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German Pages 321 [344] Year 1961
W. A N D R A E • L E B E N S E R I N N E R U N G E N
WALTER
ANDRAE
LEBENSERINNERUNGEN EINES A U S G R Ä B E R S
MIT 27 z . T . MEHRFARBIGEN ABBILDUNGEN
W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. / B E R LI N VORMALS G. J . GDSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG • J . GUTTENTAG, V E R L A G S B U C H H A N D L U N G • GEORG R E I M E R • K A R L J . T R Ü B N E R VEIT & COMP.
1961
H E R A U S G E G E B E N IM A U F T R A G E DES D E U T S C H E N A R C H Ä O L O G I S C H E N I N S T I T U T S U N D DER KOLDEWEY-GESELLSCHAFT VON
K U R T B I T T E L UND E R N S T
HEINRICH
A r d i i v - N r . 35 30 61 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Spradien, vorbehalten Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es a u d i nicht gestattet, dieses B u d i oder Teile daraus auf photomechanisdiem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen (C) 1961 by Walter de Gruyter Sc C o . , Berlin W 3 0 Printed in Germany Satz und Druck: T h o r m a n n & Goetscii, Berlin-Neukölln
VORWORT
Walter Andraes Lebenswerk ist den Fachgelehrten in aller Welt aus einer langen Reihe wissensdiafllicher Publikationen bekannt, und seine Bücher haben darüber hinaus ein weit verstreutes Publikum unter den Laien gewonnen, deren Interesse sich auf die Erforschung der alten Kulturen des Orients und die Ausgrabungen der letzten 70 Jahre erstreckt. Vielleidit nodi mehr ins Breite als seine literarischen Arbeiten wirkte das große Werk, zu dem ihn das Schicksal nach Beendigung seiner Ausgrabungstätigkeit berufen hat, der Aufbau der Vorderasiatischen Abteilung der Staatlichen Museen in Berlin. Jeder, der einmal die Säle der Abteilung mit ofFenem Sinn und empfangsbereitem Gemüt durchwandert hat, muß gespürt haben, wieviel vom Geiste der altorientalischen Kulturen Andrae dort eingefangen und in höchst eindrucksvollen Zeugnissen aus Kunst und Architektur zum Sprechen gebracht hat. Dieser Mann, der um sein Andenken nicht besorgt zu sein brauchte, hat als Achtzigjähriger eine letzte, wichtige Aufgabe darin gesehen, sich selbst und der öffentlidikeit Redbenschaft abzulegen über seinen Lebensweg und seinen Entwicklungsgang. Zunächst sich selbst: Andrae war kein Wissenschaftler im Sinne des trockenen Forschens, das sich am Finden und an der Darstellung des Gefundenen genug sein läßt, wenn er auch die notwendige, gewissenhafte Kleinarbeit nie vernachlässigt hat. Hinter Formen und Erscheinungen suchte er die Men-
sehen, die sie hervorgebradit haben. Im Menschen, der sich dem Forschenden enthüllte, spiegelte sich sein Selbst, und so wurde sein Werk, indem es fremdes Wesen verstehend darstellte, der Weg zum Verständnis des eigenen Wesens. Sein Lebensbericht zeigt, wie die Fähigkeit zu solchem Erkennen in ihm gewachsen ist, zuerst sehr langsam, wie denn Schule und Hochschule ihm noch nicht geben konnten, was er rücksdiauend wohl erwünscht hätte; mit den Jahren und ihrer Erfahrung, als sein Ausgräberschicksal mehr und mehr das selbstlose Sichversenken in fremdes Geisteswesen von ihm forderte, wurde sie immer stärker. Das ist deutlidi zu erkennen an seinen Briefen aus Babylon und Assur, die er wohl deswegen gerade so zahlreidi bei der Sdiilderung seiner Ausgräberzeit herangezogen hat und die vom naiven Staunen und selbst von gelegentlichem Verkennen des Gesdiauten weiterleiten bis zu jenem tiefen, liebevollen Verständnis für den Orient, das er später auf seine jüngeren Mitarbeiter zu übertragen suchte und das diesen, als sie selbst draußen arbeiten durften, viele Umwege erspart hat. Ein gnädiges Gesdiick hat es gefügt, daß sein Werk mit seinem Leben wuchs und daß die krönende Leistung bis in sein Alter hinaufreichte. Er war dafür dankbar, empfand er es doch als eine Verpflichtung des Menschen, zu wachsen, so lange er atmet, zu wachsen vor allem auch an der Arbeit. Sodann den anderen: Andrae war kein Mann, dem Wissenschaft und Forschung genug tat. Er war Lehrer und wollte es sein. Seine Vorträge im Museum haben einen festen Kreis zuverlässiger, lernbegieriger
Freunde, seine
akademische
Lehrtätigkeit hat eine Schar von Sdiülern um ihn versammelt. Mit ihnen hat er stets engen Konnex gehabt, aber in VI
einem weiteren Sinne wendet er sidi auch lehrend an die Öffentlichkeit, mit seinen Büdiern, mit der Anordnung der Funde im Museum, und auch mit dieser Darstellung seines Lebens. Wer Walter Andrae gekannt hat, der weiß, wie stark und unaufhörlich sein Streben war, durch die sorgsam und gewissenhaft gesuchte und dargestellte Form der Dinge vorzustoßen zu ihrem Sinne und damit zum Sinn der Welt. Viele seiner Deutungen, wie etwa die des babylonischen Tempels oder die der jonischen Säule, -sind der Fachwelt wohlbekannt und bilden den ausschlaggebenden Beitrag zur Diskussion der Gegenstände, die sie betreffen; viele rühren dabei an den innersten Kern seiner Persönlichkeit, den Bereich des Glaubens, der Religion. So ist es auch mit dieser schlichten Darstellung seines eigenen Lebenslaufes, der sein Werk erklären soll, so wie er vom Werk her Aufhellung erfährt. Die Herausgeber erfüllen in Dankbarkeit ihre Pflicht gegenüber einem verehrten Toten, indem sie seinem Wunsch, der Welt Rechenschaft abzulegen über sich selbst, zur Erfüllung verhelfen. D a Andrae in seinen letzten Jahren fast erblindet war, hat er diese Aufzeichnungen mit Hilfe seiner Gattin, Frau Emma Andrae, niedergeschrieben. Frau Andrae hat auch das Manuskript druckfertig gemacht und Herausgeber und Verleger bei der Drucklegung beraten und unterstützt. Ohne sie wäre das Buch nicht zustande gekommen. Wir haben den Text möglichst wörtlich so gelassen, wie er einmal festgelegt war, da der Verfasser zu Änderungen nicht mehr sein Placet geben konnte. Vor allem haben die Briefe ihre ursprüngliche unbekümmerte Form behalten, damit ihre Frische und die Intensität des E r lebens, das aus ihnen spricht, nicht beeinträchtigt würden. VII
Namen und Ausdrücke aus orientalischen Sprachen haben wir so wiedergegeben, wie Andrae sie gehört hat, ohne die in wissenschaftlichen Publikationen übliche Umschrift zu benutzen und diakritisdie Zeichen zu setzen, die ja doch nur Fachleuten verständlich wären. Dem Verlag danken wir für sein Entgegenkommen und die dem Werk gewidmete Sorgfalt. Berlin,
im August 1961 ERNST HEINRICH
INHALTSVERZEICHNIS
Naditwadie in Babylon Die Zeit stand nodi still 26 Tage Reiten Von Nervosität keine Spur Endlidi bei Nebukadnezar! Wir bauen ein „Schloß" Es wird heiß Ins weiße Sdiloß kommt Besuch Das große Fest der Mohammedaner Das Leben im weißen Schloß Aus dem Lehrling wird ein Geselle Ein Kurort für nervöse Leute „Jetzt ein blühender Lindenbaum!" Man muß sich alle Ungeduld abgewöhnen Der Geselle wird Meister Abschied von Nebukadnezar und neue Pläne Die Indien-Reise Im Wirrsal Europas Die große Aufgabe: Assur Die lieben Mitbewohner Unsere Tiere Gäste in Assur Gibt es etwas in Europa . . .? Merkwürdige Träume und ungewöhnliche Briefe Heimreise im Frühling (1912) Bekenntnisse des Ausgräbers Geduld! Einsamkeit
1 28 37 46 50 54 56 61 68 72 80 96 109 112 123 128 130 139 143 153 158 171 180 185 190 201 208 213 IX
Der Abschied von Assur Es gibt Krieg! Der Krieg im heiligen Land Auf der „Patmos" „Sonderbare Bauern . . . " Das Leben nimmt Großformat an Der Anfang im Museum Noch herrscht die Kriegspsydiose Das Schicksal greifl ein Die Funde der großen Ausgräberzeit kommen nadi Berlin! Wiedersehen mit Babylon Fülle des Lebens Lebendiges Museum Noch einmal bei den Ausgrabungen im Irak Mitten ins Herz . . . ! Der große Wasserfall Ausklang Das Leben und die Lehre des Lebens Bibliographie
219 224 240 247 250 252 254 257 259 262 264 274 279 289 293 298 301 309
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
1 Titel:
Selbstbildnis, Assur 1906 Der Schüler, im Alter von 15 Jahren Zeichnung aus der Schulzeit, 1892 Fürstenschule Grimma, 1890 Grimma, 1890 Zeichnungen aus der Militärzeit, 1893 Jaffa, 1898 Alexandrette, 1899 Halebije am Euphrat, 1899 W. Andrae in seinem Zimmer im „Weißen Schloß" in Babylon, 1899 12 nach S.64 Festtanz in Babylon 13 nach S.64 Auf dem "Wege von Babylon nach Hille 14 nach S.80 Der Euphrat in Babylon 15 nach S.80 Der Euphrat bei Babylon 16 nach S.112 Bei Nedjef 17 nach S.112 Die Assurebene, 1913 18 nach S.160 Rekonstruktion von Assur, gesehen von der Enlil-Zikurrat: Alter Palast, Annu-Adad-Tempel. Neuer Palast, Gurgurri-Tor, Festhaus 19/20 nach S. 160 Meissner-Pascha, Bagdad 1916 21/22 nach S. 192 Auf dem Wege nach Assur, 1912 23 nach S.192: Sameiro, Portugal, 1925 24 nach S.272: Salamanca, 1926 25/27 nach S. 272 Arbeitsskizzen zur Einrichtung der Vorderasiatischen Abteilung der Staatlichen Museen in Berlin: Burgtor von Sendschirli im Kopfsaal, Front des Karindasch-Tempels im Uruk-Saal, Assur-Saal 2 nach S.16: 3 nadi S.16: 4 nach S.16: 5 nach S.16: 6/7 nach S.16: 8 nach S.32: 9 nach S.32: 10 nach S.32: 11 nach S.48:
N A C H T W A C H E I N BABYLON
Gegen das Ende meines Lebens hin habe idi midi mehr und mehr darüber gewundert, wie diese meine Leiblidikeit mit ihrem Inhalt an Lebenskraft, an Wünsdien und Plänen, mit dem Geistfunken des Idis durch eine so lange Reihe von Jahren hindurch erhalten werden konnte. Ich habe heute, wo ich im 8L Jahre stehe, ausgerechnet, daß es mehr als 25 990 Tage waren, mehr als das große Sonnenjahr Erdenjahre zählt. An jedem dieser Tage mußte ich mich immer neu zum Tageslauf erwedken, meine Kräfte verbrauchen und sie in jeder Nacht wieder ersetzen. Ist das nicht eine schier unheimlidi großartige Leistung, die all den kleinen und feinen Organen des Leibes zugemutet wurde? Und nicht genug mit den 25 990 Tagen, die alle meine Organe stündlich, ja in jeder Minute und Sekunde abnützten, so daß die astronomisch hohe Ziffer von 25 990 X 24 X 3600 entstehen würde, wollte man die richtige Leistung dieser Organe ermessen. Aber es ist doch auch kein langweilig gleichmäßiges Abschnurren eines Uhrwerks gewesen, das wie unsere alte Wanduhr aus Pirna Tag und Nacht seine Sekunden abtickte, sondern es kam vor, daß in gewaltigem Getöse von den Ereignissen dazwischengefahren wurde, ohne daß ein Uhrmacher zur Reparatur dagewesen wäre als Gott und ich selbst. Noch wunderbarer aber will mir erscheinen, daß, unabhängig von diesem Leibessein, Seele und Geist Erinnerungen an die Ereignisse dieses langen Lebens bewahren, die in der Rückschau sich zu Bildern formen. Es darf wohl im Folgenden versucht werden, diese Bilder zu einer kleinen Gemäldegalerie zu vereinigen.
1 Andrae
Da sehe ich mich am Weihnachtsabend 1899, also kurz vor der entscheidenden Wende von einem „glorreichen" zu einem recht unruhigen Jahrhundert, mit Robert Koldewey in Babylon in seinem weiß getünchten Zimmer sitzen, das wir uns im gemieteten Hofe des Dorfsdbieichs Habib el Alauwi ausgebaut haben. Die Ausgrabung in der Königsburg von Babylon lief seit dem März des Jahres, und der Philologe der Expedition hatte bereits, wie es sich bei Deutschen gehört, eine eigene Partei gebildet: Er war nicht bei uns in Babylon, sondern feierte ein privates Weihnachten in Bagdad, 90 km entfernt. Robert Koldewey, 20 Jahre älter als ich, wollte an diesem Abend mir, seinem „Jüngling", das Heimweh verscheuchen. Er hatte zu diesem Zwecke einen zusammenklappbaren Reisechristbaum auf den Tisch gestellt und mit drei Glaskugeln und drei Lichtern geschmückt, ferner seinen gemütlichen langen Tsdiibuk gestopft und entzündet und für jeden von uns ein dickes dampfendes Glas Whiskygrog hingestellt, der bekanntlich wie süßes Seifenwasser schmeckt und zur Enthaltsamkeit erzieht. Ein gut durchgeglühtes Holzkohlenbecken stand auf dem gipsernen Fußboden, so daß kein Kohlenoxydgas daraus entstehen konnte, an dem wir beide ein Jahr vorher in Aleppo beinahe zugrunde gegangen wären. An den Wänden hingen ein paar neuerworbene Seidenteppidie, und in einer phantastisch gestalteten Fensternische war Koldeweys Aussichtsbett installiert, wo er pfeiferauchend seine Siesta zu halten pflegte. Jetzt aber, in der Weihnachtsnacht, blickten wir nicht hinaus auf den majestätisch dahinfließenden Euphrat, sondern nach innen — in die Erinnerung. Da war ich nun mit meinen 24 Jahren sehr im Hintertreffen gegenüber dem 20jährigen Vorsprung des Partners. Seine Erfahrungen mit merkwürdigen Menschen schienen
mir so pikant, daß ich mir mit meinen Studenten- und Militärerlebnissen sehr klein und häßlich vorkam und gar nicht viel sagte. — Doch der Mann mit dem schönen braunen Vollbart, der da vor mir saß und seine lustigen Anekdoten erzählte, brauchte nicht viel zu fragen, — seine klaren blauen, oft aufblitzenden Augen durchdrangen alles, auch die ziemlich einfache Seele da vor ihm. Ich begann ihn zu verehren und rückwärts schauend die Löcher in meiner Vorbildung zu erkennen und mich ihrer zu schämen und beschloß, die Fähigkeiten, die ich schon zu haben glaubte, bewußter in den Dienst der Aufgabe zu stellen, die in Babylon zu lösen war. Nicht allzulang wurde unsere Weihnachtsfeier ausgedehnt, und es blieb mir Zeit, in meinem etwas weniger phantastisch ausgestalteten Zimmer mit den weißen Gipswänden und der Palmholzdecke meine Selbstgespräche fortzusetzen. Die acht Semester meiner Studienzeit an der Technischen Hochschule in Dresden waren eine schöne, sorglose Zeit gewesen, das Musikleben war auf übernormaler Höhe, Bildungsstätten, wie Museen und Ausstellungen, gab es in Fülle, ein anregender Freundeskreis umgab uns — es war im Ganzen kein sturmbewegtes Dasein, dieses Jugendstilzeitalter der 90er Jahre. Dem Künstlerischen in der eigenen Veranlagung wurde mancherlei Nahrung geboten. Mit Verehrung gedachte ich der Vorlesungen von Cornelius Gurlitt über Bau- und Stilgeschichte. Neidvoll sah ich während seines immer geistvollen Vortrages seine mit unnachahmlicher Geschwindigkeit absolut treffsicher hingezeichneten Innenraumperspektiven gotischer Kathedralen und barocker Festsäle an der Wandtafel entstehen und verdankte ihm das offene Auge und viele Anregungen zum Studium des bürgerlichen Barocks in Dresden. Dieser Lehrer war es auch.
dessen Empfehlung ich meine Wahl zum Grabungsassistenten Koldeweys in Babylon unter 16 Bewerbern zu verdanken glaubte. Die Verpflichtung als Grabungsassistent in Babylon lautete auf zwei Jahre, und mein Vater erwartete, daß ich nach Ablauf dieser Zeit in den allein seligmachenden Staatsdienst zurückkehren würde. Meine Familie lebte augenblicklich in Dresden und bestand aus Großvater und Großmutter, den Eltern, der verwitweten holländischen Tante, die meiner Mutter Schwester war, und meinen vier jüngeren Geschwistern, die alle noch etwas werden wollten. Das Leben verlief also in gut bürgerlichen, aber auch bildungs- und sdiaffensfreudigen Verhältnissen. Da war ich nun als Ausgräber in Babylon und setzte Tag und Nacht ein ganzes Jahr lang den damals noch ganz unbekannten farbigen Löwen von Babylon aus Tausenden von Bruchstücken zunächst auf dem Papier zusammen. Hatte man das auf der Hochschule lernen können? Und wo waren all die archäologischen und philologischen Kenntnisse, die man in Babylon so gut hätte gebrauchen können? Da lernte man in Dresden die griechischen Bauformen kennen bei einem Professor, der den Mäander von einem „Fluß in Ostindien" ableitete! Und gar ägyptische und mesopotamische Baukunst mußte nadi sehr fragwürdigen Schulbüchern gelernt werden. Unsere Grabungen sollten ja die Dinge erst in Ordnung bringen. Mir wurde schwach bei dem Gedanken an jene Propädeutik. Daneben leuchtete jedoch eine hellere Begeisterung auf im Gebiete des künstlerischen Gestaltens, sei es auch nur im Zeichnen und Malen nach der Natur, den Landschaften, in die man sich verlieben konnte, oder gar des Menschen, zu dem eine Berührung mit der griediischen Plastik hinführte. Georg Treu, einer der Ausgräber von Olympia, war
Leiter der Dresdner Skulpturensammlung im Albertinum und Professor an unserer Hochschule gewesen. Ich verehrte ihn, seit ich gesehen hatte, wie er beim Vortrag über griechische Originalwerke einen Marmorarm liebevoll streicheln konnte. Damals waren Max Klinger und Otto Greiner, die großen Radierer, am Werk. Sollte man es ihnen nicht gleich tun können? Wie wär's überhaupt, wenn man zur Kunst abwanderte? Aber da war auch Paul Wallot, der Erbauer des Reidistagsgebäudes. Er lehrte nach seiner Art, mit großen Baumassen zu gestalten, als hätte man plastischen Ton in der Hand. Das kann man ja auf dem Papier leichter als in der rauhen bürokratischen Wirklichkeit und unter der Faust der Oberrechnungskammern. Er brachte das gärende Herz zur Raison und warnte sogar vor einer allzu frühen Reise nach Italien. Nun war der Würfel gefallen, und die Reise war weit über Rom und Athen hinausgeschossen und Hand, Herz und Blick hatten die maßstäblich größte antik-römische Architektur zu fassen und gleichsam zu trinken bekommen: Baalbek! Das lag nun schon wieder ein Jahr zurück, und noch immer rauschte die riesenhafte Größe jener Säulen und Quadern im Gemüt des Jünglings weiter. Er sah sie im reinen Himmelsblau von Morgen- und Abendsonne vergoldet in der Erinnerung aufragen, mehr in brennenden Farben als in erstarrenden Linien. Und in Babylon? Der Tisch lag voller kleiner und kleinster Brocken des farbigen Löwen, und es galt, die Nase fein geduldig ins Kleine und Kleinste, in das Erdige zu stecken. In den Ruinen von Babylon rauschte die Größe nicht, aber jeder Ziegelstein, der noch an Ort und Stelle lag, forderte sein Recht, er wollte gemessen und gezeichnet sein. Und es gab Millionen solcher Ziegelsteine!
Als Gegenspieler zur geisttötenden Pflichtarbeit meldete sich die Landschaft von Babylon. Fast wie ein Wunder ersdiienen plötzlich ihre Reize, als wären sie immer verhüllt gewesen. Leuchteten nicht die goldgelben Datteltrauben aus den zartgrünen Palmkronen? War nicht der lehmgelbe Euphrat schön und nicht bloß nützlich? Konnte er nicht auch tiefblauen Himmel spiegeln? Schwamm nicht das jenseitige Palmufer im Rosenrot des Abendhimmels? Konnte nidit auch die Steppe mit Kameldorn und Zwergakazie ihre Reize haben und Düfte ausströmen, die sich leider, leider nicht malen lassen? Sollte man nicht auch versuchen, die papageienbunten Festtagsgewänder des Volkes festzuhalten, wenn die Leute in einem der grauen Höfe in der Sonne am KorbanBairam-Fest tanzten? Aber die Arbeit ging vor! Malen und Zeichnen waren nun doch keine ganz wild gewachsenen Fähigkeiten mehr bei jenen Dilettantismen in Babylon. Die Dresdner Hochschule hatte sie schon ein wenig kultiviert. Es war dort gleichsam ein Kampf mit der Farbe und Form gelehrt worden, um nicht zu sagen eine Spiegelfechterei; denn es ging da weniger um ein liebevolles Sichhingeben an die Farben als um das Nebeneinanderzeichnen der Farbflächen. Erst die Farbenexperimente der Jugendstilmaler brachten neue Entdeckungen auf dem Gebiete der Farbenmusik, und die Musikalischen erzielten auch schöne Erfolge. Ich schnappte mir ein Teilchen davon auf und fügte es meiner Liebhaberei für das Farbige ein. Ich war aber von klein auf mehr Zeichner als Maler gewesen und mußte die Farben später erst erobern und damit auch die physischmoralische Wirkung der Farben und die Überwindung des Ästhetischen. Sicheres Form- und Proportionsgefühl hat sich bei mir erst durch das Üben im Aktzeichnen mit Kohle ergeben, das dem Plastizieren immer noch am nächsten kommt,
weil man den feineren Schwellungen und Vertiefungen des Körperlichen gleichsam tastend nachgehen kann. Plastische Übungen blieben leider an der Hodischule vernachlässigt; vielleicht wäre sonst ein Bildhauer aus mir geworden! Auch in Babylon ist es in der Weihnachtszeit etwas kühl, und die Kohlenbecken-Heizung, die in Koldeweys Zimmer möglich gewesen war, konnte nunmehr mitten in der Nacht nicht mehr beschafft werden. Meine Selbstgespräche waren inzwischen so weit gediehen, daß mein irdischer Leib der Heizung bedurfte, also des Bettes oder der Tischheizung. Die letztere war eine Erfindung Koldeweys und zugleich eine Übung zum aufmerksamsten Selbstbewußtsein. Man besaß zwei Petroleumlampen, die eine zum Leuchten auf dem Tisch, eine zweite unter dem Tisch, dessen vier Beine mit einem großen Bogen Zeitungspapier und einer Wolldedke sorglich umhüllt wurden. Man zog sich am Tische sitzend die Wolldecke über die Knie, bekam auf diese Weise warme Beine und eine geheizte Tischplatte, sowie auch für die Hände einen warmen Tischkasten. Aber eines war nötig: absolutes Stillhalten der unteren Extremitäten wegen des Heizkörpers unten! Der Wachsame — und ein solcher war ich in dieser Weihnachtsnacht — konnte also seine Selbst-„Gespräche am Kamin" ruhig fortsetzen. Die Sphinx hatte ihre Rätselfragen gestellt. Woher kommst du? Wozu bist du da? Sie ließen micli nicht los. Aus dem engen sächsischen Vaterland hatte ich meine Nase bis 1896 erst dreimal hinausgesteckt. Das erstemal als 12jähriger Bub bei einem Schulausflug, der von Chemnitz nach Nordböhmen ins Egertal und ins granitne Fichtelgebirge führte. Der zweite Ausflug ging in den Bayrischen- und Böhmerwald, auf den Arber und den Osser und hinab nach Passau, der dritte nach Wien und Kärnten. Mehr als die be-
gegnenden Menschen sprach damals das Antlitz der Mutter Erde zu meiner bewußter werdenden Seele. 1896 durfte ich Holland besuchen und kehrte über Kassel zurück. Der Student hatte nun bereits Kunstgeschichte studiert und wußte etwas von „Rembrandt als Erzieher", der damals viele von uns sehr beschäftigte und anregte. Idi mußte also von den reichlichen Fleischtöpfen der Verwandten in Amsterdam sogleich zur „Nachtwache" im Rijksmuseum und zu den anderen großen Bildern und war im übrigen reichlich mit holländischer Architektur genießend und skizzierend beschäftigt. Mit Spannung hatte die Landratte den ersten Anblick des Meeres erwartet. Er bot sidi von dem Dünendorf Sdieveningen, graugrün mit weißen Schaumkämmen. Den Haag undHaarlem, sowie die Käsestadt Hoorn mit ihrer satten Altertümlichkeit und behäbigen Betriebsamkeit genoß ich mit Behagen. Der solide Reichtum des alten Kolonialvolkes, das seinen Boden dem Meere abrang, imponierte mir trotz der Kleinheit aller Lebensräume. Überall „rembrandtete" es, und überall besaß man kleine und große überseeische Kostbarkeiten. In Kassel war der frisch erworbene Studienfreund zuhause. Wir waren beide sogleich in Rembrandt, alter Kasseler Architektur und im Musikalischen verstrickt. Gesang und Klavier waren seine Stärke, bei mir das Zeichnen und die Malerei. Das unheimliche Halbdunkel Rembrandtscher Bilder und vor allem seiner Radierungen hat mich zu seinem Kopisten werden lassen. Das Federzeichnen hatte midi monatelang gepackt, es konnte zur Leidenschaft ausarten. Des Freundes Musikalität konnte, vom Standpunkt des Studiums aus gesehen, ebenfalls ausarten. Aber wir waren ja noch jung, und jetzt, nach mehr als einem halben Jahrhundert, weiß man,
daß kein gutes Gespräch im Nichts verhallt, sondern in einer unsichtbaren großen Chronik aufbewahrt bleibt, und daß das schöne Bild gemeinsamer jugendlicher Begeisterung wie eine frühlingshaft aufsprießende Landschaft nicht verweht, sondern in einer unvergänglichen Gemäldegalerie aufbewahrt bleibt, im Gedächtnis, und sei es auch nur zweier oder eines einzigen Menschen, der es im Tode mit hinübertragen kann in eine andere Welt. Für das männliche Erinnern ist es grotesker Weise bequemer, sich nicht an hervorragenden Geistes- und Heldentaten, sondern an den Torheiten der Studentenzeit, an den Bosheiten der Schulzeit, an den Dummheiten der Flegeljahre bis zu den Kindereien der goldenen stubenreinen Jugendzeit und den erinnerungslosen drei ersten Lebensjahren zurückzutasten. Als Studenten kümmerten wir uns nicht um Politik. Der mehr oder meist minder geistvolle Studentenulk sorgte für Entspannung der anspruchsloseren Kreise. Für die Schülerbosheiten war eine Internatserziehung, wie ich sie auf einer der sädisischen Fürstenschulen, dem ehemaligen Augustiner-Kloster in Grimma, vier Jahre lang genoß, ein besonders fruchtbarer Boden (Abb. 2). Ein jeder Fürstenschüler nahm einen H u t voll guter und schlechter, an den Lehrern verübter Bosheiten mit ins Leben hinaus, weil man versäumt hatte, ein Ventil zu schaffen, durch das man auf dem Wege der Narrenfreiheit einmal im Jahre der Spottlust freie Bahn hätte schaffen können. Es ist gar nicht auszudenken, was einem unbeliebten, autoritätslosen Lehrer in den Studiensälen und Klassenzimmern, im Speisesaal und im Schlafsaal, ja sogar im Betsaal an Schabernack zugefügt werden konnte, wenn er sieben Tage lang die Inspektion zu führen hatte. Am schlimmsten wurde in Grimma dem Griechischlehrer
mitgespielt. Er lehrte schon über 30 Jahre als Nachfolger seines berühmten Vaters an der Schule und hätte mir beinahe die Schönheit der griechisdien Sprache gründlich verekelt. Er hieß Wunder, war untersetzt und dids, angetan mit einem schwarzen abgetragenen Rock und einer Weste, die über dem Bauch ein Vordach bildete. Der kugelige Kopf saß ohne Hals auf diesem Unterbau, darauf sträubte sidi kurzes weißes Haar, das an einen Igel erinnerte. Unter der Brille schielten die Augen eines nach links, das andere nach rechts, er konnte also mit dem einen ins Buch mit den Oden, mit dem anderen in die Klasse sehen. Das Buch hielt er mit ausgestreckten Armen rechts seitwärts vor sich. Er saß nie, sah auch nie nach der Tafel, wir konnten darauf schreiben, was wir wollten, z. B. die Reihenfolge derer, die beim Übersetzen drankommen wollten — die anderen hatten nichts präpariert! (Abb. 3.) Es glückte fast immer. Er „belohnte" uns alsdann durch Vorlesen einer „poetischen" Übersetzung von vergilbten Zetteln aus dem Nachlaß seines berühmten seligen Vaters. Ein Beispiel für den Stil dieser Meisterwerke: „Sieh, da kommt auch H ä m o n sdion, Offenbar sein jüngster Sohn! Heute -werden sie getraut, Denn sie ist ja seine Braut."
