Lebenserinnerungen und Lebenshoffnungen: (1832 bis 1910) [Reprint 2019 ed.] 9783111579801, 9783111207179


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German Pages 359 [360] Year 1911

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Kap. 1. Kindheitserinnerungen
Kap. 2. Die erste Schulzeit und die gemeinnützigen Bestrebungen des Vaters (1838-1846)
Kap. 3. Breslauer Gymnasialzeit (1847—1850)
Kap. 4. Die Universitätszeit in Berlin (1850—1852)
Kap. 5. Die Universitätszeit in Bonn (1852—1854)
Kap. 6. Das Militärjahr (1854—1855) und die Anstellung an der Berliner Sternwarte (1855)
Kap. 7. Habilitation und beginnende Vorlesungstätigkeit (1858). Persönliche Beziehungen zu August Böckh und zu Alexander von Humboldt
Kap. 8. Die Reise nach England, Schottland, Irland und Paris (1869)
Kap. 9. Anstellung als erster Assistent an der Sternwarte (1860). SRütf blick auf meine geselligen Beziehungen und den Beginn meiner Borträge in der Singakademie. Außerordentlicher Professor (1863). Erkrankung von Prof. Encke. Die Übernahme der interimistischen Leitung der Sternwarte. Die Begründung der internationalen astronomischen Gesellschaft (1863). Die Reise nach St. Petersburg und Pulkowa (1864). Die erste Generalkonferenz der mitteleuropäischen Gradmessung (1864). Die Ernennung zum Direktor der Sternwarte (1865)
Kap. 10. Die Sternschnuppen von 1866. Die Kriegsnöte von 1866. Zweite Generalkonferenz der mitteleuropäischen Gradmessung (1867)
Kap. 11. Die Einführung des metrischen Systems (1868) und die Ernennung zum Direktor der Normal-Eichungskommission (1869)
Kap. 12. Verheiratung mit Ina Paschen (1868). Mitteilungen über meine Freunde Herzog und Scholz, Winnecke und Zöllner, sowie über Zöllners Spiritismus
Kap. 13. Die Anfänge der Entwicklung der Internationalen Maß- und Gewichtsorganisation (1870—1872) und meine Erlebnisse in Paris (1872)
Kap. 14. Persönliches aus den Kriegszeiten 1870—1871. Die Reise nach England im Frühjahr 1872. Das Eichungswesen und die Präzisionstechnik
Kap. 15. Die Vorbereitung der Beobachtungen der Venusdurchgänge. Meine Familienverhältnisse in den Jahren 1872—1873
Kap. 16. Das astronomische Recheninstitut. Der Kronprinz Friedrich Wilhelm. Die Sonnenwarte und die Präzisionstechnik. Die Berufung von Georg Neumayer
Kap. 17. Die Begründung des Observatoriums in Potsdam. Die neue Sternwarte in Straßburg
Kap. 18. Der Venusdurchgang von 1874. Kaiser Wilhelm auf der Sternwarte. Meine Borträge in der Singakademie. Meine Betätigung bei der Maß- und Gewichtskonferenz in Paris und der Metervertrag (1875)
Kap. 19. Fürsorge für die Präzisionstechnik sowie die Sicherung und Verfeinerung der öffentlichen Zeitangaben. Die Elektrotechnik und Werner Siemens. Beginn meiner sozial-ethischen Betätigung
Kap. 20. Astronomische Gesellschaft in Stockholm (1877) und in Berlin (1879). Das Verhältnis zur Akademie der Wissenschaften und Werner Siemens
Kap. 21. Der Aufenthalt in Partenkirchen und die Oberammergauer Spiele (1880). Paris und der Elektrikerkongreß (1882). Rom und die Gradmessungskonferenz (1882). Die Krakatoa-katastrophe und ihre Folgeerscheinungen (1883—1893)
Kap. 22. Rede im Rathause zu der Enthüllung der Humboldtdenkmäler. Betätigung im Elektrotechnischen Verein (1881—1885). Dekan der Philosophischen Fakultät (1884—1885). Die Deputation zu Bismarcks 70. Geburtstage (1885)
Kap. 23. Rücktritt von der Leitung der Normal-Eichungskommission (1885). Die Entwicklung der europäischen Gradmessungsorganisation unter General Baeyer bis zu seinem Tode 1886. Familienglück und Familiensorgen (1886). Einberufung und Leitung einer Generalkonferenz der Gradmessung im Herbst 1886. Erreichung einer umfassenderen Organisation unter dem Namen „Internationale Erdmessung"
Kap. 24. Einleitung der internationalen Überwachung der Lage der Erdachse in der Erdmessungsversammlung in Salzburg (1888), auf Grund der Beobachtungen von Dr. Küstner aus der Berliner Sternwarte. Die Begründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (1886—1887). Werner Siemens und der Kronprinz. Kaiser Wilhelm I. und die Sternbilder. Die Kaiserin-Witwe Viktoria und die Sternwarte
Kap. 25. Die Begründung der Urania (1888—1889)
Kap. 26. Die erste Generalkonferenz der internationalen Maß- und Gewichtsorganisation in Paris (1889). General Ibanez, sein Schicksal und sein Tod (1891
Kap. 27. Der entscheidende Nachweis der periodischen tagenänderung der Erdachse durch gleichzeitige Beobachtungen auf der Berliner Sternwarte und auf der Sandwichinsel Honolulu (1891—1892). Die Begründung der Vereinigung von Freunden der Astronomie und kosmischen Physik (1891)
Kap. 28. Internationaler Geographenkongreß in Bem (1891). Weltzeit und Ortszeit. Osterrresorm. Meine Wahl zum Vorsitzenden des Internationalen Maß- und Gewichtskomitees in Nachfolge des Generals Ibanez (Paris 1891). Erdmessungsversammlung in Florenz (1891). Wahl zum Rektor der Berliner Universität (August 1891). Die Rektoratszeit. Beziehungen zu Kaiser Wilhelm II
Kap. 29. Der Besuch von Dr. Felix Adler in Berlin (Winter 1891—1892) und der Beginn der ethischen Bewegung in Deutschland (1891—1893). Kaiserin Friedrich
Kap. 30. Das Jahr 1895: Der Majestätsbeleidigungsprozeß meines ältesten Sohnes. Die internationale Versammlung für Maß und Gewicht in Paris und für die Erdmessung in Berlin
Kap. 31. Die Jahre 1894—1895 der ethischen Bewegung. Das Projekt der ethischen Akademie. Der intemationale ethische Kongreß in Zürich (1896)
Kap. 32. Betätigung meines ältesten Sohnes in der internationalen ethischen Bewegung und seine Habilitation als Dozent der Philosophie an der Universität Zürich. Die Lebensentwicklung meiner ältesten Tochter und meiner beiden jüngeren Söhne
Kap. 33. Die internationalen Arbeiten im Maß- und Gewichtswesen und in der Erdmessung. Meine Ernennung zum Ehrendoktor der Rechte von der Universität Oxford (1894). Organisation der Zeitregelung und die deutsche Bereinigung für Chronometrie (1897—1899). Mein Vortrag auf der Naturforscherversammlung in München (1899)
Kap. 34. Zeitweise Einschränkung meiner Mitarbeit in der ethischen Bewegung. Mein Eintreten für die Osterreform und die Einheitlichkeit des Kalenders. Der Tod von Moritz von Egidy (1898)
Kap. 35. Erneute Wirksamkeit gemeinsam mit meinem ältesten Sohne für die Begründung einer internationalen ethischen Akademie
Kap. 36. Das Dahinscheiden der Mitarbeiter und Freunde Samuel Kristeller und Hugo Rheinhold (1900
Kap. 37. Die Fortschritte der großen internationalen Unternehmungen in der Erdmessung, sowie in Maß und Gewicht. Meine Bemühung für Zählungsreform
Kap. 38. International« Betätigung der Ethischen Bunde». Mein Vorschlag einer Zusammenkunft wissenschaftlicher Vertretungen aller Kultur-Völker (1903)
Kap. 39. Siebenzigster Geburtstag (16. Dezember 1902) und Rücktritt von der Leitung der Sternwarte (1903)
Kap. 40. Aus meinem Familienleben
Kap. 41. Wissenschaftliche Betätigung nach meinem Rücktritt von der Leitung der Sternwarte
Kap. 42. Der Fortgang der Arbeiten der internationalen wissenschaftlichen Organisationen bis 1910. Das metrische System
Kap. 43. Die neuesten Betätigungen des Ethischen Bundes und meine Mitwirkung bei denselben. Der Erziehungskongreß London 1908 und die Vorbereitungen eines Rassenkongresses
Kap. 44. Die Friedensbewegung und die „Conciliation Internationale“ zum Ziele der gemeinsamen Verwaltung der Erde
Kap. 45. Die Übel der Tagespresse und der Wettspielbetriebe. Die Wahlrechtsnöte
Kap. 46. Ausblick in die Zukunft der Kulturentwicklung
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Lebensermnerungen und

Lebenshoffnungen von

Professor Wilhelm Foerster

(1852 bis J9Io)

Berlin

Druck und Verlag von Georg Reimer

Vorwort. cis

nachstehende

ich es

Inhaltsverzeichnis

wird

deutlicher,

als

mit wenigen Worten tun könnte, das inmrerhin

gewagte Unternehnren einer solchen Veröffentlichung rechtfertigen. Einen sehr erheblichen Anteil an meinem

Entschluß

zu

diesen

Mitteilungen haben natürlich meine Kinder und meine Freunde gehabt; aber ich glaube hoffen zu dürfen, daß auch in etwas weiteren Kreisen manches, was ich hier berichte,

Interesse und

Anklang finden wird.

Prof. Wilhelm Foerster.

Lharlottenburg -IVestend, Dezember 1910.

Inhaltsverzeichnis. Kap. 1. Kindheitserinnerungen........................................................................ 1 Kap. 2. Die erste Schulzeit und die gemeinnützigen Bestrebungen des Vaters (1838-1846).................................................................................... 6 Kap. 3. Breslauer Gymnasialzeit (1847—1850)........................................... 14 Kap. 4. Die Universitätszeit in Berlin (1850—1852)................................... 25 Kap. 5. Die Universitätszeit in Bonn (1852—1854)................................... 31 Kap. 6. Das Militärjahr (1854—1855) und die Anstellung an der Berliner Sternwarte (1855) ...................................................................................... 43 Kap. 7. Habilitation und beginnende Vorlesungstätigkeit (1858). Persön­ liche Beziehungen zu August Böckh und zu Alexander von Humboldt 52 Kap. 8. Die Reise nach England, Schottland, Irland und Paris (1869) 56 Kap. 9. Anstellung als erster Assistent an der Sternwarte (1860). SRütf blick auf meine geselligen Beziehungen und den Beginn meiner Borträge in der Singakademie. Außerordentlicher Professor (1863). Erkrankung von Prof. Encke. Die Übernahme der interimistischen Leitung der Sternwarte. Die Begründung der internationalen astronomischen Gesellschaft (1863). Die Reise nach St. Petersburg und Pulkowa (1864). Die erste Generalkonferenz der mitteleuro­ päischen Gradmessung (1864). Die Ernennung zum Direktor der Sternwarte (1865)........................................................................................ 63 Kap. 10. Die Sternschnuppen von 1866. Die Kriegsnöte von 1866. Zweite Generalkonferenz der mitteleuropäischen Gradmessung (1867).............. 77 Kap. 11. Die Einführung des metrischen Systems (1868) und die Er» nennung zum Direktor der Normal-Eichungskommission (1869).......... 88 Kap. 12. Verheiratung mit Ina Paschen (1868). Mtteilungen über meine Freunde Herzog und Scholz, Mnnecke und Zöllner, sowie über Zöllners Spiritismus .................................................................................................. 92 Kap. 13. Die Anfänge der Entwicklung der Internationalen Maß- und Gewichtsorganisation (1870—1872) und meine Erlebnisse in Paris (1872). 104 Kap. 14. Persönliches aus den Kriegszeiten 1870—1871. Die Reise nach England im Frühjahr 1872. Das Eichungswesen und die Präzisions­ technik ............................................................................................................ 115

VI Kap. 15. Die Vorbereitung der Beobachtungen der Benusdurchgänge. Meine Familienverhältnisse in den Jahren 1872—1873 .................... 121 Kap. 16. Das astronomische Recheninstitut. Der Kronprinz Friedrich Mlhelm. Die Sonnenwarte und die Präzisionstechnik. Die Berufung von Georg Neumayer................................................................................. 127 Kap. 17. Die Begründung des Observatoriums in Potsdam. Die neue Sternwarte in Straßburg........................................................................... 137 Kap. 18. Der Venusdurchgang von 1874. Kaiser Wilhelm auf der Stern­ warte. Meine Borträge in der Singakademie. Meine Betätigung bei der Maß- und Gewichtskonferenz in Paris und der Metervertrag (1875) 142 Kap. 19. Fürsorge für die Präzisionstechnik sowie die Sicherung und Ver­ feinerung der öffentlichen Zeitangaben. Die Elektrotechnik und Werner Siemens. Beginn meiner sozial-ethischen Betätigung.......................... 160 Kap. 20. Astronomische Gesellschaft in Stockholm (1877) und in Berlin (1879). Das Verhältnis zur Akademie der Wissenschaften und Werner Siemens..............................................................................................................166 Kap. 21. Der Aufenthalt in Partenkirchen und die Oberammergauer Spiele (1880). Paris und der Elektrikerkongreß (1882). Rom und die Grad­ messungskonferenz (1882). Die Krakatoakatastrophe und ihre Folge­ erscheinungen (1883—1893).......................................................................... 173 Kap. 22. Rede im Rathause zu der Enthüllung der Humboldtdenkmäler. Betätigung im Elektrotechnischen Verein (1881—1885). Dekan der Philosophischen Fakultät (1884—1885). Die Deputation zu Bismarcks 70. Geburtstage (1885) ............................................................................... 181 Kap. 23. Rücktritt von der Leitung der Normal-Eichungskommission (1885). Die Entwicklung der europäischen Gradmessungsorganisation unter General Baeyer bis zu seinem Tode 1886. Familienglück und Familien­ sorgen (1886). Einberufung und Leitung einer Generalkonferenz der Gradmessung im Herbst 1886. Erreichung einer umfassenderen Orga­ nisation unter dem Namen „Internationale Erdmessung".................... 185 Kap. 24. Einleitung der internationalen Überwachung der Lage der Erd­

achse in der Erdmessungsversammlung in Salzburg (1888), auf Grund der Beobachtungen von Dr. Küstner aus der Berliner Sternwarte. Die Begründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (1886—1887). Werner Siemens und der Kronprinz. Kaiser Wilhelm I. und die Stern­ bilder. Die Kaiserin-Witwe Viktoria und die Sternwarte.................... 191 Kap. 25. Die Begründung der Urania (1888—1889).................................... 197 Kap. 26. Die erste Generalkonferenz der internationalen Maß- und Ge­ wichtsorganisation in Paris (1889). General Ibanez, sein Schicksal und sein Tod (1891)............................................................................................. 201 Kap. 27. Der entscheidende Nachweis der periodischen Lagenänderung der Erdachse durch gleichzeitige Beobachtungen auf der Berliner Stern-

warte und auf der Sandwichinsel Honolulu (1891—1892). Die Be­ gründung der Bereinigung von Freunden der Astronomie und kos­ mischen Physik (1891) ............................................................................... 205 Kap. 28. Internationaler Geographenkongreß in Bem (1891). Weltzeit und Ortszeit. Osterrresorm. Meine Wahl zum Vorsitzenden des Inter­ nationalen Maß- und Gewichtskomitees in Nachfolge des Generals Ibanez (Paris 1891). Erdmessungsversammlung in Florenz (1891). Wahl zum Rektor der Berliner Universität (August 1891). Die Rektorats­ zeit. Beziehungen zu Kaiser Wilhelm II.................................................... 209 Kap. 29. Der Besuch von Dr. Felix Adler in Berlin (Winter 1891—1892) und der Beginn der ethischen Bewegung in Deutschland (1891—1893). Kaiserin Friedrich ......................................................................................... 225 Kap. 30. Das Jahr 1895: Der Majestätsbeleidigungsprozeß meines ältesten Sohnes. Die internationale Versammlung für Maß imb Gewicht in Paris und für die Erdmessung in Berlin .......................................................... 236 Kap. 31. Die Jahre 1894—1895 der ethischen Bewegung. Das Projekt der ethischen Akademie. Der intemationale ethische Kongreß in Zürich (1896) ................................................................................................... 244 Kap. 32. Betätigung meines ältesten Sohnes in der internationalen ethischen Bewegung und seine Habilitation als Dozent der Philosophie an der Universität Zürich. Die Lebensentwicklung meiner ältesten Tochter und meiner beiden jüngeren Söhne............................................ 257 Kap. 33. Die internationalen Arbeiten im Maß- und Gewichtswesen und in der Erd Messung. Meine Emennung zum Ehrendoktor der Rechte von der Universität Oxford (1894). Organisation der Zeitregelung und die deutsche Bereinigung für Chronometrie (1897—1899). Mein Bortrag auf der Naturforscherversammlung in München (1899).......................... 261 Kap. 34. Zeitweise Einschränkung meiner Mitarbeit in der ethischen Be­ wegung. Mein Eintreten für die Osterreform und die Einheitlichkeit des Kalenders. Der Tod von Moritz von Egidh (1898)...................... 269 Kap. 35. Emeute Wirksamkeit gemeinsam mit meinem ältesten Sohne für die Begründung einer internationalen ethischen Akademie........ 276 Kap. 36. Das Dahinscheiden der Mitarbeiter und Freunde Samuel Kristeller und Hugo Rheinhold (1900)....................................................................... 280 Kap. 37. Die Fortschritte der großen internationalen Unternehmungen in der Erdmessung, sowie in Maß und Gewicht. Meine Bemühung für Zählungsreform............................................................................................. 283 Kap. 38. Intemationale Betätigung des Ethischen Bundes. Mein Vorschlag

einer Zusammenkunft wissenschaftlicher Vertretungen aller Kulturvölker (1903) .......................................................................... 286 Kap. 39. Siebenzigster Geburtstag (16. Dezember 1902) und Rücktritt von der Leitung der Stemwarte (1903).......................................................... 297

vni Kap. 40. Aus meinem Familienleben................................................................... 300 Kap. 41. Wissenschaftliche Betätigung nach meinem Rücktritt von der Leitung der Sternwarte ..................................................................................... 306 Kap. 42. Der Fortgang der Arbeiten der internationalen wissenschaftlichen Organisationen bis 1910. Das metrische System..................................... 310 Kap. 43. Die neuesten Betätigungen des Ethischen Bundes unb meine Mitwirkung bei denselben. Der Erziehungskongreß London 1908 und die Vorbereitungen eines Rassenkongresses ..................................................... 313 Kap. 44. Die Friedensbewegung und die „Conciliation Internationale“ zum Ziele der gemeinsamen Verwaltung der Erde................................... 318 Kap. 45. Die Übel der Tagespresse und der Wettspielbetriebe. Die Wahl­

rechtsnöte ................................................................................................................. 324 Kap. 46. Ausblick in die Zukunft der Kulturentwicklung................................. 333 Register............................................................................................................................. 343

Kapitel. Kindheitserinnerungen.

Ich wurde geboren am 16. Dezember 1832 als zweiter Sohn von Friedrich Foerster und Hulda Foerster geb. Seydel zu Grünberg in Schlesien. Mein Vater war Tuchfabrikant und gehörte einer seit

mehreren

Jahrhunderten

in

Grünberg

ansässigen

Tuchmacher­

familie an. Die ersten Lebenserinnerungen des Knaben datieren aus dem

Sommer 1835, wo er (2% Jahre alt) durch eine Reise mit seiner Mutter und seinem älteren Stuber nach Bad Reinerz aus dem Elternhause für mehrere Wochen in ganz neue Umgebungen kam. Die Erwähnung solcher ersten Erinnerungen aus einem sehr frühen

Lebensalter, das in diesem Falle völlig genau festgestellt werden konnte, dürfte nicht ohne allgemeinen psychologischen Wert sein.

Eine Reihe von Einzelheiten aus den Reinerzer Lebensverhältnissen und Vorgängen in dieser Zeit konnten schon zu Lebzeiten der Eltern als völlig selbständig in der Erinnerung aufbewahrte Erlebnisse und

Wahrnehmungen des Kindes erwiesen werden.

Unter diesen Er­

innerungen des Kindes war eine, die mein ganzes Leben hindurch jedesmal mit unveränderter, ja im Alter sogar erhöhter Deutlichkeit

zum Erklingen kam, so oft die Seele sich in Stimmungen elegischer, aber doch freudiger Art befand, nämlich ein Waldhornkonzert unter

hohen Bäumen. Die Ergriffenheit der kindlichen Seele von der Größe dieses ersten Eindmcks blieb eine derartige Dauererscheinung, daß ihre Klangfarbe sich mit allen verwandten Gedankenreihen des späteren Lebens verwob. Wtlh. Foerster, LebenSertnnerrmgen.

1

2 Ähnliche tief harmonisierende Eindrücke empfing ich in den fol­

genden Jahren von den Liedern, den teilweise mit zärtlichem Weh erfüllten Liedern, die meine Mutter uns vorsang, wenn sie uns auf den Armen trug, oder die sie uns schon in sehr zarter Kindheit, mit uns singend, einübte. Wie verständnisvoll hat Plato die Bedeutung solcher frühen Musikwirkungen erkannt.

Die ersten Jugendjahre waren überhaupt durch längere Reisen der Eltem, zu denen sie die Kinder Mitnahmen, ziemlich stark bewegt. Es waren dies teils Badereisen, die für die zarte Gesundheit der Mutter erforderlich waren, teils Geschäftsreisen des Vaters. Ich hatte einen, um ein Jahr älteren Bmder und eine um

iy2 Jahr jüngere Schwester, zu denen späterhin bis zu dem frühen Tode der Mutter noch ein Bmder und zwei Schwestem hinzukamen. Eine der Badereisen führte weiterhin nach Salzbmnn, eine der Geschäftsreisen des Vaters nach Dresden, eine andere nach Berlin.

Diese Reisen fielen in die Zeit von 1836—1838. Sie geschahen, da die ersten Eisenbahnen in Deutschland erst seit 1837 in Gang kamen, im eigenen Wagen, teils mit eigenen Pferden, teils mit Extrapost.

Auf den Badereisen folgte die Köchin und das große Gepäck in einem besonderen, einspännigen Wirtschaftswagen (einem sog. Planwagen). Mein Vater befand sich damals in einer sehr günstigen Vermögens­

lage. Sein Vater, Jeremias Sigismund Foerster, hatte die ererbte Tuchmacherei (in der geräumigen Wohnstube seines Hauses arbeiteten noch Webstühle, aber außerdem hatte er schon um 1800 eine Maschinen­ spinnerei eingerichtet) zu einem großen Exportgeschäft erweitert, welches insbesondere gen Osten hin, bis tief nach Rußland hinein, einen sehr lukrativen Absatz gewann. Außerdem hatte er in den bewegten Kriegsjahren, in Gemeinschaft mit einigen anderen unter­

nehmenden Geschäftsleuten, durch Armeeliefemngen der verschieden­ sten Art großes Geld erworben. Nach dem int Jahre 1819 erfolgten

Tode meines Großvaters hatte sein ältester Sohn August das Tuch-

Exportgeschäft, nicht bloß nach Osten hin, sondem, nach dem Ein­ tritte der mssischen Grenzsperre (1823), auch nach den überseeischen

Märkten hin in großem Stile erweitert.

Der mssischen und der

englischen Sprache mächtig, besuchte er die Messen in Nischnei-

3 Mwgorod und suchte persönliche Anknüpfungen in London.

Nach

feinem frühen Tode (1825) übernahm zunächst seine Mutter Johanna

Eleonore, eine Frau von ungewöhnlicher Geisteskraft, die obere Geschäftsleitung bis zu ihrem Tode, nach welchem (1827) diese Leitung ganz in die Hände des jüngsten Sohnes, meines Vaters,

überging. Dieser entwickelte nun neben dem Export auch die Technik der Grünberger Tuchfabrikation, indem er allmählich den Maschinen­ betrieb vervollständigte und dann im Jahre 1834 eine große Tuch­ fabrik mit Dampfbetrieb einrichtete, damals noch in Schlesien etwas Seltenes, gefördert durch den Vorgang eines großen englischen,

schon in Belgien mit der Einrichtung von Fabriken vorangegangenen Geschäftshauses (Cockerill). Mein Vater (geb. 1804) hatte seine Schul- und Lehrzeit in Bres­ lau, alsdann seine weitere kaufmännische Ausbildung in Bremen

absolviert.

Er war

dann auch auf Reisen gegangen, hatte infolge

einer vorangegangenen Typhuserkrankung zur Erholung die See­

bäder in Nordemey und in Doberan besucht und war alsbald in das Geschäft eingetreten, in welchem er auch seine frühen Sprach­

studien im Russischen, Englischen und Französischen zu kultivieren und bestens geschäftlich zu verwerten verstand.

Ursprünglich hatte er ganz andere Lebenspläne gehabt, nämlich nach der Seite des

geistlichen Bemfes, welche Vorliebe alsdann in späteren Jahren in seiner lebhaften Beteiligung an den kirchlichen Bewegungen und

an der Entwicklung des Schulwesens und der Lehrerwelt wieder hervortrat.

Zunächst hatte er, bald nach der Begründung seiner großen Fabrik, eine schwere Lebenskrisis durchzumachen, welche auch die ersten Jahre seiner überaus glücklichen Ehe mit Hulda Seydel (geb.

1812) trübte. Die vorerwähnten Lieferungsgeschäfte seines Vaters in den Kriegszeiten warfen diesen Schatten auf sein Leben. Einer der Genossen dieser Unternehmungen wagte es, eine große Geldforde­ rung an die Erben von Jeremias Sigismund Foerster nachträglich auf Grund seiner Bücher einzuklagen, eine Fordemng, welche sich mit den inzwischen ausgelaufenen Zinsen auf eine so große Summe

belief, daß mein Vater, welcher seinen Miterben gegenüber bei der 1*

4 Erbteilung alle etwa noch restierenden Verpflichtungen zusammen mit einem Schwager übernommen hatte, dadurch um den größten

Teil seines Vermögens gebracht worden wäre.

Und es dauerte

mehrere Jahre, bis endlich, nachdem in erster Instanz die Fordemng als nicht verjährt und als gerechtfertigt anerkannt worden war, die

letzte gerichtliche Instanz den unhaltbaren Charakter der Fordemng erkannte und den Kläger vollständig abwies.

Die ganze Lebenslage der Familie und die sonst so freudige und erfolgreiche Tätigkeit des Vaters waren natürlich in diesen Jahren der Ungewißheit stark bedrückt gewesen. Es ist mir aber

unvergeßlich geblieben, wie sehr doch das Vertrauen meines Vaters auf die unbedingte Redlichkeit des Großvaters und auf den endlichen Sieg des Rechtes chn mit Zuversicht und Ruhe erfüllt hatten. Die Famllie meiner Mutter lebte in schlichteren Verhältnissen, obwohl ihr Vater, Johann Friedrich Seydel, in seiner Art auch ein Geschäftsmann von regster Tätigkeit war. Er verband das Geschäft

eines gewöhnlichen Materialwarenladens einerseits mit einem um­ fassenderen Eisenwarengeschäft, andererseits mit einem bedeutenden Weinhandel.

Im Besitze eines großen Areals von Weingärten in

der näheren und weiteren Umgebung der Stadt, war er einer der größten Weinproduzenten dieser nördlichsten Weingegend Deutsch­

lands.

In der Kultiviemng der geeignetsten Traubensorten und in

der Verfeinemng der Keltemng des Traubensastes war es ihm ge­ lungen, dem zu Unrecht als entsetzlich sauer verschrieenen „Grünberger

Wein" eine gewisse Geltung auf dem norddeutschen Weinmarkte zu

verschaffen, in welcher Richtung er alsdann von dem Schwiegersohn Foerster, der ein großer Lokalpatriot war, eifrigst unterstützt wurde. — Nach der Überwindung der Prozeßangelegenheit entwickelte sich nun auf dem Gebiete der Tuchfabrikation, des Tuchhandels und des

Weinhandels eine ansehnliche Prosperität meines Eltemhauses,

so daß meine und meiner Geschwister Kindheit und Jugendzeit in einer fast idealen Lebenslage verlief, in unvergeßlicher Weise erhellt und verschönt durch die zärtliche Liebe und treue Klugheit der Mutter,

die sich mit dem Emst und der Strenge des Vaters in schönster Weise verband. Nur elf Jahre dauerte diese beglückende Ehe, denn schon

5 im Jahre 1842, nach der Geburt des siebenten Kindes, mußten Mutter und Kind aus dem Leben scheiden, in welchem sie so viel

Glück genossen und gepflegt hatte. Zwei Jahre vorher (1840) hatte ihr, sonst an größeren Ereig­

nissen nicht reiches Leben noch den besonderen Aufschwung genossen, daß sie ihren Gatten, welcher als Deputierter zu der Huldigungs­ feier des neuen Königs Friedrich Mlhelm IV. zusammen mit dem

Bürgermeister der Stadt nach Berlin entsandt wurde, dorthin be­ gleiten konnte. Mt ihrem Gatten teilte sie den ergreifenden Ein­ druck der großartigen Veranstaltung am königlichen Schloß und im

Lustgarten, wo der König von hoher Tribüne herab damals mit ge­ waltiger Stimme jene epochemachende Thronrede hielt, und sie genoß in vollen Zügen auch die Pracht und Schönheit der damals gefeierten Hoffeste und Theateraufführungen.

Deutlich erinnere ich mich noch der begeisterten Stimmung, mit welcher beide Eltern, von diesem Lichtblick ihres Lebens erfüllt,

in die kleine Stadt zurückkehrten. Im Sommer 1841 unternahmen die beiden Eltern noch eine große Reise über Prag nach Salzburg und von Linz die Donau

entlang nach Wien, von wo sie über Breslau nach Hause zurückkehrten. Ihre entzückten Schilderungen von den Herrlichkeiten dieser Reise prägten sich tief in die Seelen ihrer älteren Kinder ein. Der Tod der geliebten Frau versenkte meinen Vater jahrelang

in tiefste Trauer.

Und es gelang ihm nicht, für die sechs Kinder,

deren ältestes bei dem Tode der Mutter zehn Jahre und deren jüngstes ein Jahr zählte, eine hinreichend geeignete Hilfe in Erziehung und Haushalt zu gewinnen. Um so enger schlossen die drei ältesten Kinder, mein älterer Bmder Fritz und meine jüngere Schwester Hulda, sich mit mir in treuester Gemeinschaft aneinander; den Vater tröstend

und die Entwicklung der jüngeren Geschwister mit überwachend.

Fünf Jahre nach dem Tode der Gattin sah sich dann mein Vater durch die Fürsorge für die jüngsten Kinder veranlaßt, einen neuen Ehebund zu schließen, und zwar mit einer hochgebildeten und wür­ digen Dame, Albertine von Hahn, welche bis dahin als Erzieherin

gewirkt hatte und insbesondere meinen Schwestem bald eine Freundin

6 wurde. Unvergeßlich ist es aber uns drei ältesten Geschwistern ge­ blieben, wie wir in jenen fünf Trauerjahren durch die Pflege des Hausgesanges, die wir noch den letzten Jahren der Mutter verdankten,

damals zur Tröstung des Vaters beitragen konnten, und wie sehr

zugleich diese Verwertung unseres beginnenden Musikunterrichtes uns in die Herrlichkeiten der Tonwelt einführen half, sodaß ich es

damals sogar wagte, selber einige Lieder zu komponieren.

In sehr

lieber Erinnemng ist es mir auch noch, wie ich meine hohe Diskant­

stimme erschallen lassen konnte als einer der Vorsänger der vier Chöre, die auf den oberen Galerien der Kirche, zusammen oder der Reihe nach, in der Weihnachtsnacht morgens um vier Uhr dem Christkinde ihr Willkommen darbrachten.

Diese hingebungsvolle, mitten in der Winternacht mit Lichtern und Fackeln erhellte Feier, die auf die abendliche Weihnachtsbescherung wie ein Dankopfer folgte, war wirklich höchst eindrucksvoll und die Feststimmung ver­ klarend. Aber auch das tägliche Zusammenleben wurde uns durch Musik geweiht. Wenn der Vater ermüdet von gewaltiger Geschäfts­ tätigkeit aus der Fabrik in den Abendstunden zu seinen Kindern kam, so war es entzückend für diese, wenn sie ihm dann, oftmals auch auf

der Bergeshöhe, auf der er dem Andenken seines Bruders August einen Pavillon errichtet hatte, die „goldene Abendsonne" und das sehnsuchtsvolle Lied vom Abendstern Vorsingen konnten. In diesen

fünf Jahren der Mtwerschast begann er auch, seiner bis dahin mehr

int stillen geübten gemeinnützigen Tätigkeit zur Aufrichtung seiner Seele einen größeren Auffchwung zu geben, auf dessen Zusammen­ hang mit seiner ursprünglichen Neigung zum geistlichen Beruf ich

bereits hingedeutet habe.

2. Kapitel. Die erste Schulzeit und die gemeinnützigen Bestrebungen der Vaters (1838—18^6).

Zunächst bot der Zustand des Schulwesens in der Vaterstadt Anlaß zu reformatorischer Tätigkeit. Die Stadt Grünberg besaß für

ihre 10000 Einwohner damals nur eine Stadtschule mit sehr be-

7 grenztem Lehrplan, der allerdings in den beiden obersten Klassen bis

zum Latein und bis zu den ersten Stufen der Mathematik reichte. Die

oberste Klasse wurde von dem Rektor, die zweite von dem Kon­

rektor, die dritte von dem Subrektor geleitet.

Alle drei waren stu­

dierte Männer von solidem Wissen und regem Pflichtgefühl. Aber alle drei verprügelten ihre Schülerwelt, zumal der Subrektor, ein herzeitsguter, durch seine Schwäche aber mit seinen Schülem total zerfallener Mann, dem gar kein Respekt gezollt wurde. Am wenig­ sten prügelnd und am meisten pädagogisch wirksam war der Kon­ rektor, der einen Hauch von Pestalozzis Gedanken empfangen hatte, so daß er es sogar wagte, die fortgeschrittensten Schüler an der Lehr-

tätigkeit zu beteiligen. Mein ältester Bmder und ich traten nach vorbereitenden pri­ vaten Unterweisungen in die zweite Klasse der Stadtschule ein. Wir waren beide von da ab jahrelang nahezu auf derselben Stufe

des Lemens, da mein Bmder etwas langsamer im Lernen war und besonders im Latein weniger schnell vorwärts kam. Da gefiel es

dem Konrektor, mir, dem kleinen, kaum zehnjährigen Lateiner, eine ganze Gruppe von älteren Schülem, die int Sprachunterricht nicht recht mitkamen, zur Nachhilfe anzuvertrauen, unter ihnen recht

ungeberdige, von der Prügelpädagogik der Stadtschule schon sehr

auflässig gewordene Jungen. Es gelang mir aber durch meine eigene Freude am Übersetzen und Repetieren mit Hilfe einiger helleren und besser gesinnten Kerlchen unter dieser widerhaarigen Gesellschaft, wirklich eine Art von Lehrerfolg zu erringen, der mir

zeitlebens als eine unbeschreibliche Befriedigung vorgeschwebt hat.

Ich bin auch der Meinung und habe dies später, wo ich nur immer konnte, zu größerer Beachtung empfohlen, daß in unserem Schul­ leben viel zu wenig im Sinne dieser pädagogischeir Weisheit vmr Pestalozzi geschieht, daß z. B. unter den Primanern und Sekundanem unserer Mittelschulen die begabtesten Jünglinge, welche sich

so oft bei dem für die größere Anzahl erforderlichen langen und breiten Lehrbetriebe langweilen, mit großem Gewinne für die Be­ lebung des ganzen Betriebes und mit dem größten Gewinne für ihre

eigene Charaktereittwicklung verwertet werden könnten, um die

8 minder begabten Mitschüler in besonderen Gruppen und in beson­ deren Fächern durch belebende Repetition zu fördern und auch in den unteren Klassen in ähnlicher Weise zu wirken. Es ist ja vollkom­

men erwiesen und auch psychologisch so leicht erklärlich, daß einander näherstehende Lebensalter sich im Semen und Verstehen viel wirk­ samer und befriedigender fördern und auch für die Freude am

Lernen sowie für das Interesse an den Lehrgegenständen viel vor­ bildlicher wirken, als dies durch Lehrkräfte geschieht, deren Seelen­

Man muß nur sehen, wie auch in unserm Hochschulbetriebe bei den Vorbereitungen für ge­

leben schon eine ganz andere Klangfarbe hat.

wisse Examina das gemeinsame Einpauken der jungen Leute unter

der Fühmng einiger der begabteren Genossen nach vielen Richtungen hin die Wirksamkeit ganzer Jahre von Vorlesungen u. dgl. weit

hinter sich läßt. Das System der Schülermitwirkung im Lehrbetriebe,

in England als das I^uuraster-System bezeichnet, hat allerdings auch

seine Gefahren, wenn es nicht mit erzieherischer Weisheit organisiert und überwacht wird, und es hat sich gerade in England für lange Zeit gründlich diskreditiert, als es unter gewissen Formen der dortigen Selbstverwaltungen zu einer Art von Surrogat für unzureichende

Anstellung von Lehrerpersonal entartet war. Als nun mein Bruder und ich die oberste Klasse der Stadtschule absolviert hatten, ohne daß die bereits begonnenen Bemühungen meines Vaters um eine Erhöhung der städtischen Schuleinrichtungen schon Erfolg gehabt hätten, wurde durch das Zusammenwirken

meines Vaters mit einigen Eltern, deren Söhne in ähnlicher Lage waren, eine Privatschule organisiert, an welche ein von Berlin aus

sehr warm empfohlener junger Lehrer mit Namen Josef Rode berufen wurde, der ein ganz neues Leben in die Entwicklung unserer

Schulerziehung brachte. Er hatte vorzugsweise naturwissenschaftliche Studien getrieben, während an der Stadtschule neben einigen frischeren Lehrkräften von seminaristischer Bildung hauptsächlich die drei Rektoren wirkten, deren Vorbildung fast ausschließlich theolo­ gisch-philologisch gewesen war. Herr Rode machte mit uns botanische

Exkursionen, ließ jeden ein Herbarium anlegen; aber auch in deutscher

Literatur und Dichtung schlug er für uns ganz neue Töne an, las

9 uns im Walde auf den Exkursionen Eichendorfsche Novellen vor, während allerdings sein lateinischer Unterricht der Ergänzung durch einen der älteren Herren Rektoren bedurfte. Die eigentümliche Frische und Zuversicht, die er völlig neuen Aufgaben gegenüber in

uns weckte, wurde auch für mich und meine spätere Berufswahl von Bedeutung. Er hatte mir im besonderen, da ich auf das Gymnasium gehen sollte, Spezialunterricht im Griechischen zu erteilen, das er aber selber über seinen naturwissenschaftlichen Studien fast ganz ver­

gessen hatte.

Wie half er sich? Er legte mir einen der Dialoge von

Plato vor, gab mir ein Lexikon und eine Grammatik dazu und beauf­ tragte mich, eine Übersetzung zu liefern, ohne mir eine bestimmte Frist dafür zu setzen.

Ich brauchte viele Wochen, um eine gedmckte

Oktavseite von Plato in meinen Mußestunden zu übersetzen, aber ich glaube dabei mehr von der Sprache gelernt zu haben, als in einem

ganzen Jahre damaligen griechischen Gymnasialunterrichtes. Die nähere Kenntnis, die mein Vater in dieser ganzen Ent­ wicklung der Dinge zugleich von den Leistungen der seminaristisch ausgebildeten jüngeren Lehrer der Stadtschule nahm, eröffnete ihm

auch einen Blick auf die damaligen großen Fortschritte, welche dieser Lehrerbildung

durch Diesterwegs Genius zuteil geworden

waren. Es gelang ihm, diese jüngere Lehrerwelt der sämtlichen Grün­

berger Schulen, einschließlich der Mädchenschulen, kollegialer zu organisieren, tnbent er sie zunächst zu größeren Zusammenkünften

in seinem Hause und Garten vereinigte, an denen seine Söhne teil­ nehmen durften. Ich erinnere mich deutlich des Eindruckes, den ich von den sehr belebten pädagogischen und sogar philosophischen Er­ örterungen empfing, die unter der Führung einiger sehr begabter

Köpfe sich damals entspannen. Ich erinnere mich auch ebenso deut­ lich an die Überraschung, mit welcher der von der Berliner Universität gekommene Josef Rode die jungen Bolksschullehrer über die Hegelsche

Philosophie und die beginnende naturwissenschaftliche Gegenwirkung gegen dieselbe disputieren hörte. Die über die erste Klasse der Stadt­ schule hinausgehende Privatschule, welche nach dem Plane meines Vaters als eine Art von Übergang zu der Errichtung einer Real­ schule oder eines Gymnasiums dienen sollte, vermochte leider diesen

10 Erfolg nicht unmittelbar zu erringen.

Inzwischen waren mein

Bruder und ich in das Schulalter der oberen Klassen der Mittelschulen

gelangt, und es wurde nun beschlossen, daß ich auf das MagdalenenGymnasium in Breslau und mein Bruder auf die Realschule in Bres­ lau, welche seinem mehr auf das Geschäftliche gerichteten Sinne ent­ sprach, übersiedeln sollten, was denn auch zu Ostem 1847 erfolgte. Bor der Schilderung dieses Überganges möchte ich aber aus

den Jahren 1843—47, in denen die obigen Entwicklungen des Grün­

berger Schullebens stattfanden, zunächst noch von einer anderen

Gruppe von Erlebnissen erzählen, welche einige Ausblicke auf die gerade in diesen Jahren so mächttg emporgehenden Leistungen der

Technik und des ganzen Verkehrswesens darbieten.

Im Jahre 1843 machte mein Vater mit seinen vier ältesten Kindem eine Reise ins schlesische Gebirge, welche uns entzückende Anregungen bot.

Mit dem Eisenbahnbau hatte man in Schlesien

damals eben erst begonnen, so daß die Reise auch jetzt noch fast aus­

schließlich mit dem eigenen Wagen erfolgen mußte.

Ich hatte zwar

schon im Jahre 1837 bei einer Reise, welche wir mit den beiden Eltern nach Dresden machten, von dem Beginn des Eisenbahn­ betriebes zwischen Dresden und Leipzig einen Anblick bekommen,

und mein Bruder und ich waren dann im Jahre 1838 auf einer Reise

nach Berlin mitgenommen worden, wo wir Gelegenheit hatten, auf der soeben eröffneten ersten Teilstrecke der Berlin-Potsdamer Eisenbahn von Berlin nach Steglitz zu fahren. Mir selber machte die Geschwindigkeit der Fahtt und der ganze neue Verkehrsapparat

keinen besonderen Eindmck. Nur von der Erregtheit meines sonst sehr mutigen und zuversichtlichen Vaters über die Geschwindigkeit der Fahrt wurde ich etwas tiefer bewegt, so daß ich wenigstens ahnte,

daß es sich um etwas sehr Neues und Gewaltiges handelte. In den Jahren zwischen 1838 und 1843 entwickelte sich dann neben der Erweiterung des Eisenbahnbaues auch die elettrische Tele­ graphie, und ich erinnere mich, daß int Elternhause und in der Schule

von allen diesen großen neuen Dingen sehr viel gesprochen wurde. In der Stadtschule gab es einen älteren Lehrer, welcher sehr lebhaft gegen diese Dinge Front machte und uns einmal im Geschichts-

11 unterricht der Schule einzuprägen suchte, daß alle diese neuen Dinge

mehr oder minder Schwindel seien. Insbesondere behauptete er, daß alle die Eisenbahnunternehmungen sehr bald bankerott sein würden, sobald nämlich die Schienen verbraucht wären.

Bei einem

Schulfeste mit Schüleraufführungen wurde um das Jahr 1844 eine Disputation über den Nutzen und den Schaden der Eisenbahnen

vorgeführt, und es blieb dabei ziemlich unentschieden, ob schließlich der Nutzen oder der Schaden überwiegen würde.

Sehr lebhaft

waren gewisse Jnteressentengruppen, wie die Gastwirte und die Fuhrwerksbesitzer, durch die Söhne der betreffenden Eltem im pessi­ mistischen Sinn vertreten, die Gastwirte deshalb, weil „man immer so schnell wieder wegfährt wie man kommt".

Auch bei der Entwick­

lung der Telegraphie waltete eine Zeitlang ein gewisser Pessimismus. Man befürchtete, daß oberirdische Leitungen gegenüber der Raub­ sucht und der Zerstörungssucht der niederen Bevölkerungen nicht intakt zu erhalten sein würden, und man begann daher vielfach mit unterirdischen Leitungen, die aber noch mangelhaft isoliert wurden

und dann viel stärkere Störungen erlitten, als die oberirdischen. Jetzt führt man doch mit hinreichender Sicherheit oberirdische Lei­

tungen sogar durch weite Landflächen, die von den ungeordnetsten Bevölkerungen bewohnt oder durchzogen werden. Eine andere große Errungenschaft jener Jahre lernten wir bei

der vorerwähnten Reise ins schlesische Gebirge im Jahre 1843 zuerst

kennen. Ich meine die im Jahre 1839 von dem Franzosen Daguerre erfundene Technik des Lichtbildes, aus der sich schon innerhalb der ersten zehn Jahre die umfassendere Technik der Photographie ent­ wickelte.

