne Diderots, nun nicht mehr damit begnügen, lediglich Behauptungen anderer kritisch zu prüfen, sondern ist bereit, seinerseits Behauptungen aufzustellen. Von diesen Behauptungen soll dabei nur ein begründeter, kein dogmatischer Gebrauch mehr gemacht werden37 . " Dabei hält die Voltaire nachfolgende Generation, wie Diderot, d' Alembert, Condorcet, aus politischen Gründen an den dualen Setzungen wie Wahrheit und Meinung, Recht und Autorität, Pflicht und Interesse, Tugend und Ruhm3s fest. In vollem Glauben an die eigene Souveränität und Wahrheit werden nun die Normen der Vernunft einer politischen Realität gegenübergestellt, die dadurch schon diskreditiert erscheint. Der Bruch zwischen Moral und PoliR. Koselleck, 92, Zitat: 93. "Mehr denn je begibt er (Bayle, W. E.) sich mitten in die Festung, um sie zu Fall zu bringen; mitten unter ihre Verteidiger, um Verwirrung unter ihnen zu stiften." (P. Hazard, Die Krise des Europäischen Geistes, 142.) 35 Dazu die deutsche Ausgabe: Voltaire, Recht und Politik. Schriften 1, herausgegeben von G. Mensching, Frankfurt 1978. 3& Literaturhistorisch vom "Dictionnaire historique et critique" P. Bayles bis zur "Encyclopedie": P. Hazard, Die Herrschaft der Vernunft, 71. 37 J. Mittelstrass, 95 und ff. 38 R. Koselleck, 99. 33
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tik ist unüberwindbar geworden. Herrschaft, Macht und König sind allein ihrem Bestehen nach moralisch abqualifiziert. Kritik bescheidet sich nicht mehr mit der Rolle rationaler Textkritik, wie dies noch bei Bayle der Fall ist, sondern dringt nach außen und trifft nunmehr frontal die politische Realität. Kritik ist zur Krise herangereift, Aufklärung steht am Rande der Revolution. Hypokritisch- nach R. KoseHeck- ist die Aufklärung dadurch geworden, daß sie das Pathos verinnerlichter Kritik gebraucht, um politisch zu sein, ohne dabei diese Absicht zu verraten. Wenn es an jedem Menschen liegt, sich der Vernunft zu bedienen, dann steht das eigene (kritische) Urteil höher als das des anderen. Damit erhält das Individuum Macht über traditionelllegitimierte Herrschaftspositionen. Das subjektiv-unpolitische Bewußtsein wird politisch, indem der Appell an die Vernunft jedes einzelnen alles Gesellschaftliche durchdringt. Über die revolutionären Folgen schweigt man sich aus. Analog zum Prozeß glaubensmäßiger Individualisierung im Protestantismus, der den zuvor ausgegrenzten Bereich der Politik gleichsam in einem zweiten Anlauf "vergöttlichen" möchte, kulminiert die französische Aufklärung in einer Phase der Moralisierung von Politik. Nach der bereits erfolgten Trennung von Moral und Politik, wofür Bayle und Voltaire beispielgebend sind, unterwerfen Turgot und Holbach schließlich alles politische Handeln den moralischen Entscheidungen der einzelnen. Die Emanzipation der Moral von der Politik hat in ihre Moralisierung umgeschlagen.- Die Freisetzung der Politik in der Reformation und neuerlich in der Aufklärung bildet jedoch gleichzeitig einen eigenständigen Denktypus aus. Politik sich selbst überlassen, fördert die Abstraktion technisch-instrumenteller Betrachtungsweise. Ihr gegenüber stellt auch die aufklärerisch-moralische Politikauffassung keine Konkurrenz dar. In der bürgerlichen Epoche nämlich beanspruchen beide ihre je eigene Veränderungsdynamik39. Methodisch unterschieden, vermögen sie einander nicht zu widersprechen4o. Kant hat 39 J. Habennas bekennt sich- hierin Kant verbunden- zu dieser Differenz aus grundsätzlichen (fundamentalen) Erwägungen: "Die Regeln kommunikativen Handeins (d.i. praktisch-moralischen Handelns, W. E.) folgen nicht automatisch den Veränderungen im Bereich des instrumentalen und strategischen Handelns, sie entwikkeln sich vielmehr aufgrund einer eigenen Dynamik." (J. Habennas, Thesen zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Diskussionsbeitrag zum Stuttgarter Hegelkongreß 1975, ebenso abgedruckt in: J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt 1967, Zitat in etwas abgewandelter Form auf 163.)- Zur Herleitung dieses begrifflichen Gegensatzpaares, das für die weitere Aufarbeitung unseres geschichtlichen Stoffes ein wichtiges analytisches Kriterium abgibt: J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: Derselbe, Technik und Wissenschaft als "Ideologie", Frankfurt 1968; J. Habennas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968. -Die Ontologisierung dieses Begriffsdualismus wird im Kant-Kapitel zu kritisieren versucht. 40 P. Brückner übergeht in seiner antibürgerlichen Denkhaltung diesen methodischen Dualismus. Er spricht von der "Unsittlichkeit der Abstraktion". (P. Brückner,
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dafür die wohl eindrucksvollste theoretische Begründung geliefert. Darauf wird noch einzugehen sein. Jedenfalls hemmt die Moralisierung von Politik keineswegs ihre weitergehende Instrumentalisierung. Vielmehr repräsentieren sie, beide zusammengenommen, einen Dualismus, der gewissermaßen die Substanz bürgerlichen Denkens bildet. Der Primat des in Vernunft gründenden Allgemeinen aber, dessen Verpflichtendes der Entscheidung des Individuums obliegt, läßt alte Legitimität sich auflösen. Dabei findet der Legitimitätseinbruch, der dadurch zustandekommt, daß Politik dem moralischen Urteil des bürgerlichen Subjekts unterworfen wird, zunächst nicht einmal Erwähnung. Der durch die Moralisierung von Politik erfolgende Legitimitätswandel hat in der ihm vorgängigen Aufspaltung von Moral und Politik diesen Sachverhalt gerade verschleiern geholfen41. Mit dieser aufklärerischen Position wird dem eigentlich politischen Problem, wie Interessen mit einer - wie auch immer definierten - Moral zum Ausgleich gebracht, respektive vermittelt werden können, aus dem Weg gegangen42 . "Die konkrete Frage, wo und wie das moralische Recht und die Macht zusammenfallen, d. h. die Frage nach der politischen Gestalt einer moralischen Staatsordnung, wird durch die dualistische Aufspaltung von Moral und Politik umgangen und als politische Entscheidungsfrage ignoriert. Moralisch gesehen soll der König im Namen der Moral, d.h. der Gesellschaft, herrschen; daß aber, politisch gesehen, die Gesellschaft im Namen des Königs diktieren will, wird nicht gesagt und, muß auch nicht gesagt werden, da die Gesellschaft ja rein moralisch ist. Die politische Frage nach dem Träger der Souveränität, die moralisch bereits gelöst ist, wird ausgespart43." Turgot hat bereits den Gedanken geäußert, daß es moralisch sei, wenn die Gesellschaft "revoltiere", weil sich der Staat nicht dem Gesetz der Moral unterordneH. Holbach geht noch darüber hinaus, wenn er behauptet: "Die souveräne Gewalt ist nichts weiter, als der Krieg eines Einzelnen gegen die Über die Gewalt. Sechs Aufsätze zur Rolle der Gewalt in der Entstehung und Zerstörung sozialer Systeme, Berlin 1979, 21.) 41 R. Koselleck, 124. 42 "Der Gedanke des natürlichen Ausgleichs, der in England dem ökonomischen und politischen Liberalismus zugute kam und der überdies im Parlament ein Instrument legalen Fortschritts zur Verfügung hatte, mußte dagegen in der absolutistischen Staatsmaschine Frankreichs ein Hindernis erblicken, das nur ein revolutionärer Akt wegräumen konnte, um dem Menschen die genommene Freiheit wiederzugeben, in der die Interessen sich endlich ,natürlich' ausgleichen könnten." (A. Schaefer, David Hume. Philosophie und Politik, Meisenheim am Glan 1963, 129.) -Die Antizipation einer moralisierten Politik hat in den Köpfen revolutionärer Theoretiker das konkrete Problem des Interessensausgleichs als gelöst unterstellen lassen. Moralische Politik, welche gegen die absolutistische zielte, hat die "Natürlichkeit" resp. "Harmonie" ja bereits in sich. 43 R. Koselleck, 123. 44 Ebenda, 130. 9 Ernst
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Gesamtheit, sobald der Monarch die Grenzen übertritt, welche ihm der Wunsch des Volkes vorschreibt45." Damit allerdings werden bereits unverschlüsselt Losungen ausgegeben, dem Staat jene Bedingungen aufzuerlegen, bei deren Nichterfüllung gleichsam von ihm aus der Bürgerkrieg erklärt ist. Gemeint sind politische Partizipationsrechte, die der absolutistische Souverän nicht zugestehen will. In Turgot und Holbach erfährt die Aufklärung eine Radikalisierung, die sie in offenen Widerspruch zur Staatsgewalt bringt46. Anders Voltaire, Diderot und d'Alembert: Für sie ist Aufklärung nur eine Aufgabe, die Gelehrte übernehmen müßten. Wenn auch Voltaire meint, durch Aufklärung der Menschheit zu dienen, folgert er (noch) nicht, daß alle Menschen auch zu ihrer Selbstverwirklichung fähig wären. Nicht jeder könne sich der allen gemeinsamen Vernunft bedienen. Dieser von den meisten Vertretern der französischen Hochaufklärung geteilte Standpunkt artikuliert unverblümt den Herrschaftsanspruch der Gelehrtenklasse. Bei Voltaire paart sich dieser mit dem Wunsch nach allgemeiner Menschheitsbeglückung. Ungeduldig schreibt er an d'Alembert: "Herr Proteus, Herr Vielgestalt, Sie sind ein großer Denker und ein großer Inszenator, aber es genügt nicht zu zeigen, daß man mehr Geist hat als die andern. Tun Sie doch bitte einmal etwas für die Menschheit47." Was bei Voltaire noch- dem Anspruch nach- als kritisches Engagement im Dienste der Allgemeinheit ausgelegt werden kann, erhält bei d' Alembert den klassenspezifischen Ausdruck von Weltverachtung: "Ich möchte gerrie der Vernunft dienen, aber meine Ruhe liegt mir noch mehr am Herzen. Die Menschen sind es gar nicht wert, daß man sich um ihre Aufklärung bemüht48 ." Das Pathos der Aufklärung ist bekannt. Von der Elite-Position der Philosophen aus versucht man die "Wahrheit" in die Welt zu tragen. Die Briefwechsel Voltaires mit d'Alembert, Damilaville und Madame du Deffand stehen hiefür exemplarisch. Auch Voltaire kann seine Geringschätzung für das gemeine Volk nicht verbergen, wenn er schreibt: "Daß das Volk geführt wird, ist angemessen, und nicht, daß es gebildet wird, es. ist dessen nicht würdig. Vierzigtausend Weise, das ist etwa alles, was wir brauchen49," Holbach, zit. bei R. Koselleck, 131. Über den Beitrag der Physiokraten zur Revolution, ihren technischen Gesichtspunkt, "den ordre nature! in einen ordre positif derart zu übersetzen, daß das Naturrecht in dem aus ihm abgeleiteten Gesetze bloß bekräftigt und angewendet wird", vgl.: J. Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt 1971, 96. 47 Lettre de Voltaire a d'Alembert, 7 ou 8-V-1761, zit. nach B. Groethuysen, Philosophie der Französischen Revolution, Frankfurt- Berlin- Wien 1975, 60. 48 Lettre de d'Alembert a Voltaire, 22-XI-1765, zit. ebenda, 61. 49 Lettre de Voltaire a Damilaville, 19-111-1766, zit. ebenda, 79. 45 46
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Was heute arrogant klingen mag, ist bei Voltaire eine aus den realen Verhältnissen stammende Überzeugung: "Unter ,Volk' verstehe ich die Masse der Bevölkerung, die zum Leben nur ihrer Hände bedarf. Ich bezweifle, daß dieser Teil der Bürger je die Zeit und die Fähigkeit hat, sich zu bilden; sie würden eher verhungern, als weise werdenso." Die bereits aufgeklärte Elite könne ihr Wissen also nur an diejenigen weitergeben, die auch Zeit und Muße dazu haben. Bis hinunter auf das Niveau von "höherstehenden Handwerkern" mag sich die Wissensbasis des Volkes noch verbreitern, darunter bestünde keine Möglichkeit mehr: "Das aufgeklärte Denken muß stufenweise hinabsteigen; dem niederen Volk wird es immer fremd bleiben ... hier genügt das Beispiel der Höhergestelltenst." Voltaire äußert damit einen Klassenstandpunkt, ohne freilich darin etwas Veränderbares zu erblicken. Als Promotor der Aufklärung spricht er ihr spezifisches Dilemma aus: Die allen gemeinsame Vernunft liefere zwar den Maßstab eines universalen Moralgesetzes, doch sei sie nicht jedem zugänglich. Aufklärung findet ihre Schranke in den Bedingungen der Arbeitsökonomie. - Voltaire setzt also eine Herrschaftsstruktur voraus, auf die seine Kritik nicht abzielt: die der Aufgeklärten über die Unmündigen. Mit der aus dem Vernunftideal abgeleiteten Wahrheit verbindet sich also ein Machtanspruch besonderer Art. Das Bewußtsein, aufgeklärt zu sein, läßt das "Entlarvungsstreben" hauptsächlich auf den Standpunkt anderer beziehen. Das Vertrauen in, mehr noch die Gewißheit über die eigene Position ist unerschütterlich. Die Vorstellung von einem unendlichen Prozeß gelehrigen Kritisierens legt den Fortschrittsgedanken nahe, der sich als Vorgriff auf die Zukunft weiß. Dieses neue Selbstbewußtsein ist zugleich ein neuer Anfang, vor dem alles "Alte" erzittern muß. Die neuen Ideologeme abstrakten Philosophierens, wie sie das Vernunftrecht hervorbringt, bedürfen als theoretische Begründung für die Revolution nur noch ihrer expliziten politischen Fassung. Turgot und Holbach erörtern das Problem politischer Durchsetzungsgewalt in Negation zu einer gegen die Vernunftprinzipien verstoßenden Staatsgewalt. Die Vermittlung von moralisch begriffenen Staatsbürgern und Staatsganzem in Form einer (positiven) politischen Theorie leistet in Frankreich J. J . Rousseau. Er ist es, der die radikale Aufklärung um einen für die Revolution entscheidenden politischen Entwurf bereichert52. Montesquieus liberale Interpretationsvariante hat ~er den kürzeren gezogen. Die wesentlichen Divergenzen zwischen der Anschauung Montesquieus und der der Französischen Revolution (besser: Rousseaus) faßt Groethuysen 5o
Lettre de Voltaire a Damilaville, 1-IV-1766, zit. ebenda.
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Hiezu allgemein: W. Ziegenfuss, Jean Jacques Rousseau, Erlangen 1952.
st Lettre de Voltaire a M. Longuet, 13-11-1767, zit. ebenda. g•
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wie folgt zusammen: "Montesquieu sagt ( ... ), das Leben der Gemeinschaften werde durch eine unpersönliche Macht, das Gesetz, bestimmt, das in das Leben jedes einzelnen eingreift, über ihn hinausreicht, die Generationen überdauert und sich nach einer immanenten Logik entwickelt, das beständig und objektiv bleibt, im Gegensatz zu der Willkürlichkeit und dem subjektiven Charakter der Individuen ... Wir haben es also hier mit einer historischen Gegebenheit zu tun. Eine unpersönliche Macht herrscht über das Individuum. Nur ihr dürfen wir gehorchen, dem Gesetz, das die menschliche Vernunft verkörpert -nicht dem Menschen . .. Bei Montesquieu sind die Gesetze das Produkt eines historischen Prozesses. Sie sind in manchen Fällen einem Gesetzgeber zu verdanken, in anderen Fällen einem Weisen, in wieder anderen den Einflüssen eines benachbarten Volkes ... Je nachdem, wie die Verfassung gestaltet ist, übt hier ein Senat, dort ein Parlament, oder auch das ganze Volk oder ein König die Funktion des Gesetzgebers aus ... Die Französische Revolution hingegen betrachtet das Gesetz nicht als etwas, was das Werk eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen sein kann. Das Individuum kann seiner Natur nach nur willkürlich, beschränkt und durch persönliche Beweggründe bestimmt sein. Der unpersönlichen Natur des Gesetzes kann nur eine unpersönliche gesetzgebende Macht entsprechen. Deshalb muß der Gesamtwille einer Gemeinschaft das Gesetz schaffen, das Ganze muß über sich selbst bestimmen, das Ganze, in dem sich die Einzeltendenzen verschmelzen und in dem die Einzelinteressen dem Gesamtinteresse weichen. Die Natur allein kann sich das Gesetz gebensa." Damit hat Groethuysen Montesquieu weniger eine generalisierte Auffassung der Französischen Revolution gegenübergestellt als vielmehr Rousseau54, Rousseaus Denkhaltung steht auch beispielgebend für einzelne Ideen der Französischen Revolution. Auf diesen Zusammenhangss wird später noch zurückgekommen. Zunächst geht es uns um die Erörterung des von ~ 3 B. Groethuysen, 48ff.- Die Länge des Zitats mag dadurch entschuldigt werden, daß sich in der markanten Gegenüberstellung von Montesquieu und der durch Rousseau repräsentierten revolutionären Auffassung zwei politische Doktrinen herausschälen lassen, deren Erörterung zu einem besseren Verständnis des Problemstands moderner Staatstheorien beiträgt. 54 Diese Gegenüberstellung von Montesquieu und Rousseau findet sich auch bei anderen Autoren, so etwa bei E. H. Wright: "These are the two ways for the political philosopher. He may gather all the facts of variable experience in the hope that he may then deduce a principle from them, even though it prove that any principle is inconceivable. Such is on the whole the way of Montesquieu or Burke. Or he may first look for a principle in reason, in the hope that he may mould the facts in some proportion to its image. Such is on the whole the way of Plato and Rousseau." (E. H. Wright, The Meaning of Rousseau, New York 1963 (first published in 1929), 106.) 55 Dazu: I. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, 3. (überarbeitete) Aufl., Frankfurt 1975.
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Rousseau verwendeten Begründungshorizonts und seiner Prämissen für eine Theorie demokratischer Legitimität. Rousseau versucht ein politisches Problem zu lösen, das bei Voltaire, d'Alembert bis hin zu Turgot noch ausgeklammert bleibt. Die ideengeschichtliche Entwicklung des Verhältnisses von Moral und politischer Gewalt, die schließlich in eine durchgehende Moralisierung von Politik einmündet, gibt keine Antwort darauf, in welcher Form die als moralisch vorgestellte Gesellschaft ihren Willen äußern soll und in welchem Verhältnis dieser zur Staatsgewalt stehe. Mit anderen Worten: Das Volk als Träger von Souveränität hat bloß seine moralische Rechtfertigung erworben; offen bleibt die Frage realer Entscheidungsbefugnis, wie nun das Volk tatsächlich auf die Geschicke des Staates Einfluß zu nehmen hat, welcher Art Gewalt der Staat in bezugauf das Volk eigentlich ist. Die Uminterpretation des Naturrechts in der Neuzeit, die bei Hobbes als Gegensatz zur aristotelischen Auffassung auftritt und über Locke und Hume eine weitergehende empirische Einengung erfährt, erhält durch Rousseau eine zusätzliche Fassung. Hat Montesquieu noch aus empirischen Gründen in Fragen der Staatsformenlehre und Mischverfassung bei den Alten angeknüpft, strebt Rousseau erneut eine Fundamentalbegründung für legitime Herrschaft an und teilt darin eine Erkenntnisabsicht klassischer Tradition. Rousseau ist auch dem Vernunftrecht, dem Naturalismus und der Romantik verbunden. Diese unterschiedlichen Anknüpfungspunkte56, auf die noch eingegangen wird, lassen es als schwierig erscheinen, der Person Rousseaus und seinen Schriften gerecht zu werden. Dementsprechend hat Rousseau auch von der Wirkungsgeschichte her betrachtet "nicht nur Orgien der Begeisterung, sondern auch Ausbrüche des Hasses erregt" 57 . Vom "Erfinder" der "konservativen Revolution"5a, über "letzten Vertreter des christlichen Naturrechts"59, Lehrer der "Perversion der christlichen Existenz"&O bis hin zum "egalitären Gesellschaftsreformer" 61, der als Vorreiter des Sozialismus zu sehen sei, reichen Einschätzungen und Zuordnungen, die Rousseau erfahren hat. 56 Zusammenfassend: J . H. Broome, Rousseau. A Study of his Thought, London 1963, 210. 57 G. Holmsten, Jean-Jacques Rousseau in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Harnburg 1972, 8. se K. Seeberger, Jean Jacques Rousseau oder Die Rückkehr ins Paradies. Biographie, I. Der Weg zum Ruhm, München 1978, 331. 59 F. Glum, Jean Jacques Rousseau. Religion und Staat. Grundlegung einer demokratischen Staatslehre, Stuttgart 1956, 277. 60 W. Ziegenfuss, 15. 61 Z.B.: G. della Volpe, Rousseau und Marx. Beiträge zur Dialektik geschichtlicher Strukturen, Darmstadt und Neuwied 1975 (ital. 1956).
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Seine Universalität hat Interpreten überfordert, die von einer Fachdisziplin ausgehend ihn zu beurteilen versuchen. Rousseau ist Dichter, Publizist, Philosoph, Pädagoge, Psychologe, Politologe, Gesellschaftskritiker, ja sogar Botaniker, Musikschriftsteller und Komponist62. Gerade die Ganzheit von (kognitiven) Interessen und (künstlerischen) Ambitionen macht Rousseaus Besonderheit aus. Darin überschneiden sich Kriterien der "Vernunftgemäßheit" mit denen von "Empfindung" und "innerem Erleben". Dabei auftretende Widersprüche scheinen bewußt in Kauf genommen worden zu sein. Zunächst sei hier an die bereits von La Rochefoucauld verwendete Formel von der "amour-propre" und der dieser zur Seite gestellten "amour de la verib~" erinnert. Diese beiden Begriffe spielen auch in der Rousseauschen Moralphilosophie eine entscheidende Rollesa. Rousseau sieht in der "amourpropre" eine Lebenshaltung, die dem Individuum a la longue abträglich ist. Erst das Zusammenfließen der Liebe der Menschen untereinander mit der Selbstliebe ergebe jenes untrennbar Ganze, das seinerseits mit einem höheren Allgemeinen, der Gottesliebe, verschmelze. Selbstliebe und Mitleid(en) entstammen so demselben Beweggrund, der "amour de soi". G. della Volpe hat dieses Lebensprinzip einen "schlechtweg religiösen" und "moralischen Egotismus" genannt64. Damit soll offenbar angedeutet werden, daß Rousseaus "amour de soi" nicht bloß an den platonischen Eros und an die christliche (Nächsten-)Liebe anschließt, sondern diese Begriffe auch verändert. "Die Tendenz menschlichen Begehrens zur Selbsttranszendenz im Wissen ( ... ), das Moment des Aufstiegs zum an sich Guten im Gedanken der Liebe ist im System der natura pura einem auf sich selbst gewendeten naturalistischen Streben nach Selbsterhaltung gewichen&5," Rousseau übernimmt zwar den Natur-Begriff der Aufklärung, bindet ihn jedoch andererseits auch zurück an das christliche Naturrecht. Wie die "amour de soi" mit der christlichen Nächstenliebe verbunden wird, so auch die "Natur" mit der allumfassenden Ordnung Gottes. "Natur" gilt Rousseau a,ls theologischer Begriff, wobei zwischen der physischen Ordnung des Alls ("ordre du monde", "ordre physique") und der sittlichen Ordnung ("ordre moral") unterschieden werden müsse66 . Und doch anerkennt Rousseau als G. Holmsten, 8. F. Glum, 92. 64 G. della Volpe, 43. 65 M. Forschner, Rousseau, Freiburg-München 1977, 32. 66 A. Orias, Ethik und Staatsphilosophie bei Jean Jacques Rousseau. Beitrag zu einer einheitlichen Interpretation der Werke Rousseaus, Phil. Diss., Univ. Tübingen 1964, 22. - Die Anerkennung einer von Gott stammenden "sittlichen Ordnung" aber, die ·ihren Niederschlag auch in der politisch-rechtlichen Sphäre finde, unterscheide Rousseau von den eine "natürliche Sozialordnung" zum Ausgangspunkt nehmenden Aufklärern: "Alles, was er gegen Diderot und die anderen Vertreter der Theorie von der natürlichen sociabilite des Menschen einwendet, läuft auf den Nachweis hinaus, daß das, was sie ,natürlich' nennen, in Wahrheit die politisch-rechtliche Ordnung vor62
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"Stimme der Natur" immer nur den sittlichen Willen des jeweiligen Menschen. Überpointiert ausgedrückt: Der Mensch "ist selber zum wirklich und vollends freien und verantwortlichen Schöpfer seiner eigenen Welt geworden. Das ist jetzt sein Auftrag von Gott, der ihm dazu nicht mehr Gebote diktiert, wohl aber, und weit mächtiger als die bloße Vernunft es vermöchte, die göttliche Kraft und Stimme des Gewissens in die Brust legt. Damit ist die Freiheit nicht mehr getreue Ausführung einer vorgegebenen Ordnung, nicht mehr ein vernünftiges Recht, sondern sittliche Verantwortung und Pflicht67 ." Vossler hat den Akzent hier zu sehr auf das voluntaristische und individualistische Moment in "Rousseaus Freiheitslehre" gelegt6s. Tatsächlich richtet sich Rousseau, selbst Vernunftrechtler, weder gegen die Vernunft noch gegen das christliche Naturrecht. Vielmehr ist Rousseaus Naturauffassung sowohl "vernünftig" wie auch (religiös) "empfunden". "Die logische Gewißheit des Verstandes und die sinnliche der Erfahrung müssen, um eine gültige, wahre Erkenntnis zu liefern, die Legitimation des sentiment interieur besitzen69," Rousseaus "sentiment interieur" ist nicht ein bloß subjektives Empfinden, sondern jene auch allgemeine "Stimme der Natur", an der alle Menschen teilhaben. Er ist nichts vom Leben Abgehobenes, Abstraktes, um dieses gleichsam rein und objektiv zu fassen, sondern ist im Gegenteil mit dem Leben, mit schöpferischer Kraft, Vernunft, sittlichem Willen, aber auch Gefühlen und Leidenschaften zutiefst verbunden. Der "Sentiment interieur" spricht die Ganzheit von subjektiven und objektiven Bestimmungen des realen Lebens objektiv aus. Darin äußert sich persönliches Erleben auch als Allgemeines und konstituiert vielmehr den objektiven Gedanken, anstatt ihn zu hintertreiben. Empfindung und Vernunft sind demnach eins. In dieser Einheit auch ist "Künstlertum" begründet, das sich in Begriffen wie Sehnsucht, Schönheit, Seele, Vorstellung, innerem Erleben ausspricht. Rousseaus romantische Dichterseele sprengt gewissermaßen den Rahmen herrschenden Denkens, "des cartesianischen, rationalistischen, mathematischen, widerspruchsfreien, abstrakten Denkens"7o. aussetzt. Die Spannung von Individuum und Gerneinschaft ist niemals innerhalb der freien Gesellschaft, sondern nur in der Bindung durch Staat und Recht lösbar." (M. Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen 1959, 143f.) 67 0. Vossler, Rousseaus Freiheitslehre, Göttingen 1963, 19. 68 Es wäre nicht Rousseau, würde ihm nicht auch noch eine "rechtspositivistische" Position zugeschrieben: F. W. Bourauel, Der Rechts- und Staatsgedanke bei Jean Jacques Rousseau, Jur. Diss., Köln 1967, 200. Bourauel zeiht darüber hinaus Rousseau unverständlicherweise der "Leugnung einer höheren Ordnung" und "Nichtberücksichtigung der höheren Natur des Menschen". (Ebenda, 204.) 69 A. Orias, 16. 10 0. Vossler, 26.
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Unter Zugrundelegung rationalistischer Logik freilich muß Rousseaus Anliegen irrational anmuten. Gerade dieser dualistischen Entgegensetzung möchte sich aber Rousseau entwinden. Er bedient sich selbst rationaler Argumentationsweise, um das Einschränkende der bloßen Vernunft kenntlich zu machen. Das hat ihn in Verruf gebracht, "Häretiker der Vernunft" zu sein71 • Die Verbindung von persönlichem Erleben und objektiver Gedankenführung, welche Rousseau über den Begriff des "sentiment interieur" erkenntnistheoretisch zu fassen versucht, hat ihm auch von der praktisch-moralischen Seite massive Vorwürfe eingetragen. Gerade weil Rousseau so sehr um Ehrlichkeit bemüht ist, die ihn auch über Dinge allerpersönlichsten Inhalts sprechen läßt72, erscheint er als leicht verwundbar. Allein seine "Confessions" sind für nicht wohlmeinende Kritiker ein Fundus, Rousseaus "gerührte Stimmung angesichts von Edelmut, Tugend und Liebenswürdigkeit" als "sentimentale Anwandlungen" zu verstehen73. Rousseaus empfundene "Tugendliebe" wird als eine bloß zur Schau gestellte Moralität "entlarvt" und als "peinlich" erklärt. Nicht wenige Interpreten sprechen vom "kranken" Menschen Rousseau, womit sie gleichzeitig seine Theorien zu diskreditieren versuchen74. Die "biographisch-psychologische Interpretation", um die es sich hier handelt, greift freilich zu kurz. Der Versuch Er-Leben und Denken als Einheit zu sehen, hat für Rousseau eben auch einen theoretischen Stellenwert. "Auch wenn... Rousseau seine Persönlichkeit als den Ursprung seines Systems bezeichnet, erhebt doch sogar die von ihm geschilderte Entwicklung des Individuums Anspruch auf Allgemeingültigkeit und soll keineswegs nur seinen persönlichen Werdegang wiedergeben. Als Modell der Natur dient ihm weniger seine einmalige, individuelle Verfassung als vielmehr die Menschheit in ihm, das allgemeine menschliche Subjekt. Es ist die allgemeine Natur des Menschen, die er in dem ihm zunächst liegenden Exemplar seiner eigenen Person zu bestimmen versucht. Eine Deutung, die ihre Kriterien an Rousseaus individuellem Charakter und Lebenslauf gewinnt, muß daher seine eigentliche Intention verfehlen7s." Das Verhältnis von Vernunft und Empfindung, wie es sich in Rousseaus Naturauffassung ausspricht, ist also sowohl subjektiv-praktischer wie auch n Ebenda, 18. So etwa Rousseaus "Kindesaussetzungen" und die Infamie gegenüber einem Mädchen narnens Marion, die er nachhaltig eines von ihm selbst begangenen Diebstahls bezichtigt. 73 W. Ritzel, Jean-Jacques Rousseau, Stuttgart 1959, 42. 74 G. Holmsten, 9.- Vgl. etwa die Biographie von K. Seeberger. 75 M. Bruppacher, Selbstverlust und Selbstverwirklichung. Die geistige Entwicklung des Menschen bei J. J. Rousseau, Bern- Frankfurt 1972, 19. 72
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allgemein-theoretischer Art. Damit aber erscheint ein "Durchbruch zur philosophischen Interpretation" 76 als unerläßlich. Das "Problem der Sentimentalität Rousseaus" 77 ist nun insbesondere eines der Wirkungsgeschichte. Die berühmte "Nouvelle Heloise" weist zwar der Romantik den Weg, indem sie für Schwärmerei, Leidenschaftlichkeit und betontes Gefühlsleben einen künstlerischen Ausdruck findet, doch fehlt in ihr nicht "das Bekenntnis zur sittlichen Ordnung" 78. Überhaupt erscheint das Romantische in Rousseau auf spezifische Weise gebrochen. W. Ziegenfuss hat es als das "Wesen des Sentimentalen" begriffen, "daß die Naivität des Wirklichkeitserlebens fehlt. Das Empfinden ist von der gegebenen Erscheinungswelt, also gerade von dem, was ursprünglich als Natur gemeint ist, endgültig abgelöst ... , ohne dabei aber das Bewußtsein von einer voranliegenden Entfremdung jemals ganz zu verlieren79," Anders also als in der hochromantischen Idee von der Reinheit des Herzens als Ausdruck resp. Entsprechung vollendeter Natur (etwa repräsentiert in der Person und Erlöserrolle des "reinen Tors" Parsifal bei R. Wagner) gebricht es Rousseaus frühromantischer Neigung an Naivität. Im Sinne der Definition von W. Ziegenfuss ist Rousseau daher als Sentimentalist zu benennen. Was ist nun aber der Grund für Rousseaus gebrochenen Romantizismus, also seinen Sentimentalismus? Es ist seine pessimistische Überzeugung, daß die tatsächliche Kulturentwicklung zur Verkehrung der "natürlichen" Einstellung der Menschen zu sich und ihrer Umwelt geführt hatao. Alles, was in der zivilisierten Gesellschaft als "normal" gelte, sei in Wahrheit nicht "natürlich", im Gegenteil: Bildung, Gesittung, Technik, Entwicklungsfortschritte aller Art, kurz: Zivilisation seien künstlicher Art und deshalb Unechtes, Verdorbenes, Unnatürliches. "In diesem Abstand von der Natur sieht der Rousseauist nun gerade den Mangel: er mißt in diesem Abstand die Entfernung der Dinge von ihrem Ursprung und ihrer Ursprünglichkeit. Er sieht plötzlich nicht mehr das Erreichte, sondern das VerloreneB1." Der Blick zurück auf einen einfachen, natürlichen Zustand der Menschheit hat Rousseau das Urteil eingetragen, er sei ein "Konservativer". Die Zivilisationskritik resp. die moralische Entrüstung gegenüber allem als Schein, Täuschung und Lüge empfundenen Leben bilden aber das Korrektiv Ebenda. W. Ritzel, 42. 78 A. Orias, 29. 79 W. Ziegenfuss, 30. 80 Siehe die berühmte, 1750 mit dem 1. Preis der Akademie von Dijon ausgezeichnete "Abhandlung über die Frage: Hat der Wideraufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen?" 81 K. Weigand, Einleitung zu: J . J. Rousseau, Über Kunst und Wissenschaft. Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, Harnburg 1955, Xf. 76 77
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für eine auch ganz und gar revolutionäre Romantik. Die Romantik mit ihrer leidenschaftlichen Hingebung und Sehnsucht nach dem Schönen, ihr Drang nach sinnlich-geistigem Er-Leben erfährt durch Rousseaus pessimistische Geschichtsbetrachtung eine Brechung. Darin, nicht ungebrochen romantisch zu sein, liegt ein konservatives Moment begründet. Da dieses jedoch seinen Stellenwert nur als Schranke (i. e. Sentimentalismus) gegenüber einem naiven Romantizismus gewinnt, kann es nicht für das Ganze stehen. Auch hier erweist sich Rousseau als nicht so leicht beurteilbar, daß dies eine Charakterisierung wie "konservativ" oder "fortschrittlich" rechtfertigen würde. Ebenso erscheint in diesem Zusammenhang der Begriff "widersprüchlich" nicht angemesens2 • Rousseau ist an einer Verbindung von Vernunft und Empfindung gelegen. Demgegenüber gelten die den "Widerspruch" festlegenden Prinzipien logischer Vernunft allein als bloß eine Seite des Erkennbaren. Trotz alldem hat Rousseau, Kind seiner Zeit, eine große Vorliebe für den Rationalismusa3. Auch den "Contrat Social", dessen Ziel eine der Sicherheit und Erhaltung der Rechte vön Individuen dienende Gemeinschaft ist, prägt ein Ansatz "liberalistisch-individualistischer Deduktion"84 • Dabei bleibt Rousseau allerdings nicht stehen, wie am Beispiel der berühmten Begriffsbestimmung von der "volonte generale" demonstriert werden kann. Zunächst faßt Rousseau die "volonte generale" "als das allen gemeinsame Interesse. Jeder ist also- da der Egoismus die natürlichste Eigenschaft jedes Menschen ist- von selbst gleichermaßen an dem Willen der volonte glmerale beteiligt ... Der Wille des Staates, dem jeder unterstellt ist, ist nur sein eigener Wille85." Aus der Summierung aller Individualinteressen, den egoistischen Einzelnutzen, ergibt sich als "Durchschnittswille" die "volonte generate". Darüber hinaus gibt Rousseau der "volonte generale" noch eine andere, wesentliche Bedeutung, die "eine Gesinnung des Menschen voraussetzt, ... des Rekurses auf eine gleichsam übermenschliche Macht, die die Natur des Menschen in einem Akt der Neuschöpfung umzuwandeln vermag" und "den individualistisch-utilitaristisch fundierten Begriff des Rechts in Richtung 82
XIV.
Ch. W. Hendel, Jean-Jacques Rousseau: Moralist, Indianapolis- New York 1934,
83 Dies macht sich in besonders auffälliger Weise in seiner Musiktheorie bemerkbar. So hat Rousseau die traditionelle Notenschrift durch quantifizierende Ziffernreihen zu ersetzen versucht. Vgl.: W. Ritzel, 55ff. 84 E. Schwarz (Freiheit und Staatsomnipotenz in Rousseaus ,Contra} Social', Schramberg (Schwarzwald) 1936) sieht in Rousseau hauptsächlich den rationalistischen Utilitaristen. 85 E. Schwarz, 99. - In der Folge verallgemeinert Schwarz diese liberalistische Interpretation der "volonte generale": "Rousseau hat an diese theoretische Lösung geglaubt. Das Vertrauen auf das in rein rationaler Deduktion Gewonnene ist hemmungslos ... " (Ebenda.)
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auf eine Staatsidee (transzendiert), die das Aufgehen des Individuums in einer vollkommenen Gesinnungs- und Handlungsgemeinschaft zum Inhalt hat" 86• Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist es vielleicht angemessen, die "volonte generale" in der von uns erwähnten ersten, liberalistischen Bedeutung besser "volonte de tous" zu nennen. Rousseau unterscheidet selbst an einer Stelle "zwischen dem Willen aller und dem allgemeinen Willen; letzterer geht nur auf das allgemeine Beste aus, ersterer auf das Privatinteresse und ist nur eine Summe einzelner Willensmeinungen"B 7• Die "volonte generale" in der nicht-liberalistischen Bedeutung stellt also einen Wesensbegriff dar, der zu dem empirischen Begriff faktischer Aufsummierung von Einzelwillen in Differenz steht. Vom Ansatz her bildet hier die begriffliche Unterscheidung von Idee (idealer Begrifflichkeit) und Realität den Ausgangspunkt. - In diesem Zusammenhang soll auch der Einfluß Platons und christlicher Autoren der platonischen Tradition auf Rousseausa Erwähnung finden. "In Plato's Republic the State is administered for justice and the good of all, with a will in authority that pays regard to the claims of every one without favour or exception. That is how Rousseau read his Platoa9." Der platonisch interpretierbare ideale Begriff von der "volonte generale" steht jedoch andererseits wieder im Kontext des Naturzustandstheorems, dem ja Rousseau durchaus historische Faktizität beimißt. "Dem dortigen Lob der Humanisierung der menschlichen Natur entspricht das Lob der Folgen des Gesellschaftsvertrages ... 90." Demnach verweist die "volonte generale" zugleich auf einen Gesellschaftszustand, in dem Privatinteressen und Gemeininteressen noch nicht auseinandergefallen sind und- um das andere Begriffspaar Rousseaus wieder zu erwähnen- die "amour de soi" noch nicht zur "amour-propre" entartet ist9I. M. Forschner, 132. J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 3. Kap., Stuttgart 1974, 32. Der Begriff "Allgemeiner Wille" hat den der Gemeinschaft, Communaut~, der ersten Fassung des Contrat Social verdrängt. Vgl.: F. Glum, 147 und Fußnote 127 auf 148 bei Glum. 88 P. Burgelin, La philosophie de l'existence de J. J. Rousseau, Paris 1952, 569. 89 Ch. W. Hendel, 323f. 90 M. Forschner, 134. 91 Ebenda, 135.- "Die Idee einer auf natürlichem amour de soi und radikaler Autonomie basierenden volont~ g~n~rale ist realisierbar nur, wenn 1. die Individuen bzw. Familien ökonomisch autark und auf annähernd gleichem Wissensstand, wenn 2. die Gesellschaft überschaubar und die sozialen Beziehungen einfach, wenn 3. die nur gemeinschaftlich lösbaren Probleme unmittelbar als mit dem Selbstinteresse jedes einzelnen verbunden einsichtig sind und wenn 4. dieser in sich stabilen, statischen Gesellschaft keine Verführung von außen droht . . . Als historisches Beispiel deckt sich im Oeuvre Rousseaus genaugenommen nur das Leben der Schweizer Bergbauern mit diesem Modell." (Ebenda, 160.) 86 87
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Anders ist es mit der "zivilisierten" Gesellschaft, die gerade Rousseaus Kritik herausfordert. Hier fallen die idealen Begriffsbildungen und die realen politischen Erfahrungsgehalte auseinander. Dessen eingedenk befürwortet Rousseau beispielsweise Mehrheitsentscheidungen in Hinblick auf die Vorstellung des Allgemeinwillens. Die Idee der Einstimmigkeit eines souveränen Gesamtwillens soll praxisanleitend sein für alle möglichen Formen politischer Mehrheitsbildungen. Und doch können beide in der Gegen-, wartsgesellschaft nie ineinander aufgehen. Der Idee des Allgemeinwillens und der Einstimmigkeit gegenüber gäbe es allerdings keine Alternative: "Das Gesetz der Stimmenmehrheit ist selbst eine Sache des Übereinkommens und setzt wenigstens eine einmalige Einstimmigkeit voraus92." Dem Allgemeinwillen sei darin konsequent zu folgen, als er die begriffslogische Abgrenzung zum empirischen Problem der Bestimmung von Partikularinteressen als Einzelentscheidungen bildet. Zwiespältig wird die Argumentation mit der "volonte generale" nun dort, wo der empirische Sachverhalt von Einzelinteressen als solcher schon diskreditiert erscheint. Tatsächlich ist es im Einzelfall ja unmöglich nachzuweisen, ob die in Mehrheitsentscheidungen zum Ausdruck gelangenden Partikularinteressen sich letzten Endes doch am Gesamtwillen orientieren oder nicht. Nur das ebenso ideelle Präjudiz, daß Einzelinteressen wirklich bloß Eigennutzen bedeuteten, kann Abgrenzung zur Idee des Allgemeinwillens ermöglichen. Nicht aber vermag die "volonte generale" Partikularinteressen als etwas gleichsam von ihr selbst Unabhängiges zu erkennen. Dazu nämlich bedürfte es eines empirischen Nachweises. -Idee und Erfahrung, Wesen und Erscheinung sind eben nicht auf derselben Ebene in ein Verhältnis zueinander zu bringen. Nur die Abstraktion eines vom Allgemeinwillen abgehobenen Individualwillens liefert Rousseau die formalen Bedingungen seiner politischen Theorie. Am Beispiel zweier wohlmeinender Interpreten, M. Imboden und B. de Jouvenel, läßt sich zeigen, zu welch unterschiedlichen Deutungen die Rousseausche Begrifflichkeit führen kann. Imboden ist der Auffassung, daß die "volonte generale" für die politische Wirklichkeit stehe, der "contrat social" hingegen das ideale Prinzip sei, das als objektives sich geschichtlich unausweichlich durchsetzen müsse93. De Jouvenel hingegen betont die von uns bereits zitierte Unterscheidung Rousseaus von "Willen aller" und "allgemeinem Willen". Im Gegensatz zu Imboden bedeutet ihm die "volonte generale" jenes ideale Prinzip, bei dem es sich nicht bloß um einen Mittelwert handelt, sondern "um einen von allen subjektiven Momenten gereinigten 92
93
10.
