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German Pages 359 [360] Year 1911
Lebensermnerungen und
Lebenshoffnungen von
Professor Wilhelm Foerster
(1852 bis J9Io)
Berlin
Druck und Verlag von Georg Reimer
Vorwort. cis
nachstehende
ich es
Inhaltsverzeichnis
wird
deutlicher,
als
mit wenigen Worten tun könnte, das inmrerhin
gewagte Unternehnren einer solchen Veröffentlichung rechtfertigen. Einen sehr erheblichen Anteil an meinem
Entschluß
zu
diesen
Mitteilungen haben natürlich meine Kinder und meine Freunde gehabt; aber ich glaube hoffen zu dürfen, daß auch in etwas weiteren Kreisen manches, was ich hier berichte,
Interesse und
Anklang finden wird.
Prof. Wilhelm Foerster.
Lharlottenburg -IVestend, Dezember 1910.
Inhaltsverzeichnis. Kap. 1. Kindheitserinnerungen........................................................................ 1 Kap. 2. Die erste Schulzeit und die gemeinnützigen Bestrebungen des Vaters (1838-1846).................................................................................... 6 Kap. 3. Breslauer Gymnasialzeit (1847—1850)........................................... 14 Kap. 4. Die Universitätszeit in Berlin (1850—1852)................................... 25 Kap. 5. Die Universitätszeit in Bonn (1852—1854)................................... 31 Kap. 6. Das Militärjahr (1854—1855) und die Anstellung an der Berliner Sternwarte (1855) ...................................................................................... 43 Kap. 7. Habilitation und beginnende Vorlesungstätigkeit (1858). Persön liche Beziehungen zu August Böckh und zu Alexander von Humboldt 52 Kap. 8. Die Reise nach England, Schottland, Irland und Paris (1869) 56 Kap. 9. Anstellung als erster Assistent an der Sternwarte (1860). SRütf blick auf meine geselligen Beziehungen und den Beginn meiner Borträge in der Singakademie. Außerordentlicher Professor (1863). Erkrankung von Prof. Encke. Die Übernahme der interimistischen Leitung der Sternwarte. Die Begründung der internationalen astronomischen Gesellschaft (1863). Die Reise nach St. Petersburg und Pulkowa (1864). Die erste Generalkonferenz der mitteleuro päischen Gradmessung (1864). Die Ernennung zum Direktor der Sternwarte (1865)........................................................................................ 63 Kap. 10. Die Sternschnuppen von 1866. Die Kriegsnöte von 1866. Zweite Generalkonferenz der mitteleuropäischen Gradmessung (1867).............. 77 Kap. 11. Die Einführung des metrischen Systems (1868) und die Er» nennung zum Direktor der Normal-Eichungskommission (1869).......... 88 Kap. 12. Verheiratung mit Ina Paschen (1868). Mtteilungen über meine Freunde Herzog und Scholz, Mnnecke und Zöllner, sowie über Zöllners Spiritismus .................................................................................................. 92 Kap. 13. Die Anfänge der Entwicklung der Internationalen Maß- und Gewichtsorganisation (1870—1872) und meine Erlebnisse in Paris (1872). 104 Kap. 14. Persönliches aus den Kriegszeiten 1870—1871. Die Reise nach England im Frühjahr 1872. Das Eichungswesen und die Präzisions technik ............................................................................................................ 115
VI Kap. 15. Die Vorbereitung der Beobachtungen der Benusdurchgänge. Meine Familienverhältnisse in den Jahren 1872—1873 .................... 121 Kap. 16. Das astronomische Recheninstitut. Der Kronprinz Friedrich Mlhelm. Die Sonnenwarte und die Präzisionstechnik. Die Berufung von Georg Neumayer................................................................................. 127 Kap. 17. Die Begründung des Observatoriums in Potsdam. Die neue Sternwarte in Straßburg........................................................................... 137 Kap. 18. Der Venusdurchgang von 1874. Kaiser Wilhelm auf der Stern warte. Meine Borträge in der Singakademie. Meine Betätigung bei der Maß- und Gewichtskonferenz in Paris und der Metervertrag (1875) 142 Kap. 19. Fürsorge für die Präzisionstechnik sowie die Sicherung und Ver feinerung der öffentlichen Zeitangaben. Die Elektrotechnik und Werner Siemens. Beginn meiner sozial-ethischen Betätigung.......................... 160 Kap. 20. Astronomische Gesellschaft in Stockholm (1877) und in Berlin (1879). Das Verhältnis zur Akademie der Wissenschaften und Werner Siemens..............................................................................................................166 Kap. 21. Der Aufenthalt in Partenkirchen und die Oberammergauer Spiele (1880). Paris und der Elektrikerkongreß (1882). Rom und die Grad messungskonferenz (1882). Die Krakatoakatastrophe und ihre Folge erscheinungen (1883—1893).......................................................................... 173 Kap. 22. Rede im Rathause zu der Enthüllung der Humboldtdenkmäler. Betätigung im Elektrotechnischen Verein (1881—1885). Dekan der Philosophischen Fakultät (1884—1885). Die Deputation zu Bismarcks 70. Geburtstage (1885) ............................................................................... 181 Kap. 23. Rücktritt von der Leitung der Normal-Eichungskommission (1885). Die Entwicklung der europäischen Gradmessungsorganisation unter General Baeyer bis zu seinem Tode 1886. Familienglück und Familien sorgen (1886). Einberufung und Leitung einer Generalkonferenz der Gradmessung im Herbst 1886. Erreichung einer umfassenderen Orga nisation unter dem Namen „Internationale Erdmessung".................... 185 Kap. 24. Einleitung der internationalen Überwachung der Lage der Erd
achse in der Erdmessungsversammlung in Salzburg (1888), auf Grund der Beobachtungen von Dr. Küstner aus der Berliner Sternwarte. Die Begründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (1886—1887). Werner Siemens und der Kronprinz. Kaiser Wilhelm I. und die Stern bilder. Die Kaiserin-Witwe Viktoria und die Sternwarte.................... 191 Kap. 25. Die Begründung der Urania (1888—1889).................................... 197 Kap. 26. Die erste Generalkonferenz der internationalen Maß- und Ge wichtsorganisation in Paris (1889). General Ibanez, sein Schicksal und sein Tod (1891)............................................................................................. 201 Kap. 27. Der entscheidende Nachweis der periodischen Lagenänderung der Erdachse durch gleichzeitige Beobachtungen auf der Berliner Stern-
warte und auf der Sandwichinsel Honolulu (1891—1892). Die Be gründung der Bereinigung von Freunden der Astronomie und kos mischen Physik (1891) ............................................................................... 205 Kap. 28. Internationaler Geographenkongreß in Bem (1891). Weltzeit und Ortszeit. Osterrresorm. Meine Wahl zum Vorsitzenden des Inter nationalen Maß- und Gewichtskomitees in Nachfolge des Generals Ibanez (Paris 1891). Erdmessungsversammlung in Florenz (1891). Wahl zum Rektor der Berliner Universität (August 1891). Die Rektorats zeit. Beziehungen zu Kaiser Wilhelm II.................................................... 209 Kap. 29. Der Besuch von Dr. Felix Adler in Berlin (Winter 1891—1892) und der Beginn der ethischen Bewegung in Deutschland (1891—1893). Kaiserin Friedrich ......................................................................................... 225 Kap. 30. Das Jahr 1895: Der Majestätsbeleidigungsprozeß meines ältesten Sohnes. Die internationale Versammlung für Maß imb Gewicht in Paris und für die Erdmessung in Berlin .......................................................... 236 Kap. 31. Die Jahre 1894—1895 der ethischen Bewegung. Das Projekt der ethischen Akademie. Der intemationale ethische Kongreß in Zürich (1896) ................................................................................................... 244 Kap. 32. Betätigung meines ältesten Sohnes in der internationalen ethischen Bewegung und seine Habilitation als Dozent der Philosophie an der Universität Zürich. Die Lebensentwicklung meiner ältesten Tochter und meiner beiden jüngeren Söhne............................................ 257 Kap. 33. Die internationalen Arbeiten im Maß- und Gewichtswesen und in der Erd Messung. Meine Emennung zum Ehrendoktor der Rechte von der Universität Oxford (1894). Organisation der Zeitregelung und die deutsche Bereinigung für Chronometrie (1897—1899). Mein Bortrag auf der Naturforscherversammlung in München (1899).......................... 261 Kap. 34. Zeitweise Einschränkung meiner Mitarbeit in der ethischen Be wegung. Mein Eintreten für die Osterreform und die Einheitlichkeit des Kalenders. Der Tod von Moritz von Egidh (1898)...................... 269 Kap. 35. Emeute Wirksamkeit gemeinsam mit meinem ältesten Sohne für die Begründung einer internationalen ethischen Akademie........ 276 Kap. 36. Das Dahinscheiden der Mitarbeiter und Freunde Samuel Kristeller und Hugo Rheinhold (1900)....................................................................... 280 Kap. 37. Die Fortschritte der großen internationalen Unternehmungen in der Erdmessung, sowie in Maß und Gewicht. Meine Bemühung für Zählungsreform............................................................................................. 283 Kap. 38. Intemationale Betätigung des Ethischen Bundes. Mein Vorschlag
einer Zusammenkunft wissenschaftlicher Vertretungen aller Kulturvölker (1903) .......................................................................... 286 Kap. 39. Siebenzigster Geburtstag (16. Dezember 1902) und Rücktritt von der Leitung der Stemwarte (1903).......................................................... 297
vni Kap. 40. Aus meinem Familienleben................................................................... 300 Kap. 41. Wissenschaftliche Betätigung nach meinem Rücktritt von der Leitung der Sternwarte ..................................................................................... 306 Kap. 42. Der Fortgang der Arbeiten der internationalen wissenschaftlichen Organisationen bis 1910. Das metrische System..................................... 310 Kap. 43. Die neuesten Betätigungen des Ethischen Bundes unb meine Mitwirkung bei denselben. Der Erziehungskongreß London 1908 und die Vorbereitungen eines Rassenkongresses ..................................................... 313 Kap. 44. Die Friedensbewegung und die „Conciliation Internationale“ zum Ziele der gemeinsamen Verwaltung der Erde................................... 318 Kap. 45. Die Übel der Tagespresse und der Wettspielbetriebe. Die Wahl
rechtsnöte ................................................................................................................. 324 Kap. 46. Ausblick in die Zukunft der Kulturentwicklung................................. 333 Register............................................................................................................................. 343
Kapitel. Kindheitserinnerungen.
Ich wurde geboren am 16. Dezember 1832 als zweiter Sohn von Friedrich Foerster und Hulda Foerster geb. Seydel zu Grünberg in Schlesien. Mein Vater war Tuchfabrikant und gehörte einer seit
mehreren
Jahrhunderten
in
Grünberg
ansässigen
Tuchmacher
familie an. Die ersten Lebenserinnerungen des Knaben datieren aus dem
Sommer 1835, wo er (2% Jahre alt) durch eine Reise mit seiner Mutter und seinem älteren Stuber nach Bad Reinerz aus dem Elternhause für mehrere Wochen in ganz neue Umgebungen kam. Die Erwähnung solcher ersten Erinnerungen aus einem sehr frühen
Lebensalter, das in diesem Falle völlig genau festgestellt werden konnte, dürfte nicht ohne allgemeinen psychologischen Wert sein.
Eine Reihe von Einzelheiten aus den Reinerzer Lebensverhältnissen und Vorgängen in dieser Zeit konnten schon zu Lebzeiten der Eltern als völlig selbständig in der Erinnerung aufbewahrte Erlebnisse und
Wahrnehmungen des Kindes erwiesen werden.
Unter diesen Er
innerungen des Kindes war eine, die mein ganzes Leben hindurch jedesmal mit unveränderter, ja im Alter sogar erhöhter Deutlichkeit
zum Erklingen kam, so oft die Seele sich in Stimmungen elegischer, aber doch freudiger Art befand, nämlich ein Waldhornkonzert unter
hohen Bäumen. Die Ergriffenheit der kindlichen Seele von der Größe dieses ersten Eindmcks blieb eine derartige Dauererscheinung, daß ihre Klangfarbe sich mit allen verwandten Gedankenreihen des späteren Lebens verwob. Wtlh. Foerster, LebenSertnnerrmgen.
1
2 Ähnliche tief harmonisierende Eindrücke empfing ich in den fol
genden Jahren von den Liedern, den teilweise mit zärtlichem Weh erfüllten Liedern, die meine Mutter uns vorsang, wenn sie uns auf den Armen trug, oder die sie uns schon in sehr zarter Kindheit, mit uns singend, einübte. Wie verständnisvoll hat Plato die Bedeutung solcher frühen Musikwirkungen erkannt.
Die ersten Jugendjahre waren überhaupt durch längere Reisen der Eltem, zu denen sie die Kinder Mitnahmen, ziemlich stark bewegt. Es waren dies teils Badereisen, die für die zarte Gesundheit der Mutter erforderlich waren, teils Geschäftsreisen des Vaters. Ich hatte einen, um ein Jahr älteren Bmder und eine um
iy2 Jahr jüngere Schwester, zu denen späterhin bis zu dem frühen Tode der Mutter noch ein Bmder und zwei Schwestem hinzukamen. Eine der Badereisen führte weiterhin nach Salzbmnn, eine der Geschäftsreisen des Vaters nach Dresden, eine andere nach Berlin.
Diese Reisen fielen in die Zeit von 1836—1838. Sie geschahen, da die ersten Eisenbahnen in Deutschland erst seit 1837 in Gang kamen, im eigenen Wagen, teils mit eigenen Pferden, teils mit Extrapost.
Auf den Badereisen folgte die Köchin und das große Gepäck in einem besonderen, einspännigen Wirtschaftswagen (einem sog. Planwagen). Mein Vater befand sich damals in einer sehr günstigen Vermögens
lage. Sein Vater, Jeremias Sigismund Foerster, hatte die ererbte Tuchmacherei (in der geräumigen Wohnstube seines Hauses arbeiteten noch Webstühle, aber außerdem hatte er schon um 1800 eine Maschinen spinnerei eingerichtet) zu einem großen Exportgeschäft erweitert, welches insbesondere gen Osten hin, bis tief nach Rußland hinein, einen sehr lukrativen Absatz gewann. Außerdem hatte er in den bewegten Kriegsjahren, in Gemeinschaft mit einigen anderen unter
nehmenden Geschäftsleuten, durch Armeeliefemngen der verschieden sten Art großes Geld erworben. Nach dem int Jahre 1819 erfolgten
Tode meines Großvaters hatte sein ältester Sohn August das Tuch-
Exportgeschäft, nicht bloß nach Osten hin, sondem, nach dem Ein tritte der mssischen Grenzsperre (1823), auch nach den überseeischen
Märkten hin in großem Stile erweitert.
Der mssischen und der
englischen Sprache mächtig, besuchte er die Messen in Nischnei-
3 Mwgorod und suchte persönliche Anknüpfungen in London.
Nach
feinem frühen Tode (1825) übernahm zunächst seine Mutter Johanna
Eleonore, eine Frau von ungewöhnlicher Geisteskraft, die obere Geschäftsleitung bis zu ihrem Tode, nach welchem (1827) diese Leitung ganz in die Hände des jüngsten Sohnes, meines Vaters,
überging. Dieser entwickelte nun neben dem Export auch die Technik der Grünberger Tuchfabrikation, indem er allmählich den Maschinen betrieb vervollständigte und dann im Jahre 1834 eine große Tuch fabrik mit Dampfbetrieb einrichtete, damals noch in Schlesien etwas Seltenes, gefördert durch den Vorgang eines großen englischen,
schon in Belgien mit der Einrichtung von Fabriken vorangegangenen Geschäftshauses (Cockerill). Mein Vater (geb. 1804) hatte seine Schul- und Lehrzeit in Bres lau, alsdann seine weitere kaufmännische Ausbildung in Bremen
absolviert.
Er war
dann auch auf Reisen gegangen, hatte infolge
einer vorangegangenen Typhuserkrankung zur Erholung die See
bäder in Nordemey und in Doberan besucht und war alsbald in das Geschäft eingetreten, in welchem er auch seine frühen Sprach
studien im Russischen, Englischen und Französischen zu kultivieren und bestens geschäftlich zu verwerten verstand.
Ursprünglich hatte er ganz andere Lebenspläne gehabt, nämlich nach der Seite des
geistlichen Bemfes, welche Vorliebe alsdann in späteren Jahren in seiner lebhaften Beteiligung an den kirchlichen Bewegungen und
an der Entwicklung des Schulwesens und der Lehrerwelt wieder hervortrat.
Zunächst hatte er, bald nach der Begründung seiner großen Fabrik, eine schwere Lebenskrisis durchzumachen, welche auch die ersten Jahre seiner überaus glücklichen Ehe mit Hulda Seydel (geb.
1812) trübte. Die vorerwähnten Lieferungsgeschäfte seines Vaters in den Kriegszeiten warfen diesen Schatten auf sein Leben. Einer der Genossen dieser Unternehmungen wagte es, eine große Geldforde rung an die Erben von Jeremias Sigismund Foerster nachträglich auf Grund seiner Bücher einzuklagen, eine Fordemng, welche sich mit den inzwischen ausgelaufenen Zinsen auf eine so große Summe
belief, daß mein Vater, welcher seinen Miterben gegenüber bei der 1*
4 Erbteilung alle etwa noch restierenden Verpflichtungen zusammen mit einem Schwager übernommen hatte, dadurch um den größten
Teil seines Vermögens gebracht worden wäre.
Und es dauerte
mehrere Jahre, bis endlich, nachdem in erster Instanz die Fordemng als nicht verjährt und als gerechtfertigt anerkannt worden war, die
letzte gerichtliche Instanz den unhaltbaren Charakter der Fordemng erkannte und den Kläger vollständig abwies.
Die ganze Lebenslage der Familie und die sonst so freudige und erfolgreiche Tätigkeit des Vaters waren natürlich in diesen Jahren der Ungewißheit stark bedrückt gewesen. Es ist mir aber
unvergeßlich geblieben, wie sehr doch das Vertrauen meines Vaters auf die unbedingte Redlichkeit des Großvaters und auf den endlichen Sieg des Rechtes chn mit Zuversicht und Ruhe erfüllt hatten. Die Famllie meiner Mutter lebte in schlichteren Verhältnissen, obwohl ihr Vater, Johann Friedrich Seydel, in seiner Art auch ein Geschäftsmann von regster Tätigkeit war. Er verband das Geschäft
eines gewöhnlichen Materialwarenladens einerseits mit einem um fassenderen Eisenwarengeschäft, andererseits mit einem bedeutenden Weinhandel.
Im Besitze eines großen Areals von Weingärten in
der näheren und weiteren Umgebung der Stadt, war er einer der größten Weinproduzenten dieser nördlichsten Weingegend Deutsch
lands.
In der Kultiviemng der geeignetsten Traubensorten und in
der Verfeinemng der Keltemng des Traubensastes war es ihm ge lungen, dem zu Unrecht als entsetzlich sauer verschrieenen „Grünberger
Wein" eine gewisse Geltung auf dem norddeutschen Weinmarkte zu
verschaffen, in welcher Richtung er alsdann von dem Schwiegersohn Foerster, der ein großer Lokalpatriot war, eifrigst unterstützt wurde. — Nach der Überwindung der Prozeßangelegenheit entwickelte sich nun auf dem Gebiete der Tuchfabrikation, des Tuchhandels und des
Weinhandels eine ansehnliche Prosperität meines Eltemhauses,
so daß meine und meiner Geschwister Kindheit und Jugendzeit in einer fast idealen Lebenslage verlief, in unvergeßlicher Weise erhellt und verschönt durch die zärtliche Liebe und treue Klugheit der Mutter,
die sich mit dem Emst und der Strenge des Vaters in schönster Weise verband. Nur elf Jahre dauerte diese beglückende Ehe, denn schon
5 im Jahre 1842, nach der Geburt des siebenten Kindes, mußten Mutter und Kind aus dem Leben scheiden, in welchem sie so viel
Glück genossen und gepflegt hatte. Zwei Jahre vorher (1840) hatte ihr, sonst an größeren Ereig
nissen nicht reiches Leben noch den besonderen Aufschwung genossen, daß sie ihren Gatten, welcher als Deputierter zu der Huldigungs feier des neuen Königs Friedrich Mlhelm IV. zusammen mit dem
Bürgermeister der Stadt nach Berlin entsandt wurde, dorthin be gleiten konnte. Mt ihrem Gatten teilte sie den ergreifenden Ein druck der großartigen Veranstaltung am königlichen Schloß und im
Lustgarten, wo der König von hoher Tribüne herab damals mit ge waltiger Stimme jene epochemachende Thronrede hielt, und sie genoß in vollen Zügen auch die Pracht und Schönheit der damals gefeierten Hoffeste und Theateraufführungen.
Deutlich erinnere ich mich noch der begeisterten Stimmung, mit welcher beide Eltern, von diesem Lichtblick ihres Lebens erfüllt,
in die kleine Stadt zurückkehrten. Im Sommer 1841 unternahmen die beiden Eltern noch eine große Reise über Prag nach Salzburg und von Linz die Donau
entlang nach Wien, von wo sie über Breslau nach Hause zurückkehrten. Ihre entzückten Schilderungen von den Herrlichkeiten dieser Reise prägten sich tief in die Seelen ihrer älteren Kinder ein. Der Tod der geliebten Frau versenkte meinen Vater jahrelang
in tiefste Trauer.
Und es gelang ihm nicht, für die sechs Kinder,
deren ältestes bei dem Tode der Mutter zehn Jahre und deren jüngstes ein Jahr zählte, eine hinreichend geeignete Hilfe in Erziehung und Haushalt zu gewinnen. Um so enger schlossen die drei ältesten Kinder, mein älterer Bmder Fritz und meine jüngere Schwester Hulda, sich mit mir in treuester Gemeinschaft aneinander; den Vater tröstend
und die Entwicklung der jüngeren Geschwister mit überwachend.
Fünf Jahre nach dem Tode der Gattin sah sich dann mein Vater durch die Fürsorge für die jüngsten Kinder veranlaßt, einen neuen Ehebund zu schließen, und zwar mit einer hochgebildeten und wür digen Dame, Albertine von Hahn, welche bis dahin als Erzieherin
gewirkt hatte und insbesondere meinen Schwestem bald eine Freundin
6 wurde. Unvergeßlich ist es aber uns drei ältesten Geschwistern ge blieben, wie wir in jenen fünf Trauerjahren durch die Pflege des Hausgesanges, die wir noch den letzten Jahren der Mutter verdankten,
damals zur Tröstung des Vaters beitragen konnten, und wie sehr
zugleich diese Verwertung unseres beginnenden Musikunterrichtes uns in die Herrlichkeiten der Tonwelt einführen half, sodaß ich es
damals sogar wagte, selber einige Lieder zu komponieren.
In sehr
lieber Erinnemng ist es mir auch noch, wie ich meine hohe Diskant
stimme erschallen lassen konnte als einer der Vorsänger der vier Chöre, die auf den oberen Galerien der Kirche, zusammen oder der Reihe nach, in der Weihnachtsnacht morgens um vier Uhr dem Christkinde ihr Willkommen darbrachten.
Diese hingebungsvolle, mitten in der Winternacht mit Lichtern und Fackeln erhellte Feier, die auf die abendliche Weihnachtsbescherung wie ein Dankopfer folgte, war wirklich höchst eindrucksvoll und die Feststimmung ver klarend. Aber auch das tägliche Zusammenleben wurde uns durch Musik geweiht. Wenn der Vater ermüdet von gewaltiger Geschäfts tätigkeit aus der Fabrik in den Abendstunden zu seinen Kindern kam, so war es entzückend für diese, wenn sie ihm dann, oftmals auch auf
der Bergeshöhe, auf der er dem Andenken seines Bruders August einen Pavillon errichtet hatte, die „goldene Abendsonne" und das sehnsuchtsvolle Lied vom Abendstern Vorsingen konnten. In diesen
fünf Jahren der Mtwerschast begann er auch, seiner bis dahin mehr
int stillen geübten gemeinnützigen Tätigkeit zur Aufrichtung seiner Seele einen größeren Auffchwung zu geben, auf dessen Zusammen hang mit seiner ursprünglichen Neigung zum geistlichen Beruf ich
bereits hingedeutet habe.
2. Kapitel. Die erste Schulzeit und die gemeinnützigen Bestrebungen der Vaters (1838—18^6).
Zunächst bot der Zustand des Schulwesens in der Vaterstadt Anlaß zu reformatorischer Tätigkeit. Die Stadt Grünberg besaß für
ihre 10000 Einwohner damals nur eine Stadtschule mit sehr be-
7 grenztem Lehrplan, der allerdings in den beiden obersten Klassen bis
zum Latein und bis zu den ersten Stufen der Mathematik reichte. Die
oberste Klasse wurde von dem Rektor, die zweite von dem Kon
rektor, die dritte von dem Subrektor geleitet.
Alle drei waren stu
dierte Männer von solidem Wissen und regem Pflichtgefühl. Aber alle drei verprügelten ihre Schülerwelt, zumal der Subrektor, ein herzeitsguter, durch seine Schwäche aber mit seinen Schülem total zerfallener Mann, dem gar kein Respekt gezollt wurde. Am wenig sten prügelnd und am meisten pädagogisch wirksam war der Kon rektor, der einen Hauch von Pestalozzis Gedanken empfangen hatte, so daß er es sogar wagte, die fortgeschrittensten Schüler an der Lehr-
tätigkeit zu beteiligen. Mein ältester Bmder und ich traten nach vorbereitenden pri vaten Unterweisungen in die zweite Klasse der Stadtschule ein. Wir waren beide von da ab jahrelang nahezu auf derselben Stufe
des Lemens, da mein Bmder etwas langsamer im Lernen war und besonders im Latein weniger schnell vorwärts kam. Da gefiel es
dem Konrektor, mir, dem kleinen, kaum zehnjährigen Lateiner, eine ganze Gruppe von älteren Schülem, die int Sprachunterricht nicht recht mitkamen, zur Nachhilfe anzuvertrauen, unter ihnen recht
ungeberdige, von der Prügelpädagogik der Stadtschule schon sehr
auflässig gewordene Jungen. Es gelang mir aber durch meine eigene Freude am Übersetzen und Repetieren mit Hilfe einiger helleren und besser gesinnten Kerlchen unter dieser widerhaarigen Gesellschaft, wirklich eine Art von Lehrerfolg zu erringen, der mir
zeitlebens als eine unbeschreibliche Befriedigung vorgeschwebt hat.
Ich bin auch der Meinung und habe dies später, wo ich nur immer konnte, zu größerer Beachtung empfohlen, daß in unserem Schul leben viel zu wenig im Sinne dieser pädagogischeir Weisheit vmr Pestalozzi geschieht, daß z. B. unter den Primanern und Sekundanem unserer Mittelschulen die begabtesten Jünglinge, welche sich
so oft bei dem für die größere Anzahl erforderlichen langen und breiten Lehrbetriebe langweilen, mit großem Gewinne für die Be lebung des ganzen Betriebes und mit dem größten Gewinne für ihre
eigene Charaktereittwicklung verwertet werden könnten, um die
8 minder begabten Mitschüler in besonderen Gruppen und in beson deren Fächern durch belebende Repetition zu fördern und auch in den unteren Klassen in ähnlicher Weise zu wirken. Es ist ja vollkom
men erwiesen und auch psychologisch so leicht erklärlich, daß einander näherstehende Lebensalter sich im Semen und Verstehen viel wirk samer und befriedigender fördern und auch für die Freude am
Lernen sowie für das Interesse an den Lehrgegenständen viel vor bildlicher wirken, als dies durch Lehrkräfte geschieht, deren Seelen
Man muß nur sehen, wie auch in unserm Hochschulbetriebe bei den Vorbereitungen für ge
leben schon eine ganz andere Klangfarbe hat.
wisse Examina das gemeinsame Einpauken der jungen Leute unter
der Fühmng einiger der begabteren Genossen nach vielen Richtungen hin die Wirksamkeit ganzer Jahre von Vorlesungen u. dgl. weit
hinter sich läßt. Das System der Schülermitwirkung im Lehrbetriebe,
in England als das I^uuraster-System bezeichnet, hat allerdings auch
seine Gefahren, wenn es nicht mit erzieherischer Weisheit organisiert und überwacht wird, und es hat sich gerade in England für lange Zeit gründlich diskreditiert, als es unter gewissen Formen der dortigen Selbstverwaltungen zu einer Art von Surrogat für unzureichende
Anstellung von Lehrerpersonal entartet war. Als nun mein Bruder und ich die oberste Klasse der Stadtschule absolviert hatten, ohne daß die bereits begonnenen Bemühungen meines Vaters um eine Erhöhung der städtischen Schuleinrichtungen schon Erfolg gehabt hätten, wurde durch das Zusammenwirken
meines Vaters mit einigen Eltern, deren Söhne in ähnlicher Lage waren, eine Privatschule organisiert, an welche ein von Berlin aus
sehr warm empfohlener junger Lehrer mit Namen Josef Rode berufen wurde, der ein ganz neues Leben in die Entwicklung unserer
Schulerziehung brachte. Er hatte vorzugsweise naturwissenschaftliche Studien getrieben, während an der Stadtschule neben einigen frischeren Lehrkräften von seminaristischer Bildung hauptsächlich die drei Rektoren wirkten, deren Vorbildung fast ausschließlich theolo gisch-philologisch gewesen war. Herr Rode machte mit uns botanische
Exkursionen, ließ jeden ein Herbarium anlegen; aber auch in deutscher
Literatur und Dichtung schlug er für uns ganz neue Töne an, las
9 uns im Walde auf den Exkursionen Eichendorfsche Novellen vor, während allerdings sein lateinischer Unterricht der Ergänzung durch einen der älteren Herren Rektoren bedurfte. Die eigentümliche Frische und Zuversicht, die er völlig neuen Aufgaben gegenüber in
uns weckte, wurde auch für mich und meine spätere Berufswahl von Bedeutung. Er hatte mir im besonderen, da ich auf das Gymnasium gehen sollte, Spezialunterricht im Griechischen zu erteilen, das er aber selber über seinen naturwissenschaftlichen Studien fast ganz ver
gessen hatte.
Wie half er sich? Er legte mir einen der Dialoge von
Plato vor, gab mir ein Lexikon und eine Grammatik dazu und beauf tragte mich, eine Übersetzung zu liefern, ohne mir eine bestimmte Frist dafür zu setzen.
Ich brauchte viele Wochen, um eine gedmckte
Oktavseite von Plato in meinen Mußestunden zu übersetzen, aber ich glaube dabei mehr von der Sprache gelernt zu haben, als in einem
ganzen Jahre damaligen griechischen Gymnasialunterrichtes. Die nähere Kenntnis, die mein Vater in dieser ganzen Ent wicklung der Dinge zugleich von den Leistungen der seminaristisch ausgebildeten jüngeren Lehrer der Stadtschule nahm, eröffnete ihm
auch einen Blick auf die damaligen großen Fortschritte, welche dieser Lehrerbildung
durch Diesterwegs Genius zuteil geworden
waren. Es gelang ihm, diese jüngere Lehrerwelt der sämtlichen Grün
berger Schulen, einschließlich der Mädchenschulen, kollegialer zu organisieren, tnbent er sie zunächst zu größeren Zusammenkünften
in seinem Hause und Garten vereinigte, an denen seine Söhne teil nehmen durften. Ich erinnere mich deutlich des Eindruckes, den ich von den sehr belebten pädagogischen und sogar philosophischen Er örterungen empfing, die unter der Führung einiger sehr begabter
Köpfe sich damals entspannen. Ich erinnere mich auch ebenso deut lich an die Überraschung, mit welcher der von der Berliner Universität gekommene Josef Rode die jungen Bolksschullehrer über die Hegelsche
Philosophie und die beginnende naturwissenschaftliche Gegenwirkung gegen dieselbe disputieren hörte. Die über die erste Klasse der Stadt schule hinausgehende Privatschule, welche nach dem Plane meines Vaters als eine Art von Übergang zu der Errichtung einer Real schule oder eines Gymnasiums dienen sollte, vermochte leider diesen
10 Erfolg nicht unmittelbar zu erringen.
Inzwischen waren mein
Bruder und ich in das Schulalter der oberen Klassen der Mittelschulen
gelangt, und es wurde nun beschlossen, daß ich auf das MagdalenenGymnasium in Breslau und mein Bruder auf die Realschule in Bres lau, welche seinem mehr auf das Geschäftliche gerichteten Sinne ent sprach, übersiedeln sollten, was denn auch zu Ostem 1847 erfolgte. Bor der Schilderung dieses Überganges möchte ich aber aus
den Jahren 1843—47, in denen die obigen Entwicklungen des Grün
berger Schullebens stattfanden, zunächst noch von einer anderen
Gruppe von Erlebnissen erzählen, welche einige Ausblicke auf die gerade in diesen Jahren so mächttg emporgehenden Leistungen der
Technik und des ganzen Verkehrswesens darbieten.
Im Jahre 1843 machte mein Vater mit seinen vier ältesten Kindem eine Reise ins schlesische Gebirge, welche uns entzückende Anregungen bot.
Mit dem Eisenbahnbau hatte man in Schlesien
damals eben erst begonnen, so daß die Reise auch jetzt noch fast aus
schließlich mit dem eigenen Wagen erfolgen mußte.
Ich hatte zwar
schon im Jahre 1837 bei einer Reise, welche wir mit den beiden Eltern nach Dresden machten, von dem Beginn des Eisenbahn betriebes zwischen Dresden und Leipzig einen Anblick bekommen,
und mein Bruder und ich waren dann im Jahre 1838 auf einer Reise
nach Berlin mitgenommen worden, wo wir Gelegenheit hatten, auf der soeben eröffneten ersten Teilstrecke der Berlin-Potsdamer Eisenbahn von Berlin nach Steglitz zu fahren. Mir selber machte die Geschwindigkeit der Fahtt und der ganze neue Verkehrsapparat
keinen besonderen Eindmck. Nur von der Erregtheit meines sonst sehr mutigen und zuversichtlichen Vaters über die Geschwindigkeit der Fahrt wurde ich etwas tiefer bewegt, so daß ich wenigstens ahnte,
daß es sich um etwas sehr Neues und Gewaltiges handelte. In den Jahren zwischen 1838 und 1843 entwickelte sich dann neben der Erweiterung des Eisenbahnbaues auch die elettrische Tele graphie, und ich erinnere mich, daß int Elternhause und in der Schule
von allen diesen großen neuen Dingen sehr viel gesprochen wurde. In der Stadtschule gab es einen älteren Lehrer, welcher sehr lebhaft gegen diese Dinge Front machte und uns einmal im Geschichts-
11 unterricht der Schule einzuprägen suchte, daß alle diese neuen Dinge
mehr oder minder Schwindel seien. Insbesondere behauptete er, daß alle die Eisenbahnunternehmungen sehr bald bankerott sein würden, sobald nämlich die Schienen verbraucht wären.
Bei einem
Schulfeste mit Schüleraufführungen wurde um das Jahr 1844 eine Disputation über den Nutzen und den Schaden der Eisenbahnen
vorgeführt, und es blieb dabei ziemlich unentschieden, ob schließlich der Nutzen oder der Schaden überwiegen würde.
Sehr lebhaft
waren gewisse Jnteressentengruppen, wie die Gastwirte und die Fuhrwerksbesitzer, durch die Söhne der betreffenden Eltem im pessi mistischen Sinn vertreten, die Gastwirte deshalb, weil „man immer so schnell wieder wegfährt wie man kommt".
Auch bei der Entwick
lung der Telegraphie waltete eine Zeitlang ein gewisser Pessimismus. Man befürchtete, daß oberirdische Leitungen gegenüber der Raub sucht und der Zerstörungssucht der niederen Bevölkerungen nicht intakt zu erhalten sein würden, und man begann daher vielfach mit unterirdischen Leitungen, die aber noch mangelhaft isoliert wurden
und dann viel stärkere Störungen erlitten, als die oberirdischen. Jetzt führt man doch mit hinreichender Sicherheit oberirdische Lei
tungen sogar durch weite Landflächen, die von den ungeordnetsten Bevölkerungen bewohnt oder durchzogen werden. Eine andere große Errungenschaft jener Jahre lernten wir bei
der vorerwähnten Reise ins schlesische Gebirge im Jahre 1843 zuerst
kennen. Ich meine die im Jahre 1839 von dem Franzosen Daguerre erfundene Technik des Lichtbildes, aus der sich schon innerhalb der ersten zehn Jahre die umfassendere Technik der Photographie ent wickelte.
Zu Warmbrunn im schlesischen Gebirge hatte sich damals
schon ein Daguerrotyp-Atelier aufgetan, in welchem von uns und von der mit uns reisenden Familie des sehr geliebten Bruders meiner verstorbenen
Mutter
ein
Familiengruppen-Daguerrotyp
ausge
nommen wurde, von welchem ein unverändert konserviertes Exemplar noch in meinen Händen ist. Mein Vater schaffte sich bald nachher einen solchen Apparat an, mit welchem einer seiner technisch be
wanderten Freunde in dem nächsten Jahrzehnt alljährlich ein Familien-
bild von nns aufnahm.
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Im Jahre 1844 fand in Berlin die erste größere deutsche Ge werbeausstellung statt, zu welcher wir drei ältesten Kinder den Bater nach Berlin begleiten durften, wobei dann schon die Halste der Reise
strecke mit der Eisenbahn zurückgelegt werden konnte.
Ich brauche
kaum hinzuzufügen, daß alle diese Reisen voll lebendigster An regungen für uns waren. Ebenso auch eine Berliner Reise, welche
im Anfang 1847, noch bevor mein Bruder und ich nach Breslau über siedelten, stattfand, als mein Bater nach seiner Verlobung mit der schon oben erwähnten Erzieherin, Fräulein Albertine von Hahn,
seine ältesten Kinder der Familie dieser unserer künftigen Mutter vorführen wollte. Diese Berliner Familie, bestehend aus dem
Bruder der Verlobten, dem Artillerie-Obersten von Hahn nebst seiner
Frau und Tochter und vier in seinem Hause lebenden Schwägerinnen mit Namen Bettram, ist mir dann, als ich im Verlaufe meiner Stu dien- und meiner wissenschaftlichen Laufbahn nach Berlin über-
siedelte, von unsäglicher Wohltat gewesen, beinah wie ein zweites Eltemhaus.
Der Oberst stieg in seiner militättschen Laufbahn
späterhin bis zum General-Jnspetteur der Attillette empor und war mir stets ein gütiger Berater und Freund, obwohl wir später in den
bewegten Tagen der Konflitte zwischen Regiemng und Volksver tretung recht verschiedener polittscher Ansicht waren. In die Jahre 1844—47, in denen mein Bater sich, wie ich oben dargelegt habe, für die Entwicklung des Schulwesens lebhaft ins
Zeug legte, fiel nun auch eine Reihe von Erlebnissen und Betäti
gungen seinerseits auf dem Gebiete der kirchlichen Bewegungen. Als Vorboten der politisch-sozialen Bewegung von 1848 hatten
sich schon
in den letzten Jahren der Regiemng von Fttedttch
Wilhelm III. auch konfessionelle Bewegungen und Konflitte ent wickelt, zunächst zwischen der protestanttschen Regiemng und den Führem der katholischen Bevölkemng Preußens, sodann aber, unter dem Eindmcke der epochemachenden Veröffentlichungen von David Strauß über das Leben Jesu, eine starke freireligiöse Bewegung
innerhalb des deutschen Protestantismus, deren Anhänger sich die Lichtfreunde nannten und besonders in Mitteldeutschland, in der ersten Hälfte der vierziger Jahre eine große Mehrheit der Geistlich»
13 feit für sich gewannen, unbekümmert um die wachsende Gegenwirkung der preußischen Staatskirche unter der Regierung von Friedrich Wilhelm IV. Mein Vater war ein warmer Anhänger der „lichtfreundlichen" Bewegung. Als nun um das Jahr 1844 auch in der katholischen Kirche, unmittelbar veranlaßt durch die Ausstellung des heiligen Rockes zu Trier und durch die Wallfahrten zu demselben, sich eine freiheitliche Bewegung unter der Führung von Johannes Ronge, einem ober schlesischen katholischen Geistlichen, entwickelte, die auch von der protestantischen Orthodoxie anfangs nicht ungern gesehen wurde, hatte mein Vater Anlaß, den damaligen leitenden Männern sowohl auf dem Gebiete der freikatholischen Bewegung als auch der licht freundlichen protestantischen Bestrebungen gerade in Grünberg näher zu treten. Die Einwohnerschaft von Grünberg war weit überwiegend evangelisch, so daß die kleine katholische Gemeinde gegenüber der öffentlichen Meinung, welche damals sehr lebhaft gegen den „heiligen 9tod" reagierte, einen schweren Stand hatte. Es gab daher inner halb dieser Gemeinde eine einflußreiche Gruppe, welche den Apostel der freikatholischen Bewegung, Johannes Ronge, nach Grünberg einlud und meinem Vater die Bitte vortrug, demselben in seinem Hause Gastfreundschaft zu gewähren. Mein Vater sagte dies zu und erreichte zugleich das Zugeständnis der evangelischen Geistlichkeit, daß der freikatholische Priester seine Predigt gegen die Mißbräuche der Reliquienanbetung usw. auf der Kanzel der evangelischen Kirche vortragen dürfte. Ronge erschien denn in unserem Hause, hielt in der Kirche eine durch würdevolle Mäßigung höchst eindringliche Predigt und begründete dann eine freikatholische Gemeinde in Grünberg, für deren leitende Männer zusammen mit ihm und einigen lichtfreund lichen Geistlichen der Umgegend mein Vater ein festliches Zusammen sein in unserem Hause veranstaltete, welches durchaus harmonisch verlief mit der einzigen Ausnahme, daß meine zehnjährige Schwester in einer poetischen Ansprache, mit welcher sie in lichtem Gewände Herrn Ronge beim Beginn des Festes begrüßen sollte, vollständig stecken blieb, und daß auch mein Gedächtnis, welches ihr dabei zu
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Hilfe kommen sollte, in der gwßen „lichtfreundlichen" Emotion völlig versagte.
Herr Stenge beendigte die Situation, indem er
dem lieben Mädchen die Hand küßte. Mein Vater war fortan in den nächsten Jahren der ständige Gastfreund nicht nur der freikatholischen, sondern auch der licht
freundlichen evangelischen Prediger, welche damals Deutschland mit ihrer Propaganda durchwanderten. Mcht nur mein Vater, sondem auch seine ältesten Kinder hatten von mehreren dieser Persönlichkeiten den Eindruck bedeutender Intelligenz und selbst losester Hingebung. Mcht bloß in meiner Erinnerung, welche durch die warme Anteilnahme meines Vaters an diesen Bewegungen
stark beeinflußt wurde, sondem auch in der geschichtlichen Dar stellung kompetenter und gerechtigkeitsliebender Berichte bilden diese Jahre eine sehr merkwürdige kulturgeschichtliche Episode. Jene Be
wegungen, die von den gewaltigen politisch-sozialen Katastrophen und Entwicklungen von 1848 in den Schatten gestellt worden sind,
hatten doch wesentlichen Anteil an der Verstärkung und Vertiefung der idealen Seiten dieser politischen Freiheitsbestrebungen in Deutsch land.
Dementsprechend wirkten sie aber in der Reaktionszeit nach
1848 auch erheblich verschärfend auf die zwangvollen Rückschritte in dem Gebiete der kirchlichen und pädagogischen Institutionen.