Zu Warmbrunn im schlesischen Gebirge hatte sich damals

schon ein Daguerrotyp-Atelier aufgetan, in welchem von uns und von der mit uns reisenden Familie des sehr geliebten Bruders meiner verstorbenen

Mutter

ein

Familiengruppen-Daguerrotyp

ausge­

nommen wurde, von welchem ein unverändert konserviertes Exemplar noch in meinen Händen ist. Mein Vater schaffte sich bald nachher einen solchen Apparat an, mit welchem einer seiner technisch be­

wanderten Freunde in dem nächsten Jahrzehnt alljährlich ein Familien-

bild von nns aufnahm.

12

Im Jahre 1844 fand in Berlin die erste größere deutsche Ge­ werbeausstellung statt, zu welcher wir drei ältesten Kinder den Bater nach Berlin begleiten durften, wobei dann schon die Halste der Reise­

strecke mit der Eisenbahn zurückgelegt werden konnte.

Ich brauche

kaum hinzuzufügen, daß alle diese Reisen voll lebendigster An­ regungen für uns waren. Ebenso auch eine Berliner Reise, welche

im Anfang 1847, noch bevor mein Bruder und ich nach Breslau über­ siedelten, stattfand, als mein Bater nach seiner Verlobung mit der schon oben erwähnten Erzieherin, Fräulein Albertine von Hahn,

seine ältesten Kinder der Familie dieser unserer künftigen Mutter vorführen wollte. Diese Berliner Familie, bestehend aus dem

Bruder der Verlobten, dem Artillerie-Obersten von Hahn nebst seiner

Frau und Tochter und vier in seinem Hause lebenden Schwägerinnen mit Namen Bettram, ist mir dann, als ich im Verlaufe meiner Stu­ dien- und meiner wissenschaftlichen Laufbahn nach Berlin über-

siedelte, von unsäglicher Wohltat gewesen, beinah wie ein zweites Eltemhaus.

Der Oberst stieg in seiner militättschen Laufbahn

späterhin bis zum General-Jnspetteur der Attillette empor und war mir stets ein gütiger Berater und Freund, obwohl wir später in den

bewegten Tagen der Konflitte zwischen Regiemng und Volksver­ tretung recht verschiedener polittscher Ansicht waren. In die Jahre 1844—47, in denen mein Bater sich, wie ich oben dargelegt habe, für die Entwicklung des Schulwesens lebhaft ins

Zeug legte, fiel nun auch eine Reihe von Erlebnissen und Betäti­

gungen seinerseits auf dem Gebiete der kirchlichen Bewegungen. Als Vorboten der politisch-sozialen Bewegung von 1848 hatten

sich schon

in den letzten Jahren der Regiemng von Fttedttch

Wilhelm III. auch konfessionelle Bewegungen und Konflitte ent­ wickelt, zunächst zwischen der protestanttschen Regiemng und den Führem der katholischen Bevölkemng Preußens, sodann aber, unter dem Eindmcke der epochemachenden Veröffentlichungen von David Strauß über das Leben Jesu, eine starke freireligiöse Bewegung

innerhalb des deutschen Protestantismus, deren Anhänger sich die Lichtfreunde nannten und besonders in Mitteldeutschland, in der ersten Hälfte der vierziger Jahre eine große Mehrheit der Geistlich»

13 feit für sich gewannen, unbekümmert um die wachsende Gegenwirkung der preußischen Staatskirche unter der Regierung von Friedrich Wilhelm IV. Mein Vater war ein warmer Anhänger der „lichtfreundlichen" Bewegung. Als nun um das Jahr 1844 auch in der katholischen Kirche, unmittelbar veranlaßt durch die Ausstellung des heiligen Rockes zu Trier und durch die Wallfahrten zu demselben, sich eine freiheitliche Bewegung unter der Führung von Johannes Ronge, einem ober­ schlesischen katholischen Geistlichen, entwickelte, die auch von der protestantischen Orthodoxie anfangs nicht ungern gesehen wurde, hatte mein Vater Anlaß, den damaligen leitenden Männern sowohl auf dem Gebiete der freikatholischen Bewegung als auch der licht­ freundlichen protestantischen Bestrebungen gerade in Grünberg näher zu treten. Die Einwohnerschaft von Grünberg war weit überwiegend evangelisch, so daß die kleine katholische Gemeinde gegenüber der öffentlichen Meinung, welche damals sehr lebhaft gegen den „heiligen 9tod" reagierte, einen schweren Stand hatte. Es gab daher inner­ halb dieser Gemeinde eine einflußreiche Gruppe, welche den Apostel der freikatholischen Bewegung, Johannes Ronge, nach Grünberg einlud und meinem Vater die Bitte vortrug, demselben in seinem Hause Gastfreundschaft zu gewähren. Mein Vater sagte dies zu und erreichte zugleich das Zugeständnis der evangelischen Geistlichkeit, daß der freikatholische Priester seine Predigt gegen die Mißbräuche der Reliquienanbetung usw. auf der Kanzel der evangelischen Kirche vortragen dürfte. Ronge erschien denn in unserem Hause, hielt in der Kirche eine durch würdevolle Mäßigung höchst eindringliche Predigt und begründete dann eine freikatholische Gemeinde in Grünberg, für deren leitende Männer zusammen mit ihm und einigen lichtfreund­ lichen Geistlichen der Umgegend mein Vater ein festliches Zusammen­ sein in unserem Hause veranstaltete, welches durchaus harmonisch verlief mit der einzigen Ausnahme, daß meine zehnjährige Schwester in einer poetischen Ansprache, mit welcher sie in lichtem Gewände Herrn Ronge beim Beginn des Festes begrüßen sollte, vollständig stecken blieb, und daß auch mein Gedächtnis, welches ihr dabei zu

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Hilfe kommen sollte, in der gwßen „lichtfreundlichen" Emotion völlig versagte.

Herr Stenge beendigte die Situation, indem er

dem lieben Mädchen die Hand küßte. Mein Vater war fortan in den nächsten Jahren der ständige Gastfreund nicht nur der freikatholischen, sondern auch der licht­

freundlichen evangelischen Prediger, welche damals Deutschland mit ihrer Propaganda durchwanderten. Mcht nur mein Vater, sondem auch seine ältesten Kinder hatten von mehreren dieser Persönlichkeiten den Eindruck bedeutender Intelligenz und selbst­ losester Hingebung. Mcht bloß in meiner Erinnerung, welche durch die warme Anteilnahme meines Vaters an diesen Bewegungen

stark beeinflußt wurde, sondem auch in der geschichtlichen Dar­ stellung kompetenter und gerechtigkeitsliebender Berichte bilden diese Jahre eine sehr merkwürdige kulturgeschichtliche Episode. Jene Be­

wegungen, die von den gewaltigen politisch-sozialen Katastrophen und Entwicklungen von 1848 in den Schatten gestellt worden sind,

hatten doch wesentlichen Anteil an der Verstärkung und Vertiefung der idealen Seiten dieser politischen Freiheitsbestrebungen in Deutsch­ land.

Dementsprechend wirkten sie aber in der Reaktionszeit nach

1848 auch erheblich verschärfend auf die zwangvollen Rückschritte in dem Gebiete der kirchlichen und pädagogischen Institutionen.

3. Kapital. Breslauer Gymnasialzeit (18^?—(850).

Zu Ostern 1847 erfolgte nun meine und meines älteren Bruders Übersiedlung nach Breslau. Meine Lehrer in Grünberg hatten sicher erwartet, daß ich in der Prima des Magdalenen-Gymnasiums zu Breslau Aufnahme finden würde, während meinem älteren Bmder die Tertia der Realschule in Aussicht gestellt wurde. Die Sache ver­ lief zu meiner Demütigung, aber eigentlich zu tieferer innerer Wohltat,

umgekehrt. Mein Bruder kam nach der Sekunda, während ich mit der

Obertertia vorlieb nehmen mußte. Und zwar hauptsächlich deshalb, weil meine lieben Herren Lehrer in Grünberg int Griechischen nicht

15 mehr genug Bescheid gewußt hatten, so daß mir meine oben erwähnte nähere Bekanntschaft mit Plato nur ein mitleidiges Lächeln eintrug.

Indessen ging es sehr bald vorwärts, da man mich schon nach einem

halben Jahre in die Sekunda und nach einem Jahre von dort in die Prima gelangen ließ, so daß ich int Oktober 1850 die Universität Berlin beziehen konnte.

Wie sehr fühle ich mich in tiefster Dank­

barkeit gedrungen, an dieser Stelle von den damaligen Zuständen und Leistungen des Gymnasiums zu Sankt Magdalene einige Erinnenmgen mitzuteilen, an die ich leider einen schmerzlichen Seufzer anknüpfen muß darüber, daß meinen eigenen Söhnen in ihrer Berliner Gymnasialzeit zwischeir 1880 und 1895 auch nicht entfernt so glückliche Lehrjahre zuteil geworden sind. Die Seele jener Breslauer Gymnasialzeit war der Direktor Schönbom, zusammen mit einigen

ausgezeichneten Lehren: der Sprachen und der Mathematik.

Die Schüler der oberen Klassen wurden mit stetigem Ernst unter­ wiesen und erzogen, aber jegliche disziplinarische Not einer beider­

seitigen Erniedrigung wurde aufs glücklichste vermieden, und es lebte in den besten Lehrkräften des Gymnasiums, besonders aber in

Direktor Schönbom selber eine warme Begeistemng für die alt­ klassische und neuklassische Literatur, überhaupt für kulturgeschicht­

liche Ausblicke und für die logischen Feinheiten der Sprachbildung. Hierdurch wurde dem ganzen Betriebe ein musischer Hauch gegeben,

der mit Einpaukerei gar nichts zu tun hatte.

Ich hatte außerdem

das besondere Glück, daß der mathemattsche Lehrer der oberen Klassen, Professor Sadebeck, selber Beziehungen zu den prakttschen

Anwendungen der Mathemattk in der Technik und im Vermessungs­ wesen hatte, und daß hierdurch, obwohl er kein großer Mathemattker war, seine Lehrwirksamkeit eine besonders belebende Freudigkeit

empfing, welche dem mathematischen Unterricht vielfach gänzlich

fehlt, wenn er von

sogenannten mathematischen Talenten, die

der praktischen Anwendung oft ganz abgeneigt femstehen, erteilt

wird. Direktor

Schönbom,

dessen

Lehttätigkeit hauptsächlich

der

Printa zuteil wurde, eröffnete uns, besonders in der griechischen und deutschen Literatur, weite und lichte Horizonte. Als ein Bei-

16 spiel hierfür möchte ich nur folgendes Erlebnis anführen: Als mit

dem 28. August 1849 die Säkularfeier von Goethes Geburt heran­ nahte, welche von dem Gymnasium mit einem festlichen Schulaktus

begangen werden sollte, eröffnete dem Primaner Wilhelm Foerster eines Tages der Direktor Schönborn, daß er ihm einen wesentlichen Anteil an der Feier anvertrauen wolle in Gestalt eines Bortrages,

den ich über das Thema „Goethes Faust und Wolfram v. Eschen­

Hierfür übergab er mir zunächst eine Betrachtung, welche nicht lange vorher von dem deutschen Literar­

bachs Parzival" halten solle.

historiker Bilmar im Sinne der Vergleichung jener beiden großen Dichtungen veröffentlicht worden war. Da mußte ich nun den Faust und den Parzival gründlich durcharbeiten.

Mein Vortrag wurde

natürlich nichts anderes als eine nähere Ausführung der Betrachtung

von Bilmar, erleuchtet durch einige eigenartige Gedanken meines Direktors. Aber es ist Kar, daß ein Schulleben, in welchem der­ artige Aufgaben gestellt und derartige Inspirationen dargeboten werden, nicht bloß für den damit beglückten einzelnen Schüler,

sondem für den ganzen Gemeinschaftsgeist der Lehrer und Schüler von schönster Bedeutung ist. Nicht ohne Schwierigkeiten war die Lage unseres Direktors gegenüber den Wirkungen, welche das Jahr 1848 auch in der Schüler­

welt anrichtete. Breslau war in diesen Zeiten vielleicht eine der auf­ geregtesten Städte Deutschlands, da die schlesische Bevölkerung in der eigentümlichen Zusammensetzung ihres Temperaments aus deutschen und slawischen Elementen in besonderer Weise von den sozialen und nationalen Freiheitsgedanken ergriffen wurde. Mcht bloß die Studentenschaft, sondem auch die Schüler der oberen Klassen

der höheren Schulen verbanden sich teils öffentlich, teils im füllen zu gewissen Gruppen von Freischaren, die sich sogar mit allerhand Waffengerät der primiüvsten Art ausrüsteten und nächtlicherweile

Exerzierübungen damit veranstalteten, um nötigenfalls sich an dem Kampfe gegen die sogenannte „Soldateska" beteiligen zu könne».

Wir hatten im Magdalenen-Gymnasium schon vorher eine ganz vernünftige disziplinarische Schülerorganisation, darin bestehend, daß die Ordnung und Ruhe in der Klasse, insbesondere auch in den

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Zwischenzeiten zwischen den Anwesenheiten der Lehrer, von zwei seitens des Direktors dazu ernannten Schülern, welche den Namen

„Dekurionen" führten, überwacht wurde. Dem souveränen Schülervolke wurde es aber int Frühjahre 1848

unerträglich, daß diese Autoritätsorgane vom Direktor eingesetzt waren. In der Selundaklasse, in der ich mich damals befand, waren glücklicherweise die beiden, vom Direktor schon beim Beginn des

Schuljahres ernannten Dekurionen zwei sehr geachtete Schüler, so daß man sie nicht einfach durch Schülerbeschluß absetzte, obwohl der eine von ihnen noch dazu einen aristokratischen Namen hatte.

Es wurde ihnen nur durch einen fast einstimmigen Beschluß der Klasse

erklärt, daß sie aus prinzipiellen Gründen ihre Autorität gegen die Schüler nicht ausüben dürften, und daß sie ihre Befugnisse an einen

von der Klasse gewählten Volks dekurio abzutreten hätten, welcher denn auch sofort die Regierung übernahm, während die offizielleit Dekurionen nur den Verkehr mit dem Direktor fortsetzten und sich dabei taktvoll und friedlich benahmen.

Der Direktor Schönborn,

der keineswegs demokratisch gesinnt war, bewies gegenüber diesen

Vorgängen außerordentliche Lebensweisheit, indem er jeden un­

mittelbaren Eingriff vermied und dadurch erreichte, daß auch die Schüler ein gewisses Maß der Opposition einhielten. Dieser ganze

Zustand wird am besten durch folgenden Vorgang charakterisiert:

In den bewegtesten Frühlingstagen von 1848 war das Auftreten eines Grafen Eduard Reichenbach in den öffentlichen Volksversamm­ lungen eine Zeitlang von größter Wirkung auf die Gemüter, be­ sonders der jungen Welt, so daß eines Vormittags unsere Klasse be­

schloß, in corpore einer dieser Volksversammlungen, die für den Nachmittag angesagt war, beizuwohnen. Der Nachmittag war aber leider nicht schulfrei.

Man fühlte sich indessen so berechtigt, ja fast

verpflichtet zu diesem gemeinsamen Besuche der Volksversammlung,

daß die Klasse beschloß, den Direktor um den Ausfall des Nach­ mittagsunterrichts zu bitten. Die offiziellen Dekurionen weigerten sich natürlich, die Träger dieses Gesuches zu sein, und der Volksdekurio wurde in diesem Falle nicht für geeignet erachtet, da er als

solcher vom Direktor ignoriert wurde. Wtlh. goerfter. Leben-erinnerungen.

So kam es, daß man mich,

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18 da ich einige Familienbeziehungen zu dem Direktor hatte, als Depu­ tation zu ihm schickte. Unvergeßlich ist es mir, mit welchem Hunwr

er mich aufnahm.

Er sehe wohl ein, daß wir in außerordentlichen

Zeiten lebten, von denen besonders die Jugend ergriffen werde. Dabei warf er einen etwas kritischen Blick auf mein Knopfloch, in welchem eine lange schwarzrotgoldene Schleife baumelte.

Unter

den gegebenen Umständen werde allerdings das Interesse an dem Nachmittagsunterricht so sehr hinter der Begeistemng für den Grafen Reichenbach zurückstehen, daß er die Ausnahme bewilligen wolle,

in der bestimmten Hoffnung, daß uns die Anhörung dieser Rede ernüchtern werde, und daß sich alsdann ähnliche Wünsche nicht wiederholen würden, da sie mit dem Schulbetriebe nicht verträglich seien. In der Tat blieb dieser Fall völlig vereinzelt, wozu der ganze Eindmck dieser Volksversammlung Wesentliches beitrug.

Die Primaner und Sekundaner der Breslauer Schulen ließen sich aber, nachdem diese ersten enthusiastischen Übertteibungen ver­ raucht waren, nicht abhalten, auch ihrer besonderen Lebenslage ent­ sprechend ernsthafte Freiheitsbestrebungen zu organisieren, nämlich

eine Reform des Examinattonswesens ins Auge zu fassen.

Es lag

doch sehr nahe, unfern besonderen Anteil an den damaligen Be­

freiungsergebnissen in einer freieren Gestaltung des Abiturientenexamens einzuheimsen. Die Beratungen, die hierüber von mehreren hundett Primanern und Sekundanern in dem großen Saale eines

Biergartens in der Mhe von Breslau stattfanden, waren auch keines­ wegs ungereimte Überhebungen, sondern von manchen tiefen und gefunben Ideen durchglüht, von denen ich sicher bin, daß sie in einer

höheren Stufe der Pädagogik schon in nächster Zukunft in ihren wesenttichen Zügen Erfüllung finden werden. Man wies hin auf den erllätten Zweck des Abiturientenexamens, daß es nämlich dazu dienen sollte, ein Zeugnis der „Reife" zu erlangen, und man sprach

es mit aller Offenheit und mit einem hohen Grade von Berechtigung aus, daß für diese Bezeugung der Reife der nahezu 20jährigen jungen Männer doch etwas ganz anderes maßgebend sein sollte, als der überwiegend verlangte Nachweis sprachlicher und mathematischer Kenntnisse. Besonders für ein freier werdendes Volk sei es uner-

19 läßlich, daß für den Abgang zur Universität und für den darauf folgenden Übergang in die Mitarbeit an den höchsten Kulturaufgaben

auch ein gewisser Nachweis der Reife des Charakters, und zwar als ein wesentliches, fast entscheidendes Moment der Zulassung zur wissenschaftlichen Freiheit der Lebensarbeit gefordert werden sollte. Für die Beurteilung der Reife des Charakters der Schüler seien aber die Urteile der Lehrer meistens ganz unzureichend, keinesfalls entscheidend; denn zumal bei dem bestehenden Betriebe der päda­ gogischen Organisation und der Schuldisziplin seien es in den meisten

Schulen die „Streber", also die charakterlosen Wesen, welche von den Lehren: vielfach am günstigsten beurteilt würden. Es wurde also einmütig beschlossen, an das Unterrichtsministerium eine Petition

einzureichen um eine anderweitige Ordnung der Reifeprüfung, und zwar in dem Sinn, daß das wissenschaftliche Urteil der Lehrer unter­ stützt und vervollständigt werden sollte durch die Organisation einer Mitwirkung der Schülerwelt hinsichtlich der Beurteilung des Cha­ rakters und der Reife des Mtschülers zum Übergang in eine höhere,

freiere Stufe der Lebensentwicklung. Es ist einleuchtend, daß solche Gedanken, obwohl sie einen

so richtigen Ken: enthalten, innerhalb des bisherigen Schulbetriebes keine emsthafte Berwirllichung erfahren konnten. Aber sie werfen ein Schlaglicht auf die Unvollkommenheiten des ganzen Exami­ nationswesens und auf die seit jener Zeit immer unbefriedigender

gewordenen Zustände und Stimmungen, in denen sich die jungen Männer in den obersten Schulllassen gegenüber der unterschiedslosen Lernmechanik befinden, während ihnen, im Sinne von Pestalozzi, je

nach den Besonderheiten der Begabung in aller Freiheit päda­ gogische Mitwirkungen eröffnet werden könnten, welche auch der Klärung ihres eigenen Mssens zugleich mit sozialer Verfeinerung

und Stärkung des Charakters so dienlich sein würden. Zu den Erziehungswirkungen der Breslauer Zeit kamen noch zwei hinzu, welche mehr der körperlichen Sphäre angehörten, aber

mir auch tiefe Lebensbereicherung brachten.

Das war das Turnen,

welches sich damals an den höheren Schulen in besonders enthu­

siastischer Weise entwickelte, und die edle Reitkunst, in welcher mir



20 mein Bater, der selber in der Jugend ein gar flotter Reitersmann gewesen war, unter den angenehmsten Verhältnissen Unterweisung erteilen ließ.

Ich wurde mit den Pferden sehr gut fertig und fand

in der Reitschule einen Stallmeister, der mich auf längeren Parforce-

ritten zu meinem unsäglichen Vergnügen mitnahm.

Das Turnen

wurde mir besonders erzieherisch dadurch, daß man auch mir die Leitung und Überwachung einer größeren Schar von jüngeren Mit­ schülern auf dem Turnplatz anverttaute, wobei ich anfangs nicht geringen disziplinarischen Schwierigkeiten zu begegnen hatte, weil

ich ein kleiner Kerl war und mit meistens größeren und kräftigeren Kameraden zu tun hatte. Die Überwindung der Schwierigkeiten gelang mir ähnlich, wie bei dem früher erwähnten Vorgang in der Grünberger Stadtschule, dadurch, daß ich einige der besten Jungen

durch besonders vertrauensvolle Behandlung auf meine Seite brachte,

was mir später im Leben öfters vorgeschwebt und geholfen hat. Mein älterer Bruder war leider nur kurze Zeit in Breslau mit mir zusammen gewesen, da er schon ein halbes Jahr nach der Über­ siedlung von einem hartnäckigen Magenleiden befallen wurde, welches

seine weitere Schullaufbahn unterbrach und den Bater bestimmte, ihn dann unter heimatlicher Pflege sofort in das Geschäftsleben eintteten zu lassen. Nachdem mir so der älteste und nächste Freund

in Breslau genommen war, habe ich allmählich mehrere sehr innige

und dauernde Freundschaften geschlossen, insbesondere mit zwei Mtschülern, von denen der eine, Eduard Wendel, der später die richterliche Laufbahn wählte, noch lebt, der andere, Louis Waecker (später von Waecker-Gotter), der in die diplomattsche Laufbahn eintrat, vor kurzem zu meinem tiefen Schmerz gestorben ist.

Beide

waren ebensowenig Musterschüler, wie ich selber, aber unaussprechlich

liebe Menschen. In den.aufgeregtesten Zeiten von 1848 waren sie keineswegs einverstanden mit meinem polittschen Gebaren. Beide

gehörten durch ihre Familien der konservativen Richtung an, während ich durch den radikal-demokrattschen Lehrer, bei dem ich in Pension war, nach der andern Seite gezogen wurde. Mein Bater hatte sich, trotz seiner vorhergegangenen Verbindungen mit den kirchlichen

Freiheitsbewegungen, jetzt auf die sogenannte konstituttonelle Seite

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gestellt, und zwar hauptsächlich gegenüber den Aufhetzungen, die auch in Grünberg innerhalb der Arbeiterschaften getrieben wurden.

Es

gelang ihm, in der zahlreichen Grünberger Arbeiterbevölkemng

extreme Bewegungen zu verhüten, weil er schon seit Jahren in der Arbeiterschaft seiner eigenen Fabriken ganz auf eigene Hand einen Anfang mit Krankenkassen, sowie mit Unterstützungs- und Alter­ versorgungseinrichtungen gemacht hatte. Meine Ehrerbietung für den Vater war doch so groß, daß ich bei den Ferienbesuchen in der

Heimat im Frühjahre und Sommer 1848 nur äußerst schüchtem und bescheiden mit meiner Breslauer Demokratengesinnung hervortrat. Auch die Differenz mit den beiden konservativen Freunden milderte

sich dann erheblich, als im Herbst 1848 in Frankfurt a. M. die schmäh­ liche Ermordung des Fürsten Lichnowski durch die aufgeregten

Bolksmassen begangen wurde. Fürst Lichnowski war eine von meinem Vater auf Grund mehrfachen freundschaftlichen Zusammen­

wirkens hochverehrte Persönlichkeit.

Er hatte auch, als mein Vater

als Grünberger Abgeordneter in den Vereinigten Landtag eingetreten war, mehrfach in ganz besonderer Freundschaft sich der politischen

Tätigkeit des auf diesem Gebiete noch unerfahrenen Geschäfts­

mannes angenommen. Die Umstände, unter denen dieser eigen­ artig bedeutende Edelmann ermordet wurde, öffneten mir die Augen

übet die Unreife und das Unmaß der demokratischen Hetzereien, was mir natürlich in dem Hause meines Pensionsgebers, der sonst meine volle Hochachtung und Anhänglichkeit besaß, eine schwierige

Stellung bereitete. Beinahe wäre es mir aber passiert, daß ich trotz jener meiner Sinnesänderung als Barrikadenheld gestorben und entsprechend gefeiert worden wäre. Das war am 7. Mai 1849.

Als die Frankfurter Nationalversammlung auseinandergegangen war, entstanden bekanntlich in einer Reihe von größeren deutschen Städten und auch in Breslau (Berlin war ja seit dem November 1848 unter strengster militärischer Bewachung) Aufstandsbewegungen in

Gestalt von Barrikadenkämpfen.

Ich war, nichts davon ahnend,

am 7. Mai, nach dem Schlüsse des Nachmittagsunterrichtes mit

einem Freunde Billard spielen gegangen und wollte mich dann gegen Abend durch eine der Hauptstraßen nach meiner Wohnung

22 begeben, die auf einer Oderinsel lag.

Da sah ich vor mir, völlig

überraschend, an dem Kreuzungspunkte jener Hauptstraße mit einer der belebtesten andern Straßen, eine Barrikade, bestehend aus über­ einandergetürmten Schubkarren und anderem Gerümpel. In der

Nähe war niemand zu sehen, und ich ahnte nicht, daß auf der mit meinem Wege sich kreuzenden Straße, welche nach der Barrikade hinführte, bereits das Militär anrückte, vor dessen zu erwartenden

Gewehrsalven sich die Erbauer der Barrikade in die benachbarten Häuser zurüötzezogen hatten, aus deren Fenstern sie dann auf das anrückende Militär zu schießen gedachten. Weithin in der Richtung meines Weges noch immer niemand erblickend, wagte ich als fixer Hutner die Barrikade zu überklettern, und dieses Erscheinen eines

Menschen auf der Barrikade rief sofort aus der Querstraße die erste Gewehrsalve hervor, so daß mir die Kugeln um die Ohren Pfiffen und auch prasselnd in die offenstehenden Fensterflügel einschlugen. Jetzt nahm ich nun die Beine in die Hand und lief, so schnell ich konnte, den kürzesten Weg nach Hause, wobei ich noch einer Militär-

patrouille begegnete, die mich hart anließ, aber nach gegebener Aufllärung ziehen ließ. Natürlich war dies ein gewalttger Chok, der nicht ohne Nachwirkung auf meine Gesundheit blieb.

In dieser

Mainacht wurden zahlreiche Barrikadenkämpfer erschossen und auch mehrere Offlziere und eine größere Anzahl von Soldaten. Meine Wohnung auf der Oderinsel war in demselben Jahre nicht ohne ernstliche Gefahren für mich gewesen. Ich brach einmal beim Erproben der Eisfläche des Flusses so unglücklich ein, daß ich ein Stück unter dem Eise mit fortgerissen wurde, bis ich zum Glück noch an einer offenen Stelle flußabwärts wieder auftauchen konnte.

Ein anderes Mal mußte ich mich an der Rettung des Keinen Sohnes meines Lehrers beteiligen, welcher beim Spielen in einem Kahn,

der nicht genügend befestigt am Ufer lag, in die starke Strömung hinausgetrieben wurde, die nicht weit davon über ein breites Wehr hinabstürzte. Es gelang dem Vater des Knaben und mir, mit einem

andern Kahne nachfahrend, den losgerissenen Kahn noch rechtzeitig zu packen, und mit unseren starken Stoßrudern beide Kähne ans Land zu bringen. Es scheint, als ob die Wiederholung solcher Ge-

23 mütserschütterungen die Hauptursache einer schweren Erkrankung

gebildet Gestalt

haben, von

die

mich

gegen

Ohnmachtsanfällen

Ende des

bedrängte

Jahres und

mit

1849 in

mehr­

monatlicher Schulunterbrechung zu einem Aufenthalt im Eltern-

hause nötigte. Dieser Aufenthalt wurde für mich eine Zeit tieferen Nach­ denkens über meine Berufswahl. Auf der Schule hatten mich Sprachen und Literatur ebensosehr angezogen wie Mathematik und Naturwissenschaft. Es gab Zeiten in Breslau, in denen ich zu­

gleich von der klassischen Musik derartig ergriffen worden war, daß mir auch der Gedanke kam, einen musikalischen Beruf zu wählen.

Ein alter Organist, der mich im Klavierspiel unterrichtete und auch

in die Konzerte eines Künstlervereins einführte, hatte mir die Herr­ lichkeiten von Beethoven geöffnet, die mir mein ganzes Leben ver­

schönt haben.

Während der durch die Erkrankung erzwungenen

Schulunterbrechung im Winter 1849/50 trat nun auch meinem Vater

gegenüber, im Hinblick auf das im Spätsommer 1850 bevorstehende

Abiturientenexamen, die Erörterung einer wissenschaftlichen Berufs­

wahl in den Vordergrund.

Schon einige Jahre vorher hatte mich

ein im Besitz des Vaters befindliches Fernrohr mehrfach zum Studium

von Fernblicken angeregt.

Konnten wir doch von den Anhöhen um

Grünberg am südlichen Horizonte die etwa 150 km entfernten Gipfel des Riesengebirges schoir mit bloßem Auge erkemren und iin Fern­ rohr die Kapelle auf der Schneekoppe unterscheiden. Zu diesen An­

regungen kam nun das Studium von Alexander von Humboldts

neuesten Werken hinzu. Ganz vorübergehend ergriff mich burd) einen Einblick in die populäre Himmelskunde von Littrow eine Sehnsucht nach dem Studium der kulturgeschichtlichen Entwicklung

dieser Wissenschaft und dementsprechend nach der Erforschung der Sprachen und Literaturen der ältesten Kulturvölker im Osten. — Aber der Entschluß, mich der Astronomie selber zu widmen, kam doch

zur entscheidenden Geltung, da ich eine ganz besondere Freude auch an der edlen Rechenkunst hatte.

Nach Ostern 1850 durfte ich zur Schule zurückkehrcn und machte dann int September 1850 mein Abiturientenexamen, bei welchen!

24 ich auf Gmnd der schriftlichen Arbeiten fast ganz von der mündlichen Befragung dispensiert wurde. Ich darf wohl, im Anschlüsse an meine früheren Äußemngen

über das Magdalenen-Gymnasium, hier in treuer Erinnerung noch aussprechen, daß meine Gesinnung gegenüber den meisten Lehrem und insbesondere dem Direktor gegenüber doch ganz überwiegend voll Hochachtung und Dankbarkeit war, ganz abweichend von den

Auffassungen, welche meine eigenen Söhne von ihrer Schulzeit mit

ins Leben nahmen, und auch ganz abweichend von zahlreichen anderen Äußemngen, die ich von geordneten und begabten jungen

Männem über die verschiedensten höheren Schulen der Gegenwart Ich weiß sehr wohl, daß eine Herleitung

zu hören bekommen habe.

von allgemeinen Urteilen aus solchen persönlichen Eindrücken sehr leicht in Irrtum und Ungerechtigkeit verfällt, und daß man viele ausgezeichnete und höchst pflichtgetreue Lehrer der verschiedensten

Stufen des Schullebens sofort zugunsten der weniger leistungs­

fähigen Lehrkräfte und zu milderer Beurteilung zweifelloser Unvoll­ kommenheiten der bestehenden Einrichtungen stimmt, sobald man

in Bausch und Bogen abgeneigte und geringschätzige Urteile darüber abgibt. Diese Solidaritätsgefühle, an und für sich von edlem sozialen Charakter, sind aber in ihren überhand nehmenden Steigemngen, wie sie jetzt fast alle Gruppen von Gemeinschastswirksamkeit durch­

dringen, das größte Hindemis vemünftiger Selbstkritik in den ver­ schiedensten Bemfskreisen und der entsprechenden höheren Gemein­

schaftskultur.

4. Kapitel, Die Universitätszeit in Berlin 0850—1852)* Im Oktober 1850 bezog ich also die Universität Berlin, um Mathematik und Astronomie zu studieren. Dort verblieb ich drei

Semester, bis Ostern 1852, und übersiedelte dann nach Bonn, wo

ich fünf Semester, bis zum Spätsommer 1854, verblieb und im August

1854 mein philosophisches Doktorexamen machte. Die ganze Uni­ versitätszeit war für mich überaus förderlich und glücklich, vielleicht nicht zum wenigsten dadurch, daß mir infolge der vorerwähnten Er­ krankung die absolute Enthaltung vom Alkohol auferlegt worden war,

wodurch ich von der Beteiligung an dem gewöhnlichen Berbindungs­ und Kneipleben gänzlich abgehalten wurde. Statt dessen konnte

ich mir in vollster Freiheit mehrere überaus liebe Freunde, haupt­ sächlich im Gebiete des gemeinsamen Studiums, aber auch darüber hinausgehend, erwerben.

So wurde mir in der Berliner Zeit die

unvergeßliche Freundschaft des ausgezeichneten Musikers Hans von Bronsart, des späteren Intendanten des Hoftheaters zu Hannover,

zuteil, der meine musikalische Schulung durch den alten Breslauer Organisten wesentlich ergänzte und mir Unschätzbares ins Leben

mitgab. Während der drei Semester an der Berliner Universität habe

ich vorzugsweise Mathematik und Physik getrieben, da ich für die Sternwarte in der Mathematik noch nicht reif genug war. Jene erste Berliner Zeit wurde mir noch besonders geschmückt

durch die traulich-liebevolle Aufnahme, die ich in der Familie des Bruders meiner Stiefmutter, des damaligen Kommandanten von Berlin, General v. Hahn, fand.

26 Im Frühsommer 1851 genoß ich, zusammen mit meiner ältesten Schwester Hulda, durch unsere Befreundung mit eitfer dem Hof­ beamtentum nahestehenden, in Potsdam wohnenden Familie ein ganz besonderes, wegen der mitwirkenden Personen der Aufzeichnung

wertes Erlebnis.

$Bir durften, verborgen durch eine dichte Baum­

gruppe, auf der Pfaueninsel eines Sonntagsnachmittags aus einiger Nähe ein kleines Tanzvergnügen mit ansehen, welches König Friedrich

Mlhelm IV. einer kleinen Gesellschaft von Prinzen und Prinzessinnen

auf einer schön glatten Rasenfläche mit der Musik des Ersten Garde-

Regiments darbot.

Der König kommandierte dabei selber die Qua­

drille mit großer Lustigkeit, und als der Prinz Friedrich Mlhelm, der spätere Kaiser Friedrich, sich mit einer Polkamusik (der sogenannten

Mener Kreuzerpolka), in welcher der Takt öfter wechselte, nicht zurechtfinden konnte, nahm ihm der König die Dame ab und tanzte selber mit ihr, unter heiterster Akllamation der höchst anmutigen Gesellschaft, dem jungen Prinzen vor, wie er sich in den Takt zu

schicken hätte.

Der ganze Vorgang hat insofern einen geschichtlichen

Hintergrund, als er merkwürdig deutlich ersehen ließ, wie damals nach den für ihn so furchtbaren Zeiten von 1848 der König noch einer ganz bewunderswerten Heiterkeit und Elastizität fähig war.

Am Ende meines zweiten Semesters, also im Spätsommer 1851,

erlebte ich noch eine in mancher Beziehung für mich epochemachende Reise nach England zusammen mit meinen Eltern. Die väterlichen Fabrik- und Handelsgeschäfte, die sich damals in lebhaft auffteigender Entwicklung befanden, und in denen mein älterer Bruder sich mit

besonderer geschäftlicher Begabung zu betätigen angefangen hatte, beteiligten sich weitgehend an der im Jahre 1851 hauptsächlich vom Prinzen Albett ins Leben gerufenen ersten internationalen Aus­ stellung in London, und schon im Frühling dieses Jahres war mein

älterer Bruder als geschäftlicher Vertreter nach London gereist. Jetzt wurde auch der Student von den Eltern in diese erste große Welt­

bewegung eingeführt. Die Reise ging über Frankfutt a. M., sodann den Rhein hinunter, von Köln über Calais und Dover nach London und dann über Folkestone, Boulogne, Paris und Köln

wieder nach Hause.

27 Mit der englischen Sprache hatte ich schon auf dem Gymnasium angefangen, mich zu beschäftigen, und ich hatte dann das Glück, auf der Universität in Berlin mit einem jungen Engländer bekannt und sogar nahe befreundet zu werden. Zu Weihnachten 1850 nahm ich

ihn sogar in mein Elternhaus mit, und unsere Freundschaft hat mir in späteren Jahren nicht wenige tiefere Beziehungen zur englischen Geisteswelt geöffnet. Er war im Herbst 1850 nach Berlin gekommen, um dort hauptsächlich bei Prof. Lepsius ägyptische Altertumskunde zu studieren. Damit hatte es folgende Bewandtnis: Mein Freund

gehörte der unitarischcn Sekte an, hatte Theologie studiert und war nahe daran gewesen, in ein geistliches Amt einzutreten. Als er sich in dieser Lebenslage mit der Tochter eines der bedeutendsten uni­ tarischen Geistlichen in Manchester verlobte, hatte der Vater der Verlobten dem noch sehr jungen Manne die Bedingung gestellt,

vor der Verheiratung noch eine Vertiefung seiner Studien eintreten zu lassen und fich zugleich, da die Bermögensverhältnisse des Verlobten

dies gestatteten, ein besonderes Verdienst um die freireligiöse uni­ tarische Lehre durch eigenartige kulturgeschichtliche Studien zu er­ werben. So wurde ihm die Aufgabe gestellt, in Berlin bei dem berühmtesten Ägyptologen jener Zeit den Zusammenhang der mosaischen Gesetzgebung mit der Ethik der altägyptischen Literatur

und Denkmäler zu studieren und auf diese Weise die Mystik der un­

mittelbaren göttlichen Eingebung auf dem Sinai deuten zu helfen. Mein Freund machte sich denn auch fleißig ans Werk, aber es wurde

ihm bald klar, daß eine solche Aufgabe nicht als eine Episode zwischen Verlobung und Verheiratung behandelt werden konnte, und so beendete denn schon nach einem Semester die Sehnsucht nach der Geliebten diesen Berliner Ausflug in die Zeit der Pyramiden und

Pharaonen. Diese meine Beziehungen zu englischer Geistesart kamen mir bei der Reise sehr zustatten, obwohl meine Sprachkenntnis noch ziemlich mittelmäßig war, da der englische Ägyptologe über­ wiegend von meinem Deutsch zu profitieren gesucht hatte. So kam es denn, daß, als ich am ersten Morgen in London einen Policeman auf der Straße in „gewähltem" Englisch um Auskunft bat, derselbe mir einfach antwortete: „That’s no English at all!“

28

Die Ausstellung selber und das ganze Londoner Leben inter­ essierten mich in hohem Grade, und auch mein Englisch wurde dabei allmählich verständlich. Belustigend war es mir, unter der Marke „Philosophical In­ struments“, die über einer ganzen Abteilung der Ausstellung prangte, lauter Jnstmmente zu finden, die nur mit der Technik und der Natur­ wissenschaft und nichts unmittelbar mit der Philosophie zu tun hatten. Als philosophisches Jnstmment hatte mir bis dahin nur der „Nürnberger Trichter" vorgeschwebt. In der englischen Kulturentwicklung war aber bis dahin die Naturforschung überwiegend als die eigent­ liche Weltweisheit erschienen, was für den deutschen Studenten, der damals in Berlin noch Hegelsche Philosophie hörte, recht in­ struktiv war. Die Rückreise über Paris bot einige recht merkwürdige Eindrücke dar, obwohl der Aufenthalt nur wenige Tage dauerte. Es war lEnde August 1851) noch die Zeit des Präsidenten Louis Napoleon, welcher aber damals schon anfing, nach dem Kaiserthron zu schielen, den er ja dann im Winter 1851/52 mit Hilfe eines gewalttätigen Staatsstreiches und einer Volksabstimmung bestieg. So erinnere ich mich auf die folgende Begegnung bei einem Spaziergang, den ich mit den Eltem am Sonntagnachmittag in den Champs Elysäes machte. Der Präsident kam mit einem sehr eleganten Gespann von vier Pferden in einem offenen Wagen gefahren. Er kutschierte selbst. Neben ihm saß, wie wir aus den Mitteilungen der umgebenden Menge entnahmen, Persigny. Das Publikum rief ziemlich einmütig „Vive le Präsident“, was wohl auch der Eleganz des Aufzuges galt; denn Louis Napoleon lenkte (hinter ihm saßen zwei Diener) die vier schönen Rosse, die Peitsche in der einen, Hand, mit eigenartiger An­ mut. Auf einmal kam von einer Gmppe junger Leute der Ruf „Vive PEmpereur“. Während nun bis dahin der Herr Präsident auf das Zumfen nur durch Bemeigen des Kopfes geantwortet hatte, faßte er nun auf einmal Zügel und Peitsche in die eine Hand und griff mit der andern nach seinem Zylinderhut, mit dem er dann, ihn tief abnehmend, nach der Seite jener Gmppe hin demonstrativ grüßte. Jetzt aber erhob sich aus der Menge ringsum der donnemde

29 Ruf „Vive la RSpublique“. Die Antwort hierauf bestand in einem kräftigen Peitschenhieb, mit welchem das Gespann zu einem stolzen

Galopp angetrieben wurde, bis es den Blicken der an dieser Szene beteiligten Menge entschwand.

Die damalige Situation Frankreichs

konnte kaum charakteristischer dargestellt werden, als es in diesem Auftritt geschah. In London wie in Paris wurde ich besonders lebhaft von

den großen Kunstsammlungen ergriffen, während ich in Berlin noch keine Fühlung nach dieser Seite gewonnen hatte, nun aber, nach

der Rückkehr, in meinem dritten Semester auch der Kunstgeschichte und den Berliner Museen mich zuwandte. Ganz besonders wichtig wurde mir aber dieses dritte Semester

durch

die

Einblicke,

welche

von Professor Joachimsthal

die mir

mathematischen

Vorlesungen

auch in

die höchsten

endlich

Zweige der mathematischen Wissenschaft eröffneten. mir dabei

für

Es wurde

meine ganze spätere akademische und amtliche

Tätigkeit ins Klare gebracht,

daß die Hochschul-Pädadogik zwei

Typen von Lehrem bedarf, nämlich erstens solcher Lehrer, welche bei tiefem eigenen Wissen eine echte Beseligung darin emp­

finden, in die innere Welt der Hörer neue grundlegende und schöpferische Gedankenreihen einführen zu

können, die aus der

vergangenen Gesamtarbeit der Wissenschaft emporgewachsen sind, und zweitens solcher Lehrer, welche jenes sympathische Bedürfnis der Überlieferung von Gedankenschätzen und der aufhellenden Wir­

kungen derselben in der inneren Welt der Hörer nicht empfinden und in ihren Borträgen wesentlich nur dem instinktiven Bedürfnis nach

monologischer Gestaltung der noch in ihnen ringenden neuen und tiefen Gedankenverbindungen Ausdmck geben, ganz unbekümmert um die unmittelbaren Wirkungen aus die Hörer.

Lehrer von letz­

te r e r Art sind die großen Denker und Forscher, dagegen sind die andern die mindestens ebenso wichtigen Förderer der Anwendungen

und Ausbreitungen der tieferen Denkergebnisse. Wenn die Lehrer von dieser letzteren Art auch mehr der Ge­ staltung und Befruchtung des Wissens, als der eigenen tieferen

Forschung sich widmen, so erblühen ihnen doch gerade aus der Har-

30 monisierung, mit welcher sie die Gedankenschätze in andere Seelen einführen wollen, mitunter ganz eigenartige Neuschöpfungen, deren

Bedeutung für die Gesamtarbeit nicht selten die Ergebnisse der bloß auf die eigene Störung gerichteten Arbeiten der spezifischen Forscher

überstrahlt.

Auch die letzteren üben mittelbar bedeutende Lehrwirkungen aus, und zwar auf diejenigen Hörer, die ihrem Typus der selbständigen schöpferischen Begabung verwandt sind, während die ersteren, welche die eigentlichen sozialen Lehrkräfte sind, unmittelbar belebend auf

weitere Kreise wirken. Pwfessor Joachimschal gehörte in eminenter Weise diesem pädagogischen Typus an, der für mich in der Mathematik int höchsten Grade förderlich wurde, weil ich mehr Begabung für die logische und

technische Anwendung der Mathematik, als für die machematische

Forschung selber besaß.