J. J . Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 5. Kap., 16. M. lmboden, Rousseau und die Demokratie, in: Recht und Staat, Tübingen 1963,
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Willen, der, wie Regel sagen würde, objektiv geworden ist, und deswegen notwendig nach dem Besten strebt"94. Wenn nun de Jouvenel recht hat, wie gewaltig muß sich Imboden immer dann irren, wenn er Rousseaus "Verurteilung" der gegebenen politischen Wirklichkeit mit Hilfe der Konstruktion des Allgemeinwillens nicht als eine durch die "Idee" erst ermöglichte zu erkennen vermag?! Ein solches Urteil würde er kritiklos übernehmen, ohne den Stellenwert seines denunziatorischen Charakters in der Normgebung zu erblicken. -Andererseits erfaßt Imboden sehr wohl den präzisen Sinn des Begriffs "contrat social". Hier verwendet Rousseau neuerlich eine Ideenkonstruktion, die eine als notwendig gedachte Fiktion zu sein beansprucht. Daran hält allerdings auch de Jouvenel fest, der überhaupt dazu neigt, Rousseau platonisch überzuinterpretieren. Beides, sowohl die idealbegriffliche wie auch die liberalistische Interpretation zusammengenommen, scheint der Schlüssel für das politische Werk Rousseaus zu sein. Wenn noch- wie de Jouvenel es fordert- der "Discours des Seiences et des Arts" als Hintergrund dafür dient, gelangen wir zu einer einigermaßen konsequenten Rousseau-Deutung. Rousseau ist davon ausgegangen, "die Vorbedingungen einer Harmonie zu suchen, aus der sich ergeben würde, daß gar kein Konflikt zwischen verschiedenen Willensrichtungen eintritt95, Diese Harmonie glaubt er in der Einheitlichkeit eines Fundamentalwillens gefunden zu haben96 • Dabei ist er sich bewußt, daß das Gemeinschaftsgefühl einer gesellschaftlichen Einheit in dem Maße abnimmt, in dem die Anzahl ihrer Mitglieder steigt. (Bekanntlich hat sich Rousseau in seiner Konzeption des Contrat Social am Muster Schweizer Kantonalverfassung, insbesondere am Leben der Schweizer Bergbauern orientiert97.) Abgeschlossenheit und Überschaubarkeit seien die Grundvoraussetzungen für Demokratie. 94 B. de Jouvenel, Über die Staatsgewalt. Die Naturgeschichte ihres Wachstums, Freiburg i.Br. 1972, 295. 95 B. de Jouvenel, Über Souveränität. Auf der Suche nach dem Gemeinwohl, Neuwied und Berlin 1963, 151, Fußnote 2. 96 Wie entgegengesetzt dazu erweist sich beispielsweise der Standpunkt B. Constants: "Ist (...) das Interesse dieser unzähligen Regierenden dem der Regierten gleich? Zweifellos nicht. Jeder von ihnen hat neben sich einen Gleichgestellten oder Untergebenen, dessen Verluste ihn bereichern, dessen Demütigung seiner Eitelkeit schmeicheln, dessen Beseitigung ihn eines Rivalen, eines unbequemen Aufpassers entledigen würden." (B. Constant, 120.) Gegen alle radikal-revolutionären Aufklärer, die von einer Homogenität des Volkswillens ausgehen, wendet Co~stant ein: "Will man das zu errichtende System verteidigen, so muß man nicht die Ubereinstimmung des Eigennutzens, sondern die Uneigennützigkeit aller nachweisen." (Ebenda.) 97 Siehe bereits Fußnote 91.- Rousseau verbindet mit seiner politischen Theorie ein eminent praktisches Interesse. In dieser Hinsicht kann man sagen: "the Social Contract was less a utopia than a book of warnings". (J. N. Shklar, Men and Citizens. A Study of Rousseau's Social Theory, Cambridge 1969, 211.)
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Dagegen verstieß aber die gesellschaftliche Entwicklung. Die ursprüngliche Harmonie ist zersetzt worden. Je komplizierter und größer die kollektiven Einheiten wurden, je mehr sich der Staat vom gesellschaftlichen Zustand ländlicher Unwissenheit abhob, umso mehr gingen die einzelnen Staatsbürger ihrer kollektiven Identität verlustig; Staat und Gesellschaft, Gesellschaft und Individuen fielen auseinander. - Zivilisationshistorisch gibt sich ja Rousseau pessimistisch. Die Bemerkungen über Rousseaus Geschichtstheorie sollen den Stellenwert des "contrat social" aufzeigen helfen. Rousseau bedarf des ursprünglichen Vertrags, um den Gemeinwillen als seine Bedingung auch für alle weiteren politischen Entscheidungen für verbindlich denken zu können. Der Gemeinwille, den das Volk darstellt, ist demnach Urheber der Gesetze, die als solche schon Bestand hatten, bevor sie von irgendwelchen Gesetzgebern formuliert wurden. Diese Begründung sieht zunächst von Einzelinteressen, Repräsentationsprinzip und Mehrheitsentscheidungen ab. Hierin erscheint Rousseau als ein traditionell-konservativer Denker, der sich dem alten Naturrecht verpflichtet weiß9B, Weil ihm das Gesetziriseiner Wahrheit, wofür der Allgemeinwille steht, so wichtig ist, will er es keinen sogenannten Volksvertretern anvertrauen. Jedes neue Gesetz bilde gewissermaßen einen "Zusatz zum Sozialkontrakt" 99 und bedürfe deshalb der Zustinunung aller. In diesem Sinn also ist Rousseaus Aversion gegenüber einer nicht auf Einheitlichkeit und Einstimmigkeit ausgerichteten Politik zu verstehen. Er will das Gesetz und dessen Urheber, das Volk, gerade in Schutz nehmen, wenn er es ablehnt, "daß sich jede Volksstimmung, sei es unmittelbar, sei es durch Vermittlung seiner Vertreter, in Gesetze umsetzen sollte. Er hat sich nicht vorgestellt, Gesetze könnten das Werk irgendwelcher Interessen oder Meinungen sein, für die sich gegenwärtig eine Mehrheit findet ... too." 98 J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, 6. Kap., 41: "Das an sich Gute und Ordnungsmäßige besteht lediglich durch die Natur der Sache und ist unabhängig von menschlichen Verträgen. Alle Gerechtigkeit kommt von Gott, er allein ist ihre Quelle ... " Eine am Gegensatz von politischer Zweckmäßigkeit und religiöser Wahrheit orientierte Rousseau-Interpretation bietet: K. D. Erdmann, Das Verhältnis von Staat und Re~igion nach der Sozialphilosophie Rousseaus, Berlin 1935. Uber den gewichtigen Stellenwert der (christlichen) Religion in Rousseaus politischer Theorie informiert ausführlich F. Glum. Dieser faßt zusammen: "In dem unterdrückten Teil des Genfer Manuskriptes über die ,Socil~te du genre humain' hatte Rousseau den Contrat auf die Religion gegründet. Ein Rest davon ist noch geblieben, wenn Rousseau von der Heiligkeit des Vertrages spricht." (F. Glum, 151.) A. Cobban schreibt in seinem Buch "Rousseau and the Modern State", London 1964 (first published in 1934): "Rousseau's contractual theory is a transposition into historical experience of the traditional religious theory of the Fall and the Salvation." (p. 65.) 99 B. de Jouvenel, Über die Staatsgewalt, 292. 100 Ebenda, 294f.
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Als "Moralist" steht Rousseau in einer Reihe mit den anderen Vertretern französischer Aufklärung, Montesquieu ausgenommen. Hinzu kommt bei Rousseau noch der erwähnte Zusammenhang mit Platons Theorie vom Staat. Für Rousseau wie auch für Platon ist die moralische Ordnung unverbrüchlich mit dem politischen Gemeinwesen verbunden. Der moralisch gute Mensch kann seine wahre Bestimmung nur in einer Staatsordnung finden, die ihm auch Raum gibt zur Tugendhaftigkeitl01 • Moral und Staat bedingen einander. I. Fetscher hat dieses Verhältnis, Rousseau interpretierend, sehr prägnant formuliert: "Zweck des Gemeinwesens ist das bien commun, dieses aber besteht nicht im größtmöglichen materiellen Genuß der Individuen, sondern in ihrer optimalen vertu. Zusammenhalt der politischen Gemeinschaft und vertu bedingen sich gegenseitig und werden beide durch die fatale Entwicklungstendenz der Gesellschaft und des in ihr depravierten Menschen zerstört und verdorbenlo2." Was Fetscher damit hervorheben möchte, ist der fundamentale gesellschaftliche Widerspruch, daß nämlich in der bürgerlichen Gesellschaft die (ökonomischen) Interessen des einzelnen gerade nicht bezogen sind auf ein höheres Ganzes, wie immer auch dieses definiert sein mag. Rousseau erkennt diesen Widerspruch und trägt ihm durch seine Zivilisationstheorie Rechnungtoa. Er leidet förmlich unter den gesellschaftlichen Spannungen, die durch aufeinanderprallende Partikularinteressen geprägt sind. Wie schon Hobbes zieht daher auch Rousseau aus den Bedingungen der Eigentumsmarktgesellschaft theoretische Konsequenzen für den Staat, die eben diesen Bedingungen moralisch Paroli bieten sollen. Rousseau will sich nicht mit einem politischen Rückzug ins Private bescheiden, wie dies sonst das Los der überwiegenden Mehrheit in der bürgerlichen Gesellschaft ist. Für ihn gibt es gegenüber der durch Sonderinteressen infizierten, entarteten und verderbten Gesellschaft und ihres Staates nur ein Mittel, nämlich die souveräne Gewalt als die des moralischen Bürgers selbst zu begreifen: "Die Selbstentäußerung .. . meint bei Rousseau die Verwandlung der korrumpierten Menschennatur in die moralische Person des Staatsbürgers. So kann nämlich die souveräne Gewalt selbst verinnerlicht, aus einer äußerlich zwingenden Fürstensouveränität in eine innerlich gegenwärtige Volkssouveränität zurückgenommen werdenl04." Anders als Hobbes beharrt Rousseau darauf, "daß jener vom politischen Naturübel regierte Zustand, der zur Vergesellschaftung nötigt, in einem Über die darüber hinausgehenden transzendenten Bezüge siehe: Fußnote 98. I. Fetscher, Herrschaft und Emanzipation, München 1976, 141. 103 Die empirisch-analytische Bestimmung dieses gesellschaftlichen Widerspruchs selbst könne nicht mit den Mitteln der klassischen Theorie vorgenommen werden. Klassischer Theorie und Rousseaus Zivilisationstheorie entsprächen unterschiedliche philosophische Systeme. Hierüber speziell: R. D. Masters, The Political Philosophy of Rousseau, Princeton, New Jersey 1968, 419ff. 104 J . Habermas, Theorie und Praxis, 103. 101
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despotisch erzwungenen Gesellschaftszustand ja nicht etwa aufgehoben ist, sondern mit der Konkurrenz privater Interessen innerhalb eines ruhelosen und zerrissenen Systems geteilter Arbeit und vervielfältigter Bedürfnisse fortlebt" los. Daher bedarf er einer anderen Staatskonzeption. Für Rousseau kann die äußere Gewalt nur dann Legitimität beanspruchen, wenn sie von jedem einzelnen Staatsbürger auch moralisch gewollt ist. Die Souveränität liegt beim Volk, doch nur deshalb, weil dieses mit dem Staat in eins gedacht wird. Die zugrundeliegende Konstruktion ist die von Beherrschten, die über sich selbst herrschen ("Identitätsdemokratie"l06). Wenn es um die idealbegriffliche Grundlegung des Staatsgedankens geht, ist Rousseau antiliberaL Er erlaubt keine spezifischen Ansprüche einzelner, es sei denn, sie harmonierten mit dem Allgemeinwillen. Das hieraus sich nahelegende Menschenbild ist eines, das den Staatsbürger erst in der unbedingten Hingabe an das "göttliche" Gemeinwesen seiner Sittlichkeit ionewerden läßt. - Dieser politisch-anthropologische Zugang Rousseaus, dessen theologischer Aspekt von Interpreten vielfach beiseitegeschoben wird, bildet den Anstoß für die bekannte Totalitarismusthese. Da die totalitarismuskritische Interpretation der politischen Theorie Rousseaus großen Einfluß gewonnen hat107, insbesondere was den erklärten Zusammenhang mit der Französischen Revolution und ihrem Fortgang anlangt, soll hierauf näher eingegangen werden. Es wird im Konjunktiv eine generalisierte Fassung der totalitarismuskritischen Position zu geben versucht, wobei unterstellt werden soll, daß diese den ideal-begrifflichen Ansatz Rousseaus durchschaut. Auch wenn sich bei Rousseau der Gedanke des Zusammenfallens aller einzelnen in einem Staatsganzen nur als Konsequenz einer idealen Begriffskonstruktion ergäbe, schlüge er doch in Form eines Urteils (einer Verurteilung) auf empirische Sachverhalte durch. Rousseau sei einer liberalen Ebenda. So und auch "totalitär-messianische Demokratie" nennt J. L. Talmon Rousseaus lneinssetzung von Bürger und Staat, in: J. L. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Bd. 1, Köln und Opladen 1961. Bereits A. Tocqueville (194f.) bezeichnet es als "besondere Art der Tyrannei", "daß das Recht jedes Einzelnen sich dem Willen aller beugt". Entschieden für eine strikte Differenzierung zwischen Identitätsdemokratie und liberaler Demokratie auch: M. Greiffenhagen, Freiheit gegen Gleichheit?, Harnburg 1975. Siehe auch: M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, Reinbek 1975, 224. "Souveränitätsdemokratie" hat für Kriele dieselbe Bedeutung wie "ldentitätsdemokratie" bei Talmon. 107 So etwa: E. J. Roesch, The Totalitarian Threat. The Fruition of Modern lndividualism, as Seen in Hobbes and Rousseau, New York 1963, in der angelsächsischen Schule der Totalitarismuskritik an Rousseau stehend; hiefür grundlegend bereits: C. E. Vaughan, The Political Writings of Jean-Jacques Rousseau, 2 vols., Cambridge 1915.- Neben Rousseau auch andere französische Aufklärer in die Totalitarismuskritik einbeziehend: J. L. Talmon. 105 106
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Gesellschaft abgeneigt, in der jeder einzelne seines Glückes Schmied sein möchte und seinen privatistischen Neigungen nachgehe. Die grundlegende Einsicht des Liberalismus, daß den Bedürfnissen und Interessen der Menschen am besten dadurch gedient ist, keine äußere Gewalt sie einschränken zu lassen, es sei denn zu ihrem Schutz, erscheine Rousseau abwegig. Einzelinteressen würden von ihm als das Gemeinwohl schädigende Sonderinteressen entlarvt. Die Menschen hätten sich dem Staat unterzuordnen, freilich nur, wenn sie ihn auch bildeten und sich durch ihn regierten. Was der Liberalismus als Zugeständnis an die Besonderheiten des Individuums begreife, um danach Politik auszurichten, sei für Rousseau der ideologische Aufguß einer dekadenten Gesellschaft. Nicht nur der ökonomische Realismus, der seinen ersten Ausdruck in der "Bienenfabel" B. de Mandevilles erhielt und davon ausgeht, daß die Summe aller Einzelnutzen letztlich auch zum Besten des Gemeinwohls führe, würde von Rousseau abgelehnt. Auch die diesem vorangegangene und vorausgesetzte anthropologische Grundeinsicht des (politischen) Liberalismus, daß die Einzelmenschen ihrer Natur nach nicht als Einheit zusammengedacht werden und deshalb als Einheit auch nicht Staat sein können, müsse Rousseau verneinen. Die Idee, daß Interessen naturgemäß unterschiedlich sind und daher Interessenskonflikte über ein wie auch immer geartetes Gemeinwesen gar nicht harmonisiert, sondern immer nur in Form kurzzeitiger Kompromisse latent gehalten werden können, um später neuerdings manifest aufzubrechen und begradigt zu werden, gelte ihm schlicht als falsch. Diesen gegensätzlichen Fundamentalauffassungen korrespondierten zwei Demokratiekonzeptionen: die liberale Demokratie, die in Parteienkonkurrenz, repräsentativen Wahlen, Mehrheitsbildungen, Koalitionen und Fraktionen allen - gegen diese Prinzipien nicht verstoßenden - Einzelinteressen Raum bietet; und die Identitätsdemokratie, die den einzelnen Staatsbürger als moralische Person (Rousseau) oder aber als Mitglied einer die kommunistische Gesellschaft antizipierenden Klasse (Lenin, Trotzki, Luxemburg) mit dem Willen des Staatsganzen zusammenfallen läßt. Einheitlichkeit, Abgeschlossenheit und Überschaubarkeit des politischen Raumes, politisches Bewußtsein aller Staatsbürger und am Gemeinwillen orientierte größtmögliche Einstimmigkeit bei gesetzlichen Entscheidungen bildeten die wichtigsten Merkmale der Identitätsdemokratie. Rousseau setze sein Demokratieideal so hoch an, daß er selbst an dessen Verwirklichung zweifeln müsseloa. Doch wolle er sich mit den Tatsachen von 1os "Wenn man das Wort in der ganzen Strenge seiner Bedeutung nimmt, so hat es noch nie eine wahre Demokratie gegeben und wird es auch nie geben." (J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 3. Buch, Kap. 4, 75.) Und: "Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht." (Ebenda, 76.) 10 Ernst
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korruptem Staat und entpolitisierter Öffentlichkeit nicht abfinden. Die liberale Anschauung, daß der Gesellschaft mit Gradualitätsentscheidungen nach dem Muster von besser und schlechter (Kompromisse) am besten gedient sei, halte Rousseau für ein Symptom dieser dekadenten, in egoistische Einzelwillen auseinanderfallenden Gesellschaft. Rousseau sehe sich also mit seiner Idee vom Staat in Widerspruch mit den Gegebenheiten seiner Zeit. Den korrumpierenden realen Verhältnissen sei ein Ende zu bereiten. Gewiß, die Anstrengungen der Staatsbürger, einen moralischen Staat zu errichten, stellten keineswegs seine Realisierung sicher. Rousseau erkenne im permanenten Streben, den sittlichen Staatszweck zu erfüllen, die Aufgabe von Politik. Er bestehe jedoch darauf, daß alle sich dem Gemeinwillen unterzuordnen hätten, der als von allen Staatsbürgern konstituiert und gewollt definiert sei1°9. Über die Schwierigkeit, tatsächlich das Gesetz im Sinne der "volonte generale" herrschen zu lassen, habe sich Rousseau selbst wie folgt geäußert: "Das Gesetz über den Menschen zu setzen, ist ein politisches Problem, das ich dem geometrischen Problem der Quadratur des Kreises vergleichen möchte. Ist dieses Problem gelöst und die Regierung auf der Lösung errichtet, dann ist sie gut und ohne Mißbrauch. Bis dahin aber können Sie gewiß sein, daß dort, wo Sie glauben, die Gesetze herrschen zu lassen, die Menschen beherrscht werdenuo." Die Analogie mit dem geometrischen Problem der Quadratur des Kreises solle gerade die Schwierigkeit demonstrieren, die "Idee" von der Politik in die Praxis umzusetzen. Die Lücke zwischen "Idee" und tatsächlichen Realisierungschancen werde gemeinhin durch die Konstruktion des "klugen" Politikers zu schließen versucht. Auch Rousseau stehe in dieser Tradition, wenn er im Zusammenhang mit der Dialektik von Einzelinteressen und Gemeinwohl gerade die Notwendigkeit von Politik behaupte. In diesem Sinn seien Partikularinteressen sogar vorausgesetzt, weil nämlich "die Übereinstimmung aller Interessen die Folge des Gegensatzes derselben gegen das eines jeden einzelnen ist. Gäbe es keine verschiedenen Interessen, I09 Eine Rousseau gegenüber wohlmeinende, nicht-totalitarismuskritische Interpretation appelliert hier an das Verständnis des Lesers: "Wir können es Rousseau nicht zum Vorwurf machen, daß er keinerlei Maßnahmen trifft, um Mißbräuche der Gesetzgebung zu verhindern, weil er überzeugt ist, daß bereits durch den reinen allgemeinen Willen solche Mißbräuche ausgeschlossen sind." (K. D. Haegi, Die politische Freiheit im Werk von Jean-Jacques Rousseau, Winterthur 1963, 102.) Ebenso liege es bereits an Rousseaus Idee einer vollständigen, direkten Partizipation aller Staatsbürger, daß er dem Gedanken der Repräsentation nicht viel hat abgewinnen können: "in Rousseau's view, at least in the Contrat social, representation was opposed to participation because he considered the indirect participation of a representative system to be virtually identical with nonparticipation." (R. Fralin, Rousseau and Representation. A Study of the Development of His Concept of Political lnstitutions, New York 1978, 5f.) uo J. J. Rousseau, Considerations sur le Governm~nt des Pologne et sa reformation projeteE;. en 1772, Kap. VII, zit. bei B. de Jouvenel, Uber die Staatsgewalt, 304, Fußnote. - Ahnlieh äußert sich Rousseau auch im Contrllt Social.
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so würde man das Gemeinschaftliche, das nie Hindernisse fände, kaum wahrnehmen. Alles würde ganz von selbst gehen, und die Politik aufhören, eine Kunst zu sein111." Gegenüber der Notwendigkeit der Bestimmung der "volonte generale" gäbe es für Rousseau jedoch keine Alternative. Solange keine vollkommene Übereinstimmung mit dem Allgemeinwillen herrsche, müsse die jeweilige Mehrheit regieren. Genau dies führe aber "zum totalen Staat", "zur schrankenlosen Mehrheitsdiktatur" 112, da Rousseau in der politischen Wirklichkeit der Mehrheit keine Schranken auferlegt habell3. Dem Allgemeinwillen stehe ja eine in der zivilisierten Gesellschaft denaturierte Menschheit gegenüber, die aus sich heraus die erforderliche Übereinstimmung nicht herbeizuführen vermöge. Es bleibe also beim bloßen Mehrheitswillenll4. Totalitär sei nun auch der nächste Denkschritt Rousseaus, in der Person des "Gesetzgebers" eine "Kraft von außen" anzurufen, "um die Beschaffenheit der Menschen zu ändern"ll5. Das Amt des "Gesetzgebers" habe keine Kompetenzen in legislativer, judikativer und exekutiver Hinsicht, doch bestimme es den verfassungsmäßigen Gründungsakt des Contrat Social116. Aufgabe des "Legislateur" sei es, "die Entwürfe zu machen, den politischen m J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, Kap. 3, 32, Fußnote. F. W. Bourauel, 204. m "Diese Allmacht des Staates ... , die ihre rechtliche und moralische Begründung durch das Prinzip des Allgemeinwohls empfing, ist in der politischen Wirklichkeit der Willkür der jeweiligen Majorität des Volkes in die Hand gegeben; aus dem Staat des C.s. wird eine Despotie der Massen." (E. Schwarz, 105.) 114 Mayer-Taschs an der Entkräftung des Totalitarismusvorwurfs gegenüber Rousseau orientierte Betrachtungsweise umreißt das Mehrheitsproblem folgendermaßen: "Weit davon entfernt, einem naiven Glauben an die Unfehlbarkeit der Mehrheitsentscheidung verfallen zu sein, verbindet Rousseau (mit) der jeweiligen Mehrheitsentscheidung doch einen gewissen Indikationseffekt - die Vermutung nämlich ihrer Übereinstimmung mit der volonte generale. Ist die Mehrheit aber nicht mehr im Recht, zeigt das Gesetz nicht mehr die Merkmale des gemeinen Willens, so ist die Idealität des Rousseauschen Staatsmodells gesprengt. Nun ,gibt es keine Freiheit mehr', nun mag der Hobbismus triumphieren. Ob die politische Dezisionsgewalt bei der Mehrheit verbleibt oder aber auf eine Minderheit bzw. einen einzelnen übergehtdie Ausübung der Staatsgewalt gilt nurmehr der Ordnung, der Verhinderung von Anarchie und Bürgerkrieg." (P. C. Mayer-Tasch, Autonomie und Autorität. Rousseau in den Spuren von Hobbes?, Neuwied und Berlin 1968, 107.) 115 M. Forschner, 161. "Der Legislateur füllt jene Lücke, die durch die radikale Trennung des homme de nature vom homme de l'homme aufgebrochen und mit vertragstheoretischen Mitteln nicht mehr zu schließen war . .. " (Ebenda.) "Es bedarf einer Kraft von außen, die aus dem Naturwesen allererst Menschen schafft, es bedarf des großen Seelenführers, um das moi commun der Lebensgemeinschaft zu stiften. Diese übermenschliche Schöpferkraft läßt sich vom I. Buch des CS ... schon postulieren; ohne den Legislateur bleibt das Konzept notwendig unvollständig." (R. Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesellschaft, Stuttgart- Bad Cannstatt 1973, 126.) 116 "Dieses Amt, das das Gemeinwesen organisiert, ist selbst kein Bestandteil der Verfassung. Es ist eine besondere und erhabenere Tätigkeit, die mit der menschlichen Herrschaft nichts gemein hat . .. " (J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, Kap. 7, 46.) 112
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Körper zu beraten und auf das Richtige hinzuweisen"117. Rousseau denke hierbei an so große Gründergestalten wie Moses, Lykurg, Numa und Calvin, die nicht umhin hätten können, "die göttliche Autorität für ihr Werk in Anspruch zu nehmen" 118 . "Der Heros hat zum Volk das gleiche Verhältnis wie der Gott Rousseaus zur Natur: er ist hors la loi, er gibt Gesetze, aber von außen, er bildet keinen Teil der Konstitution .. ,119." Neben den Konstruktionen des "Allgemeinwillens" und des "Gesetzgebers" gäbe es noch einen weiteren totalitären Aspekt in Rousseaus politischer Theorie. In Zusammenhang mit Vorschlägen für eine "Intensivierung des Sozialempfindens"120 und patriotischer Gefühle sei Rousseaus Konzept der "religion civile" zu sehen, das den Individuen ein Mindestmaß an Gemeinschaftssinn und Soziabilität vorschreibt. Gerade weil für Rousseau die für den Bestand des Gemeinwesens notwendige Übereinstimmung von Mehrheitswillen und "volonte generale" aus liberal-utilitaristischen Prinzipien allein nicht hervorgehe, bedürfe es der "bürgerlichen Religion"121. Auf die "bürgerliche Religion" soll kurz an Hand der einschlägigen Textstellen von Rousseau eingegangen werden. Die wenigen verbindenden Sätze des Autors sind im Indikativ gehalten. Nach Rousseau läßt sich "die Religion in zwei Gattungen teilen, und zwar in die Religion des Menschen und in die des Staatsbürgers." Erstere beschränkt "sich einzig und allein auf die innere Verehrung des höchsten Gottes und die ewigen Pflichten der Moral." Sie "ist die reine, einfache Religion des Evangeliums, der wahre. Gottesglaube, und könnte das göttliche Naturrecht genannt werden" 122. Diese Religion steht "mit dem politischen Körper in gar keiner Beziehung ... Noch mehr: sie fesselt die Herzen der Bürger nicht an den Staat, sondern wendet sich vielmehr von ihm wie von allen anderen irdischen Dingen ab123." m F. Glum, 169.- "Wie der Begriff des allgemeinen Willens, so ist auch der Begriff des unfehlbaren Gesetzgebers ein ,postulativer Idealbegriff'. Rousseau betont, daß es göttlicher Wesen bedürfe, um die Funktion des großen Gesetzgebers zu erfüllen." (P. C. Mayer-Tasch, Fußnote 165 auf 110.) 118 F. Glum, 169. Rousseau sagt: "Es bedürfte göttlicher Wesen, um den Menschen Gesetze zu geben." (J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 2. Buch, Kap. 7, 45.) 11 9 "und kann in einer Lehre von der guten Gesellschaft fortgelassen werden wie Gott in einem Lehrbuch der Physik. Der monde ideal, das Geschöpf der Einbildungskraft Rousseaus, kann ohne seinen Bildner und Demiurgen, er kann auch mit ihm dargestellt werden." (R. Brandt, 127.)- Dies scheint auch der tiefere Grund dafür zu sein, daß Rousseau vielfach ohne theologischen Hintergrund interpretiert werden kann. Seine Theorie gibt offenbar dazu selbst den Anlaß. 12o J . W. Chapman, Rousseau- Totalitarian or Liberal?, New York 1956, 86. 121 K. D. Erdmann, 59. Ebenso: F. Glum, 196. 122 J . J . Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 4. Buch, Kap. 8, 150. 123 Ebenda, 152. Zur Interpretation: F. Glum, 193. Ebenso: F. C. Green, JeanJacques Rousseau. A Critical Study of his Life and Writings, Cambridge 1955, 303.
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Die "bürgerliche Religion" hingegen bezieht Rousseau nur auf ein einzelnes Land. Sie "gibt diesem seine besonderen Götter und Schutzpatrone. Sie hat ihre Glaubenssätze, ihre Gebräuche und ihren gesetzlich vorgeschriebenen äußeren Gottesdienst. Mit Ausnahme des Volkes allein, das sich zu ihr bekennt, gilt ihr jedes andere für ungläubig, fremd und barbarisch; sie dehnt die Pflichten und Rechte des Menschen nur so weit aus, wie ihre Altäre reichenl24." Die Funktion der "religion civile" ist- wie W. Ritzel es ausdrückt- die eines "Surrogats"l25. Die einfachen, kurzen, jedermann verständlichen Glaubensartikeln, die vom Staatsoberhaupt formuliert werden126 , bilden nach Rousseau den dogmatischen Bestand des Contrat Social: Ihnen gegenüber kann der Staat nicht gleichermaßen Toleranz aufbringen wie für die "Religion des Menschen".- Rousseau bestimmt die "religion civile" als das Grunderfordernis gemeinschaftlichen Lebens. Nach ihrer öffentlichen Anerkennung bildet sie die unverzichtbare Substanz, deren Leugnung das "größte aller Verbrechen" und daher mit dem Tode zu bestrafen istl 27 . An diese von Rousseau selbst gezogene Konsequenz kann die totalitarismustheoretische Interpretation (wiederum angezeigt durch den Konjunktiv) umstandslos anschließen: Indem das Zivilbekenntnis in den Rang eines staatlichen Gesetzes trete, gerate der Staat "zum Vollstrecker des göttlichen Willens auf Erden! Damit ist aber der ursprüngliche Boden des ,Contrat social' völlig verlassen128." Rousseau habe die "religion civile" mit dem Zeitpunkt ihrer Einsetzung zum unhinterfragbaren Fundament eines totalitären Staates gemachtl29. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß sich der Totalitarismusvorwurf zumindest gegen ein Moment der Trias von "volonte generale", "legislateur" und "religion civile" richtet13o. Insgesamt gelte, daß Rousseaus J . J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 151. W. Ritzel, 107. 12s J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 156. 121 Ebenda. 12a K. D. Erdmann, 60f. 129 P. C. Mayer-Tasch versucht auch bezüglich der "religion civile" den Totalitarismusvorwurf zu bannen. Sie sei "eine auf die Stärkung der staatsbürgerlichen Moral und des staatsbürgerlichen Selbstbewußtsein ausgerichtete weltliche Tugendlehre" (113) und erweise sich "weit eher als eine positivistisch-formale Tugendlehre denn als ideeller Rahmen für eine sozialdynamisch-materiale Heilslehre" (114). 130 Für J. W. Chapman etwa ist weder das Konzept des "Gesetzgebers" noch die Theorie vom "Allgemeinwillen" totalitär in den Implikationen (85). Dies sei ausschließlich bei der Konstruktion der "religion civile" der Fall. "The purpose of the civil religion may be to preserve man's political freedom, but it is a means which destroys his moral freedom and dignity. This is surely sufficient to make it totalitarian. Rousseau's attempt deliberately to create patriotic feeling and to subject men to the surveillance of their fellows is the point on which he diverges most sharply from modern liberal democratic theory." (86.) 124 125
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Zugeständnisse an die Realität nicht dazu führten, Partikularbedürfnisse und Einzelinteressen im Sinne des liberalen Konkurrenzgedankens anzuerkennen, sondern diese im Gegenteil als Ausdruck für die Verworfenheit einer Gesellschaftsordnung zu verstehen. Der Eigennutzen, wie er sich in dem Begriff "amour-propre" spiegele und von Rousseau zur Grundlage einer dekadenten Gesellschaft genommen würde, müsse ihm zufolge überwunden werden zugunsten des Allgemeinwillens, in dem "die Einzelnen als kooperierend gedacht"131 seien. Eben diese gedankliche Ineinssetzung von Volk und Staat, von Beherrschten und Herrschenden, sei aber das allgemeine totalitäre Moment in Rousseaus Theorie - auch dann, wenn dies Rousseau gar nicht beabsichtige. - So oder ähnlich würde günstigstenfalls eine Totalitarismus-Kritik an Rousseau ausfallen. -Wie steht es nun aber mit dem allgemeinen Anspruch französischer Aufklärung, dem Rousseau doch auch verbunden ist? Sein theoretisch ambitionierter Entwurf bezweckt ja eine Veränderung der Gesellschaft durch die Moralisierung von Staat und Gesellschaft im Sinne des Vernunftrechts. So praxislos nun in einem ersten Zusehen die Theorien der Aufklärung auch scheinen mögen, so praxisfördernd wirken sie sich am Ende aus. Was als Trennung von Politik und Moral seinen Ausgang genommen hat, ist über die als "autonom" auftretende Kritik in eine Moralisierung von Politik umgeschlagen. - Werden moralische Maßstäbe nun als politische Richtschnur ernstgenommen, rücken Herrschaft und Macht in ein hinterfragbares Licht. Der Prozeß moralischer Kritik, der zur Krise führt und schließlich in die Revolution einmündet, ist bereits beschrieben worden. Rousseau vollendet und krönt diese Denkentwicklung. Seine Theorie ist mit der Französischen Revolution unsterblich verbunden. Als Theoretiker des Antiabsolutismus wird Rousseau auch von den bürgerlichen Interessen eingespannt. In diesem Zusammenhang steht das Problem von Rousseaus Wirkungsgeschichte. Unabhängig davon, ob man aus seinem Werk "Totalitäres" herauslesen kann, vermögen Politiker sich seiner oder nur seines Namens zu bemächtigen. Darunter sind totalitäre Politiker nun eben auch. Was das Bürgertum (Handwerker und Kleinkaufleute eingeschlossen) anlangt, bezieht es die Forderung nach Gleichheit stets nur auf Monarchie und Adel. Daß es innerhalb des Dritten Standes und nach unten hin womöglich noch größere Ungleichheit gibt, fällt angesichts der (politischen) Ungleichheit nach oben hin kaum auf. So mag der Gleichheitsbegriff Rousseaus zum Ferment bürgerlicher Revolution geworden sein, ohne - wie 1a1
Rousseau zustimmend: F. Glum, 156.
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dieser es eigentlich fordern würde - auch auf die eigene Interessenslage im Verhältnis zu den Besitzlosen Anwendung zu finden. Tatsächlich hat Rousseau den bürgerlichen Eigentumsbegriff kritisiert und sich in Gegensatz zu Locke gestellt. Der Gesellschaftsvertrag, der nach Locke den Schutz des Staates gerade für das Eigentum vorsieht, ist für Rousseau die sittliche Grundlage der Hinwendung eines jeden an das Ganze. "Es bleiben nicht, wie bei John Locke, unveräußerliche Rechte zurück ... Denn der Pakt ist ja geschlossen, um dem Einzelnen diese Rechte zu sichern ... 132 ." Rousseau anerkennt das Recht auf Eigentum zwar grundsätzlich, doch nur in Verbindung mit einer gleiche Interessenslage voraussetzenden, am Gemeinwohl orientierten, moralischen Verpflichtung. Daraus ergäben sich Einschränkungen für den Gesellschaftsvertrag. Für Rousseau müßte gerade "an die Stelle der physischen Ungleichheit, die die Natur unter den Menschen hätte hervorrufen können, eine sittliche und gesetzliche Gleichheit" treten: "Unter schlechten Regierungen ist diese Gleichheit nur scheinbar und trügerisch; sie dient nur dazu, den Armen in seinem Elend und den Reichen in seinem widerrechtlich erlangten Besitz zu erhalten. In Wahrheit (in der Realität, W. E.) sind die Gesetze immer nur für diejenigen wohltätig, die etwas besitzen, und den Besitzlosen schädlich, woraus folgt, daß den Menschen der gesellschaftliche Zustand nur solange vorteilhaft ist, als jeder etwas und keiner zuviel hatl33." Rousseaus Forderung nach materieller Gleichheit ist Ausfluß der dem Gesellschaftsvertrag immanenten Bestimmungen. Er weiß genau, wie sehr ein mit dem Recht auf Eigentum koexistierender formaler Gleichheitsbegriff materielle Ungleichheit nach sich ziehen kann. Deshalb besteht er auf ausgewogene Besitzverhältnisse und Eigentumsstreuung. Diese indirekte Kritik am liberal-bürgerlichen Eigentumsbegriff wird am Vorabend der Revolution überhört. Auf Rousseaus Gleichheitsbegriff berufen sich "liberale" wie auch "radikale" Revolutionäre, deren Eigentumsinteressen selber undiskutiert bleiben. Vor allem präsentiert sich Rousseaus Staatslehre und ihre Einbettung in politische Ethik als ideologische Plattform für die unterschiedlichsten Gruppierungen. Rousseaus Abstraktionsresp. Fiktionsneigung, wie sie besonders in seiner identitätsdemokratischen Konstruktion zum Ausdruck gelangt, ist auch im Lager der Gegenrevolutionäre auf Vorliebe gestoßen. Die Rezeption Rousseaus erfolgt sogar besonders eingehend durch Konservativel34. Ebenda, 146. J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, Kap. 9, 27 und Fußnote. 134 I. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, 270ff. Fetscher stützt sich dabei auf: J . Mc. Donald, Rousseau and the French Revolution 1762 - 1791, London 1965. Siehe: Fußnote 157 pei uns. 132 133
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Die Moralisierung von Politik ist zum Politikum geworden. Neben Rousseau fordern auch Morelly, Mably, Helvetius, Holbach und Condorcet die moralische Hin- und Zuwendung des Staatsbürgers an die Gemeinschaft. Der damit verbundene Politikbegriff erklärt das "sittliche Wesen" des Menschen zur verbindlichen Richtschnur auch politischen Handelns. Hiezu sei nun vom Standpunkt des Autors folgendes angemerkt: Jeder Herrschaft legitimierende Versuch der Ineinssetzung von Politik und Moral wird zwar den Bezug zur Erfahrung herausstreichen wollen, ohne jedoch politische Praxis als dem Begriffsideal angemessen beurteilen zu können. Dies setzte nämlich eine empirische Überprüfung von Idee und einer von dieser durchdrungenen oder abweichenden Erfahrungspraxis voraus- alles in allem also eine Unmöglichkeit, von der der Philosoph weiß. Von da her gesehen ergeben sich Probleme im Zusammenhang mit einer wohlwollenden Interpretation der Rousseauschen Theorie. Für die politische Theorie bestehen sie darin, daß ideale Begriffskonstruktionen als Wesensbegriffe zwar unabhängig von Erfahrungsmaterial aufgeboten werden, ohne jedoch auf dieses zum Zwecke der Abgrenzung verzichten zu können. Man mag sich zwar bewußt darüber sein, daß der begriffene Sinn notwendig der Erfahrung bedarf, beharrt jedoch auf der methodischen Trennung von Erfahrungstatsachen und Begrifflichkeit. Diese könne aus jenen nicht hergeleitet werden. Dieser Ansicht nach gibt es Begrifflichkeit zwar nur in einer Welt der Erfahrung, doch ist Begrifflichkeit nicht erst durch Erfahrung konstituiert. Vom Standpunkt des Autors betrachtet stellt sich nun einer philosophische Wesensbegriffe verwendenden Theorie, will sie praktisch sein, ein ihr spezifisches Problem. Durch den empirischen Bezug nämlich, den sie ihrer praktischen Wirksamkeit wegen nötig hat, betritt sie gerade eine Ebene, auf der sie als Ideenkonstruktion gar nicht kompatibel gemacht werden kann. Hier geltenja-ihrem eigenen Selbstverständnis nach- nur erfahrungswissenschaftliche Kriterien, unter die Ideen kraft ihrer Eigenart nicht subsumierbar sind. Das Dilemma ist also: Die Idee muß sich der empirischen Praxis stellen, weil sie dialektisch auf sie verwiesen ist, ohne jedoch ihren Beurteilungsanspruch verwirklichen zu können, der Vergleichbarkeit mit Empirischem voraussetzte. Diese Schwierigkeit, die Idee mit Empirischem in Zusammenhang zu bringen, ist nun aber dem Gedanken einer Identität von sittlichem Willen und (realer) Politik immanent. Die abstrakt-moralisierende Kritik, die unvermittelt gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen zu stehen kommt, läßt diese notwendig als deviant erscheinen. Die daraus resultierende Empfindung des Mangels mag zum revolutionären Bewußtsein des damaligen Frankreich beigetragen haben.
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Historisch gesprochen ist die in der französischen Aufklärung gängige Moralisierung von Politik der ideelle Ausdruck des um politische Emanzipation ringenden Bürgertums. Hat die holländische und englische Revolution noch traditionelle Legitimierungsprinzipien auf ihren ideologischen Schild gehoben und Aufklärung im Gefolge gehabt, bietet sich der anstehenden Französischen Revolution das Instrumentarium der Aufklärung zu ihrer Durchsetzung an. In diesem Sinn konnten wir auch schreiben, daß die abstrakte, moralisierende Kritik die Krise selbst ist, die dann in Revolution kulminiert. Durch die Französische Revolution erfolgt eine grundlegende Umwälzung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. Sie repräsentiert "die erste und bedeutsamste Zeitspanne im Verlauf des Übergangs des Staatsführungsmonopols von der alten, in den Rechtsgewohnheiten der Feudalzeit wurzelnden Aristokratie auf die neue, im Verlauf des 18. Jahrhunderts selbstbewußt gewordene soziale Schicht des Bürgertums ... und damit das unwiderrufliche Ende des Mittelalters"l35 . Die zur Revolution hinführende Entwicklung ist durch den bedeutsamen Umstand geprägt, daß die oberen Stände wie Adel und Geistlichkeit, ihre der gesellschaftlichen Struktur angemessene Relevanz bereits eingebüßt haben, die sozialen und wirtschaftlichen Rechte jedoch weiterhin beanspruchen. Die über die alte Gesellschaftsordnung legitimierten Rechte sind durch die merkantilistische Entwicklung von Wirtschaft und Industrie im Bewußtsein immer breiterer Schichten zu bloßen Vorrechten herabgesunken. Sowohl die Bauern wie auch die städtische Bevölkerung wehren sich immer heftiger gegen ein durch den König Ludwig XVI. abgestütztes System, das die alten Stände für den Verlust ihres politischen Einflusses mit dem Beibehalt ihrer sozialen und ökonomischen Privilegien zu entschädigen trachtet. Ludwig XVI. versucht den drohenden Klassenkonflikt zwar mit Reformen im Sinne eines Aufgeklärten Absolutismus abzuwenden, doch bleibt er dabei auf halbem Wege stehen. Er beruft den Reformer Turgot als Minister für Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dieser erarbeitet ein einheitliches Steuersystem und erwägt die Abschaffung der bäuerlichen Frondienste und der Zünfte des Handwerks wie auch die Freigabe des Getreidehandels. Der heftige Widerstand der privilegierten Stände dagegen läßt den König schließlich auf ihre Seite übergehen. Des Königs Entschluß, 1776 in den englisch-amerikanischen Krieg einzutreten, zwingt Turgot, der aus finanziellen Gründen davon abrät, endgültig zum Rücktritt. Das politische System Ludwigs XVI. war ursprünglich von dem Gegensatz zwischen den Privilegierteninteressen der Parlamente und einer durch 1as E. Schmitt, Einführung in die Geschichte der Französischen Revolution, München 1976, 9.
