Lebenserinnerungen [Reprint 2020 ed.]
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Lebenserinnerungen von

Prof. Dr. Th. Rumps

A. MareuS und E. Webers Verlag - Bonn Dr. jur. Albert Ahn 1925

Nachdruck verboten.

Meinen treuen Lebensgefährtinnen, den Manen meiner ersten Frau

Bertha geb. Reisenstuhl, meiner zweiten Frau

Minna geb. Block sowie meinen Verwandten, Freunden und Mitarbeitern seien diese Erinnerungen zugeeignet

egen das Ende meines arbeitsreichen Lebens hatte

nicht.

ich das Bedürfnis, mein Leben und meine Arbeiten von der höheren Warte einer gereiften Erkenntnis aus zu betrachten. Auf manchen Erfolg darf ich zurückblicken, aber auch an Irrtümern fehlte es Wer, wie Salluft schreibt, vitam silentio transiit

mag sich rühmen, nicht geirrt zu haben. Dieser Rückblick auf ein bewegtes Leben von mehr als 72 Jahren, das in eine Zeit fiel, deren erster Abschnitt von himmelstürmenden Strö­ mungen, der zweite von schwersten Depressionen erfüllt war, zeigte mir auch, daß ich an manchem Geschehen teils als Mit­ wirkender, teils als begünstigter Zuschauer teilgenommen habe. Es erschien mir deshalb nicht ungerechtfertigt, meine Erinne­ rungen dem Druck zu übergeben; sei es, daß dieselben nur für

die Familienangehörigen und einige Freunde von Wert sind, sei es, daß ein weiterer Kreis Mitlebender und Nachfolgender

sich dafür interessiert. Ich bin am 23. Dezember 1851 zu Volkmarsen in dem Sachsengau des ehemaligen Kurfürstentums Hessen als Sohn des damaligen Geometers und Ziegeleibesihers Georg Heinrich Rumpf und seiner Frau Maria Therese geb. Block geboren.

Sowohl von väterlicher als von mütterlicher Seite entstamme ich einem alten Bauerngeschlecht, aus dem allerdings einzelne Glieder als Beamte, Juristen usw. hervorgegangen sind. Meine väterliche Familie stammt aus Breuna bei Volkmarsen, wo sie in den Kirchenbüchern seit Anfang des 17. Jahrhunderts sich verfolgen läßt. Weiter gehen die Kirchenbücher nicht. In anNumPs, LebenSerinnerungen.

1

deren Akten findet sich, daß 1494 der Erzbischof von Köln mit dem Grafen von Waldeck Streit begann, weil er seinem Feind Rumps und einem Zweiten auf der Wetterburg Unterstand

gegeben hat. Nach einem anderen Bericht (Hessenspiegel 1924, Nr. 39) hatte Otto II. Graf von Waldeck freie Leute von der Kugelnburg in seinen Schuh genommen. In dem folgendeir Frieden gab er diese Leute frei. Da die Kugelnburg auf den, Wege von Volkmarsen nach Breuna liegt, spricht vieles dafür, daß der erwähnte Rumpf der Breunaer Familie angehört. Mein Urgroßvater, der Landwirt Hans Henrich Rumpf junior, geboren am 25. Juli 1754, gestorben am 12. Februar 1819, hatte sechs Söhne. Der älteste von diesen Georg Hein­ rich Rumps, geb. am 29. Dezember 1790, gestorben am 10. April 1862, ist mein Großvater. Ein Bruder von ihm wanderte nach Holland aus, ein anderer blieb 1812 in Rußland, zwei Brüder lebten in Breuna. Daß aber auch ältere Glieder der Familie Rumpf ausgewandert sind, zeigen zwei Daguerreo-

typien in eleganten Etuis, die den Nachkommen der erwähnten Breunaer Verwandten aus Amerika mit Familiengrüßen zugesändt sind. Mein Großvater trat als junger Mensch in die Verwaltungslaufbahn in Wolfhagen ein. Vermutlich als

besonders begabt wurde er in die Kadettenanstalt in Cassel ausgenommen. Er scheint Unterleutnant gewesen zu sein, als das Königreich Westfalen zusammenbrach, und der alte Land­ graf zurückkehrte, der die Ernennungen seines „Vertreters" Jerome nicht anerkannte.

Damit erreichte die militärische

Laufbahn meines Großvaters ihr Ende. Er besuchte dann einige Zeit die polytechnische Schule in Cassel, machte sein Examen

und war jahrelang als Geometer tätig. Später wurde er zum thurn- und toxischen Postmeister in Volkmarsen ernannt und

übernahm gleichzeitig die Posthalterei. Ich erinnere mich seiner

noch gut, war aber vor seinem Tode im Jahre 1862 zu jung,

um wesentliche Erinnerungen von ihm erbitten zu können. Doch sind mir Äußerungen von ihm im Gedächtnis geblieben,

die ihn wenig erfreut über die politische Entwicklung Deutsch­ lands in jener Zeit erscheinen lassen. Als Erbstück von ihm hat mir mein Vater vor langer Zeit einen Ring übergeben, den er als Freimaurerring bezeichnete, mit der Aufforderung, ihn Vorzuzeigen, wenn ich Maurer werden wolle.

Ich habe ihn

gelegentlich getragen, und er wurde als Großmeisterring an­

gesprochen. Winkelmaß, Kelle, Stern, Mond in seiner Elfen­

beinschnitzerei auf blauem Grund sind trotz des GlasschUtzes im Laufe der Zeit in Staub zerfallen. Meine Großmutter, eine geborene Diesohn aus Volkmarsen, habe ich nicht gekannt,

habe mir aber erzählen lassen, daß sie gut zu Pferde saß. Die

Beförderung aus diesem spielte damals eine größere Rolle als heute.

Mein Vater, geboren am 18. Mai 1824, machte eine

ähnliche Laufbahn wie sein Vater und besuchte das Poly­ Er wollte ursprünglich nicht in den Staatsdienst treten; als aber eine kartographische Aufnahme des Kurfürsten­

technikum.

tums Hessen beschlossen wurde, erging an ihn die Aufforderung, sich zur Verfügung zu stellen, wenn er nicht aller Anrechte auf Grund des bestandenen Examens verlustig gehen wolle. Trotz­

dem er jung verheiratet war, folgte er der Aufforderung und war bei der Ausnahme der großen Karte von Kurhessen von

etwa 1852 bis 1862 tätig, im Sommer in verschiedenen Land­ orten des südlichen Kurhessens, im Winter in Hanau am Main

aus dem Büro. Meine mütterliche Familie gehört wohl zu den ältesten

Familien der Stadt Volkmarsen, die ursprünglich zur Abtei

Corvey, später zu Kurköln gehörte.

Teils in der Familie,

teils durch Berichte von jüngeren Zeitgenossen hat sich die Erinnerung an meinen Urgroßvater Anton Joseph Block

erhalten, der 1748 geboren, sich am 14. Januar 1772 mit Maria 1*

Katharina von Germeten vermählte und um 1800 kur­ kölnischer Amtmann und Bürgermeister in Volkmarsen war, in dem Kirchenbuch auch einmal als Konsul bezeichnet. Wie er einem jüngeren Beamten um 1820, als er sein Amt niederlegte, in Plattdeutsch sagte, »hat er vielen Potentaten gedient, und

wenn ihm ein angekommenes Schriftstück gefallen hat, hat er es einhesten lassen, wenn es ihm nicht gefiel, dasselbe in den Papierkorb geworfen. Wenn dann nach Jahr und Tag gefragt wurde, wie es mit der damaligen Sache stünde, konnte er zurückschreiben, daß in der gefragten Angelegenheit in den vorliegenden Akten nichts bekannt sei". Auch von seinen energischen und treffenden richterlichen Entscheidungen wurde noch manches erzählt. Er hatte außer dem Kurfürsten von Köln dem Landgrafen von Hessen-Darmstadt, dem Herzog von Nassau, dem König von Westfalen, dem König von Preußen

1813—1815 und seitdem dem Kurfürst von Hessen gedient. Der Amtmann und Bürgermeister Block hatte fünf Söhne, von denen der zweite 1812 in Rußland blieb, drei in Volkmarsen

Landwirte wurden, der dritte Sohn Theodor, geb. 1779, studierte wie sein Vater Jura, heiratete als kurhessischer Aktuar 1827 eine Anna Maria Behrens und war der Vater meiner Mutter, die noch einen Bruder und eine Schwester hatte. Meine Mutter, geboren am 18. September 1828, war eine zarte Frau, die nach dem Tode von Mutter und Vater, letzterer starb 1839, mit den Geschwistern bei einem Vormund streng

erzogen wurde. So gingen ihre Gedanken häufig in das ver­ lorene Elternhaus und zum Vater zurück, der sich ein behagliches

Haus mit schön gepflegtem Garten in Volkmarsen eingerichtet

hatte. Als meine Mutter sich verheiratete, trat ihre etwas jüngere Schwester mit kurzen Unterbrechungen in das Haus meines Vaters ein. Aus diesem verheiratete sie sich in Heddern­ heim bei Frankfurt mit dem kurhessischen Aktuar Philipp

Wohlgemuth, lebte mit diesem in Hanau am Main, nach dessen Tod mit ihrer Tochter in Cassel. Als kleiner Junge wurde ich in die verschiedenen Ort­

schaften mitgeführt, zunächst nach Bruchköbel bei Hanau, wo mein jüngerer Bruder (später Bürgermeister von Volkmarsen) geboren wurde; in der Folge wechselten wir jeden Sommer unseren Aufenthaltsort; doch sind mir nur an einzelne dieser Orte, so an das bei Frankfurt gelegene Eschersheim sowie an Burghaun bei Fulda Erinnerungen geblieben. Stärker ist meine Erinnerung an die ersten Aufenthaltszeiten in Hanau, wo ich and) im Winter während zweier Jahre die Realschule besuchte. Als die hessischen Stände die Mittel zur Weiterführung der kartographischen Aufnahmen versagten, siedelten wir nach Volkmarsen über, wo mein Vater in der Leitung seiner Ziegelei Beschäftigung fand, aber außerdem als Postgehilfe bei meinem Großvater tätig war. Rach dessen Ableben im Jahre 1862

wurde er ebenfalls Postverwalter und Posthalter, da er sich die Berechtigung zu einer Anstellung im Staatsdienst erworben hatte. In Volkmarsen besuchte ich die Volksschule und freue mich noch heute der drei in dieser verbrachten Jahre.