In der gesamten Hochschulpädagogik müssen

durchaus die beiden Typen zu Worte kommen, während in den Schulzeiten zweifellos die Lehrer der ersteren Art die wirksameren

sind, besonders auch auf dem Gebiete der Mathematik, wo die soge­

nannten mathematischen Talente unter den Lehrern meistens den Schülem die Freude an den Herrlichkeiten ihrer Wissenschaft gänz­ lich verleiden, da sie mit Vorliebe mathematische Monologe halten, die nur von den entsprechend begabten Schülern verstanden und

gewürdigt werden. Diejenigen bedeutenden Köpfe, welche keine pädagogische Neigung und Begabung haben, sollten aber deshalb keineswegs

geringer bewertet werden, sobald sie wirllich eigenartige schöpferische Denker sind. Sie müssen bann nur an die rechten Stellen der ge­ meinsamen Arbeitsorganisation gebracht werden, wo sie sich nicht

mit der sie anödenden monotonen Lehrarbeit abzuquälen haben, sondem wo ihnen ohne bedrückende Tagespflichten der Drang nach bloßer innerer Vertiefung die edelsten Früchte zur Reife bringen hilft.

31

5. Kapitel. Die Universitätszeit in Bonn 0852—185^)» Nach der Beendigung meines dritten Berliner Semesters ging

ich zur Fortsetzung meiner astrononiischen Studien Ostern 1852 nach Bonn. Dorthin zogen mich die überaus inhaltsreichen Mitteilungen, welche Humboldts Kosmos über die Beobachtungstätigkeit von Professor Argelander air der Bonner Sternwarte enthielt. Ich hatte den Eindruck, daß ich dort in die praktische Beobachtungstätigkeit, von

der ich mich in Berlin noch femgehalteir hatte, am besten eingeführt werden würde. Und diese Erwartung wurde in glücklichster Weise erfüllt. Ich fand bei Professor Argelander kompetente Belehmng und gütige Förderung ohnegleichen, so daß die beiden Jahre, die

ich vom Frühling 1852 bis zum Sommer 1854 auf der Bonner Sternwarte zubringen durfte, zu den beglückendsten meines ganzen Lebens

gehörten. Argelander, damals 53 Jahre alt, war, bevor er, um 1843, an die Bonner Universität berufen wurde, Direktor der Sternwarte zu Helsingfors in Finnland gewesen. Er war als Sohn eines reichen

Kaufmanns in Memel geboren, hatte dann in Königsberg studiert

und als Schüler und Gehilfe des großen Monomen Bessel an der Königsberger Sternwarte gearbeitet. Auf Bessels Empfehlung hin

wurde er bei der Erledigung der Leitung einer Sternwarte in Finn­ land dorthin berufen. Seine Rückkehr nach Deutschland und seine Anstellung in Bonn war das Werk von Bessel und Humboldt ge­ wesen, welche auch entscheidend dazu halfen, daß ihm in Bonn die Leitung des Baus und der Einrichtung einer stattlichen neuen Stern-

warte übertragen wurde. Auch König Friedrich Wilhelm IV. hatte in Gemeinschaft mit Humboldt besonderen Anteil an dieser Berufung genommen, denn Fritz Argelander war in der bedrücktesten Zeit der königlichen Familie, in der sie sich an der äußersten Grenze des preußischen Staates im Hause des Vaters von Argelander in Memel aufhielt, der Spielgenosse der beiden ältesten Prinzen Fritz und Ml-

Helm gewesen.

Und dieses freundschaftliche Verhältnis ist durch das

ganze Leben Argelanders von diesen beiden Prinzen, den späteren

32 Königen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm 1, mit größter Treue gepflegt worden.

Argelanders astronomische Tätigkeit war hauptsächlich der Be­ obachtung des Fixsternhimmels gewidmet, und zwar sowohl der Bestimmung der Orter und Ortsverändemngen der Sterne am Himmelsgewölbe, als auch der Messung

ihrer

Licht Ver­

Er plante in der Zeit meiner Ankunft in Bonn das großartige Untemehmen einer sogenannten Durchmusterung der änderungen.

ganzen nördlichen Himmelshalbkugel, d. h. der Himmelsfläche zwischen dem nördlichen Drehungspol des Himmels und dem um einen Viertel­ kreis davon abstehenden Himmelsäquator. Diese Durchmusterung sollte die Orter und die Helligkeiten aller mt dieser Himmelsfläche sichtbaren Sterne bis zur Helligkeit der sog. neunten Größe ermitteln

und in Karten verzeichnen, um für das nächste halbe Jahrhundert die

Grundlage für die immer genauere Ermittlung der Orts- und Licht-

verändemngen dieser Sternwelt zu liefern. Dieses grandiose Untemehmen, welches die Bonner Sternwarte

zwei bis drei Jahrzehnte lang beschäftigt hat, und an welchem unter Fühmng nacheinander mehrere der bedeutendsten

Argelanders

jüngeren Astronomen jener Zeit Anteil nahmen, gab damals den, wissenschaftlichen Leben und der persönlichen Gemeinschaft auf dieser

Sternwarte eine ganz besondere Weihe.

Es wurde mit einer Hin­

gebung ohnegleichen gearbeitet, und es wurden die Orter und die

Helligkeiten von mehreren hunderttausend Sternen derartig ge­ messen und in Karten verzeichnet, daß dieses Bonner Unternehmen

eine der größten astronomischen Taten des Jahrhunderts wurde. Dasselbe bildete weiterhin auch den Ausgangspunkt und Anhalt für eine danach in ebenso großem Stile durch die internationale astro­ nomische Gesellschaft begründete Organisation der immer genaueren und vollständigeren Ausmessung des ganzen Fixsternhimmels und

für die daraus hervorgehende Organisation der photographischen Aufnahme der Stemwelt.

Argelander war ein Meister der Beobachtungskunst, zugleich durch seine große Erfahmng und sein leuchtendes Beispiel ein unver­

gleichlicher Lehrer dieser edlen Kunst.

Aber er beherrschte zugleich

33

in völlig ausreichendem Maße diejenigen theoretischen Gebiete der Mathematik und Astronomie, welche sich mit den Grundlagen und Zielen dieser Beobachtungskunst beschäftigen. Für die Einführung eines Jüngers der Astronomie in die große

praktische Arbeit konnte weder ein besserer Lehrer noch ein besserer Aufenthalt gedacht werden, als die Bonner Stemwarte mir damals darbot. Zugleich traf es sich glücklich, daß dem jungen Studenten,

welcher an der Durchmusterung des Sternhimmels nicht unmittel­ bar beteiligt wurde, eine Reihe von Beobachtungsaufgaben der

Planeten- und Kometenwelt fast von selber zufielen, welche damals bei den Mitarbeitem der Durchmusterung an der Sternwarte geringere Beachtung fanden. So wurde mir schon im Sommerhalbjahr 1852 das große Äqua­ torialinstrument der Sternwarte zu Beobachtungen von neu ent­

deckten kleinen Planeten übertragen, nachdem ich von einem der

jüngeren Assistenten, der mir später ein innig verehrter Freund wurde, EduardSchönfeld (der später ein verdienter Astronom und Direktor der Sternwarte in Mannheim, sodann schließlich Nach­ folger von Argelander in Bonn wurde) in die betreffenden Methoden

und Einrichtungen eingeführt worden war. In besonders leuchtender Erinnemng ist mir aber aus dieser

Frühlingszeit meiner Beobachtungsarbeiten eine Mitwirkung bei einem sogenannten magnetischenTermin geblieben.

Diese

magnetischen Termine waren die ersten, die ganze Erde umfassen­

den Beobachtungsorganisationen, die seit 1839 durch Alexander von Humboldt und Gauß in Gang gebracht worden waren, und die

darin bestanden, daß an verabredeten Tagen 24 Stunden hindurch unablässig mit dem Auge durch ein Fernrohr die Schwingungs­ bewegungen eines, an mehrere Meter langen Seidenfäden aufge­ hängten, Magnetstabes an den verschiedensten Stellen der Erde gleichzeitig verfolgt und ausgezeichnet wurden. Die Aufzeichnungen

geschahen auf die Sekunde nach einer daneben schwingenden Pendeluhr Natürlich konnte ein einzelner Beobachter dies nicht 24 Stunden lang tun, und so wurde denn dieser Zeitraum in Intervallen von je zwei Stunden unter eine größere Anzahl von astronomischen GeMUH. Fo erster, Leben-erinnerungen.

3

34

Hilfen und Studierenden verteilt.

An dem betreffenden magne­

tischen Termin, welcher mit dem Pfingstsonnabend zusammenfiel, wurde mir die Zeit von 2—4 Uhr am frühen Morgen des Pfingst-

sonnabends zugeteilt, und das Verständnis dieser ersten Mtwirkung

bei einer großen kosmischen Untemehmung, bei welcher gewisser­

maßen der magnetische Pulsschlag der Erde belauscht wurde, erfüllte

mich in diesen einsamen Morgenstunden mit unvergeßlicher Lebens­ freude. Nach vollendeter Beobachtung ging ich um 4 Uhr dieses

Frühlingsmorgens auf die benachbarten Berge und trat dann mit den Freunden eine Dampfschiffahrt an, die uns am Nachmittage bis

in den Rheingau brachte. Einer der liebsten Breslauer Schulfteunde,

Louis Waecker (der spätere Diplomat von Waecker-Gotter, von dem

ich oben bereits erzählt habe) nahm besonders Anteil an den Schil­ derungen meiner kosmischen Morgenandacht auf der Sternwarte und brachte mich in zärtlicher Fürsorge auf der köstlichen erfrischenden Dampferfahrt zu einem Nachmittagsschläfchen, indem er mir von

den Erlebnissen bei seinen letzten Zweikämpfen — er war einer der

schneidigsten Paukanten bei dem Korps Bomssia — Geschichten er­ zählte, die mein Herz bei weitem nicht so stark bewegten, wie es die Schwingungen des Magneten getan hatten.

Die Rheinreise führte mich zum Pfingstfest in die damalige Bundesfestung Mainz, zu deren Kommandanten der Bmder meiner Stiefmutter, General von Hahn, nicht lange vorher ernannt worden war. In dem Hause dieser lieben Familie, von deren Heimatlichkeit ich schon oben bei meiner Übersiedelung zur Berliner Universität

erzählt habe, genoß ich eine für mich völlig neue und interessante Art der Geselligkeit, nämlich ein überaus vertrauliches und heiteres

Zusammenleben der preußischen und der österreichischen Offiziere und ihrer Familien. Nach Bonn zurückgekehrt, widmete ich mich mit ganzer Inten­

sität den Beobachtungsarbeiten auf der Stemwarte in den herrlichen Frühlings- und Sommernächten dieses Jahres.

Diese Beobach­

tungsnächte empfingen einen Reiz ohnegleichen dadurch, daß sich

unweit der Stemwarte eine große Allee von schönen alten Kastanien­ bäumen hinzog, die von einem Heer von Nachtigallen bewohnt wur-

35 den.

Erst wenn ich morgens beim Erlöschen der Sterne durch die

Allee nach meiner Stadtwohnung wanderte, verklangen auch die

letzten Töne dieser entzückenden nächtlichen Konzerte, die manchmal beinah den kosmischen Rhythmus des Tickens der Pendeluhr auf dem Turm der Stemwarte übertönten. Am Ende des Semesters bereitete mein Vater mir die Freude, daß ich für die großen Ferien auf dem Wege zur schlesischen Heimat

den Umweg über die Schweiz, Tirol und Wien nehmen durfte. Zunächst besuchte ich auf dieser Reise einen mir in Berlin sehr

lieb gewordenen Freund Karl Westphal, der in Heidelberg Medizin studierte und später ein sehr ausgezeichneter Psychiater an der Ber­ liner Universität und für mein Leben in Berlin von besonderer Be­

deutung wurde. Mit diesem und einigen anderen Heidelberger Freunden sowie Breslauer Jugendgenossen wurde dann ein Ausflug nach BadenBaden gemacht, von dem ich etwas Besonderes zu erzählen habe.

Dort florierte nämlich damals noch die Spielbank als ein Sammel­ platz der eleganten Welt von Mitteleuropa.

Natürlich mußten wir

jungen Leute davon Kenntnis nehmen und auch unser Glück ver­

suchen.

Vorsichtig überlieferte ich mein Reisegeld, welches schon

durch die etwas negative Bilanz des Semesters merklich vermindert war, dem Verschlüsse des Hotelwirts, bevor ich mich in den Strudel des Rouletts begab.

Die Freunde hatten sehr bald das Betriebs­

kapital, das auch sie dem Spiele opfern wollten, verloren, während

ich mit den zehn Gulden, die ich daran setzen wollte, durch einige

besondere Glücksfälle allmählich trotz einiger Schwankungen von

Gewinn und Verlust nahezu 600 Gulden gewann.

Natürlich wäre

in der weiteren Fortsetzung des Spieles auch mir dieser Gewinn wieder abhanden gekommen, wenn ich nicht ein gewisses Interesse

der guten Freunde daran erweckt hätte, daß sie meine weitere Be­ teiligung am Spiel beendigen halfen, nachdem sie selber bereits am Ende ihres Betriebskapitals angelangt waren.

„Kinder", sagte ich

ihnen, „wenn ihr mich jetzt mit diesem Goldhaufen von der Spiel­ bank wegbringt und mich verhindert, solange ich in Baden-Baden bin, in diese elegante Hölle zurückzukehren, so gebe ich Euch morgen vor-

3*

36 mittag oben auf der alten Burg ein leckeres Champagnerfrühstück und bin auch sonst kein Unmensch, wenn Ihr an meinem Goldüberfluß einen maßvollen Anteil nehmen wollt." Sofort wurde ich angepackt, aus dem Spielsaal hinausgetragen und bis zur Abreise streng bewacht,

während natürlich ein glänzendes Frühstück auf der alten Burg mit

Gläserklingen gefeiert wurde. Mir blieben zur Verstärkung meines Reisegeldes, nachdem ich

noch einige Beiträge zu dringenden Schuldenbezahlungen an die

Freunde abgegeben hatte, einige hundert Gulden, die es mir ermög­ lichten, die Reise bis zum Genfer See und alsdann durch die ganze Schweiz und Tirol hindurch über Meran bis zum Gardasee auszu­ dehnen und alsdann über Innsbruck, Berchtesgaden und Salzburg

auf der blauen Donau nach Wien zu ziehen.

Bevor ich noch einige

Rückblicke auf die Erlebnisse dieser Reise werfe, muß ich aber einen

tief in meiner Erinnerung haftenden Eindmck von der Episode BadenBaden noch zur Aussprache bringen, nämlich eine anfangs nur

geringe, aber in jenen Wochen des Alleinseins in den idealsten äußeren Lebensverhältnissen mir immer stärker zum Bewußtsein kommende

Trübung dieser glücklichen Zeit durch den Gedanken, daß ich einen wesentlichen Teil dieses Glückes der Emiedrigung verdankte, von

einer Einrichtung menschenfeindlichster und gefährlichster Art Vorteil gezogen zu haben. Ich möchte noch hinzufügen, daß jener Geld­ gewinn trotz der unmittelbaren Gewissensbedrängnisse, die er mir

verursachte, weiterhin eine Nachwirkung ganz anderer Art ausübte, nämlich eine Zeitlang als ein Element der Versuchung zum Hasard­ spiel wirtte, da er den fast unbewußten Aberglauben geweckt hatte,

als ob ich ein besonderes Glück oder Geschick für solche Dinge hätte. Von dem Verlauf und den Eindrücken der Reise möchte ich nur hervorheben, daß ich kein Bergsteiger gewesen bin.

Mein höchster

Aufstieg war das Faulhom (etwa 3000 Meter hoch). Mit Vorliebe genoß ich die Seen und die Seelandschaften, den Genfer, den Thuner,

den Brienzer, den Vierwaldstätter, den Züricher, den Gardasee und den Königssee. Zwei wundervolle Sommertage verbrachte ich

fast ganz auf dem Züricher See rudernd und schwimmend, denn ich hatte von der Schulzeit her eine besondere Freude am Schwimmen,

37 die ich auch in Bonn lebhaft kultiviert hatte, indem ich ein Boot mit einem Ruderknecht nahm und mich daneben auf dem Rücken schwim­ mend stundenlang den Rhein hinunter tragen ließ. Ähnliches genoß ich diesmal auf dem Züricher See unter ganz idealen Temperatur­ verhältnissen von Wasser und Luft. Am Gardasee in der Nähe von Riva drängte es mich, eine Stelle im Bergwalde des Ufers aufzusuchen, an welcher in einer von Adal­ bert Stifters Novellen ein Vorgang von unsäglicher Poesie geschildert

ist, der in Verbindung mit der Gestalt der entzückenden ©eigen«

Therese Milanollo stand. Auf dem Wege vom Gardasee nach Innsbmck bin ich fast das ganze Etschtal, sowie das ganze Eisacktal entlang und über den

Brenner gewandert, wobei ich im Etschtal an der gerade im Gange befindlichen Weinernte mich durch den Genuß der herrlichsten Trauben beteiligen konnte. Von einer Stellwagenfahrt zwischen Innsbmck und Salzburg

ist mir

die

gnügen

geblieben.

Erinnerung

an

ein eigenartiges moralisches Ver­

Eine Gesellschaft von alten Tirolern dis­

kutierte sehr lebhaft über die damaligen politischen Zustände des

österreichischen Kaiserstaates.

Als ich schließlich auch ein Wort hinein­

zureden wagte, schloß der neben mir sitzende der alten Männer mit

seiner Hand meinen Mund, indem er sagte: „Davon verstehst du noch gar nichts." Nach einer schönen Donaufahrt in Wien angekommen, hatte

ich neben den dortigen Kunstgenüssen noch die Freude, einem anderen auch in Bonn von mir gepflegten Sport, nämlich dem Tanzvergnügen,

mich in vollster Zugendlust hingeben zu können.

In Bonn hatten

wir Studenten auf den Kirmesfesten der benachbarten Dörfer in

dem Reigentanz des sogenannten „Rheinländers" ganze Nächte hin­ In Wien wurde mir die Tanzlust zunächst durch

durch geschwelgt.

die herrliche 'Musik des Walzerkönigs Strauß, der im Sperlsaal dirigierte, mächtig angeregt, aber fast noch mehr durch die frische Tanzbegeistemng eines jungen Nordamerikaners, den ich auf der

Donaufahrt kennen gelernt hatte, und der mich nach dem ersten gemeinsam verlebten Sperlabend gebeten hatte, ihn in dem Walzer-

38 tanze, der ihm noch neu war, im Hotel zu unterrichten.

Als er

das dann gelernt hatte, war auch er fast unermüdlich in seliger Rhythmik. In der Heimat angelangt, konnte ich natürlich des dankbaren

Erzählens anfangs kein Ende finden, aber bald wurde die Erimtetung an den Kultus der Muse Terpsichore von dem Kultus einer

anderen Muse abgelöst.

Es war Thalia, die vom Oktober 1852 ab

nahezu ein Jahr lang all mein Sinnen und Denken beherrschen sollte,

nämlich der neuentdeckte Planet Thalia, der mir durch Professor Argelander zur genauesten Berechnung für das Berliner astronomische

Jahrbuch empfohlen wurde. Es war dies meine erste größere wissen­ schaftliche Arbeit, neben welcher ich zunächst auch die Beobachtungen von Planeten und Kometen auf der Bonner Stemwarte fortsetzte.

Ich mußte jetzt beginnen, die Theorien für die Berechnung der so­ genannten Störungen der Planetenbewegungen zugleich mit der Theorie der Berechnung der elliptischen Bewegungen eingehend zu studieren, um insbesondere den Einfluß berechnen zu können, den

die

Anziehungskraft

des

Jupiter

und

des

Saturn

auf

die Bewegung des Planeten um die Sonne in den nächsten andert­

halb Jahren bis zu der ersten Mederkehr seiner Sichtbarkeit am

Nachthimmel ausüben würden, damit er alsdann möglichst leicht und sicher unter den zahllosen lichtschwachen Sternchen, denen er an Aussehen vollständig glich, und von denen er sich nur durch seine Bewegung unterschied, wieder aufgefunden werden könnte und

hiermit dann andauernd ein Objekt sicherer Vorausberechnung und

sicherer Unterscheidung von andern Planeten bildete. Nachdem im Lauf der ersten Mntermonate 1852—53 die Be­ obachtungen des Planeten Thalia zum Abschluß gekommen zu sein schienen, begann ich nun, meine theoretischen Studien rechnerisch

in Szene zu setzen, indem die Anziehungswirkungen des Jupiter und des Saturn, welche in diesen und den folgenden Monaten die Bewegungen des Planeten stark beeinflußten, nach den neuesten

Methoden mit der von der Sonne vemrsachten Bewegung in einer einfachen Ellipse und mit den perspektivischen Wirkungen der Erd­ bewegung verbunden wurden. Unbeschreibliches Vergnügen bereiten

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diese Rechnungsexperimente großen Stiles, indem sie eine ideale mathematische Gedankenwelt sozusagen an den Himmel versetzen,

zugleich in der frohen Erwartung, daß der Kosmos halten wird, was der Geist verspricht. Ich erinnere mich noch eines Morgens in jenem Frühjahr, an welchem ich, von einer Beobachtungsnacht nach Hause gehend, zum erstenmal wieder am Morgen den mehrere Monate in der Umgebung

der Sonne am Himmel unsichtbar gewesenen Jupiter, den großen

Störer meiner Muse Thalia, eben ausgehend, erblickte und dabei von einer besonderen persönlichen Empfindung dem Gewaltigen gegen­ über ergriffen ward.

Späterhin haben sich in jahrelangen Rechen­

übungen die Freuden an diesen so sorgfältig dienenden und doch eigentlich so hoheitsvollen Arbeiten, von denen leider noch so wenige Menschen eine zutreffende Vorstellung haben, noch mehr verstärkt,

besonders auch dadurch, daß solch tabellarisches Rechnen allmählich immer geringere Anstrengung bereitet und sich schließlich fast auto­ matisch derartig vollzieht, daß man am allersichersten rechnet, wenn man sich dabei zugleich mit guten Freunden behaglich unterhält.

Die Ergebnisse meiner Thalia-Berechnung, welche am Ende des Sommers 1853 dem Berliner astronomischen Jahrbuch übergeben wurden und im Winter 1853—54 dort zum Abdruck gelangten, bereiteten mir dann am Ostermorgen 1854 die große Freude, daß der mir später so lieb gewordene junge Astronom Karl Bmhns,

von dem ich noch zu erzählen haben werde, mir von der Berliner Sternwarte die Nachricht sandte, meine Vorausberechnung der Thalia-Bewegung habe sich bei der Wiederauffindung des Planeten (nach der nahezu ein Jahr dauernden Unsichtbarkeit jenseits der

Sonne), soeben mit dem großen Berliner Fernrohr als so nahe richtig erwiesen, daß der Planet ganz mühelos bei der ersten Nach­

forschung an dem vorausberechneten Orte erblickt worden sei und sich durch die sofort beobachteten, der Vorausberechnung ganz ent­ sprechenden Ortsveränderungen unter den zahlreich benachbarten Fixsternen als „die Thalia" erwiesen habe. Die Fachgenossen werden die obigen längeren Mitteilungen

über solche ihnen so geläufige Erlebnisse sicherlich nicht als eine Sache

40 persönlichen Rühmens, sondern als ein Rühmen der Herrlichkeiten

der Mssenschast verstehen. Das Jahr 1853, welches für mich, auch während der in der Heimat zugebrachten Herbstferien, überwiegend von der mathe­ matisch-rechnerischen Thalia-Harmonik erfüllt war, brachte mir mit dem zunehmenden Einleben in die Geselligkeit von Bonn

auch besondere Freuden im Reiche der tönenden Weltharmonik. In dem Geburtsorte Beethovens war damals der Kultus edelster

Musik in besonderem Aufblühen, wie überhaupt am ganzen Rhein. Ich hatte das Glück, die Bekanntschaft eines holländischen Henn zu machen, der sich mit seinen Reichtümern nach Bonn zurückgezogen

hatte, und der sich besonders für Musik und Astronomie interessierte. Gemeinsam mit seiner sehr liebenswerten Frau und Schwägerin empfing und vereinigte er in seinem gastfreundlichen Hause alles, was von musikalischen Persönlichkeiten Bonn bewohnte oder besuchte. So lernte ich in seinem Hause Robert Schumann und Klara Schu­

mann, später auch die damals noch sehr jugendlichen Herren Joachim

und Brahms kennen, während ich dafür den holländischen Freund

manchmal nächtlicherweile mit nach der Sternwarte nahm.

Ein

anderes, auch sehr musikalisches Haus war dasjenige des Professor

Naumann, mit dessen Söhnen ich an der Universität bekannt ge­ worden war, und mit dessen Tochter Ida Naumann (spätere Frau Ida Becker) ich eine bis ans Lebensende dauernde innige Freund­ schaft schloß. Als Sängerin und Komponistin war sie eine wahre Muse und eine Seele von unvergeßlicher Treue und Tiefe. Im Früh­

jahr 1853 genoß ich auch eines der niederrheinischen Musikfeste in

Düsseldorf, bei welchem ich auch der Bekanntschaft mit dem Schu-

mannschen Ehepaar froh wurde.

Ich erinnere mich noch,

wie

Robert Schumann bei der nicht von ihm geleiteten Aufführung einer seiner Symphonien auf einer der hintersten Bänke des Saales neben mir saß und seine Musik mit tiefen Seufzern und höchst er­ griffenen Bewegungen begleitete.

Das Musikfest brachte auch eine von Schumann geleitete henliche Aufführung von Händels Messias, bei welcher sich eine

wundervolle Szene ereignete.

Mtten in einer der so unsäglich

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rührenden Sopranarien, die Klara Novello sang, vereinigten sich die Nachtigallen, die in den die Halle umgebenden hohen Bäumen wohnten, zu einem Konzerte von überraschender Tonfülle. Das ganze Publikum und auch Schumann wurden davon tief er­

griffen. Da kam in der Arie eine ganz kurze Pause. Aber Schu­ mann verlängerte die Pause mit sofortiger instinktiver Zustimmung der Sängerin und des Orchesters, und alles horchte mitten in der

Messiade eine Minute lang bloß dem Nachtigallensang. Dann setzte unter tiefster Bewegung der ganzen Versammlung die erhabene volle Musik wieder ein. Das Jahr 1854 wurde die Zeit meiner Doktorarbeit und des

Doktorexamens.

Professor Argelander hatte mich zu Ende des

vorangegangenen Jahres mit einer neuen Bestimmung der Pol­ höhe der Bonner Stemwarte beauftragt, wobei ein Instrument zur Anwendung kommen und zum erstenmal sehr genau erprobt werden

sollte, welches seit der Begründung der Sternwarte noch nicht zu

längeren Beobachtungensreihen gedient hatte.

Dies war eine

schöne und ehrenvolle Aufgabe für den jungen Astronomen, und die

Bearbeitung dieser Beobachtungen zusammen mit der Diskussion und Vergleichung der dafür bis dahin üblichen Methoden gab einen nicht ganz wertlosen Inhalt für eine Doktor-Dissertation. Die dabei nötige Kultivierung der größtmöglichen Genauigkeit einer recht großen Anzahl von Messungen am Himmel zu allen Tageszeiten machte mir besondere Freude und führte mich auch in die Praxis der Fehler­

theorie in der förderlichsten Weise ein. Die alsdann am 4. August 1854 erfolgende Doktorpromotion, bei

welcher man damals noch von dem Dekan der Fakultät umarmt und geküßt wurde, beendete meinen ^jährigen Aufenthalt in Bonn, da ich

beabsichtigte im Herbst 1854 mein Militärjahr in Berlin anzutreten. Die in der Heimat bis zum Anfang Oktober hiernach zugebrachte

Ferienzeit wurde diesmal besonders geweiht durch die Verheiratung meiner ältesten Schwester Hulda, welche von einem jungen Ge­ schäftsfreunde der väterlichen Firma nach New York entführt wurde. An diese Trennung von der besonders geliebten Schwester möchte ich

noch einen Rückblick knüpfen auf die ganze Zeit, in der sich die be-

42 glückendfte Studienarbeit in Bonn mit schönen Reisen und mit den traulichen in der Heimat zugebrachten Ferienzeiten zu einer unver­ gleichlichen Lebensharmonie verband. In Bonn der gütige, im höchsten

Grade wissenschaftlich fördernde Lehrer Argelander und ein Ge­ meinschaftsleben mit Studiengenossen, wie Eduard Schönfeld und

Malbert Krüger, die zu den innigsten Freunden wurden, sodann in der Heimat Eltern und Geschwister, den periodisch wiederkehrenden

Studenten in der zärtlichsten Weise pflegend und feietnb, alles in allem ein wahres Jdealleben, von dem ich ohne Selbstüberhebung das dreiste Wort sagen möchte, daß die Welt nicht vergebens geschaffen

ist, wenn überhaupt ein solches Glück in ihr entstehen kann, noch be­

sonders geweiht durch eine wissenschaftliche Tätigkeit, welche schon so ost das erhebende Frohgefühl gewährt, daß die Welterscheinung hält, was die Denkarbeit verspricht. Es ist nicht unnütz, so etwas mit einem gewissen Überschwang auszusprechen, denn wenn solches Glück öfter eingestanden würde, könnte der Zusammenklang solcher Lebens­ töne erheblich dazu beitragen, jeden verallgemeinemden öden Pessi­

mismus zu bekämpfen und die Blicke nach oben zu richten. In Bonn

gab es ja auch noch als besonderen Zauber die Wanderungen den Rhein entlang und durch die lieblichen benachbarten Berglandschaften. Bon den „historischen" Besonderheiten des Studentenlebens habe ich aber weder an der Berliner noch an der Bonner Universität

irgend etwas gehalten und genossen.

Ich fühlte mich als echten Musensohn am Himmel und auf der Erde, aber von dem Alkoholkultus und von dem gemeinsamen Singen mit allerhand unmusika­

lischen, womöglich die schönsten Lieder innerlich oder auch äußerlich parodierenden Leuten mochte ich gar nichts wissen. Höhere Formen

studentischer Geselligkeit liegen im Schoße der Zukunft. Mein liebster Breslauer Schulfteund gehörte in Bonn zu einem der „vornehmsten"

Korps. Er nahm mich mehrmals zu seinen Mensuren mit, die mir einen unsäglich wunderlichen Eindruck hinterließen, obwohl ich mit ihm eine Zeitlang fast jeden Morgen auf dem Fechtboden aus gym­

nastischem Vergnügen kräftig paukte.

Ich hatte meine sehr sympa­

thische Geselligkeit, und die anhaltende ernste Arbeit weihte das Leben.

Sie umglänzte auch die harmlosesten Zerstreuungen.

43 In der Heimat aber kam noch eine eigenartige Freude zu der

Traulichkeit des Aufenthaltes unter den liebsten Menschen hinzu, näm­ lich die Freundschaft mit einem Pferdchen arabischer Rasse mit Namen

Selim, welches der alternde Papa mir während der Ferienzeiten fast ganz zur Verfügung stellte.

6, Kapitel, Das Militärjahr ((85^—55) und die Anstellung an der Berliner Sternwarte (J855). Am 1. Oktober 1854 trat ich beim Garde-Artillerie-Regiment in

Berlin als Einjährig-Freiwilliger meine Dienstzeit an. In diesem Jahre mußte die wissenschaftliche Arbeit fast gänzlich mhen, aber meiner körperlichen Entwicklung taten die starken Muskelanstren­

gungen außerordentlich wohl. Ein gütiges Geschick hatte um dieselbe Zeit die mir so freundlich gesinnte Familie von Hahn, die ich, wie oben

erzählt, von Bonn aus in der Kommandantur von Mainz besuchen konnte, nach Berlin zurückgeführt, wo der General von Hahn jetzt

als Generalinspekteur der ArMerie eine hohe Stellung einnahm. Die einzige Tochter Elise von Hahn, welche von Mainz her als Ver­

lobte des Hauptmanns von Brixen zurückgekehrt war und sich im Herbst 1854 mit diesem in Berlin verheiratete, war mir ja schon von den Tagen meines ersten Berliner Aufenthalts an ein Ideal weib­ licher Anmut und Güte gewesen und auch durch gemeinsamen Kultus

der Musik besonders lieb geworden. Zu tiefstem Schmerze aller, die sie kannten, schied sie schon in dem ersten Wochenbett aus diesem

Leben. Nachdem auch der Vater des in dieser Ehe geborenen Sohnes dahingegangen war (er starb — der Oberst von Brixen — in der Schlacht von Mars la Tour am 16. August 1870 den Heldentod an

der Spitze des von ihm kommandierten sechszehnten Regiments) konnte ich noch im späteren Leben als Vormund dieses Sohnes einen kleinen Zoll der Pietät und Dankbarkeit dem Andenken des Ideals meiner Studentenzeit entrichten. Hatte ich doch einst der

Huldigung für diese holde Mädchengestalt einen ganz besonderen Ausdruck geben können, indem ich bei einem Feuerlärm im Berliner

44 Opernhause, als das Publikum aus dem Parkett in rasendem Ge­ dränge hinausstürzte, mich dieser Flucht draußen auf dem Flur nicht anschloß, weil das verehtte Mädchen mit ihrer Mutter oben in einer

Loge des ersten Ranges noch in ratloser Unsicherheit verweilte.

Ich

kletterte vielmehr an der Außenseite des Treppengeländers, ent­

gegen der Richtung des Hinabdrängens der Menge, in die Höhe und bot mich oben den lieben Damen zur Hülfe beruhigend an, was natürlich als eine Heldentat „ersten Ranges" von ihnen gefeiert wurde. Aus dem Militärjahr sind mir noch mannigfache Eindrücke in

lebhaftem Andenken geblieben, und zwar in frohester Erinnerung die herzliche Befreundung mit einigen märkischen und schlesischen „Bauernjungs". Der ganze Betrieb der Attillerie befand sich damals in einem interessanten Übergangsstadium zu der viel höheren Prä­

zisionsleistung, die sich wenige Jahre nachher durchsetzte, als an die Stelle der sogenannten ungezogenen Geschützröhren die gezogenen

Röhren traten, in denen das Geschoß bis zum Ausgange aus der Röhre in Schraubenwindungen geführt wird und dadurch eine viel genauere Richtung seiner Flugbahn gegen die Richtung der Röhren­

achse empfängt.

Da ich von den Femröhren her an das genaue

Visieren gewöhnt war, so interessierte mich bei den Schießübungen die Genauigkeit der Leistung in besonderer Weise. Ich bemühte

mich meistens, diejenige Nummer der Bedienungsmannschaft bei dem uns zugeteilten Geschütz zu erhalten, welche das Visieren nach

dem Ziel und die entsprechende Richtungseinstellung des Geschützes zu besorgen hatte, und ich machte mir dabei Aufzeichnungen in betreff

der Größe und Att der Abweichungen der von der Scheibe her ge­ meldeten Resultate. Mt Hilfe dieser Aufzeichnungen ergaben sich dann für mich gewisse Verbessemngen, die ich bei der Anwendung der Visierein­

richtungen zu berücksichtigen hatte, um möglichst kleine Unsicherheiten der Schußresultate zu erreichen.

Das wissenschaftliche Vergnügen,

das ich dabei hatte, verband sich noch mit einer andern, ebenfalls

aus der astronomischen Arbeit herrührenden Beobachtungsfreude, nämlich einer Übung in der Schätzung der bei der Einstellung des Rohres im Ernstgebrauch in Frage kommenden Distanz des Feindes.

45 Ich hatte in den langen Beobachtungsnächten in Bonn das Sekundenzählen so gründlich gelernt, daß ich auch jetzt noch beim Zählen von je 60 Sekunden kaum einen Fehler von mehr als einer halben Sekunde begehe.

Wenn nun beim Manöver es sich darum

handelte, die Entfernung abzuschätzen, aus welcher der Feind nach

uns schoß, und danach die Art der Ladung sowie die Stellung unserer

Rohre usw. bei unseren Gegenschüssen zu bestimmen, so half mir diese Genauigkeit des Zählens mit Hinzuziehung der Schallgeschwin­ digkeit, welche in der Sekunde nahezu tausend Fuß beträgt. Ich schätzte hierzu nämlich bis auf kleine Bruchteile der Sekunde die Zeit, die jedesmal verfloß zwischen dem Aufblitzen des feindlichen Schusses

und der Wahmehmung seines Donners, welche Kontrolle meiner Übung im Distanzschätzen mir dann auch bei der Ableistung meines

Examens als Reserveoffizier am Schlüsse des Dienstjahrs zustatten kam, als ich bei einer Felddienstprobe die bezüglichen Schußkom­

mandos zu geben hatte. Es widerstrebt mir, mit irgendeiner Verallgemeinerung von den schmerzlichen Eindrücken zu reden, die ich während der Dienstzeit von einigen Offizieren und noch mehr von einigen Unteroffizieren hatte, standen doch diesen Eindrücken auch solche gegenüber, die von den gegenseitigen Erziehungswirkungen einer disziplinarischen und

hingebungsvollen Gemeinschaftsaktion deutliches Zeugnis ablegten. Charaktervollen Menschen dient solche Ausübung von Autorität zur Erhebung und Verfeinemng.

Leider wird aber dem niederen

Autoritätsdrange, der vielfach gerade die wertloseren Leute erfüllt und emportreibt, nicht genug entgegenwirkt und Zügel angelegt. Während des großen Sommermanövers, welches sich haupt­

sächlich in der Gegend zwischen Potsdam und Zossen abspielte und mich mehrmals zu Bauernfamilien ins Quartier brachte, war ich einmal dem Tode nahe, und zwar in dem Übereifer der Verteidigung

gegen einen signalisierten Kavallerieangriff, welcher zu dem Kom­

mando Anlaß gab, daß jedes unserer Geschütze auf den aus der Feme heranstürmenden Feind so viel Schüsse als möglich (natürlich ohne Kugeln, lediglich mit sogenannten Manöverkartuschen) abgeben sollte. Ich hatte dabei die Aufgabe, die Kartusche von vom in die Mündung

46 des Rohres einzusetzen. Bevor noch der erste Schuß aus unserem Rohr entladen war, glaubte ich in der Hitze des Gefechtes, da rechts

und links von mir aus den Nebengeschützen schon der erste Donner losging, daß auch unser Schuß schon abgegangen sei, und daß ich sonach die zweite Kartusche schleunigst einzusetzen hätte.

Kurz bevor

ich dies ausführen konnte, ging aber unser Schuß los, etwa im Ab-

stand von einem Fuß an meiner Bmst vorbei, so daß ich hinten über fiel. Ich wäre zweifellos verbrannt, wenn ich einen Augenblick früher schon herangetreten gewesen wäre.

Wir hatten aber das

Unsrige getan, um den Kavallerieangriff durch Abgebung einer ge­ nügenden Anzahl von Schüssen abzuwehren, und als ein junger Fähnrich doch noch in unsere Batterie hineinritt mit dem Rufe: „Ergebt Euch", konnte er mit Hohn abgewiesen werden.

Alle diese Einzelheiten von lebhafter militärischer Ergriffenheit

schien es mir ratsam, gerade in der Gegenwart mir und andern vor die Augen zu bringen. Das militärische Wesen und der militärische Geist werden jetzt von manchen Seiten mehr als jemals überschätzt.

Als eine Institution des blutigen Völkerkampfes werden und müssen

diese Einrichtungen in der Kulturwelt verschwinden.

Als eine

Institution für gewaltige gemeinnützige Massenarbeiten in der großen

Natur mit sozialer Gymnastik, todesmuttger Hingebung und rhyth­ misch-harmonischer Disziplin werden sie dann in einer immer höheren Kultur organisierter Arbeit fröhlich auferstehen, und zu einer solchen Entwicklung trägt uns die allgemeine Wehrpflicht langsam empor. Aus

einer Menge

von Heineren Erlebnissen der Dienstzeit

möchte ich noch zwei Wachtdienste erwähnen.

Der eine, den ick>

fast eine ganze Sommemacht hindurch auf dem damaligen Schieß­

plätze in Tegel zu leisten hatte, erzeugte an dem darauf folgenden Sommettage ein so tiefes Schlafbedürfnis, daß ich bei dem takt­ mäßigen Nachhausemarsch in Reih und Glied mit den Kameraden am Abende wirklich während der Marschbewegung geschlafen habe.

Ein anderer Wachtdienst, den ich in einer Winkemacht vor der Kaseme zu leisten hatte, brachte mich, da ich gegen den eisigen Wind in dem Schilderhäuschen Schutz suchte, bei 18 Grad Kälte nahe ans Erfrieren,

vor dem mich nur der Nachtwächter mit einem Schlückchen ganz

47 schlimmen, Erbrechen erregenden Schnapses rettete, nachdem ich schon mit einer ganz eigenartigen Seligkeitsempfindung im Ein­ schlafen begriffen gewesen war. Mein Dienstjahr fiel in eine Zeit, in welcher wegen des Krim­ krieges die preußische Armee sich in einer Anfangsstufe der Kriegs­ bereitschaft befand. Besonders die Artillerie hatte ihren vollen Ge­ schütz- und Pferdebestand, so daß wir Freiwilligen zeitweise auch

recht anstrengende Stalldienste tun mußten. Für mich, der ich von Jugend auf mich mit den Pferden so gern befteundet hatte, war dies ein besonderes Vergnügen.

Bei meinem Reserveoffizierexamen

hat mir auch ein ungewöhnlich kluges Pferd, dessen Eigenschaften die Unteroffiziere meiner Batterie früh erkannt und mit Vergnügen kultiviert hatten, eine außerordentliche Hilfe gewährt. Die schwie­

rigste Aufgabe in diesem Examen war nämlich für mich das Kom­

mandieren und Placieren der Geschütze bei der Prüfung in der Felddienstleistung, die draußen in sehr bewegtem Terrain nördlich von Pankow stattfand. Zum Glück hatte ich es erreicht, daß mir ein wohlwollendes Kommando in Betracht der sehr geringen Übung,

die ich in diesem Zweige der Anfordemngen gehabt hatte, jenes kluge Pferdchen anvertraute, welches mich mit einem wohlerzogenen Verständnis für die Situationen und für die Befolgung der maß­ gebenden Hornsignale fast immer mit den richtigen Wendungen und im richtigen Tempo an die geeignete Stelle trug. In jenen Zeiten

der Befreundungen mit der Pferdewelt gelang mir auch einmal

bei einem Ausritt durchs Brandenburger Tor ein kleines Dressur­ stückchen, das auch ein eigenes Licht auf diese Tierseelen wirft. Ein

nicht mehr junges Rassepferdchen, Rosa mit Namen und von einem gewissen Ruf als Springpferd, wollte mir der Pferdeverleiher in

der Dorotheenstraße zu einem Ausritt durch den Tiergarten nach dem Hippodrom in Charlottenburg nicht geben, weil, wie er sagte, Rosa seit einiger Zeit sich in den Kopf gesetzt habe, sich nicht durch das Brandenburger Tor hinausreiten zu lassen.

(Damals war zwischen

diesem Tor und dem Potsdamer Tor, ebenso weithin nach Norden kein anderer Ausgang nach dem Tiergarten, da auch die Dorotheen­ straße durch die Stadtmauerkommunikation begrenzt war).

Auch

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das Absteigen und das Hinausführen des Pferdes durch das Tor hatte die Störrigkett nicht beendet. Rosa lehnte es auch beim nächsten Male wieder ab, mit einem Reiter durch das Tor hinaus zu

gehen; doch ergab sich, daß es noch nicht versucht war, rückwätts hinauszureiten. Dieser Versuch gelang mir nun, unter dem Zumf

eines belustigten Publikums, wider Erwarten nach wenigen ver­ geblichen Ansätzen ganz gut. Ich ritt rückwätts durch das Branden­ burger Tor hinaus, und Rosachen war dann draußen von einer förmlich erlösten Lustigkeit und Liebenswürdigkeit. Meine militättsche Laufbahn schloß sich am 1. Ottober 1855 mit der Ernennung zum Unteroffizier mit Offiziersqualifikation. Ich wurde in den folgenden Jahren noch mehrmals zur Übung

einbemfen, zuletzt zur Mobilmachung im Jahre 1864. Inzwischen entwickelte sich aber meine Tättgkeit an der Berliner Sternwatte zu so triftigen Einwendungen gegen längere Unterbrechungen, daß von den vorgeordneten Stellen meine Reklamierungen jedesmal durchgesetzt wurden.