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Unitarisierungsstreben und Straffungsmaßnahmen sich auszeichnenden absolutistischen Politik, wie sie Turgot praktizierte, geprägtl36. Diese "Selbstblockierung" wird mit Turgots Abgang zwar aufgehoben, doch um den Preis des Verzichts auf die dringend notwendigen Reformen. Adel und Geistlichkeit haben sich noch einmal durchgesetzt. Sie bestreiten dem Königtum die gesetzgebende Gewalt und das Steuerrecht, was sich (sogar) mit den Forderungen der Aufklärung deckt. Als Legitimation galt ursprünglich der Gedanke der "repraesentatio singulariter", daß die Stände die verschiedenen Interessen gegenüber der Krone vertreten; die Krone wiederum hat die "repraesentatio in toto" inne. Diese Legitimation können aber Adel und Geistlichkeit im Frankreich des 18. Jahrhunderts für sich allein nicht mehr unwidersprochen beanspruchen. Das durch das Wirtschaftssystem des Merkantilismus entstandene wohlhabende Bürgertum, zu dem Unternehmer, Kaufleute, Ärzte und Advokaten gehören, bildet einen "Dritten Stand", dessen Partikularinteresse jedoch keineswegs in den Parlamenten vertreten ist. Tatsächlich decken die alten Stände nur mehr die Bedürfnisse einer kleinen privilegierten Schicht abl37. In dem Bestreben, an dem Privilegienwesen festzuhalten, maßen sie sich selbst die Rolle einer Gesamtrepräsentation an, die dem König im Bewußtsein der Untertanen immer mehr abhanden gekommen ist. Damit stellt sich ein entscheidender Legitimationswandel bei den privilegierten Ständen ein13B. Der Gedanke nämlich, daß es auf die souveräne Gewalt des Volkes als Ganzes ankäme, soll den alten Vertretungsanspruch der Stände aufs Neue absichern helfen. Nicht der despotische König repräsentiere die Nation, sondern die in den Parlamenten vertretenen obersten Stände. Das alte ständische Prinzip der "repraesentatio singulariter" wird von den Ständen selbst in den Hintergrund gedrängt zugunsten einer Totalrepräsentation, die dem Königtum ab-, sich aber zugesprochen wird. Die Antithese: "hier Cours souveraines gleich Nation, dort Krone gleich Despotismus"l39 ist Ausdruck der Uneinigkeit zwischen Privilegierten und Herrschenden, noch bevor das Bürgertum damit in Beziehung gebracht wird. 136 E. Schmitt, Repraesentatio in toto und repraesentatio singulariter. Zur Frage nach dem Zusammenbruch des französischen Ancien regime und der Durchsetzung moderner parlamentarischer Theorie und Praxis im Jahr 1789, in: E. Schmitt (Hg.), 422. . 137 Ebenda, 434. 138 "Eine Wandlung trat unter Ludwig XVI. insofern ein, als die privilegierten Interessen im Verlauf seiner Regierungszeit von den Parlamenten zunehmend mit denen der gesamten Nation gleichgesetzt wurden, bis die Notahlenversammlung von 1787 schließlich jenen Reformversuch Calonnes, der das Privilegienwesen abzubauen versuchte, im Keim erstickte, nicht ohne sich hierbei auf nationale Verantwortung zu berufen." (Ebenda, 436.) 139 Ebenda, 435.
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Der neue Name für den Ganzheitsgedanken heißt nun "representation nationale". Freilich der Übergang zur Festigung dieser Idee ist fließend. Von ihrer Durchsetzung gegenüber konkurrierenden Ideen kann überhaupt erst mit der Ausbildung der Konventsherrschaft (September 1792) gesprochen werden, d. h. beginnend mit der Phase des girondistischen Konvents (bis Juni 1793) und endend mit der Diktatur des Wohlfahrtsausschusses (bis zum 28. Juli 1794, dem Tod Robespierres). Bis dahin versucht selbst ein Teil des "Dritten Standes" sich noch auf die "repraesentatio singulariter" zu berufen, und zwar in Form einer Rationalisierung und Erweiterung des "altständischen Kontrollanspruch(s) der Cours souveraines". E. Schmitt nennt dies die "groß- oder besitzbürgerliche Argumentation", die dazu führen sollte, "daß die wirtschaftlich und intellektuell potenten Schichten des nichtprivilegierten Dritten Standes ein ähnliches Mitsprache- und Aufstiegsrecht wie die bisherigen Privilegierten erhielten. Dieser Argumentationsmodus machte die auf Grund des Eigentums zu leistende Steuersumme zur Grundlage des ,droit de citoyen'. In der Verfassung vom 3. September 1791 hat er seinen eindrucksvollsten Niederschlag gefunden, er wartrotz mancher Kontroversen der bis 1792 dominierendel4o." Im Gegensatz dazu stünde die "radikale Argumentation", die eine partikulare Interessensvertretung, wie sie etwa die auf Eigentum gründende Repräsentanz darstellt, als gemeinwohlschädigend und deshalb verwerflich betrachtet. Mit der Herrschaft der Jakobiner wird sie zur ideologischen Leitlinie erhoben. Ihre in~ Auge springende Ähnlichkeit mit der theoretischen Grundlegung des Sozialkontrakts bei J. J. Rousseau gibt dabei einiges zu denken auf. Erstmals werden die praktischen Konsequenzen einer solchen Auffassung erprobt. Sie können unabhängig davon, ob Rousseau sie in seiner Theorie intendiert hat oder nicht und auch unabhängig davon, ob die Jakobiner ihren Rousseau tatsächlich gelesen haben oder nicht, diskutiert werden. -Danach soll der Bezug zu Rousseau wieder aufgenommen werden. Ein Verständnis der geschichtlichen Ereignisse herzustellen, hängt stets von der Interpretation derer ab, die sich um ein solches bemühen. Die Französische Revolution ist ein Muster für strukturell-politische und weltanschauliche Abfolgen. Fast das gesamte ideologische Spektrum ist in einem relativ kurzen Zeitabschnitt revolutionärer Vorgänge konzentriert. Demzufolge sind auch die interpretatorischen Ansätze entsprechend weltanschaulich-ideologisch geprägt. E. Schmitt nennt als die wichtigsten: die konservative Interpretation, die liberale oder bürgerlich-idealisierende Interpretation, die französische sozialistische Interpretation, die marxi140 Ebenda, 439. Diese strenge Scheidung zwischen Aktiv- und Passivbürgertum müsse die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Sommer 1789) als bloßes Lippenbekenntnis erscheinen lassen.
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stisch-leninistische Interpretation, der strukturanalytische Forschungsund Interpretationsansatz141 • Es soll hier nun keinem dieser Ansätze der Vorzug gegeben werden, sondern bloß auf die markantesten revolutionären Interessensgruppierungen und ihr zumindest im Anfang ideologisches Einheitsstreben, das schwerlich über die inhomogene Klassenbasis hinwegzutäuschen vermag, in kurzen Zügen eingegangen werden. Die einander widersprechenden ständischen und Klassen-Interessen stehen einem strukturell absolutistischen Königtum gegenüber und fordern Rechte. In dieser allgemeinen Hinsicht ergeben sich auf legitimatorischer Ebene Gemeinsamkeiten, so daß- wie bereits erwähnt- selbst die oberen Stände als Vertretung der gesamten Nation und nicht mehr von Partikularinteressen gelten wollen. Tatsächlich setzen sich auch Priester und Adelige für die Einbeziehung des Bürgerstandes in die politische Ordnung ein. Aus der zerrütteten Lage, in die Frankreich am Vorabend der Revolution geraten war (die Unterstützung des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges gegen England erbrachte keine Gewinne, im Gegenteil: das französische Kolonialreich blieb verloren, aus dem Krieg zurückkehrende Freiwillige schlossen sich der Opposition gegen den absoluten König an, die Finanzkrise spitzte sich zum Staatsbankrott zu, den nur eine drastische, auch von den oberen Ständen Opfer fordernde Steuerreform hätte abwenden können), soll die von allen maßgeblich~n politischen Gruppen geforderte Einberufung der Generalstände herausführen. Diese waren seit 1614 nicht mehr zusammengetreten142. Die Einheitlichkeit dieses Wunsches spricht zunächst den Gedanken aus, daß in Ausführung des nationalen Willens gehandelt werden möge. Freilich, und das zeigen später die langwierigen Verhandlungen und Auseinandersetzungen um die Verfassung, an der Formel vom "nationalen Willen" wird aus unterschiedlichen Gründen festgehalten. Die oberen Stände, die früher ausschließlich die Versammlung bildeten und dem König ihren Willen aufzwangen, sind an einer Stärkung ihrer Positionen interessiert, der Dritte Stand versucht die Generalstände als Forum für seine eigenen Zwecke zu benützen, der König wiederum bedarf zur Durchsetzung der notwendigen, gegen Adel und Geistlichkeit gerichteten Reformen der Loyalität der Bürgerlichen. Die Zusammensetzung der Deputierten von Adel, Geistlichkeit und Drittem Stand wird im Verhältnis 1 : 1:2 bestimmt. Darüber hinaus fordern die Bürgerlichen, daß die Ständeabgeordneten in einer einzigen Kammer nach E. Schmitt, Einführung in die Geschichte der Französischen Revolution. In der Darstellung der historischen Ereignisse und Fakten beziehen wir uns hier und im folgenden auf: J. M. Thompson, The French Revolution, Oxford 1959 (1. Aufl. 1944). 141 142
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Köpfen, nicht - wie ehedem - nach Ständen abstimmen. Damit verbindet sich auch die Forderung nach dem freien Mandat an Stelle des imperativen Mandats. Legitimationsgrund bildet auch hiefür, daß der "nationale Wille" repräsentiert werden müsse. Dem entspricht die bürgerliche Perhorreszierung "jegliche(r) Aufrechterhaltung traditioneller ständischer Vetopositionen, um nach Möglichkeit freie Hand für die nötigen Reformen zu bekommen, die durch eben die Wahrnehmung solcher Vetopositionen durch Parlamente, Provinzialstände und Notahlenversammlungen seit Jahrzehnten blockiert worden waren" 143. Eine Einwilligung in die zuletzt genannten bürgerlichen Forderungen wäre jedoch einer Präjudizierung von verfassungsmäßigen Änderungen gleichgekommen. Deshalb billigt sie der König nicht. Vielmehr bleiben diese entscheidenden Fragen offen, bis sie schließlich durch die revolutionäre Dynamik selbst, wie sie sich nach dem Zusammentreten der Generalstände seit dem 5. Mai 1789 einstellt, eine Antwort finden. Nach ergebnislosen Verhandlungen erklären sich die Deputierten des Bürgertums, als dessen bedeutender Ideologe und Protagonist der Geistliche Sieyes in Erscheinung tritt, als Nationalversammlung (17. Juni 1789). Auch dieser Schritt wird mit dem höher stehenden Willen der Nation legitimiert. Der Aufforderung an die anderen Stände, sich der Nationalversammlung anzuschließen, wird zunächst kaum Folge geleistet144. Der berühmte Schwur, sich niemals zu trennen, solange es nicht zu einer Verfassung des Königreiches gekommen sei (20. Juni 1789), zwingt den König nach anfänglichem Widerstreben die Gegebenheiten anzuerkennen. Er fordert schließlich selbst die Vertreter von Adel und Geistlichkeit auf, sich der Nationalversammlung anzuschließen. Als "Verfassungsgebende Versammlung" beginnt diese mit der (erst 1791 beendeten) Ausarbeitung einer Verfassung. Am 14. Juli 1789 kommt es zum Sturm auf das Staatsgefängnis, die "Bastille". Der Aufstand der Massen und das Einsetzen von Bauernunruhen setzen die Nationalversammlung unter Druck, Reformen rasehest durchzuführen. So werden im August 1789 alle Privilegien des Ersten und Zweiten Standes abgeschafft, die Leistungen und Frondienste der Bauern beseitigt und eine gleichmäßige Besteuerung eingeführt. Etwas später, im November, folgt die Nationalisierung der Kirchengüter. 143 E. Schmitt, Repraesentatio in toto und repraesentatio singulariter, 453. - So wendet sich E. Sieyes in seiner berühmten Flugschrift vom Jänner 1789 gegen die alten Stände, "weil ihr Auftrag nicht vom Volk ausgeht, ... weil er nicht in der Verteidigung des Gemeininteresses, sondern des Sonderinteresses besteht. Der dritte Stand umfaßt ... alles, was zur Nation gehört. Und alles, was nicht dritter Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation betrachten. Was also ist der dritte Stand? Alles." (E. Sieyes, Was ist der dritte Stand?, abgedruckt in: Die Französische Revolution. Eine Dokumentation. 68 Quellentexte und eine Zeittafel, herausgegeben und eingeleitet von W. Grab, München 1973, 28.) 144 Zeittafel, ebenda.- Siehe auch: Fußnote 142 bei uns.
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Am 26. August 1789 erfolgt -nach dem amerikanischen Muster, aber in schärferer Formulierung - die "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte". Darin findet sich auch der Passus, daß das Gesetz "der Ausdruck des allgemeinen Willens" sei. Inwieweit hier der Geist Rousseaus mitgespielt hat, ist schwer zu sagen. Jedenfalls ist es der Zeitgeist, der das Gesamtwohl als Gegensatz der ständischen Partikularinteressen begreift. Dies schließt allerdings eine liberale Interpretation noch nicht aus. Die "Nutznießer" in den ersten beiden Jahren der Revolution, Besitz- und Bildungsbürgertum gemeinsam mit dem Reformadel145, verbinden ihr besonderes Interesse mit dem "allgemeinen Willen". Dies drückt sich in der am 3. September 1791 erlassenen Verfassung etwa in der Einteilung von Aktivund Passivbürger und der Einführung des Zensuswahlrechts (Besitzlose und Lohnabhängige sind vom politischen Mitspracherecht ausgeschlossen) aus. Vordem war bereits das Gesetz Le Chapelier beschlossen worden (14. Juni 1791), das unter dem Deckmantel der Abschaffung aller Korporationen, resp. der Freiheit der Arbeit und des Gewerbes auch gewerkschaftliche Zusammenschlüsse und Streiks verbietetl46.
Während der Zeit der Ausarbeitung der Verfassung haben sich verschiedene Parteiungen herausgebildet. Auf der einen Seite stehen nach wie vor Anhänger eines absoluten Königtums, auf der anderen Vertreter einer konstitutionellen Monarchie wie Mirabeau, Lafayette und Sieyes. Unabhängig von diesen gibt es bereits radikale Abgeordnete, die Mitglieder einer im Gebäude des Jakobinerklosters gegründeten "Gesellschaft der Verfassungsfreunde" sind und später deshalb als "Jakobiner" bezeichnet werden. Aus diesen Kreisen erfolgt bereits der Ruf nach der Republik. Die mißglückte Flucht Ludwigs XVI., seine anhaltenden Verbindungen zu adeligen Emigrantenkreisen, schließlich die Möglichkeit des Übergreifens des revolutionären Funkens auf andere europäische Länder erhöhen die sowohl innen- wie auch außenpolitischen Spannungen. Die Invasion der feudalmonarchistischen Mächte Preußen und Österreich im Sommer 1792, die Forderung des Herzogs von Braunschweig nach Wiederherstellung der Rechte des Königtums führen zu einer Welle national-revolutionärer Begeisterung. Die in der neugewählten gesetzgebenden Versammlung den Ton angebenden, das Großbürgertum vertretenden gemäßigten Republikaner, die Girondisten, vermögen dadurch kurze Zeit von den ungelösten innenpolitischen Konflikten abzulenken. Langfristig gesehen schließt der Krieg jedoch die Möglichkeit des Ausgleichs zwischen dem Großbürgertum und den alten Staatsgewalten, wie dies etwa bei der "Glorreichen Revolution" von 1688 der Fall war, aus147. 145 14& 147
W. Grab (Hg.), Einleitung, 13. Beide Dokumente finden sich in: W. Grab (Hg.). W. Grab (Hg.), Einleitung, 15.
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Die Gefahr von außen führt zu einer neuen Radikalisierung der Massen, als deren Wortführer nunmehr die das Kleinbürgertum vertretenden Jakobiner auftreten. Die zweite Erhebung der Massen erfolgt am 10. August 1792 (Sturm auf die Tuilerien, den Königspalast). Der König wird verhaftet (und am 21. Jänner 1793 hingerichtet). Die Nationalversammlung löst sich auf und macht Platz für den "Nationalkonvent", der am 21. September 1792 die Republik proklamiert. Die nun einsetzenden Machtkämpfe zwischen Gironde und Jakobinern (deren Abgeordnete auf Grund der höher gelegenen Plätze im Sitzungssaal auch "Montagnards", d.s. die Vertreter der "Berg"-Partei, genannt werden), der schließliehe Sieg der Jakobiner im Juni 1793 und ihre Alleinherrschaft bis zum Tod Robespierres (28. Juli 1794), bilden auch in der Geschichtsforschung den am heftigsten umstrittenen Zeitraum. Gerade an den gesellschafts- und legitimationstheoretischen Erwägungen scheiden sich die Geister. So ist bereits die Frage, ob es sich bei der Französischen Revolution um eine oder mehrere Revolutionen handelt, unentschieden. Neben der marxistisch-leninistischen Interpretation148 wird auch der französischen sozialistischen Geschichtsschreibung149 der Vorwurf gemacht, sie ginge von einer modellhaften Revolution der Bourgeoisie aus, die auch den Rahmen für die Aufstände der Bauern, des städtischen Plebejerturns sowie der Arbeiter, Handwerker und des Kleinbürgertums, kurz: derjenigen, die nicht der Bourgeoisie angehörten, bilde. Demgegenüber versucht etwa A. Cobbanlso nachzuweisen, daß die Revolution von 1789 nicht von einer Bourgeoisie im Sinne der kapitalistischen Klasse ausgegangen war und die Revolution insgesamt gar nicht gegen den Feudalismus als solchen zielte. Der Widerstand der Unterschichten hätte eine kapitalistische Entwicklung gerade verzögert. V. Hunecke151 wiederum weist darauf hin, daß sich A. Cobban gerade in dieser Interpretation eng mit der Analyse Lefebvres berührt, der den bürgerlichen Bestrebungen entgegengesetzte Interessen bestimmter Unterschichten bereits als tendenziell sozialistisch begreift und überdies der "revolution paysanne" einen eigenständigen Stellenwert beimißt. 148 Z.B.: A. Manfred, Die französische bürgerliche Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts (1789 bis 1794), Berlin 1952. 149 J. Jaures, Histoire socialiste de la Revolution franc;aise, 4 Bände, Paris 19011904; neu herausgegeben von A. Soboul in 7 Bänden, Paris 1968 bis 1973. A. Mathiez, Die Französische Revolution (deutsche Ausgabe), 3 Bände, Harnburg 1950. G. Lefebvre, La Revolution franc;aise, Paris 1951. A. Soboul, Die Große Französische Revolution (deutsche Ausgabe), Frankfurt 1973. 1so A. Cobban, The Social Interpretation of the French Revolution, London 1964; The Myth of the French Revolution, in: A. Cobban, Aspects of the French Revolution, New York 1970. 15 1 V. Hunecke, Antikapitalistische Strömungen in der Französischen Revolution. Neuere Kontroversen der Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft, 4. Jahrgang 1978, Heft 3, 294.
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Sozialistische Historiker der Französischen Revolution tendieren dazu, die entsprechenden Abfolgen in der Entwicklung in Hinblick auf das Gleichheitsstreben und der diesem entsprechenden sozialpolitischen Schritte zu beurteilen. So unterscheiden sie etwa die "revolution de la liberte" (vom Zeitpunkt der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 26. August 1789, bis zum Ende der konstitutionellen Monarchie, September 1792) von der "Phase des girondistischen Konvents" (September 1792 bis Juni 1793), der Übernahme der Herrschaft durch die Jakobiner (2. Juni 1793) und der "revolution de l'egalite". Letztere wird mit dem MaximumGesetz vom 29. September 1793 angesetzt, das eine Lohn-Preisfestsetzung vorsieht. Die Forderung nach Gleichheit der Bildungschancen, das Soziaiversicherungssystem und die nicht zuletzt durch den Krieg erforderliche Beschlagnahmung der Ernten bildeten weitere Kennzeichen von Egalisierung, wie sie der Politik des Wohlfahrtsausschusses eigen gewesen wäre. Gegen eine solche Unterscheidung von Abfolgen eines im Grunde einheitlichen, Stufe um Stufe eskalierenden Entwicklungsgeschehens wenden sich Furet und Richet152. Sie gehen von drei autonomen, räumlich und zeitlich zusammentreffenden Revolutionen aus: 1. die reformistische Revolution der Advokaten, liberalen Adeligen und Pfarrer, 2. die Revolution der städtischen Bevölkerung, 3. die Revolution der Bauern. -Jede der drei Revolutionen würde sich durch spezifische Interessenslagen und Begehren auszeichnen, die in der Folge die anderen bestimmten, wodurch sich erst Berührungspunkte ergaben. An ihren grundsätzlich eigenständigen Charakter sei jedoch festzuhalten. Furets und Richets strukturanalytischer Forschungsansatz hat einiges für sich. Die strengen strukturellen Unterscheidungen betreffen auch die partikularen Interessensansprüche der revolutionären Akteure. Unabhängig von deren herrschaftslegitimierenden Ideen, das Interesse der Gesamt-"Nation" resp. des "Allgemeinwillens" zum Ausdruck zu bringen, werden die gruppen-, schicht-, klassen-, fraktions- kurz: machtspezifischen Bestrebungen aller den Gesamtprozeß der Revolution umfassenden Kräfte analysiert. Hiezu hat allerdings gerade die sozialistische Revolutionsgeschichtsschreibung vorgearbeitet. Ihr kommt es vor allen Dingen darauf an, das Verhältnis der Volksbewegung ("die Revolution der Massen") zur entsprechenden Regierungspolitik der einzelnen Revolutionsabschnitte zu bestimmen. Dabei sind die älteren Studien z. T. von zu groben Klasseneinteilungen geprägttsa, was einer Vereinfachung des Problems der Interessenskonkordanz, -konvergenz, resp. -divergenz gleichkommt. 152 F. Furet I D. IÜchet, Die Französische Revolution (deutsche Ausgabe), Frankfurt 1968. 153 " . . . nur eine Feinanalyse der Mechanismen der Herausarbeitung von Volksforderungen, ihrer Verbreitung und Artikulation sowie ihrer Konfrontation mit der Regierungspolitik kann unseres Ermessens die Forschung weiterbringen." (S. Peter-
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Nicht nur zwischen großbürgerlichen Girondisten und den Mittelstand repräsentierenden Jakobinern gibt es einen Interessensgegensatz, sondern auch zwischen Jakobinern und den im Nationalkonvent selbst nicht vertretenen kleinbürgerlich bis proletarischen Sansculotten. Letztere versuchen über direkt-demokratische Organisationsformen sich politischen Einfluß zu verschaffen. Ihre zünftlerischen Vorstellungen entspringenden Forderungen nach mehr Gleichheit, nach Begrenzung von Eigentum und Kapital, stehen in Widerspruch zu den Erfordernissen einer durch bürgerliches Leistungsstreben sich auszeichnenden Eigentumsmarktgesellschaft. Der Not der Krise und des Krieges gehorchend ergreifen die Jakobiner einzelne restriktive Maßnahmen (revolution de l'egalite) und konvergieren so mit bestimmten sansculottischen ökonomischen Vorschlägenl54. Als folgenschwer erweist sich die Interessensdiskrepanz zwischen Jakobinertum und die Volksbewegung repräsentierenden Sansculotten: Durch die Institutionalisierung der revolutionären Commune, die Dachorganisation der 48 Pariser Sektionen (mit deren und des Jakobinerklubs Hilfe die Bergpartei im neuen Konvent die Girondisten ausschalten konnte), erreichen die Sansculotten eine die monokratische Ordnung der Jakobiner bedrohende Machtstellung. Eine Aufspaltung des Jakobinerklubs ist die Folge: Danton und Desmoulin auf der Rechten, Hebert und Chaumettes auf der Linken. Die "Rechte" fordert entgegen der Heberi-Fraktion die Beendigung des Terrors, um einen Friedensschluß mit den auswärtigen Mächten herbeizuführen und den Einfluß der Sansculotten auf die Regierungspolitik zurückzudrängenIss. Die zunächst um eine Vermittlung der beiden Standpunkte bemühten "Zentristen" um Robespierre und St. Just gehen schließlich aus dem Fraktionskampf siegreich hervor. Wie ehedem die Girondisten, läßt Robespierre nun auch die Vertreter der beiden von ihm abweichenden jakobinistischen Fraktionen hinrichten. · Mit dem Sieg Frankreichs über die Österreicher am 2.6. Juni 1794 erübrigen sich die drakonischen Zwangsmaßnahmen und der Terror der Jakobiner. Das Bündnis zwischen Jakobinerturn und die Volksbewegung repräsentierenden Sansculotten ist aber zu labil, um die Herrschaft des Wohlfahrtsausschusses unter Robespierre zu erhalten. Insgesamt gesehen hat -:s den sen, Lebensmittelfrage und revolutionäre Politik in Paris 1792 - 1793. Studien zum Verhältnis von revolutionärer Bourgeoisie und Volksbewegung bei Herausbildung der Jakobinerdiktatur. Mit einem Vorwort von A. Soboul, München- Wien 1979, 25.)Petersen ist selbst stark an der französischen sozialistischen Interpretation der Französischen Revolution orientiert und beschränkt sich in ihrer Untersuchung auf die Phase des girondistischen Konvents vom September 1792 bis Juni 1793. Ihre Unterscheidungen betreffen Auseinandersetzungen in und zwischen den einzelnen Organisationen von Konvent, Jakobinern, Volksbewegung, Sektionen und der Kommune. 15 4 Siehe z. B.: Das "Manifest der Enrages" (25. Juni 1793) des Sansculottenführers Jacques Roux, abgedruckt in: W. Grab (Hg.), 163-171. Iss W. Grab (Hg.), Einleitung, 18. 11 Ernst
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Niedergang der Revolution besiegeln helfen. Robespierre wie auch SaintJust "waren sich der Interessen der Bourgeoisie zu sehr bewußt, um uneingeschränkt auf der Seite der Sansculotterie zu stehen, aber sie waren auch gegenüber den Bedürfnissen der Sansculotten zu aufgeschlossen, als daß sie vor den Augen der Bourgeoisie Gnade gefunden hätten"156. Die Bourgeoisie schlägt zurück am 9. Thermidor II (27. Juli 1794). Robespierres Diktatur wird gestürzt. Gemeinsam mit seinen in Konvent und Kommune tätigen Parteigängern wird er am nächsten Tag hingerichtet. Ein weiterer Abschnitt der Revolution ist damit beendet. Festzuhalten ist, daß auf legitimatorischer Ebene über alle Interessensgegensätze hinweg (besser: von diesen abgehoben) die Einheit, das Volksganze, der nationale Wille beschworen wird. Der revolutionären Praxis dieser Zeit entsprechen die Unitarisierungsideologien des 18. Jahrhunderts. J. J. Rousseau gilt als ihr Repräsentant. Hat nun Rousseau, auf den hiermit nochmals zurückgekommen wird, durch sein Schrifttum unmittelbar auf die Handlungsweisen der Revolutionäre eingewirkt157? Wichtiger als die Beantwortung dieser Frage scheint die Feststellung zu sein, daß Rousseau Problemstände des Zeitgeistes ausdrückt, den die Revolutionäre in die Tat umzusetzen versuchen. Auf diesen (indirekten) Zusammenhang soll kurz noch eingegangen werden. Die Lehre vom Gemeinwillen ist Allgemeingut der revolutionären Ideologen und Verfassungsdenker158. Das Bemühen der einzelnen Parteien und A. Soboul, Die Große Französische Revolution, 378. Auf diese Fragestellung geht ausführlich J. Mc. Donald ein. Dieser weist nach, daß der Cantrat Social bis 1789 kaum gelesen wird und erst danach auf ein sich entwickelndes Interesse stößt (50). Zunächst seien es mehrheitlich konservative, später gar gegenrevolutionäre Autoren, die sich mit der Rezeption der politischen Theorie Rousseaus befassen. Die schärfsten Kritiken stammen gerade von Revolutionären, die Rousseaus Theorien als zu abstrakt befinden (111). Dies hindert sie jedoch nicht daran, den Namen Rousseau für ihre Interessen auszunützen. Aus dem bereits vor der Revolution existierenden Kult um Rousseau, der nichts mit dem Erscheinen des Contrat Social, jedoch mit dem des "Emile", der ,.Nouvelle Heloise" und mit der Anteilnahme an der z. T. imaginierten, persönlichen Tragik Rousseaus zu tun hat, werden auch den Revolutionären zugutekommende enthusiasmierende Kräfte geschöpft (161). Als besonders wirksam erweist sich dabei der Gedanke "moralischer Erneuerung". "The revolutionaries had accepted the view that the regeneration of the individual could be brought about by the regeneration of society; and because it was with the name of Rousseau that the idea of individual moral regeneration had become particularly associated, so, in carrying the idea into the wider sphere of social regeneration, it was with Rousseau's name that the practical devises of the Revolution were associated." (164.) 15& "Der Ausdruck ,volonte generale' ist bekanntlich auch in die französische Verfassung eingegangen und auch diese Tatsache wurde von Historikern als ,Beweis' für den Einfluß Rousseauscher Gedanken gewertet. In Wirklichkeit war der Terminus keineswegs auf Rousseau beschränkt - der Abbe Mably, Diderot und ältere Autoren haben ihn gleichfalls verwendet- und 1789 war er ins allgemeine Vokabular unter gleichzeitiger Einbuße seiner spezifisch Rousseauschen Bedeutung eingegangen." (1. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, 265.) 15&
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Fraktionen besteht darin, sich selbst mit dem Volkswillen zu identifizieren. Auch die alten Generalstände, denen gegenüber der Dritte Stand auf Gleichstellung drängt, legitimieren ihren Herrschaftsanspruch über den Gedanken, Ausführungsorgane des "nationalen Willens" zu sein. In der Einberufung der Generalstände, einschließlich des Dritten Standes, wird dieses Prinzip nach außen hin demonstriert. Neben dem Repräsentationsprinzip159 gelangt mit der "Verfassungsgebenden Versammlung" schließlich auch der Durchbruch zum Mehrheitsprinzip, das mit dem Gemeinwillen gleichgesetzt wird. Beides weicht entscheidend von Rousseaus politischer Lehre ab. Mit der Durchsetzung radikalerer Auffassungen in der Revolution, beginnend mit den Jakobinern, scheint die Ähnlichkeit mit Rousseaus Gedank~u größer zu werden. Robespierres "Schreckensherrschaft", die Diktatur des Wohlfahrtsausschusses, hat es nötig, auf ideologischer Ebene eine Einheit zu beschwören, die in diesem Abschnitt der Revolution weniger denn vordem existiert. Dabei bildet Moral, besser: Moraltheorie den Vorwand, Politik als Verbrechen zu bekämpfen. Alle Abweichungen davon, was erklärtermaßen Tugend auf der einen Seite, politischer Allgemeinwille auf der anderen zu sein hat, werden als kriminell klassifiziert. Die im Zuge der Revolution zur Herrschaft gelangten "Tugendwächter" verstehen sich als oberstes Vollzugsorgan politischer Moral. Robespierre, "der Unbestechliche", antwortet, als er auf Säuberungsaktionen und brutalen Terror angesprochen wird, in aller ideologischen Abstraktheit, daß es lediglich um die Einführung der "natürlichen Ordnung" und die Verwirklichung der von der Philosophie beanspruchten Wahrheiten gehe. Tugend ist ihm das "grundlegende Prinzip" und die "wichtigste Kraft" der demokratischen Regierung. So kann er denn auch alles "Unmoralische (für) unpolitisch und die Korruption (für) konterrevolutionär" erklären16o. Die stets gewissenhaftest vorbereiteten Reden Robespierres kreisen immer wieder um dasselbe Thema von Moral und Politik. In Zeiten der Revolution, so meint er, seien Tugend und Terror untrennbar miteinander verbunden: "Ohne die Tugend ist der Terror verhängnisvoll, ohne den Terror ist die Tugend machtlos. Der Terror ist nichts anderes als die unmittelbare, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit; er ist also eine Emanation der Tugend161." Als Identitätsdemokrat par excellence scheint Robespierre alles klar: Revolutionäre Regierung = Volk guter Bürger; Konterrevolutionäre = schlechte Bürger, Feinde des Volkes. Praktisch ergibt sich daraus, daß die 159 Hiezu die Rechtfertigung des Abbe Sieyes: E. Schmitt, Repraesentatio in toto und repraesentatio singulariter, 450ff. 160 M. Robespierre, Ausgewählte Texte, Hamburg, o.J., 589. 161 Ebenda, 594.
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schlechten Bürger, da sie doch die Politik der Tugend hintertreiben, ausgeschaltet werden müßten. Für revolutionäre Zeiten lautet die Gleichung dann: "Die revolutionäre Regierung schuldet allen guten Bürgern den ganzen Schutz der Nation, den Feinden des Volkes schuldet sie den Tod1&2." Wie für Rousseau bildet auch für Robespierre die "vertu" die moralische Grundlage der Demokratie. Der wesentliche, alles entscheidende Unterschied zu Rousseau besteht jedoch darin, daß die konkreten Bedingungen, auf die Robespierreden Gedanken der "vertu" appliziert, nicht solche sind, die den Allgemeinwillen zur Geltung bringen. Im Gegenteil: Die Diktatur zerstört diese Möglichkeit163. Die Sansculotten hingegen kommen Rousseau auch in der Praxis sehr nahe. Dies zeigt sich sowohl in ihrer rückwärts gewandten antikapitalistischen, die Nivellierung der Eigentumsverhältnisse fordernden Haltung wie auch basisdemokratischen Politik. Letztere ist der Versuch, aus der Volkssouveränität "das Recht der Sektionsversammlungen auf permanente Tagung, auf Kontrolle (Zensur) der Deputierten, auf deren Rückberufung und auf Kritik der Gesetze" abzuleiten1&4. Auch die sansculottische Volksbewegung wird nicht von der Totalitarismuskritik verschont. Als Revolution der Masse, die sich allzugern mit dem "Pöbel" verbinde, trüge sie dieselben unverwirklichbaren identitätsdemokratischen Züge wie die Jakobinerdiktatur, deren Handlangerdienste sie leiste. Für den geistigen Vater dieser Politik(-auffassung) wird Rousseau gehalten. Eine besonders ins Auge fallende Übereinstimmung, auf die ebenso von der Totalitarismusforschung aufmerksam gemacht wird1&5, gibt es zwischen Rousseaus Konzept einer "religion civile" und Robespierres "culte de l'etre supreme". Wie erinnerlich hält Rousseau ein Mindestmaß an gemeinschaftlichem Sozialempfinden, emotionaler Teilnahme, Spontaneität und Patriotismus für notwendig, weil die einzelnen Gesellschaftsmitglieder durch Mittel.,.Zweck-Beziehungen allein nicht zusammengehalten würden. Dazu verhelfe die "bürgerliche Religion". Ihre wenigen und einfach formulierten Glaubenssätze bildeten das heilige Band, das jeden Staatsbürger mit der Gemeinschaft verbindet. Der jakobinistische "Kult der Vernunft" sei nun 162 Ebenda. 565. - Selbst Burkes Kritik der Revolution ist noch moralischer Art: Religion, Moral, Gesetze, Freiheit und Menschenrechte seien von den Revolutionären nur zum Vorwand genommen worden. In Wahrheit bildeten Laster und Unmoral die Ursache der Revolution (E. Burke, 340). 163 I. Fetscher (Rousseaus politische Philosophie, 287) meint, "daß die Jakobiner Rousseaus Idee der direkten Ausübung der Souveränität durch das gesetzgebende Volk jeweils so ausgelegt und ,benützt' haben, wie es ihren praktischen Augenblicksinteressen entsprach." 164 Ebenda, 301. 165 J . W. Chapman, 87.
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ein solches Anbeten einer Herrschaftsform, die in dem Augenblick zugrundegeht als ihre spontanen und emotionellen Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind. Rousseau aber überdauert den Thermidor: Die Überführung seines ausgegrabenen Leichnams ins Pantheon, welche von den Jakobinern angeordnet wurde, vollzieht sich unter der Herrschaft des Thermidorianerkonvents (11.10.1794)166.
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Fünftes Kapitel
Nachtrag zum Revolutionsbegriff Der ehemals rein astronomische Begriff "rivoluzione", der die regelmäßige Rundbewegung der Gestirne bedeutete1, erfährt in Humanismus und Renaissance eine politische Akzentuierung. Der Revolutionsbegriff wird auf politische Ereignisse angewendet und übernimmt damit eine legitimatorische Funktion. So hilft z.B. die "Glorreiche Revolution" die Rückkehr zu einer monarchischen Ordnung rechtfertigen, die nach den langen Jahren politischer Wirrnisse von Rebellion und Restauration wieder zur Ruhe und Rechtmäßigkeit zurückfindet. Nicht die Veränderung, das Neue- wie im modernen Sprachgebrauch -, bildet den Abschluß eines Entwicklungszyklus, sondern die Rückkehr zum Richtigen und Guten: "Eine ungeheure Erhebung der Menschen vermag nichts gegen das Naturgesetz der politischen Ordnung, sondern mündet in diese wieder zurück2." Parallel zum Prozeß der Ablösung traditioneller Legitimierungsverfahren vollzieht sich auch der Bedeutungswandel des Revolutionsbegriffs. In der Moderne geht er schließlich seiner astronomischen "Einkleidung"3 verlustig. Der moderne Revolutionsbegriff kann sich nun mit der Ansicht, daß der Mensch seine Geschichte selbst macht (Gian Battista Vico, 1725)4, verbinden: Die Geschicke der Menschheit sind nicht mehr wie zu Beginn der Neuzeit planetarischen Gesetzen unterworfen. Kein Kreislauf politischer Systeme schränkt die gesellschaftliche Entwicklung ein. Das Subjekt erkennt sich selbst als Urheber historischer Gewalt. Die Wirklichkeit entstammt dem verändernden Wirken des Menschengeschlechts, das jene nach 1 Hiezu: K. Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Frankfurt 1969. Ebenso: K. Lenk, Theorie der Revolution, München 1973, 12. 2 E. Rosenstock, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, Breslau 1931, 10. 3 Ebenda, 5. 4 Hiezu: K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, 3. Aufl., Stuttgart 1953, 113ff.; ebenso: M. Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1930, 95ff. Die Koppelung der als schöpferisches Menschenwerk verstandenen Geschichte mit dem Postulat der Veränderbarkeit ist für K. Löwith Säkularisat einer bereits Augustins Geschichtstheologie zugrundeliegenden Idee: "der moderne Mensch dachte eine Philosophie der Geschichte aus, indem er die theologischen Prinzipien im Sinne des Fortschritts zu einer Erfüllung säkularisierte ... " (K. Löwith, 26.) Diese Denkentwicklung, die am Revolutionsbegriff allein nicht abtesbar ist, wird ebenso als eschatologische, im Mittelalter begründete Daseinsdeutung verstanden von: E. Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959; H. Schneider, Eschatologie und Politik, in: Religion-Wissenschaft-Kultur, 23. Jg. 1972/73, II. Teil, insbes.: 64- 66.
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5. Kap.: Nachtrag zum Revolutionsbegriff
seiner Form schafft. "Revolution ist letztlich der Ausdruck der modernistischen Weltanschauung, der Glaube, daß es in der Kraft des Menschen liegt, seine Umgebung zu kontrollieren und zu verändern, und daß er dazu nicht nur die Fähigkeit, sondern auch das Recht hats." Wie der Politikbegriff kann nun auch der Revolutionsbegriff von einer moralischen und/oder technisch-instrumentellen Betrachtungsweise geprägt sein. Zur Verdeutlichung des technischen Revolutionsbegriffs soll kurz der technische Politikbegriff rekapituliert werden. Der technische Politikbegriff ist dadurch freigesetzt worden, daß Moral aus ihrer ursprünglichen Einheit mit Politik gelöst wurde. Daraus ergab sich die Möglichkeit einer Koexistenz von moralisch-abstrakter Kritik und technischem Politikbegriff. Wenn auch beides als durch eine allen Menschen gemeinsame Vernunft zusammengehalten vorgestellt wird, so bleiben sie doch ob ihrer Unvergleichbarkeit auf sich selbst verwiesen und vermögen deshalb einander nicht zu begrenzen. Das unvermittelte Nebeneinander von Sittlichkeit und .zweckrationalem Politikhandeln markiert die theoretische Ausgangslage des bürgerlichen Radikalismus. Dieser Dualismus bleibt entweder aufrecht oder aber wird a) durch eine Moralisierung, b) durch eine Instrumentalisierung von Politik einseitig zu überwinden versucht. Im Falle von b) ergibt sich eine nunmehr durchgängig technische Politikauffassung, die sich nach Kriterien optimalen Mitteleinsatzes unter der Vorgabe entsprechender Zweck- und Zielsetzungen richtet. Sowohl die utilitaristische Spielart des Liberalismus wie auch der materialistisch orientierte Sozialismus repräsentieren diese Denkhaltung. Im einen Fall gilt als übergeordneter Zweck die Summe der Individualnutzen, im anderen der Klassennutzens. Dem technischen Politikbegriff entspricht nun auf der Ebene revolutionärer Denkhaltung der technische Revolutionsbegriff. Wird der technische Revolutionsbegriff überdies auf das Blickfeld revolutionärer Machtergreifung hin eingeschränkt, so ergibt sich eine (vom Moralischen absehende) taktische und strategische Problemstellung. Diese ist zwar auch dem techni5 S. P. Huntington, Modernisierung durch Revolution, in: K. v. Beyme (Hg.), 93. s Unter die Nutzenkategorie fallen auch die neuen Zwecksetzungen wie Machterwerb resp. Machtbewahrung, Bestandserhaltung, Freiheit, formale und/oder materielle Gleichheit.- Diese Zielwerte nun stehen- im Gegensatz zum älteren Naturrecht - "infolge der von der Naturzustandslehre mit ihrem naturalistischen Rückgang auf den Egoismus des einzelnen implizierten Trennung von privat und öffentlich, von Moralität und Legalität, infolge der Entzweiung des Menschen selbst in seine gesellschaftliche Bedürfnisnatur und seine geschichtlich gebildete und existierende Sittlic~~it nicht mehr in einem integralen, ethisch fundierten Zusammenhang von Politik, Okonomie, Recht und Moral." (H. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, Berlin 1977, 20.)