Das mehr­

jährige Zusammensein mit meinen Freunden aus der Volks­

schule, das bis heute seine Fäden gesponnen hat, bewahrte mich im Leben vor Gelehrtenstolz und Kastengeist, die in den letzten

Jahrzehnten vor unserem Zusammenbruch soviel Unheil an­ gerichtet haben. Manches treffliche Urteil ist mir aus Bauern­ häusern in Erinnerung geblieben, allerdings auch manche Äußerung, die dem bäuerlichen Egoismus entsprungen war.

Wir tummelten uns im Feld, in den Ställen, auf dem Bruch, einer großen Weidefläche, badeten im Sommer im Flüßchen Twiste, schlugen Iungenschlachten, schlugen Ball,

wie das das Leben in einer kleinen Landstadt mit sich bringt. Gelegentlich durste ich auch auf einem gesattelten Ponny meines Großvaters ausreiten, wobei das Ponny mich abwarf, sobald ich ihm mit einer Reitpeitsche den Herrn zeigen wollte;

auch aus ungesattelten Pferden vor einem leichten Wagen haben mein Bruder und ich uns im Reiten versucht, wonach ich gelegentlich des Rückens Endpartie kühlen mußte. Zu einem damals gebräuchlichen Iungenspiel wurde gesungen: „Hermen, slah Lermen mit Piepen und Trummen, der Bares will kummen mit Hammer und Stangen will Hermen uphangen." Da meine Heimatstadt nur wenige Meilen von Mars­ berg und der Irmensuhl entfernt liegt, sind diese Verse vielleicht uralt und erinnern an die Schlacht im Teuto­

burger Wald. Das Leben in Volkmarsen war recht einfach und anspruchs­ los; sah, und ihre

wer das Städtchen um die Wende des 19. Jahrhunderts konnte sich kaum eine Vorstellung davon machen, wie eng beschränkt unsere Großeltern gewohnt haben, wie gering Bedürfnisse an häuslichem Behagen waren. Die Ein­

nahmen waren klein, allerdings waren auch die Steuern

minimal. Rach der Annexion von Hessen durch Preüßen stiegen dieselben sofort aus etwa das Zehnfache.

Die Herrschaft von Kurköln hatte zur Folge, daß Volk­ Allerdings war es nach der Reformation eine Zeitlang evangelisch, wurde aber marsen zum größten Teil katholisch war.

mit Waffengewalt zum alten Glauben zurückgeführt.

Mein

Großvater war evangelisch, meine Großmutter katholisch. Als

mein Vater geboren war, hätte et nach dem hessischen Gesetz,

welches für die Söhne aus gemischten Ehen die Religion des

Vaters, für die Töchter diejenige der Mutter bestimmte, evangelisch werden müssen. Aber es gab damals in Volkmarsen weder einen evangelischen Geistlichen, noch eine evangelische Schule.

So wurde mein Vater in die katholische Schule ge­

schickt und wurde katholisch. Als später eine evangelische Schule in Volkmarsen eingerichtet war, wurde der jüngere Bruder meines Vaters evangelisch. Infolge vieler Mischehen und der kurhessischen Gesetze waren schwere konfessionelle Gegensätze nicht vorhanden; auch mit den Israeliten bestanden friedliche, zunr Teil frelmdschaftliche Verhältnisse. So gehört Prof. Dr. Albert Alsberg, jetzt Oberarzt am israelitischen Krankenhaus in Hamburg zu meinen Jugendfreunden. Rach hessischem Gesetz, an dem als Vertreter der jüdischen

Gemeinden ein Rechtsanwalt Alsberg vom Oberappellations­ gericht in Cassel mitgewirkt hatte, durfte nur ein Sohn eines jüdischen Kaufmanns das Handelsgeschäft seines Vaters fort­ führen, und war jede Parzellierung bäuerlichen Besitzes (durch Verkauf) verboten, wenn derselbe nicht von dem Besitzer mindestens fünf Jahre bewirtschaftet war. Infolgedessen gab es in Volkmarsen die verschiedensten jüdischen Handwerker.

Diese Gesetze sind aus dem Wege der Verordnungen

erlassen, nachdem unter dem 5. März 1816 und 29. Oktober 1833 die alten konfessionellen Beschränkungen großenteils aufge­

hoben waren (vgl. auch Verordnung vom 4. März 1858 bei Müller und Fuchs, Marburg 1867).

Rach der Annexion wurden diese Gesetze aufgehoben, die Zahl der jüdischen Händler und die dadurch bedingten Schädi­

gungen nahmen zu, und es entstand vor allem in Oberhessen eine antisemitische Bewegung, die immer weitere Kreise zog. Gewiß waren manche Klagen der Bauern, die infolge schlechter Schulbildung jüdische Übervorteilungen erfuhren, berechtigt;

auch lag das bäuerliche Kreditwesen damals im argen — das ist aber alles anders geworden, heute übertreffen viele Bauern an Schlauheit den jüdischen Händler, und die Sparkassen der Kreise nehmen Wucherzinsen, wie sie kaum ein Jude gefordert hat. Wenn Torheit einen Teil unseres Unglücks dem Judentum zuschiebt, so liegt der Grund darin, daß die teilweise schuldigen Ostelbier einen Prügelknaben suchten.

Gegen mein 10. Jahr erhielt ich neben der Schule Privat­ stunden im Lateinischen, aber die Resultate dieses Unterrichts bei verschiedenen katholischen Geistlichen waren nicht groß, die Ablenkungen allzu reichlich. Die katholische Kirche mit ihrem teilweise pompösen Gottesdienst, von welchem ich in Hanau kaum etwas gesehen hatte, machte mir in Volkmarsen zunächst einen tiefen Eindruck. Ich bin auch etwa ein Jahr lang Meß­

diener gewesen, aber eine, wie ich glaubte, unberechtigte Ohr­ feige setzte dieser Tätigkeit ein Ende — keine Entschuldigung, kein Bitten des Kaplans veranlaßte mich, den bunten Rock wieder anzuziehen. Vielleicht kam noch etwas Weiteres hinzu. Ich sah, mit welcher Verehrung im Angesicht des Volkes auf

dem Altar die Monstranz mit der Hostie behandelt wurde und konstatierte, daß sie in der Sakristei mit wesentlich geringerer Verehrung in den Schrank gestellt wurde. An meine Meß­ dienerzeit wurde ich später häufig erinnert, wenn ich in ägyp­ tischen Tempeln in Pompeji und in Ägypten selbst die alten Hallen mit ihren Bildern und den nur den Priestern zugängigen Räumen besichtigte. Als ich den 12. Geburtstag hinter mir hatte, wurde ernstlich

beschlossen, daß ich eine höhere Schule besuche. Die Schwester

meiner Mutter und ihr Mann, der hessische Aktuar Wohlgemuth in Hanau, entschlossen sich, mich in ihr Haus aufzu­ nehmen.

Sie hatten nur ein Töchterchen, das einige Jahre

jünger war als ich.

So kam ich aus das Gymnasium nach Hanau und wurde in Quinta ausgenommen; doch mußte ich noch ein halbes Jahr Nachhilfestunden im Lateinischen nehmen. Ich verdanke den

Hanauer Verwandten, der Stadt Hanau und dem Hanauer

Gymnasium viel, wenn ich auch eine teilweise Umgestaltung des hunianistischen Gymnasiums schon immer für dringend

erwünscht hielt. Daß wir in den beiden letzten Jahren der Prima vier Stunden wöchentlich Cicero de oratore übersetzen mußten, sand ich eine Tortur. Demgegenüber wurde Deutsch und der deutsche Aussatz wenig gepflegt, der freie Vortrag in der Schule kam gar nicht in Frage. Meine späteren akademischen Lehrer Pros. Erb nni) Pros. Kühne haben meine ersten Arbeiten stylistisch ebenso korrigieren müssen, wie ich in der Folge die Arbeiten meiner Schüler, über deren Deutsch mit lateinischen

Konstrriktionen ich mich stets entsetzte. Turnen und körperliche Übungen wurden gegenüber den Geistesübungen weniggeschätzt.