Meine beiden jüngeren Brüder aber konnten

und mußten in den folgenden Kriegszeiten auch die militärischen Pflichten der Familie voll und ganz erfüllen. Am 1. Ottober 1855 wurde ich zum II. Assistenten der Berliner Kgl. Sternwatte berufen. Der Direktor derselben, Prof. Encke,

hatte mich durch die Veröffentlichung meiner Thalia-Berechnung

und meiner Bonner Planeten- und Kometenbeobachtungen, haupt­ sächlich aber durch die wannen Befürwortungen Argelanders kennen

gelernt. Die Stelle des II. Assistenten war dadurch frei geworden, daß nach dem Weggange des früheren I. Assistenten Dr. Franz Brünnow, welcher eine Bemfung zum Direttor der Stemwarte in Annarbour ^Michigan) angenommen hatte, der schon oben in Ver­ bindung mit der Thalia-Angelegenheit erwähnte Astronom Karl Bruhns aus der zweiten in die erste Stelle eingerückt war. Über

diesen wetten Kollegen, der dann im Jahre 1860 Direttor der Stern­ warte in Leipzig und zunächst in Berlin von 1855—1860 mein vor­ bildlicher Arbeitsgenosse in rastlosester Tättgkeit wurde, seien hier einige Mitteilungen eingefügt, da ihm wohl niemand in seinem ganzen Arbeitsleben so nahe gestanden hat wie ich, und da gerade

49 über seine Werdezeit, in den bisherigen biographischen Mitteilungen über ihn noch manches dauemd Erinnerungswerte ungesagt ge­ blieben ist. Karl Bruhns war 1830 in Ploen in Holstein in unbemittelten

Lebensverhältnissen geboren. In der Stadtschule wurde aber die außerordentliche rechnerische Begabung des Knaben von einem mathematisch bewanderten Lehrer früh erkannt und durch Dar­

bietung geeigneter Bücher gefördert. Der junge Mathematiker lernte indessen zunächst das Schlosserhandwerk und kam dann nach Berlin in die Borsigschen Werkstätten. Von dort aus erbat er sich bei Prof.

Encke Aufgaben aus dem Gebiete der Berechnung der Planeten­

bahnen. Diese Aufgaben wurden dann in den nächtlichen Muße­ stunden mit einer Schnelligkeit und Korrektheit gelöst, welche die damalige jüngere Astronomenwelt auf der Sternwarte und den

Herrn Direktor selber in helles Erstaunen setzte. Dieser Schlosser­ jüngling erwies sich als ein astronomischer Rechner ersten Ranges. So wurde er denn eines Tages (um das Jahr 1853) nach der Stern­ warte übersiedelt und aus dem Dienst des Hephästos in denjenigen der Urania übernommen.

Für das Beobachten und Messen war

seine Begabung nicht so eminent, aber als Rechner hat er damals

und weiterhin auch als vorbildlicher Lehrer der edlen astronomi­ schen Rechenkunst in seiner leitenden Tätigkeit an der Leipziger

Sternwarte Außerordentliches geleistet. Encke und besonders auch Alexander von Humboldt, welchem

Encke von dem Phänomen Kenntnis gab, nahmen sich der allgemein­ wissenschaftlichen, sozusagen akademischen Weiterentwicklung des jungen Handwerkers mit besonderer Fürsorge an, so daß derselbe

schon nach wenigen Jahren sein Abiturientenexamen und mit einigen Erleichterungen dann auch sein philosophisches Doktorexamen be­ stehen, sich alsdann an der Berliner Universität als Privatdozent der

Astronomie habilitieren und schon im Jahre 1860 als Direktor der Sternwarte und Professor der Astronomie in der alten Musenstadt Leipzig seinen Einzug halten konnte. Es war für mich eine große Lebensfreude, diesem Emporsteigen freudigst beiwohnen und im

kleinen dabei mithelfen zu können, da mein Lebensgang so viel leichter Wilh. Foerster, Lebenserinnerungen.

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50 verlaufen war und mir so viel Musisches fast mühelos dargeboten hatte, was der werte Arbeitsgenosse sich zu akademischen Reprä­ sentationszwecken mit großer Mühe zusammensuchen mußte. Ich erinnere mich z. B. der Not, die wir hatten, für die akademisch­ lateinischen Ansprachen, die er bei der Doktorpromotion zu halten hatte, ihm vorher die richtige Akzentuation gehörig einzupauken. Ohne die humorvolle Nachsicht, die uns dabei ein großer Philologe, damals gerade Dekan der Berliner Fakultät, gewährte, wäre dies aber doch nicht geglückt. Er legitimierte nämlich die falschen Be­ tonungen des Doktoranden, indem er dieselben falschen Ahente in seiner offiziellen Promotions-Ansprache zum Besten gab. — Jene ganze komplizierte Entwicklungszeit von Bruhns verband uns denn auch bis zum Lebensende in wahrhaft brüderlicher Ge­ meinschaft. Einer der dabei auch redlich mithalf, war unser Freund Winnecke, der in jenen Jahren seine Lehrzeit teils in Göttingen und Bonn, teils in Berlin auf der Sternwarte zubrachte, später an die Stemwarte zu Pulkowa berufen wurde und schließlich die Höhe seiner Lebenstätigkeit als Direktor der Stemwarte zu Straßburg erreichte, wovon weiterhin zu erzählen ist. Meine Tätigkeit auf der Berliner Sternwarte bestand in dem Zeitraum von 1855—00 bis zu meinem Aufrücken in die erste Assi­ stentenstelle hauptsächlich in Beobachtungen von Kometen und neu­ entdeckten Planeten mit dem großen Fraunhoferschen Fernrohr. Dieses Fernrohr, geweiht durch die Entdeckung des Neptun, gilt auch jetzt noch, obwohl viel größere Fernrohre auf andern Stern­ warten in Tätigkeit sind, als ein besonderes Meisterwerk optischer Leistung. Es galt seinerzeit als einer der Gipfelpunkte der Lebens­ arbeit des großen Genius Fraunhofer, und es war eine be­ sondere Tat von Alexander von Humboldt, daß er die Erwerbung dieses Jnstmmentes für die neu zu begründende Stemwarte in Berlin sicherte. Dieses Jnstmment und seine Messungseinrichtungen habe ich bald nach 1855, in Verbindung mit den Beobachtungen der Planeten und Kometen, besonders eingehend untersucht und daraufhin noch

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unter Enckes Direktion eine wesentliche Verbesserung der Auf­ stellungseinrichtungen erreicht. Als ein kleines Nebenresultat ergab sich mir am Ende dieses Zeit­ raums, nämlich am 14. September 1860, die Entdeckung eines der vielen zwischen der Marsbahn und der Jupiterbahn wandernden Planeten, welcher den Namen der Muse Erato empfing. Ein besonderes astro­ nomisches Ereignis jenes Zeitraums war der große Komet von 1858, dessen Anblick am herbstlichen Abendhimmel unvergeßlich großartig war. Wie ein Riesenspringbrunnen erhob sich über dem nahe dem Horizont befindlichen Kometenkopf die mächtige Schweifbildung, so hoch am Himmel, nahezu senkrecht, aufsteigend, daß man den Nacken zurückbiegen mußte, um den ganzen Anblick zu erfassen. An einem dieser Herbstabende hatte ich das besondere Glück, dem Prinzen Fried­ rich Wilhelm und der Frau Prinzessin Viktoria jenen herrlichen An­ blick und die Erscheinungen am Kometenkopf auf der Sternwarte vorführen zu dürfen. Als Professor Gruse, unter dessen Führung dies geschah, auf die etwas lebhaften Fragen der Prinzessin nach der Erklärung solcher gewaltigen Erscheinungen, mit der gegenüber den neugierigen Fragen des Publikums ihm zur Gewohnheit gewordenen Zurückhaltung die Antwort gab, daß die Astronomen selber davon noch fast gar nichts wüßten, wurde die hohe Frau etwas ungeduldig, was ihr aber einen deutlich mahnenden ernsten Blick des Herrn Gemahls eintrug. Nahe dreißig Jahre später kam sie als Kaiserin­ witwe bei einem Besuch auf der Sternwarte, auf welcher sie seitdem oftmals mit tiefem Interesse erschienen war, auf jenen Vorgang zurück in bewegtester Erinnerung an den teuren Gemahl.

7. Kapitel. Habilitation und beginnend« vorlesungrtätigkeit (1858). Persön­ liche Beziehungen zu August VSckh und zu Alexander von Humboldt.

Im Frühjahr 1858 war mir die Habilitation als Privatdozent der Astronomie an der philosophischen Fakultät der Berliner Uni­ versität gewährt worden.

Professor Encke hielt damals noch die

astronomischen Hauptvorlesungen, und ich begann deshalb im Sommer­

semester 1858 zunächst mit Vorlesungen über die Geschichte der Astro­

nomie, welche bis dahin an der Universität fast gar nicht vertreten gewesen waren. Es war Humboldts Kosmos, der mich schon nach Bonn geführt

hatte, und der mich dann mitten in meinen Beobachtungs- und Be­ rechnungsarbeiten auf der Berliner Stemwarte in die großen kultur­ geschichtlichen Ausblicke versenkte, welche gerade die Entwicklung der

9kstronomie darbietet,

Da ich vom Gymnasium her die griechische

Literatur besonders geliebt hatte, so zogen mich nun zunächst die griechischen Astronomen und die Zusammenhänge der griechischen

Astronomie mit der Sternkunde der Urvölker einerseits und mit der Sternkunde des arabischen und christlichen Mittelalters in die er­

quickendsten Studien hinein. Und nun erblühte mir ein ganz besonderes Glück auf diesem Felde der geschichtlichen und der astronomischen Forschung. 91 u g u ft

Böckh, der große Kenner der griechischen Geistesentwicklung, hatte sich in seinen hohen Jahren mit gesteigerter Intensität der Er­ forschung der griechischen Astronomie und auch gerade ihrer Be­ ziehungen zu der pythagoräischen und platonischen Philosophie zu­ gewendet, und der hochverehrte Veteran der Berliner philoso­

phischen Fakultät hatte dann eines Tages zu meinem Chef, Professor

53 Encke, den Wunsch ausgesprochen, die rechnerische Hilfe eines jüngeren Astronomen bei diesen seinen Untersuchungen zu erlangen. Es konnte

nun keine bessere Situation für meine Studien gefunden werden, als eine solche Arbeitsgemeinschaft. Ich konnte dem hochbedeutenden alten Herrn eine sehr flotte technische Hilfe leisten, und in seiner rührenden Dankbarkeit für diese, mit größter Freude von mir darge­ botene Hilfe, gewährte er mir für meine geschichtlichen Studien Einblicke von unschätzbarer Eigenart und Tiefe. Zu diesem wahrhaft idealen Arbeitsverhältnis kam dann im Jahre 1858 und 1859 eine ähnliche Beziehung, welche mir Enckes

Empfehlung bei Alexander von Humboldt bereitete. Der im neun­ zigsten Lebensjahr stehende große Geistesheld bedurfte bei der fortgehenden

Bearbeitung

seines

Kosmos mitunter

auf

astro­

nomischem Gebiete kleiner literarischer Hilfsleistungen, die ich ihm von der Sternwarte hinzubringen konnte. Ebenso wie Böckh war

der hohe Greis von einer Güte für den jugendlichen Gehilfen, die sich gar nicht beschreiben läßt. Wenn ich eine Zeitlang bei ihm ge­ arbeitet hatte, belohnte er mich in besonderer Weise, indem er mit der Redewendung: „Nun wollen wir uns etwas erzählen", aus der Fülle seines erd- und himmelumfassenden Geisteslebens Gedanken

und Erlebnisse derartig aneinanderreihte, daß man deutlich fühlte, wie diese unendlich reiche Erinnenmgswelt ohne irgendwelche Anstrengung in Gedankenverbindungen wahrhaft schwelgte.

Nie­

mals habe ich so wie bei ihm, dem körperlich schon recht alters­ schwachen, aber im Erzählen fast unermüdlichen Greise, den Ein­ druck von einer seligen Autonomie dieser Erinnemngswelt gehabt.

Da kamen Bilder aus der französischen Revolutionszeit und der napoleonischen Zeit zugleich mit Ausblicken auf die neuesten Vor­

gänge und die hoffnungsreichen Anfänge der internationalen wissen­ schaftlichen Organisationen, dann wieder Schilderungen aus der ge­ waltigen Gebirgswelt Südamerikas und den Steppen von Mittel-

asien und zum Schluß noch vielleicht ein Hymnus auf die großen Femen des Denkens, welche die Lehre von der Erhaltung der Kraft damals eben zu entschleiem begann. Es ist erklärlich, daß der junge Privatdozent durch die Fülle

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aller dieser Anregungen und die gleichzeitigen Erquickungen an der nächtlichen Himmelsbeobachtung in besonderer Weise nicht bloß zur

Lehrtätigkeit an der Universität, sondern auch zu einer an weitere

Kreise sich wendenden Vortragstätigkeit angeregt wurde, für welche

ihm dann durch Böckh und Encke die Vortragsveranstaltungen des damals auf einer gewissen Höhe der Entwicklung befindlichen, soge­ nannten wissenschaftlichen Vereins in der Sing­

akademie geöffnet wurden. Bevor ich auf diese, für die weitere Laufbahn des Astronomen besonders wichtig gewordene Betätigung etwas näher eingehe, habe ich noch aus den Jahren 57—60 einige Episoden zu erwähnen, welche auch von erheblicher Bedeutung für

meine Lebensgestaltung wurden. Das war zunächst im Sommer 1857 der Besuch der Natur­ forscherversammlung in Bonn. Dort wurde unter förderlichster Mit-

wirkung von Professor Argelander und von meinen lieben Studien­ freunden auf der Bonner Sternwarte, welche damals durch die

bereits früher erwähnten, umfassenden Arbeiten am Sternhimmel eine Art von Mittelpunkt bildete, der Grundstein gelegt zu dem Beginn einer internationalen Organisation der astronomischen Arbeit.

Und aus diesem Beginn ging dann sechs Jahre später in Heidelberg der internationalen astronomischen Gesellschaft

die Begründung

hervor, an deren EntwiÄung ich lebhaften Anteil nehmen durfte. Mcht ohne allgemeines Interesse dürfte es auch sein, von dem

Verlaufe dieser Naturforscherversammlung einige vertrauliche Einzel­ heiten der Vergessenheit zu entziehen, da sie auf die damaligen

Zeit- und Personalverhältnisse einiges Licht werfen. Die Versamm­

lung machte zwei Exkursionen, die eine nach Coblenz, wo sie von der

damaligen Prinzessin von Preußen, späteren Königin und Kaiserin Augusta empfangen wurde, und die andere wandte sich nach Köln, wohin sie von den städtischen Behörden eingeladen war. An beiden Stellen ereigneten sich einige Vorgänge von besonders belustigender

Art, wie sie bei solchen repräsentativen Begrüßungen und Ehrungen so leicht vorkommen und durch Kontrastwirkungen mit den Feierlich­ keiten der Formen stets ein dauerndes Vergnügen in der Erinnerung

zurücklassen.

55 In Coblenz hatte die Prinzessin eine Liste der ihr zu präsen­

tierenden Berühmtheiten empfangen, um bei der Begrüßung dieser

Herren einigermaßen über ihre besonderen Verdienste orientiert zu sein. Sie nahm, wie stets, die Sache sehr ernst und hatte sich die Liste gut eingeprägt.

Leider aber war das Präsidium, welches

die einzelnen Mitglieder präsentierte, nicht von derselben Sorgfalt

in der Einhaltung der Reihenfolge. So wurde denn ein großer Mathematiker von der hohen Dame für seine Verdienste um die leidende Menschheit bedankt, während ein großer Arzt zu den neuesten Entdeckungen am Sternhimmel beglückwünscht wurde usw.

Im Kölner Rathaus wurde die Naturforscherversammlung von dem streng kirchlich gesinnten Oberbürgermeister ausdrücklich davor gewamt, bei der Besichtigung der herrlichen Kirchen von Köln, wozu sie eingeladen wurde, nicht allzu sehr den Gedanken des Messens und Wägens nachzuhängen, sondern sich der frommen Andacht ganz hinzugeben. Im übrigen aber bestand die Gastfreundschaft bei dem ganzen Empfange wesentlich in einer sehr reichen abendlichen Spendiemng von köstlichen Rheinweinen, so daß der Präsident der Natur­

forscherversammlung, Prof. Nöggerath, glaubte, der Stimmung des ganzen Besuchstages den abschließenden Ausdruck zu geben, indem er einen enthusiastisch aufgenommenen Trinkspruch mit den folgenden Worten ausbrachte: Meine Herren, ich glaube, unseren gemeinsamen

Dank in den Toast zusammenfassen zu dürfen: „Nicht die Kölner,

sondern die Kellner sollen leben!" Im Sommer 1857 ereignete sich eine Kometenerscheinung,

welche zwar dem bloßen Auge nicht sichtbar wurde, aber in der be­ kannten Weise durch mißverständliche und sensationelle Zeitungs­

berichte als eine Gefahr für die Erde verkündet wurde und dadurch in einem solchen Grade einesteils die Volksmenge, andernteils die

vomehmen Kreise aufregte, daß sich selbst in Berlin einige sehr merk­ würdige Vorgänge ereigneten. Zwei Tage vor der größten Erdnähe des Kometen, die aber noch viele Millionen Kilometer betrug, erschien

auf der Sternwarte eine große Zahl von Herren und Damen aus der vomehmen, insbesondere der diplomatischen Gesellschaft, welche vor ihrem Lebensende den Übeltäter noch im Femrohr gegen Zah-

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lung eines Eintrittsgeldes zu sehen verlangten.

Die gerade im Garten der Sternwarte sitzende Familie des Professor Encke wurde

mit der Frage aufgestört: „Wo ist die Kasse?"

Ich hatte dann die

Ehre, die Gesellschaft unverrichteter Sache aus dem Garten hinaus zu komplimentieren. Am Nachmittage des Weltuntergangstages er­ eignete sich in Berlin eine gewaltige Explosion in dem Laboratorium des Theaterseuerwerkers Dobremont. Diese schreckenerregende

Detonation warf vielfach auf Sttaßen und öffentlichen Plätzen die

Leute auf die Knie, weil sie glaubten, daß es nun mit dem Untergang losgehe.

9. Kapitel Die Heise nach England, Schottland, Irland und pari» (1859).

Im Jahre 1859 schentte mir mein gütiger Vater eine längere Den Beginn meines Auf­

Reise nach England und Frankreich.

enthaltes in Großbritannien machte die Beteiligung an der Naturforscherversammlung, welche in diesem Jahre zu Aberdeen im nörd­ lichen Schottland stattfand.

Da die Königin um diese Zeit, unfern

von Aberdeen, in Schloß Balmoral residierte, hatte Prinz Albert die Einladung angenommen, die Versammlung zu eröffnen und sich überhaupt tätig an derselben zu beteiligen.

Der hohe Herr war

damals auf einem Höhepuntte feiner ideal gerichteten Tätigkeit und seines persönlichen Auftretens in vollster männlicher Schönheit.

Ich hatte das besondere Glück der Bekanntschaft mit den beiden jungen deutschen Gelehrten, welche als seine wissenschaftlichen Be­ rater und Sekretäre angestellt waren. Der eine derselben war Che­ miker und Physiker, der andere Kunsthistoriker, und durch die näheren Beziehungen zu diesen beiden Landsleuten, welche den Prinzen innig verehrten, gewann ich einen Einblick in die ganze Wirksamkeit

des edlen Herm und seine Stellung am Hofe und int Lande. Seine Eröffnungsrede war eine bedeutsame Leistung, aber noch eigenartiger traten seine intellektuellen und Charattereigenschaften hewor, wenn

er sich bei den ^Befragungen und Diskussionen, die sich in den Ver-

57 sammlungen an einzelne der bedeutendsten Borträge knüpften, das Wort ergriff, um zugleich im Interesse des Publikums Bervoll-

ständigungen oder Aufklärungen zu erbitten. Ich erfuhr vertraulich, daß damals seine größte Sorge und Lebensnot in der Entwicklung feiner beiden ältesten Söhne bestand. Der zweite ist ja ziemlich früh

gestorben. Der älteste ist doch schließlich zu einer Höhe des Charakters und der Wirksamkeit emporgestiegen, an deren Möglichkeit damals niemand geglaubt hätte.

Bon Aberdeen ging meine Reise zunächst, mit einem Umwege durch die schottischen Hochlande, über Edinburg nach Manchester, wo damals der früher schon erwähnte Berliner Studienfreund Dendp lebte.

Bon der Wanderung durch die schottischen Hochlande ist mir

die folgende Episode in lebhafter Erinnerung geblieben.

Ich traf,

von Aberdeen kommend, an einem Sonnabend Abend in Perth ein,

von wo ich am Sonntagvormittag mit einem kleinen. Gefährt in die Berge fahren wollte, da, wie ich schon wußte, weder Bahn noch Post am Sonntag funktionierten.

Es gelang mir aber nicht, an

diesem Sonntagvormittag irgendeinen Kutscher in Perth zu finden, der bereit gewesen wäre, mich in die etwa 3 Stunden entfernten

Berge zu fahren. Schließlich wurde mir ein Gig und ein Pferdchen zum Selbstkutschieren überlassen unter der Bedingung, daß ich nicht von der vorderen Seite des Gasthofes, sondern nur von einem abge­

legenen Hinterhause aus abfahren durfte. Bevor ich diese, übrigens allerliebste Fahrt antrat, hatte ich noch einen schweren Konflikt im Gasthause zu bestehen.

Ich hatte mir während des Wartens auf die

Erledigung der Fahrtangelegenheit gestattet, ein im Gesellschafts­ raum befindliches Klavier anzuschlagen. Nach wenigen Akkorden aber stürmte eine große Anzahl von Männenr und Frauen in den Saal,

um mir mit drohenden Gebärden das Musizieren am Sonntag zu untersagen. Ms die Zeloten dann den Saal wieder verlassen hatten, da ich natürlich sofort gehorchte, machte mir ein Kellner, der in London zu Hause war und weniger finster über die Sonntagsheiligung dachte, die Mitteilung, daß jene ganze fanatische Gesellschaft sich im

unteren Stockwerke mir Kartenspiel und Alkohol vergnügte, und ich konnte sogar in diese ziemlich dissolute Veranstaltung einen flüchtigen

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Einblick nehmen.

Herrlich war dann die Fahrt mit einem flotten

Pferdchen angesichts der immer malerischer emporragenden schot­ tischen Gebirgslandschaft.

Ich genoß an diesem und dem folgenden

Tage bei köstlichem Wetter eine entzückende Wandemng durch die

schönsten schottischen Wald- und Seelandschaften. In den: Hause meines lieben Freundes Dendy zu Patricroft

bei Manchester verlebte ich dann einige Tage traulichsten englischen

Familienlebens. Dendy, der sich, bald nach seiner Rückkehr von der Berliner Universität, schon im Jahre 1851 verheiratet hatte, war als unitarischer Prediger an verschiedenen Stellen Englands, zuletzt

aus der Insel Wight, tätig gewesen.

Als sich dann aber sehr bald

eine ziemlich zahlreiche Familie einstellte, war er den Anerbietungen seiner in der Nähe von Manchester eine große Seidenfabrik be­

treibenden, begüterten Familie gefolgt und ins Fabrikgeschäft über­ getreten, in welchem er sich und den Seinen sehr bald eine behag­ liche Existenz begründete, gehoben und geweiht durch die Fortsetzung seiner Studien.

Eine anmutige und bedeutende Frau und reizende

Kinder machten mir mit ihm zusammen diesen Aufenthalt zu einer wahren Erquickung. Bon Manchester aus ging ich dann nach Irland, und zwar wesent­

lich zu dem Zwecke, das Riesenteleskop von Lord Rosse kennen zu lernen, welches sich in der Nähe der Westküste Irlands, in Parsonstown, befindet. Leider wurde mir infolge der bekannten klimatischen Berhältnisse dieser Westküste kein klarer Beobachtungsabend zuteil,

und ich mußte mich mit dem grandiosen Eindruck der Dimensionen des Rieseninstrumentes begnügen, wobei ich aber auch den köstlichen

Eindruck der üppigen Parkvegetation genoß, die das Femrohr umgab. Die Vegetation an der Westküste Irlands, deren Temperatur infolge

des Golfftromes auch im Winter nicht unter 8 Grad Wärine hinab­ geht, ist bekanntlich fast üppiger als die Vegetation in Mittelitalien. Ähnliche landschaftliche Herrlichkeiten genoß ich weiterhin auch in der Nähe vo.l Dublin und auf der Mckreise von Irland auch in beit Gebirgstälern von Wales. Zunächst führte mich die Mckreise nach Dublin, wohin mich

besonders ein Empfehlungsbrief zog, den mir meine liebe Freundin

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aus der Bonner Universitätszeit, Frau Ida Becker in Berlin, an die ihr aus der Bonner Schulzeit her befreundeten Töchter des angli­ kanischen Erzbischofs in Dublin, Lord Whately, mitgegeben hatte.

Nachdem ich meinen Empfehlungsbrief von Dublin aus an die Familie- des Erzbischofs, die sich auf ihrem Landsitze befand, einge­ sandt hatte, erschien noch am selbigen Tage die Equipage des Erz­ bischofs, um mich hinauszuholen. Frau Ida mußte mich sehr freund­

lich eingeführt haben, denn die lieben Töchter empfingen mich an der Pforte des Parks, und ich darf sagen, daß die Tage, die ich als­ dann infolge der sehr gütigen Aufnahme seitens des Erzbischofs auf

dem Landsitz zubrachte, eine der eigenartigsten und wohltuendsten Erinnemngen meines ganzen Lebens sind. Es traf sich glücklich,

daß Lord. Whately, der selbst ein hervorragender Schriftsteller auf dem Gebiete der Logik und Erkenntnistheotte war, sich für Astronomie und Erdphysik lebhaft interessierte, während die Töchter, die nur wenig älter waren als ich, besondere Freude an der Beethoven­

musik hatten, die ich ihnen darbieten konnte, und auch meiner ©tu« dentenstimme, mit der ich damals deutsche Volks- und Studenten­ lieder, sowie Schubettsche Lieder leidlich vortragen konnte, einen

besonderen Geschmack abgewannen.

So wurden die Tage in dem

schönen Landsitz wahrhaft musisch hingebracht.

Am Vormittage

ging ich mit dem Erzbischof spazieren und hielt ihm Heine astrono­ mische Borträge. Am Nachmittage wurde mit den Damen Musik gemacht.

Dublin war damals (Sept. 1859) der Schauplatz einer der eigen­ tümlichen Volksbewegungen, welche besonders in Wales und in Ir­ land von Zeit zu Zeit auftauchen, nämlich der sogenannten revivals. Es treten dann Bolksredner auf, welche viele Tausende in den Parks

und auf den öffentlichen Plätzen um sich sammeln und ihnen er­ greifende Bußpredigten halten, durch welche die psychopathischen

Elemente in der Zuhörerschaft in visionäre oder gar krampfattige Zustände versetzt werden, die natürlich in der ganzen übrigen Zu­ hörerschaft Mitgefühl und verwandte Erregungen Hervorrufen, so daß die Bolksmassen dann in ihre Häuser und Beschäfttgungen in Stimmungen zurückkehren, in denen sie das Reich Gottes nahe fühlen

60 und vielfach vorübergehend zu edlerem und gütigerem Leben ange­ regt sind. Bei den damaligen revivals in Dublin äußerten sich solche religiöse Wirkungen hauptsächlich darin, daß im Branntweingenuß,

auf dessen Elend die Bolksredner besonders hingewiesen hatten, plötzlich und einige Wochen dauernd eine vollständige Slskese und Ent­

haltsamkeit eintrat, was in Irland sehr viel zu bedeuten hatte. In den Tagen meines Aufenthalts int erzbischöflichen Hause war diese Wirkung zu einer ungewöhnlichen Höhe und Allgemeinheit gelangt, so daß theologische Professoren und Geistliche aus Dublin, welche

den Erzbischof besuchten, zum Teil an die wirkliche Ankunft des „Reiches Gottes" glauben zu dürfen meinten, und selbst der ehr­ würdige Erzbischof von einer ungewöhnlichen Seelenstimmung er­ griffen wurde. Natürlich mischte ich mich in keiner Weise in der­ artige Diskussionen ein, denn, nachdem ich mehreren solchen revivals

beigewohnt hatte, war ich von dem krankhaften und vorübergehenden Charakter der ganzen Bewegung Kar überzeugt. Wenige Wochen nachher ist denn in der Tat auch die ganze Erscheinung wieder ver­

schwunden, und der Dämon des Branntweins hat die arme irische Bevölkerung wieder ebenso heftig wie früher ergriffen, eine Bevölkerung, die sich sonst in mancher Beziehung vor allen andern mir bekannten Bolkstypen, und zwar hauptsächlich durch ihren merk­

würdigen, fast musischen Frohsinn auszeichnet. Mein Abschied aus dem von Edelsinn und Güte erfüllten erz bischöflichen Hause erhielt noch einen für mich besonders wohltuenden

Abschluß dadurch, daß ich versprechen mußte, an einem der letzten Abende vor meiner Abreise, zu welchem man beste Gesellschaft aus

Dublin einladen wollte, Beethoven zu spielen und deutsche Lieder zu singen. Wie tief und dauemd hat mich die Erinnerung an diesen Abend und an die lieben Menschen beglückt. In London hatte ich diesmal hauptsächlich im British Museum

zu tun. Meine für die Universitätsvorlesungen betriebenen Studien in der Geschichte der Astronomie hatten mich in nähere Berührung

gebracht mit der englischen Literatur über altindische Geschichte und Astwnomie, und es gab hierfür keine bessere Studierstelle in der Welt als den wundewollen Lesesaal der Bibliothek des British Museum,

61 wo man in der entgegenkommendsten und sachverständigsten Weise von einem ausgezeichneten Personal „bedient" wurde. Tagelang habe ich dies zu großer Fördemng meines Einblickes in jene uralte

Gedankenwelt genossen, und wie froh empfand ich die Höhe der

Betätigungen dieser großbritannischen Kultur, deren Beziehungen zu der ganzen edlen Weltkultur, sowie ihrer Vergangenheit und Zu­

kunft jetzt so kindischen Verwirrungen ausgesetzt sind durch die Kon­ kurrenz- und Kriegsparoxysmen. Von London aus machte ich Besuche auf den Sternwarten zu Oxford, zu Cambridge, zu Greenwich und in Redhill (Kent) bei dem 'Amateurastronomen Carrington, dem Sohn einer reichen Brauer­ familie, mit dem ich von Berlin aus in briefliche Verbindung ge­ kommen war. Carrington, der nicht lange nachher leider sehr früh aus dem

Leben scheiden mußte, lebte mit seiner alten ehrwürdigen Mutter aus einem Hügel in anmutigster Gegend der Grafschaft Kent und

widmete sich in einer kleinen, aber sehr klug eingerichteten Stern­ warte sehr genauen Ortsbestimmungen von Fixstemen sowie Sonnen­ fleckenmessungen. Die gemeinsame Freude an den Feinheiten der astronomischen Beobachtungsdisziplin verklärte uns dieses Zu­

sammensein zu einem wahrhaft festlichen Tage, so daß auch die alte Mutter ganz traulich und froh wurde. In Cambridge und Ox­ ford genoß ich auch besonders die alten Collegegebäude und die

alten Bäume in ihren Parkanlagen. Von London ging es nach Paris, wo ich diesmal auch schon

astronomische Korrespondenten und Freunde aussuchen und besonders auch die Museen viel verständnisvoller als früher genießen konnte. Prof. Encke hatte mir auch eine Einfühmng an den hochbejahrten

Astronomen Biot mitgegeben, der noch den Zeiten des Pariser Auf­ enthaltes von Alexander von Humboldt angehörte und diesem fast

so nahe gestanden hatte wie Arago. Der alte Herr saß in seiner Wohnung int College de France beim Dessert seines Frühstücks, als mein Besuch ihm gemeldet und auf Gmnd von Enckes Brief ange­ nommen wurde.

Bor ihm stand noch ein Glas Rotwein und eine Er lud mich zum Mitgenusse

Schüssel voll schöner Weintrauben.

62 des Weins „in beiderlei Gestalt", wie er in deutscher Sprache sagte, gar freundlich ein, und wir hatten dann ein stundenlanges Gespräch

über die Urzeiten der Astronomie, mit denen er sich unter Mitwirkung seines srühverswrbenen Sohnes Eduard, der sich besonders dem Studium des chinesischen Altertums gewidmet hatte, eindringend beschäftigt hatte. Er kam dann aber auch auf die Gegenwart zu fpre-

chen, zumal auf die damaligen Zustände an der Pariser Sternwarte, an welcher der große Rechner und Theoretiker

Le Berrier,

der

zugleich mit dem englischen Astronomen Wams den Planeten Neptun

zuerst int Geiste gesehen hatte, das Zepter führte. Le Berrier war ketn Lehrer und kein Führer, sondem ein bureau-

kratischer Pedant, und Biot sagte über das straffe und sterile Regime, welches auf der Pariser Sternwarte damals waltete, die treffenden Worte: Wenn einer mit Siebenmeilenstiefeln selber in der Wissen­

schaft vorwärts geht, aber der Liebe und der Fördemng für die

jüngeren Mitarbeiter entbehrt, so kann unter Umständen die Bilanz seiner Gesamtleistung doch negativ werden. Ich besuchte dann auch die Sternwarte.

Le Berrier kannte

meine Berliner Beobachtungstätigkeit aus den astronomischen Zeit­ Er sprach dabei von

schriften und empfing mich mit Auszeichnung.

seinen Mitarbeiterit an der Sternwarte mit einer Geringschätzung, durch die mir Biots Auffassung voll bestätigt wurde.

Ces gens lä

sont payßs, ils n'ont pas le feu sacr6 de la science du tout, waren

seine Worte, und er war doch auch pay6.

Später hat er dann den

Zahlungsmodus noch geradezu erniedrigt, indem er z. B. für jede

Beobachtung des Meridiandurchgangs eines Gestirns eine bestimmte Taxe aufstellte und damit das feu sacrt auf der Sternwarte eine Zeitlang fast gänzlich ausblies. Übrigens waltete in jener Zeit auch

in England noch eine eigentümliche Auffassung hinsichtlich der wissen­ schaftlichen Stellung des Assistententums in den messenden Mfsenschaften. Als ich auf der Sternwarte zu Cambridge dem Direktor

den Wunsch aussprach, meinen jüngeren Kollegen bekannt gemacht zu werden, lehnte er mit den Worten ab, ich solle mich nicht um sie

kümmern, they are no gentlemen.

Das ist nun auch in England und Frankreich längst anders ge-

63 worden, wobei Deutschland und Nordamerika mit gutem Beispiel vorangegangen sind.

Meine ganze Reise durch England, Schottland, Irland und über Paris zurück, die sich von Anfang August bis über Mitte September

1859 erstreckte, war doch eine große Lebensbereicherung, für die ich meinem Vater nicht dankbar genug sein konnte.

9. Kapitel. Anstellung als erster Assistent an -er Sternwarte (1860). Rückblick auf meine geselligen Beziehungen und -en Beginn meiner Vortrage in -er Singata-emie. Außerordentlicher Professor (1863)« Erkrankung von Prof. Encke. Die Übernahme -er interimistischen Leitung -er Sternwarte. Die Begrün-ung -er internationalen astronomischen Gesellschaft (1863). Die Reise nach St. Petersburg un-Pulkowa (1864). Die erste Generalkonferenz -er mitteleuropäischen Gra-messung (1864). Die Ernennung zum Direktor -er Sternwarte (1865).

Das Jahr 1860 bildet nun insofern eine Epoche in meiner Lebens­ entwicklung, als ich am 1. Slpril dieses Jahres, auf Grund der Be­ rufung meines Kollegen Bmhns zum Professor und Direktor der

Stemwarte in Leipzig, in die erste Assistentenstelle einrückte und die entsprechende Wohnung auf der Berliner Stemwarte bezog. Mein

Verhältnis zu meinem Herrn Direktor, Professor Encke, wurde da­ durch nicht erheblich geändert, denn er hatte mir stets, insbesondere

schon bei der Habilitation an der Universität und auch durch die oben erwähnte Einfühmng bei Böckh und Humboldt, außerordentliche Güte und Vertrauen erwiesen.

Aber meine Lebensbedingungen

wurden jetzt doch nicht unwesentlich geändert, da ich nun auf der Stemwarte auch den sogenannten Zeitdienst zu übernehmen hatte. Durch die Notwendigkeit, die Gunst des Wetters bei Tag und bei

Nacht für die Beobachtungen der Durchgangszeiten der Sterne durch

den Meridian auszunützen, wurde ich in meiner persönlichen Zeit­ einteilung außerordentlich eingeschränkt, und dies war insbesondere für meine geselligen Beziehungen von Bedeutung.

Auch mußte

64 ich meiner Hausmusik entsagen, da mein Wohnzimmer neben dem

Arbeitszimmer des verehrten Herrn Direktors lag.

Für die ge­

selligen und musischen Entsagungen fand ich aber reichen Ersatz in der unbeschreiblichen Freude an den Herrlichkeiten der astronomischen Meßkunst.

Ich war seit dem Eintritt in die zweite Assistentenstelle

schon daran gewöhnt, in der Regel bis 3 Uhr nachts aufzubleiben und bis 10 Uhr morgens zu schlafen. Indessen hatte die bisherige astronomische Beschäftigung in diesen Jahren (1855—60) mir doch mehr Freiheit, auch bei der nächtlichen Zeiteinteilung gelassen, als

die Beschäftigung, die mir jetzt bei Tage und bei Nacht der Zeit­

dienst auferlegte.

Die nächsten sechs Jahre aber verlebte ich in der

Tat mehr nach Sternzeit, als nach Sonnenzeit. , Ich mußte zur

Stelle sein, sobald bestimmte Fixsterne bei Tage oder bei Nacht den Meridian passierten. (Beiläufig bemerkt, erlaubte das Meridianfernrohr unserer Sternwarte auch am Hellen Tage bei ganz wolken­

reinem Himmel fast in jeder Stunde den Meridiandurchgang von einem oder zweien der helleren Fixsterne zu beobachten.)

Ein solcher S t e r n d i e n st ist aber, da auch die Sterne

dienen, d. h. genau und immer genauer halten, was der Menschen­ geist verspricht, eine unerschöpfliche Quelle höchster und reinster Befriedigungen.

Möge die Erinnening an diesen Hauch von Welt­

harmonik als Einleitung dienen zu einem Rückblick, den ich noch auf mein geselliges Leben in den Jahren 1855—60 werfen möchte. Es war nicht nur die Musik, die sich damals besonders lebhaft in Berlin zu entwickeln begann (vor 1850 hatte es in Berlin noch

keine öffentlichen populären Symphoniekonzerte gegeben), sondern es waren auch die Malerei und die Bildhauerkunst, welche in Berlin

in diesen Zeiten, damals eifrig gepflegt durch König Friedrich Wil­ helm IV., emporzublühen begannen.

Ich hatte nun das Glück,

zu einigen Musikern, Malern und Bildhauern persönliche Bezie­ hungen zu gewinnen, und zwar hauptsächlich durch Vermittlung

eines alten Herrn, der seine Jugend in Grünberg, in Freundschaft

mit meinem großväterlichen Hause, verlebt hatte, und mit dem ich ganz zufällig in Berlin bekannt wurde. Es war dies der Geh. Ober­ postrat Eduard Schüller, freiwilliger Jäger von 1813, ein echter

65 Schlesier, damals schon über 60 Jahre alt, aber allen Musen dienend, Mtglied fast aller geselligen Vereine von Dichtern, Malern und Bild­ hauern, begeisterter Jünger von Goethe und Schiller, vom Rhein

her, wo er längere Zeit gelebt hatte, mit einem Sohne von Schiller

und einem Sohne von Fichte, am innigsten und brüderlichsten aber mit Wilhelm von Kaulbach befreundet, der damals öfters längere Zeit in Berlin weilte, um seine großen Wandbilder im Neuen Museum zu malen. Wieviele trauliche Abende habe ich damals mit ihm und

einigen anderen Berliner Künstlern, von denen ich nur den Bild­ hauer Drake unb den Maler Stilke, sowie den humorvollen Kupfer­

stecher Lüderitz nenne, in Schüllers Hause verbracht.

Sitte diese

lieben Herrn nahmen ein gütiges Interesse an dem jungen Stern-

kucker, von dessen Lebensarbeit sie alle gern reden hörten. Natürlich zogen mich diese Künstlerbekanntschaften auch in größere Geselligkeits­ feste, bei denen ich auch manche herzerfreuende Bekanntschaft mit der lieben Frauen- und Mädchenwelt dieser Kreise machte.

Kurz vor dem Jahre 1860 war aus allen diesen Beziehurigen

eine kleine gesellige Veranstaltung meinerseits hervorgegangen, in­ dem ich in einem Hotel unter den Linden einen Zyklus von populären Borträgen über Astronomie und Kulturgeschichte darbot, zu welchem

ich die werten Herren und Damen aus jenen Kreisen einlud, und diese

Veranstaltung wurde die erste Stufe zu meinen späteren Vorträgen in der Singakademie, die in meiner ganzen äußeren und inneren Lebensentwicklung eine erhebliche Bedeutung gewannen. In die Zeit von 1855—60 fallen auch einige Erlebnisse in

meiner Familie, die mich stark bewegten. Meine liebe älteste Schwester Hulda, die, wie ich schon erzählte, im Jahre 1854 sich mit dem New

Yorker Tuchkaufmann Louis Großmann verheiratet hatte, war im Sommer 1856 mit ihrem Gatten nach Dresden übersiedelt, von wo

aus der Gatte eine noch umfassendere Entwicklung seines deutsch­

nordamerikanischen Tuchgeschäftes zu organisieren hoffte. Die Tage,

die ich bei dem lieben Ehepaar in Dresden zubrachte, waren für mich sehr beglückend, da ich mich auch mit dem Schwager innig befreundete.

Um so härter trafen uns und die ganze Familie die Ereignisse der großen wirtschaftlichen Krisis von 1857, die zu gleicher Zeit in Europa Wilh. fr o er ft er, Leben-erinnerungen.

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66 —



und in Nordamerika großes Unheil anrichtete, so daß mein Schwager sich gezwungen sah, in größter Elle nach New Dort zurüchukehren und seine Frau mit zwei ganz kleinen Kindem nachkommen zu lassen. Mr wurde der Auftrag zuteil, im Dezember 1857 die schwerbe­

drängte Schwester in Hamburg einzuschiffen.

Ich erinnere mich

dieses Abschiedes mitten auf der Elbe in der Mhe von Cuxhaven bei greulichstem Winterwetter und in Erwartung einer Seefahrt, die auch wirklich sür meine Schwester mit großen Drangsalen verlief, und zu­ gleich in Erwartung einer in New York vorzufindenden höchst be­ drängten Lage ihres Gatten.

Und ich habe es nie vergessen, welche

Seelengröße die Schwester in dieser Lebenslage bewies.

Ich will

gleich hinzusügen, daß schon nach kurzer Zeit der Gatte wieder emporkam und alsdann nahezu 12 Jahre lang seiner Familie sehr bewegte, aber meist sehr glückliche Zeiten, zuletzt in einem Land­ haus am Hudson, bereitete, aber schließlich nach Deutschland heim­

kehrte, wo dann die große Handelskrisis von 1873, die das deutsche Exportgeschäft so stark erschütterte, auch ihn in Grünberg in eine

sehr eingeschränkte Lebenslage versetzte.

In dieser hat er dann bis

zu seinem frühen Tode mit einer Unverdrossenheit gearbeitet, die

sich sogar bis zu humorvollen Rückblicken auf die ungewöhnliche Glanzperiode seiner nordamerikanischen Existenz erhob.

Diese Geschäfts- und Lebensverhältnisse waren in hohem Grade charakteristisch für die Zustände jener merkwürdigen Zeiten, in

denen sowohl Deutschland als Nordamerika die gewaltigsten geschäft­ lichen Nöte durchzumachen hatten. Kurz vor dem Jahre 1860 wurde auch mein eigenes Leben tief bewegt durch die Zuneigung zu einem edlen Mädchen, welches mir

leider keine Erfüllung meines Hoffens gewährte.

Sie ist mir nachher

bis in die spätesten Lebenstage eine gütige Freundin gewesen, und die wehmutsvolle Entsagung hat mir in den auf jene Enttäuschung unmittelbar

folgenden

Zeiten

größter

Lebensanstrengung

eine

Seelenstärkung bereitet, die mir durch eine sogenannte glücklichere Lebensentwicklung damals vielleicht versagt worden wäre. Der nun folgende fünfjährige Zeitraum vom Frühjahr 1860 bis zum Frühjahr 1865, in welchem letzteren Zeitpunkte ich im Mer

67

von 32 Jahren zum Direktor der Kgl. Sternwarte in Berlin emannt

wurde, war für mich eine mit bedeutsamen Ereignissen und an­ strengenden Leistungen in ganz ungewöhnlicher Weise angefüllte Zeit. Im Februar 1860 hatte ich zunächst in dem Zyllus des „Wissen­ schaftlichen Vereins" in der Singakademie den ersten derjenigen Bor­ träge gehalten, von deren Vorbereitung durch die Beziehungen zu August Böckh und Alexander von Humboldt und durch meine eigenen

freien Veranstaltungen ich bereits oben gesprochen habe. Das Thema dieses Vortrages hieß: „Die Astronomie des Mtertums und des Mittelalters im Verhältnis zur neueren Entwicklung."