Es war gut, daß ein jüngerer Griechischlehrer es übernahm, für ein Schulfest die herrliche Antigene in griechisdier Sprache mit uns einzustudieren. Für die wichtige Rolle des Königs Kreon stand nur der allerschlechteste Schüler zur Verfügung. Denn er wollte nicht nur Schauspieler werden, sondern wurde auch einer. Seine Sprache und Bewegung waren für einen König wie geschaffen, aber im Griechischen hatte er die Fünf. Er lernte die Rolle, ohne sie zu verstehen, 10
und spielte sie glänzend. Mir als Minderbegabtem fiel die Rolle eines der vielen Greise zu, die unterhalb der Bühne ihre Chöre zu sprechen und dabei langsam um ein Altärchen zu schreiten hatten, auf dem einiger Spiritus verbrannte. Antigene und Ismene sprachen wie richtige Mädchen, sie hatten noch keinen Stimmbruch. Jedoch wäre es durchaus im althellenischen Sinne gewesen, wenn Männerstimmen diese Rollen gesprochen hätten, denn zu Sophokles' Zeiten durften keine Frauen auf der Bühne auftreten. Die Aufführung verlief aber zum Wohlgefallen der vielen Zuschauer in der Turnhalle. Unser Turnlehrer war übrigens auch zugleich Zeichenlehrer, und da ich unter 120 Schülern der einzige war, der zeichnen konnte, fand ich einmal den Mut, das Skizzieren in der freien Natur vorzuschlagen. D a zog nun der Zeichenlehrer mit Erlaubnis des Rektors mit einem halben Dutzend Beflissener hinaus vor das Städtchen und wählte den in trauriger Einöde liegenden Pulverturm samt Blitzableiter als abzuzeichnendes Objekt. Das war ein niedriges kreisrundes Gebäude mit einem häßlichen Kegeldach und stand in einer schmutzigen Grube. Die sonst ganz hübsche Flußlandschaft, die wir in der Schule vor der Nase hatten, lockte diesen Lehrer nicht (Abb. 4 u. 5). Überhaupt stand das Ausüben aller freien Künste in dieser hochhumanistischen Anstalt niedrig im Kurs. So mußte sich mein Talentchen in der Karikatur austoben, für die aber der Rektor und die Lehrer keinen Humor übrig hatten. Der etwas schwer zu karikierende Latein-Professor hatte mich scharf aufs Korn genommen. Er wollte mir beweisen, daß ein „guter Schüler" des Chemnitzer Gymnasiums noch lange kein solcher auf der Fürstenschule sei. Unter dem, was ich schrieb, hagelte es „Fünfen" und „Vieren", die mich un11
glücklich madien sollten. Ich aber nahm es nicht tragisch. Fuhr drüben, jenseits des Flusses, ein Eisenbahnzug vorbei, so erwachte mein altes Eisenbahn-Interesse der Kinderjahre. Ich blickte sinnend hinaus, und plötzlich stand der LateinProfessor wie der leibhaftige dürre Satan mit gesträubtem Haupt- und Barthaar und hämisch lächelndem Blick vor mir: „Andrae, nähmen Se Tinte, Fäder und Papär und schreiben Se: ,Läber Babba, nämm mich weg von dieser Schule und laß mich läber Bahnwärter werden'!" Ich war beschämt und grimmig. Schon einmal hatte dieser Lehrer das eben aufkeimende Selbstgefühl des 15jährigen und auch dessen Künstlerstolz erheblich verletzt. D a ich nun schon ein „Monopol" für Zeichnen und Malen besaß, sollte ich zu dem freudigen Ereignis, das in unserem erlauchten Königshause bevorstand, einen Beitrag leisten. Der Thronfolger sollte sich verheiraten! D a mußte die Fürstenschule (auf der wohl niemals ein Fürst geschult worden ist) sich hervortun mit einem schönen Glückwunsch. Einer der Lateinlehrer verfaßte eine lateinische Hochzeits-Ode im horazischen Stil, obwohl der Thronfolger im Geruch stand, ein guter Charakter zu sein, aber kein Wort Latein, gesdhiweige denn eine Ode ins Deutsche übersetzen zu können. Deshalb kam die Ode in eine riesige, mit grünem Samt überzogene Mappe und vorne darauf ein Titelbild von Walter Andrae. Ich hatte eine leichte Erkältung und bezog das Krankenzimmer, um das Prachtwerk in aller Stille und Ruhe vollenden zu können. Dafür hatte jener boshafte Lehrer kein Verständnis und machte seine Anspielungen auf diese „Zeitvergeudung" ! Auf dem Titelbild aber sah man unsere Fürstenschule von außen und innen, nebst einigen Figuren in langen Talaren mit samtenen Baretten, welche Lehrer und Alumnen in 12
mittelalterlicher Tracht sein sollten. Das ganze war von knorrigen Baumästen eingerahmt. Ich nahm an, daß der Thronfolger erkennen würde, was ich gemeint hatte. Der Rektor überreichte mir als Belohnung ein zweibändiges Tafelwerk der bildenden Kunst aller Zeiten mit der Mahnung, künftig die Lehrerkarikatur zu unterlassen! Dieses Werk war lange Zeit mein Stolz und mein Trost in der künstlerischen Öde der Sdiule und der Stadt Grimma in Sachsen. Seit der Säkularisierung des alten Augustinerklosters in Grimma an der Mulde und der Begründung der drei Fürstenschulen in Grimma, Meißen und Sdiulpforta durch Kurfürst Moritz von Sachsen hatte sich natürlich mancherlei geändert. Die Hälfte des alten Klosterbaues mit der einschiffigen Augustinerkirche stand noch, und wir bewohnten die uralt-verschnitzelten und beschrifteten Schränke, deren frühere Insassen noch im 16. und 17. Jahrhundert gelebt hatten, wie der alte Staatsrechtler Pufendorf oder der Kirchenliederdichter Paul Gerhardt. Dann sank diese alte Herrlichkeit dahin, und wir zogen in den hygienischen, aber weniger heimeligen Neubau, der sidi palastähnlich am Strand der Mulde mit drei verschnörkelten Giebeln erhob. Ein großer Spielplatz, dessen Rasenfläche nidit betreten werden durfte, lag mitsamt einem Kegelsdiub längs der weinbewachsenen Stadtmauer, über die manche Ausbrecher hinauszuvoltigieren versuchten, mit und ohne Erfolg. Auf der Mulde gab es eigene Ruderboote und den Schwimmplatz, und drüben am anderen Ufer fuhr die Bimmelbahn. Keine üble Gegend, aber doch so etwas wie ein fideles Gefängnis, aus dem es nur selten Ausgang gab. Zweimal wöchentlich, nämlich mittwochs und sonntags nachmittags, wurden wir „in die Natur" geführt, und diese 13
Spaziergänge sollten den in der hochhumanistischen Schule fehlenden Biologie- und Naturkunde-Unterricht ersetzen. Der Mittwoch-Spaziergang führte sommers und winters nach der Klosterruine Nimbschen, die weiter oben an der Mulde lag. Dieser Spaziergang, bei dem wir zu zwei und zwei gehen mußten, hieß Nimbschen-Laatsch. Er endete in der KaffeeWirtsdiaft, wo es Pfannkuchen gab und wo im Gastzimmer in einer Vitrine der seidene Pantoffel der Katharina von Bora gezeigt wurde, den diese bei ihrer Flucht aus dem Kloster verloren haben soll. Er wurde alle paar Jahre erneuert, wenn er verschossen war. Am Sonntag wurde nie eingekehrt. Man ging über die Felder, und dieses Vergnügen hieß Stoppel-Laatsch. Obwohl ich heute noch weiß, daß mir der Aufenthalt in der Natur innige Freude bereitete, bedaure ich doch sehr, daß uns die Schule so geringe Kenntnisse von Steinen, Pflanzen und Tieren und auch von der Physis des Menschen mitgegeben hat. Noch mehr Leere, ja sogar schädliche Wirkungen hat der „Gottesdienst" in der Schule beim heiligen Augustin hinterlassen. Wie mir mein Gedächtnis meldet, bin ich mit einer schönen Substanz von Christlidhkeit und Gottgläubigkeit nach Grimma gekommen, die jedoch, je älter ich wurde, desto mehr in sich zusammenschmolz. Es wehte eine kalte Luft in dieser Kirche zu St. Augustin. Sie ging von den alten kahlen Wänden und der häßlichen Inneneinrichtung, aber ebenso auch von den darin Amtierenden in ihren schwarzen Talaren aus. Ein überlanger einschiffiger Saal war der Innenraum, regelrecht im Westen zugänglich, mit dem Altar, aber auch der Orgelempore im Osten. Da stand ein schwarzes Holzkreuz auf dem weißgetünchten Mauerklotz des Altars, vor dem stehend der Geistliche der Gemeinde den Rücken zuwendete, jedodi nicht der ganzen Gemeinde! Denn 14
hinter dem Altar unter der Orgelempore saßen — wir! Wir saßen wirklich nicht bequem dort auf den harten, lehnenlosen Holzbänken, viel zu eng für die 120 Buben, echte Büßerbänkchen waren es. Ganz dicht vor uns die rauhe Rückseite von Kreuz und Altar, hinter dem das strenge Antlitz des Archidiakons oder des Herrn Superintendenten uns anblickte. Rechts und links von demselben in einem Chorgestühle sämtliche Lehrer, die Köpfe meist nach rechts oder links verdreht — nämlich nach uns hin. Über uns die dröhnende Orgel, deren Empore von einer dunkelbraunen Holzsäule gestützt wurde. Es gab nur einen einzigen gesicherten Platz an diesem Marterort: den hinter der Holzsäule! Und dieser war seit 300 Jahren dazu benutzt worden, daß sein Inhaber während des Gottesdienstes seinen Namen in die Säule sdinitt. Wie sollte bei all diesen Hemmnissen Frömmigkeit an diesem Orte hervorwachsen, o heiliger Augustinus? Verzeih uns Armen! Das weibliche Geschlecht spielte in diesem „Männerkloster" eine geringe Rolle. Für das Sauberhalten der Schlafsäle und der 120 Betten waren vier ältliche Weibsleute engagiert, die den schönen Titel „Betthexen" führten, obwohl ihre Arbeit sehr segensreich wirkte. Wie, wenn jeder der 120 Buben sich täglich sein Bett hätte selbst machen müssen! Junge Mäddien wurden nur einmal im Jahr zum Tanzabend in die Schule eingeladen, natürlich in Begleitung der zugehörigen Mütter. Das Fest fand in der Aula statt unter Beifügung reichlidi fließenden Tees, der von noch nicht tanzenden Tertianern serviert wurde. Die Tänzer hatten ihre Kunst unter Ausschluß der Weiblidikeit bei einem Tanzmeister aus Altenburg gelernt. Dieser elegante, etwas korpulente Herr tanzte uns auf außergewöhnlich zarten Füßen 15
graziös unsere Walzer, Polkas, Quadrillen vor. Wir ahmten es zwei und zwei, vier und vier in knabenhafter Ungelenkigkeit nadi und traten uns gegenseitig auf die Zehen. Am Tanzabend in der Aula sollte man sich dann dem weiblichen Partner gegenüber gebildet benehmen, versuchen, die zarten Füßdien unbetreten zu lassen, und dabei nodi passende Reden führen, für welche die üblichen Jungengespräche gewiß keine Vorbilder sein durften! Die Vorbereitungen zu solchen Festen gestalteten sich entsprediend schwierig: Diejenigen, weldie Tanzdamen einladen konnten, fühlten sich verpflichtet, denselben vollbesetzte Tanzkarten zu überreidien, und gingen vorher mit den Tanzkarten der Mädchen bei den Klassenkameraden hausieren. Ein wahrer „Mädchenhandel" blühte auf, manchmal unter Draufgabe der abendlichen Wurst für einen Tanz usw. Ein seltsamer Zwitter zwischen kindlichem Reigen und modernem Ball entstand. Der Anschlag mit der Abfolge der Tänze wurde jedoch wiederum von mir sinnig ausgeschmüdst. Es war darauf die liebe Gasse in Grimma zu erkennen, die soeben vom „Coetus" der zu zwei und zwei marschierenden Schülerhorde durchzogen wurde — und am Ende der Schlange der so gern karikierte Griechisdi-Professor mit seinem Famulus und mit geschultertem Regenschirm. Die Ähnlichkeit unverkennbar! Jedermann von den Gästen freute sich daran — nicht aber unsere Lehrer! Außer dem alljährlichen Tanzabend gab es noch zwei weitere Feste, die erfreulich für hungrige Schülermägen waren: den St. Martinstag und den Fastnachtstag. Am ersteren hatte ein sinniger Stifter die Martins-Gans beschert. Etwa 20 Gänse von den Muldewiesen mußten dafür ihr Leben lassen, da je ein Tisch, d.h. sechs Schüler, eine Gans ver16
Abb. 2. Der Schüler, im Alter von 15 Jahren
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Abb. 3. Zeichnung aus der Schulzeit, 1892
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A b b . 4. Fürstenschule Grimma, 1890
II A b b . 5. G r i m m a , 1890 Zeichnungen aus der Schulzeit
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Abb. 6 und 7. Zeichnungen aus der Militärzeit, 1893
zehren sollten. Ein anderer Stifter gab die sechs Pfannkudien her, die jedem Schüler am Fastnachtstage zustanden, insgesamt 720 Pfannkuchen — eine schöne Bäckerleistung. Meine liebe Mutter sandte mir als Ergänzung hierzu am Fastnachtstag, auf den etwa auch mein Geburtstag fiel, in Unkenntnis der Sachlage in der hin- und hergehenden Wäschekiste „ausnahmsweise" mehrere Dutzend heimatliche Pfannkuchen. Idi habe ihr das Geheimnis jenes „embarras de richesse" sicher nicht verraten, denn verdrückt wurden alle. Das größte aller Feste eines Alumnus Grimmensis aber war Abitur und Abgang! Kurz vor Ostern 1893 kam für mich der feierliche Moment der Reifeprüfung und Entlassung. Uralte Riten waren dabei zu befolgen. Während des „Schriftlichen" durften wir Gesdienke an die Tischgenossen, meist verzehrbarer Art, einkaufen und verteilen. Nach dem „Mündlichen" fand das große Feuer auf dem Spielplatz statt. Die Grimma'sche Feuerwehr wurde eingeladen und entsandte einen Delegierten mit Löschgeräten. Auf dem Spielplatz zwischen Kirche und Schule ward zum Gaudium aller Schüler eine strohgestopfte Puppe in Mensdiengröße auf eine Stange gespießt, der „Pan". So hieß bei uns die verhaßte Mathematik jeglicher Art. Um die Puppe herum häufte sich Brennstoff: Papier, alte Kleider, alte Schuhe, vielerlei Bücher, die dem Abiturienten fortan entbehrlich schienen. Bei Eintritt der Dunkelheit zündete man den Scheiterhaufen an und umtanzte das immer höher lodernde Feuer mit wilden Gesängen, Cicero, Demosthenes, Plato und Euripides, vor allem jedoch Pan, Pan, Pan verwünschend und deren Werke ins Feuer pfeffernd. Dann erklangen Abschiedslieder. Am Tage der Entlassung kam die Zeremonie des „ Torsprungs". Vor dem Schultor auf der Straße wurde ein großer Sandhaufen aufgefahren, denn über die Schul17 2
Andrae
schwelle sprang man im Weitsprung in die goldene Freiheit hinaus! — Wie sah diese Freiheit aus? Manche Freudengenossen wußten sich freiheitlich zu betrinken. Andere schlichen bedächtig in die letzten kurzen Ferien; denn für manche, auch für mich, winkte das einjährige Militärdienstjahr, das zuweilen nodbi viel mehr körperliches und seelisches Gebundensein als die Schule bringen konnte. Aber auch das ging bei mir mehr traumhaft als vollbewußt vorüber; denn ich war erst im 19. Lebensjahr und hatte noch das Recht zu träumen. Viel Weisheit war bei den Kaisergrenadieren in Dresden nicht zu lernen. Der Körper wurde immerhin geschlifFen und in gewissem Sinne sogar gestählt. Man bekam Haltung. Mancher schien am Ende sogar ein Schwert oder einen Besenstiel verschluckt zu haben, anderen wieder war der Zwang und der barbarische Ton des Kasernenhofes gründlich verhaßt. Mein Träumen aber half mir auch darüber hinweg. (Zwanzig Jahre später sollte leider die Bewährungsprobe dieser Übungen des Ungeistes und der Körperlichkeit von uns gefordert werden, in den traurigen Unmenschlichkeiten eines unseligen Krieges. Aber das konnte man in der Zeit dieser Selbstgespräche nicht vorausahnen.) (Abb. 6 u. 7.) Im Elternhause war man eigentlich nicht fromm im protestantisch kirchlichen Sinne. Der Vater ging mit uns nur zur Silvesterpredigt in die Kirche oder zu großen Kirchenmusiken. Im Hause hielt die Mutter, in der Sdbule der Religionslehrer auf eine evangelische Erziehung. Sonst wäre wohl ein Erlebnis nicht möglich gewesen, das meine junge Seele zur Konfirmationszeit ergriffen hat. Ich schämte mich niemals, dieses Erlebnis zu bekennen, obwohl fast alle Jugendlichen ringsum beteuerten, daß die Konfirmation keinerlei oder gar einen lächerlichen Eindruck bei ihnen hinter18
lassen habe. In jenem Jahre lag stille, ehrliche Trauer in der Atmosphäre, die das Gemüt des Vierzehnjährigen merkwürdig ergriffen hatte. Sie war wie ein Schleier, der sich über seine noch kindliche und nun mehr und mehr zur Reife kommende Seele breitete. Zwei deutsche Kaiser waren bald hintereinander aus dem Leben geschieden. Es war ihm, als ginge ihm die Trauer darüber persönlich nahe. In diese Seelenstimmung fielen Unterricht und schließlich die Feier der Kommunion und Konfirmation. Zugleich war die Familie nach Dresden übergesiedelt, und ich war bei freundlichen Nachbarn in der Familie eines Augenarztes einquartiert und daher mandimal allein. Die Christenlehre ergriff das ahnende Gemüt mehr als den Verstand und füllte es mit einem weihevollen Gehalt, der wohl dem würdigen Pfarrer zu verdanken war. Alles wurde gläubig hingenommen mit nur einer Ausnahme. Der erwachende Verstand fand sich nidit ab mit der Dreieinigkeits- oder Dreifaltigkeitslehre, die im Glaubensbekenntnis beschworen werden sollte. Hatte sich Unser Vater im Himmel in drei Gottheiten entfaltet, oder hatte er drei Wesenheiten in sich vereinigt? Des Pfarrers Autorität zu fragen schien mir unerlaubt, die Eltern konnte ich nicht fragen, und meinen Wirten wollte idi nicht zur Last fallen und scheute das Fragen auch im Gefühl eigener Unklarheit. So wurde leider der Konfirmandeneid mit einer ganz unprotestantischen reservatio mentalis geleistet, und erst viel später lehrte mich das Leben, welche Schwierigkeiten die Beantwortung meiner Gewissensfrage den hochgelehrten Theologen verschiedener Zeiten und Konfessionen gemacht hat bis hin zur Spaltung der Christenheit in eine östliche und eine westliche Kirche mit ihren Formulierungen PATER — LOGOS - S O P H I A und PATER - FILIUS - SPIRITUS SANCTUS. 19 2»
Diese eminent religionswissensdiaftlidie Frage hätte nun mit meiner Einsdiulung in die hochhumanistische und stark theologisierende Fürstenschule zu Grimma zur Beantwortung kommen müssen, zumal ein Lizentiat der Theologie sein Universitätskolleg über Kirchengeschichte in der Religionsstunde vortrug. Da ging die Frage jedoch zunächst im starren Dogma und in vielen Gescheitheiten unter, und das Herz kam zum Schweigen, bis im Leben dann ein stärkerer Weckruf erscholl und die Urnotwendigkeit des trinitarisdien Prinzips erkannt und überall aufgefunden werden konnte. Damit wäre dann der Eid endlich eingelöst worden. Ich weiß nicht recht, weshalb ich midi in den vier Internatsjahren so gar nicht an Dummheiten und Rüpeleien des vorangegangenen zweiten Lebensjahrsiebents zu erinnern vermochte. Zu Hause war ich der Älteste und das Vorbild gewesen. Unter mir wuzelten die vier jüngeren Geschwister herum, drei Sdiwestern und ein Bruder. Das Regime der Mutter muß straff gewesen sein, sonst hätte sie den kargen Haushalt nicht meistern können. Der Vater erwartete, daß er sich um die Erziehung seiner Sprößlinge nicht allzuviel zu bekümmern brauche. Er suchte mich frühzeitig für seine technischen Geschäfte im Betriebe des Eisenbahnbaues und der Verwaltung zu interessieren, und manche konkreten Vorstellungen von diesem Gebiete habe ich schon mit 8 und 10 Jahren in mich aufnehmen können. Die Landschaft prägte sich mir damals vom Gesichtspunkte der Eisenbahngeleise aus ein, die ja über die mandimal wild werdenden Bäche und Flüsse hinführten, über oder unter Straßen und an manchem lieben Bauernhaus vorbei, wo es gute Honigbrote zu essen gab. Das Reisen ging dabei auf der handgetriebenen Draisine vor sich. Was kann es für einen Buben Schöneres 20
geben? Der Vater sah aus wie der Hieronymus Holzsdiuher von Nüremberg, so fand ich später, als ich die Bilder Albrecht Dürers kennenlernte. Er war baumlang und dafür weithin bekannt. Ich war sehr stolz auf seine Länge. Als ich lesen gelernt hatte, lernte ich ganz im geheimen ein Gedicht aus dem Lesebuch für ihn, stellte mich am Morgen seines Geburtstages an sein Bett und begann zu deklamieren: „Sieh' Dir die Ameis' an, Du Faulpelz Du, und lern' von ihr!" Ein überraschender Heiterkeitsausbruch der Eltern vertrieb mich alsbald. Wir lebten damals noch im Erzgebirge, wo es im Sommer schöne Blumen, Wiesen und Wälder, Ölmühlen und verlassene Bergwerksstollen mit herrlichen bunten Steinen und Kristallen auf den Halden gab, die allen Freude machten. Später mußten wir in der rußigen Fabrikstadt Chemnitz mit vielen Schloten in verkümmernder Natur leben. Die Chemnitzer Atmosphäre war keineswegs gesundheitsfördernd, und unsere Eltern werden ihre Sorgen um die Kinderschar gehabt und den Wunsch gehegt haben, sie zeitweise in besserer Luft zu wissen. So kann ich midi meiner Deportation nach Dresden zu den Großeltern erinnern. In Dresden wohnte man wenigstens hoch im dritten Stock an einem großen grünen Platz in der Nähe des Hauptbahnhofes, auf dem sonderbare Lokomotiven und buntfarbige kutschenförmige Personenwagen zu sehen waren, an denen jede Klasse mit einer anderen Farbe bemalt war. Man sah auf dem Balkon des dritten Stocks wohl die schönen Silhouetten der Dresdner Kirchen, aber was interessierten die ein Chemnitzer Bubenherz! Und am selben Platz die Fassade der Dresdner Technischen Hochschule, seiner späteren Alma mater! Brav sein bei den Großeltern war die Losung! Bei den lieben alten Großeltern konnte man ja nicht an21
ders als brav sein. Dummheiten zu verbrechen war gänzlich ausgeschlossen, denn es fehlte an gleidialtrigen Mitverbrechern. So stand ich auch lange und gern an den großen Schranken beim Bahnhof. Die vielen Geleise kreuzten die lebhafte Prager Straße. Die Züge hatten, wie man heute sagt, immer „Vorfahrt". Daher waren die Schränken meist unten, und alles mußte warten, bis die langsam ein- und ausfahrenden Züge vorbei waren. Eingehend studierte ich die scliaurig schönen und sonderbaren Lokomotiven — es waren Typen, die es in Chemnitz gar nicht gab. Ich mußte sie immer mit Insekten vergleidhen, mit Heuschrecke oder Gottesanbeterin. In Chemnitz war es auch jedesmal ein Fest für micli gewesen, wenn von der Richard Hartmannschen Lokomotiven-Fabrik die fertigen Maschinen herausgefahren wurden. D a die Eisenbahngeleise weit entfernt lagen, mußte man diese Ungetüme auf sehr starke Rollwagen stellen und mit adit oder zehn Pferden durch die Straßen zum Bahnhof fahren. Ich entsann mich an einen solchen Festzug von zwei „Jubiläums"-Maschinen. Sie hatten vergoldete Dampfdome und Schornsteine und grünroten Lacküberzug. Sie waren für Sizilien bestimmt, wo sie wohl heute noch Dienst tun. Der Großvater in Dresden konnte uns nun alle Lokomotiven erklären, er kannte sie wie seine Kinder. Ein paar Jahre später, als ich dann in St. Augustin meine Zeit verträumte, wurde der Vater von Chemnitz nach Dresden berufen und mit dem Umbau des viel zu klein gewordenen Dresdner Hauptbahnhofes betraut. Es war ein recht beträchtliches eisenbahntechnisches Werk, das er dort vollendete. Der Bahnhof sollte Kopf- und Durchgangsbahnhof zugleich werden und Hoch- und Tiefgeleise erhalten, sowie die verkehrsreiche Prager Straße nicht behindern. Er existiert heute noch in der Planung und Ausführung, die ihm mein Vater gegeben hat. 22
Wie der Vater war audi der Großvater Einsenbahn-Ingenieur und konnte mit Behagen von der Erbauung der ersten Bahn längs der Elbe im Sandsteingebirge erzählen, an der er beteiligt gewesen war, und vom Einmarsdi der bösen Preußen im Jahre 1866, die ihn verhaften wollten, weil er den Diensttelegraphen versteckt hatte und das Verstedk nidit verraten wollte. Diese gefährlichen Zeiten waren vorbei, und wir lebten im sicheren Deutsdien Reidi mit seinen immer nodi verschiedenen bundesstaatlichen „Belangen". Das liebe Gesidit der Großmutter, der Mutter des Vaters, durchzogen unzählige Falten und Fältdien, und ihr weißes Haar war spärlidi. Man war dahier in bester Pflege. Jeden Samstag erschienen der Buttermann Stenzel mit der hölzernen Kiepe und die Eierfrau vom Lande und bekamen ihren ortsüblichen dünnen Kaffee. Die Großmutter selbst war quasi vom Lande, ihre Heimat war Bischofswerda i. Sa. Sie trug in ihrem Herzen zwei große Liebschaften: Ihren zweiten Sohn, der weit fort in Wien lebte, und ihren ältesten Enkel, midb. Und sie tat, was sie konnte, um diesen Gefühlen Ausdruck zu geben, durch kleine Wohltaten, die so hohe Geltung haben. Der zweite Erholungsort war die Heimat der Großmutter und des Vaters: Bischofswerda, am Rande der Lausitz, wo die Leute das R so komisch rollen. Dort gab es einen leidlidi vermögenden Onkel, der sehr solide mit Tucli und Bukskin handelte und in seiner Jugend nodi auf dem Segelschiff nach Nordamerika gefahren war. Sein Haus am Markt war auf modernste Art gesichert, indem alle Fenster und Türen an ein elektrisches Läutwerk angeschlossen waren. Auf der Schalttafel über seinem Bett leuchtete jeweils das Fenster auf, durdi das der Einbrecher hereinwollte. Manchmal brach auch nur der Wind ein, und in Sturmnächten bimmelte es dauernd. 23
Für gewöhnlich gab es in Bischofswerda weder Einbrecher noch Sturm, vielmehr Ruhe, Ruhe, Ruhe als erste Bürgerpflicht. Der viereckige langweilige Marktplatz war von einstöckigen Häusern umstanden, die alle nach dem großen Stadtbrande in der Napoleonischen Zeit nach einem und demselben Schema wieder aufgebaut und gelb oder grün oder rosa, mit weißen Fensterumrahmungen, angestrichen worden waren. Bloß das Rathaus mockierte sich als würfelförmiger zweistöckiger Kasten über die Einförmigkeit und reckte auf seiner Dachpyramide ein Uhrtürmchen in die Höhe, wie eine wachsame Henne über ihre bunten Küken. In der Mitte des kopfsteingepflasterten Marktplatzes rauschte unter vier halbwüchsigen Linden der „Born" und förderte zugleich den Graswudis des Pflasters. Weiter draußen am Stadtrand hatte der Onkel ein Haus mit erholsamem Garten erworben, mit Aussidit auf weite Wiesenflächen und das Lausitzer Gebirge mit seinen wendischen Beinamen der Berge: Tschornebog und Bielebog, der schwarze Gott und der weiße Gott. Die interessierten mich weniger als der Mühlgraben, der durch den Garten floß und Gelegenheit zu Dummheiten bot, obwohl er eigentlich doch die ernste Aufgabe hatte, die Mühle und die Maschinen einer Tuchfabrik zu treiben. Auch die kleinste sächsische Stadt konnte doch nicht ohne Fabrik sein! Zu den Dummheiten auf dem Mühlengraben gehörte erstens eine alte ausgehängte Tür und zweitens der Vetter Amtsgerichtsrat, als Schwiegersohn des Onkels vollberechtigter einstiger Miterbe von Garten und Mühlgrabenstück. Die Tür wurde als Floß vom Stapel gelassen, schwamm auch, trug aber nicht ihn, sondern angeblich nur mich damals nodi leidbtgewichtigen, aber des Flößens Unkundigen. Es gab nachher allerhand Kleidungsstücke an der Sonne zu trocknen. 24
Hier war es auch, wo ich mich das erstemal verliebte. Ich war wohl nicht älter als sieben oder acht, das Mägdlein vier oder fünf Jahre alt, und mein Benehmen fiel den Erwachsenen sogar auf. Ich glaube, ich schämte mich nicht einmal, denn das Kind war so schön wie ein Engelchen. Zur Zeit meines Selbstgespräches mochte es zu einer Jungfrau von 20 Jahren herangereift sein und jetzt, wenn sie noch lebt, zu einer würdigen Großmama von 78. Gesehen habe ich den Engel in meinem ganzen Leben nicht wieder. Viel später als Erwachsene feierten wir in besagtem Hause und im Garten des Onkels 80. Geburtstag. Die treue alte Hausbesorgerin Auguste hatte einen Berg von Rebhühnern gebraten und reichte sie herum, ohne den Jubilar zu bedenken. Auf unseren Protest pustete sie hervor: „ N ä , Herr Beyer jricht ä Junges!" Unser guter Onkel besaß eine ausgezeichnete Sammlung von Literatur über Pilze und kannte sich vorzüglich in dieser Materie aus. Auf unseren gemeinsamen Suchgängen lernte ich frühzeitig genießbare und ungenießbare Schwämme kennen, und das haftete unauslöschlich im Gedächtnis. Wenn wir doch alles lernen könnten, ehe wir 10 Jahre alt sind! — Hier möchte mein erinnerndes Selbstgespräch noch einmal zur Person meines Vaters hinüberschweifen, der ja, vom lieblichen Bischofswerda ausgehend, seinen Weg als Ingenieur über das Dresdner Polytechnikum genommen hatte, welcher ihn zuerst an einem Leipziger Bahnneubau einmünden ließ, nachdem er vorher unsere Mutter geheiratet hatte. Seine amtlidie Tätigkeit verhinderte ihn nidit, sich sehr rege am Leipziger Kulturleben zu beteiligen, wenn auch nur in einer mehr kritischen Form, zu der die Taten des Magistrats, der Theater- und Musikleute wohl manchen Anlaß gaben. Er gehörte 25
zu den „Zwanglosen" aus allen gebildeten Kreisen, die diese Kritik in humoristisdier Form besorgten. Seine musikalische Gabe hatte dem jungen Ingenieur in Leipzig rasdi einen Freundeskreis erworben, der seinen genialisdien ernsten und heiteren Improvisationen auf dem Klavier gern folgte. Es sdieint jedoch, daß diese Gabe audi ein Gesdienk an seine Kinder geworden ist. Es kann nicht gleichgültig sein, ob dem kindlichen Gehör und der frühen, noch über der irdischen Ebene sdiwebenden Kinderseele harmonische Klänge, Rhythmen und Melodien geboten werden oder nicht. Sie plastizieren gleichsam an der Seele, geben ihr geordnete Form und Proportion, und es ist gar nidit notwendig, von ihr eine musikalische Vererbung in der Art der berühmten Vererbung der Badi-Familie zu verlangen. Sie vermag sich gewiß auch günstig in Seelenhaltung und Fähigkeiten zu verwirklichen, wie z. B. in harmonisch-taktvollem Verhalten und in künstlerischen Anlagen und Strebungen, wie im Zeichnerischen undMalerischen oder im Kunstgewerblichen bei Schwestern und Bruder. Wir wollen daher den Impressionen der väterlichen Kunst in unseren Seelenanlagen dankbar sein und nicht vergessen, daß wir es ohne sie im Leben sehr viel schwerer gehabt haben würden. Ein jeder von uns wird dies auf individuelle Art empfunden haben. Mir persönlich ist es in verschiedenen kritischen Situationen oft in beinahe unheimlicher Stärke bewußt geworden, wie ungeschickt ich mancher Situation ohne jene Erbschaft gegenübergestanden haben würde. So wurden wir drei ältesten Kinder in Leipzig eigentlich in einer heiteren Atmosphäre geboren. Warum sind wir so ernsthaft geworden? Von meinen drei ersten Lebensjahren daselbst weiß ich, wie jeder normale Europäer, nichts Authentisches zu erzählen. Alle Taten und Untaten dieser Zeit sind 26
im Gedäditnis der Mutter aufbewahrt und spiegeln sidi in deren Erinnerungen. Hier pflegt also erinnernde Rücksdiau über das eigene Leben ihr Ende zu finden, es sei denn, man hätte noch ein Wissen von der Konstellation der Gestirne im Momente der eigenen Geburt und über die Gründe, weshalb man sidb gerade diese Eltern und keine anderen im vorgeburtlidien Dasein ausgewählt habe. Aber wüßten wir um unseren Lebensplan, dann wären solche Seelenprüfungen, wie sie in dieser letzten Weihnachtsnadit des 19. Jahrhunderts in Babylon in der Rüdcsdiau auf die vergangenen 24 Jahre meines Lebens an midi herangetreten waren, von geringer Bedeutung. So aber stieg für mich aus dieser verdämmernden Nacht eine neue Morgenröte auf, ein Willensentschluß, entscheidend für das ganze Leben: Das Ausgraben wollte mein Beruf werden!