3. Kapital. Breslauer Gymnasialzeit (18^?—(850).
Zu Ostern 1847 erfolgte nun meine und meines älteren Bruders Übersiedlung nach Breslau. Meine Lehrer in Grünberg hatten sicher erwartet, daß ich in der Prima des Magdalenen-Gymnasiums zu Breslau Aufnahme finden würde, während meinem älteren Bmder die Tertia der Realschule in Aussicht gestellt wurde. Die Sache ver lief zu meiner Demütigung, aber eigentlich zu tieferer innerer Wohltat,
umgekehrt. Mein Bruder kam nach der Sekunda, während ich mit der
Obertertia vorlieb nehmen mußte. Und zwar hauptsächlich deshalb, weil meine lieben Herren Lehrer in Grünberg int Griechischen nicht
15 mehr genug Bescheid gewußt hatten, so daß mir meine oben erwähnte nähere Bekanntschaft mit Plato nur ein mitleidiges Lächeln eintrug.
Indessen ging es sehr bald vorwärts, da man mich schon nach einem
halben Jahre in die Sekunda und nach einem Jahre von dort in die Prima gelangen ließ, so daß ich int Oktober 1850 die Universität Berlin beziehen konnte.
Wie sehr fühle ich mich in tiefster Dank
barkeit gedrungen, an dieser Stelle von den damaligen Zuständen und Leistungen des Gymnasiums zu Sankt Magdalene einige Erinnenmgen mitzuteilen, an die ich leider einen schmerzlichen Seufzer anknüpfen muß darüber, daß meinen eigenen Söhnen in ihrer Berliner Gymnasialzeit zwischeir 1880 und 1895 auch nicht entfernt so glückliche Lehrjahre zuteil geworden sind. Die Seele jener Breslauer Gymnasialzeit war der Direktor Schönbom, zusammen mit einigen
ausgezeichneten Lehren: der Sprachen und der Mathematik.
Die Schüler der oberen Klassen wurden mit stetigem Ernst unter wiesen und erzogen, aber jegliche disziplinarische Not einer beider
seitigen Erniedrigung wurde aufs glücklichste vermieden, und es lebte in den besten Lehrkräften des Gymnasiums, besonders aber in
Direktor Schönbom selber eine warme Begeistemng für die alt klassische und neuklassische Literatur, überhaupt für kulturgeschicht
liche Ausblicke und für die logischen Feinheiten der Sprachbildung. Hierdurch wurde dem ganzen Betriebe ein musischer Hauch gegeben,
der mit Einpaukerei gar nichts zu tun hatte.
Ich hatte außerdem
das besondere Glück, daß der mathemattsche Lehrer der oberen Klassen, Professor Sadebeck, selber Beziehungen zu den prakttschen
Anwendungen der Mathemattk in der Technik und im Vermessungs wesen hatte, und daß hierdurch, obwohl er kein großer Mathemattker war, seine Lehrwirksamkeit eine besonders belebende Freudigkeit
empfing, welche dem mathematischen Unterricht vielfach gänzlich
fehlt, wenn er von
sogenannten mathematischen Talenten, die
der praktischen Anwendung oft ganz abgeneigt femstehen, erteilt
wird. Direktor
Schönbom,
dessen
Lehttätigkeit hauptsächlich
der
Printa zuteil wurde, eröffnete uns, besonders in der griechischen und deutschen Literatur, weite und lichte Horizonte. Als ein Bei-
16 spiel hierfür möchte ich nur folgendes Erlebnis anführen: Als mit
dem 28. August 1849 die Säkularfeier von Goethes Geburt heran nahte, welche von dem Gymnasium mit einem festlichen Schulaktus
begangen werden sollte, eröffnete dem Primaner Wilhelm Foerster eines Tages der Direktor Schönborn, daß er ihm einen wesentlichen Anteil an der Feier anvertrauen wolle in Gestalt eines Bortrages,
den ich über das Thema „Goethes Faust und Wolfram v. Eschen
Hierfür übergab er mir zunächst eine Betrachtung, welche nicht lange vorher von dem deutschen Literar
bachs Parzival" halten solle.
historiker Bilmar im Sinne der Vergleichung jener beiden großen Dichtungen veröffentlicht worden war. Da mußte ich nun den Faust und den Parzival gründlich durcharbeiten.
Mein Vortrag wurde
natürlich nichts anderes als eine nähere Ausführung der Betrachtung
von Bilmar, erleuchtet durch einige eigenartige Gedanken meines Direktors. Aber es ist Kar, daß ein Schulleben, in welchem der artige Aufgaben gestellt und derartige Inspirationen dargeboten werden, nicht bloß für den damit beglückten einzelnen Schüler,
sondem für den ganzen Gemeinschaftsgeist der Lehrer und Schüler von schönster Bedeutung ist. Nicht ohne Schwierigkeiten war die Lage unseres Direktors gegenüber den Wirkungen, welche das Jahr 1848 auch in der Schüler
welt anrichtete. Breslau war in diesen Zeiten vielleicht eine der auf geregtesten Städte Deutschlands, da die schlesische Bevölkerung in der eigentümlichen Zusammensetzung ihres Temperaments aus deutschen und slawischen Elementen in besonderer Weise von den sozialen und nationalen Freiheitsgedanken ergriffen wurde. Mcht bloß die Studentenschaft, sondem auch die Schüler der oberen Klassen
der höheren Schulen verbanden sich teils öffentlich, teils im füllen zu gewissen Gruppen von Freischaren, die sich sogar mit allerhand Waffengerät der primiüvsten Art ausrüsteten und nächtlicherweile
Exerzierübungen damit veranstalteten, um nötigenfalls sich an dem Kampfe gegen die sogenannte „Soldateska" beteiligen zu könne».
Wir hatten im Magdalenen-Gymnasium schon vorher eine ganz vernünftige disziplinarische Schülerorganisation, darin bestehend, daß die Ordnung und Ruhe in der Klasse, insbesondere auch in den
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Zwischenzeiten zwischen den Anwesenheiten der Lehrer, von zwei seitens des Direktors dazu ernannten Schülern, welche den Namen
„Dekurionen" führten, überwacht wurde. Dem souveränen Schülervolke wurde es aber int Frühjahre 1848
unerträglich, daß diese Autoritätsorgane vom Direktor eingesetzt waren. In der Selundaklasse, in der ich mich damals befand, waren glücklicherweise die beiden, vom Direktor schon beim Beginn des
Schuljahres ernannten Dekurionen zwei sehr geachtete Schüler, so daß man sie nicht einfach durch Schülerbeschluß absetzte, obwohl der eine von ihnen noch dazu einen aristokratischen Namen hatte.
Es wurde ihnen nur durch einen fast einstimmigen Beschluß der Klasse
erklärt, daß sie aus prinzipiellen Gründen ihre Autorität gegen die Schüler nicht ausüben dürften, und daß sie ihre Befugnisse an einen
von der Klasse gewählten Volks dekurio abzutreten hätten, welcher denn auch sofort die Regierung übernahm, während die offizielleit Dekurionen nur den Verkehr mit dem Direktor fortsetzten und sich dabei taktvoll und friedlich benahmen.
Der Direktor Schönborn,
der keineswegs demokratisch gesinnt war, bewies gegenüber diesen
Vorgängen außerordentliche Lebensweisheit, indem er jeden un
mittelbaren Eingriff vermied und dadurch erreichte, daß auch die Schüler ein gewisses Maß der Opposition einhielten. Dieser ganze
Zustand wird am besten durch folgenden Vorgang charakterisiert:
In den bewegtesten Frühlingstagen von 1848 war das Auftreten eines Grafen Eduard Reichenbach in den öffentlichen Volksversamm lungen eine Zeitlang von größter Wirkung auf die Gemüter, be sonders der jungen Welt, so daß eines Vormittags unsere Klasse be
schloß, in corpore einer dieser Volksversammlungen, die für den Nachmittag angesagt war, beizuwohnen. Der Nachmittag war aber leider nicht schulfrei.
Man fühlte sich indessen so berechtigt, ja fast
verpflichtet zu diesem gemeinsamen Besuche der Volksversammlung,
daß die Klasse beschloß, den Direktor um den Ausfall des Nach mittagsunterrichts zu bitten. Die offiziellen Dekurionen weigerten sich natürlich, die Träger dieses Gesuches zu sein, und der Volksdekurio wurde in diesem Falle nicht für geeignet erachtet, da er als
solcher vom Direktor ignoriert wurde. Wtlh. goerfter. Leben-erinnerungen.
So kam es, daß man mich,
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18 da ich einige Familienbeziehungen zu dem Direktor hatte, als Depu tation zu ihm schickte. Unvergeßlich ist es mir, mit welchem Hunwr
er mich aufnahm.
Er sehe wohl ein, daß wir in außerordentlichen
Zeiten lebten, von denen besonders die Jugend ergriffen werde. Dabei warf er einen etwas kritischen Blick auf mein Knopfloch, in welchem eine lange schwarzrotgoldene Schleife baumelte.
Unter
den gegebenen Umständen werde allerdings das Interesse an dem Nachmittagsunterricht so sehr hinter der Begeistemng für den Grafen Reichenbach zurückstehen, daß er die Ausnahme bewilligen wolle,
in der bestimmten Hoffnung, daß uns die Anhörung dieser Rede ernüchtern werde, und daß sich alsdann ähnliche Wünsche nicht wiederholen würden, da sie mit dem Schulbetriebe nicht verträglich seien. In der Tat blieb dieser Fall völlig vereinzelt, wozu der ganze Eindmck dieser Volksversammlung Wesentliches beitrug.
Die Primaner und Sekundaner der Breslauer Schulen ließen sich aber, nachdem diese ersten enthusiastischen Übertteibungen ver raucht waren, nicht abhalten, auch ihrer besonderen Lebenslage ent sprechend ernsthafte Freiheitsbestrebungen zu organisieren, nämlich
eine Reform des Examinattonswesens ins Auge zu fassen.
Es lag
doch sehr nahe, unfern besonderen Anteil an den damaligen Be
freiungsergebnissen in einer freieren Gestaltung des Abiturientenexamens einzuheimsen. Die Beratungen, die hierüber von mehreren hundett Primanern und Sekundanern in dem großen Saale eines
Biergartens in der Mhe von Breslau stattfanden, waren auch keines wegs ungereimte Überhebungen, sondern von manchen tiefen und gefunben Ideen durchglüht, von denen ich sicher bin, daß sie in einer
höheren Stufe der Pädagogik schon in nächster Zukunft in ihren wesenttichen Zügen Erfüllung finden werden. Man wies hin auf den erllätten Zweck des Abiturientenexamens, daß es nämlich dazu dienen sollte, ein Zeugnis der „Reife" zu erlangen, und man sprach
es mit aller Offenheit und mit einem hohen Grade von Berechtigung aus, daß für diese Bezeugung der Reife der nahezu 20jährigen jungen Männer doch etwas ganz anderes maßgebend sein sollte, als der überwiegend verlangte Nachweis sprachlicher und mathematischer Kenntnisse. Besonders für ein freier werdendes Volk sei es uner-
19 läßlich, daß für den Abgang zur Universität und für den darauf folgenden Übergang in die Mitarbeit an den höchsten Kulturaufgaben
auch ein gewisser Nachweis der Reife des Charakters, und zwar als ein wesentliches, fast entscheidendes Moment der Zulassung zur wissenschaftlichen Freiheit der Lebensarbeit gefordert werden sollte. Für die Beurteilung der Reife des Charakters der Schüler seien aber die Urteile der Lehrer meistens ganz unzureichend, keinesfalls entscheidend; denn zumal bei dem bestehenden Betriebe der päda gogischen Organisation und der Schuldisziplin seien es in den meisten
Schulen die „Streber", also die charakterlosen Wesen, welche von den Lehren: vielfach am günstigsten beurteilt würden. Es wurde also einmütig beschlossen, an das Unterrichtsministerium eine Petition
einzureichen um eine anderweitige Ordnung der Reifeprüfung, und zwar in dem Sinn, daß das wissenschaftliche Urteil der Lehrer unter stützt und vervollständigt werden sollte durch die Organisation einer Mitwirkung der Schülerwelt hinsichtlich der Beurteilung des Cha rakters und der Reife des Mtschülers zum Übergang in eine höhere,
freiere Stufe der Lebensentwicklung. Es ist einleuchtend, daß solche Gedanken, obwohl sie einen
so richtigen Ken: enthalten, innerhalb des bisherigen Schulbetriebes keine emsthafte Berwirllichung erfahren konnten. Aber sie werfen ein Schlaglicht auf die Unvollkommenheiten des ganzen Exami nationswesens und auf die seit jener Zeit immer unbefriedigender
gewordenen Zustände und Stimmungen, in denen sich die jungen Männer in den obersten Schulllassen gegenüber der unterschiedslosen Lernmechanik befinden, während ihnen, im Sinne von Pestalozzi, je
nach den Besonderheiten der Begabung in aller Freiheit päda gogische Mitwirkungen eröffnet werden könnten, welche auch der Klärung ihres eigenen Mssens zugleich mit sozialer Verfeinerung
und Stärkung des Charakters so dienlich sein würden. Zu den Erziehungswirkungen der Breslauer Zeit kamen noch zwei hinzu, welche mehr der körperlichen Sphäre angehörten, aber
mir auch tiefe Lebensbereicherung brachten.
Das war das Turnen,
welches sich damals an den höheren Schulen in besonders enthu
siastischer Weise entwickelte, und die edle Reitkunst, in welcher mir
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20 mein Bater, der selber in der Jugend ein gar flotter Reitersmann gewesen war, unter den angenehmsten Verhältnissen Unterweisung erteilen ließ.
Ich wurde mit den Pferden sehr gut fertig und fand
in der Reitschule einen Stallmeister, der mich auf längeren Parforce-
ritten zu meinem unsäglichen Vergnügen mitnahm.
Das Turnen
wurde mir besonders erzieherisch dadurch, daß man auch mir die Leitung und Überwachung einer größeren Schar von jüngeren Mit schülern auf dem Turnplatz anverttaute, wobei ich anfangs nicht geringen disziplinarischen Schwierigkeiten zu begegnen hatte, weil
ich ein kleiner Kerl war und mit meistens größeren und kräftigeren Kameraden zu tun hatte. Die Überwindung der Schwierigkeiten gelang mir ähnlich, wie bei dem früher erwähnten Vorgang in der Grünberger Stadtschule, dadurch, daß ich einige der besten Jungen
durch besonders vertrauensvolle Behandlung auf meine Seite brachte,
was mir später im Leben öfters vorgeschwebt und geholfen hat. Mein älterer Bruder war leider nur kurze Zeit in Breslau mit mir zusammen gewesen, da er schon ein halbes Jahr nach der Über siedlung von einem hartnäckigen Magenleiden befallen wurde, welches
seine weitere Schullaufbahn unterbrach und den Bater bestimmte, ihn dann unter heimatlicher Pflege sofort in das Geschäftsleben eintteten zu lassen. Nachdem mir so der älteste und nächste Freund
in Breslau genommen war, habe ich allmählich mehrere sehr innige
und dauernde Freundschaften geschlossen, insbesondere mit zwei Mtschülern, von denen der eine, Eduard Wendel, der später die richterliche Laufbahn wählte, noch lebt, der andere, Louis Waecker (später von Waecker-Gotter), der in die diplomattsche Laufbahn eintrat, vor kurzem zu meinem tiefen Schmerz gestorben ist.
Beide
waren ebensowenig Musterschüler, wie ich selber, aber unaussprechlich
liebe Menschen. In den.aufgeregtesten Zeiten von 1848 waren sie keineswegs einverstanden mit meinem polittschen Gebaren. Beide
gehörten durch ihre Familien der konservativen Richtung an, während ich durch den radikal-demokrattschen Lehrer, bei dem ich in Pension war, nach der andern Seite gezogen wurde. Mein Bater hatte sich, trotz seiner vorhergegangenen Verbindungen mit den kirchlichen
Freiheitsbewegungen, jetzt auf die sogenannte konstituttonelle Seite
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gestellt, und zwar hauptsächlich gegenüber den Aufhetzungen, die auch in Grünberg innerhalb der Arbeiterschaften getrieben wurden.
Es
gelang ihm, in der zahlreichen Grünberger Arbeiterbevölkemng
extreme Bewegungen zu verhüten, weil er schon seit Jahren in der Arbeiterschaft seiner eigenen Fabriken ganz auf eigene Hand einen Anfang mit Krankenkassen, sowie mit Unterstützungs- und Alter versorgungseinrichtungen gemacht hatte. Meine Ehrerbietung für den Vater war doch so groß, daß ich bei den Ferienbesuchen in der
Heimat im Frühjahre und Sommer 1848 nur äußerst schüchtem und bescheiden mit meiner Breslauer Demokratengesinnung hervortrat. Auch die Differenz mit den beiden konservativen Freunden milderte
sich dann erheblich, als im Herbst 1848 in Frankfurt a. M. die schmäh liche Ermordung des Fürsten Lichnowski durch die aufgeregten
Bolksmassen begangen wurde. Fürst Lichnowski war eine von meinem Vater auf Grund mehrfachen freundschaftlichen Zusammen
wirkens hochverehrte Persönlichkeit.
Er hatte auch, als mein Vater
als Grünberger Abgeordneter in den Vereinigten Landtag eingetreten war, mehrfach in ganz besonderer Freundschaft sich der politischen
Tätigkeit des auf diesem Gebiete noch unerfahrenen Geschäfts
mannes angenommen. Die Umstände, unter denen dieser eigen artig bedeutende Edelmann ermordet wurde, öffneten mir die Augen
übet die Unreife und das Unmaß der demokratischen Hetzereien, was mir natürlich in dem Hause meines Pensionsgebers, der sonst meine volle Hochachtung und Anhänglichkeit besaß, eine schwierige
Stellung bereitete. Beinahe wäre es mir aber passiert, daß ich trotz jener meiner Sinnesänderung als Barrikadenheld gestorben und entsprechend gefeiert worden wäre. Das war am 7. Mai 1849.
Als die Frankfurter Nationalversammlung auseinandergegangen war, entstanden bekanntlich in einer Reihe von größeren deutschen Städten und auch in Breslau (Berlin war ja seit dem November 1848 unter strengster militärischer Bewachung) Aufstandsbewegungen in
Gestalt von Barrikadenkämpfen.
Ich war, nichts davon ahnend,
am 7. Mai, nach dem Schlüsse des Nachmittagsunterrichtes mit
einem Freunde Billard spielen gegangen und wollte mich dann gegen Abend durch eine der Hauptstraßen nach meiner Wohnung
22 begeben, die auf einer Oderinsel lag.
Da sah ich vor mir, völlig
überraschend, an dem Kreuzungspunkte jener Hauptstraße mit einer der belebtesten andern Straßen, eine Barrikade, bestehend aus über einandergetürmten Schubkarren und anderem Gerümpel. In der
Nähe war niemand zu sehen, und ich ahnte nicht, daß auf der mit meinem Wege sich kreuzenden Straße, welche nach der Barrikade hinführte, bereits das Militär anrückte, vor dessen zu erwartenden
Gewehrsalven sich die Erbauer der Barrikade in die benachbarten Häuser zurüötzezogen hatten, aus deren Fenstern sie dann auf das anrückende Militär zu schießen gedachten. Weithin in der Richtung meines Weges noch immer niemand erblickend, wagte ich als fixer Hutner die Barrikade zu überklettern, und dieses Erscheinen eines
Menschen auf der Barrikade rief sofort aus der Querstraße die erste Gewehrsalve hervor, so daß mir die Kugeln um die Ohren Pfiffen und auch prasselnd in die offenstehenden Fensterflügel einschlugen. Jetzt nahm ich nun die Beine in die Hand und lief, so schnell ich konnte, den kürzesten Weg nach Hause, wobei ich noch einer Militär-
patrouille begegnete, die mich hart anließ, aber nach gegebener Aufllärung ziehen ließ. Natürlich war dies ein gewalttger Chok, der nicht ohne Nachwirkung auf meine Gesundheit blieb.
In dieser
Mainacht wurden zahlreiche Barrikadenkämpfer erschossen und auch mehrere Offlziere und eine größere Anzahl von Soldaten. Meine Wohnung auf der Oderinsel war in demselben Jahre nicht ohne ernstliche Gefahren für mich gewesen. Ich brach einmal beim Erproben der Eisfläche des Flusses so unglücklich ein, daß ich ein Stück unter dem Eise mit fortgerissen wurde, bis ich zum Glück noch an einer offenen Stelle flußabwärts wieder auftauchen konnte.
Ein anderes Mal mußte ich mich an der Rettung des Keinen Sohnes meines Lehrers beteiligen, welcher beim Spielen in einem Kahn,
der nicht genügend befestigt am Ufer lag, in die starke Strömung hinausgetrieben wurde, die nicht weit davon über ein breites Wehr hinabstürzte. Es gelang dem Vater des Knaben und mir, mit einem
andern Kahne nachfahrend, den losgerissenen Kahn noch rechtzeitig zu packen, und mit unseren starken Stoßrudern beide Kähne ans Land zu bringen. Es scheint, als ob die Wiederholung solcher Ge-
23 mütserschütterungen die Hauptursache einer schweren Erkrankung
gebildet Gestalt
haben, von
die
mich
gegen
Ohnmachtsanfällen
Ende des
bedrängte
Jahres und
mit
1849 in
mehr
monatlicher Schulunterbrechung zu einem Aufenthalt im Eltern-
hause nötigte. Dieser Aufenthalt wurde für mich eine Zeit tieferen Nach denkens über meine Berufswahl. Auf der Schule hatten mich Sprachen und Literatur ebensosehr angezogen wie Mathematik und Naturwissenschaft. Es gab Zeiten in Breslau, in denen ich zu
gleich von der klassischen Musik derartig ergriffen worden war, daß mir auch der Gedanke kam, einen musikalischen Beruf zu wählen.
Ein alter Organist, der mich im Klavierspiel unterrichtete und auch
in die Konzerte eines Künstlervereins einführte, hatte mir die Herr lichkeiten von Beethoven geöffnet, die mir mein ganzes Leben ver
schönt haben.
Während der durch die Erkrankung erzwungenen
Schulunterbrechung im Winter 1849/50 trat nun auch meinem Vater
gegenüber, im Hinblick auf das im Spätsommer 1850 bevorstehende
Abiturientenexamen, die Erörterung einer wissenschaftlichen Berufs
wahl in den Vordergrund.
Schon einige Jahre vorher hatte mich
ein im Besitz des Vaters befindliches Fernrohr mehrfach zum Studium
von Fernblicken angeregt.
Konnten wir doch von den Anhöhen um
Grünberg am südlichen Horizonte die etwa 150 km entfernten Gipfel des Riesengebirges schoir mit bloßem Auge erkemren und iin Fern rohr die Kapelle auf der Schneekoppe unterscheiden. Zu diesen An
regungen kam nun das Studium von Alexander von Humboldts
neuesten Werken hinzu. Ganz vorübergehend ergriff mich burd) einen Einblick in die populäre Himmelskunde von Littrow eine Sehnsucht nach dem Studium der kulturgeschichtlichen Entwicklung
dieser Wissenschaft und dementsprechend nach der Erforschung der Sprachen und Literaturen der ältesten Kulturvölker im Osten. — Aber der Entschluß, mich der Astronomie selber zu widmen, kam doch
zur entscheidenden Geltung, da ich eine ganz besondere Freude auch an der edlen Rechenkunst hatte.
Nach Ostern 1850 durfte ich zur Schule zurückkehrcn und machte dann int September 1850 mein Abiturientenexamen, bei welchen!
24 ich auf Gmnd der schriftlichen Arbeiten fast ganz von der mündlichen Befragung dispensiert wurde. Ich darf wohl, im Anschlüsse an meine früheren Äußemngen
über das Magdalenen-Gymnasium, hier in treuer Erinnerung noch aussprechen, daß meine Gesinnung gegenüber den meisten Lehrem und insbesondere dem Direktor gegenüber doch ganz überwiegend voll Hochachtung und Dankbarkeit war, ganz abweichend von den
Auffassungen, welche meine eigenen Söhne von ihrer Schulzeit mit
ins Leben nahmen, und auch ganz abweichend von zahlreichen anderen Äußemngen, die ich von geordneten und begabten jungen
Männem über die verschiedensten höheren Schulen der Gegenwart Ich weiß sehr wohl, daß eine Herleitung
zu hören bekommen habe.
von allgemeinen Urteilen aus solchen persönlichen Eindrücken sehr leicht in Irrtum und Ungerechtigkeit verfällt, und daß man viele ausgezeichnete und höchst pflichtgetreue Lehrer der verschiedensten
Stufen des Schullebens sofort zugunsten der weniger leistungs
fähigen Lehrkräfte und zu milderer Beurteilung zweifelloser Unvoll kommenheiten der bestehenden Einrichtungen stimmt, sobald man
in Bausch und Bogen abgeneigte und geringschätzige Urteile darüber abgibt. Diese Solidaritätsgefühle, an und für sich von edlem sozialen Charakter, sind aber in ihren überhand nehmenden Steigemngen, wie sie jetzt fast alle Gruppen von Gemeinschastswirksamkeit durch
dringen, das größte Hindemis vemünftiger Selbstkritik in den ver schiedensten Bemfskreisen und der entsprechenden höheren Gemein
schaftskultur.
4. Kapitel, Die Universitätszeit in Berlin 0850—1852)* Im Oktober 1850 bezog ich also die Universität Berlin, um Mathematik und Astronomie zu studieren. Dort verblieb ich drei
Semester, bis Ostern 1852, und übersiedelte dann nach Bonn, wo
ich fünf Semester, bis zum Spätsommer 1854, verblieb und im August
1854 mein philosophisches Doktorexamen machte. Die ganze Uni versitätszeit war für mich überaus förderlich und glücklich, vielleicht nicht zum wenigsten dadurch, daß mir infolge der vorerwähnten Er krankung die absolute Enthaltung vom Alkohol auferlegt worden war,
wodurch ich von der Beteiligung an dem gewöhnlichen Berbindungs und Kneipleben gänzlich abgehalten wurde. Statt dessen konnte
ich mir in vollster Freiheit mehrere überaus liebe Freunde, haupt sächlich im Gebiete des gemeinsamen Studiums, aber auch darüber hinausgehend, erwerben.
So wurde mir in der Berliner Zeit die
unvergeßliche Freundschaft des ausgezeichneten Musikers Hans von Bronsart, des späteren Intendanten des Hoftheaters zu Hannover,
zuteil, der meine musikalische Schulung durch den alten Breslauer Organisten wesentlich ergänzte und mir Unschätzbares ins Leben
mitgab. Während der drei Semester an der Berliner Universität habe
ich vorzugsweise Mathematik und Physik getrieben, da ich für die Sternwarte in der Mathematik noch nicht reif genug war. Jene erste Berliner Zeit wurde mir noch besonders geschmückt
durch die traulich-liebevolle Aufnahme, die ich in der Familie des Bruders meiner Stiefmutter, des damaligen Kommandanten von Berlin, General v. Hahn, fand.
26 Im Frühsommer 1851 genoß ich, zusammen mit meiner ältesten Schwester Hulda, durch unsere Befreundung mit eitfer dem Hof beamtentum nahestehenden, in Potsdam wohnenden Familie ein ganz besonderes, wegen der mitwirkenden Personen der Aufzeichnung
wertes Erlebnis.
$Bir durften, verborgen durch eine dichte Baum
gruppe, auf der Pfaueninsel eines Sonntagsnachmittags aus einiger Nähe ein kleines Tanzvergnügen mit ansehen, welches König Friedrich
Mlhelm IV. einer kleinen Gesellschaft von Prinzen und Prinzessinnen
auf einer schön glatten Rasenfläche mit der Musik des Ersten Garde-
Regiments darbot.
Der König kommandierte dabei selber die Qua
drille mit großer Lustigkeit, und als der Prinz Friedrich Mlhelm, der spätere Kaiser Friedrich, sich mit einer Polkamusik (der sogenannten
Mener Kreuzerpolka), in welcher der Takt öfter wechselte, nicht zurechtfinden konnte, nahm ihm der König die Dame ab und tanzte selber mit ihr, unter heiterster Akllamation der höchst anmutigen Gesellschaft, dem jungen Prinzen vor, wie er sich in den Takt zu
schicken hätte.
Der ganze Vorgang hat insofern einen geschichtlichen
Hintergrund, als er merkwürdig deutlich ersehen ließ, wie damals nach den für ihn so furchtbaren Zeiten von 1848 der König noch einer ganz bewunderswerten Heiterkeit und Elastizität fähig war.
Am Ende meines zweiten Semesters, also im Spätsommer 1851,
erlebte ich noch eine in mancher Beziehung für mich epochemachende Reise nach England zusammen mit meinen Eltern. Die väterlichen Fabrik- und Handelsgeschäfte, die sich damals in lebhaft auffteigender Entwicklung befanden, und in denen mein älterer Bruder sich mit
besonderer geschäftlicher Begabung zu betätigen angefangen hatte, beteiligten sich weitgehend an der im Jahre 1851 hauptsächlich vom Prinzen Albett ins Leben gerufenen ersten internationalen Aus stellung in London, und schon im Frühling dieses Jahres war mein
älterer Bruder als geschäftlicher Vertreter nach London gereist. Jetzt wurde auch der Student von den Eltern in diese erste große Welt
bewegung eingeführt. Die Reise ging über Frankfutt a. M., sodann den Rhein hinunter, von Köln über Calais und Dover nach London und dann über Folkestone, Boulogne, Paris und Köln
wieder nach Hause.
27 Mit der englischen Sprache hatte ich schon auf dem Gymnasium angefangen, mich zu beschäftigen, und ich hatte dann das Glück, auf der Universität in Berlin mit einem jungen Engländer bekannt und sogar nahe befreundet zu werden. Zu Weihnachten 1850 nahm ich
ihn sogar in mein Elternhaus mit, und unsere Freundschaft hat mir in späteren Jahren nicht wenige tiefere Beziehungen zur englischen Geisteswelt geöffnet. Er war im Herbst 1850 nach Berlin gekommen, um dort hauptsächlich bei Prof. Lepsius ägyptische Altertumskunde zu studieren. Damit hatte es folgende Bewandtnis: Mein Freund
gehörte der unitarischcn Sekte an, hatte Theologie studiert und war nahe daran gewesen, in ein geistliches Amt einzutreten. Als er sich in dieser Lebenslage mit der Tochter eines der bedeutendsten uni tarischen Geistlichen in Manchester verlobte, hatte der Vater der Verlobten dem noch sehr jungen Manne die Bedingung gestellt,
vor der Verheiratung noch eine Vertiefung seiner Studien eintreten zu lassen und fich zugleich, da die Bermögensverhältnisse des Verlobten
dies gestatteten, ein besonderes Verdienst um die freireligiöse uni tarische Lehre durch eigenartige kulturgeschichtliche Studien zu er werben. So wurde ihm die Aufgabe gestellt, in Berlin bei dem berühmtesten Ägyptologen jener Zeit den Zusammenhang der mosaischen Gesetzgebung mit der Ethik der altägyptischen Literatur
und Denkmäler zu studieren und auf diese Weise die Mystik der un
mittelbaren göttlichen Eingebung auf dem Sinai deuten zu helfen. Mein Freund machte sich denn auch fleißig ans Werk, aber es wurde
ihm bald klar, daß eine solche Aufgabe nicht als eine Episode zwischen Verlobung und Verheiratung behandelt werden konnte, und so beendete denn schon nach einem Semester die Sehnsucht nach der Geliebten diesen Berliner Ausflug in die Zeit der Pyramiden und
Pharaonen. Diese meine Beziehungen zu englischer Geistesart kamen mir bei der Reise sehr zustatten, obwohl meine Sprachkenntnis noch ziemlich mittelmäßig war, da der englische Ägyptologe über wiegend von meinem Deutsch zu profitieren gesucht hatte. So kam es denn, daß, als ich am ersten Morgen in London einen Policeman auf der Straße in „gewähltem" Englisch um Auskunft bat, derselbe mir einfach antwortete: „That’s no English at all!“
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Die Ausstellung selber und das ganze Londoner Leben inter essierten mich in hohem Grade, und auch mein Englisch wurde dabei allmählich verständlich. Belustigend war es mir, unter der Marke „Philosophical In struments“, die über einer ganzen Abteilung der Ausstellung prangte, lauter Jnstmmente zu finden, die nur mit der Technik und der Natur wissenschaft und nichts unmittelbar mit der Philosophie zu tun hatten. Als philosophisches Jnstmment hatte mir bis dahin nur der „Nürnberger Trichter" vorgeschwebt. In der englischen Kulturentwicklung war aber bis dahin die Naturforschung überwiegend als die eigent liche Weltweisheit erschienen, was für den deutschen Studenten, der damals in Berlin noch Hegelsche Philosophie hörte, recht in struktiv war. Die Rückreise über Paris bot einige recht merkwürdige Eindrücke dar, obwohl der Aufenthalt nur wenige Tage dauerte. Es war lEnde August 1851) noch die Zeit des Präsidenten Louis Napoleon, welcher aber damals schon anfing, nach dem Kaiserthron zu schielen, den er ja dann im Winter 1851/52 mit Hilfe eines gewalttätigen Staatsstreiches und einer Volksabstimmung bestieg. So erinnere ich mich auf die folgende Begegnung bei einem Spaziergang, den ich mit den Eltem am Sonntagnachmittag in den Champs Elysäes machte. Der Präsident kam mit einem sehr eleganten Gespann von vier Pferden in einem offenen Wagen gefahren. Er kutschierte selbst. Neben ihm saß, wie wir aus den Mitteilungen der umgebenden Menge entnahmen, Persigny. Das Publikum rief ziemlich einmütig „Vive le Präsident“, was wohl auch der Eleganz des Aufzuges galt; denn Louis Napoleon lenkte (hinter ihm saßen zwei Diener) die vier schönen Rosse, die Peitsche in der einen, Hand, mit eigenartiger An mut. Auf einmal kam von einer Gmppe junger Leute der Ruf „Vive PEmpereur“. Während nun bis dahin der Herr Präsident auf das Zumfen nur durch Bemeigen des Kopfes geantwortet hatte, faßte er nun auf einmal Zügel und Peitsche in die eine Hand und griff mit der andern nach seinem Zylinderhut, mit dem er dann, ihn tief abnehmend, nach der Seite jener Gmppe hin demonstrativ grüßte. Jetzt aber erhob sich aus der Menge ringsum der donnemde
29 Ruf „Vive la RSpublique“. Die Antwort hierauf bestand in einem kräftigen Peitschenhieb, mit welchem das Gespann zu einem stolzen
Galopp angetrieben wurde, bis es den Blicken der an dieser Szene beteiligten Menge entschwand.
Die damalige Situation Frankreichs
konnte kaum charakteristischer dargestellt werden, als es in diesem Auftritt geschah. In London wie in Paris wurde ich besonders lebhaft von
den großen Kunstsammlungen ergriffen, während ich in Berlin noch keine Fühlung nach dieser Seite gewonnen hatte, nun aber, nach
der Rückkehr, in meinem dritten Semester auch der Kunstgeschichte und den Berliner Museen mich zuwandte. Ganz besonders wichtig wurde mir aber dieses dritte Semester
durch
die
Einblicke,
welche
von Professor Joachimsthal
die mir
mathematischen
Vorlesungen
auch in
die höchsten
endlich
Zweige der mathematischen Wissenschaft eröffneten. mir dabei
für
Es wurde
meine ganze spätere akademische und amtliche
Tätigkeit ins Klare gebracht,
daß die Hochschul-Pädadogik zwei
Typen von Lehrem bedarf, nämlich erstens solcher Lehrer, welche bei tiefem eigenen Wissen eine echte Beseligung darin emp
finden, in die innere Welt der Hörer neue grundlegende und schöpferische Gedankenreihen einführen zu
können, die aus der
vergangenen Gesamtarbeit der Wissenschaft emporgewachsen sind, und zweitens solcher Lehrer, welche jenes sympathische Bedürfnis der Überlieferung von Gedankenschätzen und der aufhellenden Wir
kungen derselben in der inneren Welt der Hörer nicht empfinden und in ihren Borträgen wesentlich nur dem instinktiven Bedürfnis nach
monologischer Gestaltung der noch in ihnen ringenden neuen und tiefen Gedankenverbindungen Ausdmck geben, ganz unbekümmert um die unmittelbaren Wirkungen aus die Hörer.
Lehrer von letz
te r e r Art sind die großen Denker und Forscher, dagegen sind die andern die mindestens ebenso wichtigen Förderer der Anwendungen
und Ausbreitungen der tieferen Denkergebnisse. Wenn die Lehrer von dieser letzteren Art auch mehr der Ge staltung und Befruchtung des Wissens, als der eigenen tieferen
Forschung sich widmen, so erblühen ihnen doch gerade aus der Har-
30 monisierung, mit welcher sie die Gedankenschätze in andere Seelen einführen wollen, mitunter ganz eigenartige Neuschöpfungen, deren
Bedeutung für die Gesamtarbeit nicht selten die Ergebnisse der bloß auf die eigene Störung gerichteten Arbeiten der spezifischen Forscher
überstrahlt.
Auch die letzteren üben mittelbar bedeutende Lehrwirkungen aus, und zwar auf diejenigen Hörer, die ihrem Typus der selbständigen schöpferischen Begabung verwandt sind, während die ersteren, welche die eigentlichen sozialen Lehrkräfte sind, unmittelbar belebend auf
weitere Kreise wirken. Pwfessor Joachimschal gehörte in eminenter Weise diesem pädagogischen Typus an, der für mich in der Mathematik int höchsten Grade förderlich wurde, weil ich mehr Begabung für die logische und
technische Anwendung der Mathematik, als für die machematische
Forschung selber besaß.
In der gesamten Hochschulpädagogik müssen
durchaus die beiden Typen zu Worte kommen, während in den Schulzeiten zweifellos die Lehrer der ersteren Art die wirksameren
sind, besonders auch auf dem Gebiete der Mathematik, wo die soge
nannten mathematischen Talente unter den Lehrern meistens den Schülem die Freude an den Herrlichkeiten ihrer Wissenschaft gänz lich verleiden, da sie mit Vorliebe mathematische Monologe halten, die nur von den entsprechend begabten Schülern verstanden und
gewürdigt werden. Diejenigen bedeutenden Köpfe, welche keine pädagogische Neigung und Begabung haben, sollten aber deshalb keineswegs
geringer bewertet werden, sobald sie wirllich eigenartige schöpferische Denker sind. Sie müssen bann nur an die rechten Stellen der ge meinsamen Arbeitsorganisation gebracht werden, wo sie sich nicht
mit der sie anödenden monotonen Lehrarbeit abzuquälen haben, sondem wo ihnen ohne bedrückende Tagespflichten der Drang nach bloßer innerer Vertiefung die edelsten Früchte zur Reife bringen hilft.
31
5. Kapitel. Die Universitätszeit in Bonn 0852—185^)» Nach der Beendigung meines dritten Berliner Semesters ging
ich zur Fortsetzung meiner astrononiischen Studien Ostern 1852 nach Bonn. Dorthin zogen mich die überaus inhaltsreichen Mitteilungen, welche Humboldts Kosmos über die Beobachtungstätigkeit von Professor Argelander air der Bonner Sternwarte enthielt. Ich hatte den Eindruck, daß ich dort in die praktische Beobachtungstätigkeit, von
der ich mich in Berlin noch femgehalteir hatte, am besten eingeführt werden würde. Und diese Erwartung wurde in glücklichster Weise erfüllt. Ich fand bei Professor Argelander kompetente Belehmng und gütige Förderung ohnegleichen, so daß die beiden Jahre, die
ich vom Frühling 1852 bis zum Sommer 1854 auf der Bonner Sternwarte zubringen durfte, zu den beglückendsten meines ganzen Lebens
gehörten. Argelander, damals 53 Jahre alt, war, bevor er, um 1843, an die Bonner Universität berufen wurde, Direktor der Sternwarte zu Helsingfors in Finnland gewesen. Er war als Sohn eines reichen
Kaufmanns in Memel geboren, hatte dann in Königsberg studiert
und als Schüler und Gehilfe des großen Monomen Bessel an der Königsberger Sternwarte gearbeitet. Auf Bessels Empfehlung hin
wurde er bei der Erledigung der Leitung einer Sternwarte in Finn land dorthin berufen. Seine Rückkehr nach Deutschland und seine Anstellung in Bonn war das Werk von Bessel und Humboldt ge wesen, welche auch entscheidend dazu halfen, daß ihm in Bonn die Leitung des Baus und der Einrichtung einer stattlichen neuen Stern-
warte übertragen wurde. Auch König Friedrich Wilhelm IV. hatte in Gemeinschaft mit Humboldt besonderen Anteil an dieser Berufung genommen, denn Fritz Argelander war in der bedrücktesten Zeit der königlichen Familie, in der sie sich an der äußersten Grenze des preußischen Staates im Hause des Vaters von Argelander in Memel aufhielt, der Spielgenosse der beiden ältesten Prinzen Fritz und Ml-
Helm gewesen.
Und dieses freundschaftliche Verhältnis ist durch das
ganze Leben Argelanders von diesen beiden Prinzen, den späteren
32 Königen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm 1, mit größter Treue gepflegt worden.
Argelanders astronomische Tätigkeit war hauptsächlich der Be obachtung des Fixsternhimmels gewidmet, und zwar sowohl der Bestimmung der Orter und Ortsverändemngen der Sterne am Himmelsgewölbe, als auch der Messung
ihrer
Licht Ver
Er plante in der Zeit meiner Ankunft in Bonn das großartige Untemehmen einer sogenannten Durchmusterung der änderungen.
ganzen nördlichen Himmelshalbkugel, d. h. der Himmelsfläche zwischen dem nördlichen Drehungspol des Himmels und dem um einen Viertel kreis davon abstehenden Himmelsäquator. Diese Durchmusterung sollte die Orter und die Helligkeiten aller mt dieser Himmelsfläche sichtbaren Sterne bis zur Helligkeit der sog. neunten Größe ermitteln
und in Karten verzeichnen, um für das nächste halbe Jahrhundert die
Grundlage für die immer genauere Ermittlung der Orts- und Licht-
verändemngen dieser Sternwelt zu liefern. Dieses grandiose Untemehmen, welches die Bonner Sternwarte
zwei bis drei Jahrzehnte lang beschäftigt hat, und an welchem unter Fühmng nacheinander mehrere der bedeutendsten
Argelanders
jüngeren Astronomen jener Zeit Anteil nahmen, gab damals den, wissenschaftlichen Leben und der persönlichen Gemeinschaft auf dieser
Sternwarte eine ganz besondere Weihe.
Es wurde mit einer Hin
gebung ohnegleichen gearbeitet, und es wurden die Orter und die
Helligkeiten von mehreren hunderttausend Sternen derartig ge messen und in Karten verzeichnet, daß dieses Bonner Unternehmen
eine der größten astronomischen Taten des Jahrhunderts wurde. Dasselbe bildete weiterhin auch den Ausgangspunkt und Anhalt für eine danach in ebenso großem Stile durch die internationale astro nomische Gesellschaft begründete Organisation der immer genaueren und vollständigeren Ausmessung des ganzen Fixsternhimmels und
für die daraus hervorgehende Organisation der photographischen Aufnahme der Stemwelt.
Argelander war ein Meister der Beobachtungskunst, zugleich durch seine große Erfahmng und sein leuchtendes Beispiel ein unver
gleichlicher Lehrer dieser edlen Kunst.