Meine

Vorlesungen an der Universität, aber auch meine dienende Mitarbeit bei A. von Humboldt, der im zweiten Bande des Kosmos die grandiosesten Ausblicke in die Kulturgeschichte wissenschaftlichen Er­ kennens geöffnet hatte, und bei Aug. Böckh, der einer der tiefsten Kenner der wissenschaftlichen Kultur Griechenlands war, hatten es

mir ermöglicht, daß ich in diesem Bortrage Lichtblicke aufzutun vernwchte und Töne fand, welche für eine Reihe der bedeutendsten Männer an der Universität, sowie in der höheren Beamten- und Mlitärwelt noch völlig neu waren. Schon in den ersten dieser Bor­

träge zählte ich den damaligen General von Moltke und den da­ maligen Ministerialdirektor Delbrück zu meinen Zuhörern, und sie sind mir alsdann auch in der Folgezeit gütige und treue Zuhörer der singakademischen Vorträge geblieben. In noch höherem Maße, als jener erste astronomisch-kulturgeschichtliche Vortrag bewegte der

nächstfolgende, an derselben Stelle am 28. Februar 1862 gehaltene Vortrag: „Johann Keppler und die Harmonie der Sphären" das sehr

andächtige und geistig vornehme Publikum dieser Veranstaltungen. In dieser Zeit (1860—62) erlebte ich auf der Sternwarte eine politische Auseinandersetzung mit Prof. Encke, von der ich noch gern

berichte, weil sie ziemlich charakteristisch ist für die Herrlichkeit des preußischen Wahlgesetzes, und weil sie auch meinen teuren Professor

in seinem Verhalten zu dem jungen Assistenten liebenswürdigst

kennzeichnet.

Kurz vor einer der damaligen sehr bewegten Wahlen

zum preußischen Abgeordnetenhause kam er eines Morgens seufzend zu mir: Denken Sie, ich bin diesmal mit dem Hausbesitzer Schul; 5*

68

zusammen das ganze Kollegium der Urwähler erster Klasse in unserm Bezirk. Wir haben also beide zusammen einen Wahlmann zu er­ nennen, aber wen?

Schulz überläßt mir die Entscheidung, er will

sür meinen Kandidaten stimmen.

Da ich zu wenig Bekanntschaften

für eine solche Auswahl habe, die mir auch mit den nötigen Fragen und Besprechungen viel Zeit kosten würde, so habe ich daran gedacht, mit Schulz zusammen Sie zum Wahlmann zu machen. Was meinen

Sie dazu? Leider mußte ich chm erllären, daß ich unmöglich seine (stets

streng konservativen) politischen Ausfassungen vertreten könne, vielmehr auch als Wahlmann, ebenso wie als Urwähler III. Klasse, für die Dies war ihm neu, aber er fügte sich mit heiterem Bedauern und meldete mir dann am folgen­

demokratische Partei stimmen würde.

den Tage, daß Herr Schulz ihm jetzt einen ihm namhaft gemachten Magistratssekretär, der doch offenbar bei der (damals noch konser­ vativen) Stadtverwaltung kein Demokrat sein werde, vorgeschlagen

habe, für den er nunmehr auch stimmen wolle. Es traf sich nun aber

unglücklich, daß dieser „zweistimmig" von den Urwählem I. Klasse auf den Schild gehobene Wahlmann einer der rabiatesten Demo­ kraten war, was meinem lieben Professor in den nächsten Tagen von dem Bürgermeister Naunyn nicht ohne Ironie mitgeteilt wurde. Bei derselben Wahl war in der Vorschlagsliste der Wahlmänner

III. Klasse auch mein Name genannt worden.

Ich erwähne dies

hier nur, weil mein eigener Vater, als ich ihm davon Mitteilung machte, schlechtweg bemerkte: „Welche Dummheit." Der liebe gütige Vater konnte sich nicht sofort in den Gedanken finden, daß

„sein Junge" schon politisch ernsthaft genommen wurde.

Er war

aber sehr erstaunt, als ich ihm weiter erzählte, welche Ehre mir bei­

nahe als Wahlmann I. Klasse zuteil geworden wäre.

Im Jahre 1862 hatten wir auf der Sternwarte den Besuch der ersten nach Deutschland gekommenen japanischen Gesandtschaft. Graf Friedrich Eulenburg (der spätere Minister des Innern) war

vorher in handelspolitischer Mission nach Japan entsandt gewesen,

und er war jetzt der Cicerone der in Erwidemng nach Deutschland entsandten japanischen Mission, die hauptsächlich aus drei „Daimios"

69 (den damals in Japan regierenden Territorialfürsten) bestand.

Der

älteste derselben namens Mmodske war außerordentlich intelligent

mit) auch in der Astronomie merkwürdig bewandert, so daß er z. B.,

als ich ihm den Jupiter in dem großen Fernrohr vorgeführt hatte, sofort durch den Dolmetscher monierte, daß er die beiden grauen Äquatorialstreifen auf der Scheibe des Planeten nicht deutlich sehe,

was ich sofort zu seiner dankbar markierten Befriedigung durch eine kleine Okularanpassung erledigte. Der Dolmetscher, der vorzüglich Englisch und auch etwas Deutsch redete, war auch ein sehr Heller Kopf,

so daß wir sehr gut miteinander bekannt wurden, und das war der Anfang zahlreicher Befreundungen, die mich mit Japans wissen­ schaftlichen Leuten bis heutigen Tages vielfach in herzlichster Weise verbunden haben. Unter den japanischen Astronomen sind auch

mindestens 10 bis 12 jahrelang meine Schüler an der Universität und Sternwarte gewesen.

An dem ersten Abend, an welchem die

Gesandtschaft die Stemwarte besuchte, war der Himmel ungünstig, so daß nach einigem Warten Graf Eulenburg sich und die Herren Japaner bei Prof. Encke mit dem Vorbehalt einer Wiederkehr bei besserem Himmel verabschiedete. Er tat das aber in merkwürdig

unbedachter Weise, mit den drei Daimios vor Professor Encke stehend, mit den Worten: „Ich sehe schon, daß ich Ihnen diesen langweiligen Paddy (wobei er auf die drei Herren hinwies) noch einmal werde

bringen müssen." Auf die präsentierende Handbewegung des Grafen aber Verneigten sich die Daimios (der „Paddy") aufs tiefste vor Prof.

Encke, der über diese sonderbare Szene förmlich erschrocken war, zumal da der Dolmetscher in der Nähe stand. Bei dem zweiten Be­ such war aber der Himmel sehr schön und Herr Simodske tief dankbar.

Die edlen Daimios hatten aber sonst in ihrem Auftreten, zumal

auch in dem wiederholten Hinkauern auf der Diele, noch sehr viel Atavistisches. Herr Simodske hat einmal bei einem Diner im Aus­ wärtigen Amte, als der Mnister mit zwei sehr anmutigen jungen Damen ihm gegenüber saß, während er und der auch anwesende

Präsident der Negerrepublik Liberia neben der Frau Minister placiert waren, zu dieser durch den Dolmetscher sein Bedauern aussprechen

lassen, daß sie zwischen zwei Teufeln sitze, während ihr Herr Gemahl

70 zwei Engel an seiner Seite habe. Wenigstens hat es der Dolmetscher so ausgedrückt, was ihm aber der Negerpräsident sehr übel genom­

men hat. Bald nachher kam das Weh und die Not auch über mich, daß mein verehrter Direktor, welcher 1861 das siebzigste Lebensjahr überschritt, in eine schwere Gehirnkrankheit verfiel, welche ihn zu dem Entschlüsse brachte, im Laufe des Jahres 1863 die Sternwarte zu verlassen und sich mit seiner Familie zu seinem ältesten Sohn, der

als Kreisrichter in Spandau wohnte, zurückzuziehen. In einer Stufe dieser schweren Erkrankung fühlte der teure Mann das Bedürfnis, sich in das Sanatorium des seiner Familie

befreundeten, ausgezeichneten Irrenarztes Dr. Jessen zu Hornheim bei Kiel zurüchuziehen, um seine Familie vor den schweren Be­ drängnissen seines damaligen Geisteszustandes zu bewahren. Es gelang dann in der Tat dem Arzte, die Entwicklung des Leidens in

ruhigere Bahnen zu lenken und die paroxystischen Gefahren zu beseitigen.

In ergreifender Erinnemng ist mir aus dieser Phase des

Krankheitsverlauses eine Episode geblieben, in der ich mich in be­ sonderer Weise hilfieich betätigen konnte. Als nämlich der Arzt die Zuversicht gewonnen hatte, daß die akuten Gefahren der geistigen Erkrankung überwunden seien, wurde Enckes Sehnsucht nach der

Rückkehr zur Familie so drängend, daß ich angesichts einer Erkrankung des Sohnes, in dessen Haus die Familie sich zurückgezogen hatte, zur,

Heimholung des von mir so innig verehrten alten Herrn meine Dienste anbot. Diese Heimreise hatte einen für mich unvergeßlichen Verlauf,

über den ich in der Berliner Akademischen Wochenschrift vom 8. Juli

1907 eingehender berichtet habe, weil mir diese Eindrücke eine allge­ meine psychologische und lebensgeschichtliche Bedeutung zu haben schienen. Professor Enckes Stimmung und Geisteszustand war näm­ lich auf dieser Reise von einer ganz ungewöhnlichen Helligkeit und Freudigkeit, wie ich sie in den vorangegangenen Jahren noch gar

nicht bei ihm erlebt hatte.

Bald nach der Rückkehr in die Familie nahm jedoch die Krank­

heit wieder einen schwereren Charakter an, wenngleich ohne die früher bedrängenden Komplikationen. Ich sollte aber noch die außer-

71 ordentliche Freude erleben, daß ich im Jahre 1864 während einer vorübergehenden Besserung des Zustandes den Besuch des verehrten

Lehrers auf der Sternwarte empfangen konnte, wo ich ihm einen

wesentlichen Umbau der Aufftellung des großen Fernrohrs vorführen Im

und dabei seiner vollen Zustimmung froh werden konnte.

Sommer 1865 schied er in allmählicher Trübung des Bewußtseins

ohne größere Qualen aus dem Leben. Freund Bruhns hat dann dem hochverdienten Astronomen iti einer besonderen Lebensbeschreibung ein Denkmal gesetzt, und meinerseits ist er in einer Universitätsrede, welche ich am 3. August

1894 infolge einer Verhinderung des damaligen Rektors zu halten

hatte, mit besonderer Würdigung seiner Eigenart gefeiert worden, wozu ich späterhin in dem oben erwähnten Artikel in der akademischen

Zeitschrift noch einige persönliche Erinnerungen hinzugefügt habe.

Für die Entwicklung meiner Stellung an der Universität und Stemwarte waren diese Jahre von 1862—65 in besonderer Weise günstig. Roch mit Enckes Befürwortung wurde ich im Jahre 1863 zum außerordentlichen Professor emannt, während mir zugleich die

Leitung der Stemwarte interimistisch übertragen wurde. Für die sofortige Neubesetzung der Stelle des Direktors der Stemwarte nach Enckes Rücktritt fehlte es infolge der Besonderheiten der Ressortverhältnisse an der nötigen Gehaltsposition; bcnii die

Sternwarte gehörte damals zum Etat der Akademie der Wissen­ schafter«, und Encke war int Jahre 1825 als Direktor dieser akademi­ schen Stemwarte mit der Zusage einer lebenslänglichen Dauer seines Gehaltes, wie es damals für eine Reihe von akademischen Stellen

üt Geltung war, berufen worden. Der Akademie der Wissenschaften,

welcher nun die Neubesetzung der Direktorstelle zustand, fehlte es also mt den nötigen Geldmitteln, und vom Ministerium wurde sie

darauf hingewiesen, zu wartet«, bis dos Gehalt durch das Ablebe«« des bisherigen Direktors, das so nahe zu liegen schiel«, verfügbar ge­

mordet« sei. Somit konnte die Akademie ihre Verhandlungen mit eitlem Nachfolger nur vorbereitend beginnen, und in der Zwischen­ zeit mußte der erste Assistent, Foerster, den man soeben zum außer­ ordentlichen Professor gemacht hatte, die Direktim« übemehnien.

72 In den Verhandlungen, welche die Herren von der Akademie über

diese Entwicklung der Dinge mit mir führten, wurde von dem da­ maligen beständigen Sekretär der mathematisch-naturwissenschaft­ lichen Klasse, Professor Kummer, der mir schon bei der Habilitation

an der Universität und bei der Ernennung zum außerordentlichen

Professor großes Wohlwollen erwiesen hatte, mit der vollsten Offen­ heit erllätt, daß ich keinesfalls als Nachfolger in Frage käme, weil ich noch für zu jung erachtet würde, daß man vielmehr den damaligen

Direttor der Sternwatte in Altona, Professor Peters, einen sehr ausgezeichneten, aber schon ziemlich bejahtten Astronomen, dafür ins

Auge gefaßt habe und mit ihm bereits in Verhandlung getreten sei. Hierzu konnte ich nur mein volles Einverständnis erllären, da ich bereit war, unter einem solchen Direttor zunächst als Assistent weiter

zu arbeiten.

Als nun aber die Erledigung von Enckes lebensläng­

licher Gehaltsstellung sich unerwattet lange hinzog, wurde Professor Peters, welcher von den ihm mitgeteilten Absichten der Akademie seiner Behörde, nämlich der dänischen Regiemng, Kenntnis gegeben

hatte, von dieser nach Kiel berufen, mit einer ansehnlichen Erhöhung seiner Gehaltsstettung, unter gleichzeitiger Zusichemng der Be­ gründung einer neuen Sternwatte in Kiel, so daß er die offizielle Erllärung nach Berlin gelangen ließ, auf die künftige Berufung an

die Berliner Sternwarte definitiv verzichten zu wollen.

Zugleich

richtete er an mich die Auffordemng, nunmehr meinerseits mit aller

Zuversicht als Kandidat für die Direktion der Berliner Stenlwarte auftreten zu wollen, wofür auch seinerseits ein lebhaft zusttmmendes Votum an die Akademie ergehen würde. In derselben Weise äußetten

sich vertraulich mir gegenüber zwei andere der bedeutendsten da­ maligen Astronomen Deutschlands, nämlich mein verehrter Lehrer Professor Argelander in Bonn und Professor Hansen in Gotha. Ich war den Astronomen in den Jahren meiner Assistentenarbeit

und der provisorischen Leitung der Berliner Sternwatte sowohl durch meine Erfolge als Berechner von Planetenbahnen, als auch

besonders durch eine sehr intensive Beobachtungstätigkeit auf dem

Gebiete der damals immer schneller anwachsenden Zahl von neuent­ deckten Planeten gut bekannt geworden, während ich allerdings in

73 der Richtung mathematischer Produktion keine hervortretende Be­

gabung und Leistung erwiesen hatte, so daß die leitenden Mathe­

matiker der Akademie, unter ihnen der vorerwähnte gütige Freund Kummer, sich nicht entschließen mochten, jenes Votum der bedeutend­ sten deutschen Astronomen als entscheidend anzuerkennen.

Es kam

hinzu, daß sich an leitenden Stellen des Ministeriums ein sehr leb­ haftes Wohlwollen für mich aus Gmnd meiner oben erwähnten

populär-wissenschaftlichen Borträge in der Singakademie, insbe­ sondere des Vortrages über Johann Keppler und die Harmonie der Sphären, bemerllich machte.

Nicht ohne Gmnd verschärfte nämlich

dieser Nebenerfolg meiner Betätigungen die Abgeneigtheit,

ben

jugendlichen Astronomen, wie es bei seiner Ernennung zum Direktor

der akademischen Sternwarte unumgänglich gewesen wäre, in die

Akademie aufzunehmen. Der wissenschaftlichen Urteilsstrenge wider­

strebte auch der bloße Anschein, daß ein solcher „profaner" Neben­

erfolg den Weg in die Akademie bahnen könnte.

Diese an sich be­

rechtigte, jedoch gegenüber der vorliegenden eifrigen und streng wissenschaftlichen Tätigkeit des in Frage stehenden Astronomen ein­

seitig übertriebene Auffassung kam in dem lustigen Witzwort zum

Ausdruck „Kein Akademiker, aber ein Sing-Akademiker", womit in der Tat eine besondere Seite meiner Begabung und meiner ganzen

Lebensarbeit gekennzeichnet wird. Habe ich doch noch jetzt in meinem 78. Lebensjahre an der Universität in einer Vorlesung über die „Weltharmonik im Sinne von Plato und von Keppler" ein ganzes

Semester hindurch ebensowohl musisch als mathematisch geschwelgt. In jene für mich so kritischen Zeiten fielen drei Vorgänge, welche für die weitere Entwicklung der Entscheidungen auch einige Bedeutung

gewinnen sollten,

nämlich die Begründung der internationalen

„Astronomischen Gesellschaft" zu Heidelberg im Sommer 1863,

sodann

meine

Beteiligung

an dem 25jährigen

Jubiläum der

Sternwarte zu Pulkowa (bet St. Petersburg) im Sommer 1864 und meine Beteiligung an der ersten umfassenderen Kottferenz

der

mitteleuropäischen

Gradntessmtg

zu

Berlin

ebenfalls

im

Sommer 1864. Die Begründuttg der Astronomischett Gesellschaft geschah im Anschlnß an die bei Gelegenheit meiner früheren Mitteilungen über die

74 Naturforscher-Versammlung zu Bonn (im Jahre 1857) schon er­ wähnten Organisationsanfänge unter der Ägide von Argelander und

von Otto Struve wefentlich im Sinne eines Statuten-Entwurfes, welcher von Argelanders bedeutendstem Mitarbeiter Prof. Schönfeld bei

der Durchmusterung des nördlichen Sternhimmels und von mir, als dem Vertreter der besonders lebhaft auf der Berliner Sternwarte be­

triebenen Planetenbeobachtungen und Planetenbereckmungen aufgestellt worden war. Schönfeld und ich übernahmen auch zusammen die

erste geschäftliche Fürsorge für die Weiterentwicklung der internatio­ nalen Gesellschaft, die sich sehr bald zu allgemeiner Anerkennung und

Bedeutung erhob und alsdann in der Organisation von umfassend gemeinsamen astronomischen Unternehmungen sehr Förderliches ge­ leistet hat. Die Beteiligung an dem Jubiläum der Sternwarte zu Pulkowo im Sommer 1864 war mir nicht bloß astronomisch von großem Interesse, sondern auch durch den Einblick in die wissenschaftlichen Personal-

vechältnifse in Petersburg, wo damals das deutsch-russische Element überwiegende Bedeutung hatte, sehr wertvoll. Die persönlichen Ber-

bindungen, welche ich dort anknüpftc, besonders die freundschastlichen Beziehungen zu der ausgezeichneten Astronomenfamilie Struve waren und blieben sehr wertvoll für meine ganze Lebenstätigkeit. Außerordentlich förderlich wurde mir für meine wissenschaftliche Betätigung und Stellung auch die erste Generalkonferenz der mittel­

europäischen Gradmessungsorganisation, welche zu Berlin im Jahre

1864 unter der Führung des General Baeyer stattfand. Diese Kon­ ferenz wurde der Ausgangspunkt einer intemationalen Entwicklung der astronomifch-geodätischen Forschungsarbeit, die jetzt unter dem Namen „Internationale Erdmessung" und unter der Leitung von

Professor Helmert in Potsdam so Herrliches leistet, wovon ich weiter unten mit gebührender Würdigung der hohen Verdienste des ersten Begründers, General Baeyer, noch mannigfaches zu berichten haben werde.

Ich konnte gerade in den Anfängen dieser Organisation und

bei ihrer ersten größeren Versammlung diesem hervorragenden Manne eifrig und nützlich dienen. Als nun mit dem Ende des Jahres 1864, welches meine Zuver­ sicht auf eine förderliche Wirksamkeit und auf die Sympathie weiter

75

Kreise von Fachgenossen wesenilich erhöht hatte, noch immer keine

günstigere Stimmung für meine Kandidatur zur Sternwarten­ direktion an den entscheidenden Stellen der Akademie eintrat, viel­ mehr die vertraulichen Verhandlungen derselben mit anderen Persön­ lichkeiten ihren Fortgang nahmen, während ich durch die Ungewiß­ heit der Situation auch in der Verwaltung der Sternwarte und der Anstellung von Hilfskräften beengt war, entschloß ich mich, meine

Entlassung zu erbitten, da ich die Zuversicht hegen durste, vielleicht doch anderwätts, nötigenfalls außerhalb Deutschlands, eine geeignete und auskömmliche astronomische Stellung zu finden, und da jeden­

falls durch meinen Weggang die Akademie in die Lage kommen mußte, beim Mnisterium endlich tatkräftige Fürsorge für die Neubesetzung der Leitung der Stemwarte zu erlangen. Die Folge dieses meines Entlassungsgesuchs bestand jedoch

darin, daß das Mnisterium die ressottmäßige Verbindung der Stern­ watte mit der Akademie der Wissenschaften löste und nach offizieller Einholung der Gutachten der bedeutendsten deutschen Astronomen mich zum Direttor der Sternwatte ernannte.

Natürlich empfand man diese Entscheidung in der Akademie sehr bitter und legte dieselbe zum Teil mir zur Last. Als nun aber wenige Monate nach meiner Emennung Prof. Encke im Sommer 1865

starb, und dadurch der Weg für die Emennung eines Astronomen der Akademie ganz frei wurde, lag es dem Mnistettum nahe, sogar den Vorschlag zu machen, daß das nun verfügbar gewordene Gehalt

jetzt dem von ihm ernannten Direttor der Sternwarte zugesprochen

werde.

Was ich irgend konnte, tat ich jedoch, um eine solche Attion,

die mir als eine Gewalttat erschienen wäre, zu widerraten, indem ich

an maßgebenden Stellen auch darauf hinwies, daß unzweifelhaft durch die neueste große Entwicklung der astronomischen und astro­ physikalischen Arbeit künftighin neben der Stellung des Direttors der nunmehr in nähere Verbindung mit der Universität tretenden Stemwarte gerade einesolche Stellung, wie diejenige eines Astronomen der Akademie, welcher weniger der unmittelbaren astronomischen Messungspraxis als der mehr theoretischen Forschungsarbeit zu dienen hätte, völlig gerechtfettigt sein werde.

In diesem Sinne

erfolgte denn im Jahre 1866 die schließliche Entwicklung der ganzen

76 Angelegenheit.

Hauptsächlich auf Grund der sehr warmen Befür-

wortung seitens des großen Astronomen Hansen in Gotha wählte

die Akademie den mir schon nahe befreundeten Astronomen Arthur Auwers, der sich bereits sehr früh durch ausgezeichnete Arbeiten be­ merklich gemacht hatte (er war einige Jahre jünger als ich), zum Mit-

gliede und zum Astronomen der Akademie, als welcher er noch bis heu­ tigen Tages eine heworragende Forschungs- und Organisationstätigteit, zumal auf dem Gebiete der Fixstemastronomie, entfaltet hat. Mit

diesen Entscheidungen war nun die Bahn frei gemacht für eine tüchtige astronomische Mrksamkeit in Berlin. Ich nahm zunächst

auch eine Neugestaltung des von Lambert und von Bode (dem Vor­ gänger von Encke in der Direktion unserer Stemwarte) im Jahre

1775 begründeten Berliner Astronomischen Jahrbuches in die Hand,

für welches späterhin die Arbeiten von Auwers epochemachende Be­ deutung erlangen sollten. Einer meiner Mitarbeiter aus den Jnterimszeiten, F. Tietjen, ein oldenburgischer Bauernsohn von großer rechnerischer und theoretischer Begabung, erwies sich sehr bald als

eine so eminente Hilfe, daß ihm im Jahre 1874 die selbständige Leitung eines auf meinen Antrag begründeten astronomischen Recheninstitutes,

zugleich mit der Herausgabe des Astronomischen Jahrbuches, über­ tragen werden konnte, und an dieses Recheninstitut wurde dann

auch ein Seminar für wissenschaftliches Rechnen angeschlossen, in

welchem Tietjen und ich die Unterweisungen erteilten. Das Jahr­ buch hat dann unter seiner Leitung und unter derjenigen seines Nach­

folgers Bauschinger sich immer mehr zu dem anerkannten Zentral­ organ für die rechnerische Durchdringung und Beherrschung der Planetenscharen entwickelt, deren Anzahl jetzt schon mehr als 600 beträgt.

Die große Mehrzahl derselben bewegt sich zwischen der

Marsbahn und der Jupiterbahn, aber einzelne sind auch schon ge­ sunden worden, welche über diese Grenzen hinausgreifen, wodurch

sie ganz besondere Wichtigkeit für alle Dimensionsbestimmungen und Kräftemessungen in unserem Planetensystem erlangt haben, wie ins­ besondere der auf der Stemwarte der Berliner Urania von G. Witt entdeckte Planet Eros, der die Bahn des Mars durchkreuzt und der Erde näher kommen kann, als irgendein anderer Planet.

JO. Kapitel. Die Sternschnuppen von J866. Die KriegsnSte von J866. Die zweite Generalkonferenz -er mitteleuropäischen Gra-messung (J867).

In den Jahren 1865—68 wurde auf der Sternwarte auch eine

sehr intensive Beobachtungstätigkeit entfaltet.

Es waren besonders

zwei Gebiete der astronomischen Forschung, welche in dieser Zeit eine Bereicherung und Vertiefung ergreifendster Art erfahren hatten, nämlich die sogenannte Astrophysik durch Bunsen und Kirchhoff und

der Zusammenhang zwischen den Meteorerscheinungen und der Kometenwelt durch Schiaparelli's Arbeiten. Die großen Gesichts­ punkte und neuen Messungsmittel, welche durch die astrophysikalische Erforschung der zartesten Stmkturverhältnisse des Leuchtens der

Himmelslichter und der irdischen Lichtquellen auch der Astronomie zuteil wurden, drangen zunächst nur langsam in die Tätigkeit der

Stemwarten ein. Aber die Beobachtung der Sternschnuppen und Feuerkugeln hatte durch Schiaparelli's geniale Erkenntnis der Be­ ziehungen zwischen den Bahnen der Sternschnuppen und den Bahnen der Kometen sofort einen großen Aufschwung erfahren. Hierzu kam die um das Jahr 1866 oder 1867 zu erwartende Wiederkehr eines

prachtvollen Sternschnuppenphänomens, welches zuletzt im Jahre 1833 gesehen, vorher aber im Jahre 1799 in Südamerika durch

Alexander v. Humboldt wahrgenommen und sehr eindrucksvoll be­ schrieben worden war.

Umfassendere geschichtliche Untersuchungen

über frühere Beobachtungen dieser merkwürdigen Sternschnuppen­ fälle, deren Reichtum viel größer war, als bei den Erscheinungen, die alljährlich im Monat August, aus dem Stembilde des Perseus

kommend, am Himmel beobachtet werden, hatten erwiesen, daß die

— 78 periodische Wiederkehr jenes von Humboldt beobachteten Phänomens, das um Mtte November aus dem Sternbilde des Löwen hervor-

zubrechen schien, auch schon in den alten chinesischen Annalen ver­

zeichnet war. Mele Jahrhunderte hindurch war dort angegeben, daß es nahezu alle 33 Jahre einmal aus dem Sternbilde des Löwen Sterne „regnete". Man konnte hiemach bei einer mittleren Peri­ odendauer von 33 bis 34 Jahren für das Jahr 1866 mit gewisser Zuversicht aus die Mederkehr der grandiosen Erscheinung rechnen. Ich organisierte hierfür ein Zusammenwirken mit mehreren kleinen

Expeditionen in der Umgegend von Berlin für die betreffenden Novembernächte des Jahres 1866. Das Zusammenwirken mehrerer solcher Beobachtungsstationen, unter denen die von Berlin ent­ fernteste in Brandenburg etabliert wurde, sollte außer der größeren Unabhängigkeit von lokaler Wetterungunst hauptsächlich der Messung

der Höhen dienen, in welchen die in die Atmosphäre eindringenden Weltkörperchen zu leuchten begannen und zu leuchten aufhörten. Mt großer Spannung wurde der entscheidende Tag (13. November)

erwartet. Bis nach der Mitternachtszeit vom 13. zum 14. November, um welche das Stembild des Löwen in Berlin aufging, war der

Himmel dicht bewölkt, und wir waren schon nahe daran, den Wach­ dienst einzuschränken, als auf einmal hinter dünneren Wolken­ schleiern ein gewaltiges Feuerwerk aufzuckte und dann bis zur Morgen-

dämmerung mehrere Stunden lang der Himmel von Tausenden leuchtender Meteorbahnen durchzogen wurde. Mitunter waren in einer und derselben Sekunde mehr als zehn solcher leuchtenden Bahnen sichtbar, die alle aus dem Stembild des Löwen hervorzuquellen schienen,

ein unvergeßliches

Schauspiel,

welches allmählich

ein

Maximum des Glanzes erreichte und von da ab sich zu vermindern begann, nachdem die Erde bei ihrem Fluge durch den Himmelsraum die Mtte der Bahnstraße, in welcher die Weltkörperchen wanderten,

durchquert hatte. In unseren anderen Stationen um Berlin waren die Wetter­ verhältnisse zeitweise weniger günstig gewesen als in Berlin, aber

aus Nauen und aus Brandenburg lagen doch Beobachtungen vor,

welche nun mit den in Berlin erlangten Messungen und Zählungen

79 einige bedeutsame Resultate ergaben. Besondere Sorgfalt hatte der

nach Brandenburg entsandte Beobachter Albrecht, damals an der Berliner Sternwarte studierend und später ein hochverdienter Mit-

arbeiter der internationalen Erdmessung, auf die Zählung der Meteore verwendet und damit die Durchgangszeit der Erde durch die dichteste Stelle des Schwarmes, sozusagen durch den Kem des­ selben, sehr genau sestgestellt. Eine überaus charakteristische Erscheinung wurde vollkommen gleichzeitig auf der Berliner Stemwarte und in Brandenburg beob­

achtet, nämlich die Entstehung eines leuchtenden Ringes am Ende der Flugbahn einer solchen Hellen Stemschnuppe. (Ich bemerke, daß die Gleichzeitigkeit durch die telegraphische Vergleichung der

Chronometer der Stationen bis auf Bmchteile der Sekunde ge­ sichert war.) Dieser leuchtende Ring war offenbar heworgegangen aus einer explosiven Auflösung des in die Atmosphäre eingedrun-

genen und durch den Widerstand der Luft in sehr hohe Temperatur

versetzten Meteorkörpers. Es trat bei dem Verlauf dieser Erscheinung nun besonders deutlich hewor, daß dieses Erglühen des Eindringlings und die Auflösung desselben in kleinste leuchtende Teile und glühende

Gase eben dadurch heworgebracht wurde, daß bei der enormen Geschwindigkeit des Eindringens, welche in dem vorliegenden Falle

70 km in der Sekunde betragen haben mußte, kein Ausweichen der Luftteilchen möglich war, sondern die gesamte Luftmenge, welche

der Meteorkörper vor sich her antraf, in einer Sekunde von einer Strecke von 70 km Länge zu einem Luftkissen von enormer Dichtigkeit unb entsprechend gesteigerter Temperatur zusammengedrückt wurde, dessen Gegenwirkung schließlich den eindringenden Körper in jenen leuchtenden Ring auseinanderriß. Und nun trat noch die entscheidende

Gegenwirkung der sich wieder ausdehnenden Luftmenge ein, wo­ durch der aus dem Meteorkörper entstandene Ring jetzt in der entgegen­ gesetzten Richtung, in welcher das Meteor eingedmngen war, zu­ rückgetrieben wurde, während sich zugleich der noch längere Zeit fortglühende Ring allmählich erweiterte. Dieser ganze, kaum jemals früher in solcher Deutlichkeit beobachtete Vorgang empfing zugleich seine besondere Wichtigkeit dadurch, daß er eben gleichzeitig von

80

zwei Stationen beobachtet wurde, welche nahezu 70 km vonein­ ander entfernt waren, so daß nun die ganze Entwicklung und Ortsveränderung des Ringes mich in ihrer Höhenlage und in ihren Ge­ schwindigkeitsverhältnissen genau festgestellt werden konnte, wobei

sich dann ergab, daß das Ende der Flugbahn und die Entstehung des Ringes in einer Höhe von nahezu 80 km über der Erdoberfläche stattgefunden hatte. Es war erklärlich, daß die Beobachtungserfolge dieser November­

nacht zunächst bei den Berliner Astronomen ein sehr lebhaftes

Interesse an der ganzen meteorischen Forschung hervorriefen und auch in weiten astronomischen Kreisen um so lebhafteren Anklang fanden, als es nur an wenigen Stellen auf der Erde gelungen war,

diese Novembermeteore so vollständig zu beobachten.

Dieses Seo»

nidenphänomen, so benannte titnn es wegen seines Hervordringens aus dem Sternbilde des Löwen, wurde überdies der Ausgangspunkt einer der vollkommensten Bestätigungen der epochemachenden Ge­

danken von Schiaparelli über den Zusammenhang der Kometen und der Meteorerscheinungen.

Schiaparelli hatte kurz vor diesem

astronomischen Ereignis schon erwiesen, daß die Sternschnuppen, die alljährlich in den Augustnächten aus dem Sternbilde des Perseus hervorzudringen scheinen, in einer die Erdbahn durchkreuzenden Bahn wandeln, welche mit der Bahn eines bereits bekannten Kometen identisch ist. Diese Bahnstraße unterscheidet sich aber von der eben­

falls die Erdbahn kreuzenden Bahnstraße der Leoniden zunächst

dadurch, daß jene eine viel größere Breite hat als die letztere, so daß die Erde dort bei der Durchquemng fast vier Tage lang (vom

8. bis 12. August) zahlreichen Meteorkörperchen begegnet, während das Leonidenphänomen nur wenige Stunden lang seinen vollen

Glanz entfaltet. Sodann aber sind offenbar die Wanderer in der Sttaße des Augustphänomens schon so gleichmäßig verteilt, daß

wir alljährlich fast dieselbe Anzahl von Eindringlingen in jenen Nächten aufleuchten sehen, während der Leonidenschwarm nur alle

33 bis 34 Jahre in die Nähe der Kreuzungsstelle seiner Bahn mit der Erdbahn zurückkehrt und nur dann in größter Zahl in die Erdatmo­ sphäre eindringt, wenn die Erde selber dann zugleich sehr nahe an

81 derselben Stelle ihrer Bahn vorbeipassiert. Es wurde nun im Jahre 1866 von größter Bedeutung für die Erkenntnis aller dieser Dinge, daß schon mehrere Monate vor dem Novemberphänomen ein Komet

entdeckt worden war, der in einer mit der Bahn der Leonidenmeteore

ganz entsprechenden Bahn wandelte, und daß sich dann aus der Bewegung dieses Kometen immer deullicher ergab, daß er ebenso wie der Sternschnuppenschwarm mit einer nahezu 33jährigen Um­

laufszeit sich bewegte. Me diese Entdeckungen und Ergebnisse drängten sich damals in der ergreifendsten Weise zusammen, und zugleich fanden sich auch

bald durch eine vertiefte Untersuchung der alten chinesischen An­ gaben die merkwürdigsten Bestätigungen des Einflusses, welchen die

Anziehungskraft des Jupiter in dem vorangegangenen Jahrtauseiid auf die Lage dieser Bahn ausgeübt hatte. Ich bin etwas näher auf die Schilderung dieser Beobachtungsepoche von 1866 eingegangen,

weil sie auch entscheidend wurde für eine größere Unternehmung, die ich dann im Sommer 1867 im Interesse der Meteorforschung

noch veranstaltete. Während die Überfülle des Leonidenfeuerwerks die eigent­

lichen Maßbestimmungen der Bewegungsverhältnisse der einzelnen

Meteore erschwerte, ermöglichte die oben erwähnte viertägige Dauer der Meteorerscheinungen im August und die viel geringere Zahl der nahe gleichzeitigen Erscheinungen eine größere Genauigkeit und Voll­ ständigkeit der Messungen. Ich veranstaltete deshalb im August 1867 ein mit besonderem Enthusiasmus von allen meinen Mitarbeiten«

durchgeführtes Zusammenwirken von etwa sechs Stationen, welche in einem Umkreise von etwa 150 km um Berlin hemm mit genau

verglichenen Zeitbestimmungen Meteorbeobachtungen anstellten, aus denen sich dann sehr wertvolle Resultate für die Höhen des Auf­ leuchtens und des Erlöschens zahlreicher Eindringlinge ergäbe««.

Neben den eigentlich astronomischen Aufgaben war damals der Sternwarte durch das Emporgehen der internationalen Organisation der sogenannten Gradmessungen (später wurde das ganze Forschungs­ gebiet mit dem viel zutreffenderen Namen „Erdmessung"

bezeichnet) auch ein weitreichendes Arbeitsfeld eröffnet, in Gestalt WNH. Foerster, Leben-erinnerungen. ß

82

der mit Hilfe der Telegraphie so sehr verfeinerten Bestimmungen von geographischen Längenunterschieden, sowohl zwischen den ein­ zelnen (Sternwarten, als zwischen gewissen Hauptpunkten der die

Länder umspannenden Dreiecksnetze.

Die große Geschwindigkeit

und Regelmäßigkeit der Fortpflanzung der elektrischen Stromwir-

kungen in den Telegraphendrähten ermöglichte eine früher unge­ ahnte Genauigkeit der Vergleichung der verschiedenen Ortszeiten, mit anderen Worten, der gleichzeitigen Lage der verschiedenen Meridiane im Himmelsraume. So wurde eine Kette von Längen­ gradmessungen damals organisiert, welche sich vom östlichen Ruß­

land durch Deutschland hindurch bis nach dem Westen Frankreichs

und Irlands erstreckte. Der neue Direktor der Berliner «Sternwarte nahm natürlich an dieser Organisation und an der Ausfühmng der Beobachtungen eifrigsten Anteil, wobei er u. a. auch längere Zeit

auf einem Berge in der Nähe von Wien Zeitbestimmungen auszu­

führen hatte, während ein Wiener Kollege an derfelben Stelle gleich­ zeitig dieselben Beobachtungen ausführte, damit die kleinen Unter­ schiede der persönlichen Zeitauffassungen der beiden Beobachter er­ mittelt und bei der Bestimmung der Lage des Meridians von Wien

gegen den Meridian von Berlin dann in Rechnung gestellt werden konnten. Ähnlich wie bei meinen früher geschilderten ersten erd­

magnetischen Beobachtungen in Bonn ist mir noch die gehobene Stimmung in frischester Erinnerung, in welcher ich damals diese

nächtlichen Beobachtungen hoch über der alten Kaiserstadt und dem Donaustrom

zu

kosmischen

Forschungszwecken schlichtester,

aber

Für die Verwertung und Ausbreitung aller dieser Beobachtungsarbeiten wurde dann die zweite Generalkonferenz der mitteleuropäischen Gradmessung, welche durchdachtester Art ausführen konnte.

im Jahre 1867 in Berlin abgehalten wurde, eine höchst bedeutsame

Epoche. Mitten in all diesen Arbeiten erlitten wir den großen Schmerz,

daß einer unserer bedeutendsten und liebenswertesten astronomischen Freunde und Mtarbeiter, mit dem ich in Bonn und in Berlin studiert und zusammengewirkt hatte, August Winnecke, der an der mssischen Zentralsternwarte zu Pulkowa bei St. Petersburg eine ehrenvolle

83 Anstellung gefunden und sich dort verheiratet hatte, infolge allzu

intensiver Arbeit und einer gewissen erblichen Belastrmg geistes­ krank wurde. Bei unserer sehr nahen Befreundung nahm ich leb­ haftesten Anteil an den, sich glücklicherweise günstig entwickelnden

Erholungs- und Genesungsveranstaltungen, deren letzte durch die außerordentliche Klugheit und Feinheit von Herrn und Frau Dr. Herz,

die in Bonn ein Sanatorium leiteten, dem Kranken für nahezu 20 Jahre nicht bloß Genesung verschaffte, sondern eine wissenschaft­ liche Tätigkeit ersten Ranges ermöglichte mit dem Gipfelpunkte der epochemachenden Leitung der großen neuen Sternwarte zu

Straßburg. Bon dem Aufenthalte in dein Sanatorium in Bonn ist mir in besonderem Gedächtnis geblieben, neben der Dankbarkeit für den

beglückenden Erfolg der Behandlung des Kranken durch das lieb­ werte Ehepaar Herz, auch noch eine kleine Szene, die ich dort erlebte, als ich den kranken Freund auf Wunsch und Verantwortung seiner Frau fast gegen seinen Willen in dies Sanatorium eingeführt hatte.

Frau Dr. Herz nahm den Vorsitz ein an dem Mittagstisch, an welchem die verschiedensten Patienten in lebhafter Unterhaltung gruppiert waren, und sie hatte die beiden neuen Ankömmlinge, den kranken

und den gesunden Astronomen, zu ihrer Rechten und Linken plaziert. Mit ganz besonderem Behagen erzählte sie mir nach Aufhebung der Tafel, daß der sehr lebhaft redende Professor Foerster und der ernst und schwermütig blickende Professor Winnecke bei dem Publi­

kum der Tafel die eigentümliche Würdigung gefunden hatten, daß ich für den Kranken und der ernste Freund für meinen Führer und Mentor gehalten wurde. Die Zeiten, in welche die oben erwähnten astronomischen und

geodätischen Arbeiten fielen (1865—68) gehörte in Deutschland zu den ergreifendsten des ganzen Jahrhunderts, und so blieb auch der Astronom von den starten Bewegungen nicht unberührt, welche im

Jahre 1866 über Deutschland hereinbrachen und sodann bis zum Jahre 1868 in den leitenden Regionen Berlins noch bedeutsame

Nachwirkungen, hauptsächlich bestehend in der Gestaltung des Nord­ deutschen Bundes, zur Folge hatten.

84 Auch persönlich wurde ich durch meine Familie in die Kriegs­ zustände etwas hineingezogen, denn mein lieber Bruder August,

der einige Jahre vorher in Berlin bei den Gardeschützen sein Menst-

jähr abgeleistet hatte, mußte auch mit ins Feld. Ein auf Wunsch meines Vaters von mir unternommener Versuch, ihn im Hinblick auf seine Unentbehrlichkeit für die von der Krisis hart betroffenen Arbeitszustände der großen väterlichen Fabriken dienstfrei zu be­

kommen, blieb erfolglos. Dieser Versuch führte mich in das Haupt­ quartier des fünften Armeekorps, welches sich in Posen befand und um die Zeit meiner Bemühungen gerade im Aufbmche und Ab­ marsch durch Schlesien quer hindurch nach Böhmen hinüber begriffen

war. Ich geriet in die ganze Not der Eisenbahndrangsale, welche sich in solchen Zeiten entwickeln, mußte stundenlang auf kleinen Bahn­ höfen liegen bleiben und konnte dabei so recht einen Einblick erlangen

in die Stimmungen der gen Böhmen vorrückcnden Mannschaften.

Mese Eindrücke bestärkten mich in der schon von Berlin aus gemachten Wahmehmung, daß in diesen Anfängen des Feldzuges, der Deutsch­

lands höhere Einigung begründen sollte, keinerlei Zuversicht und

Erwärmung für diese noch ganz unklaren Vorgänge vorhanden war. Erst als die Österreicher nun aus Holstein abgezogen waren, als auch die hannoversche Armee sich auf den Abzug nach Süden begab, und

als die Zustände in Kurhessen durch die Gefangennahme des Kur­ fürsten beendigt wurden, ftng es an, in den Gemütern wie eine neue Zukunft Deutschlands aufzuleuchten. Bon diesem Abzüge der hannoverschen Armee ist mir noch ein

Vorgang in deutlichster Erinnerung verblieben, dessen Mitteilung ich dem dabei unmittelbar mitwirkenden astronomischen Kollegen Klinkerfues, dem damaligen Direktor der Göttinger Sternwarte, verdanke, ein Vorgang, welcher durchaus in der Kulturgeschichte aufbewahrt werden muß. Ms der blinde König von Hannover, dem Marsche seiner Armee folgend, einen kurzen Aufenthalt in Göttingen

nahm, wurde der ihm persönlich bekannte vorgenannte Astronom bei ihm zu Tische geladen. Auf die beiläufige Frage des Königs:

„Was gibt es Neues am Himmel?", antwortete der sehr redselige

Astronom: „Majestät, es gibt jetzt in der Tat etwas sehr Merk-

85

würdiges am Himmel.

In dem Stembilde der nördlichen Krone ist

plötzlich ein ganz neuer und sehr heller Stern aufgeleuchtet, dessen

Beobachtung uns alle stark beschäftigt."

Der König nahm sofort

regen Anteil an dieser Erzählung und ließ sich über den ganzen Vor­ gang so eingehend berichten, daß die furchtbar verhängnisvolle Lage, in der er sich damals befand, bei dem Tafelgespräch ganz in den Hintergrund trat. Nach der Tafel wurde Klinkerfues von einem der Adjutanten noch näher zur Rede gestellt, der ihm mitteilte, daß der König in

hohem Grade von diesen Vorgängen am Himmel ergriffen sei.

Er

habe nämlich den astrologischen Gedanken, daß der neue Stern, der so plötzlich iin Sternbilde der nördlichen Krone aufgeleuchtet sei,

auf niemanden anders Hinweise, als auf den plötzlich so gewalt­

tätig gewordenen Ratgeber der „ K r o n e P r e u ß e n ". Da habe nun der König eine Art von Bemhigung aus den letzten Mitteilungen von Klinkerfues geschöpft, daß nämlich dieser neue «Stent doch bereits

im Verbleichen begriffen sei.

Eine keine Geschichte, welche doch

ganz im Stile der alten astrologischen Jrrsale verlaufen ist. Denn weinge Tage nachher kam die entscheidende Niederlage der Hannover­ scheit Armee bei Langensalza, nach welcher der «Stern Bismarcks

auf Erden glänzender als je aufleuchtete Es kamen dann die großen Siege in Böhmen, und es kam die Entwicklung des Norddeutschen Bundes.