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DIE Z E I T STAND N O C H STILL
Heute fliegt man von Düsseldorf, München oder Wien in einer Nadit nach Bagdad oder fährt mit der Eisenbahn in 6 Tagen und Nächten dorthin. Aber damals im Dezember 1898 stand die Zeit noch still, man war auf dieselben Verkehrsmittel angewiesen wie zur Zeit Alexanders des Großen, zur Zeit Harun-al-Raschids oder Marco Polos. Erst als nach 1914 die kriegerischen Ereignisse in jene Länder getragen wurden, begannen Kolonnen von schweren Lastautos durch die Wüsten zu fahren und schnelle Personenwagen, in denen hohe Offiziere saßen. Als wir im Februar 1899 durch die Wüste zogen, war man noch nicht so schnellebig wie heute, wo man nach einem Aufenthalt von einigen Wochen und Monaten in einem fremden Land vermeint, ein Buch über dasselbe Land schreiben zu können. Und meine gänzlich unvorbereitete Seele wäre gewiß nicht imstande gewesen, all die neuen Eindrücke wirklich zu erfassen, wenn das gütige Schicksal mich nicht gezwungen hätte, zu Fuß den Umfang der Ruinen abzuschreiten oder auf dem Rücken des Pferdes in 10 bis 12stündigen Tagereisen durch die Wüste zu ziehen, wenn mir nidit Skizzenbuch und Stift und Farben an Stelle eines Photoapparates in die H a n d gegeben worden wären. Und endlich war es mir auch beschieden, die meisten Orte mehrmals aufsuchen zu dürfen, um die Bilder zu vollenden, die sonst unvollkommen und unfertig geblieben wären für meine Seele. In der alten Truhe, in welcher jetzt der größte Teil meiner Bilder aufbewahrt ist, findet sich auch ein Blatt, das aus irgendeinem Grunde nicht vollendet wurde. Es ist nur in der ersten, allerzartesten Anlage der Farben ausge28
führt worden, kaum, daß man erkennen kann, wo es hinaus wollte. So wie dieses Blatt erscheinen mir alle Erlebnisse und Ereignisse jener Zeit, da ich zum erstenmal den Fuß auf Asiens Boden gesetzt hatte. Meine Seele war ein Skizzenbuch, auf dessen weißen Blättern die ersten vorbereitenden Grundierungen leise angelegt wurden — und es wurde mir Zeit gegeben, sie zu kräftigen Bildern auszugestalten. Nach der Seereise, der Landung in Alexandrien und dem Aufenthalt in Damaskus über die Weihnadhtszeit 1898 wird endlich am 30. 12. 1898 das erste Reiseziel, Baalbek, erreidit (Abb. 8).^ Hier sollte Robert Koldewey im Auftrage des Kaisers eine Voruntersuchung der Ruinen für die spätere Ausgrabung derselben unternehmen. So begann denn meine Ausgrabungstätigkeit schon auf der Ausreise nach Babylon, dauerte aber zunächst nur 3 Wochen. Darüber schrieb ich damals nach Hause: „Heute haben wir mit 10 Arbeitern in den Ruinen von Baalbek zu puddeln angefangen. Von der gewaltigen Anlage bekommt Ihr einen Begriff durch einige Maße, die wir uns genommen haben. Man tritt zunächst vor gewaltige Mauermassen. Die Blöcke dieser Substruktion sind durchschnittlich 3 m lang, 1,50 m breit und 2 m dick. Bis zur Fußbodenhöhe des großen Hofes werden ungefähr 9—10 m sein vom vorhandenen Fußboden der jetzigen Ortsdiaft. So hoch ist also in der Antike aufgefüllt worden. Die Umfassungsmauern des großen Hofes, der ein annäherndes Quadrat von 170 m Seitenlänge ist, sind bis 10 m stark und deshalb mit halbkreisförmigen und rechteckigen Nischen erleichtert: Ihre Substruktionen sind mächtige Quadermauern, auf denen
^ In meinem Buch über das Leben R. Koldeweys
„Babylon,
die versunkene Weltstadt" sind diese Ereignisse ausführlidi geschildert. Berlin, de Gruyter 1952.
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großartige Hausteingewölbe sitzen. Der Eingang führt durch einen langen Tunnel durch das ganze Ausmaß des Hofes hindurch. Der große Tempel hat 19 Säulen in der Länge und 10 in der Breite. Jetzt stehen nur noch 6 Stüde von 19 m Höhe, darüber ein mächtiges Hauptgesims, auf mächtigen Fundamentmauern. Vom kleinen Tempel stehen noch die Zella und etwa 20 Säulen von 1,80 m Durchmesser und 5,20 m Umfang. Die Architektur mutet uns barock an, innen mächtige Nischen, immer zwei übereinander mit Ornamentik, immer aus den mächtigsten Blöcken konstruiert. Eine Säule ist beim Erdbeben gekippt und lehnt an der Zellawand. Das Ganze ist von Saladins Nachfolger im 13. Jh. zur starken, uneinnehmbaren Festung ausgebaut, mit allen fortifikatorischen Versdimitztheiten. Es sind an sich wieder architektonische Meisterstücke der islamischen Baukunst, herrlidie Kreuzgewölbe und Stalaktitennischen, Falltüren, Schießscharten und Brücken. Leider haben diese späteren Arbeiten den Abbruch mancher schönen Antiken-Teile erfordert; der Grundgedanke ist jedoch leicht zu erkennen. Für den Maler ist die Ruine eine wahre Fundgrube. Ihr glaubt nicht, wie golden die mächtigen Kalksteinsäulen gegen den blauen Himmel glänzen, dahinter die blendenden Höhen des Libanon und Antilibanon, die hier ihre hödisten Gipfel haben. Jetzt schmilzt im Tale der Schnee, und die fruchtbare Beka-Ebene färbt sich wieder rot, intensiv rotbraun und stellenweise grün. Abends wird's besonders herrlich, eine ungewohnte Farbenpracht entzückt das Auge, der Antilibanon erglüht in rosarotem Schein der untergehenden Sonne, das Tal hüllt sich in blauen und violetten Dämmer, und der Himmel verändert sich von Minute zu Minute; dann steigt der blankgeputzte Mond hinter dem Schneegebirge herauf und 30
beleuditet die näditlidie Landschaft so hell, daß man lesen und schreiben kann in seinem Schein. Wir sehen von unserem Zimmer aus die ganze Flanke der gespenstischen Ruine mit dem weißen Sannin (3200 m hoch) dahinter. Die Luft ist hier herrlich, denn wir sind 1200 m über Meereshöhe. Für spätere Ausgrabungen werden die Bedingungen ideal sein. Die Leute sind kräftig und arbeitsam, außerdem wird man mit großer Achtung behandelt. Wahrscheinlich wird der Kaiser die Ruinen zum Gesdienk vom Sultan erhalten. Jetzt sind sie an einen unverständigen Mann für 800 Taler verpachtet, der alle anständigen Leute um einen Taler Eintrittsgeld schröpft, aber sonst wimmelt alles Volk drin herum und kann den größten Unfug mit den schönen Skulpturen verüben." — „Silvester 1898 haben wir bei Spatenbräu gefeiert, Neujahr bei unserer kleinen Ausgrabung. Es ist immer noch hübsdi kalt. In den letzten Tagen hat sich der Himmel etwas bewölkt, bis dahin war herrliches Wetter und großartige Fernsicht auf unsere Libanonalpen, tagsüber eine respektable Wärme in der Sonne, im Schatten aber war es hart gefroren und schön beschneit. Unsere Verpflegung ist sdilemmerhaft für 7 Franken pro Tag. Die Wärme spendet ein kleines eisernes öfchen, das mit Maiskolben und Eichenwurzeln gefeuert wird. In den 10 Tagen, die wir bereits hier sind, haben wir uns ganz nett eingerichtet, in der herrlichen Gebirgsluft gedeiht man und arbeitet stramm. Wir haben den ganzen Tag in der Ruine zu messen und zu zeichnen oder unsere paar Arbeiter zu beaufsichtigen. Natürlich steht dann auch nicht bloß unser Major, sondern alles, was Polizei oder Soldat heißt, drum herum, weil sie denken, wir wollen das ganze Gold ausgraben, das sich aber wohl hütet, hier vergraben zu liegen, was uns nur Spaß macht. Die Arbeiter sind kräf31
tig und sdiaffen etwas, dabei wird oft gesungen und fortgesetzt kaltes Wasser getrunken. Die Verständigung ist durch Dr. Moritz, den Arabisten, und Dr. Koldewey ganz leicht. Bin idi mit den Arbeitern allein, so rede idi deutsch mit Gesten und werde audi verstanden." — „Meine Arbeit ist sehr interessant, man dringt vollständig in die Absichten der großartigen Planung ein, und ich skizziere unid aquarelliere aus Leibeskräften, zumal die Landschaft ganz herrlich ist. Von den Zinnen der arabischen Festungsmauer, die in den alten Tempelbezirk eingebaut ist, hat man einen herrlichen Fernblick über die weite rötliche Ebene der Beka und auf den ganzen mächtigen weißbesdineiten Libanon, der da glänzt im Sonnenschein. Und abends, wenn die Sonne hinter die Schneegipfel sinkt, dreht man sich um und sieht das Alpenglühen des Antilibanon, an dessen Fuß die Ruinen liegen." — „Wir müssen am 17.1. schon wieder hier abrücken; bis dahin haben wir noch viel zu tun. Unser Grundriß wird ganz fein gemacht nach selbsterfundener Methode. Heute hat uns freilidi das Wetter abscheulich hineingelegt, es hat den ganzen Tag tauenden Schnee geregnet, so daß draußen auf den Straßen unendlicher Schlamm und Schneeschlick liegt. Unsere Grabungslöcher sind verwässert und verschneit und das Fortkommen ist erschwert, außerdem hat sich die Sonne verkrochen, und dazu ist unser Hoteldach undicht geworden, und im Obergeschoß, wo unsere Schlafsalons liegen, tropft das Wasser in Strömen durch. Mein Zimmer ist bis jetzt glücklich verschont, aber bei Dr. Koldewey kam heute früh von der himmelblauen Leinwanddecke des Zimmers ein Wasserfall auf den Tisch herab, den er gleich mit dem Waschbecken auffangen mußte. ,Wer nie im Bett den Regenschirm aufspannte, der kennt dich nidit, du göttliche 32
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jfe.
Abb. 9. Alexandrette, iS
Levante!!' Heute standenauf allen Dächern die Leute, schippten Sdinee und walzten die Dädier mit primitiven Steinwalzen, was im Hause wie Donner klingt." — „Unsere Arbeit hier wird von Tag zu Tag interessanter, die Kunst ist unheimlidi meisterhaft, die Architektur ganz erstaunlich und das Technische das Wunderbarste und doch so klar. Von Dr. K., der jetzt seine 15. Ausgrabung macht und ein Werk über griechische Tempel, die er selbst aufgenommen hat, publiziert, habe idi schon viel gelernt. Jedes Dübelloch, jede N u t h an einem antiken Block läßt sich erklären, und dadurch wird die ganze Arbeit in diesen Riesendimensionen so verständlich. Der Transport der größten Blöcke von 21 m Länge und 5 m im Quadrat Stärke muß besonders interessant gewesen sein. Die ganze Anlage wird hofFentlich freigelegt werden und ein ganz instruktives Bild geben für antike großartigste Tempelanlagen, aber ebenso für arabische Festungsbaukunst, die einzig in ihrer Art der Umgestaltung des Tempels zur Festung ist." — „Die letzten zwei Tage mußte ich zu meinem großen Leidwesen das Zimmer hüten, um die Aufnahmen zur Vollendung aufzutragen. Der Grundriß der Kal'a (d. i. auf arabisch: die Burg), also unsere Tempelruine und die arabischen Befestigungen, sieht aus wie ein Gemälde, eine Vogelperspektive, alles in schönen Farben mit allen Schatten, dazwischen schlängelt sich mit silbernem Bande das Bächlein von Ras el Ain, die Bewässerung und Segensquelle vonBaalbek, und die Burg hebt sich plastisch heraus aus der Landschaft. Je näher so etwas zur Vollendung kommt, desto mehr Spaß macht es, und ich habe darüber gesessen wie ein Dachs. Die Hauptsache dabei ist, daß einem die als ganz unklar verschrieene Anlage nun ohne allen Zweifel in die Seele geschrieben ist." — 33 3
Andrae
Inzwischen schrieb Koldewey eifrig an Bericht und Kostenanschlag für eine künftige große Ausgrabung von Baalbek, während ich die Aufnahmezeichnungen nach bestem Wissen und Können ausführte. Wie unzureichend meine Vorbildung dafür trotz des „Staatsexamens" war, das erhielt idb von Koldewey nach 27 Jahren sogar gedruckt bescheinigt. Dieses tat er in einem Briefe an seinen Freund Otto Puchstein, der von Carl Schuchhardt nach Koldeweys Tod 1925 veröffentlicht wurde^. „Wären wir doch beisammen wie dort in den Tempeln von Sizilien. Ich habe hier einen harmlosen Jüngling bei mir, der kann nicht einmal ein Stemmloch von einem Wolfloch unterscheiden — aber er malt und zeichnet entzückend." Am 16. Januar wurde die Voruntersuchung der Ruine von Baalbek abgeschlossen. Bei Schnee und Regen ging die Abreise über den Libanon nach Beirut, wo wir mit dem Hamburger Kaufmann H. F. Ludwig Meyer und dem Assyriologen Dr. Meissner, den beiden anderen Teilnehmern der Babylon-Expedition, zusammentrafen. Eine Seefahrt von Beirut nach Alexandrien und eine dreitätige beschwerliche Wagenfahrt über den Bailanpaß waren nötig, um Aleppo zu erreichen (Abb. 9). Für mich hat die Stadt Aleppo von damals in der Erinnerung etwas Sonniges, das nichts zu tun hat mit ihrer politischen, wirtschaftlichen und künstlerischen Wertung. Es liegt nur im Gemüt. Ich fühlte mich wohl in Aleppo, obwohl der Januar 1899, in dem wir dort unsere Karawane zusammenstellen mußten, nicht gerade behaglich war. Koldewey und ich wohnten in einem Nebengebäude des Hotels Baron, das ^ „Ernste und heitere Briefe aus einem Berlin, Grote 1925. 34
Ardiäoiogenleben."