Hanau war schon damals eine interessante Fabrikstadt mit Bijouterie- und Tabaksabriken, einer Eisengießerei, einer Teppichweberei usw. Die Fabrikanten und Kaufleute, die weit

in dieWelt kamen, spielten eine hervorragende Rolle; es wehte eine freiere Lust als in dem nördlichen Kurhessen. Dazu trugen

auch die Abkömmlinge der vor Zeit in Hanau angesiedelten Hugenottensamilien bei, die noch einen französischen Prediger,

damals Leklerk, hatten, den ich mehrfach gehört habe, als ich

mich durch Privatunterricht in der französischen Sprache etwas ausgebildet hatte. Das Gymnasium hatte teilweise gute Lehrer. Ich war etwa zwei Jahre in Hanau, als der Krieg von 1866

ausbrach.

Wir sahen die österreichischen Truppen auf ihrem

Rückzug aus Holstein, die von der Bevölkerung warm begrüßt wurden, die Württemberger und Darmstädter, welche kaum in

den Kamps gekommen waren, sahen, wie die preußischen

Truppen in der Mittagszeit von langen Märschen von Aschaffen­ burg eintrafen und statt ihr Quartier auszusuchen, sich zunächst auf den Marktplatz zur Ruhe legten; wir besuchten noch in der folgenden Nacht das Lager der Württemberger aus dem linken Mainufer, in das wir dringend erbetenes Brot brachten.

Kurhessen wurde annektiert, mein Onkel war großdeutsch­ österreichisch, Bekannte von uns und mein Vater preußen­ freundlich; wir Tertianer unter der Führung des Klassenvrdinarius trugen rotweiße Schleifen und markierten gegen­ über anderen Lehrern die Hessen. Als im Jahre 1867 der Geburtstag des Kurfürsten sich jährte, feierte die Tertia des Gymnasiums diesen Tag mit einem Kommers aus hessen-darmstädtischem Gebiet; ich als Sprecher der Obertertia hielt die Rede auf den vertriebenen

Kurfürsten und versicherte ihn unserer unverbrüchlichen Treue. Ich habe in späteren Jahrzehnten auf Festessen manche Geburtstagsrede auf den Landesfürsten gehört (seit 1903 habe ich aller­ dings keinem dieser byzantinischen Festessen beigewohnt), aber

sie waren nicht weniger Dichtung als die meinige als Vertreter der Obertertia. Solange der Kurfürst regierte, wurde auch sein Geburtstag von den Behörden sowie vom Gymnasium mit einem Festakt gefeiert. Ich erinnere mich noch deutlich der Feier von 1865. Die Festrede wurde in der Aula von Dr. Suchier gehalten und beruhte aus einem Vergleich zwischen Griechenland und Deutschland. Griechenland, so

führte der Redner etwa aus, sei niemals ein einheitlicher Staat geworden, aber in seinen einzelnen unabhängigen Staaten

habe es hohe Kulturen entwickelt, deren Strahlen durch Jahr­

hunderte die Welt durchleuchtet hätten; auch Deutschland habe derartige Kulturzentren der Dichtung, Forschung und Kunst,

die ihre Wärme über das ganze Land ausgießen — vermut­

lich sei dieser Reichtum der Ersatz für den Einheitsstaat.

In den Jahren nach 1870/71 habe ich gelächelt, wenn ich

dieser Rede dachte, heute, wo die errungene Einheit unseres Vaterlandes noch immer in Gefahr schwebt, vermag ich es nicht mehr. Der Krieg 1870/71 führte uns ältere Gymnasiasten als

freiwillige Krankenpfleger in die Lazarette, mich vor allem in das Kesselstädter Schloß. Bei der Pflege der Verwundeten erwachte in mir der Wunsch, Medizin zu studieren. Ich hatte mich zwar als Kriegsfreiwilliger beim 11. Art.-Reg. in Cassel gemeldet, wurde aber nicht angenommen, weil mir der schrift­ liche Erlaubnisschein meines Vaters fehlte. Diesen mir auözustellen weigerte er sich auf Bitten meiner Mutter. Mit dem Eintritt in die Sekunda, dem Lesen der Odyssee und einiger lateinischen Schriftsteller sowie der Tanzstunde stellten sich naturgemäß auch Iugendschwärmereien ein, sie haben aber auf mein Leben keinen wesentlichen Einfluß gehabt. In der Prima fesselte mich vor allem Horaz und Sallust. Ich nahm übrigens in Obersekunda und Prima am evangelischen Religionsunterricht teil, weil mir der Gymnasialdirektor Piderit in Aussicht stellte, er könne mir das für das Abiturienten­ examen notwendige Zeugnis in der Religion ausstellen, was sich aber in der Folge als nicht möglich erwies. Ich war auf Prima schon über 18 Jahre alt und sing an, mich nach dem Zweck des Lebens zu fragen, nachdem die Dogmen und Gebräuche der katholischen Kirche mein religiöses Empfinden nicht mehr befriedigten. Ich hoffte bei den Philo­ sophen Aufklärung zu finden und habe auf gutes Glück die ver­ schiedensten in der Hanauer Stadtbibliothek befindlichen Werke philosophischen Inhalte zu studieren versucht. Sie haben mir leider nicht die erhoffte Aufklärung gegeben.

Run vertraute

ich in den Ferien meine Gedanken meinem Vater an. Dieser war mir seither in Naturwissenschaften und Physik ein guter

Lehrer gewesen, hatte aber stets versucht, meine kirchlich reli­ giösen Zweifel zurückzudrängen. Nun gestand er mir, daß er die Dogmen der Kirche nur als Symbole für das gewöhnliche Volk betrachte, das sich zu einem höheren Gottesbegrifs nicht ausschwingen könne. Wir müßten uns mit unbeantworteten Fragen begnügen, wie sie schon Goethe im Faust aufgeworfen

hatte. Unser menschliches Forschen sei begrenzt durch die Fähigkeit unseres Erkenntnisvermögens. Als ich später Kants

Kritik der reinen Vernunft las, war es mir nicht mehr neu, daß all unser Denken auf die Eindrücke der Sinnesorgane zurückzuführen sei. Diese Anschaltung war den Unterhaltungen mit meinem Vater entsprungen, der vermutlich auch Kants Namen genannt hat, da mir sein kategorischer Imperativ der Pflichterfüllung aus der Jugendzeit in Erinnerung geblieben ist. Meine spätere Beschäftigung mit Kant befriedigte mich insofern nicht, als ich auch die Anschauungen über Raum und Zeit auf Erfahrungen, d. h. auf Einwirkungen durch die verschiedensten Sinnesorgane und ihre gegenseitige Kontrolle zurücksühre. Daß als Erbstück ein Organ zur Ausnahme aller

dieser Empfindungen vorhanden ist, vielleicht auch von den Sinnesorganen ausgebaut wird, nehme ich natürlich an. Nach dem Abgang vom Gymnasium und von Hanau

Ostern 1872, wo unterdessen mein Onkel gestorben war, ging ich nach Marburg Medizin zu studieren, nicht ganz nach dem Wunsch meines Vaters, der mich lieber als Juristen oder in

einem technischen Berus gesehen hätte. Trotzdem ich bei dem Corps Hasso-Nassovia aktiv wurde, konnte ich doch meinen

Studien ziemlich fleißig obliegen und Ende des 4. Semesters mein Physikum machen.

Don meinen Lehrern habe ich die

Anatomen Lieberkühn und Wagner, den Chemiker Carius und den damaligen Privatdozenten der Physiologie E. Külz in dankbarer Erinnerung behalten.

Letzterer gab sich große

Mühe, manche etwas verbummelte Studenten zum Arbeiten zu bringen und zum Physikum vorzubereiten, was in den meisten Fällen auch gelang. Aus meiner Korpszeit leiten sich viele treue Freundschaften mit älteren und jüngeren Korps­ brüdern her. Ich nenne vor allem Louis Rehn, der später Professor der Chirurgie in Frankfurt war, Pros. Sippel ebenda, Hermann Kümmell, den Hamburger Chirurgen, die Ärzte Carl Zeh in Hanau und Schönemann in Saar­ brücken, die Amtsrichter Fliebner und Kersting, von welchen ersterer als Oberregierungsrat in Cassel lebt, letzterer als pensionierter Landgerichtsdirektor in Berlin gestorben ist. Die Ferien verbrachte ich meist in Volkmarsen, wo ich auch reichlich Zeit sand, das im Semester Gelernte zu rekapi­ tulieren und auch Versäumtes nachzuholen. Die Beschäftigung mit erlegtem Wild gab mir auch Einblicke in den Bau und die körperlichen Funktionen der Tiere. Auch von Metzgern ließ

ich mir das eine oder andere Organ geben. Besonders inter­ essierte mich das Auge. Als ich ein frisch vom Metzger ent­

nommenes Exemplar in meinem etwas dunklen Arbeitszimmer durchschnitt, kam mir die Sehhaut rötlich vor; am Fenster ver­ blaßte die Farbe. Daß die Farbe nicht von einem Tropfen Blut kommen konnte, stellte ich fest, verstand aber den Vorgang nicht.