Es kam Bismarcks unver­

gängliche Großtat der Einfühmng des allgemeinen gleichen und freien

Wahlrechts in Deutschlands es kam dann die Einfühmng gleichen Maßes und Gewichtes und des metrischen Systems, von deren Zu­

sammenhang mit den Entwicklungen von 1866 ich noch weiter zu er­ zählen habe. Mitten üt diese bewegten Zeiten der politischen Entwicklung

Deutschlands fiel dann int Jahre 1867 die schon früher erwähnte zweite Generalkonferenz der Mitteleuropäischen Gradmessung, eine Versammlung, welche für die Ausgestaltung der wissenschaftlichen

internationalen Organisationen von hervorragender Bedeutung wurde.

Das Zusammenwirken der verschiedenen nationalen Landes­ vermessungen hatte seit der Generalkonferenz von 1864 schon die

86 erfreulichste» Fortschritte gemacht. Die damals eingeleitete Orga­ nisation einer ständigen Zentralstelle für die Behandlung aller ge­

meinsamen Angelegenheiten, sowohl der Dreiecksmessungen, als der astronomischen Orientierungen der vermessenen Flächen, hatte all­ seitig die Neigung gesteigert, eine höhere Gemeinsamkeit der Aus­ messung der ganzen Erde in Gang zu bringen und zunächst auch zu einer möglichst umfassenden Einheitlichkeit des Maßsystems und der

Messungseinrichtungen zu gelangen. Der preußische General Baeyer,

die Seele des ganzen Unternehmens, war auch durch die eigentüm­ liche Entwicklung seiner dienstlichen Laufbahn geradezu darauf hin­

gewiesen worden, höhere gemeinsame Institutionen begründen zu helfen, welche mit einer gewissen Autorität, verbindend und über­ wachend, über den einzelnen Landesvermessungen 511 walten hätten,

während deren unmittelbare Leitlmg fast überall ausschließlich in den Händen der militänschen Kommandostellen verblieb.

General Baeyer hatte früher die sogenannte trigonometrische Abteilung des preußischen Generalstabes geleitet und war bei unserm

großen Astronomen Bessel in die Lehre gegangen, der in Ostpreußen in Verbindung mit der militänschen Vermessung eine in ihrer Art klassische Gradmessung ausgeführt hatte.

Der märkische Bauernsohn

Baeyer, der von den Befreiungskriegen her in der Armee empor­

gekommen war, hatte alsdann die militärische Landesvermessimg in Preußen mit dem neuen Geiste der mathematisch-astronomischen Kritik und Fehlertheorie durchdrungen und zugleich für die Fort­

setzungen aller dieser Messungen immer größere Horizonte geöffnet. Da hatte ihn das Schicksal getroffen, daß der ihn: vorgesetzte greise

Chef des großen Generalstabes aus dem Leben schied, und daß nun für die Wahl des Nachfolgers neben ihm selber der inzwischen im Generalstabe emporgekommene General v. Moltke in Frage kam, der ihm in militärischer Beziehung zweifellos vorzuziehen war.

Nach den bestehenden Avancementsgrundsätzen mußte dann aber

Baeyer seine Entlassung nehmen, obgleich er recht wohl und auch sehr gern unter Moltkes Oberleitung das militärische Vermessungs­ wesen Preußens weiter zu fördern vermocht hätte und sich auch noch

trotz seiner Jahre dafür am allerbesten eignete; denn er hat weiterhin

87 noch nahezu ein Bierteljahrhundert lang, bis zu seinem 90. Lebens­ jahre auf dem mächtig erweiterten Arbeitsfelde der intemationalen

Erdmessung, das er sich nun selber schuf, Hervorragendes geleistet. Mt Hilfe Alexanders von Humboldt gelang es ihm wenigstens, nach dem Ausscheiden aus seiner Stellung noch für einige Jahre einen dienstlichen Auftrag und eine kleine Dotation für die Fort­

setzung freier Arbeiten auf dem Felde des Bermessungswesens zu erlangen. Auch auf die wissenschaftliche Entwicklung der preußischen Bermessungsarbeiten, die seiner unmittelbaren Leitung entzogen

wurden, hat er sich schließlich mit Hilfe der intemationalen Orga­

nisation des Bermessungswesens den gehörigen Einfluß zu erringen gewußt. Die persönliche Stellung indessen, die ihm zunächst gegenüber

dem preußischen Generalstabe durch den pedantischen Schematismus

seines Ausscheidens bereitet war, machte ihn int Jahre 1867 zu einer für die militärischen Vertreter der Landesvermessungen aller übrigen Staaten ganz besonders sympathischen Persönlichkeit, denn man

darf es sagen, daß die preußische Armee damals von 1866 her trotz ihrer großen Erfolge und vielleicht gerade wegen derselbett in allen andern Ländern durchaus unpopulär war. So wurde denn die Generalkonferenz von 1867 zu einer Art

von persönlicher Huldigung für den Förderer der internationalen Gemeinschaft auf dem Gebiete des Vermessungswesens und zu

einem Sprungbrett des Aufschwunges der bezüglichen Einrichtungen Es wurde nämlich neben der internationalen permanenten Kommission ein Zentralbureau der Gradmessung in Berlin geschaffen, dessen

Leitung Baeyer anvertraut wurde, und dessen Fundiemng und fort­ laufende Dotiemng die preußische Regiemng in kluger Würdigung

der Situation sofort übernahm.

88

JL Kapitel. Die Einführung des metrischen System» ((868) und die Ernennung zum

Direktor -er Normal-Lichungskommission ((869).

Zugleich wurde von der Generalkonferenz der Wunsch ausge­ sprochen, daß bq§ metrische System zur gemeinsamen Anwendung

bei allen Landesvermessungen gelangen möge, und daß womöglich bald eine Zentralstelle für die wissenschaftliche Verwaltung des

metrischen Systems, insbesondere für die Aufbewahmng eines ge­ meinsamen Urmaßes, und die gesicherte Verausgabung von Kopien dieses Urmaßes geschaffen werden möge. Dieser Beschluß sollte auch von entscheidender Bedeutung werden für die im Norddeutschen Bunde bereits im Gange befindlichen

Erwägungen betreffend die Einfühmng einheitlicher Maße und Gewichte in Deutschland. Schon bald nach der Einfühmng eines einheitlichen, sogenannten Zollpfundes im Deutschen Zollverein (1858) waren unter der Ägide des Bundestages in Frankfurt a. M. Verhandlungen über vollständigere Bereinheillichung des ganzen deutschen Maß- und Gewichtswesens gepflogen worden, denn das

Zollpfund war doch erst ein kümmerlicher Anfang dieser gemein­

samen Ordnung. Kurioserweise hatte man nämlich gestattet, daß für die Einteilung des Zollpfundes jedem einzelnen Lande volle

Freiheit gelassen wurde, und so waren denn die merkwürdigsten Verschiedenheiten von neuen Leinen Gewichten und ihren Be­

ziehungen entstanden.

Nur in Hannover hatte man das Zollpfund,

welches glücklicherweise zu 500 Gramm angenommen war, dezimal

und zwar in 1000Halbgramm eingeteilt. In andem deutschen Ländem gab es Lotgewichte, welche die verschiedensten Verhältnisse zur

Pfundeinheit hatten, und am sonderbarsten sah es damit in Preußen aus. Man gab die alte Einteilung des Pfundes in 32 Lot auf, die eine so große Zweckmäßigkeit für die Herstellung der verschiedenen

Mstufungen besitzt, denn 1/s2 Pfund ist ja aus der fottgesetzten

Halbiemng der Einheit (V2, *A, 1/a, 1/ie, 1/s2) entstanden, also aus einer Einteilungsform, welche, rein technisch vom GesichtspunL der Fabrikation und Berichtigung der einzelnen Stufen betrachtet, viel

89

vollkommener ist, als die Dezimaleinteilung, die eben nur rechnerisch die größten Vorteile bietet und sich dadurch entscheidend für den Verkehr empfiehlt.

In Preußen aber würdigte man jene alte Be­

deutung der 32-Teilung so wenig, daß das Pfund lächerlicherweise in 30 Lot geteilt wurde, wobei man den einzigen Vorteil int Auge hatte, daß die mittlere Monatsdauer von 30 Tagen alles, was täglich

ein Lot betrug, auf monatlich ein Pfund brachte.

Bei den Verhandlungen in Frankfurt a. M. waren aber nicht nur solche Blüten des Pattikularismus hinderlich für die Einigung

gewesen, sondern auch die eigentümliche Stellungnahme der Berliner Akademie der Wissenschaften, welche sich mit dem metrischen System

durchaus nicht befreunden wollte, während insbesondere von Han­

nover und von Dresden sehr energische Bestrebungen zugunsten dieses Systems ausgingen. An der Berliner Akademie überwog damals die Auffassung des großen Asttonomen B e s s e l, welcher dem preußischen Maßsystem durch wissenschafttiche Untersuchungeir

der feinsten Att einen besonderen Aufschwung gegeben hatte, indem

er zugleich das von ihm fundiette neue preußische Urntaß von drei Fuß Länge mit der bei den großen Gradmessungen des 18. Jahrhundetts bedeutsam gewordenen Toise, sodann auch mit der Länge

des Sekundenpendels aufs schärfste verglich und dasselbe schließlich auch in der von ihm in Ostpreußen ausgefühtten llassischen Grad­ messung in Verbindung mit den Dimensionen der Erde brachte.

Auf dieses Maßsystem war man in Berlin mit Recht sehr stolz, besonders auch im Hinblick auf den Sttllstmtd, ja man kann sagen,

auf den Rückgang, den die Verwaltung des metrischen Systems in Paris seit den großen Tagen seiner am Ende des 18. Jahrhundetts erfolgten Begründung erlitten hatte, so daß Bessel in der Tat über

beit Kontrast der idealen Prätentionen dieses Systems mit der unzu­

reichenden Durchfühmng desselben spotten konnte. Auf der Generalkonferenz von 1867 war man aber doch von der großen praktischen Bedeutung dieser „idealen Prätentionen", näm­ lich der einfachsten, wenn auch nur näherungsweise verwirklichten

Zahlenverhältnisse der metrischen Maß- und Gewichtseinheitett zu gewissen Naturgebilden (Erdgestalt und Wassergewicht), so voll-

90 kommen überzeugt, daß man in der Hoffnung auf eine zu erstrebende gemeinsame Vervollkommnung der Verwaltung des Maß- und Ge­

wichtswesens alle partikularischen Einrichtungen von mehr oder

minder willkürlicher Art, wenn auch noch so großer Feinheit der Durchfühmng, gründlich ablehnte. Demungeachtet hätte auch jetzt noch bei der definitiven Entschließung des Norddeutschen Bundes

über die Einfühmng einer einheitlichen Maß- und Gewichtsgesetz­ gebung die Abneigung der akademischen Kreise Berlins gegen das metrische System vielleicht den Sieg davongetragen, wenn nicht die Nachwirkungen der politischen Entwicklungen des Jahres 1866 die

entscheidende Hilfe gebracht hätten. Die Erinnerung an die begeisterte Verfechtung des metrischen Systems, welche schon bei den vor­

erwähnten Verhandlungen in Frankfutt a. M. von Dresden und

Hamwver ausgegangen war, ließ es ratsam erscheinen, die Ange­ legenheit nicht „preußisch" zu ordnen, sondern die leitenden intellek­ tuellen Kräfte an jenen beiden Stellen jetzt entscheidend zu Motte

kommen zu lassen. Man konnte dadurch einer Mildemng der zurzeit dott obwaltenden großen Verstimmungen und Bedrängisse die Wege

ebnen helfen, ganz entsprechend der hochgesinnten Klugheit, mit welcher Bismarck alle derattigen Probleme damals behandelte.

So kam unter dem 17. August 1868 die Maß- und Gewichts­ gesetzgebung des Norddeutschen Bundes zustande, welche die Ein­ fühmng des metttschen Systems vom Jahre 1870 ab dekretierte.

Wenige Monate nachher wurde dann die oberste Leitung dieser Ein­

führung dem Professor Foerster übertragen, der, unberührt von der damaligen Abneigung leitender wissenschaftlicher Kreise Berlins gegen das metttsche System, bei den internationalen Beschluß­ fassungen der Generalkonferenz von 1867 zugunsten der allgemeinen Einfühmng jenes Systems lebhaft mitgewirtt hatte, und der auch für die Fordemng gemeinsamer Arbeit zur Vervollkommnung der Verwaltung desselben besonders warm eingetreten war.

Die Aufgabe, die mir durch diese Bemfung zur Leitung des Maß- und Gewichtswesens des Norddeutschen Bundes übertragen

wurde, war für mich nicht bloß wissenschaftlich, sondern auch ge­ schäftlich eine so neue und überhaupt eine so schwiettge, daß ich

91 eigentlich gleichzeitig mit der Ernennung zum Direktor der NormalEichungskommission des Bundes mein Amt als Direktor der Stern­ warte hätte niederlegen müssen, um mich mit ganzer Kraft jener verantwortungsvollen und wichtigen Amtstätigkeit widmen zu können, die sich schon wenige Jahre nachher noch dadurch erweiterte und ver­

wickelte, daß der Norddeutsche Bund sich zum Deutschen Reiche erweiterte und nun auch die süddeutschen Staaten in die gemeinsame deutsche Maß- und Gewichtsverwaltung eintraten. Wenn ich nun trotz der großen Komplikation dieser Lebens­

entwicklung den Versuch untemahm, die Leitung der Sternwarte und die astronomische Lehrtätigkeit an der Universität mit der ver­ antwortlichen Leitung eines großen Gebietes der neuen Reichs­

verwaltung zu vereinigen, so geschah dies einerseits auf Gmnd einer besonders wohlwollenden Stellungnahme des preußischen Unter­ richtsministeriums, welches mir geradezu den Wunsch aussprach,

daß ich einer alten Tradition der Verbindung astronomischer Tätig­ keit mit der dem Maß- und Gewichtswesen besonders nahestehenden Fürsorge für die Vervollkommnung der Präzisionsmechanik und Optik folgen möge, und andererseits auf Gmnd einer mich tief

bewegenden Bereitwilligkeitserklämng aller meiner astronomischen Kollegen und Mitarbeiter, daß sie mir bei der Befolgung dieser

Tradition eifrigste Hilfe gewähren wollten. Auch der Astronom der Akademie, mein treugesinnter Freund Auwers, trat weiterhin in einer besonders bedrängten Phase meiner Tätigkeit in der Reichs­

verwaltung bei gleichzeitigen dringenden Anfordemngen gewisser

von der Sternwarte übernommener Beobachtungsaufgaben inner­ halb der Organisation der Astronomischen Gesellschaft in hilfreichster

Weise mir zur Seite. Ganz besonders erfreulich war aber auch die überaus intelligente und gütige Mitwirkung, welche dem neuen Direktor der NormalEichungskommission, der im eigentlichen Eichungswesen noch ganz ohne administrative Erfahrung war, von den leitenden Männern der bisherigen Maß- und Gewichtsorganisationen der einzelnen deutschen

Länder gerade auf Grund seiner wissenschaftlichen Tätigkeit gewährt wurde.

Hier habe ich insbesondere mit tiefer Pietät zwei Männer

92 zu nennen, die bereits in den oben geschilderten Vorstufen der deut­

schen Maß- und Gewichtsgesetzgebung eine eifrige Wirksamkeit ent­

faltet hatten: nämlich den an der Spitze der Technischen Hochschule zu Dresden und des sächsischen Eichungswesens stehenden Geheimrat Hülsse und den in ähnlicher Stellung an der Technischen Hochschule

zu Hannover wirkenden Geheimrat Karmarsch, zu denen sich noch

als ein treuer Helfer der damalige Leiter des Eichungswesens in dem neuerworbenen Lande Schleswig-Holstein, Professor Gustav Karsten

in Kiel, gesellte. Schon im Jahre 1870 öffnete sich dann auch für die internationale Wirksamkeit im Maß- und Gewichtswesen die von der General­ konferenz von 1867 geforderte Einleitung einer umfassenden Or­

ganisation und Vervollkommnung des metrischen Systems, eine Perspektive, die ich auch bei der Annahme meiner Berufung zur Leitung der Normal-Eichungskommission als ein wesentliches Motiv meiner Annahmeerllämng bezeichnet hatte.

12. Rapitel. verheirat«»- mit Ina Paschen ((868).

Mitteilungen über mein«

Freund« Herzog und Scholz, Vinnecke und Zöllner, sowie über Zöllners Spiritismus.

Hiermit auf das so entscheidend wichtige Jahr 1867 zurück­ kommend, habe ich nun noch von einer Wirksamkeit der internattonalen Verhandlungen zu erzählen, welche mein persönlichstes Lebensglück

betraf.

Der Zusammenkunft von 1867, an welcher sich, ebenso wie

schon an derjenigen von 1864, der leitende Mann der mecklenburgischen

Landesvermessung, Geheimrat Paschen, beteiligte, und zu welcher

er seine beiden Töchter nach Berlin mitbrachte, verdantte ich noch vor dem Ende des Jahres 1867 den Entschluß, mich um die jüngere dieser beiden Töchter zu bewerben, die ich zuerst schon bei einem Besuche im Hause ihres Vaters in Schwettn im Jahre 1865 in ihrem 17. Lebens­ jahre kennen gelernt hatte. Seitdem hatte mir wohl chr Bild in meinen

93 Zukunftsgedanken vorgeschwebt, aber die ersten beiden Jahre nach der definitiven Übernahme der Leitung der Sternwarte (1865—67)

waren so erfüllt und beladen gewesen mit Arbeit und Verantwortung,

daß mir die Ruhe für persönliche Entschließungen und die Muße für deren Weiterführung gänzlich fehlte. Gerade in diesen Jahren hatte sich aber die Freundschaft mit zwei Männem von hervorragenden

Gaben und Leistungen besonders innig und besonders bedeutsam für meine ganze amtliche und wissenschaftliche Lebenstätigkeit ent­ wickelt, nämlich mit Karl Herzog und Wolf Scholz, beide damals in ministeriellen Beamtenstellungen, der erstere später auch hochverdient um die Entwicklung der Universität Straßburg und zuletzt zur Stel­ lung des elsaß-lochringischen Staatssekretärs emporsteigend, der

letztere schließlich als preußischer Finanzminister, ein Mann von hochverdienstlicher Wirksamkeit, von welcher noch weiter zu erzählen

ist, besonders auch im Gebiete des Verständnisses und der Fördemng von wissenschaftlichen Untemehmungen und Dotationen großen

Stils, gemeinsam mit dem jetzt dahingeschiedenen Geh. Rat Althoff. Mit Herzog, der int Sommer 1867 als preußischer Kommissar bei der damaligen internationalen Ausstellung in Paris weilte, und den ich dort besuchte, verlebte ich im Anschluß an den Pariser Auf­ enthalt eine überaus erfrischende Episode auf der Insel Mght, und

im Herbste desselben Jahres hatte ich bte außerordentliche Freude, den werten Freund Winnecke, von dessen Erkrankung ich oben erzählt habe, völlig genesen und in ganz llarer Gemütsverfassung, in einem

Leinen Badeort im Ahrtal bei Bonn begrüßen zu können.

Seine

liebe Frau weilte dort in glücklichster Stimmung bei ihm, und auch die edle Familie des DoLor Herz in Bonn, dem der treffliche Mann

seine Genesung verdankte, trug dazu bei, diesen Lichtblick des Frcundschaftslebens zu schmücken, welcher für Winnecke den Neubeginn einer überaus wirksamen und befriedigenden Lebenstätigkeit eröffnete. Die beiden vorerwähnten, ungewöhnlich frohen Erholungszeiten

brachten nun in mir den Entschluß zur Reife, noch int Herbst dieses

Jahres mein Heil bei Ina Paschen in Schwerin zu suchen. Ein mehrtägiger Besuch in ihrem Elternhause int Oktober 1867

erhöhte meine innige Zuneigung und mein tiefes Vertrauen zu ihr

94 und ihren Eltern bis zu so froher Zuversicht, daß ich, nach Berlin wegen drängender Arbeit zurüätzekehtt, für das Weihnachtsfest um

die Zustimmung der Eltern zu meinem erneuten Besuche und zur Bewerbung um die Hand ihrer Tochter bitten konnte. Auch durch die gemeinsame Freude an den Herrlichkeiten der Musik waren wir einander näher gekommen, und so gab Ina Paschen mir zu

Weihnachten 1867 ihr Jawort und wurde dann am 17. April 1868 meine über alles geliebte Ehefrau. Sie hat mir fünf liebe und gute Kinder geschenkt, und auch nachdem sie am 26. Februar 1908 aus dem Leben geschieden war, blieb sie die Sonne meines Lebens. Wenige Wochen nach unserer Verheiratung, im Sommer 1868, sollte eine totale Sonnenfinsternis statrfinden, die in Ostindien und

Arabien sichtbar war. Zur Erprobung der neuen, für die verschieden­ sten Lichterscheinungen so bedeutsam gewordenen spektralen Messungs­

methoden und Theorien, deren Geburtsstätte seit 1860 Heidelberg geworden war, gelang es uns, beim Norddeutschen Bunde die Mittel zur Ausrüstung zweier astronomischen Expedittonen für die Beobachtung jener Finsternis zu erlangen, womit Deutschland eigentlich zum

erstenmal

eine überseeische wissenschaftliche Unternehmung ver­

anstaltete. Eine dieser Expedittonen ging in die Nähe von Bombay auf die Ostseite der Küstengebirge, die andere nach Men am Eingange des Roten Meeres.

An beiden Stellen war das Wetter nicht

günstig, doch wurden immerhin einige Beobachtungen von Wert erlangt und ein Anfang gemacht, welcher den Ausgangspuntt für

die späterhin in großem Stile erfolgte Beteiligung des Deutschen

Reiches an den Expedittonen zur Beobachtung des Venus-Durch­ ganges (von 1874 und 1882) bildete. Die in wenigen Wochen ausgefühtte Ausrüstung der beiden Expeditionen nach Bombay und Men war eine besondere Leistung der Bettiner Sternwarte. Das Jahr 1869, in welchem unser Erstgeborner, Fttedrich Wil­ helm Karl, am 2. Juni zur Welt kam, der jetzt zu einem Licht der

erziehettschen Weltliteratur geworden ist, wurde für mich über­ wiegend durch die gewaltige Arbeit der neuen Organisation des

deutschen Maß- und Gewichtswesens und die Einführung des mettt-

95 schen Systems in Anspmch genommen.

Eine Erholungspause, die

ich mir im Sommer in Gestalt einer Reise nach Steiermark und zu einer „Versammlung der Astronomischen Gesellschaft" nach Wien gönnte, wurde besonders geschmückt durch einen sehr lieben Reise­ gefährten, der damals auf der Höhe seines Ruhmes und seiner Lebens­

freude stand, nämlich Professor Friedrich Zöllner.

Ein gebomer

Berliner und schon von Enckes Zeit her mir bekannt durch eine von

der Berliner Akademie preisgekrönte Arbeit über eine neue photometrische Methode, hatte er seit 1864 an der Universität Leipzig festen Fuß gefaßt nnd allmählich immer bedeutsamere Arbeiten auf dem neuen, durch Bunsen und Kirchhoff um 1860 so epochemachend begründeten oder erweiterten Forschungsgebiete der Astrophysik aus­ geführt. Ich war dann bei meinem nahen astronomischen Zusammenwirken mit dem alten Freunde und Kollegen Bruhns in Leipzig,

welches mich öfter dorthin führte, auch mit Zöllner he^lich befreundet geworden und habe dann an feiner merkwürdigen und schließlich so

schmerzlichen Lebensentwicklung innig teilgenommen.

Er gehörte

einer Berliner Fabrikantenfamilie an, über welcher das Verhängnis einer schweren erblichen Geisteserkrankung waltete. Bon den elf Kindern dieser Familie ist kein einziges diesem Schicksal gänzlich ent­

gangen, und mein Freund war, als ich ihn kennen lernte, auf

Grund der Umnachtung, die schon mehrere seiner Geschwister be­ fallen hatte, vollständig klar über die auch ihm drohende Gefahr.

Auf Anraten des uns beiden befreundeten hochintelligenten Berliner

Irrenarztes Prof. Karl Westphal hatte dann Zöllner sich die Lebens­ aufgabe gestellt, durch größtmögliche Steigerung seiner geistigen

Arbeit auf dem neuen und ganz besonders erhebenden Forschungs­

gebiete der Asttophysik, für welches er auch zweifellos besondere Begabung besaß, die Furien zu bekämpfen. Als eine besondere Ge­

fahr fühlte er dagegen das Versinken in grüblerisch-religiöse «Stim­

mungen, das ihm auch nahe lag, und von dem wir bei Freund Winnecke im Jahre 1864 auch einen deutlichen Fall erlebt hatten, als er nach einer ersten sanatorischen Behandlung, aus der er als genesen

entlassen wurde, einen Erholungsaufenthalt bei sehr eifrig religiös

96 gestimmten Verwandten in Hannover genommen hatte.

Kurz

bevor ich mit Zöllner in Steiermark und Men zusammen war, hatten ihm nun seine astrophysikalischen Arbeiten einen Erfolg ohne Gleichen gewährt, den ich kaum in seiner ganzen Entwicklung und Bedeutung

hier zu schlldern vermag. Ich bemerke nur, daß es ihm damals zuerst gelungen war, die eigentümlichen Glutsäulen (Protuberanzen),

welche in der Mhe der Sonnenflecken emporsteigen, bis dahin aber nur bei totalen Sonnenfinsternissen in allen ihren Umrissen und Bewegungsanzeichen wahrgenommen werden konnten, zu jeder Zeit im hellsten Sonnenschein wahrnehmbar zu machen. Außerdem hatte

er im Verlause dieser Forschungsarbeiten zuerst die feinste Zerlegung

des Lichtes für die Messung der Geschwindigkeiten, mit denen sich der jeweilige Abstand zwischen der Lichtquelle und dem Beobachter Oerändert, zur klarsten Anwendung gebracht bei Messungen, die er für die Rotattonsbewegungen des Sonnenkörpers vorschlug.

Es war nun eine außerordentliche Lebensfreude, damals auf den Höhen der steyrischen Berge zu weilen mit diesem Manne, dem es in solcher Weise gelungen war, durch die Macht wissenschaftlicher

N>ealgestaltungen sich über das Walten der Dämonen zu erheben, die von den Grenzgebieten der niederen Lebensmächte her seine Geisteswelt bedrohten.

Es gelang uns damals auch gemeinsam, eine Entdeckung zu machen, welche einen neuen Ausblick für die Deutung gewisser, bis

dahin fast ganz rätselhafter Lichterscheinungen am Himmel eröffnete,

unter anderem für die Deutung des sogenannten Gegenscheines des Tierkreislichtes am Nachthimmel. Mr sahen von großer Höhe bei

lichtblauem Himmel hinab auf den so malerisch gelegenen Bergsee bei Alt-Aussee. Da bemerken wir, daß die Sonnenstrahlen bei ihrer

Spiegelung in dem See eine besondere Lichterscheinung am Himmel, gerade symmettisch gegenüber der Sonne, hervorbrachten, nämlich

ein zattes weißes, unbestimmt hin und her wallendes Lichtwölkchen. Sehr bald beobachteten wir auch, daß die Bewegungen und sogar vorübergehendes Verschwinden des Lichtwölkchens mit dem wechseln­ den Zustande der Oberfläche des Sees zusammenhingen. Solange der Wasserspiegel völlig glatt war, stand das Wölkchen fast unbewegt

97 unb zart begrenzt am Himmel; sobald aber durch heftige Windstöße, von der Höhe her, die Wasserfläche gekräuselt wurde, schwankten die

Umrisse und die Helligkeit des Bildes am Himmel bis zu völligem zeitweisen Verschwinden. Es wurde uns dadurch zweifellos llar, daß diese Keine Gegensonne durch die perspektivische Bereinigung

der vom See gespiegelten parallelen Sonnenstrahlen in Gestalt der bekannten Fernwirkung des Zusammenlaufens paralleler Streifen entstand, deren Gesamtwirkung erst durch ihre Summation in der zusammendrängenden Ferne zur deutlichen Erscheinung kommt. Freund Zöllner hat in den folgenden Jahren noch viele scharf­

sinnige Beobachtungen und geistvolle Deutungen fast auf allen Grenzgebieten der Astronomie, insbesondere auch zur Erforschung der Kometen und Meteore beigetragen. Leider blieb er nicht auf

der Höhe der Klarheit und Gesundheit des Geistes, die ihn in den ersten Jahren jener beglückenden Erfolge über alle düsteren Be­ fürchtungen emporhob. Nicht lange Zeit nachdem er in einem, all­ gemeines Aufsehen erregenden Buche den in England hochgeachteten Physiker Tyndall wegen seiner spiritistischen Anwandlungen aufs härteste kritisiert hatte, wurde ihm selber das traurige Schicksal be­

reitet, daß einer der raffiniertesten spiritistischen Taschenspieler nach Leipzig kam und ihm Experimente aus „einer anderen Welt", näm­

lich aus der Welt der sogenannten vierten Dimension, vormachte, die

dem kindlich gutgläubigen genialen Physiker so rätelhaft erschienen,

daß er sich dann auch zu einer Art von Spiritismus bekannte. Merk­ würdigerweise gesellten sich hierbei zu ihm zwei der bedeutendsten und geistreichsten Physiker Deutschlands, nämlich Wilhelm Weber,

der große Mitarbeiter von Gauß bei der Erschaffung des elektrischen Telegraphen, und Fechner, der hochbedeutende Begründer der Psycho­

physik, ein naturwissenschaftlicher Denker ersten Ranges.

Es war

ein Jammer zu sehen, wie diese drei edlen Männer von höchster Be­ gabung und reinstem Charakter gerade durch ihre Gutgläubigkeit

die Opfer eines infamen Betruges und dadurch zugleich die Ver­ breiter einer weitreichenden Verwirrung wurden. Erst nachdem die beiden hochbejahrten Männer und auch der jüngere, aber früh dahin­ sinkende Freund Zöllner aus dem Leben geschieden waren, ist es geWtlh. Foerster, Leben-erinnerungen.

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98 hingen, den Taschenspieler zu einem ihn völlig entlarvenden Ein­ geständnis zu bringen. Seinen Namen nenne ich hier absichtlich

nicht. Wenn man sich daran gewöhnte, die Namen und Persön­ lichkeiten solcher Übeltäter tunlichst aus der allgemeinen Erinne­ rungswelt verschwinden zu lassen und nur den Archiven der Menschheit vorsichtig anzuvertrauen, so würden für viele solche Wesen

die so krankhaften Anreizungen zu Untaten verschwinden. Zöllners letzte Lebensjahre, in denen ich mit treuem Briefwechsel

alles tat, was ich zur Störung und Beruhigung der abergläubischen

Einbildungen beitragen konnte, wurden durch diese Irrungen auss schmerzlichste getrübt.

Schließlich lebte er mit seiner alten Mutter,

die ihre übrigen Kinder in Irrsinn hatte versinken sehen, in schmerz­

licher Isolierung und beschränkte seine wissenschaftliche Tätigkeit fast ganz auf die Vorlesungen an der Universität Leipzig. Der Tod be­

wahrte ihn vor tieferer Umnachtung. Sei es gestattet, an dieses ergreifende Lebensschicksal eine etwas allgemeinere Betrachtung über die spiritistischen und theosophischen

Trübungen der Intellekte anzuschließen, da ich in meiner weiteren Lebensentwicklung noch mehrfach damit zu tun bekommen habe. Es war ungemein charakteristisch, daß mehrere der bedeutendsten Denker und Forscher auf physikalischem Gebiet damals ganz aus der Fassung gebracht wurden durch eine Reihe von schlau erdachten Ex­ perimenten, bei denen der einfache Zusammenhang durch taschen­ spielerisches Raffinement verhüllt war.

Die Täuschung wäre sicher­

lich trotz jener Geschicklichkeit nicht geglückt, wenn nicht gerade jene

bedeutenden Köpfe durch die neuen Entdeckungsgebiete elektrischer

und optischer Art und durch fast gleichzeitige Vertiefungen und Erroeiteiungen des Reiches idealer mathematischer Gebilde von einer

Art von Gedankenrausch ergriffen gewesen wären, der sie so merk­ würdig gutgläubig machte. In eine eingebildete Welt von vier Dimensionen statt der drei Dimensionen, nach denen wir die Er­

scheinungen der uns umgebenden Außenwelt zu erfassen und zu ge­ stalten vermögen, fühlten sie sich emporgehoben, und hierbei ver­ loren sie die Fühlung mit den nächstliegenden und elementarsten

Zweifelsfragen des Forschers.

99 Eine entfernte Verwandtschaft mit jenen damaligen Irrungen haben auch die Entgegnungen, welche man nicht selten bei kritischen

Bemerkungen über den sogenannten wissenschaftlichen Aberglauben zu hören bekommt, sobald man es als unumgänglich hervorhebt,

die Erscheinungen der Außenwelt nur dann als völlig erwiesen und

legitimiert anzunehmen und in unser Denken einzuordnen, wenn sie der von der Wissenschaft immer höher entwickelten, feinsten und konsequentesten Kritik unserer Sinneswahmehmungen standgehalten baden, dagegen zunächst die Verbreitung und Verkündigung alles desjenigen abzuweisen, was von dieser Kritik noch angezweifelt

wird. Gerade aus der eminenten Zunahme der Entwicklungsfähigkeit, Vielartigkeit und Feinheit unserer durch die künstlichsten Hilfsmittel verschärften Sinneswahmehmungen wird von jenen Seiten der in

Shakespeares Worten ausgedrückte Einwurf entnommen, daß es noch „viele Dinge zwischen Himmel und Erde gebe, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen lasse", und doch ist alles Beste

und Größte in unserer Schulweisheit daraus hervorgegangen, daß wir auch den ergreifendsten Neuheiten der Wahrnehmung gegenüber immer die strengste Kritik, die tiefste Wahrhaftigkeil zur Anwendung

gebracht haben. Daß uns über unsere gewöhnlichen elementaren Sinneswahr»ehmungen hinaus allmählich Gebiete erschlossen worden sind, von denen wir uns früher nichts träumen ließen, verdanken wir eben nur jener Standhaftigkeit der besten Denker gegen alle Träumerei, aus welcher so leicht die gefährlichsten Formen der Sinnestäuschung bis

zu den Halluzinationen der Geisteskrankheit sich entwickeln.

Es ist natürlich nicht möglich, in einer bloß episodischen Behand­ lung dieser ergreifenden Fragen, wie sie an dieser Stelle geboten ist,

allen Seiten derselben gerecht zu werden.

An das vorliegende Bei­

spiel und die Frage der Sinnestäuschungen möchte ich nur noch einige allgemeinere Betrachtungen über die Urteilsfehler anknüpfen,

denen wir Menschen noch fast alle in so unzähligen Fällen bei der Auf­

nahme und Einordnung unserer Sinneswahmehmungen und Erfahmngen und bei der Verwertung der daraus hervorgehenden Bor-

100 Stellungen zu allgemeinen Folgerungen und entsprechenden Be­ tätigungen unterworfen sind. Es ist dies ein Gebiet der geistigen Disziplin, auf welches schon bei der Erziebung und beim Unterrichte, weiterhin aber auch bei zahlreichen Betätigungen und Einrichtungen des Gemeinschaftslebens (z. B. bei den Gerichtsverhandlungen) viel größerer Wert gelegt werden sollte, weil jene Urteilsfehler noch mehr

als die menschlichen Leidenschaften, am stärksten aber wenn sie mit den Leidenschaften zusammenwirken, so viele Irrungen, Verfehlungen

und Verfeindungen int Leben Hervorrufen. In das Gebiet der Urteilsfehler fällt ein großer Teil alles aber­ gläubischen Wesens, auch die Astrologie, der Glaube an Ahnungen

und Träume, die Telepathie, viele hypnotische Entartung sowie die sogenannte Theosophie und der Spiritismus in den verschiedensten Formen. Überall sind es zunächst ungenaue oder durch Einbildungen sogleich beim Eintritt in das Bewußtsein getrübte Sinneswahr-

nehmungen, sodann durch bereits vorhandene Gedankeitreihen, durch Interessen und Leidenschaften, durch Erinnerungen, durch

Hoffnungen oder Befürchtungen von der richtigen Einordnung ab­

gelenkte, unterdrückte oder verstümmelte Vorstellungen und Schluß­ folgerungen, welche den Menschen die größte Not bereiten.

Bei Ereignissen, deren Gesamtzahl in einem und bentfelben Zeitpunkte sehr groß ist, z. B. int Bereiche der Unglücksfälle des

Einzellebeits, der Todesfälle usw., ist das Zusammentreffen irgend­ eines derselben mit irgendeiner darauf

bezüglichen Ahnung oder

Borhersagung, z. B. mit einer hypnotischen Vision oder bergt, sogar ohne den leisesten Zusammenhang zwischett dem Vorgänge

selber und der seelischen Erscheinung, lediglich int elementaren Gebiete des Zufalls sehr wohl möglich; denn bei einer gewissen großen Anzahl jener äußeren Geschehnisse und bei der int allge­ meinen noch größeren (und selbst unter gewissen Einschränkungen

auf besondere Formen der Einbildung immer noch recht großen) Anzahl von Beschäftigungen menschlicher Einbildungskraft mit Ge­ schehnissen solcher Art wird ein Zusammentreffen von Übereinstim­ mendem sogar mit einer gewissen gesetzlichen Notwendigkeit in einer

bestimmten Anzahl von Fälleit erfolgen m ü s s e n.

101 Tie Anzahl dieser Fälle rein zeitlichen Zusammentreffens

ohne irgendwelche ursächlichen Beziehungen erscheint nun aber noch

viel größer, wenn man, wie so häufig infolge der Vorliebe für das Sensationelle geschieht, bei der Feststellung der Gleichzeitigkeiten und des Grades der Übereinstimmungen weitreichende Ungenauig­ keit und Willkür walten läßt.

Endlich bestehen ja auch zwischen der

Beschäftigung unserer Einbildungskraft mit dem Schicksal eines

Mitmenschen und andererseits den wirklichen Leiden oder Gefahren desselben gewisse sympathische Beziehungen völlig naheliegender natürlicher Art, durch welche ebenfalls die Anzahl der Fälle eines ungefähren Zusammentreffens des Geschehens und des Gedenkens, hinausgehend über die Häufigkeit eines gänzlich beziehungslosen Zusammentreffens, gesteigert wird und besonders auch im Gedächt­

nis einen größeren Einfluß erhält. Im Gegensatz hierzu pflegt von den zahllosen Fällen, in denen sich das Spiel der Einbildungskraft

vollzieht, ohne daß auch nur das entfernteste Zusammentreffen mit

entsprechenden äußeren Geschehnissen stattfindet, niemand eine Erinnemng zu bewahren, weil das eben „nichts Besonderes" ist.

Und

es würde auch schwer sein, bei andem als bei krankhaft einbildnerischen

Personen genaue Rechenschaft von allen besonders regen Borgefühlen hinsichtlich sensationeller äußerer Vorgänge zu erlangen. Es muß aber jedenfalls von allen denjenigen, welche sich mit

reinem Forschungssinn der Prüfung von hypnotischen Vorgängen und dergl. widmen, verlangt werden, daß sie künftig für eine strenge und genaue Statistik aller visionären Vorgänge, auch derjenigen,

welche sich sonst sensationslos in der Erinnemng verlieren, Sorge tragen, damit die ordentliche kritische Gegenprobe gemacht werden kann.

Es ist nach allem bisher Vorliegenden nicht daran zu

zweifeln, daß dann das ganze Gebiet abergläubischer Einbildungen, welches sich aus unordentlicher Beobachtung und Aufzeichnung über

die bezüglichen psychischen Erscheinungen aufgebaut hat, in nichts

zerfließen und damit Ruhe und Gesundheit des Denkens vieler eine wichtige Stärkung erfahren wird.

Mit dem eben erörterten kritischen Prozeß steht nun hin­

sichtlich der Beurteilung des Eintreffens von Borhersagungen der

102 Naturvorgänge folgende Reihe von Erwägungen in naher Ver­ bindung Zunächst ist auch hier die Neigung, das Eintreffen zu behalten

und zu betonen, das Nichteintreffen dagegen zu übersehen oder zu

vergessen, von entscheidender günstiger Bedeutung für das Ansehen von Prophezeiungen, die mit einer größeren Sicherheit und Trag­ weite, als die Wissenschaft selber ihnen zu verleihen vermag, und mit einer entsprechenden Popularität der Darlegung auftreten, wie sie ebenfalls bei den wissenschaftlichen Beweisgründen sehr schwer 51t erreichen ist. Auch hier kommt aber zur Begünstigung vorübergehender Erfolge

in der öffentlichen Meinung folgendes hinzu: Wenn die Zahl der Ereignisse, um deren Borausbestimmung es sich handelt, überhaupt so groß ist, daß fast zu jeder Zeit auf der ganzen Erde irgendein Vor­

gang entsprechender oder verwandter Art, z. B. ein Erdbeben, statt­ findet, und wenn die Borausbestimmungen sich dann noch eine weit­ gehende Unbestimmtheit der Angaben oder ihrer Auslegung nach

Zeit und Ort gestatten, wird ein sehr häufiges ungefähres Eintreffen

der Voraussagung mit einer Sicherheit und Eleganz zu erreichen sein, welche viele gegen die Unsolidität des Verfahrens gänzlich blind macht. Die Übel, die dadurch angestiftet werden, sind in der Welt der

Gedanken und in der Welt der äußeren Vorgänge von schwer berechen­

barer, aber gewiß sehr erheblicher Größe.

Bei den Sinnestäuschungen und den Urteilstäuschungen, aus denen sich Theosophie und Spiritismus aufbauen, kommen noch ge­

wisse gegenseitige Beeinflussungen zwischen unserer Newenwelt und der Erinnerungswelt unserer Seele, insbesondere die sogenannten

Reflexerscheinungen, in Betracht, welche ebenso wie die hypnotischen Bewußtseinserscheinungen für die physiologische und psychologische Forschung von erheblicher Bedeutung sind, während sie zugleich

die entscheidendste Bekämpfung der theosophischen und spiritistischen

Täuschungen oder Selbsttäuschungen erhoffen lassen. Diese Reflexerscheinungen bestehen z. B. darin, daß eine irgend­

wie gesteigerte Erinnerung an bestimmte, von der Außenwelt her

103 erfolgte Nervenreize unter Umständen imstande ist, die vollständige

Illusion einer Wiederholung derselben Reizung von außen her im

Bewußtsein hervorzurufen, obwohl nicht der leiseste Anlaß dazu von

außen her vorliegt. Man glaubt z. B. mit voller Sicherheit eine Berührung von außen her zu verspüren, von welcher lediglich das Auftauchen des entsprechenden Erinnerungsbildes int Bewußtsein die Ursache ist. Auf ähnliche Weise werden z. B. die verschiedendsten

Arten von Sinnestäuschungen über die Gegenwart und Nähe dahin­ geschiedener geliebter Personen bloß mit Hilfe der Dynamik des

sehnsuchtsvollen Erinnerungslebens hervorgerufen. Den exakten Wissenschaften ist es ja bereits gelungen, die Er­ scheinungen, in denen Einklänge zwischen Theorien (also Gebildet! der Innenwelt) und den Vorgängen der Außenwelt schon erkannt oder wenigstens angedeutet sind, von denjenigen Einwirkungen frei

zu halten oder zu reinigen, bei denen wir infolge der undurchsichtigen Bielartigkeiten des Zusammentreffens von vielen nahezu gleich­ zeitigen Vorgängen zunächst auf gesetzmäßige Erkenntnis und Bor­ ausbestimmung noch verzichten müssen, und die wir deshalb als

„zufällige" bezeichnen.

IZ Kapitel. Die Anfänge der Entwicklung der internationalen Maß» und GewichtsOrganisation ((810—(812) und meine Erlebnisse in Paris ((872). Seit dem Frühjahr 1870 datierte nun der Beginn der offiziellen Verhandlungen über die internationale Organisation des Maß- und Gewichtswesens, über deren Vorgeschichte ich schon oben, im An­

schlüsse an die Konferenz der Gradmessung vom Jahre 1867, be­

richtet habe. Die Akademie der Wissenschaften zu Paris und die französische Regiemng hatten begonnen, der Sache näherzutreten, nachdem auch

noch am Ende des Jahres 1867 die Petersburger Akademie der Mssenschaften den dringenden Wunsch ausgesprochen hatte, daß

Frankreich, als die Heimstätte des metrischen Systems, die Initiative

zu der Begründung einer solchen Organisation ergreifen möge.