noch baufeucht war. Das hätte uns beiden beinahe das Leben gekostet. Man hatte uns ein großes Kohlenbecken (Mankal) mit glühenden Holzkohlen in das winzige Zimmer gestellt, von dem aus eine Stufe in das steingepflasterte Höfchen hinaus ging. Die Kohlen waren unvollständig durchgeglüht und entwickelten Kohlenoxyd, das uns beide im Schlafe nahezu bewußtlos machte. Mir war das eine neue, recht wenig angenehme Erfahrung; Koldewey, der sie kannte, rief mit erlöschender Stimme mir zu: „Raus ins Freie, tief Atem holen!" und sank im Höfdhen zusammen. Bei der Zusammenstellung der Karawane konnte idi Unerfahrener nicht viel helfen. Hilfe kam uns von ganz anderer Seite, und ohne sie wären aus den 14 Tagen Aufenthalt sicher 3 Wochen geworden. Martha Kodi, die Gattin des Kaufmanns Carl Koch, besorgte alles Notwendige. Ihr schien ganz Aleppo dienstbar zu sein. Sie wußte, woher man die besten und billigsten Maultiere und Packpferde, die zuverlässigsten Treiber, Diener, Köche, die besten Zelte, Decken, Säcke, Nahrungsmittel, Laternen und Reitpferde bekam. Sie besaß Würde und Autorität, Erfahrung im endlosen Aushandeln der Preise und Energie im Ablehnen der Überforderungen, kurz, im „Bet Madame Koch" (Haus der Frau Koch), das in Aleppo jedes Kind kannte, spielte sich das ganze Karawanendrama ab. Darüber beriditete idi nadi Hause: „Einmal klappt es mit den Pferden nicht, dann mit dem Muker (Treiber); jetzt eben werden die Ladungen verschnürt. Früh kauften wir für mich einen Braunen für 5 türkische Pfund (92,5 M), der ganz gut zu sein scheint, ruhig und flink, auch nidit zu klein. Dr. Koldewey und Herr Meyer haben Haibrassenpferde, Apfelschimmel, hier ,blaue Pferde' genannt, feurige, starke Tiere. 35 s*
Jetzt haben wir audi den Kodi Abdullah, den Diener Habib (der ,brave') und den Muker, der seinerseits wieder vier bis fünf Pferdeknechte mitbringt. Außerdem bekommen wir zwei oder drei Saptiyes (Soldaten) als militärisdien Schutz." „Wir laufen jetzt schon im Pferdekostüm herum, Kürassierstiefel, Regenkragen mit Kapuze, Revolver und Flinte am Leibe. Jeder hat seinen eigenen Sattel mit Tasche und bekommt außerdem einen einheimischen Kurtsdi, d.i. eine doppelte Leinwandtasche, die über den Sattel gelegt wird und zur Aufnahme allerlei nötiger Sachen dient. Jeder hat seinen Bettsade mit zwei Steppdecken, zwei Wolldecken, einem Kopfkissen, einer Kamelhaardecke und dazu die nötigen Überzüge und ein eisernes Bettgestell. Idi habe mir auch einen kleinen Sinnateppich gekauft, der mir, wie ich hoffe, nützlich sein wird, er ist sehr schön und kostet 2 Medschidije = 8 francs. Wir schlafen in dem einen Zelt, das einen wasserdichten Fußboden bekommt, und essen in dem anderen. Brot und Butter gibt's natürlidi nicht, das erste wird durch Schiffszwieback ersetzt, die andere gar nicht. Unterwegs hoffen wir Rebhühner, Enten oder Wildschweine zu schießen. Unsere Aufgabe in Babylon ist in der Hauptsache die Untersuchung des mittleren Ruinenhügels el Kasr, wo die babylonischen Könige ihre Paläste bauten. Nördlich liegt eine Stufenpyramide (Turm zu Babel), südlidi eine große Judenstadt, die beide nicht ausgrabungswürdig sind, weil wenig Chancen für interessante Ergebnisse bestehen. Der Stadtplan soll außerdem ergründet werden." —
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S E C H S U N D Z W A N Z I G TAGE R E I T E N
„Wir sind also am 8. Februar von Aleppo aufgebrochen, da zunädbst die Reitpferde nodi nicht alle gekauft waren und der Muker nicht fertig wurde. Nach dem solennen Abschiedsfrühstück im Hotel setzten wir uns auf unsere Gäule oder Wagen. Es gingen per Wagen mit bis Dschebin (ein Lehmdorf 2 Stunden von Aleppo) der deutsche Konsul Zollinger, Herr Koch und Frau, der englische Konsul Bamham, der englische Vizekonsul Falanga, dann zu Pferde die Herren Wurst und Hofmann und Schelim, kurz, es war eine mächtige Kavalkade meist im Galopp über Acker und Steine. Dort in Dschebin wurde bei mitgebrachtem Spatenbräu der Abschied gefeiert. Jetzt ging nach Zerquetsdiung sämtlicher Tränen der Rührung jeder auf sein Pferdchen, und die Trappelei begann. Unsere Karawane war vorausgegangen, sie bestand aus 30 bis 31 Tieren, die Maultiere alle mit R a d a u fabrizierenden Kuhglocken von ungeheuren Dimensionen, bei denen oft fünf Stück aneinanderhingen — ohrenbetäubend! Wir mußten bis in die Nacht hinein reiten und kamen um 7 Uhr bei stockfinsterer Nacht und Regen in einen schlammstarrenden Chan, wo Wasser zu haben war. In einem Lehmzimmer schlugen wir unsere Feldbetten auf, schliefen auch ganz gut. Nachdem bei Finsternis endlich der Knäuel der Maultiere und Pferde auseinandergefitzt war, ging's am 9. Februar nach Derhafa weiter über ebene Felderflächen. Felder sind seit wenigen Jahren, seit die sogen. Straße ,sicher' ist, aus der sonst vorhandenen Wüste wenigstens in der N ä h e der ,Straße' entstanden. Recht gedeihlich kann aber kein Wohlstand trotz des ganz vorzüglichen Bodens werden. 37
•weil überall, wo etwas Rentables geschaffen wird, die Regierung Hand auflegt und wegnimmt oder hohe, fast unerschwingliche Steuern in Naturalien zieht. Die Dörfer sehen hier aus wie Kolonien von Maulwurfshaufen, lauter Kuppeln aus ungebrannten Ziegeln, oben einen Kranz als Schornstein, jedes Dorf für sich eine kleine Festung. Am nächsten Tage wurde zum erstenmal unser Zelt aufgeschlagen. Koffer, Sattelsack, Flinte und Pistole, Patronengürtel und Feldstuhl, alles fand seinen Platz. In der Mitte wurde sogar der Tisch aufgestellt, und wir speisten daran auf Stühlen sitzend, äußerst gemütlich und angenehm. Tisch und Stühle sind von Bambus und so leidit, daß das ganze Paket mit einer H a n d zu heben ist. Am dritten Tage langten wir am Euphrat an, der dann durch 3 Wochen unser steter Begleiter und Wasserspender war. Er sieht,närrisch' aus, würde man bei uns sagen, es ist überhaupt die ganze Gegend geologisch ganz merkwürdig — eine unverfälschte, ungestörte Darstellung geologischen Werdens und Vergehens. Eine mächtige Tertiärformation, darüber gleichmäßiges Alluvium (Bretsche, Konglomerat), erstreckt sich über das ganze Zweistromgebiet des Euphrat und Tigris. Das Tertiär ist unter dem Konglomerat zunächst Mergel, dann Gips und ganz unten auch Kalkstein. Der Mergel steht bei Meskene bis zu 30—40 m an. Dieses ganze System ist alluvial nach Entstehung eines Stromrisses durchbrochen, beziehentlich zerstört und zermalmt, und an den Rändern sieht man fast mathematische Schnitte durch die ganze ungeheure Schichtung. Das Alluvialgebiet besteht nun zum großen Teil aus dem bekannten fruchtbaren Euphratschlamm, der oft 3—5 m tief ist, das heißt also aus fettem Lehmboden. Durch diesen windet sich jetzt in unzähligen Krümmungen der Euphrat, zahlreiche Inseln und Sdüamm38
schlieren bildend. Die Ufer sind fast immer senkrecht, stets sind sie es an der konkaven Seite, wo eine ständige Zerstörung stattfindet. Wir hörten in der Wüstenstille oft einen sdiußartigen Donner, wenn wieder eine soldie Lehmwand ins Wasser fiel. Die Fruchtbarkeit ist bei der heutigen Wirtschaft nur eine immanente Eigenschaft des Landes, denn bebaut wird es nur an versdiwindend wenigen Stellen, weil für die künstliche Hebung des Wassers bzw. die Kanalisierung nichts getan wird, außer wenn der Profit der Regierung, d. h. den obersten Herren des Landes zufließt. Alles L a n d gehört mit seinen Bewohnern dem Sultan, er kann machen damit, was er will. Es kann sich jeder ein ödes Stück Land nehmen und bebauen, bringt's dann was ein, so muß er entweder den Besitz durdi eine bestimmte Reihe von Jahren oder den Kauf sdiriftlidi nachweisen, was natürlich nie möglich ist, sonst kann es ihm weggenommen werden. Unbeliebte Personen werden mit Vorliebe so schikaniert. Jetzt wachsen da in der Hauptsache wilde Tamariskengebüsdie in großer Menge oder Dornen und manchmal etwas Gras. Felder haben wir bisher sehr vereinzelt gesehen, das frische Grün darauf tat als seltener Genuß immer sehr wohl. In den Näditen hatten wir meistens Eis, einmal sogar 4—5° Kälte! Dafür schien dann am Tage die liebe Sonne sehr freundlich mit 30°, also immer Temperaturschwankungen von mehr als 30°. In der Nacht haben wir uns durch allerlei Erfindungen vor der Kälte geschützt, jeder erfand etwas, das Sack-, das Mumien-, das Kapuzenprinzip, nach dem wir uns in unsere Decke einmummelten und zuschnürten. Tagsüber hatte es vor allem unsere Südseite und N a senspitze gut. Wir wurden ja fast durchweg von rechts beleuchtet. Die rechte H a n d ist daher mehr gebräunt, die Nasenspitze bei allen rot geworden und hat die alte Haut 39
mehrfach ab- und eine neue angelegt. Im übrigens sehen wir sehr gesund und in dianer-braunrot aus! Die Ernährung tut das ihre, sie war auch nach der Praxis Koldeweys so einfach wie möglich. Oberstes Prinzip — kein Alkohol! Infolgedessen hat keiner von uns tagsüber je einen Schluck Flüssigkeit zu sich zu nehmen brauchen. Wir tranken früh jeder zwei bis drei Tassen Kakao, der zugleich nährt, auf den 8—11 stündigen Ritten knabberte man etwas Schokolade, die in großen Mengen da war, oder Bisquits, sowie etwas Wurst und Brot und hielt damit bis abends 8 Uhr aus, bis der Koch den üblichen hochfeinen Reis mit von uns selbst geschossenen Tauben, Rebhühnern, Wachteln, Gänsen, Spatzen oder Lerchen fertig hatte! Auch ,Mischmisch', das sind getrocknete Aprikosen oder getrocknete Pflaumen in aufgekochtem Zustand, haben den Heiß- und Reishunger befördert, sie schmeckten ganz großartig dazu. Der Reis wird trocken gekocht, ohne Fleischbrühe, jedes Korn bleibt beisammen und wird schön weich. Da konnte jeder nach Lust essen und nachher so viel Tee trinken, wie er wollte, meist zwei bis vier Tassen, und wir legten uns in die Falle und schliefen fürstlich bis früh 1/2 6 Uhr, wo alle Gemütlichkeit abgebrochen wurde und zunächst das große Frieren mit Kakao kam, es war immer eklig kalt. Wir kamen an Kal'at Balis (Barbalissus) und Dibs (Thapsakus), alten römischen Stadtruinen, vorbei, die ich teilweise näher besichtigte, bis Abu Chrere (Name eines Landstrichs am Euphrat), wo eine KiscJila, d. i. eine Kaserne für Saptiyes und Polizisten, liegt, Lehmgebäude mit dräuenden Zinnen, großen Löchern und vielen eingefallenen Mauern, mit einer jeweiligen Besatzung bis zu vier Mann. Sie gehen von Station zu Station zum Schutze der Reisenden mit und bekommen bei uns pro Tag und Kopf 1 Medschidi (4 francs), so daß sie allein gegen 300 francs gekostet haben! — Man 40
kann hier ohne Gefahr schießen, so viel man will. Menschen gibt's fast gar keine. Es handelt sich jeden Tag darum, einen genügend langen Tagesmarsch zu vereinen mit der Erreichung einer Stelle am Euphrat, wo man ans Wasser kann. Der Weg ist auch so eingeteilt. Es ist eine Karawanenstraße von 20 cm bis 50 m Breite! Sie wäre auch fahrbar, wenn an drei oder vier Stellen mit 20 Leuten mal je 1 Tag ein wenig gehackt würde. Aber die Regierung tut absolut nichts. Nur vor Der-ez-Zor hat ein Offizier ein Stück Straße von 2 Stunden Länge gebaut mit einigen Brücken, sie wird aber meist nidit benutzt und gar nicht befahren. Das hat keinen Zweck, da eine ganze Straße doch nie gebaut wird. Wenn das Terrain schwierig wird, hört die Straße auf. Am 15. Februar ging die Karawane mit Dr. Koldewey über die Berge nach Dibne. Wir anderen blieben mit einem Soldaten am Flusse, der hier einen eigenen Durchbruch durch die 100 m hohe Hochebene mit sehr steilen Halden macht, um die byzantinisch-römische Stadtruine Halebije zu besichtigen, die sich vom Berge, wo die Burg liegt, herab zum Fluß erstreckt und ganz aus Alabaster gebaut ist; Stadtmauern, Türme, Pallas fast ganz erhalten in dem weiß-grünlichen durdischeinenden Alabaster, durch den man die Hand sieht, in feinsten Quadern aufgebaut — denkt Euch die Wirkung! Bei Dunkelheit erreichten wir die Karawane nach beinahe 12stündigem Ritt mittels Signalschüssen (Abb. 10). Endlich wurde Der-ez-Zor erreicht, eine kleine Stadt mitten in der Wüste, Kreuzpunkt mit dem Wege PalmyraDamaskus durch die syrische Wüste; hier wurde am 17. Februar gerastet. Die Ruhe tat gut. Abends wurde mein Geburtstag mit einem Schuß Rum in den Tee gefeiert. Die Hälfle unseres Weges ist zurückgelegt! 41
Am nächsten Tag ritt ich mit Dr. Koldewey und zwei Soldaten zunächst zu der arabisdien Burgruine Radbaba, die von einem 40 m tiefen Graben umzogen auf vollständig unersteigbarem Fels lag mit hohen Ziegel- und Steinmauern, einst die Burg einer großen Stadt, die sich von da bis Mejadin erstreckte mit Gärten und Feldern — jetzt ist alles öde. Nach lOstündigem Marsch gelangten wir nach Kischla-Salahije. Der 20. Februar wurde benutzt zur Aufnahme der noch ganz unbekannten Stadtruine K a n Kalessi (Blutschloß), die eine halbe Stunde rückwärts am Euphrat liegt. Sie ist ebenfalls in Alabaster gemauert, aber fast ganz abgetragen. Interessant ist, daß man den Grundriß der Häuser und Straßen auf dem glatten Erdboden genau erkennt. Ein gräßlicher Wind erhob sich nachts und dauerte mehrere Tage mit großer Kälte an, so daß wir beinahe erstarrten auf unseren Gäulen, obgleich die Sonne den ganzen Tag scheinen konnte. Nachts klopfte der scheußliche Wind einem das Zelt auf den Buckel, wenn man im Bett lag. — In Ana sah ich die ersten Dattelpalmen, und was für welche! Der Fluß bildet hier eine gewundene, enge Oase mitten in den gelben kahlen Kalkfelsen und Hügeln, die sich rechts und links 20—40 Tage weit erstrecken. Ana selbst ist 3 Stunden lang, immer in Palmen. Wir lagern am Serail, mitten unter den mächtigen Wedeln der Dattelpalmen am rauschenden Euphrat, in dem gegenüber fruchtbare Inseln liegen. Die Nauren (Wasserschöpfräder primitivster Konstruktion) quietschten sanft, der Mond ging glanzvoll auf, tiefe, heimliche Stille breitete sich über das herrliche Tal. Ich schrieb im Mondschein meine Erlebnisse auf, so hell ist die Mondnacht hier. Der Kaimakam besuchte uns (wir waren natürlich zuerst bei ihm gewesen) und entführte uns zwei Pul42
len Sdinaps, ein sehr gesuditer Artikel bei den Türken, und ein Kartenspiel — mit liebenswürdiger Unverfrorenheit. Wir bekamen eine Pulle feinen Bagdader Dattelschnaps dafür. Audi in den folgenden Tagen belohnten uns herrliche Mondnächte am Euphrat für die Anstrengungen der Tagesritte, bis am 28. Februar Hit erreidit wurde (das alte Is des Herodot). Sechs Stunden vorher sahen wir den Raudi der Asphaltquelle von Hit, die schon den Alten bekannt war. Es ist jetzt eine vertrocknete Quelle, die eine bituminöse Kalksdiicht erzeugt hat, welche auf unrationellste Art in kleinstem Kleinbetrieb von den Eingeborenen ausgebeutet wird. Salziges Wasser und Schwefelwasserstoffgestank machen die Gegend Sodom und Gomorrha ähnlich, vor allem, wenn noch das Glührot der Abendsonne darüber leuchtet. H i t liegt auf einem alten Teil (Ruinenhügel) und ist ein gutes Beispiel für das Entstehen solcher Teils. Am Fluß gibt es hier auch schöne und viele Palmen. Zwei Tagereisen weiter trafen wir eine große Pilgerkarawane von persischen Moslems, die den kleinen Umweg über Bagdad, Aleppo, Alexandrette, Dampfer über Port Said nach Mekka machen. Das bunte Gewimmel aller möglichen Völkertypen beschreibe idh vielleicht später einmal. Wir haben lange zugeguckt. Unsere Zelte standen im Serailhof sicher und geborgen neben einem Gebetsplatz, der aus einer sehr abgetretenen Binsenmatte auf der Erde bestand. Der Kaimakam-Besuch und Gegenbesuch war auch hier nötig. Am nächsten Tage unterwegs begegneten wir noch einer Menge Nachzüglern von Pilgern; interessant, sie auch auf dem Marsdi zu sehen. Beliebt ist die Beförderung durch Tachterane, kleine Menschenvogelbauer, die paarweise einem Maultier aufgehängt werden, so daß das Tier zwei Menschen tragen muß. Es kamen nämlich ganze Familien mit. Besser 43
ist natürlich die andere Art Taditerane, wo zwei Maultiere vorn und hinten mit langen Stangen eine Sänfte tragen. Wir kamen mit Sonnenuntergang nach Mesopotamien. In Kalat Feludscha wurde nämlich auf einer Schiffsbrücke der Euphrat überschritten! Ein erhebender Moment! Von hier aus war der Marsch nach Bagdad mit dieser Karawane nur in zwei Tagen zu machen. Ein ,Omnibus' befördert die Leute schon in 12 Stunden hin. Wir kamen um 11 Uhr nadi Abu Ruseb (Vater der Raben), einer Art Wirtsdiaftshof der Domänenverwaltung, wo wir des außenliegenden Mistes wegen vorzogen, die letzte Nacht in einem relativ reinlidien Zimmer zu verbringen, wo es freilich Flöhe gab, die sich schon lange auf uns gefreut hatten. Nun näherten wir uns dem Ziel: Daß Sonntag war, merkte man gar nicht, die Arbeit ging sehr früh los, um Uhr wurde bei Kälte abgerückt. Dr.Koldewey ritt allein voraus, um unser Kommen anzumelden. Ich machte unterwegs nodi einen Abstecher nach einer großen babylonischen Zikurrat Agarkuf, wo noch ein großer Ziegelklumpen von 80 m unterer Seite (Quadrat) steht. Je sechs Ziegelschichten wurden mit noch gut erhaltenen Binsenmatten abgedeckt, das Ganze durch viele in gemauerten Kanälen liegende Binsenseile verankert und vor dem Zerreißen bewahrt. Es sah dort schauerlich aus, weil in den Löchern Schakale und Hyänen hausen, die ringsum bleichende Tierknochen und Schädel herumliegen lassen. Ich ritt ca. 4 Stunden allein mit dem Saptiye, bis ich kurz vor Bagdad wieder zur Karawane stieß. Bagdad! Was man zuerst sieht, sind die Goldkuppeln von Kathimein (Kathmen mit englischem th), welche 4 Stunden, ehe man hinkommt, im Sonnensdiein am Horizont wie zwei goldene Sterne erstrahlen. Mit echtem Goldblech von der Dicke eines Fingernagels sind die Kuppeln abgedeckt, ein großes Heilig44
tum der Schiiten! Laßt midi über Bagdad ein anderes Mal reden und vielleicht schwärmen. Die Eindrücke haben sich unendlich gehäuft, und der Zauber ist sehr groß. Wir sind am östlidien Ufer des Tigris bei den Deutschen Bagdads verteilt. Wann es weitergeht, ist noch nidit bestimmt." —
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VON NERVOSITÄT K E I N E SPUR
So waren wir 26 Tage mit der Karawane dahingezogen, bis der Goldstern der Moschee von Kathmen vor uns aufleuchtete. Freundliche deutsche Häuser nahmen uns in Bagdad auf, wir säuberten uns vom Wüstenstaub, um Bagdad alsbald für eines der Paradiese auf Erden zu erklären: „Es gruselt mich immer, wenn ich zurückdenke an unsere enge, sächsische verrauchte Stubenluft und unser an den Stuhl gebundenes oder nervös hastendes Treiben. Wie ganz anders geht es hier. Von Industrie keine Spur — also kein Raudi, zu heizen braucht man nicht, zum Kochen nimmt man teures H o l z oder getrockneten Kamelmist, der gibt der Luft ein angenehm stechendes Parfüm, und wenn mal die Luft schlecht ist, dann ist sie infolge des Südwindes vollständig mit Staub angefüllt, so daß kaum die liebe Sonne durchdringen kann, wie gestern und vorgestern, wo wir schwüles Monsunwetter hatten, 31° im Schatten. Die Europäer, die wenigen, die hier leben, kehren sich nicht an alle möglichen Regeln, die einen in der Heimat wie ein Stachelzaun umgeben, jeder ist für sidi ein kleiner König, von Nervosität ist gar keine Spur, wenngleich unsere beiden deutschen Kaufleute ganz unglaublidi viel zu tun haben. Das Klima gibt, glaube idi, eine gesunde Ruhe und verbietet alles Hasten, vor allem im Sommer. Trotz der enormen Hitze, die sich bei uns zu Hause nur mit einem Bratofen vergleichen ließe, trotz allem Transpirieren durch Tag und Nacht, fühlen sich alle Leute wohl, wie mir sämtliche Europäer versichern. Die Hitze ist bei weitem größer als in Indien, aber viel erträglicher, weil sie vollständig trocken ist und der Körper infolgedessen unge46
hindert ausdünsten kann, während Indiens hoher Luftfeuchtigkeitsgehalt ungeheuer schädlich wirkt. Übrigens bemühen wir uns nach Kräften, den Körper an alles zu gewöhnen, und lernen von den Eingeborenen, uns gegen die Sonnenstrahlen zu schützen. Die Sonne ist hier nicht der Segenspender, sondern der Glühofen im Sommer. Wenn sie früh über den Horizont steigt, fängt sie an zu brennen, und man fühlt sich wie bombardiert mit ihren Strahlen, bis sie endlich abends so gut ist, zu versinken als feuriger Ball ohne große Dämmerung. Das alles blüht uns noch, vorläufig bekommen wir nur einen Vorgeschmack. Bagdader Winter und Frühling ist das reine Paradies, Tag und Nacht eine milde, kristallklare Luft, die sich wie flüssiges Metall atmet, die Palmen mit frisdhien Trieben rauschen heimlich im Winde, die Orangenbäume darunter treiben gelbgrüne Blätter und bilden ein undurchsichtiges Dach, und doch steht noch in ihrem Schatten die fette und fruchtbare Saat der Gerste, die man zweimal mäht und dann zum dritten Schnitt erst reifen läßt; also auf derselben Erde gleichzeitig drei Kulturen in drei Stockwerken oder fünf Ernten. Es ist ein wahrer Jammer, wenn man die Wüste sieht mit demselben Boden, wo millionenmal so viel angebaut werden könnte, wenn eine einsichtige Regierung sich entschlösse, die uralten Kanalsysteme, die früher ganz Mesopotamien zur Kornkammer der ganzen Welt machten, wieder herzurichten. Jetzt baut dieses reiche Land kaum genug Getreide, um seine wenigen Einwohner zu ernähren, an Export ist gar nidit zu denken, weil die Verbindungen an Wasserstraßen fehlen und der Karawanenverkehr viel zu teuer ist. N u r an Flüssen erhält sich die Kultur, aber jedes kümmerliche Feld, jeder Palmgarten muß sein Wasser mit den primitivsten Mitteln aus dem Flusse heben und wird Wüste, wenn diese Pflege auch 47
nur eine Woche aussetzt. Die sogenannten Dsdiirds sind eine Wasserhebevorriditung mit Schläuchen. Ein Schlauch mit Wasser muß immer von einem Pferd emporgezogen werden, das wieder einen Mann zur Lenkung braucht, Maschinen gibt's natürlich nicht, da viel zu teuer für die armen Leute und unpraktisch, weil Ersatzteile 6—8 Monate von Europa bis hierher brauchen. N u r die Krongüter des Sultans sind in tadellosem Zustande. Hier im Süden ist fast alles in kaiserlichem Besitz, und das Vermögen bringt den hohen Herren ungeheure Renten. Gewöhnlidi wird dann unbebautes oder stark verschuldetes Land noch dazu genommen, der sogenannte Ankauf ist meist ein Nehmen für einen Pappenstiel. Das Rentable dabei ist, daß diese Güter vollständig abgabenfrei sind, während Privatbesitz natürlich von den Steuerpächtern bis aufs Blut geschröpft wird oder sich von den Wüstenarabern ausplündern lassen muß, die bei dem vorletzten schlechten Winter ihre Herden größtenteils durch den Frost verloren haben. Im Norden bei Mossul ist bereits seit 3 Jahren große Hungersnot und Elend, der vorletzte Winter hat auch da alles verdorben. N u r bei Kerbela im Süden hat die Regierung den HindijeKanal wieder ausbessern lassen, nachdem an diesen jährlich von 100 000 Wallfahrern besuchten Ort kein Wasser mehr hinkam. Regen gibt's selten, hier in Bagdad hat es den ganzen Winter nicht geregnet, nur vor ein paar Tagen einmal eine Viertelstunde. Für den Verkehr in der Stadt ist's allerdings trostlos, wenn es regnet. Regen gilt als Absagegrund für Gerichtsverhandlungen, denn die Fortbewegung in dem knietiefen Sdilamm der Straßen ist rein unmöglidi. Mein Wirt Berk und sein Schwager Püttmann haben jetzt schon das bedeutendste Bagdader Import- und Exportgeschäft, und ich erfahre viel interessante Einzelheiten über 48
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Abb. I I . W. Andrae in seinem Zimmer im „Weißen Schloß" in Babylon, 1899
den Handelsverkehr im Orient und seine Schwierigkeiten sowie über das Aufblühen des deutsdben Handels, der französische Waren ganz und englisdbie zu einem großen Teil verdrängt hat. N u r gegen den englischen Welthandel mit billigen Baumwollstoffen aus Manchester kommen wir nidit auf. Geld existiert im Lande fast gar nicht. Der Türke regiert bloß, d. h. er erregiert sich die Gelder, der Araber tut deshalb am liebsten gar nichts, raucht Nargile und liebt Pferde. Am leistungsfähigsten sind noch die Perser, alles schöne, brauchbare Leute, und was noch produziert wird, kommt von Persien oder von den massenhaft in der Stadt lebenden Persern. Persisches Geld ist hier fast gangbarer als türkisches, Kerbela, Kathmen sind ja audi persische Wallfahrtsorte'. Dann gibt es noch die Kurden im Norden, die meist als Wasserträger oder Lastträger (Hamal) arbeiten, Juden, die im allgemeinen nette, anständige Leute sind und unter denen sehr würdige Typen vorkommen, mit buntem Turban oder langen bunten Kaftanen, die Frauen mit einem eigentümlichen Schleierdache vor dem Gesicht; Tscherkessen aus der Gegend von Mossul, rüde, rauflustige Gesellen, und Inder. Der englische Generalkonsul hat eine Abteilung indischer Soldaten und ein altes Kanonenboot auf dem Tigris, ein Reservatrecht der Engländer!" — Inzwischen hatte der Aufenthalt in Bagdad wiederum 14 Tage gedauert. Die Ausrüstung der Grabungs-Expedition wurde vervollständigt, und endlich war auch eine neue Karawane für die immerhin noch 3 Tage dauernde Reise nach Babylon zusammengestellt. Heute kann man in weniger als 3 Stunden mit dem Auto diese Strecke zurücklegen! ' Gemeint ist: schiitische Wallfahrtsorte. Die Perser gehören, wie die Bewohner des südlichen Irak, der schiitisdien Richtung des Islam an und besuchen deshalb mit Vorliebe gerade diese Orte.
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Andrae
E N D L I C H BEI N E B U K A D N E 2 A R !
„Nach 14 Wochen Wanderung endlich am Ziel, endlich in einer Art Heimat! Wir waren schließlich doch froh, die Gastfreundschaft unseres liebenswürdigen Wirtes nicht länger mehr in Anspruch nehmen zu müssen im Hinblick auf die Zunahme unseres Körpergewichtes und die schädliche Verwöhnung mit allerhand seltenen europäischen Genüssen. Denn in Bagdad saß man gewissermaßen in einem Glashäuschen auf europäischem Boden und genoß ungestört den Orient; jetzt ist das Glashaus weg, und man muß seine Haut allen fremden Einflüssen preisgeben und sie möglichst rasch an alles Uneuropäische gewöhnen. Wir hielten über den Teil el Kasr, den Königshügel und das vermutliche Feld unserer künftigen Tätigkeit, unseren Einzug in das nunmehrige Heimatdorf Kuwairisdi, wo man für uns schon ein Haus bereit hielt, was fürs erste ganz angenehm ist. Ein großer Hof, von mächtigen Palmen umgeben — die Palmenpflanzungen sind hier die größten in ganz Mesopotamien — und eine schwarzgerußte Halle aus Ziegeln Nebukadnezars mit Keilschrift." — „Hier wohnen wir bis jetzt dicht am Flusse, am alten lieben Euphrat, dessen Wasser wir mit Behagen schlucken, sitzen also an Wasserflüssen Babylons ohne zu jammern, lassen draußen die weißen Segel vorüberziehen, die Dschirds (Wasserräder) heulen, die Palmen rauschen. Zur Fortbewegung aus dem Hause haben wir unsere braven Gäule, die wir behalten und mal ordentlidi auffüttern. Es gibt nichts Schöneres, als auf dem Pferde durch die Ebene zu sausen wie der Wind, sie gehen auch so fein Galopp, daß man zu fliegen 50
meint. Vorstehend ist unser jetziges Wohnzimmer abgebildet, für uns ein höchst interessanter Raum, weil er aus lauter schönen großen gestohlenen Nebukadnezar-Ziegeln gebaut ist. Sie sind liebenswürdigerweise nicht einmal mit Mörtel bedeckt, sondern in ihrer ganzen antiken Schönheit vom Rauch des Kaffeeherdes geschwärzt. Dieser ist ein Loch im Fußboden, wo auf einem Feuerchen ständig Kaffee gebraut wird. Der Rauch sdiwärzt auch die stilvolle Decke aus echten halben unbehauenen Palmstämmen, auf denen zunächst eine Binsenmatte von derselben kunstvollen Art wie die alten babylonischen Matten liegt, welche ihrerseits den Lehmschlag des Daches trägt. Der Fußboden ist aus den ganz gut erhaltenen Ziegeln konstruiert, die überall den schöngeschriebenen Stempel Nebukadnezars, des Sohnes Nabupolassars, des Erbauers von Babylon etc., tragen. In einer Ecke stehen in der alten Zeltordnung unsere Betten, da ist vorläufig Salon und Schlafzimmer, die andere Ecke beherbergt unser Gepäck und Kisten. Bei Tische kommt man sich wie ein babylonischer König vor, drei Diener stehen hinter uns und um uns und wedeln unausgesetzt die Fliegen ab. Unser Personal besteht jetzt aus Jusuff oder ,Mister Nelson', ferner Habib aus Aleppo, dem Adimed Ingleze, der aus Bagdad mitgegangen ist als Sajis (Pferdeknedit), dem Unterdiener Selim und dem Koch. Ansonst ist natürlidi die ganze Bevölkerung neugierig mit den Fremden beschäftigt und umlagert uns, besonders wenn wir uns mal mit dem Schießgewehr zeigen, was überhaupt alles andere Interesse in den Hintergrund drängt." — „Unsere Arbeiten sollen am Sonntag beginnen; heute werden Hacken und Spaten zurechtgemacht und alles vorbereitet. Ein mächtig großer Tisch ist heute unter dem Jubel der Expedition eingetroffen, so daß man wenigstens anstän51
dig sdireiben kann. Wir werden vielleicht doch hier im Hause bleiben. Das Grundstück liegt am Ende des Dorfes, und man braucht nicht durch dasselbe hindurch, um zum Kasr zu gelangen, sondern geht einfach wenige Schritte durdi den Palmenhain." — Am 26. 3. 1899 begann endlich die Ausgrabung am Königshügel von Babylon. Es war ein Lehrjahr erster Ordnung, dieses 25. Jahr meines Lebens, das sich fast ganz mit dem ersten Grabungsjahr in Babylon deckte. Nun war der verträumte Schüler, der träumerisdi in sich ruhende Student völlig erwacht und zugleich völlig in seinem Element. Wie eine Heimat begrüßte idi den Fluß, die Palmenhaine und die Ruinenhügel. Ich stürzte mich geradezu in die Arbeit, keine Anstrengung war zu groß, als daß sie nicht wie spielend überwunden worden wäre. Die Hitze des ersten Sommers wurde kaum empfunden, alle Erlebnisse waren schön, alle Tätigkeit interessant. Heute, am Ende des Lebens, wo ich überschauen kann, wieviel wichtige Tatsachen schon das erste Grabungsjahr und die folgenden 3 Jahre in Babylon zutage förderten (sie schienen nur so aus dem Boden zu quellen), kommt es mir vor, als hätte ein höherer Wille uns damals geleitet. Koldewey hatte, wie wir damals sagten, „mit sicherem Blick" den ersten Graben genau auf das „geistige Rückgrat" von Babylon, auf die Prozessionsstraße, gerichtet. Er fand dort nicht nur die Straße, sondern auch die Inschriften, welche ihre Bedeutung enthüllen konnten, und die Brocken der farbigen Löwen, welche an den Mauern der Straße dahinschreiten mußten. Trotzdem blieb der Blick damals nur auf die topographischen Probleme gerichtet. Die religiösen und kultischen Probleme, für die es schon längst reichlich viele Texte gab, standen noch im Hintergrunde und blieben es, obwohl die große Inschrift 52
mit Fingern auf den Gott Marduk hindeutete, der hier wandeln sollte. Ein zweiter „Wink des Schidksals" wies auf den babylonischen Turm hin, die berühmte höchste Zikurrat des Landes, für die in den Ruinen ein entsprechend hoher Rest schmerzlich vermißt wurde. Der Wink deutete seltsamerweise auf einen Tiefstpunkt, in dem das Grundwasser stand. Das schier Unglaubliche mußte für wahr gehalten werden und hat sich in den nächsten Jahren glänzend bestätigt. Bisher hatte auch in der Wissenschaft eine andere, viel eindrucksvollere Ruine für den Turm gegolten: die Zikurrat von Birs (Borsippa), die noch von Jules Oppert in einen phantastischen Babylon-Plan mit einbezogen worden war. Diese Phantastereien wurden nun endgültig aus der Welt geschafft, wie wir gleich seheti werden. Als „dritten Wink des Schicksals" empfinde ich heute den plötzlich in Angriff genommenen Plan Koldeweys, außer auf dem Palasthügel Kasr auch auf dem südlich gelegenen großen formlosen Hügel Amran ibn Ali eine groß angelegte Sondierung zu unternehmen. Dieselbe führte durch verzweiflungsvoll hohe, gefährliche Aschenstaubschichten in enormer Tiefe auf sehr starke Tempelmauerreste. Es war Esangila, der Tieftempel des Gottes Marduk. Nun wußten wir, wo der kultische Mittelpunkt der Stadt lag: Turm und Tempel des Gottes Marduk waren gefunden.