Aber er beherrschte zugleich
33
in völlig ausreichendem Maße diejenigen theoretischen Gebiete der Mathematik und Astronomie, welche sich mit den Grundlagen und Zielen dieser Beobachtungskunst beschäftigen. Für die Einführung eines Jüngers der Astronomie in die große
praktische Arbeit konnte weder ein besserer Lehrer noch ein besserer Aufenthalt gedacht werden, als die Bonner Stemwarte mir damals darbot. Zugleich traf es sich glücklich, daß dem jungen Studenten,
welcher an der Durchmusterung des Sternhimmels nicht unmittel bar beteiligt wurde, eine Reihe von Beobachtungsaufgaben der
Planeten- und Kometenwelt fast von selber zufielen, welche damals bei den Mitarbeitem der Durchmusterung an der Sternwarte geringere Beachtung fanden. So wurde mir schon im Sommerhalbjahr 1852 das große Äqua torialinstrument der Sternwarte zu Beobachtungen von neu ent
deckten kleinen Planeten übertragen, nachdem ich von einem der
jüngeren Assistenten, der mir später ein innig verehrter Freund wurde, EduardSchönfeld (der später ein verdienter Astronom und Direktor der Sternwarte in Mannheim, sodann schließlich Nach folger von Argelander in Bonn wurde) in die betreffenden Methoden
und Einrichtungen eingeführt worden war. In besonders leuchtender Erinnemng ist mir aber aus dieser
Frühlingszeit meiner Beobachtungsarbeiten eine Mitwirkung bei einem sogenannten magnetischenTermin geblieben.
Diese
magnetischen Termine waren die ersten, die ganze Erde umfassen
den Beobachtungsorganisationen, die seit 1839 durch Alexander von Humboldt und Gauß in Gang gebracht worden waren, und die
darin bestanden, daß an verabredeten Tagen 24 Stunden hindurch unablässig mit dem Auge durch ein Fernrohr die Schwingungs bewegungen eines, an mehrere Meter langen Seidenfäden aufge hängten, Magnetstabes an den verschiedensten Stellen der Erde gleichzeitig verfolgt und ausgezeichnet wurden. Die Aufzeichnungen
geschahen auf die Sekunde nach einer daneben schwingenden Pendeluhr Natürlich konnte ein einzelner Beobachter dies nicht 24 Stunden lang tun, und so wurde denn dieser Zeitraum in Intervallen von je zwei Stunden unter eine größere Anzahl von astronomischen GeMUH. Fo erster, Leben-erinnerungen.
3
34
Hilfen und Studierenden verteilt.
An dem betreffenden magne
tischen Termin, welcher mit dem Pfingstsonnabend zusammenfiel, wurde mir die Zeit von 2—4 Uhr am frühen Morgen des Pfingst-
sonnabends zugeteilt, und das Verständnis dieser ersten Mtwirkung
bei einer großen kosmischen Untemehmung, bei welcher gewisser
maßen der magnetische Pulsschlag der Erde belauscht wurde, erfüllte
mich in diesen einsamen Morgenstunden mit unvergeßlicher Lebens freude. Nach vollendeter Beobachtung ging ich um 4 Uhr dieses
Frühlingsmorgens auf die benachbarten Berge und trat dann mit den Freunden eine Dampfschiffahrt an, die uns am Nachmittage bis
in den Rheingau brachte. Einer der liebsten Breslauer Schulfteunde,
Louis Waecker (der spätere Diplomat von Waecker-Gotter, von dem
ich oben bereits erzählt habe) nahm besonders Anteil an den Schil derungen meiner kosmischen Morgenandacht auf der Sternwarte und brachte mich in zärtlicher Fürsorge auf der köstlichen erfrischenden Dampferfahrt zu einem Nachmittagsschläfchen, indem er mir von
den Erlebnissen bei seinen letzten Zweikämpfen — er war einer der
schneidigsten Paukanten bei dem Korps Bomssia — Geschichten er zählte, die mein Herz bei weitem nicht so stark bewegten, wie es die Schwingungen des Magneten getan hatten.
Die Rheinreise führte mich zum Pfingstfest in die damalige Bundesfestung Mainz, zu deren Kommandanten der Bmder meiner Stiefmutter, General von Hahn, nicht lange vorher ernannt worden war. In dem Hause dieser lieben Familie, von deren Heimatlichkeit ich schon oben bei meiner Übersiedelung zur Berliner Universität
erzählt habe, genoß ich eine für mich völlig neue und interessante Art der Geselligkeit, nämlich ein überaus vertrauliches und heiteres
Zusammenleben der preußischen und der österreichischen Offiziere und ihrer Familien. Nach Bonn zurückgekehrt, widmete ich mich mit ganzer Inten
sität den Beobachtungsarbeiten auf der Stemwarte in den herrlichen Frühlings- und Sommernächten dieses Jahres.
Diese Beobach
tungsnächte empfingen einen Reiz ohnegleichen dadurch, daß sich
unweit der Stemwarte eine große Allee von schönen alten Kastanien bäumen hinzog, die von einem Heer von Nachtigallen bewohnt wur-
35 den.
Erst wenn ich morgens beim Erlöschen der Sterne durch die
Allee nach meiner Stadtwohnung wanderte, verklangen auch die
letzten Töne dieser entzückenden nächtlichen Konzerte, die manchmal beinah den kosmischen Rhythmus des Tickens der Pendeluhr auf dem Turm der Stemwarte übertönten. Am Ende des Semesters bereitete mein Vater mir die Freude, daß ich für die großen Ferien auf dem Wege zur schlesischen Heimat
den Umweg über die Schweiz, Tirol und Wien nehmen durfte. Zunächst besuchte ich auf dieser Reise einen mir in Berlin sehr
lieb gewordenen Freund Karl Westphal, der in Heidelberg Medizin studierte und später ein sehr ausgezeichneter Psychiater an der Ber liner Universität und für mein Leben in Berlin von besonderer Be
deutung wurde. Mit diesem und einigen anderen Heidelberger Freunden sowie Breslauer Jugendgenossen wurde dann ein Ausflug nach BadenBaden gemacht, von dem ich etwas Besonderes zu erzählen habe.
Dort florierte nämlich damals noch die Spielbank als ein Sammel platz der eleganten Welt von Mitteleuropa.
Natürlich mußten wir
jungen Leute davon Kenntnis nehmen und auch unser Glück ver
suchen.
Vorsichtig überlieferte ich mein Reisegeld, welches schon
durch die etwas negative Bilanz des Semesters merklich vermindert war, dem Verschlüsse des Hotelwirts, bevor ich mich in den Strudel des Rouletts begab.
Die Freunde hatten sehr bald das Betriebs
kapital, das auch sie dem Spiele opfern wollten, verloren, während
ich mit den zehn Gulden, die ich daran setzen wollte, durch einige
besondere Glücksfälle allmählich trotz einiger Schwankungen von
Gewinn und Verlust nahezu 600 Gulden gewann.
Natürlich wäre
in der weiteren Fortsetzung des Spieles auch mir dieser Gewinn wieder abhanden gekommen, wenn ich nicht ein gewisses Interesse
der guten Freunde daran erweckt hätte, daß sie meine weitere Be teiligung am Spiel beendigen halfen, nachdem sie selber bereits am Ende ihres Betriebskapitals angelangt waren.
„Kinder", sagte ich
ihnen, „wenn ihr mich jetzt mit diesem Goldhaufen von der Spiel bank wegbringt und mich verhindert, solange ich in Baden-Baden bin, in diese elegante Hölle zurückzukehren, so gebe ich Euch morgen vor-
3*
36 mittag oben auf der alten Burg ein leckeres Champagnerfrühstück und bin auch sonst kein Unmensch, wenn Ihr an meinem Goldüberfluß einen maßvollen Anteil nehmen wollt." Sofort wurde ich angepackt, aus dem Spielsaal hinausgetragen und bis zur Abreise streng bewacht,
während natürlich ein glänzendes Frühstück auf der alten Burg mit
Gläserklingen gefeiert wurde. Mir blieben zur Verstärkung meines Reisegeldes, nachdem ich
noch einige Beiträge zu dringenden Schuldenbezahlungen an die
Freunde abgegeben hatte, einige hundert Gulden, die es mir ermög lichten, die Reise bis zum Genfer See und alsdann durch die ganze Schweiz und Tirol hindurch über Meran bis zum Gardasee auszu dehnen und alsdann über Innsbruck, Berchtesgaden und Salzburg
auf der blauen Donau nach Wien zu ziehen.
Bevor ich noch einige
Rückblicke auf die Erlebnisse dieser Reise werfe, muß ich aber einen
tief in meiner Erinnerung haftenden Eindmck von der Episode BadenBaden noch zur Aussprache bringen, nämlich eine anfangs nur
geringe, aber in jenen Wochen des Alleinseins in den idealsten äußeren Lebensverhältnissen mir immer stärker zum Bewußtsein kommende
Trübung dieser glücklichen Zeit durch den Gedanken, daß ich einen wesentlichen Teil dieses Glückes der Emiedrigung verdankte, von
einer Einrichtung menschenfeindlichster und gefährlichster Art Vorteil gezogen zu haben. Ich möchte noch hinzufügen, daß jener Geld gewinn trotz der unmittelbaren Gewissensbedrängnisse, die er mir
verursachte, weiterhin eine Nachwirkung ganz anderer Art ausübte, nämlich eine Zeitlang als ein Element der Versuchung zum Hasard spiel wirtte, da er den fast unbewußten Aberglauben geweckt hatte,
als ob ich ein besonderes Glück oder Geschick für solche Dinge hätte. Von dem Verlauf und den Eindrücken der Reise möchte ich nur hervorheben, daß ich kein Bergsteiger gewesen bin.
Mein höchster
Aufstieg war das Faulhom (etwa 3000 Meter hoch). Mit Vorliebe genoß ich die Seen und die Seelandschaften, den Genfer, den Thuner,
den Brienzer, den Vierwaldstätter, den Züricher, den Gardasee und den Königssee. Zwei wundervolle Sommertage verbrachte ich
fast ganz auf dem Züricher See rudernd und schwimmend, denn ich hatte von der Schulzeit her eine besondere Freude am Schwimmen,
37 die ich auch in Bonn lebhaft kultiviert hatte, indem ich ein Boot mit einem Ruderknecht nahm und mich daneben auf dem Rücken schwim mend stundenlang den Rhein hinunter tragen ließ. Ähnliches genoß ich diesmal auf dem Züricher See unter ganz idealen Temperatur verhältnissen von Wasser und Luft. Am Gardasee in der Nähe von Riva drängte es mich, eine Stelle im Bergwalde des Ufers aufzusuchen, an welcher in einer von Adal bert Stifters Novellen ein Vorgang von unsäglicher Poesie geschildert
ist, der in Verbindung mit der Gestalt der entzückenden ©eigen«
Therese Milanollo stand. Auf dem Wege vom Gardasee nach Innsbmck bin ich fast das ganze Etschtal, sowie das ganze Eisacktal entlang und über den
Brenner gewandert, wobei ich im Etschtal an der gerade im Gange befindlichen Weinernte mich durch den Genuß der herrlichsten Trauben beteiligen konnte. Von einer Stellwagenfahrt zwischen Innsbmck und Salzburg
ist mir
die
gnügen
geblieben.
Erinnerung
an
ein eigenartiges moralisches Ver
Eine Gesellschaft von alten Tirolern dis
kutierte sehr lebhaft über die damaligen politischen Zustände des
österreichischen Kaiserstaates.
Als ich schließlich auch ein Wort hinein
zureden wagte, schloß der neben mir sitzende der alten Männer mit
seiner Hand meinen Mund, indem er sagte: „Davon verstehst du noch gar nichts." Nach einer schönen Donaufahrt in Wien angekommen, hatte
ich neben den dortigen Kunstgenüssen noch die Freude, einem anderen auch in Bonn von mir gepflegten Sport, nämlich dem Tanzvergnügen,
mich in vollster Zugendlust hingeben zu können.
In Bonn hatten
wir Studenten auf den Kirmesfesten der benachbarten Dörfer in
dem Reigentanz des sogenannten „Rheinländers" ganze Nächte hin In Wien wurde mir die Tanzlust zunächst durch
durch geschwelgt.
die herrliche 'Musik des Walzerkönigs Strauß, der im Sperlsaal dirigierte, mächtig angeregt, aber fast noch mehr durch die frische Tanzbegeistemng eines jungen Nordamerikaners, den ich auf der
Donaufahrt kennen gelernt hatte, und der mich nach dem ersten gemeinsam verlebten Sperlabend gebeten hatte, ihn in dem Walzer-
38 tanze, der ihm noch neu war, im Hotel zu unterrichten.
Als er
das dann gelernt hatte, war auch er fast unermüdlich in seliger Rhythmik. In der Heimat angelangt, konnte ich natürlich des dankbaren
Erzählens anfangs kein Ende finden, aber bald wurde die Erimtetung an den Kultus der Muse Terpsichore von dem Kultus einer
anderen Muse abgelöst.
Es war Thalia, die vom Oktober 1852 ab
nahezu ein Jahr lang all mein Sinnen und Denken beherrschen sollte,
nämlich der neuentdeckte Planet Thalia, der mir durch Professor Argelander zur genauesten Berechnung für das Berliner astronomische
Jahrbuch empfohlen wurde. Es war dies meine erste größere wissen schaftliche Arbeit, neben welcher ich zunächst auch die Beobachtungen von Planeten und Kometen auf der Bonner Stemwarte fortsetzte.
Ich mußte jetzt beginnen, die Theorien für die Berechnung der so genannten Störungen der Planetenbewegungen zugleich mit der Theorie der Berechnung der elliptischen Bewegungen eingehend zu studieren, um insbesondere den Einfluß berechnen zu können, den
die
Anziehungskraft
des
Jupiter
und
des
Saturn
auf
die Bewegung des Planeten um die Sonne in den nächsten andert
halb Jahren bis zu der ersten Mederkehr seiner Sichtbarkeit am
Nachthimmel ausüben würden, damit er alsdann möglichst leicht und sicher unter den zahllosen lichtschwachen Sternchen, denen er an Aussehen vollständig glich, und von denen er sich nur durch seine Bewegung unterschied, wieder aufgefunden werden könnte und
hiermit dann andauernd ein Objekt sicherer Vorausberechnung und
sicherer Unterscheidung von andern Planeten bildete. Nachdem im Lauf der ersten Mntermonate 1852—53 die Be obachtungen des Planeten Thalia zum Abschluß gekommen zu sein schienen, begann ich nun, meine theoretischen Studien rechnerisch
in Szene zu setzen, indem die Anziehungswirkungen des Jupiter und des Saturn, welche in diesen und den folgenden Monaten die Bewegungen des Planeten stark beeinflußten, nach den neuesten
Methoden mit der von der Sonne vemrsachten Bewegung in einer einfachen Ellipse und mit den perspektivischen Wirkungen der Erd bewegung verbunden wurden. Unbeschreibliches Vergnügen bereiten
39
diese Rechnungsexperimente großen Stiles, indem sie eine ideale mathematische Gedankenwelt sozusagen an den Himmel versetzen,
zugleich in der frohen Erwartung, daß der Kosmos halten wird, was der Geist verspricht. Ich erinnere mich noch eines Morgens in jenem Frühjahr, an welchem ich, von einer Beobachtungsnacht nach Hause gehend, zum erstenmal wieder am Morgen den mehrere Monate in der Umgebung
der Sonne am Himmel unsichtbar gewesenen Jupiter, den großen
Störer meiner Muse Thalia, eben ausgehend, erblickte und dabei von einer besonderen persönlichen Empfindung dem Gewaltigen gegen über ergriffen ward.
Späterhin haben sich in jahrelangen Rechen
übungen die Freuden an diesen so sorgfältig dienenden und doch eigentlich so hoheitsvollen Arbeiten, von denen leider noch so wenige Menschen eine zutreffende Vorstellung haben, noch mehr verstärkt,
besonders auch dadurch, daß solch tabellarisches Rechnen allmählich immer geringere Anstrengung bereitet und sich schließlich fast auto matisch derartig vollzieht, daß man am allersichersten rechnet, wenn man sich dabei zugleich mit guten Freunden behaglich unterhält.
Die Ergebnisse meiner Thalia-Berechnung, welche am Ende des Sommers 1853 dem Berliner astronomischen Jahrbuch übergeben wurden und im Winter 1853—54 dort zum Abdruck gelangten, bereiteten mir dann am Ostermorgen 1854 die große Freude, daß der mir später so lieb gewordene junge Astronom Karl Bmhns,
von dem ich noch zu erzählen haben werde, mir von der Berliner Sternwarte die Nachricht sandte, meine Vorausberechnung der Thalia-Bewegung habe sich bei der Wiederauffindung des Planeten (nach der nahezu ein Jahr dauernden Unsichtbarkeit jenseits der
Sonne), soeben mit dem großen Berliner Fernrohr als so nahe richtig erwiesen, daß der Planet ganz mühelos bei der ersten Nach
forschung an dem vorausberechneten Orte erblickt worden sei und sich durch die sofort beobachteten, der Vorausberechnung ganz ent sprechenden Ortsveränderungen unter den zahlreich benachbarten Fixsternen als „die Thalia" erwiesen habe. Die Fachgenossen werden die obigen längeren Mitteilungen
über solche ihnen so geläufige Erlebnisse sicherlich nicht als eine Sache
40 persönlichen Rühmens, sondern als ein Rühmen der Herrlichkeiten
der Mssenschast verstehen. Das Jahr 1853, welches für mich, auch während der in der Heimat zugebrachten Herbstferien, überwiegend von der mathe matisch-rechnerischen Thalia-Harmonik erfüllt war, brachte mir mit dem zunehmenden Einleben in die Geselligkeit von Bonn
auch besondere Freuden im Reiche der tönenden Weltharmonik. In dem Geburtsorte Beethovens war damals der Kultus edelster
Musik in besonderem Aufblühen, wie überhaupt am ganzen Rhein. Ich hatte das Glück, die Bekanntschaft eines holländischen Henn zu machen, der sich mit seinen Reichtümern nach Bonn zurückgezogen
hatte, und der sich besonders für Musik und Astronomie interessierte. Gemeinsam mit seiner sehr liebenswerten Frau und Schwägerin empfing und vereinigte er in seinem gastfreundlichen Hause alles, was von musikalischen Persönlichkeiten Bonn bewohnte oder besuchte. So lernte ich in seinem Hause Robert Schumann und Klara Schu
mann, später auch die damals noch sehr jugendlichen Herren Joachim
und Brahms kennen, während ich dafür den holländischen Freund
manchmal nächtlicherweile mit nach der Sternwarte nahm.
Ein
anderes, auch sehr musikalisches Haus war dasjenige des Professor
Naumann, mit dessen Söhnen ich an der Universität bekannt ge worden war, und mit dessen Tochter Ida Naumann (spätere Frau Ida Becker) ich eine bis ans Lebensende dauernde innige Freund schaft schloß. Als Sängerin und Komponistin war sie eine wahre Muse und eine Seele von unvergeßlicher Treue und Tiefe. Im Früh
jahr 1853 genoß ich auch eines der niederrheinischen Musikfeste in
Düsseldorf, bei welchem ich auch der Bekanntschaft mit dem Schu-
mannschen Ehepaar froh wurde.
Ich erinnere mich noch,
wie
Robert Schumann bei der nicht von ihm geleiteten Aufführung einer seiner Symphonien auf einer der hintersten Bänke des Saales neben mir saß und seine Musik mit tiefen Seufzern und höchst er griffenen Bewegungen begleitete.
Das Musikfest brachte auch eine von Schumann geleitete henliche Aufführung von Händels Messias, bei welcher sich eine
wundervolle Szene ereignete.
Mtten in einer der so unsäglich
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rührenden Sopranarien, die Klara Novello sang, vereinigten sich die Nachtigallen, die in den die Halle umgebenden hohen Bäumen wohnten, zu einem Konzerte von überraschender Tonfülle. Das ganze Publikum und auch Schumann wurden davon tief er
griffen. Da kam in der Arie eine ganz kurze Pause. Aber Schu mann verlängerte die Pause mit sofortiger instinktiver Zustimmung der Sängerin und des Orchesters, und alles horchte mitten in der
Messiade eine Minute lang bloß dem Nachtigallensang. Dann setzte unter tiefster Bewegung der ganzen Versammlung die erhabene volle Musik wieder ein. Das Jahr 1854 wurde die Zeit meiner Doktorarbeit und des
Doktorexamens.
Professor Argelander hatte mich zu Ende des
vorangegangenen Jahres mit einer neuen Bestimmung der Pol höhe der Bonner Stemwarte beauftragt, wobei ein Instrument zur Anwendung kommen und zum erstenmal sehr genau erprobt werden
sollte, welches seit der Begründung der Sternwarte noch nicht zu
längeren Beobachtungensreihen gedient hatte.
Dies war eine
schöne und ehrenvolle Aufgabe für den jungen Astronomen, und die
Bearbeitung dieser Beobachtungen zusammen mit der Diskussion und Vergleichung der dafür bis dahin üblichen Methoden gab einen nicht ganz wertlosen Inhalt für eine Doktor-Dissertation. Die dabei nötige Kultivierung der größtmöglichen Genauigkeit einer recht großen Anzahl von Messungen am Himmel zu allen Tageszeiten machte mir besondere Freude und führte mich auch in die Praxis der Fehler
theorie in der förderlichsten Weise ein. Die alsdann am 4. August 1854 erfolgende Doktorpromotion, bei
welcher man damals noch von dem Dekan der Fakultät umarmt und geküßt wurde, beendete meinen ^jährigen Aufenthalt in Bonn, da ich
beabsichtigte im Herbst 1854 mein Militärjahr in Berlin anzutreten. Die in der Heimat bis zum Anfang Oktober hiernach zugebrachte
Ferienzeit wurde diesmal besonders geweiht durch die Verheiratung meiner ältesten Schwester Hulda, welche von einem jungen Ge schäftsfreunde der väterlichen Firma nach New York entführt wurde. An diese Trennung von der besonders geliebten Schwester möchte ich
noch einen Rückblick knüpfen auf die ganze Zeit, in der sich die be-
42 glückendfte Studienarbeit in Bonn mit schönen Reisen und mit den traulichen in der Heimat zugebrachten Ferienzeiten zu einer unver gleichlichen Lebensharmonie verband. In Bonn der gütige, im höchsten
Grade wissenschaftlich fördernde Lehrer Argelander und ein Ge meinschaftsleben mit Studiengenossen, wie Eduard Schönfeld und
Malbert Krüger, die zu den innigsten Freunden wurden, sodann in der Heimat Eltern und Geschwister, den periodisch wiederkehrenden
Studenten in der zärtlichsten Weise pflegend und feietnb, alles in allem ein wahres Jdealleben, von dem ich ohne Selbstüberhebung das dreiste Wort sagen möchte, daß die Welt nicht vergebens geschaffen
ist, wenn überhaupt ein solches Glück in ihr entstehen kann, noch be
sonders geweiht durch eine wissenschaftliche Tätigkeit, welche schon so ost das erhebende Frohgefühl gewährt, daß die Welterscheinung hält, was die Denkarbeit verspricht. Es ist nicht unnütz, so etwas mit einem gewissen Überschwang auszusprechen, denn wenn solches Glück öfter eingestanden würde, könnte der Zusammenklang solcher Lebens töne erheblich dazu beitragen, jeden verallgemeinemden öden Pessi
mismus zu bekämpfen und die Blicke nach oben zu richten. In Bonn
gab es ja auch noch als besonderen Zauber die Wanderungen den Rhein entlang und durch die lieblichen benachbarten Berglandschaften. Bon den „historischen" Besonderheiten des Studentenlebens habe ich aber weder an der Berliner noch an der Bonner Universität
irgend etwas gehalten und genossen.
Ich fühlte mich als echten Musensohn am Himmel und auf der Erde, aber von dem Alkoholkultus und von dem gemeinsamen Singen mit allerhand unmusika
lischen, womöglich die schönsten Lieder innerlich oder auch äußerlich parodierenden Leuten mochte ich gar nichts wissen. Höhere Formen
studentischer Geselligkeit liegen im Schoße der Zukunft. Mein liebster Breslauer Schulfteund gehörte in Bonn zu einem der „vornehmsten"
Korps. Er nahm mich mehrmals zu seinen Mensuren mit, die mir einen unsäglich wunderlichen Eindruck hinterließen, obwohl ich mit ihm eine Zeitlang fast jeden Morgen auf dem Fechtboden aus gym
nastischem Vergnügen kräftig paukte.
Ich hatte meine sehr sympa
thische Geselligkeit, und die anhaltende ernste Arbeit weihte das Leben.
Sie umglänzte auch die harmlosesten Zerstreuungen.
43 In der Heimat aber kam noch eine eigenartige Freude zu der
Traulichkeit des Aufenthaltes unter den liebsten Menschen hinzu, näm lich die Freundschaft mit einem Pferdchen arabischer Rasse mit Namen
Selim, welches der alternde Papa mir während der Ferienzeiten fast ganz zur Verfügung stellte.
6, Kapitel, Das Militärjahr ((85^—55) und die Anstellung an der Berliner Sternwarte (J855). Am 1. Oktober 1854 trat ich beim Garde-Artillerie-Regiment in
Berlin als Einjährig-Freiwilliger meine Dienstzeit an. In diesem Jahre mußte die wissenschaftliche Arbeit fast gänzlich mhen, aber meiner körperlichen Entwicklung taten die starken Muskelanstren
gungen außerordentlich wohl. Ein gütiges Geschick hatte um dieselbe Zeit die mir so freundlich gesinnte Familie von Hahn, die ich, wie oben
erzählt, von Bonn aus in der Kommandantur von Mainz besuchen konnte, nach Berlin zurückgeführt, wo der General von Hahn jetzt
als Generalinspekteur der ArMerie eine hohe Stellung einnahm. Die einzige Tochter Elise von Hahn, welche von Mainz her als Ver
lobte des Hauptmanns von Brixen zurückgekehrt war und sich im Herbst 1854 mit diesem in Berlin verheiratete, war mir ja schon von den Tagen meines ersten Berliner Aufenthalts an ein Ideal weib licher Anmut und Güte gewesen und auch durch gemeinsamen Kultus
der Musik besonders lieb geworden. Zu tiefstem Schmerze aller, die sie kannten, schied sie schon in dem ersten Wochenbett aus diesem
Leben. Nachdem auch der Vater des in dieser Ehe geborenen Sohnes dahingegangen war (er starb — der Oberst von Brixen — in der Schlacht von Mars la Tour am 16. August 1870 den Heldentod an
der Spitze des von ihm kommandierten sechszehnten Regiments) konnte ich noch im späteren Leben als Vormund dieses Sohnes einen kleinen Zoll der Pietät und Dankbarkeit dem Andenken des Ideals meiner Studentenzeit entrichten. Hatte ich doch einst der
Huldigung für diese holde Mädchengestalt einen ganz besonderen Ausdruck geben können, indem ich bei einem Feuerlärm im Berliner
44 Opernhause, als das Publikum aus dem Parkett in rasendem Ge dränge hinausstürzte, mich dieser Flucht draußen auf dem Flur nicht anschloß, weil das verehtte Mädchen mit ihrer Mutter oben in einer
Loge des ersten Ranges noch in ratloser Unsicherheit verweilte.
Ich
kletterte vielmehr an der Außenseite des Treppengeländers, ent
gegen der Richtung des Hinabdrängens der Menge, in die Höhe und bot mich oben den lieben Damen zur Hülfe beruhigend an, was natürlich als eine Heldentat „ersten Ranges" von ihnen gefeiert wurde. Aus dem Militärjahr sind mir noch mannigfache Eindrücke in
lebhaftem Andenken geblieben, und zwar in frohester Erinnerung die herzliche Befreundung mit einigen märkischen und schlesischen „Bauernjungs". Der ganze Betrieb der Attillerie befand sich damals in einem interessanten Übergangsstadium zu der viel höheren Prä
zisionsleistung, die sich wenige Jahre nachher durchsetzte, als an die Stelle der sogenannten ungezogenen Geschützröhren die gezogenen
Röhren traten, in denen das Geschoß bis zum Ausgange aus der Röhre in Schraubenwindungen geführt wird und dadurch eine viel genauere Richtung seiner Flugbahn gegen die Richtung der Röhren
achse empfängt.
Da ich von den Femröhren her an das genaue
Visieren gewöhnt war, so interessierte mich bei den Schießübungen die Genauigkeit der Leistung in besonderer Weise. Ich bemühte
mich meistens, diejenige Nummer der Bedienungsmannschaft bei dem uns zugeteilten Geschütz zu erhalten, welche das Visieren nach
dem Ziel und die entsprechende Richtungseinstellung des Geschützes zu besorgen hatte, und ich machte mir dabei Aufzeichnungen in betreff
der Größe und Att der Abweichungen der von der Scheibe her ge meldeten Resultate. Mt Hilfe dieser Aufzeichnungen ergaben sich dann für mich gewisse Verbessemngen, die ich bei der Anwendung der Visierein
richtungen zu berücksichtigen hatte, um möglichst kleine Unsicherheiten der Schußresultate zu erreichen.
Das wissenschaftliche Vergnügen,
das ich dabei hatte, verband sich noch mit einer andern, ebenfalls
aus der astronomischen Arbeit herrührenden Beobachtungsfreude, nämlich einer Übung in der Schätzung der bei der Einstellung des Rohres im Ernstgebrauch in Frage kommenden Distanz des Feindes.
45 Ich hatte in den langen Beobachtungsnächten in Bonn das Sekundenzählen so gründlich gelernt, daß ich auch jetzt noch beim Zählen von je 60 Sekunden kaum einen Fehler von mehr als einer halben Sekunde begehe.
Wenn nun beim Manöver es sich darum
handelte, die Entfernung abzuschätzen, aus welcher der Feind nach
uns schoß, und danach die Art der Ladung sowie die Stellung unserer
Rohre usw. bei unseren Gegenschüssen zu bestimmen, so half mir diese Genauigkeit des Zählens mit Hinzuziehung der Schallgeschwin digkeit, welche in der Sekunde nahezu tausend Fuß beträgt. Ich schätzte hierzu nämlich bis auf kleine Bruchteile der Sekunde die Zeit, die jedesmal verfloß zwischen dem Aufblitzen des feindlichen Schusses
und der Wahmehmung seines Donners, welche Kontrolle meiner Übung im Distanzschätzen mir dann auch bei der Ableistung meines
Examens als Reserveoffizier am Schlüsse des Dienstjahrs zustatten kam, als ich bei einer Felddienstprobe die bezüglichen Schußkom
mandos zu geben hatte. Es widerstrebt mir, mit irgendeiner Verallgemeinerung von den schmerzlichen Eindrücken zu reden, die ich während der Dienstzeit von einigen Offizieren und noch mehr von einigen Unteroffizieren hatte, standen doch diesen Eindrücken auch solche gegenüber, die von den gegenseitigen Erziehungswirkungen einer disziplinarischen und
hingebungsvollen Gemeinschaftsaktion deutliches Zeugnis ablegten. Charaktervollen Menschen dient solche Ausübung von Autorität zur Erhebung und Verfeinemng.
Leider wird aber dem niederen
Autoritätsdrange, der vielfach gerade die wertloseren Leute erfüllt und emportreibt, nicht genug entgegenwirkt und Zügel angelegt. Während des großen Sommermanövers, welches sich haupt
sächlich in der Gegend zwischen Potsdam und Zossen abspielte und mich mehrmals zu Bauernfamilien ins Quartier brachte, war ich einmal dem Tode nahe, und zwar in dem Übereifer der Verteidigung
gegen einen signalisierten Kavallerieangriff, welcher zu dem Kom
mando Anlaß gab, daß jedes unserer Geschütze auf den aus der Feme heranstürmenden Feind so viel Schüsse als möglich (natürlich ohne Kugeln, lediglich mit sogenannten Manöverkartuschen) abgeben sollte. Ich hatte dabei die Aufgabe, die Kartusche von vom in die Mündung
46 des Rohres einzusetzen. Bevor noch der erste Schuß aus unserem Rohr entladen war, glaubte ich in der Hitze des Gefechtes, da rechts
und links von mir aus den Nebengeschützen schon der erste Donner losging, daß auch unser Schuß schon abgegangen sei, und daß ich sonach die zweite Kartusche schleunigst einzusetzen hätte.
Kurz bevor
ich dies ausführen konnte, ging aber unser Schuß los, etwa im Ab-
stand von einem Fuß an meiner Bmst vorbei, so daß ich hinten über fiel. Ich wäre zweifellos verbrannt, wenn ich einen Augenblick früher schon herangetreten gewesen wäre.
Wir hatten aber das
Unsrige getan, um den Kavallerieangriff durch Abgebung einer ge nügenden Anzahl von Schüssen abzuwehren, und als ein junger Fähnrich doch noch in unsere Batterie hineinritt mit dem Rufe: „Ergebt Euch", konnte er mit Hohn abgewiesen werden.
Alle diese Einzelheiten von lebhafter militärischer Ergriffenheit
schien es mir ratsam, gerade in der Gegenwart mir und andern vor die Augen zu bringen. Das militärische Wesen und der militärische Geist werden jetzt von manchen Seiten mehr als jemals überschätzt.
Als eine Institution des blutigen Völkerkampfes werden und müssen
diese Einrichtungen in der Kulturwelt verschwinden.
Als eine
Institution für gewaltige gemeinnützige Massenarbeiten in der großen
Natur mit sozialer Gymnastik, todesmuttger Hingebung und rhyth misch-harmonischer Disziplin werden sie dann in einer immer höheren Kultur organisierter Arbeit fröhlich auferstehen, und zu einer solchen Entwicklung trägt uns die allgemeine Wehrpflicht langsam empor. Aus
einer Menge
von Heineren Erlebnissen der Dienstzeit
möchte ich noch zwei Wachtdienste erwähnen.
Der eine, den ick>
fast eine ganze Sommemacht hindurch auf dem damaligen Schieß
plätze in Tegel zu leisten hatte, erzeugte an dem darauf folgenden Sommettage ein so tiefes Schlafbedürfnis, daß ich bei dem takt mäßigen Nachhausemarsch in Reih und Glied mit den Kameraden am Abende wirklich während der Marschbewegung geschlafen habe.
Ein anderer Wachtdienst, den ich in einer Winkemacht vor der Kaseme zu leisten hatte, brachte mich, da ich gegen den eisigen Wind in dem Schilderhäuschen Schutz suchte, bei 18 Grad Kälte nahe ans Erfrieren,
vor dem mich nur der Nachtwächter mit einem Schlückchen ganz
47 schlimmen, Erbrechen erregenden Schnapses rettete, nachdem ich schon mit einer ganz eigenartigen Seligkeitsempfindung im Ein schlafen begriffen gewesen war. Mein Dienstjahr fiel in eine Zeit, in welcher wegen des Krim krieges die preußische Armee sich in einer Anfangsstufe der Kriegs bereitschaft befand. Besonders die Artillerie hatte ihren vollen Ge schütz- und Pferdebestand, so daß wir Freiwilligen zeitweise auch
recht anstrengende Stalldienste tun mußten. Für mich, der ich von Jugend auf mich mit den Pferden so gern befteundet hatte, war dies ein besonderes Vergnügen.
Bei meinem Reserveoffizierexamen
hat mir auch ein ungewöhnlich kluges Pferd, dessen Eigenschaften die Unteroffiziere meiner Batterie früh erkannt und mit Vergnügen kultiviert hatten, eine außerordentliche Hilfe gewährt. Die schwie
rigste Aufgabe in diesem Examen war nämlich für mich das Kom
mandieren und Placieren der Geschütze bei der Prüfung in der Felddienstleistung, die draußen in sehr bewegtem Terrain nördlich von Pankow stattfand. Zum Glück hatte ich es erreicht, daß mir ein wohlwollendes Kommando in Betracht der sehr geringen Übung,
die ich in diesem Zweige der Anfordemngen gehabt hatte, jenes kluge Pferdchen anvertraute, welches mich mit einem wohlerzogenen Verständnis für die Situationen und für die Befolgung der maß gebenden Hornsignale fast immer mit den richtigen Wendungen und im richtigen Tempo an die geeignete Stelle trug. In jenen Zeiten
der Befreundungen mit der Pferdewelt gelang mir auch einmal
bei einem Ausritt durchs Brandenburger Tor ein kleines Dressur stückchen, das auch ein eigenes Licht auf diese Tierseelen wirft. Ein
nicht mehr junges Rassepferdchen, Rosa mit Namen und von einem gewissen Ruf als Springpferd, wollte mir der Pferdeverleiher in
der Dorotheenstraße zu einem Ausritt durch den Tiergarten nach dem Hippodrom in Charlottenburg nicht geben, weil, wie er sagte, Rosa seit einiger Zeit sich in den Kopf gesetzt habe, sich nicht durch das Brandenburger Tor hinausreiten zu lassen.
(Damals war zwischen
diesem Tor und dem Potsdamer Tor, ebenso weithin nach Norden kein anderer Ausgang nach dem Tiergarten, da auch die Dorotheen straße durch die Stadtmauerkommunikation begrenzt war).
Auch
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das Absteigen und das Hinausführen des Pferdes durch das Tor hatte die Störrigkett nicht beendet. Rosa lehnte es auch beim nächsten Male wieder ab, mit einem Reiter durch das Tor hinaus zu
gehen; doch ergab sich, daß es noch nicht versucht war, rückwätts hinauszureiten. Dieser Versuch gelang mir nun, unter dem Zumf
eines belustigten Publikums, wider Erwarten nach wenigen ver geblichen Ansätzen ganz gut. Ich ritt rückwätts durch das Branden burger Tor hinaus, und Rosachen war dann draußen von einer förmlich erlösten Lustigkeit und Liebenswürdigkeit. Meine militättsche Laufbahn schloß sich am 1. Ottober 1855 mit der Ernennung zum Unteroffizier mit Offiziersqualifikation. Ich wurde in den folgenden Jahren noch mehrmals zur Übung
einbemfen, zuletzt zur Mobilmachung im Jahre 1864. Inzwischen entwickelte sich aber meine Tättgkeit an der Berliner Sternwatte zu so triftigen Einwendungen gegen längere Unterbrechungen, daß von den vorgeordneten Stellen meine Reklamierungen jedesmal durchgesetzt wurden.
Meine beiden jüngeren Brüder aber konnten
und mußten in den folgenden Kriegszeiten auch die militärischen Pflichten der Familie voll und ganz erfüllen. Am 1. Ottober 1855 wurde ich zum II. Assistenten der Berliner Kgl. Sternwatte berufen. Der Direktor derselben, Prof. Encke,
hatte mich durch die Veröffentlichung meiner Thalia-Berechnung
und meiner Bonner Planeten- und Kometenbeobachtungen, haupt sächlich aber durch die wannen Befürwortungen Argelanders kennen
gelernt. Die Stelle des II. Assistenten war dadurch frei geworden, daß nach dem Weggange des früheren I. Assistenten Dr. Franz Brünnow, welcher eine Bemfung zum Direttor der Stemwarte in Annarbour ^Michigan) angenommen hatte, der schon oben in Ver bindung mit der Thalia-Angelegenheit erwähnte Astronom Karl Bruhns aus der zweiten in die erste Stelle eingerückt war. Über
diesen wetten Kollegen, der dann im Jahre 1860 Direttor der Stern warte in Leipzig und zunächst in Berlin von 1855—1860 mein vor bildlicher Arbeitsgenosse in rastlosester Tättgkeit wurde, seien hier einige Mitteilungen eingefügt, da ihm wohl niemand in seinem ganzen Arbeitsleben so nahe gestanden hat wie ich, und da gerade
49 über seine Werdezeit, in den bisherigen biographischen Mitteilungen über ihn noch manches dauemd Erinnerungswerte ungesagt ge blieben ist. Karl Bruhns war 1830 in Ploen in Holstein in unbemittelten
Lebensverhältnissen geboren. In der Stadtschule wurde aber die außerordentliche rechnerische Begabung des Knaben von einem mathematisch bewanderten Lehrer früh erkannt und durch Dar
bietung geeigneter Bücher gefördert. Der junge Mathematiker lernte indessen zunächst das Schlosserhandwerk und kam dann nach Berlin in die Borsigschen Werkstätten. Von dort aus erbat er sich bei Prof.
Encke Aufgaben aus dem Gebiete der Berechnung der Planeten
bahnen. Diese Aufgaben wurden dann in den nächtlichen Muße stunden mit einer Schnelligkeit und Korrektheit gelöst, welche die damalige jüngere Astronomenwelt auf der Sternwarte und den
Herrn Direktor selber in helles Erstaunen setzte. Dieser Schlosser jüngling erwies sich als ein astronomischer Rechner ersten Ranges. So wurde er denn eines Tages (um das Jahr 1853) nach der Stern warte übersiedelt und aus dem Dienst des Hephästos in denjenigen der Urania übernommen.
Für das Beobachten und Messen war
seine Begabung nicht so eminent, aber als Rechner hat er damals
und weiterhin auch als vorbildlicher Lehrer der edlen astronomi schen Rechenkunst in seiner leitenden Tätigkeit an der Leipziger
Sternwarte Außerordentliches geleistet. Encke und besonders auch Alexander von Humboldt, welchem
Encke von dem Phänomen Kenntnis gab, nahmen sich der allgemein wissenschaftlichen, sozusagen akademischen Weiterentwicklung des jungen Handwerkers mit besonderer Fürsorge an, so daß derselbe
schon nach wenigen Jahren sein Abiturientenexamen und mit einigen Erleichterungen dann auch sein philosophisches Doktorexamen be stehen, sich alsdann an der Berliner Universität als Privatdozent der
Astronomie habilitieren und schon im Jahre 1860 als Direktor der Sternwarte und Professor der Astronomie in der alten Musenstadt Leipzig seinen Einzug halten konnte. Es war für mich eine große Lebensfreude, diesem Emporsteigen freudigst beiwohnen und im
kleinen dabei mithelfen zu können, da mein Lebensgang so viel leichter Wilh. Foerster, Lebenserinnerungen.
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50 verlaufen war und mir so viel Musisches fast mühelos dargeboten hatte, was der werte Arbeitsgenosse sich zu akademischen Reprä sentationszwecken mit großer Mühe zusammensuchen mußte. Ich erinnere mich z. B. der Not, die wir hatten, für die akademisch lateinischen Ansprachen, die er bei der Doktorpromotion zu halten hatte, ihm vorher die richtige Akzentuation gehörig einzupauken. Ohne die humorvolle Nachsicht, die uns dabei ein großer Philologe, damals gerade Dekan der Berliner Fakultät, gewährte, wäre dies aber doch nicht geglückt. Er legitimierte nämlich die falschen Be tonungen des Doktoranden, indem er dieselben falschen Ahente in seiner offiziellen Promotions-Ansprache zum Besten gab. — Jene ganze komplizierte Entwicklungszeit von Bruhns verband uns denn auch bis zum Lebensende in wahrhaft brüderlicher Ge meinschaft. Einer der dabei auch redlich mithalf, war unser Freund Winnecke, der in jenen Jahren seine Lehrzeit teils in Göttingen und Bonn, teils in Berlin auf der Sternwarte zubrachte, später an die Stemwarte zu Pulkowa berufen wurde und schließlich die Höhe seiner Lebenstätigkeit als Direktor der Stemwarte zu Straßburg erreichte, wovon weiterhin zu erzählen ist. Meine Tätigkeit auf der Berliner Sternwarte bestand in dem Zeitraum von 1855—00 bis zu meinem Aufrücken in die erste Assi stentenstelle hauptsächlich in Beobachtungen von Kometen und neu entdeckten Planeten mit dem großen Fraunhoferschen Fernrohr. Dieses Fernrohr, geweiht durch die Entdeckung des Neptun, gilt auch jetzt noch, obwohl viel größere Fernrohre auf andern Stern warten in Tätigkeit sind, als ein besonderes Meisterwerk optischer Leistung. Es galt seinerzeit als einer der Gipfelpunkte der Lebens arbeit des großen Genius Fraunhofer, und es war eine be sondere Tat von Alexander von Humboldt, daß er die Erwerbung dieses Jnstmmentes für die neu zu begründende Stemwarte in Berlin sicherte. Dieses Jnstmment und seine Messungseinrichtungen habe ich bald nach 1855, in Verbindung mit den Beobachtungen der Planeten und Kometen, besonders eingehend untersucht und daraufhin noch
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unter Enckes Direktion eine wesentliche Verbesserung der Auf stellungseinrichtungen erreicht. Als ein kleines Nebenresultat ergab sich mir am Ende dieses Zeit raums, nämlich am 14. September 1860, die Entdeckung eines der vielen zwischen der Marsbahn und der Jupiterbahn wandernden Planeten, welcher den Namen der Muse Erato empfing. Ein besonderes astro nomisches Ereignis jenes Zeitraums war der große Komet von 1858, dessen Anblick am herbstlichen Abendhimmel unvergeßlich großartig war. Wie ein Riesenspringbrunnen erhob sich über dem nahe dem Horizont befindlichen Kometenkopf die mächtige Schweifbildung, so hoch am Himmel, nahezu senkrecht, aufsteigend, daß man den Nacken zurückbiegen mußte, um den ganzen Anblick zu erfassen. An einem dieser Herbstabende hatte ich das besondere Glück, dem Prinzen Fried rich Wilhelm und der Frau Prinzessin Viktoria jenen herrlichen An blick und die Erscheinungen am Kometenkopf auf der Sternwarte vorführen zu dürfen. Als Professor Gruse, unter dessen Führung dies geschah, auf die etwas lebhaften Fragen der Prinzessin nach der Erklärung solcher gewaltigen Erscheinungen, mit der gegenüber den neugierigen Fragen des Publikums ihm zur Gewohnheit gewordenen Zurückhaltung die Antwort gab, daß die Astronomen selber davon noch fast gar nichts wüßten, wurde die hohe Frau etwas ungeduldig, was ihr aber einen deutlich mahnenden ernsten Blick des Herrn Gemahls eintrug. Nahe dreißig Jahre später kam sie als Kaiserin witwe bei einem Besuch auf der Sternwarte, auf welcher sie seitdem oftmals mit tiefem Interesse erschienen war, auf jenen Vorgang zurück in bewegtester Erinnerung an den teuren Gemahl.