Erst nach Jahren ersah ich in dem physiologischen Institut von

Prof. Kühne in Heidelberg, daß ich damals der Entdeckung des Sehpurpurs nahe war. Ende des vierten Semesters hatte ich in Marburg das Gefühl, daß mein weiteres Derweilen für meine Ausbildung unzweckmäßig war und ging mit meinem Korpsbruder Vietor

nach Freiburg. Wenn wir auch dort mancherlei Studentisches trieben, im ganzen war ich fleißig, hörte bei dem Chirurgen

Maaß, bei Kußmaul, einigen Dozenten und nahm an dem physiologischen Praktikum bei Pros. Funke teil. Das sonnige

Freiburg mit seinem Schwarzwald im Osten, dem Pfingst-

ausflug in diesen, mit dem Blick auf die Wasgauberge im Westen und mit seiner alemannischen Bevölkerung ist mir damals so

lieb geworden, daß ich in manchem späterem Jahr dorthin zurückkehrte und auch mit Vietor an der Gründung des Korps Hasso-Borussia mich beteiligte. Auch die hieraus entstehenden Beziehungen brachten mir in der Folge viele Freunde. Ins­ besondere verkehrten alle die jüngeren Korpsbrüder, die in Bonn nach der Freiburger Seit Iura studierten, in unserem späteren Bonner Heim wie unsere Söhne. Von älteren Freun­

den nenne ich Dr. V e rm e i l(Baden),Amtsgerichtsrat Reimers (Ratzeburg), Prof. Sonntag (Freiburg), Bürgermeister Diestel (Hamburg), Dr. Pretorius (früher in Antwerpen), den jetzigen Abgeordneten Negenborn, den Regierungs­ präsidenten Momm, den Oberregierungsrat Neff. Im Wintersemester 1875/76 ging ich mit meinem Volkmarser Jugendfreund Emil Ritter nach Leipzig, uni auch eine größere

Universität kennen zu lernen.

Ich hörte dort die Professoren

Wagner, Wunderlich, Thiersch, Bälz u. a. Von Thiersch ist mir besonders eine Äußerung im Gedächtnis geblieben:

„Mein Herz zieht mich zu den Bakterien, aber mein Verstand sagt, warte noch ein bißchen." Diese Äußerung schloß an einen

Vortrag des Greifswalder Prof. Carl Hüter auf dem Chirurgenkongreß an, der einfache Eiterbakterien als Erreger der Sepsis betrachtet hatte.

Die eigentlichen Erreger dieser

waren mit den damaligen Mikroskopen nicht sichtbar. Erst die Erfindung eines neuen Mikroskops durch Abbee und Zeiß

ermöglichte die Sichtbarmachung. An Stelle der Listerschen Wundbehandlung mit Karbolsäure, deren Verwendung ich

schon bei Prof. Maaß in Freiburg kennen gelernt hatte, führte Thiersch die Salizylsäure ein und hatte gute Heilungsresultate. Er berichtete, daß in dem alten Iakobshospital in Leipzig in

den letzten Jahren seiner Benutzung vor der antiseptischen

Zeit kein Oberschenkelamputierter mit dem Leben davon­ gekommen sei. So wütete damals der Hospitalbrand, während

nach Einführung der Antisepsis ein derartiger Todesfall kaum vorkomme. Ähnliches berichtet ja aüch Franz König in seinen

Lebenserinnerungen.

Unerfreulich bei Thiersch war, daß er

die Praktikanten in seiner Klinik durch schlechte Behandlung leicht in Verwirrung brachte.

Wunderlich hielt glänzende

klinische Vorträge über fieberhafte Erkrankungen, Diabetes,

Basedow; die Tabes dorsalis sah er noch als Folge aufreibenden Lebens an. Prof. Wagner und Prof. Weigert waren treff­

liche Lehrer der makroskopischen und mikroskopischen Pathologie.

Als Polikliniker und Arzt war Wagner unbrauchbar, da ihm

die ganze Therapie aussichtslos schien.

In seiner Poliklinik

wurde fast als einziges Mittel meiner Erinnerung nach kohlen­

saures Natron verordnet.

Daß Wagner nach dem Ableben

Wunderlichs zum Kliniker gewählt wurde, war eine Ver­ sündigung an der Ausbildung der Ärzte. Die damalige Zeit krankte an einer Überschätzung der pathologischen Ana­ tomie wie die heutige an einer Überschätzung der Bakterio­

logie.

Ich habe in beiden Gebieten gearbeitet, kann sie aber

nur als Fundamente für die klinische Forschung und die ärztliche Tätigkeit ansehen.

Ich muh noch erwähnen, daß ich bei Pros. Leopold

Gynäkologie hörte, durch die Freundlichkeit von Wunderlichs Assistenzarzt Dr. Schotten (nachmals in Cassel) auch in der Klinik viele Fälle untersuchen konnte und bei Bälz nochmals klinische Propädeutik hörte.

Letzterer ging bald darauf nach

Tokio als Lehrer der klinischen Medizin.

Die Japaner ge­

stalteten damals ihr ünterrichtswesen nach deutschem Muster; auch das deutsche Gymnasium schien ihnen zunächst ein gutes

Vorbild.

Aber nach etwa zwei Dezennien kamen sie von der

Hochschätzung dieser Einrichtung zurück, nachdem sich durch

verschiedene Nachuntersuchungen ergab, daß die Militärtauglichkeit der Schüler durch Verkrümmungen des Rückens, Kurzsichtigkeit usw. beträchtlich abnahrn. Sie kehrten deshalb zum Teil zu dem älteren Erziehungssystern mit besserer körper­ licher Ausbildung zurück. Bälz hat mir diese japanischen Er­ fahrungen auf dem Kongreß für innere Medizin Wiesbaden 1901 erzählt. Den Physiologen Prof. Ludwig habe ich in Leipzig leider nicht ausgesucht, trotzdem heimatliche Be­ ziehungen zwischen uns bestanden. Ich lernte ihn erst später kennen, als er bei seinen Kindern in Bonn (Prof. Dove und Frau) zu Besuch war und mich aufsuchte. In einer klinischen Vorlesung hatte Wunderlich ge­ legentlich ausgesührt, daß ein junger Heidelberger Prof. Erb,

sich besonders erfolgreich mit dem Studium der Nervenkrank­ heiten beschäftige. Da mir Leipzig wegen seiner Umgebung, der Menge studierender Mediziner und wegen einer gewissen Bevorzugung der Ausländer nicht gefiel, dachte ich daran, im Sommersemester 1875 wieder nach dem Süden, und zwar nach

Freiburg zu gehen. Da schlug mir Emil Ritter vor, wir sollten zusammengehen und uns Heidelberg einmal ansehen. Wie gesagt, so getan. Der Gegensatz zwischen Leipzig und Heidelberg war ein überraschender. In der Poliklinik von Pros, von Dusch, die begonnen hatte, vier oder fünf Prakti­ kanten und eine tägliche ärztlich-wissenschaftliche Unterhaltung mit Prof, von Dusch und seinem Assistenzarzt Dr. Iurasz, dazu Besuche bei Kranken in der Stadt. Ich erinnere mich des

ersten Falls, der ein scharlachkrankes Kind betraf. Von Arznei­ mitteln und ärztlichen Anordnungen hatte ich aus Leipzig kaum Kenntnisse mitgebracht.

Nach einigem Besinnen ver­

ordnete ich in Erinnerung an Prof. Thiersch in Leipzig eine Zprozentige Salizylsäurelösung. Als ich Prof, von Dusch am

nächsten Tag Bericht erstattete, rühmte er meinen Gedanken

gegen eine Infektionskrankheit ein derartiges Mittel zu geben, fügte aber dann manche Aufklärung hinzu.

So verlief der

Unterricht in der Poliklinik und in der von v. Dusch ins Leben

gerufenen Kinderklinik.

Bei dem inneren Kliniker Prof.

Friedreich waren wir mehrere Semester 8 Praktikanten, so daß der einzelne in der Woche einmal in Gegenwart des Lehrers untersuchen und eine Diagnose stellen mußte. Bei dem genialen Chirurgen Pros. Simon waren etwa 20 Praktikanten, von welchen 12 geeignete als operierende Praktikanten bestimmt

wurden. Ein Zufall, das Durchstudieren einer Rostocker Arbeit von Simon über plastische Operationen und das Praktizieren bei einem Fall von Hasenscharte führte mich unter die Zahl

der letzteren. Rach meinen Ausführungen über die Diagnose

und die plastischen Operationsmethoden derselben faltete Simon die Arme über der Brüst und sagte: „Wir sind ja darin kolossal beschlagen, da können Sie das Kind gleich operieren, Kollege Braun und Hadlich assistieren Sie Herrn Rumpf." Die Erwähnten waren damals Assistenten der Klinik, Braun,

später Professor der Chirurgie in Jena, Königsberg, Marburg

und Göttingen, Dr. Hadlich, Chirurg am Landkrankenhaus zu Cassel. Leider war die Simonsche Klinik nicht aus Asepsis eingerichtet, und so heilte auch die von mir operierte Hasen» scharte nicht primär.

Dieser Mißerfolg hat mich abgehalten,

Chirurg zu werden. Bei Pros. Erb hörten wir Elektrodiagnostik,

Elektrotherapie und Diagnostik der Nervenkrankheiten. Großes

Interesse flößte mir damals die Augenheilkunde durch unseren

genialen Lehrer Prof. Otto Becker ein. Eine Preisarbeit über binokulare Akkommodation(3a) beschäftigte mich 1876 Md brachte mir die goldene Carl-Friedrichs-Medaille ein,

ein Erfolg, über welchen meine Eltern sich sehr freuten.