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WIR BAUEN EIN „SCHLOSS"
K u r z nadhi Beginn der Ausgrabung begannen wir audi sdion mit dem U m - und N e u b a u des v o n H a b i b el Alaui, dem Dorfsdieidi, gemieteten Hauses. D a r ü b e r schrieb ich damals an den Großvater in Dresden: „ D e r H a u s b a u hat einen fürchterlichen Spektakel in unseren sonst so stillen H o f gebracht. Es sind jetzt etwa 20 Menschen dabei beschäftigt, von denen kein einziger auch nur eine Minute still sein kann, ein fortwährendes Schreien, Rufen, Schimpfen, Aufmuntern, auch wenn's nicht nötig ist — aber es geht wie in einem Ameisenhaufen, alles rennt und schuftet mit einer eisernen Zähigkeit durch 10 Stunden ohne Ermatten. D a s ganze Erdgeschoß ist in 8 T a g e n fertiggestellt worden. Kleine Jungen, die den T a g 2 Piaster =
35 Pf bekommen,
bringen den Tin (Schlamm) zur Baustelle, den zwei unausgesetzt den ganzen T a g bis an die K n i e in ihm stehende Männer herstellen, indem sie den von der nächsten U m gebung genommenen Erdboden mit Wasser vermischen. D a s ist der Mörtel. A n heiklen Stellen, z . B . bei einem Bogen, w i r d auch mal Gips genommen, und dann w i r d ein Stein auf den anderen geklebt, und da der Gips schnell erhärtet, ist das Gewölbe in einer halben Stunde fertig und wird betreten. Gerüste gibt es nicht, die T r e p p e geht außen herauf und wird massiv gebaut, alles mit Ziegelbrocken, die Stufen aus je drei ganzen Nebukadnezar-Ziegeln. Es ist ein ganz gelungener Betrieb, f ü r mich äußerst interessant zu beobachten, wie man's hier handhabt." Als Baumeister waltete bei diesem B a u U s t a d Emin, d. h. Meister Emin, aus unserer Kreisstadt Hille, mit dem Zoll54
stock messend, planend und die Baububen hauend. Er war ein würdiger Herr mit großem Turban und trug nur ein Musterbuch mit geheimen Bausdilüsseln in der Tasche. Er ging auf alle Wünsche des Bauherrn ein. Den gewünschten Grundriß zeichnete er mit dem Zollstock auf den Erdboden, begann sofort, auf diese Zeichnung Schlamm als Mörtel und Ziegel auflegen zu lassen und nach oben hin so weiter zu pappen, bis das Gewünschte dastand. Er hat auch das Ziegelornament am Eingangstor entworfen und vor unseren Augen ausgeführt, alles auf dem Erdboden, den er vorher mit der H a n d glattstrich. Die weichen gelben Ziegel modernen Brandes bearbeitete er mit einer Fuchssdiwanz-Säge und legte sie nach dem geheimen Musterbuch zu allerhand geometrischen Figuren oder Sternen am Boden aus, hinterpappte sie mit Gipsmörtel und Schilfstengeln, so daß ein großes „Ornament-Brett" entstand, das man als Ganzes an die Wand über dem Tore kleben konnte. In Koldeweys Zimmer schuf er ein Kombinat von Dachtreppe, Nische, Fenster und Ruhebank mit Euphrataussicht, wo Koldewey Siesta halten konnte und den landesüblichen Tschibuk zu raudien gedachte. Das neue „Schloß" gedieh präditig und wurde mit blendend weißem Gipsmörtel geputzt und hieß daher bei den Arabern Kasr-el-abiad, das weiße Sdiloß. In ihm gab es auch keine Flöhe mehr, sie mochten die sdineeweißen gipsenen Wände nicht und verkrochen sich lieber in den alten erdigen Klamotten-Mauern. Aber auch diese vergipste der wackere Ustad Emin und mauerte so die Verkrochenen lebendig ein.
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ES WIRD HEISS
Audi in der nun einsetzenden Julihitze schrieb ich Briefe nach Hause: „Zwei heiße Julitage ohne Wind haben wir hinter uns, wenigstens sagte man uns, daß es heiß gewesen wäre, und da waren wir sehr froh, denn es war ganz lustig. Alle Welt schwitzte, selbst die ältesten Leute. Wenn's warm wird, verlieren sie die Energie, lassen alles schlapp hängen, trinken Wasser und denken an nichts anderes als die Hitze. Wir machen uns dann immer was zu schaffen, langsam, weil jede körperliche Anstrengung große Mengen Schweiß kostet, aber bei der Länge des Tages wird immer etwas fertig, und wir haben auch viel zu tun. Glücklicherweise geht die Sonne hier erst nach 5 Uhr auf und schon um 7 Uhr unter, selbst am längsten Tage. Die Nächte waren noch schön. Als eines der Erholungsprodukte der heißen Tage schicke ich Euch ein naturgetreues Bild meines Salons, wo Ihr mich am Arbeitstisch, umgeben von den Funden des Tages, sitzen und schwitzen seht, leicht und luftig gekleidet, dahinter die „dekorierte" Wand. Die Teppiche sind noch nicht da, so ist die Eratonenfahne der einzige Schmuck, das deutsche Fähnchen und der runde Lederschnitt am Speer sind Geschenke der Frau Koch — Aleppo; darunter ist der Bücherschrank, die Bibliothek besteht fast nur aus Skizzenbüchern. Schöne braune Schranktüren aus indischem Holz, die braune Decke aus Palmstämmen, Tisch und Tischchen aus weißem Holz, Krugständer rechts —alles Arbeit unseres Tischlers aus Hille. Links ist der Wandschrank, auf dem das Hemd zum Trock:nen hängt, es war durchgeschwitzt, oben steht der Windleuchter und Koffer, unten der geheimnisvolle Sack mit den 56
von mir schon gezeidineten Funden. Die Kiste enthält ebenfalls soldie. Rechts steht der bekannte graue Koffer, jetzt gleichzeitig Geldschrank der Expedition, wo immer 2 bis 3000 M darin liegen, außerdem die eingenähten Wintersachen. Der Wandsdbrank darüber enthält die Toilettenartikel, unten alle Sorten Papier, Schrot und Sdiießbedarf; das Handtuch trocknet auch. Der schlangenartige Gegenstand, der ferner an der Wand hängt, ist Bindfaden, der viel gebraucht wird. Unten im Korb aus Palmblättern steht das Pensum des Tages, das zu bearbeiten ist. Dann seht Ihr eines von den Fenstern mit selbstkonstruiertem Vorhang, den Wasserkrug und etwas Gelbliches, die in nasse Tücher gewickelte Teekanne, dann den Wassereimer und die geliebte Flinte. Der
Fußboden besteht aus
monumentalen
Fliesen; nun noch 4 0 ° Wärme, und die Sache ist vollständig" (Abb. 11). „Vorgestern ist unsere Eisenbahn zum Schutt-Transport angekommen. Das hat also von ihrer Ankunft in Bagdad bis hierher genau 2 Monate, von Deutschland bis hierher 7 Monate gedauert. Die Ankunft der Arabana (Wagen der Feldbahn) war natürlich ein Fest, alles war auf den Beinen und im Nu etwa 50 Jungen und Männer im Adamskostüm im Euphrat, der jetzt etwa nur drei Viertel seiner Breite hat und nur 20 cm tief oder ganz trocken ist, und wateten hinüber zu den Kähnen. Das Lavieren der Kähne an unser Ufer dauerte eine Zeit, sie mußten erst über die schlammigen Untiefen geschoben werden, das Ausladen der glühend heißen, teilweise außerordentlich schweren Sachen war im Nu fertig, weil alles Zugriff und dabei furchtbar gejohlt wurde: J a Ali wa Hussein (oh Ali und Hussein), das sind die beiden Landesheiligen — und sie haben geholfen! In unserem H o f e wimmelt's jetzt von Leuten,
die be57
wafFnete Macht ist verstärkt worden um vier Saptiyes zu Fuß, davon drei als Naditwäditer, und zwei zu Pferde. Letztere hat uns der Wali als Bededsung bei Ausritten geschickt, uns kostet's aber zwei Trinkgelder mehr. Es sieht ganz gelungen aus, wenn der Soldat abends im Nachthemd mit dem Gewehr am Vorsprung der Tarma (Veranda), von wo man alles überblicken kann, auf Posten geht. So gehören jetzt 16 Personen zu unserem Hausstand." — „Auf der neuen Sdilamminsel im Euphrat didit vor unserem Hause haben wir große Melonen-, Gurken- und Bohnenpflanzungen angelegt, die man förmlidi wadisen sieht. Es ist auch das Idealste, was man haben kann, der fruchtbare, frische Schlamm, stets feucht, und die knallige Sonnenhitze, da soll es nicht wachsen! Heute habe ich wieder einen Sonntagsritt gemacht und in Bernun die Umm-elbint, die Mutter des kleinen Mädchens, das kürzlich in mein Pferd lief, ohne jedoch Schaden zu nehmen, mit einem Taler glücklich gemacht. Das Kind, dem gar nichts fehlte, hatte sie schnell angeputzt mit einem Wickel um den Kopf. Es schrie aber fürditerlicJi, als es wieder Pferde sah. Die ganze Dorfbewohnerschaft wohnte dem Ereignis bei und hatte alle guten Wünsdie f ü r midi. Wir vermuten aber, daß man jetzt hinterhältig mit Kindern auf uns lauern wird und uns diese beim Ausreiten unter die Pferde wirft, um auch einen Taler zu verdienen. Unsere Araberjungen baden mit viel Geschrei im Schatt, wälzen sich im Schlamm, bis sie ganz schwarz sind, und treiben allerlei Unfug in der Mittagssonne." — „Die Geschichte des Ziegelraubs in den Ruinen von Babylon ist nicht so ganz einfach; natürlich hat ihn unser Kommissar verboten, aber geraubt wird trotzdem, und zwar auf 58
Anordnung einer anderen Staatsbehörde. Das Geschäft ist eben außerordentlich einträglidi." — „Mit dem Hitzeaushalten ist's eine eigene Sadie, man gewöhnt sidi daran, wie man sich in Deutschland an Regen und eisige Nordwinde gewöhnen muß. Ich muß sagen, angenehmer ist mir das hiesige Gewöhnen, diese Friererei hat doch etwas unangenehm Nördliches an sidhi. Die größte Glut haben wir, wie es scheint, überstanden, das war Ende Juli, da war es aber auch sehr hübsch warm. Nun werden wir dafür durch jeden kleinen Temperaturfall königlich belohnt. Wenn man jetzt noch schwitzt, so ist das eine ganz andere Sache, immer mit dem Gefühl der Erleichterung: ,So schlimm ist es doch nidit mehr wie damals Ende Juli!' Und jetzt ist es gerade wieder außerordentlich angenehm, sdiöne Nächte und kühler Wind. Nun wird es bis zum Oktober auch immer erträglicher. Wenn ich Euch nicht manchmal über das Wetter schriebe, würde mir's überhaupt nicht zum Bewußtsein kommen, denn wir haben hier so viel und Schönes zu tun, daß man auf so nebensächliche Dinge kaum achtet. Zu Weihnachten kann idi nun freilidi nodi nicht wieder zu Hause sein, da werden wir uns wohl einen Dattelbaum aufputzen." „Wir haben jetzt die wunderschönsten, zuckersüßesten reifen Datteln. Das ist etwas anderes als der klebrige, pappige Kram, den man in Europa unter dem Namen Datteln bekommt. Man kennt hier hundert verschiedene Arten, gelbe, graue, rote, sdiwarze, große, kleine: alle haben verschiedene Namen. Es beginnt auch die Zeit des Dattelraubes, überall sitzen tags und nachts Wächter, oftmals wird geknallt mit alten Donnerbüchsen, meist aber nur, um die Anwesenheit des Wächters zu dokumentieren. Ab und zu kommen audi Soldaten und führen einige Dattelräuber hinweg, das fällt 59
aber nicht weiter auf. Das Bild der Palmengärten ist jetzt prächtig. Die Datteln sind das reinste Goldgelb, umgeben von den mattgrünen, stilvoll geordneten Palmwedeln auf dem tiefblauen Himmel und mit dem
weißlich-braunen
Stamm." — „Die Leute sind durch große Funde in der Grabung ganz aufgeregt, in der Hoffnung auf ein gutes Bakschisch, das dann allemal abfällt. Die Transporte der zwei
großen
Götzenbilder, etwa 500 m weit bis zu unserem Hause, spotten jeder Beschreibung; den letzten haben wir mit Seilen gesdileift,
vorn
zogen
100 Mann,
es
ging
bei
sehr
schwierigem Gelände in etwa 3 Stunden sehr schnell, aber unter fortgesetztem Gebrüll, so war die Bande aus dem Häuschen. Nachmittags wurde zur Belohnung gefeiert." —
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INS WEISSE SCHLOSS KOMMT BESUCH
„Was es dodi für närrische Mensdien auf der Welt gibt! Kommt da am Mittwoch ein .German Gentleman', wie ihn unser Josef Nelson anmeldete, mutterseelenallein und nur von einem Zweirad begleitet in unseren Hof hereingefahren, sagt: Guten Tag, er heiße Kögel, er sei aus Leipzig und komme soeben aus Paris, wohin er auch zurückkehren wolle, aber um die andere Hälfte unserer Erdkugel herum, nämlidi über Vorder- und Hinterindien, Australien, Südamerika, Nordafrika, Spanien — also der nächste Weg, alles allein auf dem Rade, soweit es geht. Keinen Heller in der Tasche! Wenn er nicht schon einmal den Spaß gemacht hätte, sollte man's nicht glauben. Er ist aber ,Meisterschafts-Fußtourist um die Welt' mit großer goldener Auszeichnung und Diplomen, lief von San Francisco noch New York, durch Spanien, Frankreich, Schweiz, Österreich, Rumänien, Persien, Beludschistan, Indien, China, Japan und dann zum Sport noch einmal von San Francisco nach New York. Das war vor 4 oder 5 Jahren. Ich besinne mich auch, davon gelesen zu haben. Damals hatte man kein Interesse dafür. Heute steht dieser blonde Mann lebendig vor uns, erzählt in seiner harmlosen und bescheidenen Art von Erlebnissen und Ländern, zeigt seine Autographensammlung, in der es von allerlei bekannten Namen wimmelt, und nimmt mit allem vorlieb. Was haben wir dagegen für Reisevorbereitungen nötig gehabt! Er steckt sich etwas Brot in die Tasche, schnürt sein Mäntelchen aufs R a d und gondelt los. Und mit der Sprache, da tat er den klassischen Ausspruch: „Ja, einige Ausdrüdce muß man haben, sonst kommt man nicht durch." So hat er
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für jede Sprache etwa 10 Worte, gewöhnlich: Hunger, Durst, krank und kein Geld! Damit kommt er um die Welt. Alle Deutschen beherbergen ihn, wo's keine gibt, schläft er auf der Erde oder im Araberzelt oder sonstwo und kommt doch mit allerlei Größen zusammen. Jetzt will er zu Rad noch nach Kerbela und Bagdad, von wo er per Dampfer nach Bombay fährt, da es nach Basra keine Wege gibt. Er sprach ein gutes Monteursächsisch, ist also aus dem Handwerkerstand, sah mit seinen 40 Jahren wie ein 30jähriger aus, das Weltenbummeln bekommt ihm! Übers Jahr will er herum sein, dann hält er Vorträge. Ist er in Dresden, so laßt Euch von Babylon erzählen und Euch das neugefundene Relief: ,Herr Kögel bei Nebukadnezar' zeigen, das ich ihm ins Buch gemalt habe. Er war beinahe 3 Tage hier, weil die Tigrisschiffe jetzt wegen der Quarantäne sehr unregelmäßig verkehren. Der Mann hat was erlebt! Von Aleppo nach Bagdad war er der erste Radfahrer, der jemals dort fuhr. Die Leute haben ihn unterwegs für einen Teufel gehalten, sein Rad festhalten wollen und ihn wie besessen verfolgt, so daß er mit einer Gummipeitsche hat ,arbeiten' müssen, wie er sich ausdrückt. Am gleichen Mittwoch kam die französische Susa-Expedition hier an, und wir haben einen hochinteressanten Tag mit ihr verlebt, da alle ihre Mitglieder außerordentlich liebenswürdige, verständige und nette Leute sind. La France hat eine große Expedition in Persien (seit 2 Jahren), welches überhaupt für Frankreich in archäologischer Beziehung reserviert ist. Augenblidklich wird Susa, die alte Achämeniden-Residenz, ausgegraben. Das liegt nicht weit von hier etwa auf gleicher Breite mit Babylon an der Grenze von Persien und Mesopotamien an einem Nebenflusse des Karun, der bei Mohammera in den Schatt el Arab fließt, 62
nicht weit von Sdiusditer, mitten in der Wüste, kein Baum, keine Pflanze, Post geht iVi Monate von Europa, ziemlich unsicher, da das freie Nomadenvolk öfter, aber vergeblidi Angriffe macht. Sie arbeiten dort nur im Winter, November bis April, denn die Gegend ist fiebrig. Den Sommer verbringen sie im Puschtikuh, dem persischen Grenzgebirge. Die Expedition selbst besteht aus Herrn de Morgan als Leiter, einem erfahrenen Archäologen und Kulturhistoriker, der vor allem schon in Ägypten schöne Forschungen gemacht hat, Persien sehr genau kennt, den Kaukasus 3 Jahre durchstreift hat und auch auf der Krim gewesen ist. Er scheint mir ein klarer Kopf zu sein, ist außerordentlidi arbeitskräftig, sehr ruhig, nur seine gewandte, lebhafte Rednergabe läßt den Franzosen erkennen. Dann gehören dazu Mr. und Mme. Lampre, ein sehr gewinnendes Ehepaar, die wohl mehr die geschäftlichen Aufgaben der Expedition erledigen. Mme. Lampre ist mit Dr. Koldewey vor zwei Jahren auf dem Schiff von Aden nach Basra zusammen gewesen, von wo sie nadi Susa reiste, von Herrn Chequiez, einem Schweizer, begleitet, während Dr. Koldewey und Geheimrat Sachau ihre Vorexpedition in Babylon begannen. Damals waren sie sehr mißtrauisdi und tauten erst auf, als der Zweck der deutschen Mission ersichtlich wurde. Diesmal das Gegenteil, Mme. Lampre scheint sehr aufgeschlossen zu sein, sie hat absolut nichts Blaustrümpfiges, und nur an dem lebhaften Mienenspiel erkennt man die Französin. Schließlidi haben sie noch als Ardiitekten einen Namensvetter von mir, Mr. Andr^, den ich als Kollegen, nächsten Alters- und Gesinnungsgenossen schätzen gelernt habe. Er scheint ein gewandter Architekt und aquarelliert audi. Leider hatte er nichts mit, interessierte sich aber für meine Malereien. Er bearbeitet jetzt auch die islamische Kunst des 63
Iran und Irak, worüber idi auch bin, also waren wir in jeder Art eins, und bei der Tafel hieß es entweder Andre de Susa oder Andre de Babylon zur Unterscheidung. Vor Verwechslung bei der Abreise wurde gewarnt. Jedenfalls sind wir dringend aufgefordert, Susa zu besuchen, und Dr. Koldewey und ich gehen auch jedenfalls hin, da wir uns mächtig dafür interessieren. Der Weg ist nidit weit, zu Schiff bis Amara, südlich Bagdad, dann 2 Tage durdi die Wüste und über den Ausläufer des Puschtikuh bis Susa. Es gab einen interessanten Austausch von Erfahrungen, Mitteilungen über Funde, über Beziehungen zwischen den beiderseitigen Kulturen und Künsten in Susa und Babylon, über Verhältnisse des Landes, die mich für die Zukunft besonders interessierten. Vor der Abreise machten sie sehr schmeichelhafte Eintragungen in unser Fremdenbuch, und wir haben sie am nächsten Tage bis zur Mauer Babylons begleitet." „Ein wirklicher Prinz hat uns besucht, und noch dazu ein persischer, mit allem, was zu einem solchen Wunderwesen gehört, ausgenommen den Harem. Allerdings kam Son Altesse nicht in Samt und Seide und Diamanten wie in Dornröschen, sondern mit der üblichen persischen Pelzmütze mit unglaublich waschleinenem Sonnenschutzdach daran, das sich drehen läßt, in grauem Schoßrock und Reiterstiefeln und mit ziemlich starken Augengläsern. Sein N a m e ist Farman Farma (d. h. Befehl — Befehl), sein gewöhnlicher Aufenthalt Bagdad; der Grund dafür ist, daß er aus Persien verbannt ist, weil er einige persische Provinzen zerwirtschaftet hat, was übrigens das Schicksal sämtlicher Provinzen des Reiches des Schahinschah seit langen Jahrzehnten zu sein scheint. Als Sprößling des Kadscharenstammes (d. h. des Königstammes) hat er ein Anrecht auf die Erwerbung von Reichtümern auf 64
Abb. 12. Festtanz in B a b y l o n
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Abb. 13. Auf dem Weg von Babylon nach Hille
diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege, doch glückt es nidit allen seinen Verwandten, wenigstens wimmelt es in Persien von Altessen und Prinzen, die kaum ihr Leben fristen können. Übrigens sei zu seinem Lobe gesagt, daß er auf den ersten Augenblick gar keinen so schlimmen Eindruck madit. Er ist sogar sehr gemütlich in der Unterhaltung und außergewöhnlich aufgeklärt. Uns gibt er Ratschläge für die Ausgrabung, vor allem für die Anwendung von allerlei Maschinen, die unsere Fördermenge enorm steigern würden. Wir haben ihm außerordentlich dankbar die Ausführung aller seiner Vorschläge zugesichert, ebenso seinen wissenschaftlichen Erklärungen trotz besserer Überzeugung mit Wärme beigepflichtet, denn so etwas kostet nichts und macht dem Gaste Spaß, wenn er sein Geisteslicht strahlen sieht. Mit vernünftigem europäischen Maß darf man hier auch die .Aufgeklärten' nicht messen. Als Tages-Neuigkeit erzählte er uns mit viel Geschick und Ausschmückung die Geschichte vom Ei des Columbus, die wir erstaunt vernahmen. Nun zu seinem Troß: Es wimmelt förmlich um so einen großen Herrn; außer der militärischen Begleitung von türkischen Staats wegen hatte er einen hübschen Kaukasier, wohl Tscherkessen, mit blondem Schnurrbart und blauen Augen als Obermuker bei sich, einen Diener (Tschai-dar), der nur den Tee bringt, einen Kaliundar, der ihm das massivsilberne Nargile reicht, wenn er mit dem kleinen Finger winkt, einen, der auf der Reise stets glühende Kohlen dazu und Wasser mitzuführen hat, Aufsichtsbeamte für diese Diener, dann einen Falkonier mit einem hübschen kräftigen Jagdfalken (hier wird noch auf diese Art gejagt, besonders auf Gazellen und Feldhühner), ferner eine ganze Anzahl Pferdeknecäite und reisiges Volk in ihrer Persertracht, alle wohl gekleidet mit hübschen, koketten Löckchen, weiten Fal65 5
Andrae
tenröcken und Pumphosen, alle gut bewaffnet mit den modernsten Gewehren. Son Altesse würdigte uns seines Besuches im Hause und bat uns, seinen Tschai anbieten zu dürfen. So hatte doch wenigstens ein Teil der Dienersdiaft etwas zu tun, denn sonst ist sie nur zum Faulenzen und energischen Bestehlen ihres Herrn und Gebieters da. Letzteres ist hier ein enorm entwickeltes Gewerbe. Die Tätigkeit des Prinzen in Bagdad besteht auch in Langeweile, die zu vertreiben ist. Er hat aber dodi allerlei Interessen und jagt auch nebenbei. Unsere Zimmer mußte er alle sehen, wohl weil er unserer Versicherung, gänzlich unverheiratet zu sein, keinen Glauben schenkte und vielleicht dodi ein weiblidies Frenkiwesen zu sehen hoffte. Unsere Unbeweibtheit erregt überhaupt stets und allgemein die größte Verwunderung sämtlidier Orientalen. Diese können sich den Zustand gar nicht vorstellen, da jeder mindestens einfach, viele aber, vor allem unsere Bauern, jetzt mehrfach verheiratet sind, und zwar auf Grund der ungeheuren Reichtümer, die sie bereits infolge der Arbeit bei uns angehäuft haben. Für das verdiente Geld wird zuerst eine Flinte gekauft, dann eine Frau, dann ein Revolver, dann wieder eine Frau, dann schöne seidene Kleider zum Fest, dann eventuell noch eine Frau, und schließlich wird einmal wöchentlich Fleisch gegessen, später noch öfter. Die Zahl der Flinten ist ein beliebtes Schätzungsmittel für die Einwohnerdichtigkeit. Unser Dorf hat 60—70 Flinten bei im ganzen vielleicht 120 Männern, incl. der Greise. Anane, gegenüber von uns, 200 Flinten, daher sehr angesehen und gefürchtet, Birnum mit 100 und Dschumdschuma mit 120. Sie geben viel Geld dafür aus, denn ein Schießeisen ist immerhin ein seltener Gegenstand, da der Import streng untersagt ist. Trotzdem sieht man oft die neuesten Modelle. Kürzlich kaufte sich einer einen Revolver für 40 Mark, das ist 66
schon viel Geld. Sonntags gehen sie damit in den Palmengärten und Feldern spazieren. Immerhin rührend ist es doch, daß sie stets, wenn man ihre Flinten oder neuen Gewänder bewundert, hervorheben: hada min saidak: das habe ich durch deine Güte! In solchen Höflichkeiten sind sie einzig und schlagfertig. Fragt man einen nach seinem Befinden, so antwortet er stets: allah jselimak: Gott mache dich gesund! oder: Kefak sen, kefi ham sen: ist nur dein Befinden gut, so geht's mir auch gut. Oder fragt man: was ist deine Beschäftigung, so heißt es: ana do utschi daulet Alemanni: ich bete für das Deutsche Reich (bin der Diener des Deutschen Reiches). Je mehr man mit der Sprache vertraut ist, desto amüsanter findet man diese Aussprüche."