7. Kapitel. Habilitation und beginnend« vorlesungrtätigkeit (1858). Persön liche Beziehungen zu August VSckh und zu Alexander von Humboldt.
Im Frühjahr 1858 war mir die Habilitation als Privatdozent der Astronomie an der philosophischen Fakultät der Berliner Uni versität gewährt worden.
Professor Encke hielt damals noch die
astronomischen Hauptvorlesungen, und ich begann deshalb im Sommer
semester 1858 zunächst mit Vorlesungen über die Geschichte der Astro
nomie, welche bis dahin an der Universität fast gar nicht vertreten gewesen waren. Es war Humboldts Kosmos, der mich schon nach Bonn geführt
hatte, und der mich dann mitten in meinen Beobachtungs- und Be rechnungsarbeiten auf der Berliner Stemwarte in die großen kultur geschichtlichen Ausblicke versenkte, welche gerade die Entwicklung der
9kstronomie darbietet,
Da ich vom Gymnasium her die griechische
Literatur besonders geliebt hatte, so zogen mich nun zunächst die griechischen Astronomen und die Zusammenhänge der griechischen
Astronomie mit der Sternkunde der Urvölker einerseits und mit der Sternkunde des arabischen und christlichen Mittelalters in die er
quickendsten Studien hinein. Und nun erblühte mir ein ganz besonderes Glück auf diesem Felde der geschichtlichen und der astronomischen Forschung. 91 u g u ft
Böckh, der große Kenner der griechischen Geistesentwicklung, hatte sich in seinen hohen Jahren mit gesteigerter Intensität der Er forschung der griechischen Astronomie und auch gerade ihrer Be ziehungen zu der pythagoräischen und platonischen Philosophie zu gewendet, und der hochverehrte Veteran der Berliner philoso
phischen Fakultät hatte dann eines Tages zu meinem Chef, Professor
53 Encke, den Wunsch ausgesprochen, die rechnerische Hilfe eines jüngeren Astronomen bei diesen seinen Untersuchungen zu erlangen. Es konnte
nun keine bessere Situation für meine Studien gefunden werden, als eine solche Arbeitsgemeinschaft. Ich konnte dem hochbedeutenden alten Herrn eine sehr flotte technische Hilfe leisten, und in seiner rührenden Dankbarkeit für diese, mit größter Freude von mir darge botene Hilfe, gewährte er mir für meine geschichtlichen Studien Einblicke von unschätzbarer Eigenart und Tiefe. Zu diesem wahrhaft idealen Arbeitsverhältnis kam dann im Jahre 1858 und 1859 eine ähnliche Beziehung, welche mir Enckes
Empfehlung bei Alexander von Humboldt bereitete. Der im neun zigsten Lebensjahr stehende große Geistesheld bedurfte bei der fortgehenden
Bearbeitung
seines
Kosmos mitunter
auf
astro
nomischem Gebiete kleiner literarischer Hilfsleistungen, die ich ihm von der Sternwarte hinzubringen konnte. Ebenso wie Böckh war
der hohe Greis von einer Güte für den jugendlichen Gehilfen, die sich gar nicht beschreiben läßt. Wenn ich eine Zeitlang bei ihm ge arbeitet hatte, belohnte er mich in besonderer Weise, indem er mit der Redewendung: „Nun wollen wir uns etwas erzählen", aus der Fülle seines erd- und himmelumfassenden Geisteslebens Gedanken
und Erlebnisse derartig aneinanderreihte, daß man deutlich fühlte, wie diese unendlich reiche Erinnenmgswelt ohne irgendwelche Anstrengung in Gedankenverbindungen wahrhaft schwelgte.
Nie
mals habe ich so wie bei ihm, dem körperlich schon recht alters schwachen, aber im Erzählen fast unermüdlichen Greise, den Ein druck von einer seligen Autonomie dieser Erinnemngswelt gehabt.
Da kamen Bilder aus der französischen Revolutionszeit und der napoleonischen Zeit zugleich mit Ausblicken auf die neuesten Vor
gänge und die hoffnungsreichen Anfänge der internationalen wissen schaftlichen Organisationen, dann wieder Schilderungen aus der ge waltigen Gebirgswelt Südamerikas und den Steppen von Mittel-
asien und zum Schluß noch vielleicht ein Hymnus auf die großen Femen des Denkens, welche die Lehre von der Erhaltung der Kraft damals eben zu entschleiem begann. Es ist erklärlich, daß der junge Privatdozent durch die Fülle
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aller dieser Anregungen und die gleichzeitigen Erquickungen an der nächtlichen Himmelsbeobachtung in besonderer Weise nicht bloß zur
Lehrtätigkeit an der Universität, sondern auch zu einer an weitere
Kreise sich wendenden Vortragstätigkeit angeregt wurde, für welche
ihm dann durch Böckh und Encke die Vortragsveranstaltungen des damals auf einer gewissen Höhe der Entwicklung befindlichen, soge nannten wissenschaftlichen Vereins in der Sing
akademie geöffnet wurden. Bevor ich auf diese, für die weitere Laufbahn des Astronomen besonders wichtig gewordene Betätigung etwas näher eingehe, habe ich noch aus den Jahren 57—60 einige Episoden zu erwähnen, welche auch von erheblicher Bedeutung für
meine Lebensgestaltung wurden. Das war zunächst im Sommer 1857 der Besuch der Natur forscherversammlung in Bonn. Dort wurde unter förderlichster Mit-
wirkung von Professor Argelander und von meinen lieben Studien freunden auf der Bonner Sternwarte, welche damals durch die
bereits früher erwähnten, umfassenden Arbeiten am Sternhimmel eine Art von Mittelpunkt bildete, der Grundstein gelegt zu dem Beginn einer internationalen Organisation der astronomischen Arbeit.
Und aus diesem Beginn ging dann sechs Jahre später in Heidelberg der internationalen astronomischen Gesellschaft
die Begründung
hervor, an deren EntwiÄung ich lebhaften Anteil nehmen durfte. Mcht ohne allgemeines Interesse dürfte es auch sein, von dem
Verlaufe dieser Naturforscherversammlung einige vertrauliche Einzel heiten der Vergessenheit zu entziehen, da sie auf die damaligen
Zeit- und Personalverhältnisse einiges Licht werfen. Die Versamm
lung machte zwei Exkursionen, die eine nach Coblenz, wo sie von der
damaligen Prinzessin von Preußen, späteren Königin und Kaiserin Augusta empfangen wurde, und die andere wandte sich nach Köln, wohin sie von den städtischen Behörden eingeladen war. An beiden Stellen ereigneten sich einige Vorgänge von besonders belustigender
Art, wie sie bei solchen repräsentativen Begrüßungen und Ehrungen so leicht vorkommen und durch Kontrastwirkungen mit den Feierlich keiten der Formen stets ein dauerndes Vergnügen in der Erinnerung
zurücklassen.
55 In Coblenz hatte die Prinzessin eine Liste der ihr zu präsen
tierenden Berühmtheiten empfangen, um bei der Begrüßung dieser
Herren einigermaßen über ihre besonderen Verdienste orientiert zu sein. Sie nahm, wie stets, die Sache sehr ernst und hatte sich die Liste gut eingeprägt.
Leider aber war das Präsidium, welches
die einzelnen Mitglieder präsentierte, nicht von derselben Sorgfalt
in der Einhaltung der Reihenfolge. So wurde denn ein großer Mathematiker von der hohen Dame für seine Verdienste um die leidende Menschheit bedankt, während ein großer Arzt zu den neuesten Entdeckungen am Sternhimmel beglückwünscht wurde usw.
Im Kölner Rathaus wurde die Naturforscherversammlung von dem streng kirchlich gesinnten Oberbürgermeister ausdrücklich davor gewamt, bei der Besichtigung der herrlichen Kirchen von Köln, wozu sie eingeladen wurde, nicht allzu sehr den Gedanken des Messens und Wägens nachzuhängen, sondern sich der frommen Andacht ganz hinzugeben. Im übrigen aber bestand die Gastfreundschaft bei dem ganzen Empfange wesentlich in einer sehr reichen abendlichen Spendiemng von köstlichen Rheinweinen, so daß der Präsident der Natur
forscherversammlung, Prof. Nöggerath, glaubte, der Stimmung des ganzen Besuchstages den abschließenden Ausdruck zu geben, indem er einen enthusiastisch aufgenommenen Trinkspruch mit den folgenden Worten ausbrachte: Meine Herren, ich glaube, unseren gemeinsamen
Dank in den Toast zusammenfassen zu dürfen: „Nicht die Kölner,
sondern die Kellner sollen leben!" Im Sommer 1857 ereignete sich eine Kometenerscheinung,
welche zwar dem bloßen Auge nicht sichtbar wurde, aber in der be kannten Weise durch mißverständliche und sensationelle Zeitungs
berichte als eine Gefahr für die Erde verkündet wurde und dadurch in einem solchen Grade einesteils die Volksmenge, andernteils die
vomehmen Kreise aufregte, daß sich selbst in Berlin einige sehr merk würdige Vorgänge ereigneten. Zwei Tage vor der größten Erdnähe des Kometen, die aber noch viele Millionen Kilometer betrug, erschien
auf der Sternwarte eine große Zahl von Herren und Damen aus der vomehmen, insbesondere der diplomatischen Gesellschaft, welche vor ihrem Lebensende den Übeltäter noch im Femrohr gegen Zah-
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lung eines Eintrittsgeldes zu sehen verlangten.
Die gerade im Garten der Sternwarte sitzende Familie des Professor Encke wurde
mit der Frage aufgestört: „Wo ist die Kasse?"
Ich hatte dann die
Ehre, die Gesellschaft unverrichteter Sache aus dem Garten hinaus zu komplimentieren. Am Nachmittage des Weltuntergangstages er eignete sich in Berlin eine gewaltige Explosion in dem Laboratorium des Theaterseuerwerkers Dobremont. Diese schreckenerregende
Detonation warf vielfach auf Sttaßen und öffentlichen Plätzen die
Leute auf die Knie, weil sie glaubten, daß es nun mit dem Untergang losgehe.
9. Kapitel Die Heise nach England, Schottland, Irland und pari» (1859).
Im Jahre 1859 schentte mir mein gütiger Vater eine längere Den Beginn meines Auf
Reise nach England und Frankreich.
enthaltes in Großbritannien machte die Beteiligung an der Naturforscherversammlung, welche in diesem Jahre zu Aberdeen im nörd lichen Schottland stattfand.
Da die Königin um diese Zeit, unfern
von Aberdeen, in Schloß Balmoral residierte, hatte Prinz Albert die Einladung angenommen, die Versammlung zu eröffnen und sich überhaupt tätig an derselben zu beteiligen.
Der hohe Herr war
damals auf einem Höhepuntte feiner ideal gerichteten Tätigkeit und seines persönlichen Auftretens in vollster männlicher Schönheit.
Ich hatte das besondere Glück der Bekanntschaft mit den beiden jungen deutschen Gelehrten, welche als seine wissenschaftlichen Be rater und Sekretäre angestellt waren. Der eine derselben war Che miker und Physiker, der andere Kunsthistoriker, und durch die näheren Beziehungen zu diesen beiden Landsleuten, welche den Prinzen innig verehrten, gewann ich einen Einblick in die ganze Wirksamkeit
des edlen Herm und seine Stellung am Hofe und int Lande. Seine Eröffnungsrede war eine bedeutsame Leistung, aber noch eigenartiger traten seine intellektuellen und Charattereigenschaften hewor, wenn
er sich bei den ^Befragungen und Diskussionen, die sich in den Ver-
57 sammlungen an einzelne der bedeutendsten Borträge knüpften, das Wort ergriff, um zugleich im Interesse des Publikums Bervoll-
ständigungen oder Aufklärungen zu erbitten. Ich erfuhr vertraulich, daß damals seine größte Sorge und Lebensnot in der Entwicklung feiner beiden ältesten Söhne bestand. Der zweite ist ja ziemlich früh
gestorben. Der älteste ist doch schließlich zu einer Höhe des Charakters und der Wirksamkeit emporgestiegen, an deren Möglichkeit damals niemand geglaubt hätte.
Bon Aberdeen ging meine Reise zunächst, mit einem Umwege durch die schottischen Hochlande, über Edinburg nach Manchester, wo damals der früher schon erwähnte Berliner Studienfreund Dendp lebte.
Bon der Wanderung durch die schottischen Hochlande ist mir
die folgende Episode in lebhafter Erinnerung geblieben.
Ich traf,
von Aberdeen kommend, an einem Sonnabend Abend in Perth ein,
von wo ich am Sonntagvormittag mit einem kleinen. Gefährt in die Berge fahren wollte, da, wie ich schon wußte, weder Bahn noch Post am Sonntag funktionierten.
Es gelang mir aber nicht, an
diesem Sonntagvormittag irgendeinen Kutscher in Perth zu finden, der bereit gewesen wäre, mich in die etwa 3 Stunden entfernten
Berge zu fahren. Schließlich wurde mir ein Gig und ein Pferdchen zum Selbstkutschieren überlassen unter der Bedingung, daß ich nicht von der vorderen Seite des Gasthofes, sondern nur von einem abge
legenen Hinterhause aus abfahren durfte. Bevor ich diese, übrigens allerliebste Fahrt antrat, hatte ich noch einen schweren Konflikt im Gasthause zu bestehen.
Ich hatte mir während des Wartens auf die
Erledigung der Fahrtangelegenheit gestattet, ein im Gesellschafts raum befindliches Klavier anzuschlagen. Nach wenigen Akkorden aber stürmte eine große Anzahl von Männenr und Frauen in den Saal,
um mir mit drohenden Gebärden das Musizieren am Sonntag zu untersagen. Ms die Zeloten dann den Saal wieder verlassen hatten, da ich natürlich sofort gehorchte, machte mir ein Kellner, der in London zu Hause war und weniger finster über die Sonntagsheiligung dachte, die Mitteilung, daß jene ganze fanatische Gesellschaft sich im
unteren Stockwerke mir Kartenspiel und Alkohol vergnügte, und ich konnte sogar in diese ziemlich dissolute Veranstaltung einen flüchtigen
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Einblick nehmen.
Herrlich war dann die Fahrt mit einem flotten
Pferdchen angesichts der immer malerischer emporragenden schot tischen Gebirgslandschaft.
Ich genoß an diesem und dem folgenden
Tage bei köstlichem Wetter eine entzückende Wandemng durch die
schönsten schottischen Wald- und Seelandschaften. In den: Hause meines lieben Freundes Dendy zu Patricroft
bei Manchester verlebte ich dann einige Tage traulichsten englischen
Familienlebens. Dendy, der sich, bald nach seiner Rückkehr von der Berliner Universität, schon im Jahre 1851 verheiratet hatte, war als unitarischer Prediger an verschiedenen Stellen Englands, zuletzt
aus der Insel Wight, tätig gewesen.
Als sich dann aber sehr bald
eine ziemlich zahlreiche Familie einstellte, war er den Anerbietungen seiner in der Nähe von Manchester eine große Seidenfabrik be
treibenden, begüterten Familie gefolgt und ins Fabrikgeschäft über getreten, in welchem er sich und den Seinen sehr bald eine behag liche Existenz begründete, gehoben und geweiht durch die Fortsetzung seiner Studien.
Eine anmutige und bedeutende Frau und reizende
Kinder machten mir mit ihm zusammen diesen Aufenthalt zu einer wahren Erquickung. Bon Manchester aus ging ich dann nach Irland, und zwar wesent
lich zu dem Zwecke, das Riesenteleskop von Lord Rosse kennen zu lernen, welches sich in der Nähe der Westküste Irlands, in Parsonstown, befindet. Leider wurde mir infolge der bekannten klimatischen Berhältnisse dieser Westküste kein klarer Beobachtungsabend zuteil,
und ich mußte mich mit dem grandiosen Eindruck der Dimensionen des Rieseninstrumentes begnügen, wobei ich aber auch den köstlichen
Eindruck der üppigen Parkvegetation genoß, die das Femrohr umgab. Die Vegetation an der Westküste Irlands, deren Temperatur infolge
des Golfftromes auch im Winter nicht unter 8 Grad Wärine hinab geht, ist bekanntlich fast üppiger als die Vegetation in Mittelitalien. Ähnliche landschaftliche Herrlichkeiten genoß ich weiterhin auch in der Nähe vo.l Dublin und auf der Mckreise von Irland auch in beit Gebirgstälern von Wales. Zunächst führte mich die Mckreise nach Dublin, wohin mich
besonders ein Empfehlungsbrief zog, den mir meine liebe Freundin
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aus der Bonner Universitätszeit, Frau Ida Becker in Berlin, an die ihr aus der Bonner Schulzeit her befreundeten Töchter des angli kanischen Erzbischofs in Dublin, Lord Whately, mitgegeben hatte.
Nachdem ich meinen Empfehlungsbrief von Dublin aus an die Familie- des Erzbischofs, die sich auf ihrem Landsitze befand, einge sandt hatte, erschien noch am selbigen Tage die Equipage des Erz bischofs, um mich hinauszuholen. Frau Ida mußte mich sehr freund
lich eingeführt haben, denn die lieben Töchter empfingen mich an der Pforte des Parks, und ich darf sagen, daß die Tage, die ich als dann infolge der sehr gütigen Aufnahme seitens des Erzbischofs auf
dem Landsitz zubrachte, eine der eigenartigsten und wohltuendsten Erinnemngen meines ganzen Lebens sind. Es traf sich glücklich,
daß Lord. Whately, der selbst ein hervorragender Schriftsteller auf dem Gebiete der Logik und Erkenntnistheotte war, sich für Astronomie und Erdphysik lebhaft interessierte, während die Töchter, die nur wenig älter waren als ich, besondere Freude an der Beethoven
musik hatten, die ich ihnen darbieten konnte, und auch meiner ©tu« dentenstimme, mit der ich damals deutsche Volks- und Studenten lieder, sowie Schubettsche Lieder leidlich vortragen konnte, einen
besonderen Geschmack abgewannen.
So wurden die Tage in dem
schönen Landsitz wahrhaft musisch hingebracht.
Am Vormittage
ging ich mit dem Erzbischof spazieren und hielt ihm Heine astrono mische Borträge. Am Nachmittage wurde mit den Damen Musik gemacht.
Dublin war damals (Sept. 1859) der Schauplatz einer der eigen tümlichen Volksbewegungen, welche besonders in Wales und in Ir land von Zeit zu Zeit auftauchen, nämlich der sogenannten revivals. Es treten dann Bolksredner auf, welche viele Tausende in den Parks
und auf den öffentlichen Plätzen um sich sammeln und ihnen er greifende Bußpredigten halten, durch welche die psychopathischen
Elemente in der Zuhörerschaft in visionäre oder gar krampfattige Zustände versetzt werden, die natürlich in der ganzen übrigen Zu hörerschaft Mitgefühl und verwandte Erregungen Hervorrufen, so daß die Bolksmassen dann in ihre Häuser und Beschäfttgungen in Stimmungen zurückkehren, in denen sie das Reich Gottes nahe fühlen
60 und vielfach vorübergehend zu edlerem und gütigerem Leben ange regt sind. Bei den damaligen revivals in Dublin äußerten sich solche religiöse Wirkungen hauptsächlich darin, daß im Branntweingenuß,
auf dessen Elend die Bolksredner besonders hingewiesen hatten, plötzlich und einige Wochen dauernd eine vollständige Slskese und Ent
haltsamkeit eintrat, was in Irland sehr viel zu bedeuten hatte. In den Tagen meines Aufenthalts int erzbischöflichen Hause war diese Wirkung zu einer ungewöhnlichen Höhe und Allgemeinheit gelangt, so daß theologische Professoren und Geistliche aus Dublin, welche
den Erzbischof besuchten, zum Teil an die wirkliche Ankunft des „Reiches Gottes" glauben zu dürfen meinten, und selbst der ehr würdige Erzbischof von einer ungewöhnlichen Seelenstimmung er griffen wurde. Natürlich mischte ich mich in keiner Weise in der artige Diskussionen ein, denn, nachdem ich mehreren solchen revivals
beigewohnt hatte, war ich von dem krankhaften und vorübergehenden Charakter der ganzen Bewegung Kar überzeugt. Wenige Wochen nachher ist denn in der Tat auch die ganze Erscheinung wieder ver
schwunden, und der Dämon des Branntweins hat die arme irische Bevölkerung wieder ebenso heftig wie früher ergriffen, eine Bevölkerung, die sich sonst in mancher Beziehung vor allen andern mir bekannten Bolkstypen, und zwar hauptsächlich durch ihren merk
würdigen, fast musischen Frohsinn auszeichnet. Mein Abschied aus dem von Edelsinn und Güte erfüllten erz bischöflichen Hause erhielt noch einen für mich besonders wohltuenden
Abschluß dadurch, daß ich versprechen mußte, an einem der letzten Abende vor meiner Abreise, zu welchem man beste Gesellschaft aus
Dublin einladen wollte, Beethoven zu spielen und deutsche Lieder zu singen. Wie tief und dauemd hat mich die Erinnerung an diesen Abend und an die lieben Menschen beglückt. In London hatte ich diesmal hauptsächlich im British Museum
zu tun. Meine für die Universitätsvorlesungen betriebenen Studien in der Geschichte der Astronomie hatten mich in nähere Berührung
gebracht mit der englischen Literatur über altindische Geschichte und Astwnomie, und es gab hierfür keine bessere Studierstelle in der Welt als den wundewollen Lesesaal der Bibliothek des British Museum,
61 wo man in der entgegenkommendsten und sachverständigsten Weise von einem ausgezeichneten Personal „bedient" wurde. Tagelang habe ich dies zu großer Fördemng meines Einblickes in jene uralte
Gedankenwelt genossen, und wie froh empfand ich die Höhe der
Betätigungen dieser großbritannischen Kultur, deren Beziehungen zu der ganzen edlen Weltkultur, sowie ihrer Vergangenheit und Zu
kunft jetzt so kindischen Verwirrungen ausgesetzt sind durch die Kon kurrenz- und Kriegsparoxysmen. Von London aus machte ich Besuche auf den Sternwarten zu Oxford, zu Cambridge, zu Greenwich und in Redhill (Kent) bei dem 'Amateurastronomen Carrington, dem Sohn einer reichen Brauer familie, mit dem ich von Berlin aus in briefliche Verbindung ge kommen war. Carrington, der nicht lange nachher leider sehr früh aus dem
Leben scheiden mußte, lebte mit seiner alten ehrwürdigen Mutter aus einem Hügel in anmutigster Gegend der Grafschaft Kent und
widmete sich in einer kleinen, aber sehr klug eingerichteten Stern warte sehr genauen Ortsbestimmungen von Fixstemen sowie Sonnen fleckenmessungen. Die gemeinsame Freude an den Feinheiten der astronomischen Beobachtungsdisziplin verklärte uns dieses Zu
sammensein zu einem wahrhaft festlichen Tage, so daß auch die alte Mutter ganz traulich und froh wurde. In Cambridge und Ox ford genoß ich auch besonders die alten Collegegebäude und die
alten Bäume in ihren Parkanlagen. Von London ging es nach Paris, wo ich diesmal auch schon
astronomische Korrespondenten und Freunde aussuchen und besonders auch die Museen viel verständnisvoller als früher genießen konnte. Prof. Encke hatte mir auch eine Einfühmng an den hochbejahrten
Astronomen Biot mitgegeben, der noch den Zeiten des Pariser Auf enthaltes von Alexander von Humboldt angehörte und diesem fast
so nahe gestanden hatte wie Arago. Der alte Herr saß in seiner Wohnung int College de France beim Dessert seines Frühstücks, als mein Besuch ihm gemeldet und auf Gmnd von Enckes Brief ange nommen wurde.
Bor ihm stand noch ein Glas Rotwein und eine Er lud mich zum Mitgenusse
Schüssel voll schöner Weintrauben.
62 des Weins „in beiderlei Gestalt", wie er in deutscher Sprache sagte, gar freundlich ein, und wir hatten dann ein stundenlanges Gespräch
über die Urzeiten der Astronomie, mit denen er sich unter Mitwirkung seines srühverswrbenen Sohnes Eduard, der sich besonders dem Studium des chinesischen Altertums gewidmet hatte, eindringend beschäftigt hatte. Er kam dann aber auch auf die Gegenwart zu fpre-
chen, zumal auf die damaligen Zustände an der Pariser Sternwarte, an welcher der große Rechner und Theoretiker
Le Berrier,
der
zugleich mit dem englischen Astronomen Wams den Planeten Neptun
zuerst int Geiste gesehen hatte, das Zepter führte. Le Berrier war ketn Lehrer und kein Führer, sondem ein bureau-
kratischer Pedant, und Biot sagte über das straffe und sterile Regime, welches auf der Pariser Sternwarte damals waltete, die treffenden Worte: Wenn einer mit Siebenmeilenstiefeln selber in der Wissen
schaft vorwärts geht, aber der Liebe und der Fördemng für die
jüngeren Mitarbeiter entbehrt, so kann unter Umständen die Bilanz seiner Gesamtleistung doch negativ werden. Ich besuchte dann auch die Sternwarte.
Le Berrier kannte
meine Berliner Beobachtungstätigkeit aus den astronomischen Zeit Er sprach dabei von
schriften und empfing mich mit Auszeichnung.
seinen Mitarbeiterit an der Sternwarte mit einer Geringschätzung, durch die mir Biots Auffassung voll bestätigt wurde.
Ces gens lä
sont payßs, ils n'ont pas le feu sacr6 de la science du tout, waren
seine Worte, und er war doch auch pay6.
Später hat er dann den
Zahlungsmodus noch geradezu erniedrigt, indem er z. B. für jede
Beobachtung des Meridiandurchgangs eines Gestirns eine bestimmte Taxe aufstellte und damit das feu sacrt auf der Sternwarte eine Zeitlang fast gänzlich ausblies. Übrigens waltete in jener Zeit auch
in England noch eine eigentümliche Auffassung hinsichtlich der wissen schaftlichen Stellung des Assistententums in den messenden Mfsenschaften. Als ich auf der Sternwarte zu Cambridge dem Direktor
den Wunsch aussprach, meinen jüngeren Kollegen bekannt gemacht zu werden, lehnte er mit den Worten ab, ich solle mich nicht um sie
kümmern, they are no gentlemen.
Das ist nun auch in England und Frankreich längst anders ge-
63 worden, wobei Deutschland und Nordamerika mit gutem Beispiel vorangegangen sind.
Meine ganze Reise durch England, Schottland, Irland und über Paris zurück, die sich von Anfang August bis über Mitte September
1859 erstreckte, war doch eine große Lebensbereicherung, für die ich meinem Vater nicht dankbar genug sein konnte.
9. Kapitel. Anstellung als erster Assistent an -er Sternwarte (1860). Rückblick auf meine geselligen Beziehungen und -en Beginn meiner Vortrage in -er Singata-emie. Außerordentlicher Professor (1863)« Erkrankung von Prof. Encke. Die Übernahme -er interimistischen Leitung -er Sternwarte. Die Begrün-ung -er internationalen astronomischen Gesellschaft (1863). Die Reise nach St. Petersburg un-Pulkowa (1864). Die erste Generalkonferenz -er mitteleuropäischen Gra-messung (1864). Die Ernennung zum Direktor -er Sternwarte (1865).
Das Jahr 1860 bildet nun insofern eine Epoche in meiner Lebens entwicklung, als ich am 1. Slpril dieses Jahres, auf Grund der Be rufung meines Kollegen Bmhns zum Professor und Direktor der
Stemwarte in Leipzig, in die erste Assistentenstelle einrückte und die entsprechende Wohnung auf der Berliner Stemwarte bezog. Mein
Verhältnis zu meinem Herrn Direktor, Professor Encke, wurde da durch nicht erheblich geändert, denn er hatte mir stets, insbesondere
schon bei der Habilitation an der Universität und auch durch die oben erwähnte Einfühmng bei Böckh und Humboldt, außerordentliche Güte und Vertrauen erwiesen.
Aber meine Lebensbedingungen
wurden jetzt doch nicht unwesentlich geändert, da ich nun auf der Stemwarte auch den sogenannten Zeitdienst zu übernehmen hatte. Durch die Notwendigkeit, die Gunst des Wetters bei Tag und bei
Nacht für die Beobachtungen der Durchgangszeiten der Sterne durch
den Meridian auszunützen, wurde ich in meiner persönlichen Zeit einteilung außerordentlich eingeschränkt, und dies war insbesondere für meine geselligen Beziehungen von Bedeutung.
Auch mußte
64 ich meiner Hausmusik entsagen, da mein Wohnzimmer neben dem
Arbeitszimmer des verehrten Herrn Direktors lag.
Für die ge
selligen und musischen Entsagungen fand ich aber reichen Ersatz in der unbeschreiblichen Freude an den Herrlichkeiten der astronomischen Meßkunst.
Ich war seit dem Eintritt in die zweite Assistentenstelle
schon daran gewöhnt, in der Regel bis 3 Uhr nachts aufzubleiben und bis 10 Uhr morgens zu schlafen. Indessen hatte die bisherige astronomische Beschäftigung in diesen Jahren (1855—60) mir doch mehr Freiheit, auch bei der nächtlichen Zeiteinteilung gelassen, als
die Beschäftigung, die mir jetzt bei Tage und bei Nacht der Zeit
dienst auferlegte.
Die nächsten sechs Jahre aber verlebte ich in der
Tat mehr nach Sternzeit, als nach Sonnenzeit. , Ich mußte zur
Stelle sein, sobald bestimmte Fixsterne bei Tage oder bei Nacht den Meridian passierten. (Beiläufig bemerkt, erlaubte das Meridianfernrohr unserer Sternwarte auch am Hellen Tage bei ganz wolken
reinem Himmel fast in jeder Stunde den Meridiandurchgang von einem oder zweien der helleren Fixsterne zu beobachten.)
Ein solcher S t e r n d i e n st ist aber, da auch die Sterne
dienen, d. h. genau und immer genauer halten, was der Menschen geist verspricht, eine unerschöpfliche Quelle höchster und reinster Befriedigungen.
Möge die Erinnening an diesen Hauch von Welt
harmonik als Einleitung dienen zu einem Rückblick, den ich noch auf mein geselliges Leben in den Jahren 1855—60 werfen möchte. Es war nicht nur die Musik, die sich damals besonders lebhaft in Berlin zu entwickeln begann (vor 1850 hatte es in Berlin noch
keine öffentlichen populären Symphoniekonzerte gegeben), sondern es waren auch die Malerei und die Bildhauerkunst, welche in Berlin
in diesen Zeiten, damals eifrig gepflegt durch König Friedrich Wil helm IV., emporzublühen begannen.
Ich hatte nun das Glück,
zu einigen Musikern, Malern und Bildhauern persönliche Bezie hungen zu gewinnen, und zwar hauptsächlich durch Vermittlung
eines alten Herrn, der seine Jugend in Grünberg, in Freundschaft
mit meinem großväterlichen Hause, verlebt hatte, und mit dem ich ganz zufällig in Berlin bekannt wurde. Es war dies der Geh. Ober postrat Eduard Schüller, freiwilliger Jäger von 1813, ein echter
65 Schlesier, damals schon über 60 Jahre alt, aber allen Musen dienend, Mtglied fast aller geselligen Vereine von Dichtern, Malern und Bild hauern, begeisterter Jünger von Goethe und Schiller, vom Rhein
her, wo er längere Zeit gelebt hatte, mit einem Sohne von Schiller
und einem Sohne von Fichte, am innigsten und brüderlichsten aber mit Wilhelm von Kaulbach befreundet, der damals öfters längere Zeit in Berlin weilte, um seine großen Wandbilder im Neuen Museum zu malen. Wieviele trauliche Abende habe ich damals mit ihm und
einigen anderen Berliner Künstlern, von denen ich nur den Bild hauer Drake unb den Maler Stilke, sowie den humorvollen Kupfer
stecher Lüderitz nenne, in Schüllers Hause verbracht.
Sitte diese
lieben Herrn nahmen ein gütiges Interesse an dem jungen Stern-
kucker, von dessen Lebensarbeit sie alle gern reden hörten. Natürlich zogen mich diese Künstlerbekanntschaften auch in größere Geselligkeits feste, bei denen ich auch manche herzerfreuende Bekanntschaft mit der lieben Frauen- und Mädchenwelt dieser Kreise machte.
Kurz vor dem Jahre 1860 war aus allen diesen Beziehurigen
eine kleine gesellige Veranstaltung meinerseits hervorgegangen, in dem ich in einem Hotel unter den Linden einen Zyklus von populären Borträgen über Astronomie und Kulturgeschichte darbot, zu welchem
ich die werten Herren und Damen aus jenen Kreisen einlud, und diese
Veranstaltung wurde die erste Stufe zu meinen späteren Vorträgen in der Singakademie, die in meiner ganzen äußeren und inneren Lebensentwicklung eine erhebliche Bedeutung gewannen. In die Zeit von 1855—60 fallen auch einige Erlebnisse in
meiner Familie, die mich stark bewegten. Meine liebe älteste Schwester Hulda, die, wie ich schon erzählte, im Jahre 1854 sich mit dem New
Yorker Tuchkaufmann Louis Großmann verheiratet hatte, war im Sommer 1856 mit ihrem Gatten nach Dresden übersiedelt, von wo
aus der Gatte eine noch umfassendere Entwicklung seines deutsch
nordamerikanischen Tuchgeschäftes zu organisieren hoffte. Die Tage,
die ich bei dem lieben Ehepaar in Dresden zubrachte, waren für mich sehr beglückend, da ich mich auch mit dem Schwager innig befreundete.
Um so härter trafen uns und die ganze Familie die Ereignisse der großen wirtschaftlichen Krisis von 1857, die zu gleicher Zeit in Europa Wilh. fr o er ft er, Leben-erinnerungen.
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66 —
—
und in Nordamerika großes Unheil anrichtete, so daß mein Schwager sich gezwungen sah, in größter Elle nach New Dort zurüchukehren und seine Frau mit zwei ganz kleinen Kindem nachkommen zu lassen. Mr wurde der Auftrag zuteil, im Dezember 1857 die schwerbe
drängte Schwester in Hamburg einzuschiffen.
Ich erinnere mich
dieses Abschiedes mitten auf der Elbe in der Mhe von Cuxhaven bei greulichstem Winterwetter und in Erwartung einer Seefahrt, die auch wirklich sür meine Schwester mit großen Drangsalen verlief, und zu gleich in Erwartung einer in New York vorzufindenden höchst be drängten Lage ihres Gatten.
Und ich habe es nie vergessen, welche
Seelengröße die Schwester in dieser Lebenslage bewies.
Ich will
gleich hinzusügen, daß schon nach kurzer Zeit der Gatte wieder emporkam und alsdann nahezu 12 Jahre lang seiner Familie sehr bewegte, aber meist sehr glückliche Zeiten, zuletzt in einem Land haus am Hudson, bereitete, aber schließlich nach Deutschland heim
kehrte, wo dann die große Handelskrisis von 1873, die das deutsche Exportgeschäft so stark erschütterte, auch ihn in Grünberg in eine
sehr eingeschränkte Lebenslage versetzte.
In dieser hat er dann bis
zu seinem frühen Tode mit einer Unverdrossenheit gearbeitet, die
sich sogar bis zu humorvollen Rückblicken auf die ungewöhnliche Glanzperiode seiner nordamerikanischen Existenz erhob.
Diese Geschäfts- und Lebensverhältnisse waren in hohem Grade charakteristisch für die Zustände jener merkwürdigen Zeiten, in
denen sowohl Deutschland als Nordamerika die gewaltigsten geschäft lichen Nöte durchzumachen hatten. Kurz vor dem Jahre 1860 wurde auch mein eigenes Leben tief bewegt durch die Zuneigung zu einem edlen Mädchen, welches mir
leider keine Erfüllung meines Hoffens gewährte.
Sie ist mir nachher
bis in die spätesten Lebenstage eine gütige Freundin gewesen, und die wehmutsvolle Entsagung hat mir in den auf jene Enttäuschung unmittelbar
folgenden
Zeiten
größter
Lebensanstrengung
eine
Seelenstärkung bereitet, die mir durch eine sogenannte glücklichere Lebensentwicklung damals vielleicht versagt worden wäre. Der nun folgende fünfjährige Zeitraum vom Frühjahr 1860 bis zum Frühjahr 1865, in welchem letzteren Zeitpunkte ich im Mer
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von 32 Jahren zum Direktor der Kgl. Sternwarte in Berlin emannt
wurde, war für mich eine mit bedeutsamen Ereignissen und an strengenden Leistungen in ganz ungewöhnlicher Weise angefüllte Zeit. Im Februar 1860 hatte ich zunächst in dem Zyllus des „Wissen schaftlichen Vereins" in der Singakademie den ersten derjenigen Bor träge gehalten, von deren Vorbereitung durch die Beziehungen zu August Böckh und Alexander von Humboldt und durch meine eigenen
freien Veranstaltungen ich bereits oben gesprochen habe. Das Thema dieses Vortrages hieß: „Die Astronomie des Mtertums und des Mittelalters im Verhältnis zur neueren Entwicklung."
Meine
Vorlesungen an der Universität, aber auch meine dienende Mitarbeit bei A. von Humboldt, der im zweiten Bande des Kosmos die grandiosesten Ausblicke in die Kulturgeschichte wissenschaftlichen Er kennens geöffnet hatte, und bei Aug. Böckh, der einer der tiefsten Kenner der wissenschaftlichen Kultur Griechenlands war, hatten es
mir ermöglicht, daß ich in diesem Bortrage Lichtblicke aufzutun vernwchte und Töne fand, welche für eine Reihe der bedeutendsten Männer an der Universität, sowie in der höheren Beamten- und Mlitärwelt noch völlig neu waren. Schon in den ersten dieser Bor
träge zählte ich den damaligen General von Moltke und den da maligen Ministerialdirektor Delbrück zu meinen Zuhörern, und sie sind mir alsdann auch in der Folgezeit gütige und treue Zuhörer der singakademischen Vorträge geblieben. In noch höherem Maße, als jener erste astronomisch-kulturgeschichtliche Vortrag bewegte der
nächstfolgende, an derselben Stelle am 28. Februar 1862 gehaltene Vortrag: „Johann Keppler und die Harmonie der Sphären" das sehr
andächtige und geistig vornehme Publikum dieser Veranstaltungen. In dieser Zeit (1860—62) erlebte ich auf der Sternwarte eine politische Auseinandersetzung mit Prof. Encke, von der ich noch gern
berichte, weil sie ziemlich charakteristisch ist für die Herrlichkeit des preußischen Wahlgesetzes, und weil sie auch meinen teuren Professor
in seinem Verhalten zu dem jungen Assistenten liebenswürdigst
kennzeichnet.
Kurz vor einer der damaligen sehr bewegten Wahlen
zum preußischen Abgeordnetenhause kam er eines Morgens seufzend zu mir: Denken Sie, ich bin diesmal mit dem Hausbesitzer Schul; 5*
68
zusammen das ganze Kollegium der Urwähler erster Klasse in unserm Bezirk. Wir haben also beide zusammen einen Wahlmann zu er nennen, aber wen?
Schulz überläßt mir die Entscheidung, er will
sür meinen Kandidaten stimmen.
Da ich zu wenig Bekanntschaften
für eine solche Auswahl habe, die mir auch mit den nötigen Fragen und Besprechungen viel Zeit kosten würde, so habe ich daran gedacht, mit Schulz zusammen Sie zum Wahlmann zu machen. Was meinen
Sie dazu? Leider mußte ich chm erllären, daß ich unmöglich seine (stets
streng konservativen) politischen Ausfassungen vertreten könne, vielmehr auch als Wahlmann, ebenso wie als Urwähler III. Klasse, für die Dies war ihm neu, aber er fügte sich mit heiterem Bedauern und meldete mir dann am folgen
demokratische Partei stimmen würde.
den Tage, daß Herr Schulz ihm jetzt einen ihm namhaft gemachten Magistratssekretär, der doch offenbar bei der (damals noch konser vativen) Stadtverwaltung kein Demokrat sein werde, vorgeschlagen
habe, für den er nunmehr auch stimmen wolle. Es traf sich nun aber
unglücklich, daß dieser „zweistimmig" von den Urwählem I. Klasse auf den Schild gehobene Wahlmann einer der rabiatesten Demo kraten war, was meinem lieben Professor in den nächsten Tagen von dem Bürgermeister Naunyn nicht ohne Ironie mitgeteilt wurde. Bei derselben Wahl war in der Vorschlagsliste der Wahlmänner
III. Klasse auch mein Name genannt worden.
Ich erwähne dies
hier nur, weil mein eigener Vater, als ich ihm davon Mitteilung machte, schlechtweg bemerkte: „Welche Dummheit." Der liebe gütige Vater konnte sich nicht sofort in den Gedanken finden, daß
„sein Junge" schon politisch ernsthaft genommen wurde.
Er war
aber sehr erstaunt, als ich ihm weiter erzählte, welche Ehre mir bei
nahe als Wahlmann I. Klasse zuteil geworden wäre.
Im Jahre 1862 hatten wir auf der Sternwarte den Besuch der ersten nach Deutschland gekommenen japanischen Gesandtschaft. Graf Friedrich Eulenburg (der spätere Minister des Innern) war
vorher in handelspolitischer Mission nach Japan entsandt gewesen,
und er war jetzt der Cicerone der in Erwidemng nach Deutschland entsandten japanischen Mission, die hauptsächlich aus drei „Daimios"
69 (den damals in Japan regierenden Territorialfürsten) bestand.