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sehen Revolutions- und Politikbegriff inhärent, doch tritt sie in der Frage nach der Errichtung neuer und Übernahme alter Herrschaftspositionen durch Revolutionäre in das Zentrum politischer Überlegungen - wie am Beispiel kommunistischer Theorien der Machtergreifung und identitärer Doktrinen von Befreiungsbewegungen (strategisches Denken) noch demonstriert werden solF. Als Zwischenresümee und Ausgangslage für die folgenden Kapitel wird festgehalten: Was im klassischen Naturrecht noch als Einheit gegolten hatder umfassende Naturbegriff garantiert eine durch den Primat wahrhaften Lebens verbürgte Wesenserkenntnis -, bricht unter dem Einfluß neuzeitlicher Naturwissenschaften und ihrer auch in die Geisteswissenschaften eindringenden Methode auseinander. Die ganzheitliche Naturordnung entzweit sich in (Vernunft-)Natur des Menschen (individuell-geistige Natur) und körperlich-äußere Natur. Das natürliche Individuum als Vernunftwesen kann jetzt unabhängig von seiner und der ihn umgebenden körperlichen Natur betrachtet werden. Ein neues Vermittelndes bietet sich an: die (allen Menschen gemeinsame) Vernunft. Als Allgemeines soll sie sowohl die individuell-geistige wie auch die körperlich-äußere Natur in sich aufnehmen kön..nen. Als zugleich historisch Vermittelndes bleibt die Vernunft jedoch grundsätzlich auf ein ,.noch nicht" zurückgeworfen. Die Differenzen von Subjektwelt und Objektwelt, von moralischer Natur undkörperlicher Natur (die des menschlichen Körpers eingeschlossen) bleiben bestehen. Das menschliche und gesellschaftliche Sein hat neben seinem alten ethischen Begriff von Natur nun auch den nach dem Muster des materiellen Naturbegriffs im Sinne der Naturwissenschaften gedachten. Ethischer und technischer Gesichtspunkt sind auseinandergetreten. Es ist möglich, ganz bewußt einen der beiden Ansätze auszuwählen. Das Vernunftrecht versucht zwar die Einheit zu wahren, die wissenschaftlichen Einzeldisziplinen können jedoch aufgrund ihrer Paradigmen als methodische Abstraktionen ein besonderes Dasein führen. Moralitätsauffassung und der Problemstand technischer Umsetzung erfahrungswissenschaftlich abgesicherter (Er-)Kenntnisse stehen also in der Zeit politischer Konzentration des Bürgertums nebeneinander. Für den Bereich der Politikwissenschaften ergibt sich dadurch sowohl eine moralisierende wie auch instrumentalisierende Sichtweise von Politik. Auch im modernen Revolutionsbegriff schlägt sich dieses Nebeneinander von Moralisierung und Technisierung nieder. Im Gegensatz zum alten, noch in der englischen Revolution Verwendung findenden Begriff, wird revolutionäre Praxis in Frankreich einerseits zur moralischen Pflicht jedes Staatsbürgers (Robespierre), andererseits aber zu einem strategischen und taktischen 7
Hiezu die entsprechenden Kapitel über Lenin/Trotzki und Mao Tse-tung.
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5. Kap.: Nachtrag zum Revolutionsbegriff
Unternehmen, das seine Umsetzung nach dem Muster eines Schlachtplans erfährt (Babeuf). Viele Revolutionäre stellen sich auch für die Zeit nach der Revolution Politik als sittliches Problem vor wie auch als technisches Verfahrensmodell, in dem jeder Mensch den gesellschaftlichen Notwendigkeiten entsprechend funktional und dem Ganzen zweckdienlich eingesetzt sein würde. Es gibt Versuche, diesen in der bürgerlichen Revolution markant zutagetretenden Dualismus in die eine mögliche Richtung hin aufzuheben. Gemeint ist eine Politik, bei der der moralische Blickpunkt einem technischen resp. strategischen weicht. Dies kann sowohl auf unrevolutionäre wie auch auf revolutionäre Weise geschehen. Gedanklich schematisiert und als Moment einer Entwicklungskette betrachtet hieße das: War ehedem politisches Handeln den Gesetzen von Sittlichkeit unterworfen, treten beide Aspekte in der Neuzeit auseinander, um in der postrevolutionären Zeit des Bürgertums in eine Richtung wieder zusammengeführt werden zu können: Sittlichkeit unterliegt technisch-strategischer Verfügung und verliert damit ihren Eigenwert. Instrumentelle Imperative der Politik können an die Stelle moralischer Handlungen treten. Dies sei bloß als Möglichkeit einer Tendenz ausgesprochen. -Tatsächlich zeichnen sich bürgerliche Gesellschaften, aber auch verbürgerlichte sozialistische weiterhin auch durch moralische Inhalte aus. Die Dualität jedoch einmal aufgebrochen, vermag Bedingungen für einen Monismus zu schaffen, der die unter klassisch naturrechtliehen Vorzeichen als Primat gedachten Prinzipien der Sittlichkeit preisgibt zugunsten eines nach spezifischen Durchsetzungsregeln sich richtenden technischen Politikbegriffs. Schließt sich dem auch der Revolutionsbegriff an, so gilt analog, daß durch die duale Setzung von moralischer Pflicht und rationaler Technik eine Einschränkung von Revolution auf technisch-strategisches Handeln erst möglich wird. Revolution kann zum Selbstzweck werden. Das unterscheidet den rein strategisch gedachten Begriff von seinem bürgerlichen dualen Vorfahren. Robespierre verwendet noch moralische Kampfmittel. Lenin aber transformiert diese in die strategische Beantwortung der Machtfrage. -Darauf wird in der Folge noch einzugehen sein. Zuvor sollen jedoch noch die philosophischen Zugänge zu dem im Zeichen der bürgerlichen Revolution stehenden Legitimitätsproblem bei Kant und Hegel diskutiert werden, um im daran anschließenden Kapitel, die Querverbindung zwischen Liberalismus und Prozeß der Instrumentalisierung zu verfolgen. ·
5. Kap.: Nachtrag zum Revolutionsbegriff
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Literatur zum Fünften Kapitel Griewank, K. : Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Frankfurt 1969 Hofmann, H.: Legitimität und Rechtsgestaltung, Berlin 1977 Horkheimer, M.: Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1950 Huntington, S. P.: Modernisierung durch Revolution, in: K. v. Beyme (Hg.), Empirische Revolutionsforschung, Opladen 1973 Koselleck, R.: Aspekte des Revolutionsbegriffs, in: Neue Zürcher Zeitung, 30. September 1977 Lenk, K.: Theorie der Revolution, München 1973 Löwith, K.: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, 3. Aufl., Stuttgart 1953 Rosenstock-Huessy, E.: Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, Breslau 1931 -
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Sechstes Kapitel
Legitimitätsvorstellungen bei Kant und Hegel Der Wandel der philosophischen Begründung von Legitimitätsvorstellungen läßt sich exemplarisch an der Entwicklung des Naturbegriffs darstellen. Diese zuletzt bei Rousseau abgebrochene Gedankenlinie soll hiemit wieder aufgenommen werden. Gegenüber der alten lex naturalis, die als Teilhabe an der göttlichen Ordnung selbst Vernunft ist und richtiges und gerechtes Handeln ermöglicht, ist Hobbes' "status nature" ein Zustand, von dem sich der Mensch gerade lösen müsse. Allerdings erhält sich der Ausdruck "Natur" auch in der Bestimmung der Geistigkeit des Menschen. Die Emanzipation vom Naturzustand, als von der Vernunft geleitet, wird selbst nach dem Muster von Natur begriffen. Damit hat Natur im Vernunftrecht etwas "Zweideutiges", worauf etwa Hegel hinweist1• Den klassischen mit dem bürgerlichen Naturbegriff zu identifizieren und ihn damit mit der neuzeitlichen Vernunft in eins setzen, hieße aber Mißverständnissen Tür und Tor öffnen2. Wir haben deshalb, wenn von der naturgemäßen Vernunft des Menschen die Rede war, die sowohl bei den Alten wie auch bei den Vernunftrechtlern Natur bedeutet, nur von Vernunft gesprochen und die abstrakte Denkkonstruktion eines Naturzustandes, in der jeder einzelne ein willkürliches Leben führt, als Gegensatz zur klassischen Auffassung von Natur verstanden. An diesem Gegensatz zwischen Naturzustandstheorem und altem Naturbegriff soll festgehalten werden. Von Hobbes über Rousseau zu Kant spannt sich ein Bogen, der den Naturzustand in einer für Aristoteles undenkbaren Weise abstrakt setzt, um dadurch gerade die Notwendigkeit seiner Aufhebung zu postulieren. Für Kant, wie auch für Hobbes, erhebt sich der Staat auf der Rechtsgrundlage des Vertrags: "Der Akt, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Kontrakt, nach welchem alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit t G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 3, Sämtliche Werke, herausgegeben von H. Glockner, Stuttgart 1927, Bd. 19, 443. 2 J. Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt 1969, insbes.: 133 - 179.
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aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d.i. des Volks als Staat betrachtet (universi) sofort wieder aufzunehmen ... 3." Mit der "Idee" des Staates als im Anfang geschlossenes Vertragswerk ist hier ein denklogischer, kein historischer Ort gemeint. Der als "methodologischer Topos" 4 begriffene contrat social entspricht aber andererseits auch der kategorischen Forderung, nach der jede Handlung "recht" ist, "die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann"5. Beides, die Idee des vereinigten Willens aller (contrat social) und die Maxime a priori6, nach der die Freiheit eines jeden mit der Freiheit aller in Form eines allgemeinen Gesetzes koexistieren kann, bilden also die formalen Bestimmungen für den Staat. Seine Zwangsgewalt ergibt sich einfach dadurch, daß die Menschen aus dem Naturzustand heraustreten und darauf verzichten, sich selbst das Gesetz zu geben und darin eigener Richter zu sein7 • Der Staat bedarf also positiver Gesetze (Legalität), um seiner Aufgabe, den Bestand des Gemeinwesens zu sichern, wenn nötig auch mit Zwang nachzukommen. Freilich ist mit der Notwendigkeit positiver Gesetze noch nichts darüber ausgesagt, ob sie auch gerecht sind. Diesbezüglich müßten materiale Entscheidungen gefällt werden, die durch ihre moralische Rückbindung auf Tugendpflichten, welche sich a priori aus Prinzipien der reinen praktischen Vernunft ergeben, in den Bereich der Ethik fallen. Kant trennt demnach analytisch streng zwischen funktional-instrumenteller und ethischer Betrachtungsweise. Die Frage der Legitimität des Staates als solche wird unabhängig davon erörtert, ob der eine oder andere Staat nun gut oder schlecht sei. Allerdings runden Kant gemäß beide Gesichtspunkte zusammengenommen das Gesamtproblem ab. Ansonsten würde die Staatsauffassung innerhalb der Rechtslehre positivistisch interpretiert werden können, was ganz und gar gegen Kants Absichten wäre. In "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" verwendet Kant dieselbe Unterscheidung wie in der "Metaphysik der Sitten": "Ein rechtlichbürgerlicher (politischer) Zustand ist das Verhältnis der Menschen untereinander, so fern sie gemeinschaftlich unter öffentlichen Rechtsgeset3 I. Kant, Metaphysik der Sitten, in: Werke Vlll, Ausgabe W. Weisehedei im Suhrkarnp-Verlag, 434. 4 W. Gast, Rechtserkenntnis und Gewaltstrukturen. Metatheorie der institutionellen Wirklichkeit, Berlin 1975, 55. s I. Kant, Metaphysik der Sitten, 337. & Ebenda, 511. 7 I. Kant, ,.Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", 3. Stück, in: Werke VIII, 753.
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zen (die insgesamt Zwangsgesetze sind) stehen. Ein ethischbürgerlicher Zustand ist der, da sie unter dergleichen zwangsfreien, d.i. bloßen Tugendgesetzen vereinigt sindB." Von der Rechtslehre her läßt sich also auch ein vom "ethisch-bürgerlichen Zustand" unabhängiger Gesichtspunkt entwickeln, demnach es "jedermanns freier Willkür überlassen (wird), welchen Zweck er sich für seine Handlung setzen wolle"9. Der Staat hat seine eigene Gesetzlichkeit, er funktioniert auch, wenn sich die Menschen unmoralisch verhalten, d. h. ihrem äußerlich legalen Handeln Zwecke unterlegen, die ganz und gar als Mittel gedacht sind und nicht auch als Zweck an und für sich, wie es moralischem Handeln zukommen würde. H. Mandt hat .· diesen bloß funktionalen Gesichtspunkt etwas überspitztlO "das Programm einer politischen Technologie" genanntu, wofür sie als Beispiel folgenden Passus aus der Schrift "Zum ewigen Frieden" zitiert: "Das Problem der Staatseinrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar und lautet so: ,Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber in Geheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten.' Ein solches Problem muß auflöslich sein. Denn es ist nicht die moralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanismus der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nötigen, und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssenl2." Im Gegensatz zur "moralischen (objektiven) Zwecklehre" verwendet hier Kant Begriffe "der Naturlehre", auch "technische Zwecklehre" genannt, die er als "technische (subjektive), eigentlich pragmatische, die Regel der Klugheit in der Wahl seiner Zwecke enthaltende" Lehre umschreibtl3 . In der analytischen Trennung von praktisch-moralischer und empirischinstrumenteller Sichtweise erkennen wir die spezifisch bürgerliche Denks Ebenda. I. Kant, Metaphysik der Sitten, 511. 1o Überspitzt deshalb, weil erst die Einheit von Rechtslehre und die hier ausgeklammet:te Tugendlehre das Gesamtsystem der Metaphysik der Sitten ausmacht. Hiezu: Weiter unten und Fußnote 14. u H. Mandt, Historisch-politische Traditionselemente im politischen Denken Kants, in: Zwi Batscha (Hg.), 317. 12 I. Kant, Zum ewigen Frieden, in: Werke XI, 224. 1a I. Kant, Metaphysik der Sitten, 515. 9
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haltung, von der schon die Rede war. In der Kantschen Philosophie wird dieser Dualismus zum methodischen Prinzip erhoben. Die Unvermitteltheit zweier in sich ruhender, durch eigene Gesetzlichkeit ausgezeichneter Ansätze wird ganz bewußt angenommen. Gemäß dieser methodisch-analytischen Differenzziehung erfolgt auch die Unterteilung der "Metaphysik der Sitten" in Rechts-(und Staats-)lehre und Tugendlehre. Diese haben, um es noch einmal zu betonen, ihre Bestimmung erst in der Einheit, einer Einheit allerdings von in sich unterschiedenen, methodisch unvergleichbaren Problemlagen14. Eine dieser Problemlagen, die Kant mit dem Naturbegriff zu umschreiben versucht, drückt sich ökonomisch im Gesetz liberaler Konkurrenz aus. Kants Gesellschaftslehre enthält Prämissen, die der Eigentumsmarktgesellschaft entstammen- ähnlich wie wir dies bereits bei Hobbes und Locke feststellen konnten. Sein "Liberalismus" tritt auch dann deutlich hervor, wenn es um die Sphäre privatrechtlicher Verfügungsgewalt geht. Der Staat hat hier in erster Linie das Eigentum zu schützen. Kant betont dabei das Vorausgehen gegenseitiger Besitzansprüchel5, die durch die Konstituierung einer Rechtsordnung soweit abgesichert werden können, daß sie bloß in ihrer Form des Verhältnisses der freien Willen zueinander bestehen und sich darin anerkennen. Der Beweggrund des Willens kommt in der äußeren Form z.B. des Warenverkehrs nicht zur Geltung, "es wird nicht gefragt, ob jemand bei der Ware, die er zu seinem eigenen Handel von mir kauft, auch seinen Vorteil finden möge, oder nicht ... " 16• Vielmehr stellt sich die Frage "nur nach der Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als frei betrachtet wird, und ob durch die Handlung eines von beiden sich mit 14 Wie sehr Kant an der Einheit von politisch-rechtlichem Gemeinwesen und Sittlichkeit gelegen ist, demonstriert etwa die betonte Begriffsanalogie von "rechtlichbürgerlichem" und "ethischbürgerlichem" "Zustand" resp. negativ von "juridischem" und "ethischem" "Naturzustand". Darauf hat insbesondere J. Schwartländer hingewiesen, der überdies betont, daß für Kant die politische Gesellschaft die Voraussetzung der ethischen sei. (J. Schwartländer, Der Mensch ist Person. Kants Lehre vom Menschen, Stuttgart- Berlin- Köln- Mainz 1968, 236.)- Dieappellativ festgehaltene Einheit ist jedoch gerade in Anwendung der Kantschen Methode in sich aufgespalten. Die Grenzziehung von Legalität und Moralität läßt sich auch durch eine über Analogiebildungen wiederholt imaginierte Einheit nicht überwinden. So scheint uns Schwartländers Versuch, mit Hilfe der Analogie die Differenz zu verkleinern (ausgedrückt durch das Wörtchen "nur"), lediglich sprachlich geglückt: "Denn wie der juridische Naturzustand nur dadurch überwunden werden kann, daß er in einen ,rechtlichbürgerlichen' übergeführt wird, so muß der ethische Naturzustand zu einem ,ethischbürgerlichen' werden. Beides wird erreicht durch die Verbindung der Menschen unter öffentlichen Gesetzen; nur (Hervorhebung W. E.) daß die rechtlichbürgerliche Gemeinschaft, der politische Staat, bestimmt ist durch Rechtsgesetze, die insgesamt Zwangsgesetze sind, wogegen die ethischbürgerliche Gemeinschaft, von Kant auch ,ethischer Staat' oder ,Reich der Tugend' genannt, allein durch Tugendgesetze bestimmt sein kann, die ihrem Wesen nach keinen Zwang verstatten." (J. Schwartländer, 236f.) 15 I. Kant, Metaphysik der Sitten, 366. 16 Ebenda, 337.
12 Ernst
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der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse"1 7 • Kant erkennt also im Bereich des Rechts ein Formprinzip a priori, das von dem Prinzip moralischer Selbstbestimmung unterschieden werden muß. Durch methodische Abstraktion ergibt sich im ersten Fall eine liberale, im zweiten eine ethisch-substantielle Betrachtungsweise. Kant denkt einerseits den freien Austausch verschiedenster Güter und Ideen wie er andererseits für eine Gesinnungsethik eintritt, die nicht zulassen darf, daß selbst der beste Zweck die Mittel heiligt. Was im Rahmen einer substantiell-wertbezogenen Theorie als Widerspruch empfunden werden müßte, stellt sich für Kant als Problem zweier unterschiedlicher Ansätze, denen immer nur für sich genommen Erklärungswert zukommt. Gerade des Widerspruchs der Gesellschaft wegen hat Kant die alles entscheidende analytische Trennung der beiden Ebenen von moralischer Selbstbestimmung einerseits und staatlich garantierter Sphäre der Beliebigkeit von Interessen andererseits vorgenommen. Hätte man den Liberalismus als Ideologie uneingeschränkten Marktverkehrs und kapitalistischer Produktionsweise auf die ethische Frage hin untersucht, wäre man unter Umständen zu einer moralischen Verurteilung gelangt. Diese Vorgangsweise widerspricht allerdings der Kant'schen Denkweise. Kant denkt auf der Ebene von Recht und Staat liberal, auf der Ebene des autonomen Subjekts aber moraltheoretisch. Beide Denkweisen sind methodisch voneinander getrennt. Unversöhnbar stehen zwei theoretische Säulen nebeneinander. Auch der Verweis auf die Einheit löst nicht das Problem ihrer Inkompatibilität. Der (kognitive wie auch gesellschaftlich-reale) Dualismus hat etwas Unbefriedigendes. Regel hat dafür einen Vermittlungsversuch angeboten. Dazu greift er auf klassische Leitbilder zurück, ohne sich vom liberalistischen Gesellschaftshorizont befreien zu können. Der Standpunkt der Alten, die Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens als politische Ethik abzuhandeln, entsprach der einheitlichen Struktur von Staat und Gesellschaft. Das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft jedoch macht eine neue Theorie notwendig. Hobbes, Locke, Rousseau und Kant sind ihre Meilensteine. Auch Regel stellt sich dem Problem der Externalisierung von Gesellschaft aus Politik. Was Kant nebeneinander hat stehenlassen, versucht Regel miteinander zu vermitteln, indem er den von den Alten entlehnten SubstanzbegrifflS auch auf die liberale Ära anwendet. In dieser Zeit von - paradox formuliert - zur Substanz gewordener Substanzlosigkeit tritt das Wesen des Staates dadurch in Erscheinung, daß seine Ebenda. J. Ritter, Hegel und die Französische Revolution, in: J. Ritter, Metaphysik und Politik, 183; M. Riedel, Metaphysik und Metapolitik, Frankfurt 1975. 17
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Bürger als individuelle Glieder der Gesellschaft freigesetzt werden: Freisetzung des gesellschaftlichen, weil auf das gesonderte Dasein jedes einzelnen gerichteten Bereichs aus und durch die Staatssphäre. Regel bestätigt gewissermaßen den modernen Zustand, in dem die Mehrzahl der Menschen, aus dem Bereich der Politik ausgeklammert, privatisiert. Kant jedenfalls hat es beim Nebeneinander von Legalität und Moralität belassen. Beide Ansätze bleiben - sieht man von dem Hinweis Schwartländers auf die Analogiebildung ab - unverbunden. Im übrigen argumentiert Kant - und damit kommen wir seiner Position gegenüber der Revolution näher- auch geschichtsphilosophisch mit dem Begriff der Natur und macht die Differenz zur moralischen Betrachtungsweise deutlich. Dabei geht er zunächst von einem pessimistischen Menschenbild aus: "Unvertragsamkeit", "mißgünstig wetteifernde Eitelkeit", "nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen" gehörten zu den Naturanlagen der Menschenl9. Die Natur "will Zwietracht"20. Demgegenüber scheint die gewollte Eintracht des Menschen, die sich aus dem moralischen Gebot und der damit verbundenen Hoffnung ergibt21, nicht viel ausrichten zu können. Kant meint nun, daß gerade dieser Widerspruch, subjektiv Eintracht zu wollen, objektiv-natürlich aber Zwietracht zu säen, den Fortschritt in der Entwicklung der Menschheit ausmacht. In diesem Zusammenhang fallen die berühmten Worte von der "ungeselligen Geselligkeit der Menschen" : "Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften; weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d.i. die Entwicklung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu vereinzelnen (isolieren); weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seiner Seits zum Widerstand gegen andere geneigt ist22." Der solcherart auch auf Geschichte übertragene Naturbegriff soll also die Höherentwicklung der Zivilisation als Zusammenspiel von Kräften erläutern helfen, das sich "ohne Wissen" der historisch Handelnden vollzogen hat, d. h. als solches weder erkannt noch beabsichtigt ist. Allgemein ausgedrückt: "Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen .. .23. " Kant hat damit nicht nur das Programm einer teleologischen Geschichtsbetrachtung umrissen, sondern auch das einer Theologie von der göttlichen 19 I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke XI, 38. 2o Ebenda, 39. 21 J. Schwartländer, 250. 22 I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 37f. 23 Ebenda, 45.
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Vorsehung in der Geschichte. Der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Natur, wie sie sich im Rahmen einer bestimmten Systemlogik durchsetzt, und moralischen Absichten bleibt bestehen. Natur hat dabei insofern etwas Liberales an sich, als sie sich so oder so durchsetzt, ohne daß sie sich in konkreto eruieren, d. h. vorweg im Akt des Handeins als Zweck bestimmen ließe. Sich die menschliche Natur als menschlichen Zweck setzen und darin handeln zu können, ist also Kant gemäß ausgeschlossen. Dieser Gedanke verbietet auch, um eines höheren Geschichtszwecks willen Moralisches preiszugeben. Damit wäre ja der Gegensatz von Moral und Geschichte aufgehoben. Die geschichtsphilosophische Legitimierung von Mitteln, die, welchen Zweck auch immer heiligen sollen, ist deshalb abzulehnen2•.- Jetzt wird auch klar, warum Kant auf der moraltheoretischen Ebene unter keinen Umständen der Revolution das Wort redet. Die Anwendung revolutionärer Gewalt kann einfach deshalb schon nicht moralisch gerechtfertigt werden, weil sie nicht zuläßt, daß jeder Mensch als Zweck an sich selbst und nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für andere zu betrachten ist. Kant nähert sich aber auch von der Rechtslehre dem Revolutionsproblem und diskutiert dieses im Rahmen der traditionellen Fragestellung vom Recht auf Widerstand2 5• Um·es vorwegzunehmen: "Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats gibt es( ... ) keinen rechtmäßigen Widerstand des Volkes; denn nur durch Unterwerfung unter seinen allgemein-gesetzgebenden W~l len ist ein rechtlicher Zustand möglich .. .26." Wie bereits ausgeführt wurde, setzt für Kant die Konstitution einer Rechtsordnung die Aufgabe des Naturzustands bereits voraus. D.h. aber, daß die Entstehung des rechtlichen Zustands selbst kein Rechtsvorgang ist27 • Kant trennt hier- wie auch sonst- methodisch die Frage nach der Herkunft von der der Geltung. Wie auch immer der Übergang vom Naturzustand zum Rechtszustand historisch beurteilt werden mag, Gesetze gelten, weil siekraftbürgerlicher Verfassung rechtskräftig sind. Recht setzt stets R. Spaemann, Kants Kritik des Widerstandsrechts, in: Zwi Batscha (Hg.), 355. Ihre Beantwortung erfolgt freilich vernunftrechtlich. Die hier ausgebildete Traditionslinie ist nach einer langen Ruheperiode erst in letzter Zeit wieder aufgenommen worden. Davon zeugen die von Zwi Batscha herausgegebenen Materialien zu Kants Rechtsphilosophie. - Ansonsten wird in der Erörterung des Revolutionsproblems als Widerstandsrecht vom traditionell-(klassisch-)naturrechtlichen Ansatz ausgegangen. Gegen ein bloß auf Konsens und (soziologische) Geltung beruhendes Rechtsprinzip richtet sich etwa: U. Matz (Politik und Gewalt, Zur Theorie des demokratischen Verfassungsstaates und der Revolution, Freiburg-München 1975, 74, Fußnote); dadurch könne sowohl Unrecht als auch Naturrecht sanktioniert werden. Nur im letzteren Fall handelte es sich auch um legitimierenden Konsens und legitime Geltung. - Da sich dieser Auffassung nach ein am Ideal von Revolution orientiertes Denken nicht naturrechtlich zu legitimieren vermag, erübrigt sich ein Widerstandsrecht. 26 I. Kant, Metaphysik der Sitten, 439. 27 R. Spaemann, 348. 24
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Recht voraus. Darauf kommt es Kant an, wem'l er beispielsweise den Satz "alle Obrigkeit ist von Gott" dahingehend deutet, daß er "nicht einen Geschichtsgrund der bürgerlichen Verfassung, sondern eine Idee, als praktisches Vernunftprinzip, aussagt: der jetzt bestehenden gesetzgebenden Gewalt gehorchen zu sollen; ihr Ursprung mag sein, welcher er wolle" 28 • Deshalb sei es auch gleichgültig, "ob ursprünglich ein wirklicher Vertrag der Unterwerfung unter denselben ( ... ) als ein Faktum vorher gegangen, oder ob die Gewalt vorherging, und das Gesetz nur hinten nach gekommen sei. .. "29. Wir erinnern uns daran, die west- und mitteleuropäische Staatswerdung (nach dem Muster Frankreichs) als Akte potenzierter Gewaltanwendung beschrieben zu haben, die in der Folge ein Gewaltmonopol haben entstehen lassen, das zugleich zum Rechtsmonopol wurde. Diese (historische) Herleitung hat, wenn wir der Kantschen Methode folgen, keinerlei Auswirkungen auf die Frage der Geltung von Recht. Die Naturwüchsigkeit der Entstehung· einer Rechtsordnung ist getrennt zu sehen von der Tatsache einer bürgerlichen Verfassung, die immer schon vorausgesetzt werden muß, insofern von Recht die Rede ist. Dazu bedarf es zunächst lediglich einer Instanz, die alle Gewalt auf sich vereint (Gewaltenmonopol). Ihr Wesen ist es, diese Gewalt auch zu gebrauchen. Die allerhöchste Gewalt sei also dem Begriff nach unumschränkt und vermag dadurch erst Recht zu garantieren. Sich gegen die Staatsgewalt stellen, hieße jene Rechtsgrundsätze verletzen, die allein den Ausgangspunkt bilden können, rechtmäßiges Handeln zu ermöglichen. Mit den Worten Kants: "Der Grund der Pflicht des Volks, einen, selbst den für unerträglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen, liegt darin: daß sein Widerstand wider die höchste Gesetzgebung selbst niemals anders, als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung zernichtend gedacht werden muß. Denn, um zu demselben befugt zu sein, müßte ein öffentliches Gesetz vorhanden sein, welches diesen Widerstand des Volks erlaubte, d.i. die oberste Gesetzgebung enthielte eine Bestimmung in sich, nicht die oberste zu sein ...ao." Der Widerspruch liegt auf der Hand. Kant beendet diese Passage mit dem Hinweis, daß das Volk in seinem Kampf mit dem Souverän letztlich zum Richter in eigener Sache wird. Damit aber würde sich das Volk außerhalb jeder Rechtsordnung stellen. Zumindest für die Übergangszeit, in der das Volk den Aufstand betreibt, der alte Souverän jedoch noch nicht gestürzt ist, herrscht wieder der Naturzustand. Dem ist jedoch die Idee des Rechts entgegengesetzt. I. Kant, Metaphysik der Sitten, 438. Ebenda, 437f. ao Ebenda, 440. 2s 29
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6. Kap.: Legitimitätsvorstellungen bei Kant und Hege!
Wer die Prämissen der Kantschen Rechtslehre teilt, kann nicht umhin, auch die Ableitung der Unrechtmäßigkeit jeglichen gewaltsamen Widerstands gegen die Staatsgewalt als richtig anzuerkennen. Die Paradoxie, daß auch der empirische Umstand einer geglückten Revolution eine Verfassung zu konstituieren imstande ist, wogegen die Wortführer restaurativer Umsturzpläne genausowenig Rechtmäßigkeit beanspruchen können31 wie früher die Revolutionäre, ist für Kant bloß eine der Geschichte. Die klare Trennung der Geschichtsphilosophie von den Konstitutionsbedingungen a priori des Rechts garantieren Kant widerspruchsfreie Aussagen zum Problemkreis "Revolution"- von dem Hinweis D. Henrichs einmal abgesehen, daß Kant in Notizen aus der Zeit vor der Revolution ein Recht auf Widerstand einräumt32. (Die frühe Auffassung bezieht sich auf den englischen Parlamentarismus, der- nach Kant- das Volk und seine Gewalt repräsentiert und damit auch das Recht auf Widerstand hat. Die Verweigerung des Gehorsams dem Regenten gegenüber würde das Parlament ja aufgrund seiner gesetzlichen Gewalt betreiben, wodurch der Widerstand selbst legalisiert wäre. Zweifellos hat Kant später diesen Standpunkt revidiert.) Die rechtsphilosophische Anlehnung des Widerstandsrechts und die moralische Verurteilung der Revolution trennt Kant methodisch geflissentlich von der Frage des geschichtlichen Urteils über die Revolution. Es sei hier auf einen Passus aus "Der Streit der Fakultäten" verwiesen, worin Kant nicht die Politik der Revolutionäre beurteilt- von einem solchen Vorgehen hebt er sich explizit ab -, sondern vielmehr die "Denkungsart der Zuschauer". Betreffend die Französische Revolution betont Kant die "allgemeine und doch uneigennützige Teilnehmung der Spielenden auf einer Seite, gegen die auf der andern, selbst mit Gefahr, diese Parteilichkeit könne ihnen sehr nachteilig werden ... , so aber... einen moralischen Charakter desselben, wenigstens in der Anlage, beweiset, der das fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solches ist, so weit das Vermögen desselben für jetzt zureicht"33. Kant hebt im daran anschließenden Absatz noch einmal hervor, daß es ihm in der Einschätzung weder um die rechtliche noch moralische Rechtfertigung der handelnden Revolutionäre selbst gehe- beide könnten im Gegenteil unter keinen Umständen gegeben werden-, sondern um die Gesinnung der außerhalb des Handlungsgeschehens stehenden Betrachter. Diese hätten die mit Elend und Greueltaten angefüllte Revolution mit einer "Teilnehmung dem Wunsche nach (verfolgt), die nahe an Enthusiasmus grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann "34. 31
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Ebenda, 442. D. Henrich, Kant über die Revolution, in: Zwi Batscha (Hg.), 360. I. Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Werke XI, 357f.
6. Kap.: Legitimitätsvorstellungen bei Kant und Hegel
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Kant vermag also ins Treffen zu führen, daß im Grunde die meisten Franzosen die Revolution aus mor:alischen Motiven befürworteten. Freilich hätte dieses im vorhinein nicht ausgereicht, den Widerstand gegen die Staatsgewalt rechtlich oder moralisch zu legitimieren. Kant stellt sich vielmehr auf den Standpunkt der Geschichte und kann so im nachhinein die Brüchigkeit und Schwäche der alten Staatsgewalt feststellen. Da die oberste Gewalt der Garant der Rechtsordnung schlechthin ist und eine siegreich verlaufene Revolution gerade beweist, daß die geschlagene oberste Gewalt zu Unrecht ihren Namen trug, gilt die neue, wiederum gewaltmäßig abgesicherte Rechtskonstitution. Das Intermezzo des Naturzustands war nur nötig, weil die alte Staatsgewalt ihre Funktion nicht mehr erfüllte. Die moralisch und rechtlich nicht zu rechtfertigenden Praktiken haben eine neue Rechtsbasis geschaffen, wofür die allen einsichtige, nunmehr von Revolutionären repräsentierte höchste Gewalt bürgt. Der "Historiker" Kant hat keinen Grund die geänderten politischen Verhältnisse nicht anzuerkennen. Es gibt aber noch einen anderen Gesichtspunkt, der Kant dazu veranlaßt, die Französische Revolution zu befürworten. Kants Verurteilung des Widerstandsrechts bezieht sich auf seiJ:l.en Begriff. Interessant ist nun, daß Kant das historische Ereignis der Französischen Revolution nicht der abstrakten Form politischen Widerstands zurechnet. Für ihn ist die Verfassungsänderung eine radikale Reform, die durch den König selbst sanktioniert wurde. Demnach vollzog sich die Französische Revolution in den Bahnen der Legalität, die Kant solange gewährleistet sieht, als "eine Veränderung der ... Staatsverfassung ... nur vom Souverän selbst durch Reform, aber nicht vom Volk, mithin durch Revolution"35 betrieben werden kann. Der Deutungsversuch Kants der Französischen Revolution als Reform von oben mag abgelehnt werden. Damit ist aber bloß eine historische Meinung als verfehlt angesehen. Kant hingegen faßt die Französische Revolution als epochales Ereignis, das die Legitimitätsfrage aufwirft. Hätte Kant die Französische Revolution tatsächlich als Revolution eingeschätzt, würde er nicht gezögert haben, sie zu mißbilligen36. In beiden Fällen besagt die geschichtliche Beurteilung jedoch nicht, ob Kant nun mit seiner Rechts- und Tugendlehre recht hat. Seine duale Denk34
35
Ebenda, 358.
I. Kant, Metaphysik der Sitten, 441.
36 Die formale Hinrichtung Ludwigs XVI. hat Kant mit Schaudern erfüllt und sie mit der Sünde verglichen, "welche weder in dieser noch in jener Welt vergeben werden kann". (Metaphysik der Sitten, 441, Fußnote.) "Der Grund des Schauderhaften, bei dem Gedanken von der förmlichen Hinrichtung eines Monarchen durch sein Volk, ist also der, daß der Mord nur als Ausnahme von der Regel, welche dieses sich zur Maxime machte, die Hinrichtung aber als eine völlige Umkehrung der Prinzipien des Verhältnisses zwischen Souverän und Volk (dieses, was sein Dasein nur der Gesetzgebung des ersteren zu verdanken hat, zum Herrscher über jenen zu machen) gedacht werden muß, und so die Gewalttätigkeit mit dreuster Stirn und nach Grundsätzen über das heiligste Recht erhoben wird ... " (442, Fußnote.)
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weise verhindert im Grunde eine Kritik, weil sie unter dem Gesichtspunkt gegensätzlicher Aspekte der Sache gerecht zu werden versucht. Beides, sowohl Moral als auch ein auf Geschichte und Recht sich beziehender Naturbegriff, soll den Fortschritt in der Entwicklung der Menschheit bestimmen. Die Natur jedoch erreicht ihr Ziel gewissermaßen hinter dem Rücken der Akteure. Ihr gehören auch Revolutionen zu, die von der guten Absicht der Revolutionäre gänzlich unabhängig in die Richtung treiben, die ihnen die Natur vorschreibt. Damit hat sich Kant freilich alle Möglichkeiten der Beurteilung vorbehalten, was sowohl Stärke als auch Schwäche seiner Methode ausmacht. Wir stimmen hier nicht mit H. Mandts These überein, daß Kant in der Nachfolge von Descartes' und Hobbes' Methodologie der Erkenntnisgewißheit der praktischen Vernunft aus Gründen ihrer Erfahrungsnähe mißtraut. Der "Empirismus" der praktischen Philosophie ist Kant keineswegs so suspekt, als daß ihm (Kant) der "Empirist" Aristoteles vorzuziehen wäre37 • Worin wir aber Mandt folgen, ist die Beschreibung der Kantschen Methode. Darin drückt sich ein am abstrakten Wissenschaftsideal, insbesondere der mathematischen Naturwissenschaft, orientiertes Verfahren aus, das zwar von Erfahrungstatsachen ausgehend zu einer Begrifflichkeit vordringt, die jedoch nicht durch jene erst konstituiert ist. Die Kritik der theoretischen Vernunft besagt, daß zwischen Erfahrung und begriffenem Sinn (Wesen) unterschieden werden muß. Von der Erfahrung abstrahieren meint nicht, sie beiseite schieben. Vielmehr setzt sie die Begriffe a priori erst frei. Das Differenzierungsverfahren soll also die Idee in ihrer reinen Form gewissermaßen extrahieren, wozu das empirische Material in jedem Fall vorausgesetzt ist. Idee und Welt der Erscheinung bedingen einander, gehen jedoch nicht ineinander auf. Kant wendet nun seine formale Methode auch auf den Bereich der praktischen Philosophie an, indem "aus bestimmten politischen Zentralbegriffen als Begriffen, deren Inhalte gedanklich zum Extrem ihrer Möglichkeiten vorangetrieben werden, politische Schlußfolgerungen gezogen werden. Dies erfolgt in Abstraktion sowohl von den wechselnden politischen Inhalten bzw. den Modifikationen, die ein historisch-politischer Begriff in wechselnden politischen Lagen erfährt, als auch von dem politischen Kontext des gerade zur Entscheidung anstehenden Problems"38. Der praktische Rigorismus, der sich aus dieser Methode zwangsweise ergibt, schlägt sich beispielsweise in der Rechtslehre als zu jeder Zeit und unter allen Umständen abzulehnendes Recht auf Widerstand nieder. Auf den Bereich der Tugendlehre übertragen, folgt aus der Anwendung dieses Formalismus ein moralischer Rigorismus. Kant versucht hier aus Begriffen 37
38
H. Mandt, 304f. Ebenda, 312.
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allein die Möglichkeit von Entscheidungen nachzuweisen. Tatsächlich aber bedürfte er zu einer Entscheidungsfindung gerade des historisch-empirischen Materials, wovon Kant um des Wahrheitsgehalts seiner Theoriewillen abstrahiert. Wie schon erwähnt, steht die Beurteilung historischer Abläufe auf einem anderen Blatt. Hier, wie übrigens auch im Recht, findet ein Naturbegriff Verwendung, der für eine Entwicklung steht, die über die moralischen Absichten der Menschen allein nicht erklärbar ist. Der Preis dieses auf verschiedenen Ebenen ansetzenden Denkverfahrens, worin unterschiedliche Gesichtspunkte- der Vorbeugung von Verkürzungen wegen- sich gleichsam gegenseitig in Schranken halten, ist hoch. Die abstrakte Region eines als bloß auf die Form bedachten Denkprinzips läßt keine Entscheidungshilfe für konkrete Lebenspraxis mehr zu, der alle Philosophie dienen sollte. Das moralisch auf sich selbst zurückgeworfene Subjekt ist auch bei Kant Ausfluß liberalistischer Ideologie. Dazu gesellt sich noch die legale Rechtskonstruktion, die auch das als allgemeines Gesetz, wenn auch der Natur entlehntes, begreifen läßt, was von den moralischen Absichten der Menschen unabhängig gilt, ja diesen sogar zuwiderläuft. Genauso verhält es sich mit der Geschichtsbetrachtung. Eine Beurteilung des einen jeweils unter dem Aspekt des anderen ist durch diese Methode ausgeschlossen. Kant präsentiert eine Theorie, die zwar allen Bereichen der Lebenswelt formal gerecht zu werden versucht, gerade deshalb aber ihre Vermittlung untereinander ausklammert. Wie Säulen stehen die zu unterscheidenden Problemfelder nebeneinander. Keine Verbindungslinie zieht sich zwischen diesen hindurch. Für den Bereich von Staat und Gesellschaft ergibt sich daher eine unüberbrückbare Kluft zwischen "Natur" im Sinne der Naturwissenschaften gedachten, Eigentum und private Verfügungsgewalt einschließenden bürgerlichen Produktions- und Verkehrsformen einerseits und einer nach wie vor naturrrechtlich legitimierten, die Moralität der einzelnen voraussetzenden Staatsidee andererseits. Beides ist bei Kant methodisch voneinander geschieden und entspricht der faktischen Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Bereichs aus der Sphäre der Politik, wie dies im Übergang zur Neuzeit sich abzeichnet und in der Moderne endgültig wird. Kant erweist sich damit als bürgerlicher Denker der Revolutionszeit. Er ist sowohl dem liberalen Gesellschaftsbild verpflichtet, soweit es sich um dessen einer Eigentumsmarktgesellschaft inhärenten Regelungszusammenhang handelt -nicht aber einem Liberalismus des Geistes -, als auch einer das autonome Individuum berücksichtigenden moralischen Betrachtungsweise. - Beides haben wir bereits in der französischen Aufklärung als ein Moment politischen Erwachens vorgefunden. Bei Kant findet dieser bürgerlich-revolutionäre Dualismus seinen vollendeten theoretischen Ausdruck. Dadurch, daß er bereits eine Methode in Anwendung bringt, die ohne nach-
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trägliehe Vermittlung formale Unterscheidungen vorzunehmen gezwungen ist, reproduziert er auf theoretisch-abstrakter Ebene, was die Struktur der Gesellschaft und ihre Legitimitätserfordernisse bereits in sich bergen. Das Nebeneinander von liberalem Positivismus und Moralismus, das bis in die Gegenwart hinein eine Rolle spielt, bildet die ideologische Grundlage des revolutionären Bürgertums. Daß diese Denkkonstruktion zwiespältig ist, wurde bereits gezeigt. Kant repräsentiert hier seinerseits diese Ambivalenz, die sich in den unterschiedlichsten Zugängen zur Revolutionsbetrachtung und ihren Urteilen manifestiert. Das Außerordentliche seiner Leistung besteht jedoch darin, daß seine Methode die bürgerliche Gesellschaft gar nicht anders denken läßt, als sie ihrer materiellen und ideellen Struktur nach verfaßt ist. Die gesellschaftliche Sphäre bildet ja tatsächlich unabhängig von den moralischen Absichten ihrer Mitglieder und dem Staat eine Eigenexistenz. Ebenso verstehen sich die bürgerlichen Revolutionäre auch faktisch als moralisch. Regel empfindet die strukturellen Differenzen der bürgerlichen Gesellschaft, der bei Kant die analytisch-abstrakten entsprechen, als unbefriedi- · gend. Sein ideeller Vermittlungsversuch soll auch substantiell für vernünftig erklären, was Kant bloß der Form nach rechtfertigt. Dabei hat Regel auf die antike Theorie (von der Politik) zurückgreifen müssen, der ein zur Moderne gänzlich differenter gesellschaftlicher Strukturkern entsprach. So ist in der Übertragung traditioneller Elemente von Politikauffassung auf die bürgerliche Gesellschaft der Moral zuviel Ehre angediehen worden. Regel vermutet zurecht, daß eine strukturellliberale Gesellschaft langfristig mit Prinzipien der Moralität in Widerspruch geraten muß. Deshalb sein Versuch die Sittlichkeit des Staatsganzen umso mehr hervortreten zu lassen. Regel räumt der Veränderung individuellen und kollektiven Bewußtseins weitaus mehr Chancen ein, die gesellschaftliche Umwelt zu formen, als tatsächlich umgekehrt die Struktur liberaler Gesellschaft das Bewußtsein veränderte. Der Bruch zwischen einer auf Einzelinteressen fußenden liberalen Rechtsordnung und den Moralitätsforderungen traditioneller Philosophie ist auch durch ihn nicht aufgehoben worden. Im Grunde schwehlt dieser Konflikt noch heute. Jedoch häufen sich die Beispiele für eine (mögliche) Tendenz, daß interessensbedingte Ansprüche, die Gesellschaft nach technischen Imperativen zu lenken, sich auf Kosten moralisierender Betrachtungsweise durchsetzen. Utilitarismus, Pragmatismus, Positivismus und Technokratie beginnen im ideologischen Bereich traditionell ethische Sinnentwürfe abzulösen. Die Epoche der bürgerlichen Revolution, insbesondere ihre Vertretung im Idealismus, besteht noch auf beides: FürKantergibt sich aus methodischen Gründen das Nebeneinander von Instrumentellem und Moralischem, Regel sucht nach ihrer Ganzheit und Vermittlung.