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DAS GROSSE FEST DER MOHAMMEDANER
„Seit 3 Wodien ist Ramadhan, der mohammedanische Fastenmonat. Da darf der Muslim, d. i. der Gläubige, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nichts essen und nichts trinken. Von den meisten wird das auch streng gehalten. Es gibt aber auch unter unseren Arbeitern einige ,Heiden', und die Jungen sind noch dispensiert. Wir necken sie mit herumliegenden Dattelkernen und behaupten, sie knabberten heimlich doch etwas, audi der Wasserverbrauch in der Ausgrabung ist trotz des Fastens nidit geringer geworden, angeblich wegen der Gebetswaschungen. Von letzteren habe ich noch nicht viel bemerkt. Es ist aber doch keine Kleinigkeit, den Tag über 9 Stunden Schutt zu hacken und zu schleppen, ohne zu essen und zu trinken; dafür wird eben für das eigentliche ,Fest' am Ende des Fastenmonats schon jetzt möglichst viel Eßbares eingekauft. Übrigens hat der Prophet allerlei Vorschriften gemacht, damit sie keinen Schmu machen können mit Beginn und Ende des Fastens. So gilt als Sonnenaufgang der Moment, wo man einen schwarzen Faden von einem weißen untersdbeiden kann. Gegessen werden darf erst 10 Minuten nach Sonnenuntergang, nachdem der Mueddin das Gebet gerufen hat: Allahu akbar etc., d. h. Gott ist der Größte, es ist kein Gott außer Gott etc." — „Nun haben wir auch das 3tägige Fest der Mohammedaner überstanden, mit welchem der Fastenmonat Ramadhan geschlossen wird. Dasselbe besteht aus allgemeinem großen Fressen (Essen ist es schon nicht zu nennen), mit Gesang, Tanz, Schießen, Trommeln und jeglicher Art ohrenbetäubenden Lärms. Sie haben sich wochenlang darauf gefreut und 68
uns ebenso lange an das unumgängliche Baksdiisdi, das jeder zum Fest haben müßte, erinnert, so daß wir schließlich nicht umhin konnten, es zu zahlen. Zum Feste selbst stolzierten alle in neuen prächtigen Gewändern, viele in Seide und Silber, umher, die grellsten roten und gelben Stoffe sind bevorzugt, die "Weiber lieben dunkelblau und schwarz vom Scheitel bis zur Sohle, nur die jüngeren Damen gehen in den stechendsten violetten Farben. Jeder Mann, ja jeder Junge von 8 Jahren hatte seine Flinte, mindestens ein Pistol, mit dem jeder umzugehen weiß. Pulver wird viel verknallt. Drei Tage lang haben sie geschrien und getobt. Auf dem Teil Amran neben uns, wo sich das Grabmal des heiligen Amran befindet, war wieder großes Volksfest, und der kahle, öde Hügel sah eigentümlich aus mit dem bunten wimmelnden Volk. Auch Wettrennen werden veranstaltet, man sieht kühne, verwegene Gestalten, schöne Tiere, aber auch elende Klepper, jedoch alles bunt behangen, oft mit kostbaren Sätteln, möglichst farbig. Im allgemeinen vergnügt man sich sehr harmlos, es wird Wasser getrunken, und die einzige Schlemmerei besteht in einem Gebäck aus Brotteig mit Datteln drin, was den sdiönen Namen Kladsche führt. Wir sind audi damit beschenkt worden, natürlich gegen Bakschisch. Viele sind heute unwohl vom vielen Essen nach dem langen Fasten. Die Tänze haben etwas Ungarisch-Urtümliches, es wird viel gestampft, und rote Tüdier werden gesdiwenkt; im ganzen geht es aber sehr langsam, nicht wild. Die Musik macht einer mit der Doppelflöte, die Backen dienen als Windsack dabei, und einer mit der Negertrommel. Das Hauptvergnügen scheint die lange Dauer eines Tanzes zu sein, an dem sich übrigens nur Männer beteiligen" (Abb. 12). „Wir haben zum Fest audi unsere Staatsvisite in Hille beim Kaimakam gemacht und sind auf Hin- und Rückweg 69
dem bunten Zuge der Pilger begegnet, die ihre Sure (Gebet) auf Teil Amran zu verrichten gingen. Von Babylon bis Hille unaufhörlidi Menschen, Reiter auf Eseln und Rossen, Weiber, Kinder, Greise und ausgewachsene Männer, alle im Sonntagsstaat. Von dessen Buntheit macht Ihr Euch schwer eine redite Vorstellung, sie wirkt so mächtig auf den hellgrau schimmernden Kanaldämmen und dem wüsten Erdreich, den ebenso mattweißlidi grünen Palmen als Hintergrund. Hier sieht die gräßlidiste Farbe glänzend aus. Die Mode bringt immer Neues, oder besser gesagt, ein neuer Transport aus Manchester oder sonstwo aus Europa; jetzt waren schwefelgelbe Kopftücher an der Mode, grasgrüne oder schweinfurter-grüne Hemden, feuerrote Röcke, apfelsinengelbe Sammetjacken und ähnliche Zusammenstellungen. Alles strahlt, und niciits beleidigt das Auge, wenn man es auch oft in der Nähe überhaupt nicht ansehen kann. Audbi unsere christlich chaldäischen Diener Murad, Mansus, Rasuki und Abdallah hatten ihre besten Sachen an, himmelblaue Ärmeljäckchen mit Goldstreifen, goldgelbe oder zitronengelbe Hemden und goldgestickte Gürtel, dazu karminrote Saffianschuhe einheimischen Fabrikates, wie sie alle Wohlhabenden an Festen anziehen. Wenn alles dieses Volk so zusammenwimmelt bei den Tänzen, die sie uns zu Ehren oder zu ihrem Vergnügen aufführen — die Fahne des Propheten, Halbmond und Stern auf rotem Felde mit grünem Rand, von einem echten Araber an langer Stange oder Lanze gehalten, in der Mitte — so gibt dies ein wahres Kaleidoskop. In Hille haben wir als noble Begs die milde Hand geöffnet gegen alle Bettler, tanzende Mohren mit Schürzen aus Ziegenhufen an Bindfaden, die eine heulende Trommel klopfen und gräßliche Sätze und Luftsprünge machen, gegen Affenführer und blinde Greise, die ihr ,chatr Allah, chatr 70
Mohammed' d. h. ,um Gottes willen' etc. sdireien, sind dann am Serail vorübergegangen, wo stets die Wadie präsentiert: Salam dur! Rahat dur! wenn wir Zivilisten vorübergehen, haben beim Regierungsoberhaupt, dem Kaimakam, die übliche Fest-Zigarette und den Kaffee geschlürft und gezudcerte Mandeln geknabbert und schließlich unsere zappeligen Rosse wieder bestiegen, die vom langen Stallstehen etwas albern geworden sind. Wir zwingen sie aber noch mit unseren schwachen Künsten, sie sind von Natur nicht böswillig, nur ein bißchen lustig von dem Festtrubel."
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DAS LEBEN IM WEISSEN SCHLOSS
Es ist nun Zeit, über das „Personal" des weißen Schlosses einiges zu sagen, weil man mit ihm doch in eine nahe Berührung kommen mußte und weil es verschiedenartig genug war. Wir Europäer hatten die Eingeborenen gleichsam überwandert und glaubten, ein Recht dazu zu haben, Uber ihnen in der I . E t a g e des Hauses zu sitzen. Einen politischen Anspruch besaßen wir nicht. Trotzdem nannte man uns Beg — Fürst — und behandelte uns wie Fürsten, manchmal bis zur Kotau-Verehrung, nämlich dann, wenn einer etwas „ausgefressen" hatte und damit seine Arbeit bei uns verloren hätte, was so viel heißt als Verlust der regelmäßigen Bezahlung, einer Seltenheit in diesem Lande! Noblesse oblige! Mußten wir uns nicht auch wie Fürsten benehmen? Alle, die in der L Etage wohnten? Wenn da aber nun einer sich nicht so benahm? Gab es dann nicht Konflikte? Es war ein Glück, daß die von uns Überwanderten sich als so friedfertige Menschen herausstellten, obwohl sie weder der Rasse, noch der Religion, noch der Beschäftigung nach einheitlich zu sein schienen. Die beiden Diener, Murad und sein Gehilfe, nannten sich chaldäische Christen und stammten aus Bagdad. Koch und Küchenjunge, unbestimmter Religion und Rasse, kamen aus Hille, Pferdeknecht und Wasserträger gehörten zu den Dorfbewohnern, der kleine, sdiwarzhaarige Sdimied Rasuki, ein Bagdader „Monteur", glaubte gewiß an alles, was Eisen ist, sonst nichts. Die Back- und Waschfrau gehörte zu einer Familie aus Hille, die von Schammar-Beduinen abstammen 72
sollte. Ihr Mann wurde Grabungsaufseher, ihr Sohn späterhin mein treuer Diener. Über all dieses Volk war eine aus Bagdad mitgebrachte Persönlichkeit gesetzt, die sich „Mister" Nelson nannte, von den anderen aber Chawadscha Jussuf genannt wurde. Sein Vater, ein holsteinischer Schiffskapitän, hatte im Persischen Golf Schiffbruch erlitten, eine Bagdader Christin geheiratet und in Bagdad diesen etwas „gekreuzten" Sohn erzeugt, dessen Hauptstärke der Alkohol war, wie die verträumten Augen verrieten. Sein Sprachsdhatz bestand aus mangelhaftem Englisch und Arabisch — das väterliche Deutsch fehlte. Sein Amt, die zehn Seelen des „Personals" zu beaufsichtigen, bedrückte ihn so sehr, daß er eines Tages zu Koldewey kam und ihm mitteilte, er habe eine Idee: Man müsse jemanden anstellen, der dieses Personal beaufsichtige. Er werde dann die Oberaufsicht übernehmen! — Aus dem Avancement Jussuf Nelsons wurde aber nichts. Er fand einen frühen, unaufgeklärten Tod. Zum Hofgesinde gehörten zwei Soldaten, welche die türkische Regierung zum Schutze der „Fürsten" dauernd zur Verfügung stellte. Sie erhielten reichlidie Verpflegung und entsprechende Dienstbezüge unsererseits für ihre Anwesenheit bei Tag und bei Nacht. Sie besaßen eine defekte Montur, je ein altes Henry-Martini-Gewehr samt einigen Patronen, und Henna, mit der sie ihre nachwachsenden Greisenhaare rot färben konnten, um immer jung zu erscheinen. Bei einer Ablösung dokumentierte der neu Eintretende seine Beflissenheit durch Patrouillengänge über unser Dadi, wo wir des Sommers friedlich schliefen, und verjagte unter lästerlichen Flüchen und ein bis zwei Schüssen aus seiner Donnerbüchse die schlimmen Diebe und Räuber, welche das Weiße Schloß beschlichen. Wir lobten ihn. Etwa alle 10 Tage erschien überdies Saul Salomo (auf arabisch Schaul Selman), ein Jude aus 73
der Kreisstadt Hille. Er gehörte sozusagen zum Inventar der Expedition; denn er brachte das nötige Silbergeld f ü r die Auszahlung an die 150 Arbeiter der Grabung, die in Dekaden, also alle 10 Tage, erfolgte. Bei ihm konnte man die „Sprache ohne Worte" lernen, er drückte alles, aber audi wirklich alles mit beiden H ä n d e n aus, die er vorher völlig frei zur „Rede" madite. Er hatte immer viel zu erzählen, da es außer ihm keine Zeitung gab und es auf dem manchmal einsamen Wege durch die Palmenhaine Ereignisse und Schrekken aller Art gab, bei denen man sogar eine geladene Pistole brauchte. Beim Abdrücken dieser Pistole konnte er jedoch nicht „zusehen", er madite die Augen zu. Die Räuber, die doch wußten, daß er Geld im Sattel und auf dem Bauche im Gürtel hatte, waren trotzdem verschwunden. ScJiaul Selman gehörte zur Nachkommenschaft jener Judäer, die Nebukadnezar aus Jerusalem mitgebracht hatte, die aber in Babylon geblieben sind, als Kyros ihnen erlaubte, in die Heimat zurückzukehren. Einige davon blieben arm, andere wurden begütert, und wir kannten einen derselben, der, blond und blauäugig, fließendes Wiener Deutsch sprach. Er hatte in Wien studiert. Schaul Selman jedoch wußte in Hille auch die Quelle des allerbesten Dattelsciinapses. Sie quoll in einem der Judenhäuser. Dieser Medizin begehrte in Babylon mancher manchmal zu viel, insbesondere Schnapsel, der Kommissar. Von uns Europäern enthielten sidi zu meiner Zeit alle dieses Genusses. Über die seelischen Qualitäten dieses „Personals" wüßte ich nichts anderes zu berichten, als daß es im eigenen Interesse jedes einzelnen äußerst friedlich gewesen ist. Zwischen den verschiedenen Religionen bestand tiefster, idealer Burgfriede. Die Mohammedaner sah man täglich ihre fünf Gebete verrichten, die Christen taten dies entweder gar nicht 74
oder im stillen Kämmerlein, der Jude in seiner Synagoge. N a d i einem ganz zu Beginn geschlossenen Abkommen wurde an unserem Sonntag gefeiert, am islamischen Freitag gearbeitet, dafür feierten sie an ihren beiden großen Festen, dem Korban Bairam und dem Ramadhan-Ende, je drei Tage, während unsere drei Feste unbeachtet blieben. Hier konnte also kein Religionskrieg ausbredien. Unaufgefordert tat ein jeder das Seinige, denn er wäre ja geflogen, wenn er es nicht getan hätte. So füllte Ali der Büffel (Ali dschamus), der Einäugige und immer nur bis zum halben Oberschenkel Bekleidete, jeden Tag die großen Tonfässer mit gelbem Euphratwasser. So fütterte und striegelte der Pferdeknecht täglich unsere vier Rösser und den Wasseresel. So hielt Rasuki Wagen und Geleise der Förderbahn in Ordnung. So kochte, briet und buk in der rußgeschwärzten Küche der Kodi mit seinem über die Maßen schmierigen Assistenten die täglichen Mahlzeiten in bekömmlicher einheimischer Art und Form. So hielten die Diener auf die eigene saubere Erscheinung und die unserer Zimmer, des Speiseraumes, des Bades und des Daches, auf dem wir schliefen. — Wegen der Religion muß idv nun ein Geständnis ablegen, das für die ganze lange Ausgräberzeit gilt und, wie ich vermute, auch wohl für alle meine Kollegen. Obwohl rings um uns Religion ausgeübt wurde, dachte ich nicht mehr an die von mir selbst in der Jugend ausgeübte. Sie war wie verschwunden. Was war an ihre Stelle getreten? Wirklich nur ein Vakuum? Schon im zweiten Jahre in Babylon ging mir statt dessen ein anderes, mehr irdisches und weniger philosophisches Licht auf: die Taten und Leiden des Lichtes, wie Goethe die Farben nennt, und die Formen, welche die Natur vor unsere 75
Augen stellt zum Bewundern. Mir scheint fast, als wäre mir diese Erleuchtung als voller Ersatz beschert worden. Es lag sogar etwas feierlich Begeisterndes über diesem farbigen Einfangen der Natur auf meine Blätter. An den arbeitsfreien Sonntagen nach der arbeitsreichen Sechstagewoche ging ich am liebsten in die ruinenfreie Landschaft, in die Palmenhaine, an die Flußufer, auf die grünen oder abgeernteten Felder und gewann allmählich auch den Anschluß an die seltsame Schönheit der formlos scheinenden Ruinenhügel, denen der kundiger gewordene Blick doch schon manches Verborgene absehen konnte. Immer mutiger ging ich den spröden Palmen zuleibe, an die ich midi ein ganzes langes Jahr nicht herangewagt hatte. Mancherlei Hemmungen verhinderten das Wagnis. Anfangs die landesübliche vierwochenlange, sehr schwächende Dysenterie, die ebenfalls ortsübliche Bagdadbeule, die man damals noch nicht heilen konnte, sondern ein Jahr lang überstehen mußte, und endlich die Arbeit an der Zusammensetzung des sehr farbigen babylonischen Löwen, die mich ein volles Jahr Tag und Nacht in Atem hielt. Jetzt im zweiten Jahr trat ein anderer Rhythmus ein: sechs Tage Hügelaufnahmen messen und zeichnen und minutiöse Ziegelzeichnerei ausgegrabener Mauerreste, dazu der tägliche Grabungsdienst zur Beobachtung der Grabungsfortschritte. Der Sonntag als Ruhetag mit jener Farbenschwelgerei wurde eine wirksame Erholung! Hier tauchten ganz andere Probleme der Farbgebung auf als in der Heimat. Vor allem beunruhigte mich lange das überhelle Licht, das sich auch durch die Kontraste nicht bändigen lassen wollte. Es war doch kein Kunststück, Morgenund Abenddämmerungen ohne direktes Sonnenlicht zu malen, so schön die Farben auch sein mochten. Nein! Wir erleben doch auch den viel, viel länger sengenden Tag mit dem 76
prallen Sonnenlicht (Abb. 13)! Wie macht man das? Die meisten Orientmaler scheitern bei diesem Versuch. Mir gelang es, wie ich glaube, nur ganz selten. Akademisch geschulte Maler würden anders gemalt haben. Meine Malereien sind liebhaberisch entstanden und haben hie und da Dilettanten-Wert. Freuden und Leiden des Künstlers stecken aber doch in ihnen. Das kann ich ehrlich behaupten. Meine Erfahrung mit den störrischen Dattelpalmen muß ich noch anfügen. Diese Pflanze — es ist nämlich kein Baum, auch wenn sie 20 und mehr Meter hoch wird — führt den Maler zwingend wieder ins Zeichnerische. Sie aus der Farbe allein zu entwickeln, führt unweigerlich zu einem Wischiwasdii und gibt weder ihr Wesen, noch ihre Erscheinung wieder. Will man also nicht „gegenstandslos" oder „abstrakt" darstellen, so muß man sich schon bequemen, sorglich und geduldig Wedel zu malen mit allen ihren feinen Blattrispen, also Pinselzeichnung (Abb. 14 u. 15). Wenn man vier Jahre lang unter Palmen lebt, sie knospen, blühen, fruditen sieht und endlich von ihren süßen Früchten lebt, fühlt man sich als Maler verpflichtet, sie ehrlich und nicht karikiert oder verstümpert darzustellen. Man lernt, sie ehrfürchtig zu betrachten. Man weiß, welcher Pflege sie bedürfen und wie reich sie diese Pflege dem Menschen lohnen, man versteht, weshalb die Menschen des Altertums sie beinahe göttlich verehrten und in ihre Symbolwelt einbezogen wie kaum eine andere Pflanze. Es würden schlechte Lehrjahre in Babylon gewesen sein, wenn ich nicht gelernt hätte, „flügge" zu werden, d. h. midi selbständig im Lande und in der Arbeit zu bewegen. Ich weiß nun, warum Koldewey mich im Anfang so unberührt von allen „guten Lehren" und Unterweisungen ließ und mich sozusagen als Nichtschwimmer ins tiefe Wasser stupste. 77
Es hat jedenfalls gutgetan, dieses „Freilassen". Man lernt das erst später einsehen. Ich habe beobachten gelernt und konnte nun in der Forschung wenigstens paddeln, wenn auch noch nicht kunstgerecht schwimmen. Beim täglichen Aufnehmen des Stadtgebietes hatte idi, nachdem wir auf dem Kasr den ersten babylonischen Tempel gefunden und ausgegraben hatten, in einem der vielen alten Raublöcher etwas beobachtet, das mich freudig ersdireckte und mir Mut gab, Koldewey zu melden: „Ich habe einen Tempel gefunden." Die sofortige Okular-Inspektion verscheuchte die Skepsis Koldeweys. Der Tempel wurde ausgegraben und heißt nadi der darin gefundenen Inschrift Epatutila, Tempel des Gottes Ninurta. Noch etwas anderes hatte ich bei Koldewey gelernt: die Oberfläche unserer so prosaischen Ruinenhügel so darzustellen, daß sie plastisch vor dem Auge des Betrachters zu liegen scheinen, nämlich immer so, als seien sie von der Sonne aus Südosten beleuchtet. Von den Fernerstehenden ist diese Finesse oft genug für überflüssig oder gar für skurril erklärt worden. Uns erschien sie notwendig, denn diese Oberfläche der Erde galt uns als der letzte, eben der heutige Ruinenzustand von Babylon. Das Wesentliche bei diesen Gelände- und Bauwerk-Aufnahmen nach Koldeweyscher Art ist nicht das Schattieren, sondern das Zeichnen vor der Natur, also nicht am Tisch zu Hause, wo man nur die trigonometrischen Festpunkte aufträgt. Alles andere wird draußen vor dem Objekt zu Papier gebracht. Das ist die einzige Methode, alle Fehlerquellen zu vermeiden, die entstehen müssen, wenn man „Skizzen" von draußen mitbringt und zu Hause „einträgt". Wir haßten geodätische Isohypsenpläne und schattenlose, wenn auch noch so „steingereciite" Ruinendarstellungen! 78
Da wir alles in unser trigonometrisdi bestimmtes Gradnetz eingepaßt hatten, konnten dann die Ausgrabungen in dieses Oberflädienbild an der richtigen Stelle eingetragen werden. Da erschienen dann zumeist Gebäudeteile. Auch diese erhielten in der Darstellung die Südost-Beleuditung und warfen Schatten von der Länge der Gebäudereste-Höhe. Wer sich in diese fest angenommene Methode hineingesehen hat, braucht nicht erst lange zu rechnen, sondern überschaut die Situation mit einem Blick. Bei allen deutschen Ausgrabungen im Irak ist diese Methode seither beibehalten worden.