Ich

war infolgedessen bei dem anschließenden Festessen gleichzeitig Rumps, Se6enSerirmerungcn. 2

mit dem Erbgroßherzog von Baden und diesem gegenüber­

sitzend Gast der Universität. Gern wäre ich bei Prof. Becker

Assistent geworden, dieser zog aber den nach Heidelberg über­ gesiedelten Rostocker Prosektor Dr. Kuhnt vor, der in der mikroskopischen Technik erfahren bei Beckers pathologischem Atlas ein guter Mitarbeiter zu werden versprach. Da ich aber auch großes Interesse für die Neurologie hatte, bewarb ich mich bei Prof. Erb um eine Assistentenstelle, die ich auch erhielt. Herbst 1876 siedelte ich mit ihm in die neu erbaute medizinische Klinik über, wo Erb eine Abteilung für Elektrotherapie erhielt. Unter letzterem Namen mußte damals die Neurologie sich gewissermaßen verstecken. Bei Erb machte ich auch einige kleinere Arbeiten (1 u. 2) und freue mich rückblickend noch heute über die gute klinische Schulung, die ich meinem Hehrer verdanke.

Mein Iahresgehalt betrug allerdings nur 300 Mark ohne freie Station. Im Sommer 1877 schlug der Kliniker Pros. Friedreich, dessen Wohlwollens ich mich erfreute, mir vor, ich möge einen Kursus der Massage bei Prof. Metzger in Amsterdam durchmachen und mich dann in- Heidelberg für Massage habilitieren. Aber einmal fürchtete ich die pekuniären Kosten für meine Eltern und sodann hatte ich keine Neigung, mich vorwiegend mit Massage zu beschäftigen.

Zur akade­

mischen Laufbahn hielt ich mich auch noch nicht für befähigt, weil ich in der Öffentlichkeit wenig güt sprach. Ich würde mich aber gern an einer anderen Universität als Heidelberg habilitiert haben, wenn ich damals eine geeignete leidlich gut dotierte

Assistentenstelle hätte erlangen können, welche meine weitere Ausbildung förderte. Bestrebungen dieser Art zerschlugen sich. Ich blieb also bei Erb, beschäftigte mich aber an jedem Morgen

etwa zwei Stunden im physiologischen Institut von Prof.

Kühne mit physiologisch-chemischen Untersuchungen über Nervenfaser und Achsenzylinder (3), sowie über die Degene-

ration der Nervenfaser. Die Arbeiten sind in den Unter­ suchungen des physiologischen Instituts der Universität Heidel­ berg, Bd. II, Heft 2 u. 3, 1878/79 erschienen und deshalb nicht so bekannt geworden, wie sie es verdienen. Nur ungern habe ich mich von diesen Untersuchungen getrennt, als die Notwendigkeit an mich herantrat, meinen Lebensunterhalt zu erwerben. Es war das nach dem Tode meiner Eltern der Fall, der meinen seitherigen Verbrauch an Mittels, klar legte. Dor der Niederlassung ging ich aber drei Monate nach Wien, um meine Lücken in der Ohrenheilkunde, in Kehlkopskrankheiten, in operativer Geburtshilfe und in Hautkrankheiten auszufüllen, nicht mit der Absicht, diese Fächer besonders zu pflegen, sondern um im Notfall gerüstet zu sein. Die Professoren Schauta, Hebra, Kaposi, Urbantschitsch habe ich in dankbarer Erinnerung behalten.

gn Düsseldorf 1860-1882.

nterdessen war mir der Gedanke nahegelegt worden, mich am Rhein und speziell in Düsseldorf niederzülassen.

Ich hatte in Vertretung von Erb

einzelne Nervensälle aus der Rheinprovinz be­

handelt, in Düsseldorf fehlte ein Nervenarzt, und

so beschloß ich, dieser Anregung zu folgen. Prof. Becker gab

Mein Lehrer

mir einen Empfehlungsbrief an

den

Düsseldorfer Augenarzt Geheimrat Mooren. Dieser empfing mich sehr freundlich und gab mir Empfehlungskarten für ver­ schiedene hervorragende Ärzte der Stadt und des Landbezirks Düsseldorf. Einige alte rheinische Patienten von Erb fanden

sich bei mir ein, und so gestaltete sich meine ärztliche Tätigkeit 2*

ration der Nervenfaser. Die Arbeiten sind in den Unter­ suchungen des physiologischen Instituts der Universität Heidel­ berg, Bd. II, Heft 2 u. 3, 1878/79 erschienen und deshalb nicht so bekannt geworden, wie sie es verdienen. Nur ungern habe ich mich von diesen Untersuchungen getrennt, als die Notwendigkeit an mich herantrat, meinen Lebensunterhalt zu erwerben. Es war das nach dem Tode meiner Eltern der Fall, der meinen seitherigen Verbrauch an Mittels, klar legte. Dor der Niederlassung ging ich aber drei Monate nach Wien, um meine Lücken in der Ohrenheilkunde, in Kehlkopskrankheiten, in operativer Geburtshilfe und in Hautkrankheiten auszufüllen, nicht mit der Absicht, diese Fächer besonders zu pflegen, sondern um im Notfall gerüstet zu sein. Die Professoren Schauta, Hebra, Kaposi, Urbantschitsch habe ich in dankbarer Erinnerung behalten.

gn Düsseldorf 1860-1882.

nterdessen war mir der Gedanke nahegelegt worden, mich am Rhein und speziell in Düsseldorf niederzülassen.

Ich hatte in Vertretung von Erb

einzelne Nervensälle aus der Rheinprovinz be­

handelt, in Düsseldorf fehlte ein Nervenarzt, und

so beschloß ich, dieser Anregung zu folgen. Prof. Becker gab

Mein Lehrer

mir einen Empfehlungsbrief an

den

Düsseldorfer Augenarzt Geheimrat Mooren. Dieser empfing mich sehr freundlich und gab mir Empfehlungskarten für ver­ schiedene hervorragende Ärzte der Stadt und des Landbezirks Düsseldorf. Einige alte rheinische Patienten von Erb fanden

sich bei mir ein, und so gestaltete sich meine ärztliche Tätigkeit 2*

bald sehr befriedigend. Eine kleine Erfahrung aus dieser Zeit möchte ich hier anschließen. Ich hatte bei Pros. Benedikt in Wien die anscheinend schlaferregende Wirkung großer Magneten

gesehen. Ich ließ mir also aus Hartem den gleichen Magneten

kommen, wie ihn Benedikt benutzte. Bei zwei Damen habe ich ihn angelegt, ohne ein Wort von der erwarteten Wirkung zu sagen. Beide Damen frugen nach einer Applikation von

5 oder 10 Minuten, was das kalte Eisen wirken solle? Ich stand von weiterer Anwendung ab und sann der Anordnung von Benedikt nach. Da fiel mir ein, daß er in einem großen Saal Wartezimmer undAuditorium hatte. Der kleinere Warteraum war von dem Auditorium nur durch einen Vorhang geschieden, so daß die wartenden Patienten jedes Wort von

Vor einer kleinen Zuhörerzahl er­ örterte Benedikt die schlafhervorrufende und schmerzstillende Wirkung des Magneten und die Patientinnen, ich erinnere Benedikt hören mußten.

mich nur an Frauen, schliefen tadellos ein. Da zur Zeit dieser meiner Erfahrung mit Benedikts Magnetotherapie eine Arbeit von Heidenhain und Grühner über Hypnose erschien, war

ich mir über den Vorgang klar. Ich habe aber seit jener Zeit

in geeigneten Fällen von Hypnose Gebrauch gemacht, die leider vielfach in Kurpfuscherhände übergegangen ist. Von älteren Marburger Bekannten fand ich in Düsseldorf

Dr. Dormann, von jüngeren Heidelbergern Dr. von den

Steinen. Durch diesen und eine Empfehlung von Dr. Mooren trat ich auch dem Vater des letzteren, Geheimrat von den

Steinen, einem angesehenen und vielbeschäftigten Arzt, näher. Das Leben in Düsseldorf mit seiner Geselligkeit, dem Mal­

kasten und den kleineren Künstlervereinigungen, in die ich bald eingesührt wurde, fesselte mich zunächst sehr. Ich lernte bald

die damals hervorragendsten Künstler wie Andreas und

Oswald Achenbach, Camphausen, Hünten, Janssen,

Kröner, Simmler kennen. Bei Dr. Mooren fand sich an jedem Dienstag der Woche ein kleinerer Kreis von Herren zum

Abendessen ein, zu dem ich bald eine dauernde Einladung

erhielt.

Diesem Kreis gehörten die Maler Salentin und

Wischebring, der Oberbürgermeister Hammers, der spätere

Landeshauptmann Klein, Geheimrat von den Steinen,

Dr. Siering und der Assistenzarzt von Mooren als regelmäßige

Gäste an.

Auch Andreas Achenbach,

Pelmann, der

Direktor der Irrenanstalt Grafenberg, und andere Herren waren zeitweise zugegen.

Der frühere Regierungspräsident

von Ende hatte diesem Kreis auch angehört, bis nach einem vom Kultusminister als ungerechtfertigt erklärten Streit mit

dem Oberbürgermeister Hammers Mooren ihn bat, fern

zu bleiben.

Dr. Mooren war wohl einer der ältesten Schüler Gräfes, ein vielgesuchter Augenarzt und vorzüglicher Operateur.

Er

hatte sich Lurch manche wissenschaftliche Arbeit bekannt gemacht, hielt auch Sprechstunden in Brüssel und war häufig zu Konsul­

tationen in Paris. • Durch seine Persönlichkeit und vielfache Beziehungen wich sein Haus von den jenigen eines einfachen Provinzarztes einigermaßen ab. So lernte ich bei Mooren

-en

liebenswürdigen

französischen

Generalkonsul

Vicomte

de Fontenay kennen, der später Gesandter in Dresden war.