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Es wurde bereits hervorzuheben versucht: Das radikale Bürgerturn entwickelt seine liberal-revolutionären Vorstellungen gemäß der bereits vollzogenen Trennung von Staat und Gesellschaft. Der Bruch mit der überlieferten Naturrechtstheorie ist ideelles Äquivalent dieser materiellen Differenz. Wie kaum ein anderer vor ihm hat Hegel dieser Tatsache Tribut gezollt und den Zusammenhang zwischen Revolution und "bürgerlicher Gesellschaft" betont. Ist das alte Naturrecht von der Identität von Staat und Gesellschaft ausgegangen, weil das politische Leben selbst die herrschaftlich-häusliche bzw. ständische Sozietät miteinschloß, sieht Regel den modernen Staat einer von diesem freigesetzten Gesellschaft gegenübergestellt. Der ursprünglich (staats-)politische Bürger ist zum privatisierenden Bürger der bürgerlichen Gesellschaft geworden. Vom Subjekt her gesprochen liegt darin die Differenz voncitoyenund bourgeois. Der Begriff "bürgerlich" ist damit von "politisch" abgetrennt, tendenziell entpolitisiert worden. Regel hat mit dieser Entwicklung, durch die der "politische Staat" zum "bloßen Not- und Verstandesstaat" reduziert wird, nicht vorlieb nehmen wollen. Seine Kritik setzt die genaue Kenntnis des Freisetzungsprozesses der Gesellschaft voraus. Die Signatur der Zeit, die darin liegt, daß der Staat durch die Ausgliederung der Gesellschaft den Bürger zum Privatsubjekt macht, hat Regel als Substanzlosigkeit zu begreifen versucht: "Die Besonderheit für sich, einerseits als sich nach allen Seiten auslassende Befriedigung ihrer Bedürfnisse, zufälliger Willkür und subjektiven Beliebens, zerstört in ihren Genüssen sich selbst und ihren substantiellen Begriff .. .a9." Wenn Regel den Staat als "die selbstbewußte sittliche Substanz" definiert4o, so argumentiert er auf einer Ebene, die durch das wirkliche Selbstverständnis des nunmehr dominierenden Gesellschaftssubjekts gar nicht erreicht wird. Regel schreibt selbst für den "bourgeois"- nicht ohne Ironie -, daß dieser "auf dem Standpunkte der Bedürfnisse" stünde und darin "das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch nennt" 41 , sei. Die eigentlich politische Substanz des Bourgeois liegt demnach darin, ihrer verlustig gegangen zu sein. Der ins Private abgerückte Bürger ist sich selbst Zweck genug. Seine Partikularbedürfnisse ergeben sich aus "Naturnotwendigkeit und Willkür"42. Andererseits steht die besondere Person in Beziehung zu anderen Privatsubjekten, wodurch jeder durch den anderen erst in den Genuß möglicher Bedürfnisbefriedigung gelangt. Regel hat dieses Prinzip "die Form der Allgemeinheit" genannt4a. Der liberale Tauschverkehr ist die 39 G. W. F. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7, Frankfurt 1970, § 185, 341. •o G. W. F. Hege!, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Werke 10, § 535, 330. 41 G. W. F. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 190, 348. 42 Ebenda, § 182, 3.39. 43 Ebenda.
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materielle Bedingung für ein der Substanz nach substanzloses bürgerliches Privatsubjekt. Ganz in kantischer Diktion ist eine Passage aus dem Zusatz des § 182 der "Rechtsphilosophie" gehalten. Dort heißt es bezüglich der Form liberalen Regelungszusammenhangs zwischen Einzelnem und Allgemeinem: "In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen. Aber der besondere Zweck gibt sich durch die Beziehung auf andere die Form der Allgemeinheit und befriedigt sich, indem er zugleich das Wohl des anderen mit befriedigt44." Würde man bei diesem Zitat stehenbleiben, könnte Hegel als Liberaler scheinen. Die liberale Gesellschaft ist hier derart prägnant charakterisiert, als hätte das Wirtschafts- resp. Sozialmodell Mandevilles, Smiths oder Benthams Pate gestanden. Im Kapitel über das "System der Bedürfnisse" nennt Hegel sogar explizit die Namen Smith, Say und Ricardo. Bereits in den Jenenser Vorlesungen von 1805/06 ist Hegel über die Auswirkungen eines die Sozietät ausgliedernden politischen Systems auf den Bürger im Bilde. Die bürgerliche Gesellschaft sei durch Regeln des privaten Rechtsverkehrs zusammengehalten, wodurch sich jedes Rechtssubjekt wohl oder übel zum Bourgeois entwickle. In den viel später erschienenen "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" geht Hegel sogar auf den partikularen Modus der Fabriksarbeit ein, der vom Allgemeinen wegführe und in Isolation einmünde. Eben dies sei "bürgerliche Freiheit" 45. Ebenso wie Kant will sich auch Hegel mit dem liberalen Freiheitsbegriff nicht zufrieden geben. Kant glaubt, mittels der methodischen Trennung von instrumenteller Betrachtungsweise hinsichtlich der bürgerlichen Gesellschaft einerseits und naturrechtlicher Legitimation einer die Moralität des Individuums voraussetzenden Staatsidee andererseits die rein liberale Auffassung überwunden zu haben. Hegel wiederum dechiffriert diesen Dualismus als unversöhnt gebliebenen Gegensatz der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Sein Begriff von Freiheit bleibt nicht beim individuellen (im Sinne der Kantschen Moralität) stehen, sondern verlangt eine die Positivität von Gesetzen einschließende, im Rahmen des Staatsganzen objektiv gewordene Freiheit. Erst der Staat ist "die Wirklichkeit der konkreten Freiheit". Hier erfahren die besonderen Interessen der einzelnen ihre rechtliche Anerkennung, indem sie "durch sich selbst in das Interesse des Allgemeinen teils übergehen, teils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen u Ebenda, 339f. M. Riedel, Hegels Begriff der "Bürgerlichen Gesellschaft" und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs, in: M. Riedel (Hg.), 258 und 259. 45
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substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe als ihren Endzweck tätig sind ... "46. Kant ist, wie bereits ausgeführt, in seiner liberalen Betrachtungsweis.e sogar so weit gegangen, selbst einem Volk von Teufeln die Fähigkeit zu einer staatlichen Gemeinschaft zuzusprechen. Dies gelingt ihm im Bereich praktischer Philosophie über die methodische Trennung von Rechts- und Pflichtenlehre, Legalität und Moralität. Hegel hingegen setzt bereits, die Differenzen vermittelnd, ganzheitlich an und gelangt zu zwei unterschiedlichen Bedeutungen von "Moralität": Moralität im Sinne autonomer, sich selbst verantwortlicher und aus Handlungspraxis sich motivierender Entscheidungsgewalt des Individuums und "Sittlichkeit" im Sinne notwendiger Positivität einer Institutionen bedürftiger, in Gemeinschaft sich verwirklichender Freiheit. Im Grunde hat Hegel damit den alten ethischen Topos wieder aufgenommen, daß die Idee des Guten nur in Hinwendung zur "koinonia" (lat.: societas, communitas) Wirklichkeit erlangt. Hegels Kritik am Liberalismus speist sich also aus der antiken Tradition des Zusammenhangs von individueller Selbstbestimmung und ihrer Verwirklichung in der Gemeinschaft. Von hier aus läßt sich Hegels Rechts- und Morallehre der beiden ersten Teile der Rechtsphilosophie sehr leicht als methodische Abstraktion erkennen. Darin wird nämlich - der Kantschen Denkungsart verpflichtet, die der realen (bürgerlichen) Struktur der Loslösung (Trennung) des Gesellschaftlichen vom Politischen entspricht - gerade davon abgesehen, daß das Autonomieprinzip in der Rechtslehre und die subjektive Moralität in der Ethik ihre Wahrheit erst in der Fülle sozialer Beziehungen in der Gemeinschaft haben. Tatsächlich trennt Hegel beide Moralbegriffe, um sie später wieder zusammenzuführen und auf höherer Ebene in einem "System der Sittlichkeit" aufzuheben. Indem Hegel der antiken politischen Philosophie der neuzeitlichen Staatstheorie gegenüber den Vorrang einräumt47 , eröffnet er die Möglichkeit, den über den Gegensatz von Legalität und Moralität gedachten Konflikt zu überwinden. Eine Harmonisierung zwischen Partikularinteresse und Gemeinwohl glaubt Hegel deshalb annehmen zu können, weil das Individuum des Allgemeinen als objektiven Geistes bedarf, um sich selbst eine Bestimmung zu geben. Das besondere Selbstbewußtsein der einzelnen wird gerade im Staat zur Allgemeinheit erhoben, ohne ihn ist es nichts. Deshalb glaubt auch Hegel, daß der Staat "das an und für sich Vernünftige"48 ist. Erst in dieser substantiellen Einheit käme die Freiheit zu ihrem höchsten G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts,§ 260, 406f. K.-H. Ilting, Die Struktur der Hegeischen Rechtsphilosophie, in: M. Riedel (Hg.), 62. 48 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258, 399. 4&
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Recht. Von dieser Position ausgehend entwickelt Hegelauch die Theorie der Staatsraison; denn wenn der Staat als "die Wirklichkeit des substantiellen Willens", als "absoluter Staatszweck" zu denken ist, dann hat in der Tat "dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen ( ... ),deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein"49. Erst die Vereinigung des Menschen mit den anderen garantiert ihm ein seinem Wesen zukommendes Leben: "Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, allgemeines Leben zu führen; ihre weitere besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkt und Resultate50." Durch den Verweis auf das Angewiesensein der Individuen auf ihren Zusammenhalt in einem höheren Ganzen, dem Staat, glaubt Hegel, "die auf innere Moralität beschränkte Pflicht aus der formellen Unbestimmtheit und Abstraktheit des im Sollen perennierenden, noch leeren Guten "5 1 befreit zu haben. Die Positivität des Staates - und das heißt jedes konkret existierenden Staates - besteht nach Hegel darin, daß Gesinnung und Moralität der einzelnen ihre Fähigkeit voraussetzen, "das Allgemeine zur eigenen Sache zu machen"52. Das Besondere bedarf des Allgemeinen zu seiner Verwirklichung. Wie auch immer man die Regelsehe Herleitung der Einheit von Individuum und Staat einschätzt, Hegel hat mit dieser Anleihe bei der antiken Politikauffassung jedenfalls den Liberalismus kritisieren geholfen, selbst in der besonderen Form, wie er auch von Kant innerhalb der Rechtslehre vertreten wird. Hegel steht gleichsam gegen den Strom und vollendet die neuzeitliche Staatsdoktrin, die mit Hobbes beginnt und bei Rousseau eine identitäre Lösung erfährt, indem er sie mit der traditionellen versöhnt. Seit Hobbes ist der Ausdifferenzierungsprozeß von Staat und Gesellschaft nun schon im Gange. Die auseinanderstrebenden Partikularinteressen, die sich aus dem Gegensatz materieller Entwicklung von Kaufmanns- und Gewerbekapital, schließlich des Industriekapitals zur feudalen Subsistenzwirtschaft und zum Staat ergeben, stellen die alte Legitimität in Frage. Die aus Philosophie sich emanzipierenden naturwissenschaftlichen Disziplinen tragen das ihrige dazu bei, die traditionelle naturrechtliche Denkweise zu entkräften. Der Umbruch zum Vernunftrecht markiert jenen historischen Abschnitt, in dem eine neue, den Staat stärkende Politikanschauung fällig wird. Langfristig gesehen können jedoch weder Hobbes, noch Rousseau oder 49
5o 51 52
Ebenda·. Ebenda. J. Ritter, Moralität und Sittlichkeit, in: M. Riedel (Hg.), 236. Ebenda, 237.
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gar Hegel - der letzte große affinnative Staatsdenker - durch den Staat in seiner Funktion bestärkende Denkkonstruktionen der Tendenz zu immer mehr Gesellschaft und damit zur Entpolitisierung beikommen. Der materielle Liberalisierungsprozeß steht dem im Weg. Hegel steht am Ende einer großen Denkbewegung, die dem Befreiungskampf des Individuums durch und mittels der Gesellschaft (die eine von Politik unterschiedene, auf der Struktur privatrechtlicher Verkehrsfonnen aufbauende Sphäre bildet) zwar Rechnung trägt, daraus jedoch gerade die Notwendigkeit einer dem Staat zukommenden spezifischen Qualität abliest. Die Manifestationen Vielfältigster Klassenkämpfe, die samt und sonders als Artikulation von Partikularinteressen angesehen werden, sollten - dieser Politikauffassung nach - durch einen Staat hannonisiert werden, der eben darin als Organ und Garant des Gemeinwohls sein Wesen habesa. Hegel hat in der Nachfolge von Kant nochmalig den Schritt unternommen, die politische Gewalt mit Hilfe einer philosophischen Letztbegründung zu legitimieren. Dem Zug der Zeit sich entgegenstellend beschwört er die substantielle Sittlichkeit. Darin, daß die materiellen Verhältnisse einer auf den Eigennutzen jedes einzelnen bauenden Eigentumsmarktgesellschaft längst über die Nonnen traditioneller und idealistischer Ethik hinweggehen, sieht er eine zur Substanzlosigkeit neigende Entwicklung. Der auf der Höhe bürgerlicher Theorie stehende Versuch Kants, mittels methodisch unterschiedener Abstraktionszugänge subjektive Moralität neben liberaler Rechtsordnung zu denken, hat demgegenüber die realistischere Perspektive umrissen. Denn das Bürgertum bedient sich tatsächlich bis auf den heutigen Tag moralischer Beurteilungsverfahren. Daneben scheint der technisch-instrumentelle resp. strategische Gesichtspunkt immer bedeutsamer zu werden. Der Bruch zwischen beiden kennzeichnet weiterhin die praktischen Auseinandersetzungen. Hegels System der Sittlichkeit, das freilich seiner metaphysischen Grundlegung nach auch dann noch gilt, wenn kein Mensch mehr sein besonderes Selbstbewußtsein in einem Staatsgefüge aufgehoben glaubt, verliert die materielle Struktur aus den Augen, der es korrespondiert. Die deutschen Verhältnisse, welche dieses Denken noch ennöglichen, hinken zu diesem Zeitpunkt den liberalen Bedingungen industriell fortgeschrittener Staaten nach. Nur so ist es zu verstesa Ebenso L. von Stein, für den sich nur die Gesellschaft aus Interessen zusammensetzt. Das Prinzip des Staates sei dem entgegengesetzt: "Während der Staat die Erreichung der menschlichen Bestimmung durch die Einheit will, setzt die Gesellschaft dieselben durch den einzelnen." (L. von Stein, Geschichte der sozialen Bewegungen in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, herausgegeben von G. Salomon, München 1921, Bd. I, in: E. Forsthoff (Hg.), Lorenz von Stein. Gesellschaft - Staat - Recht, Frankfurt- Berlin- Wien 1972, 42.)- E. R. Huber hat die Konstruktion L. von Steins in einem Satz zusammengefaßt: "Während das Prinzip des Staats die Idee ist, ist das Prinzip der Gesellschaft das Interesse." (E. R. Huber, Lorenz v. Stein und die Grundlegung der Idee des Sozialstaats, in: E. Forsthoff (Hg.), 497.)
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hen, daß Regels Rechtsphilosophie in Deutschland zu einer Zeit Wurzeln treiben kann, in der im englischen Liberalismus die ursprüngliche und weiterbestehende Dominanz des Staates und seines Einflusses auf die Gesellschaft kritisiert wird54, Die antietatistischen Neigungen der Folgezeit entsprechen der dualistischen Struktur bürgerlicher Gesellschaft im Gegensatz zu den traditionellen Staatsauffassungen, die nach wie vor die Identität von Staat und Gesellschaft unterstellen. Liberalismus und Sozialismus, die wir in der Theorie als Strukturkerne einander entgegengesetzter Gesellschaftsmodelle verstehen wollen, setzen sich tendenziell immer mehr durch. Beide richten sich, wenn auch aus unterschiedlichen Beurteilungsgründen, gegen den "alten" Staat. Unterscheidet man radikal-ethisches von liberal-utilitaristischem Bürgertum und ethischen von materialistisch inspiriertem Sozialismus, so ergibt sich eine Nahtstelle zwischen liberal-bürgerlicher und materialistischsozialistischer Einstellung nicht nur bezüglich der Kampfstellung gegenüber der alten Staatsmacht, sondern auch in dem selbst erhobenen Anspruch des Verzichtes auf eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen55. Liberaler Utilitarismus und die Reduktion von Werten auf unterschiedliche Klassenmoralen durch den Sozialismus versuchen das traditionelllegitimierte Normengefüge aus den Angeln zu heben. In beiden Fällen, Staatsauffassung und Sittlichkeit, erfolgt die Betrachtungsweise in einer von Regel abweichenden Weise. Die Differenz von "sittlichem Staat" und "bloßen Not- und Verstandesstaat" wird zugunsten letzterem eingeebnet. Sicherlich hätte Regel auch den Anspruch auf Entsubstantialisierung noch als eine besondere Substanz gesellschaftlicher Entwicklung begreifen und damit seinen Systementwurf bestätigt finden können. Doch das alleräußerste Extrem seiner Denkkonstruktion, das ein in der Einbindung liberaler Gesellschaftsstruktur allgemein gewordener, entsittlichter Mensch hätte heißen müssen, widerspricht den idealistischen und moralischen Prämissen, die den nicht zu hinterschreitenden Ausgangspunkt Regelsehen Philosophierens bilden.
Literatur zum Sechsten Kapitel Batscha, Z. (Hg.): Materialien zu Kants Recht:;;philosophie, Frankfurt 1976 Forsthoff, E. (Hg.): Lorenz von Stein. Gesellschaft- Staat- Recht, Frankfurt- Ber-
lin- Wien 1972
54 Dies schließt selbstverständlich die Fortsetzung konservativer Staatsbetrachtungen nicht aus. 55 Betont werden soll in dieser und den weiteren Feststellungen, daß es solche Ansprüche gibt, nicht, ob sie zu recht bestehen.
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Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 111, Werke 10, Frankfurt 1970
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Zum ewigen Frieden, in: Werke XI, ebenda
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13 Ernst
Siebentes Kapitel
John Stuart Mill und der Liberalismus Mit den revolutionären Stürmen des 19. Jahrhunderts, welche die Durchsetzung nationaler und demokratischer Interessen zum Ziel haben, wirkt auch der Prozeß politischer Aufklärung fort. Die mit dem Sieg über Napoleon einsetzende Restaurationsperiode, zu der sich die in der "Heiligen Allianz" vertretenen neoabsolutistischen Mächte Rußland, Preußen und Österreich bekennen, impliziert zwar eine Anknüpfung an die vorrevolutionäre Gedankenwelt, doch lassen sich die revolutionären Ideen des 18. Jahrhunderts nicht mehr zurücknehmen. Die Julirevolution von 1830 in Paris, die Louis Philippe von Orleans mit Hilfe des gebildeten und besitzenden Bürgertums an die Macht gelangen läßt, hat Aufstände in Belgien, Portugal, Spanien, Italien, Polen und Deutschland im Gefolge. Im Revolutionsjahr 1848 schließlich wenden sich die neuen Volkskräfte nicht nur gegen die alten Mächte wie Fürsten- und Adelsvorherrschaft, sondern wie in Frankreich auch schon gegen das Besitzbürgertum und dessen Kapitalismus. Ein neuer Klassenkonflikt wird sichtbar, umso mehr als die Besitzenden wie auch die Bauern aus Angst vor dem politischen Erwachen der unteren Schichten Hilfe bei der Staatsmacht suchen. Die Etablierung der Zweiten Französischen Republik1 mit ihren demokratischen und sozialen Neuerungen (Einführung des allgemeinen MännerWahlrechts, Errichtung von Nationalwerkstätten zur Schaffung von Arbeit für jedermann) ist nur kurzes Intermezzo. Die Bestrebungen revolutionärer proletarischer Bevölkerungsgruppen werden noch im Juni desselben Jahres blutig eingedämmt, die Nationalwerkstätten geschlossen. Der im Dezember 1848 durch Volkswahl zum Präsidenten gewählte Prinz Louis Napoleon verspricht, das besitzbürgerlich geschaffene Eigentum zu schützen und den nationalen Wünschen des Volkes nachzukommen. Sein Ende 1851 inszenierter Staatsstreich ist das Vorspiel für das 1852 reetablierte Kaisertum. In Form einer plebiszitären Diktatur, die sich zunehmend auch zu liberalen und sozialen Schritten gezwungen sieht, regiert Louis Napoleon als Napoleon III. bis 1870. 1 Einen allgemeinen Abriß der französischen Geschichte liefern: P. R. Rohden I H.-0. Sieburg, Politische Geschichte Frankreichs, Mannheim 1959.
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Die deutsche Revolution von 1848 verbindet sich mit dem Streben nach der deutschen Einigung. Auch hier treten im Verlauf der Revolution liberales Bürgertum und (das im Verhältnis zu Frankreich und England noch schwach entwickelte) "Proletariat" auseinander. Die 1850 in Preußen erlassene reaktionäre Verfassung, die bis 1918 in Kraft ist, räumt dem König auch weiterhin eine Stellung ein, die die Exekutive von seinem Vertrauen und nicht von dem der Volksvertretung abhängig macht. Der König ist Oberbefehlshaber der Armee, schließt die auswärtigen Verträge und beruft die Minister seines Vertrauens. Die Volksvertretung selber teilt sich (seit 1854) in ein mehrheitlich aus grundbesitzendem Adel bestehendes Herrenhaus und in ein Abgeordnetenhaus, dem durch ein nach der Steuerleistung abgestuftes "Dreiklassenwahlrecht" eine Mehrheit des Besitzbürgertums gesichert ist2. Der preußische Militär- und Polizeistaat (mit Bevorzugung des Adels) führt so zur desintegrativen Entwicklung einer seit den 60er Jahren stark anwachsenden Arbeiterbewegung. Ihr linker Flügel zeichnet sich durch eine antietatistische Haltung aus, die sich zum Teil mit "internationalistischer" Gesinnung verbindet. Gleichzeitig aber hält die deutsche Sozialdemokratie an den liberalen Grundrechten fest und kämpft für ihre Verwirklichung. Die Vorenthaltung politischer wie auch sozialer R,echte machen es der Arbeiterbewegung wie vor ihr auch dem Bürgertum unmöglich, sich "programmgemäß" durchzusetzen. Ganz allgemein gilt nämlich: Die Revolution, zu der sie sich gezwungen sehen, macht strategische und taktische Überlegungen notwendig, die mit der "Idee", um deren Verwirklichung sich die Revolutionäre gerade bemühen, in Widerspruch geraten. So ergibt sich das Paradox, daß beispielsweise antietatistische Theorien, die die Staatsgewalt grundsätzlich oder aber ihres Ausmaßes wegen kritisieren, sie zu ihrer Verstärkung herausfordern, für den Fall ihrer Überwindung aber an ein Prinzip denken, das ihr neuerliches Aufkommen verhinderta. Beides läuft darauf 2 Hiezu: F. Henning, Frühgeschichte des deutschen Liberalismus, in: Geschichte des deutschen Liberalismus, Köln und Opladen 1966. 3 Die Absicherung der Revolution und damit ihre Inschutznahme auch gegenüber weitergehenden revolutionären Bestrebungen wird in der revolutionstheoretischen Literatur unter dem Begriff "Thermidor" diskutiert. Hiezu: W. W. Ernst, Zur Logik der Revolution, in: W. W. Ernst (Hg.).- R. C. Tucker (The Mandan Revolutionary ldea, London 1970) spricht im selben Wortsinn von "deradicalization" (p. 180).- Die bolschewistischen Fraktionskämpfe in der Zeit der Revolution demonstrieren die Schwierigkeit, dem revolutionären Prozeß selbst Einsichten abzugewinnen, um gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Dazu: Ch. Bettelheim, Class struggles in the USSR. First period: 1917 - 1923, New York 1976.Nach der Machtübernahme durch die Revolutionäre hängt es immer von der objektiven oder auch eingebildeten Gefahr konterrevolutionärer Formierung ab, an der Ausweitung des Staates oder seiner Ersatzkonstruktion festzuhalten, gleichzeitig aber der ideologischen Bestimmung des (z. B. "zum Absterben" gezwungenen) Staates eine utopisch anmutende langfristige Geltung zu verleihen. Dementsprechend vage (untheoretisch) ist beispielsweise ein Begriff wie die "Diktatur des Proletariats". R. Miliband (Marxism and Politics, Oxford 1977) sieht in ihr ein "illusionäres" Binde-
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hinaus, den Staat stärker zu machen4. Der "Logik der Revolution"5 nach ergibt sich, "daß nichts die revolutionären Errungenschaften mehr gefährdet als eben der Geist, der sie hervorbrachte" 6 • So kann es nicht verwundern, daß liberale und sozialistische Bewegung in der Praxis Legierungen unterworfen sind. Das Bürgertum ist in der Einforderung seines revolutionären Herrschaftsanspruchs nicht durchgängig liberaF, sondern z. T. radikal- bzw. identitätsdemokratisch; die Arbeiterbewegung wiederum umfaßt anarchistische, lassalleanistische, marxistische, utopische und ethische Positionen. Dadurch ergeben sich ideologische Vermischungen, die ihrerseits auf die Theorie zurückwirken. Die Folge ist der Streit um den Theorienrevisionismus: Die Revolutionäre ringen um ihre ursprünglichen Ziele und bekämpfen Abweichungen als gegenrevolutionär. Über Sieg und Niederlage auch der Theoriepositionen entscheidet dann der Ausgang der Revolution. Englands Revolution wurde bereits beschrieben. Der in der "Glorreichen Revolution" erreichte Klassenkompromiß ist in die politische Form konstitutioneller Monarchie gegossen worden. Damit steht politisch einer Änderung der Lebensverhältnisse, wie sie durch die industrielle Revolution, kapitalistische Wirtschaftsweise und rasche Bevölkerungszunahme hervorgerufen werden, nichts mehr im Weg. Die grundsätzliche Möglichkeit der Einführung strukturell notwendiger Reformen ist ~egeben - wenn diese auch weiterhin von politischen Oppositionskräften erzwungen werden. glied (p. 189) zwischen Geselischaft und zerschlagenem alten Staat: "What is required ... is ... a flexible and complex network of organs of popular participation operating throughout civil society and intended not to replace the state but to complement it." (p. 188.) Milibands strategische Konsequenzen sind dabei reformistischer Art: they "may proaud! a combination of direction and democracy sufficiently effective to keep the conservative forces in check and to provide the conditions under which the process of transition may proceed." (p. 189.) 4 Darauf weist schon Tocqueville einprägsam hin (A. Tocqueville, Das Ancien Regime und die Revolution (1856), in: A. Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit, 146, 157). s Dazu: W. W. Ernst, Zur Logik der Revolution. Ebenso: W. W. Ernst, Anmerkungen zu einer Theorie der Revolution, in: Wiener Blätter zur Friedensforschung, 11/ 1976; W. W. Ernst, Replik- Bemerkungen zu methodischen Einwänden A. Anzenbachers, in: Wiener Blätter zur Friedensforschung, 12/1977. - Zu verweisen wäre noch auf die in diesen Arbeiten speziell zum Thema .,Revolution" ausgewiesene, vor allen Dingen auch soziologische Literatur. Ebenso: G. Botz, Ansätze zu sozialwissenschaftliehen Revolutionstheorien, in: H. Reinalter (Hg.). 6 H. Arendt, Über die Revolution, München o.J ., 299. 7 M. Neumüller (Liberalismus und Revolution, Düsseldorf 1973) versucht am Beispiel der deutschen liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts nachzuweisen, daß es eine widerspruchslose Revolutionslehre des Liberalismus nicht gibt. Ihr Begriff von .,Reform-Revolution" führe .,sich selbst ad absurdum", .,da in der Revolution eine gemäßigte und zugleich bestimmt auftretende Haltung der Mitte nicht existieren kann, weil man entweder alles oder nichts sein muß". (289.) Umgekehrt gilt dann, daß das radikale Bürgertum, das die Revolution auf die Tagesordnung setzte, nicht als liberal zu bezeichnen ist.
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Neben der politischen Öffnung zu fortgesetzter Demokratisierung, die zugleich den reibungslosen Übergang zur kapitalistischen· Produktionsweise garantiert, läßt sich auf legitimatorischer Ebene ein Liberalisierungsprozeß feststellen. Dem entspricht als Ideologie der Liberalismus, der demnach- nebst örtlichen und zeitlichen- politischen wie auch ökonomischen Kriterien gemäß analysiert werden kann. -Es ist nicht zufällig England, wo auf theoretischer und praktischer Ebene der Liberalismus zur Durchsetzung gelangt und deshalb hier am "reinsten" zu studieren ist. Das heißt natürlich nicht, daß hier Begriff und Realität zur Deckung gelangt wären. Das heißt nicht einmal, wie am Beispiel J . St. Mills noch zu zeigen sein wird, daß ein englischer Theoretiker des Liberalismus einen derart "reinen" Begriff seines Erkenntnisgegenstandes faßt, daß er nur noch in ein einziges ideologisches Bezugssystem paßte. Vielfach geht die "Reinheit" von Begriffen auf die Anstrengungen von Adepten zurück, die sich mit der Schematisierurig resp. Idealtypisierung des Gegenstandes befassen. Sie versehen "Tendenzen" in Geschichte und Zeitgeist mit Konturen, um sie anderen gegenüber unterscheidbar zu machen. Gerade in der Interpretation des "Liberalismus" zeigt sich, daß sowohl Historiker wie auch (Text-)Analytiker liberalen Schrifttums es sind, die einen "reinen" Begriff ihres Erkenntnisobjekts extrahieren, der so weder geschichtlich noch theoretisch, auch nicht in England, vorkommt. Nach gängiger Auffassungs kann sowohl zwischen politischem und ökonomischem wie auch zwischen Früh-, Hoch- und Neo-Liberalismus unterschieden werden. Alle diese Liberalismen sind von Land zu Land verschieden. Als besonders schwierig erweist sich ein zusätzlicher Einteilungsversuch nach demokratietheoretischen Kriterien, der den älteren radikalen und identitären Demokratiebegriff ebenso dem Liberalismus zuordnet wie den durch und in diesem erst entwickelten liberalen. Den Demokratismus eines Rousseau, Robespierre, Saint-Just, aber auch Th. Paine als Linksliberalismus und in der Verbindung mit wirtschaftlichem Interventionismus als Sozialliberalismus zu bestimmen9, würde etwa die bei Talmon, Kriele und Greiffenhagenlo herausgestellte Differenz zur liberalen Demokratieanschauung sprachlogisch unmöglich machen und damit unberücksichtigt lassen. Überhaupt scheint die Schwierigkeit, keinen allgemein akzeptierten Begriff von "Liberalismus" zu habenn, für uns darin zu bestehen, daß der s W. A. Boelcke, Liberalismus, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, 32- 47. 9 J. B. Müller, Liberalismus und Demokratie. Studien zum Verhältnis von Politik und Wirtschaft im Liberalismus, Stuttgart 1978, 169. Zur Einteilung in "rechtsliberal" und "linksliberal": Einleitung, 8ff. 10 Siehe Fußnote 106 aus Kap. : Französische Aufklärung, Rousseau und die Französische Revolution. 11 L. Gall (Hg.), Liberalismus, Köln 1976, 9. Darin auch: H. J. Laski, Der Aufstieg des europäischen Liberalismus, 122.
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politische Liberalismus entgegen dem ökonomischen Paläoliberalismus mit den unterschiedlichsten ideengeschichtlichen Grundlagen der Neuzeit (und sogar darüber hinaus) in Zusammenhang gebracht wird12. Demnach begänne der Liberalismus nicht erst "Ende des achtzehnten Jahrhunderts in England als unmittelbare Reaktion auf das Versagen des protektionistischen Merkantilsystems zu Beginn der ,industriellen Revolution"'13, sondern bereits mit der durch die "Glorreiche Revolution" eingeleiteten politischen Entwicklung, wie sie die durchaus protektionistischen "frühliberalen" Whigs vertreten. Dieser Auffassung nach gelten die Rekonstitutionsbemühungen der vom Adel mitgetragenen alten Selbstverwaltungseinrichtungen als liberal (korporativer Altliberalismus)l•. Als philosophische Wegbereiter des Liberalismus werden die Vertreter der Schule des klassischen Empirismus genannt (Bacon, Hobbes, Locke, Berkeley, Hume) und der Einfluß Montesquieus und der rationalistischen Aufklärungsphilosophie, insbesondere der Enzyklopädisten, auf den Liberalismus in Kontinentaleuropa hervorgehoben. Die französische Aufklärung sei dabei vom englischen neuzeitlichen Denken nicht unbeeinflußt geblieben, wie umgekehrt auch die Philosophie Frankreichs, etwa die utilitaristischen Ansätze bei den ihrerseits von dem Engländer B. de Mandeville beeinflußten Enzyklopädisten, im englischen Liberalismus ihren Niederschlag finde (bei J . Bentham, James Mill und J . St. Mill). Auch der aufgeklärte Absolutismus wird durch seine Art "Reformen von oben" als dem Liberalismus zugewandt begriffen. Boelcke zählt selbst noch den "aggressiv rationalistischen und antireligiösen Liberalismus der französischen Revolution" hinzu15. Dessen ausgeprägter Etatismus bestehe in der Idee von einem vernünftigen Staat, der als mit dem Volksganzen identisch gesetzt und insoweit demokratisch legitimiert werde. Die Allmacht des Staates, sofern dieser nur vernünftig ist, äußere sich durch ein auch in den wirtschaftlichen Bereich eingreifendes Reglement. Für uns stellt sich hier das theoretische Problem, bereits die Voraussetzung eingegangen zu sein, den als politischen Liberalismus apostrophierten radikalen Demokratismus der Französischen Revolution vom Wirtschaftsliberalismus getrennt zu betrachten. Nur unter dieser Voraussetzung ist es nämlich möglich, politisch etwas als Liberalismus zu bezeichnen, das in 12 "Der Ausdruck ,Liberalismus' wurde erst gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts allgemein gebräuchlich. Das Wort war neu, aber die Geisteshaltung, die es beinhaltete, war alt, vielleicht so alt wie die Menschheit selbst." (J. S. Schapiro, Was ist Liberalismus?, aus: Derselbe, Liberalism and the Challenge of Fascism. Social Forces in England and France (1815- 1870), 2. Aufl., New York 1964, Teilabdruck in: L. Gall (Hg.), Liberalismus, 20.) 1a W. A. Boelcke, 41. 14 Ebenda, 34. 15 Ebenda, 35.
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wirtschaftlicher Hinsicht doch Anti-Liberalismus bedeuten müßte. Hält man jedoch an einem Zusammenhang von politischem und ökonomischem Liberalismus fest, könnten einander so entgegengesetzte Auffassungen wie die physiokratische Lehre, von der der Grundsatz stammt "Laissez faire, laissez passer, le monde va de lui-m~me", und der despotische Staatsinterventionismus Robespierres nicht unter dieselbe ideologische Blickrichtung subsumiert werden. Ebenso wären der preußische und Österreichische "Reformliberalismus", dersich durch staatliche Bevormundung und Protektionismus auszeichnet, unvereinbar mit den Anschauungen der überwiegend antietatistisch gesinnten amerikanischen Revolutionäre, ganz zu schweigen von den Liberalen der Manchesterzeit. Tatsächlich gibt es in der englischen klassischen Theorie des (Paläo-)Liberalismus sehr wohl eine innere Konkordanz von politischen und ökonomischen Systemzusammenhängen (A. Smith, D. Ricardo, J. St. Mill). Ebenso umfaßt auch realiter die englische Ära des Hochliberalismus politische und ökonomische Komponenten des Liberalismus in eineml6. Sein Aufstieg als Politik (nicht bloß des politischen und wirtschaftlichen Denkens) findet in England unter der Regentschaft Wilhelms IV. (1830-1837) stattl7. Es ist die Zeit der großen Reformen, die unter Königin Victoria (1837-1901) fortgesetzt werden. 1832 erfolgt die erste Wahlrechtsreform (Einführung eines Zensus) durch die regierenden Whigs (die mit den Grundbesitzern die Macht teilen). Mit der Aufhebung der Sklaverei, der Beschränkung der Arbeitszeit für Kinder und Jugendliche, der Einsetzung von Fabrikinspektoren und 1847 der Einführung des Zehnstundentages in den Fabriken unterstreichen die Liberalen auch ihr soziales Engagement. Die Reformbereitschaft der Whigs hat z. T. auch die Arbeiterschaft auf ihre Seite treten lassen. Das Proletariat greift zu friedlichen Mitteln des Wirtschaftskampfes und bemüht 18 Bereits für den Anfang der victorianischen Zeit läßt sich sagen: "After God, romantic love, and the beauties of nature, the subject that inspired perhaps the most abundant and popular poetry ... was free trade ... Indeed, free trade was not only an economic doctrine but a Philosophy, a Religion, and a Cause of Causes." (H. Ausubel, In Hard Times. Reformers among the late Victorians, New York 1960, 211.) "Liberals accepted the doctrines of laissez-faire in church and market." (Sir J . Butler, A History of England 1815 - 1939, Second Edition, London 1960, 141.) 17 Die Repräsentanten der liberalen Tradition, wie sie sich in der Betonung der "Prinzipien von 1688" bis hin zur innerenglischen oppositionellen Haltung während der amerikanischen Revolution manifestiert, sind die Whigs. Sie werden bereits "Liberale" genannt, noch bevor sie 1830 an die Macht gelangen. Ihre Sympathien mit den nationalen und liberalen Bewegungen in Italien, Griechenland, insbesondere den in Spanien wirkenden "Liberales", haben ihnen nach 1815 das "Parteietikett" liberal eingetragen: "Es war sowohl die Zeit Byrons als auch Benthams, die Zeit der Romantiker wie die der Utilitaristen, und Byrons Gedichte zur Verherrlichung der Freiheitvielleicht noch mehr sein Tod bei Missolunghi - spielten eine Rolle bei der Bildung einer der dauerhaftesten Traditionen des englischen Liberalismus, der Sympathie mit Völkern, die um ihre Freiheit kämpfen." (A. Bullock IM. Shock, Englands liberale Tradition, aus: A. Bullock IM. Shock (Hg.), The Liberal Tradition from Fox to Keynes, 2. Aufl., London 1966, Teilabdruck in: L. Gall (Hg.), Liberalismus, 261.)