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AUS DEM LEHRLING WIRD EIN GESELLE
Die zweite Jahresfeier des Grabungsbeginnes kam heran. Auch das zweite Lehrjahr war zu Ende. In der Heimat hätte ich nun meine Regierungsbaumeister-Prüfung ablegen müssen. Hier in Babylon gab es andere Formen und Fächer der Prüfung. Ich näherte mich der Vollendung des vierten Lebensjahrsiebents. Das Leben hatte also alle Ursache, eine Reifeprüfung für das 27./28. Lebensjahr zu verlangen und nachzusdiauen, wie es mit meinem selbständigen Beobachten und Denken, mit meinem Mut und mit meiner Entschlußkraft bestellt war. So kam es zu Ende März 1901 zu meiner ersten selbständigen Reise nach Südmesopotamien, von der in einigen Briefen berichtet wird: „Gestern bin ich von meiner mesopotamisdien Erholungs-, Studien- und Forschungsreise wohlbehalten und braungebrannt zurückgekommen, genau nach 10 Tagen. Es war die höchste Zeit, ich hatte es genügend satt, die Gelder waren alle und der Schmutz schiditenweise auf der H a u t abgelagert, dem Mukari seine beiden Klepper müde, abgesdiunden und hinfällig, ich selbst etwas ausgehungert und mein abgedankter Mukari bockbeinig geworden. Freilich, aus der großen Rundreise, die ich beabsichtigt hatte, ist nichts geworden, und zwar mußte ich die Reise aus dem Grunde abkürzen, weil sich in Diwaniye die türkische Regierung hindernd in den Weg stellte. D a ich genug Humor besaß, diesen Stein des Anstoßes als gute Lehre für ein nächstes Mal aufzufassen, so fiel mir der Entschluß nicht weiter schwer, für dieses Mal mich mit dem nun folgenden zu begnügen. Ich zog also am 26. März mit zwei Saptiyes und dem 80
Abb. 14. Der Euphrat in Babylon
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. Abb. i j . D e r E u p h r a t bei Babylon
Mukari los, ritt ein abgeschundenes Maultier, der Mukari eine gleddie Mähre von 15—23 Jahren, die ihr Besitzer aber für 3jährig ausgab. Schon nadi einer halben Stunde gingen die Differenzen los, indem die Saptiyes energisch verneinten, daß der Weg nach Niff er auf unserer linken Seite des Euphrat möglich sei, weil allerlei böses Volk sich da herumtrieb und sie für meinen Schutz nicht garantieren könnten. Die Sadie liegt aber tiefer, sie sind jedenfalls von oben angewiesen worden, daß idi dort nidit hin sollte. Der Grund war auch bald ersichtlich. Ich also, um's kurz zu machen, fügte mich für diesmal, ohne mich weiter aufzuregen, nur den 2tägigen Zeitverlust verwünschend. Hille durdiritt idi ohne Aufenthalt, den die Saptiyes wie alles arabische Volk bei jeder größeren Ansiedlung für durchaus nötig halten, während ich ihn durchaus hasse. Meine bewährte Praxis war dann, ruhig ohne die Betreffenden weiter zu reiten und sie dann nachsetzen zu lassen, so daß ich wenigstens ohne Verlust an Zeit blieb. Kommen mußten sie ja, schon wegen ihres Befehls und des Bakschisch. Die erste Klippe war also überwunden. Der Weg bis Imam Dschasim, halbwegs zwischen Hille und Diwaniye, welches der Sitz des Mutessarifliks ist, dem der Kaimakam von Hille untersteht, führt glatt und gerade, lange Zeit durch Palmengärten und Palmenhaine, Felder und überbrückte Kanäle, bis die Gegend ziemlich wüst wird, je weiter man vom Euphrat abkommt, der hier einen Bogen madit. Imam Dschasim ist eine kleine Moschee mit ein paar Häusern und einem Kaffeehaus, die meist als Absteigequartiere dienen. Die Kuppel liegt hoch und ist lange und weithin sichtbar, der Aufenthalt und das Nachtquartier so angenehm und komfortabel wie in allen orientalischen Dörfern, auf unergründlichem Mist, in einem Fitz von Eseln, Maultieren und Pferden, fluchenden Soldaten und schreienden Arabern, dazu die obligaten 81 6
Andrae
Flöhe. Ich hatte midi auf einer langen Sitzbank des Kaffeehauses häuslich eingerichtet, d. h. in vollem Anzug und ein Bündel Decken unter dem Kopf, war aber nicht imstande, einzuschlafen, da die Flohangriffe trotz energischer Insektenpulverdefensive nicht abzuschlagen waren. Der schönste Moment einer solchen Lage ist, wenn es anfängt zu grauen, d. h. wenn man daraus fort kann. Die übrigen Sdiläfer haben es meist genau so eilig, fortzukommen. Man bricht mit einem Gläschen persischen Tees im Magen bei völliger Dunkelheit auf — das ist die schönste Tageszeit zum Reiten. Man sieht es im Osten allmählich heller werden, rote Streifen kommen u. s. w., alle Phänomene eines Sonnenaufgangs, der hier ja stets in einer mathematisch horizontalen Linie erfolgt. Die Sonne erscheint zunächst in den merkwürdigsten Formen, als Strich, "Wurst, Ei, Rübe, zwei Eier, Dreierbrot und endlich als normale Sonnenscheibe; das mag an Luftspiegelung und Dunst liegen, man kann es jeden Tag beobachten. Der zweite Tag brachte midi nach Diwaniye. Der Weg ist Wüste, obwohl auch noch mitunter einige Felder passiert werden; je näher an Diwaniye, desto öder. Das Land liegt nur einige Zentimeter hoch und kann bequem bewässert werden, es bleibt aber bradi liegen. Der erste Meftul wurde gesichtet am Ufer; was das ist, sollt Ihr noch hören. Diwaniye erreichten wir gegen Mittag, ein paar Häuser rechts, das Gros links des Euphrat, eine von den wundervollen Pontonbrücken, die man ihrer allseitig krummen Beschaffenheit wegen gar nicht ansehen kann, ohne schwindlig zu werden, verbindet beide Ufer, d. h. die Dsdiezire (Insel zwischen Euphrat und Tigris) mit der anderen Welt. Ich stieg im neuen Chan an der Brücke ab, wo ich ein leidliches Zimmer im oberen Stockwerk erhielt mit schönem Blick auf Brücke und Euphrat. Die Malerei war nicht einfach, weil 82
man fortgesetzt gestört wird durch neugierige Türken oder Araber, oder der Schweiß trieft, die Fliegen krabbeln auf der Nase und in den Farben, oder der heiße Wind dörrt Papier und Pinsel. Kunst mit Hindernissen! In Diwaniye begab ich mich ins Serail, fünf Schritt von meinem Chan. Der Mutessarif, den wir von einem Besuch in Babylon her kennen, war nicht da; ein K a d i sein Stellvertreter. Es war ein unhöflicher Patron, ich hätte blind sein müssen, um nicht zu merken, daß etwas nicht in Ordnung sei. Ich war ohne Extrapaß oder Erlaubnis gereist, nur nach Mitteilung an unsere vorgesetzte Behörde in Hille, die hätte mich ja hindern können, sie hatte mir aber zwei Saptiyes mitgegeben, die Reise also gebilligt. Der K a d i behauptete aber, ich könne so nicht weiter, sie müßten erst in Bagdad anfragen, was mit mir los sei, gar ein Spion! Abends 9 Uhr wurde mir dieser Amtsbeschluß von einem französisch radebrechenden Hauptmann mitgeteilt, und ich machte mich auf einige Tage Aufenthalt gefaßt, nach allem, was ich vom türkischen Amtsverkehr wußte. Meine Wut behielt idi für mich, es hätte nichts geholfen. Am anderen Morgen ließ ich nur den Telegraphenbeamten wecken und setzte Telegramme an Koldewey und unseren Konsul auf. Sie kamen jedoch nicht zur Beförderung, da im selben Moment von Bagdad der Befehl an die Polizei kam, mir sofort und schleunigst die nötigen Saptiyes zu geben und alle Schwierigkeiten bleiben zu lassen. So konnte idi also vormittags 10 Uhr nach Niffer aufbrechen. Bei Diwaniye war gerade die Steuereintreibung in Aktion, und zwar bei den ziemlich freien Araberstämmen der Dschezire, wie den Afedsch etc., die um Niffer herum in den Hors (Sümpfen) sitzen. Eine starke Abteilung Infanterie und Kavallerie mit einem Kruppschen Feldgeschütz bildet die 83
Steuerkommission. Sie waren kurz vorher in Suk el Afedsch, meinem Ziele, gewesen, und wir gingen auf den Spuren der Kanone durch die Wüste. Es ist öfter nötig, daß den zahlungsunwilligen Scheichen ihr Meftul (Festung) eingeschossen wird, damit der Sultan zu seinem Gelde kommt. Dieses Letztere ist wohl audh das einzige Bindeglied der Untertanen zu ihrem Herrscher. Meftuls nennen die Araber ihre festen Burgen. Sie wohnen ja da unten allesamt nur in Srefen, d. h. Hütten aus Schilf oder Schilfmatten. Kommt ein feindlicher Angriff des Nachbarstammes oder der Regierung, so geht die waffenfähige Mannschaft, also alles Männervolk, in den Meftul, der meistens weiter nichts ist, als ein innen hohler runder oder eckiger Turm aus Lehm mit einer ungeheuren Anzahl von Schießscharten nach allen Richtungen hin. Zugänglich ist er durch ein kleines Loch am Boden, eine schmale Treppe führt zur Schießgalerie und der Zinne. Die ganze Gegend ist gespickt mit solchen kriegerischen Bauten. Übrigens ist das Land reich, die Sümpfe geben Vegetation, selbst da, wo sie nicht hinreichen. Man reitet sieben Stunden bis Afedsch, fast immer durch Tamarisken und Akaziengebüsche, die Srefendörfer wimmeln von Schafherden, die bis an die Zähne bewaffneten Hirten sind überall zu sehen. Die Hors sehen dunkelgrün von dickem Schilfrohr aus; manche Ansiedlungen haben auch Palmen, so Suk el Afedsch, das ich für größer halte als Diwaniye. Dort sitzt der beinahe unabhängige Scheich Hadschi T a r f a ; es ist das Zentrum für die mächtigen Afedsch-Araber, ziemlich wilde Gesellen. Untereinander haben sie fortwährend Mord und Totschlag um Kleinigkeiten. Einen Leichnam brachte ein Mann, den wir unterwegs trafen. Er hatte seinen Bruder im Streit wegen eines Fisches erschossen! Die Gesichter dieser Menschen sind furchtbar verschmitzt oder schauderhaft finster, harmlose 84
habe ich nicht beobachten können. Das ist das Volk, mit dem sidi die Amerikaner bei der Grabung in Niffer (Nippur) herumzuschlagen haben. Ich war in Suk el Afedsch, wo ich mit Sonnenuntergang des dritten Tages ankam, gut aufgehoben im Meftul des stellvertretenden Mudirs (eines türkischen Verwaltungsbeamten, der wohl mehr pro forma dasitzt). Er hieß Sejid Nedschim Effendi und war liebenswürdig und sehr gastfrei, brachte eine wahrhaft glänzende Abendtafel fertig und bettete mich weich, wenn audi mit Flöhen, die ja hier im Lande keine Schande sind. Wir fuhren am anderen Morgen in einem Meschkof, d. h. einer reichlidi mit Asphalt verklebten Holzgondel, 1 V2 Stunden durcli Sümpfe nach Niffer. Originell ist, daß das Wasser verschiedentlich gestaut wird für die anliegenden Reisfelder, so daß man durch Stromschnellen rutschen oder klettern muß. Die Araber haben kleine Einmannboote — redite Seelentränker aus Schilf und Asphalt —, damit flitzen sie zwischen dem Schilf herum, schießen Vögel, Fische oder Menschen oder vergnügen sidi sonstwie. Wenn irgendwo Land ist, dann steht es gerade 1 cm über Wasser, und dann sind die Dörfer darauf oder ein Meftul. Wasservögel gibt es die Hülle und Fülle, ein zoologischer Garten. Reiher, Adler, Enten, Schnepfen und storchähnliche Vögel sind am häufigsten. In Nippur wurde gerastet im Schatten des amerikanischen Expeditionshauses, im Stile des Landes: Ein großer Meftul ohne jegliches Fenster, als Haus sehr klein, es muß schrecklich darin sein, vor allem im Sommer. Wir wohnen dagegen in Babylon wie im Himmel. Es war zugemauert, da Dr. Hilprecht erst in diesem Herbst wieder herkommt. Sie haben zwei Gärten und sonst keine Nebengebäude. Nippur, so hieß im Altertum Niffer, war sehr beträchtlich, die Ausgrabung hat dreizehn Jahre gewährt. 85
freilich mit vielen und langen Unterbrechungen. Es ist aber viel getan worden, vor allem am Tempel. Ein großer Stufenturm ist ziemlich gut erhalten; mich interessierte das Architektonische, wovon gar nidits publiziert ist, was aber auch schwer zu rekognoszieren war, wenn man den Gang der Grabung nidit kennt. Ich bin daher zum Entsetzen der Begleiter sehr lang in den Ruinen herumgeklettert, sogar nachmittags trotz größter Hitze und brennenden Samums nodi einmal um die ganze Grabung herumgelaufen. Die nädiste Nacht war ich wieder in Suk el Afedscii, diesmal infolge energischer Verwendung von Insektenpulver tadellos schlafend. In Begleitung des Sejids und eines Verwandten von ihm mit grünem Turban und einem aus zwei Damen und zwei Kindern bestehenden Harem ging es am anderen Morgen nach Diwaniye zurück. Noch immer war ich der Gast meines Wirtes, der es für Schande angesehen hätte, wenn ich mich in Suk irgendwie selbständig gemacht haben würde. Der Weg ist nicht ganz einfach, es sind verschiedene Sumpfflüsse zu passieren, wozu die Pferde abgesattelt werden und schwimmen müssen. Es gab jedoch Guffen zum Übersetzen; nur auf dem Hinweg fehlte einmal eine, da wußten sich die Leute zu helfen, ein Bündel Schilf wurde aufgefischt und mit einem rasch gedrehten Schilfseil umschnürt, das war das Fährboot. Am folgenden Morgen zog ich ab nach Westen bis Hamadije. Es geht durch recht sumpfige Gegenden und ist manchmal ziemlich wässerig. Hamadije selbst liegt auf Wasserniveau, besteht aus Schilfhütten und hat nur ein Regierungsgebäude und ein Kaffeehaus aus Ziegeln. Über den Flußarm, genannt Hamidije, führt eine Schiffsbrücke. Da der Weg hier aus war, mußte ich, um wieder nördlich zu kommen, eine Tarade, eine aus Holz und Asphalt ge86
baute Gondel, besteigen. Es ging stromaufwärts mit Staken und Trekken, langsam mit öfterem Festsitzen im Schlamm, so daß ich nach 6 Stunden in Abu Sdiure ankam, wo ein Mudir sitzt. Unterwegs gab's nichts zu essen, daher war der Hunger groß. Im H o f e des Mudir unter freiem Himmel und auf bloßer Erde wurde geschlafen. Frühzeitig ging ich ab nach Kufa, wo es auch noch Wasser genug gab, die ganze Gegend ist Feld und Garten; es wird viel Reis gebaut. K u f a war alt-arabisch eine große Stadt, lange Zeit Kalifen-Hauptstadt, jetzt ist es nur ein Dorf, aber mit einer hohen, quadratischen Mauer mit runden Türmen. Es ist die Grenze der freien Wüste, daher die Befestigung! Von hier nachNedschef (Abb.l6) geht es etwa lV2Stunden lang über reinen, wüsten Kies, wo jetzt etlicher verdorrter Frühlingspflanzenwuchs sichtbar war. Nedschef liegt von getürmter Festungsmauer umgeben und besteht aus einem Gewirr von Gäßchen um das gold- und fayencestrotzende Heiligtum herum. Ich war ungeschickt genug, mich nicht gleich beim türkischen Kaimakam zu melden, und wurde zunächst in ein „Privatquartier" abgeladen. Daher weiß idi nun, was einen ehrlichen Pilgersmann erwartet, wenn er in Nedschef Quartier braucht. Man führte mich in eine allerengste Gasse voller abseitiger Gerüche. Die Haustür reichte mir etwa bis in Kniehöhe, man stieg sechs Stufen zurSdiwelle hinab, was ich ohne Staunen tat, da ich schon wußte, daß es im alten und neuen Orient keine Müllabfuhr gibt, weshalb die Straßen immer höher werden, aber nicht das Innere der Häuser. Dann ging es eine leiterartige Stiege zur ,Bel Etage' hinauf. Das Möblement des Salons daselbst bestand aus einem Haufen sehr schmutziger und zerrissener Steppdecken, und ein glasloses Fenster ließ einen Hof von der Größe eines Lichtschachtes erblicken. Als WC wurde auf das oberste 87
Dach verwiesen, das sich auch als solches bewahrheitete und wohl schon seit Jahrhunderten so benutzt worden war. Kurz: Es packte mich das Grausen, und ich folgte behende dem Boten des Kaimakam, der natürlich schon längst durch seine Stadtspione erfahren hatte, daß ein ,Frengi' durch sein einziges Stadttor eingeritten war. Er lud mich denn auch ein, in das einzige saubere Gastzimmer von Nedschef einzuziehen, was ich um so lieber tat, als es die beste Aussicht bot. Es lag nämlich über dem Tore. Durch die Fenster nach außen schweifte der Blick die unendliche Pilgerstraße zum Hindije zurück, auf der jahraus, jahrein die Totenprozessionen von weither, aus dem hintersten Persien, aus allen schiitischen Bereichen kommen, wenn sie nicht zeitweise von den türkischen Behörden wegen Seudiengefahr unterbrochen werden. Dieser Leidienstrom fließt auf unzähligen Wegen an der persischen Grenze bei Kasr-i-Shirin oder Chanikin zusammen, um sich dann nach Bagdad, Babylon, Hille, Kerbela und Nedschef fortzuwälzen, geräuschlos, unfestlich, armselig. Die Leichen werden ohne Sarg, in Filzdecken oder Teppiche gewickelt, mit Holzstäben und Seilen verschnürt, wie gewöhnliche Traglasten an dem Packsattel der Tiere befestigt. So schaukeln sie durch die endlosen Steppen, Wüsten, Bergpässe herüber, um an den heiligen Stätten in heiliger Erde bestattet zu werden. Nun sah ich vom Fenster aus, wie die Totenprozession sozusagen vom Erdboden verschluckt wird: möglichst nahe den Grabstätten der heiligen Nadikommen des Propheten. Nach dem Stadtinneren zu sah man den Eingang der finsteren Bazarstraße bis zur goldenen Ali-Kuppel und die beiden goldenen Minare aus nächster Nähe, was ich denn flugs aquarellierte. In den Bazar konnte man zwar nodi eindringen, der Moscheetür aber sich als Europäer zu nähern, war nicht rat88
sam. Finstere, fanatisierte Augen blickten unter dunkelgrünen Priesterturbanen hervor, die gleichsam den Eingang unter Kontrolle hielten. Dort erstand ich aber einen schönen Teppidi. Von Nedsdief nach Kerbela ist es ein Tagesritt längs des Hindije. Der weitere Weg in den Gartenniederungen von Kerbela gibt einen schönen Kontrast gegen die trostlose Wüste von Nedschef. Aber auch in Kerbela hat es Tote in jenem Glaubensstreit gegeben, in dem es um die rechte N a d i folge des Propheten, das wahre Kalifat, ging und den die Sünna gewann. In der ebenfalls geheiligten Stadt gibt es drei große Grabmoscheen für Hussein, für Hassan und für Assad. Alle drei tragen große Fayence-Kuppeln und haben ebenso schöne geschmückte Gebetsrufer-Türme, die man Minare zu nennen pflegt. Ich glaube nicht, daß der gläubige Schiit die Wahl eines Begräbnisplatzes abhängig macht vom Vorhandensein schöner Gärten oder der dürren Wüste. Er wird wohl mehr in der Nähe der Gottesstreiter begraben sein wollen, deren Namen er trägt oder mit deren Taten er sich besonders verbunden fühlt. Über Mussejib, wo der Hindije vom Euphrat abzweigt, kehrte ich nach Babylon zurück. Um 9 Uhr war ich zu Hause, schneite herein zum Frühstück und wurde mit Glanz empfangen. Aufgeatmet habe ich hörbar! Es ist doch hier und hierherum am schönsten in Mesopotamien, so weit idi es bis jetzt kenne. Es gibt alle Bequemlichkeiten, die Schmutzkruste von 10 Tagen wird abgescheuert, das erste Glas Bier nach schmutzigem Sumpfwasser, haariger Buttermilch und mißlungenem Tee, das erste Ausstrecken auf flohlosem Bette! Von der ganzen durchmessenen Strecke habe ich eine genaue Route gezeichnet, d.h. mit Uhr und Kompaß; die 89
Bootsfahrten störten etwas, weil sich da die Geschwindigkeiten nidit gut feststellen lassen, die Karawanengeschwindigkeit ist dagegen sehr regelmäßig. N a d i meiner Berechnung habe ich 6 km die Stunde gemacht, d. h. reine Bewegung, ohne Aufenthalt. Das geht bei so wenig Gepäck und Tieren, wie ich hatte; größere Karawanen gehen bedeutend langsamer." — Der heiße Sommer verging in strenger Arbeit. Audi in diesem Jahre wurde keinen Tag mit den Grabungsarbeiten ausgesetzt. Aber es ließ mir keine Ruhe, daß ich auf der Reise nach dem Süden die Ruine von Birs nicht hatte besudien können. Dieser Ausflug wurde nachgeholt und ist in dem folgenden Brief geschildert: „Wegen der vielen Besuche machte ich midi am Sonntag aus dem Staube. Ich unternahm eine kleine Sonntagspartie mit iVi Stunden Reiten und 3stündigem Kraxeln. Ich hatte nämlich diesmal offiziell durch den Konsul um Erlaubnis bitten lassen, die Ruinen von Borsippa, das heutige Birs, besuchen zu dürfen. Das ist sogar über Konstantinopel gegangen und bewilligt worden; freilich mit der Klausel, daß ich nur mit den Augen, nicht aber mit dem Bleistift oder sonstigen gefährlich-künstlichen Instrumenten genießen durfte. Ich bekam in Hille, wo ich den neuen Kaimakam besuchte, einen Beamten mit, der über meine Wege zu wachen hatte und das auch tat; außerdem zu den unsrigen noch einen bewaffneten Polizisten, während ich als Gehilfen zwei unserer Araber auf Eseln mit hatte, die festlichen Waffenschmuck trugen, jeder Doppelflinte, Doppelpistol, Dolch und Keule. Wir hätten es mit hundert Feinden aufnehmen können, wenn weldie dagewesen wären. Ich war zu Mittag in Birs und bin dann in der Ruine herumgekroclien. Es ist der Tempel Ezida und der Stufenturm E-uriminanki, daneben 90
der Wohnhügel Ibrahim ihn Chalil, nach einem kleinen Kuppelgrab so benannt. Der Tempel ist von Rassam vor etwa 20 Jahren ausgegraben, war daher gut zu sehen, der Turm ist noch heute sehr beträchtlich, in der Hauptsache pyramidal durch die nivellierenden Halden. Auf der Spitze steht noch ein großes Ziegelstück von ca. 15 m Höhe, dessen Spitze etwa 90 m über der Ebene liegt. Oben hätte man eine wundervolle Aussicht, wenn da was zu sehen wäre. Es ist aber alles eben wie ein Tisch, auf der Nordseite Sumpf, sieht aus wie ein großer See, manchmal einige Palmenhaine, sonst ist der Horizont gerade wie ein Lineal und der Himmel wie eine tadellose Glocke. Gegen 8 Uhr abends war ich wieder in Babylon." — Einen Monat später, Ende November, zog Koldewey nach Birs, um dort eine neue Grabung zu beginnen — aber die Erlaubnis aus Konstantinopel ließ auf sich warten. Nach 2 Wochen vergeblicher Anwesenheit in Birs kehrte er nach Babylon zurück. Erst im Februar 1902 wurde endgültig mit der Untersuchung von Birs begonnen. Es war für alle eine anstrengende Zeit, in Babylon wie in Birs, da an beiden Stellen sozusagen eine „Einmann-Grabung" von einem einzigen Leiter zu beaufsichtigen war. Der Herbst brachte kaum Regen, Mensch und Tier hungerten und litten Not. Die Briefe vom 2.12.1901 bis zum 6. 1.1902 spiegeln diese Zustände: „Babylon, den 2. Dezember 1901. Seit Dr. Koldewey in Birs ist, um dort die Grabung durchzusetzen, geht es hier etwas turbulent zu, denn ich habe die Geschäfte Dr. K.s mit zu besorgen. Bis jetzt wird wegen Birs immer noch hinund hergeschrieben und telegraphiert, und die Grabung ist noch nicht im Gange. Es läßt sich also darüber noch nichts berichten, als daß Dr. K. auf der Ruine in Zelten sitzt und 91
sich sdirecklidi langweilt, aber das gehört dazu. Bis jetzt hatten wir wenigstens ideales Wetter, das sidi aber vielleicht ändert. Seit gestern ist Staub wind und die Luft dunstig. Vielleicht gibt es Regen, der sehr erwünscht ist, denn bis jetzt ist noch keiner gefallen, und die Wüstenaraber verschleudern schon ihre Schafe, die nahe am Verhungern sind. Die hiesigen Araber, welche reicher sind, kaufen sie um Spottpreise, mäßig große z. B. für 1 M das Stüdi, während sonst der Preis 20—30 M ist. Alles wird teurer." — „Was bin ich froh, daß ich hier die Anstrengungen des Winters in Europa durch Tanzen, Essen und Trinken nicht kenne, das ist doch eigentlich eine schreckliche Zugabe der Zivilisation! Mir graut davor am meisten für später, da idi hier die einfache Lebensweise der ,Unzivilisierten' kennenund schätzien gelernt habe. Alkohol ist uns nur noch eine Arznei. Übrigens ist diese Bedürfnislosigkeit im Grunde eine große Erleichterung, man erspart sich allerlei Mühe und Ärger, die andere aufwenden müssen, um alle ihre feineren Begierden zu befriedigen. Wegen meiner macht Euch nicht zu viel Gedanken, der jetzige Zustand wird ja doch vielleicht für eine lange Zeit der normale, und wir müssen uns daran gewöhnen, uns auf unsichtbare Weise lieb zu haben." — „Babylon, den S.Dez. 1901. Seit idi vor 8 Tagen schrieb, hat sich einiges geändert. Regen ist gefallen, zwar nicht viel, aber ein heftiger Guß mit Gewitter, der allerdings noch nicht viel genützt hat. Dr. Koldewey hat in Birs in den Zelten gesessen, als es um den alten Turm gekracht und geblitzt hat, daß man sein eigenes Wort nicht verstand, dazu der Wind, das Klopfen des Zeltes und das Schwirren des Regens! Dr. K. ist übrigens vorgestern hierher zurückgekommen, hat aber alle Sachen in Birs gelassen nebst sechs Wächtern, einem Dragoman, den er sich durch Konsul Richarz 92
hatte kommen lassen, dann unseren Eisenbahnbauer, den Schmied Rasuki sowie einen Koch, Diener und Wassermann. Sie langweilen sich dort mitten in der Wüste, wo nur ganz am Horizont Palmen zu sehen sind. Arbeit gibt es nicht, da die Genehmigung zur Grabung aus Stambul noch nidit eingetroflFen ist, aber sicher erwartet wird. Idi bin sehr begierig auf Birs seit meinem Besudi, und noch mehr, seit Dr. Koldewey jetzt Gelegenheit gefunden hat, es etwas eingehender zu betrachten. Es ist dort viel für uns zu erwarten, mit ziemlicher Leichtigkeit und nicht allzuviel Kosten. Genaueres kann ich jetzt noch nicht sagen, mache mir aber ziemlich genaue Aufzeichnungen. Wenig vertrauenerweckend waren die Wächter, die Dr. Koldewey von Hille bekommen hatte, vier Araber, die offenbar Leute von Antiquitätenhändlern in Hille waren, was aber Koldewey vorher nicht wußte. Diese veranstalteten nächtlicherweile dicht beim Zelt Koldeweys Ausgrabungen und schienen so viel Erfolg zu haben, daß sie sich audi durch heftiges Scharfschießen nadi ihrem Loche hin nicht abhalten ließen. Wahrscheinlidi hatten sie schon vorher an dieser Stelle gearbeitet, und es sollte nun, bevor dieser sdieußliche Alemani die Sadie stoppte, der Ort nodi möglichst ausgebeutet werden. Dr. Koldewey hat sie arg verhauen, und trotzdem sind sie nicht gegangen; erst als sechs handfeste Kerle von unseren Arbeitern hingeschickt wurden, entwichen sie. Diese Sechs versehen jetzt den Wachtdienst, haben sich oben an dem Turm und an den Zugängen in kleinen Löchern postiert und unterhalten nachts kleine Glimmfeuerdhen aus Schafmist. Dr. K . will sich jetzt wieder etwas an Arbeit erholen, die ihm dort gänzlidi fehlte. Es geschieht übrigens alles instruktionsgemäß nach Weisung der Botschaft in Konstantinopel." — 93
Die Erlaubnis zur Untersuchung von Birs ließ auf sich warten. Im Februar schrieb ich nach Hause: „Bis jetzt haben wir noch keinen Regen gehabt, und das ist wirklich eine Kalamität, vor allem für die Herden, die kein Futter finden, und wegen der Teuerung von Getreide und Stroh. Wir zahlen dafür jetzt doppelte Preise. Sehr lehrreich ist mir dabei die Äußerung des unbedingten Gottvertrauens bei den Moslims. Wir würden in solchen Fällen mit dem Schicksal hadern — und tun es auch, wenn immer blauer Himmel ist und die paar Wolken ohne zu regnen weiterziehen. Der Gläubige dagegen überläßt alles der Fürsorge Allahs. Allah wird es regnen lassen, wenn er will; will er nicht, so ist es eben sein Beschluß, und damit hat es sein Bewenden. Man hört auch keine eigentlichen Klagen über die Teuerung. Allah wird sie schon wieder abwenden. Wie ist dagegen das Gottvertrauen eines ,gläubigen' Christen bestellt? Man verdammt immer den islamischen Fatalismus, aber hier ist er sehr gut. Wir verbittern, wenn uns der Himmel andauernd seine Gnade verschließt, der Gläubige ( = Moslim) bleibt auch dabei froh. Ihm ist Gott, und er ist der alleinige Herr, der zu bestimmen hat ganz nach seinem Willen. Ihm unterwirft er sich ganz selbstverständlich, so wie sich der Araber einem Scheich unterwirft oder der jüngere Bruder dem älteren. Wir dagegen fühlen uns freigeboren und befähigt, gegen diese Allmacht oder das Sdiicksal oder wie es sonst genannt wird, anzugehen, wie Ameisen gegen den zutretenden Menschenstiefel. Wer hat nun das bessere Teil erwählt? — Ich habe das Zeug zum Pastor, wie? Halte auch jetzt manchmal Bibelstunden, freilich nur jüdisch-alttestamentarische. Die Bibel ist für uns ein hochinteressantes Buch, weil wir ihren Geist erst durch hier gesammelte Erfahrungen richtig verstehen. Die Verwandtschaft dieser Semiten mit den Juden 94
ist doch so nahe, daß sie überall durchscheint. Auf Babylon, Ninive, Susa Bezüglidies kommt ja in der Bibel genug vor, aber unser technisdies Interesse wird geweckt, fürnehmlich durdi die salomonische Tempelbeschreibung, die gewiß durch unsere neuesten Funde und Ermittlungen eine bessere Beleuditung erhalten wird, wenn sie auch vielleicht noch nicht ganz erhellt werden kann. Jedenfalls ermöglichen unsere jetzigen Kenntnisse eine positive Anschauung über babylonischen und assyrisdien Tempelbau, welche die frühere ganz über den Haufen wirft. Wir arbeiten eben an diesen Darlegungen. Die assyrischen Tempel sind, obwohl sie längst bekannt waren, erst durch Koldewey als solche entdeckt, vorher gingen und gehen sie noch assyriologisch und kunsthistorisch als etwas sehr Wunderliches!"