Als junger Eesandtschaftsattachö war er in Cassel wegen Rauchens auf der Straße von dem Wachtposten in ein Schilder­

haus gesperrt worden und mußte zwischen zwei bewaffneten hessischen Kriegern mit zur Hauptwache ziehen.

Als Ent­

schädigung für die beleidigte französische Gesandtschaft wurde

festgesetzt, daß er mit dem Kurfürst von Hessen dreimal um den

Friedrichöplatz spazierte, während er an der Seite des Kurfürsten

rauchte. Sogeschah eszum Gaudium der spottlustigenCasselaner. Dieses kleine Ereignis erzählte mir der Vicomte persönlich bei

einem Essen im Moorenschen Hause, als er hörte, daß ich

in der Nähe von Cassel geboren war. In dem kleinen Kreis bei Mooren wurden auch die vielen Torheiten des Kulturkampfes besprochen und die Charakter­

Ein Beispiel dieser Art sollte ich bald im Detail erfahren. Dec Bruder von

schwäche vieler preußischer Beamten bedauert.

Mooren war Bürgermeister in der linksrheinischen Kreisstadt Kempen. Ein neuer Landrat kam dorthin und wünschte die

unter einem Kuratorium stehende Taubstummenanstalt dienst­ lich zu besichtigen. Der Bürgermeister Mooren erklärte, er werde dieselbe gern zeigen, aber es könne sich nicht um eine dienstliche Besichtigung handeln, da die Anstalt nicht dem Land­ rat unterstehe. Aus den gegenseitigen Auffassungen entstand ein Konflikt, der den Landrat zu der Erklärung veranlaßte, er werde mit dem Gensdarmen kommen, worauf der Bürger­ meister antwortete, „dann werde er die Stadtpolizei zu Hilfe nehmen". Diese Vorgänge erzählte uns abends beim Wein in der Gesellschaft Verein der Justitiar bei der Düsseldorfer Regierung Regierungsrat Steinmetz, der später Kurator der Univer­

sitäten Königsberg und sodann Marburg war.

Und wie ist

der Fall zu entscheiden? war die Frage eines der Zuhörer. „Der Landrat muß wegen Überschreitung seiner Befugnisse verseht, der Bürgermeister displinariter entlassen werden, da

sich kein Bürgermeister solchergestalt gegen den Landrat ver­ halten darf." Ich hatte gegen dieses Urteil mancherlei Ein­ wendungen, schwieg aber still. Es hätte auch nichts geholfen. Es geschah, wie Steinmetz meinte. Aber nun wurde der als

Märtyrer betrachtete Mooren vom Zentrum zunr Landtags­ abgeordneten weiterhin zum Reichstagsabgeordneten gewählt,

und die ganze Angelegenheit wurde im Landtag und in der Presse erörtert. Einige Jahre später wurde Mooren zum

Oberbürgermeister von Eupen gewählt, und die Regierung

bestätigte ihn.

Die Angelegenheit des Bürgermeisters Mooren warf auch ihreWellen nach Düsseldorf gegen Geheimrat Mooren. Dieser

leitete eine städtische Augenklinik, und eines Abends erklärte ein Regierungssekretär dem Verwalter der Klinik bei einem

Glase Bier: „Warte, jetzt kommen wir auch an euch Ultra­ montane in der Augenklinik.

Morgen kommt eine große Re­

vision, da wird die Klinik geschlossen werden."

Dr. Mooren

war politisch nicht hervorgetreten, aber in den Augen eines

evangelischen Subalternbeamten war ja jeder Katholik minder­

wertig und ein Vaterlandsfeind. Die Revision kam, ausgesührt

nach genauer Instruktion von oben durch meinen hessischen Lands­ mann, den Kreisphysikus Dr. Zimmermann.

Der wenig

erfreuliche Bericht wurde zur Kenntnisnahme an die Stadt

Düsseldorf und von dieser an Dr. Mooren gesandt. Letzterer schickte diesen Bericht mit einem Schreiben an die Kaiserin Augusta, aus deren Erziehungsanstalten manche Waise von

Offizieren und Beamten in der Moorenschen Klinik gratis

behandelt war. Einige Wochen später mußte der Kreisphysikus Dr. Zimmermann die Revision wiederholen — und das Resultat war nach neuer Instruktion von oben ein völlig anderes. Wie mir Kreisphysikus Dr. Zimmermann später mitteilte,

konnte er nichts anderes tun, als den verschiedenen Befehlen von oben gehorchen und bat mich, das Mooren mitzuteilen,

der einen gewissen Zorn aus den unschuldigen gehorsamen

Beamten geworfen hatte.

Die Angelegenheit hatte übrigens

das Nachspiel, daß der Regierungspräsident Hagemeister von Düsseldorf verseht wurde. Er kam noch als Oberpräsident

nach Münster, nachdem ihm die Verwarnung erteilt war, er

möge dort sein Verhalten gegenüber den Katholiken anders

gestalten als in Düsseldorf.

Das tat er.

In Münster machte

Hagemeister dem begnadigten und aus der Verbannung

zurückgekehrten Bischof den ersten Besuch, was den komman­ dierenden General von Albedyl veranlaßte, über diesen Affront dem Kaiser persönlich Vortrag zu halten. Kurz darauf

wurde Hagemeister in den Ruhestand versetzt. Er besuchte später seinen Freund aus der Düsseldorfer Zeit, Geheimrat Steinmetz, der unterdessen Kurator in Marburg geworden war (ich selbst war damals Professor in Marburg) und klagte

ihm sein Leid: „Der preußische Beamte könne es niemals recht machen; für Düsseldorf habe er die Instruktion erhalten, scharf gegen die Ultramontanen vorzugehen, das habe er getan, aber zum Schluß keinen Dank geerntet, für Münster sei er instruiert worden, in Frieden mit den Katholiken zu leben, das habe er auch getan und sei abgesägt worden." —

Meine praktisch-ärztliche Tätigkeit in Düsseldorf entwickelte sich recht befriedigend, ließ mir aber hinreichend Zeit zu wissen­ schaftlichen Arbeiten. Bezüglich der Tabes dorsalis waren Erb und ich im Anschluß an die Mitteilung des französischen Forschers

Fournier zu der Anschauung gekommen, daß dieselbe im wesentlichen aus syphilitischer Ursache beruhe.

Es mußte sich

deshalb fragen, ob die antisyphilitische Behandlung allein Heilerfolge bei diesem Leiden zu erzielen vermöge.

Das war in hervorragend deutlicher Weise nicht der Fall. So

kam es, daß Dr. Langenbuchs Vorschlag und Vorgehen, bei Tabes dorsalis die Nervenstämme des Iscbiadicuszu dehnen, vielfach Nachfolge fand. Ein Düsseldorfer Chirurg führte eine

solche Nervendehnung bei einem von mir sorgfältig unter­ suchten Fall aus. Das Resultat war eine Blutung in das Rückenmark mit klonischen Krämpfen, stärkerer Störung des Gefühls und der Bewegungen, und im Anschluß daran trat eine

Blasenlähmung mit Schüttelfrösten auf, welchen der Patient nach Hinzutreten einer Lungenentzündung erlag. Die patho-

logisch-anatomische Untersuchung ergab außer der Blutung eine typische tabische Degeneration des Rückenmarks (4).

Bei einer Anzahl von Tabesfällen versuchte ich (5) neben der antisyphilitischen Behandlung gleichzeitig durch eine starke faradische Pinselung sowohl der Beine als des Rückens und evtl, auch der Arme eine Besserung zu erzielen. Das

Verfahren bewährte sich gegen die lanzinierenden Schmerzen und besserte auch das Gefühl und die Bewegungsfähigkeit. Gleichzeitig ließ ich mäßige Turnübungen nach Schreber machen. Ich konnte einige Fälle soweit wieder Herstellen, daß sie ihrem Beruf ungehindert nachgehen konnten, und habe auch später in Bonn einen so gut wie ausgeheilten Fall von Tabes in der niederrheinischen Gesellschaft für Heilkunde vorgestellt. So kam es, daß ich mich intensiver mit den Ein­ wirkungen beschäftigte, welche durch faradische oder andere Reize in dem zugehörigen Gefäßgebiet oder demjenigen des Gehirns ausgelöst werden. Alle diese Erfahrungen wiesen aus die Bedeutung der von den Sinnesorganen dem Zentral­ nervensystem zugeführten Erregungen hin, die mich schon im

physiologischen Institut in Heidelberg nach Durchschneidung

von Nerven beschäftigt hatten.

Ich durchtrennte nunmehr

zunächst bei Fröschen nach Eröffnung des Schädels die Seh-, Gehör- und Geruchnerven von dem Gehirn (6) und durchschnitt

dann unterhalb des Großhirns die zu diesem ziehenden und von ihm abgehenden Bahnen des Mittelhirns hinter den Vier­ hügeln. Sorgfältig achtete ich daraus, daß kein Blutgefäß des

Gehirns verletzt wurde, so daß die Zirkulation gut erhalten blieb.