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sich um den Ausbau: des Gewerkschaftswesens (Trade Unions) und der Genossenschaften. Der Übergang zur liberalen Wirtschaftspolitik erfolgt endgültig 1846 mit der durch Robert Peel durchgesetzten Beseitigung der Kornzölle, wie sie durch die seit 1842 von Arbeiterschaft und industriellem Mittelstand gleichermaßen getragene, von Richard Cobden geführte "Ariti-Corn Law League"lB gegen die Interessen aristokratischer Agrarier schließlich ertrotzt wurde. Mit diesem Sieg der das Industriebürgertum repräsentierenden Manchesterpartei über das protektionistische Agrarierturn wird eine Politik der "billigen Nahrung" und auch des niedrigen Lohnniveaus verfolgt. Der Industriestaat setzt sich. auf Kosten der Landwirtschaft durch, dessen Grundlagen durch die billigere Erzeugung in den Kolonien zerstört werden. 1849 wird mit der Aufhebung der Navigationsakte das auf der Route England-Kolonien bestehende Schiffahrtsmonopol beseitigt. Mit dem Cobdenvertrag von 1860 schließlich gelten alle Schutzzölle als aufgehoben. 1867 stellt der Whiggismus noch einmal seine politisch-liberalen Bestrebungen unter Beweis: Die zweite Wahlrechtsreform erklärt auch die städtischen Wohnungsinhaber als wahlberechtigt. Um diese Zeit geraten jedoch auch die Liberalen zunehmend in den ideologischen Sog des handelspolitisch induzierten Großmachtinteresses des Staates (Chauvinismus). Der Kolonialstaat soll den mittelständischen Interessen bei der Erweiterung ausländischer Märkte dienen. Zum Träger dieser Entwicklung, der Epoche des britischen Imperialismus, werden allerdings die in dieser Hinsicht den Mittelstand konsequenter vertretenden Tories. John Stuart Mill (1806-1873) lebt in dieser Zeit des britischen Hochliberalismus, dessen spätklassischer Theoretiker er ist. Seine auch unmittelbar politische Anteilnahme- er ist von 1865-1868, also während der Durchsetzung der zweiten Wahlrechtsreform, Mitglied des Parlaments - unterstreicht eine dem Zeitgeist verbundene Erfahrungsnähe, wie sie so kaum einer anderen Theorie eigen ist. Mills ungebrochener, wenn auch kritischer Optimismus speist sich aus der dramatischen Aufwärtsentwicklung des englischen Liberalismus. Er erlebt nicht mehr das 1874 mit dem Sturz Gladstones eingeleitete Ende dieser Ära19, die nahtlos übergeht in eine noch erweiterte Form von im Interesse des Industriekapitals gelegenen und von moralischen Fesseln entbundenem, militantem Imperialismus. Mit J . St. Mill versuchen wir eine theoretische Spielart des Liberalismus aufzuzeigen, die- wie immer sie auch mit klassischen, aufklärerisch-humats Sir J. Butler, 87. "The Liberal conception of the State remained plausible so long as the State remained undemocratic (i. e. remained an 'organ of class oppression') with the Liberals as an opposition group, or so long as the principles of laissez faire were, by and large, regarded as desirable." (A. M. McBriar, Fabian Socialism and English Politics. 1884- 1918, Cambridge 1962, 73.) 19
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nistischen und romantischen Gedankengehalten legiert sein mag - einer ontologischen bzw. naturrechtliehen Begründung und Normierung politischer Praxis entbehrt2o. Ähnlich wie Rousseau hat auch J. St. Mill eine Autobiographie geschrieben, die eine psychologische Interpretation geradezu herausfordert21. Die außerordentlich rigide und - nach damaligen Maßstäben - exklusiv an modernen Grundsätzen der Erkenntnis ausgerichtete Erziehung Johns durch dessen Vater James hat den Sohn 20jährig in eine tiefe Geisteskrise stürzen lassen. James Mill, Freund von Ricardo und Bentham, war leidenschaftlicher Anhänger der utilitaristischen Lehre, nach deren Grundprinzipien John erzogen worden ist. Aus der etwa ein Jahrzehnt andauernden Krise (bis etwa 1830) geht John gestärkt hervor. Er hat den Mangel an Gefühlsbildung22 wettgemacht durch die Lektüre romantischer Autoren wie Goethe, Wordsworth, Byron, Shelley, vor allem aber Coleridge, dessen "halb-philosophische" Schriften23 auf seine weitere Arbeit großen Einfluß nehmen. Hinzu kommt auch der Einfluß Comtes und der Saint-Simonisten. Die persönliche Prägung durch James Mill äußert sich zwar weiterhin in Johns Bejahung des Utilitarismus24, doch nimmt dieser nun eine vermittelnde Stellung zwischen den die Reaktion auf das rationale Denken des 18. Jahrhunderts bildenden Romantikern und eben den Utilitariern ein. J. St. Mill versucht das Denken beider Jahrhunderte in sich zu vereinen2s. Auch Johns spätere persönliche Beziehung zu Rarriet Taylor hat ihren Niederschlag in seinem Schrifttum gefunden - und zwar was die Betonung der "romantischen" Seite anlangt26. - J. St. Mills Vermittlungsversuch gilt es nun auch (politik-)theoretisch zu klären. 2o Milllehnt das Naturrecht entschieden ab. Hiezu die Schrift "Nature", in: H. Taylor (ed.), Three Essays on Religion, London 1874. Siehe auch: H. Jacobs, Rechtsphilosophi~ und Politische Philosophie bei John Stuart Mill, Bonn 1965, 70ff. · 2 1 ßi~he etwa: B. Mazlish, James and John Stuart Mill. Father and Son in the Nineteenth Century, London 1975, Abschn. I, Kap. 2: Fathers and Sons: The Nineteenth Century and the Oedipus Complex. 22 H. Jacobs, 15. 23 D. Beales, From Castlereagh to Gladstone 1815 - 1885, London 1969, 91. 24 James Mill stirbt 1836. Nach ihm gilt John Stuart als Führer der "philosophischen Radikalen" . Diese Gruppe intellektueller Utilitarier zerfällt um etwa 1840, nachdem ihr Versuch gescheitert war, "aus den gebildeten Radikalen inner- und außerhalb des Parlaments eine mächtige Partei zu gründen, welche imstande ist, die Regierung zu übernehmen oder wenigstens die Bedingungen vorzuschreiben, unter denen sie die Macht mit den Whigs teilen kann". (H. Jacobs, 18.)- Danach nähert sich J. St. Mill einer Auffassung, die er "gemilderten Sozialismus" nennt (Autobiography, ed. by H. J. Laski, The World's Classics, Vol. 262, Oxford 1935,}61). D. Beales (157f.) entnimmt J. St. Mills "Political Economy" aus dem Jahr 1848 Uberzeugungen, die er mit denen "christlicher Sozialisten" in Verbindung bringt: "Mill came to support restrictions and taxes on inheritances, taxes on rent from land, and co-operation in industry." 25 H. Jacobs, 16. 26 B. Mazlish, 383.
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Am Beispiel Kants ließ sich demonstrieren, daß - bedingt durch dessen transzendental-naturrechtliches Begründungsverfahren - liberale Rechtsgrundlage und Moralität des einzelnen, wenn auch aufeinander bezogen, so doch auf verschiedenen Ebenen angeordnet gedacht sind. Hegel wiederum versucht beide in eins zu setzen, indem er auf den alten Substanzbegriff zurückgreift und damit neuerdings eine metaphysische Begründung liefert. Anders Mill. Zwar klingen auch bei Mill ethische Aussagen an, die als aus der traditionellen Politikauffassung geborgt erscheinen. Und doch liegt bei ihm keine der Art spekulativen Philosophierens inhärente und als solche begründete Differenz von technisch·instrumentellem und ethischem Denkeil vor (wie bei Kant), geschweige Vermittlung (wie bei Hegel).
Der Bruch zur traditionellen Ethik wird nirgends klarer ausgedrückt als in Mills Bekenntnis zum Utilitarismus: "Ich betrachte Nützlichkeit als das letzte Kriterium in allen ethischen Fragen; aber es muß Nützlichkeit im weitesten Sinne sein, gegründet auf die dauernden Interessen des Menschen als eines fortschreitenden Wesens2 7. " Hiezu gehört auch die aufopfernde Hingabe für das Glück anderer. Der Glücksspender erfährt darin selbst einen Glückszuwachs, oder aber der Glücksempfänger maximiert für sich mehr Nutzen als der Glücksspender durch sein Opfer verliert. Den utilitaristischen Maßstab bildet also das Glück aller Betroffenen. Selbstverzicht, der zu keinerlei Nutzen führt, gilt der utilitaristischen Moral zufolge als vergeudet2B. Mill versucht - wie schon Mandeville, die klassisch-liberalen Ökonomen Smith, Ricatdo, Say und die utilitaristischen Theoretiker J. Bentham und James Mill ~eine Gesellschaftstheorie auf dem Nutzenprinzip aufzubauen. Dabei soll der Nachweis geliefert werden, daß die Nützlichkeitserwägungen jedes einzelnen in ihrem Zusammenspiel das Gemeinwohl am besten befördern. Wir erinnern uns, daß sich auch Kant - in philosophischer Sprache dieser Argumentation befleißigt. Bei den einschlägig Liberalen werden jedoch alle Konflikte, Abweichungen, Widersprüche, Dissens, Dysfunktionalitäten auf dem Hintergrund des Marktes interpretiert, wonach sich ohne Intervention eiher marktexternen Macht ein Gleichgewicht herstellen würde. Demgegenüber scheinen Ungleichgewichte bloß als die notwendige Kehrseite ein- und derselben Konstruktion auf - und zwar als Indikatoren für die Marktteilnehmer, wie sie sich (marktgerecht) zu verhalten haben, wodurch sich ein neuerlicher Gleichgewichtszustand herstellen soll. 27 J . St. Mill, Über die Freiheit (1859), Frankfurt 1969, 17 f.- Ein anderer Ausdruck für "Nützlichkeit" ist dieser Theorie nach "Glück". "Der Utilitarismus sagt, daß
Glück wünschenswert ist, daß es das einzige ist, das als Zweck wünschenswert ist, und daß alles andere nur als Mittel zu diesem Zweck wünschenswert ist." (J. St. Mill, Der Utilitarismus, 1861, als Buch 1863, Stuttgart 1976, 60.) 2s J. St. Mill, Der Utilitarismus, iilsbes.: 29 und 30.
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Im Mittelpunkt der Betrachtung steht der einzelne Mensch, der seine Bedürfnisse zu befriedigen sucht. Die Gewähr dafür, daß dies auch jeder Mensch in der Gesellschaft tun kann, nennt der Liberalismus Freiheit29. Mill verabsäumt allerdings nicht einzuschränken: "Der einzige Teil seines Verhaltens, für den ein Mensch der Gesellschaft verantwortlich ist, ist der, der andere berührt. In dem Teil, der nur ihn selbst berührt, ist seine Unabhängigkeit im rechtlichen Sinne absolut. Über sich selbst über seinen eigenen Körper und Geist, ist das Individuum souveränao." Mill setzt hier die Differenz zwischen Gesellschaft und Individuum. bereits voraus. An erster Stelle rangiert der Einzelmensch. Erst wenn dieser mit jemand anderem in Konflikt gerät, muß abgewogen werden, welchen Interessen Gefahr droht, auf Kosten anderer unterdrückt zu werden. Daß dieses Prinzip auch eingehalten wird, dafür trägt der Staat Sorge. J. St. Mill unterscheidet also zwei Lebenssphären. Zunächst müsse der Mensch seiner "lnnensphäre" nach betrachtet werden, die "den gesamten Teil des Lebens und Verhaltens eines Menschen, der nur ihn selbst betrifft", umfaßt. Mill steht nicht an, diese Bestimmung "die eigentliche Region menschlicher Freiheit" zu heißen31. Dazu zählt er Gewissensfreiheit, die Freiheit der Neigung und Beschäftigung, schließlich die Koalitionsfreiheit.
Im weiteren erst wäre die "Außensphäre" des Menschen zu berücksichtigen. In Sachen, "die die äußeren Beziehungen des einzelnen betreffen, ist er (der Mensch, W. E.) de jure denen Verantwortung schuldig, deren Interessen berührt werden, und wenn nötig auch der Gesellschaft als ihrem Schutzherrn"32. Mill wagt hier noch gar nicht von Staat zu sprechen. Offenbar anerkennt er die strikte Trennung von Staat und Gesellschaft, wobei er beide Bereiche auch rechtlich voneinander scheidet. Die Reihung scheint jedenfalls klar zu sein: Zuallererst musse allen nur erdenklichen Bedürfnissen, Wünschen, Vorstellungen und Handlungen der Individuen freier Raum gelassen werden. Nur dort, wo Interessenskollisionen möglich sind, hat jeweils derjenige und in dem Ausmaß zurückzustehen, dessen Interesse das Interesse eines anderen mehr einschränkt als ihm dadurch zugute kommt. In der Außensphäre (der Gesellschaft) richteten sich die Menschen also nach dem Prinzip des größten Glücks der größten Zahlnicht weil dies ein moralisches Gesetz wäre, sondern weil allen damit ihrem Nutzen entsprechend ambestengedient sei. 29 "Die Grundidee des Liberalismus - schon die Bezeichnung selbst besagt es -ist die Verwirklichung der Freiheit, der Freiheit des Individuums." (V. Leontovitsch, Das Wesen des Liberalismus, aus: V. Leontovitsch, Geschichte des Liberalismus in Rußland, Frankfurt 1957, Teilabdruck in: L. Gall (Hg.), Liberalismus, 37.) 30 J. St. Mill, Über die Freiheit, 16f. 31 Ebenda, 19. 32 Ebenda, 18.
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Mill geht es um die Frage, wonach "das Maß von Zwang und Kontrolle im Verhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Individuum bestimmt werden sollte"aa. Für die Innensphäre läßt er keine Einschränkung gelten, wohl aber für die Außensphäre: "Der einzige Zweck, der die Menschen, individuell oder kollektiv, berechtigt, in die Handlungsfreiheit eines der ihren einzugreifen, ist Selbstschutz. Die einzige Absicht, um deretwillen Macht rechtmäßig über irgendein Mitglied einer zivilisierten Gemeinschaft gegen seinen Willen ausgeübt werden kann, ist die, eine Schädigung anderer zu verhindern34." An anderer Stelle spricht J. St. Mill von "Eingriffe(n) des Staates zur Verhinderung einer schädlichen Tat" und nennt hiefür auch Beispiele, so etwa die Untersagung von Eheschließungen, wenn die Ehepartner den materiellen Unterhalt für eine Familiengründung nicht garantieren können3S, oder auch die "Pflicht zur Erzwingung allgemeiner Erziehung" kraft Gesetzes, was jedoch keine staatliche Erziehung bedeuten darf36. Interessant ist, daß sich Mill gerade bei der Nennung dieser Beispiele des Vorwurfs entledigen möchte, keiner Einmischung in die individuelle Freiheit das Wort zu reden: "Es geht hier nicht um eine Einschränkung der Handlungen der Individuen, sondern um eine Hilfe für sie37. " Offenbar handelt es sich in diesem Fall nicht unmittelbar um die staatliche Verhinderung einer "Schädigung anderer"38, sondern um staatliche Maßnahmen, die die ungleichen Lebenslagen der Individuen ausgleichen sollen. Eine Eheschließung von materiell Minderbemittelten hat deshalb verhindert zu werden, weil die Armut durch möglichen Familienzuwachs sich nur noch vergrößern würde. Die gesetzliche Auflage einer allgemeinen Erziehung wiederum soll die Individuen dazu befähigen, für ihr eigenes Wohlergehen zu sorgen.
Die beiden Beispiele demonstrieren deutlich, daß J. St. Mill staatliche Eingriffe nicht nur für den Fall unmittelbarer Schädigung von Menschen durch andere vorsieht, sondern auch dafür, gesellschaftliche Ungleichgewichte abzubauen. Dem scheint die Auffassung Mills entgegenzustehen: "Er Ebenda, 16. Ebenda. 35 Ebenda, 130. 36 Ebenda, 127. 37 Ebenda, 131. 38 Mittelbar freilich kann auch die Unterlassung des Schulbesuchs eine Schädigung anderer bewirken. Dieses Beispiel unterstreicht die Schwierigkeit einer Abgrenzung der Individualhandlungen mit ihren Folgen von anderen Handlungen. Dazu ausführlicher: R. P. Wolff, Das Elend des Liberalismus, Frankfurt 1969.- G. Duncan (Fußnote 50) kritisiert an Wolff dessen an einer Stelle voreilig vorgenommene Identifizierung des liberalistischen Menschenbilds (Gesellschaft als ein System unabhängig voneinander bestehender Bewußtseinszentren qua Individuen) mit Mills Konzeption des Menschen als wesentlich soziales Wesen. -Kritik an J. St. Mill aus konservativer Sicht: M. Henningsen (Hg.), Vom Nationalstaat zum Empire. Englisches politisches Denken im 18. und 19. Jahrhundert, München 1970, 121 - 156. 33 34
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(der Mensch, W. E.) kann nicht rechtmäßig gezwungen werden, etwas zu tun oder zu unterlassen, weil es für ihn besser wäre, so zu handeln, weil es ihn glücklicher machen würde, weil so zu handeln nach der Meinung anderer klug oder sogar richtig wäre39." Hier wird der utilitaristisch-liberalen Ansicht entsprochen, daß die Bedürfnisse und ihre Normierung durch die Individuen selbst bestimmt werden müßten. Demgemäß hat der Staat gar kein Recht, etwas für die Gesellschaft zu tun, worüber sie selbst nicht, bzw. wogegen sie sich u. U. entschieden hat. Doch Mill ist eben nicht nur Utilitarist. So hält er an Grundwerten fest, die er auch gegen die Überzeugung einzelner von Staats wegen durchgesetzt sehen möchte, wie beispielsweise die allgemeine Erziehung. Mill spricht hier von einer "Pflicht", die wohl nicht anders als traditionell-moralisch aufzufassen ist. Entgegen den Prämissen seines sonst utilitaristisch-liberalen Ansatzes beruft er sich auf ein das Interesse eines Ganzen vertretendes Prinzip, das seine Legitimation gar nicht im Wege der Summierung von individuellen Interessen erhalten hat. Mill entzieht sich damit einer Alternativstellung von Entweder/Oder, etwa in der Form: Entweder harmonieren die individuellen Eigenbestrebungen, um für alle zum besten der möglichen Ergebnisse zu gelangen (Liberalismus), oder aber sie führen tendenziell zu strukturellen Disparitäten, die nur noch durch den Interventionismus eines "höheren Allgemeinen" ausgeglichen werden können (Etatismus). Beide Gesichtspunkte sind bei Mill vertreten, ohne -wie noch zu sehen sein wird- in ihrem Verhältnis zueinander eine Bestimmung erfahren zu haben. Inwieweit Schulpfli~ht und Erziehungsaufgaben mit dem Gesamtinteresse zu tun haben, entwickelt Mill in seiner Schrift "Betrachtungen über die repräsentative Demokratie". Mills Plädoyer für die größtmögliche Beteiligung aller Bürger an der Gestaltung des Gemeinwesens ist begleitet von der Forderung nach intellektuellEm und moralischen Leistungen, welche Demokratie überhaupt erst ermöglichten. Als "überragende Voraussetzung" nennt Mill die "Eigenschaften der Menschen ... , die die Gesellschaft bilden, über die Herrschaft ausgeübt wird"40, als solche "Fleiß, Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit und Klugheit", aber auch "geistige Regsamkeit, Unternehmungslust und Mut" 41 • Mill sieht in der Mündigkeit des Volkes eine notwendige Bedingung für Demokratie. Umgekehrt müsse eine gute Regierungsform Wissen und Bildung fördern, wenn sie das Volk noch nicht hat. Für diesen Fall würde eine Art Erziehungsdiktatur den Übergang zur DemokraJ. St. Mill, Über die Freiheit, 16. J. St. Mill, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie (1861), herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von K. L. Shell, Faderborn 1971, 47. 41 Ebenda, 42. 39
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tie ermöglichen, für die die Bürger reif gemacht würden42. Für Kolonien z.B., die noch nicht den westlichen Entwicklungsstand erreicht hätten, fordert Mill "gute Despoten"43• Allgemein gelte: "Wenn die Gesellschaft es verabsäumt hat, zwei bindenden Verpflichtungen nachzukommen, muß sie die wichtigere und grundlegendere zuerst erfüllen: allgemeiner Unterricht muß derErteilungdes allgemeinen Wahlrechts vorausgehen44." Das Dilemma, die Mündigkeit der einzelnen Bürger vorauszusetzen, andererseits sie durch den Staat gerade fördern zu wollen, durchzieht Mills gesamte Theorie gesellschaftlichen Fortschritts und intellektueller Eliten: "Clearly there are two sides to Mill. One favors self-development, with society's right to interfere carefully limited. The other favors development and progress of societies, with intellectual elites and superior societies possessing a historical mission to uplift and enlighten the natives (domestic or colonial). This split is deep in Mill's own soul. It is also a dilemma of Western civilization in the nineteenth century .. .•s." Mills Rechtfertigung des britischen Kolonialismus ist bloß die Anwendung seines Elite-Konzepts auf das Verhältnis zwischen zivilisierten Staaten und Entwicklungsländern. Auf das eigentliche Problem, eine "gute" Herrschaft zu fordern, die sich über die besonderen Eigenschaften moralischer und geistiger Eliten zu legitimieren vermag, wird noch zurückgekommen. Mill bejaht jedenfalls grundsätzlich die Mündigkeit der Staatsbürger und geht dabei einerseits von der liberalistischen Annahme aus, "daß der einzelne selbst der beste Hüter seiner Rechte und Interessen ist" 46 . Andererseits deutet er Autonomie auch "rousseauistisch", indem er den am Allgemeininteresse sich orientierenden Individualansprüchen Vernunft und Sittlichkeit zuschreibt. Empirisch konstatierbare Abweichungen individueller Interessen vom Gesamtinteresse können daher als "egoistisch" interpretiert werden. Die ideale Richtschnur der Einheit von individuell Besonderem und kollektiv Allgemeinem läßt eine schlechte Regierung erst als schlecht begreifen: "Wo in einem Volk die allgemeine Tendenz besteht, daß der einzelne nur seine egoistischen Interessen verfolgt und seinen Anteil am Gesamtinteresse weder der Beachtung noch der Mühe wert findet - da ist gute Regierung unmöglich47." 42 B. Mazlish (399) versucht auch Mills "guten", "aufgeklärten" Despotismus auf dessen psychoanalytischen Hintergrund zu erklären: "Once again we cannot help feeling that Mill's best government bears a suspicious resemblance to the idealized picture of his father: first Controlling the young savage, then inciting and training the young man to self-control, and finally letting him develop into full freedom." 43 J. St. Mill, Betrachtungen, 265. 44 Ebenda, 147. 45 B. Mazlish, 394. 4& J. St. Mill, Betrachtungen, 66. 47 Ebenda, 47.
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Im einen Fall nähert sich Mill dem Menschen der utilitaristischen Tradition entsprechend "empirisch", im letzteren ähnlich wie Rousseau in einer am Polis-Ideal guten und gerechten Lebens orientierten aetrachtungsweise4s. Der Staat selbst wird einerseits mit Hinblick auf die moralischen und intellektuellen Fähigkeiten seiner Staatsbürger, andererseits bezüglich seines Funktionierens beurteilt. Letzterer, technischer Gesichtspunkt beschreibt den "Grad, in welchem sie (die Staatsmaschine, W. E.) geeignet ist, das Maß der jeweils vorhandenen guten Eigenschaften zu verwerten und den rechten Zweaken (des Gemeinwohls, W. E.) dienstbar zu machen" 49 . Mills Konstruktion einer demokratischen Regierung schließt sowohl hervorragende moralische Eigenschaften wie auch technische Kompetenz ein. In der Elite erscheinen beide zusammengefaßt. Warum die moralische Qualifikation ein besonderes Merkmal der (technischen) Elite ist, wird dabei nicht ganz klar. Wahrscheinlich liegt es daran, daß Mill den Unterschied zu den technischen Fertigkeiten nicht immer zieht: "lt is not always clear ... whether it is professionalism (skill) or goodwill and rationality that are the relevant criteria in limiting the scope of the democratic principleso." Wogegen sich Mill uneingeschränkt ausspricht, ist die paternalistische Herrschaftsform. Sie verhindere - und sei sie noch so einfühlsam - eigenständiges Denken und Selbstentwicklung. Jede Form von Bevormundung sei deshalb abzulehnen: "Wir brauchen nicht vorauszusetzen, daß eine privilegierte Klasse, die allein über Macht verfügt, die Interessen anderer Klassen bewußt und vorsätzlich den eigenen opfert; es genügt, daß die Interessen der Ausgeschlossenen in Abwesenheit ihrer natürlichen Verteidiger immer in Gefahr sind, übersehen zu werden, und selbst wenn sie Beachtung finden, doch mit ganz anderen Augen als denen der unmittelbar Betroffenen betrachtet werden51. " Daß nun der Autonomiegedanke, der in dieser Form bereits von Kant vorgetragen wurde52, bei J. St. Mill sowohl eine "liberalistische" wie auch eine "rousseauistische" Interpretation nahelegt, macht eine einheitliche Betrachtung seiner Demokratietheorie schwer. Wenn nämlich "Individualinteresse" sowohl eigennützlerische Bestrebungen wie auch dem Gemeinwohl verpflichtetes sittliches Handeln bedeuten kann, ist die Frage der Partizipation theoretisch unbestimmt. Politisches Engagement und Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft können andere Wirkungen ausüben als über Partikularinteressen motiviertes politisches Handeln, das nicht dar48
K. L. Shell in der Einleitung zu: J. St. Mill, Betrachtungen, 15.
H. Jacobs, 151. G. Duncan, Marx and Mill. Two views of social conflict and social harmony, Cambridge 1973, 266. 51 J. St. Mill, Betrachtungen, 66. 52 Vgl. Kap.: Legitimitätsvorstellungen bei Kant und Hegel. 49
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aufhin angelegt ist, mit den Erfordernissen der Allgemeinheit übereinzustimmen53. Ein bloß auf egoistische Einzelinteressen bezogenes Leben verlangt nicht nach einer über die Austragungsform von einander entgegenstehenden Interessen hinausgehenden Teilnahme am Zustandekommen des Gemeinwohls. Hiefür genügte der machtvolle Ausbau einer Interessensvertretung, die den einzelnen von Leistungen für die Gemeinschaft gerade entlastet. Zweifellos liegt hierin auch die Crux von Mills repräsentativ-demokratischer Einstellung, die gewählte Elite für die anderen Politik machen zu lassen. Wählen und Politik betreiben, sind dieser Auffassung nach zwei verschiedene Dinge. Der grundsätzliche Standpunkt einer maximalen Teilnahme aller Bürger am Gemeinschaftsgeschehen wird dadurch relativiert. Mills "realistische" Blickrichtung, die "gemeinen", weil nur auf sich selbst bezogenen Klasseninteressen, aber auch menschliches Unvermögen und Unwissenheit demokratietheoretisch zu berücksichtigen, umreißt den Abstand von dem durch direkte Teilhabe sich auszeichnenden DemokratieIdeal. Solange der Bildungsgrad nicht über ein "verläßliches allgemeines Prüfungssystem" bestimmt werden könne, sagt Mill, "liefert die Beschäftigung eines Menschen einen gewissen Anhaltspunkt. Ein Arbeitgeber ist im Durchschnitt intelligenter als ein Arbeiter, denn er muß mit dem Kopf arbeiten und nicht nur mit den Händen. Ein Vorarbeiter besitzt gewöhnlich mehr Intelligenz als ein einfacher Arbeiter und ein Facharbeiter mehr als ein ungelernter Arbeiter. Ein Bankier, Kaufmann oder Fabrikant wird dem kleinen Gewerbetreibenden in der Regel in geistiger Beziehung überlegen sein, weil er umfassendere und kompliziertere Geschäfte zu erledigen hat. In allen diesen Fällen erweist nicht die bloße Übernahme einer höheren Funktion, sondern erst deren erfolgreiche Ausübung den Grad der Qualifikation ... "54. Mill betont zwar, daß weder Besitz noch die Höhe des Einkommens die Stimmengewichtung bei der Wahl beeinflussen darf, doch in Fragen sittlicher Integrität resp. Intelligenz und Wissen sieht er eine solche Einschränkung vor: Bei Angelegenheiten, die mehr als eine Person betreffen, d.h. "wo der Klügere seinen Anteil an der Entscheidung der Führung dem Unwissenderen überlassen muß, wenn der Unwissendere nicht seinen Teil an den 53 Selbst wenn man annehmen würde, daß Partizipation ihrer erzieherischen und moralischen Wirkungen wegen ansteigt, wäre dies vereinbar mit einer ungleichen Machtverteilung und einem dem gewöhnlichen Menschen anhaftenden, in den wichtigsten Bereichen seines Lebens beibehaltenen Mangel an Selbstbestimmung: "There is a vast difference between participation which satisfies and elevates individuals, and that which involves equal power in the determination of public policy, or control over what affects one most profoundly." (G. Duncan, 264.) Die beiden bei Mill in der Kombination von demokratischer und qualifizierter Regierung angelegten Momente (wobei auch der Unterschied zwischen moralischer und technischer Kompetenz ungeklärt bleibt) stehen in Spannung zueinander. Das demokratische Moment wird mit Ausweitung des fachlichen sogar zusehends beschränkter (ebenda). 54 J. St. Mill, Betrachtungen, 152.
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Klügeren abtritt", gehören "die Stimmen derjenigen höher bewertet, deren Meinung größeres Gewicht zukommt"55. Die Konsequenz daraus ist das Pluralwahlrecht, das allerdings "unter keinen Umständen so weit getrieben werden (darf), daß die Individuen, die dieses Vorrecht genießen, bzw. die Klasse( ... ), der diese Individuen hauptsächlich angehören, mit seiner Hilfe das ganze übrige Gemeinwesen majorisieren"56. Mit dem Pluralwahlrecht möchte Mill also keineswegs eine Klassenherrschaft herbeiführen, sondern im Gegenteil, diese verunmöglichen. Obwohl Mill grundsätzlich das allgemeine Wahlrecht, sogar unter Einschluß der Frauen57 , bejaht, teilt er doch mit Aristoteles und Platon die Angst vor dem Demos. Er fürchtet die Klassenherrschaft der Egoisten und Unwissendenss. (Ebenso lehnt er auch eine Klassenherrschaft von Besitzern und Höchsteinkommensbeziehern ab, wogegen ja sein Kampf hauptsächlich abzielt.) In dem Bestreben zwischen den Klassen ein "Gleichgewicht der Kräfte" herzustellen59, schlägt Mill vor, der rein quantitativ kleineren Klasse von Wissenden und Gebildeten mehr Stimmengewicht zu geben, um keiner neuerlichen Klassenherrschaft Vorschub zu leisten6o. Da für ihn auch die sittliche Integrität eine Bildungs- und Erziehungsfrage ist, sollten die (dahingehend) Gebildeten ebenso politisch moralische Anliegen durchsetzen können, wie es unter Bedingungen gleichen Stimmengewichts der Unwissenden und Ebenda, 151. Ebenda, 153. 57 Ebenda, 157 ff. -Dem Thema Frauenrecht hat J. St. Mill sogar ein eigenes Buch gewidmet: "The Subjection of Women" (1869). 58 In der uneingeschränkten Demokratie "bemühen sich alle, die nach politischen Ehren streben, sich, wie Plato im Gorgias sagt, nach dem Bilde des Demos zu formen und ihm soweit als möglich gleich zu werden. Unleugbar enthält die vollkommene Demokratie eine starke Tendenz, die Haltung der Wähler in diesem Sinne zu prägen. Die Demokratie ist dem Geist der Ehrfurcht abträglich." (J. St. Mill, Betrachtungen, 194.) 59 Ebenda, 118; G. Duncan, 267. - Im Gegensatz dazu betonen etwa die Fabier, die sonst in vielerlei Hinsicht ähnlich denken wie Mill in den "Betrachtungen", "their desire to allow government a positive role in economic affairs, and to foster the supremacy of the working-class rather than to balance the interests of worker and capitalist .. . Desiring the full enfranchisement of the working-class, they rejected the restrictions that Mill would have placed on the franchise . . ." (A. M. Mac Briar, Fabian Socialism and English Politics. 1884- 1918, Cambridge 1962, 77.) so Tatsächlich ist Mill weit davon entfernt, das allgemeine Interesse mit dem der Mittelklasse (des Bürgertums) zu identifizieren. Sein tiefes Mißtrauen auch allen bisherigen herrschenden Klassen gegenüber hat ihn auf eine spezielle soziale Gruppe setzen lassen, einer auch moralisch ausgewiesenen Expertenelite (G. Duncan, 282f.). Daß es - seiner Staatstheorie zufolge - zu keiner Klassenherrschaft mehr käme, erblickt Mill in dem Umstand, daß die besten Mitglieder der verschiedenen Klassen der Unterstützung von quasi interessenlosen, moralisch und fachlich "Gebildeten" bedürfen, die ihre Mitarbeit gerade davon abhängig machen, daß das allgemeine Interesse befördert wird (G. Duncan, 267f.). Freilich setzt dies selbst wieder ein bestimmtes Menschen- und Gesellschaftsbild voraus: "Mill identified three essential empirical conditions of civil society - a system of education, the existence of feelings of allegiance or loyalty, and a strong principle of cohesion among the members of the community." (G. Duncan, 269f.) 55
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Ungebildeten nicht möglich wäre. Als Schranke gelte jedoch in jedem Fall: "kein partikulares Interesse sollte so stark werden können, daß es in der Lage wäre, sich gegen alle anderen Teilinteressen sowohl als auch gegen Wahrheit und Recht durchzusetzen51. " Selbst bei den Wissenden und Gebildeten vertraut also Mill der Balanceapparatur von einander entgegenstehenden Interessen mehr als jenen selbst. So meint er, daß das Gute ("Gerechtigkeit und überparteiliche Allgemeininteressen") sich weniger deshalb durchsetzte, weil die Gebildeten schon dafür sorgten, sondern vielmehr weil .,die egoistischen Sonderinteressen der Menschen in der Regel nicht einheitlich sind"62. - Wieder unterstreicht Mill hier den "realistischen" Betrachtungspunkt, der auf den subjektiven (Eigen-)Nutzen des einzelnen abstellt, vor dem normativ-ethischen. Das Allgemeine würde sich schon über den Ausgleich partikularer Interessen herstellen, wenn dieser auch tatsächlich gewährleistet ist. In dieser Hinsicht repräsentierten die Gebildeten eine Korrekturfunktion, die dadurch begrenzt ist, daß das Gleichgewicht sich nicht zu deren Gunsten verändert. Im Verhältnis zu den Ungebildeten jedoch hätten die Gebildeten in dem Ausmaß mehr Entscheidungsgewalt zu bekommen, als ihnen numerisch zu einem Ausgleich fehlt. Mills elitedemokratische Konzeption ist deshalb so interessant, weil sie liberalistisch-homöostatisch angelegt ist, gleichwohl aber festhält an Kategorien politischer Moral, die in einem größeren Ausmaß einer bestimmten Gruppe, den Wissenden und Gebildeten, zugeordnet werden. Demokratie wird grundsätzlich bejaht, doch Einschränkungen seien notwendig, weil ansonsten der Demos die zu erwartende Stimmenmehrheit bloß zu seinem Vorteil und für eigensüchtige Ziele einsetzesa. Welche Einschränkungen ergeben sich hieraus- nach Mill- für das allgemeine Wahlrecht? Zunächst wendet sich Mill gegen jede Form von Mehrheitswahlrecht und stellt im Gegenzug ein Repräsentationssystem vor, das von einem gewissen Th. Rare stamme. Darauf soll hier nicht näher eingegangen werden. Mill jedenfalls plädiert dafür, daß keine Wählerstimmen verloren gehen sollen (die Kandidaten müßtengereit werden; wenn der erste s1 J . St. Mill, Betrachtungen, 119.
Ebenda. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich auch Mills Ablehnung des amerikanischen politischen Systems: .,Da überdies der Demos in Amerika die einzige Quelle der Macht bildet, kreist um ihn aller selbstsüchtiger Ehrgeiz des Landes, wie in despotischen Ländern um den Monarchen: das Volk wird, wie der Despot, von Schmeichelei und Kriecherturn verfolgt, und die korrumpierende Wirkung der Macht hält sich mit ihren bessernden und veredelnden Folgen vollkommen die Waage." (Ebenda, 145; siehe auch: 156, 131 und 135.) Mill stellt ähnlich wie Tocqueville eine Nivellierung der Gesellschaft fest: "Das Repräsentativsystem hat, wie die moderne Zivilisation überhaupt, eine Tendenz zur kollektiven Mittelmäßigkeit, die durch jede Herabsetzung der Wahlrechtsvoraussetzungen und jede Erweiterung des Wahlrechts noch verstärkt wird ... " (131.) 62
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bereits gewählt ist, kann die Stimme einem anderen zugeschrieben werden, oder aber kommt der Wahl von aus einem anderen Wahlkreis stammenden Kandidaten zugute). Im weiteren nennt Mill alle jene Menschen, Gruppen, Schichten oder Klassenzugehörige, die vom Wahlrecht ausgeschlossen bleiben sollen: 1. Jeder, "der nicht lesen und schreiben kann und .. . die Grundrechenarten nicht beherrscht"64, 2. diejenigen, die nicht "ihren Teil zum Steueraufkommen beitragen"65 (dabei denkt Mill nicht an indirekte (Konsum-)Steuern, sondern an direkte wie etwa die Kopfsteuer), 3. Fürsorgeempfänger und diejenigen, die der Unterstützung durch die Kirchengemeinde bedürfen&&. Freilich muß immer wieder betont werden, daß Mill vom Staat verlangt, Erziehungs- und Bildungseinrichtungen zur Verfügung zu stellen, die für jedermann offen sind. Je mehr Menschen sich ihrer bedienen, desto weniger Ausschließungsgründe vom Wahlrecht gäbe es67. So wäre auch ein Bildungsstand denkbar, wo diese ganz wegfielen. Worauf jedoch Mill besteht, ist das Pluralwahlrecht. Selbst wenn es möglich wäre, die unteren Bevölkerungsschichten auf ein höheres Bildungsniveau zu heben, so bliebe doch ein gewisser Unterschied zwischen ihnen und den Wissenden und Gebildeten bestehen. Ein gutes politisches System aber zeichne sich gerade dadurch aus, daß es die Rekrutierung der Elite gewährleistet. Mills Pluralwahlrecht nach hätte die Elite eine nicht über das Kräftegleichgewicht mit dem Demos hinausgehende Stimmengewalt. Die Repräsentativversammlung bestünde aus Vertretern aller Bevölkerungsschichten und solle keine gesetzgeberischen und administrativen Funktionen erfüllen. Dies sei einzig und allein Sache der Elite-Regierung&s. Mit der Ausarbeitung (nicht Ratifizierung) der Gesetze sei eine ebenso fachgerechte Legislativkommission zu betrauen&9. In der Repräsentativversammlung herrsche also der Volkswille, der alle Gewalt in sich schließe (Mill ist ein Gegner der Gewaltenteilung wie übrigens auch von Dezentralisierung) und diese in Form von Kritik- und Kontrollrechten auszuüben habe7D. Die gouvernmentale und kommissionelle Ebenda, 146. Ebenda, 148. 66 Ebenda, 149: "Wer sich durch seiner Hände Arbeit sein Brot nicht selbst verdienen kann, hat keinen Anspruch auf das Recht, sich zu dem Geld anderer zu verhelfen." 67 "Das Wahlrecht bleibt jedem normalen Menschen erreichbar; und wenn jemand auf seine Ausübung verzichten muß, legt er entweder nicht genügend Wert darauf ... , oder er befindet sich allgemein in einem Zustand der Erniedrigung und Entwürdigung, in dem dieses unbeträchtliche zusätzliche Moment, das für die Sicherheit anderer notwendig ist, nicht ins Gewicht fiele ... " (Ebenda.) 68 Ebenda, 98. 69 Ebenda. 10 Ebenda, 99 ff. 64 65
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Expertise hingegen stelle die Führungsmacht dar, die sich nach fachlichen und moralischen Kriterien zusammensetzen müsse. Ausarbeitung, Beschlußfassung und Ausführung der Gesetze obliegt also der Elite, das Parlament aber hätte "für die einwandfreie und vernünftige Wahl dieser Persönlichkeiten zu sorgen" und die Kontrolle über ihre Tätigkeit auszuübenn. Einspruchsrecht, Vorschläge und Initiativen bestimmten die Arbeit des Parlaments (ohne seine Billigung gibt es keine Gesetze). Es soll eine "Stätte" sein, "wo jedes Interesse und das gesamte Meinungsspektrum des Landes gegenüber der Regierung und allen anderen Interessen und Meinungen leidenschaftlich diskutiert werden kann", "während das Handeln, als Resultat der Diskussion, nicht einer gemischten Körperschaft, sondern speziell dafür ausgebildeten einzelnen zukommt ... " 72 (Regierung und. Legislativkommissionen.) Mills repräsentativ-demokratische Konzeption hat also einen starken anti-plebiszitären Akzent, sodaß sie mit Recht auch elite-demokratisch genannt werden kann. Auch wenn grundsätzlich die Erfassung des "empirischen Volkswillens" den Ausgangspunkt bildet, so schränkt Mill diesen doch auf eine "letzte Entscheidungsinstanz" ein73. Auf der Ebene der Repräsentativversammlung ist, bedingt durch das Pluralwahlrecht, der Volkswille bereits so weit strukturiert, daß die Repräsentanten gesellschaftlicher Eliten durch die übrigen Volksvertreter auf Dauer nicht überstimmt werden können. Was nun aber die über die Wahl zum Parlament hinausgehenden demokratischen Beschränkungen anlangt, so sind Regierung und Legislativkommission vom "gemeinen" Volk überhaupt abgehobene Vertretungsorgane, die zwar der Kritik und Kontrolle der Abgeordneten unterstehen, aber wegen der ihnen zugeschriebenen fachlichen und moralischen Qualifikationen zur Herrschaft legitimiert sein sollen. Freilich schließt Mill damit nicht aus, daß die Repräsentanten des einfachen Volkes sich auf dem Diskussionswege von der Elite überzeugen ließen. Dies sei sogar eines der wichtigsten Funktionen des Parlaments. Mills Demokratietheorie impliziert nach oben hin eine stete Verengung in Richtung Elitarismus, dessen fortschrittlicher Impetus in der antifeudalen Haltung besteht, Wissen, moralische Integrität und Leistung als die ausschlaggebenden Kriterien der zur Herrschaft Befugten anzusehen. Dabei räumt er selber ein, daß diese persönlichen Eigenschaften in's Schlepptau von Eigentums- oder Unternehmerinteressen geraten könnten. Trotzdem traut er den Wissenden und Gebildeten ein höheres Maß an politischer Klugheit, Gemeinwohldenken wie auch an Uneigennützigkeit und Gerechtigkeit zu als den unteren Schichten. Mills liberal-demokratischer Gesichts71 72 73
Ebenda, 102 und f . Ebenda, 102. K. L. Shell in der Einleitung, 16.
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punkt wird durch die Koppelung mit einer am Ideal guter und gerechter Herrschaft orientierten Politikbetrachtung eingeschränkt, weil dieses Ideal mit einer Gruppe von durch besondere politische Fähigkeiten und Tugenden sich auszeichnenden Menschen verschmilzt. Das elitär-demokratische Moment geht damit auf Kosten des liberal-demokratischen. Mill steht in einer Reihe bürgerlicher Denker, die einerseits der MittelZweck-Rationalität und den subjektiven Nutzenerwägungen von Individuen Tribut zollen, andererseits jedoch festhalten an der praktisch-moralischen, am Gemeinwohl orientierten Erkenntnisweise. Letztere ist bei Mill sogar der Grund dafür, die für ihn und den Liberalismus bezeichnende Denkhaltung, die Interessen der einzelnen Subjekte von diesen selbst wahrnehmen zu lassen, politisch zu relativieren. Da die Politik das Allgemeinwohl beträfe, hätten die subjektiven (Eigen-)Interessen demgegenüber zurückzustehen; das allgemeine Interesse jedoch würde von denjenigen besser vertreten werden können, die hiezu auch die bessere Einsicht hätten. Die elitäre Demokratie ist das politische Korrektiv zu einer sonst bloß dem Eigennutzen ergebenen Klassenherrschaft der Mehrheit der Ungebildeten. Die Spannung zwischen diesen beiden Positionen durchzieht die "Betrachtungen über die repräsentative Demokratie" bis zuletzt. Dem in "Über die Freiheit" allgemein grundgelegten liberalen und individualistischen Menschenbild, das sich so auch in den "Betrachtungen" findet, wird eine Politikanschauung zur Seite gestellt, die sich der "idealen" Orientierung verpflichtet weiß. Ein gewisser Überhang des normativ-politischen Moments, das als Gegensatz zur uneingeschränkt liberal-demokratischen Sichtweise verstanden werden könnte, macht sich auch dahingehend bemerkbar, daß der staatlichen Seite gesellschaftlicher Kräftebalance besonderes Gewicht beigemessen wird (die Betonung liegt auf der Staatsform). In welchem Ausmaß die zunächst als vom Staat unabhängig angenommenen wirtschaftlichen und kulturellen Mächte herrschaftliche Funktionen ausüben, läßt sich bei Mill am Beispiel der Zurückweisung einer Klassenherrschaft, gerade auch der besitz-bürgerlichen, ablesen74. Insbesondere aber fürchtet Mill die Tyrannei der öffentlichen Meinung, d. h. die Dominanz geistiger Mittelmäßigkeit, wogegen die "rational clerisy", die Elite, das Bollwerk bilden soll. "Convention, custom and the mediocrity of opinion are the enemies in Mill's mythology: the freedom he gives is given in order to subject men's prejudices to reasoning authority75." Mills Aversion gegenüber der öffentlichen Meinung hat vermutlich auch einen tiefen persönlichen Grund. Seine Liebe zu einer verheirateten Frau, H. Taylor, hat ihm das Problem öffentlicher Sanktion individuell-mora74 Daß es sich hiebei um die Klasse des Vaters handelt, ist psychoanalytisch bedeutsam: B. Mazlish, 388. 75 M. Cowling, Mill and Liberalism, Cambridge 1963, 104.