So

erging denn int Frühjahr 1870 vonseiten der französischen Regierung

an die Regierungen aller anderen Kulturländer die Einladung zu einem internationalen Kongresse, welcher in den ersten Tagen des August 1870 in Paris zusammentreten und die große Angelegenheit

der Einheitlichkeit und der gemeinsamen Fundierung des Maß- und Gewichtswesens einer wissenschaftlichen und organisatorischen Be­ ratung unterziehen sollte. Diese Einladung gelangte auch an die deutschen Regiemngen und das Präsidium des Norddeutschen Bundes,

welches mich sofort mit der Berichterstattung beauftragte. Seit meiner Übernahme der Leitung des neuen deutschen Maß- und

Gewichtswesens hatte ich in betreff der Notwendigkeit, die zentralen Einrichtungen des Metrischen Systems den neueren Methoden, Erfahmngen und Einrichtungen im Gebiete der höchsten Messungs­ praxis entsprechender zu gestalten, für die Überzeugungen, welche

105 für meinen Eintritt in jene leitende Stellung erheblich mitbestimmend

gewesen waren, in einem näheren brieflichen Verkehr mit dem da­

mals leitenden Manne des britischen Maß- und Gewichtswesens, G. B. Airy, Direktors der Stemwarte zu Greenwich, volle Zu­ stimmung gefunden.

Airy war dabei keineswegs für die Einführung

des Metrischen Systems in England eingetreten, hatte aber die Ver­ vollkommnung der Einrichtungen dieses Systems doch als ein gemein­ sames wissenschaftliches Bedürfnis anerkannt. Demgemäß hatte ich in meinem Bericht über die Einladung der französischen Regierung

auch die Beteiligung des Norddeutschen Bundes an der Zusammen­ kunft in Paris lebhaft befürwortet. Bevor jedoch diese Koriferenz zusammentreten konnte, war im

Juli die französische Kriegserklärung erfolgt, wodurch meine vorher

in Aussicht genommene Beteiligung als deutscher Delegierter gänz­ lich in Frage gestellt wurde. Die Konferenz trat trotz alledem in den ersten Augusttagen 1870 in Paris zusammen.

Kurz bevor Airy London verlassen hatte, um der Konferenz bei­ zuwohnen, richtete er ein ostensibles Schreiben an mich, in welchem

er als die Ansicht seiner Regierung den Wnnsch aussprach, daß der deutsche Delegierte, trotz der Kriegserklärung, zu jener internationalen

Versammlung erscheinen möge, wobei er zugleich seine Zuversicht aussprach, daß auch die französische Regierung und die französischen Fachgenossen diesen Wunsch lebhaft teilen würden. Nachdem ich dieses Schreiben dem Präsidenten des Bundes­

kanzleramtes, Minister Delbrück, überbracht hatte, empfing ich jedoch fast umgehend die Mitteilung, daß an entscheidender Stelle irgend

ein Vorgehen dieser Art gänzlich abgelehnt werde. Natürlich ging die Konferenz am Ende der ersten Augustwoche, in welcher die ersten für Frankreich so ungünstigen Schlachten statt­ gefunden hatten, wieder aus einander, jedoch nicht ohne den ein« mütigen Wunsch ausgesprochen zu haben, daß nach dem Kriege bald­ möglichst wieder eine Zusammenkunft stattfinden solle, und nicht

ohne ein Komitee eingesetzt zu haben, welchem die Aufgabe erteilt wurde, diese Fortsetzung der Beratungen vorzubereiten, und zu dessen Mitgliede auch der abwesende deutsche Delegierte ernannt wurde.

106

Dieses internationale Komitee für vorbereitende Untersuchungen wurde dann zum Frühjahr 1872 von der französischen Regiemng ein­ berufen, und so begann meine Wirksamkeit für die internationale Organisation des Maß- und Gewichtswesens in Paris im April 1872. Von meinen Erlebnissen bei dieser ersten. Versammlung, welcher alsdann int Herbst 1872 die int August 1870 vertagte Zusammenkunft der Generalkonferenz nachfolgte, will ich zunächst einiges erzählen. Es gab damals in Paris gegenüber dieser internationalen Ent­ wicklung zwei verschiedene Auffassuttgen. Die eine hatte ihren Sitz, in der Zentralstelle des französischen Maß- und Gewichtsdienstes, dem Conservatoire des Arts et Metiers, welches in sehr erklärlicher Weise dahin strebte, seine zentrale Stellung international zu erweitern und zu befestigen, sonst aber nichts wesentliches zu ändern unb jeden­ falls auch die wissenschaftliche Leitung der Zentralverwaltung in den Händen zu behalten. Die andere Auffassung, hauptsächlich ver­ treten und unterstützt durch den bedeutendsten damaligen metallur­ gischen Chemiker Henry Sainte Claire DeviNe, war mit uns der Meinung, daß die zentralen Einrichtungen des Metrischen Systems von Grund aus zu reformieren seien, und daß insbesondere die Verkörperung der Längeneinheit, das sogenannte Archivmeter, den An­ spruch, ein möglichst unveränderlicher und mit größter Schärfe kopier­ barer Vertreter der Metereinheit zu sein, gänzlich aufgeben müsse, und daß dann überhaupt auch die Wissenschaft der anderen Länder bei der Reform und der künftigen Überwachung der Zentralein­ richtungen des gemeinsamen Maß- und Gewichtswesens entscheidend vertreten sein müsse. Insbesondere wurde von Henry Sainte Claire Deviüe die Ersetzung des viel zu weichen alten Platinmaterials durch eine Legierung aus Platin und Iridium befürwortet. In dem internationalen Komitee, welches seine Sitzungen im 9lpril 1872 in dem vorerwähnten Conservatoire abhielt, entwickelten sich natürlich sehr lebhafte Diskussionen über diese Gmndfragen, und mehrere nichtfranzösische, sehr kompetente und eifrige Mitglieder des Komitees empfingen den Eindruck, daß eine gründliche und dauernde Reformorganisation des internationalen Maß- und Gewichtswesens nur dadurch erreichbar sein würde, daß man den Mittelpunkt dieser

107

fundamentalen Verwaltung nicht in Paris, sondern an einer anderen

gänzlich neutralen Stelle domiziliere, da man sonst auf eine von den französischen Traditionen auf diesem Gebiete möglichst unabhängige und nicht bureaukratisch, sondem wissenschaftlich geleitete Ausfüh­ rung der gemeinsamen, nicht bloß einmalig fundamentalen, sondern

auch fortgehenden und periodisch wiederkehrenden Arbeiten nickt werde rechnen können.

Es gelang mir jedoch damals in näherer Gemeinschaft mit Henry Samte Claire Deville eine vermittelnde Stellungnahme der nicht­

französischen Komiteemitglieder herbeizuführen, gerade weil ich, was

damals von besonderer Bedeutung war, als Delegierter Deutschlands

von vornherein als franzosenfeindlich angesehen wurde.

Ich hob

hervor, daß die eminenten Verdienste Frankreichs um die Begründung des Metrischen Systems jedenfalls in den Vordergnmd der inter­ nationalen Organisation die Pflicht stellten, den Mittelpunkt dieser

gemeinsamen Einrichtungen in Frankreich zu domizilieren, diesen Mittelpunkt aber alsdann gänzlich unabhängig von der französischen

Regiemng und Verwaltung, insbesondere auch unabhängig von dein Conservatoire, unter einer streng internationalen Kontrolle und Ver­ waltung mit einem intemationalen Budget in oder bei Paris zu be­ gründen und bei dieser Organisation und ihrer Überwachung natür­ lich auch die bedeutendsten Männer der französischen Wissenschaft,

wie Henry Sainte Claire Deville, gehörig zu Worte kommen zu lussen.

Auf dieser schließlich mit Einmütigkeit angenommenen Grund­

lage wurden dann auch die Aufgaben der im Herbst desselben Jahres einzuberufenden Generalkonferenz formuliert. Aus den Tagen dieses Pariser Aufenthaltes, während dessen ich

mit einigen der bedeutendsten französischen Fachmänner in nahe und dauemd freundschaftliche Beziehung kam, ist nun manches zu erzählen. Paris befand sich im Frühjahr 1872 noch stark bedrückt von den Nachwirkungen des Krieges und den damals noch ganz frischen Er-

innerungen an die kaum ein Jahr zurückliegenden Ereignisse des Kommuneaufstandes.

Die Tuilerien und das große Staatsrats-

108 Palais am linken Seineufer lagen noch in Brandtrümmern.

In den

Bororten, zumal im Süden in der Nähe von Saint Cloud und Meudon,

sah man noch einzelne ganz demolierte Häuser, und an den Türen zahlreicher anderer Häuser waren noch in groben Kreidestrichen die deutschen Quartierinschriften erhalten geblieben, z. B. „Reg Batt.... Komp. Unteroffizier Haversack mit 20 Mann". Auf dem linken Seineufer der Stadt Paris, wo sich hauptsächlich die wissen­ schaftlichen Institute befinden, hatte man noch mehr als von der

deutschen Belagerung gelitten durch Beschießungen, mit welchen die Regiemngstruppen unter dem Regime des Präsidenten Thiers die Mannschaften der Kommune aus der Besatzung dieser Stadtteile

vertreiben mußten. Ich erinnere mich noch, daß bei einem Frühstück, welches unser Freund Henry Samte Claire Deville den auswärtigen Komiteemitgliedern in dem chemischen Laboratorium der Ecole Normale gab, am Schluß auf einer großen Schüssel unter einer Metallglocke ein verdecktes Gericht zum Nachtisch serviert wurde.

Ms dann die Glocke abgenommen wurde, erblickte man auf dem Teller eine Bombe von etwa 20 cm Durchmesser, welche aus einzelnen

Sprengstücken wieder zusammengesetzt war. Unser liebenswürdiger Wirt erzählte uns hierzu, daß diese Bombe in dem Garten der Ecolc Normale explodiert sei, und daß man dieses Belagerungsdokument aus den zerstreuten Sprengstücken zusammengesetzt habe. Begütigend

fügte der große Chemiker sich gegen mich verbeugend hinzu: „Das

kam aber nicht von Ihnen, sondern von Herrn Thiers." Obgleich das Andenken an jene düsteren Zeiten damals in Paris noch so frisch war, muß ich doch sagen, daß ich weder damals

noch bei meinen späteren Aufenthalten in Paris jemals als Deutscher irgendeine feindselige Begegtiung oder Außemng erlebt habe. Im

Gegenteil bin ich stets mit echt französischer Feinheit, ja, ich darf wohl sagen, mit ganz besonderer Zartheit behandelt worden. Man legte förmlich Wert darauf, jeden Eindruck zu vermeiden, als ob

man den wissenschaftlichen Mann, überhaupt die einzelne Persön­

lichkeit, irgend etwas von den Leidenschaften des Völkerkampfes fühlen lassen wollte.

109 Einen fast rührenden Eindruck empfing ich auch eines Tages in dem ganz französischen Hotel, in dem ich wohnte. Ich hatte schon bemerkt, daß einer der Hausdiener dieses Hotels sich in besonderer

Weise mir mehrfach zu Besorgungen und Hilfeleistungen eifrigst

anbot. Als ich dann bei der Abreise seine Hilfe zur Fertigmachung meines Koffers annahm, löste sich ihm auf einmal, während er auf

dem Koffer kniete, die Zunge, indem er zu mir aufblickend fragte, ob ich Magdeburg kenne, und, als ich dies bejahte, dann unter Tränen sich gar nicht genugtun konnte mit der Versicherung, wieviel Güte

meine Landsleute bei seiner Gefangenschaft in Magdeburg ihm erwiesen hätten. Ich habe dann später einmal an höchsten Stellen in Berlin von diesem Vorgang Mitteilung gemacht, dem sich übrigens bei diesem Pariser Aufenthalte und in den folgenden Jahren eine

nicht geringe Anzahl von ähnlichen Begegnungen anschloß, wie unter andern: in den offiziellen Kreisen, z. B. bei den RGceptions nach ministeriellen Diners u. dgl., sich mir mit deutschen Redewendungen

(j. B. „Gesegnete Mahlzeit!") französische Herren vorstellten, welche

das Bedürfnis fühlten, von ihren Erlebnissen während der Gefangen­ schaft und von ihren dabei erlangten Beziehungen zu seinen deutschen Landsleuten dem Berliner Professor bewegte Mitteilungen zu machen. Es ist mir späterhin in Deutschland, wenn ich hievon erzählte, manchmal begegnet, daß mir meine lieben Landsleute zuriefen: „Da sieht man ja recht deutlich die menschenverbindenden Wirkungen

des Krieges", worauf ich dann stets erwiderte: „Das sind ja doch nur Balsam tropfen, verglichen mit dem Ozean des Kriegselends."

Aber jene Balsamtropfen lassen doch gerade am allerdeutlichsten die tieferen Mächte der Menschenseele erlernten, durch welche dem

Bölkerkampfe sicherlich bald und definitiv ein Ende gesetzt werden wird.

Eine besonders innige Gemeinschaft wissenschaftlicher und inter­ nationaler Auffassungen verband mich seit jenen Frühjahrstagen von 1872 mit Henry Samte Claire Deville.

Mit ihm kam ich auch

auf die politische Tagesgeschichte vertraulich zu sprechen, was ich sonst mit den französischen Fachgenossen gänzlich vermied. Er war natürlich eifriger französischer Patriot, aber doch völlig einig mit

110 mir in der Verurteilung jeglicher nationalen Leidenschaft und Über­

hebung.

Vieles erzählte er mir im Frühjahr und im Herbst 1872

über die Entwicklung der französischen Stimmungen und über den entscheidenden Anteil am Kriege, den er hauptsächlich der Umgebung der Kaiserin zuschrieb. Deville war mit dem Kaiser Napoleon intim befreundet gewesen und hatte ihm in den letzten Jahren bis kurz vor der Abreise zum Kriege fortlaufend kleine Borträge über die

Fortschritte in der Chemie gehalten.

Von einer Unterredung, die

er bei seinem letzten Besuch in Saint-Cloud mit dem Kaiser gehabt hatte, machte er mir damals die folgende ganz vertrauliche Mit­

teilung, die ich jetzt nach dem schon vor langer Zeit erfolgten Tode

des edlen Freundes zur Geschichte jener Tage beitragen zu dürfen glaube: Er habe den Kaiser, der über seine Gesundheit schmerzlich

geklagt habe, zu trösten gesucht mit einem Hinweis auf die Ge­ nesungswirkungen des Sieges, etwa mit den Worten: „Mais la victoire vous gu6rira.“

Darauf aber habe der Kaiser traurig mit

dem Kopf geschüttelt und sodann wörtlich folgendes gesagt: „0, non, non! Nous ne nous reverrons pas. Mon entourage ne connait

pas l’Allemagne.

Adieu, mon eher ami.“

Man darf wohl annehmen, daß diese Worte des Kaisers sich hauptsächlich darauf beziehen, daß seine Ratgeber anfangs nicht nur auf Österreichs Bundesgenossenschaft für Frankreich, sondern auch auf eine mehr oder weniger neutrale, gegen Preußen abgeneigte Haltung Süddeutschlands, besonders Bayerns, gerechnet hatten, und daß gerade in der letzteren Hinsicht die französische Politik eine

verhängnisvolle Enttäuschung erleben sollte, auf deren Wahrschein-

keit der Kaiser wohl selber schon in der ganzen Entwicklung der Dinge hingewiesen hatte. Den vorstehenden Mitteilungen über vertrauliche Erlebnisse

aus jener Zeit möchte ich auch noch eine Begegnung anreihen, welche ich im Jahre 1872 mit dem General Jarras gehabt habe, der, wenn ich mich recht entsinne, Generalstabschef des Marschalls Bazaine in

den Tagen von Metz gewesen war. Es kam bei einer der geselligen Veranstaltungen von irgendeiner Seite die Wahrnehmung zur Sprache, daß die deutschen Kellner, welche im Kriegsjahre scharen-

111

weise Frankreich hatten verlassen müssen, bereits wieder in Scharen in Pans eingerückt seien. Diese Gesprächswendung illustrierte General Jarras mit der kurz hingeworfenen Bemerkung: „Oui, c’est le gSnie

allemand.“ Ich sah ihn darauf etwas erstaunt an, beschloß aber sofort, diese kriegerische Bemerkung zu ignorieren. Am nächsten Morgen jedoch erschien in ganz früher Stunde in meinem Hotel der liebe Herr General Jarras und konnte gar nicht genug demütige Worte der Selbstanklage finden, um meine Verzeihung für sein

„übereiltes und unfeines" Wort zu erbitten. Im Herbst 1872 trat nun die internationale Generalkonferenz zusammen, welche die von dem Komitee im Frühjahr formulierten Organisationsvorschläge diskutieren und in definitive Gestalt bringen sollte. Die überaus zahlreich von wissenschaftlichen Männern aller

Kulturländer besuchte Konferenz wurde in der Tat der Ausgangspuntt einer Entwicklung, aus welcher dann im Jahre 1875 in der Convention du Metre die vertragsmäßige Begründung einer der bedeutsamsten und wirkungsvollsten internationalen Organisationen

hervorgegangen ist. Ganz im Sinne des von dem Vorbereitungs­ komitee aufgestellten Programms wurde schließlich von der Konferenz iin Herbst 1872 ein permanentes internationales Komitee eingesetzt, bestehend aus vierzehn von denjenigen Fachmännern der verschie­

denen Nationen, welche bis dahin in den Beratungen am wirksamsten

hervorgetreten waren oder in den Maß- und Gewichtseinrichtungen

ihrer Länder schon besondere Vettrauensstellungen besaßen. Diesem permanenten internationalen Komitee wurde der Auftrag erteilt, auf baldigste Begründung einer internationalen Zentralstelle in Paris

hinzuwirken, deren Aufgaben in den wesentlichen Zügen von der Konferenz vorgezeichnet wurden, und für deren Einnchtungen, Personal und fottlaufende Arbeitstätigkeit ein internationales Budget aufgestellt werden sollte. Zugleich wurden für die grund­ legenden neuen Einnchtungen, die von dieser Zentralstelle verwaltet

werden sollten, insbesondere für das neue Urmaß und Urgewicht im wesentlichen die Vorschläge von Henry Samte Claire Deville als Norm angenommen. Dieses erfreuliche Ergebnis war aber nicht zustande «gekommen, ohne daß die bereits oben charatterisiette monopolistisch-

112 französische Auffassung der Herren vom Conservatoire mit der idealwissenschaftlichen und konsequent internationalen Auffassung, deren Hauptvertreter Deville war, in harte Konflikte kam, bei denen es schließlich noch nahe daran war, daß die Versammlung ergebnislos auseinanderging, und daß sich eine Sonderorganisation

außerhalb bildete, welche eine metrische Zentralstelle in Bern be­ gründen wollte. Der deutsche Delegierte hat in jenen Tagen, unter­ stützt durch die höchst intelligente und großmütige Auffassung, mit welcher Delbrück und Bismarck die historischen Ansprüche Frank­

reichs auf eine zentrale Stellung innerhalb einer internationalen Maß- und Gewichtsorganisation anerkannten, vermocht, in den

letzten Phasen der Konferenz die akuten Konflikte beendigen zu

helfen und einer höheren Gemeinsamkeit der Entwicklung die Bahn frei zu machen. Leider mußten noch mehr als zwei Jahre vergehen,

bevor auf der Gmndlage der Konferenzbeschlüsse die vertragsmäßige

Begründung der internationalen Einrichtungen seitens der fran­ zösischen Regiemng wirksam in die Wege geleitet wurde. Innerhalb

dieser Zeit erfolgte allerdings der technische Fortschritt, daß mit der Ausfühmng des Konferenzbeschlusses, betreffend die Herstellung des

neuen Urmaßes und des neuen Urgewichtes aus einer Legierung von 90 ^»Platin und 10^, Iridium nach den Vorschlägen von Henry

Samte Claire Deville, im Conservatoire ein Anfang gemacht wurde, obwohl dieses einseitige Vorgehen eigentlich gegen den Geist der

Konferenzbeschlüsse war und sich schließlich auch in technischer Be­ ziehung infolge der Unvollkommenheiten des Zusammenwirkens der Gmppe Deville mit den Herren von der Partei des Conservatoire

als unzureichend erwies. Das internationale Komitee wurde allerdings zweimal zu­ sammenberufen, aber da die Voraussetzung für eine gedeihliche Aktion desselben, nämlich die vertragsmäßige Begründung der stän­ digen intemationalen Zentralstelle, von feiten der französischen Regierung hinausgeschoben wurde, geschah es, daß eine ansehnliche Minderheit der Komiteemitglieder, unter ihnen die wissenschaftlich eng verbundenen Delegierten von Deutschland, Österreich und Rußland

jede weitere Beteiligung bis zu der vollen Verwirklichung der Kon-

113 ferenzbeschlüsse mit Zustimmung ihrer Regierungen — cs waren

damals die Zeiten des Drei-Kaiser-Bundes — ablehnten. Während dieses Interims war es, neben den die zentrale Ber-

waltung des französischen Maß- und Gewichtswesens leitenden Männern des Conservatoire, hauptsächlich der berühmte Astonom Leverrier, dessen ganz besondere Art von chauvinistischer Energie die veniünftige Entwicklung der Dinge hemmte. Er ist damals soweit

gegangen, gegen die Begründung einer internationalen Zentral­ stelle feinsten Messens und Wägens in Paris die Warnung auszu­ sprechen, daß dies nichts anderes sein würde, als „mikrometrische Spionage". Zwischen der mit solcher leidenschaftlichen Kurzsichtigkeit

geführten spezifisch französischen Partei und den um Henry Samte Claire Deville sich sammelnden Freunden und Vertretern der rein wissenschaftlichen, wahrhaft völkerverbindenden Bestrebungen stand

damals ein Mann von hoher wissenschaftlicher und zugleich staats­

männischer Stellung und Gesinnung, ein früherer Minister von Napoleon III., nämlich der berühmte Chemiker I. B. Dumas, dem

ich gern am Schlüsse dieser meiner Schilderungen jener Pariser Zeit ein bescheidenes Denkmal setze.

Dumas war es, welcher schließlich

mitten durch die vielartigsten politischen und nationalen Schwierig­ keiten hindurch die Entwicklung der internationalen Organisation bis zu dem Meter-Verträge vom 20. Mai 1875 durchführen half, wobei

er auf diplomatischem Felde in entscheidender Weise durch den da­

maligen deutschen Botschafter Fürsten zu Hohenlohe-Schillingsfürst

und auf international-wissenschaftlichem Gebiete durch die charakter­ volle Energie des Mitgliedes der Petersburger Akademie der Wissen­ schaften und russischen Delegierten, Prof. Wild, unterstützt wurde. Dumas, der damals sich schon dem 80. Lebensjahr näherte, ist mir

ein unvergeßliches Beispiel gewesen von jener französischen Geistes­

art, in welcher sich die Eigenschaften hoher und weitblickender Intel­ ligenz mit einer Lebenserfahrung und Geschicklichkeit der Menschen­ behandlung verbanden, die zwar nicht immer den höchsten Gesichts­ punkten die Ehre gab, aber es in einer wunderbaren Weise

verstand,

im

gegenüber ein

rechten Augenblicke einem ehrlichen Mtarbeiter fast rührendes Peccavi zu sagen und alsdann

Wilh. Foerster, Leben-erinnerungen.

g

114 dauemd dem freundschaftlichsten und

reinsten Zusammenwirken

zu dienen. Anschließend an diese kurze Charakterisierung einer übrigens

spezifisch südfranzösischen Persönlichkeit habe ich das Bedürfnis, die

Gesamtheit dieser Mitteilungen über meine französisch-deutschen Erlebnisse in jenen Jahren noch durch einige Erinnemngen an die besonderen Feinheiten zu vervollständigen, mit denen ich in diesen aufgeregten Zeiten von französischer Seite gerade deshalb

behandelt wurde, weil man glaubte, daß ich bei der zweifellosen und

welche

wohl erklärlichen Abgeneigtheit,

damals im allge­

meinen dem Deutschen gegenüber vorwaltete, irgendwelche schmerzliche oder peinliche Behandlung von feiten französischer

Leute erleiden könnte. der

Mathematik,

M

So hatte z. B. der berühmte Historiker

die

Chilsles,

Gepflogenheit,

jedesmal,

wenn ich in diesen Jahren in Paris erschien, mich zuerst in meinem Hotel aufzusuchen und mir dann eine ganz besondere

gesellige Veranstaltung anzubieten,

welche er kurz sein „Diner

prussien“ nannte.

So war es Henry Sainte Claire Deville, welcher seiner immer gleichbleibenden Freundschaftsgüte für mich

einmal bei meiner Abreise von Paris nach einer sehr bewegten Aufenthaltszeit die ungewöhnliche Veranstaltung hinzufügte, daß er mich auf dem Ostbahnhofe (er war Mitglied der Direktion

der Ostbahn) zusammen mit einem der anderen Direktions­ mitglieder zeremoniell empfing, mich nach einem von der Direktion

mir offerierten besonderen

Schlafkupee

geleitete und bis zur

Abfahrt mit den liebenswürdigsten und wertvollsten Mitteilungen

bei mir verweilte. Erst int letzten Moment flüsterte er mir dann ins Ohr einen besonderen Dank dafür, daß ich diesmal nicht in seinem Hause erschienen sei. die

Kunde

empfangen,

Ich hatte itämlich von anderer Seite

daß

bei

einzelnen

seiner Familien­

mitglieder damals eine besondere nationale Erregtheit obwaltete, und daß es daher besser sein werde, diesmal mit einem Familien­ besuch zu pausieren. Ein anderesmal wurde ich von der Gemahlin eines Akademie­

mitgliedes zu einem nachmittäglichen musikalischen Damentee ein-

115

geladen, wo ich beim Eintritte in den edlen Kreis einfach als „le rnaudit Prassten“ (der verdammte Preuße) vorgestellt und dem­ gemäß mit holdester Güte behandelt wurde.

J4. Kapitel. persönliches aus -en Kriegszeiten ,870—,87,. Vie Keife nach England im Frühjahr ,872. Vas Lichungswesen und die Präzision-technik. In Deutschland hatte ich während der bewegten Zeiten von 1866—1871 und auch in den vorangehenden Jahren der scharfen Kämpfe zwischen Regierung und Volksvertretung keinerlei Anlaß

zu einer politischen Stellungnahme gehabt, obwohl ich mittelbar

durch meine Freunde Herzog und Scholz, sowie durch den mir in diesen Jahren im Verkehr mit der gemeinsamen musikalischen

Freundin Ida Becker nähergetretenen vertrauten Mitarbeiter Bismarcks, Herrn von Keudell, sehr nahe Einblicke in die Aktion

der leitenden Männer hatte, natürlich ohne irgendeinen Einfluß anderer Art üben zu wollen, als im Sinne der Fördemng aller

intenrationalen Gesinnungen und Organisationen. Mit dem Feldmarschall von Moltke hatte ich Gelegenheit zu persönlichem Zusammenwirken, nachdem um das Jahr 1867 unter der Einwirkung der intemationalen Gradmessungsorganisation auch in Preußen ein Zentraldirektorium des gesamten Vermessungs­ wesens geschaffen worden war, an dessen Spitze Moltke stand, und an dessen Verhandlungen ich als Kommissar des Unterrichtsmini­

steriums und als Mitarbeiter des vom General Baeyer eingerichteten

und geleiteten Zentralbureaus der Mitteleuropäischen Gradmessung Moltke war als Zuhörer meiner Vorträge in der Singakademie persönlich sehr freundlich für mich gesinnt, indesfen

teilzunehmen hatte.

hatten wir doch bei den Verhandlungen im Zentraldirektorium der Vermessungen infolge der gegnerischen Stellung von General Bacher zu der rein militärischen Organisation der preußischen Landesvermes­

sung manche Konstikte, wie ich denn auch späterhin, als Moltke im

8*

116 Reichstage die weitgehendsten Maßregeln zur Beseitigung der Orts­ zeiten vertrat, eine von ihm erheblich abweichende Stellung, auf

die man außerhalb Deutschlands jetzt zurückzukommen beginnt,

publizistisch eingenommen habe. Tief bewegend ist mir immer der Rückblick auf meine bescheidenen Beziehungen zu diesem ganz unge­ wöhnlichen Manne, dessen ursprünglich weltumfassender und hoheits­

voller Intellekt infolge der heroischen Genialität seiner strategischen Leistungen und Erfolge schließlich nur noch einen eng militärischen

Horizont hatte. — Aus dem Sommer 1867 habe ich noch eine genau zu verbürgende geschichtlich wertvolle Erinnerung beizutragen, be­ treffend die ganz besondere Stellung, die er in der großen Politik damals einnahm. Ich empfing auf der Stemwarte den Besuch eines mir nahe befreundeten deutsch-russischen Astronomen, Prof.

Doellen, eines unbedingt zuverlässigen Mannes.

Dieser hatte den

Winter und Frühling aus Gesundheitsrücksichten in Algier verbracht

und war dort mit zwei Brüdern voll Moltke so nahe befreundet ge­ worden, daß sie ihn in liebenswürdigster Weise bei ihrem Bruder in Berlin brieflich eingeführt hatten.

Er erzählte mir nun, daß der

Feldmarschall ihn in sehr freundlicher Weise zum Frühstück eingeladen habe, und daß er daher seinen heutigen Besuch bei mir abkürzen

müsse. Nach einer halben Stunde kam er aber wieder uild machte mir, in starker Gemütsbewegung, die Mitteiluilg, daß Moltke ihn gebeten habe, auf die Einladuilg zu verzichten, denn im Verlauf einer Stunde noch vor 1 Uhr mittags werde die Kriegserklärung

gegen Frankreich erfolgen, und er werde sich denken können, lvie gewaltige Beschäftiguilg jetzt eintreten müsse.

Indessen kam keine Kriegserllärung. (Es war im Juni oder Juli 1867.) Ich hörte kurze Zeit nachher durchHerrn von Keudell, daß

es sich um eine brüske Forderung der französischen Regierung, be­ treffend die Abtretung von Luxemburg an Frankreich gehandelt habe. Moltke hatte offenbar diese Forderung, die ein Nachspiel zu den, im August 1866 von Benedetti gestellten Ansinnen auf Abtretung

des linken Rheinufers an Frankreich war, sofort als einen Kriegsfall angesehen und damit an höchster Stelle Zusümmung gefundeil, während

Bismarck diesen akuten Schachzug im letzten Augenblick verhinderte.

117 Der Krieg von 1870—71 brachte auch für meine väterliche

Familie eine Reihe von sehr bedrückenden, ja trauervollen Ereig­ nissen mit sich. Mein Bruder August, der schon verheiratet und Familienvater war, wurde auch zur Armee eingezogen, jedoch auf Grund seiner Kenntnis der französischen Sprache, als in der Festung Posen sehr bald gefangene französische Soldaten in großer Zahl ankamen, zu beten Überwachung abkommandiert, womit er dann

dauernd während des ganzen Krieges betraut wurde. Da er hierbei auch die Korrespondenz der Gefangenen mit ihrer Heimat zu über­ wachen hatte, war diese Zeit für ihn reich an merkwürdigen und menschlich wertvollen Eindrücken. Mein jüngster, noch unverheirateter Bruder Georg, der einzige Sohn aus meines Vaters zweiter Ehe.

mußte dagegen als Offiziersaspirant bei einem Dragonerregiment mit

ins Feld und hatte dann das eigentümliche Schich'al, daß er nach der Schlacht bei Sedan, bei der Verfolgung des nach der belgischen

Grenze sich zurüctziehenden Teiles der französischen Armee selber

in französische Gefangenschaft geriet. — Er wurde dann mit mehreren Kameraden durch das nördliche Frankreich nach der vor der Loire­ mündung gelegenen Insel Bellisle transportiert, wo allmählich auch einige hundert deutsche Gefangene angesammelt wurden. Dieser mein

Bruder Georg hat neuerdings seine Erlebnisse aus dieser Zeit in einem

kleinen Buche (In französischer Kriegsgefangenschaft. Verlag von L. Simion. Berlin) in ansprechender Weise beschrieben. Zwei andere nahe befreundete Verwandte starben den Heldentod in der Schlacht

von Mars la Tours, der eine, Oberst von Brixen, von dem ich oben

schon erzählt habe, an der Spitze des von ihm kommandierten 16. Re­ gimentes, welches das Kommando empfangen hatte, sich zu opfern, um den Abzug des Marschalls Bazaine nach Paris hin aufhalten zu

helfen, der andere, Max Wegener, der Neffe des Generals von Hahn, in derselben Weise zugleich mit Hunderten

von Kameraden auf

kurzer Strecke von gewaltigem Kanonenfeuer dahingerafft. Ganz unvergeßlich sind die Eindrücke, welche Deutschland da­

mals von den ersten Siegen der vereinten nord- und süddeutschen

Armeen gegen die französische Armee hatte, denn wir waren doch noch aus den napoleonischen Zeiten her gewohnt, den Elan dieser

118 Armee sehr hoch anzuschlagen.

Um so lebhafter erhob sich jetzt das

Selbstgefühl der Deutschen, und man fing auf einmal an, von Süddeutfchland her den Ruf nach der Wiedergewinnung des Elsaß zu

erheben, dessen Mckkehr zu Deutschland ja besonders für den Süden eine große Verstärkung des Schutzes gegen französische Invasion bedeutete. Ich hatte damals sofort den Eindruck, daß die weitere

Verfolgung und Verwirklichung dieses im Rausche der ersten Siege

austauchenden Verlangens andauerndes Unheil für Europa bedeuten

würde, und ich richtete deshalb an mehrere Freunde in Süddeutsch­ land und Norddeutschland das Ansinnen, sich sofort an einer kräftigen

Gegenwehr gegen diese Eroberungsvisionen zu beteiligen, von denen ich behaupten zu dürfen glaubte, daß sie der höheren Kultur Deutsch­ lands und überhaupt einer höheren Stufe der internationalen Ge­ sittung widersprächen und uns für die Zukunft auch die Entwicklung

unseres Zusammenlebens mit den slawischen Völkem im Osten durch deren selbstverständliches Zusammengehen mit einem uns an­ dauernd verfeindeten Frankreich stark erschweren würden.

Bon den norddeutschen Freunden empfing ich im wesentlichen

zustimmende Briefe, keineswegs aber von Süddeutschland her, und

auch für Bismarcks Entscheidungen, bei denen die Zustimmung von Süddeutschland als ein maßgebender Faktor erschien, ist dies von wesentlicher Bedeutung geworden.

Aus dem Dezember 1870 möchte ich noch eine kleine Episode

erwähnen, welche auf die Stimmungen jener bewegten Zeit auch noch einen wunderlichen Lichtschimmer wirft. Während König Wilhelm auf dem Kriegsschauplätze und damals in Versailles weilte,

hatte die Königin Augusta in Berlin die höchste königliche Autorität

in ihren Händen.

Als nun in diesen Tagen eine Sonnenfinsternis

bevorstand, war in ihr der Gedanke erwacht, daß bei solchen Himmels­ ereignissen, zumal in so heroisch bewegten Zeiten, die höchste fürst­ liche Person einen besonderen Anteil bekunden müsse, ein Gedanke,

der wie ein Nachklang aus uralten Zeiten in ihrer lieben Seele er­ wacht sein mußte. Sie ließ mir deshalb ihren Besuch auf der Stern­ warte für die Zeit dieses Himmelsvorganges ankündigen, und sie erschien dann, trotz der Einsprüche, die ich unter Hinweisung auf die

119

damals herrschende enorme Kälte erhob, pünktlich zur Überwachung der Finsternis.

Allerdings beklagte sie sich, während der Mond vor

der Sonne vorüberzog, bitterlich über die Kälte, die in dem offenen Beobachtungsraume des großen Fernrohrs herrschte, aber es gelang

doch durch einige interessante Vorführungen, die ich ihr alsdann in geheizten Räumen darbot, und durch einige geschichtlich erwärmte Erzählungen, die ich ihr zu dem ganzen Anlasse hinzufügte, zu einem

harmonischen Eindrücke zu gelangen, welcher der hohen Dame, wie sie mir mehrfach später aussprach, gerade in diesen Zeiten als eine

Wohltat erschienen ist. Für mich selber waren diese Jahre (1869—1871) von außerordent­

lich anstrengender Tätigkeit erfüllt, denn es handelte sich darum,

bis zum Anfänge des Jahres 1872 das neue deutsche Maß- und Gcwichtswesen und die Tätigkeit der Eichungsämter in vollen Gang zu bringen. Im Laufe des Jahres 1872 kamen dann im Frühjahr und im Herbst die oben erwähnten Verhandlungen in Paris hinzu, aus denen weiterhin die internationale Organisation des Maß- und

Gewichtswesens hervorging, wovon ich noch ausführlicher zu berichten haben werde. Im Frühjahr 1872 schloß sich an den Pariser Aufenthalt noch

ein Aufenthalt in England zur Information über die Zustände des britischer« Eichungswesens. — Ich gewann hierbei von den eng­

lischen Zuständen und Einrichtungen überhaupt Eindrücke, die meiner eigenen Betätigung in Deutschland und meinem Verständnis für die Zustände in den andern Kulturländem sehr förderlich wurden. Ich

lernte zunächst begreifen, daß es außerordentlich schwer erschien, in England ein neues Maß- und Gewichtssystem wie das metrische

an Stelle der bisherigen Einrichtungen obligatorisch einzuführen. Die Selbstregierung und Selbstverwaltung ist bis in die kleinster«

Kreise dort so machtvoll und entscheidend, zugleich aber so abgeneigt gegen alles polizeiliche Reglementiererr und Überwachen, daß um­ fassende neue Einrichtungen nur in Jahrzehnteir allmählich Wurzel

fassen können. Hierin liegt ein wichtiges Element der sozialen Größe und Gesundheit des britische«« Weltreiches, aber in der Übertreibung

auch eine große Hemmung gegen tiefer greifende Kulturfortschritte.

120 Es wurde mir auch durch nähere Aufschlüsse, die ich über die

Organisation von höheren Behörden und Berwaltungsinstitutionen in England empfing, erklärlich, daß mitunter längere Zeit hindurch der wissenschaftliche Fortschritt in England überaus langsam ist. In den meisten Fällen zeigten mir nämlich sene Einblicke in die Personal­

verhältnisse und die Besoldungen, daß die obersten leitenden Per­ sonen sehr glänzend gestellt waren, während das übrige Personal sich fast ausschließlich in sehr beschränkten Lebensverhältnifsen befand

und dementsprechend subaltem und meistens ohne tiefere wissenschaft­ liche Bildung arbeitete. Es kam mir dadurch zum deutlichsten Be­ wußtsein, daß es Deutschlands Vorzug und seine besondere Kultur­ mission sein müßte, auch die Verwaltungsinstitutionen sowie Handel

und Industrie immer mehr mit wissenschaftlich durchgebildetem Personal zu erfüllen und dadurch empor zu heben.

Dies ist denn

auch wirklich in den letzten Jahrzehnten des verflossenen Jahrhunderts in immer reicherem Maße geschehen, sowohl mit Hilfe der Uni­ versitäten, als auch der technischen Hochschulen und vieler anderen

fachlichen Bildungsinstitute, als deren Gipfelung die physikalisch­

technische Reichsanstalt geschaffen wurde. Nur eines von den andern Kulturländern ist uns bisher auf diesem Wege gefolgt und hat uns

sogar auf einigen Gebieten darin übertroffen, nämlich Nordamerika, dessen leitende Intelligenzen zum großen Teil den belebenden Hauch für diese Entwicklung auch auf den deutschen Universitäten empfangen haben. In Nordamerika hat sich dann der so schnell emporgekommene

große Reichtum, sogar auf einem Arbeitsgebiete der idealsten Art,

nämlich in der Astronomie, an die Spitze der Kulturbewegung gestellt,

wogegen Deutschland sich einen sogenannten Welterfolg auf deni Gebiete der eminent irdischen Leistungen der chemischen Industrie, mit Hilfe einer echt wissenschaftlichen Belebung ihres Personals

erwirbt. Neben Deutschland und Nordamerika haben sich jedoch in neuester Zeit auch die skandinavischen Länder zu ungewöhnlicher wissenschaft­

lich-technischer Leistung erhoben, während auch England, Frankreich und Italien jetzt begonnen haben, ihre hohe Intelligenz sorgsamer durch pädagogische wissenschaftliche Organisationen zu verwerten.

121 Im Jahre 1872 begannen sodann im Anschlüsse an meine Pflichten und Aufgaben für das Eichungswesen auch meine Be­

mühungen für die Hebung der deutschen Präzisionstechnik auf bem Gebiete der wissenschaftlichen Meßinstrumente der verschiedensten Art, zunächst insbesondere auf dem Gebiete der Thermometrie und

der Optik. Eine persönliche Verbindung wurde mir hierdurch eröffnet mit einem Manne, dessen Freundschaft zu den beglückendsten Er­ innerungen meines Lebens gehört: nämlich mit Professor Abbe in Jena, dessen ganze wissenschaftliche und industrielle Tätigkeit alsbald auch für die Organisation der deutschen Präzisionstechnik von hoher

Bedeutung wurde.

J5- Kapitel. Die Vorbereitung der Beobachtungen der venusburchgänge. Familienverhältnisse in den Jahren 1872—1873.

Meine

Schon im Jahr 1872 begann sodann für mich eine besondere

Wirksamkeit im Interesse der Vorbereitung der deutschen Expedi­ tionen für die Beobachtungen des Venusdurchgangs, welche für die Jahre 1874 und 1882 bevorstanden. Der bedeutende, wissenschaftlich

erleuchtete Mann, welcher damals an der Spitze der deutschen Adiniralität stand, Herr von Stosch, bestens beraten und unterstützt

durch Georg Neumaher, der damals soeben in der wissenschaftlichen

Entwicklung der deutschen Marine festen Fuß gefaßt hatte, eröffnete uns, unter freudiger Zustimmung des Ministers Delbrück und auch mit vollem Einverständnis Bismarcks, die Hoffnung, daß das deutsche Mich

seinen

Astronomen

die

Mittel

bewilligen

werde,

um

an geeigneten Stellen der Erde uns an der großer! gemeinsamen Kulturaufgabe der Beobachtung jener Erscheinungen zu beteiligen.

In der Kommission, welche vom Reiche für die Vorbereitung dieser Expeditionen eingesetzt wurde, hatte ich auch die besondere

Freude, mit meinem teuren Schwiegervater, Geheimrat Paschen ^Schwerin), zusammen arbeiten zu können. Dieser ausgezeichnete Mann, der nahezu

zwei

Jahrzehnte lang die Mecklenburgische

122 Landesvermessung in hervorragender Weise geleitet hatte, war da­

mals mit einer vollkommeneren Ausnutzung der Photographie für seine kartographischen Aufgaben beschäftigt, und es bestand die Ab­ sicht, bei den bevorstehenden Beobachtungen des Durchgangs der

Venus vor der Sonnenscheibe insbesondere auch die Photographie

in vollstem Maße auszunutzen und hierzu auch alle Methoden und Einrichtungen zur feinsten Ausmessung von photographischen 'Auf­ Diese Aufgabe berührte sich

nahmen tunlichst zu vervollkommnen.

aber auch mit meiner Tätigkeit auf dem Gebiete des Maß- und Ge­

wichtswesens, und so ergab sich ein höchst erfreuliches Zusammen­ wirken mit dem verehrten Schwiegervater. Wir beide übernahmen also in der Reichskommission die Fürsorge für die photographische Ausrüstung unserer Expeditionen, übrigens schon

sendung der

eine Ausrüstung, für die ich

int Jahre 1868 bei der oben

astronomischen

Expedition

erwähnten Ent­

nach Aden

zu

sorgen

gehabt hatte. Sei es mir bei dieser Gelegenheit gestattet von Geheimrat Paschen noch einige Worte dankbarster Erinnerung zu sagen.

Er hatte mir vom Beginn unserer Bekanntschaft ab,

welcher im Jahr 1864 bei der ersten Generalkonferenz der Grad­ messung stattfand, durch alle die stark bewegten Jahre dieser meiner

Lebenszeit hindurch mit seiner teilnehmenden Freundschaft und Weisheit, sowie mit seinem hohen wissenschaftlichen Sinn unsägliche Wohltat erwiesen.

Friedrich Paschen, einer mecklenburgischen Be­

amtenfamilie im Jahre 1804 entsprossen, hatte um 1825 in Göttingen

Jura studiert, in welcher Zeit die akademische Wirksamkeit des großen Mathematikers und Astronomen Gauß dort noch auf der Höhe war,

und der junge, mathematisch hochbegabte Jurist hatte sich dort die

Mittel abgespart, um ein sehr kostspieliges Privatissimum bei Gauß zu hören, womit er dann seinem ganzen Leben eine besondere Weihe

gab, indem er, über die gewöhnliche Beamtenlaufbahn hinausstrebend, die noch ganz unfertige Landesvermessung feines Heimat­

landes in die Hände bekam und dieselbe dann in großem Stile nach den neuen Gaussischen

Lehren

durchführte. Er sollte aber die

Erprobung unserer vorbereitenden Arbeiten nicht erleben, denn er schied schon im August 1873 aus dem Leben.

123

Die Einrichtungen bewährter: sich bei dem im Dezember 1874

cintretcnden Durchgang der Venus vor der Sonnenscheibe in jeder Weise, und auch die Einrichtungen zu der darauf folgenden Aus­ messung der Photographien arbeiteten durchaus befriedigend, aber cs blieb dem Dahingeschiedenen erspart zu erfahren, wie völlig un­

geeignet die photographischen Aufnahmen dieses Phänomens für das Problem waren, zu dessen genauester Lösung sie beitragen

sollten. Wir hatten uns bei den Vorarbeiten besonders bemühen müssen, die Wirkungen des Sonnenlichts auf die photographische Platte auf die kleinste Zeitdauer einzuschränken, und es war auch erreicht worden, die Belichtungsdauer der Platte ein Zehntausendstel

der Sekmide nicht übersteigen zu lassen.