Der
älteste derselben namens Mmodske war außerordentlich intelligent
mit) auch in der Astronomie merkwürdig bewandert, so daß er z. B.,
als ich ihm den Jupiter in dem großen Fernrohr vorgeführt hatte, sofort durch den Dolmetscher monierte, daß er die beiden grauen Äquatorialstreifen auf der Scheibe des Planeten nicht deutlich sehe,
was ich sofort zu seiner dankbar markierten Befriedigung durch eine kleine Okularanpassung erledigte. Der Dolmetscher, der vorzüglich Englisch und auch etwas Deutsch redete, war auch ein sehr Heller Kopf,
so daß wir sehr gut miteinander bekannt wurden, und das war der Anfang zahlreicher Befreundungen, die mich mit Japans wissen schaftlichen Leuten bis heutigen Tages vielfach in herzlichster Weise verbunden haben. Unter den japanischen Astronomen sind auch
mindestens 10 bis 12 jahrelang meine Schüler an der Universität und Sternwarte gewesen.
An dem ersten Abend, an welchem die
Gesandtschaft die Stemwarte besuchte, war der Himmel ungünstig, so daß nach einigem Warten Graf Eulenburg sich und die Herren Japaner bei Prof. Encke mit dem Vorbehalt einer Wiederkehr bei besserem Himmel verabschiedete. Er tat das aber in merkwürdig
unbedachter Weise, mit den drei Daimios vor Professor Encke stehend, mit den Worten: „Ich sehe schon, daß ich Ihnen diesen langweiligen Paddy (wobei er auf die drei Herren hinwies) noch einmal werde
bringen müssen." Auf die präsentierende Handbewegung des Grafen aber Verneigten sich die Daimios (der „Paddy") aufs tiefste vor Prof.
Encke, der über diese sonderbare Szene förmlich erschrocken war, zumal da der Dolmetscher in der Nähe stand. Bei dem zweiten Be such war aber der Himmel sehr schön und Herr Simodske tief dankbar.
Die edlen Daimios hatten aber sonst in ihrem Auftreten, zumal
auch in dem wiederholten Hinkauern auf der Diele, noch sehr viel Atavistisches. Herr Simodske hat einmal bei einem Diner im Aus wärtigen Amte, als der Mnister mit zwei sehr anmutigen jungen Damen ihm gegenüber saß, während er und der auch anwesende
Präsident der Negerrepublik Liberia neben der Frau Minister placiert waren, zu dieser durch den Dolmetscher sein Bedauern aussprechen
lassen, daß sie zwischen zwei Teufeln sitze, während ihr Herr Gemahl
70 zwei Engel an seiner Seite habe. Wenigstens hat es der Dolmetscher so ausgedrückt, was ihm aber der Negerpräsident sehr übel genom
men hat. Bald nachher kam das Weh und die Not auch über mich, daß mein verehrter Direktor, welcher 1861 das siebzigste Lebensjahr überschritt, in eine schwere Gehirnkrankheit verfiel, welche ihn zu dem Entschlüsse brachte, im Laufe des Jahres 1863 die Sternwarte zu verlassen und sich mit seiner Familie zu seinem ältesten Sohn, der
als Kreisrichter in Spandau wohnte, zurückzuziehen. In einer Stufe dieser schweren Erkrankung fühlte der teure Mann das Bedürfnis, sich in das Sanatorium des seiner Familie
befreundeten, ausgezeichneten Irrenarztes Dr. Jessen zu Hornheim bei Kiel zurüchuziehen, um seine Familie vor den schweren Be drängnissen seines damaligen Geisteszustandes zu bewahren. Es gelang dann in der Tat dem Arzte, die Entwicklung des Leidens in
ruhigere Bahnen zu lenken und die paroxystischen Gefahren zu beseitigen.
In ergreifender Erinnemng ist mir aus dieser Phase des
Krankheitsverlauses eine Episode geblieben, in der ich mich in be sonderer Weise hilfieich betätigen konnte. Als nämlich der Arzt die Zuversicht gewonnen hatte, daß die akuten Gefahren der geistigen Erkrankung überwunden seien, wurde Enckes Sehnsucht nach der
Rückkehr zur Familie so drängend, daß ich angesichts einer Erkrankung des Sohnes, in dessen Haus die Familie sich zurückgezogen hatte, zur,
Heimholung des von mir so innig verehrten alten Herrn meine Dienste anbot. Diese Heimreise hatte einen für mich unvergeßlichen Verlauf,
über den ich in der Berliner Akademischen Wochenschrift vom 8. Juli
1907 eingehender berichtet habe, weil mir diese Eindrücke eine allge meine psychologische und lebensgeschichtliche Bedeutung zu haben schienen. Professor Enckes Stimmung und Geisteszustand war näm lich auf dieser Reise von einer ganz ungewöhnlichen Helligkeit und Freudigkeit, wie ich sie in den vorangegangenen Jahren noch gar
nicht bei ihm erlebt hatte.
Bald nach der Rückkehr in die Familie nahm jedoch die Krank
heit wieder einen schwereren Charakter an, wenngleich ohne die früher bedrängenden Komplikationen. Ich sollte aber noch die außer-
71 ordentliche Freude erleben, daß ich im Jahre 1864 während einer vorübergehenden Besserung des Zustandes den Besuch des verehrten
Lehrers auf der Sternwarte empfangen konnte, wo ich ihm einen
wesentlichen Umbau der Aufftellung des großen Fernrohrs vorführen Im
und dabei seiner vollen Zustimmung froh werden konnte.
Sommer 1865 schied er in allmählicher Trübung des Bewußtseins
ohne größere Qualen aus dem Leben. Freund Bruhns hat dann dem hochverdienten Astronomen iti einer besonderen Lebensbeschreibung ein Denkmal gesetzt, und meinerseits ist er in einer Universitätsrede, welche ich am 3. August
1894 infolge einer Verhinderung des damaligen Rektors zu halten
hatte, mit besonderer Würdigung seiner Eigenart gefeiert worden, wozu ich späterhin in dem oben erwähnten Artikel in der akademischen
Zeitschrift noch einige persönliche Erinnerungen hinzugefügt habe.
Für die Entwicklung meiner Stellung an der Universität und Stemwarte waren diese Jahre von 1862—65 in besonderer Weise günstig. Roch mit Enckes Befürwortung wurde ich im Jahre 1863 zum außerordentlichen Professor emannt, während mir zugleich die
Leitung der Stemwarte interimistisch übertragen wurde. Für die sofortige Neubesetzung der Stelle des Direktors der Stemwarte nach Enckes Rücktritt fehlte es infolge der Besonderheiten der Ressortverhältnisse an der nötigen Gehaltsposition; bcnii die
Sternwarte gehörte damals zum Etat der Akademie der Wissen schafter«, und Encke war int Jahre 1825 als Direktor dieser akademi schen Stemwarte mit der Zusage einer lebenslänglichen Dauer seines Gehaltes, wie es damals für eine Reihe von akademischen Stellen
üt Geltung war, berufen worden. Der Akademie der Wissenschaften,
welcher nun die Neubesetzung der Direktorstelle zustand, fehlte es also mt den nötigen Geldmitteln, und vom Ministerium wurde sie
darauf hingewiesen, zu wartet«, bis dos Gehalt durch das Ablebe«« des bisherigen Direktors, das so nahe zu liegen schiel«, verfügbar ge
mordet« sei. Somit konnte die Akademie ihre Verhandlungen mit eitlem Nachfolger nur vorbereitend beginnen, und in der Zwischen zeit mußte der erste Assistent, Foerster, den man soeben zum außer ordentlichen Professor gemacht hatte, die Direktim« übemehnien.
72 In den Verhandlungen, welche die Herren von der Akademie über
diese Entwicklung der Dinge mit mir führten, wurde von dem da maligen beständigen Sekretär der mathematisch-naturwissenschaft lichen Klasse, Professor Kummer, der mir schon bei der Habilitation
an der Universität und bei der Ernennung zum außerordentlichen
Professor großes Wohlwollen erwiesen hatte, mit der vollsten Offen heit erllätt, daß ich keinesfalls als Nachfolger in Frage käme, weil ich noch für zu jung erachtet würde, daß man vielmehr den damaligen
Direttor der Sternwatte in Altona, Professor Peters, einen sehr ausgezeichneten, aber schon ziemlich bejahtten Astronomen, dafür ins
Auge gefaßt habe und mit ihm bereits in Verhandlung getreten sei. Hierzu konnte ich nur mein volles Einverständnis erllären, da ich bereit war, unter einem solchen Direttor zunächst als Assistent weiter
zu arbeiten.
Als nun aber die Erledigung von Enckes lebensläng
licher Gehaltsstellung sich unerwattet lange hinzog, wurde Professor Peters, welcher von den ihm mitgeteilten Absichten der Akademie seiner Behörde, nämlich der dänischen Regiemng, Kenntnis gegeben
hatte, von dieser nach Kiel berufen, mit einer ansehnlichen Erhöhung seiner Gehaltsstettung, unter gleichzeitiger Zusichemng der Be gründung einer neuen Sternwatte in Kiel, so daß er die offizielle Erllärung nach Berlin gelangen ließ, auf die künftige Berufung an
die Berliner Sternwarte definitiv verzichten zu wollen.
Zugleich
richtete er an mich die Auffordemng, nunmehr meinerseits mit aller
Zuversicht als Kandidat für die Direktion der Berliner Stenlwarte auftreten zu wollen, wofür auch seinerseits ein lebhaft zusttmmendes Votum an die Akademie ergehen würde. In derselben Weise äußetten
sich vertraulich mir gegenüber zwei andere der bedeutendsten da maligen Astronomen Deutschlands, nämlich mein verehrter Lehrer Professor Argelander in Bonn und Professor Hansen in Gotha. Ich war den Astronomen in den Jahren meiner Assistentenarbeit
und der provisorischen Leitung der Berliner Sternwatte sowohl durch meine Erfolge als Berechner von Planetenbahnen, als auch
besonders durch eine sehr intensive Beobachtungstätigkeit auf dem
Gebiete der damals immer schneller anwachsenden Zahl von neuent deckten Planeten gut bekannt geworden, während ich allerdings in
73 der Richtung mathematischer Produktion keine hervortretende Be
gabung und Leistung erwiesen hatte, so daß die leitenden Mathe
matiker der Akademie, unter ihnen der vorerwähnte gütige Freund Kummer, sich nicht entschließen mochten, jenes Votum der bedeutend sten deutschen Astronomen als entscheidend anzuerkennen.
Es kam
hinzu, daß sich an leitenden Stellen des Ministeriums ein sehr leb haftes Wohlwollen für mich aus Gmnd meiner oben erwähnten
populär-wissenschaftlichen Borträge in der Singakademie, insbe sondere des Vortrages über Johann Keppler und die Harmonie der Sphären, bemerllich machte.
Nicht ohne Gmnd verschärfte nämlich
dieser Nebenerfolg meiner Betätigungen die Abgeneigtheit,
ben
jugendlichen Astronomen, wie es bei seiner Ernennung zum Direktor
der akademischen Sternwarte unumgänglich gewesen wäre, in die
Akademie aufzunehmen. Der wissenschaftlichen Urteilsstrenge wider
strebte auch der bloße Anschein, daß ein solcher „profaner" Neben
erfolg den Weg in die Akademie bahnen könnte.
Diese an sich be
rechtigte, jedoch gegenüber der vorliegenden eifrigen und streng wissenschaftlichen Tätigkeit des in Frage stehenden Astronomen ein
seitig übertriebene Auffassung kam in dem lustigen Witzwort zum
Ausdruck „Kein Akademiker, aber ein Sing-Akademiker", womit in der Tat eine besondere Seite meiner Begabung und meiner ganzen
Lebensarbeit gekennzeichnet wird. Habe ich doch noch jetzt in meinem 78. Lebensjahre an der Universität in einer Vorlesung über die „Weltharmonik im Sinne von Plato und von Keppler" ein ganzes
Semester hindurch ebensowohl musisch als mathematisch geschwelgt. In jene für mich so kritischen Zeiten fielen drei Vorgänge, welche für die weitere Entwicklung der Entscheidungen auch einige Bedeutung
gewinnen sollten,
nämlich die Begründung der internationalen
„Astronomischen Gesellschaft" zu Heidelberg im Sommer 1863,
sodann
meine
Beteiligung
an dem 25jährigen
Jubiläum der
Sternwarte zu Pulkowa (bet St. Petersburg) im Sommer 1864 und meine Beteiligung an der ersten umfassenderen Kottferenz
der
mitteleuropäischen
Gradntessmtg
zu
Berlin
ebenfalls
im
Sommer 1864. Die Begründuttg der Astronomischett Gesellschaft geschah im Anschlnß an die bei Gelegenheit meiner früheren Mitteilungen über die
74 Naturforscher-Versammlung zu Bonn (im Jahre 1857) schon er wähnten Organisationsanfänge unter der Ägide von Argelander und
von Otto Struve wefentlich im Sinne eines Statuten-Entwurfes, welcher von Argelanders bedeutendstem Mitarbeiter Prof. Schönfeld bei
der Durchmusterung des nördlichen Sternhimmels und von mir, als dem Vertreter der besonders lebhaft auf der Berliner Sternwarte be
triebenen Planetenbeobachtungen und Planetenbereckmungen aufgestellt worden war. Schönfeld und ich übernahmen auch zusammen die
erste geschäftliche Fürsorge für die Weiterentwicklung der internatio nalen Gesellschaft, die sich sehr bald zu allgemeiner Anerkennung und
Bedeutung erhob und alsdann in der Organisation von umfassend gemeinsamen astronomischen Unternehmungen sehr Förderliches ge leistet hat. Die Beteiligung an dem Jubiläum der Sternwarte zu Pulkowo im Sommer 1864 war mir nicht bloß astronomisch von großem Interesse, sondern auch durch den Einblick in die wissenschaftlichen Personal-
vechältnifse in Petersburg, wo damals das deutsch-russische Element überwiegende Bedeutung hatte, sehr wertvoll. Die persönlichen Ber-
bindungen, welche ich dort anknüpftc, besonders die freundschastlichen Beziehungen zu der ausgezeichneten Astronomenfamilie Struve waren und blieben sehr wertvoll für meine ganze Lebenstätigkeit. Außerordentlich förderlich wurde mir für meine wissenschaftliche Betätigung und Stellung auch die erste Generalkonferenz der mittel
europäischen Gradmessungsorganisation, welche zu Berlin im Jahre
1864 unter der Führung des General Baeyer stattfand. Diese Kon ferenz wurde der Ausgangspunkt einer intemationalen Entwicklung der astronomifch-geodätischen Forschungsarbeit, die jetzt unter dem Namen „Internationale Erdmessung" und unter der Leitung von
Professor Helmert in Potsdam so Herrliches leistet, wovon ich weiter unten mit gebührender Würdigung der hohen Verdienste des ersten Begründers, General Baeyer, noch mannigfaches zu berichten haben werde.
Ich konnte gerade in den Anfängen dieser Organisation und
bei ihrer ersten größeren Versammlung diesem hervorragenden Manne eifrig und nützlich dienen. Als nun mit dem Ende des Jahres 1864, welches meine Zuver sicht auf eine förderliche Wirksamkeit und auf die Sympathie weiter
75
Kreise von Fachgenossen wesenilich erhöht hatte, noch immer keine
günstigere Stimmung für meine Kandidatur zur Sternwarten direktion an den entscheidenden Stellen der Akademie eintrat, viel mehr die vertraulichen Verhandlungen derselben mit anderen Persön lichkeiten ihren Fortgang nahmen, während ich durch die Ungewiß heit der Situation auch in der Verwaltung der Sternwarte und der Anstellung von Hilfskräften beengt war, entschloß ich mich, meine
Entlassung zu erbitten, da ich die Zuversicht hegen durste, vielleicht doch anderwätts, nötigenfalls außerhalb Deutschlands, eine geeignete und auskömmliche astronomische Stellung zu finden, und da jeden
falls durch meinen Weggang die Akademie in die Lage kommen mußte, beim Mnisterium endlich tatkräftige Fürsorge für die Neubesetzung der Leitung der Stemwarte zu erlangen. Die Folge dieses meines Entlassungsgesuchs bestand jedoch
darin, daß das Mnisterium die ressottmäßige Verbindung der Stern watte mit der Akademie der Wissenschaften löste und nach offizieller Einholung der Gutachten der bedeutendsten deutschen Astronomen mich zum Direttor der Sternwatte ernannte.
Natürlich empfand man diese Entscheidung in der Akademie sehr bitter und legte dieselbe zum Teil mir zur Last. Als nun aber wenige Monate nach meiner Emennung Prof. Encke im Sommer 1865
starb, und dadurch der Weg für die Emennung eines Astronomen der Akademie ganz frei wurde, lag es dem Mnistettum nahe, sogar den Vorschlag zu machen, daß das nun verfügbar gewordene Gehalt
jetzt dem von ihm ernannten Direttor der Sternwarte zugesprochen
werde.
Was ich irgend konnte, tat ich jedoch, um eine solche Attion,
die mir als eine Gewalttat erschienen wäre, zu widerraten, indem ich
an maßgebenden Stellen auch darauf hinwies, daß unzweifelhaft durch die neueste große Entwicklung der astronomischen und astro physikalischen Arbeit künftighin neben der Stellung des Direttors der nunmehr in nähere Verbindung mit der Universität tretenden Stemwarte gerade einesolche Stellung, wie diejenige eines Astronomen der Akademie, welcher weniger der unmittelbaren astronomischen Messungspraxis als der mehr theoretischen Forschungsarbeit zu dienen hätte, völlig gerechtfettigt sein werde.
In diesem Sinne
erfolgte denn im Jahre 1866 die schließliche Entwicklung der ganzen
76 Angelegenheit.
Hauptsächlich auf Grund der sehr warmen Befür-
wortung seitens des großen Astronomen Hansen in Gotha wählte
die Akademie den mir schon nahe befreundeten Astronomen Arthur Auwers, der sich bereits sehr früh durch ausgezeichnete Arbeiten be merklich gemacht hatte (er war einige Jahre jünger als ich), zum Mit-
gliede und zum Astronomen der Akademie, als welcher er noch bis heu tigen Tages eine heworragende Forschungs- und Organisationstätigteit, zumal auf dem Gebiete der Fixstemastronomie, entfaltet hat. Mit
diesen Entscheidungen war nun die Bahn frei gemacht für eine tüchtige astronomische Mrksamkeit in Berlin. Ich nahm zunächst
auch eine Neugestaltung des von Lambert und von Bode (dem Vor gänger von Encke in der Direktion unserer Stemwarte) im Jahre
1775 begründeten Berliner Astronomischen Jahrbuches in die Hand,
für welches späterhin die Arbeiten von Auwers epochemachende Be deutung erlangen sollten. Einer meiner Mitarbeiter aus den Jnterimszeiten, F. Tietjen, ein oldenburgischer Bauernsohn von großer rechnerischer und theoretischer Begabung, erwies sich sehr bald als
eine so eminente Hilfe, daß ihm im Jahre 1874 die selbständige Leitung eines auf meinen Antrag begründeten astronomischen Recheninstitutes,
zugleich mit der Herausgabe des Astronomischen Jahrbuches, über tragen werden konnte, und an dieses Recheninstitut wurde dann
auch ein Seminar für wissenschaftliches Rechnen angeschlossen, in
welchem Tietjen und ich die Unterweisungen erteilten. Das Jahr buch hat dann unter seiner Leitung und unter derjenigen seines Nach
folgers Bauschinger sich immer mehr zu dem anerkannten Zentral organ für die rechnerische Durchdringung und Beherrschung der Planetenscharen entwickelt, deren Anzahl jetzt schon mehr als 600 beträgt.
Die große Mehrzahl derselben bewegt sich zwischen der
Marsbahn und der Jupiterbahn, aber einzelne sind auch schon ge sunden worden, welche über diese Grenzen hinausgreifen, wodurch
sie ganz besondere Wichtigkeit für alle Dimensionsbestimmungen und Kräftemessungen in unserem Planetensystem erlangt haben, wie ins besondere der auf der Stemwarte der Berliner Urania von G. Witt entdeckte Planet Eros, der die Bahn des Mars durchkreuzt und der Erde näher kommen kann, als irgendein anderer Planet.
JO. Kapitel. Die Sternschnuppen von J866. Die KriegsnSte von J866. Die zweite Generalkonferenz -er mitteleuropäischen Gra-messung (J867).
In den Jahren 1865—68 wurde auf der Sternwarte auch eine
sehr intensive Beobachtungstätigkeit entfaltet.
Es waren besonders
zwei Gebiete der astronomischen Forschung, welche in dieser Zeit eine Bereicherung und Vertiefung ergreifendster Art erfahren hatten, nämlich die sogenannte Astrophysik durch Bunsen und Kirchhoff und
der Zusammenhang zwischen den Meteorerscheinungen und der Kometenwelt durch Schiaparelli's Arbeiten. Die großen Gesichts punkte und neuen Messungsmittel, welche durch die astrophysikalische Erforschung der zartesten Stmkturverhältnisse des Leuchtens der
Himmelslichter und der irdischen Lichtquellen auch der Astronomie zuteil wurden, drangen zunächst nur langsam in die Tätigkeit der
Stemwarten ein. Aber die Beobachtung der Sternschnuppen und Feuerkugeln hatte durch Schiaparelli's geniale Erkenntnis der Be ziehungen zwischen den Bahnen der Sternschnuppen und den Bahnen der Kometen sofort einen großen Aufschwung erfahren. Hierzu kam die um das Jahr 1866 oder 1867 zu erwartende Wiederkehr eines
prachtvollen Sternschnuppenphänomens, welches zuletzt im Jahre 1833 gesehen, vorher aber im Jahre 1799 in Südamerika durch
Alexander v. Humboldt wahrgenommen und sehr eindrucksvoll be schrieben worden war.
Umfassendere geschichtliche Untersuchungen
über frühere Beobachtungen dieser merkwürdigen Sternschnuppen fälle, deren Reichtum viel größer war, als bei den Erscheinungen, die alljährlich im Monat August, aus dem Stembilde des Perseus
kommend, am Himmel beobachtet werden, hatten erwiesen, daß die
— 78 periodische Wiederkehr jenes von Humboldt beobachteten Phänomens, das um Mtte November aus dem Sternbilde des Löwen hervor-
zubrechen schien, auch schon in den alten chinesischen Annalen ver
zeichnet war. Mele Jahrhunderte hindurch war dort angegeben, daß es nahezu alle 33 Jahre einmal aus dem Sternbilde des Löwen Sterne „regnete". Man konnte hiemach bei einer mittleren Peri odendauer von 33 bis 34 Jahren für das Jahr 1866 mit gewisser Zuversicht aus die Mederkehr der grandiosen Erscheinung rechnen. Ich organisierte hierfür ein Zusammenwirken mit mehreren kleinen
Expeditionen in der Umgegend von Berlin für die betreffenden Novembernächte des Jahres 1866. Das Zusammenwirken mehrerer solcher Beobachtungsstationen, unter denen die von Berlin ent fernteste in Brandenburg etabliert wurde, sollte außer der größeren Unabhängigkeit von lokaler Wetterungunst hauptsächlich der Messung
der Höhen dienen, in welchen die in die Atmosphäre eindringenden Weltkörperchen zu leuchten begannen und zu leuchten aufhörten. Mt großer Spannung wurde der entscheidende Tag (13. November)
erwartet. Bis nach der Mitternachtszeit vom 13. zum 14. November, um welche das Stembild des Löwen in Berlin aufging, war der
Himmel dicht bewölkt, und wir waren schon nahe daran, den Wach dienst einzuschränken, als auf einmal hinter dünneren Wolken schleiern ein gewaltiges Feuerwerk aufzuckte und dann bis zur Morgen-
dämmerung mehrere Stunden lang der Himmel von Tausenden leuchtender Meteorbahnen durchzogen wurde. Mitunter waren in einer und derselben Sekunde mehr als zehn solcher leuchtenden Bahnen sichtbar, die alle aus dem Stembild des Löwen hervorzuquellen schienen,
ein unvergeßliches
Schauspiel,
welches allmählich
ein
Maximum des Glanzes erreichte und von da ab sich zu vermindern begann, nachdem die Erde bei ihrem Fluge durch den Himmelsraum die Mtte der Bahnstraße, in welcher die Weltkörperchen wanderten,
durchquert hatte. In unseren anderen Stationen um Berlin waren die Wetter verhältnisse zeitweise weniger günstig gewesen als in Berlin, aber
aus Nauen und aus Brandenburg lagen doch Beobachtungen vor,
welche nun mit den in Berlin erlangten Messungen und Zählungen
79 einige bedeutsame Resultate ergaben. Besondere Sorgfalt hatte der
nach Brandenburg entsandte Beobachter Albrecht, damals an der Berliner Sternwarte studierend und später ein hochverdienter Mit-
arbeiter der internationalen Erdmessung, auf die Zählung der Meteore verwendet und damit die Durchgangszeit der Erde durch die dichteste Stelle des Schwarmes, sozusagen durch den Kem des selben, sehr genau sestgestellt. Eine überaus charakteristische Erscheinung wurde vollkommen gleichzeitig auf der Berliner Stemwarte und in Brandenburg beob
achtet, nämlich die Entstehung eines leuchtenden Ringes am Ende der Flugbahn einer solchen Hellen Stemschnuppe. (Ich bemerke, daß die Gleichzeitigkeit durch die telegraphische Vergleichung der
Chronometer der Stationen bis auf Bmchteile der Sekunde ge sichert war.) Dieser leuchtende Ring war offenbar heworgegangen aus einer explosiven Auflösung des in die Atmosphäre eingedrun-
genen und durch den Widerstand der Luft in sehr hohe Temperatur
versetzten Meteorkörpers. Es trat bei dem Verlauf dieser Erscheinung nun besonders deutlich hewor, daß dieses Erglühen des Eindringlings und die Auflösung desselben in kleinste leuchtende Teile und glühende
Gase eben dadurch heworgebracht wurde, daß bei der enormen Geschwindigkeit des Eindringens, welche in dem vorliegenden Falle
70 km in der Sekunde betragen haben mußte, kein Ausweichen der Luftteilchen möglich war, sondern die gesamte Luftmenge, welche
der Meteorkörper vor sich her antraf, in einer Sekunde von einer Strecke von 70 km Länge zu einem Luftkissen von enormer Dichtigkeit unb entsprechend gesteigerter Temperatur zusammengedrückt wurde, dessen Gegenwirkung schließlich den eindringenden Körper in jenen leuchtenden Ring auseinanderriß. Und nun trat noch die entscheidende
Gegenwirkung der sich wieder ausdehnenden Luftmenge ein, wo durch der aus dem Meteorkörper entstandene Ring jetzt in der entgegen gesetzten Richtung, in welcher das Meteor eingedmngen war, zu rückgetrieben wurde, während sich zugleich der noch längere Zeit fortglühende Ring allmählich erweiterte. Dieser ganze, kaum jemals früher in solcher Deutlichkeit beobachtete Vorgang empfing zugleich seine besondere Wichtigkeit dadurch, daß er eben gleichzeitig von
80
zwei Stationen beobachtet wurde, welche nahezu 70 km vonein ander entfernt waren, so daß nun die ganze Entwicklung und Ortsveränderung des Ringes mich in ihrer Höhenlage und in ihren Ge schwindigkeitsverhältnissen genau festgestellt werden konnte, wobei
sich dann ergab, daß das Ende der Flugbahn und die Entstehung des Ringes in einer Höhe von nahezu 80 km über der Erdoberfläche stattgefunden hatte. Es war erklärlich, daß die Beobachtungserfolge dieser November
nacht zunächst bei den Berliner Astronomen ein sehr lebhaftes
Interesse an der ganzen meteorischen Forschung hervorriefen und auch in weiten astronomischen Kreisen um so lebhafteren Anklang fanden, als es nur an wenigen Stellen auf der Erde gelungen war,
diese Novembermeteore so vollständig zu beobachten.
Dieses Seo»
nidenphänomen, so benannte titnn es wegen seines Hervordringens aus dem Sternbilde des Löwen, wurde überdies der Ausgangspunkt einer der vollkommensten Bestätigungen der epochemachenden Ge
danken von Schiaparelli über den Zusammenhang der Kometen und der Meteorerscheinungen.
Schiaparelli hatte kurz vor diesem
astronomischen Ereignis schon erwiesen, daß die Sternschnuppen, die alljährlich in den Augustnächten aus dem Sternbilde des Perseus hervorzudringen scheinen, in einer die Erdbahn durchkreuzenden Bahn wandeln, welche mit der Bahn eines bereits bekannten Kometen identisch ist. Diese Bahnstraße unterscheidet sich aber von der eben
falls die Erdbahn kreuzenden Bahnstraße der Leoniden zunächst
dadurch, daß jene eine viel größere Breite hat als die letztere, so daß die Erde dort bei der Durchquemng fast vier Tage lang (vom
8. bis 12. August) zahlreichen Meteorkörperchen begegnet, während das Leonidenphänomen nur wenige Stunden lang seinen vollen
Glanz entfaltet. Sodann aber sind offenbar die Wanderer in der Sttaße des Augustphänomens schon so gleichmäßig verteilt, daß
wir alljährlich fast dieselbe Anzahl von Eindringlingen in jenen Nächten aufleuchten sehen, während der Leonidenschwarm nur alle
33 bis 34 Jahre in die Nähe der Kreuzungsstelle seiner Bahn mit der Erdbahn zurückkehrt und nur dann in größter Zahl in die Erdatmo sphäre eindringt, wenn die Erde selber dann zugleich sehr nahe an
81 derselben Stelle ihrer Bahn vorbeipassiert. Es wurde nun im Jahre 1866 von größter Bedeutung für die Erkenntnis aller dieser Dinge, daß schon mehrere Monate vor dem Novemberphänomen ein Komet
entdeckt worden war, der in einer mit der Bahn der Leonidenmeteore
ganz entsprechenden Bahn wandelte, und daß sich dann aus der Bewegung dieses Kometen immer deullicher ergab, daß er ebenso wie der Sternschnuppenschwarm mit einer nahezu 33jährigen Um
laufszeit sich bewegte. Me diese Entdeckungen und Ergebnisse drängten sich damals in der ergreifendsten Weise zusammen, und zugleich fanden sich auch
bald durch eine vertiefte Untersuchung der alten chinesischen An gaben die merkwürdigsten Bestätigungen des Einflusses, welchen die
Anziehungskraft des Jupiter in dem vorangegangenen Jahrtauseiid auf die Lage dieser Bahn ausgeübt hatte. Ich bin etwas näher auf die Schilderung dieser Beobachtungsepoche von 1866 eingegangen,
weil sie auch entscheidend wurde für eine größere Unternehmung, die ich dann im Sommer 1867 im Interesse der Meteorforschung
noch veranstaltete. Während die Überfülle des Leonidenfeuerwerks die eigent
lichen Maßbestimmungen der Bewegungsverhältnisse der einzelnen
Meteore erschwerte, ermöglichte die oben erwähnte viertägige Dauer der Meteorerscheinungen im August und die viel geringere Zahl der nahe gleichzeitigen Erscheinungen eine größere Genauigkeit und Voll ständigkeit der Messungen. Ich veranstaltete deshalb im August 1867 ein mit besonderem Enthusiasmus von allen meinen Mitarbeiten«
durchgeführtes Zusammenwirken von etwa sechs Stationen, welche in einem Umkreise von etwa 150 km um Berlin hemm mit genau
verglichenen Zeitbestimmungen Meteorbeobachtungen anstellten, aus denen sich dann sehr wertvolle Resultate für die Höhen des Auf leuchtens und des Erlöschens zahlreicher Eindringlinge ergäbe««.
Neben den eigentlich astronomischen Aufgaben war damals der Sternwarte durch das Emporgehen der internationalen Organisation der sogenannten Gradmessungen (später wurde das ganze Forschungs gebiet mit dem viel zutreffenderen Namen „Erdmessung"
bezeichnet) auch ein weitreichendes Arbeitsfeld eröffnet, in Gestalt WNH. Foerster, Leben-erinnerungen. ß
82
der mit Hilfe der Telegraphie so sehr verfeinerten Bestimmungen von geographischen Längenunterschieden, sowohl zwischen den ein zelnen (Sternwarten, als zwischen gewissen Hauptpunkten der die
Länder umspannenden Dreiecksnetze.
Die große Geschwindigkeit
und Regelmäßigkeit der Fortpflanzung der elektrischen Stromwir-
kungen in den Telegraphendrähten ermöglichte eine früher unge ahnte Genauigkeit der Vergleichung der verschiedenen Ortszeiten, mit anderen Worten, der gleichzeitigen Lage der verschiedenen Meridiane im Himmelsraume. So wurde eine Kette von Längen gradmessungen damals organisiert, welche sich vom östlichen Ruß
land durch Deutschland hindurch bis nach dem Westen Frankreichs
und Irlands erstreckte. Der neue Direktor der Berliner «Sternwarte nahm natürlich an dieser Organisation und an der Ausfühmng der Beobachtungen eifrigsten Anteil, wobei er u. a. auch längere Zeit
auf einem Berge in der Nähe von Wien Zeitbestimmungen auszu
führen hatte, während ein Wiener Kollege an derfelben Stelle gleich zeitig dieselben Beobachtungen ausführte, damit die kleinen Unter schiede der persönlichen Zeitauffassungen der beiden Beobachter er mittelt und bei der Bestimmung der Lage des Meridians von Wien
gegen den Meridian von Berlin dann in Rechnung gestellt werden konnten. Ähnlich wie bei meinen früher geschilderten ersten erd
magnetischen Beobachtungen in Bonn ist mir noch die gehobene Stimmung in frischester Erinnerung, in welcher ich damals diese
nächtlichen Beobachtungen hoch über der alten Kaiserstadt und dem Donaustrom
zu
kosmischen
Forschungszwecken schlichtester,
aber
Für die Verwertung und Ausbreitung aller dieser Beobachtungsarbeiten wurde dann die zweite Generalkonferenz der mitteleuropäischen Gradmessung, welche durchdachtester Art ausführen konnte.
im Jahre 1867 in Berlin abgehalten wurde, eine höchst bedeutsame
Epoche. Mitten in all diesen Arbeiten erlitten wir den großen Schmerz,
daß einer unserer bedeutendsten und liebenswertesten astronomischen Freunde und Mtarbeiter, mit dem ich in Bonn und in Berlin studiert und zusammengewirkt hatte, August Winnecke, der an der mssischen Zentralsternwarte zu Pulkowa bei St. Petersburg eine ehrenvolle
83 Anstellung gefunden und sich dort verheiratet hatte, infolge allzu
intensiver Arbeit und einer gewissen erblichen Belastrmg geistes krank wurde. Bei unserer sehr nahen Befreundung nahm ich leb haftesten Anteil an den, sich glücklicherweise günstig entwickelnden
Erholungs- und Genesungsveranstaltungen, deren letzte durch die außerordentliche Klugheit und Feinheit von Herrn und Frau Dr. Herz,
die in Bonn ein Sanatorium leiteten, dem Kranken für nahezu 20 Jahre nicht bloß Genesung verschaffte, sondern eine wissenschaft liche Tätigkeit ersten Ranges ermöglichte mit dem Gipfelpunkte der epochemachenden Leitung der großen neuen Sternwarte zu
Straßburg. Bon dem Aufenthalte in dein Sanatorium in Bonn ist mir in besonderem Gedächtnis geblieben, neben der Dankbarkeit für den
beglückenden Erfolg der Behandlung des Kranken durch das lieb werte Ehepaar Herz, auch noch eine kleine Szene, die ich dort erlebte, als ich den kranken Freund auf Wunsch und Verantwortung seiner Frau fast gegen seinen Willen in dies Sanatorium eingeführt hatte.
Frau Dr. Herz nahm den Vorsitz ein an dem Mittagstisch, an welchem die verschiedensten Patienten in lebhafter Unterhaltung gruppiert waren, und sie hatte die beiden neuen Ankömmlinge, den kranken
und den gesunden Astronomen, zu ihrer Rechten und Linken plaziert. Mit ganz besonderem Behagen erzählte sie mir nach Aufhebung der Tafel, daß der sehr lebhaft redende Professor Foerster und der ernst und schwermütig blickende Professor Winnecke bei dem Publi
kum der Tafel die eigentümliche Würdigung gefunden hatten, daß ich für den Kranken und der ernste Freund für meinen Führer und Mentor gehalten wurde. Die Zeiten, in welche die oben erwähnten astronomischen und
geodätischen Arbeiten fielen (1865—68) gehörte in Deutschland zu den ergreifendsten des ganzen Jahrhunderts, und so blieb auch der Astronom von den starten Bewegungen nicht unberührt, welche im
Jahre 1866 über Deutschland hereinbrachen und sodann bis zum Jahre 1868 in den leitenden Regionen Berlins noch bedeutsame
Nachwirkungen, hauptsächlich bestehend in der Gestaltung des Nord deutschen Bundes, zur Folge hatten.
84 Auch persönlich wurde ich durch meine Familie in die Kriegs zustände etwas hineingezogen, denn mein lieber Bruder August,
der einige Jahre vorher in Berlin bei den Gardeschützen sein Menst-
jähr abgeleistet hatte, mußte auch mit ins Feld. Ein auf Wunsch meines Vaters von mir unternommener Versuch, ihn im Hinblick auf seine Unentbehrlichkeit für die von der Krisis hart betroffenen Arbeitszustände der großen väterlichen Fabriken dienstfrei zu be
kommen, blieb erfolglos. Dieser Versuch führte mich in das Haupt quartier des fünften Armeekorps, welches sich in Posen befand und um die Zeit meiner Bemühungen gerade im Aufbmche und Ab marsch durch Schlesien quer hindurch nach Böhmen hinüber begriffen
war. Ich geriet in die ganze Not der Eisenbahndrangsale, welche sich in solchen Zeiten entwickeln, mußte stundenlang auf kleinen Bahn höfen liegen bleiben und konnte dabei so recht einen Einblick erlangen
in die Stimmungen der gen Böhmen vorrückcnden Mannschaften.
Mese Eindrücke bestärkten mich in der schon von Berlin aus gemachten Wahmehmung, daß in diesen Anfängen des Feldzuges, der Deutsch
lands höhere Einigung begründen sollte, keinerlei Zuversicht und
Erwärmung für diese noch ganz unklaren Vorgänge vorhanden war. Erst als die Österreicher nun aus Holstein abgezogen waren, als auch die hannoversche Armee sich auf den Abzug nach Süden begab, und
als die Zustände in Kurhessen durch die Gefangennahme des Kur fürsten beendigt wurden, ftng es an, in den Gemütern wie eine neue Zukunft Deutschlands aufzuleuchten. Bon diesem Abzüge der hannoverschen Armee ist mir noch ein
Vorgang in deutlichster Erinnerung verblieben, dessen Mitteilung ich dem dabei unmittelbar mitwirkenden astronomischen Kollegen Klinkerfues, dem damaligen Direktor der Göttinger Sternwarte, verdanke, ein Vorgang, welcher durchaus in der Kulturgeschichte aufbewahrt werden muß. Ms der blinde König von Hannover, dem Marsche seiner Armee folgend, einen kurzen Aufenthalt in Göttingen
nahm, wurde der ihm persönlich bekannte vorgenannte Astronom bei ihm zu Tische geladen. Auf die beiläufige Frage des Königs:
„Was gibt es Neues am Himmel?", antwortete der sehr redselige
Astronom: „Majestät, es gibt jetzt in der Tat etwas sehr Merk-
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würdiges am Himmel.
In dem Stembilde der nördlichen Krone ist
plötzlich ein ganz neuer und sehr heller Stern aufgeleuchtet, dessen
Beobachtung uns alle stark beschäftigt."
Der König nahm sofort
regen Anteil an dieser Erzählung und ließ sich über den ganzen Vor gang so eingehend berichten, daß die furchtbar verhängnisvolle Lage, in der er sich damals befand, bei dem Tafelgespräch ganz in den Hintergrund trat. Nach der Tafel wurde Klinkerfues von einem der Adjutanten noch näher zur Rede gestellt, der ihm mitteilte, daß der König in
hohem Grade von diesen Vorgängen am Himmel ergriffen sei.
Er
habe nämlich den astrologischen Gedanken, daß der neue Stern, der so plötzlich iin Sternbilde der nördlichen Krone aufgeleuchtet sei,
auf niemanden anders Hinweise, als auf den plötzlich so gewalt
tätig gewordenen Ratgeber der „ K r o n e P r e u ß e n ". Da habe nun der König eine Art von Bemhigung aus den letzten Mitteilungen von Klinkerfues geschöpft, daß nämlich dieser neue «Stent doch bereits
im Verbleichen begriffen sei.
Eine keine Geschichte, welche doch
ganz im Stile der alten astrologischen Jrrsale verlaufen ist. Denn weinge Tage nachher kam die entscheidende Niederlage der Hannover scheit Armee bei Langensalza, nach welcher der «Stern Bismarcks
auf Erden glänzender als je aufleuchtete Es kamen dann die großen Siege in Böhmen, und es kam die Entwicklung des Norddeutschen Bundes.
Es kam Bismarcks unver
gängliche Großtat der Einfühmng des allgemeinen gleichen und freien
Wahlrechts in Deutschlands es kam dann die Einfühmng gleichen Maßes und Gewichtes und des metrischen Systems, von deren Zu
sammenhang mit den Entwicklungen von 1866 ich noch weiter zu er zählen habe. Mitten üt diese bewegten Zeiten der politischen Entwicklung
Deutschlands fiel dann int Jahre 1867 die schon früher erwähnte zweite Generalkonferenz der Mitteleuropäischen Gradmessung, eine Versammlung, welche für die Ausgestaltung der wissenschaftlichen
internationalen Organisationen von hervorragender Bedeutung wurde.
Das Zusammenwirken der verschiedenen nationalen Landes vermessungen hatte seit der Generalkonferenz von 1864 schon die
86 erfreulichste» Fortschritte gemacht. Die damals eingeleitete Orga nisation einer ständigen Zentralstelle für die Behandlung aller ge
meinsamen Angelegenheiten, sowohl der Dreiecksmessungen, als der astronomischen Orientierungen der vermessenen Flächen, hatte all seitig die Neigung gesteigert, eine höhere Gemeinsamkeit der Aus messung der ganzen Erde in Gang zu bringen und zunächst auch zu einer möglichst umfassenden Einheitlichkeit des Maßsystems und der
Messungseinrichtungen zu gelangen. Der preußische General Baeyer,
die Seele des ganzen Unternehmens, war auch durch die eigentüm liche Entwicklung seiner dienstlichen Laufbahn geradezu darauf hin
gewiesen worden, höhere gemeinsame Institutionen begründen zu helfen, welche mit einer gewissen Autorität, verbindend und über wachend, über den einzelnen Landesvermessungen 511 walten hätten,
während deren unmittelbare Leitlmg fast überall ausschließlich in den Händen der militänschen Kommandostellen verblieb.
General Baeyer hatte früher die sogenannte trigonometrische Abteilung des preußischen Generalstabes geleitet und war bei unserm
großen Astronomen Bessel in die Lehre gegangen, der in Ostpreußen in Verbindung mit der militänschen Vermessung eine in ihrer Art klassische Gradmessung ausgeführt hatte.
Der märkische Bauernsohn
Baeyer, der von den Befreiungskriegen her in der Armee empor
gekommen war, hatte alsdann die militärische Landesvermessimg in Preußen mit dem neuen Geiste der mathematisch-astronomischen Kritik und Fehlertheorie durchdrungen und zugleich für die Fort
setzungen aller dieser Messungen immer größere Horizonte geöffnet. Da hatte ihn das Schicksal getroffen, daß der ihn: vorgesetzte greise
Chef des großen Generalstabes aus dem Leben schied, und daß nun für die Wahl des Nachfolgers neben ihm selber der inzwischen im Generalstabe emporgekommene General v. Moltke in Frage kam, der ihm in militärischer Beziehung zweifellos vorzuziehen war.