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lischen Verhaltens unmittelbar spüren lassen. Moralische Angst, das Ende von Energie und Unabhängigkeit76 des einzelnen können die Folge des Unverständnisses und Unvermögens der breiten Öffentlichkeit sein. Über dieses Erleben einer von der konventionellen Moral nicht geduldeten Beziehung hinaus zeichnet Mill ganz allgemein ein- Sozialisations- und bildungsgeschichtlich verständliches - starkes elitäres Bewußtsein aus, dem er theoretisch Ausdruck verleiht. Die Lektüre so elitärer (romantischer) Autoren wie Wordsworth und Coleridge gibt ihm dazu den Anstoß. G. Duncan faßt Mills elitäre Ansicht folgendermaßen zusammen: Es sei nur wenigen Menschen gegeben, "selbstlos, fachlich kompetent und selbständig im Denken" zu sein. Demgegenüber würden die meisten sich außerstande sehen, "sich von den Fesseln der Gewohnheit und Tradition zu befreien, vor ihren persönlichen und Klassen-Interessen zurückzustehen und die technischen Schwierigkeiten politischen Handeins zu meistern". Ihr "beschränktes Verstehen, ihre Ignoranz bezüglich moralischer Prinzipien und Unfähigkeit, freie und Information voraussetzende moralische Entscheidungen zu treffen", machen eine Führerschaft unabkömmlich7 7. Mills Konzept der Führerschaft versteht sich in Anlehnung an Coleridge's "clerisy": "Coleridge provided for a class that enjoyed superiority of cultivated intelligence, the clerisy, as he called it. Mill saw it as an 'organized body, set apart and endowed for the cultivation and diffusion of knowledge', and he emphasized that, despite the religious affiliation that it had in Coleridge's thinking, it performed the functions of an intellectual elite7 B." Dieser intellektuellen Elite schreibt Mill besondere moralische Eigenschaften zu. Ihre Ausbildung und Gesittung sorgten dafür, daß sie nicht einem materialistischen Interesse erliegt, sondern sich in den Dienst des Allgemeininteresses der Gesellschaft und der Humanität stellt79. Gegen Mills "moralischen Elitismus"BO sind gewichtige Bedenken angemeldet worden. Auf einige sei kurz verwiesen. Zunächst stellt sich die Frage: Warum sollten der Machttrieb und das tiefeingewurzelte Streben nach Eigennutzen, die doch weitgehend die Politik herrschender Klassen bestimmen, im Falle der Elite verschwunden sein? G. Duncan führt als Erklärung die "Verantwortlichkeit gegenüber den Regierten" an, die selbst dann noch Gefühle der Identität von Interessen wachrufe, wo jene Gefühle aus anderen Gründen nicht existierenBl. B. Mazlish, 380. G. Duncan, 260. 78 J . Hamburger, Intellectuals in Politics. John Stuart Mill and the Philosophical Radicals, New Haven and London 1965, 102. 79 B. Mazlish, 400. 80 Ebenda. 81 G. Duncan, 283. 76
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Tatsächlich setzt Mill bereits voraus, was hier fragwürdig erscheint. Mill gibt die "Hoffnung" auf "Uneigennützigkeit" (disinterestedness) intellektueller Führer nicht aufs2 , oder, um die autoritäre Formulierung des Problems (wie er sie Gustave d'Eichthal gegenüber äußert) zu erwähnen: "The elite was to have 'a pouvoir spirituel capable of commanding the faith of the majority, who must and do believe on authority'83.'' Mills Elitismus lebt von der einfachen Gegenüberstellung der Mehrheit von Unverständigen, Eigennützigen, Prinzipienlosen und der wissenden, uneigennützigen, auch in moralischer Hinsicht gebildeten Elite. Diese Auffassung steht- gelinde gesagt- in merkwürdigem Kontrast zum liberalen Gehalt seiner Lehre. Scharf formuliert: "The traditionalliberal view of each man as his own guide and authority thereby collapses on the ordinary man's incapacity84 ." Spätestens um 1835, nachdem Mill bereits drei bis vier Jahre das rationale Demokratiekonzept Benthams abgelehnt hatte, versucht er eine Versöhnung desselben mit der Forderung nach einer gebildeten Führerschaft, wie sie von Comte und den St. Simanisten vertreten worden ist85 • Sein Bemühen um eine Vermittlung erfolgt auch innerhalb der Gruppe der "philosophischen Radikalen" zwischen "Alten" und "Neuen" 86. Dabei hält er auch an seiner Affinität gegenüber dem Geist Coleridges fest "that was lacking in his relations with the Philosophie Radicals with whom he shared opinions that were oriented to political action"87. Wie immer auch Mill beteuern mag, in beiden Denkhaltungen doch einander ergänzende Momente zu erblicken, es fällt schwer, ihn einen "Demokratisten" zu nennen. Selbst der Mill wohlgesinnte J. B. Müller, der ihm das Verdienst zuschreibt, "der sozialliberalen Interventionslehre eine breite und befriedigende theoretische Grundlage gegeben zu haben"ss, stellt fest: "Das Demokratieverständnis von John Stuart Mill ist jedoch nicht frei von Ebenda, 284. J. Hamburger, 84. 84 G. Duncan, 260. 85 J . Hamburger, 86. "Mill's attempt at reconciliation incorporated both the democratic checks on government that made up the Radical program and the St. Simonian insistence that government be of the wisest and therefore by the Few." (Ebenda, 87.) 86 Ebenda, 100. 87 Ebenda, 112. "Mill played two philosophical roles. Sometimes he preferred the role of Coleridgian philosopher who was broadly concemed with human culture and, within the context it provided, with 'moral regeneration' as the most appropriate means for the improvement of mankind. On other occasions he gave greater prominence to a more narrowly conceived philosophic role; then he emphasized change in political institutions, instead of moral regeneration, as the means of improving mankind." (Ebenda, 110.) 88 J . B. Müller, Liberalismus und Demokratie. Studien zum Verhältnis von Politik und Wirtschaft im Liberalismus, Stuttgart 1978, 192. 82
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Widersprüchen. Besonders Erstaunen macht, daß er gewissen Beschränkungen des Wahlrechts durchaus wohlwollend gegenübersteht89." Das Erstaunen wird dann so groß nicht sein, wenn Mills Wahlrechtsvorstellungen im Zusammenhang mit seinem Bestreben, die "Tyrannei der Mehrheit" zu begrenzen, gesehen werden9o. Hätte J. B. Müller das EliteKonzept Mills näher in das Blickfeld seiner- nach politischen und ökonomischen Kriterien geordneten und mit zusammengenommen vier Möglichkeiten der Kombination91 versehenen- Analyse gezogen, würde er J. St. Mill nicht dem "interventionistischen Demokratismus" zugerechnet haben, sondern der "interventionistischen Elitendemokratie". (Als weitere Einteilung ergeben sich für Müller noch der "marktwirtschaftliche Demokratismus" und die "marktwirtschaftliche Elitendemokratie" .) Angesichts einer derartig schematisierten und idealtypisch konstruierten Betrachtungsweise stellt sich überhaupt die Frage, ob man damit einem universellen und widersprüchlichen Denker wie J. St. Mill überhaupt gerecht werden kann. Abgesehen davon erweist sich - wie bereits früher angemerkt - die Geschichte des Liberalismus im Zusammenhang mit den unterschiedlichsten philosophischen Strömungen der Neuzeit als zu inhomogen, um in ein derart einfaches Raster gepreßt zu werden. Auch die Sozialdemokratie ("soziale Demokratie") läßt sich - wie wir noch sehen werden- schwerlich ideal-typisch festlegen, was nicht zuletzt auch auf ihre liberalen Wurzeln zurückzuführen ist. Hier kommt es vielmehr auf die Legierungen an als auf den "reinen Typus" in ihnen. Freilich wird man einwenden, daß zur Beurteilung eines Amalgams eben dessen Bestandteile - und das sind die "reinen" Formen - erkannt werden müssen. Ideologiegeschichtlich handelt es sich dabei jedoch um ältere Ideengehalte, die um ihrer selbst willen Geltung beanspruchen konnten, nun aber gerade in ihrer "Mischung" mit anderen als wahr angesehen werden. "Mischung" hat hier keine der "Reinheit" von Substanz untergeordnete Qualität, die bloß "entmischt" zu werden brauchte, um ihre "ursprüngliche" Form, ihren "Wesenskern" freizulegen. Vielmehr ist sie als solche in Geltung und keiner weiteren Herleitung bedürftig. In diesem Sinn ist auch der liberale Eklektizismus ("practical eclecticism") zu verstehen, den J. St. Mill vertritt: "Substituting one fragment of the truth for another is not what is wanted, but combining them together so as to obtain as large a portion as possible of the whole92." Und doch hält Mill auch an Vorstellungen fest, die nicht liberal und auch nicht demokratisch genannt werden können. Allein die Tatsache, daß für 89
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Ebenda, 189. B. Mazlish, 401. J. B. Müller, 10. Zit. bei: J . Hamburger, 105.
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Mill der "allgemeine Nutzen" nicht Maximierung irgendeines Glücks, sondern des "höheren Glücks, der Freiheit der Menschen, sich für das vernünftige Streben nach Uneigennützigkeit und Wahrheit zu entscheiden"93, bedeutet, unterscheidet ihn bereits von den (liberal-)ökonomischen Nutzentheoretikern, die die Bedürfnisskalen der einzelnen Subjekte (lndifferenzkurvensysteme, Präferenzskalen) zur Grundlage ihrer Betrachtung nehmen -bei Vorgabe bestimmter Produktions- und Marktbedingungen (die Messung der Nutzenindizes kann ordinal, d.h. bloß ihre Reihenfolge betreffend, oder aber kardinal, d. h. die Nutzendifferenz bestimmend, erfolgen). Nur für den Fall, daß sich die Individuen tatsächlich für die höheren Wertmaßstäbe Mills, wie "Intellekt und Tugend, Altruismus, persönliche Begabung, das allgemein Gute, Lehrer- oder Ratgeber-Dasein, aufgeklärte Minoritäten"94, entscheiden, fielen subjektivistische Nutzentheorie und Mills Utilitarismus zusammen. Wenden sich die Subjekte aber gegen Mills Ideale- und das tun sie ja auch ihm zufolge (noch) in ihrer Mehrheit-, wird die Unvereinbarkeit beider Theorien augenscheinlich. Mills "Idealismus" geht davon aus, daß die Handlungen der Menschen bestimmt werden durch ihr Denken. Demnach könnten sie auch ihre Institutionen, ja selbst die ökonomischen Gesetze der Verteilung frei wählen95. Dieser Indetenninismus würde bewußt nur von der Elite verkörpert, die Mehrheit der Menschen hingegen sei von egoistischen Interessen geleitet. Mills Forderung nach Einführung des Pluralwahlrechts schließlich ist gedacht, der Elite ein Übergewicht zu verschaffen. Wie immer man es wendet, Mill "kann nicht als unzweifelhaft demokratisch charakterisiert werden"96. Wenn auch die These Cowlings, Mill vertrete einen "moralischen Totalitarismus"97, "einseitig" sein mag9s, so trifft sie doch dessen demokratische Schwachstelle. Gemeint ist Mills Unterstellung, die Gesellschaft, sprich: Elite, sei durch "soziale Kohäsion und moralisches Einvernehmen" geprägt. Damit aber würden die gesellschaftlichen Bedingungen für eine Koexistenz einander widerstreitender Doktrinen, wie etwa Liberalismus und Christentum, in Frage gestellt. Mill sei intolerant gegenüber Denkhaltungen, die mit dem Liberalismus konkurrieren. Dementsprechend umschreibt Cowling das philosophische Anliegen Mills in "Über die Freiheit": "On Liberty ... was not so much a plea for individual freedom, as a means of ensuring that Christianity would be superseded by 93 M. Cowling, 101 und f.: "Maximization of the higher happiness comes when men are left free (from mediocre social pressure) to reflect on , and choose, the right action rather than the wrong one." 94 G. Duncan, 291. 95 Ebenda, 291f. 96 Ebenda, 259. 97 M. Cowling, Introduction, XII. 98 G. Duncan, 276.
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that form of liberal, rationalistic utilitarism which went by the name of the Religion of Humanity. Mill's liberalism was a dogmatic, religious one ...99." G. Duncan versucht zwar Cowlings Kritik an Mill abzuschwächentoo, kommt aber selbst nicht umhin, Mills Auffassung von Demokratie als "demokratischen Platonismus" einzustufen1o1 . Da Mill von der Elite ausgehend die Gesellschaft letztlich von Ideen und rationalen Entscheidungen gelenkt betrachtet, geht ihm der Blick für gesellschaftliche Veränderungen verloren, die auch die übrigen Menschen in Stand setzen könnten, diesen Ideen gemäß zu leben. Mill vertraut ausschließlich der aufgeklärten Elite. Diese allein sei imstande, das Aufklärungswerk über sich hinauszutreiben. G. Duncan beschreibt den durchgängig "idealistischen" Zug in Mills Gesellschaftsbetrachtung folgendermaßen: "Change grows from moral and intellectual roots ... Wisdom was filtering increasingly through society, and prejudice was becoming a diminishing force in sociallifel02." Mills Glauben, daß es auch einmal den unteren Schichten gelänge, sich moralische und fachliche Kompetenz anzueignen, wenn nur der institutionelle Zugang zum Erziehungs- und Bildungssystem für alle gewährleistet sei, ist eine der optimistischen Zielrichtungen sozialliberaler Politik. Wird dieser Zugang und damit die Chance auf Aufklärung als gegeben angenommen, können politische Apathie, Renitenz oder subjektives Unvermögen als Selbstverschulden erfolgloser oder unwilliger Individuen begriffen werden. Es ist Mills der traditionellen Lehre von der Politik nahestehende Denkhaltung, die die sonst von ihm auch unter ökonomischem Gesichtspunkt abgehandelten konkreten kompetitiven und disparitären Gesellschaftsverhältnisse unberücksichtigt läßt. Die gesellschaftlichen und psychologischen Bedingungen von Armut und nicht-integrierter, "asozialer" Lebensform treten aus dem Blickfeldl03. Mills aufklärerischer, moralischer Elitismus ist legiert mit liberal-utilitaristischem und demokratischem Gedankengut. Die (in der Mill-Literatur) aufgezeigten Widersprüche ergeben sich dadurch, daß diese unterschiedM. Cowling, XIII. G. Duncan, 276ff. 101 Ebenda, 259: "He was not a democrat of whom it could be said that he genuinely wanted democracy ... " 102 Ebenda, 291. 1oa "However, with all his interest in psychology, Mill does not analyze what may be involved in loss of social esteem and how this leads to loss of self-esteem- or how this threatened loss, in fact, functions as a primeform of social coercion. Yet he is aware of the issue. Neither does he really examine the way in which custom - the social ·mores and morals- filters into our beings and unconsciously shapes our opinions and acts. Yet in his own life he 'knew' that internal controls might be as binding as external ones; that, for example, fear of yielding to 'lower impulses', itself a reflection of social control, could lead to rigid self-control. This sort of 'knowledge', however, never rose fully to the surface in Mill." (B. Mazlish, 393.) 99
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liehen Ansätze gegeneinander gestellt werden. Mill versteht sie zusammenhängend und insistiert auf ihre Komplementarität. Er nennt es "Eklektizismus", daß moralische Imperative und liberale Nutzenerwägungen koexistieren und keiner Erklärung bezüglich ihres Zusammenhangs resp. Unterschieds bedürfen, sondern als gegeben zu betrachten sind.
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Achtes Kapitel
"Liberale Demokratie" und "Soziale Demokratie" Die begriffliche Unterscheidung zwischen "liberaler" und "identitärer" Demokratie ist freilich unzureichend. Zunächst handelt es sich hier um bloß ein Kriterium zur Beurteilung so vielschichtiger Bewegungen, wie es bürgerliche Revolutionäre und später auch "soziale Demokraten" sind. Selbst dieses eine Kriterium läßt jedoch unterschiedliche Interpretationen zu, denen wiederum verschiedene historische Ausgangslagen zugeordnet werden können. So gibt es- entgegen der Bedeutung, die wir dem Begriff liberale Demokratie geben - einen Begriffsinhalt von "Repräsentation", auf Vertrauen basierender Amtsgewalt, der weit hinter den Ordnungsvorstellungen des Liberalismus zurückliegt und doch in diese Eingang gefunden hatl. Auch in dieser Deutung erfolgt die Begriffsbestimmung in Differnz zum Identitätsprinzip plebiszitärer Demokratieauffassung und der dieser entsprechenden Interpretation von Volkssouveränität: "Der zentrale Begriff der repräsentativen Demokratie ist nicht die Volkssouveränität, nicht der Wille, sondern das Amt. Alle verfassungsmäßige Kompetenz ist hier Trust, fiduciary power, Treuhand, anvertraute Aufgabe, Amtsgewalt gegeben zum Zwecke der Realisi~rung der Zwecke des Gemeinwesens2." Der Unterschied zur alten, ständischen Repräsentation sei bloß, "daß das Kabinett heute für seine Amtsführung nicht mehr das Vertrauen des früheren Souveräns, des Monarchen, bedarf, sondern des neuen demokratischen Souveräns, der Wählerschaft" 3 • W. Hennis denkt hier insbesondere an die angelsächsische Theorie der Repräsentation, etwa bei E. Burke, J. St. Mill und W. Bagehot4. 1 Die repräsentative Demokratie ist "eine Fortentwicklung des Ämterstaates, der der politischen Ordnung der feudalen Welt, wie im alten Europa überhaupt, zugrunde lag". (W. Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung, Festgabe für Rudolf Smend, Tübingen 1962, 54.) Ebenso: U. Scheuner, Das repräsentative Prinzip in der modernen Demokratie, in: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, Festschrift für Hans Huber, Bern 1961, 226: "Die ideelle Grundlage repräsentativer Formen liegt vielmehr in den älteren und weiteren Vorstellungen der Begründung aller staatlichen Leitung auf Zustimmung (Delegation) des Volkes und der Fähigkeit von Vertretern, das Volk durch ihre Handlungen wirksam zu verbinden ... " 2 W. Hennis, 54. 3 Ebenda, 57. 4 W. Bagehot, The English Constitution, 1867; deutsch: Die englische Verfassung, Neuwied und Berlin 1971.
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8. Kap.: "Liberale Demokratie" und "Soziale Demokratie"
Ihnen allen sei der Gedanke gemeinsam, daß Legitimität nicht "aus dem Willen des Begründers des Trusts" folgt, sondern im Zusammenhang mit "Vertrauen" auch die persönlichen Eigenschaften von Amtsbewerbern einschließt und also "schon zuvor beim Bewerber um das Amt vorhanden sein" muß 5• Die deutschen Liberalen vor 1830 unterstreichen - durchaus nach dem Vorbild der englischen konstitutionellen Bewegung - die geschichtliche Kontinuität des Repräsentationsbegriffs. Entgegen dem identitären Ansatz von Volksvertreter== Nation in der Sieyes'schen Revolutionsverfassung von 1791 wird an einem "institutionengeschichtliche(n) Zusammenhang" in der "Frage des Verhältnisses von altständischem Verfassungswesen zum modernen Repräsentativsystem" festgehaltens. H. Hofmann sieht darin "nicht etwa nur Taktik der auf Freiheit drängenden bürgerlichen Kräfte" , um ihren Forderungen "den Geruch des Revolutionären zu nehmen"7, sondern die authentische Haltung von Liberalen gegenüber der revolutionären Volkssouveränitätsdoktrin. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet erweist sich auch der ideologiekritische Einwand I. Fetschers bezüglich der Rechtfertigung revolutionärer Ereignisse in England um 1688, daß "tatsächliche Veränderungen als Fortsetzungen der Tradition umzudeuten" versucht werden8 , als gegenstandslos. Für uns hingegen bedeutet der Repräsentationsgedanke, wie er im politischen Liberalismus aufkommt, etwas anderes als es derjenige des mittelalterlichen Ständewesens nahelegt. Unbewußt spricht dies W. Hennis selbst aus, wenn er die Bedeutungsfestlegung von Repräsentation als Amtsgewalt im Liberalismus bedauernd von der seinen unterscheidet: "Statt den Amtsgedanken für sich zu okkupieren, überlassen ihn Liberalismus und Demokratie den Mächten der Vergangenheit, sich selbst damit um die entscheidende Legitimierung eigener Herrschaft bringend9 . " Offenbar will der (politische) Liberalismus, soweit er geistesgeschichtlich in der neuzeitlichen Aufklärung wurzelt, keine epochenübergreifende Kontinuität anerkennen. Das zeichnet ihn gerade als revolutionäre Doktrin aus, deren Stoßkraft gegen den ständischen Obrigkeitsstaat im (Neo-)Absolutismus zielt. Der Schutz durch Gewaltenteilung, die Wirksamkeit der Grundrechte und die sogenannte Wachablösung der herrschenden Parteigruppe bringen bis dahin noch nicht geübte Freiheiten mit sich. Als besonderer s W. Hennis, 56. s H. Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974, 424f. und 407-409. 7 Ebenda, 425. s Siehe Fußnoten 6 und 7 des Kap.: Der liberale Ansatz: J. Locke, D. Hume, Montesquieu. 9 W. Hennis, 63f.
8. Kap.: "Liberale Demokratie" und "Soziale Demokratie"
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gesellschaftlicher Fortschritt ist die Einführung des Leistungsprinzips an Stelle ererbter oder sonstwie in den Schoß gefallener Privilegien anzusehen. - Diese Unterschiede gegenüber dem alten ständischen Prinzip müssen festgehalten werden- auch dann, wenn sich über Konzeptionen von Repräsentation analoge Zusammenhänge ergeben sollten. Überdies sei in diesem Kontext nochmals an H. Blumenberg erinnert, der den eigenständigen Charakter neuzeitlicher Aufklärung gegen jede über die besondere Differenz eines älteren Denkstils hinweg durchgehaltene Kontinuitätskonzeption behauptetlo. Was das Repräsentationsprinzip angeht, würde die Rückübertragung seines modernen Begriffs auf die Gedankenwelt ·des Mittelalters auch jenen methodischen Fehler implizieren, den 0. Brunner so sehr bekämpft. So gibt bereits der Standesbegriff als Vergleichskategoriegroße Probleme aufu. Im Gegensatz zu den theoretischen Konstruktionen von U. Scheunerund W. Hennis wird vom Standpunkt der Geschichte also schwerlich ein Zusammenhang zwischen "liberaler Demokratie" und repräsentativen Formen von Herrschaftsgewalt im Mittelalter festgestellt werden können. Vielmehr soll die Wortwahl "liberale Demokratie" die These begrifflich ausdrücken, daß der Liberalismus in Verbindung mit Demokratie eine ihm eigene Auffassung prägt. Liberalismus wird hier als Denksystem einer gesellschaftlichen Ordnung betrachtet, die bereits existiert hat, bevor sie "demokratisiert" worden istl2. Erst die Herausforderung seitens der alten Demokratiekonzeption (als Herrschaft des gemeinen Volkes) hat den Liberalismus eine Verbindung mit Demokratie eingehen lassen -liberale Demokratie-, die einen neuen Demokratiebegriff darstellt. Seither prägen beide Demokratiepositionen das Bild politischer Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert- wie auch der Sozialdemokratie. Die wohlfahrtsstaatliche Fortbildung der liberalen Demokratie hat im angelsächsischen Raum ihr überlegens-, wenn nicht nachahmenswertes Beispiel von Parteienkonkurrenz, repräsentativen Wahlen, Mehrheitsbildungen, Koalitionen und Fraktionierungen. Sie begnügt sich mit "Gradualitätsent1o H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966; bei uns: Fußnote 13 des Kap.: Französische Aufklärung, Rousseau und die Französische Revolution. u "Eine Interpretation von ordo oder status im Sinne von Klassen oder Ständen im modernen Sinn ist unzulässig." (0. Br.unner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Osterreichs im Mittelalter, Darmstadt (Nachdruck der 5. Aufl.) 1981, 399.) 12 C. B. Macpherson, Drei Formen der Demokratie, Frankfurt 1967, 13: "Bevor die Demokratie in die westliche Welt Eingang fand, bestanden bereits die Gesellschaft und die Politik der Wahlfreiheit, die Gesellschaft und die Politik der Konkurrenz, die Gesellschaft und die Politik des Marktes: die liberale Gesellschaft und der liberale Staat." -Von einer "Demokratisierung des Liberalismus" spricht auch: Th. Schieder, Die Krise des bürgerlichen Liberalismus. Ein Beitrag zum Verhältnis von politischer und gesellschaftlicher Verfassung, aus: Th. Schieder, Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, Teilabdruck in: L. Gall (Hg.), Liberalismus, 196.
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8. Kap.: "Liberale Demokratie" und "Soziale Demokratie"
scheidungen", d. s. Vorzugsurteile auf Grund von Chancen-, Risiken- oder Sachabwägungen. Die liberaldemokratische Auffassung überläßt es den Individuen, welche Sinnansprüche sie sich stellen. Eine an Absolutheitskriterien orientierte Werttheorie wird abgelehnt. Über Werte und Normen befinde jeder Mensch für sich. Der freie Ideenmarkt ist für die liberale Demokratie genauso kennzeichnend wie die Freiheit der Konsumwahl und die durch die eigentumsrechtlich abgesicherte Verfügung über Produktionsmittel garantierte Herstellung x-beliebiger Güter. Die Schwierigkeit von allgemein zurnutbaren Entscheidungen besteht nun darin, daß sich das Resultat, was alles als verbindliche Norm zu gelten hat, nicht ausschließlich in der Weise durchzusetzen vermag, wie es das abstrakte Konkurrenzmodell unterstellt. Anders als auf dem Güter-, Arbeits- oder Kapitalmarkt, wo die verschiedensten Angebots- und Nachfragerelationenüber die Zuteilung aller auf dem Markt gehandelten Waren in der Höhe des Preises befinden, sind etwa politische Entscheidungen über gesellsch1lftliche Zielwerte (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Soiidarität, ...) auf Mehrheitsbildu~gen auf der Grundlage von Abstimmungsergebnissen, z. B. Parteiprogrammen, angewiesen. Diese Einschränkung kann durch keinen höheren Marktpreis etwa in dem Sinne ausgeglichen werden, daß die in der Abstimmung unterlegenen Vorstellungen vielleicht doch noch realisiert werden. Und doch gibt es daraus einen Ausweg. In der Tat ist es vorstellbar, daß sich die verschiedenen Interessensgruppen auf Kompromisse einigen. Oder aber sie gehen "kulant" in der Weise vor, daß Zugeständnisse an die unterlegenen Parteien gemacht werden, um diese auch für zukünftige Abstimmungen an die Spielregeln demokratischen Verfahrens zu binden. Ein anderes Mal könnte ja eine Abstimmung in umgekehrte Richtung erfolgen; dann würde die ehemals erfolgreiche Partei in Anbetracht eines erneut möglichen Wechsels der Mehrheitsverhältnisse die Entscheidungen gegen sich akzeptieren. Auf diese Weise kann die Gunst des Unterlegenen, Abstimmungsergebnisse auch für den Fall hinzunehmen, daß sie gegen sein Interesse zielen, erworben werden. Der Schutz von Minoritätsrechten beispielsweise mag als institutionalisierte Form von Kulanz verstanden werden. Im Grunde geht es darum, den (politischen) Gegner auch nach einer Reihe von Abstimmungsniederlagen oder gar nach Ausscheiden aus wichtigen Entscheidungsgremien auf den vorausgesetzten Basiskonsens zu verpflichten - unabhängig vom jeweiligen Ergebnis der Abstimmungen. Eine Aufkündigung dieses Basiskonsens' kann nämlich Revolution oder Bürgerkrieg bedeuten. Wir haben also gesehen, daß die liberale Demokratie einer politischen Sachlage Rechnung trägt, der nicht mit einer Verallgemeinerung des Markt-
8. Kap.: "Liberale Demokratie" und "Soziale Demokratie"
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modells gedient ist. Politische Entscheidungsfindung läßt sich nicht auf dem Hintergrund des Marktverhaltens erklären, weil sie weder die Unkenntnis der am Verfahren Beteiligten voraussetzt, noch einen dem Marktpreis äquivalenten Gegenwert für mögliche Ungleichgewichte als deren Ausgleich bereitstellen kann. Im Gegenteil: Liberale Demokratie ist ihrer Voraussetzung nach auf einen Konsens über die Spielregeln politischer Abläufe angewiesen. Kantisch gesprochen: Es muß bereits eine Übereinkunft über die Bedingungen der Möglichkeit von Politik hergestellt sein. Das Marktmodell hingegen stellt erst ex post durch das anonyme Verhalten allerAnbieterund Nachfrager fest, wieviel etwas wert ist und was infolgedessen jedem zukommtla. Die Kenntnisnahme erfolgt hier durch das Resultat, währenddessen sie in der demokratischen Auseinandersetzung bereits vorausgesetzt ist. Ideen und Ideenträger müssen bekannt sein, bevor sie noch das Abstimmungsverfahren bestreiten. In der Bestimmung der Spielregeln ist somit der Grundstein gelegt, demgemäß sich die unterschiedlichen Interessensgruppierungen verhalten sollen. Ein Basiskonsens ist für alles weitere konstitutiv (demokratischer Konsens). Die liberale Demokratieauffassung ist also vom Liberalismus als solchem gesondert zu betrachten1•. Es mag zwar paradox erscheinen, daß die liberale Demokratieauffassung nicht nur historisch, sondern auch theoretisch vom Liberalismus getrennt zu sehen ist, doch sei dem damit abgeholfen, daß die Betonung des Begriffs "liberale Demokratie" auf das Wort Demokratie zu fallen hat. Interessant ist, daß nicht nur eine Antithetik zwischen (liberaler) Demokratie und ökonomischem Liberalismus besteht, worauf Macpherson abstellt, sondern auch zwischen (liberaler) Demokratie und den vertragstheoretischen Konzeptionen des politischen Liberalismus (wie z. B. bei J. Locke). W. Becker unterscheidet hier sehr genau zwischen demokratischem Konsensbegriff und individualistisch-rationalem Konsensbegriff. Ersterer meint das Einverständnis von Menschen und Gruppen hinsichtlich demokratischer Verfahren (z.B. relative oder absolute Mehrheitsregel, Einstimmigkeit), letzterer die rationale Zustimmung von Individuen zum gegenseitigen Schutz ihrer langfristigen Interessen, etwa der Grundfreiheiten. Der individualistisch-rationale Konsens legitimiert bereits in Form einer Letztbegründung (Vernunftrecht!), was aus ihm folgt, der demokratische Konsens hingegen setzt eine Legitimation voraus, die nicht bestimmt sein muß (z.B. religiös, traditional, national, oder eben auch individuali13 Betont sei hier der Unterschied zur Form politischer Handlungsabläufe. Daß auch der Marktgesellschaft ein Einverständnis vorausgeht, das die Marktteilnehmer an deren Bedingungen knüpfen, ist unbenommen. 14 Von dieser Differenz geht nicht nur C. B. Macpherson aus, sondern auch W. Bekker (Die Freiheit, die wir meinen. Entscheidung für die liberale Demokratie, München- Zürich 1982). -Ich möchte Herrn Becker an dieser Stelle danken für seine Anregungen bezüglich "liberaler Demokratie" -wie ich sie auch aus Gesprächen mit ihm erfahren habe (Alpbach 1982).
15 Ernst
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8. Kap.: "Liberale Demokratie" und "Soziale Demokratie"
stisch-rational). - Damit scheint hinlänglich deutlich geworden zu sein, warum der Liberalismus aus sich heraus gar keinen allgemeinen Demokratiebegriff entwickeln kann. Auch in der Betonung des Verhältnisses von Rechtsstaat zur liberalen Demokratie, wie dies etwa U. Scheunerund W. Kägil5 versucht haben, wird vom Liberalismus abstrahiert - und zwar sowohl von seinen ökonomischen wie auch vertragstheoretischen Gesichtspunkten. Scheuner wendet sich (ähnlich W. Hennis) gegen das Identitätsprinzip von Regierenden und Regierten und fordert den "Grundsatz der Mäßigung der politischen Macht", der die Bedingung für das Prinzip der Repräsentation und damit verbunden der Gewaltenteilung seil6. Scheuner setzt die liberale Demokratie, deren grundlegendes Merkmal das der Repräsentation ist, bereits voraus. Das ihr eigene "aristokratische Moment"l7 dürfe jedoch genausowenig absolut verstanden werden wie das plebiszitäre. Beide Momente seien gewahrt, wenn Repräsentation "eine Ordnung der Delegation vom Volk her, nicht der unmittelbaren Entscheidung durch das Volk" sei. "Das gilt auch im Verhältnis von Legislative und Exekutive, in welchem der ersteren mehr die Kontrolle und die richtungsweisende Gesetzgebung, nicht die tägliche Entscheidung zufälltls." Diese an J. St. Mill erinnernde Unterscheidung schließt einen als absolut verstandenen Volkswillen aus. Gegen einen solchen wendet sich auch W. Kägi, der "dem absolutistischen Axiom des unbeschränkten pouvoir constituant ... das rechtsstaatliche Axiom einer durch materiale Grundnormen begrenzten, obersten Rechtsautorität gegenüberstellt"l9. Anders wie U. Scheuner kämpft also W. Kägi unter Rekursnahme auf ein normativ-rechtsstaatliches Fundament gegen jede Art dezisionistischer Staatstheorie, der er das Dogma "juristischer Allmacht", "absoluten Mehrheitswillens", "Allzuständigkeit" und rechtsformenmäßiger "Ungebundenheit des Mehrheitswillens" zuschreibt. Dabei versucht er den (liberal-) demokratischen Denkhorizont zu überschreiten, dessen Rechtsstaatsideal der "Formalisierung, Technisierung und Relativierung"2° er auch für absolutistisch erklärt. Für Kägi ist offenbar die Grenze zwischen liberaler und identitärer Demokratieauffassung fließend. Da sich für ihn die identitäre 15 W. Kägi, Rechtsstaat und Demokratie (Antinomie und Synthese), in: Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953. 16 U. Scheuner, 231. n Ebenda. 18 Ebenda, 231f.: "Es entspricht nicht dem Sinn des repräsentativen Systems, dem Volke eine unmittelbare Einwirkung in Gestalt von Sachentscheidungen zu geben, sondern ihm personale Entscheidungen, nämlich die Auswahl seiner Vertreter und möglicherweise auch von Amtsträgern oder auch des Staatshaupts zu übertragen." 19 W. Kägi, 136. 2o Ebenda, 132.
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Ansicht stets in dem Gedanken der Allmacht des Mehrheitswillens niederschlägt21, ist in der Kritik auch die liberale Demokratie getroffen22. Die von W. Kägi herausgestellte Antinomie von Demokratie und Rechtsstaat, die im "dezisionistisch-totalitären" Denken in einen Monismus der Entscheidungsgewalt des Volkes münde, sei nur durch eine Rückbesinnung auf die Grundwerte des Rechtsstaates aufhebbar. Einzig als "Ordnungsidee" und nicht bloß als "Technik" könne der Rechtsstaat seinen synthetischen Zusammenhang mit der Demokratie wahren. Der wesentliche Grundwert der Gemeinschaft aber sei die Gerechtigkeit. Sie müsse sich gegenüber dem Absolutheitsanspruch des Mehrheitswillens durchsetzen: "Nur solange in einer Rechtsgemeinschaft die Idee dominiert, daß die Gerechtigkeit die Entscheidung bestimmt und nicht umgekehrt, wird die Mehrheit verantwortlich, gemäßigt, menschlich bleiben23," Mit diesem Rückgriff auf das materiale Naturrecht kritisiert Kägi also auch die liberale Demokratie, die sich einer normativen Letztbegründung gerade enthält: "Das normative Vakuum, welches das positivistische Dogma für den Bereich der obersten Gewalt behauptet, hat dem Machtwillen nicht nur die Freiheit, sondern auch noch das gute Gewissen gegeben24." Dieser Satz, der den Verzicht auf normative Letztbegründung von der Basis einer Norm aus als Schwäche auslegt, abstrahiert davon, daß liberale Demokratie sich gerade gegen Absolutheitsanspruche wie ständisches Denken, monarchischen Absolutismus und eben auch Liberalismus hat durchsetzen müssen. Diese haben ihren Machtwillen unter der Vorgabe absoluter Werte durchgesetzt, die liberale Demokratie versucht die Machtausübung in Form der Übereinkunft über Abstimmungsverfahren zu regeln. Die auf materiale Absolutwerte Verzicht leistende Grundhaltung setzt jedoch- wie bereits erwähnt - einen Grundkonsens der Beteiligten über anerkennungswürdige Verfahren voraus. Dieser kann verschiedentlich legitimierend wirken. Entgegen der hier vom Liberalismus als gesellschaftlich-strukturellem System abstrahierenden Position sei hier die historische Blickrichtung der Herausbildung von auch zum Liberalismus iri Gegensatz stehender liberaler Demokratie aufgenommen. Demokratie hat dem Liberalismus erst abgerungen werden müssen. Die Bedenken, die Tocqueville und J. St. Mill gegenEbenda, 108f. Für das liberale Zeitalter selbst, "dem die Begrenzung des Staates noch eine Selbstverständlichkeit war" (ebenda, 136), schränkt Kägi allerdings ein: "Im liberalen Zeitalter war es gleichsam ein Dogma ohne praktische Folgerungen und insofern harmlos. Die liberalen Theoretiker dementierten ethisch-politisch, was ihnen juristisch- als Abschluß des Systems- von ihren positivistischen Voraussetzungen her unausweichlich schien." (112.) 23 Ebenda, 140. 24 Ebenda, 135. 21
22
15•
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8. Kap.: "Liberale Demokratie" und "Soziale Demokratie"
über den egalitären Tendenzen der modernen Gesellschaft teilen, drücken einen Grundzug des Liberalismus aus. Als Kriterium hierfür dient der Standpunkt zum allgemeinen und gleichen Wahlrecht. Verglichen mit der Forderung nach einem Zensus, wie etwa bei Benjamin Constant oder Karl v. Rotteck, mag dabei J. St. Mills VorsteUungvon einem Pluralwahlrecht noch gemäßigt erscheinen. "Man kann... sagen, daß sich schließlich der geschichtliche SendungsglauJ:>e des liberalen Bürgertums durchsetzte, der das Wahlrecht als ein politisches Recht, als Vorrecht für die Elite von Besitz und Bildung in Anspruch nehmen ließ. Dazu trat auf der anderen Seite wiederum die Furcht vor den un~ebändigten, unberechenbaren Kräften der Gesellschaft, die mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts die soziale und politische Ordnung aufheben-konnten25." Der Zwang, den liberale Demokratie auf den Liberalismus ausübt, besteht also darin, das gesellschaftliche Marktprinzip mit den Bedingungen formaler Gleichheit im Bereich des Politischen koexistieren zu lassen. Damit aber können auch Ziele durchgesetzt werden, die der ökonomisch-liberalen Gesellschaft zuwiderlaufen. Der Grund, warum der Liberalismus sich einerseits gegen die Demokratie für alle gewehrt hat, ist für viele seiner Vertreter augenscheinlich der gewesen, dieses Risiko nicht eingehen zu wollen. Nachdem aber das System liberaler Demokratie einmal etabliert ist, wird der Liberalismus andererseits versucht sein, Gegenkräfte über das System liberaler Demokratie zu integrieren, um zu verhindern, daß an der liberalen Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft selbst Änderungen vorgenommen werden. Dies mag für die Beibehaltung der ihrem Strukturkern nach ökonomisch-liberalen Gesellschaftsordnung im Regelfall zielführender sein als die Preisgabe von Demokratie mit dem Ziel, die Gegner mit anderen Mitteln zu besiegen. Von dieser Seite her gesehen ist die liberale Demokratie für die Liberalen zum erhaltungswürdigen Instrument geworden, die liberale Gesellschaftsordnung als solche zu bewahren. Der Gegensatz zwischen liberaler Demokratie und Liberalismus ist damit prolongiert. Es ist anzunehmen, daß sich der Kommunismus mit dem Konzept liberaler Demokratie deshalb ungenügend befaßt, weil er es als "bloßes" Formprinzip, als Instrument einschätzt, das die ökonomisch-liberale Gesellschaftsordnung sichern soll. Die Zusammensetzung von Liberalismus und Demokratie demonstriere deutlich, was es mit dieser Demokratie auf sich habe. - Die Übernahme von Demokratie durch den Liberalismus bedeutet dieser Auffassung nach also, daß an der ökonomisch-sozialen Basis der Gesellschaft nichts geändert werden soll. Liberale Demokratie sei der formale Legitimationsvorgang, die bürgerlich-liberale Gesellschaft zu konservieren. 25
Th. Schieder, Die Krise des bürgerlichen Liberalismus, 193.
8. Kap.: "Liberale Demokratie" und "Soziale Demokratie"
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Daß die liberale Demokratie dadurch neue Qualität erlangt, indem sie den strukturellen Widerspruch von Liberalismus und Demokratie gleichsam institutionalisiert, hat der Kommunismus der Bedeutung nach unterschätzt, wenn nicht gar übersehen. Der Verweis auf die ökonomische Basis und des ihr inhärenten Strukturkonflikts von Lohnarbeit und Kapital läßt jeden anderen Widerspruch als Nebensache erscheinen. So wird im wesentlichen stets der Gegensatz von Liberalismus (als Kapitalismus) und Sozialismus diskutiert. Das Zusammengehen von Liberalismus und Demokratie, die liberale Demokratie, gilt demgegenüber als Epiphänomen. Diese Mißdeutung von liberaler Demokratie i~t mit ein Grund dafür, daß die identitäre Demokratiekonzeption auch in der Sozialdemokratie überdauert, bis sie schließlich als mit liberaler Demokratie, der forthin alle Sozialdemokraten zuneigen, unvereinbar erkannt wird. Der identitätsenda, 255.