Nur so konnten wir scharf

begrenzte Bilder der Sonnenscheibe und der auf ihr sichtbaren Details

(Flecken und Fackeln) erlangen. Als wir nun aber an die feinste Aus­ messung der photographischen Sonnenaufnahmen unserer Venus­

expeditionen von 1874 gingen, stellte sich unzweifelhaft heraus, daß die photographischen Augenblicksaufnahmen der Sonnenbilder für die feinsten Messungsresultate völlig untauglich sind, und zwar wegen der bis dahin noch garnicht genügend erkannten enormen Schwan­

kungen, welche die Fortpflanzungsrichtung der Lichtstrahlen durch die unablässigen Veränderungen der Zustände der verschiedenen Atmosphärenschichten erleidet.

Bevor man solche genaueste Mes­

sungen von Aufnahmen der Sonne gemacht hatte, deren Zeitdauer

unterhalb eines Zehntausendstels der Sekunde lag, hatte man noch gar keine Ahnung gehabt von der Größe dieser Augenblicksschwan­

kungen der Strahlungsrichtungen; denn für die Wahrnehmung in

unserm Auge ist überhaupt eine Dauer von nahezu dem tausend­ fachen Betrage jener äußerst kurzen Belichtungsdauer, nämlich von etwas mehr als einem Zehntel der Sekunde, erforderlich, um uns

dieselbe überhaupt zum Bewußtsein zu bringen so daß wir über­

haupt niemals Augenblicksbilder in obigem Sinne mit dem Auge wahrnehmen können, sondem nur mittlere, durch Zusammenwirken

von zahlreichen Augenblickseffekten in ihren Schwankungen schon wesentlich ausgeglichene Eindrücke. Auf einigen photographischen Aufnahmen des Erscheinens der dunklen Venusscheibe vor der so

124

enorm Hellen Sonnenscheibe, wie sie auch von unserer Expedition nach der Aucklandsinsel bei Neu-Seeland im Jahr 1874 ausgeführt

worden waren, erwies sich jene verzerrende Augenblickswirkung unserer Atmosphäre auf die Richtung der aus dem Himmelsrauni

kommenden

Lichtstrahlungen als so stark,

daß zum Beispiel die

kreismnde dunlle Benusscheibe innerhalb der Sonnenscheibe zu einem ganz unregelmäßigen Fünfeck verzerrt war, wobei natürlich von einer genauen Ausmessung der augenblicklichen Lage des Benusmittelpunktes gegen den Sonnenmittelpunkt gar keine Rede

sein konnte. Diese Erfahrung trug aber dazu bei, zur vollen Klarheit zu bringen, daß die höchste Bedeutung der Photographie für Messungen ani

Himmel durch das entgegengesetzte Verfahren zu sichem sein mußte, nämlich durch die Dauer- Photographie, also dadurch, daß man von einem und demselben Himmelslichte die Strahlungen längere Zeit hindurch auf eine und dieselbe Stelle der photographischen Platte einwirken läßt. Hierdurch werden die unablässigen Schwankungen der Ablenkung, welchr die Strahlen beim Durchgang durch die so veränderliche Atmosphäre erleiden, zu einer gewissen mittleren Wir­

kung ausgeglichen, und es entsteht dann auf der photographischen Platte die Abbildung jedes leuchtenden Himmels Punktes, wie

eines Fixsternes, nicht in Gestalt eines Punktes, sondern in Gestalt einer keinen kreisförmigen Scheibe, deren Mttelpunkt dann die eigentliche sicherste Ortsbestimmung gibt. Für solche Dauerphoto

graphie ist es natürlich unumgänglich, daß das Instrument, welches die photographische Platte trägt, durch Uhrwerk usw. genau den Be­ wegungen der Himmelsobjekte folgt. Bei photographischer Aus­ nahme der Sonne kann aber natürlich von Dauerphotographie keine

Rede sein, weil deren Strahlungen, wenn sie eben nicht auf die kürzestmöglichen Belichtungszeiten eingeschränkt sind, die photo­ graphische Schicht der Platte vollständig zersetzen. Dem könnte nur dadurch abgeholfen werden, daß man die Intensität der Sonnenstrahlen, bevor man sie auf die Platte ge­

langen läßt, auf einen äußerst Keinen Teil abschwächte, aber eine solche Schwächung ist nicht durchführbar, ohne auch die mittlere

125 Richtungder Sonnenstrahlen, die man ja gerade bei der feinsten

Messung festlegen will, merklich und in schwer bestimmbarer Weise zu ändern.

Im Jahre 1873 erlebte ich außer dem Dahinscheiden meines lieben Schwiegervaters noch anderes schweres Herzeleid und tiefe Trauer durch das Dahinscheiden meines lieben Vaters, das unter höchst

bedrängenden Familienverhältnissen erfolgte. Die Jahre des politischen Aufschwunges von Deutschland hatten, trotz der vielen Störungen, welche die kriegerischen Zeitläufte in Handel und Industrie verur­

sachten, doch bald nach dem Frankfurter Frieden ein jähes Empor­ gehen der Industrie und der Spekulation hervorgebracht, indessen

waren die Bedingungen für eine solide Entwicklung dieser 9(rt auf dem Weltmärkte infolge der vorangegangcnen Krisen noch so sragwürdig, daß im Jahre 1873 ein tiefgehender Rückschlag in Gestalt einer höchst bedrückenden Geld- und Äreditkrisis eintrat. Mein Vater

und meine Brüder hatten in dem vorangehenden Jahrzehnt ihr

Tuchgeschäft stark erweitert und schließlich ihre großen Fabriken einer Aktiengesellschaft übergeben, und eine von meinem ältesten Bruder begründete Bankunternehmung in Aktienform war hinzu­ gekommen. Diese neuen Aktienfirmen waren natürlich dem Ansturm

der Geschäftskrisis am meisten ausgesetzt.

Mein Vater hatte sein eigenes Vermögen fast ganz in der neuen Tuchfabrik-Aktiengesell­

schaft belassen, so daß er, angesichts des immer unabwendbarer drohenden Zusammenbruchs der ganzen Unternehmung seine voll­ ständige Verarmung voraussah.

Dieser Zustand der Dinge war mir, bis zum Herbst 1873, noch nicht in seiner ganzen Gefährlichkeit bekannt, so daß ich nach den: Tode meines Schwiegervaters in den letzten Augusttagen dem Zu­ reden meiner Gattin und meines Freundes Herzog folgte und eine

mehrwöchentliche Schweizer Reise, zur Erholung von der schweren

Arbeit der vorangegangenen Jahre, mit ihm antrat. Durch unaus­ sprechlich liebevolle Briefe meiner Gattin beglückt, und von der näheren Kenntnis der inzwischen zunehmenden Verwicklungen in Grünberg ferngehalten, genoß ich diese Reise mit dem teuren Freunde noch wie einen herrlichen Lichtblick, auf den allerdings nach der Rück-

126 kehr Kummer und Trauer ohnegleichen folgte.

Inzwischen hatte

nämlich der Gesundheitszustand meines Vaters unter der Wirkung

der geschäftlichen Bedrängnisse eine verhängnisvolle Wendung ge­ nommen, und der Zusammenbruch des Geschäftes war trotz des Ansehens meines Vaters und der geschäftlichen Energie meiner Brüder

Fritz und August immer näher gerückt, so daß ich auch selber in einem kritischen Moment in Mitleidenschaft geriet.

Der Tod erlöste den

teuren Vater, noch bevor die Katastrophe eintrat, am Ende eines

höchst

ehrenwerten und arbeitsvollen Lebens, das wohl auch über­

wiegend reich an Lebensfreude und durch seine treue Güte so tief beglückend für die ©einigen gewesen war. Sehr ernste Sorgen kamen natürlich durch diese trauervollen

Vorgänge auch noch für lange Jahre in mein eigenes Leben, zumal da meine beiden Brüder Fritz und August noch jahrelang mit ge­

schäftlichen und gerichtlichen Nöten infolge jenes Zusammenbruches

zu kämpfen hatten, bis es ihnen endlich beschieden wurde, eine voll­ ständige gerichtliche Ehrenerklärung für ihr ganzes Verhalten zu er­ langen.

J6. Kapitel. Die

Begründung

des

Recheninstitutes.

Der

Kronprinz

Friedrich

Wilhelm. Die Sonnenwarte und die Präzisions-Technik. Die Berufung von Georg Neumayer.

I« den Jahren 1873 und 74 gelang es, die schon oben kurz

erwähnte

bedeutende

Erweiterung

der

astronomischen

Arbeits­

organisation in Berlin zu erreichen, indem der Sternwarte tüt

astronomisches Recheninstitut angegliedert wurde, für welches auf den:

Sternwartengrundstück

stand.

ein

besonderes

Dienstgebäude

ent­

Mit diesem Institut wurde zugleich ein Seminar für die

Ausbildung im wissenschaftlichen Rechnen verbunden, welches eine erhebliche Erweiterung des mathematischen Unterrichts der Uni­

versität darstellte. Mit der Leitung des Recheninstitutes wurde der ausgezeichnete Mitarbeiter Professor Tietjen betraut, der mir, wie

ich oben schon erzählte, entscheidende und unschätzbare Hilfe bei der emporgehenden Entwicklung des Berliner Astronomischen Jahrbuchs

geleistet hatte. Auch an einer andem Stelle des Sternwartengartens erhob

sich um diese Zeit ein neues Gebäude, dessen Eindringen in diese Gartenfläche geringere Zustimmung bei meinen astronomischen Kollegen fand. Das Reich bewilligte nämlich im Hinblick auf meine

Tätigkeit als Verwalter des deutschen Maß- und Gewichtswesens die Errichtung eines Zentralgebäudes für die Normal-Eichungs­ kommission in der Nähe des Sitzes meiner astronomischen Amts­

tätigkeit, und es wurden hierbei in großem Stile auch mehrere wesentlich vervollkommnete instrumentale und bauliche Einrich­

tungen für die feinsten Messungen und Wägungen, einschließlich

128 ganz neuer Einrichtungen für Temperaturmessungen und für die

Sicherung konstanter Temperaturen getroffen. Diese Präzisions­ einrichtungen kamen dann auch der Sternwarte in mannichfacher

Weise zugute, unter anderem bei den Vorbereitungen zu der photo­ graphischen Ausrüstung der Venusexpeditionen, sodann auch bei der Entwicklung des öffentlichen Zeitdienstes in Deutschland und den

damit in Verbindung stehenden Untersuchungen der Schwingungs­ bedingungen von Pendeluhren, deren Herstellung und Erprobung

für die Ausrüstung der Zeitsignalstationen an den deutschen See­ küsten ich damals auch zu übernehmen hatte. Um diese Zeit setzten auch die Bestrebungen und Verhandlungen ein, welche teils in Verbindung mit der Sternwarte, teils im Zu­ sammenhang mit der Leitung des Maß- und Gewichtswesens auf eine Vervollkommnung der astrophysikalischen Einrichtungen in Berlin

und sodann auch auf eine Begründung zentraler Einrichtungen für die Hebung der physikalischen Präzisionstechnik gerichtet waren. Nach beiden Seiten hin war es der Kronprinz Friedrich Wilhelm, welcher in hohem Sinne anregend, ja fast schöpferisch wirkte. Er hatte in jungen Tagen zwei Lehrer gehabt, welche Überzeugungen

und Ideale erhebendster Art in seine Seele gepflanzt hatten: näm­ lich E r n st C u r t i u s auf dem Gebiete der Kulturgeschichte und der darin wurzelnden tiefsten Kulturbestrebungen in Kunst und Wissenschaft und Schellbach, einen mathematischen und phy­

sikalischen Lehrer und Forscher, der ihm einen Blick eröffnet hatte in die Herrlichkeiten der exakten naturwissenschaftlichen Erkenntnis.

Kronprinz Friedrich Wilhelm hatte sich in den bewegten Jahren, die seit der Zeit jenes Jugendunterrichts verflossen waren, immer mehr von der militärisch-reaktionären Geschichts- und Kulturaus­ fassung, die in seinen hohen Regionen, zumal nach den großen krie­

gerischen Erfolgen dominierte, innerlich ganz abgewendet, und er

begann nun, unmittelbar nach den Kriegen es als seine heilige Auf­

gabe zu betrachten, den Ehrgeiz der geeinigten deutschen Nation auf die dauernden höchsten Ideale des Gemeinschaftslebens zu richten und dadurch an seinem Teile die Gefahren chauvinistischer Entwicklungen bekämpfen zu Helsen.

129 Mit seiner eifrigsten Hilfe gelang es C u r t i u s, neue Bahnen der archäologischen Forschung durch den Beginn der olym­

pischen Ausgrabungen zu eröffnen. Auf seine Anregung und mit seiner unablässigen Befürwortung bei den leitenden und derwaltenden Stellen gelang es ferner, die ersten Spatenstiche zu tun für die Begründung des großen astrophysikalischen Instituts zu Pots­ dam und weiterhin der physikalisch-technischen Reichsanstalt. Diese

Anfänge gestalteten sich zunächst in einer Denkschrift (vom 27. Sept. 1871), betreffend die Errichtung einer „Sonnenwarte", wozu ich in seinem Auftrage die Anregung durch Professor Schellbach erhielt, der seinerseits einen ersten Anlaß dazu von feiten des Sonnen-

fleckenforschers Professor Spörer in Anllam empfangen hatte, und späterhin durch eine Denkschrift, welche Professor Schellbach

selber, mit lebhafter Zustimmung des Kronprinzen, zugunsten der

Hebung der deutschen Präzisionstechnik durch staatliche Veranstal­ tungen, verfaßte, und für welche er alsdann im Namen des Kron­

prinzen die Unterschriften einer Reihe der bedeutendsten Gelehrten Berlins einholte.

Was zunächst das Projekt einer Sonnenwarte betraf, so gewannen

Schellbach und ich noch einen besonders warmen Freund und Mit­ arbeiter an Georg Neumayer, von dessen Eintritt in die wissenschaft­ lichen Unternehmungen der deutschen Marine und von dessen Mit­ wirkung beider Vorbereitung der überseeischen Benusexpeditionen ich

oben schon erzählte. Durch die Epoche machenden Forschungen von Bunsen und Kirchhoff und durch die Beobachtungen von Jansen

(Paris), Zöllner (Leipzig) und Huggins (London) hatte insbesondere auch das Interesse an den merkwürdigen Vorgängen auf der Sonne,

hauptsächlich an den Flecken, den Fackeln und den dazwischen her­ vorbrechenden Glutsäulen, den sogenannten Protuberanzen, mächtig

zugenommen. Zugleich hatte man, in Verbindung mit den zuerst durch Humboldts internationale Organisationsarbeit lebhaft ange­ regten erdmagnetischen Forschungen, immer deutlicher erkannt, daß

zwischen gewissen Phasen jener Vorgänge auf der Sonne und ge­ wissen außerordentlichen Erscheinungen im Gebiete des Erdmagne­ tismus sehr deutliche Zusammenhänge walteten. WNh. Foerster. Leben-erinnerungen.

Nicht nur ließ sich 9

130 die nahezu elfjährige Periode der Wiederkehr gesteigerter Meckenund Fackelerscheinungen auf der Sonne auch in dem entsprechenden Verlaufe der Steigerung erdmagnetischer Erscheinungen erkennen, zu denen auch das Erscheinen besonders glänzender Polarlichter am Himmel und mächtiger elektrischer Erdströme in den Telegraphen­ leitungen sich gesellte, sondern auch fast alle nicht periodischen außer­

ordentlichen Vorgänge auf der Sonne fanden sozusagen ihren Widerhall in magnetischen und elektrischen Erscheinungen auf der Erde. Dieser Zusammenhang war es, welcher das Interesse unseres Freundes Neumayer in lebhaftester Weise auch der Begründung eines Institutes für verfeinerte und unablässige Sonnenbeobachtungen

zuwendete. Georg Neumayer, aus der Rheinpfalz gebürtig, hatte bei seinem Universitätsstudium in München eine für seine Lebens­

arbeit entscheidende Anregung von dem, damals dort wirkenden, sehr verdienstvollen Forscher auf dem Gebiete des Erdmagnetismus, Professor Lamont, empfangen. Er hatte es sich alsdann, lebhaft

ermutigt durch Alexander von Humboldt, zur Aufgabe gestellt, der Erforschung des Erdmagnetismus und der Luftelektrizität und damit

überhaupt der geophysikalischen Forschung, welche auch die Wetter­ kunde mit umfaßt, zu dienen. Dabei war er sich sofort klar geworden,

daß diese Forschungen einesteils von größter Bedeutung für die Sicherung der Schiffahrt sein würden, andernteils aber auch ohne

große überseeische Forschungsreisen und ohne andauernden Auf­ enthalt in den fernsten Erdgegenden, einschließlich der Polregionen, nicht in entscheidender Weise gefördert werden könnten. So wurde sein Leben zu einem rastlos hingebungsvolle Dienste im Bereiche

der wissenschaftlichen Förderung und Sicherung der Schiffahrt und der physikalischen Erforschung der ganzen Erde. Er ging zunächst als

Matrose in den praktischen Schiffsdienst, brachte es dort in längeren

ozeanischen Reisen bis zum Steuermann und Schiffsführer, ließ sich dann für mehrere Jahre in Australien nieder, wo er, unterstützt durch Humboldts frühere Anregungen bei der englis chen Regierung,

zu Melbourne ein Meteorologisch-Magnetisches Observatorium errichtete, welches dauernd eine blühende Forschungsstätte wurde, und kehrte dann nach längerer Seefahrt wieder nach Deutschland

131

zurück, wo er um 1864 mit der neuen Zeit politischer Zusammen­ fassungen auch das Emporblühen einer deutschen Marine kommen

sah.

Er gelangte dann endlich, nachdem das geeinigte Deutschland

die Entwicklung der Marine und der wissenschaftlichen Meeres­ forschung durch Zusammenwirken von Handels- und Kriegsschiffahrt

kräftig in die Hand genommen hatte, endlich an die rechte Stelle, nämlich an die Spitze der deutschen Seewarte, eines Institutes, das zunächst mit Privatmitteln von einem lebhaften Anhänger der auch von Neumayer verkündeten wissenschaftlichen Organisation der

Nautik, W. v. Freeden, errichtet worden war, dann aber in den

Reichsdienst überging und nun der geeignetsten Leitung übergeben wurde, nachdem Neumayer zunächst eine Zeitlang vorbereitend in der hydrographischen Abteilung der deutschen Admiralität gewirkt

hatte. In betreff der letzteren Entwicklungsstufe möchte ich wohl eine

Keine Geschichte einschalten, welche für Personen und Zustände jener Zeit so ehrenvoll charaKeristisch ist, daß ich den üblen Schein auf mich nehmen darf, als ob ich mich damit rühmen wolle. Der erleuchtete Chef der neuen deutschen Marine, Herr v. Stosch, hatte für die Erweiterung der wissenschaftlichen oder sogenannten

hydrographischen Abteilung der Admiralität eine Erhöhung seines Etats verlangt, die damals, es war im Frühjahr 1872, in den Etats­

beratungen des Reichstags zur Diskussion stand.

In die dadurch zu

schaffende wissenschaftliche Stellung gehörte nach meiner Ansicht niemand anders hinein als Neumayer, der sich damals in wissenschaft­

lich-literarischer Tätigkeit in Berlin aufhielt, zugleich beschäftigt mit der Bearbeitung seiner australischen und ozeanischen Beobachtungen.

Nun wurde ich durch Universitätskollegen davon unterrichtet, daß

Herr von Stosch sich bereits an einen jüngeren Assistenten von treff­

licher Leistung auf dem Gebiete der Meteorologie, aber auch nicht entfernt vergleichbar mit Neumayers Bedeutung auf dem um­

fassenden Felde der gesamten hydrographischen und geophysikalischen Forschung, gewandt habe, um ihm die neu zu begründende Stellung in der hydrographischen Abteilung anzubieten. Um diesen Mßgriff zu verhüten, glaubte ich, als Vertreter der den nautischen Gebieten

9*

132 nahestehenden astronomischen Arbeit, mich befugt genug, bei Herm von Stosch Einspruch zu erheben. Ich wagte sogar, am Schluß

meines Briefes die Bemerkung zu machen, daß wenn bei dieser Berufung jetzt Neumayer einer fast ganz unerprobten und auf dem fraglichen Gebiete noch unbetonten Kraft nachgesetzt würde, man kaum die Horazische Bemerkung unterdrücken würde: „Es sei

schwer, hierüber keine Satire zu schreiben."

Umgehend erfolgte auf

diesen Brief die Einladung zu einer Besprechung mit dem Herm

Chef der Admiralität. In dieser Besprechung erklärte er unumwunden, er sei durch meine Darlegungen völlig überzeugt, daß es das allein Richtige sein würde, jetzt Neumayer in das hydrographische Amt zu

berufen; es müßten jedoch dann namhaft größere Mittel für die Dotiemng der bezüglichen Stellung bewilligt werden.

Nun liege

aber der Etat bereits der Budgetkommission des Reichstages vor, und in dieser Phase der geschäftlichen Behandlung sei es ihm selber

versagt, die Erhöhung jener Etatsposition direkt zu beantragen. Auch für die Kommission andererseits würde dies gewissen formalen Bedenken unterliegen. Aber wenn die Sache in vertraulicher Weise

richtig eingeleitet würde, sei sie wohl allseitigen guten Willens sicher. Ich sollte es doch persönlich übemehmen, mit den Tönen, die mein Brief angeschlagen habe, bei einigen der maßgebenden Herren eine

Initiative der Budgetkommission zugunsten der erforderlichen Etats­

erhöhung anzuregen.

Das lag nun sehr günstig. Ich war mit dem

Reichstagspräsidenten Simson gut bekannt und wußte, daß der Vorsitzende der Budgetkommission, Fürst zu Hohenlohe-Schillings­ fürst, für Neumayer sehr freundschaftlich gesinnt war. Beide Herren

halfen nun dem Herm von Stosch mit Freuden, und auch an den obersten Stellen des Reiches wurde die Sache sofort in großem Stile

aufgefaßt.

Und wahrlich, es war keine Heine Angelegenheit, daß

nun Neumayer nicht bloß wissenschaftlich, sondem auch an den

obersten leitenden Stellen deutsche Kulturpolitik machen half. Höchst verständnisvoll geschah dies auch in den ersten Stadien des Pro­ jektes der „Sonnenwarte" oder des „astrophysikalischen Observa­

toriums", wie das Institut weiterhin benannt wurde. Besonders eifrig aber half Neumayer auch bei der Vorbereitung der über-

133

seeischen Venusexpeditionen, und wie wurde er später die Seele der Veranstaltung für internationale Polarforschung, die sich bald an

die Venusexpedition von 1882 anschloß, ebenso wie für die bedeut­ same wissenschaftliche Forschungsreise im indischen und im großen

Ozean, mit welcher im Anschluß an die Venusexpedition von 1874

unter der Fühmng von Kapitän von Schleinitz das deutsche Kriegs­ schiss „Gazelle" betraut wurde. Auch gerade in den ersten Stadien der Initiative Schellbachs und des Kronprinzen zur Förderung der deutschen Präzisionstechnik

war Neumayers Mitwirkung von großem Werte. Seine Erfahmngen und seine Projekte auf dem Gebiete der geophysikalischen Forschung

über Land und Meer, ebenso wie die Erweiterung und Vertiefung der Landesvermessungen und der astronomischen Ortsbestimmungen

durch die von General Baeyer geschaffene Gradmessungsorganisation verlangten und bewirkten einen Aufschwung der Genauigkeitsfordemngen bei den instmmentalen Einrichtungen der verschie­

densten Art. Dem Kronprinzen war es auch durch Schellbachs Mitteilungen von der hohen Bedeutung und der freudigen Aufnahme der in Heidelberg durch Kirchhoff und Bunsen so epochemachend vervoll­

kommneten Erkenntnis der Lichterscheinungen so recht zum Bewußt­

sein gekommen, daß auf dem Gebiete der feinsten Messungen und der Herstellung der feinsten Messungsmitte eine besondere Mission

der germanischen Volksseele liegt. Nachdem die schon recht wertvollen Leistungen der altgriechischen

und der arabischen Wissenschaft auf diesem Gebiete durch Spanien, Südsrankreich und Italien nach Mtteleuropa vorgedrungen waren,

hatte sich alsbald, int vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, eilte besonders reiche und neue Blüte der Präzisionsmechanik in

Süd- und Westdeutschland und in den Niederlanden entwickelt, und unt die Mitte des fünfzehnten bis zum Anfänge des siebzehnten Jahrhunderts war es hauptsächlich Nürnberg, neben Augsburg und Ulm, welches für die ganze Kulturwelt, einschließlich der durch die

kühnen Seefahrten der großen Entdecker eröffneten neuen Länder,

der Mittelpunkt der instrumentalen Technik wurde, wie auch der

134 Kartographie und überhaupt der in denselben Regionen Deutschlands

zuerst emporgekommenen buchdruckerischen Technik. Hiermit hing auch der Aufschwung zusammen, welchen kurz vor Kopernikus die astronomische Messung um 1470 durch Johannes Müller aus Königsberg in Franken (wonach er Regiomontanus ge­ nannt wurde) in Nürnberg nahm, ein Aufschwung, welcher auch für die Lehre des Kopernikus von förderlichster Bedeutung wurde.

Dann kamen über Deutschland die schrecklichen Zeiten der Reli­ gionswirren, welche jene reiche Kultur bis gegen Ende des achtzehnte Jahrhunderts lahmlegten. Inzwischen aber erschien in Verbindung mit der Schiffahrt in den Niederlanden und in England, aber auch in Frankreich eine immer reichere Blüte der Präzisionstechnik, bis endlich vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts ab unter eifrigster

Mitwirkung des Wittelsbachischen Fürstenhauses auch in Deutsch­ land wieder eine aufsteigende Bewegung im Gebiete dieser Technik, welche die Seele des Gewerbfleißes bildet, sich entwickelte, zunächst gipfelnd in dem Genius des Münchener Optikers Fraunhofer.

Bald nach der Mtte des neunzehnten Jahrhunderts begann indessen nicht bloß in Deutschland, sondern in allen Kulturländern, trotz des mächtigen Emporgehens der naturwissenschaftlichen For­ schung wieder eine deutliche Erlahmung der Leistungsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen Lage der höchsten Zweige der Präzisionstechnik.

Und zwar trug die Schuld dieses Rückganges gerade der große Aufschwung der Industrie auf allen andern Gebieten. Die durch Eisenbahn und Telegraphie und durch die ganze neue Maschinenindustrie mächtig gesteigerten Aussichten auf Erwerbs­ tätigkeit und Bereicherung entzogen jetzt den feinsten und mühevollsten Zweigen der wissenschaftlich-technischen Arbeit immer häufiger und

allgemeiner die strebsamsten und begabtesten der jüngeren Mtarbeiter, während doch die erhöhten Genauigkeitsforderungen der Wissen­ schaft eine immer stetigere und selbstlosere Hingebung an die letzten Feinheiten der gestaltenden Arbeit und der schließlichen experimen­

tellen Vollendung derselben verlangten. Es kam hinzu, daß in mehreren Zweigen der Jnstrumental-

technik auch die Güte und Solidität einiger der wichtigsten Materialien,

135 deren dieselben bedürfen, durch die große Entwicklung der Industrie einen immer deutlicheren Verfall zu erleiden begannen. Insbesondere

betraf dies Glas und Stahl. Die Fabrikation von Glas und Stahl erlitt diesen Verfall durch das Emporgehen der Massenfabrikation in solcher Weise, daß als

entscheidende Faktoren für eine angebliche Vervollkommnung der Herstellung von Glas und von Stahl nicht mehr diejenigen Eigen­ schaften und Leistungen in den Vordergrund traten, welche bei der Anwendung des Glases in der Optik, in der Thermometrie usw., sowie bei der Anwendung des Stahls zu der Herstellung von Dre­ hungsachsen, von Räderwerken, von elastischen Federn, von schwin­

genden Spiralfedern, von feinen Messungsschrauben usw. die maß­ gebenden sind, sondern daß eine Zeitlang diejenigen Zusammen­ setzungen und Arten der Herstellung vorherrschten, welche die größte Einfachheit und Gleichmäßigkeit der Fabrikation und die günstigste

wirtschaftliche Ausnutzung der Rohmaterialien ermöglichten. Hierdurch aber geschah es, daß man die Besonderheiten der stofflichen Zusammensetzung derjenigen Teile der Meßwerkzeuge nicht mehr gehörig beachtete, bei denen man am meisten auf die

Beständigkeit der Formen und Dimensionen und der ganzen Struktur der Glas- und Stahlteile zu rechnen angewiesen war.

Am deut­

lichsten machte sich dieser Verfall zunächst bemerkbar bei den Arbeiten der Normal-Eichungskommission, bei denen die größere Genauigkeit der neueren Anforderungen an die Vergleichung von Längenmaßen

auch eine Verschärfung der Temperaturmessungen dringender ver­ langte. Da ergab sich schon in den ersten Jahren der neuen deutschen Eichungseinrichtungen, daß die neuesten, aus den besten Präzisions­ werkstätten hervorgegangenen Thermometer, bei denen das Glas­

material aus den Fabrikationsstellen von notorisch größtem und rationellstem Betriebe

bezogen war,

bereits

nach kurzer Zeit

unerträglich große Fehler zeigten. Nähere Untersuchungen, die ich seitens der Normal-Eichungskommission sofort in Gang brachte, ließen bald als den Kern des Übels eine chemische Zusammensetzung des betreffenden Glases erkennen, welche allerdings die Verarbeitung

der Glasflüsse wesentlich erleichtette, aber dafür die geformten und

136 erkalteten Glaskörper mit einer viel größeren Veränderlichkeit der Form und der Stmktur behaftete, als die früheren Glasfabrikate

je gehabt hatten. Ganz ähnliche Erfahrungen machten wir damals auf der Set­ liner Sternwarte mit einer anderen Att von Präzisionsglasinstru-

menten, den sogenannten Libellen, nämlich geschlossenen Glas­

gefäßen von sehr regelmäßiger Formgebung der inneren Flächen (Kugelflächen oder hauptsächlich tonnenförmig zylindrischen Flächen).

Diese Gefäße werden mit gewissen Flüssigkeiten, z. B. Spiritus oder Äther, derattig gefüllt, daß, nach der Abkühlung der die Ge­ brauchstemperaturen erheblich übersteigenden Füllungstemperatur, sich durch die Zusammenziehung der Flüssigkeit ein kleiner, nahezu

leer erscheinender, nämlich nur mit dem Berdampfungsprodutt der Flüssigkeit erfüllter Raum, in Gestalt einer sehr regelmäßig geformten Blase, bildet, und der Mittelpunkt dieser Blase markiert dann an der mit feiner Stticheinteilung versehenen gekrümmten Fläche den jeweilig höchsten Punft des inneren Flächenverlaufes, nämlich den Punkt, in welchem die durch den Krümmungsmittelpuntt der Fläche gelegte Parallele zur Richtung der Schwere die Fläche trifft.

An solchen Libellen kann man z. B. die Lage der Drehungs­ achsen von Jnstmmenten zur Richtung der Schwere mit einer viel

größeren Genauigkeit erkennen und messen, als mit den feinsten andern Mtteln der Winkelmessuug, aber doch nur dann, wenn die

innere Glasfläche so vollkommen stetig und regelmäßig geformt ist, daß sie der Ortsverändemng und Einstellung der Flüssigkeitsränder der Blase nicht die leiseste Hemmung oder Unstetigkeit entgegensetzt. Nun hatte sich aber immer deutlicher herausgestellt, daß die Glas­

flächen neuester Fabrikation infolge von allmählichen Entmischungen an ihren Oberflächen jene vollendete Zartheit und Beständigkeit der Struttur nicht entfernt mehr in dem früher schon erreichten Grade besaßen. Und auch hierfür fand sich bald die Erklämng in der neueren chemischen Zusammensetzung des bezüglichen Glasmaterials.

Durch das Zusammenwirken eines Mtarbeiters der NormalEichungskommission, Wiebe, und des Professors der Chemie an der Technischen Hochschule, Weber, sowie des Dr. Schott, der

137 in Jena mit Professor Abbe und den Herren Z e i ß ein glas­ technisches Laboratorium errichtet hatte, gelang es in der Tat, fest*

zustellen, daß jene an den neueren Thermometern und an den Libellen beobachteten groben Unstetigkeiten und Veränderlichkeiten der Dimen­

sionen und der Flächengestaltung der Röhren und Gefäße wesentlich davon herrühtten, daß in den Glasmassen zu erhebliche und einander zu nahe gleiche Anteile von Natron und Kali enthalten waren, wo­ durch gewisse Erleichterungen der Fabrikatton erlangt wurden, aber auf Kosten der Stabilität der Struttur- und Gestaltsverhältnisse

der Glaskörper. Es stellte sich auch heraus, daß Natron allein und Kali allein mit den Silikaten usw. in erheblichen Mengen im Glase enthalten sein können, ohne die vorerwähnten Übelstände herbeizu­

führen.

Nur die nahezu gleichwettige Mischung der bkideii Alkalien

erwies sich als die eigentliche Gefährdung der Präzisionseigenschaften

von Glaskörpern.

VT. Kapitel. Die Begründung des astrophysikalischen Observatoriums in Potsdam. Die neue Sternwarte in Straßburg.

Während diese Erfahrungen und diese Reformpläne langsam der weiteren Entwicklung entgegenreiften, deren bedeutende Ergeb­

nisse alsdann die Begründung des hochwissenschaftlichen Bettiebes der Glasfabrikation in Jena und die Schöpfung der physikalisch­ technischen Reichsanstalt wurden, von der weiterhin noch die Rede sein wird, ging es schneller voran mit der, vom Kronprinzen be­ sonders eifrig unterstützten, Begründung eines astrophysikalischen

Observatoriums in Potsdam.

Die oben von mir erwähnte Denk­

schrift vom 27. September 1871, welche ich dem Kronprinzen, sowie am 5. Ottober 1871 dem Herrn Unterrichtsminister einreichte, erfuhr

zunächst die geschäftliche Behandlung, daß sie der Akademie der Wissen-

chaften zur Begutachtung vorgelegt wurde. Sie fand aber dort mehr Bemängelung als Zustimmung; denn man hatte den Eindruck,

daß ich mit dem Entwürfe des Aufgabenkreises eines solchen Jnstt-

138

tutes allzuweit über das Gebiet meiner Kompetenz hinausgegangen war. Ich halte nämlich diese Sonnenwarte definiert als ein Institut für Beobachtung aller Vorgänge auf der Sonne und in ihrer Um­

gebung, verbunden mit vollständigen Messungen aller unmittelbaren

und mittelbaren Einwirkungen auf irdische Zustände, insbesondere

mit ^Registrierung von Beobachtungen des Erdmagnetismus, der Erdströme, der Luftelektrizität, sowie der Luft-und Bodentemperatur und des Luftdmckes, mit gleichzeitiger Berücksichtigung aller ein­ schlagenden Untersuchungen auf dem neueröffneten Gebiete der allgemeinen Physik des Himmels. Dies war ja allerdings ein Umfang

von Beobachtungsaufgaben, welcher weit über die Astronomie hin­

ausgriff, indem er die Sonnenwatte zugleich zu einem meteoro­ logischen und magnettsch-elektrischen Zentralobservatorium stempelte,

wie es damals in Deutschland noch gänzlich fehlte. Es war mir also durchaus erklärlich, daß die Akademie, deren Fühmng auf letzteren

Gebieten damals der berühmte Meteorologe Professor Dove hatte, zu

dem ganzen Projette den Kopf schüttelte, zumal da es eine Spezialität

der älteren Meteorologen war, daß sie von dem Eingreifen der Flecken- und Fackelwirtschast auf der Sonne in die irdischen Wetter­

zustände gar nichts wissen wollten und auch über die Beziehungen zwischen jener Sonnenwittschaft und dem Erdmagnetismus sehr

skeptisch dachten, während der von den neueren Entdeckungen auf

allen diesen Gebieten begeisterte jüngere Meteorologe Neumayer

ganz auf meiner Seite stand und insbesondere die baldige Errichtung eines meteorologisch-magnetischen Zentralobservatoriums für dring­ lich hielt.

Die Folge jener Meinungsdifferenzen bestand in einem wesent­ lich ablehnenden Votum der Akademie, welches die Anglegenheit bis zum Frühjahr 1873 vollständig zum Stillstand brachte. Indessen erfuhr ich im Mai 1873 authentisch, daß im Unterrichtsministerium

Und auch im Finanzministerium eine dem „wichtigen Unternehmen" geneigte Stimmung vorhanden sei, so daß ich es wagte, die weitere Entwicklung der Angelegenheit aufs neue anzuregen. In der Tat wurde ich dann unter dem 3. Juni 1873 beauftragt, mit den Herren

Auwers, E. du Bois Reymond, Helmholtz und Schellbach zu einer

139 Kommission zusammenzutreten, um für das in Anregung gebrachte Projekt einer Sonnenwarte nunmehr einen festen geldmäßigen Plan

aufzustellen und darüber mit größtmöglicher Beschleunigung Bericht

zu erstatten. Diese Kommission wurde zugleich ermächtigt, zu ihren Be­ ratungen einen Bauverständigen in der Person des Kgl. Bau­ inspektors Spieker hinzuzuziehen, und sie machte zugleich von dem ihr erteilten Rechte der Kooptation Gebrauch, indem sie auch Neumayer zu ihren Beratungen einlud, der aber leider durch dienstliche Abwesenheit an der Beteiligung verhindert wurde.

Die Denkschrift, die das ganze Projekt enger begrenzend unter dem 16. Juni 1873 von dieser Kommission dem Ministerium ein­

gereicht wurde, ist dann der Ausgangspunkt einer überaus erfreu­ lichen und großzügigen Entwicklung geworden, die schon im Jahr 1874 durch die Berufung von Professor Spörer und Dr. Hermann C. Bogel nach Berlin, zunächst im Anschlüsse an die Königliche Sternwarte,

tätig aufstrebende Gestalt gewann.

Professor Spörer hatte während seiner Studienzeit an der Berliner Universität auch schon eifrig an der Sternwarte mitgearbeitet und einige längere Beobachtungsreihen von Sternörtem höchst

sorgfältig und verständnisvoll durchgeführt.

Er war dann Gym­

nasiallehrer geworden und hatte zuletzt mit dieser seiner Tätigkeit in Anklam überaus fleißige und vollständige Beobachtungen der Sonnenflecken verbunden, übrigens auch schon im Jahre 1867 an

der von mir organisierten Beobachtungskampagne der Perseiden­

meteore trefflichen Anteil genommen. Dr. Hermann C. Vogel war unter der Fühmng von Professor

Bruhns und Professor Zöllner in Leipzig in die Astronomie ein­ geweiht worden und war dann, zusammen mit seinem Studien­ genossen, Dr. Lohse, an die Privatsternwarte des Herrn von Bülow

in Bothkamp bei Kiel berufen worden, wo die beiden ausgezeichneten Beobachter, beraten und gefördert durch ihren Lehrer Zöllner, begonnen hatten, Messungen ersten Ranges, insbesondere auf spek­ tral-analytischem Gebiete auszuführen.

140

Vogel wurde sehr bald die Seele der zunächst nach Berlin ver­ pflanzten Beobachtungstätigkeit auf diesem neuen astronomischen

Gebiete.

Es gelang sehr bald auch seinen Genossen Lohse zunächst

an die Berliner Stemwarte zu berufen, und die drei Astronomen

Bogel, Lohse und Spörer, begannen nun unter ganz idealen Be­ dingungen, nämlich unter der allgemeinen Leitung der obigen Kom­ mission und unter liberalster Förderung von feiten des Unterrichts­

und des Finanzministeriums, von der Berliner Stemwarte aus das neue „astrophysikalische" Observatorium zu bauen und auszu­ rüsten, nachdem dafür ein Bauplatz ersten Ranges auf dem Tele­ graphenberge bei Potsdam gemeinsam erkundet worden war. Zu­

gleich war der einleuchtende Gedanke bei allen Beteiligten erwacht, an die Spitze der ganzen Organisation des neuen Institutes den

Mann zu bemfen, der gemeinsam mit Bunsen die Gmndlagen der neuen Astrophysik geschaffen hatte, nämlich Gustav Kirchhoff in

Heidelberg.

In der Tat gelang es, wiedemm unter hochsinnigster

Fördemng seitens der Regiemng, Gustav Kirchhoff an die Univer­ sität und die Akademie zu bemfen. Zwar lehnte er es ab, die eigent­ liche Direktion des neuen Observatoriums zu übemehmen, weil er

seiner, inzwischen mehr nach der theoretischen als nach der experimentellen Seite vertieften Forschungstätigkeit nicht entsagen wollte,

aber er fand sich doch bereit, in eine kollegiale Direktion des Obser­ vatoriums einzutreten, in welcher er fortan, gemeinsam mit zwei andem Direktionsmitgliedern, Auwers und Foerster, die weitere Entwicklung und die spätere Betätigung des Observatoriums leiten

half.

Dieses Direktionskollegium wurde im Juli 1876 konstituiert und zwar in solcher Weise, daß die eigentliche geschäftliche Ober­

leitung von Professor Auwers übernommen wurde. Von der ferneren Entwicklung des, zu mhmvollster Mrksamkeit emporsteigenden, In­ stitutes will ich nur noch erwähnen, daß schließlich, nach Zurück­ legung der vorerwähnten Entwicklungsstufen, die Leitung des ganzen

Institutes durch Professor Herrmann C. Vogel mit glänzendem Erfolge bis zu seinem im Jahre 1908 erfolgten Tode geführt

wurde.

141 Sehr bald nachdem das astrophysikalische Observatorium in volle Tätigkeit gekommen war, wurde dann auch eine gesonderte

Fürsorge für die Begründung eines meteorologischen und mag­ netischen Zentralobservatoriums durch ein Zusammenwirken der

oben schon als Kommissionsmitglieder genannten Männer in Gang

gebracht, wobei nun insbesondere Neumayers Kompetenz in den

Vordergrund trat. Ich habe diese ganze Entwicklung in ihren wesentlichen Stufen etwas eingehender aus der Erinnemng erstehen lassen, weil sie in hohem Grade charakteristisch und ehrenvoll auch für die ganze freudige

Energie ist, mit welcher in diesen Jahrzehnten die preußische Regiemng das von ihr mit so verständnisvoller Teilnahme organisierte Zusammenwirken der sachverständigsten Mademiker und Professoren durch alle finanziellen Schwierigkeiten hindurch zu merkwürdig schnellen und vollständigen Erfolgen führte. Es ist mir ein Bedürfnis,

hierbei der Männer zu gedenken, welche im Unterrichtsministerium

und im Finanzministerium dieses Emporgehen wissenschaftlicher Kultur in Deutschland mit echt staatsmännischer Weisheit förderten und leiteten, nämlich den Geheimrat Göppert im Unterrichts- und

den Geheimrat Scholz int Finanzministerium.

Natürlich hatten

auch die damaligen Chefs dieser beiden Beamten, nämlich die Mnister Falk und Camphausen, einen wesentlichen Anteil an jetten Erfolgen, auch ihrerseits gehoben von dem großen Stil des ganzen Regierungswesens jener Zeit, welches würdigst eröffnet wurde von dem ersten

Zusammenwirken Bismarcks und Delbrücks und getragen war von der tiefsten Sympathie des Kronprinzen für alle wissenschaftliche Kultur.

Während Göppert früh aus dem Leben schied, hat Scholz

von 1879 ab als Schatzsekretär des Reiches und von 1882 bis 1890 als preußischer Finanzminister auch noch Unschätzbares für die För­ derung der wissenschaftlichen und künstlerischen Kultur getan, wobei er in den letzten Jahren seiner hohen Stellung aufs

kräftigste durch Althoff unterstützt wurde,

der dann nach dem

Rücktritt von Scholz trotz aller zunehmenden finanziellen Mte der Regierung auch noch Ausgezeichnetes für dieselben idealen Ziele geleistet hat.

142 In demselben Geiste hat auch die Reichsregiemng selber un­ mittelbar gewirkt bei der Neubegründung und Ausrüstung der Uni­

versität Straßburg — wobei der spätere Staatssekretär für ElsaßLothringen, Herzog, mit besonderer Liebe und Weisheit tätig war —

sowie später bei der Begründung der physikalisch-technischen Reichs­ anstalt. Die Ausrüstung der Universität Straßburg mit freigebig dotierten wissenschaftlichen Instituten, insbesondere auch mit einer neuen

Sternwarte, eröffnete auch die Möglichkeit, den ausgezeichneten Astronomen, von dessen Lebensschicksalen ich oben schon erzählt habe,

nämlich August Mnnecke, wieder in vollste, sowohl für ihn als für die Mssenschaft förderlichste Tätigkeit zu bringen. Die Sternwarte, die er mit den ihm zur Verfügung gestellten reichen Mitteln zu

schaffen vermochte, wurde eine besondere dauernde Zierde der

deutschen Mssenschaft.

J8. Rapitel. Der venus-urchgang von J87$. Kaiser Wilhelm Lauf -er Sternwarte.

Meine Vorträge in -er Sing-Ata-emie. Meine Betätigung bei -er Maß- und Hewichtstonferenz in Paris un- -er Metervertrag (