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EIN KURORT FÜR NERVÖSE LEUTE
Endlich Ende Februar konnte ich nach Hause schreiben: „Dr. Koldewey gräbt nun seit einer Wodie in Birs. Gegenwärtig habe ich also in Babylon viel zu schaffen, weil unsere Arbeit eine große Anzahl emaillierter Ziegel herausbefördert, deren Zusammenstellung mir obliegt und die wieder drei ganz einzigartige Objekte ergeben werden. — Davon später! D a ich das alles allein tun muß — es sind täglich zwei bis drei große Kisten voll Brudistücke auszulesen, zu waschen und zu numerieren, dann zu gruppieren und in die Skizze einzutragen —, so nimmt es mir fast den ganzen Tag in Anspruch. Man kann das keinen anderen tun lassen. Aber trotz der Sdimutzerei ist es eine feine Arbeit wegen des Resultates! Sie bringt jeden Tag etwas Neues und größere Vollständigkeit bei der Zusammensetzung." — Und Anfang März: „Idi bin also wirklich letzten Sonntag nach Birs umgezogen, habe midi früh aufgemacht, mein Bett etc. gepackt und die Reiterstiefel angezogen, den Gaul gesattelt und dann los. Ich hatte unseren ständigen Boten Babylon—Birs mit, einen Normal-Araber namens Nasir, der unglaublich laufen kann, obwohl er nur aus Haut und Knochen besteht. Ferner hatte idi meine zwei Meßjungen Waui und Hamse mit, die sich schwer bewaffnet und mit Sonntagskleidern behangen hatten, weil sie in eine .fremde Gegend' gingen. Letztere brauche ich hier sehr dringend, weil sie eingearbeitet sind. Schließlidi war noch einer unserer Soldaten mit. Ich ritt durch Hille ohne anhalten, da wir jetzt den türkischen Statthalter, den wir sonst besuchen müßten. 96
schneiden. Er hat sich unfreundlich gezeigt, da er unsere Besuche nicht erwidert und auch sonst unser Mißfallen erregt hat. Um 11 Uhr war ich hier und fand Dr. Koldewey von der gesunden ,Landluft' sehr wohl, allerdings mit dem türkischen ,Aufsichtsbeamten' Nedschib Bey behaftet, der zwar nur ,ehrenhalber' Beamter des kaiserlichen ottomanischen Museums in Konstantinopel ist, aber nichtsdestoweniger recht eifrig beaufsichtigt, wie es uns scheint, hauptsächlich des Gehaltes wegen, das er von uns haben möchte. Wir bezahlen aber offiziell nur unseren Kommissar Bedri Bey, und so wird wohl Nedschib Bey tatsächlidi auch hier .ehrenamtlidi' arbeiten müssen. Koldewey und ich machten dann unsere Ablösungsrunde durch die Grabungen, die am Sonntag stillstehen, und hielten ein feines Wüstenfrühstück im Zelte. Dann verabschiedete sich Dr. K., und ich begann mich in meiner Einsamkeit einzurichten. ,Der arme Junge', werdet Ihr ausrufen. Wenn Ihr bloß wüßtet, was f ü r eine feine Sache diese Einsamkeit ist! Sie ist nidit bloß besser als die Zweisamkeit mit einem sdimollenden, muffelnden Assyriologen, sondern sogar am besten. Noch hübscher wäre es, Dr. K. wäre nodi hier, aber das geht nun einmal nicht. Zu sonstigen sentimentalen Erwägungen ist auch verwünscJit wenig Zeit. Früh mit der Sonne geht die Arbeit los. Wir haben etwa 120 Mann hier, z. T. von weit her, dann nehme ich meinen Steh-Tee mit Zwieback und beginne herumzuturnen. Einer allein hat bei 12 Arbeitsstellen schon gut zu laufen; dann ist die Messerei, die einen auch hübsch in Bewegung hält, auch Bergpartien kommen dran; dann das vorläufige Auftragen der Maße und Skizzieren des Geländes, Fundbeobachtungen usw., die Arbeiterkontrolle nicht zu vergessen. Ab und zu ist ein kleiner Arbeiterstreit zu schlichten — so geht das bis 97 7
Andrae
Sonnenuntergang. Dann nehme ich ein Spar-Vollbad a la japonais, was ich von Dr. K. habe, es besteht aus einem nassen und einem trockenen Handtuch, sehr einfach, billig und angenehm! Dann kommt das Diner, das ebenso wie das Mittagessen von einem Hilleschen Koch ä la turka fabriziert wird, eine andere Sorte, als unser Koch bereitet, aber nidit übel. Es kommt dazu, daß man hier in der Luft einen wahren Löwenappetit hat und gräßliche Quantitäten sich einverleibt, so daß die Qualität meist in den Hintergrund tritt. Nadi dem Essen werden noch einige Anläufe zur Wachhaltung von Geist und Körper unternommen, durdi Zeichnen oder Briefschreiben, was aber in Anbetracht des genußreich verbrachten Tages nicht lange vorhält. Um V29 Uhr strecke ich mich gewöhnlidi in die Falle. Die Umgebung ist famos. Unsere vier Zelte stehen auf einem etwa 17 m hohen Plateau zwischen der Tempel- und der Turmruine, letztere erhebt sidi bis zu 60 m Höhe, also ganz imposant, und bildet eine mäditige Schuttpyramide. Schon vom Zelt aus ist eine sdiöne Aussicht nach NW, wo sidi das weite Wasser ausdehnt. Die Landschaft hat etwas ungeheuer Mäditiges im Maßstab, vor allem der kolossale Himmel, jetzt mit Wölkchen geschmückt, die sich auf NormalAquarellen älterer Richtung sehen lassen könnten. Das Hör sieht jetzt aus wie ein Meer, das andere Ufer ist winzig und durch die winzigen Details, welche die Palmen und die Schilfhütten der Araber bieten, wieder in das Unermeßliche vergrößert. Kleine Segelboote streichen darauf hin, grüne Saatfelder liegen drüben, und nach Westen zu sieht man Wasserstreifen des Hindiye-Armes, darüber den gelben Streifen der echten Wüste, in die man weit hineinsieht. Vom Turme aus sieht man Nedschef und Kerbela bei guter Beleuchtung 98
wie zwei goldene Sterne, und nach Osten ist der Euphrat die Grenze, also ein phänomenaler Rundblick! Am herrlichsten ist es abends nach getaner Arbeit, da lasse idi mir die Sonne untergehen und sitze auf meinem Stuhl vor dem Zelt, und nichts und niemand ist mir hinderlich. Man könnte überschnappen vor Freiheitsgefühl und Stolz! Der Farbenwechsel, der sich dann an Himmel, Wüste und Wasser vollzieht, ist wieder ganz einzig. Ist die Sonne weg, so beginnen drüben die Frösche ihre Schlafmusik, die Grillen zirpen, und ganz ferne bellt wohl manchmal ein Hund, aber sonst ist es stille — also ein Kurort für nervöse Leute! Unser nächstes D o r f ist etwa i H km von hier, es sind ein paar Palmen und die Wächter des heiligen Ibrahim el Chalil nebenan, sonst sieht man Ansiedlungen nur jenseits des Wassers. In unserer Kolonie halten sich auf: sedis Wächter, das sind starke Leute aus unseren Dörfern in Babylon, ferner der Dragoman des Deutschen Konsulats in Bagdad Naum Effendi, ein Bagdader Normalchrist, der türkisch, arabisch, englisch und französisch sprechen, schreiben und lesen kann und mir jetzt messen
hilft,
da
er auch
mathematisdi
gebildet ist, sdiließlidb der Koch, sein Gehilfe, ein Wassermann und sein Esel, der Zeltdiener namens Ali, ein kleiner Schammar, und schließlich der treue, aber noch junge Hund Barut, ein spaßhaftes Vieh mit kohlschwarzem Fell und ungeheuren weißen Pfoten. Die beiden Meßjungen haben sich natürlich ebenfalls hier eingebürgert. Nachts werden Posten aufgestellt und ganz militärisch abgelöst. Sie husten sich gegenseitig an, um sich wach zu halten, singen eintönige Lieder oder rauchen Nargile. Das ist so die allgemeine Stimmung. Die Grabung ist für uns interessant und bringt ihre Resultate. Das Hör wird immer größer, audi die Gegend im Süden wird zu Wasser." —
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Birs, den 14. März 1902. „Noch sitze ich im Zelt und denke, dies noch 8 Tage zu tun, bis das große Fest ist und Dr. K. mich voraussichtlich wieder ablösen wird. Wir haben was Tüchtiges gefördert, sowohl grabender als aufnehmender Weise. Das Wetter ist vorwiegend windig, einige Male war es sogar stürmisch. Wir hatten auch einige Nachtgewitter mit starken Regengüssen, die man dem Lande gönnen konnte. Im Zelte freilich war es oft ohrenbetäubend, und ein paar Mal wäre das ganze Dach davongegangen, wenn nicht noch rechtzeitig zugegriffen worden wäre. Da der Grund eine alte Lehmziegelschutthalde ist, so wurde alles pappig, und die Heringe (so nennt man die Pflöcke, mit denen die Taue am Boden befestigt werden) glitschten heraus. Die exponierte Lage und die Luftwirbel um den Turm herum machten es doppelt romantisch. Wenn dann das Gewitter herumrollert und es unaufhörlich blitzt, ist es sogar feenhaft. Es ist sonderbar, daß sich die Blitze immer oben herum aufhalten und daß man von einem Einschlagen gar nichts hört. Der Turm wäre dazu ja besonders geeignet. Es ist nur ein Glück, daß alles im Handumdrehen wieder trocken wird. Es genügt schon Vi Stunde Regen, dann ist alles Schlamm. Manchmal bin ich beinahe seekrank im Zelt, wenn alles wackelt und schwankt. Am Tage halte ich mich aber selten darin auf, und nachts habe ich zu schlafen. Sonst ist nichts Besonderes passiert, vielleicht, daß sich Koch und Wächter wegen der Anzahl der Brote oder der Menge des Reises einmal gezankt haben, wobei dann der erstere heulend und zähneklappernd zu mir gerannt kam und seine Not stammelte. Ein kleines Donnerwetter nach beiden Parteien hin ist gewöhnlich sehr wirksam und war es auch hier. So etwas gehört hier dazu." — „Jetzt ist das große Fest, es ist ganz groß, weil heuer Ge-
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burtstag des heiligen Ali, Jahresanfang und Freitagsfeier zusammenfallen, was angeblich nur alle 500 Jahre einmal vorkommt. In Kerbela soll sich das Volk stark gedrängt haben. Auch viel Blut fließt da, vornehmlidi Perser ziehen durch die Straßen, schreien J a Ali oder J a Hussein und hacken sich mit scharfen Säbeln auf K o p f , Brust und Rücken herum, so daß manch einer schon auf der Strecke geblieben ist; der kommt dann gleich ins Paradies, kriegt Milch und Honig zu trinken und darf die schönen Huris lieben. Wir haben in Birs wegen des Festes die Bude vorläufig zugemacht. Die Leute arbeiten doch nicht, und wir mußten uns einmal wieder ausspredien, um den vielen Stoff der letzten Wochen zu verdauen. Es ist sehr lebhaft vorangegangen mit unserer Arbeit; wenn die Resultate reif sein werden fürs Publikum, wird man das Schimpfen vielleicht eine Zeitlang einstellen, denn die letzten Funde können sidi sehen lassen, sowohl in Babylon wie in Birs haben wir ein gut Stück Erkenntnis mehr gewonnen. Solche Zeiten empfinde ich als einen wahren Gewinn fürs Leben, wo man potenziert lebt, wo alle Fasern langandauernd in Tätigkeit sind, wie ich es jetzt in den letzten 20 Tagen in Birs hatte. Man fühlt sich körperlich wohl durch die fortwährende Bewegung in der frischen L u f t und geistig infolge der den ganzen Tag füllenden Arbeit. Man ist der Pol, auf dem alles ruht und um den sidi alles dreht, das spannt alle Kräfte an, weil kein anderer da ist, der einem etwas von Tätigkeit abnehmen könnte. Es war hier in Babylon auch etwas viel für einen, Dr. Koldewey hat mächtig schwitzen müssen. Wir sind jetzt an der jedenfalls ergiebigsten Stelle des Kasr, deren Wichtigkeit schon ein Blidi auf den Plan zeigt. Es ist die Stelle nord101
•westlich des Ninmadi-Tempels, dort marsdiieren die glasierten Tiere noch an Ort und Stelle herum! Es ist eine Pracht, und die "Welt wird staunen! Hier offenbart sich die ganze Mächtigkeit der Baugedanken Nebukadnezars und seiner Kunstübung. Mag man uns zehnmal Klamottenkratzer schimpfen und über Mangel an vorzeigbaren Funden jammern oder unsere Sdiweigsamkeit verurteilen, wenn wir erst jene bunten Tiere und Ornamente im Berliner Museum aufgebaut haben werden an den Wänden, wird vielleicht keiner mehr mucksen. Man muß immer bedenken, daß diese Arbeiten hier nicht für das Eintagsbedürfnis eines sensationslüsternen Volkes gemacht worden sind, sondern einen dauernden Wert beanspruchen. Sind wir einmal weg von hier, wird sich niemand mehr an diese Ruinen wagen, darum suchen wir sie so gründlich wie möglidi nach unseren architektonischen Gesichtspunkten auszugraben, die sich auch bisher bewährt haben. Zum Fest haben wir auch Frieden mit dem Landrat in Hille geschlossen, wir haben ihn feierlich besucht, d. h. ,wir' sind immer nur Dr. K. und ich. Er war freundlidi und will uns demnächst wieder besuchen, was er früher nicht getan hat. Das Volk ist doch sehr lustig, und man kennt es nicht aus. So ein Besuch ist schon ein Idyll für sich. Da werden erst die Pferde gesattelt, die zwei Soldaten müssen mit als Bedeckung, der Kommissar hält sich hübsdi bescheiden im Hintergrund mit den Soldaten auf einer gepumpten Stute, während wir vorweg stolzieren, der Pferdeknecht galoppiert auf einem Esel voraus, natürlich seitlings reitend, indem er den Esel mittels eines spitzen Gegenstandes (Dolch, Packnadel oder ähnliches) am Hinterteil kitzelt, um ihn zu sdinellerer Gangart anzutreiben. Außerdem geht gewöhnlich nodi einiges Volk mit, Leute von uns in Festgewändern, 102
die entweder mit unserer Bekanntschaft unterwegs renommieren wollen oder irgendein Anliegen haben oder zum Vergnügen nach Hille marschieren. Ausgeritten wird fein, sdiwarzer Anzug mit Schlips und sdiwarzer Sonntagshut, der unterwegs zusammengewickelt und gegen die schweißgetränkte Wochentagskappe vertauscht wird; erst kurz vor Hille machen wir uns wieder fein. Wir reiten durchs Stadttor, das freilich nicht sehr gefährlidi aussieht, durch Kamelund gaffende Kinderherden. Wenn die Pferde ein paar lieblidie Pferdemädchen sehen, gibt's ein Mordsgewieher, genau wie in der menschlichen Gesellschaft. Wir reiten ein in den sogenannten Chan, hier nur ein großer Hof mit einigen Futterkrippen in der Mitte und ein paar sogenannte Ställe, wo die Pferde meist mit viel Umstand untergebracht werden. Die ,Mutter' des Chan hat sich in den Sonntagsstaat geworfen wie eine Jungfrau, hat aber gewiß schon ihre Fünfzig. Sie begehrt wie alle Welt ein Festgeschenk. Endlich setzt sidi unser Zug zu Fuß in Bewegung durdi die schmierigen Gassen, meist im Gänsemarsch, weil die Straßenbreite was anderes nicht zuläßt, zu Nedschib-Bey, der in seinem Hause aufgesucht wird. D a sieht man recht, daß die Türken nicht wohnen, sondern zelten, wie Moltke einmal sagte, denn die Bude ist schon nicht mehr Haus zu nennen, und der Komfort befindet sich eigentlich unten im Garten. D a sind unter blühenden Orangenbäumen, Palmen und Pfirsichsträuchern am Rande eines Saubohnenfeldes Diwane aufgestellt, wo sich schon einige kleine türkische Herren befinden. Die Jungen aus besseren türkischen Häusern sehen nämlidi sehr possierlich aus, wie Miniaturausgaben der Erwachsenen, sehr ernst und ruhig mit Fez und langen Hosen. Die ,Leibeigenen', d. h. Araber, die irgendwie zum Hausstand gehören, sitzen außerhalb des Diwankreises, kochen sich Kaffee 103
und beschäftigen sich mit ,Dasein'. Endlich nach dem üblichen Kaffee, Zigaretten und Festsüßigkeiten setzen wir in einem jener urtümlichen Asphaltpötte, genannt Guffa, über den hochgehenden Euphrat und landen am Serail. Der Kaimakam ist in seiner Wohnung, heißt es. Wir also hin. D a wird vor uns gerade ein widerspenstiges Bullenkalb vom Fleischermeister zum Haustor hineingezerrt. Drinnen tönt die übliche Musik. Die Musikbande von Hille hat sich oben auf der Tarma = Veranda gerade vor der Tür des Selamliks, d . h . des Empfangssalons des Gewaltigen, niedergelassen und macht ein großartiges Geräusch, das sich aus hohlen Oktavgesängen (Baß und Falsett) und Kratzen auf einigen Saiteninstrumenten zusammensetzt. I m Selamlik sitzt es schon an den Wänden herum ä la franca auf Sofas und Stühlen. Wir kommen auf den Ehrenplatz in der Fensternische; auf dem Fußboden liegt ein scheußlich moderner Teppich in den schreiendsten Anilinfarben, das gehört dazu. Wieder Süßigkeiten, Zigaretten, Kaffee, als besondere Auszeichnung Scherbet, d. i. Limonade. Das Gespräch ist wie gewöhnlich wenig inhaltsreich, wie bei Besuchen in Europa ja auch. Plötzlich großer Spektakel auf der Straße, das ist die Negermusik von Hille. Sämtliche Trommeln und Pauken halben sich zusammengetan, dazu einige Doppelflöten. Sie bringen dem Kaimakam ein Ständchen. Der Kaimakam zieht einen Beutel, und zwar was für einen! Er ist mindestens Yi m lang und könnte ein paar tausend Goldstücke enthalten; er fährt mit dem Arm hinein und reicht dem dienenden Polizisten für die Musiker das Bakschisch, würdevoll langsam, wobei der Blick sämtlicher Anwesenden auf der wichtigen Hand ruht — eine Staatsaktion — ja, der lange Beutel! Was muß das für ein mächtiger Mensch sein, der aus so einem Beutel zahlen kann! 104
Besondere Freunde werden mit Umarmung, ja sogar mit Küssen (daneben vorbei) begrüßt, und je nach dem Rang geht der Herr beim Abschied 0, 1, 2, 3 m oder gar bis zur Tür mit, wie es bei uns der Fall war. Es ist sehr widitig, dies genau zu beobachten. Unten im Hofe liegt das arme Kalb schon in seinem Blute, das über das Pflaster fließt. Es ist das Festkalb des mäditigen Mannes. Wir schlängeln uns durch mehrere Gassen, wo uns die Trommelneger des Festgeschenkes wegen mit herrlichen Sprüngen begrüßen. Schließlich machen wir uns auf den Heimweg im Bewußtsein getaner Pflicht, denn eine Arbeit ist ein solcher Besuch." — Birs, am 24. April 1902. „Idi bin letzten Sonntag wieder hierher gezogen. Lange werden wir es hier nicht aushalten, nachdem die Arbeit zu einem gewissen Abschluß gelangt ist und auch die Jahreszeit für das Zeltleben zu vorgerückt ist. Bis heute habe ich es gut getroffen, es war erträglich, früh noch frisch, am Tage trotz der 13 Stunden Sonne bei einer fast ständigen angenehmen Brise noch nicht lästig. Auf dem Hör, das jetzt buchstäblidi rings um uns herum ununterbrochen zu sehen ist, blüht eine weiße Blume, welche die große Flädie wie ein Schimmelüberzug bedeckt und einen lieblichen "Wohlgeruch herübersendet. Es herrscht viel Leben, allerlei Vögel, Möwen, Wildgänse, Flamingos, Schnepfen u. a. schreien, Frösche quaken, Mücken summen. Abends ist großes Konzert, die Mücken machen mehr Lärm als sie pieksen. Der Wind ist meistens gerade richtig, nicht zu stark, nicht zu schwach. Kürzlich war hier eine feine Mondfinsternis, eine gänzlich totale sogar. Bei der absoluten Stille und Unbewölktheit in dieser großen Umgebung ein eindrucksvolles Ereignis. Ringsum das Wasser war illuminiert, die Araber zündeten Feuer an, machten Lärm auf ihren Kesseln und schössen, dazu der schöne Gesang: Hute, ja 105
hüte, fakk el gumr el ali, d. h. Drache, gräulicher Dradie, laß den hohen Mond frei. Der Spektakel soll das Scheusal vertreiben, das den Mond verschlingen will. In unserem Lager wurde heftig gefeuert und die Gegend vom hohen Turm aus mittels einer Fackel erleuditet, die aus einem Petroleumlappen bestand. Es sah sehr gespenstig aus, wenn man die sdiönen Geschichten kennt, die sich an diesen verwünschten Ort knüpfen. Der alte König Nimrud, der einst hier residierte, hatte sich erdreistet, einen Turm bis in die Wolken zu bauen und von da oben auf Allah zu schießen. Er hatte einen Pfeil rot gefärbt und zeigte ihn seinen Leuten, indem er sagte: Seht, das ist das Blut Allahs, ich habe ihn getötet, jetzt bin ich Gott. Darauf hat ihn Allah mit dem höllischen Feuer verdorben, wovon die Spitze des Turmes nocJi heute so verbrannt und geschmolzen aussieht. Ibrahim el Chalil, d. h. der Abraham des alten Testaments, kommt ebenfalls mit Nimrud in Berührung, und die arabischen Geschichten über ihn sind für uns ein Mischmasch aus uns bekannten Erzählungen der Bibel und der klassischen Mythologie. Interessant war mir, daß der Name Nimruds doch mit Birs verknüpft ist, und zwar auch im Bewußtsein der gewöhnlidien Araber, nicht bloß bei Halbgebildeten und Gelehrten. Mir haben sie meine zwei Meßjungen ohne Aufforderung erzählt, es war sehr gelungen, nämlich nach Landessitte so, daß entweder beide zugleich sprachen oder jeder abwechselnd einen Satz. Einen ausreden zu lassen, bringen sie nicht fertig. Abends nach Feierabend findet großes Preisschießen statt zwischen den Lagergenossen. Die Wächter mit ihren Doppelflinten, ich mit meiner Mauserpistole. Es geht auf 40 m auf einen Ziegelstein. Den Preis stifte ich, jeder Treffer bekommt Medschidi oder etwa 1 M. Ich bin erst 3 M los106
geworden, denn so häufig wird trotz der Nähe nicht getroffen, aber immerhin schießen sie mit diesen elenden Schießeisen recht gut." — „Es war wirklidi zuletzt bemerkenswert in Birs. Auf Schatten mußte man schon beinahe verzichten, und die Sonne hielt sich so lange am Himmel auf, daß man sie mehrfach verwünschte. Im Zelte, für das ich die Bezeichnung ,Krematorium' erfunden habe, konzentrierten sich die Strahlen wie durdi eine Linse, und wenn man nicht den Kopf zwischen die Beine steckte, wie Barut, unser Hund, so kriegte man keinen rechten Schatten, und überdies ist es unanständig, sich in solcher Stellung sehen zu lassen. Das alles wäre aber das Schlimmste nicht gewesen, an Sonne sind wir so ziemlich gewöhnt, und an meiner gegenwärtigen Mohrenhaftigkeit würdet Ihr erkennen, daß ich nicht zur Sekte der Schattenschleicher und Kellerasseln gehöre. Aber das Viehzeug machte das Maß der Plagen voll: Tagsüber waren es vor Hitze wahnsinnig gewordene Fliegen, deren Anzahl idi nicht angeben kann, jedenfalls war mein Teller vollständig schwarz, und beim Aufenthalt im Zelt war ich mit meinem eigenen Körper der Strichbummel dieser Gesellsdiaft, welche Entdeckungsreisen in alle zugänglichen Höhlen und Löcher unternahm. Abends beruhigten sich diese Geister, wahrscheinlich wegen des Abendschoppens, dafür kam das Nachtgelichter: Mücken jeder Qualität und Größe, Libellen, Käfer etc. Einige stachen, andere summten, noch andere bumsten wie verrückt an die Zeltwände. Von den hüpfenden Tieren heißt es ja im Lied: Im wunderschönen Monat Mai, wo alle Flöhe springen etc. Alles in allem war es aber doch eine hübsche Zeit in Birs. In den 8 Wodien der Ausgrabung haben wir eine Masse erreicht. Der Tempel ist ganz klar geworden, eine feine 107
Sache für die Kunstgesdiidite. Neue Ardiitekturanlagen haben wir dazu aufgedeckt, und am Turm haben wir ein Bild der Konstruktion gewonnen. In der Hauptsache ist das erreicht, was wir wollen, entschieden mit geringen Kosten große Resultate. Das läßt sich eben nur durch stetige Wachsamkeit erreichen. Sobald wieder Winter wird, hoffen wir, noch Detailfragen verfolgen zu können. Jetzt fing das H ö r eben an zu stinken, auf der einen Seite war es weiß überzogen mit wohlduftenden Blumen, auf der anderen dunstete es Gestank aus. Wollte uns Allah strafen, so schickte er den Wind von Süden (übers Hör), wollte er uns belohnen, von Norden. Die armen Araber sitzen mitten in diesem Paradies. Auch sie schwitzen, das Wasser wird man bald nicht mehr trinken können, und das in den Brunnen ist salzig. D a ß wir die Arbeit einstellten, war ihnen natürlich gar nicht recht, und unsere drei Scheichs haben große Reden gehalten, wir sollten doch j a wiederkommen. W i r aber zogen um 1/29 Uhr früh, als mein Pferd von Babylon kam, los. Die Karawane bestand aus einundzwanzig Mann, elf Eseln, drei Pferden und einem Hund, wir klabasterten tapfer durch bauchtiefe Kanäle und die Glühwüste hindurch." —
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„JETZTEIN BLÜHENDER LINDENBAUM"
Die lange und immer dringender erwarteten Grabungsassistenten A. Nöldeke und W. Baumgarten trafen endlich am 12. Mai 1902 in Babylon ein. Mit ihnen zusammen langte auch Professor Dr. Fr. Delitzsch aus Berlin an, der unsere Ausgrabung und das „Land des einstigen Paradieses"' durch eigene Erfahrung kennenlernen wollte. Er beabsichtigte, mit Dr.Koldewey die geplante Ausgrabung in Fara und Abu Hatab einzuleiten. Eine Vermehrung unseres „Stabes" wäre schon lange nötig gewesen, das Unternehmen in Birs hatte es gezeigt, und die Ausgrabung in Babylon hatte sich ebenfalls ständig vergrößert. Unser Assyriologe Dr. Meißner hatte uns nadi Ablauf seines Vertrages verlassen und war nach Deutschland zurückgekehrt. Als Ersatz war uns ein katholischer Ordensmann, Dr. Lindl, herausgeschickt worden. Er besuchte uns nur 24 Stunden, verlangte, als zweiter Mann der Expedition behandelt zu werden, beanspruchte als solcher das zweitbeste Zimmer, das zweitbeste Pferd, das zweitbeste Waschbecken — und Dispens vom Grabungsdienst, der durdi unsere schriftlich festgesetzte Instruktion, die er kennen mußte, festgelegt war, so daß seine Beteiligung daran gefordert werden mußte. Da ihm Koldewey außer dem Waschbecken alle diese Forderungen abschlug, reiste er nach Berlin zurück. Als dritter Philologe erschien nach einiger Zeit Dr. Fr. Weißbach. Er blieb 2 Jahre bei uns und hat der Expedition viel Nützliches geliefert. Die beiden neuen Gra® Titel eines Buches von Fr. Delitzsdi über das Zweistromland.
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bungsassistenten waren Architekten, alle drei waren wir im Jahre 1875 geboren, doch war ich immer noch der Senior. Schon bald hatten die drei Neuankömmlinge ihre arabischen Spitznamen: Dr. Delitzsch hieß „Der Vater der weißen Mütze", die ihn vor uns anderen auszeidinete; Baumgarten war „Der Vater des Schnurrbartes" und Nöldeke „Der Vater des kleinen Vollbärtchens". Ehe die geplante Ausgrabung in Fara begann, sollten sich die neu Angekommenen erst in Babylon an Grabungsdienst und Klima gewöhnen. Einige Ausflüge in die Umgebung wurden von der „Jugend" unternommen. Ein Brief an die Mutter im Juni berichtet davon: „Wir drei, Baumgarten, Nöldeke und ich, waren kürzlich in Oheimir, hatten etwa 7 Stunden zu reiten und 10 Stunden uns von der freundlichen Sonne bescheinen zu lassen. Wir kamen ziemlich verändert zurück. Nöldekes zarter Teint war zum Teufel, Baumgartens Gesicht war halb braun, halb weiß, und mir strahlte die Nase wie ein Karfunkel, und ich habe mich 8 Tage lang im Gesicht gehäutet wie ein Chamäleon. Unterwegs schrie Nöldeke plötzlich: ,Jetzt so ein blühender Lindenbaum und eine Molle!' Es war gerade recht wüst rings herum, und der Boden strahlte einem heiße Glutwellen ins Gesicht. So werden die Jünglinge eingeseift! Wenn Du, liebe Mutter, einmal die Bibel vornimmst, so kann ich Dir raten, die Apokryphen zu lesen, vom Bei zu Babel, das ist unser vielberedeter Marduk, dessen Straße und Tempel wir hier gefunden haben, oder vom Drachen zu Babel, den wir jetzt leibhaftig vor Augen haben. Der Drache ist am Ischtar-Tor zu sehen, das wir gerade ausgraben. Das wird einmal ein feines Tor! Ich finde die positiven Tatsachen, die wir hier für Kunst, Kunstgeschichte und Architektur feststellen, viel fruchtbringender als die 110
Knobelei nach der Frage, ob der einige Gott hier, im Judenlande oder in Chinesien erfunden worden ist. Darauf kommt es übrigens gar nicht an, sondern, wie mir scheint, ist es wichtiger, daß die Juden die ersten waren, die ihren Gott geistig erfaßten, d. h. ohne Abbild, im Gegensatz zu den übrigen Völkern der damaligen Zeit. Daher die Bundeslade, d. h. ein leerer Götterthron mit ,Cherubim' geschmückt, so wie ihn andere Götter des Orients für ihre Bilder hatten. Das hatte für die Juden überdies nodi den Vorteil, daß ihr Götterbild, also der Gott selbst, nicht durch irgendeinen Feind verschleppt und dadurch machtlos werden konnte, denn er wirkte unsichtbar."
III
MAN MUSS SICH ALLE UNGEDULD ABGEWÖHNEN Im Juni war Dr. Koldewey mit Dr. Delitzsdi und Baumgarten nach Fara aufgebrochen, nachdem er mir und Nöldeke die Grabung in Babylon übergeben hatte. Anfang August kam Delitzsch zurück, er hatte bei beträchtlidier Hitze eine Reise durch Südmesopotamien unternommen und alle wichtigen Ruinenstätten besucht. Nun wollte er die Rückreise nach Deutschland antreten, und ich sollte Koldewey in Fara ablösen. Über die Reise dorthin schrieb ich an die Eltern: „Einige Worte über meine Herreise bin ich Euch schuldig, die ja als Sommer- und Nachtreise ein wenig anders geartet war als die früheren Reisen. Die üblichen Vorbereitungen, Anwerben des Mukari mit zwei Maultieren und einem Esel, die Besorgung der bewaffneten Macht von der türkischen Regierung ging unter den gewohnten Umständen, Feilschen und Schimpfen vor sich. Said Ibrahim, der Mukari, versicherte und beschwor wie gewöhnlich die ausgezeichnete Güte seiner Tiere und bekam für alle drei 3,50 M pro Tag, und dafür mußte er sich auch selbst noch beritten machen. Die Regierung schickte nur einen Sabti von der gewöhnlichen Bierruhe und — für Europäeraugen — Krüppelhaftigkeit. Ich ritt also gegen % 2 Uhr morgens ab, auf einem braunen Maultier mit segmentartigem Buckel und halbmeterlangen Ohren, Waui, mein Meßgehilfe, auf dem weißen Esel mit der Wasserflasche, er selbst im weißen Sonntagshemd mit Flinte, Dolch und neuer Abbaje, ein Bild der Vollkommenheit und Wohlhabenheit! Das andere Maultier trug meinen Kram, die eiserne Bettstelle, Decken, Wäsche, Koffer. Der Mukari hatte natürlich sein Tier noch nicht da. 112
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