Nach den bestehenden Avancementsgrundsätzen mußte dann aber
Baeyer seine Entlassung nehmen, obgleich er recht wohl und auch sehr gern unter Moltkes Oberleitung das militärische Vermessungs wesen Preußens weiter zu fördern vermocht hätte und sich auch noch
trotz seiner Jahre dafür am allerbesten eignete; denn er hat weiterhin
87 noch nahezu ein Bierteljahrhundert lang, bis zu seinem 90. Lebens jahre auf dem mächtig erweiterten Arbeitsfelde der intemationalen
Erdmessung, das er sich nun selber schuf, Hervorragendes geleistet. Mt Hilfe Alexanders von Humboldt gelang es ihm wenigstens, nach dem Ausscheiden aus seiner Stellung noch für einige Jahre einen dienstlichen Auftrag und eine kleine Dotation für die Fort
setzung freier Arbeiten auf dem Felde des Bermessungswesens zu erlangen. Auch auf die wissenschaftliche Entwicklung der preußischen Bermessungsarbeiten, die seiner unmittelbaren Leitung entzogen
wurden, hat er sich schließlich mit Hilfe der intemationalen Orga
nisation des Bermessungswesens den gehörigen Einfluß zu erringen gewußt. Die persönliche Stellung indessen, die ihm zunächst gegenüber
dem preußischen Generalstabe durch den pedantischen Schematismus
seines Ausscheidens bereitet war, machte ihn int Jahre 1867 zu einer für die militärischen Vertreter der Landesvermessungen aller übrigen Staaten ganz besonders sympathischen Persönlichkeit, denn man
darf es sagen, daß die preußische Armee damals von 1866 her trotz ihrer großen Erfolge und vielleicht gerade wegen derselbett in allen andern Ländern durchaus unpopulär war. So wurde denn die Generalkonferenz von 1867 zu einer Art
von persönlicher Huldigung für den Förderer der internationalen Gemeinschaft auf dem Gebiete des Vermessungswesens und zu
einem Sprungbrett des Aufschwunges der bezüglichen Einrichtungen Es wurde nämlich neben der internationalen permanenten Kommission ein Zentralbureau der Gradmessung in Berlin geschaffen, dessen
Leitung Baeyer anvertraut wurde, und dessen Fundiemng und fort laufende Dotiemng die preußische Regiemng in kluger Würdigung
der Situation sofort übernahm.
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JL Kapitel. Die Einführung des metrischen System» ((868) und die Ernennung zum
Direktor -er Normal-Lichungskommission ((869).
Zugleich wurde von der Generalkonferenz der Wunsch ausge sprochen, daß bq§ metrische System zur gemeinsamen Anwendung
bei allen Landesvermessungen gelangen möge, und daß womöglich bald eine Zentralstelle für die wissenschaftliche Verwaltung des
metrischen Systems, insbesondere für die Aufbewahmng eines ge meinsamen Urmaßes, und die gesicherte Verausgabung von Kopien dieses Urmaßes geschaffen werden möge. Dieser Beschluß sollte auch von entscheidender Bedeutung werden für die im Norddeutschen Bunde bereits im Gange befindlichen
Erwägungen betreffend die Einfühmng einheitlicher Maße und Gewichte in Deutschland. Schon bald nach der Einfühmng eines einheitlichen, sogenannten Zollpfundes im Deutschen Zollverein (1858) waren unter der Ägide des Bundestages in Frankfurt a. M. Verhandlungen über vollständigere Bereinheillichung des ganzen deutschen Maß- und Gewichtswesens gepflogen worden, denn das
Zollpfund war doch erst ein kümmerlicher Anfang dieser gemein
samen Ordnung. Kurioserweise hatte man nämlich gestattet, daß für die Einteilung des Zollpfundes jedem einzelnen Lande volle
Freiheit gelassen wurde, und so waren denn die merkwürdigsten Verschiedenheiten von neuen Leinen Gewichten und ihren Be
ziehungen entstanden.
Nur in Hannover hatte man das Zollpfund,
welches glücklicherweise zu 500 Gramm angenommen war, dezimal
und zwar in 1000Halbgramm eingeteilt. In andem deutschen Ländem gab es Lotgewichte, welche die verschiedensten Verhältnisse zur
Pfundeinheit hatten, und am sonderbarsten sah es damit in Preußen aus. Man gab die alte Einteilung des Pfundes in 32 Lot auf, die eine so große Zweckmäßigkeit für die Herstellung der verschiedenen
Mstufungen besitzt, denn 1/s2 Pfund ist ja aus der fottgesetzten
Halbiemng der Einheit (V2, *A, 1/a, 1/ie, 1/s2) entstanden, also aus einer Einteilungsform, welche, rein technisch vom GesichtspunL der Fabrikation und Berichtigung der einzelnen Stufen betrachtet, viel
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vollkommener ist, als die Dezimaleinteilung, die eben nur rechnerisch die größten Vorteile bietet und sich dadurch entscheidend für den Verkehr empfiehlt.
In Preußen aber würdigte man jene alte Be
deutung der 32-Teilung so wenig, daß das Pfund lächerlicherweise in 30 Lot geteilt wurde, wobei man den einzigen Vorteil int Auge hatte, daß die mittlere Monatsdauer von 30 Tagen alles, was täglich
ein Lot betrug, auf monatlich ein Pfund brachte.
Bei den Verhandlungen in Frankfurt a. M. waren aber nicht nur solche Blüten des Pattikularismus hinderlich für die Einigung
gewesen, sondern auch die eigentümliche Stellungnahme der Berliner Akademie der Wissenschaften, welche sich mit dem metrischen System
durchaus nicht befreunden wollte, während insbesondere von Han
nover und von Dresden sehr energische Bestrebungen zugunsten dieses Systems ausgingen. An der Berliner Akademie überwog damals die Auffassung des großen Asttonomen B e s s e l, welcher dem preußischen Maßsystem durch wissenschafttiche Untersuchungeir
der feinsten Att einen besonderen Aufschwung gegeben hatte, indem
er zugleich das von ihm fundiette neue preußische Urntaß von drei Fuß Länge mit der bei den großen Gradmessungen des 18. Jahrhundetts bedeutsam gewordenen Toise, sodann auch mit der Länge
des Sekundenpendels aufs schärfste verglich und dasselbe schließlich auch in der von ihm in Ostpreußen ausgefühtten llassischen Grad messung in Verbindung mit den Dimensionen der Erde brachte.
Auf dieses Maßsystem war man in Berlin mit Recht sehr stolz, besonders auch im Hinblick auf den Sttllstmtd, ja man kann sagen,
auf den Rückgang, den die Verwaltung des metrischen Systems in Paris seit den großen Tagen seiner am Ende des 18. Jahrhundetts erfolgten Begründung erlitten hatte, so daß Bessel in der Tat über
beit Kontrast der idealen Prätentionen dieses Systems mit der unzu
reichenden Durchfühmng desselben spotten konnte. Auf der Generalkonferenz von 1867 war man aber doch von der großen praktischen Bedeutung dieser „idealen Prätentionen", näm lich der einfachsten, wenn auch nur näherungsweise verwirklichten
Zahlenverhältnisse der metrischen Maß- und Gewichtseinheitett zu gewissen Naturgebilden (Erdgestalt und Wassergewicht), so voll-
90 kommen überzeugt, daß man in der Hoffnung auf eine zu erstrebende gemeinsame Vervollkommnung der Verwaltung des Maß- und Ge
wichtswesens alle partikularischen Einrichtungen von mehr oder
minder willkürlicher Art, wenn auch noch so großer Feinheit der Durchfühmng, gründlich ablehnte. Demungeachtet hätte auch jetzt noch bei der definitiven Entschließung des Norddeutschen Bundes
über die Einfühmng einer einheitlichen Maß- und Gewichtsgesetz gebung die Abneigung der akademischen Kreise Berlins gegen das metrische System vielleicht den Sieg davongetragen, wenn nicht die Nachwirkungen der politischen Entwicklungen des Jahres 1866 die
entscheidende Hilfe gebracht hätten. Die Erinnerung an die begeisterte Verfechtung des metrischen Systems, welche schon bei den vor
erwähnten Verhandlungen in Frankfutt a. M. von Dresden und
Hamwver ausgegangen war, ließ es ratsam erscheinen, die Ange legenheit nicht „preußisch" zu ordnen, sondern die leitenden intellek tuellen Kräfte an jenen beiden Stellen jetzt entscheidend zu Motte
kommen zu lassen. Man konnte dadurch einer Mildemng der zurzeit dott obwaltenden großen Verstimmungen und Bedrängisse die Wege
ebnen helfen, ganz entsprechend der hochgesinnten Klugheit, mit welcher Bismarck alle derattigen Probleme damals behandelte.
So kam unter dem 17. August 1868 die Maß- und Gewichts gesetzgebung des Norddeutschen Bundes zustande, welche die Ein fühmng des metttschen Systems vom Jahre 1870 ab dekretierte.
Wenige Monate nachher wurde dann die oberste Leitung dieser Ein
führung dem Professor Foerster übertragen, der, unberührt von der damaligen Abneigung leitender wissenschaftlicher Kreise Berlins gegen das metttsche System, bei den internationalen Beschluß fassungen der Generalkonferenz von 1867 zugunsten der allgemeinen Einfühmng jenes Systems lebhaft mitgewirtt hatte, und der auch für die Fordemng gemeinsamer Arbeit zur Vervollkommnung der Verwaltung desselben besonders warm eingetreten war.
Die Aufgabe, die mir durch diese Bemfung zur Leitung des Maß- und Gewichtswesens des Norddeutschen Bundes übertragen
wurde, war für mich nicht bloß wissenschaftlich, sondern auch ge schäftlich eine so neue und überhaupt eine so schwiettge, daß ich
91 eigentlich gleichzeitig mit der Ernennung zum Direktor der NormalEichungskommission des Bundes mein Amt als Direktor der Stern warte hätte niederlegen müssen, um mich mit ganzer Kraft jener verantwortungsvollen und wichtigen Amtstätigkeit widmen zu können, die sich schon wenige Jahre nachher noch dadurch erweiterte und ver
wickelte, daß der Norddeutsche Bund sich zum Deutschen Reiche erweiterte und nun auch die süddeutschen Staaten in die gemeinsame deutsche Maß- und Gewichtsverwaltung eintraten. Wenn ich nun trotz der großen Komplikation dieser Lebens
entwicklung den Versuch untemahm, die Leitung der Sternwarte und die astronomische Lehrtätigkeit an der Universität mit der ver antwortlichen Leitung eines großen Gebietes der neuen Reichs
verwaltung zu vereinigen, so geschah dies einerseits auf Gmnd einer besonders wohlwollenden Stellungnahme des preußischen Unter richtsministeriums, welches mir geradezu den Wunsch aussprach,
daß ich einer alten Tradition der Verbindung astronomischer Tätig keit mit der dem Maß- und Gewichtswesen besonders nahestehenden Fürsorge für die Vervollkommnung der Präzisionsmechanik und Optik folgen möge, und andererseits auf Gmnd einer mich tief
bewegenden Bereitwilligkeitserklämng aller meiner astronomischen Kollegen und Mitarbeiter, daß sie mir bei der Befolgung dieser
Tradition eifrigste Hilfe gewähren wollten. Auch der Astronom der Akademie, mein treugesinnter Freund Auwers, trat weiterhin in einer besonders bedrängten Phase meiner Tätigkeit in der Reichs
verwaltung bei gleichzeitigen dringenden Anfordemngen gewisser
von der Sternwarte übernommener Beobachtungsaufgaben inner halb der Organisation der Astronomischen Gesellschaft in hilfreichster
Weise mir zur Seite. Ganz besonders erfreulich war aber auch die überaus intelligente und gütige Mitwirkung, welche dem neuen Direktor der NormalEichungskommission, der im eigentlichen Eichungswesen noch ganz ohne administrative Erfahrung war, von den leitenden Männern der bisherigen Maß- und Gewichtsorganisationen der einzelnen deutschen
Länder gerade auf Grund seiner wissenschaftlichen Tätigkeit gewährt wurde.
Hier habe ich insbesondere mit tiefer Pietät zwei Männer
92 zu nennen, die bereits in den oben geschilderten Vorstufen der deut
schen Maß- und Gewichtsgesetzgebung eine eifrige Wirksamkeit ent
faltet hatten: nämlich den an der Spitze der Technischen Hochschule zu Dresden und des sächsischen Eichungswesens stehenden Geheimrat Hülsse und den in ähnlicher Stellung an der Technischen Hochschule
zu Hannover wirkenden Geheimrat Karmarsch, zu denen sich noch
als ein treuer Helfer der damalige Leiter des Eichungswesens in dem neuerworbenen Lande Schleswig-Holstein, Professor Gustav Karsten
in Kiel, gesellte. Schon im Jahre 1870 öffnete sich dann auch für die internationale Wirksamkeit im Maß- und Gewichtswesen die von der General konferenz von 1867 geforderte Einleitung einer umfassenden Or
ganisation und Vervollkommnung des metrischen Systems, eine Perspektive, die ich auch bei der Annahme meiner Berufung zur Leitung der Normal-Eichungskommission als ein wesentliches Motiv meiner Annahmeerllämng bezeichnet hatte.
12. Rapitel. verheirat«»- mit Ina Paschen ((868).
Mitteilungen über mein«
Freund« Herzog und Scholz, Vinnecke und Zöllner, sowie über Zöllners Spiritismus.
Hiermit auf das so entscheidend wichtige Jahr 1867 zurück kommend, habe ich nun noch von einer Wirksamkeit der internattonalen Verhandlungen zu erzählen, welche mein persönlichstes Lebensglück
betraf.
Der Zusammenkunft von 1867, an welcher sich, ebenso wie
schon an derjenigen von 1864, der leitende Mann der mecklenburgischen
Landesvermessung, Geheimrat Paschen, beteiligte, und zu welcher
er seine beiden Töchter nach Berlin mitbrachte, verdantte ich noch vor dem Ende des Jahres 1867 den Entschluß, mich um die jüngere dieser beiden Töchter zu bewerben, die ich zuerst schon bei einem Besuche im Hause ihres Vaters in Schwettn im Jahre 1865 in ihrem 17. Lebens jahre kennen gelernt hatte. Seitdem hatte mir wohl chr Bild in meinen
93 Zukunftsgedanken vorgeschwebt, aber die ersten beiden Jahre nach der definitiven Übernahme der Leitung der Sternwarte (1865—67)
waren so erfüllt und beladen gewesen mit Arbeit und Verantwortung,
daß mir die Ruhe für persönliche Entschließungen und die Muße für deren Weiterführung gänzlich fehlte. Gerade in diesen Jahren hatte sich aber die Freundschaft mit zwei Männem von hervorragenden
Gaben und Leistungen besonders innig und besonders bedeutsam für meine ganze amtliche und wissenschaftliche Lebenstätigkeit ent wickelt, nämlich mit Karl Herzog und Wolf Scholz, beide damals in ministeriellen Beamtenstellungen, der erstere später auch hochverdient um die Entwicklung der Universität Straßburg und zuletzt zur Stel lung des elsaß-lochringischen Staatssekretärs emporsteigend, der
letztere schließlich als preußischer Finanzminister, ein Mann von hochverdienstlicher Wirksamkeit, von welcher noch weiter zu erzählen
ist, besonders auch im Gebiete des Verständnisses und der Fördemng von wissenschaftlichen Untemehmungen und Dotationen großen
Stils, gemeinsam mit dem jetzt dahingeschiedenen Geh. Rat Althoff. Mit Herzog, der int Sommer 1867 als preußischer Kommissar bei der damaligen internationalen Ausstellung in Paris weilte, und den ich dort besuchte, verlebte ich im Anschluß an den Pariser Auf enthalt eine überaus erfrischende Episode auf der Insel Mght, und
im Herbste desselben Jahres hatte ich bte außerordentliche Freude, den werten Freund Winnecke, von dessen Erkrankung ich oben erzählt habe, völlig genesen und in ganz llarer Gemütsverfassung, in einem
Leinen Badeort im Ahrtal bei Bonn begrüßen zu können.
Seine
liebe Frau weilte dort in glücklichster Stimmung bei ihm, und auch die edle Familie des DoLor Herz in Bonn, dem der treffliche Mann
seine Genesung verdankte, trug dazu bei, diesen Lichtblick des Frcundschaftslebens zu schmücken, welcher für Winnecke den Neubeginn einer überaus wirksamen und befriedigenden Lebenstätigkeit eröffnete. Die beiden vorerwähnten, ungewöhnlich frohen Erholungszeiten
brachten nun in mir den Entschluß zur Reife, noch int Herbst dieses
Jahres mein Heil bei Ina Paschen in Schwerin zu suchen. Ein mehrtägiger Besuch in ihrem Elternhause int Oktober 1867
erhöhte meine innige Zuneigung und mein tiefes Vertrauen zu ihr
94 und ihren Eltern bis zu so froher Zuversicht, daß ich, nach Berlin wegen drängender Arbeit zurüätzekehtt, für das Weihnachtsfest um
die Zustimmung der Eltern zu meinem erneuten Besuche und zur Bewerbung um die Hand ihrer Tochter bitten konnte. Auch durch die gemeinsame Freude an den Herrlichkeiten der Musik waren wir einander näher gekommen, und so gab Ina Paschen mir zu
Weihnachten 1867 ihr Jawort und wurde dann am 17. April 1868 meine über alles geliebte Ehefrau. Sie hat mir fünf liebe und gute Kinder geschenkt, und auch nachdem sie am 26. Februar 1908 aus dem Leben geschieden war, blieb sie die Sonne meines Lebens. Wenige Wochen nach unserer Verheiratung, im Sommer 1868, sollte eine totale Sonnenfinsternis statrfinden, die in Ostindien und
Arabien sichtbar war. Zur Erprobung der neuen, für die verschieden sten Lichterscheinungen so bedeutsam gewordenen spektralen Messungs
methoden und Theorien, deren Geburtsstätte seit 1860 Heidelberg geworden war, gelang es uns, beim Norddeutschen Bunde die Mittel zur Ausrüstung zweier astronomischen Expedittonen für die Beobachtung jener Finsternis zu erlangen, womit Deutschland eigentlich zum
erstenmal
eine überseeische wissenschaftliche Unternehmung ver
anstaltete. Eine dieser Expedittonen ging in die Nähe von Bombay auf die Ostseite der Küstengebirge, die andere nach Men am Eingange des Roten Meeres.
An beiden Stellen war das Wetter nicht
günstig, doch wurden immerhin einige Beobachtungen von Wert erlangt und ein Anfang gemacht, welcher den Ausgangspuntt für
die späterhin in großem Stile erfolgte Beteiligung des Deutschen
Reiches an den Expedittonen zur Beobachtung des Venus-Durch ganges (von 1874 und 1882) bildete. Die in wenigen Wochen ausgefühtte Ausrüstung der beiden Expeditionen nach Bombay und Men war eine besondere Leistung der Bettiner Sternwarte. Das Jahr 1869, in welchem unser Erstgeborner, Fttedrich Wil helm Karl, am 2. Juni zur Welt kam, der jetzt zu einem Licht der
erziehettschen Weltliteratur geworden ist, wurde für mich über wiegend durch die gewaltige Arbeit der neuen Organisation des
deutschen Maß- und Gewichtswesens und die Einführung des mettt-
95 schen Systems in Anspmch genommen.
Eine Erholungspause, die
ich mir im Sommer in Gestalt einer Reise nach Steiermark und zu einer „Versammlung der Astronomischen Gesellschaft" nach Wien gönnte, wurde besonders geschmückt durch einen sehr lieben Reise gefährten, der damals auf der Höhe seines Ruhmes und seiner Lebens
freude stand, nämlich Professor Friedrich Zöllner.
Ein gebomer
Berliner und schon von Enckes Zeit her mir bekannt durch eine von
der Berliner Akademie preisgekrönte Arbeit über eine neue photometrische Methode, hatte er seit 1864 an der Universität Leipzig festen Fuß gefaßt nnd allmählich immer bedeutsamere Arbeiten auf dem neuen, durch Bunsen und Kirchhoff um 1860 so epochemachend begründeten oder erweiterten Forschungsgebiete der Astrophysik aus geführt. Ich war dann bei meinem nahen astronomischen Zusammenwirken mit dem alten Freunde und Kollegen Bruhns in Leipzig,
welches mich öfter dorthin führte, auch mit Zöllner he^lich befreundet geworden und habe dann an feiner merkwürdigen und schließlich so
schmerzlichen Lebensentwicklung innig teilgenommen.
Er gehörte
einer Berliner Fabrikantenfamilie an, über welcher das Verhängnis einer schweren erblichen Geisteserkrankung waltete. Bon den elf Kindern dieser Familie ist kein einziges diesem Schicksal gänzlich ent
gangen, und mein Freund war, als ich ihn kennen lernte, auf
Grund der Umnachtung, die schon mehrere seiner Geschwister be fallen hatte, vollständig klar über die auch ihm drohende Gefahr.
Auf Anraten des uns beiden befreundeten hochintelligenten Berliner
Irrenarztes Prof. Karl Westphal hatte dann Zöllner sich die Lebens aufgabe gestellt, durch größtmögliche Steigerung seiner geistigen
Arbeit auf dem neuen und ganz besonders erhebenden Forschungs
gebiete der Asttophysik, für welches er auch zweifellos besondere Begabung besaß, die Furien zu bekämpfen. Als eine besondere Ge
fahr fühlte er dagegen das Versinken in grüblerisch-religiöse «Stim
mungen, das ihm auch nahe lag, und von dem wir bei Freund Winnecke im Jahre 1864 auch einen deutlichen Fall erlebt hatten, als er nach einer ersten sanatorischen Behandlung, aus der er als genesen
entlassen wurde, einen Erholungsaufenthalt bei sehr eifrig religiös
96 gestimmten Verwandten in Hannover genommen hatte.
Kurz
bevor ich mit Zöllner in Steiermark und Men zusammen war, hatten ihm nun seine astrophysikalischen Arbeiten einen Erfolg ohne Gleichen gewährt, den ich kaum in seiner ganzen Entwicklung und Bedeutung
hier zu schlldern vermag. Ich bemerke nur, daß es ihm damals zuerst gelungen war, die eigentümlichen Glutsäulen (Protuberanzen),
welche in der Mhe der Sonnenflecken emporsteigen, bis dahin aber nur bei totalen Sonnenfinsternissen in allen ihren Umrissen und Bewegungsanzeichen wahrgenommen werden konnten, zu jeder Zeit im hellsten Sonnenschein wahrnehmbar zu machen. Außerdem hatte
er im Verlause dieser Forschungsarbeiten zuerst die feinste Zerlegung
des Lichtes für die Messung der Geschwindigkeiten, mit denen sich der jeweilige Abstand zwischen der Lichtquelle und dem Beobachter Oerändert, zur klarsten Anwendung gebracht bei Messungen, die er für die Rotattonsbewegungen des Sonnenkörpers vorschlug.
Es war nun eine außerordentliche Lebensfreude, damals auf den Höhen der steyrischen Berge zu weilen mit diesem Manne, dem es in solcher Weise gelungen war, durch die Macht wissenschaftlicher
N>ealgestaltungen sich über das Walten der Dämonen zu erheben, die von den Grenzgebieten der niederen Lebensmächte her seine Geisteswelt bedrohten.
Es gelang uns damals auch gemeinsam, eine Entdeckung zu machen, welche einen neuen Ausblick für die Deutung gewisser, bis
dahin fast ganz rätselhafter Lichterscheinungen am Himmel eröffnete,
unter anderem für die Deutung des sogenannten Gegenscheines des Tierkreislichtes am Nachthimmel. Mr sahen von großer Höhe bei
lichtblauem Himmel hinab auf den so malerisch gelegenen Bergsee bei Alt-Aussee. Da bemerken wir, daß die Sonnenstrahlen bei ihrer
Spiegelung in dem See eine besondere Lichterscheinung am Himmel, gerade symmettisch gegenüber der Sonne, hervorbrachten, nämlich
ein zattes weißes, unbestimmt hin und her wallendes Lichtwölkchen. Sehr bald beobachteten wir auch, daß die Bewegungen und sogar vorübergehendes Verschwinden des Lichtwölkchens mit dem wechseln den Zustande der Oberfläche des Sees zusammenhingen. Solange der Wasserspiegel völlig glatt war, stand das Wölkchen fast unbewegt
97 unb zart begrenzt am Himmel; sobald aber durch heftige Windstöße, von der Höhe her, die Wasserfläche gekräuselt wurde, schwankten die
Umrisse und die Helligkeit des Bildes am Himmel bis zu völligem zeitweisen Verschwinden. Es wurde uns dadurch zweifellos llar, daß diese Keine Gegensonne durch die perspektivische Bereinigung
der vom See gespiegelten parallelen Sonnenstrahlen in Gestalt der bekannten Fernwirkung des Zusammenlaufens paralleler Streifen entstand, deren Gesamtwirkung erst durch ihre Summation in der zusammendrängenden Ferne zur deutlichen Erscheinung kommt. Freund Zöllner hat in den folgenden Jahren noch viele scharf
sinnige Beobachtungen und geistvolle Deutungen fast auf allen Grenzgebieten der Astronomie, insbesondere auch zur Erforschung der Kometen und Meteore beigetragen. Leider blieb er nicht auf
der Höhe der Klarheit und Gesundheit des Geistes, die ihn in den ersten Jahren jener beglückenden Erfolge über alle düsteren Be fürchtungen emporhob. Nicht lange Zeit nachdem er in einem, all gemeines Aufsehen erregenden Buche den in England hochgeachteten Physiker Tyndall wegen seiner spiritistischen Anwandlungen aufs härteste kritisiert hatte, wurde ihm selber das traurige Schicksal be
reitet, daß einer der raffiniertesten spiritistischen Taschenspieler nach Leipzig kam und ihm Experimente aus „einer anderen Welt", näm
lich aus der Welt der sogenannten vierten Dimension, vormachte, die
dem kindlich gutgläubigen genialen Physiker so rätelhaft erschienen,
daß er sich dann auch zu einer Art von Spiritismus bekannte. Merk würdigerweise gesellten sich hierbei zu ihm zwei der bedeutendsten und geistreichsten Physiker Deutschlands, nämlich Wilhelm Weber,
der große Mitarbeiter von Gauß bei der Erschaffung des elektrischen Telegraphen, und Fechner, der hochbedeutende Begründer der Psycho
physik, ein naturwissenschaftlicher Denker ersten Ranges.
Es war
ein Jammer zu sehen, wie diese drei edlen Männer von höchster Be gabung und reinstem Charakter gerade durch ihre Gutgläubigkeit
die Opfer eines infamen Betruges und dadurch zugleich die Ver breiter einer weitreichenden Verwirrung wurden. Erst nachdem die beiden hochbejahrten Männer und auch der jüngere, aber früh dahin sinkende Freund Zöllner aus dem Leben geschieden waren, ist es geWtlh. Foerster, Leben-erinnerungen.
7
98 hingen, den Taschenspieler zu einem ihn völlig entlarvenden Ein geständnis zu bringen. Seinen Namen nenne ich hier absichtlich
nicht. Wenn man sich daran gewöhnte, die Namen und Persön lichkeiten solcher Übeltäter tunlichst aus der allgemeinen Erinne rungswelt verschwinden zu lassen und nur den Archiven der Menschheit vorsichtig anzuvertrauen, so würden für viele solche Wesen
die so krankhaften Anreizungen zu Untaten verschwinden. Zöllners letzte Lebensjahre, in denen ich mit treuem Briefwechsel
alles tat, was ich zur Störung und Beruhigung der abergläubischen
Einbildungen beitragen konnte, wurden durch diese Irrungen auss schmerzlichste getrübt.
Schließlich lebte er mit seiner alten Mutter,
die ihre übrigen Kinder in Irrsinn hatte versinken sehen, in schmerz
licher Isolierung und beschränkte seine wissenschaftliche Tätigkeit fast ganz auf die Vorlesungen an der Universität Leipzig. Der Tod be
wahrte ihn vor tieferer Umnachtung. Sei es gestattet, an dieses ergreifende Lebensschicksal eine etwas allgemeinere Betrachtung über die spiritistischen und theosophischen
Trübungen der Intellekte anzuschließen, da ich in meiner weiteren Lebensentwicklung noch mehrfach damit zu tun bekommen habe. Es war ungemein charakteristisch, daß mehrere der bedeutendsten Denker und Forscher auf physikalischem Gebiet damals ganz aus der Fassung gebracht wurden durch eine Reihe von schlau erdachten Ex perimenten, bei denen der einfache Zusammenhang durch taschen spielerisches Raffinement verhüllt war.
Die Täuschung wäre sicher
lich trotz jener Geschicklichkeit nicht geglückt, wenn nicht gerade jene
bedeutenden Köpfe durch die neuen Entdeckungsgebiete elektrischer
und optischer Art und durch fast gleichzeitige Vertiefungen und Erroeiteiungen des Reiches idealer mathematischer Gebilde von einer
Art von Gedankenrausch ergriffen gewesen wären, der sie so merk würdig gutgläubig machte. In eine eingebildete Welt von vier Dimensionen statt der drei Dimensionen, nach denen wir die Er
scheinungen der uns umgebenden Außenwelt zu erfassen und zu ge stalten vermögen, fühlten sie sich emporgehoben, und hierbei ver loren sie die Fühlung mit den nächstliegenden und elementarsten
Zweifelsfragen des Forschers.
99 Eine entfernte Verwandtschaft mit jenen damaligen Irrungen haben auch die Entgegnungen, welche man nicht selten bei kritischen
Bemerkungen über den sogenannten wissenschaftlichen Aberglauben zu hören bekommt, sobald man es als unumgänglich hervorhebt,
die Erscheinungen der Außenwelt nur dann als völlig erwiesen und
legitimiert anzunehmen und in unser Denken einzuordnen, wenn sie der von der Wissenschaft immer höher entwickelten, feinsten und konsequentesten Kritik unserer Sinneswahmehmungen standgehalten baden, dagegen zunächst die Verbreitung und Verkündigung alles desjenigen abzuweisen, was von dieser Kritik noch angezweifelt
wird. Gerade aus der eminenten Zunahme der Entwicklungsfähigkeit, Vielartigkeit und Feinheit unserer durch die künstlichsten Hilfsmittel verschärften Sinneswahmehmungen wird von jenen Seiten der in
Shakespeares Worten ausgedrückte Einwurf entnommen, daß es noch „viele Dinge zwischen Himmel und Erde gebe, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen lasse", und doch ist alles Beste
und Größte in unserer Schulweisheit daraus hervorgegangen, daß wir auch den ergreifendsten Neuheiten der Wahrnehmung gegenüber immer die strengste Kritik, die tiefste Wahrhaftigkeil zur Anwendung
gebracht haben. Daß uns über unsere gewöhnlichen elementaren Sinneswahr»ehmungen hinaus allmählich Gebiete erschlossen worden sind, von denen wir uns früher nichts träumen ließen, verdanken wir eben nur jener Standhaftigkeit der besten Denker gegen alle Träumerei, aus welcher so leicht die gefährlichsten Formen der Sinnestäuschung bis
zu den Halluzinationen der Geisteskrankheit sich entwickeln.
Es ist natürlich nicht möglich, in einer bloß episodischen Behand lung dieser ergreifenden Fragen, wie sie an dieser Stelle geboten ist,
allen Seiten derselben gerecht zu werden.
An das vorliegende Bei
spiel und die Frage der Sinnestäuschungen möchte ich nur noch einige allgemeinere Betrachtungen über die Urteilsfehler anknüpfen,
denen wir Menschen noch fast alle in so unzähligen Fällen bei der Auf
nahme und Einordnung unserer Sinneswahmehmungen und Erfahmngen und bei der Verwertung der daraus hervorgehenden Bor-
100 Stellungen zu allgemeinen Folgerungen und entsprechenden Be tätigungen unterworfen sind. Es ist dies ein Gebiet der geistigen Disziplin, auf welches schon bei der Erziebung und beim Unterrichte, weiterhin aber auch bei zahlreichen Betätigungen und Einrichtungen des Gemeinschaftslebens (z. B. bei den Gerichtsverhandlungen) viel größerer Wert gelegt werden sollte, weil jene Urteilsfehler noch mehr
als die menschlichen Leidenschaften, am stärksten aber wenn sie mit den Leidenschaften zusammenwirken, so viele Irrungen, Verfehlungen
und Verfeindungen int Leben Hervorrufen. In das Gebiet der Urteilsfehler fällt ein großer Teil alles aber gläubischen Wesens, auch die Astrologie, der Glaube an Ahnungen
und Träume, die Telepathie, viele hypnotische Entartung sowie die sogenannte Theosophie und der Spiritismus in den verschiedensten Formen. Überall sind es zunächst ungenaue oder durch Einbildungen sogleich beim Eintritt in das Bewußtsein getrübte Sinneswahr-
nehmungen, sodann durch bereits vorhandene Gedankeitreihen, durch Interessen und Leidenschaften, durch Erinnerungen, durch
Hoffnungen oder Befürchtungen von der richtigen Einordnung ab
gelenkte, unterdrückte oder verstümmelte Vorstellungen und Schluß folgerungen, welche den Menschen die größte Not bereiten.
Bei Ereignissen, deren Gesamtzahl in einem und bentfelben Zeitpunkte sehr groß ist, z. B. int Bereiche der Unglücksfälle des
Einzellebeits, der Todesfälle usw., ist das Zusammentreffen irgend eines derselben mit irgendeiner darauf
bezüglichen Ahnung oder
Borhersagung, z. B. mit einer hypnotischen Vision oder bergt, sogar ohne den leisesten Zusammenhang zwischett dem Vorgänge
selber und der seelischen Erscheinung, lediglich int elementaren Gebiete des Zufalls sehr wohl möglich; denn bei einer gewissen großen Anzahl jener äußeren Geschehnisse und bei der int allge meinen noch größeren (und selbst unter gewissen Einschränkungen
auf besondere Formen der Einbildung immer noch recht großen) Anzahl von Beschäftigungen menschlicher Einbildungskraft mit Ge schehnissen solcher Art wird ein Zusammentreffen von Übereinstim mendem sogar mit einer gewissen gesetzlichen Notwendigkeit in einer
bestimmten Anzahl von Fälleit erfolgen m ü s s e n.
101 Tie Anzahl dieser Fälle rein zeitlichen Zusammentreffens
ohne irgendwelche ursächlichen Beziehungen erscheint nun aber noch
viel größer, wenn man, wie so häufig infolge der Vorliebe für das Sensationelle geschieht, bei der Feststellung der Gleichzeitigkeiten und des Grades der Übereinstimmungen weitreichende Ungenauig keit und Willkür walten läßt.
Endlich bestehen ja auch zwischen der
Beschäftigung unserer Einbildungskraft mit dem Schicksal eines
Mitmenschen und andererseits den wirklichen Leiden oder Gefahren desselben gewisse sympathische Beziehungen völlig naheliegender natürlicher Art, durch welche ebenfalls die Anzahl der Fälle eines ungefähren Zusammentreffens des Geschehens und des Gedenkens, hinausgehend über die Häufigkeit eines gänzlich beziehungslosen Zusammentreffens, gesteigert wird und besonders auch im Gedächt
nis einen größeren Einfluß erhält. Im Gegensatz hierzu pflegt von den zahllosen Fällen, in denen sich das Spiel der Einbildungskraft
vollzieht, ohne daß auch nur das entfernteste Zusammentreffen mit
entsprechenden äußeren Geschehnissen stattfindet, niemand eine Erinnemng zu bewahren, weil das eben „nichts Besonderes" ist.
Und
es würde auch schwer sein, bei andem als bei krankhaft einbildnerischen
Personen genaue Rechenschaft von allen besonders regen Borgefühlen hinsichtlich sensationeller äußerer Vorgänge zu erlangen. Es muß aber jedenfalls von allen denjenigen, welche sich mit
reinem Forschungssinn der Prüfung von hypnotischen Vorgängen und dergl. widmen, verlangt werden, daß sie künftig für eine strenge und genaue Statistik aller visionären Vorgänge, auch derjenigen,
welche sich sonst sensationslos in der Erinnemng verlieren, Sorge tragen, damit die ordentliche kritische Gegenprobe gemacht werden kann.
Es ist nach allem bisher Vorliegenden nicht daran zu
zweifeln, daß dann das ganze Gebiet abergläubischer Einbildungen, welches sich aus unordentlicher Beobachtung und Aufzeichnung über
die bezüglichen psychischen Erscheinungen aufgebaut hat, in nichts
zerfließen und damit Ruhe und Gesundheit des Denkens vieler eine wichtige Stärkung erfahren wird.
Mit dem eben erörterten kritischen Prozeß steht nun hin
sichtlich der Beurteilung des Eintreffens von Borhersagungen der
102 Naturvorgänge folgende Reihe von Erwägungen in naher Ver bindung Zunächst ist auch hier die Neigung, das Eintreffen zu behalten
und zu betonen, das Nichteintreffen dagegen zu übersehen oder zu
vergessen, von entscheidender günstiger Bedeutung für das Ansehen von Prophezeiungen, die mit einer größeren Sicherheit und Trag weite, als die Wissenschaft selber ihnen zu verleihen vermag, und mit einer entsprechenden Popularität der Darlegung auftreten, wie sie ebenfalls bei den wissenschaftlichen Beweisgründen sehr schwer 51t erreichen ist. Auch hier kommt aber zur Begünstigung vorübergehender Erfolge
in der öffentlichen Meinung folgendes hinzu: Wenn die Zahl der Ereignisse, um deren Borausbestimmung es sich handelt, überhaupt so groß ist, daß fast zu jeder Zeit auf der ganzen Erde irgendein Vor
gang entsprechender oder verwandter Art, z. B. ein Erdbeben, statt findet, und wenn die Borausbestimmungen sich dann noch eine weit gehende Unbestimmtheit der Angaben oder ihrer Auslegung nach
Zeit und Ort gestatten, wird ein sehr häufiges ungefähres Eintreffen
der Voraussagung mit einer Sicherheit und Eleganz zu erreichen sein, welche viele gegen die Unsolidität des Verfahrens gänzlich blind macht. Die Übel, die dadurch angestiftet werden, sind in der Welt der
Gedanken und in der Welt der äußeren Vorgänge von schwer berechen
barer, aber gewiß sehr erheblicher Größe.
Bei den Sinnestäuschungen und den Urteilstäuschungen, aus denen sich Theosophie und Spiritismus aufbauen, kommen noch ge
wisse gegenseitige Beeinflussungen zwischen unserer Newenwelt und der Erinnerungswelt unserer Seele, insbesondere die sogenannten
Reflexerscheinungen, in Betracht, welche ebenso wie die hypnotischen Bewußtseinserscheinungen für die physiologische und psychologische Forschung von erheblicher Bedeutung sind, während sie zugleich
die entscheidendste Bekämpfung der theosophischen und spiritistischen
Täuschungen oder Selbsttäuschungen erhoffen lassen. Diese Reflexerscheinungen bestehen z. B. darin, daß eine irgend
wie gesteigerte Erinnerung an bestimmte, von der Außenwelt her
103 erfolgte Nervenreize unter Umständen imstande ist, die vollständige
Illusion einer Wiederholung derselben Reizung von außen her im
Bewußtsein hervorzurufen, obwohl nicht der leiseste Anlaß dazu von
außen her vorliegt. Man glaubt z. B. mit voller Sicherheit eine Berührung von außen her zu verspüren, von welcher lediglich das Auftauchen des entsprechenden Erinnerungsbildes int Bewußtsein die Ursache ist. Auf ähnliche Weise werden z. B. die verschiedendsten
Arten von Sinnestäuschungen über die Gegenwart und Nähe dahin geschiedener geliebter Personen bloß mit Hilfe der Dynamik des
sehnsuchtsvollen Erinnerungslebens hervorgerufen. Den exakten Wissenschaften ist es ja bereits gelungen, die Er scheinungen, in denen Einklänge zwischen Theorien (also Gebildet! der Innenwelt) und den Vorgängen der Außenwelt schon erkannt oder wenigstens angedeutet sind, von denjenigen Einwirkungen frei
zu halten oder zu reinigen, bei denen wir infolge der undurchsichtigen Bielartigkeiten des Zusammentreffens von vielen nahezu gleich zeitigen Vorgängen zunächst auf gesetzmäßige Erkenntnis und Bor ausbestimmung noch verzichten müssen, und die wir deshalb als
„zufällige" bezeichnen.
IZ Kapitel. Die Anfänge der Entwicklung der internationalen Maß» und GewichtsOrganisation ((810—(812) und meine Erlebnisse in Paris ((872). Seit dem Frühjahr 1870 datierte nun der Beginn der offiziellen Verhandlungen über die internationale Organisation des Maß- und Gewichtswesens, über deren Vorgeschichte ich schon oben, im An
schlüsse an die Konferenz der Gradmessung vom Jahre 1867, be
richtet habe. Die Akademie der Wissenschaften zu Paris und die französische Regiemng hatten begonnen, der Sache näherzutreten, nachdem auch
noch am Ende des Jahres 1867 die Petersburger Akademie der Mssenschaften den dringenden Wunsch ausgesprochen hatte, daß
Frankreich, als die Heimstätte des metrischen Systems, die Initiative
zu der Begründung einer solchen Organisation ergreifen möge.
So
erging denn int Frühjahr 1870 vonseiten der französischen Regierung
an die Regierungen aller anderen Kulturländer die Einladung zu einem internationalen Kongresse, welcher in den ersten Tagen des August 1870 in Paris zusammentreten und die große Angelegenheit
der Einheitlichkeit und der gemeinsamen Fundierung des Maß- und Gewichtswesens einer wissenschaftlichen und organisatorischen Be ratung unterziehen sollte. Diese Einladung gelangte auch an die deutschen Regiemngen und das Präsidium des Norddeutschen Bundes,
welches mich sofort mit der Berichterstattung beauftragte. Seit meiner Übernahme der Leitung des neuen deutschen Maß- und
Gewichtswesens hatte ich in betreff der Notwendigkeit, die zentralen Einrichtungen des Metrischen Systems den neueren Methoden, Erfahmngen und Einrichtungen im Gebiete der höchsten Messungs praxis entsprechender zu gestalten, für die Überzeugungen, welche
105 für meinen Eintritt in jene leitende Stellung erheblich mitbestimmend
gewesen waren, in einem näheren brieflichen Verkehr mit dem da
mals leitenden Manne des britischen Maß- und Gewichtswesens, G. B. Airy, Direktors der Stemwarte zu Greenwich, volle Zu stimmung gefunden.
Airy war dabei keineswegs für die Einführung
des Metrischen Systems in England eingetreten, hatte aber die Ver vollkommnung der Einrichtungen dieses Systems doch als ein gemein sames wissenschaftliches Bedürfnis anerkannt. Demgemäß hatte ich in meinem Bericht über die Einladung der französischen Regierung
auch die Beteiligung des Norddeutschen Bundes an der Zusammen kunft in Paris lebhaft befürwortet. Bevor jedoch diese Koriferenz zusammentreten konnte, war im
Juli die französische Kriegserklärung erfolgt, wodurch meine vorher
in Aussicht genommene Beteiligung als deutscher Delegierter gänz lich in Frage gestellt wurde. Die Konferenz trat trotz alledem in den ersten Augusttagen 1870 in Paris zusammen.