Das Resultat war zunächst eine Quellung der von ihren Nerven und Bahnen getrennten, aber mit den Blut- und Lymph­

gefäßen verknüpften Hemisphären und eine anschließende völlige

Einschmelzung und Resorption des Gehirns. In gleicher Weise fiel das Rückenmark der Resorption anheim, wenn es an einer

oberen und unteren Stelle durchschnitten und von seinen

vorderen und Hinteren Wurzeln getrennt wurde. Erhalten­ bleiben der vorderen und Hinteren Wurzeln hielt den degenerativen Untergang teilweise zurück, der Einfluß der vorderen, also zentrifugalen Wurzeln erschien nicht geringer als der­

jenige der Hinteren, welche die Empfindungen zum Rückenmark leiten. Eine entsprechende Untersuchung am Hund mißlang infolge der Hindernisse, welche mit experimentellen Versuchen

in einer Privatwohnung verknüpft sind. Es war deshalb natürlich, daß ich von einer Fortführung meiner Arbeiten an der Universität und in dortigen Instituten bessere Erfolge erwartete. Ich suchte deshalb Geheimrat Pros. Dr. Rühle in Bonn aus. Diesem kam mein Wunsch der Habilitation gelegen: Er wünschte seiner Klinik ein Ambulatorium anzugliedern, wie es Prof. Erb in Heidelberg eingerichtet hatte. Ich erklärte mich bereit, die Leitung desselben selbständig zu übernehmen, ver­ pflichtete mich aber, die Rervensälle der Klinik neurologisch zu untersuchen und über die Befunde zu berichten.

Bonn 1882 bis 1888. um Zweck der Habilitation oder kurz nachher mußte

ich auch den damaligen Kurator der Universität Geheimrat B es eler (den früheren Statthalter von Holstein) aufsuchen. Er empfing mich sehr freund­ lich,

erkundigte sich überaus eingehend

nach

Studiengang, den besuchten Universitäten, der Beteiligung an Korporationen und den Beziehungen in Düssel­ meinem

dorf. Erst viel später erfuhr ich den Grund dieser überraschenden

Recherchen. Da ich nach meinem Taufschein Katholik und zum

oberen und unteren Stelle durchschnitten und von seinen

vorderen und Hinteren Wurzeln getrennt wurde. Erhalten­ bleiben der vorderen und Hinteren Wurzeln hielt den degenerativen Untergang teilweise zurück, der Einfluß der vorderen, also zentrifugalen Wurzeln erschien nicht geringer als der­

jenige der Hinteren, welche die Empfindungen zum Rückenmark leiten. Eine entsprechende Untersuchung am Hund mißlang infolge der Hindernisse, welche mit experimentellen Versuchen

in einer Privatwohnung verknüpft sind. Es war deshalb natürlich, daß ich von einer Fortführung meiner Arbeiten an der Universität und in dortigen Instituten bessere Erfolge erwartete. Ich suchte deshalb Geheimrat Pros. Dr. Rühle in Bonn aus. Diesem kam mein Wunsch der Habilitation gelegen: Er wünschte seiner Klinik ein Ambulatorium anzugliedern, wie es Prof. Erb in Heidelberg eingerichtet hatte. Ich erklärte mich bereit, die Leitung desselben selbständig zu übernehmen, ver­ pflichtete mich aber, die Rervensälle der Klinik neurologisch zu untersuchen und über die Befunde zu berichten.

Bonn 1882 bis 1888. um Zweck der Habilitation oder kurz nachher mußte

ich auch den damaligen Kurator der Universität Geheimrat B es eler (den früheren Statthalter von Holstein) aufsuchen. Er empfing mich sehr freund­ lich,

erkundigte sich überaus eingehend

nach

Studiengang, den besuchten Universitäten, der Beteiligung an Korporationen und den Beziehungen in Düssel­ meinem

dorf. Erst viel später erfuhr ich den Grund dieser überraschenden

Recherchen. Da ich nach meinem Taufschein Katholik und zum

Teil mit katholischen Kreisen der Rheinprovinz bekannt war, glaubten einige Bonner in mir einen Ultramontanen zu sehen. Nach der Habilitation, die durch die Freundlichkeit des damaligen Dekans der medizinischen Fakultät Prof, von La Valette St. George sehr rasch vonstatten ging, siedelte ich nach Bonn über und begann nach einigen Vorbereitungen meine Tätigkeit an der medizinischen Klinik. Diese und der damit verknüpfte Unterricht befriedigte mich sehr. Enttäuscht war ich insofern, als in dem physiologischen Institut in Bonn ein Arbeiten, wie in dem Heidelberger Institut, nicht möglich war. Pflüger legte wenig Wert daraus, und erst nach einigen Jahren habe ich eine Untersuchung über Wärmeregulation bei Tieren in der Narkose und im Schlaf dort durchgesührt, ohne eigentlich mit Pflüger zu arbeiten, wie ich es von Kühne gewöhnt war. Erst während meiner späteren Tätigkeit in Bonn nach 1901 bin ich Pflüger persönlich näher getreten, als er sich mit Fragen des Diabetes und der Zuckerverbrennung im Körper beschäftigte, über die ich in Hamburg gearbeitet hatte. Neben dem Unterricht beschäftigte mich in Bonn zunächst die pathologische Anatomie des zentralen Nervensystems, Gehirn- und Rückenmarksyphilis, Atrophie der Zentral­ windungen nach spinaler Kinderlähmung, angeborene Klein­ hirnatrophie bei einer Katze mit typisch taumelndem Gang ohne Unsicherheit der Bewegungen ohne jede sensible und motorische Lähmung (7). Die Praxis führte mir außerdem viel klinische Krankheitsfälle zum Teil syphilitischer Ätiologie zu, so daß ich nach einigen Jahren mein erstes größeres Buch „Die syphilitischen Erkrankungen des Nervensystems"(8) schrieb. Meine mit Pros. Mendels (Berlin) Anschauungen übereinstimmenden Schlußfolgerungen, daß die Dementia paralytica im wesentlichen eine Folge der Syphilis sei, sand bei den damaligen sogenannten Koryphäen der Medizin (in

Berlin) keinen Anklang. Es hat noch viele Jahre gedauert, bis sie Allgemeingut der Ärzte wurde. Auch gegen die Auf­

fassung der Tabes und Paralyse als metaluetische Erkrankungen (durch Giftwirkung bedingt) mußte ich mich aussprechen. Ich

führte die Erkrankungen aus pathologisch-anatomische oder bakterielle Prozesse zurück. Weiterhin fand ich im Gefolge der Syphilis vielfach Er­ krankungen des Herzens und des Gefäßsystems. So kam es, daß auch Herzeckrankungen mein Interesse stärker in Anspruch nahmen. Aus dem Kongreß für innere Medizin in Wiesbaden, den ich viele Jahre regelmäßig besuchte, sprach ich 1888 über eine abnorme Beweglichkeit des Herzens, besonders nach Entfettungskuren. Ich bezeichnete diese Erscheinung damals als Wanderherz. Eine klinische Prüfung des von Baumann und Käst dargestellten Phenazetins erwies dasselbe als ein gutes Antifebrile und Antineuralgikum. Diesen Ruf hat es bis jetzt bewahrt. Die Osterferien 1886 verbrachte ich in Berlin im Reichs­ gesundheitsamt, wo ich mich zusammen mit Prof. Schottelius aus Freiburg, Prof. Baumgarten (später in Tübingen) und einem österreichischen Kollegen unter Leitung von Prof.

Robert Koch und seinem Assistenten Gaffky in die bakterio­ logischen Untersuchungsmethoden einarbeitete. Die Unter­ haltungen mit Robert Koch über Infektionskrankheiten, die Erzählungen über seinen Entwicklungsgang, die ersten bakterio­

logischen Befunde bei Milzbrand, über die Abweisungen, die er zunächst in Berlin von feiten der Deputation für das Medizi­

nalwesen und später von Rudolf Virchow erfuhr, waren mir sehr interessant und bestätigten die alte Erfahrung, daß

älteren Gehirnen häufig die Fähigkeit abgeht, neue Beob­

achtungen und Tatsachen zu würdigen.

„Vater Zeus habe

ich öfter gefleht, laß mich nicht zu einem alten Neidhammel

werden, der kritisch mißgünstig auf die Arbeit der Jüngeren blickt." Das Leben in Bonn war sehr vielseitig anregend. Bei meinen Antrittsbesuchen traf ich zu meiner Überraschung einen

entfernten Verwandten Pros. Reusch, von dessen Existenz ich seit den Kindertagen im elterlichen Hause nichts gehört hatte. Er war infolge des Unfehlbarkeitedogmas in die altkatholische Bewegung gedrängt worden, war natürlich in seiner Lehr­ tätigkeit dadurch sehr beschränkt und beschäftigte sich viel mit kirchlich historischen Studien. Seine Arbeit über Alfons de Liguori, den an schweren Bewußtseinsstörungen leidenden Stifter der Kongregation der Redemptoristen und Vater der sogenannten Iesuitenmoral, sowie die gemeinschaftlichen Ar­ beiten mit Döllinger über die Moralstreitigkeiten in der katho­ lischen Kirche und den Jesuitenorden sind wohl hinreichend bekannt. Er lebte mit zwei Schwestern zusammen, uni) ich habe in iihrem behaglichen Haus manche interessante Stunde verlebt, durch sie auch die Kölner und Wiesbadener entfernten

Verwandten kennen gelernt.

Die Verwandtschaft rührte von

meiner Urgroßmutter Maria Katharina von Germeten her, deren Schwester sich nach Brilon verheiratete und die Stamm­

mutter der Familie Reusch wurde. Die Beziehungen zu Pros.