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Die Konzentration der Kräfte und Eingliederung aller Dazugekommenen soll die Lage an der inneren und äußeren Linie ändern. Bisher haben die Revolutionäre strategisch auf der inneren Linie gekämpft, d. h. sie mußten sich gegen ständige "Einkesselungen" wehren, indem sie sich ihnen zu entziehen trachteten. Ab nun aber wird eine große "Einkesselung" seitens des Gegners "in zahlreiche kleine Einkesselungen der feindlichen Armee verwandelt. Der strategisch aus verschiedenen Richtungen geführte konzentrische Angriff der feindlichen Armee gegen unsere Armee wird im Rahmen des Feldzugs und der einzelnen Gefechte in konzentrische Stöße aus verschiedenen Richtungen umgewandelt, die wir gegen den Feind führen" 58. Dabei bleibt zunächst die strategische Überlegenheit des Gegners bestehen, allerdings auf Kosten seiner operativen und taktischen Position. "Gleichzeitig wird unsere strategisch schwache Position in eine operativ und taktisch starke Position verwandelt. Das heißt auf der äußeren Linie kämpfen, während man auf der inneren Linie Krieg führt, das sind Einkesselungen innerhalb einer ,Einkesselung', das ist eine Blockade innerhalb einer Blockade, Angriff in der Verteidigung, Überlegenheit, wenn man unterlegen ist ... 59." Die revolutionäre Armee und die Partisanen werden sich im weiteren auf einen strategisch "lang andauernden Krieg" 60 einrichten müssen. Dem entsprechen aber auf der anderen Seite operativ und taktisch schnelle Entscheidungskämpfe. Die Umwandlung des strategischen Kampfes auf der inneren Linie in operative und taktische Kämpfe auf der äußeren beläßt die gesamtstrategische Überlegenheit des Feindes. Doch langfristig - und 'das kann Jahrzehnte dauern- wirkt sich die operative und taktische Überlegenheit der revolutionären Kräfte auch auf die strategische Lage aus. Auf dieses Ziel muß - mit gleichsam strategischer Geduld - hingearbeitet werden. Da der strategisch lang andauernde Krieg und die operativ und taktisch schnellen Entscheidungskämpfe nur zwei Seiten ein und derselben Sache seien6I, fordert Mao die Revolutionäre auf, sich den vom Feind aufgezwungenen langwierigen Operationen 'und dessen Strategie des schnellen Entscheidungskrieges zu widersetzen. Im Gegensatz zu starren Fronten und dem Prinzip des Stellungskrieges seien fließende Fronten und das Prinzip des Bewegungskrieges zu fördern6 2 • Ebenda. Ebenda, 258. 59 Ebenda, 258f. &o Mao spricht auch vom "langwierigen Krieg". "Über den lang auszuhaltenden Krieg" siehe: J. Schiekel (Hg.), Guerilleros, Partisanen. Theorie und Praxis, München 1970, 140ff. 61 Mao Tse-tung, Strategische Fragen des revolutionären Krieges in China, 261. 62 Mao Tse-tung, Vom Kriege. Die kriegswissenschaftlichen Schriften, Gütersloh 1969, 70. 57
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D.h. aber auch, daß die Territorien der Stützpunkte gar nicht festliegen: "Bald groß, bald klein, bald eng, bald weit, so geht es ununterbrochen; hier entsteht ein neuer Stützpunkt, dort verschwindet einer, auch das kommt oft vor. Diese Beweglichkeit der Territorien ist voll und ganz durch die Beweglichkeit des Krieges bedingts3." "Partisanen", Guerilleros einerseits und "reguläre Truppen" andererseits stehen zwar unter einer gemeinsamen, zentralisierten strategischen Leitung, im Hinblick auf Operationen und Taktik werden sie jedoch dezentralisiert geführt64. Vor allen Dingen aber muß auf das strategische, das operative und das taktische Zusammenwirken zwischen Partisanenkrieg und den regulären Kriegsoperationen geachtet werden. Mao bestimmt dabei als Tätigkeit der Guerilleros im Hinterland des Feindes, diesen zu schwächen und seinen Nachschub zu behindern oder auch die moralische Begeisterung des ganzen Volkes für diesen Krieg anzufachen, kurz: das strategische Zusammenwirken mit den regulären Kriegsoperationenss. Die taktisch und operativ selbständigen Aktionen der Partisanen wirken sich im Bewegungskrieg gewissermaßen als raumgebundener Faktor aus, der nicht die Beweglichkeit einer raumübergreifenden revolutionären Armee erreicht. So sind etwa die Stützpunkte der Partisanen "diejenigen festen Plätze, die am ehesten dem Partisanenkrieg ... einen Halt für lange Zeit geben"66. Die Operationsweise der revolutionären Verbände werde also dort nicht der Schnelligkeit und Beweglichkeit bedürfen, wo ihr der Feind das gar nicht abfordere. Insgesamt seien jedoch Taktik und Operation so zu führen, daß die darin erreichte Überlegenheit beibehalten werde. Langfristig müsse sich diese notwendig auch auf die Strategie auswirken, denn die Zeit arbeite für die Revolutionäre. Es wurde bereits erwähnt, daß der Befreiungskrieg die Funktion hat, erst in seiner Bewegung jenes Kräftepotential anzusammeln, das er zum Sieg braucht. Die Zahl der kämpfenden Einheiten steigt also gerade durch die Art dieses Krieges an. Metaphorisch gesprochen, wie dies Mao immer wieder tut: "Die·Mobilisierung des einfachen Volkes im ganzen Land wird einen riesigen Ozean schaffen, in dem der Feind ertrinken muß; wird Bedingungen sichern, die unsere Unterlegenheit hinsichtlich der Bewaffnung und anderer Dinge wettmacht und wird die Grundlage bilden, die notwendig ist, um alle Schwierigkeiten in diesem Krieg zu überwinden67." Ziel und Mittel sind eins. Die Menschen befreien sich in und durch den revolutionären Krieg. Damit ist aber auch die Moral den Bedingungen des 63 64 65 66 67
Mao Tse-tung, Strategische Fragen des revolutionären Krieges in China, 260. Mao Tse-tung, Strategische Fragen des Partisanenkrieges gegen Japan, 308. Ebenda, 298. Ebenda, 301. Mao Tse-tung, Vom Kriege, 233.
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Krieges im allgemeinen, dem Interesse der revolutionären Kräfte im besonderen untergeordnet. Sie ist immer dann notwendig, wenn der Befreiungskrieg neue Revolutionspotentiale an sich bindet, deren Enthusiasmus und politisches Bewußtsein den Befreiungsprozeß weitertreiben. Moral ist also der geistige Antrieb, die Revolution siegreich zu beenden. Darin ist also Mao konsequenter Leninist, daß er die Moral dem Zweck der Klasse und der Revolution gänzlich unterordnet6B. Da für ihn die Revolution - im Gegensatz zu Rosa Luxemburg - notwendig mit dem Krieg zusammenfällt, gibt es nur ein Mittel die Moral zu verwirklichen, nämlich die konsequente Verfolgung des militärischen Ziels.- Moral ist hier restlos in militärischem Engagement aufgegangen. · Diese einzigartige Perspektive des Zusammenfallens von Ziel und Mittel hält Mao Tse-tung bekanntlich allen vom "Hegemonismus der Supermächte" abhängigen Staaten als Vorbild vor Augen. Die Befreiung muß ein Akt des Volkes sein und ist letztlich militärischer Art. Dieses Denken hat sich bereits in vielen Ländern der Dritten Welt Bahn gebrochen, u.zw. über die sogenannten Befreiungsbewegungen. Obwohl es hier wieder viele Unterschiede gibt, die zum Teil, infolge der verwirrenden Vielfalt ideologischer Schattierungen, analytisch gar nicht abgrenzbar sind, sei eine Richtung herausgestellt. Obschon Doktrinen, wie beispielsweise Formen des "African Socialism", "arabischen Sozialismus", einiger sozialistischer oder kommunistischer Parteien in Lateinamerika, keineswegs identisch gesehen werden können mit einer militärstrategischen Perspektive im Sinne Maos, ließe sich auch bei ihnen eine das Denken beherrschende strategische Dominanz feststellen, welche Moralgesichtspunkte ihrer Eigenständigkeit beraubt. Gewiß gilt 68 Siehe bereits die Ausführung von oben. Diese (unsere) Sicht ergibt sich durch die bereits vorausgesetzte analytische Trennung von Ziel/Zweck und Mittel, moralischem und strategischem Denken, wogegen sich Mao gerade richtet. Lenin und Trotzki haben zwar des Einwands wegen, bei ihnen heilige der Zweck das Mittel, die Denklogik des Einwendenden aufgenommen, nicht um den Vorwurf zu entkräften, sondern ihn zu bestätigen (siehe: Kap. ,.Lenin I Trotzki und die Russische Revolution"); sie selbst gehen jedoch- wie Mao- von einem Zusammenfallen beider in der Abstraktion getrennten Momente im Rahmen der revolutionären Praxis aus. In der Rekonstruktion (für uns) hingegen, die auch mit dem Lenin, Trotzki und Mao vorangehenden Denken zu tun hat, stellt sich die die moralische vereinnahmende, Ziel und Mittel in-eins-setzende, strategische Sichtweise als Reduktionismus dar. Wenn als weltgeschichtliches Ziel die Befreiung von Ausbeutung, Unterdrückung und Sklaverei gelten soll, dann muß dem Denken- z. B. Kants- nach, das der Moral einen eigenständigen Wert beimißt, der gewalttätige Kampf gegen alles diesem Ziel Abträgliche als bloßes Mittel, ohne jeden Selbstzweck erscheinen. Diese Denkhalti,mg ist es, die den Maoismus relativierend zu folgendem Urteil zwingt: ,.So zeigt :~ich, daß die Anwendung der Gewalt zur Niederwerfung der Opposition aus der Ubereinstimmung mit dem Gesamtziel der Geschichte ihre Legitimation bezieht. Das Ziel heiligt die Mittel der Gewalt, während es selbst keiner Heilung bedarf." (E. J . M. Kroker, Die Gewalt in der maoistischen Lehre, in: E. J . M. Kroker (Hg.), Die Gewalt in Politik, Religion und Gesellschaf1, 118.)
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auch hier, daß faktisch moralische Vorstellungen weiterbestehen. Dem revolutionären Willen zur Macht jedoch muß sich die Moral unterordnen. Daher hat dieser von Revolutionären verwendete Moralbegriff nichts mehr mit dem bürgerlichen oder traditionellen gemein. Es hat den Anschein, daß die Machtausübenden so wie die die Macht Begehrenden "strategischer" denken als die Mehrheit des Volkes. Das moralische Bewußtsein des Volkes kann dabei für die Machthaber sehr nutzbringend sein. Sich der moralischen Denkweise des Volkes bedienen, mag daher eine Einstellung sein, die auch taktischen Erwägungen entspringt. Tatsächlich ergeben sich ja in der postrevolutionären Selbstdarstellung z.B. der Sowjetunion moralische Gesichtspunkte, deren ethischer Wert nicht unbedingt ernst gemeint sein muß, vielleicht auch deshalb nicht, weil man sich gleichzeitig auf die Ansicht der Gründer bezieht, die unverschleiert dem strategischen Denken den Vorzug gaben. Der Befreiungskampf als Einheit von Politik und militärischem Machtstreben kann eine Militarisierung der Gesellschaft zur Folge haben. Sehen wir uns dazu nochmals den sowohl militärischen wie auch politischen Multiplikatorprozeß an, der die Voraussetzung für ein Gelingen der Revolution bildet. R. Debray hat einmal die Strategie der Tupamaros in Uruguay als die der Fokus-Theorie des Che Guevara angemessenste bezeichnet. Unter "Fokus" sei jene militärische Organisation zu verstehen, "die selber zugleich die Funktion der politischen Führung übernommen hat und fähig ist, durch ihre Aktion eine neue revolutionäre Dynamik zu erzeugen"69. Die Aktion muß, soll sie erfolgreich sein, zugleich eine der politischen Agitation sein, d.h. sie bekämpft den politischen Gegner, seine Justiz und Repressalien. Die Bevölkerung wird daraufhin Sympathien für die Revolutionäre hegen oder sich gar ihnen anschließen. Dieser Prozeß darf nicht mechanisch gesehen werden. Er ist langwierig und immer wieder durch Rückschläge unterbrochen. Wie für Mao Tse-tung gilt auch für Debray das taktische Autonomieprinzip: "Jede Abteilung kann völlig selbständig operieren und die von den jeweiligen Verhältnissen erforderten taktischen Entscheidungen treffen. Dagegen gibt es nur eine für alle gültige strategische Linie7o."
Der "Fokus" ist eine kleine Zelle des Volkes, die sich ausweitet, bis sie sich dupliziert. Auf diese Weise sollen viele solcher Zellen geschaffen werden, bis das ganze Staatsgebiet von einem Netz taktisch autonomer, strategisch jedoch verbundener revolutionärer Basen übersät ist. Che Guevara gibt für diesen Vorgang ein recht anschauliches Bild: "Der Guerillakrieg 69 R. Debray, Was wir von den Tupamaros lernen können, in: Sozialistisches Jahrbuch 4/1972, herausgegeben von W. Dreßen, Berlin 1972, 150. 70 Ebenda, 161.
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gelangt in seinem Wachstumsprozeß an einen Punkt, wo sein Aktionsradius eine Region umfaßt, für deren Dimensionen weniger Guerilleros nötig sind, einem Gebiet also, in dem sie übermäßig konzentriert sind. Dann beginnt der Bienenstockeffekt, bei dem einer der Anführer, ein bewährter Guerillero, in eine andere Region wechselt und die Entwicklungsreihe des Guerillakrieges wiederholt, freilich unter einem zentralen OberbefehF1 ." Die Koppelung von politischem Emanzipationskampf und militärischer Strategie soll dieser Doktrin gemäß die Mobilisierung der Massen ermöglichen. Der Befreiungskrieg muß zum allumfassenden Volksbefreiungskrieg werden, bis der "Ozean" des Volkes den imperialen Feind "wegspült" bzw. den Klassengegner "ertränkt". Wie bereits angemerkt setzt sich die Militarisierung der Gesellschaft auch nach dem Ende des Krieges fort. Nun kommt es darauf an, nach innen und außen die erworbene Macht zu wahren. Dazu bildet die bereits militarisierte Gesellschaft die Stütze. Sie muß militarisiert bleiben, weil der Klassenfeind immer wieder neu erstehen kann. Der militärische Selbstbehauptungswille aber soll auch nach außen hin ein Image von "Unbesiegbarkeit" entwickeln und aufrechterhalten. Dazu bedarf es immer wieder der Mobilisierung der Massen über eine Revolution (Kulturrevolution, permanente Revolution). Welche Tendenzen auch zum Tragen kommen, ob gemäßigter oder stürmischer, ihre Dynamik wird strategischer oder gar wieder militär-strategischer Art sein. Zumindest aber muß eine Kampagne zur Bewußtseinsänderung die Fortsetzung der Massenmobilisierung sicherstellen. Dabei ist der revolutionären Auffassung gemäß die Kampagne (=Schlacht) wieder Ziel und Mittel in einem. Ziel ist es, wiederum das ganze Volk für eine Idee zu gewinnen. Die Idee aber ist die Revolution selber, ihr Mittel der (kultur-) revolutionäre Kampf. In diesem Zusammenhang findet - wie bereits erwähnt - der Begriff Moral auch weiterhin Verwendung. Che Guevara etwa begreift die Moral als "das richtige Instrument für die Mobilisierung der Massen"72 • Er steht hier in einer Reihe mit allen militärischen Strategen, deren Subgruppe die Berufsrevolutionäre sind. Die Militärs sprechen allgemein von "Kampfmoral" der Truppe und meinen die Motivation zum Töten. Mit dem Moralitätsbegriff im Idealismus oder auch in der klassischen Ethik hat dies nichts zu tun. Nur die vorgängige Unterordnung von Moral unter die Strategie läßt den Revolutionär fordern, "ein Bewußtsein zu entwickeln, in dem die Werte neue Kategorien annehmen. Die Gesellschaft als Ganzes muß sich in eine riesige Schule verwandeln"73. Dabei mag es sich um die militärisch durchChe Guevara, Guerilla- Theorie und Methode, Berlin 1968, 139. Che Guevara, Über das neue Kuba, in: Sozialistisches Jahrbuch 1, 223. n Ebenda.
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zuführende Revolution handeln oder aber um ihre kulturrevolutionäre Fortsetzung, wie hier gemeint ist. Jedenfalls ist der strategische Blickpunkt nicht zu verkennen, demgemäß das Ziel bereits im Mittel eingeschlossen ist und es nur darum geht, die effektivere Wirkung zu erzielen. Die Moral ist zur Gänze durch Strategisches vereinnahmt worden.
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Namenverzeichnis Aaron,R.I. 13,93,99, 100,114 Abendroth, VV.230,231,251 Adler, M. 246, 253 Adler, V. 233, 235, 251 Adorno,Th. VV. 11, 12,20,24,25,29,30, 34, 37- 39 Alba, Herzog von 48, 49 Albert, M. 240, 251 d'Alembert, J .-B. 127, 130, 133 Allen,J. VV. 52,68 Anderson,P.41,68,268 Andras, Ch. 323 Andreas,B. 232,251,287 Anweiler, 0. 310, 323 Anzenbacher, A. 196, 219 Arendt, H. 14- 16, 18, 19, 39, 196, 219 Aristoteles 19, 51, 52, 61, 68, 76, 80, 86, 87,91, 113,174,184,193,208 Aron, R. 39 Ausubel, H. 199, 219 Avrich, P. 283 Axelrod, P B. 259, 261, 283 Aylmer, G. E. 63 - 65, 68, 71 Babeuf, Fr. N. Gr. 172, 230, 241 Backrnann,L. E. 50,71 Bacon,F 78,91,198 Bagehot, VV. 221,251 Bakunin, M. 234, 255- 257, 283 Baiser, F. 231, 251 Barg, M. A. 41,69 Baron, H. 46, 47, 69 Baron, S . H. 259, 283 Bartsch, G. 239, 251 Baruzzi, A. 85, 90 Batscha,Z.52, 71,176,180,182,192,193 Baudrillard, J . 33, 36, 37, 39 Bauer, VV. 327, 328,344 Baumgarten, H. 240, 251 Bayle, P. 120 - 128, 166 Beales, D. 201, 219 Bebel, A. 233, 241, 243 Becker, VV. 225, 251 Bennett, J . 105, 114
Bentham,J. 104,188,198,199,201,202, 215,256 Berkeley, G. 105, 114, 198 Bernstein, E. 237, 252, 257, 285, 304 Bettelheim, Ch. 195, 219 v. Beyme, K. 170, 173 Beza = de Beze, Th. 47, 69, 70 Birke, A. M. 240, 251 Bismarck, 0 . 235, 240, 304 Blänsdorf, A. 234, 251 Blanqui 231, 238 Bleienstein, F. 55, 69 Bloch, M. 41, 69 Blum 321, 322 Blumenberg, H. 78, 90, 119- 121, 165, 223,251 Bock, H. M. 310, 323 Bodin, J. 54- 57, 69, 71, 83 Böhme, H. 284 Boelcke, VV. A. 197, 198, 219 Böll, H. 118, 166 Boffa, G. 277 Boll, F . 234, 251 Bohatec, J . 47, 69 Boileau, N. 124 Borkenau,F. 80,82,87,90 Botz, G. 196, 219 Bourauel, F . VV 135, 147, 165 Bourdet, Y. 296, 323 Brader, E. 287 - 289, 294, 323 Brahm, H. 255, 262 - 265, 273, 283 Brailsford, H. N. 63- 65, 69 Brandt, C. 333,344 Brandt,R. 107,115, 147,148,165, 240, 251 Braunthal, J . 234, 251 Brendler,G.45, 53,69 Broome, H. J. 133, 165 Brückner, P. 128, 165 Brunner,0. 41,69,223,251 Bruppacher,M. 136,165 Brutus,St.J. 47,49,50,69, 70 La Bruyere, J. 124 Bubner, R. 38, 39
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Namenverzeichnis
Buck, G. 78, 90 Bullock, A. 199, 219 Burgelin, P. 139, 165 Burke,E.93,94, 114,124,125,132,163, 165,221 Butler, J. 199, 200, 219, 236, 238, 251 Byron, G. G. N. Lord 199, 201 Calonne 154 Calvin, J . 44, 46, 47, 50, 51, 66, 67, 69- 71, 148 Carlyle, A. J. 54, 69 Carlyle, R. W. 54, 69 Carpenter, W. S. 100, 115 Carr, E. H. 256, 261, 263- 267, 283, 329, 331,341 Chapman,J. W . 148,149,163,165 Chaumette, P. G. 161 Chiang Kai-shek 330 - 335, 344 Ch'i Hsi-sheng 329 Child, A. 85, 90 Chiout, H. 97, 99, 115 Cicero, M. T. 86, 113 v. Clausewitz, C. 269 Clemenceau 294 Cliff, T. 268, 278, 283, 314 Cobban,A. 142,159,165 Cobden, R. 200 Coleridge, S. T. 201, 214, 215 Colletti, L. 239, 251 Comte, A. 110, 201, 215 de Condillac, E. B. 97 de Condorcet, M. J. N., Marquis 97, 127, 152 Conring, E. 45, 69 Constant, B. 125, 141, 165, 228 Cowling, M. 213, 217 - 219 Cromwell, 0. 63- 65, 67, 73 Cromwell, R. 90 Damilaville, N . 130, 131 Daniels, R. V. 267, 283 Danton, G. 161 Debray,R.342,344 du Deffand, M. A. 130 Degen, U. 82, 91 Dempf, A. 54, 69 Deng Zhongxia 328, 330, 344 Dennert, J . 47, 49- 52, 55, 57, 69, 70, 86, 91 Descartes, R. 86, 91, 184 Desmoulins, C. 161
Deutscher, I. 268, 274, 283 Dewey, J. 85, 90 Diderot, D. 123, 127, 130, 134, 162 Disraeli, B. 238 Döbert, R. 66, 69 Douglas, R. K. 236 Dowe, D. 231, 249, 251 Drath,M. 113,115 Dreßen, W.342,344 Duczynszka, I. 300 Dunayevskaya, R. 283, 344 Duncan, G . 204, 207 - 209, 214 - 219 Dunn,J. 94,97, 100,101,115,335,344 Durkheim, E. 110 Duve, F. 118 Duval, F . 166 Dzierzynski, F. 302, 303 Ebert, F. 310, 311 Ebert, K. 235, 251 Eckstein, W 105, 116 Edwards, J. 97 Eichhorn 313 Eichler, W 248, 249 d'Eichthal, G. 215 Elias, N. 42, 58 - 60, 69, 79 Engels, F . 27, 39, 231, 232, 236, 239, 243, 244,252, 255,260,264,270,272,283, 285 Epikur 77 Erdmann, K. D. 142, 148, 149, 165 Ermers, M. 233, 235, 251 Ernst, W. W. 195, 196, 219, 232, 234, 236, 239,251,263,284,304,306,323,332, 344 Euchner, W. 97, 115 Evremond, St. 124 Fach, W. 82,91 Fairbank, J. K. 327, 338, 344, 345 Farner, A. 66, 69 Faul,E. 230,231,251 Feldman, G. 310, 323 v. Ferber, Chr. 13 - 15, 39 Ferguson, A. 103 Ferrero, G. 19, 39 Fetscher, I. 27, 39, 94, 115, 132, 143, 151, 162,163,165,222,236,239,252,271, 283,306 Feuerbach,L.27. 39 Fichte, J . G. 21 Filmer, R. 93
Namenverzeichnis Fischer, G. 262, 283 Fitzgerald, C. P. 326, 344 Flechtheim, 0. K. 305, 306, 323 La Fontaine, J. 124 Fontenelle, B. 124 Forbes, D. 104, 115 Forschner, M. 134, 139, 147 Forsthoff, E. 191 - 193 Foucault, M. 33, 36, 39 Fralin, R. 146, 165 Frank,J 64,69 Franke, VV.326,344 Franz 1., König 59 v. Friedeburg, L. 39 Friedemann, P. 237, 252 Fries, J. F. 247 Frölich,P297,313,323 Frunze,M. VV. 269 Fuller, J . F . C. 269, 283 Funkenstein, A. 77, 91 Furet, F. 160, 165
Gabriel, VV. 332, 344 Galai, S. 262, 283 Gall, L. 197 - 199, 203, 219, 223, 240, 252 Gallia, F. 49, 70 Gassendi, P 77 Gasster, M. 328, 344 Gast, VV. 175 Gay, P. 237, 252 Gentz, F. 94, 114, 125, 165 Geras, N. 314, 323 Getzler, I. 261, 283 Geyer, D. 265, 283 Giacometti, Z. 226, 252 Gleichmann, P. 58, 69 Glockner, H. 174, 193 Glum,F.133,134,139,142,148,150,165 Goerdt, VV. 282, 284 Goethe, J VV 201 Goudsblom, J . 58, 69 Grab, VV. 157, 158, 161, 165, 168 Grebing, H. 239, 252 Green, F. C. 148, 166 Greiffenhagen, M. 66, 144, 165, 197, 240, 252 Griewank, K. 169, 173 Griffiths, G. 48, 70 Groener 312 Groethuysen, B. llO, 1ll, ll5, 130- 132; 166
349
Groh, D. 234, 239, 240, 252, 304, 323 Grotius, H. 102 Grottian, VV. 270, 271, 281, 283 Grün 232 Grünberg, C. 291 Grunenberg, A. 291 - 293, 296 - 298, 322, 323 Guesde, J . 304 Che Guevara 271, 342 - 344 Gugel, M. 240, 252 Habermas, J. 14 - 18, 39, 52, 70, 82, 85, 91,118, 128,130,143,166,295 Haegi, K. D. 146, 166 Haffner, S. 309, 323 Haimson, L. H. 259, 284 Halberstadt, G. 233, 252 Haller, VV. 64, 70 Hamburger, J. 214 - 216, 219 Harcave, S . 262, 284 Hare, Th. 210 Harrington, M. 260, 284 Haupt, G. 234, 252, 260, 284 Hautmann, H. 235 Hazard,P. 120,121,125,127,166 Hebert, J. R. 161 Hecke!, J . 44, 70 Heer, F. 46 Regel, G. VV F. 21, 22, 25, 31, 34, 75, 80, 82,91,92, 114,119,126,141,166,172, 174,178,179,186-193,202,207,282, 284,290 Heidegger, M. 30 Heimann, H. 237, 252 Helvetius, C. A. 125, 152 Hendel, Ch. VV. 138, 139, 166 Henning, F. 195, 219 Henningsen, M. 204, 219 Hennis, VV. 77, 85, 91, 109,115,221- 223, 226,252 Henrich, D. 182, 193 Henseler, P 107, ll5 Hentze,J. 315,318,323 Hereth, M. 106, 115 Herodot ll3 Herzen, A. I. 256, 257 v. d. Heydte, F. A. Fhr. 54, 70 Hill, Ch. 61 - 65, 69, 70, 268, 284 Hillmann, S. 256, 283, 304, 323 Hinrichs, C. 44, 70 Hirsch, H. 237, 252 Hitler, A. 249
350
Namenverzeichnis
Hobbes, Th. 51, 52, 56, 62, 66, 67, 71- 73, 75 - 92, 94, 95, 99 - 101, 103, 106, 108, 109,110,124,126,133,143,144,147, 167,174,177,178,184,190,198 Hodgskin, Th. 97 Höffe, 0 . 78, 91 Hölderlin, F. 21 - 23 Hölscher, U. 26, 39 Hofmann, H. 173, 222, 252 Holbach, P. H. B. 128 - 131, 152 Holmsten, G. 133, 134, 136, 166 Hondrich, K. 0 . 34, 245, 252 Honneth, A. 39 Hook, S. 239, 252 Hooker, Th. 67 Horkheimer, M. 16, 29, 39, 169, 173 Horowitz, D. 274, 284 Hotman, F. 47, 49, 50, 69, 70 Huber, E. R. 191, 193 Huber, H. 221, 253 Hume, D. 93, 103 - 110, 114 - 116, 129, 133,167,198,222 Hunecke, V. 159, 166 Hunt, R. N. 239, 252 Huntington, S . P. 170, 173 Ilting, K.-H. 78, 91, 189, 193 Imboden,M. 112,115,140,141,166 Ingalls, J. 327 Jacob II. 90, 93 Jacobs,FL 201,207,219 Jaszi, 0 . 291, 323 Jaures,J. 159,166 Jefferson, Th. 97 Jellinek, G. 66, 67, 70 Jen Yu-wen 327, 344 Jogiches, L. 302, 303, 305, 318 Johnson, Ch. 335, 344 de Jouvenel, B. 140 - 142, 146, 166 Kägi, W. 226, 227, 252 von Kaler 235 Kammler,J. 288,290,293,294,296,297, 321,324 Kant,I.21, 25, 71, 78, 86, 91,105,114, 126, 128, 172, 174- 186, 188- 193, 202, 207,245,247,292,293,341 Kapp 297 Karl II., König 90, 93 Karl V. 59 Karolyi, M. 288, 289
Katkov, G. 255, 265, 284 Kaufmann, A. 50, 71 Kautsky, K. 236, 239, 242, 253, 269, 271, 277 Keep, J. L. H. 259, 284 Keller, H. G. 67, 70, 110, 111, 115 Kenny,R.W. 65,70 Kerenski, A. F. 266 Kern, F. 50, 70 Kern, L. 229, 252 Kernig, C. D. 287, 323 Kielmansegg, P. Graf 54, 70 Kindersley, R. 259, 284 Kleinknecht, G. 329 - 331, 344 Klotzbach, K. 249, 251 Knei-Paz, B. 284 Kochan,L. 259,284 Kodalle, K.-M. 84, 91 König, H. 193 Kohn, H. 240 Kolb, E. 310, 324 Kondylis, P. 166 Koritschoner, F. 271 Kornilow, L. G. 267 Korte, H. 58, 6.9 Koselleck, R. 52, 71, 72, 78, 79, 85, 90, 91, 125 - 130, 166, 173 Kossman, E. H. 48, 49, 70 Kossok, M. 45, 53, 69 Krahl, H. J . 298 Kramm,L. 103,106,115 Krauss, B. 306, 324 Kreisky, B. 242 Kriele, M. 72, 91, 144, 166, 197 Kroker,E. J.M.341,344,346 Kropf, R. 235 Krupskaja, N. K. 256, 284 Kuchenbuch, L. 41, 69 - 71 Kuda, R. 311, 325 Kiln, B. 287 - 290, 293, 294, 324, 325 Kunzmann, W. 54 Kuo Heng-yü 333, 335, 345 Kusch, H. 54 Labrousse, E. 125, 166 Lafayette, M. J. 158 Lask, E. 290 Laski, H. J. 197, 201, 219, 220 Lassalle, F. 230 - 234, 240, 242, 251 Laslett, P. 93, 115 Lavrow, P. 258 Lecler, J. 67, 70
Namenverzeichnis Lefebvre, G. 159, 167 Leibnitz, G. W. 102 Lenin, W. I. 145, 171, 172, 237 - 239, 241, 242,244,251,252,255- 257,259-274, 277- 287, 290, 292, 295, 298, 299, 302 - 304, 306 - 308, 313, 315, 317, 318, 320- 322, 324 - 326, 329, 331, 336, 341, 344,345 Lenk, K. 39, 169, 173 Leontovitsch, V. 203, 220 Leser, N. 239, 252 Levenson,J.R.328,345 Levi,P.269, 285,297,300,312 Li Chien-Nung 327, 328, 345 Lichtheim, G. 271, 285, 287, 289, 293, 297,300,324 Liebknecht, K. 269, 284, 303, 307, 312, 313,325 Liebknecht, W. 233, 241, 243 Liebman, M. 265, 284 Lilburne, J . 64, 69 Link, W.247, 249,250,253 Locke, J. 51, 75, 93- 103, 105, 107- 110, 112, 114 - 116, 133, 151, 177, 178, 198, 222,225 Löw, R. 263, 284 Löwith, K. 119-121,167,169,173 Longuet, M. 131 Lorenz,R.327,345 Louis Philippe v. Orleans 194 Lovett, W. 236 Lucas, E. 310, 324 Ludwig XIV. 60, 122 Ludwig XVI. 153, 154, 158, 183 Ludz, P. 324 Lübbe, P. 249, 253 Luhmann, N. 245, 246, 253 Lukacs, G. 246, 248, 281, 283, 287 - 293, 295-301,308,310,314,315,317, 319- 325 Luther, M. 43-47, 66, 70 Luxemburg, R. 145, 246, 262, 281, 283, 287, 290, 296- 310, 312- 321, 323 - 325, 341 Lykurg 148
Mabbott, J. D . 93, 96, 101, 115 Mably, G., Abbe 125, 152, 162, 167 Mac Briar, A. M. 200, 209, 219, 238, 253 Macdonald, R. 238 Machiavelli, N. 85, 124
351
Macpherson, C. B. 18, 39, 64, 70, 76, 79, 81,83,88,90,91,95,96,98, 101,108, 109,115,223,225,253 de Maistre, J . 125, 167 Malthus, R. 104 Mandel, E. 268, 280, 28i, 285, 315, 324 de Mandeville, B. 101, 145, 188, 198, 202 Mandt, H. 176, 184, 193 Manfred, A. 159, 167 Mannheim, K. 73, 91 Mao Tse-tung 170, 271, 281, 283, 326, 327, 329- 342, 344, 345 Marie Antonie 125 Marsilius v. Padua 52, 54, 55, 57, 70, 113 Martinet, G. 277 Martow, J. 0. 261, 262, 283, 306 Marx,K. 27, 39, 82, 91,133,168, 171, 193, 207, 231, 232, 234- 237, 239, 243, 244, 251, 252, 254- 257, 259, 260, 264, 271, 283,285,290,291,295,301, 305, 308,322,324,331 Mary, Königin 94 Masters, R. D. 143, 167 Mathiez, A. 159, 166 Matthias, E. 236, 239, 253 Mattick, P. 257, 266, 285 Matz, tJ. 18, 19,39, 180,193 Mavrakis, K. 275, 285 Mayer,G. 232, 253 Mayer-Tasch, C. P. 147 - 149, 167 Mazarin, J . 60 Mazlish, B. 201, 206, 213, 214, 216, 218, 220 McDonald, J. 151, 162, 167 Medick, H. 76, 77, 91, 102, 115 Meier, Ch. 108, 115 Meißner, W. 328,330,344 Mellink, A. F. 48, 49, 70 Mensching, G. 127, 168 Meszar6s, I. 298 Mettig, V. 231, 251 Meyer,Th. 237,253 Michael, F. 327, 345 Miliband, R. 195, 196, 220 Miljukow, P . 266 Mill,J. 104,198,201,202,220 Mill, J. St. 194, 197 - 221, 226- 228, 230., 256 Millar, J. HIS Milton, J . 62, 70 Mirabeau, H.-G. 158 Mittelstrass, J. 117, 118, 127, 167
352
· Namenverzeichnis
VV. J.240, 253,309,310, 312, 324 de ~ontesquieu, Ch. 93, 108 - 116, 124, 125, 131 - 133, 143, 198, 222 ~oore,St. 239,253 ~orelly, Abbe 123, 125, 152 ~orton, A. L. 236 - 238, 253 ~oses 148 ~ossner, E. C. 104, 110, 115 ~ost, J. 235 ~üller,J.B. 197,215, 216,220 ~üller, ~- 78 ~üller-Armack, A. 74, 91 ~ommsen,
~ünch,R.245,253
~üntzer,
Th. 44, 70
Napoleon I. 194 Napoleon III. 194 Nelson, L. 246 - 248, 250 Netschajew, S. G. 257 Neuendorf, H. 82, 91 Neuffer 21 Neumüller, M. 196, 220 Nietzsche, F . 33 Nikolaus von Kues 52 North, R.C. 329, 332- 336, 3-!5 Nürnberger, R. 50, 70 Numa 148 Oakeshott, ~- 73, 86, 91 Oberwinder, VV. 233 v. Oertzen, P. 310 Opitz, P. J. 76, 91, 327, 328, 332, 345 Orfas, A. 134, 135, 137, 167 Overton, R. 64, 69 Paine, Th. 197 Pangle, Th. L. 110, 115 Papcke,S.237, 239,253,257,285 Parmenides 26, 27, 39 Parsons, T. 245, 253 Pastor, P. 289, 324 Pearl, V. 65, 71 Pease, T. C. 64, 71 Peel, P. 200 Penelhume, T. 104, 107, 115 P'eng-yüan Chang 327, 345 Perrault, Ch. 124 Perry, R. B. 67, 71 Petersen, S. 160, 161, 167 Peukert, J. 235 Pfabigan, A. 239, 246, 253
Pfeil, H. 76, 91 Philipp Il. 48, 53 Pieck, VV. 313 Pilsudzki, J . 302 Pipes, R. 265, 285 Platon 132, 139, 143, 208 Plechanow, G. V.(= Plekhanov, G. V.) 259,261,283 Podlech, A. 44, 71 Pogany 290 Polybios 113 Potthoff, H. 249, 253 Pozzoli, C. 239, 253, 315 Pribram, K. 75, 91 Proudhon 232, 234 Pufendorf, S. 102, 115 Quidort von Paris, J . 54, 55, 71 ·Quoniam, Th. 116 Rabehl, B. 281, 285 Rabinowitch, A. 266, 267, 285 Radczun, G. 324 Radek,K. 269,288,318 Rang, M. 135, 167 v. Rauch, G. 266, 285 Rausch, H. 113, 115 Rawles, J. 78, 83, 91 Recktenwald, H. C. 106, 116 Reibstein, E. 110, 116 Reinalter, H. 196, 219 Rhoden,P.R.194,220 Ricardo, D. 104, 188, 199, 201, 202 Riebet, D . 160, 165 Riede!, M. 52, 71, 85, 91, 178, 188- 190, 193 Rilke, R. ~. 32 Ritter, G. A. 232, 240, 253, 254, 304, 324 Ritter,J. 174, 178,190,193 Ritzel, W. 136- 138, 149, 167 Rivinius, K. J. 232, 253 Robertson, W. 103 de Robespierre, ~. 155, 159, 161 - 164, 167, 172,197, 199,230, 241 de la Rochefoucauld, F. 122, 123, 134 Röd, VV. 78,91 Röhrich, VV. 82, 92 Roesch, E. J. 144, 167 Rosenberg, A. 108, 116, 234, 237, 238, 253 Rosenstock-Huessy, E. (=Rosenstock, E.) 169, 173
Namenverzeichnis Rostock, M. 113, 116 v. Rotteck, K. 228 Rousseau,J.J.75,86,91, 109,112,117, 123, 131- 152, 155, 158, 162- 168, 174, 178,190,197,201,223,239,251,295 Roux,J. 161,167 Rubel, M. 260, 285 Rudas, L. 282, 324 Rue,J.E.331,333,345 Rüfner, V. 105, 116 Saage, R. 47- 51, 57, 61- 64, 71 Saint-Just, L. A. L. 161, 162, 197, 230 Salmon, J. H. M. 55, 71 Salomon, G. 191, 193 Sand, G. 271 Sandkühler, H. J. 246, 253 Sassulitsch, V. I. 259, 260, 261 Sattler von Sivers, G. 328 Say, J . B. 101, 104, 188, 202 Schabert, T. 121, 122, 124, 125, Ül7 Schaefer, A. 104, 105, 107, 108, 116, 129, 167 Schaeffler, R.117, 167 Schapiro, J. S. 198, 220 Schapper,K. 231,232 Scheuner, tr. 55, 71,221,223,226,253 Schicke!, J. 339, 345 Schieder, Th. 223, 228, 254 Schiller, F. 21 Schissler, J. 314, 324 Schleich, Th. 167 v. Schleicher, K. 312 Schlesinger, R. 298, 325 Schmid, C. 69 Schmidt, G. 303 Schmitt, C. 82, 84, 85, 92 Schmitt, E. 153- 157, 163, 167 Schmitt, H.-J. 292, 322, 325 Schmucker,J.F. 29,39 Schneider, D. 311, 325 Schneider, H. 110, 169, 173 Schnur, R. 52, 67, 71- 73, 84- 86, 91, 92 Schopenhauer, A. 273 Schorske,C. 240,254,305,325 Schram, St. R. 330 - 332, 334, 345 Schulz, G. 328, 344 Schulze-Delitzsch, H. 233 Schwartländer, J. 177, 179, 193 Schwartz, B. 331, 333, 344, 345 Schwarz, E. 138, 147, 168 v. Schweitzer, J, B. 233
353
Scotus, D. 117 Seeberger,K. 133,136,168 Seyfarth, C. 69 Shachtman, M. 331, 346 Shackleton, R. 110, 116 Shaftesbury 1., Earl of 93 Shaw, H. 64, 71 Shell, K. L. 205, 207, 212, 220 Shih, V. Y. C. 327, 345 Shklar, J. N. 141, 168 Shock,M. 199,219 Shukman, H. 261, 285 Sieburg, H.-0. 194, 220 Sieyes, E. 157, 158, 163, 168 Smend,R. 109,115,221,252 Smith, A. 82, 91, 101 - 106 108 110 115 116,188,199,202 ' ' ' ' Snow, E. 329, 332 - 334, 345 Soboul, A. 161, 162, 166, 168 Söllner, A. 37, 39 Sohn-Rethel, A. 28, 39 Sorel, G. 271, 285 Sorokin, P. 173 Spaemann,R. 80,92, 180,193 Spinoza,B. 77,78,91 Spiridovich, A. P. 265, 285 Sprondel, W. M. 69 Ssu-yu Teng 327, 345 Stachanow 295 Stadler, K. R. 323 Staeck, K. 118, 166 Stähelin, E. 46, 47, 71 Stalin,J. W. 264,268,269,277,278,285, 295,329,330,331,344 Stallberg,F. W. 13,39 Steck, K. G. 70 v. Stein, L. 191 - 193 Stempel, W. D. 78, 90 Stewart, D. 102, 103 Strauss, L. 76, 78 - 80, 82, 85, 86, 92, 96 Strobel, G. W. 302, 305, 325 Strutynski, P. 237 Sun Yat-sen 328, 329, 335 Susemihl, F. 51, 68 Swarup,S.332,334,345 Szab6,E.290,291,323 Szamuely, T. 255, 259, 285 · v. Taaffe, E. Graf 235 Tagliacozzo, G. 77, 91 Taine, H. 124, 168 Talmon, J . L. 144, 168;197
354
Namenverzeichnis
Talos, E. 235, 254 Tate, G. 236 - 238, 253 Taylor, H. 201, 213, 220 Tenfelde, K. 232, 254 Thiesen, A. U. 272, 275, 285 Tholuck, A. 46 Thomas v. Aquin 52 Thompson, J. M. 156, 168 Thun, A. 257 Tkachew, P. N. 257, 258 Tocqueville,A. 124,125,144,168,196, 210,220,227 Tökes,R.L. 287,289,290,325 Tönnies, F. 79, 82, 92 Tormin, W. 310, 325 Troeltsch, E. 51, 66 - 68, 71 Trotzki, L.l45, 171,255,257, 261 - 269, 271 - 273, 275 - 279, 281 - 286, 295, 305, 307' 308, 315, 317' 318,320,326,331,341,346 Tschernyschewski, N. G. 256 Tucker,R.C. 195,220,239,254,286 ~urgot, A. R. J. 128- 131, 133, 153, 154 Tynjanow, J. 257, 285, 286 Ulam, A. B. 256, 258, 259, 286 Uljanow, A. 256 Utechin, S. V. 286 Vaughan,C.E.95,144,168 Vaughn, K. J. 98, 116 de la Vega, R. 246, 2.53 van de Velde, L. 21, 23, 40 Verene, D. Ph. 77, 91 Vico, G. B. 77, 85, 90, 91, 169 Victoria, Königin 199 Vierkandt, A. 173 Voegelin, E. 76, 91, 169, 173 della Volpe, G. 133, 134, 168, 286 Voltaire, F. M. 97, 108, 109, 123- 128, 130, 131, 133,.168 Vossler, 0. 135, 168 Vranicki, P. 286 Wagenlehner,G. 255,257,286 Wagner, R. 137
Waldman,E.308,309,311,312,325 Walicki, A. 286 Walwyn, W. 64, 69 Wang, Y. C. 327,346 Watkins,J. W. N. 76,92 Weber, H. 249, 254 Weber, M. 12- 16, 21, 39- 41, 66, 69, 71 Weber-Schaefer, P. 328, 346 Weigand, K. 11, 115, 137, 167 Weischedel, W. 175, 193 v. Weiss, A. 305, 325 Weiß, U. 79, 83, 84, 92 Weitling, K. 231, 232 v. Weizsäcker, C. F. 19, 40, 79, 92 Welzl, H. 75, 76, 92 Werdermann, Th. 47,71 Wette, W. 308, 325 Wildman, A. K. 286 Wilhelm IV. 94, 100, 199 Wilhelm der Eroberer 58 Wilhelm von Oranien 48, 49, 90 William of Occam 52 Williams, R. 66 Willich, C. W. 232 Willms, B. 72, 75, 77, 79, 82, 83- 85, 92 Wilson, W. 289, 324 Winckelmann, J. 12,40 Winckler, C. 104, 115 Winstanley, G. 65, 70 Wolf, E. 50, 51, 71 Wolfe, B. D. 286 Wolff, R. P. 204, 220 Woodhouse, A. S. P. 65, 71 Wordsworth, D. 201, 214 Wright, E. H. 132, 168 Wright, M. C. 327, 328, 344 - 346 Yüan Shik-k'ai 328, 329 Zaichnewskij 257 Zetkin, C. 313 Ziegenfuß, W. 131,133,137, 168,274, 286 Ziv,"G. 273 Zur Lippe, R. 82, 92 Zwingli, U. 66, 69