Kurz bevor Airy London verlassen hatte, um der Konferenz bei zuwohnen, richtete er ein ostensibles Schreiben an mich, in welchem
er als die Ansicht seiner Regierung den Wnnsch aussprach, daß der deutsche Delegierte, trotz der Kriegserklärung, zu jener internationalen
Versammlung erscheinen möge, wobei er zugleich seine Zuversicht aussprach, daß auch die französische Regierung und die französischen Fachgenossen diesen Wunsch lebhaft teilen würden. Nachdem ich dieses Schreiben dem Präsidenten des Bundes
kanzleramtes, Minister Delbrück, überbracht hatte, empfing ich jedoch fast umgehend die Mitteilung, daß an entscheidender Stelle irgend
ein Vorgehen dieser Art gänzlich abgelehnt werde. Natürlich ging die Konferenz am Ende der ersten Augustwoche, in welcher die ersten für Frankreich so ungünstigen Schlachten statt gefunden hatten, wieder aus einander, jedoch nicht ohne den ein« mütigen Wunsch ausgesprochen zu haben, daß nach dem Kriege bald möglichst wieder eine Zusammenkunft stattfinden solle, und nicht
ohne ein Komitee eingesetzt zu haben, welchem die Aufgabe erteilt wurde, diese Fortsetzung der Beratungen vorzubereiten, und zu dessen Mitgliede auch der abwesende deutsche Delegierte ernannt wurde.
106
Dieses internationale Komitee für vorbereitende Untersuchungen wurde dann zum Frühjahr 1872 von der französischen Regiemng ein berufen, und so begann meine Wirksamkeit für die internationale Organisation des Maß- und Gewichtswesens in Paris im April 1872. Von meinen Erlebnissen bei dieser ersten. Versammlung, welcher alsdann int Herbst 1872 die int August 1870 vertagte Zusammenkunft der Generalkonferenz nachfolgte, will ich zunächst einiges erzählen. Es gab damals in Paris gegenüber dieser internationalen Ent wicklung zwei verschiedene Auffassuttgen. Die eine hatte ihren Sitz, in der Zentralstelle des französischen Maß- und Gewichtsdienstes, dem Conservatoire des Arts et Metiers, welches in sehr erklärlicher Weise dahin strebte, seine zentrale Stellung international zu erweitern und zu befestigen, sonst aber nichts wesentliches zu ändern unb jeden falls auch die wissenschaftliche Leitung der Zentralverwaltung in den Händen zu behalten. Die andere Auffassung, hauptsächlich ver treten und unterstützt durch den bedeutendsten damaligen metallur gischen Chemiker Henry Sainte Claire DeviNe, war mit uns der Meinung, daß die zentralen Einrichtungen des Metrischen Systems von Grund aus zu reformieren seien, und daß insbesondere die Verkörperung der Längeneinheit, das sogenannte Archivmeter, den An spruch, ein möglichst unveränderlicher und mit größter Schärfe kopier barer Vertreter der Metereinheit zu sein, gänzlich aufgeben müsse, und daß dann überhaupt auch die Wissenschaft der anderen Länder bei der Reform und der künftigen Überwachung der Zentralein richtungen des gemeinsamen Maß- und Gewichtswesens entscheidend vertreten sein müsse. Insbesondere wurde von Henry Sainte Claire Deviüe die Ersetzung des viel zu weichen alten Platinmaterials durch eine Legierung aus Platin und Iridium befürwortet. In dem internationalen Komitee, welches seine Sitzungen im 9lpril 1872 in dem vorerwähnten Conservatoire abhielt, entwickelten sich natürlich sehr lebhafte Diskussionen über diese Gmndfragen, und mehrere nichtfranzösische, sehr kompetente und eifrige Mitglieder des Komitees empfingen den Eindruck, daß eine gründliche und dauernde Reformorganisation des internationalen Maß- und Gewichtswesens nur dadurch erreichbar sein würde, daß man den Mittelpunkt dieser
107
fundamentalen Verwaltung nicht in Paris, sondern an einer anderen
gänzlich neutralen Stelle domiziliere, da man sonst auf eine von den französischen Traditionen auf diesem Gebiete möglichst unabhängige und nicht bureaukratisch, sondem wissenschaftlich geleitete Ausfüh rung der gemeinsamen, nicht bloß einmalig fundamentalen, sondern
auch fortgehenden und periodisch wiederkehrenden Arbeiten nickt werde rechnen können.
Es gelang mir jedoch damals in näherer Gemeinschaft mit Henry Samte Claire Deville eine vermittelnde Stellungnahme der nicht
französischen Komiteemitglieder herbeizuführen, gerade weil ich, was
damals von besonderer Bedeutung war, als Delegierter Deutschlands
von vornherein als franzosenfeindlich angesehen wurde.
Ich hob
hervor, daß die eminenten Verdienste Frankreichs um die Begründung des Metrischen Systems jedenfalls in den Vordergnmd der inter nationalen Organisation die Pflicht stellten, den Mittelpunkt dieser
gemeinsamen Einrichtungen in Frankreich zu domizilieren, diesen Mittelpunkt aber alsdann gänzlich unabhängig von der französischen
Regiemng und Verwaltung, insbesondere auch unabhängig von dein Conservatoire, unter einer streng internationalen Kontrolle und Ver waltung mit einem intemationalen Budget in oder bei Paris zu be gründen und bei dieser Organisation und ihrer Überwachung natür lich auch die bedeutendsten Männer der französischen Wissenschaft,
wie Henry Sainte Claire Deville, gehörig zu Worte kommen zu lussen.
Auf dieser schließlich mit Einmütigkeit angenommenen Grund
lage wurden dann auch die Aufgaben der im Herbst desselben Jahres einzuberufenden Generalkonferenz formuliert. Aus den Tagen dieses Pariser Aufenthaltes, während dessen ich
mit einigen der bedeutendsten französischen Fachmänner in nahe und dauemd freundschaftliche Beziehung kam, ist nun manches zu erzählen. Paris befand sich im Frühjahr 1872 noch stark bedrückt von den Nachwirkungen des Krieges und den damals noch ganz frischen Er-
innerungen an die kaum ein Jahr zurückliegenden Ereignisse des Kommuneaufstandes.
Die Tuilerien und das große Staatsrats-
108 Palais am linken Seineufer lagen noch in Brandtrümmern.
In den
Bororten, zumal im Süden in der Nähe von Saint Cloud und Meudon,
sah man noch einzelne ganz demolierte Häuser, und an den Türen zahlreicher anderer Häuser waren noch in groben Kreidestrichen die deutschen Quartierinschriften erhalten geblieben, z. B. „Reg Batt.... Komp. Unteroffizier Haversack mit 20 Mann". Auf dem linken Seineufer der Stadt Paris, wo sich hauptsächlich die wissen schaftlichen Institute befinden, hatte man noch mehr als von der
deutschen Belagerung gelitten durch Beschießungen, mit welchen die Regiemngstruppen unter dem Regime des Präsidenten Thiers die Mannschaften der Kommune aus der Besatzung dieser Stadtteile
vertreiben mußten. Ich erinnere mich noch, daß bei einem Frühstück, welches unser Freund Henry Samte Claire Deville den auswärtigen Komiteemitgliedern in dem chemischen Laboratorium der Ecole Normale gab, am Schluß auf einer großen Schüssel unter einer Metallglocke ein verdecktes Gericht zum Nachtisch serviert wurde.
Ms dann die Glocke abgenommen wurde, erblickte man auf dem Teller eine Bombe von etwa 20 cm Durchmesser, welche aus einzelnen
Sprengstücken wieder zusammengesetzt war. Unser liebenswürdiger Wirt erzählte uns hierzu, daß diese Bombe in dem Garten der Ecolc Normale explodiert sei, und daß man dieses Belagerungsdokument aus den zerstreuten Sprengstücken zusammengesetzt habe. Begütigend
fügte der große Chemiker sich gegen mich verbeugend hinzu: „Das
kam aber nicht von Ihnen, sondern von Herrn Thiers." Obgleich das Andenken an jene düsteren Zeiten damals in Paris noch so frisch war, muß ich doch sagen, daß ich weder damals
noch bei meinen späteren Aufenthalten in Paris jemals als Deutscher irgendeine feindselige Begegtiung oder Außemng erlebt habe. Im
Gegenteil bin ich stets mit echt französischer Feinheit, ja, ich darf wohl sagen, mit ganz besonderer Zartheit behandelt worden. Man legte förmlich Wert darauf, jeden Eindruck zu vermeiden, als ob
man den wissenschaftlichen Mann, überhaupt die einzelne Persön
lichkeit, irgend etwas von den Leidenschaften des Völkerkampfes fühlen lassen wollte.
109 Einen fast rührenden Eindruck empfing ich auch eines Tages in dem ganz französischen Hotel, in dem ich wohnte. Ich hatte schon bemerkt, daß einer der Hausdiener dieses Hotels sich in besonderer
Weise mir mehrfach zu Besorgungen und Hilfeleistungen eifrigst
anbot. Als ich dann bei der Abreise seine Hilfe zur Fertigmachung meines Koffers annahm, löste sich ihm auf einmal, während er auf
dem Koffer kniete, die Zunge, indem er zu mir aufblickend fragte, ob ich Magdeburg kenne, und, als ich dies bejahte, dann unter Tränen sich gar nicht genugtun konnte mit der Versicherung, wieviel Güte
meine Landsleute bei seiner Gefangenschaft in Magdeburg ihm erwiesen hätten. Ich habe dann später einmal an höchsten Stellen in Berlin von diesem Vorgang Mitteilung gemacht, dem sich übrigens bei diesem Pariser Aufenthalte und in den folgenden Jahren eine
nicht geringe Anzahl von ähnlichen Begegnungen anschloß, wie unter andern: in den offiziellen Kreisen, z. B. bei den RGceptions nach ministeriellen Diners u. dgl., sich mir mit deutschen Redewendungen
(j. B. „Gesegnete Mahlzeit!") französische Herren vorstellten, welche
das Bedürfnis fühlten, von ihren Erlebnissen während der Gefangen schaft und von ihren dabei erlangten Beziehungen zu seinen deutschen Landsleuten dem Berliner Professor bewegte Mitteilungen zu machen. Es ist mir späterhin in Deutschland, wenn ich hievon erzählte, manchmal begegnet, daß mir meine lieben Landsleute zuriefen: „Da sieht man ja recht deutlich die menschenverbindenden Wirkungen
des Krieges", worauf ich dann stets erwiderte: „Das sind ja doch nur Balsam tropfen, verglichen mit dem Ozean des Kriegselends."
Aber jene Balsamtropfen lassen doch gerade am allerdeutlichsten die tieferen Mächte der Menschenseele erlernten, durch welche dem
Bölkerkampfe sicherlich bald und definitiv ein Ende gesetzt werden wird.
Eine besonders innige Gemeinschaft wissenschaftlicher und inter nationaler Auffassungen verband mich seit jenen Frühjahrstagen von 1872 mit Henry Samte Claire Deville.
Mit ihm kam ich auch
auf die politische Tagesgeschichte vertraulich zu sprechen, was ich sonst mit den französischen Fachgenossen gänzlich vermied. Er war natürlich eifriger französischer Patriot, aber doch völlig einig mit
110 mir in der Verurteilung jeglicher nationalen Leidenschaft und Über
hebung.
Vieles erzählte er mir im Frühjahr und im Herbst 1872
über die Entwicklung der französischen Stimmungen und über den entscheidenden Anteil am Kriege, den er hauptsächlich der Umgebung der Kaiserin zuschrieb. Deville war mit dem Kaiser Napoleon intim befreundet gewesen und hatte ihm in den letzten Jahren bis kurz vor der Abreise zum Kriege fortlaufend kleine Borträge über die
Fortschritte in der Chemie gehalten.
Von einer Unterredung, die
er bei seinem letzten Besuch in Saint-Cloud mit dem Kaiser gehabt hatte, machte er mir damals die folgende ganz vertrauliche Mit
teilung, die ich jetzt nach dem schon vor langer Zeit erfolgten Tode
des edlen Freundes zur Geschichte jener Tage beitragen zu dürfen glaube: Er habe den Kaiser, der über seine Gesundheit schmerzlich
geklagt habe, zu trösten gesucht mit einem Hinweis auf die Ge nesungswirkungen des Sieges, etwa mit den Worten: „Mais la victoire vous gu6rira.“
Darauf aber habe der Kaiser traurig mit
dem Kopf geschüttelt und sodann wörtlich folgendes gesagt: „0, non, non! Nous ne nous reverrons pas. Mon entourage ne connait
pas l’Allemagne.
Adieu, mon eher ami.“
Man darf wohl annehmen, daß diese Worte des Kaisers sich hauptsächlich darauf beziehen, daß seine Ratgeber anfangs nicht nur auf Österreichs Bundesgenossenschaft für Frankreich, sondern auch auf eine mehr oder weniger neutrale, gegen Preußen abgeneigte Haltung Süddeutschlands, besonders Bayerns, gerechnet hatten, und daß gerade in der letzteren Hinsicht die französische Politik eine
verhängnisvolle Enttäuschung erleben sollte, auf deren Wahrschein-
keit der Kaiser wohl selber schon in der ganzen Entwicklung der Dinge hingewiesen hatte. Den vorstehenden Mitteilungen über vertrauliche Erlebnisse
aus jener Zeit möchte ich auch noch eine Begegnung anreihen, welche ich im Jahre 1872 mit dem General Jarras gehabt habe, der, wenn ich mich recht entsinne, Generalstabschef des Marschalls Bazaine in
den Tagen von Metz gewesen war. Es kam bei einer der geselligen Veranstaltungen von irgendeiner Seite die Wahrnehmung zur Sprache, daß die deutschen Kellner, welche im Kriegsjahre scharen-
111
weise Frankreich hatten verlassen müssen, bereits wieder in Scharen in Pans eingerückt seien. Diese Gesprächswendung illustrierte General Jarras mit der kurz hingeworfenen Bemerkung: „Oui, c’est le gSnie
allemand.“ Ich sah ihn darauf etwas erstaunt an, beschloß aber sofort, diese kriegerische Bemerkung zu ignorieren. Am nächsten Morgen jedoch erschien in ganz früher Stunde in meinem Hotel der liebe Herr General Jarras und konnte gar nicht genug demütige Worte der Selbstanklage finden, um meine Verzeihung für sein
„übereiltes und unfeines" Wort zu erbitten. Im Herbst 1872 trat nun die internationale Generalkonferenz zusammen, welche die von dem Komitee im Frühjahr formulierten Organisationsvorschläge diskutieren und in definitive Gestalt bringen sollte. Die überaus zahlreich von wissenschaftlichen Männern aller
Kulturländer besuchte Konferenz wurde in der Tat der Ausgangspuntt einer Entwicklung, aus welcher dann im Jahre 1875 in der Convention du Metre die vertragsmäßige Begründung einer der bedeutsamsten und wirkungsvollsten internationalen Organisationen
hervorgegangen ist. Ganz im Sinne des von dem Vorbereitungs komitee aufgestellten Programms wurde schließlich von der Konferenz iin Herbst 1872 ein permanentes internationales Komitee eingesetzt, bestehend aus vierzehn von denjenigen Fachmännern der verschie
denen Nationen, welche bis dahin in den Beratungen am wirksamsten
hervorgetreten waren oder in den Maß- und Gewichtseinrichtungen
ihrer Länder schon besondere Vettrauensstellungen besaßen. Diesem permanenten internationalen Komitee wurde der Auftrag erteilt, auf baldigste Begründung einer internationalen Zentralstelle in Paris
hinzuwirken, deren Aufgaben in den wesentlichen Zügen von der Konferenz vorgezeichnet wurden, und für deren Einnchtungen, Personal und fottlaufende Arbeitstätigkeit ein internationales Budget aufgestellt werden sollte. Zugleich wurden für die grund legenden neuen Einnchtungen, die von dieser Zentralstelle verwaltet
werden sollten, insbesondere für das neue Urmaß und Urgewicht im wesentlichen die Vorschläge von Henry Samte Claire Deville als Norm angenommen. Dieses erfreuliche Ergebnis war aber nicht zustande «gekommen, ohne daß die bereits oben charatterisiette monopolistisch-
112 französische Auffassung der Herren vom Conservatoire mit der idealwissenschaftlichen und konsequent internationalen Auffassung, deren Hauptvertreter Deville war, in harte Konflikte kam, bei denen es schließlich noch nahe daran war, daß die Versammlung ergebnislos auseinanderging, und daß sich eine Sonderorganisation
außerhalb bildete, welche eine metrische Zentralstelle in Bern be gründen wollte. Der deutsche Delegierte hat in jenen Tagen, unter stützt durch die höchst intelligente und großmütige Auffassung, mit welcher Delbrück und Bismarck die historischen Ansprüche Frank
reichs auf eine zentrale Stellung innerhalb einer internationalen Maß- und Gewichtsorganisation anerkannten, vermocht, in den
letzten Phasen der Konferenz die akuten Konflikte beendigen zu
helfen und einer höheren Gemeinsamkeit der Entwicklung die Bahn frei zu machen. Leider mußten noch mehr als zwei Jahre vergehen,
bevor auf der Gmndlage der Konferenzbeschlüsse die vertragsmäßige
Begründung der internationalen Einrichtungen seitens der fran zösischen Regiemng wirksam in die Wege geleitet wurde. Innerhalb
dieser Zeit erfolgte allerdings der technische Fortschritt, daß mit der Ausfühmng des Konferenzbeschlusses, betreffend die Herstellung des
neuen Urmaßes und des neuen Urgewichtes aus einer Legierung von 90 ^»Platin und 10^, Iridium nach den Vorschlägen von Henry
Samte Claire Deville, im Conservatoire ein Anfang gemacht wurde, obwohl dieses einseitige Vorgehen eigentlich gegen den Geist der
Konferenzbeschlüsse war und sich schließlich auch in technischer Be ziehung infolge der Unvollkommenheiten des Zusammenwirkens der Gmppe Deville mit den Herren von der Partei des Conservatoire
als unzureichend erwies. Das internationale Komitee wurde allerdings zweimal zu sammenberufen, aber da die Voraussetzung für eine gedeihliche Aktion desselben, nämlich die vertragsmäßige Begründung der stän digen intemationalen Zentralstelle, von feiten der französischen Regierung hinausgeschoben wurde, geschah es, daß eine ansehnliche Minderheit der Komiteemitglieder, unter ihnen die wissenschaftlich eng verbundenen Delegierten von Deutschland, Österreich und Rußland
jede weitere Beteiligung bis zu der vollen Verwirklichung der Kon-
113 ferenzbeschlüsse mit Zustimmung ihrer Regierungen — cs waren
damals die Zeiten des Drei-Kaiser-Bundes — ablehnten. Während dieses Interims war es, neben den die zentrale Ber-
waltung des französischen Maß- und Gewichtswesens leitenden Männern des Conservatoire, hauptsächlich der berühmte Astonom Leverrier, dessen ganz besondere Art von chauvinistischer Energie die veniünftige Entwicklung der Dinge hemmte. Er ist damals soweit
gegangen, gegen die Begründung einer internationalen Zentral stelle feinsten Messens und Wägens in Paris die Warnung auszu sprechen, daß dies nichts anderes sein würde, als „mikrometrische Spionage". Zwischen der mit solcher leidenschaftlichen Kurzsichtigkeit
geführten spezifisch französischen Partei und den um Henry Samte Claire Deville sich sammelnden Freunden und Vertretern der rein wissenschaftlichen, wahrhaft völkerverbindenden Bestrebungen stand
damals ein Mann von hoher wissenschaftlicher und zugleich staats
männischer Stellung und Gesinnung, ein früherer Minister von Napoleon III., nämlich der berühmte Chemiker I. B. Dumas, dem
ich gern am Schlüsse dieser meiner Schilderungen jener Pariser Zeit ein bescheidenes Denkmal setze.
Dumas war es, welcher schließlich
mitten durch die vielartigsten politischen und nationalen Schwierig keiten hindurch die Entwicklung der internationalen Organisation bis zu dem Meter-Verträge vom 20. Mai 1875 durchführen half, wobei
er auf diplomatischem Felde in entscheidender Weise durch den da
maligen deutschen Botschafter Fürsten zu Hohenlohe-Schillingsfürst
und auf international-wissenschaftlichem Gebiete durch die charakter volle Energie des Mitgliedes der Petersburger Akademie der Wissen schaften und russischen Delegierten, Prof. Wild, unterstützt wurde. Dumas, der damals sich schon dem 80. Lebensjahr näherte, ist mir
ein unvergeßliches Beispiel gewesen von jener französischen Geistes
art, in welcher sich die Eigenschaften hoher und weitblickender Intel ligenz mit einer Lebenserfahrung und Geschicklichkeit der Menschen behandlung verbanden, die zwar nicht immer den höchsten Gesichts punkten die Ehre gab, aber es in einer wunderbaren Weise
verstand,
im
gegenüber ein
rechten Augenblicke einem ehrlichen Mtarbeiter fast rührendes Peccavi zu sagen und alsdann
Wilh. Foerster, Leben-erinnerungen.
g
114 dauemd dem freundschaftlichsten und
reinsten Zusammenwirken
zu dienen. Anschließend an diese kurze Charakterisierung einer übrigens
spezifisch südfranzösischen Persönlichkeit habe ich das Bedürfnis, die
Gesamtheit dieser Mitteilungen über meine französisch-deutschen Erlebnisse in jenen Jahren noch durch einige Erinnemngen an die besonderen Feinheiten zu vervollständigen, mit denen ich in diesen aufgeregten Zeiten von französischer Seite gerade deshalb
behandelt wurde, weil man glaubte, daß ich bei der zweifellosen und
welche
wohl erklärlichen Abgeneigtheit,
damals im allge
meinen dem Deutschen gegenüber vorwaltete, irgendwelche schmerzliche oder peinliche Behandlung von feiten französischer
Leute erleiden könnte. der
Mathematik,
M
So hatte z. B. der berühmte Historiker
die
Chilsles,
Gepflogenheit,
jedesmal,
wenn ich in diesen Jahren in Paris erschien, mich zuerst in meinem Hotel aufzusuchen und mir dann eine ganz besondere
gesellige Veranstaltung anzubieten,
welche er kurz sein „Diner
prussien“ nannte.
So war es Henry Sainte Claire Deville, welcher seiner immer gleichbleibenden Freundschaftsgüte für mich
einmal bei meiner Abreise von Paris nach einer sehr bewegten Aufenthaltszeit die ungewöhnliche Veranstaltung hinzufügte, daß er mich auf dem Ostbahnhofe (er war Mitglied der Direktion
der Ostbahn) zusammen mit einem der anderen Direktions mitglieder zeremoniell empfing, mich nach einem von der Direktion
mir offerierten besonderen
Schlafkupee
geleitete und bis zur
Abfahrt mit den liebenswürdigsten und wertvollsten Mitteilungen
bei mir verweilte. Erst int letzten Moment flüsterte er mir dann ins Ohr einen besonderen Dank dafür, daß ich diesmal nicht in seinem Hause erschienen sei. die
Kunde
empfangen,
Ich hatte itämlich von anderer Seite
daß
bei
einzelnen
seiner Familien
mitglieder damals eine besondere nationale Erregtheit obwaltete, und daß es daher besser sein werde, diesmal mit einem Familien besuch zu pausieren. Ein anderesmal wurde ich von der Gemahlin eines Akademie
mitgliedes zu einem nachmittäglichen musikalischen Damentee ein-
115
geladen, wo ich beim Eintritte in den edlen Kreis einfach als „le rnaudit Prassten“ (der verdammte Preuße) vorgestellt und dem gemäß mit holdester Güte behandelt wurde.
J4. Kapitel. persönliches aus -en Kriegszeiten ,870—,87,. Vie Keife nach England im Frühjahr ,872. Vas Lichungswesen und die Präzision-technik. In Deutschland hatte ich während der bewegten Zeiten von 1866—1871 und auch in den vorangehenden Jahren der scharfen Kämpfe zwischen Regierung und Volksvertretung keinerlei Anlaß
zu einer politischen Stellungnahme gehabt, obwohl ich mittelbar
durch meine Freunde Herzog und Scholz, sowie durch den mir in diesen Jahren im Verkehr mit der gemeinsamen musikalischen
Freundin Ida Becker nähergetretenen vertrauten Mitarbeiter Bismarcks, Herrn von Keudell, sehr nahe Einblicke in die Aktion
der leitenden Männer hatte, natürlich ohne irgendeinen Einfluß anderer Art üben zu wollen, als im Sinne der Fördemng aller
intenrationalen Gesinnungen und Organisationen. Mit dem Feldmarschall von Moltke hatte ich Gelegenheit zu persönlichem Zusammenwirken, nachdem um das Jahr 1867 unter der Einwirkung der intemationalen Gradmessungsorganisation auch in Preußen ein Zentraldirektorium des gesamten Vermessungs wesens geschaffen worden war, an dessen Spitze Moltke stand, und an dessen Verhandlungen ich als Kommissar des Unterrichtsmini
steriums und als Mitarbeiter des vom General Baeyer eingerichteten
und geleiteten Zentralbureaus der Mitteleuropäischen Gradmessung Moltke war als Zuhörer meiner Vorträge in der Singakademie persönlich sehr freundlich für mich gesinnt, indesfen
teilzunehmen hatte.
hatten wir doch bei den Verhandlungen im Zentraldirektorium der Vermessungen infolge der gegnerischen Stellung von General Bacher zu der rein militärischen Organisation der preußischen Landesvermes
sung manche Konstikte, wie ich denn auch späterhin, als Moltke im
8*
116 Reichstage die weitgehendsten Maßregeln zur Beseitigung der Orts zeiten vertrat, eine von ihm erheblich abweichende Stellung, auf
die man außerhalb Deutschlands jetzt zurückzukommen beginnt,
publizistisch eingenommen habe. Tief bewegend ist mir immer der Rückblick auf meine bescheidenen Beziehungen zu diesem ganz unge wöhnlichen Manne, dessen ursprünglich weltumfassender und hoheits
voller Intellekt infolge der heroischen Genialität seiner strategischen Leistungen und Erfolge schließlich nur noch einen eng militärischen
Horizont hatte. — Aus dem Sommer 1867 habe ich noch eine genau zu verbürgende geschichtlich wertvolle Erinnerung beizutragen, be treffend die ganz besondere Stellung, die er in der großen Politik damals einnahm. Ich empfing auf der Stemwarte den Besuch eines mir nahe befreundeten deutsch-russischen Astronomen, Prof.
Doellen, eines unbedingt zuverlässigen Mannes.
Dieser hatte den
Winter und Frühling aus Gesundheitsrücksichten in Algier verbracht
und war dort mit zwei Brüdern voll Moltke so nahe befreundet ge worden, daß sie ihn in liebenswürdigster Weise bei ihrem Bruder in Berlin brieflich eingeführt hatten.
Er erzählte mir nun, daß der
Feldmarschall ihn in sehr freundlicher Weise zum Frühstück eingeladen habe, und daß er daher seinen heutigen Besuch bei mir abkürzen
müsse. Nach einer halben Stunde kam er aber wieder uild machte mir, in starker Gemütsbewegung, die Mitteiluilg, daß Moltke ihn gebeten habe, auf die Einladuilg zu verzichten, denn im Verlauf einer Stunde noch vor 1 Uhr mittags werde die Kriegserklärung
gegen Frankreich erfolgen, und er werde sich denken können, lvie gewaltige Beschäftiguilg jetzt eintreten müsse.
Indessen kam keine Kriegserllärung. (Es war im Juni oder Juli 1867.) Ich hörte kurze Zeit nachher durchHerrn von Keudell, daß
es sich um eine brüske Forderung der französischen Regierung, be treffend die Abtretung von Luxemburg an Frankreich gehandelt habe. Moltke hatte offenbar diese Forderung, die ein Nachspiel zu den, im August 1866 von Benedetti gestellten Ansinnen auf Abtretung
des linken Rheinufers an Frankreich war, sofort als einen Kriegsfall angesehen und damit an höchster Stelle Zusümmung gefundeil, während
Bismarck diesen akuten Schachzug im letzten Augenblick verhinderte.
117 Der Krieg von 1870—71 brachte auch für meine väterliche
Familie eine Reihe von sehr bedrückenden, ja trauervollen Ereig nissen mit sich. Mein Bruder August, der schon verheiratet und Familienvater war, wurde auch zur Armee eingezogen, jedoch auf Grund seiner Kenntnis der französischen Sprache, als in der Festung Posen sehr bald gefangene französische Soldaten in großer Zahl ankamen, zu beten Überwachung abkommandiert, womit er dann
dauernd während des ganzen Krieges betraut wurde. Da er hierbei auch die Korrespondenz der Gefangenen mit ihrer Heimat zu über wachen hatte, war diese Zeit für ihn reich an merkwürdigen und menschlich wertvollen Eindrücken. Mein jüngster, noch unverheirateter Bruder Georg, der einzige Sohn aus meines Vaters zweiter Ehe.
mußte dagegen als Offiziersaspirant bei einem Dragonerregiment mit
ins Feld und hatte dann das eigentümliche Schich'al, daß er nach der Schlacht bei Sedan, bei der Verfolgung des nach der belgischen
Grenze sich zurüctziehenden Teiles der französischen Armee selber
in französische Gefangenschaft geriet. — Er wurde dann mit mehreren Kameraden durch das nördliche Frankreich nach der vor der Loire mündung gelegenen Insel Bellisle transportiert, wo allmählich auch einige hundert deutsche Gefangene angesammelt wurden. Dieser mein
Bruder Georg hat neuerdings seine Erlebnisse aus dieser Zeit in einem
kleinen Buche (In französischer Kriegsgefangenschaft. Verlag von L. Simion. Berlin) in ansprechender Weise beschrieben. Zwei andere nahe befreundete Verwandte starben den Heldentod in der Schlacht
von Mars la Tours, der eine, Oberst von Brixen, von dem ich oben
schon erzählt habe, an der Spitze des von ihm kommandierten 16. Re gimentes, welches das Kommando empfangen hatte, sich zu opfern, um den Abzug des Marschalls Bazaine nach Paris hin aufhalten zu
helfen, der andere, Max Wegener, der Neffe des Generals von Hahn, in derselben Weise zugleich mit Hunderten
von Kameraden auf
kurzer Strecke von gewaltigem Kanonenfeuer dahingerafft. Ganz unvergeßlich sind die Eindrücke, welche Deutschland da
mals von den ersten Siegen der vereinten nord- und süddeutschen
Armeen gegen die französische Armee hatte, denn wir waren doch noch aus den napoleonischen Zeiten her gewohnt, den Elan dieser
118 Armee sehr hoch anzuschlagen.
Um so lebhafter erhob sich jetzt das
Selbstgefühl der Deutschen, und man fing auf einmal an, von Süddeutfchland her den Ruf nach der Wiedergewinnung des Elsaß zu
erheben, dessen Mckkehr zu Deutschland ja besonders für den Süden eine große Verstärkung des Schutzes gegen französische Invasion bedeutete. Ich hatte damals sofort den Eindruck, daß die weitere
Verfolgung und Verwirklichung dieses im Rausche der ersten Siege
austauchenden Verlangens andauerndes Unheil für Europa bedeuten
würde, und ich richtete deshalb an mehrere Freunde in Süddeutsch land und Norddeutschland das Ansinnen, sich sofort an einer kräftigen
Gegenwehr gegen diese Eroberungsvisionen zu beteiligen, von denen ich behaupten zu dürfen glaubte, daß sie der höheren Kultur Deutsch lands und überhaupt einer höheren Stufe der internationalen Ge sittung widersprächen und uns für die Zukunft auch die Entwicklung
unseres Zusammenlebens mit den slawischen Völkem im Osten durch deren selbstverständliches Zusammengehen mit einem uns an dauernd verfeindeten Frankreich stark erschweren würden.
Bon den norddeutschen Freunden empfing ich im wesentlichen
zustimmende Briefe, keineswegs aber von Süddeutschland her, und
auch für Bismarcks Entscheidungen, bei denen die Zustimmung von Süddeutschland als ein maßgebender Faktor erschien, ist dies von wesentlicher Bedeutung geworden.
Aus dem Dezember 1870 möchte ich noch eine kleine Episode
erwähnen, welche auf die Stimmungen jener bewegten Zeit auch noch einen wunderlichen Lichtschimmer wirft. Während König Wilhelm auf dem Kriegsschauplätze und damals in Versailles weilte,
hatte die Königin Augusta in Berlin die höchste königliche Autorität
in ihren Händen.
Als nun in diesen Tagen eine Sonnenfinsternis
bevorstand, war in ihr der Gedanke erwacht, daß bei solchen Himmels ereignissen, zumal in so heroisch bewegten Zeiten, die höchste fürst liche Person einen besonderen Anteil bekunden müsse, ein Gedanke,
der wie ein Nachklang aus uralten Zeiten in ihrer lieben Seele er wacht sein mußte. Sie ließ mir deshalb ihren Besuch auf der Stern warte für die Zeit dieses Himmelsvorganges ankündigen, und sie erschien dann, trotz der Einsprüche, die ich unter Hinweisung auf die
119
damals herrschende enorme Kälte erhob, pünktlich zur Überwachung der Finsternis.
Allerdings beklagte sie sich, während der Mond vor
der Sonne vorüberzog, bitterlich über die Kälte, die in dem offenen Beobachtungsraume des großen Fernrohrs herrschte, aber es gelang
doch durch einige interessante Vorführungen, die ich ihr alsdann in geheizten Räumen darbot, und durch einige geschichtlich erwärmte Erzählungen, die ich ihr zu dem ganzen Anlasse hinzufügte, zu einem
harmonischen Eindrücke zu gelangen, welcher der hohen Dame, wie sie mir mehrfach später aussprach, gerade in diesen Zeiten als eine
Wohltat erschienen ist. Für mich selber waren diese Jahre (1869—1871) von außerordent
lich anstrengender Tätigkeit erfüllt, denn es handelte sich darum,
bis zum Anfänge des Jahres 1872 das neue deutsche Maß- und Gcwichtswesen und die Tätigkeit der Eichungsämter in vollen Gang zu bringen. Im Laufe des Jahres 1872 kamen dann im Frühjahr und im Herbst die oben erwähnten Verhandlungen in Paris hinzu, aus denen weiterhin die internationale Organisation des Maß- und
Gewichtswesens hervorging, wovon ich noch ausführlicher zu berichten haben werde. Im Frühjahr 1872 schloß sich an den Pariser Aufenthalt noch
ein Aufenthalt in England zur Information über die Zustände des britischer« Eichungswesens. — Ich gewann hierbei von den eng
lischen Zuständen und Einrichtungen überhaupt Eindrücke, die meiner eigenen Betätigung in Deutschland und meinem Verständnis für die Zustände in den andern Kulturländem sehr förderlich wurden. Ich
lernte zunächst begreifen, daß es außerordentlich schwer erschien, in England ein neues Maß- und Gewichtssystem wie das metrische
an Stelle der bisherigen Einrichtungen obligatorisch einzuführen. Die Selbstregierung und Selbstverwaltung ist bis in die kleinster«
Kreise dort so machtvoll und entscheidend, zugleich aber so abgeneigt gegen alles polizeiliche Reglementiererr und Überwachen, daß um fassende neue Einrichtungen nur in Jahrzehnteir allmählich Wurzel
fassen können. Hierin liegt ein wichtiges Element der sozialen Größe und Gesundheit des britische«« Weltreiches, aber in der Übertreibung
auch eine große Hemmung gegen tiefer greifende Kulturfortschritte.
120 Es wurde mir auch durch nähere Aufschlüsse, die ich über die
Organisation von höheren Behörden und Berwaltungsinstitutionen in England empfing, erklärlich, daß mitunter längere Zeit hindurch der wissenschaftliche Fortschritt in England überaus langsam ist. In den meisten Fällen zeigten mir nämlich sene Einblicke in die Personal
verhältnisse und die Besoldungen, daß die obersten leitenden Per sonen sehr glänzend gestellt waren, während das übrige Personal sich fast ausschließlich in sehr beschränkten Lebensverhältnifsen befand
und dementsprechend subaltem und meistens ohne tiefere wissenschaft liche Bildung arbeitete. Es kam mir dadurch zum deutlichsten Be wußtsein, daß es Deutschlands Vorzug und seine besondere Kultur mission sein müßte, auch die Verwaltungsinstitutionen sowie Handel
und Industrie immer mehr mit wissenschaftlich durchgebildetem Personal zu erfüllen und dadurch empor zu heben.
Dies ist denn
auch wirklich in den letzten Jahrzehnten des verflossenen Jahrhunderts in immer reicherem Maße geschehen, sowohl mit Hilfe der Uni versitäten, als auch der technischen Hochschulen und vieler anderen
fachlichen Bildungsinstitute, als deren Gipfelung die physikalisch
technische Reichsanstalt geschaffen wurde. Nur eines von den andern Kulturländern ist uns bisher auf diesem Wege gefolgt und hat uns
sogar auf einigen Gebieten darin übertroffen, nämlich Nordamerika, dessen leitende Intelligenzen zum großen Teil den belebenden Hauch für diese Entwicklung auch auf den deutschen Universitäten empfangen haben. In Nordamerika hat sich dann der so schnell emporgekommene
große Reichtum, sogar auf einem Arbeitsgebiete der idealsten Art,
nämlich in der Astronomie, an die Spitze der Kulturbewegung gestellt,
wogegen Deutschland sich einen sogenannten Welterfolg auf deni Gebiete der eminent irdischen Leistungen der chemischen Industrie, mit Hilfe einer echt wissenschaftlichen Belebung ihres Personals
erwirbt. Neben Deutschland und Nordamerika haben sich jedoch in neuester Zeit auch die skandinavischen Länder zu ungewöhnlicher wissenschaft
lich-technischer Leistung erhoben, während auch England, Frankreich und Italien jetzt begonnen haben, ihre hohe Intelligenz sorgsamer durch pädagogische wissenschaftliche Organisationen zu verwerten.
121 Im Jahre 1872 begannen sodann im Anschlüsse an meine Pflichten und Aufgaben für das Eichungswesen auch meine Be
mühungen für die Hebung der deutschen Präzisionstechnik auf bem Gebiete der wissenschaftlichen Meßinstrumente der verschiedensten Art, zunächst insbesondere auf dem Gebiete der Thermometrie und
der Optik. Eine persönliche Verbindung wurde mir hierdurch eröffnet mit einem Manne, dessen Freundschaft zu den beglückendsten Er innerungen meines Lebens gehört: nämlich mit Professor Abbe in Jena, dessen ganze wissenschaftliche und industrielle Tätigkeit alsbald auch für die Organisation der deutschen Präzisionstechnik von hoher
Bedeutung wurde.
J5- Kapitel. Die Vorbereitung der Beobachtungen der venusburchgänge. Familienverhältnisse in den Jahren 1872—1873.
Meine
Schon im Jahr 1872 begann sodann für mich eine besondere
Wirksamkeit im Interesse der Vorbereitung der deutschen Expedi tionen für die Beobachtungen des Venusdurchgangs, welche für die Jahre 1874 und 1882 bevorstanden. Der bedeutende, wissenschaftlich
erleuchtete Mann, welcher damals an der Spitze der deutschen Adiniralität stand, Herr von Stosch, bestens beraten und unterstützt
durch Georg Neumaher, der damals soeben in der wissenschaftlichen
Entwicklung der deutschen Marine festen Fuß gefaßt hatte, eröffnete uns, unter freudiger Zustimmung des Ministers Delbrück und auch mit vollem Einverständnis Bismarcks, die Hoffnung, daß das deutsche Mich
seinen
Astronomen
die
Mittel
bewilligen
werde,
um
an geeigneten Stellen der Erde uns an der großer! gemeinsamen Kulturaufgabe der Beobachtung jener Erscheinungen zu beteiligen.
In der Kommission, welche vom Reiche für die Vorbereitung dieser Expeditionen eingesetzt wurde, hatte ich auch die besondere
Freude, mit meinem teuren Schwiegervater, Geheimrat Paschen ^Schwerin), zusammen arbeiten zu können. Dieser ausgezeichnete Mann, der nahezu
zwei
Jahrzehnte lang die Mecklenburgische
122 Landesvermessung in hervorragender Weise geleitet hatte, war da
mals mit einer vollkommeneren Ausnutzung der Photographie für seine kartographischen Aufgaben beschäftigt, und es bestand die Ab sicht, bei den bevorstehenden Beobachtungen des Durchgangs der
Venus vor der Sonnenscheibe insbesondere auch die Photographie
in vollstem Maße auszunutzen und hierzu auch alle Methoden und Einrichtungen zur feinsten Ausmessung von photographischen 'Auf Diese Aufgabe berührte sich
nahmen tunlichst zu vervollkommnen.
aber auch mit meiner Tätigkeit auf dem Gebiete des Maß- und Ge
wichtswesens, und so ergab sich ein höchst erfreuliches Zusammen wirken mit dem verehrten Schwiegervater. Wir beide übernahmen also in der Reichskommission die Fürsorge für die photographische Ausrüstung unserer Expeditionen, übrigens schon
sendung der
eine Ausrüstung, für die ich
int Jahre 1868 bei der oben
astronomischen
Expedition
erwähnten Ent
nach Aden
zu
sorgen
gehabt hatte. Sei es mir bei dieser Gelegenheit gestattet von Geheimrat Paschen noch einige Worte dankbarster Erinnerung zu sagen.
Er hatte mir vom Beginn unserer Bekanntschaft ab,
welcher im Jahr 1864 bei der ersten Generalkonferenz der Grad messung stattfand, durch alle die stark bewegten Jahre dieser meiner
Lebenszeit hindurch mit seiner teilnehmenden Freundschaft und Weisheit, sowie mit seinem hohen wissenschaftlichen Sinn unsägliche Wohltat erwiesen.
Friedrich Paschen, einer mecklenburgischen Be
amtenfamilie im Jahre 1804 entsprossen, hatte um 1825 in Göttingen
Jura studiert, in welcher Zeit die akademische Wirksamkeit des großen Mathematikers und Astronomen Gauß dort noch auf der Höhe war,
und der junge, mathematisch hochbegabte Jurist hatte sich dort die
Mittel abgespart, um ein sehr kostspieliges Privatissimum bei Gauß zu hören, womit er dann seinem ganzen Leben eine besondere Weihe
gab, indem er, über die gewöhnliche Beamtenlaufbahn hinausstrebend, die noch ganz unfertige Landesvermessung feines Heimat
landes in die Hände bekam und dieselbe dann in großem Stile nach den neuen Gaussischen
Lehren
durchführte. Er sollte aber die
Erprobung unserer vorbereitenden Arbeiten nicht erleben, denn er schied schon im August 1873 aus dem Leben.
123
Die Einrichtungen bewährter: sich bei dem im Dezember 1874
cintretcnden Durchgang der Venus vor der Sonnenscheibe in jeder Weise, und auch die Einrichtungen zu der darauf folgenden Aus messung der Photographien arbeiteten durchaus befriedigend, aber cs blieb dem Dahingeschiedenen erspart zu erfahren, wie völlig un
geeignet die photographischen Aufnahmen dieses Phänomens für das Problem waren, zu dessen genauester Lösung sie beitragen
sollten. Wir hatten uns bei den Vorarbeiten besonders bemühen müssen, die Wirkungen des Sonnenlichts auf die photographische Platte auf die kleinste Zeitdauer einzuschränken, und es war auch erreicht worden, die Belichtungsdauer der Platte ein Zehntausendstel
der Sekmide nicht übersteigen zu lassen.
Nur so konnten wir scharf
begrenzte Bilder der Sonnenscheibe und der auf ihr sichtbaren Details
(Flecken und Fackeln) erlangen. Als wir nun aber an die feinste Aus messung der photographischen Sonnenaufnahmen unserer Venus
expeditionen von 1874 gingen, stellte sich unzweifelhaft heraus, daß die photographischen Augenblicksaufnahmen der Sonnenbilder für die feinsten Messungsresultate völlig untauglich sind, und zwar wegen der bis dahin noch garnicht genügend erkannten enormen Schwan
kungen, welche die Fortpflanzungsrichtung der Lichtstrahlen durch die unablässigen Veränderungen der Zustände der verschiedenen Atmosphärenschichten erleidet.