Reusch ließen mich auch Prof. Langen, Prof. Knoop, dem Bischof Reinckens und dem Juristen Prof, von Schulte näher

treten.

In diesem Kreis erfuhr ich auch, daß Langen und

Reusch in einem Gutachten an die Regierung gewarnt hatten, in dem sogenannten Kulturkampf die Kultussreiheit der katho­

lischen Kirche zu verletzen. Aber die preußische Regierung hielt die Warnungen für überflüssig, wenn sie dieselben überhaupt für lesenswert hielt — und unterlag im Kulturkampf. In der damaligen Lese- und Erholungsgesellschaft gegen­

über der Universität vereinigte ein Mittagstisch viele unver-

heiratete Dozenten; ich schloß mich zunchft -diesem Tisch an. Seine Teilnehmer waren Prof. Carl Irsti, Pros. Wallach, Prof. Benrath, die Dozenten Max Se ing, R.von Lilien­

thal, Landsberg, Kalkmann; uns geeilte ssich der Begleiter des Fürsten Fürstenberg Dr. F. Zweibrü ck aus Wien und in der Folge der Jurist Rümelin, Sohl des Tübinger Kanz­ lers und jetzt selbst Professor der Iuri-prudenz und Kanzler der dortigen Universität. Bei dieser Zusanmensetzung der Tisch­ gesellschaft war die Unterhaltung natürich enne sehr lebhafte und anregende. Max Gering erzähltehier mnd in kleinerem Kreis gelegentlich über seine amerikam'che Studienreise, die Althoff auf Bismarcks Wunsch zum Studium der Agrarver­ hältnisse veranlaßt hatte, Benrath sp'ach über die damals wogenden Streitigkeiten in der evangeisch-theologischen Fa­ kultät, Kalkmann über die verschiedmen Schönheitsmaße griechischer Bildhauer; interessant war nir, daß Dr. Iwey-

brück schon damals den Zerfall des öster.eichischen Kaiserreichs bei dem ersten Sturm und noch zu unserei Lebzeiten erwartete. An Sonntagen machten wir oft gerne nschastliche Ausflüge,

zeitweise ritten wir auch aus.

Am Arend sanden wir uns

häufig in der Kaiserhalle ein, wo sich vielfach der Historiker Lamprecht, der Chemiker Klinger, der Philosoph Martins und der 1883 nach Bonn berufene Prof. Zitelm an n uns

zugesellten. Letzterer hielt sich gegenüber einem Kreis älterer Ordinarien lieber zur Jugend. Bald lernten wir auch die liebenswürdige Frau Zitel-

mann kennen, und viele von uns verkehrten gern in dem Hause, das durch die Dichtungen Zitelmanns und die vornehme Bildung und Kunst seiner Frau (sie war eine hervorragende Malerin) einen besonderen Glanz hatte. Wir jüngeren Dozenten verkehrten besonders gern in den Familien Binz, Nasse

(Nationalökonom) und Busch (Angehörige des verstorbenen

Chirurgen). außerdem

M. Gering, von Lilienthal und ich waren

mit

Prof.

Barfurth

und

Frau

befreundet.

M. Gering verlobte sich mit Anna Busch und meine Frau und ich haben von Marburg aus die Hochzeit mitgefeiert. Unter den Professoren der Medizin waren es Rühle, Veit, Binz, Trendelenburg, Köster, denen ich näher trat,

weiterhin Finkler und Ribbert.

Neben letzterem habe ich

mehrere Jahre am Mikroskopiertisch im pathologischen Institut

gearbeitet.

Im Herbst 1886 verheiratete ich mich mit Bertha Reifen­ stuhl; ihre Eltern lebten in Lobberich bei Creseld, waren aber

von Geburt Niedersachsen, der Vater Sohn eines hannöverschen

Iustizbeamten. Der Vater war längere Zeit wegen einer halb­ seitigen Lähntung in meiner Behandlung; ich hatte die Freude, daß er nach sechs Wochen wieder ein recht lebhaftes ostpreußisches

Reitpferd tummeln konnte.

Aus dieser Behandlung entstand

meine Freundschaft mit den Eltern und den Kindem und zum

Schluß unsere Ehe. Es war mir eine Freude, daß sich meine junge Frau sehr intim an Frau Zitelmann anschloß.

Die

daraus entstehende Freundschaft hat uns durch viele Jahrzehnte

des Lebens erfreut. Im Sommer 1888 erhielt ich einen Ruf als extraordinatius und Direktor der neu zu errichtenden selbständigen medizinischen

Poliklinik nach Marburg.

Der vortragende Rat im Kultus­

ministerium Geheimrat Althoff war von 1883 an häufig in

Bonn und kam dann auch wohl in die Kaiserhalle, wo wir jüngeren Dozenten uns abends häufiger zusammenfanden.

Schon bei seiner ersten Anwesenheit bat er mich, ihn einmal

in Berlin zu besuchen. Er wolle mit mir über meine Zukunft sprechen. Er hatte vermutlich von einzelnen meiner Schüler,

die er kannte, Gutes von mir gehört. Diesen Besuch führte ich gelegentlich eines Berliner Kongresses aus; als ich aber eintrat,

frug mich Althoff barsch, was ich wolle.

Ich sagte ihm, ich

wolle gar nichts und sei nur aus seine Aufforderung gekommen,

verneigte mich, drehte rasch um und schloß die Stubentür von außen. Nun kam Althoff hinter mir her, nötigte mich wieder einzutreten und auf einem alten Sopha Platz zu nehmen.

Dann entspann sich eine gemütliche Unterhaltung, aber ich empfahl mich bald. Er hatte mich aber wohl in der Erinnerung behalten, und als die Marburger medizinische Fakultät mich und Friedrich Müller, damals in Berlin, zur Berufung für die Poliklinik vorschlug, entschied er sich zunächst, mich zu rufen. Ich teilte Herrn Geheimrat Rühle die Berufung und meine Absicht, derselben zu folgen, mit. Er gratulierte mir zu dem Rus, bedauerte aber sehr, daß ich ihn verlassen wolle. „Er habe gehofft, solange er lebe, bliebe ich bei ihm." Geheimrat Rühle hat meinen Fortgang von Bonn nicht mehr erlebt. Er starb Sommer 1888 an einer eitrigen Rippenfellentzündung. Ich habe dem trefflichen weitherzig denkenden Mann stets ein dankbares Andenken bewahrt. Nach seinem Ableben kam Althoff nach Bonn und frug mich, ob ich nunmehr lieber in Bonn bleibenwolle, da er mir auch hier eine etatsmähigeStelle

in Aussicht stellen könne. Ich wollte aber einmal den Marburger Bekannten, die mich nach der Berufung freundlich ausgenommen hatten, keine Absage erteilen, weiter aber glaubte ich, daß ein Wechsel von Bonn nach Marburg erfrischend aus mich und

meine wissenschaftliche Arbeit einwirken werde, da ich in Bonn allgemach als Arzt mehr in Anspruch genommen wurde, als

meinen wissenschaftlichen Neigungen entsprach.

Marburg 1888 bis 1892.

m Herbst 1888 siedelte ich mit meiner jungen Frau nach Marburg über, wo wir an der Lahn eine hübsche Wohnung sanden, die vor uns Pros. Hans

Horst Meyer innehatte. Da wir in Bonn lieben Verkehr und gute Freunde gewonnen hatten, war der Abschied nicht leicht. Aber wir wurden außer­ ordentlich freundlich von den Familien Külz und Ahlseld,

weiterhin von meinem alten Heidelberger Freund Braun, der seine liebe Frau leider verloren hatte, von den Familien Wagner-Strahl, E. Schmidt, Rubner und Iusti aus­ genommen. Auch Mannk opsf und Frau kamen uns freundlich entgegen. Die Einrichtung der Poliklinik und die Ausstattung mit

Apparaten und Lehrmitteln, sowie mancherlei Besprechungen nahmen mich zunächst in Anspruch. Dann kam die Einrichtung der poliklinischen Sprechstunde für den Unterricht. Die Zahl

der Kranken war sehr klein, sie hatte seither etwa 800 im Jahre betragen. Eine Erhöhung war dringend erwünscht, um den älteren Studierenden einiges zeigen zu können. Um diese zu erreichen, hielt ich an jedem Morgen eine poliklinische Sprech­ stunde ab, wobei ich zunächst von einem, später von zwei

Assistenten unterstützt wurde. Sodann übernahm ich die Leitung der städtischen Siechenanstalten und richtete ärztliche Kranken­ besuche bei den städtischen Armen ein, an welchen ich selbst

intensiv teilnahm.

Aus das wärmste wurde ich in meinen

Bestrebungen von der Schwester Anna aus der hessischen

Diakonissenanstalt in Treysa unterstützt. Bei Besprechungen mit ihr ersah ich bald, daß es in vielen Familien, welche poli­

klinische Hilfe in Anspruch nahmen, an entsprechender Emährung

fehlte. Ich rief deshalb für diese schlecht ernährten Kinder einen «umps, Lebenserinneningen. 3

Marburg 1888 bis 1892.

Milchverein ins Leben, der reichen Anklang unid Zushuß fand. Im gakobshospital, das die Schwester leitete, iwurd; die Zen­ trale eingerichtet. Als sich dann zeigte, daß die ntur den Kindem

zugedachte Milch auch von deren Eltern zum Kaffre benutzt wurde, veranlaßte ich Schwester Anna, die Milch