Bevor man solche genaueste Mes
sungen von Aufnahmen der Sonne gemacht hatte, deren Zeitdauer
unterhalb eines Zehntausendstels der Sekunde lag, hatte man noch gar keine Ahnung gehabt von der Größe dieser Augenblicksschwan
kungen der Strahlungsrichtungen; denn für die Wahrnehmung in
unserm Auge ist überhaupt eine Dauer von nahezu dem tausend fachen Betrage jener äußerst kurzen Belichtungsdauer, nämlich von etwas mehr als einem Zehntel der Sekunde, erforderlich, um uns
dieselbe überhaupt zum Bewußtsein zu bringen so daß wir über
haupt niemals Augenblicksbilder in obigem Sinne mit dem Auge wahrnehmen können, sondem nur mittlere, durch Zusammenwirken
von zahlreichen Augenblickseffekten in ihren Schwankungen schon wesentlich ausgeglichene Eindrücke. Auf einigen photographischen Aufnahmen des Erscheinens der dunklen Venusscheibe vor der so
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enorm Hellen Sonnenscheibe, wie sie auch von unserer Expedition nach der Aucklandsinsel bei Neu-Seeland im Jahr 1874 ausgeführt
worden waren, erwies sich jene verzerrende Augenblickswirkung unserer Atmosphäre auf die Richtung der aus dem Himmelsrauni
kommenden
Lichtstrahlungen als so stark,
daß zum Beispiel die
kreismnde dunlle Benusscheibe innerhalb der Sonnenscheibe zu einem ganz unregelmäßigen Fünfeck verzerrt war, wobei natürlich von einer genauen Ausmessung der augenblicklichen Lage des Benusmittelpunktes gegen den Sonnenmittelpunkt gar keine Rede
sein konnte. Diese Erfahrung trug aber dazu bei, zur vollen Klarheit zu bringen, daß die höchste Bedeutung der Photographie für Messungen ani
Himmel durch das entgegengesetzte Verfahren zu sichem sein mußte, nämlich durch die Dauer- Photographie, also dadurch, daß man von einem und demselben Himmelslichte die Strahlungen längere Zeit hindurch auf eine und dieselbe Stelle der photographischen Platte einwirken läßt. Hierdurch werden die unablässigen Schwankungen der Ablenkung, welchr die Strahlen beim Durchgang durch die so veränderliche Atmosphäre erleiden, zu einer gewissen mittleren Wir
kung ausgeglichen, und es entsteht dann auf der photographischen Platte die Abbildung jedes leuchtenden Himmels Punktes, wie
eines Fixsternes, nicht in Gestalt eines Punktes, sondern in Gestalt einer keinen kreisförmigen Scheibe, deren Mttelpunkt dann die eigentliche sicherste Ortsbestimmung gibt. Für solche Dauerphoto
graphie ist es natürlich unumgänglich, daß das Instrument, welches die photographische Platte trägt, durch Uhrwerk usw. genau den Be wegungen der Himmelsobjekte folgt. Bei photographischer Aus nahme der Sonne kann aber natürlich von Dauerphotographie keine
Rede sein, weil deren Strahlungen, wenn sie eben nicht auf die kürzestmöglichen Belichtungszeiten eingeschränkt sind, die photo graphische Schicht der Platte vollständig zersetzen. Dem könnte nur dadurch abgeholfen werden, daß man die Intensität der Sonnenstrahlen, bevor man sie auf die Platte ge
langen läßt, auf einen äußerst Keinen Teil abschwächte, aber eine solche Schwächung ist nicht durchführbar, ohne auch die mittlere
125 Richtungder Sonnenstrahlen, die man ja gerade bei der feinsten
Messung festlegen will, merklich und in schwer bestimmbarer Weise zu ändern.
Im Jahre 1873 erlebte ich außer dem Dahinscheiden meines lieben Schwiegervaters noch anderes schweres Herzeleid und tiefe Trauer durch das Dahinscheiden meines lieben Vaters, das unter höchst
bedrängenden Familienverhältnissen erfolgte. Die Jahre des politischen Aufschwunges von Deutschland hatten, trotz der vielen Störungen, welche die kriegerischen Zeitläufte in Handel und Industrie verur
sachten, doch bald nach dem Frankfurter Frieden ein jähes Empor gehen der Industrie und der Spekulation hervorgebracht, indessen
waren die Bedingungen für eine solide Entwicklung dieser 9(rt auf dem Weltmärkte infolge der vorangegangcnen Krisen noch so sragwürdig, daß im Jahre 1873 ein tiefgehender Rückschlag in Gestalt einer höchst bedrückenden Geld- und Äreditkrisis eintrat. Mein Vater
und meine Brüder hatten in dem vorangehenden Jahrzehnt ihr
Tuchgeschäft stark erweitert und schließlich ihre großen Fabriken einer Aktiengesellschaft übergeben, und eine von meinem ältesten Bruder begründete Bankunternehmung in Aktienform war hinzu gekommen. Diese neuen Aktienfirmen waren natürlich dem Ansturm
der Geschäftskrisis am meisten ausgesetzt.
Mein Vater hatte sein eigenes Vermögen fast ganz in der neuen Tuchfabrik-Aktiengesell
schaft belassen, so daß er, angesichts des immer unabwendbarer drohenden Zusammenbruchs der ganzen Unternehmung seine voll ständige Verarmung voraussah.
Dieser Zustand der Dinge war mir, bis zum Herbst 1873, noch nicht in seiner ganzen Gefährlichkeit bekannt, so daß ich nach den: Tode meines Schwiegervaters in den letzten Augusttagen dem Zu reden meiner Gattin und meines Freundes Herzog folgte und eine
mehrwöchentliche Schweizer Reise, zur Erholung von der schweren
Arbeit der vorangegangenen Jahre, mit ihm antrat. Durch unaus sprechlich liebevolle Briefe meiner Gattin beglückt, und von der näheren Kenntnis der inzwischen zunehmenden Verwicklungen in Grünberg ferngehalten, genoß ich diese Reise mit dem teuren Freunde noch wie einen herrlichen Lichtblick, auf den allerdings nach der Rück-
126 kehr Kummer und Trauer ohnegleichen folgte.
Inzwischen hatte
nämlich der Gesundheitszustand meines Vaters unter der Wirkung
der geschäftlichen Bedrängnisse eine verhängnisvolle Wendung ge nommen, und der Zusammenbruch des Geschäftes war trotz des Ansehens meines Vaters und der geschäftlichen Energie meiner Brüder
Fritz und August immer näher gerückt, so daß ich auch selber in einem kritischen Moment in Mitleidenschaft geriet.
Der Tod erlöste den
teuren Vater, noch bevor die Katastrophe eintrat, am Ende eines
höchst
ehrenwerten und arbeitsvollen Lebens, das wohl auch über
wiegend reich an Lebensfreude und durch seine treue Güte so tief beglückend für die ©einigen gewesen war. Sehr ernste Sorgen kamen natürlich durch diese trauervollen
Vorgänge auch noch für lange Jahre in mein eigenes Leben, zumal da meine beiden Brüder Fritz und August noch jahrelang mit ge
schäftlichen und gerichtlichen Nöten infolge jenes Zusammenbruches
zu kämpfen hatten, bis es ihnen endlich beschieden wurde, eine voll ständige gerichtliche Ehrenerklärung für ihr ganzes Verhalten zu er langen.
J6. Kapitel. Die
Begründung
des
Recheninstitutes.
Der
Kronprinz
Friedrich
Wilhelm. Die Sonnenwarte und die Präzisions-Technik. Die Berufung von Georg Neumayer.
I« den Jahren 1873 und 74 gelang es, die schon oben kurz
erwähnte
bedeutende
Erweiterung
der
astronomischen
Arbeits
organisation in Berlin zu erreichen, indem der Sternwarte tüt
astronomisches Recheninstitut angegliedert wurde, für welches auf den:
Sternwartengrundstück
stand.
ein
besonderes
Dienstgebäude
ent
Mit diesem Institut wurde zugleich ein Seminar für die
Ausbildung im wissenschaftlichen Rechnen verbunden, welches eine erhebliche Erweiterung des mathematischen Unterrichts der Uni
versität darstellte. Mit der Leitung des Recheninstitutes wurde der ausgezeichnete Mitarbeiter Professor Tietjen betraut, der mir, wie
ich oben schon erzählte, entscheidende und unschätzbare Hilfe bei der emporgehenden Entwicklung des Berliner Astronomischen Jahrbuchs
geleistet hatte. Auch an einer andem Stelle des Sternwartengartens erhob
sich um diese Zeit ein neues Gebäude, dessen Eindringen in diese Gartenfläche geringere Zustimmung bei meinen astronomischen Kollegen fand. Das Reich bewilligte nämlich im Hinblick auf meine
Tätigkeit als Verwalter des deutschen Maß- und Gewichtswesens die Errichtung eines Zentralgebäudes für die Normal-Eichungs kommission in der Nähe des Sitzes meiner astronomischen Amts
tätigkeit, und es wurden hierbei in großem Stile auch mehrere wesentlich vervollkommnete instrumentale und bauliche Einrich
tungen für die feinsten Messungen und Wägungen, einschließlich
128 ganz neuer Einrichtungen für Temperaturmessungen und für die
Sicherung konstanter Temperaturen getroffen. Diese Präzisions einrichtungen kamen dann auch der Sternwarte in mannichfacher
Weise zugute, unter anderem bei den Vorbereitungen zu der photo graphischen Ausrüstung der Venusexpeditionen, sodann auch bei der Entwicklung des öffentlichen Zeitdienstes in Deutschland und den
damit in Verbindung stehenden Untersuchungen der Schwingungs bedingungen von Pendeluhren, deren Herstellung und Erprobung
für die Ausrüstung der Zeitsignalstationen an den deutschen See küsten ich damals auch zu übernehmen hatte. Um diese Zeit setzten auch die Bestrebungen und Verhandlungen ein, welche teils in Verbindung mit der Sternwarte, teils im Zu sammenhang mit der Leitung des Maß- und Gewichtswesens auf eine Vervollkommnung der astrophysikalischen Einrichtungen in Berlin
und sodann auch auf eine Begründung zentraler Einrichtungen für die Hebung der physikalischen Präzisionstechnik gerichtet waren. Nach beiden Seiten hin war es der Kronprinz Friedrich Wilhelm, welcher in hohem Sinne anregend, ja fast schöpferisch wirkte. Er hatte in jungen Tagen zwei Lehrer gehabt, welche Überzeugungen
und Ideale erhebendster Art in seine Seele gepflanzt hatten: näm lich E r n st C u r t i u s auf dem Gebiete der Kulturgeschichte und der darin wurzelnden tiefsten Kulturbestrebungen in Kunst und Wissenschaft und Schellbach, einen mathematischen und phy
sikalischen Lehrer und Forscher, der ihm einen Blick eröffnet hatte in die Herrlichkeiten der exakten naturwissenschaftlichen Erkenntnis.
Kronprinz Friedrich Wilhelm hatte sich in den bewegten Jahren, die seit der Zeit jenes Jugendunterrichts verflossen waren, immer mehr von der militärisch-reaktionären Geschichts- und Kulturaus fassung, die in seinen hohen Regionen, zumal nach den großen krie
gerischen Erfolgen dominierte, innerlich ganz abgewendet, und er
begann nun, unmittelbar nach den Kriegen es als seine heilige Auf
gabe zu betrachten, den Ehrgeiz der geeinigten deutschen Nation auf die dauernden höchsten Ideale des Gemeinschaftslebens zu richten und dadurch an seinem Teile die Gefahren chauvinistischer Entwicklungen bekämpfen zu Helsen.
129 Mit seiner eifrigsten Hilfe gelang es C u r t i u s, neue Bahnen der archäologischen Forschung durch den Beginn der olym
pischen Ausgrabungen zu eröffnen. Auf seine Anregung und mit seiner unablässigen Befürwortung bei den leitenden und derwaltenden Stellen gelang es ferner, die ersten Spatenstiche zu tun für die Begründung des großen astrophysikalischen Instituts zu Pots dam und weiterhin der physikalisch-technischen Reichsanstalt. Diese
Anfänge gestalteten sich zunächst in einer Denkschrift (vom 27. Sept. 1871), betreffend die Errichtung einer „Sonnenwarte", wozu ich in seinem Auftrage die Anregung durch Professor Schellbach erhielt, der seinerseits einen ersten Anlaß dazu von feiten des Sonnen-
fleckenforschers Professor Spörer in Anllam empfangen hatte, und späterhin durch eine Denkschrift, welche Professor Schellbach
selber, mit lebhafter Zustimmung des Kronprinzen, zugunsten der
Hebung der deutschen Präzisionstechnik durch staatliche Veranstal tungen, verfaßte, und für welche er alsdann im Namen des Kron
prinzen die Unterschriften einer Reihe der bedeutendsten Gelehrten Berlins einholte.
Was zunächst das Projekt einer Sonnenwarte betraf, so gewannen
Schellbach und ich noch einen besonders warmen Freund und Mit arbeiter an Georg Neumayer, von dessen Eintritt in die wissenschaft lichen Unternehmungen der deutschen Marine und von dessen Mit wirkung beider Vorbereitung der überseeischen Benusexpeditionen ich
oben schon erzählte. Durch die Epoche machenden Forschungen von Bunsen und Kirchhoff und durch die Beobachtungen von Jansen
(Paris), Zöllner (Leipzig) und Huggins (London) hatte insbesondere auch das Interesse an den merkwürdigen Vorgängen auf der Sonne,
hauptsächlich an den Flecken, den Fackeln und den dazwischen her vorbrechenden Glutsäulen, den sogenannten Protuberanzen, mächtig
zugenommen. Zugleich hatte man, in Verbindung mit den zuerst durch Humboldts internationale Organisationsarbeit lebhaft ange regten erdmagnetischen Forschungen, immer deutlicher erkannt, daß
zwischen gewissen Phasen jener Vorgänge auf der Sonne und ge wissen außerordentlichen Erscheinungen im Gebiete des Erdmagne tismus sehr deutliche Zusammenhänge walteten. WNh. Foerster. Leben-erinnerungen.
Nicht nur ließ sich 9
130 die nahezu elfjährige Periode der Wiederkehr gesteigerter Meckenund Fackelerscheinungen auf der Sonne auch in dem entsprechenden Verlaufe der Steigerung erdmagnetischer Erscheinungen erkennen, zu denen auch das Erscheinen besonders glänzender Polarlichter am Himmel und mächtiger elektrischer Erdströme in den Telegraphen leitungen sich gesellte, sondern auch fast alle nicht periodischen außer
ordentlichen Vorgänge auf der Sonne fanden sozusagen ihren Widerhall in magnetischen und elektrischen Erscheinungen auf der Erde. Dieser Zusammenhang war es, welcher das Interesse unseres Freundes Neumayer in lebhaftester Weise auch der Begründung eines Institutes für verfeinerte und unablässige Sonnenbeobachtungen
zuwendete. Georg Neumayer, aus der Rheinpfalz gebürtig, hatte bei seinem Universitätsstudium in München eine für seine Lebens
arbeit entscheidende Anregung von dem, damals dort wirkenden, sehr verdienstvollen Forscher auf dem Gebiete des Erdmagnetismus, Professor Lamont, empfangen. Er hatte es sich alsdann, lebhaft
ermutigt durch Alexander von Humboldt, zur Aufgabe gestellt, der Erforschung des Erdmagnetismus und der Luftelektrizität und damit
überhaupt der geophysikalischen Forschung, welche auch die Wetter kunde mit umfaßt, zu dienen. Dabei war er sich sofort klar geworden,
daß diese Forschungen einesteils von größter Bedeutung für die Sicherung der Schiffahrt sein würden, andernteils aber auch ohne
große überseeische Forschungsreisen und ohne andauernden Auf enthalt in den fernsten Erdgegenden, einschließlich der Polregionen, nicht in entscheidender Weise gefördert werden könnten. So wurde sein Leben zu einem rastlos hingebungsvolle Dienste im Bereiche
der wissenschaftlichen Förderung und Sicherung der Schiffahrt und der physikalischen Erforschung der ganzen Erde. Er ging zunächst als
Matrose in den praktischen Schiffsdienst, brachte es dort in längeren
ozeanischen Reisen bis zum Steuermann und Schiffsführer, ließ sich dann für mehrere Jahre in Australien nieder, wo er, unterstützt durch Humboldts frühere Anregungen bei der englis chen Regierung,
zu Melbourne ein Meteorologisch-Magnetisches Observatorium errichtete, welches dauernd eine blühende Forschungsstätte wurde, und kehrte dann nach längerer Seefahrt wieder nach Deutschland
131
zurück, wo er um 1864 mit der neuen Zeit politischer Zusammen fassungen auch das Emporblühen einer deutschen Marine kommen
sah.
Er gelangte dann endlich, nachdem das geeinigte Deutschland
die Entwicklung der Marine und der wissenschaftlichen Meeres forschung durch Zusammenwirken von Handels- und Kriegsschiffahrt
kräftig in die Hand genommen hatte, endlich an die rechte Stelle, nämlich an die Spitze der deutschen Seewarte, eines Institutes, das zunächst mit Privatmitteln von einem lebhaften Anhänger der auch von Neumayer verkündeten wissenschaftlichen Organisation der
Nautik, W. v. Freeden, errichtet worden war, dann aber in den
Reichsdienst überging und nun der geeignetsten Leitung übergeben wurde, nachdem Neumayer zunächst eine Zeitlang vorbereitend in der hydrographischen Abteilung der deutschen Admiralität gewirkt
hatte. In betreff der letzteren Entwicklungsstufe möchte ich wohl eine
Keine Geschichte einschalten, welche für Personen und Zustände jener Zeit so ehrenvoll charaKeristisch ist, daß ich den üblen Schein auf mich nehmen darf, als ob ich mich damit rühmen wolle. Der erleuchtete Chef der neuen deutschen Marine, Herr v. Stosch, hatte für die Erweiterung der wissenschaftlichen oder sogenannten
hydrographischen Abteilung der Admiralität eine Erhöhung seines Etats verlangt, die damals, es war im Frühjahr 1872, in den Etats
beratungen des Reichstags zur Diskussion stand.
In die dadurch zu
schaffende wissenschaftliche Stellung gehörte nach meiner Ansicht niemand anders hinein als Neumayer, der sich damals in wissenschaft
lich-literarischer Tätigkeit in Berlin aufhielt, zugleich beschäftigt mit der Bearbeitung seiner australischen und ozeanischen Beobachtungen.
Nun wurde ich durch Universitätskollegen davon unterrichtet, daß
Herr von Stosch sich bereits an einen jüngeren Assistenten von treff
licher Leistung auf dem Gebiete der Meteorologie, aber auch nicht entfernt vergleichbar mit Neumayers Bedeutung auf dem um
fassenden Felde der gesamten hydrographischen und geophysikalischen Forschung, gewandt habe, um ihm die neu zu begründende Stellung in der hydrographischen Abteilung anzubieten. Um diesen Mßgriff zu verhüten, glaubte ich, als Vertreter der den nautischen Gebieten
9*
132 nahestehenden astronomischen Arbeit, mich befugt genug, bei Herm von Stosch Einspruch zu erheben. Ich wagte sogar, am Schluß
meines Briefes die Bemerkung zu machen, daß wenn bei dieser Berufung jetzt Neumayer einer fast ganz unerprobten und auf dem fraglichen Gebiete noch unbetonten Kraft nachgesetzt würde, man kaum die Horazische Bemerkung unterdrücken würde: „Es sei
schwer, hierüber keine Satire zu schreiben."
Umgehend erfolgte auf
diesen Brief die Einladung zu einer Besprechung mit dem Herm
Chef der Admiralität. In dieser Besprechung erklärte er unumwunden, er sei durch meine Darlegungen völlig überzeugt, daß es das allein Richtige sein würde, jetzt Neumayer in das hydrographische Amt zu
berufen; es müßten jedoch dann namhaft größere Mittel für die Dotiemng der bezüglichen Stellung bewilligt werden.
Nun liege
aber der Etat bereits der Budgetkommission des Reichstages vor, und in dieser Phase der geschäftlichen Behandlung sei es ihm selber
versagt, die Erhöhung jener Etatsposition direkt zu beantragen. Auch für die Kommission andererseits würde dies gewissen formalen Bedenken unterliegen. Aber wenn die Sache in vertraulicher Weise
richtig eingeleitet würde, sei sie wohl allseitigen guten Willens sicher. Ich sollte es doch persönlich übemehmen, mit den Tönen, die mein Brief angeschlagen habe, bei einigen der maßgebenden Herren eine
Initiative der Budgetkommission zugunsten der erforderlichen Etats
erhöhung anzuregen.
Das lag nun sehr günstig. Ich war mit dem
Reichstagspräsidenten Simson gut bekannt und wußte, daß der Vorsitzende der Budgetkommission, Fürst zu Hohenlohe-Schillings fürst, für Neumayer sehr freundschaftlich gesinnt war. Beide Herren
halfen nun dem Herm von Stosch mit Freuden, und auch an den obersten Stellen des Reiches wurde die Sache sofort in großem Stile
aufgefaßt.
Und wahrlich, es war keine Heine Angelegenheit, daß
nun Neumayer nicht bloß wissenschaftlich, sondem auch an den
obersten leitenden Stellen deutsche Kulturpolitik machen half. Höchst verständnisvoll geschah dies auch in den ersten Stadien des Pro jektes der „Sonnenwarte" oder des „astrophysikalischen Observa
toriums", wie das Institut weiterhin benannt wurde. Besonders eifrig aber half Neumayer auch bei der Vorbereitung der über-
133
seeischen Venusexpeditionen, und wie wurde er später die Seele der Veranstaltung für internationale Polarforschung, die sich bald an
die Venusexpedition von 1882 anschloß, ebenso wie für die bedeut same wissenschaftliche Forschungsreise im indischen und im großen
Ozean, mit welcher im Anschluß an die Venusexpedition von 1874
unter der Fühmng von Kapitän von Schleinitz das deutsche Kriegs schiss „Gazelle" betraut wurde. Auch gerade in den ersten Stadien der Initiative Schellbachs und des Kronprinzen zur Förderung der deutschen Präzisionstechnik
war Neumayers Mitwirkung von großem Werte. Seine Erfahmngen und seine Projekte auf dem Gebiete der geophysikalischen Forschung
über Land und Meer, ebenso wie die Erweiterung und Vertiefung der Landesvermessungen und der astronomischen Ortsbestimmungen
durch die von General Baeyer geschaffene Gradmessungsorganisation verlangten und bewirkten einen Aufschwung der Genauigkeitsfordemngen bei den instmmentalen Einrichtungen der verschie
densten Art. Dem Kronprinzen war es auch durch Schellbachs Mitteilungen von der hohen Bedeutung und der freudigen Aufnahme der in Heidelberg durch Kirchhoff und Bunsen so epochemachend vervoll
kommneten Erkenntnis der Lichterscheinungen so recht zum Bewußt
sein gekommen, daß auf dem Gebiete der feinsten Messungen und der Herstellung der feinsten Messungsmitte eine besondere Mission
der germanischen Volksseele liegt. Nachdem die schon recht wertvollen Leistungen der altgriechischen
und der arabischen Wissenschaft auf diesem Gebiete durch Spanien, Südsrankreich und Italien nach Mtteleuropa vorgedrungen waren,
hatte sich alsbald, int vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, eilte besonders reiche und neue Blüte der Präzisionsmechanik in
Süd- und Westdeutschland und in den Niederlanden entwickelt, und unt die Mitte des fünfzehnten bis zum Anfänge des siebzehnten Jahrhunderts war es hauptsächlich Nürnberg, neben Augsburg und Ulm, welches für die ganze Kulturwelt, einschließlich der durch die
kühnen Seefahrten der großen Entdecker eröffneten neuen Länder,
der Mittelpunkt der instrumentalen Technik wurde, wie auch der
134 Kartographie und überhaupt der in denselben Regionen Deutschlands
zuerst emporgekommenen buchdruckerischen Technik. Hiermit hing auch der Aufschwung zusammen, welchen kurz vor Kopernikus die astronomische Messung um 1470 durch Johannes Müller aus Königsberg in Franken (wonach er Regiomontanus ge nannt wurde) in Nürnberg nahm, ein Aufschwung, welcher auch für die Lehre des Kopernikus von förderlichster Bedeutung wurde.
Dann kamen über Deutschland die schrecklichen Zeiten der Reli gionswirren, welche jene reiche Kultur bis gegen Ende des achtzehnte Jahrhunderts lahmlegten. Inzwischen aber erschien in Verbindung mit der Schiffahrt in den Niederlanden und in England, aber auch in Frankreich eine immer reichere Blüte der Präzisionstechnik, bis endlich vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts ab unter eifrigster
Mitwirkung des Wittelsbachischen Fürstenhauses auch in Deutsch land wieder eine aufsteigende Bewegung im Gebiete dieser Technik, welche die Seele des Gewerbfleißes bildet, sich entwickelte, zunächst gipfelnd in dem Genius des Münchener Optikers Fraunhofer.
Bald nach der Mtte des neunzehnten Jahrhunderts begann indessen nicht bloß in Deutschland, sondern in allen Kulturländern, trotz des mächtigen Emporgehens der naturwissenschaftlichen For schung wieder eine deutliche Erlahmung der Leistungsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen Lage der höchsten Zweige der Präzisionstechnik.
Und zwar trug die Schuld dieses Rückganges gerade der große Aufschwung der Industrie auf allen andern Gebieten. Die durch Eisenbahn und Telegraphie und durch die ganze neue Maschinenindustrie mächtig gesteigerten Aussichten auf Erwerbs tätigkeit und Bereicherung entzogen jetzt den feinsten und mühevollsten Zweigen der wissenschaftlich-technischen Arbeit immer häufiger und
allgemeiner die strebsamsten und begabtesten der jüngeren Mtarbeiter, während doch die erhöhten Genauigkeitsforderungen der Wissen schaft eine immer stetigere und selbstlosere Hingebung an die letzten Feinheiten der gestaltenden Arbeit und der schließlichen experimen
tellen Vollendung derselben verlangten. Es kam hinzu, daß in mehreren Zweigen der Jnstrumental-
technik auch die Güte und Solidität einiger der wichtigsten Materialien,
135 deren dieselben bedürfen, durch die große Entwicklung der Industrie einen immer deutlicheren Verfall zu erleiden begannen. Insbesondere
betraf dies Glas und Stahl. Die Fabrikation von Glas und Stahl erlitt diesen Verfall durch das Emporgehen der Massenfabrikation in solcher Weise, daß als
entscheidende Faktoren für eine angebliche Vervollkommnung der Herstellung von Glas und von Stahl nicht mehr diejenigen Eigen schaften und Leistungen in den Vordergrund traten, welche bei der Anwendung des Glases in der Optik, in der Thermometrie usw., sowie bei der Anwendung des Stahls zu der Herstellung von Dre hungsachsen, von Räderwerken, von elastischen Federn, von schwin
genden Spiralfedern, von feinen Messungsschrauben usw. die maß gebenden sind, sondern daß eine Zeitlang diejenigen Zusammen setzungen und Arten der Herstellung vorherrschten, welche die größte Einfachheit und Gleichmäßigkeit der Fabrikation und die günstigste
wirtschaftliche Ausnutzung der Rohmaterialien ermöglichten. Hierdurch aber geschah es, daß man die Besonderheiten der stofflichen Zusammensetzung derjenigen Teile der Meßwerkzeuge nicht mehr gehörig beachtete, bei denen man am meisten auf die
Beständigkeit der Formen und Dimensionen und der ganzen Struktur der Glas- und Stahlteile zu rechnen angewiesen war.
Am deut
lichsten machte sich dieser Verfall zunächst bemerkbar bei den Arbeiten der Normal-Eichungskommission, bei denen die größere Genauigkeit der neueren Anforderungen an die Vergleichung von Längenmaßen
auch eine Verschärfung der Temperaturmessungen dringender ver langte. Da ergab sich schon in den ersten Jahren der neuen deutschen Eichungseinrichtungen, daß die neuesten, aus den besten Präzisions werkstätten hervorgegangenen Thermometer, bei denen das Glas
material aus den Fabrikationsstellen von notorisch größtem und rationellstem Betriebe
bezogen war,
bereits
nach kurzer Zeit
unerträglich große Fehler zeigten. Nähere Untersuchungen, die ich seitens der Normal-Eichungskommission sofort in Gang brachte, ließen bald als den Kern des Übels eine chemische Zusammensetzung des betreffenden Glases erkennen, welche allerdings die Verarbeitung
der Glasflüsse wesentlich erleichtette, aber dafür die geformten und
136 erkalteten Glaskörper mit einer viel größeren Veränderlichkeit der Form und der Stmktur behaftete, als die früheren Glasfabrikate
je gehabt hatten. Ganz ähnliche Erfahrungen machten wir damals auf der Set liner Sternwarte mit einer anderen Att von Präzisionsglasinstru-
menten, den sogenannten Libellen, nämlich geschlossenen Glas
gefäßen von sehr regelmäßiger Formgebung der inneren Flächen (Kugelflächen oder hauptsächlich tonnenförmig zylindrischen Flächen).
Diese Gefäße werden mit gewissen Flüssigkeiten, z. B. Spiritus oder Äther, derattig gefüllt, daß, nach der Abkühlung der die Ge brauchstemperaturen erheblich übersteigenden Füllungstemperatur, sich durch die Zusammenziehung der Flüssigkeit ein kleiner, nahezu
leer erscheinender, nämlich nur mit dem Berdampfungsprodutt der Flüssigkeit erfüllter Raum, in Gestalt einer sehr regelmäßig geformten Blase, bildet, und der Mittelpunkt dieser Blase markiert dann an der mit feiner Stticheinteilung versehenen gekrümmten Fläche den jeweilig höchsten Punft des inneren Flächenverlaufes, nämlich den Punkt, in welchem die durch den Krümmungsmittelpuntt der Fläche gelegte Parallele zur Richtung der Schwere die Fläche trifft.
An solchen Libellen kann man z. B. die Lage der Drehungs achsen von Jnstmmenten zur Richtung der Schwere mit einer viel
größeren Genauigkeit erkennen und messen, als mit den feinsten andern Mtteln der Winkelmessuug, aber doch nur dann, wenn die
innere Glasfläche so vollkommen stetig und regelmäßig geformt ist, daß sie der Ortsverändemng und Einstellung der Flüssigkeitsränder der Blase nicht die leiseste Hemmung oder Unstetigkeit entgegensetzt. Nun hatte sich aber immer deutlicher herausgestellt, daß die Glas
flächen neuester Fabrikation infolge von allmählichen Entmischungen an ihren Oberflächen jene vollendete Zartheit und Beständigkeit der Struttur nicht entfernt mehr in dem früher schon erreichten Grade besaßen. Und auch hierfür fand sich bald die Erklämng in der neueren chemischen Zusammensetzung des bezüglichen Glasmaterials.
Durch das Zusammenwirken eines Mtarbeiters der NormalEichungskommission, Wiebe, und des Professors der Chemie an der Technischen Hochschule, Weber, sowie des Dr. Schott, der
137 in Jena mit Professor Abbe und den Herren Z e i ß ein glas technisches Laboratorium errichtet hatte, gelang es in der Tat, fest*
zustellen, daß jene an den neueren Thermometern und an den Libellen beobachteten groben Unstetigkeiten und Veränderlichkeiten der Dimen
sionen und der Flächengestaltung der Röhren und Gefäße wesentlich davon herrühtten, daß in den Glasmassen zu erhebliche und einander zu nahe gleiche Anteile von Natron und Kali enthalten waren, wo durch gewisse Erleichterungen der Fabrikatton erlangt wurden, aber auf Kosten der Stabilität der Struttur- und Gestaltsverhältnisse
der Glaskörper. Es stellte sich auch heraus, daß Natron allein und Kali allein mit den Silikaten usw. in erheblichen Mengen im Glase enthalten sein können, ohne die vorerwähnten Übelstände herbeizu
führen.
Nur die nahezu gleichwettige Mischung der bkideii Alkalien
erwies sich als die eigentliche Gefährdung der Präzisionseigenschaften
von Glaskörpern.
VT. Kapitel. Die Begründung des astrophysikalischen Observatoriums in Potsdam. Die neue Sternwarte in Straßburg.
Während diese Erfahrungen und diese Reformpläne langsam der weiteren Entwicklung entgegenreiften, deren bedeutende Ergeb
nisse alsdann die Begründung des hochwissenschaftlichen Bettiebes der Glasfabrikation in Jena und die Schöpfung der physikalisch technischen Reichsanstalt wurden, von der weiterhin noch die Rede sein wird, ging es schneller voran mit der, vom Kronprinzen be sonders eifrig unterstützten, Begründung eines astrophysikalischen
Observatoriums in Potsdam.
Die oben von mir erwähnte Denk
schrift vom 27. September 1871, welche ich dem Kronprinzen, sowie am 5. Ottober 1871 dem Herrn Unterrichtsminister einreichte, erfuhr
zunächst die geschäftliche Behandlung, daß sie der Akademie der Wissen-
chaften zur Begutachtung vorgelegt wurde. Sie fand aber dort mehr Bemängelung als Zustimmung; denn man hatte den Eindruck,
daß ich mit dem Entwürfe des Aufgabenkreises eines solchen Jnstt-
138
tutes allzuweit über das Gebiet meiner Kompetenz hinausgegangen war. Ich halte nämlich diese Sonnenwarte definiert als ein Institut für Beobachtung aller Vorgänge auf der Sonne und in ihrer Um
gebung, verbunden mit vollständigen Messungen aller unmittelbaren
und mittelbaren Einwirkungen auf irdische Zustände, insbesondere
mit ^Registrierung von Beobachtungen des Erdmagnetismus, der Erdströme, der Luftelektrizität, sowie der Luft-und Bodentemperatur und des Luftdmckes, mit gleichzeitiger Berücksichtigung aller ein schlagenden Untersuchungen auf dem neueröffneten Gebiete der allgemeinen Physik des Himmels. Dies war ja allerdings ein Umfang
von Beobachtungsaufgaben, welcher weit über die Astronomie hin
ausgriff, indem er die Sonnenwatte zugleich zu einem meteoro logischen und magnettsch-elektrischen Zentralobservatorium stempelte,
wie es damals in Deutschland noch gänzlich fehlte. Es war mir also durchaus erklärlich, daß die Akademie, deren Fühmng auf letzteren
Gebieten damals der berühmte Meteorologe Professor Dove hatte, zu
dem ganzen Projette den Kopf schüttelte, zumal da es eine Spezialität
der älteren Meteorologen war, daß sie von dem Eingreifen der Flecken- und Fackelwirtschast auf der Sonne in die irdischen Wetter
zustände gar nichts wissen wollten und auch über die Beziehungen zwischen jener Sonnenwittschaft und dem Erdmagnetismus sehr
skeptisch dachten, während der von den neueren Entdeckungen auf
allen diesen Gebieten begeisterte jüngere Meteorologe Neumayer
ganz auf meiner Seite stand und insbesondere die baldige Errichtung eines meteorologisch-magnetischen Zentralobservatoriums für dring lich hielt.
Die Folge jener Meinungsdifferenzen bestand in einem wesent lich ablehnenden Votum der Akademie, welches die Anglegenheit bis zum Frühjahr 1873 vollständig zum Stillstand brachte. Indessen erfuhr ich im Mai 1873 authentisch, daß im Unterrichtsministerium
Und auch im Finanzministerium eine dem „wichtigen Unternehmen" geneigte Stimmung vorhanden sei, so daß ich es wagte, die weitere Entwicklung der Angelegenheit aufs neue anzuregen. In der Tat wurde ich dann unter dem 3. Juni 1873 beauftragt, mit den Herren
Auwers, E. du Bois Reymond, Helmholtz und Schellbach zu einer
139 Kommission zusammenzutreten, um für das in Anregung gebrachte Projekt einer Sonnenwarte nunmehr einen festen geldmäßigen Plan
aufzustellen und darüber mit größtmöglicher Beschleunigung Bericht
zu erstatten. Diese Kommission wurde zugleich ermächtigt, zu ihren Be ratungen einen Bauverständigen in der Person des Kgl. Bau inspektors Spieker hinzuzuziehen, und sie machte zugleich von dem ihr erteilten Rechte der Kooptation Gebrauch, indem sie auch Neumayer zu ihren Beratungen einlud, der aber leider durch dienstliche Abwesenheit an der Beteiligung verhindert wurde.
Die Denkschrift, die das ganze Projekt enger begrenzend unter dem 16. Juni 1873 von dieser Kommission dem Ministerium ein
gereicht wurde, ist dann der Ausgangspunkt einer überaus erfreu lichen und großzügigen Entwicklung geworden, die schon im Jahr 1874 durch die Berufung von Professor Spörer und Dr. Hermann C. Bogel nach Berlin, zunächst im Anschlüsse an die Königliche Sternwarte,
tätig aufstrebende Gestalt gewann.
Professor Spörer hatte während seiner Studienzeit an der Berliner Universität auch schon eifrig an der Sternwarte mitgearbeitet und einige längere Beobachtungsreihen von Sternörtem höchst
sorgfältig und verständnisvoll durchgeführt.
Er war dann Gym
nasiallehrer geworden und hatte zuletzt mit dieser seiner Tätigkeit in Anklam überaus fleißige und vollständige Beobachtungen der Sonnenflecken verbunden, übrigens auch schon im Jahre 1867 an
der von mir organisierten Beobachtungskampagne der Perseiden
meteore trefflichen Anteil genommen. Dr. Hermann C. Vogel war unter der Fühmng von Professor
Bruhns und Professor Zöllner in Leipzig in die Astronomie ein geweiht worden und war dann, zusammen mit seinem Studien genossen, Dr. Lohse, an die Privatsternwarte des Herrn von Bülow
in Bothkamp bei Kiel berufen worden, wo die beiden ausgezeichneten Beobachter, beraten und gefördert durch ihren Lehrer Zöllner, begonnen hatten, Messungen ersten Ranges, insbesondere auf spek tral-analytischem Gebiete auszuführen.
140
Vogel wurde sehr bald die Seele der zunächst nach Berlin ver pflanzten Beobachtungstätigkeit auf diesem neuen astronomischen
Gebiete.
Es gelang sehr bald auch seinen Genossen Lohse zunächst
an die Berliner Stemwarte zu berufen, und die drei Astronomen
Bogel, Lohse und Spörer, begannen nun unter ganz idealen Be dingungen, nämlich unter der allgemeinen Leitung der obigen Kom mission und unter liberalster Förderung von feiten des Unterrichts
und des Finanzministeriums, von der Berliner Stemwarte aus das neue „astrophysikalische" Observatorium zu bauen und auszu rüsten, nachdem dafür ein Bauplatz ersten Ranges auf dem Tele graphenberge bei Potsdam gemeinsam erkundet worden war. Zu
gleich war der einleuchtende Gedanke bei allen Beteiligten erwacht, an die Spitze der ganzen Organisation des neuen Institutes den
Mann zu bemfen, der gemeinsam mit Bunsen die Gmndlagen der neuen Astrophysik geschaffen hatte, nämlich Gustav Kirchhoff in
Heidelberg.
In der Tat gelang es, wiedemm unter hochsinnigster
Fördemng seitens der Regiemng, Gustav Kirchhoff an die Univer sität und die Akademie zu bemfen. Zwar lehnte er es ab, die eigent liche Direktion des neuen Observatoriums zu übemehmen, weil er
seiner, inzwischen mehr nach der theoretischen als nach der experimentellen Seite vertieften Forschungstätigkeit nicht entsagen wollte,
aber er fand sich doch bereit, in eine kollegiale Direktion des Obser vatoriums einzutreten, in welcher er fortan, gemeinsam mit zwei andem Direktionsmitgliedern, Auwers und Foerster, die weitere Entwicklung und die spätere Betätigung des Observatoriums leiten
half.
Dieses Direktionskollegium wurde im Juli 1876 konstituiert und zwar in solcher Weise, daß die eigentliche geschäftliche Ober
leitung von Professor Auwers übernommen wurde. Von der ferneren Entwicklung des, zu mhmvollster Mrksamkeit emporsteigenden, In stitutes will ich nur noch erwähnen, daß schließlich, nach Zurück legung der vorerwähnten Entwicklungsstufen, die Leitung des ganzen
Institutes durch Professor Herrmann C. Vogel mit glänzendem Erfolge bis zu seinem im Jahre 1908 erfolgten Tode geführt
wurde.
141 Sehr bald nachdem das astrophysikalische Observatorium in volle Tätigkeit gekommen war, wurde dann auch eine gesonderte
Fürsorge für die Begründung eines meteorologischen und mag netischen Zentralobservatoriums durch ein Zusammenwirken der
oben schon als Kommissionsmitglieder genannten Männer in Gang
gebracht, wobei nun insbesondere Neumayers Kompetenz in den
Vordergrund trat. Ich habe diese ganze Entwicklung in ihren wesentlichen Stufen etwas eingehender aus der Erinnemng erstehen lassen, weil sie in hohem Grade charakteristisch und ehrenvoll auch für die ganze freudige
Energie ist, mit welcher in diesen Jahrzehnten die preußische Regiemng das von ihr mit so verständnisvoller Teilnahme organisierte Zusammenwirken der sachverständigsten Mademiker und Professoren durch alle finanziellen Schwierigkeiten hindurch zu merkwürdig schnellen und vollständigen Erfolgen führte. Es ist mir ein Bedürfnis,
hierbei der Männer zu gedenken, welche im Unterrichtsministerium
und im Finanzministerium dieses Emporgehen wissenschaftlicher Kultur in Deutschland mit echt staatsmännischer Weisheit förderten und leiteten, nämlich den Geheimrat Göppert im Unterrichts- und
den Geheimrat Scholz int Finanzministerium.
Natürlich hatten
auch die damaligen Chefs dieser beiden Beamten, nämlich die Mnister Falk und Camphausen, einen wesentlichen Anteil an jetten Erfolgen, auch ihrerseits gehoben von dem großen Stil des ganzen Regierungswesens jener Zeit, welches würdigst eröffnet wurde von dem ersten
Zusammenwirken Bismarcks und Delbrücks und getragen war von der tiefsten Sympathie des Kronprinzen für alle wissenschaftliche Kultur.
Während Göppert früh aus dem Leben schied, hat Scholz
von 1879 ab als Schatzsekretär des Reiches und von 1882 bis 1890 als preußischer Finanzminister auch noch Unschätzbares für die För derung der wissenschaftlichen und künstlerischen Kultur getan, wobei er in den letzten Jahren seiner hohen Stellung aufs
kräftigste durch Althoff unterstützt wurde,
der dann nach dem
Rücktritt von Scholz trotz aller zunehmenden finanziellen Mte der Regierung auch noch Ausgezeichnetes für dieselben idealen Ziele geleistet hat.
142 In demselben Geiste hat auch die Reichsregiemng selber un mittelbar gewirkt bei der Neubegründung und Ausrüstung der Uni
versität Straßburg — wobei der spätere Staatssekretär für ElsaßLothringen, Herzog, mit besonderer Liebe und Weisheit tätig war —
sowie später bei der Begründung der physikalisch-technischen Reichs anstalt. Die Ausrüstung der Universität Straßburg mit freigebig dotierten wissenschaftlichen Instituten, insbesondere auch mit einer neuen
Sternwarte, eröffnete auch die Möglichkeit, den ausgezeichneten Astronomen, von dessen Lebensschicksalen ich oben schon erzählt habe,
nämlich August Mnnecke, wieder in vollste, sowohl für ihn als für die Mssenschaft förderlichste Tätigkeit zu bringen. Die Sternwarte, die er mit den ihm zur Verfügung gestellten reichen Mitteln zu
schaffen vermochte, wurde eine besondere dauernde Zierde der
deutschen Mssenschaft.
J8. Rapitel. Der venus-urchgang von J87$. Kaiser Wilhelm Lauf -er Sternwarte.
Meine Vorträge in -er Sing-Ata-emie. Meine Betätigung bei -er Maß- und Hewichtstonferenz in Paris un- -er Metervertrag (